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13. Oktober 2023Elke Rauth
Christoph Laimer
dérive

Urban Commons – Fenster in eine mögliche Zukunft

Das Konzept der Commons hat sich von urbanen Nischen zu kommunalen Public-Common Partnerships entwickelt. Das vorliegende Heft versucht einen Reality Check zum Status quo.

Das Konzept der Commons hat sich von urbanen Nischen zu kommunalen Public-Common Partnerships entwickelt. Das vorliegende Heft versucht einen Reality Check zum Status quo.

Längst ist klar, dass die umfassende soziale, ökologische und ökonomische Transformation, die zur Rettung unserer Städte (und unserer Welt) notwendig ist, ohne ›die Vielen‹, ohne einen gemeinsamen, gesellschaftlichen Konsens und ohne ein hohes Maß an gemeinsamen Handlungen und gesamtgesellschaftlich getragenen Lösungen nicht gelingen wird. Wir brauchen also dringend ein mehr an Demokratie und eine umfassende, tiefgreifende Demokratisierung aller gesellschaftlicher Bereiche. Die Stadt ist dafür das perfekte Feld, weil sie als Einheit klein genug ist, um Veränderung voranzutreiben, zu erproben und implementieren, und groß genug, um diesen Veränderungen Wirkung zu verleihen. Einer dieser Ansätze für die Ausweitung demokratischer Räume und zukunftsweisender Formen der Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Bürger:innen ist das Konzept der Urban Commons, dem wir sowohl diese Ausgabe von dérive, als auch das urbanize! Festival 2023 widmen.

Über Commons wird in der Stadtforschung und darüber hinaus seit etlichen Jahren intensiv geforscht und diskutiert. Angestoßen wurde die breitere Auseinandersetzung durch Innovationen im IT-Bereich, darunter die weithin bekannten Projekte Linux oder Wikipedia. Ein weiterer deutlicher Schub für die Erforschung und Erprobung der Commons erfolgte 2009 mit der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Elinor Ostrom für ihre Forschungsarbeiten zur Nutzung und Verwaltung von gemeinschaftlichem Eigentum. Seither ist die Entwicklung viele Schritte weiter gegangen und bei konkreten Maßnahmen und Aktivitäten auf stadtpolitischer Ebene angelangt, die Urban Commons in vielen Städten durch Governance-Vereinbarungen zum Leben erwecken. In diesem Zusammenhang sei besonders auf die 2014 implementierte Regulation on Collaboration Between Citizens and the City for the Care and Regeneration of Urban Commons durch die Stadt Bologna verwiesen, die als Vorlage für viele Vereinbarungen in italienischen Städten und darüber hinaus dient. Eine dieser Städte ist Turin. Maria Francesca De Tullio und Violante Torre haben sich intensiv mit Commons in Turin auseinandergesetzt und die Geschehnisse mit kritischem Blick verfolgt. Dabei wird klar, wie hart gerungen werden muss, damit ›Urban Commons‹ nicht zum Etikett verkommt, hinter dem Privatisierungen verschleiert und traditionelle Machstrukturen prolongiert werden.

Bereits vor 15 Jahren stellte die Architekturtheoretikerin Christa Kamleithner mit dem Schwerpunktheft dérive N°31: Gouvernementalität1 die wichtige Frage, ob sich Städte unter dem Mantel der Kooperation und Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Initiativen einfach ihrer Aufgaben entledigen. Das neoliberale Dogma vom ›schlanken Staat‹, kombiniert mit dem Slogan des ›aktivierenden Staates‹, der als Abkehr vom sozialen Wohlfahrtsstaat verstanden wurde, geisterte allerorts durch die Welt. Auch im Kontext der aktuellen Forschung zu Urban Commons taucht der ›enabling state‹ also der ›ermöglichende Staat‹ auf (siehe Foster & Iaione in diesem Heft) und es gilt wachsam zu bleiben und neben der (Entscheidungs-)Macht auch die Mittel einzufordern, die urbane Commons benötigen, um langfristig bestehen zu können.

Auch Stavros Stavrides, ausgewiesener Experte und Aktivist für Urban Commons, sieht diese Gefahr in seinem Beitrag Öffentlichen Raum als Commons zurückgewinnen. Einen Ausweg erblickt er einzig in der Entwicklung »alternativer Formen der sozialen Organisation durch Commoning«. Sein Artikel widmet sich zentralen Fragen zu Gemeinschaft, Commoning und Identität sowie der Bedeutung von Kollaboration für das Commoning und fokussiert auf die Situation in Lateinamerika. Das macht auch Anna Puigjaner, die in Die Küche aus dem Haus holen die Geschichte und Entwicklung der beeindruckenden Urban Kitchens in Peru diskutiert. Auch in diesem Beispiel wird deutlich, wie einflussreich das Zusammenspiel verschiedener Stakeholder (Staat, NGOs, Commoners) und wie wichtig die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit von Urban Commons ist, um nicht zu einem Fall für »Regieren durch Community« (Nikolas Rose) zu werden.

Bei aller Notwendigkeit der kritischen Beobachtung sind Public-Common Partnerships (PCPs), mit denen der urbane Reichtum für die Allgemeinheit gesichert und verwaltet werden kann, anstatt der Profitlogik von Public-Private Partnerships (PPPs) zu folgen, zentraler Bestandteil der Weiterentwicklungen für die Anwendung urbaner Commons der letzten Jahre. Im umfangreichen Co-City Projekt von LabGov, einem internationalen Netzwerk, das sich auf die Entwicklung 
und Erforschung kollaborativer Governance von städtischen Räumen und Ressourcen konzentriert, wurden 200 Städte 
und über 500 Commons-Projekte analysiert. Die für diesen Schwerpunkt relevante Essenz aus den Erkenntnissen von Co-City in Form von grundlegenden Design Principles ist im Beitrag Die Stadt als Commons von Sheila R. Foster und 
Christian Iaione nachzulesen.

Wie Public-Common Partnerships genau funktionieren bzw. funktionieren sollten, um tatsächlich »Prozesse in Gang zu setzen, die dazu beitragen, die Grenzen des sozial wie politisch Möglichen zu verschieben«, erläutern auch Bertie Russell und Keir Milburn in ihrer Analyse Public-Common Partnerships, Autogestion und das Recht auf Stadt. Eine der Fragestellungen dreht sich dabei um die Verwendung des von PCPs erwirt­schafteten Mehrwerts. Fragen der Ökonomie, im speziellen der Finanzierung von Urban Commons gehen Levente Polyák, Daniela Patti und Jorge Mosquera in Financing non-speculative properties – Ownership, governance and the economy of commons nach. Sie stellen spannende Finanzierungsmöglichkeiten und deren Anwendung vor und argumentieren gleichzeitig, dass es als »key policy priority« dringend weitere, umfangreiche Modelle braucht, um »financing for non-speculative development projects across Europe« sicherzustellen. Schließlich stellen Urban Commons für die urbanen Gesellschaften besonders wichtige Ankerpunkte dar, deren Nutzen weit über die als Commons genutzten Ressourcen reicht.

Dagmar Pelger definiert solche Orte in ihrem Beitrag als ›Spatial Commons‹. Deren Definition ist oft unscharf und genau so in Verhandlung wie die Commons selbst. Trotzdem ist es wichtig festzulegen, wovon – und wovon nicht – die Rede ist, wenn es um Commons geht, um ›Commons Washing‹ (De Tullio und Torre) zu verhindern. Pelger setzt sich für eine Begriffsschärfung ein und verweist auch auf die Bedeutung des fortwährenden Nacherzählens der Geschichte von Commons, »um an ihr weiterzuschreiben«.

Das Konzept der Commons als transformativer Prozess kann auch dazu dienen, die Gestaltungs- und Aneignungsspielräume auszuweiten, etwa in Büchereien, die längst mehr sind als reine Orte der Bildung, Information und Wissensvermittlung. Die Kommerzialisierung der Stadträume hat u.a. dazu geführt, dass Büchereien zu wichtigen, kostenfreien Raumressourcen geworden sind: Sie sind, wie Alexa Färber und Marion Hamm in ihrem Text schreiben, genauso »Orte des Zusammenkommens, des Lernens, der Begegnung und Beratung« wie auch »geschützter Aufenthaltsort«. Im Zuge eines internationalen Forschungsprojekts untersuchen die beiden Autorinnen Büchereien in Rotterdam, Malmö und Wien.

Ein Common (Green) Space soll das Frachtenareal am Westbahnhof in Wien werden, wenn es nach der Initiative Westbahnpark.Jetzt geht. Im Interview erläutern drei der Aktivist:innen die überzeugenden ökologischen, sozialen und städtebaulichen Argumente für einen Park statt einer – von Stadt und ÖBB ins Auge gefassten – Wohnbebauung mit Grünraum und berichten von ›Particitainment‹ und fehlender Kommunikation der Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und bei der Liegenschaftseignerin Bahn mit den Bürger:innen.

»We are not naive« schreiben LabGov in der Conclusio ihrer Commons-Analyse von über 200 Städten weltweit und verweisen auf die vielen und beharrlichen Kräfte, die einer demokratischen Verwaltung und Vergesellschaftung von urbanen Ressourcen entgegenstehen. Dennoch eröffnen Urban Commons in zahlreichen Städten bereits heute Ausblicke auf eine gerechtere Verteilung von urbanen Ressourcen, schaffen Räume der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entfaltung jenseits der Profitlogik sowie Erfahrungen von demokratischer Aushandlung und Handlungsmacht. Der Prozess ist in vollem Gange und öffnet ein real-utopisches Fenster für eine zukunftsfähige, soziale und ökologische Transformation der Stadt – durch iterative Experimente und global geteilte Erfahrungen. Das Wissen und die Commoners stehen weltweit für Public-Common Partnerships bereit. Es liegt jetzt an den Städten, die Rahmenbedingungen zu schaffen.

1

Das Heft mit dem Schwerpunkt Gouvernementalität ist als gedruckte Ausgabe vergriffen, kann aber noch als PDF bezogen werden: https://shop.derive.at/collections/ einzelpublikationen/products/heft-31.

dérive, Fr., 2023.10.13



verknüpfte Zeitschriften
dérive 92-93, Urban Commons

09. November 2021Christoph Laimer
dérive

Strategien des Wandels

»Wenn es auch keine tiefgreifende Veränderung einer gesellschaftlichen Logik geben kann ohne eine Umwandlung der Klassenherrschaft und konsequenterweise...

»Wenn es auch keine tiefgreifende Veränderung einer gesellschaftlichen Logik geben kann ohne eine Umwandlung der Klassenherrschaft und konsequenterweise...

»Wenn es auch keine tiefgreifende Veränderung einer gesellschaftlichen Logik geben kann ohne eine Umwandlung der Klassenherrschaft und konsequenterweise auch der politischen Machtzu­sammenhänge, so können doch während des allgemeinen Umwandlungsprozesses (der jedoch nicht mit der Machtergreifung endet) Phasen oder bestimmte Einzelkämpfe auftreten, die im Stande sind, die allgemeine Logik der städtischen Organisation zu verändern, allerdings in einer Weise, die immer unbeständig und unvollkommen bleibt.« [Castells 1975, S. 37]


Die Jahrestage urbaner Aufstände, Revolten und Besetzungsbewegungen sind dieses Jahr zahlreich. 150 Jahre sind seit der Pariser Commune vergangen, vor 10 Jahren fand der Arabische Frühling statt, die Occupy-Bewegung ereignete sich, das Movimiento 15-M besetzte zahlreiche Plätze in Spanien und in Athen wurde der Syntagma-Platz besetzt. Vor 40 Jahren, also 1981, war die Besetzungsbewegung in europäischen Städten, darunter auch in Wien, besonders stark. Die Wiener Stadtregierung zeigte in dieser Zeit eine ungewohnte Bereitschaft, Häuser für soziale und kulturelle Zentren zur Verfügung zu stellen. Grund dafür war weniger die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Räume, als – angesichts der starken Burggartenbewegung – vielmehr die Angst mit Verhältnissen wie im damaligen Zürich (Züri brennt) konfrontiert zu werden. Daraus hervorgegangen sind das WUK, eines der größten soziokulturellen Zentren Europas, das bereits nach zwei Jahren wieder geräumte Kultur- und Kommunikationszentrum Gassergasse und wenig später die heute noch existierende Rosa Lila Villa.

Rückblickend wird gerne die Frage gestellt, ob Bewegungen und Proteste erfolgreich waren, ob sie folgenlos verpufft sind oder ob sie langfristig gar die herrschenden Verhältnisse gestärkt haben. Dem Kapitalismus wird immer wieder bestätigt, dass er es hervorragend schafft, kritische Positionen zu vereinnahmen und aus Krisen gestärkt hervorzugehen. Die Stadtforscherin und Politikwissenschaftlerin Margit Mayer weist darauf hin, dass beispielsweise die in den 1960er Jahren verbreitete Forderung nach der Freiheit individueller Lebens­entwürfe im Fordismus zwar einen kritischen, gegenkulturellen Gehalt hatte, sich heute jedoch nahtlos in die neoliberale Ideologie einordnen lässt und in Werbespots in Szene gesetzt wird. Wobei dies natürlich nur gilt, wenn sich der Ausdruck der persönlichen Individualität mittels Konsum darstellt.

Occupy Wall Street wird beispielsweise gerne unterstellt, folgenlos geblieben zu sein, weil es keine politische Führung gab, keine konkreten Forderungen gestellt wurden oder es nicht gelungen ist bzw. gar kein Ziel war, sich mit lokalen Kämpfen zu verknüpfen. Vergessen wird dabei, dass Occupy zwar als Aktion unter diesem Namen verschwunden sein mag und keine überschriftsreifen Ziele erreicht hat, die Teilnahme jedoch vermutlich die allermeisten Aktivist:innen ganz individuell geprägt und verändert hat. Manche haben sich sicher enttäuscht zurückgezogen, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele von ihnen in Folge politischen Gruppen beigetreten sind, selbst Initiativen gestartet oder sich für Bewegungen engagiert haben. Occupy fand nicht nur im Zuccotti Park, sondern an rund 1.000 Orten in den USA statt. 2016 haben ehemalige Occupy-Wall-Street-Aktivist:innen die Kandidatur von Bernie Sanders unterstützt, heute gibt es speziell unter jungen Leuten in den USA ein hohes Interesse für linke Politik. Bewegungen wie die Democratic Socialists of America (DSA), in der Alexandria Ocasio-Cortez Mitglied ist, konnten ihre Mitgliederzahlen in den letzten Jahren vervielfachen, sozialistische Zeitschriften wie Jacobin haben zigtausend Leser:innen.

Die akademischen Debatten um die richtigen Strategien für einen Wandel bewegen sich seit etlichen Jahren im Feld zwischen den Schlagworten Autonomie und Hegemonie oder wie es Chantal Mouffe 2005 in einem ihrer Buchtitel formuliert hat: Exodus und Stellungskrieg. In Österreich ist in den letzten Jahren der hegemoniepolitische Ansatz eindeutig präsenter, was auch mit einer Hegemonie der entsprechenden Theorieproduktion zu tun zu haben dürfte. »Stünde bei Ersteren das ›Abfallen vom Staat‹, das Desinteresse bzw. die Ablehnung klassischer Institutionen und die Etablierung autonomer Zonen im Fokus, so setzten Letztere auf die parteiförmig-parlamentarische Machtübernahme in staatlichen Schlüsselinstitutionen und den gezielten Kampf um Hegemonie.« [Sörensen 2019, S. 32]

Bei dérive haben wir uns nie auf eine der beiden Seiten geschlagen. Konkrete Alternativen im Hier und Jetzt in Form präfigurativer Projekte – vor etlichen Jahren haben wir einen Schwerpunkt mit dem Titel Citopia Now veröffentlicht – haben uns jedoch immer speziell interessiert, weil wir die unmittelbare Erfahrung mit demokratischen Prozessen für besonders wichtig und nachhaltig halten. Trotzdem sehen wir die Beteiligung an Wahlen, wie beispielsweise durch die munizipalistische Bewegung, und den Versuch, Institutionen zu erobern und zu verändern zu suchen, für ebenso probat. Dass ein Scheitern dabei immer möglich ist, liegt auf der Hand. Eine solche Offenheit heißt aber nicht, dass jede Strategie zu jeder Zeit, an jedem Ort und unter jedweden Umständen angebracht ist. Der Untersuchung der Bedingungen für die taktischen Möglichkeiten gesellschaftspolitischer Veränderungen sollte deswegen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, ohne die langfristigen inhaltlichen Grundsätze davon abhängig zu machen.

Ein Beispiel dafür, wie sich die politischen Bedingungen für soziale urbane Bewegungen in Buenos Aires in Zusammenhang mit dem Zugang zu Wohnraum im Laufe der Jahrzehnte gestaltet haben, stellen Judith M. Lehner und Alicia Gerscovich in ihrem Beitrag Widerstand und Gemeinschaft. Urbane soziale Bewegungen für das Recht auf Wohnraum in Buenos Aires vor. Sie zeigen, wie es die aktive Teilnahme an der Kommunalpolitik ermöglichte, die Voraussetzungen für selbstverwaltete Wohn­raumproduktion entscheidend zu verbessern und sowohl ein Gesetz als auch ein Wohnbauprogramm dafür zu erreichen.

Der Beitrag von Marvi Maggio über das Programm Nehmen wir uns die Stadt der Bewegung und späteren Partei Lotta Continua zeichnet nach, wie eine Analyse der Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen dazu geführt hat, den Raum der politischen Aktivitäten von der Fabrik auf den Stadtraum auszudehnen. Das Programm existierte nicht lange, markiert allerdings – zwei Jahre nachdem Henri Lefebvres Recht auf Stadt erschienen ist – sehr gut den Zeitraum, als der Kampf um den städtischen Raum (wieder) ins Zentrum gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen rückte.

Bildung ist ein Thema, das politische Bewegungen stets begleitete, das Selbstverständnis von Universitäten und ihre Position im gesellschaftlichen Gefüge sind dementsprechend wichtig. Brigitte Felderer, Leiterin eines universitären Masterstudiums, unternimmt in diesem Sinn für diesen Schwerpunkt »eine Selbstbefragung zu den Bedingtheiten universitärer Strukturen, soziale Bewegungen anzustoßen, mitzutragen und Universitäten als Freiräume aufzumachen«.

Die Kritik am unhinterfragten Wachstum hat parallel zur Klimakrise in den letzten Jahren wieder stark zugenommen. Auch in Wien gibt es eine entsprechende Initiative, Degrowth Vienna, die sich jüngst besonders intensiv mit Strategien für eine sozial-ökologische Transformation auseinandergesetzt hat. Das große Ziel einer solchen Transformation ist für Degrowth Vienna Wien als solidarische Postwachstumsstadt. »Wie kann eine Stadtpolitik aussehen, die die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben für alle bei gleichzeitiger Einhaltung planetarer Grenzen gestaltet?«, fragen (sich) Daniel Gusenbauer, Hannah Lucia Müller, Lisette von Maltzahn, Max Hollweg und Pedram Dersch, die Autor:innen des Beitrags für den Schwerpunkt.

Demokratische Räume – dem Thema haben wir letztes Jahr ein Schwerpunktheft gewidmet – sind nicht nur eine wichtige Voraussetzung, um Strategien eines gesellschaftlichen Wandels entwickeln zu können, sondern auch selbst Teil eines solchen Wandels, indem sie zur Demokratisierung der urbanen Gesellschaft beitragen. Björn Ahaus und Martina Nies stellen in ihrem Artikel Transformation von unten mit dem Fachgeschäft für Stadtwandel in Essen ein Stadtteilzentrum vor, das »mit seinem Angebot und seinen Aktivitäten lebendige Nachbarschaft, sozialökologischen Wandel und interkulturelle Gemeinschaft« verbindet.

Wenn also, um auf das Eingangszitat von Manuel Castells zurückzukommen, durch Einzelkämpfe eine Änderung der »allgemeine[n] Logik der städtischen Organisation« erreicht werden kann, dann ist das eine große Errungenschaft, die uns dem ›guten Leben für alle‹ einen großen Schritt näherbringen kann, auch wenn Castells zumindest damals (noch) meinte, so einen Erfolg durch ein ›nur‹ relativieren zu müssen. Die Sache mit der Umwandlung der Klassenherrschaft überlegen wir uns ein anderes Mal.


Literatur:
Sörensen, Paul (2019). Widerstand findet Stadt: Präfigurative Praxis als transnationale Politik ›rebellischer Städte‹. In: ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie, 10(1), S. 29–48. https://doi.org/10.3224/zpth.v10i1.03 [24.09.2021].
Castells, Manuel (1975): Kampf in den Städten. Gesellschaftliche Widersprüche und politische Macht. Westberlin: VSA

dérive, Di., 2021.11.09



verknüpfte Zeitschriften
dérive 85 Strategien des Wandels

13. September 2021Christoph Laimer
dérive

Einleitung

Immer wieder haben wir uns in dérive in den letzten Jahren mit Aspekten der Demokratisierung der urbanen Gesellschaft auseinandergesetzt und dazu Schwerpunkte...

Immer wieder haben wir uns in dérive in den letzten Jahren mit Aspekten der Demokratisierung der urbanen Gesellschaft auseinandergesetzt und dazu Schwerpunkte...

Immer wieder haben wir uns in dérive in den letzten Jahren mit Aspekten der Demokratisierung der urbanen Gesellschaft auseinandergesetzt und dazu Schwerpunkte veröffentlicht. Eine Gesellschaft vor Augen, die jedem und jeder ein Leben frei von Existenzängsten und in Würde bietet, die es ermöglicht, selbstbestimmt ein individuelles Leben in Freiheit zu führen und als Teil der Gesellschaft diese kollektiv mitzugestalten. Eine Gesellschaft ohne Ausschlüsse und Abhängigkeiten, aber mit der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen für Erreichtes einzustehen und dem gemeinsamen Auftrag, sie in einem permanenten Prozess weiterzuentwickeln. Heute den finalen Zustand einer idealen Gesellschaft zu konzipieren, ist weder möglich noch wünschenswert. Deswegen sehen wir es als Aufgabe, aktuelle Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen, ebenso wie aus dem Fokus geratene oder verdrängte Konzepte erneut zu diskutieren, wenn sie das Potenzial in sich tragen, unser Denken und Handeln zu inspirieren.

150 Jahre ist es her, seit die Stadtbevölkerung von Paris die Kommune ausgerufen hat. Wir zählen sie zu den erwähnten aus dem Fokus geratenen Ereignissen, über die heute nur Wenige genauer Bescheid wissen, woran selbst das Jubiläum trotz einiger erschienener Artikel, Publikationen und Radiosendungen nicht viel geändert hat. Die Pariser Commune war eine urbane Revolution, in der, obwohl sie für uns ein unbestritten historisches Ereignis ist, Fragen verhandelt wurden und Konstellationen gegeben waren, die tatsächlich immer noch aktuell und relevant sind.

Vorausgegangen war ihr der grundlegende Stadtumbau von Baron Haussmann unter der Ära von Napoleon III., der, begleitet von einer großen Spekulationswelle, viele Altbauquartiere im Zentrum dem Erdboden gleichmachte und Teile der Arbeiterschaft in die Peripherie verdrängte. Als Reaktion auf diese sozialräumliche Restrukturierung kam es zu heftigen Protesten von Seiten der Linken. Vorausgegangen war der Commune eine Periode der liberalisierten Versammlungsfreiheit in der Spätphase der Kaiserzeit, die eifrig genutzt wurde, um lautstark die Verhältnisse zu kritisieren, über Forderungen und politische Ideen zu diskutieren, sich zu organisieren und gemeinsame Anliegen zu erkennen. Vorausgegangen war ihr auch der Deutsch-Französische Krieg (1870/71), den Napoleon nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen vom Zaun gebrochen hatte. Die lange Belagerung von Paris hatte entscheidend zu einer Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in der Hauptstadt beigetragen, die letztlich zur Ausrufung der Commune führte.

Die Commune hatte große, beeindruckende Pläne, die kurze Dauer von nur 73 Tagen und die äußerst schwierige Situation durch die Belagerung und die Angriffe durch die Versailler Armee (siehe Ronneberger in diesem Heft) machten es allerdings fast unmöglich, diese auch nur ansatzweise umzusetzen. In einem Manifest formulierte der Rat der Commune sein Selbstverständnis und seine Vorstellungen: »Die Anerkennung und Festigung der Republik, der einzigen Regierungsform, die mit der gesetzmäßigen und freien Entwicklung der Gesellschaft vereinbar ist; die auf alle Gemeinden Frankreichs ausgedehnte unbedingte Selbstverwaltung der Kommune, jeder die Unverletzlichkeit ihrer Rechte und jedem Franzosen die volle Entfaltung seiner Fähigkeiten und Anlagen als Mensch, Bürger und Arbeiter sichernd. [...] Das Ende der alten gouvernementalen und klerikalen Welt, des Militarismus, der Bürokratie, der Ausbeutung des Börsenwuchers, der Monopole, der Privilegien, [...] (zit. nach Bruhat et al. 1971, S. 164). Manche Maßnahmen konnten rasch umgesetzt werden: so wurde ein zeitweiliger Mieterlass verkündet, um die Kriegslast gerechter zu verteilen, leerstehende Wohnungen wurden an vom Krieg Ausgebombte vergeben. Fälligkeitstermine für Schulden wurden verlängert, die Rückgabe verpfändeter Güter angeordnet und das Bildungswesen von der Kirche getrennt.

Interessant an der Commune ist, wie Roger V. Gould (1995) in seiner Untersuchung Insurgent Identities detailliert herausarbeitet, dass tatsächlich die Identität als Urban Community in Opposition zum Staat und zur Kirche für die Ausbildung der Commune entscheidend war und weniger beispielsweise die Forderung nach einem Recht auf Arbeit, das bei früheren Aufständen im Vordergrund stand. Auf den Barrikaden standen und in den Klubs diskutierten nicht nur Arbeiter und Arbeiterinnen, sondern die Bewohner:innen der angrenzenden Nachbarschaften, egal ob Arbeiterin, Künstler oder Kleinunternehmer, wobei unbestritten die Arbeiterklasse die große Mehrheit der Kommunard:innen ausmachte.

Nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten wie Lyon oder Marseille gab es kurze Phasen einer Commune. Diese konnten sich jedoch nur in geringem Ausmaß auf kollektive Massenaktionen stützen und Regierungssoldaten hatten – im Gegensatz zu Paris – wenig Mühe, die Aufständischen zur Aufgabe zu bewegen oder zurückzudrängen (Gould 1995, S. 192). Neben der Begeisterung in mehreren Städten für die Commune gab es jedoch genauso den fanatischen Klassenhass, der sich in einer unbeschreiblichen Feindseligkeit äußerte und schlussendlich dazu führte, dass durch die Versailler Armee in einem als blutige Woche in die Geschichte eingegangenem Gemetzel, je nach Schätzung 20.000 bis 30.000 Kommunard:innen getötet wurden. Dass damit auch erreicht werden sollte, die Erinnerung an die Commune auszuradieren, war vielen Kommunard:innen bewusst, weswegen unmittelbar nach ihrem Ende ein eifriges Niederschreiben von Erinnerungen und Analysen begann. Karl Marx veröffentlichte bereits wenige Tage nach Ende der Commune seinen Text Der Bürgerkrieg in Frankreich, in dem er noch begeistert schrieb, die Commune sei »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte« (Marx & Engels 1973, S. 342).

Ganz im Gegensatz zur Französischen Revolution spielt die Commune in Frankreich bis heute eine untergeordnete Rolle. Abgesehen vom 100-Jahr-Jubiläum, das 1971 in zeitlicher Nähe zu 1968 stattfand und das Wissen über die Commune auch aufgrund etlicher Publikationen verbreitete, ist sie heute fast wieder vergessen und weder Teil des Schulunterrichts noch des Alltagswissens.

Ein hohes Interesse und die entsprechende Aufmerksamkeit gab es von Anfang an vor allem in der historischen Arbeiterbewegung. Auch in Wien wurden die Jahrestage regelmäßig gefeiert. Karl Renner schwang sich in einem Artikel, der am Neujahrstag 1922 auf Seite 1 der Arbeiterzeitung erschienen ist, auf, auch das Rote Wien mit nachdrücklichem Verweis auf die Pariser Commune als Kommune zu bezeichnen: »Ein großes Erbe, eine gewaltige Neuschöpfung, ein kostbares Kleinod der Zukunft ist die Republik und Kommune Wien, Arbeiter von Wien, sie ist in eure Hand gegeben – bewahret, behütet sie denen die nach euch kommen, als teuerstes Vermächtnis!« (Arbeiter-Zeitung, 1.1.1922, S. 2). Auch wenn man das Rote Wien keineswegs direkt mit der Commune vergleichen kann, gibt es doch Parallelen, was die äußeren Umstände anbelangt. Eine Kriegsniederlage, das Ende eines politischen absolutistischen Systems, der fanatische Hass von Seiten des Bürgertums und schlussendlich die militärische Niederschlagung.

Unser Schwerpunkt trägt den Titel Place Internationale und bezieht sich damit auf die Umbenennung des Place Vendôme nach dem Sturz der Vendôme-Säule (siehe Becker in diesem Heft, S. 47–48) während der Commune. Die Commune verstand sich von Anfang an als universell und grenzte sich vom Nationalismus ab. Bereits am zweiten Tag nach ihrer Proklamation wurden alle Ausländer:innen aufgenommen. Die »Fahne der Commune ist die Weltrepublik« (zit. nach Ross 2021, S. 32) war in der Zeitung der Commune zu lesen. Ähnlich wie später im spanischen Bürgerkrieg beteiligten sich Internationalist:innen auf Seiten der Commune an ihrer Verteidigung. Die Kolonial- und Kriegspolitik Frankreichs wurde in den Klubs der Commune regelmäßig scharf kritisiert.

Nach der Niederschlagung der Commune mussten viele Kommunard:innen ins Exil gehen. Sie nahmen ihre Ideen dorthin mit, aber auch ihre Schriften verbreiteten sich und so gab und gibt es immer wieder urbane Kämpfe und Aufstände, die sich auf die Commune beziehen oder selbst Commune nennen – der lange Wellenschlag der Revolution. So rief die chinesische KP beispielsweise 1927 in Guangzhou eine Commune aus (Chak 2021), fünfzig Jahre später passierte das gleiche in Shanghai. Bei den Platzbewegungen 2011 waren immer wieder Plakate mit dem Slogan La Commune n’est pas morte zu sehen und auch heute stößt das Interesse am luxe communal (Luxus für alle) und der Selbstverwaltung wieder auf verstärktes Interesse, wie sich am Engagement für Commons zeigt.


[Literatur:
Bruhat, Jean; Dautry, Jean & Tersen, Emile (1971): Die Pariser Kommune von 1871. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.
Chak, Tings (2021): Guangzhou 1927: The Paris Commune of the East. In: The Funambulist 34, S. 20–23.
Gould, Roger V. (1995): Insurgent Identitites – Class, Community, and Protest in Paris from 1848 to the Commune. Chicago: The University of Chicago Press.
Hofmann, Julia & Lichtenberger, Hanna (2011): Von der Commune in die Stadtteile. In: Perspektiven – Magazin für linke Theorie und Praxis, Heft 14. Verfügbar unter:
http://www.workerscontrol.net/de/system/files/docs/Von%20der%20Commune%20in%20die%20Stadtteile.pdf (Stand 21.07.2021).
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1973) [1871]: Der Bürgerkrieg in Frankreich. In: Marx Engels Werke, Band 17, S. 342. Berlin: (Karl) Dietz Verlag.
Ross, Kristin (2021): Luxus für alle – Die politische Gedankenwelt der Pariser Commune. Berlin: Matthes & Seitz.]

dérive, Mo., 2021.09.13



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dérive 84 Place Internationale

27. Oktober 2020Christoph Laimer
dérive

Demokratische Räume

Vor rund 40 Jahren hat der Sozialwissenschaftler Ray Oldenburg den Begriff der Third Places geprägt und damit Räume bezeichnet, die weder der privaten...

Vor rund 40 Jahren hat der Sozialwissenschaftler Ray Oldenburg den Begriff der Third Places geprägt und damit Räume bezeichnet, die weder der privaten...

Vor rund 40 Jahren hat der Sozialwissenschaftler Ray Oldenburg den Begriff der Third Places geprägt und damit Räume bezeichnet, die weder der privaten Sphäre zuzuordnen sind noch dem Berufsleben. Räume, die ihren ersten großen Aufschwung erlebten, als es mit der Industrialisierung zu einer Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz kam. Oldenburg bezeichnete damit vorrangig soziale Orte der Geselligkeit wie Cafés, Pubs oder Klubs, aber auch Buchhandlungen oder Friseurläden – auch das Wiener Kaffeehaus findet in seinem gleichnamigen Buch prominente Erwähnung. Oldenburgs Third Places sind, wie er selbst schreibt, Orte, an denen die Menschen, die sie aufsuchen, nicht in die Rolle des*der Gastgebers*Gastgeberin schlüpfen müssen und es sind Orte, die man in erster Linie aufsucht, um in Gesellschaft zu sein, sich zu unterhalten, to »serve the human need of communication« (S. 20). Third Places sind Orte, die es erlauben zu kommen und zu gehen wann immer man will. Es gibt keine Verpflichtung zur Anwesenheit, es gibt keine Beginnzeiten, es gibt keine organisierten Treffen. Man kommt in der Gewissheit, jederzeit Leute zu treffen, mit denen sich eine gute Zeit verbringen lässt.

Third Places fungieren auch als Leveler, als Orte, die soziale Unterschiede ausgleichen und diese in den Hintergrund treten lassen. Die wichtige Rolle der Third Places sieht Oldenburg gerade darin, die Gesellschaft zusammenzuhalten: weil von Angesicht zu Angesicht diskutiert werden kann, weil man von seinen Mitmenschen ein umfassendes Bild bekommt, weil unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch kommen, die vor allem die Tatsache eint, sich zur selben Zeit am selben Ort aufzuhalten und nicht etwa gemeinsame Interessen, Ansichten oder Berufe. Third Places bilden für Oldenburg »the political forum of the common man« (S. 25). Die Orte selbst brauchen dafür ein »low profile« (S. 36) mit günstigen Konsumationsmöglichkeiten und einer »unimpressive« (ebd.) Gestaltung, die einladend, aber trotzdem neutral in ihrer sozialen Kodierung wirkt. Hipness und innenarchitektonischer Übereifer sind fehl am Platz, im Mittelpunkt stehen die Gäste. Allgemeine Voraussetzungen für das Funktionieren dieser dritten Orte sind aber auch heterogene, nicht segregierte Stadtviertel und das Vorhandensein von Freizeit.

All die erwähnten Voraussetzungen haben sich seit dem erstmaligen Erscheinen von Oldenburgs Werk im Jahr 1989 verschlechtert. Gentrifizierung hat in vielen Städten dazu geführt, dass Reiche und Arme noch seltener als zuvor in denselben Stadtvierteln wohnen, günstige Lokale gibt es nicht mehr an jeder Ecke und solche, in denen man sich stundenlang aufhalten kann, ohne ständig konsumieren zu müssen, schon gar nicht. Unimpressive zu sein will und kann sich heute kaum mehr wer leisten. Unaufgeregte, günstige und eben dadurch für unterschiedliche Schichten attraktive Beisln, Wirtshäuser, Kneipen und Cafés sind mit der Verwertung der Stadt vielerorts aus den Nachbarschaften verschwunden und durch nichts Gleichwertiges ersetzt worden. Vielleicht mit ein Grund, warum für nicht-kommerzielle, niederschwellige Räume, wie es sie in unterschiedlicher Ausprägung in vielen Städten gab und gibt, wieder verstärktes Interesse besteht.

Oldenburgs Studien haben zweifellos einen wichtigen Anstoß geliefert, um die Bedeutung von sozialen Räumen in der Stadt zu erkennen. Doch sie decken bei weitem nicht alle Aspekte ab, die wir unter der Bezeichnung Demokratische Räume diskutieren möchten. Denn neben Orten der niederschwelligen Begegnung braucht es auch eine Verfügbarkeit von Räumen, an denen Pläne geschmiedet, Projekte umgesetzt, Treffen abgehalten, Veranstaltungen durchgeführt und Experimente gestartet werden können, die Möglichkeiten der Selbstverwaltung, der Aneignung und Gestaltung bieten.

Räumliche Ressourcen: Demokratie als Prozess

Was aber macht Third Places und andere für alle zugänglichen Raumressourcen demokratiepolitisch so wichtig? Die Möglichkeiten, sich aktiv in die Gestaltung der eigenen Umwelt einzubringen und an der gesellschaftlichen Entwicklung Anteil zu nehmen, indem eigene Wünsche und Vorstellungen, eigenes Wissen und eigene Erfahrung eingebracht werden können und eine Rolle spielen, sind rar gesät und ungleich verteilt. Es braucht Selbstbewusstsein und das Wissen über Spielregeln, Strukturen und Netzwerke, um überhaupt in Betracht zu ziehen, Bestehendes in Frage zu stellen. Die Voraussetzungen für gesellschaftliches Engagement korrelieren mit dem sozialen Status. Sich gestaltend an der Gesellschaft zu beteiligen ist keine Selbstverständlichkeit.

Selbstverständlich und vorherrschend in unserer demokratiemüden Gesellschaft ist vielmehr, die Verhältnisse als gegeben hinzunehmen, darauf zu vertrauen, dass »die Politik« schon ihr Möglichstes tun wird, um für eine lebenswerte Gesellschaft zu sorgen, oder, was viel öfter der Fall ist, sich zumindest damit abzufinden, dass man ohnehin nichts ändern kann.

Die Dominanz des Neoliberalismus hat für viele eine Verschlechterung der Bedingungen gebracht, ein anständiges Leben führen zu können. Arbeitslosigkeit und Wohnkosten sind stark gestiegen, die Zahl der Jobs, die nur Hungerlöhne einbringen, ebenso. Arbeitsbelastung und Stress nehmen laufend zu, Solidarität und Klassenbewusstsein, und damit auch das Wissen darüber, dass es grundlegende gesellschaftliche Interessenskonflikte gibt und eben nicht jede*r ihres*seines Glückes Schmied ist, ab.

Stattdessen greift die Erzählung vom individuellen Versagen und der persönlichen Schuld, wenn sich statt Erfolg nur Burnout einstellt, wenn sich trotz massiver Arbeitsbelastung die Geldbörse lange vor Monatsende leert. Die Hoffnung, die Politik würde sich darum kümmern, dass alle ein Auskommen finden, schwindet bei immer mehr Menschen. Die Politikverdrossenheit steigt, Ohnmachtsgefühle sind weit verbreitet und populistische Parteien und Verschwörungstheorien im Aufwind.

Was aber tun, um einen neuen Pfad in Richtung mehr Demokratie einzuschlagen und den geschilderten Phänomenen entgegenzuwirken? Selbstverständlich braucht es mehrere Maßnahmen auf allen Ebenen. Doch die Nachbarschaften, das Grätzl und der Kiez bilden wichtige Ausgangspunkte für die Stärkung der Demokratie. Der Maßstab des Lokalen, des eigenen Lebensumfelds bietet konkrete Anlässe für Diskussion und Engagement. Hier kann erlebt werden, dass die eigenen Wünsche Berechtigung haben, kann Gegebenes in Frage gestellt und gemeinsam mit anderen um gute Lösungen gerungen werden. Im eigenen Viertel verfügt man über Alltagsexpertise, kennt die Probleme und Schwachstellen genauso wie ein paar Menschen, mit denen Vorstellungen diskutiert und ein Veränderungsprozess gestartet werden kann.

Sich austauschen, andere Meinungen und Erfahrungen kennenlernen, tätig werden und Ideen gemeinsam erfolgreich umsetzen, sind Interventionen gegen die Ohnmacht und damit auch Schulen der Demokratie. Doch aktives, öffentliches Engagement benötigt Raum, der niederschwellig und kostenlos zur Verfügung steht. Egal ob es sich um Engagement in Stadtentwicklungsfragen oder die Bildung eines Nachbarschafts-Treffs, um Eltern-Kind- Gruppen, Fablabs, Repair- oder Sprachcafés, Kunst, Kreativ-Experimente oder soziale Start-ups handelt: Ohne räumliche Ressourcen bleiben viele gesellschaftlich nützliche Ideen auf der Strecke. In einer Gesellschaft, die mehr und mehr auseinanderdriftet und deutliche demokratische Defizite offenbart, braucht es offene demokratische Räume als integralen Bestandteil für funktionierende Nachbarschaften, die für Stadtteilversammlungen genauso Platz bieten wie für informelle Treffen, gesellige Feierlichkeiten, Weiterbildung, Kulturveranstaltungen und gesellschaftspolitisches Engagement.

Top-down oder zwischengenutzt: Die Wiener Situation

In der Zweiten Republik wurden Institutionen, die man tendenziell als offene Räume bezeichnen kann wie Volkshochschulen oder Büchereien, in Wien zwar wieder in Betrieb gesetzt und später auch neue wie die Volksheime oder die Häuser der Begegnung gegründet, aber im Vordergrund stand stets ein Top-down-Angebot und ideologische Vorstellungen wie beispielsweise »der Vermassung des Einzelnen in der Stadt« entgegenzuwirken (Ganglbauer 2012). Räume einfach günstig und unkompliziert als Ressource zur Verfügung zu stellen oder vielleicht sogar offensiv anzubieten, wurde von der Stadt nahestehenden Institutionen nie aufgegriffen oder umgesetzt.

Die Kultur suchte sich eigene Räume und fand sie in der Nachkriegszeit nicht zuletzt in den Kellern der Stadt. Auch die Wiener Kaffeehäuser bildeten noch lange Zeit wichtige Ressourcen als Treffpunkte für Künstler:innen, politische Gruppen und Initiativen.

In den 1970er- und 80er-Jahren standen in Folge des Strukturwandels vermehrt Gewerberäume, Fabriksgebäude und anderer Leerstand zur Verfügung, der von einer neuen Generation besetzt wurde. Einige davon bilden bis heute wichtige Orte für eine selbstbestimmte Alternativkultur und gesellschaftspolitisches Engagement wie Arena, WUK, Amerlinghaus oder EKH. Trotz ihres Stellenwerts für die Stadt mussten alle in den letzten Jahren um ihr Überleben kämpfen. Andere sind mit großer Brutalität geräumt worden wie etwa die Besetzungen in der Gassergasse und Aegidigasse. Insgesamt spielten Besetzungen in Wien im Vergleich zur Schweiz und Deutschland immer nur eine Nebenrolle. Der Umgang damit war und ist, bis auf eine kurze Phase, stets sehr restriktiv. Damit blieb und bleibt ein interessanter Nährboden für gesellschaftliche Entwicklungen, den Besetzungen bilden können, in Wien stark unterentwickelt. Wie wichtig aber die Erfahrungen eines experimentellen und selbstbestimmten Umgangs mit (Frei)Räumen sind, zeigen die Gründungen der heute hochbeachteten, weil sozial und baulich höchst innovativen Zürcher Wohnbau-Genossenschaften oder des Mietshäuser Syndikats in Deutschland, die jeweils aus Hausbesetzungsbewegungen hervorgegangen sind (siehe auch das Interview mit Andreas Wirz in dérive 77, S. 6–12).

Neue Räume in Wien entstehen derzeit im Umfeld von gemeinschaftlichen Hausprojekten, die aber bis auf wenige Ausnahmen relativ klein sind. Ein weiterer Versuch, (sozio) kulturelle Räume zu schaffen, stellt das Konzept der Ankerzentren dar, mit dem die Wiener Kulturpolitik dezentrale kulturelle Angebote in die Randbezirke bringen will. Ob sich diese Orte zu Ressourcen für eine selbstbestimmte und aktive Stadtgesellschaft entwickeln werden, wird sich erst zeigen. Dass sie maximal eine längst nötige Ergänzung, aber sicher nicht ein Ersatz für bestehende zentrale Räume sein können, ist jedoch heute schon klar.

Dominiert wird die aktuelle Debatte vom Thema Zwischennutzung, das in Wien noch immer als Allheilmittel gegen den steigenden Raumbedarf speziell für Kunst und Kreativwirtschaft gesehen wird. Vor allem aber wird Zwischennutzung sehr strategisch zur Attraktivierung von Stadtentwicklungsgebieten eingesetzt, immer unter dem Vorzeichen der großen Dankbarkeit der NutzerInnen und ohne jegliche Diskussion darüber, wer hier Werte schafft, und wer davon profitiert.

In den letzten zwei Jahrzehnten sind auch in Wien viele genutzte oder potenziell nutzbare Räume verschwunden. Sie fallen der Stadtentwicklung oder dem Umstand zum Opfer, dass sich Immobilieninvestor:innen mittlerweile für Stadtgegenden und Objekte interessieren, die lange Zeit außerhalb von Entwicklungsinteressen standen. Die Ideologie der Ökonomisierung aller Lebensbereiche macht auch in Wien weder vor öffentlichen Räumen noch vor Räumen für künstlerische, soziale und gesellschaftliche Anliegen halt. Die generelle Inwertsetzung von Raum und Ressourcen verhindert die Entfaltung von gesellschaftlichen Potenzialen zur Lösung von Zukunftsfragen. Sie produziert soziale Ausschlüsse, gesellschaftliche Ungleichheit und demokratiepolitische Defizite. Die Verfügbarkeit von Raum für Tätigkeiten, die außerhalb einer monetären Verwertbarkeit liegen, ist damit eine hochpolitische Frage und berührt die Zukunft der städtischen Gesellschaft.

Gemeingüter, Commons und PCPs

Doch wie sollen und können unter den herrschenden Bedingungen hybride demokratische Räume für die urbane Gesellschaft entstehen? Interessante Ansätze liefert das Konzept der Gemeingüter oder Commons, das seit einigen Jahren eine viel beachtete Renaissance feiert. Die Potenziale der Commons, geteilter materieller Ressourcen, die einen Möglichkeitsraum jenseits von Staat und Privat eröffnen und damit die Eigentumsfrage neu verhandeln, werden in alle Richtungen erforscht und in ihrer Anwendung laufend erweitert. Unauflöslich damit verbunden ist die soziale Praxis des Commoning, der gemeinsamen, radikal-demokratischen Aushandlung und Verwaltung eben jener Ressourcen zum Vorteil aller. Immer mehr progressive europäische Städte widmen sich der Entwicklung eines Regelwerks für urbane Commons als Grundlage für Privat-Civic-Partnerships (PCPs), also einer Zusammenarbeit zwischen Stadtpolitik und Stadtgesellschaft auf Augenhöhe.

In der vorliegenden Ausgabe werfen wir Schlaglichter auf einzelne Entwicklungen und Beispiele von demokratischen Räumen, die von Polen bis Argentinien und Brasilien reichen. Ein besonderer Schwerpunkt gilt auch Zürich, das mit den Gemeinschaftszentren sowohl über ein Netz von Einrichtungen verfügt, das sowohl eine breite Versorgung der Stadtbevölkerung mit Räumen garantiert als auch durch seine Geschichte der Besetzungen immer wieder viele Freiräume entstehen sah und sieht. Zum Thema Commons und Raum findet sich mit L200 ebenso ein Beispiel im Heft. Auch Polen verfügt, wie andere Länder des ehemaligen Ostblocks, über ein reiches Erbe an Kulturhäusern, die ein großes räumliches Potenzial bereithalten. Besonders beeindruckend sind die Beispiele aus Südamerika, die wir in diesem Schwerpunkt vorstellen: Die Nachbarschaftszentren in Argentinien ebenso wie die sozialen Museen und die SESCs in Brasilien.

Die redaktionelle Arbeit an diesem Schwerpunkt hat gezeigt, dass es sowohl eine große Geschichte an demokratischen Räumen als auch wiederkehrendes Interesse daran gibt, es aber an umfassender und breiter Forschung zum Thema fehlt. Die meisten Forschungsarbeiten widmen sich einzelnen Phänomenen wie den Centri Sociali in Italien oder den Volksbildungseinrichtungen in Österreich, die Suche nach dem Gemeinsamen und Übergreifenden, die Analyse des gesellschaftlichen und demokratiepolitischen Potenzials existiert jedoch erst in Ansätzen. Einen kleinen Beitrag will dieser Schwerpunkt dafür leisten.

dérive, Di., 2020.10.27



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dérive 81 Demokratische Räume

17. August 2020Christoph Laimer
dérive

Gegen eine Rückkehr zur Normalität: Zum Schwerpunkt Pandemie

Es ist erst wenige Monate her, dass Regierungen weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt haben....

Es ist erst wenige Monate her, dass Regierungen weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt haben....

Es ist erst wenige Monate her, dass Regierungen weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt haben. Seit einigen Wochen werden diese Maßnahmen zurückgenommen, in manchen Ländern, weil sich die Situation tatsächlich zum Besseren gewendet hat, in anderen wohl vorrangig deshalb, weil wirtschaftliche Interessen bedient werden wollen. In dieser Zeit sind Unmengen von Artikeln und Beiträgen zu Covid-19 veröffentlicht worden, trotzdem finden wir es als Redaktion einer Zeitschrift für Stadtforschung angebracht, einen eigenen Schwerpunkt zum Thema Pandemie zu veröffentlichen. Das hat einerseits damit zu tun, dass Gestalt und Ordnung von Städten viel mehr von Seuchen und Krankheiten beeinflusst und geprägt sind, als man gemeinhin annimmt und andererseits damit, dass es für uns als kritische Zeitschrift ein wichtiger Zeitpunkt ist, um auf das Versagen eines Systems hinzuweisen, das noch selten so offensichtlich war.

Das Leben in Städten war die längste Zeit ihrer Existenz von einer sehr hohen Sterblichkeit gekennzeichnet. Die Lebenserwartung von Stadtbewohner:innen lag über Jahrhunderte um einiges unter derjenigen der Landbevölkerung. Krankheiten und Seuchen rafften regelmäßig große Teile der Bevölkerung hinweg. Das war im antiken Rom und Athen nicht anders als in den europäischen Städten des 14. bis 18. Jahrhunderts, über die der Anthro­pologe Mark Nathan Cohen schreibt, dass sie möglicherweise die »am stärksten von Krankheiten befallenen und am kürzesten lebenden Bevölkerungen in der Geschichte der Menschheit« (zit. nach Bollyky 2019) waren. Pest-, Typhus- und Choleraepidemien wüteten und kosteten jeweils tausenden Menschen das Leben. Vor allem natürlich jenen, die aufgrund ihrer Armut ihr Dasein unter miserablen Wohnbedingungen und katastrophalen hygienischen Zuständen fristen mussten.

Doch obwohl Bourgeoisie und Arbeiterklasse natürlich nicht in denselben Vierteln wohnten, waren auch Bürger:innen nicht davor gefeit, an Seuchen zu erkranken und zu sterben. Gegenmaßnahmen waren also notwendig, nicht zuletzt auch, um den »Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern« (Marx & Engels 1972, S. 488), wie im Kommunistischen Manifest zu lesen ist, das während der Hochzeit der Typhus- und Choleraepidemien verfasst wurde. Friedrich Engels sah »die menschenfreundlichen Bourgeois in edlem Wetteifer für die Gesundheit ihrer Arbeiter« (Engels 1999, S. 233) entbrennen. Dass genau dieser Aspekt auch in Zeiten von Covid-19 nicht übersehen werden sollte, darauf weißen Vilenica et al. in ihrem Artikel Covid-19 und die Wohnungskämpfe (S. 46–54) hin.

In den letzten Cholera-Epidemien in Wien (1866 und 1873) starben fast nur mehr arme Stadtbewohner:innen.1 Die Unterprivilegierten waren den Seuchen aber nicht nur am stärksten ausgesetzt, sie wurden auch immer wieder für ihre Verbreitung verantwortlich gemacht und im Zuge solcher Kampagnen als gefährliche Klasse denunziert. Zuletzt beispielsweise Bewohner:innen des Iduna-Zentrums in Göttingen oder eines Asylwerber*innenheimes in Wien. In diesem Zusammenhang ist auch die Dichte-Debatte zu sehen, die den städtebaulichen Diskurs seither begleitet.

Aus dem Umstand, dass Arbeiter:innen in sehr dichten Wohnvierteln lebten und leben, wurde und wird immer wieder der Schluss gezogen, Dichte an sich wäre das Problem, das es zu beseitigen gilt. Die Fantasien und Gerüchte darüber, wie das Leben in den dichten Arbeiter*innenquartieren aussieht – Kriminalität, Promiskuität, Krankheiten – war nicht nur für hetzerische Kampagnen und Werke der Literaturgeschichte verantwortlich, sondern in Folge auch für städtebauliche Konzepte, die beispielsweise für die aufgelockerte Stadt eintraten. Nicht die physisch ruinösen Arbeitsbedingungen, die fehlende Möglichkeit zur Regeneration aufgrund extrem langer Arbeitszeiten, Unterernährung bzw. ungesunde Ernährung, fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung oder völlig unzureichend ausgestattete, feuchte Wohnungen seien das Problem, sondern die Dichte. Die Dichte, die genau das ermöglichte, was das Überleben irgendwie möglich machte: alltägliche Solidarität und gegenseitige Hilfe im Viertel. Bis heute passiert es, dass soziale Strukturen sowie die lokale Möglichkeit für (informelle) Arbeit unter dem Vorwand, bessere Wohnverhältnisse für Slumbewohner:innen zu schaffen, zerstört werden, indem die verantwortlichen Politiker:innen die Bewohner:innen an den Stadtrand absiedeln. Zufälligerweise können die ehemaligen Grundstücke dann immer wieder teuer verkauft oder mit ertragreichen Immobilien bebaut werden.

Zwei der wichtigsten baulichen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung waren der Bau stadtweiter Kanalisationsnetze und die Versorgung aller Haushalte mit sauberem Trinkwasser. In Wien konnte die Cholera endgültig erst mit dem Bau der äußerst eindrucksvollen 95 km langen, 1873 eröffneten. Wiener Hochquellenleitung, die die lokalen Hausbrunnen ersetzte, und der Wienflussregulierung im Zuge des Baus der Stadtbahn, verdrängt werden.

Neben reinem Wasser galten und gelten natürlich auch saubere Luft und Licht als wichtige Voraussetzungen für ein gesundes Leben in der Stadt, wobei die Annahme der Bedeutung sauberer Luft bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch eine Folge der ebenso gebräuchlichen wie falschen Annahme, giftige Ausdünstungen des Bodens (Miasma) seien für die Ausbreitung von Seuchen verantwortlich, zurückzuführen ist.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Errichtung von Parks, Spielplätzen und sogar Schrebergärten als sozialhygienische Maßnahme im Sinne der Gesundheitsversorgung gesetzt wurde.3 Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl New Yorks Central Park, die »Lunge der Stadt« wie sie der Landschaftsarchitekt Frederick Olmsted, der gemeinsam mit dem Architekten Calvert Vaux den Wettbewerb für die Gestaltung des Central Parks gewonnen hat, bezeichnete.

Covid-19 und die Wirtschaftskrise

Wie zu den Zeiten der großen Epidemien des 19. Jahrhunderts geht es auch heute bei all den Hilfsmaßnahmen nicht darum, langfristig neue Strukturen aufzubauen, die gegenüber Krisen resilienter sind und nicht jedes Mal aufs Neue zig Millionen vor existenzielle Probleme stellen, sondern darum, den stockenden Motor des Kapitalismus wieder in Gang zu bringen: Koste es, was es wolle. Unser Wirtschaftssystem wäre aufgrund seiner hohen Produktivität ohne Probleme in der Lage, Güter in einem Ausmaß zu produzieren, die eine ausreichende Versorgung der Menschheit mit allem Lebensnotwendigen garantiert. Das Paradox an unserer aktuellen Situation ist nun, dass es zu einer Wirtschaftskrise gigantischen Ausmaßes kommt, weil eine Pandemie es notwendig macht(e), für ein paar Wochen den Arbeitsalltag neu zu organisieren und einige Bereiche vorübergehend einzustellen. Das Problem ist nun aber nicht, dass es zu wenige Lebensmittel, Kleidung oder Wohnungen gibt, sondern, dass viele Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit über weniger oder kein Einkommen mehr verfügen, um diese bezahlen zu können. Gleichzeitig fragen sich Investor:innen, ob es schon der richtige Zeitpunkt ist, um wieder Aktien zu kaufen oder sie besser warten sollten, bis die Krise noch größer wird, weil der zu erwartende zukünftige Profit dann noch höher sein wird.4 Normalerweise verkündet die Ideologie-PR in Situationen, in denen Menschen vor existenziellen Problemen stehen, sie seien zu wenig tüchtig, zu wenig gebildet, zu wenig hartnäckig, zu unflexibel, zu wenig leistungsbereit etc. und brauchen sich deswegen nicht wundern, wenn sie nicht ausreichend Geld zur Verfügung haben. Doch diesmal ist es einfach völlig offensichtlich, dass keiner dieser Gründe angeführt werden kann, weil niemand, der/die durch die Pandemie arbeitslos geworden ist oder nun weniger Einkommen hat als zuvor, selbst dafür verantwortlich gemacht werden kann.

Und siehe da, jetzt wo das System in Gefahr ist, weil die Kaufkraft bzw. die Möglichkeit Geld auszugeben nicht mehr im notwendigen Ausmaß vorhanden sind, können plötzlich hunderte Milliarden Euro und Dollar aufgebracht werden, die teils freihändig verteilt werden, um den Laden wieder in Schwung zu bringen. Wie schon bei der Finanzkrise 2008 zeichnet sich auch bei Covid-19 ab, dass keinerlei Überlegungen angestellt werden, wie die Grundversorgung der Menschheit in Zukunft auch in Zeiten von Krisen aufrecht erhalten werden könnte, ohne jedes Mal große Teile der Bevölkerung unnötig dem Ruin auszuliefern. Was, um es noch einmal zu betonen, angesichts der Tatsache, dass es die Güter gibt oder sie jederzeit hergestellt werden könnten, die dafür notwendig sind, besonders grotesk ist.

Die Milliarden, die jetzt verteilt werden, dienen ausschließlich dazu, die Mauern des Systems zu stützen und die Löcher zu stopfen, damit möglichst schnell die Rückkehr zu dem, was aktuell unter den Begriff Normalität läuft, gelingt. Doch genau diese Normalität gilt es in Frage zu stellen. Die Pandemie zeigt, wie wichtig eine soziale Infrastruktur und eine eigenständige Alltagsökonomie für ein gutes Leben für alle sind (siehe dazu die Beiträge von Bärnthaler et al., S. 06–11 sowie von Ayona Datta auf S. 18–20) und dass es der Gebrauchswert der Güter ist, auf den wir schlussendlich zählen können müssen und nicht der Tauschwert (Berardi 2020).

dérive, Mo., 2020.08.17



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dérive 80 Pandemie

20. Januar 2020Christoph Laimer
dérive

Das Ende der Nordbahnhalle

Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum betitelten wir in der Oktober-Ausgabe von dérive den Zwischenstandsbericht zur Auseinandersetzung um...

Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum betitelten wir in der Oktober-Ausgabe von dérive den Zwischenstandsbericht zur Auseinandersetzung um...

Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum betitelten wir in der Oktober-Ausgabe von dérive den Zwischenstandsbericht zur Auseinandersetzung um die Zukunft der Wiener Nordbahnhalle als sozialkulturelles Zentrum. Im Titel schwang zugegebenermaßen eine ordentliche Portion Optimismus mit. Die GegnerInnen dieses Plans waren nicht zahlreich, saßen aber an den entscheidenden Stellen. Trotz breiter Unterstützung aus der Nachbarschaft und hohem medialem Interesse war der Weg der IG Nordbahnhalle[1] von Anfang an steinig, und es war klar, dass mit der konkreten Umsetzung der schwierigste Abschnitt noch bevorstehen würde. Einen guten Monat nach Veröffentlichung des Artikels ist in der Nordbahnhalle überraschend ein Feuer ausgebrochen, dessen Rauchsäule weit über Wien sichtbar war. Die Halle wurde schwer beschädigt. Mitte Dezember, noch bevor die Untersuchungen zur Brandursache abgeschlossen waren, hat der Abriss der Halle begonnen. Der Brand markiert das spektakuläre Ende eines Möglichkeitsraums, der ein Modellprojekt für Wien hätte werden können. Die verantwortlichen Stellen der Stadt Wien taten alles, um das nicht erkennen zu müssen. Eine dokumentarische Aufarbeitung.

Kapitel 1: Der Wert der Partizipation

Für die Entwicklung des Geländes des ehemaligen Nordbahnhofs war ein umfangreicher Partizipationsprozess vorgesehen, der im Herbst/Winter 2013/14 stattfand. 27.500 Haushalte waren zur Teilnahme eingeladen. Dieser Prozess bestand aus Grätzel-Cafés, Dialogveranstaltungen, einer Planungswerkstatt und weiteren Formaten. Hunderte NachbarInnen hatten die Möglichkeit, Ideen und Vorschläge einzubringen. Ein Team von ExpertInnen stand für Beratung zur Verfügung – und wohl auch dafür, die Wünsche zu kanalisieren. Die eingebrachten Ideen wurden diskutiert, von den ExpertInnen bewertet und schlussendlich unter den Kapiteln Mobilität, Nutzung und Bebauung sowie Grün- und Freiraum zusammen- gefasst. Am 17. Februar 2014 fand das dritte und letzte Grätzel-Café statt. Auf der Tagesordnung stand der Punkt Finale Empfehlungen der BürgerInnen. Was wünschten sich die damaligen BewohnerInnen des Nordbahnviertels, drei bis vier Jahre bevor (!) die Nordbahnhalle erfunden wurde?

– Ein »Bildungs- und Kulturzentrum, das vielfältig und Generationen übergreifend genutzt werden kann [und] zur Belebung des Stadtteils beiträgt.«
– »Räumliche Vernetzung zwischen Altbestand und Neubau bzw. in die freie Mitte hinein.«
– »Mögliche (Zwischen-)Nutzungen im Freiraum und in bestehenden Gebäuden: kulturelle Nutzung der bestehenden Gebäude, Tunnel, Hallen und in Freiräumen, z. B. für Kunst/ Kultur (Installationen ...), Proberäume, Clubs, Diskos, als Skaterpark.«

Die drei Punkte sprechen für sich, einige Details sollten trotzdem hervorgehoben werden. Der Wortteil »Zwischen« bei Zwischennutzung steht in Klammern, es wurde also nicht nur an Zwischennutzungen, sondern an ganz normale Nutzungen gedacht. Besonders wird die Nutzung von bestehenden Gebäuden hervorgehoben. In der Aufzählung, welche Gebäude das sein könnten, kommt das Wort Halle vor. Ein sprachlicher Zufall? Nein. Der Partizipationsprozess ist gut dokumentiert und so ist im Detail nachzulesen, was in der Wunschliste stand, bevor die Punkte zusammengefasst wurden. Eine Liste aus dem ersten Grätzel-Café, an dem 300 NachbarInnen teilnahmen, hält fest, dass sich die TeilnehmerInnen den »Mehrerhalt bestehender Substanzen« wünschen, als konkretes Beispiel »Halle neben Wasserturm«.[2] Diese Halle neben dem Wasserturm wurde 2017 durch ein Forschungsprojekt der TU Wien zur Nordbahnhalle. Während des Beteiligungsprozesses war sie noch von der Firma IMGRO als Lagerhalle für Lebensmittel genutzt worden.

Dieser frühzeitig eingebrachte Wunsch der Nachbarschaft nach Erhalt der Halle neben dem Wasserturm wurde von den GegnerInnen der Nordbahnhalle geflissentlich übersehen und unter den Teppich gekehrt. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass weder im Leitbild für das Viertel noch im Partizipationsprozess von der Nordbahnhalle die Rede sei und die Halle deshalb auch keine Existenzberechtigung hätte und abgerissen werden müsse. Eine rhetorisch gesetzte Nebelgranate, wurde der Name Nordbahnhalle für die Lagerhalle neben dem Wasserturm doch erst 2017 erfunden. Sie konnte somit unter diesem Namen im 2013 und 2014 stattfindenden Beteiligungsprozess gar nicht auftauchen. Als Gebäude und als Konzept war sie jedoch explizit erwünschtes Ergebnis der Partizipation: Der Wert der Halle neben dem Wasserturm war den NachbarInnen lange vor der Bespielung durch die TU Wien bewusst.

Auch das spätere Raumprogramm für diesen ungewöhnlichen und identitätsstiftenden Ort war von den TeilnehmerInnen des Partizipationsprozesses bereits grob umrissen worden. Als Ideen und Vorschläge für das Nordbahnviertel wurden im Protokoll des ersten Grätzel-Cafés notiert[3]: Ort für Kulturveranstaltungen ohne Konsumzwang; Treffpunkt für GrätzelbewohnerInnen ohne Konsumzwang; Mehrzweckhalle (Jugend, Theater ...); Sozialaspekt Begegnungszone: Lokale/Vereinslokale; Park-Gastronomie; Weltcafé; Speakers Corner; (Erwachsenen-)Bildungszentrum; Arena für kulturelle Open-Air-Veranstaltungen; flexibel genutztes Gebäude in zentraler Lage.

Blickt man zurück und hält sich die mehr als 500 Veranstaltungen vor Augen, die in der Nordbahnhalle stattgefunden haben, wird deutlich, dass ein großer Teil dieser Vorstellungen in den zweieinhalb Jahren der Nutzung bereits Wirklichkeit geworden waren. Kombiniert mit dem Potenzial einer langfristigen Nutzung durch eine selbstorganisierte, zivilgesellschaftliche und gemeinwohlorientierte Trägerschaft wären alle diese Ideen einer lebendigen Nachbarschaft umsetzbar gewesen. Doch die Ergebnisse der Partizipation ergeben vor allem viel hübsches Papier, dessen Wert sich in der Visionslosigkeit der politischen Entscheidungsträger und den Interessen der Bauträger auflöst. Entschieden wird auch unter rot-grün top-down.

Kapitel 2: Ein Handbuch zum städtebaulichen Leitbild

2015 wird das Handbuch zum städtebaulichen Leitbild Nordbahnhof[4] veröffentlicht. Herausgeberin ist die MA 21 – Stadtteilplanung und Flächennutzung, also eine offizielle Stelle der Stadt Wien. Die AutorInnen sind die ArchitektInnen und StadtplanerInnen Bernd Vlay und Lina Streeruwitz, die für den Masterplan des Nordbahnviertels verantwortlich und somit die ErfinderInnen der Stadtwildnis Freie Mitte[5] sind. Das Hand- buch bildet die zentrale Publikation für die Entwicklung des Stadtteils. Es enthält die Leitlinien und Konzepte der PlanerInnen ebenso wie einen detaillierten Bericht über den Partizipationsprozess. Es informiert darüber, welche Empfehlungen aus dem Beteiligungsprozess als Zielsetzung ins Leitbild übernommen wurden. Alle drei bereits erwähnten finalen Empfehlungen aus dem Partizipationsprozess wurden, wie es wörtlich heißt, »weitgehend« ins Leitbild aufgenommen.

Im städtebaulichen Leitbild werden fünf Bereiche und Bestandsgebäude der Freien Mitte dezidiert für soziale und kulturelle Nutzungen ausgewiesen. Trotz dieser Verankerung und des Partizipationsprozesses sind zwei davon mittlerweile abgerissen bzw. unbrauchbar gemacht. Es handelt sich dabei um zwei Tunnel (Doppeltunnel) und ein Gebäude, das in unmittelbarer Nähe stand. Der Doppeltunnel war als »soziokulturelles Lernzentrum mit Veranstaltungen« (S. 65), das Gebäude als »Kinderhaus« (ebd.) gedacht. An einer anderen Stelle im Handbuch heißt es über die Nutzung des Doppeltunnels: »Eine Nachmodellierung mit Sitzstufen könnte den Raum vor dem Kulturtunnel zu einer attraktiven Veranstaltungsfläche mit Außenbereich werden lassen.« (S. 129) Über das benachbarte Gebäude: »An dieser Stelle soll, im Bestandsgebäude oder in einem neuen Gebäude, soziale Infrastruktur für alle Generationen angeboten werden.« (ebd.) Der Doppeltunnel wurde mittlerweile zugeschüttet, das Generationenhaus abgerissen. Die IG lebenswerter Nordbahnhof, ein Zusammenschluss von BewohnerInnen des Viertels, schrieb in einem Blogeintrag im Februar 2018 über den »furchtbar gedankenlosen« Umgang mit der Substanz am Areal; weiter heißt es: »Und so ist passiert, was eigentlich nicht passieren sollte. Ein historischer Bestand ist ohne Not zerstört.«[6]

Mit der Verbindlichkeit des Leitbilds scheint es also nicht weit her: Während die Nordbahnhalle, so wurde von den GegnerInnen argumentiert, weg sollte, weil sie im Leitbild namentlich nicht erwähnt wird, wurden der Doppeltunnel und das Generationenhaus zerstört, obwohl sie im Leitbild mehrfach erwähnt werden. Der naheliegende Gedanke, dass die in den beiden zerstörten Einrichtungen geplanten sozialen und kulturellen Funktionen vielleicht in der Nordbahnhalle umgesetzt hätten werden können, wollte keinem der Verantwortlichen kommen.

Kapitel 3: Die Petition an den Wiener Gemeinderat

In Wien besteht die Möglichkeit, eine BürgerInnenpetition an den Gemeinderat zu richten. Voraussetzung sind 500 Unterschriften von in Wien lebenden Menschen und ein Anliegen, das die Gesetzgebung oder Verwaltung der Stadt Wien betrifft. Das Anliegen muss im Ausschuss des Landtags behandelt werden, ist aber in keiner Weise bindend. Obwohl sich die IG Nordbahnhalle von der Petition nicht viel erwartet hatte, weil von anderen Initiativen bekannt war, wie zahnlos das Instrument ist, entschloss sie sich, einen Petitionstext zu formulieren und Unterschriften zu sammeln. Aufgrund der großen Unterstützung aus der Nachbarschaft konnte die Petition rasch eingereicht werden.[7] Für November wurde die IG Nordbahnhalle eingeladen, ihr Anliegen vor dem Ausschuss zu präsentieren – ein üblicher Vorgang. Ebenso üblich ist es, dass die Vorsitzende des Ausschusses von den zuständigen Stellen der Stadtverwaltung Stellungnahmen zur Petition anfordert, die eine Woche vor dem Sitzungstermin veröffentlicht werden müssen. Für die Petition SOS Nordbahnhalle wurden Stellungnahmen von den Stadträtinnen für Kultur (Veronica Kaup-Hasler, SPÖ) und Stadtentwicklung (Birgit Hebein, Grüne), der Bezirksvorsteherin des betroffenen Bezirks (Uschi Lichtenegger, Grüne), den ÖBB und den Wiener Verkehrsbetrieben angefordert.[8]

Die Stellungnahmen von Hebein, Lichtenegger und den ÖBB enthielten die bereits davor öffentlich kundgegebene, äußerst selektive und einseitige Darstellung der Sachlage: Die Nordbahnhalle spiele weder im Partizipationsprozess noch im Leitbild eine Rolle; der Abriss sei mit den ÖBB vertraglich vereinbart; der Grünraum sei zu wichtig, als dass er durch die Nordbahnhalle verkleinert werden sollte; die Sanierung der Halle koste zu viel Geld; es gäbe baurechtliche Schwierigkeiten; es gäbe genug andere Flächen, die verwendet werden könnten (Wasserturm, Neubauten) und nicht zu vergessen: Zwischennutzung muss Zwischennutzung bleiben.

Kein Wort davon, dass die Halle neben dem Wasserturm bereits am Beginn des Partizipationsprozesses Eingang in die Liste der zu erhaltenden Objekte gefunden hatte. Kein Wort darüber, dass mehr oder weniger alle der im Partizipationsprozess vorgebrachten Wünsche und Vorschläge im Hinblick auf Bildung, Kultur und Soziales in der Nordbahnhalle bereits umgesetzt worden sind und hätten werden können. Kein Wort davon, dass einer der zentralen Punkte des Handbuchs zum Leitbild die Nutzung von Ressourcen bildet und Bestandsgebäude eine wichtige Rolle spielen sollen.

Ganz grundsätzlich scheint der grünen Stadtplanungs- und Bezirkspolitik nicht ansatzweise klar zu sein, was für ein Glücksfall sondergleichen das Ensemble aus Nordbahnhalle und Wasserturm für die Entwicklung des Nordbahnviertels dargestellt hatte. Eine Situation, nach der in der Stadtentwicklung im Normalfall händeringend gesucht wird, weil sie Identität stiften und Urbanität schaffen kann. Auch die öffentliche Unterstützung zahlreicher namhafter ArchitektInnen, StadtplanerInnen und StadtforscherInnen konnte die Position der grünen Stadtplanung nicht ins Wanken bringen. Einzig der Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler war und ist klar, welche einmalige Chance hier vergeben wurde.
Der Petitionsausschuss, zu dem die IG Nordbahnhalle geladen war, passte schlussendlich perfekt in dieses Bild der Ignoranz und Visionslosigkeit. Ab der Gründung der IG Nordbahnhalle war jegliche Diskussion der unterschiedlichen Stand- punkte von Seiten der Stadtplanungspolitik verweigert worden. Im Petitionsausschuss wurde den VertreterInnen der IG Nordbahnhalle nach deren Präsentation keine einzige Frage gestellt. Die Vorsitzende Jennifer Kickert bemühte sich redlich, das peinliche Schweigen der rund 20 anwesenden Gemeinderatsabgeordneten und deren MitarbeiterInnen zu kaschieren, indem
sie noch einen kleinen Diskussionsbeitrag zum Thema Zwischennutzung einbrachte. Birgit Hebein, grüne Vizebürgermeisterin und Planungsstadträtin, wiederholte abschließend ihre Position aus der Stellungnahme, ohne auf Gegenargumente einzugehen. Der grüne Kultursprecher Martin Margulies schwieg ebenso wie die ReferentInnen der Stadträtin. Damit war das Kapitel Nordbahnhalle für die Stadt Wien geschlossen, der Abriss für Sommer 2020 fixiert. In der offiziellen Presseaussendung der Stadt Wien hieß es am folgenden Tag: »Die Nutzung der Nordbahnhalle hingegen sei von vorn- herein temporär angelegt gewesen; der Erhalt der Nordbahnhalle über das Jahr 2020 hinaus decke sich nicht mit den städtebaulichen Planungen und die darauf basierenden politischen Beschlüsse für das Gebiet des ehemaligen Nordbahnhofs.«[9]

Kapitel 4: Politik und Immobilienwirtschaft machen Stadt

Die Planungsstadträtin Birgit Hebein hat ihr Amt erst im Juni 2019 angetreten. Sie war zwar in ihrer Rolle als Sozialpolitikerin immer für die Stärkung von Nachbarschaften eingetreten, hatte aber wenig Interesse, sich mit der Nordbahnhalle näher zu beschäftigen. Nach dem Start der öffentlichen Kampagne für den Erhalt der Nordbahnhalle ignorierte sie ebenso wie ihre MitarbeiterInnen jede Gesprächsanfrage der IG Nordbahnhalle.[10] Es kam zu keinerlei inhaltlichem Austausch. Ihre Argumente gegen die Nordbahnhalle blieben stets die gleichen. Gegenargumente ignoriert sie bis heute, zuletzt erst wieder bei einer Veranstaltung mit dem Titel Aktivismus und Zivilgesellschaft in der Smart City – unbequem und unverzichtbar!, die von der Stadt Wien veranstaltet wurde.

Den meisten der im Viertel aktiven Bauträger-Konsortien und der Grundstückseignerin ÖBB war die Nordbahnhalle immer ein Dorn im Auge. Offenbar wird es von InvestorInnen und ProjektentwicklerInnen als Zumutung empfunden, dass BürgerInnen ihrem Streben nach Höchstverwertung in die Quere kommen. Der Geschäftsführer der ÖBB Immobilien, Johannes Karner, schreibt in seiner Stellungnahme zur Petition der IG Nordbahnhalle: »Die Nordbahnhalle aber ist abzutragen, um so den vertragsgemäßen Zustand herzustellen.«

Weiters wird umgehend klargestellt, dass auch bei der Entwicklung des denkmalgeschützten Wasserturms BürgerInnen keine Mitsprache haben sollten: »Es wird daher angeregt, einen Schwerpunkt auf die kulturelle, gastronomische und soziale Entwicklung des Wasserturms zu legen. Dies sollte in Kooperation mit der Stadt Wien, dem Bauträgerkonsortium Nordbahnhof und der ÖBB-Infrastruktur AG erfolgen.«[11]

Kapitel 5: Nachdenkpause, Teilabriss, Brand

Aufgrund der Aktivitäten der IG Nordbahnhalle verordnete (sich) die grüne Stadtplanung eine Nachdenkpause und beschloss, vorerst nur einen Teil der Nordbahnhalle abzureißen. Grund dürfte wohl auch die anstehende Nationalratswahl gewesen sein, bei der es für die Grünen um ihr politisches Überleben ging. Der Erfolg in der grünen Hochburg Wien sollte wohl nicht durch einen Konflikt um einen nicht-kommerziellen Gemeinwohlort für die Nachbarschaft gestört werden. Schließlich ist nur schwer zu argumentieren, warum sich ausgerechnet eine grüne Stadtplanung vehement gegen die Schaffung von nicht- kommerziellen Orten für Nachbarschaft, Kultur und Soziales stemmt. Im September erfolgte der aufgrund einer neuen Straßenbahnschleife notwendige Abriss eines Teils der Nordbahnhalle. Bedeutende Flächen gingen verloren, doch der Rest der Halle war immer noch groß. Die Grundfläche hatte nun 1.300 m², dazu gab es Büroflächen von 150 m² im ersten Stock und einen großen hohen Keller, der bisher nicht für öffentliche Veranstaltungen genutzt wurde, sich aber für lautere Events perfekt geeignet hätte. Die verbliebene Hallenstruktur war in gutem Zustand, weil sie Anfang der 2000er-Jahre teilweise erneuert worden war.

Die IG Nordbahnhalle drängte darauf, dass die Halle nach dem Teilabriss gegen Vandalismus verbarrikadiert werden sollte. Aufgrund der umgebenden Baustellenentwicklung war eine reguläre Nutzung bis April 2020 nicht möglich. Trotz der mündlichen Vereinbarung, die Halle zu sichern, passierte wochenlang nichts. Der befürchtete Vandalismus ließ nicht lange auf sich warten. Fenster wurden eingeworfen, Mobiliar zerstört, Lagerfeuer angezündet, ein alter Gabelstapler in Betrieb genommen, um alles niederzufahren, was im Weg stand – es war ein Trauerspiel. Immer wieder forderte die IG Nordbahnhalle, die angekündigte Verbarrikadierung endlich durchzuführen. Nach der Ankündigung, die Sicherung der Halle selbst in die Hand zu nehmen, wurden Türen und Fenster mit Schalungsplatten verschlossen.

Wenige Tage später, am Sonntag den 10. November, brannte die Halle ab.[12] Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Halle keinen Strom, es wurden keine selbstentzündlichen Materialien gelagert, es hatte mehrere Tage geregnet, am Tag des Brandes gab es kein Gewitter. Die Halle war gut gesichert und ein Eindringen ohne Werkzeug oder Schlüssel nur schwer vorstellbar. Der Brand wurde zur Mittagszeit von NachbarInnen entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt brannte die Nordbahnhalle aus dem Inneren heraus bereits lichterloh. Aufgrund der materiellen Umstände ging die IG Nordbahnhalle von Brandstiftung aus und äußerte diesen Verdacht in einer Stellungnahme am Abend desselben Tages.[13] Sie war mit dieser Vermutung nicht alleine. Mehr oder weniger alle NachbarInnen äußerten in den zahlreichen Presseberichten[14] den selben Verdacht. »Warm abgetragen« wurde zur kollektiven Annahme rund um das Brandgeschehen.

Fazit

Die Wiener Stadtpolitik ist für ihre ausgeprägte Top-down-Politik bekannt. Die seit Jahrzehnten regierende Sozialdemokratie sieht sich nach wie vor in der paternalistischen Position der Fürsorgerin, verantwortlich für das Wohl der Bevölkerung, was einerseits zu einer hohen Lebensqualität, andererseits aber zu einem tief gehenden Demokratiedefizit und einem verkümmerten Verständnis von Teilhabe und Mitsprache führt. Alle paar Jahre werden Instrumente erfunden, um Partizipation zu stärken. Diese sind jedoch stets so konzipiert, dass klar ist, wer schlussendlich Entscheidungen trifft, Macht ausübt und damit die Kontrolle behält. Die Bevölkerung darf zwar mitreden, aber nicht mitbestimmen. Das zahnlose und in keiner Weise bindende Petitionsrecht ist dafür ein gutes Beispiel.

Eine kooperative Stadtentwicklung auf Augenhöhe steht nicht auf der Agenda der »Smart City für alle«. Wenn Anliegen und Ideen aufkommen, die sich nicht mit den offiziellen Interessen der Stadtpolitik decken, wird die Kommunikation darüber so weit als möglich vermieden oder sie werden auf die lange Bank geschoben. Das hat sich auch in den nahezu zwei Perioden grüner Stadtplanung in Wien nicht geändert. Partizipation bedeutet in Wien nach wie vor in erster Linie Information und darüber hinaus eine Möglichkeit, Kritik zu kanalisieren und auszubremsen. Die grundlegende Richtung und die erwünschten Ergebnisse stehen in der Regel schon fest. Eine Fearless City (siehe http://fearlesscities.com) zu werden, die sich radikal den Interessen aller BewohnerInnen verpflichtet fühlt und die Zukunft der Stadt nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in breiten, konsultativen öffentlichen Aushandlungsprozessen bestimmt, steht für Wien also in keiner Weise auf der Tagesordnung.

Dieses demokratische Defizit zeigt sich deutlich, wenn es um das Thema Zwischennutzung geht. In Wien ist es üblich, dass bei Zwischennutzungen in erster Linie die Perspektive von InvestorInnen und EigentümerInnen berücksichtigt wird. Die von der Stadt nach langem Drängen der IG Kultur Wien eingerichtete Agentur Kreative Räume ändert daran nichts. Niemand will sich Ärger einhandeln. Statt die grundsätzliche Frage nach gesellschaftlichem Raumbedarf zu stellen, wird einem neoliberalen Zwischennutzungsmantra gehuldigt, das prekäre NutzerInnen in eine Dankbarkeitsrolle zwingt, statt zu thematisieren, welches Aufwertungsinstrument Zwischennutzungen für InvestorInnen eigentlich darstellen. Während international längst die negativen Effekte von Zwischennutzungen klar geworden sind, weshalb diese Strategie in anderen Städten gar nicht oder nur mehr eingeschränkt zur Anwendung kommt, heißt es in Wien auch von der grünen Stadtplanungspolitik völlig unreflektiert »Zwischennutzung muss Zwischennutzung bleiben«.

Der grundsätzliche Mangel an Räumen für nicht-kommerzielle Initiativen, die überwiegend aus dieser Not heraus auf den Zwischennutzungsmarkt drängen, obwohl sie eigentlich langfristigen Raumbedarf haben, ist kein Thema. Dass InvestorInnen aus Zwischennutzungen materiellen oder immateriellen Profit ziehen und es sich dabei nicht um Geschenke handelt, für die man ewig dankbar sein müsste, liegt auf der Hand, ausgesprochen wird das in Wien allerdings nicht.
Die Nordbahnhalle hätte ein soziales Modellprojekt für Nachbarschaft, Kultur und Wissenschaft, ein politisches Modellprojekt für ökologische Nachhaltigkeit und solidarische Ökonomie und ein rechtliches Modellprojekt für eine kooperative, gemeinnützige Trägerstruktur in Zusammenarbeit mit der Stadt Wien werden können. Es gab sowohl Interesse der unmittelbaren Nachbarschaft[15] als auch von Universitäten, Kulturinitiativen und stadtpolitischen AktivistInnen.[16]

Leider lag die Entscheidungsgewalt bei den AbrissbefürworterInnen. Selten zeigte sich so viel Unwillen, eine Diskussion zu führen. Selten regierte eine größere Ignoranz gegenüber allem Wissen einer gemeinwohlorientierten und zukunftsfähigen Stadtentwicklung. Selten wurde eine so einfache Möglichkeit, mittels einer Koproduktion von Stadtpolitik, Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft ein großartiges urbanes Projekt umzusetzen, derart leichtfertig vergeben. Die Folgen dieser Politik werden zu spüren sein. Die völlig unnötige Vernichtung[17] eines umfassenden sozialen Möglichkeitsraums durch die Stadtplanungspolitik wird dann längst vergessen sein.


[Christoph Laimer ist sauer, Aktivist der IG Nordbahnhalle und Chefredakteur von dérive — Zeitschrift für Stadtforschung. Dank für die Mitarbeit an Elke Rauth.]


Anmerkungen:
[01] Die IG Nordbahnhalle ist eine Initiative von NachbarInnen, ArchitektInnen, StadtforscherInnen, KünstlerInnen und sozialen Initiativen, die für eine dauerhafte Nutzung der Nordbahnhalle als soziales und kulturelles Nachbaschaftszentrum eingetreten ist. dérive war und ist Teil der Initiative
(ig-nordbahnhalle.org).
[02] Leitbild Nordbahnhof – Handout 3. Grätzel-Cafe 17.02.2014, unter dem Titel »Anregungen aus dem ersten Grätzel-Café vom 10. September 2013«. Verfügbar unter: https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/nord-bahnhof/grundlagen/leit-bild-2014/beteiligung/pdf/graetzel-cafe-3-empfehlungen.pdf [Stand 4.12.2019]
[03] Im Handout 3. Grätzel-Cafe 17.02.2014 heißt es: »Diese [Anregungen] bildeten die Grundlage für die Arbeit in den BürgerInnendialogen«.
[04] Verfügbar unter https://www. wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/nordbahnhof/grundlagen/leitbild-2014/pdf/handbuch-gesamt.pdf [Stand 4.12.2019]
[05] Die Freie Mitte ist als Teil des Nordbahnviertels konzipiert. Sie entsteht auf einem Teil des ehemaligen Bahngeländes, das mittlerweile großflächig verwildert ist. Die Nordbahnhalle steht am Rand dieses Geländes.
[06] https://nordbahnhof.wordpress.com/2018/02/23/schauen-sie-nicht-her-alles-muss-weg/ [Stand 4.1.2019]
[07] Am Rande sei erwähnt, dass es unüblich lange dauerte, bis die eingereichte Petition angenommen wurde. Nach mehrmaligem telefonischen Nachfragen wurde sie nach rund drei Wochen veröffentlicht, ursprünglich war von »längstens einer Woche« die Rede.
[08] Die Stellungnahmen sind hier veröffentlicht: https://www.wien.gv.at/petition/online/PetitionDetail. aspx?PetID=02efe8118ab24b4380143ea168f2afc6
[09] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20191108_ OTS0056/petitionsausschusstagteimwienerrathaus
[10] Davor gab es noch vereinzelte informelle Gespräche.
[11] Der angesprochene Wasserturm wurde durch den Einsatz von BürgerInnen unter Denkmalschutz gestellt und muss als Industriedenkmal erhalten werden. Er wurde in Gesprächen mit der IG Nordbahnhalle immer wieder als Alternative zur Nordbahnhalle bezeichnet. Das Problem: Der Wasserturm hat eine Grundfläche von 140 m², die Nordbahnhalle hatte (nach dem Teilabriss) inkl. Keller eine Fläche von rund 1.800 m². Eine kulturelle, gastronomische und soziale Entwicklung auf 140 m² ist auf jeden Fall eine Herausforderung.
[12] Eine Chronologie der Ereignisse findet sich hier: https://ig-nordbahnhalle.org/about/
[13] Siehe https://ig-nordbahnhalle.org
[14] Siehe: https://ig-nordbahn- halle.org/medienecho/
[15] In einer Umfrage der Wiener Tageszeitung Kurier sprachen sich im November 2019 67 Prozent der Nachbarschaft für den Erhalt der Nordbahnhalle aus.
[16] Radio dérive hat in seiner Dezembersendung SOS Nordbahnhalle #brennt einen Querschnitt von Stellungnahmen gebracht. Nachzuhören unter https://cba.fro.at/435317
[17] Wäre die Nordbahnhalle nicht abgebrannt, hätten sie die ÖBB bzw. die Stadt Wien nächsten Sommer abreißen lassen.

dérive, Mo., 2020.01.20



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dérive 78 Willkommen im Hotel! Echo einer Krise

24. Oktober 2019Christoph Laimer
dérive

Alle Tage Wohnungsfrage

»In der Umgehung des Kapitalmarktes
liegt die entscheidende Option einer neuen Wohnungspolitik.«
Novy 1982, S. 52

»In der Umgehung des Kapitalmarktes
liegt die entscheidende Option einer neuen Wohnungspolitik.«
Novy 1982, S. 52

Das Witzige am Wohnen ist, dass es einerseits so selbstverständlich und alltäglich ist, es sich andererseits jedoch als furchtbar schwer herausstellt, es zu definieren. Wenn man geht, schläft oder isst, ist relativ klar, was man macht, aber was tut man, wenn man wohnt? Ein Blick ins etymologische Wörterbuch bringt wohnen in Zusammenhang mit gewöhnen und gewohnt, aber auch mit Wonne. »Lieben, schätzen«, ist zu lesen, »wäre demnach die Ausgangsbedeutung« (Kluge 2002, S. 995). Viel einfacher ist es mit der Wohnungsfrage. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird sie breit diskutiert und ist aufs Engste mit der Industrialisierung und dem Städtewachstum verknüpft. Ausschlaggebend für ihr Auftauchen ist, dass die Schaffung von Wohnraum ein Geschäftsmodell und Wohnraum somit zur Ware wurde.

Wohnen ist ein nicht substituierbares Gut und daher ein UN-Menschenrecht. Wir alle müssen Wohnen und brauchen ein Dach über dem Kopf. Wohnformen sind mit den politischen und ökonomischen Verhältnissen unauflöslich verbunden und dadurch geprägt. Das reicht von den feudal und patriarchal geprägten Zeiten, in denen Bauer und Knecht sowie Handwerker und Geselle unter einem Dach lebten, zu den späteren, von Unternehmern geschaffenen Arbeiterunterkünften, über das kleinfamiliäre Massenwohnen der Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert bis zu den Gated Communities und der Warenförmigkeit des Wohnens in der neoliberalen Gegenwart. Die Wohnungsfrage berührt Fragen der Ökonomie und Politik, der Ökologie und Nachhaltigkeit, der Architektur und Soziologie gleichermaßen.

Setzt man Wohnung nicht einfach nur mit Behausung gleich, zeigt sich, so seltsam es auch klingen mag, dass nicht immer schon gewohnt wurde. Wohnen im heutigen Sinne ist eine Folge gesellschaftlicher Verhältnisse und war nicht immer Teil menschlichen Lebens. Hartmut Häußermann und Walter Siebel setzen die Anfänge des Wohnens mit der Entstehung von Lohnarbeit und Freizeit an. Lohnarbeit findet nicht in der eigenen Unterkunft, sondern an einem externen Ort statt. Die unproduktiven Zeiten verteilen sich nicht mehr über den ganzen Tag, sondern werden am Ende des Arbeitstags konzentriert, wodurch erst so etwas wie Freizeit entsteht. »In diesem Prozess der räumlichen und zeitlichen Abspaltung von Teilen der produktiven Arbeit entsteht auch erst Wohnen im heutigen Sinn als räumliches, zeitliches und inhaltliches Gegenüber zur im Betrieb organisierten beruflichen Arbeit. Der Haushalt steht nicht mehr im Mittelpunkt der Wirtschaft. Markt und Erwerbswirtschaft drängen Selbstversorgung und ›Unterhaltswirtschaft‹ (Egner) an den Rand.« (Häußermann & Siebel 2000, S. 24–25)

Die Entwicklung vom »Ganzen Haus als autarker Selbstversorgungseinheit von Produktion und Konsum hin zum städtischen Konsumentenhaushalt« (ebd., S. 26) sowie derjenigen vom Großhaushalt von mehreren Familiengenerationen sowie Dienstpersonal, Gesellen, Knechten, Mägden hin zur Zweigenerationen-Kernfamilie schien unaufhaltsam. In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch gezeigt, dass es in beiden Bereichen zu einer Umkehr dieses Prozesses kommt oder die Entwicklung eine Abzweigung nimmt – wenn auch anfangs nur in Nischen und einzelnen Teilbereichen. Sowohl kollektive Wohnformen abseits der klassischen Kleinfamilie als auch der Wohnraum als Ort der Arbeit, Produktion und Selbstversorgung sind längst nicht mehr rein historische Motive oder Phänomene in weniger entwickelten Weltgegenden. Sie sind viel eher dabei, zu Modellprojekten für ein neues Zusammenleben in westlichen Städten zu werden, in denen Themen wie Wohnkosten, Vereinzelung, Nachhaltigkeit und Selbstverwirklichung immer wichtiger werden. Die Mängel des fordistischen Massenwohnens werden dadurch ein weiteres Mal transparent. Es braucht daher dringend Alternativen, die es längst und zunehmend vermehrt und vielfältiger gibt, wie wir in diesem Heft zeigen.

Eine der erwähnten Alternativen sind die Hausprojekte der jungen Schweizer Genossenschaften. Ungefähr zur selben Zeit als in Deutschland das Mietshäuser Syndikat gegründet und in Wien am Wohn- und Kulturprojekt Sargfabrik geplant wurde, erschien in Zürich eine Broschüre, die das Konzept für Kraftwerk1 dargelegt hat. Einige Jahre später war die Genossenschaft Kraftwerk1 gegründet und das erste Hausprojekt Hardturm umgesetzt. Mit Andreas Wirz, einem der damaligen Initiatoren und dem heutigen Vorstand im Schweizer Verband der Wohnbaugenossenschaften, haben wir für diesen Schwerpunkt ein Interview geführt. Eine interessante Erkenntnis dabei: Die Erfahrungen aus den Züri-brennt-Hausbesetzungen in den 1980er-Jahren waren für die Genossenschaften in Zürich genauso wichtig wie die Häuserkämpfe in Freiburg für das Mietshäuser Syndikat. Sie haben neben vielem anderen maßgeblich beeinflusst, welche Rolle Mitbestimmung und Selbstorganisation spielen oder welche neuen Wohntypologien sich entwickelt haben.

Um Selbstorganisation geht es auch im Artikel der Initiative School of Echoes Los Angeles, allerdings in Zusammenhang mit MieterInnenkämpfen in Los Angeles. Die AutorInnen sehen in Selbstorganisation nicht nur die einzige Chance, die Lebens- und Wohnverhältnisse für MieterInnen tatsächlich zu verbessern und Kämpfe zu gewinnen, sondern auch als »an experience of the possibility of true participatory democracy«. Ihr Artikel ist eine radikale Kritik sowohl des NGO‐Non‐Profit‐Sektors als auch des US-amerikanischen Housing Movements.

Für Wohnungs- und Wohnrechtsfragen sind in Österreich viele Behörden, Magistrate und Ministerien auf unterschiedlichen Ebenen zuständig. Darüber hinaus gibt und gab es zwischen den ehemals bestimmenden Parteien ÖVP und SPÖ immer schon sich gegenseitig ausschließende ideologische Positionierungen. Wie auch im aktuellen Wahlkampf deutlich sichtbar, ist für die rechtskonservative ÖVP das Thema Wohnungseigentum von zentraler Bedeutung, während die SPÖ in ihrer aktuellen Kampagne die Mieten durch Abschaffung der Umsatzsteuer senken will. Die Voraussetzungen für eine Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen fürs Wohnen sind auf Bundesebene also denkbar schlecht. Das Forum Wohn-Bau-Politik hat deswegen einen Wohnrechtskonvent gestartet, um mit BürgerInnen und ExpertInnen über ein Jahr hinweg im Dialog mit politisch Verantwortlichen ein Weißbuch für ein neues österreichisches Wohnrecht zu erarbeiten. Wie es dazu kam, was die Erwartungen und die entscheidenden Knackpunkte sind, stellt Barbara Ruhsmann in ihrem Artikel Der Wohnrechtskonvent – ein konsultativ-demokratisches Experiment vor.

Die Krise der Wohnraumversorgung, insbesondere in den wachsenden Großstädten, ist eine drängende sozialpolitische Frage. Kein Wunder also, dass sich auch die rechtsextremen Parteien AfD und FPÖ dazu positionieren. Wie nicht anders zu erwarten, verknüpfen sie auch diesen Themenbereich mit Migrations- und Sicherheitspolitik und vertreten nationalistisch-sozialprotektionistische Ansichten, gleichzeitig setzen sie auf Eigentum und unterstützen marktliberale Positionen. Diese Ansprüche sind nicht immer unter einen Hut zu bringen, eine inhaltlich stringente Politik kaum möglich.

Statements und Reaktionen enthalten je nach Situation und Konstellation immer wieder auch widersprüchliche Inhalte. Peter Bescherer, Gisela Mackenroth und Luzia Sievi analysieren in ihrem Beitrag für diesen Schwerpunkt, wie die AfD mit der gegenwärtigen Wohnungsfrage umgeht. Silvester Kreil hat sich die diesbezügliche Politik der FPÖ angesehen.

Den Abschluss des Schwerpunkts bildet ein Interview mit der Initiative Sommerpaket. Sie spielt mit ihrem Namen darauf an, dass Wien für Obdach- und Wohnungslose zwar ein Winterpaket schnürt, das von November bis April rund 900 zusätzliche Übernachtungsmöglichkeiten bietet, es diese Plätze aber eigentlich auch im Sommer, und damit übers ganze Jahr, bräuchte. Die Initiative setzt sich nicht nur für eine Verbesserung der Versorgung von Obdach- und Wohnungslosen ein, sondern auch für bessere Arbeitsbedingungen für die MitarbeiterInnen von Hilfs- und Betreuungseinrichtungen.

Als Extrabonus zum Schwerpunkt drucken wir anlässlich des Jubiläums 100 Jahre Rotes Wien einen Text über die sehr zu Unrecht immer ein wenig im Schatten des Gemeindebaus stehende Wiener Siedlerbewegung nach, den Klaus Novy 1981 geschrieben hat.

Der Schwerpunkt wirft somit Schlaglichter auf einzelne Aspekte der Wohnungsfrage, die in ihrer Komplexität weit über diese Ausgabe der dérive hinaus geht. Viele andere Facetten haben wir bereits in früheren Heften behandelt. Daher planen wir als spezielles Service, demnächst eine Sammlung von ausgesuchten Texten rund um Wohnen und Wohnbau als PDF zu veröffentlichen.


Literatur:
Häußermann, Hartmut & Siebel, Walter (2000): Soziologie des Wohnens – Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens. 2. korrigierte Auflage. Weinheim/München: Juventa Verlag.
Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin / New York: de Gruyter.
Novy, Klaus (1982): Anmerkungen zum Verhältnis von Trägerformen und Finanzierungsalternativen. In: Arch+, Nr. 61, Februar 1982, S. 52–53. Aachen.
Reulecke, Jürgen (Hg.) (1997): Geschichte des Wohnens, Band 3 – 1800–1918 Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

dérive, Do., 2019.10.24



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dérive 77 Wohnungsfrage

08. Juli 2019Christoph Laimer
dérive

Stadt - Land. Ein Vorwort

Die Residenzstadt Wien war zu Zeiten der Habsburger-Monarchie Hauptstadt eines großen Reiches und galt als Wasserkopf. Sie war Sitz des Kaiserhauses, an...

Die Residenzstadt Wien war zu Zeiten der Habsburger-Monarchie Hauptstadt eines großen Reiches und galt als Wasserkopf. Sie war Sitz des Kaiserhauses, an...

Die Residenzstadt Wien war zu Zeiten der Habsburger-Monarchie Hauptstadt eines großen Reiches und galt als Wasserkopf. Sie war Sitz des Kaiserhauses, an das man Steuern entrichten musste, das die eigene Volksgruppe, wenn es nicht die deutschsprachige war, diskriminierte und ausbeutete. Nach dem Ersten Weltkrieg, als vom großen Reich nur ein Rest übrig blieb, Wien eine hungernde Stadt war und die sozialdemokratische SDAP bei den ersten freien Wahlen die absolute Mehrheit erreichte, bekam der Hass auf Wien eine neue, antiproletarische Note. Das später so genannte Rote Wien (1919–1934) war das ideale Feindbild des konservativen Österreichs, das vor allem durch die von der Christlichsozialen Partei geführten Bundesländer repräsentiert wurde. Eine Besonderheit Österreichs war, dass damals fast 30 Prozent der Bevölkerung in der Hauptstadt lebten. Die Schärfe der ideologischen Gegensätze bekam dadurch noch mehr Gewicht. 1920 wurde Wien ein selbständiges Bundesland und konnte sich damit vom erzkonservativen, stark ländlich geprägten Niederösterreich abkoppeln. Seit diesem Zeitpunkt, mit Ausnahme der Zeiten der Diktaturen, waren und sind in Niederösterreich die ÖVP und in Wien die SPÖ (bzw. die jeweiligen Vorgängerparteien) die stärksten Parteien – eine unglaubliche Stabilität.

Trotz dieser eindeutigen Wahlergebnisse und der politischen Grenze, die es zwischen Wien und Niederösterreich gibt, wäre diese mit freiem Auge natürlich nicht erkennbar, gäbe es keine Ortsschilder und natürlich spielt sie in ganz vielen Bereichen keinerlei Rolle. So liegt Wiens größte Shopping Mall knapp außerhalb der Stadtgrenze in der gerade einmal 7.000 EinwohnerInnen zählenden niederösterreichischen Marktgemeinde Vösendorf, zahlreiche WienerInnen haben ihre Wochenendhäuschen im niederösterreichischen Waldviertel und noch mehr verlassen ihre Stadt für Ausflüge, um z. B. in den in Niederösterreich liegenden Wiener Alpen wandern zu gehen. Eine Gegend, die den hitzegeplagten WienerInnen schon seit Eröffnung der Südbahn Mitte des 19. Jahrhunderts wohlbekannt ist. Sie diente ihnen – zumindest den GroßbürgerInnen unter ihnen – ab dieser Zeit als Ort für die Sommerfrische. Ungefähr seit dieser Zeit kommt das tatsächlich hervorragende Wiener Wasser aus dieser Gegend. Dass WienerInnen gerne Wein aus Niederösterreich trinken, Spargel aus dem Marchfeld und Marillen aus der Wachau essen, sei nur nebenbei erwähnt.

Umgekehrt pendeln rund 190.000 NiederösterreicherInnen täglich nach Wien (interessanterweise auch 90.000 WienerInnen aus Wien hinaus), gar nicht so wenige von ihnen arbeiten bei der Stadt Wien. Polizisten wurden in Wien früher gerne Mistelbacher genannt, was der Legende nach auf ihren niederösterreichischen Herkunfts- bzw. Ausbildungsort verweist. Der Sozialforscher Günter Ogris sagt im Interview für diesen Schwerpunkt, dass die drei beliebtesten Kulturstätten der NiederösterreicherInnen in Wien liegen.
Man sieht, selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung zeigen sich sofort mannigfaltige Verbindungen und Abhängigkeiten, die die politische Grenze völlig ignorieren. »Die komplexen gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von Räumen verbieten es, räumliche Grenzen als scharfe Grenzen für unterschiedliche soziale Verhältnisse zu vermuten«, schreibt Ilse Helbrecht in ihrem Artikel, in dem sie sich mit den Begriffen Stadt und Land sowie Urbanität und Ruralität auseinandersetzt. Helbrecht wehrt sich heftig gegen vereinfachende Darstellungen, um urbane und rurale Räume zu identifizieren und kategorisieren, wie sie sich medial in den letzten Jahren großer Beliebtheit erfreut haben. Sie sieht Begriffe wie Urbanität und Ruralität als »Konstrukte der Wissenschaft, die spezifische Antworten auf Probleme und Herausforderungen bieten«.

Maximilian Förtner, Bernd Belina und Matthias Naumann treibt ebenso die Absicht, vor vereinfachenden Darstellungen zu warnen, im Speziellen bei der Interpretation von Wahlergebnissen der AfD. Mit Lefebvres Theorie der Urbanisierung, die Stadt und Land erfasst, und Adornos Begriff der Provinzialität, den er nicht exklusiv mit dem Ländlichen verknüpft, zeigen sie, dass die Zentralität als Wesen der Urbanität (Lefebvre) und der »individuelle Bildungsprozess« als Möglichkeit, die Provinz hinter sich zu lassen, viel erfolgsversprechendere Ansätze bei der Analyse von Wahlverhalten sind als die Stadt-Land-Dichotomie. Gemäß dieses Ansatzes be- schreiben die Autoren drei unterschiedliche Orte, die einen besonders hohen AfD-WählerInnenanteil gemeinsam haben, aber unterschiedlichen Raumtypen entsprechen.

Förtner, Belina und Naumann bezeichnen sie als Ort einer umfassenden Peripherisierung, als peripheres Zentrum bzw. als zentrale Peripherie. Mit dem schon erwähnten Günter Ogris vom Institut SORA, das in Österreich durch seine Hochrechnungen bei Wahlen bekannt ist, haben wir ein Gespräch geführt, um herauszufinden, wie viel Gehalt in der plakativen These steckt, dass die BewohnerInnen von Städten links oder liberal sind und die Landbevölkerung rechts und konservativ ist. Das Ergebnis der Stichwahl bei den letzten österreichischen Präsidentschaftswahlen 2016 zwischen Alexander Van der Bellen (Grün) und Norbert Hofer (FPÖ) schien diese These besonders zu unterstreichen.

Ogris macht im Interview auf den interessanten Umstand aufmerksam, dass die Geographie des Wahlverhaltens in Österreich sehr beständig ist und nur wenige Ereignisse in den letzten Jahrzehnten grundlegende Änderungen verursachten. Aber auch er verweist darauf, dass es urbanes Wahlverhalten eben nicht nur in den Städten gibt, sondern auch in mit diesen in Verbindung stehenden Räumen wie z. B. dem Burgenland, dessen Bevölkerung in einem hohen Ausmaß nach Wien pendelt.

Die Migration zwischen Land und Stadt behandelt Theresia Oedl-Wieser und geht damit einer anderen Geschichte über das Verhältnis von Stadt und Land nach, die in den letzten Jahren wieder öfter zu hören ist: Die Landflucht junger Frauen. Auch in diesem Fall unterstützen die Statistiken diese Erzählung und Oedl-Wieser zählt Gründe auf, die sie plausibel machen: Geschlechterrollen, Bildungschancen, Arbeitsmarkt.

Für genauere Erkenntnisse über die »Wechselwirkungen von Wanderungsmotiven, Lebensphasen, ökonomischem und sozialem Status sowie den sozialen Kategorien Geschlecht, Alter und Ethnizität« müsse allerdings »zielgerichteter unter- sucht werden«.

Mit den sich speziell in den USA seit Jahrzehnten immer weiter ausdehnenden räumlichen Schwellen zwischen Stadt und Land und ihrer Besiedlung setzt sich Judith Eiblmayr in ihrem Beitrag sowohl aus historischer als auch aus aktueller Perspektive auseinander. Dabei dürfen die Themen Mobilität und Spekulation nicht fehlen und das tun sie auch nicht.

Darüber hinaus geht es um psychische Phänomene wie suburban angst, das Fehlen bzw. die Vermeidung von öffentlichen Räumen und aufkeimende Gegenbewegungen.

Eine Gegenbewegung gibt es auch in Frankreich und jede/r von uns kennt sie: die Gelbwesten. Gerade diese hohe Bekanntheit scheint es schwer zu machen, einen sowohl unvoreingenommenen als auch kenntnisreichen Blick auf das Phänomen zu werfen. Viele BeobachterInnen scheitern dabei, sich nicht von einzelnen Aspekten ablenken zu lassen.

Dem Autor und Journalisten Jeremy Harding gelingt das dafür umso besser, weswegen wir seinen Text Unter Gelbwesten für diese Ausgabe übersetzt haben. Er ist selbst bei Demonstrationen der Gelbwesten mitgegangen, hat mit vielen von ihnen gesprochen und sich trotzdem einen unabhängigen Blick bewahrt. Auch hier stimmt es, von einer Folge der Disparität von Stadt und Land zu sprechen und gleichzeitig stimmt es auch wieder nicht. Viele ländlichen Regionen werden vernachlässigt, was zur Folge hat, dass sich Menschen ihr Leben trotz Vollzeitarbeit kaum mehr leisten können, aber das Gleiche trifft auf viele städtische Banlieues in oft noch viel größerem Ausmaß zu. Den Gelbwesten deswegen das Recht zu verwehren, für bessere Lebensverhältnisse auf die Straße zu gehen, wäre absurd; toll und politisch unglaublich interessant wäre es natürlich, sie würden das solidarisch und gemeinsam mit den BewohnerInnen der Banlieues machen.

dérive, Mo., 2019.07.08



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Presseschau 12

13. Oktober 2023Elke Rauth
Christoph Laimer
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Urban Commons – Fenster in eine mögliche Zukunft

Das Konzept der Commons hat sich von urbanen Nischen zu kommunalen Public-Common Partnerships entwickelt. Das vorliegende Heft versucht einen Reality Check zum Status quo.

Das Konzept der Commons hat sich von urbanen Nischen zu kommunalen Public-Common Partnerships entwickelt. Das vorliegende Heft versucht einen Reality Check zum Status quo.

Längst ist klar, dass die umfassende soziale, ökologische und ökonomische Transformation, die zur Rettung unserer Städte (und unserer Welt) notwendig ist, ohne ›die Vielen‹, ohne einen gemeinsamen, gesellschaftlichen Konsens und ohne ein hohes Maß an gemeinsamen Handlungen und gesamtgesellschaftlich getragenen Lösungen nicht gelingen wird. Wir brauchen also dringend ein mehr an Demokratie und eine umfassende, tiefgreifende Demokratisierung aller gesellschaftlicher Bereiche. Die Stadt ist dafür das perfekte Feld, weil sie als Einheit klein genug ist, um Veränderung voranzutreiben, zu erproben und implementieren, und groß genug, um diesen Veränderungen Wirkung zu verleihen. Einer dieser Ansätze für die Ausweitung demokratischer Räume und zukunftsweisender Formen der Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Bürger:innen ist das Konzept der Urban Commons, dem wir sowohl diese Ausgabe von dérive, als auch das urbanize! Festival 2023 widmen.

Über Commons wird in der Stadtforschung und darüber hinaus seit etlichen Jahren intensiv geforscht und diskutiert. Angestoßen wurde die breitere Auseinandersetzung durch Innovationen im IT-Bereich, darunter die weithin bekannten Projekte Linux oder Wikipedia. Ein weiterer deutlicher Schub für die Erforschung und Erprobung der Commons erfolgte 2009 mit der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Elinor Ostrom für ihre Forschungsarbeiten zur Nutzung und Verwaltung von gemeinschaftlichem Eigentum. Seither ist die Entwicklung viele Schritte weiter gegangen und bei konkreten Maßnahmen und Aktivitäten auf stadtpolitischer Ebene angelangt, die Urban Commons in vielen Städten durch Governance-Vereinbarungen zum Leben erwecken. In diesem Zusammenhang sei besonders auf die 2014 implementierte Regulation on Collaboration Between Citizens and the City for the Care and Regeneration of Urban Commons durch die Stadt Bologna verwiesen, die als Vorlage für viele Vereinbarungen in italienischen Städten und darüber hinaus dient. Eine dieser Städte ist Turin. Maria Francesca De Tullio und Violante Torre haben sich intensiv mit Commons in Turin auseinandergesetzt und die Geschehnisse mit kritischem Blick verfolgt. Dabei wird klar, wie hart gerungen werden muss, damit ›Urban Commons‹ nicht zum Etikett verkommt, hinter dem Privatisierungen verschleiert und traditionelle Machstrukturen prolongiert werden.

Bereits vor 15 Jahren stellte die Architekturtheoretikerin Christa Kamleithner mit dem Schwerpunktheft dérive N°31: Gouvernementalität1 die wichtige Frage, ob sich Städte unter dem Mantel der Kooperation und Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Initiativen einfach ihrer Aufgaben entledigen. Das neoliberale Dogma vom ›schlanken Staat‹, kombiniert mit dem Slogan des ›aktivierenden Staates‹, der als Abkehr vom sozialen Wohlfahrtsstaat verstanden wurde, geisterte allerorts durch die Welt. Auch im Kontext der aktuellen Forschung zu Urban Commons taucht der ›enabling state‹ also der ›ermöglichende Staat‹ auf (siehe Foster & Iaione in diesem Heft) und es gilt wachsam zu bleiben und neben der (Entscheidungs-)Macht auch die Mittel einzufordern, die urbane Commons benötigen, um langfristig bestehen zu können.

Auch Stavros Stavrides, ausgewiesener Experte und Aktivist für Urban Commons, sieht diese Gefahr in seinem Beitrag Öffentlichen Raum als Commons zurückgewinnen. Einen Ausweg erblickt er einzig in der Entwicklung »alternativer Formen der sozialen Organisation durch Commoning«. Sein Artikel widmet sich zentralen Fragen zu Gemeinschaft, Commoning und Identität sowie der Bedeutung von Kollaboration für das Commoning und fokussiert auf die Situation in Lateinamerika. Das macht auch Anna Puigjaner, die in Die Küche aus dem Haus holen die Geschichte und Entwicklung der beeindruckenden Urban Kitchens in Peru diskutiert. Auch in diesem Beispiel wird deutlich, wie einflussreich das Zusammenspiel verschiedener Stakeholder (Staat, NGOs, Commoners) und wie wichtig die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit von Urban Commons ist, um nicht zu einem Fall für »Regieren durch Community« (Nikolas Rose) zu werden.

Bei aller Notwendigkeit der kritischen Beobachtung sind Public-Common Partnerships (PCPs), mit denen der urbane Reichtum für die Allgemeinheit gesichert und verwaltet werden kann, anstatt der Profitlogik von Public-Private Partnerships (PPPs) zu folgen, zentraler Bestandteil der Weiterentwicklungen für die Anwendung urbaner Commons der letzten Jahre. Im umfangreichen Co-City Projekt von LabGov, einem internationalen Netzwerk, das sich auf die Entwicklung 
und Erforschung kollaborativer Governance von städtischen Räumen und Ressourcen konzentriert, wurden 200 Städte 
und über 500 Commons-Projekte analysiert. Die für diesen Schwerpunkt relevante Essenz aus den Erkenntnissen von Co-City in Form von grundlegenden Design Principles ist im Beitrag Die Stadt als Commons von Sheila R. Foster und 
Christian Iaione nachzulesen.

Wie Public-Common Partnerships genau funktionieren bzw. funktionieren sollten, um tatsächlich »Prozesse in Gang zu setzen, die dazu beitragen, die Grenzen des sozial wie politisch Möglichen zu verschieben«, erläutern auch Bertie Russell und Keir Milburn in ihrer Analyse Public-Common Partnerships, Autogestion und das Recht auf Stadt. Eine der Fragestellungen dreht sich dabei um die Verwendung des von PCPs erwirt­schafteten Mehrwerts. Fragen der Ökonomie, im speziellen der Finanzierung von Urban Commons gehen Levente Polyák, Daniela Patti und Jorge Mosquera in Financing non-speculative properties – Ownership, governance and the economy of commons nach. Sie stellen spannende Finanzierungsmöglichkeiten und deren Anwendung vor und argumentieren gleichzeitig, dass es als »key policy priority« dringend weitere, umfangreiche Modelle braucht, um »financing for non-speculative development projects across Europe« sicherzustellen. Schließlich stellen Urban Commons für die urbanen Gesellschaften besonders wichtige Ankerpunkte dar, deren Nutzen weit über die als Commons genutzten Ressourcen reicht.

Dagmar Pelger definiert solche Orte in ihrem Beitrag als ›Spatial Commons‹. Deren Definition ist oft unscharf und genau so in Verhandlung wie die Commons selbst. Trotzdem ist es wichtig festzulegen, wovon – und wovon nicht – die Rede ist, wenn es um Commons geht, um ›Commons Washing‹ (De Tullio und Torre) zu verhindern. Pelger setzt sich für eine Begriffsschärfung ein und verweist auch auf die Bedeutung des fortwährenden Nacherzählens der Geschichte von Commons, »um an ihr weiterzuschreiben«.

Das Konzept der Commons als transformativer Prozess kann auch dazu dienen, die Gestaltungs- und Aneignungsspielräume auszuweiten, etwa in Büchereien, die längst mehr sind als reine Orte der Bildung, Information und Wissensvermittlung. Die Kommerzialisierung der Stadträume hat u.a. dazu geführt, dass Büchereien zu wichtigen, kostenfreien Raumressourcen geworden sind: Sie sind, wie Alexa Färber und Marion Hamm in ihrem Text schreiben, genauso »Orte des Zusammenkommens, des Lernens, der Begegnung und Beratung« wie auch »geschützter Aufenthaltsort«. Im Zuge eines internationalen Forschungsprojekts untersuchen die beiden Autorinnen Büchereien in Rotterdam, Malmö und Wien.

Ein Common (Green) Space soll das Frachtenareal am Westbahnhof in Wien werden, wenn es nach der Initiative Westbahnpark.Jetzt geht. Im Interview erläutern drei der Aktivist:innen die überzeugenden ökologischen, sozialen und städtebaulichen Argumente für einen Park statt einer – von Stadt und ÖBB ins Auge gefassten – Wohnbebauung mit Grünraum und berichten von ›Particitainment‹ und fehlender Kommunikation der Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und bei der Liegenschaftseignerin Bahn mit den Bürger:innen.

»We are not naive« schreiben LabGov in der Conclusio ihrer Commons-Analyse von über 200 Städten weltweit und verweisen auf die vielen und beharrlichen Kräfte, die einer demokratischen Verwaltung und Vergesellschaftung von urbanen Ressourcen entgegenstehen. Dennoch eröffnen Urban Commons in zahlreichen Städten bereits heute Ausblicke auf eine gerechtere Verteilung von urbanen Ressourcen, schaffen Räume der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entfaltung jenseits der Profitlogik sowie Erfahrungen von demokratischer Aushandlung und Handlungsmacht. Der Prozess ist in vollem Gange und öffnet ein real-utopisches Fenster für eine zukunftsfähige, soziale und ökologische Transformation der Stadt – durch iterative Experimente und global geteilte Erfahrungen. Das Wissen und die Commoners stehen weltweit für Public-Common Partnerships bereit. Es liegt jetzt an den Städten, die Rahmenbedingungen zu schaffen.

1

Das Heft mit dem Schwerpunkt Gouvernementalität ist als gedruckte Ausgabe vergriffen, kann aber noch als PDF bezogen werden: https://shop.derive.at/collections/ einzelpublikationen/products/heft-31.

dérive, Fr., 2023.10.13



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dérive 92-93, Urban Commons

09. November 2021Christoph Laimer
dérive

Strategien des Wandels

»Wenn es auch keine tiefgreifende Veränderung einer gesellschaftlichen Logik geben kann ohne eine Umwandlung der Klassenherrschaft und konsequenterweise...

»Wenn es auch keine tiefgreifende Veränderung einer gesellschaftlichen Logik geben kann ohne eine Umwandlung der Klassenherrschaft und konsequenterweise...

»Wenn es auch keine tiefgreifende Veränderung einer gesellschaftlichen Logik geben kann ohne eine Umwandlung der Klassenherrschaft und konsequenterweise auch der politischen Machtzu­sammenhänge, so können doch während des allgemeinen Umwandlungsprozesses (der jedoch nicht mit der Machtergreifung endet) Phasen oder bestimmte Einzelkämpfe auftreten, die im Stande sind, die allgemeine Logik der städtischen Organisation zu verändern, allerdings in einer Weise, die immer unbeständig und unvollkommen bleibt.« [Castells 1975, S. 37]


Die Jahrestage urbaner Aufstände, Revolten und Besetzungsbewegungen sind dieses Jahr zahlreich. 150 Jahre sind seit der Pariser Commune vergangen, vor 10 Jahren fand der Arabische Frühling statt, die Occupy-Bewegung ereignete sich, das Movimiento 15-M besetzte zahlreiche Plätze in Spanien und in Athen wurde der Syntagma-Platz besetzt. Vor 40 Jahren, also 1981, war die Besetzungsbewegung in europäischen Städten, darunter auch in Wien, besonders stark. Die Wiener Stadtregierung zeigte in dieser Zeit eine ungewohnte Bereitschaft, Häuser für soziale und kulturelle Zentren zur Verfügung zu stellen. Grund dafür war weniger die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Räume, als – angesichts der starken Burggartenbewegung – vielmehr die Angst mit Verhältnissen wie im damaligen Zürich (Züri brennt) konfrontiert zu werden. Daraus hervorgegangen sind das WUK, eines der größten soziokulturellen Zentren Europas, das bereits nach zwei Jahren wieder geräumte Kultur- und Kommunikationszentrum Gassergasse und wenig später die heute noch existierende Rosa Lila Villa.

Rückblickend wird gerne die Frage gestellt, ob Bewegungen und Proteste erfolgreich waren, ob sie folgenlos verpufft sind oder ob sie langfristig gar die herrschenden Verhältnisse gestärkt haben. Dem Kapitalismus wird immer wieder bestätigt, dass er es hervorragend schafft, kritische Positionen zu vereinnahmen und aus Krisen gestärkt hervorzugehen. Die Stadtforscherin und Politikwissenschaftlerin Margit Mayer weist darauf hin, dass beispielsweise die in den 1960er Jahren verbreitete Forderung nach der Freiheit individueller Lebens­entwürfe im Fordismus zwar einen kritischen, gegenkulturellen Gehalt hatte, sich heute jedoch nahtlos in die neoliberale Ideologie einordnen lässt und in Werbespots in Szene gesetzt wird. Wobei dies natürlich nur gilt, wenn sich der Ausdruck der persönlichen Individualität mittels Konsum darstellt.

Occupy Wall Street wird beispielsweise gerne unterstellt, folgenlos geblieben zu sein, weil es keine politische Führung gab, keine konkreten Forderungen gestellt wurden oder es nicht gelungen ist bzw. gar kein Ziel war, sich mit lokalen Kämpfen zu verknüpfen. Vergessen wird dabei, dass Occupy zwar als Aktion unter diesem Namen verschwunden sein mag und keine überschriftsreifen Ziele erreicht hat, die Teilnahme jedoch vermutlich die allermeisten Aktivist:innen ganz individuell geprägt und verändert hat. Manche haben sich sicher enttäuscht zurückgezogen, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele von ihnen in Folge politischen Gruppen beigetreten sind, selbst Initiativen gestartet oder sich für Bewegungen engagiert haben. Occupy fand nicht nur im Zuccotti Park, sondern an rund 1.000 Orten in den USA statt. 2016 haben ehemalige Occupy-Wall-Street-Aktivist:innen die Kandidatur von Bernie Sanders unterstützt, heute gibt es speziell unter jungen Leuten in den USA ein hohes Interesse für linke Politik. Bewegungen wie die Democratic Socialists of America (DSA), in der Alexandria Ocasio-Cortez Mitglied ist, konnten ihre Mitgliederzahlen in den letzten Jahren vervielfachen, sozialistische Zeitschriften wie Jacobin haben zigtausend Leser:innen.

Die akademischen Debatten um die richtigen Strategien für einen Wandel bewegen sich seit etlichen Jahren im Feld zwischen den Schlagworten Autonomie und Hegemonie oder wie es Chantal Mouffe 2005 in einem ihrer Buchtitel formuliert hat: Exodus und Stellungskrieg. In Österreich ist in den letzten Jahren der hegemoniepolitische Ansatz eindeutig präsenter, was auch mit einer Hegemonie der entsprechenden Theorieproduktion zu tun zu haben dürfte. »Stünde bei Ersteren das ›Abfallen vom Staat‹, das Desinteresse bzw. die Ablehnung klassischer Institutionen und die Etablierung autonomer Zonen im Fokus, so setzten Letztere auf die parteiförmig-parlamentarische Machtübernahme in staatlichen Schlüsselinstitutionen und den gezielten Kampf um Hegemonie.« [Sörensen 2019, S. 32]

Bei dérive haben wir uns nie auf eine der beiden Seiten geschlagen. Konkrete Alternativen im Hier und Jetzt in Form präfigurativer Projekte – vor etlichen Jahren haben wir einen Schwerpunkt mit dem Titel Citopia Now veröffentlicht – haben uns jedoch immer speziell interessiert, weil wir die unmittelbare Erfahrung mit demokratischen Prozessen für besonders wichtig und nachhaltig halten. Trotzdem sehen wir die Beteiligung an Wahlen, wie beispielsweise durch die munizipalistische Bewegung, und den Versuch, Institutionen zu erobern und zu verändern zu suchen, für ebenso probat. Dass ein Scheitern dabei immer möglich ist, liegt auf der Hand. Eine solche Offenheit heißt aber nicht, dass jede Strategie zu jeder Zeit, an jedem Ort und unter jedweden Umständen angebracht ist. Der Untersuchung der Bedingungen für die taktischen Möglichkeiten gesellschaftspolitischer Veränderungen sollte deswegen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, ohne die langfristigen inhaltlichen Grundsätze davon abhängig zu machen.

Ein Beispiel dafür, wie sich die politischen Bedingungen für soziale urbane Bewegungen in Buenos Aires in Zusammenhang mit dem Zugang zu Wohnraum im Laufe der Jahrzehnte gestaltet haben, stellen Judith M. Lehner und Alicia Gerscovich in ihrem Beitrag Widerstand und Gemeinschaft. Urbane soziale Bewegungen für das Recht auf Wohnraum in Buenos Aires vor. Sie zeigen, wie es die aktive Teilnahme an der Kommunalpolitik ermöglichte, die Voraussetzungen für selbstverwaltete Wohn­raumproduktion entscheidend zu verbessern und sowohl ein Gesetz als auch ein Wohnbauprogramm dafür zu erreichen.

Der Beitrag von Marvi Maggio über das Programm Nehmen wir uns die Stadt der Bewegung und späteren Partei Lotta Continua zeichnet nach, wie eine Analyse der Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen dazu geführt hat, den Raum der politischen Aktivitäten von der Fabrik auf den Stadtraum auszudehnen. Das Programm existierte nicht lange, markiert allerdings – zwei Jahre nachdem Henri Lefebvres Recht auf Stadt erschienen ist – sehr gut den Zeitraum, als der Kampf um den städtischen Raum (wieder) ins Zentrum gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen rückte.

Bildung ist ein Thema, das politische Bewegungen stets begleitete, das Selbstverständnis von Universitäten und ihre Position im gesellschaftlichen Gefüge sind dementsprechend wichtig. Brigitte Felderer, Leiterin eines universitären Masterstudiums, unternimmt in diesem Sinn für diesen Schwerpunkt »eine Selbstbefragung zu den Bedingtheiten universitärer Strukturen, soziale Bewegungen anzustoßen, mitzutragen und Universitäten als Freiräume aufzumachen«.

Die Kritik am unhinterfragten Wachstum hat parallel zur Klimakrise in den letzten Jahren wieder stark zugenommen. Auch in Wien gibt es eine entsprechende Initiative, Degrowth Vienna, die sich jüngst besonders intensiv mit Strategien für eine sozial-ökologische Transformation auseinandergesetzt hat. Das große Ziel einer solchen Transformation ist für Degrowth Vienna Wien als solidarische Postwachstumsstadt. »Wie kann eine Stadtpolitik aussehen, die die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben für alle bei gleichzeitiger Einhaltung planetarer Grenzen gestaltet?«, fragen (sich) Daniel Gusenbauer, Hannah Lucia Müller, Lisette von Maltzahn, Max Hollweg und Pedram Dersch, die Autor:innen des Beitrags für den Schwerpunkt.

Demokratische Räume – dem Thema haben wir letztes Jahr ein Schwerpunktheft gewidmet – sind nicht nur eine wichtige Voraussetzung, um Strategien eines gesellschaftlichen Wandels entwickeln zu können, sondern auch selbst Teil eines solchen Wandels, indem sie zur Demokratisierung der urbanen Gesellschaft beitragen. Björn Ahaus und Martina Nies stellen in ihrem Artikel Transformation von unten mit dem Fachgeschäft für Stadtwandel in Essen ein Stadtteilzentrum vor, das »mit seinem Angebot und seinen Aktivitäten lebendige Nachbarschaft, sozialökologischen Wandel und interkulturelle Gemeinschaft« verbindet.

Wenn also, um auf das Eingangszitat von Manuel Castells zurückzukommen, durch Einzelkämpfe eine Änderung der »allgemeine[n] Logik der städtischen Organisation« erreicht werden kann, dann ist das eine große Errungenschaft, die uns dem ›guten Leben für alle‹ einen großen Schritt näherbringen kann, auch wenn Castells zumindest damals (noch) meinte, so einen Erfolg durch ein ›nur‹ relativieren zu müssen. Die Sache mit der Umwandlung der Klassenherrschaft überlegen wir uns ein anderes Mal.


Literatur:
Sörensen, Paul (2019). Widerstand findet Stadt: Präfigurative Praxis als transnationale Politik ›rebellischer Städte‹. In: ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie, 10(1), S. 29–48. https://doi.org/10.3224/zpth.v10i1.03 [24.09.2021].
Castells, Manuel (1975): Kampf in den Städten. Gesellschaftliche Widersprüche und politische Macht. Westberlin: VSA

dérive, Di., 2021.11.09



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dérive 85 Strategien des Wandels

13. September 2021Christoph Laimer
dérive

Einleitung

Immer wieder haben wir uns in dérive in den letzten Jahren mit Aspekten der Demokratisierung der urbanen Gesellschaft auseinandergesetzt und dazu Schwerpunkte...

Immer wieder haben wir uns in dérive in den letzten Jahren mit Aspekten der Demokratisierung der urbanen Gesellschaft auseinandergesetzt und dazu Schwerpunkte...

Immer wieder haben wir uns in dérive in den letzten Jahren mit Aspekten der Demokratisierung der urbanen Gesellschaft auseinandergesetzt und dazu Schwerpunkte veröffentlicht. Eine Gesellschaft vor Augen, die jedem und jeder ein Leben frei von Existenzängsten und in Würde bietet, die es ermöglicht, selbstbestimmt ein individuelles Leben in Freiheit zu führen und als Teil der Gesellschaft diese kollektiv mitzugestalten. Eine Gesellschaft ohne Ausschlüsse und Abhängigkeiten, aber mit der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen für Erreichtes einzustehen und dem gemeinsamen Auftrag, sie in einem permanenten Prozess weiterzuentwickeln. Heute den finalen Zustand einer idealen Gesellschaft zu konzipieren, ist weder möglich noch wünschenswert. Deswegen sehen wir es als Aufgabe, aktuelle Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen, ebenso wie aus dem Fokus geratene oder verdrängte Konzepte erneut zu diskutieren, wenn sie das Potenzial in sich tragen, unser Denken und Handeln zu inspirieren.

150 Jahre ist es her, seit die Stadtbevölkerung von Paris die Kommune ausgerufen hat. Wir zählen sie zu den erwähnten aus dem Fokus geratenen Ereignissen, über die heute nur Wenige genauer Bescheid wissen, woran selbst das Jubiläum trotz einiger erschienener Artikel, Publikationen und Radiosendungen nicht viel geändert hat. Die Pariser Commune war eine urbane Revolution, in der, obwohl sie für uns ein unbestritten historisches Ereignis ist, Fragen verhandelt wurden und Konstellationen gegeben waren, die tatsächlich immer noch aktuell und relevant sind.

Vorausgegangen war ihr der grundlegende Stadtumbau von Baron Haussmann unter der Ära von Napoleon III., der, begleitet von einer großen Spekulationswelle, viele Altbauquartiere im Zentrum dem Erdboden gleichmachte und Teile der Arbeiterschaft in die Peripherie verdrängte. Als Reaktion auf diese sozialräumliche Restrukturierung kam es zu heftigen Protesten von Seiten der Linken. Vorausgegangen war der Commune eine Periode der liberalisierten Versammlungsfreiheit in der Spätphase der Kaiserzeit, die eifrig genutzt wurde, um lautstark die Verhältnisse zu kritisieren, über Forderungen und politische Ideen zu diskutieren, sich zu organisieren und gemeinsame Anliegen zu erkennen. Vorausgegangen war ihr auch der Deutsch-Französische Krieg (1870/71), den Napoleon nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen vom Zaun gebrochen hatte. Die lange Belagerung von Paris hatte entscheidend zu einer Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in der Hauptstadt beigetragen, die letztlich zur Ausrufung der Commune führte.

Die Commune hatte große, beeindruckende Pläne, die kurze Dauer von nur 73 Tagen und die äußerst schwierige Situation durch die Belagerung und die Angriffe durch die Versailler Armee (siehe Ronneberger in diesem Heft) machten es allerdings fast unmöglich, diese auch nur ansatzweise umzusetzen. In einem Manifest formulierte der Rat der Commune sein Selbstverständnis und seine Vorstellungen: »Die Anerkennung und Festigung der Republik, der einzigen Regierungsform, die mit der gesetzmäßigen und freien Entwicklung der Gesellschaft vereinbar ist; die auf alle Gemeinden Frankreichs ausgedehnte unbedingte Selbstverwaltung der Kommune, jeder die Unverletzlichkeit ihrer Rechte und jedem Franzosen die volle Entfaltung seiner Fähigkeiten und Anlagen als Mensch, Bürger und Arbeiter sichernd. [...] Das Ende der alten gouvernementalen und klerikalen Welt, des Militarismus, der Bürokratie, der Ausbeutung des Börsenwuchers, der Monopole, der Privilegien, [...] (zit. nach Bruhat et al. 1971, S. 164). Manche Maßnahmen konnten rasch umgesetzt werden: so wurde ein zeitweiliger Mieterlass verkündet, um die Kriegslast gerechter zu verteilen, leerstehende Wohnungen wurden an vom Krieg Ausgebombte vergeben. Fälligkeitstermine für Schulden wurden verlängert, die Rückgabe verpfändeter Güter angeordnet und das Bildungswesen von der Kirche getrennt.

Interessant an der Commune ist, wie Roger V. Gould (1995) in seiner Untersuchung Insurgent Identities detailliert herausarbeitet, dass tatsächlich die Identität als Urban Community in Opposition zum Staat und zur Kirche für die Ausbildung der Commune entscheidend war und weniger beispielsweise die Forderung nach einem Recht auf Arbeit, das bei früheren Aufständen im Vordergrund stand. Auf den Barrikaden standen und in den Klubs diskutierten nicht nur Arbeiter und Arbeiterinnen, sondern die Bewohner:innen der angrenzenden Nachbarschaften, egal ob Arbeiterin, Künstler oder Kleinunternehmer, wobei unbestritten die Arbeiterklasse die große Mehrheit der Kommunard:innen ausmachte.

Nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten wie Lyon oder Marseille gab es kurze Phasen einer Commune. Diese konnten sich jedoch nur in geringem Ausmaß auf kollektive Massenaktionen stützen und Regierungssoldaten hatten – im Gegensatz zu Paris – wenig Mühe, die Aufständischen zur Aufgabe zu bewegen oder zurückzudrängen (Gould 1995, S. 192). Neben der Begeisterung in mehreren Städten für die Commune gab es jedoch genauso den fanatischen Klassenhass, der sich in einer unbeschreiblichen Feindseligkeit äußerte und schlussendlich dazu führte, dass durch die Versailler Armee in einem als blutige Woche in die Geschichte eingegangenem Gemetzel, je nach Schätzung 20.000 bis 30.000 Kommunard:innen getötet wurden. Dass damit auch erreicht werden sollte, die Erinnerung an die Commune auszuradieren, war vielen Kommunard:innen bewusst, weswegen unmittelbar nach ihrem Ende ein eifriges Niederschreiben von Erinnerungen und Analysen begann. Karl Marx veröffentlichte bereits wenige Tage nach Ende der Commune seinen Text Der Bürgerkrieg in Frankreich, in dem er noch begeistert schrieb, die Commune sei »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte« (Marx & Engels 1973, S. 342).

Ganz im Gegensatz zur Französischen Revolution spielt die Commune in Frankreich bis heute eine untergeordnete Rolle. Abgesehen vom 100-Jahr-Jubiläum, das 1971 in zeitlicher Nähe zu 1968 stattfand und das Wissen über die Commune auch aufgrund etlicher Publikationen verbreitete, ist sie heute fast wieder vergessen und weder Teil des Schulunterrichts noch des Alltagswissens.

Ein hohes Interesse und die entsprechende Aufmerksamkeit gab es von Anfang an vor allem in der historischen Arbeiterbewegung. Auch in Wien wurden die Jahrestage regelmäßig gefeiert. Karl Renner schwang sich in einem Artikel, der am Neujahrstag 1922 auf Seite 1 der Arbeiterzeitung erschienen ist, auf, auch das Rote Wien mit nachdrücklichem Verweis auf die Pariser Commune als Kommune zu bezeichnen: »Ein großes Erbe, eine gewaltige Neuschöpfung, ein kostbares Kleinod der Zukunft ist die Republik und Kommune Wien, Arbeiter von Wien, sie ist in eure Hand gegeben – bewahret, behütet sie denen die nach euch kommen, als teuerstes Vermächtnis!« (Arbeiter-Zeitung, 1.1.1922, S. 2). Auch wenn man das Rote Wien keineswegs direkt mit der Commune vergleichen kann, gibt es doch Parallelen, was die äußeren Umstände anbelangt. Eine Kriegsniederlage, das Ende eines politischen absolutistischen Systems, der fanatische Hass von Seiten des Bürgertums und schlussendlich die militärische Niederschlagung.

Unser Schwerpunkt trägt den Titel Place Internationale und bezieht sich damit auf die Umbenennung des Place Vendôme nach dem Sturz der Vendôme-Säule (siehe Becker in diesem Heft, S. 47–48) während der Commune. Die Commune verstand sich von Anfang an als universell und grenzte sich vom Nationalismus ab. Bereits am zweiten Tag nach ihrer Proklamation wurden alle Ausländer:innen aufgenommen. Die »Fahne der Commune ist die Weltrepublik« (zit. nach Ross 2021, S. 32) war in der Zeitung der Commune zu lesen. Ähnlich wie später im spanischen Bürgerkrieg beteiligten sich Internationalist:innen auf Seiten der Commune an ihrer Verteidigung. Die Kolonial- und Kriegspolitik Frankreichs wurde in den Klubs der Commune regelmäßig scharf kritisiert.

Nach der Niederschlagung der Commune mussten viele Kommunard:innen ins Exil gehen. Sie nahmen ihre Ideen dorthin mit, aber auch ihre Schriften verbreiteten sich und so gab und gibt es immer wieder urbane Kämpfe und Aufstände, die sich auf die Commune beziehen oder selbst Commune nennen – der lange Wellenschlag der Revolution. So rief die chinesische KP beispielsweise 1927 in Guangzhou eine Commune aus (Chak 2021), fünfzig Jahre später passierte das gleiche in Shanghai. Bei den Platzbewegungen 2011 waren immer wieder Plakate mit dem Slogan La Commune n’est pas morte zu sehen und auch heute stößt das Interesse am luxe communal (Luxus für alle) und der Selbstverwaltung wieder auf verstärktes Interesse, wie sich am Engagement für Commons zeigt.


[Literatur:
Bruhat, Jean; Dautry, Jean & Tersen, Emile (1971): Die Pariser Kommune von 1871. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.
Chak, Tings (2021): Guangzhou 1927: The Paris Commune of the East. In: The Funambulist 34, S. 20–23.
Gould, Roger V. (1995): Insurgent Identitites – Class, Community, and Protest in Paris from 1848 to the Commune. Chicago: The University of Chicago Press.
Hofmann, Julia & Lichtenberger, Hanna (2011): Von der Commune in die Stadtteile. In: Perspektiven – Magazin für linke Theorie und Praxis, Heft 14. Verfügbar unter:
http://www.workerscontrol.net/de/system/files/docs/Von%20der%20Commune%20in%20die%20Stadtteile.pdf (Stand 21.07.2021).
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1973) [1871]: Der Bürgerkrieg in Frankreich. In: Marx Engels Werke, Band 17, S. 342. Berlin: (Karl) Dietz Verlag.
Ross, Kristin (2021): Luxus für alle – Die politische Gedankenwelt der Pariser Commune. Berlin: Matthes & Seitz.]

dérive, Mo., 2021.09.13



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dérive 84 Place Internationale

27. Oktober 2020Christoph Laimer
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Demokratische Räume

Vor rund 40 Jahren hat der Sozialwissenschaftler Ray Oldenburg den Begriff der Third Places geprägt und damit Räume bezeichnet, die weder der privaten...

Vor rund 40 Jahren hat der Sozialwissenschaftler Ray Oldenburg den Begriff der Third Places geprägt und damit Räume bezeichnet, die weder der privaten...

Vor rund 40 Jahren hat der Sozialwissenschaftler Ray Oldenburg den Begriff der Third Places geprägt und damit Räume bezeichnet, die weder der privaten Sphäre zuzuordnen sind noch dem Berufsleben. Räume, die ihren ersten großen Aufschwung erlebten, als es mit der Industrialisierung zu einer Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz kam. Oldenburg bezeichnete damit vorrangig soziale Orte der Geselligkeit wie Cafés, Pubs oder Klubs, aber auch Buchhandlungen oder Friseurläden – auch das Wiener Kaffeehaus findet in seinem gleichnamigen Buch prominente Erwähnung. Oldenburgs Third Places sind, wie er selbst schreibt, Orte, an denen die Menschen, die sie aufsuchen, nicht in die Rolle des*der Gastgebers*Gastgeberin schlüpfen müssen und es sind Orte, die man in erster Linie aufsucht, um in Gesellschaft zu sein, sich zu unterhalten, to »serve the human need of communication« (S. 20). Third Places sind Orte, die es erlauben zu kommen und zu gehen wann immer man will. Es gibt keine Verpflichtung zur Anwesenheit, es gibt keine Beginnzeiten, es gibt keine organisierten Treffen. Man kommt in der Gewissheit, jederzeit Leute zu treffen, mit denen sich eine gute Zeit verbringen lässt.

Third Places fungieren auch als Leveler, als Orte, die soziale Unterschiede ausgleichen und diese in den Hintergrund treten lassen. Die wichtige Rolle der Third Places sieht Oldenburg gerade darin, die Gesellschaft zusammenzuhalten: weil von Angesicht zu Angesicht diskutiert werden kann, weil man von seinen Mitmenschen ein umfassendes Bild bekommt, weil unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch kommen, die vor allem die Tatsache eint, sich zur selben Zeit am selben Ort aufzuhalten und nicht etwa gemeinsame Interessen, Ansichten oder Berufe. Third Places bilden für Oldenburg »the political forum of the common man« (S. 25). Die Orte selbst brauchen dafür ein »low profile« (S. 36) mit günstigen Konsumationsmöglichkeiten und einer »unimpressive« (ebd.) Gestaltung, die einladend, aber trotzdem neutral in ihrer sozialen Kodierung wirkt. Hipness und innenarchitektonischer Übereifer sind fehl am Platz, im Mittelpunkt stehen die Gäste. Allgemeine Voraussetzungen für das Funktionieren dieser dritten Orte sind aber auch heterogene, nicht segregierte Stadtviertel und das Vorhandensein von Freizeit.

All die erwähnten Voraussetzungen haben sich seit dem erstmaligen Erscheinen von Oldenburgs Werk im Jahr 1989 verschlechtert. Gentrifizierung hat in vielen Städten dazu geführt, dass Reiche und Arme noch seltener als zuvor in denselben Stadtvierteln wohnen, günstige Lokale gibt es nicht mehr an jeder Ecke und solche, in denen man sich stundenlang aufhalten kann, ohne ständig konsumieren zu müssen, schon gar nicht. Unimpressive zu sein will und kann sich heute kaum mehr wer leisten. Unaufgeregte, günstige und eben dadurch für unterschiedliche Schichten attraktive Beisln, Wirtshäuser, Kneipen und Cafés sind mit der Verwertung der Stadt vielerorts aus den Nachbarschaften verschwunden und durch nichts Gleichwertiges ersetzt worden. Vielleicht mit ein Grund, warum für nicht-kommerzielle, niederschwellige Räume, wie es sie in unterschiedlicher Ausprägung in vielen Städten gab und gibt, wieder verstärktes Interesse besteht.

Oldenburgs Studien haben zweifellos einen wichtigen Anstoß geliefert, um die Bedeutung von sozialen Räumen in der Stadt zu erkennen. Doch sie decken bei weitem nicht alle Aspekte ab, die wir unter der Bezeichnung Demokratische Räume diskutieren möchten. Denn neben Orten der niederschwelligen Begegnung braucht es auch eine Verfügbarkeit von Räumen, an denen Pläne geschmiedet, Projekte umgesetzt, Treffen abgehalten, Veranstaltungen durchgeführt und Experimente gestartet werden können, die Möglichkeiten der Selbstverwaltung, der Aneignung und Gestaltung bieten.

Räumliche Ressourcen: Demokratie als Prozess

Was aber macht Third Places und andere für alle zugänglichen Raumressourcen demokratiepolitisch so wichtig? Die Möglichkeiten, sich aktiv in die Gestaltung der eigenen Umwelt einzubringen und an der gesellschaftlichen Entwicklung Anteil zu nehmen, indem eigene Wünsche und Vorstellungen, eigenes Wissen und eigene Erfahrung eingebracht werden können und eine Rolle spielen, sind rar gesät und ungleich verteilt. Es braucht Selbstbewusstsein und das Wissen über Spielregeln, Strukturen und Netzwerke, um überhaupt in Betracht zu ziehen, Bestehendes in Frage zu stellen. Die Voraussetzungen für gesellschaftliches Engagement korrelieren mit dem sozialen Status. Sich gestaltend an der Gesellschaft zu beteiligen ist keine Selbstverständlichkeit.

Selbstverständlich und vorherrschend in unserer demokratiemüden Gesellschaft ist vielmehr, die Verhältnisse als gegeben hinzunehmen, darauf zu vertrauen, dass »die Politik« schon ihr Möglichstes tun wird, um für eine lebenswerte Gesellschaft zu sorgen, oder, was viel öfter der Fall ist, sich zumindest damit abzufinden, dass man ohnehin nichts ändern kann.

Die Dominanz des Neoliberalismus hat für viele eine Verschlechterung der Bedingungen gebracht, ein anständiges Leben führen zu können. Arbeitslosigkeit und Wohnkosten sind stark gestiegen, die Zahl der Jobs, die nur Hungerlöhne einbringen, ebenso. Arbeitsbelastung und Stress nehmen laufend zu, Solidarität und Klassenbewusstsein, und damit auch das Wissen darüber, dass es grundlegende gesellschaftliche Interessenskonflikte gibt und eben nicht jede*r ihres*seines Glückes Schmied ist, ab.

Stattdessen greift die Erzählung vom individuellen Versagen und der persönlichen Schuld, wenn sich statt Erfolg nur Burnout einstellt, wenn sich trotz massiver Arbeitsbelastung die Geldbörse lange vor Monatsende leert. Die Hoffnung, die Politik würde sich darum kümmern, dass alle ein Auskommen finden, schwindet bei immer mehr Menschen. Die Politikverdrossenheit steigt, Ohnmachtsgefühle sind weit verbreitet und populistische Parteien und Verschwörungstheorien im Aufwind.

Was aber tun, um einen neuen Pfad in Richtung mehr Demokratie einzuschlagen und den geschilderten Phänomenen entgegenzuwirken? Selbstverständlich braucht es mehrere Maßnahmen auf allen Ebenen. Doch die Nachbarschaften, das Grätzl und der Kiez bilden wichtige Ausgangspunkte für die Stärkung der Demokratie. Der Maßstab des Lokalen, des eigenen Lebensumfelds bietet konkrete Anlässe für Diskussion und Engagement. Hier kann erlebt werden, dass die eigenen Wünsche Berechtigung haben, kann Gegebenes in Frage gestellt und gemeinsam mit anderen um gute Lösungen gerungen werden. Im eigenen Viertel verfügt man über Alltagsexpertise, kennt die Probleme und Schwachstellen genauso wie ein paar Menschen, mit denen Vorstellungen diskutiert und ein Veränderungsprozess gestartet werden kann.

Sich austauschen, andere Meinungen und Erfahrungen kennenlernen, tätig werden und Ideen gemeinsam erfolgreich umsetzen, sind Interventionen gegen die Ohnmacht und damit auch Schulen der Demokratie. Doch aktives, öffentliches Engagement benötigt Raum, der niederschwellig und kostenlos zur Verfügung steht. Egal ob es sich um Engagement in Stadtentwicklungsfragen oder die Bildung eines Nachbarschafts-Treffs, um Eltern-Kind- Gruppen, Fablabs, Repair- oder Sprachcafés, Kunst, Kreativ-Experimente oder soziale Start-ups handelt: Ohne räumliche Ressourcen bleiben viele gesellschaftlich nützliche Ideen auf der Strecke. In einer Gesellschaft, die mehr und mehr auseinanderdriftet und deutliche demokratische Defizite offenbart, braucht es offene demokratische Räume als integralen Bestandteil für funktionierende Nachbarschaften, die für Stadtteilversammlungen genauso Platz bieten wie für informelle Treffen, gesellige Feierlichkeiten, Weiterbildung, Kulturveranstaltungen und gesellschaftspolitisches Engagement.

Top-down oder zwischengenutzt: Die Wiener Situation

In der Zweiten Republik wurden Institutionen, die man tendenziell als offene Räume bezeichnen kann wie Volkshochschulen oder Büchereien, in Wien zwar wieder in Betrieb gesetzt und später auch neue wie die Volksheime oder die Häuser der Begegnung gegründet, aber im Vordergrund stand stets ein Top-down-Angebot und ideologische Vorstellungen wie beispielsweise »der Vermassung des Einzelnen in der Stadt« entgegenzuwirken (Ganglbauer 2012). Räume einfach günstig und unkompliziert als Ressource zur Verfügung zu stellen oder vielleicht sogar offensiv anzubieten, wurde von der Stadt nahestehenden Institutionen nie aufgegriffen oder umgesetzt.

Die Kultur suchte sich eigene Räume und fand sie in der Nachkriegszeit nicht zuletzt in den Kellern der Stadt. Auch die Wiener Kaffeehäuser bildeten noch lange Zeit wichtige Ressourcen als Treffpunkte für Künstler:innen, politische Gruppen und Initiativen.

In den 1970er- und 80er-Jahren standen in Folge des Strukturwandels vermehrt Gewerberäume, Fabriksgebäude und anderer Leerstand zur Verfügung, der von einer neuen Generation besetzt wurde. Einige davon bilden bis heute wichtige Orte für eine selbstbestimmte Alternativkultur und gesellschaftspolitisches Engagement wie Arena, WUK, Amerlinghaus oder EKH. Trotz ihres Stellenwerts für die Stadt mussten alle in den letzten Jahren um ihr Überleben kämpfen. Andere sind mit großer Brutalität geräumt worden wie etwa die Besetzungen in der Gassergasse und Aegidigasse. Insgesamt spielten Besetzungen in Wien im Vergleich zur Schweiz und Deutschland immer nur eine Nebenrolle. Der Umgang damit war und ist, bis auf eine kurze Phase, stets sehr restriktiv. Damit blieb und bleibt ein interessanter Nährboden für gesellschaftliche Entwicklungen, den Besetzungen bilden können, in Wien stark unterentwickelt. Wie wichtig aber die Erfahrungen eines experimentellen und selbstbestimmten Umgangs mit (Frei)Räumen sind, zeigen die Gründungen der heute hochbeachteten, weil sozial und baulich höchst innovativen Zürcher Wohnbau-Genossenschaften oder des Mietshäuser Syndikats in Deutschland, die jeweils aus Hausbesetzungsbewegungen hervorgegangen sind (siehe auch das Interview mit Andreas Wirz in dérive 77, S. 6–12).

Neue Räume in Wien entstehen derzeit im Umfeld von gemeinschaftlichen Hausprojekten, die aber bis auf wenige Ausnahmen relativ klein sind. Ein weiterer Versuch, (sozio) kulturelle Räume zu schaffen, stellt das Konzept der Ankerzentren dar, mit dem die Wiener Kulturpolitik dezentrale kulturelle Angebote in die Randbezirke bringen will. Ob sich diese Orte zu Ressourcen für eine selbstbestimmte und aktive Stadtgesellschaft entwickeln werden, wird sich erst zeigen. Dass sie maximal eine längst nötige Ergänzung, aber sicher nicht ein Ersatz für bestehende zentrale Räume sein können, ist jedoch heute schon klar.

Dominiert wird die aktuelle Debatte vom Thema Zwischennutzung, das in Wien noch immer als Allheilmittel gegen den steigenden Raumbedarf speziell für Kunst und Kreativwirtschaft gesehen wird. Vor allem aber wird Zwischennutzung sehr strategisch zur Attraktivierung von Stadtentwicklungsgebieten eingesetzt, immer unter dem Vorzeichen der großen Dankbarkeit der NutzerInnen und ohne jegliche Diskussion darüber, wer hier Werte schafft, und wer davon profitiert.

In den letzten zwei Jahrzehnten sind auch in Wien viele genutzte oder potenziell nutzbare Räume verschwunden. Sie fallen der Stadtentwicklung oder dem Umstand zum Opfer, dass sich Immobilieninvestor:innen mittlerweile für Stadtgegenden und Objekte interessieren, die lange Zeit außerhalb von Entwicklungsinteressen standen. Die Ideologie der Ökonomisierung aller Lebensbereiche macht auch in Wien weder vor öffentlichen Räumen noch vor Räumen für künstlerische, soziale und gesellschaftliche Anliegen halt. Die generelle Inwertsetzung von Raum und Ressourcen verhindert die Entfaltung von gesellschaftlichen Potenzialen zur Lösung von Zukunftsfragen. Sie produziert soziale Ausschlüsse, gesellschaftliche Ungleichheit und demokratiepolitische Defizite. Die Verfügbarkeit von Raum für Tätigkeiten, die außerhalb einer monetären Verwertbarkeit liegen, ist damit eine hochpolitische Frage und berührt die Zukunft der städtischen Gesellschaft.

Gemeingüter, Commons und PCPs

Doch wie sollen und können unter den herrschenden Bedingungen hybride demokratische Räume für die urbane Gesellschaft entstehen? Interessante Ansätze liefert das Konzept der Gemeingüter oder Commons, das seit einigen Jahren eine viel beachtete Renaissance feiert. Die Potenziale der Commons, geteilter materieller Ressourcen, die einen Möglichkeitsraum jenseits von Staat und Privat eröffnen und damit die Eigentumsfrage neu verhandeln, werden in alle Richtungen erforscht und in ihrer Anwendung laufend erweitert. Unauflöslich damit verbunden ist die soziale Praxis des Commoning, der gemeinsamen, radikal-demokratischen Aushandlung und Verwaltung eben jener Ressourcen zum Vorteil aller. Immer mehr progressive europäische Städte widmen sich der Entwicklung eines Regelwerks für urbane Commons als Grundlage für Privat-Civic-Partnerships (PCPs), also einer Zusammenarbeit zwischen Stadtpolitik und Stadtgesellschaft auf Augenhöhe.

In der vorliegenden Ausgabe werfen wir Schlaglichter auf einzelne Entwicklungen und Beispiele von demokratischen Räumen, die von Polen bis Argentinien und Brasilien reichen. Ein besonderer Schwerpunkt gilt auch Zürich, das mit den Gemeinschaftszentren sowohl über ein Netz von Einrichtungen verfügt, das sowohl eine breite Versorgung der Stadtbevölkerung mit Räumen garantiert als auch durch seine Geschichte der Besetzungen immer wieder viele Freiräume entstehen sah und sieht. Zum Thema Commons und Raum findet sich mit L200 ebenso ein Beispiel im Heft. Auch Polen verfügt, wie andere Länder des ehemaligen Ostblocks, über ein reiches Erbe an Kulturhäusern, die ein großes räumliches Potenzial bereithalten. Besonders beeindruckend sind die Beispiele aus Südamerika, die wir in diesem Schwerpunkt vorstellen: Die Nachbarschaftszentren in Argentinien ebenso wie die sozialen Museen und die SESCs in Brasilien.

Die redaktionelle Arbeit an diesem Schwerpunkt hat gezeigt, dass es sowohl eine große Geschichte an demokratischen Räumen als auch wiederkehrendes Interesse daran gibt, es aber an umfassender und breiter Forschung zum Thema fehlt. Die meisten Forschungsarbeiten widmen sich einzelnen Phänomenen wie den Centri Sociali in Italien oder den Volksbildungseinrichtungen in Österreich, die Suche nach dem Gemeinsamen und Übergreifenden, die Analyse des gesellschaftlichen und demokratiepolitischen Potenzials existiert jedoch erst in Ansätzen. Einen kleinen Beitrag will dieser Schwerpunkt dafür leisten.

dérive, Di., 2020.10.27



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dérive 81 Demokratische Räume

17. August 2020Christoph Laimer
dérive

Gegen eine Rückkehr zur Normalität: Zum Schwerpunkt Pandemie

Es ist erst wenige Monate her, dass Regierungen weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt haben....

Es ist erst wenige Monate her, dass Regierungen weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt haben....

Es ist erst wenige Monate her, dass Regierungen weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt haben. Seit einigen Wochen werden diese Maßnahmen zurückgenommen, in manchen Ländern, weil sich die Situation tatsächlich zum Besseren gewendet hat, in anderen wohl vorrangig deshalb, weil wirtschaftliche Interessen bedient werden wollen. In dieser Zeit sind Unmengen von Artikeln und Beiträgen zu Covid-19 veröffentlicht worden, trotzdem finden wir es als Redaktion einer Zeitschrift für Stadtforschung angebracht, einen eigenen Schwerpunkt zum Thema Pandemie zu veröffentlichen. Das hat einerseits damit zu tun, dass Gestalt und Ordnung von Städten viel mehr von Seuchen und Krankheiten beeinflusst und geprägt sind, als man gemeinhin annimmt und andererseits damit, dass es für uns als kritische Zeitschrift ein wichtiger Zeitpunkt ist, um auf das Versagen eines Systems hinzuweisen, das noch selten so offensichtlich war.

Das Leben in Städten war die längste Zeit ihrer Existenz von einer sehr hohen Sterblichkeit gekennzeichnet. Die Lebenserwartung von Stadtbewohner:innen lag über Jahrhunderte um einiges unter derjenigen der Landbevölkerung. Krankheiten und Seuchen rafften regelmäßig große Teile der Bevölkerung hinweg. Das war im antiken Rom und Athen nicht anders als in den europäischen Städten des 14. bis 18. Jahrhunderts, über die der Anthro­pologe Mark Nathan Cohen schreibt, dass sie möglicherweise die »am stärksten von Krankheiten befallenen und am kürzesten lebenden Bevölkerungen in der Geschichte der Menschheit« (zit. nach Bollyky 2019) waren. Pest-, Typhus- und Choleraepidemien wüteten und kosteten jeweils tausenden Menschen das Leben. Vor allem natürlich jenen, die aufgrund ihrer Armut ihr Dasein unter miserablen Wohnbedingungen und katastrophalen hygienischen Zuständen fristen mussten.

Doch obwohl Bourgeoisie und Arbeiterklasse natürlich nicht in denselben Vierteln wohnten, waren auch Bürger:innen nicht davor gefeit, an Seuchen zu erkranken und zu sterben. Gegenmaßnahmen waren also notwendig, nicht zuletzt auch, um den »Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern« (Marx & Engels 1972, S. 488), wie im Kommunistischen Manifest zu lesen ist, das während der Hochzeit der Typhus- und Choleraepidemien verfasst wurde. Friedrich Engels sah »die menschenfreundlichen Bourgeois in edlem Wetteifer für die Gesundheit ihrer Arbeiter« (Engels 1999, S. 233) entbrennen. Dass genau dieser Aspekt auch in Zeiten von Covid-19 nicht übersehen werden sollte, darauf weißen Vilenica et al. in ihrem Artikel Covid-19 und die Wohnungskämpfe (S. 46–54) hin.

In den letzten Cholera-Epidemien in Wien (1866 und 1873) starben fast nur mehr arme Stadtbewohner:innen.1 Die Unterprivilegierten waren den Seuchen aber nicht nur am stärksten ausgesetzt, sie wurden auch immer wieder für ihre Verbreitung verantwortlich gemacht und im Zuge solcher Kampagnen als gefährliche Klasse denunziert. Zuletzt beispielsweise Bewohner:innen des Iduna-Zentrums in Göttingen oder eines Asylwerber*innenheimes in Wien. In diesem Zusammenhang ist auch die Dichte-Debatte zu sehen, die den städtebaulichen Diskurs seither begleitet.

Aus dem Umstand, dass Arbeiter:innen in sehr dichten Wohnvierteln lebten und leben, wurde und wird immer wieder der Schluss gezogen, Dichte an sich wäre das Problem, das es zu beseitigen gilt. Die Fantasien und Gerüchte darüber, wie das Leben in den dichten Arbeiter*innenquartieren aussieht – Kriminalität, Promiskuität, Krankheiten – war nicht nur für hetzerische Kampagnen und Werke der Literaturgeschichte verantwortlich, sondern in Folge auch für städtebauliche Konzepte, die beispielsweise für die aufgelockerte Stadt eintraten. Nicht die physisch ruinösen Arbeitsbedingungen, die fehlende Möglichkeit zur Regeneration aufgrund extrem langer Arbeitszeiten, Unterernährung bzw. ungesunde Ernährung, fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung oder völlig unzureichend ausgestattete, feuchte Wohnungen seien das Problem, sondern die Dichte. Die Dichte, die genau das ermöglichte, was das Überleben irgendwie möglich machte: alltägliche Solidarität und gegenseitige Hilfe im Viertel. Bis heute passiert es, dass soziale Strukturen sowie die lokale Möglichkeit für (informelle) Arbeit unter dem Vorwand, bessere Wohnverhältnisse für Slumbewohner:innen zu schaffen, zerstört werden, indem die verantwortlichen Politiker:innen die Bewohner:innen an den Stadtrand absiedeln. Zufälligerweise können die ehemaligen Grundstücke dann immer wieder teuer verkauft oder mit ertragreichen Immobilien bebaut werden.

Zwei der wichtigsten baulichen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung waren der Bau stadtweiter Kanalisationsnetze und die Versorgung aller Haushalte mit sauberem Trinkwasser. In Wien konnte die Cholera endgültig erst mit dem Bau der äußerst eindrucksvollen 95 km langen, 1873 eröffneten. Wiener Hochquellenleitung, die die lokalen Hausbrunnen ersetzte, und der Wienflussregulierung im Zuge des Baus der Stadtbahn, verdrängt werden.

Neben reinem Wasser galten und gelten natürlich auch saubere Luft und Licht als wichtige Voraussetzungen für ein gesundes Leben in der Stadt, wobei die Annahme der Bedeutung sauberer Luft bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch eine Folge der ebenso gebräuchlichen wie falschen Annahme, giftige Ausdünstungen des Bodens (Miasma) seien für die Ausbreitung von Seuchen verantwortlich, zurückzuführen ist.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Errichtung von Parks, Spielplätzen und sogar Schrebergärten als sozialhygienische Maßnahme im Sinne der Gesundheitsversorgung gesetzt wurde.3 Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl New Yorks Central Park, die »Lunge der Stadt« wie sie der Landschaftsarchitekt Frederick Olmsted, der gemeinsam mit dem Architekten Calvert Vaux den Wettbewerb für die Gestaltung des Central Parks gewonnen hat, bezeichnete.

Covid-19 und die Wirtschaftskrise

Wie zu den Zeiten der großen Epidemien des 19. Jahrhunderts geht es auch heute bei all den Hilfsmaßnahmen nicht darum, langfristig neue Strukturen aufzubauen, die gegenüber Krisen resilienter sind und nicht jedes Mal aufs Neue zig Millionen vor existenzielle Probleme stellen, sondern darum, den stockenden Motor des Kapitalismus wieder in Gang zu bringen: Koste es, was es wolle. Unser Wirtschaftssystem wäre aufgrund seiner hohen Produktivität ohne Probleme in der Lage, Güter in einem Ausmaß zu produzieren, die eine ausreichende Versorgung der Menschheit mit allem Lebensnotwendigen garantiert. Das Paradox an unserer aktuellen Situation ist nun, dass es zu einer Wirtschaftskrise gigantischen Ausmaßes kommt, weil eine Pandemie es notwendig macht(e), für ein paar Wochen den Arbeitsalltag neu zu organisieren und einige Bereiche vorübergehend einzustellen. Das Problem ist nun aber nicht, dass es zu wenige Lebensmittel, Kleidung oder Wohnungen gibt, sondern, dass viele Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit über weniger oder kein Einkommen mehr verfügen, um diese bezahlen zu können. Gleichzeitig fragen sich Investor:innen, ob es schon der richtige Zeitpunkt ist, um wieder Aktien zu kaufen oder sie besser warten sollten, bis die Krise noch größer wird, weil der zu erwartende zukünftige Profit dann noch höher sein wird.4 Normalerweise verkündet die Ideologie-PR in Situationen, in denen Menschen vor existenziellen Problemen stehen, sie seien zu wenig tüchtig, zu wenig gebildet, zu wenig hartnäckig, zu unflexibel, zu wenig leistungsbereit etc. und brauchen sich deswegen nicht wundern, wenn sie nicht ausreichend Geld zur Verfügung haben. Doch diesmal ist es einfach völlig offensichtlich, dass keiner dieser Gründe angeführt werden kann, weil niemand, der/die durch die Pandemie arbeitslos geworden ist oder nun weniger Einkommen hat als zuvor, selbst dafür verantwortlich gemacht werden kann.

Und siehe da, jetzt wo das System in Gefahr ist, weil die Kaufkraft bzw. die Möglichkeit Geld auszugeben nicht mehr im notwendigen Ausmaß vorhanden sind, können plötzlich hunderte Milliarden Euro und Dollar aufgebracht werden, die teils freihändig verteilt werden, um den Laden wieder in Schwung zu bringen. Wie schon bei der Finanzkrise 2008 zeichnet sich auch bei Covid-19 ab, dass keinerlei Überlegungen angestellt werden, wie die Grundversorgung der Menschheit in Zukunft auch in Zeiten von Krisen aufrecht erhalten werden könnte, ohne jedes Mal große Teile der Bevölkerung unnötig dem Ruin auszuliefern. Was, um es noch einmal zu betonen, angesichts der Tatsache, dass es die Güter gibt oder sie jederzeit hergestellt werden könnten, die dafür notwendig sind, besonders grotesk ist.

Die Milliarden, die jetzt verteilt werden, dienen ausschließlich dazu, die Mauern des Systems zu stützen und die Löcher zu stopfen, damit möglichst schnell die Rückkehr zu dem, was aktuell unter den Begriff Normalität läuft, gelingt. Doch genau diese Normalität gilt es in Frage zu stellen. Die Pandemie zeigt, wie wichtig eine soziale Infrastruktur und eine eigenständige Alltagsökonomie für ein gutes Leben für alle sind (siehe dazu die Beiträge von Bärnthaler et al., S. 06–11 sowie von Ayona Datta auf S. 18–20) und dass es der Gebrauchswert der Güter ist, auf den wir schlussendlich zählen können müssen und nicht der Tauschwert (Berardi 2020).

dérive, Mo., 2020.08.17



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20. Januar 2020Christoph Laimer
dérive

Das Ende der Nordbahnhalle

Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum betitelten wir in der Oktober-Ausgabe von dérive den Zwischenstandsbericht zur Auseinandersetzung um...

Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum betitelten wir in der Oktober-Ausgabe von dérive den Zwischenstandsbericht zur Auseinandersetzung um...

Die Nordbahnhalle auf dem Weg zum Stadtteilzentrum betitelten wir in der Oktober-Ausgabe von dérive den Zwischenstandsbericht zur Auseinandersetzung um die Zukunft der Wiener Nordbahnhalle als sozialkulturelles Zentrum. Im Titel schwang zugegebenermaßen eine ordentliche Portion Optimismus mit. Die GegnerInnen dieses Plans waren nicht zahlreich, saßen aber an den entscheidenden Stellen. Trotz breiter Unterstützung aus der Nachbarschaft und hohem medialem Interesse war der Weg der IG Nordbahnhalle[1] von Anfang an steinig, und es war klar, dass mit der konkreten Umsetzung der schwierigste Abschnitt noch bevorstehen würde. Einen guten Monat nach Veröffentlichung des Artikels ist in der Nordbahnhalle überraschend ein Feuer ausgebrochen, dessen Rauchsäule weit über Wien sichtbar war. Die Halle wurde schwer beschädigt. Mitte Dezember, noch bevor die Untersuchungen zur Brandursache abgeschlossen waren, hat der Abriss der Halle begonnen. Der Brand markiert das spektakuläre Ende eines Möglichkeitsraums, der ein Modellprojekt für Wien hätte werden können. Die verantwortlichen Stellen der Stadt Wien taten alles, um das nicht erkennen zu müssen. Eine dokumentarische Aufarbeitung.

Kapitel 1: Der Wert der Partizipation

Für die Entwicklung des Geländes des ehemaligen Nordbahnhofs war ein umfangreicher Partizipationsprozess vorgesehen, der im Herbst/Winter 2013/14 stattfand. 27.500 Haushalte waren zur Teilnahme eingeladen. Dieser Prozess bestand aus Grätzel-Cafés, Dialogveranstaltungen, einer Planungswerkstatt und weiteren Formaten. Hunderte NachbarInnen hatten die Möglichkeit, Ideen und Vorschläge einzubringen. Ein Team von ExpertInnen stand für Beratung zur Verfügung – und wohl auch dafür, die Wünsche zu kanalisieren. Die eingebrachten Ideen wurden diskutiert, von den ExpertInnen bewertet und schlussendlich unter den Kapiteln Mobilität, Nutzung und Bebauung sowie Grün- und Freiraum zusammen- gefasst. Am 17. Februar 2014 fand das dritte und letzte Grätzel-Café statt. Auf der Tagesordnung stand der Punkt Finale Empfehlungen der BürgerInnen. Was wünschten sich die damaligen BewohnerInnen des Nordbahnviertels, drei bis vier Jahre bevor (!) die Nordbahnhalle erfunden wurde?

– Ein »Bildungs- und Kulturzentrum, das vielfältig und Generationen übergreifend genutzt werden kann [und] zur Belebung des Stadtteils beiträgt.«
– »Räumliche Vernetzung zwischen Altbestand und Neubau bzw. in die freie Mitte hinein.«
– »Mögliche (Zwischen-)Nutzungen im Freiraum und in bestehenden Gebäuden: kulturelle Nutzung der bestehenden Gebäude, Tunnel, Hallen und in Freiräumen, z. B. für Kunst/ Kultur (Installationen ...), Proberäume, Clubs, Diskos, als Skaterpark.«

Die drei Punkte sprechen für sich, einige Details sollten trotzdem hervorgehoben werden. Der Wortteil »Zwischen« bei Zwischennutzung steht in Klammern, es wurde also nicht nur an Zwischennutzungen, sondern an ganz normale Nutzungen gedacht. Besonders wird die Nutzung von bestehenden Gebäuden hervorgehoben. In der Aufzählung, welche Gebäude das sein könnten, kommt das Wort Halle vor. Ein sprachlicher Zufall? Nein. Der Partizipationsprozess ist gut dokumentiert und so ist im Detail nachzulesen, was in der Wunschliste stand, bevor die Punkte zusammengefasst wurden. Eine Liste aus dem ersten Grätzel-Café, an dem 300 NachbarInnen teilnahmen, hält fest, dass sich die TeilnehmerInnen den »Mehrerhalt bestehender Substanzen« wünschen, als konkretes Beispiel »Halle neben Wasserturm«.[2] Diese Halle neben dem Wasserturm wurde 2017 durch ein Forschungsprojekt der TU Wien zur Nordbahnhalle. Während des Beteiligungsprozesses war sie noch von der Firma IMGRO als Lagerhalle für Lebensmittel genutzt worden.

Dieser frühzeitig eingebrachte Wunsch der Nachbarschaft nach Erhalt der Halle neben dem Wasserturm wurde von den GegnerInnen der Nordbahnhalle geflissentlich übersehen und unter den Teppich gekehrt. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass weder im Leitbild für das Viertel noch im Partizipationsprozess von der Nordbahnhalle die Rede sei und die Halle deshalb auch keine Existenzberechtigung hätte und abgerissen werden müsse. Eine rhetorisch gesetzte Nebelgranate, wurde der Name Nordbahnhalle für die Lagerhalle neben dem Wasserturm doch erst 2017 erfunden. Sie konnte somit unter diesem Namen im 2013 und 2014 stattfindenden Beteiligungsprozess gar nicht auftauchen. Als Gebäude und als Konzept war sie jedoch explizit erwünschtes Ergebnis der Partizipation: Der Wert der Halle neben dem Wasserturm war den NachbarInnen lange vor der Bespielung durch die TU Wien bewusst.

Auch das spätere Raumprogramm für diesen ungewöhnlichen und identitätsstiftenden Ort war von den TeilnehmerInnen des Partizipationsprozesses bereits grob umrissen worden. Als Ideen und Vorschläge für das Nordbahnviertel wurden im Protokoll des ersten Grätzel-Cafés notiert[3]: Ort für Kulturveranstaltungen ohne Konsumzwang; Treffpunkt für GrätzelbewohnerInnen ohne Konsumzwang; Mehrzweckhalle (Jugend, Theater ...); Sozialaspekt Begegnungszone: Lokale/Vereinslokale; Park-Gastronomie; Weltcafé; Speakers Corner; (Erwachsenen-)Bildungszentrum; Arena für kulturelle Open-Air-Veranstaltungen; flexibel genutztes Gebäude in zentraler Lage.

Blickt man zurück und hält sich die mehr als 500 Veranstaltungen vor Augen, die in der Nordbahnhalle stattgefunden haben, wird deutlich, dass ein großer Teil dieser Vorstellungen in den zweieinhalb Jahren der Nutzung bereits Wirklichkeit geworden waren. Kombiniert mit dem Potenzial einer langfristigen Nutzung durch eine selbstorganisierte, zivilgesellschaftliche und gemeinwohlorientierte Trägerschaft wären alle diese Ideen einer lebendigen Nachbarschaft umsetzbar gewesen. Doch die Ergebnisse der Partizipation ergeben vor allem viel hübsches Papier, dessen Wert sich in der Visionslosigkeit der politischen Entscheidungsträger und den Interessen der Bauträger auflöst. Entschieden wird auch unter rot-grün top-down.

Kapitel 2: Ein Handbuch zum städtebaulichen Leitbild

2015 wird das Handbuch zum städtebaulichen Leitbild Nordbahnhof[4] veröffentlicht. Herausgeberin ist die MA 21 – Stadtteilplanung und Flächennutzung, also eine offizielle Stelle der Stadt Wien. Die AutorInnen sind die ArchitektInnen und StadtplanerInnen Bernd Vlay und Lina Streeruwitz, die für den Masterplan des Nordbahnviertels verantwortlich und somit die ErfinderInnen der Stadtwildnis Freie Mitte[5] sind. Das Hand- buch bildet die zentrale Publikation für die Entwicklung des Stadtteils. Es enthält die Leitlinien und Konzepte der PlanerInnen ebenso wie einen detaillierten Bericht über den Partizipationsprozess. Es informiert darüber, welche Empfehlungen aus dem Beteiligungsprozess als Zielsetzung ins Leitbild übernommen wurden. Alle drei bereits erwähnten finalen Empfehlungen aus dem Partizipationsprozess wurden, wie es wörtlich heißt, »weitgehend« ins Leitbild aufgenommen.

Im städtebaulichen Leitbild werden fünf Bereiche und Bestandsgebäude der Freien Mitte dezidiert für soziale und kulturelle Nutzungen ausgewiesen. Trotz dieser Verankerung und des Partizipationsprozesses sind zwei davon mittlerweile abgerissen bzw. unbrauchbar gemacht. Es handelt sich dabei um zwei Tunnel (Doppeltunnel) und ein Gebäude, das in unmittelbarer Nähe stand. Der Doppeltunnel war als »soziokulturelles Lernzentrum mit Veranstaltungen« (S. 65), das Gebäude als »Kinderhaus« (ebd.) gedacht. An einer anderen Stelle im Handbuch heißt es über die Nutzung des Doppeltunnels: »Eine Nachmodellierung mit Sitzstufen könnte den Raum vor dem Kulturtunnel zu einer attraktiven Veranstaltungsfläche mit Außenbereich werden lassen.« (S. 129) Über das benachbarte Gebäude: »An dieser Stelle soll, im Bestandsgebäude oder in einem neuen Gebäude, soziale Infrastruktur für alle Generationen angeboten werden.« (ebd.) Der Doppeltunnel wurde mittlerweile zugeschüttet, das Generationenhaus abgerissen. Die IG lebenswerter Nordbahnhof, ein Zusammenschluss von BewohnerInnen des Viertels, schrieb in einem Blogeintrag im Februar 2018 über den »furchtbar gedankenlosen« Umgang mit der Substanz am Areal; weiter heißt es: »Und so ist passiert, was eigentlich nicht passieren sollte. Ein historischer Bestand ist ohne Not zerstört.«[6]

Mit der Verbindlichkeit des Leitbilds scheint es also nicht weit her: Während die Nordbahnhalle, so wurde von den GegnerInnen argumentiert, weg sollte, weil sie im Leitbild namentlich nicht erwähnt wird, wurden der Doppeltunnel und das Generationenhaus zerstört, obwohl sie im Leitbild mehrfach erwähnt werden. Der naheliegende Gedanke, dass die in den beiden zerstörten Einrichtungen geplanten sozialen und kulturellen Funktionen vielleicht in der Nordbahnhalle umgesetzt hätten werden können, wollte keinem der Verantwortlichen kommen.

Kapitel 3: Die Petition an den Wiener Gemeinderat

In Wien besteht die Möglichkeit, eine BürgerInnenpetition an den Gemeinderat zu richten. Voraussetzung sind 500 Unterschriften von in Wien lebenden Menschen und ein Anliegen, das die Gesetzgebung oder Verwaltung der Stadt Wien betrifft. Das Anliegen muss im Ausschuss des Landtags behandelt werden, ist aber in keiner Weise bindend. Obwohl sich die IG Nordbahnhalle von der Petition nicht viel erwartet hatte, weil von anderen Initiativen bekannt war, wie zahnlos das Instrument ist, entschloss sie sich, einen Petitionstext zu formulieren und Unterschriften zu sammeln. Aufgrund der großen Unterstützung aus der Nachbarschaft konnte die Petition rasch eingereicht werden.[7] Für November wurde die IG Nordbahnhalle eingeladen, ihr Anliegen vor dem Ausschuss zu präsentieren – ein üblicher Vorgang. Ebenso üblich ist es, dass die Vorsitzende des Ausschusses von den zuständigen Stellen der Stadtverwaltung Stellungnahmen zur Petition anfordert, die eine Woche vor dem Sitzungstermin veröffentlicht werden müssen. Für die Petition SOS Nordbahnhalle wurden Stellungnahmen von den Stadträtinnen für Kultur (Veronica Kaup-Hasler, SPÖ) und Stadtentwicklung (Birgit Hebein, Grüne), der Bezirksvorsteherin des betroffenen Bezirks (Uschi Lichtenegger, Grüne), den ÖBB und den Wiener Verkehrsbetrieben angefordert.[8]

Die Stellungnahmen von Hebein, Lichtenegger und den ÖBB enthielten die bereits davor öffentlich kundgegebene, äußerst selektive und einseitige Darstellung der Sachlage: Die Nordbahnhalle spiele weder im Partizipationsprozess noch im Leitbild eine Rolle; der Abriss sei mit den ÖBB vertraglich vereinbart; der Grünraum sei zu wichtig, als dass er durch die Nordbahnhalle verkleinert werden sollte; die Sanierung der Halle koste zu viel Geld; es gäbe baurechtliche Schwierigkeiten; es gäbe genug andere Flächen, die verwendet werden könnten (Wasserturm, Neubauten) und nicht zu vergessen: Zwischennutzung muss Zwischennutzung bleiben.

Kein Wort davon, dass die Halle neben dem Wasserturm bereits am Beginn des Partizipationsprozesses Eingang in die Liste der zu erhaltenden Objekte gefunden hatte. Kein Wort darüber, dass mehr oder weniger alle der im Partizipationsprozess vorgebrachten Wünsche und Vorschläge im Hinblick auf Bildung, Kultur und Soziales in der Nordbahnhalle bereits umgesetzt worden sind und hätten werden können. Kein Wort davon, dass einer der zentralen Punkte des Handbuchs zum Leitbild die Nutzung von Ressourcen bildet und Bestandsgebäude eine wichtige Rolle spielen sollen.

Ganz grundsätzlich scheint der grünen Stadtplanungs- und Bezirkspolitik nicht ansatzweise klar zu sein, was für ein Glücksfall sondergleichen das Ensemble aus Nordbahnhalle und Wasserturm für die Entwicklung des Nordbahnviertels dargestellt hatte. Eine Situation, nach der in der Stadtentwicklung im Normalfall händeringend gesucht wird, weil sie Identität stiften und Urbanität schaffen kann. Auch die öffentliche Unterstützung zahlreicher namhafter ArchitektInnen, StadtplanerInnen und StadtforscherInnen konnte die Position der grünen Stadtplanung nicht ins Wanken bringen. Einzig der Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler war und ist klar, welche einmalige Chance hier vergeben wurde.
Der Petitionsausschuss, zu dem die IG Nordbahnhalle geladen war, passte schlussendlich perfekt in dieses Bild der Ignoranz und Visionslosigkeit. Ab der Gründung der IG Nordbahnhalle war jegliche Diskussion der unterschiedlichen Stand- punkte von Seiten der Stadtplanungspolitik verweigert worden. Im Petitionsausschuss wurde den VertreterInnen der IG Nordbahnhalle nach deren Präsentation keine einzige Frage gestellt. Die Vorsitzende Jennifer Kickert bemühte sich redlich, das peinliche Schweigen der rund 20 anwesenden Gemeinderatsabgeordneten und deren MitarbeiterInnen zu kaschieren, indem
sie noch einen kleinen Diskussionsbeitrag zum Thema Zwischennutzung einbrachte. Birgit Hebein, grüne Vizebürgermeisterin und Planungsstadträtin, wiederholte abschließend ihre Position aus der Stellungnahme, ohne auf Gegenargumente einzugehen. Der grüne Kultursprecher Martin Margulies schwieg ebenso wie die ReferentInnen der Stadträtin. Damit war das Kapitel Nordbahnhalle für die Stadt Wien geschlossen, der Abriss für Sommer 2020 fixiert. In der offiziellen Presseaussendung der Stadt Wien hieß es am folgenden Tag: »Die Nutzung der Nordbahnhalle hingegen sei von vorn- herein temporär angelegt gewesen; der Erhalt der Nordbahnhalle über das Jahr 2020 hinaus decke sich nicht mit den städtebaulichen Planungen und die darauf basierenden politischen Beschlüsse für das Gebiet des ehemaligen Nordbahnhofs.«[9]

Kapitel 4: Politik und Immobilienwirtschaft machen Stadt

Die Planungsstadträtin Birgit Hebein hat ihr Amt erst im Juni 2019 angetreten. Sie war zwar in ihrer Rolle als Sozialpolitikerin immer für die Stärkung von Nachbarschaften eingetreten, hatte aber wenig Interesse, sich mit der Nordbahnhalle näher zu beschäftigen. Nach dem Start der öffentlichen Kampagne für den Erhalt der Nordbahnhalle ignorierte sie ebenso wie ihre MitarbeiterInnen jede Gesprächsanfrage der IG Nordbahnhalle.[10] Es kam zu keinerlei inhaltlichem Austausch. Ihre Argumente gegen die Nordbahnhalle blieben stets die gleichen. Gegenargumente ignoriert sie bis heute, zuletzt erst wieder bei einer Veranstaltung mit dem Titel Aktivismus und Zivilgesellschaft in der Smart City – unbequem und unverzichtbar!, die von der Stadt Wien veranstaltet wurde.

Den meisten der im Viertel aktiven Bauträger-Konsortien und der Grundstückseignerin ÖBB war die Nordbahnhalle immer ein Dorn im Auge. Offenbar wird es von InvestorInnen und ProjektentwicklerInnen als Zumutung empfunden, dass BürgerInnen ihrem Streben nach Höchstverwertung in die Quere kommen. Der Geschäftsführer der ÖBB Immobilien, Johannes Karner, schreibt in seiner Stellungnahme zur Petition der IG Nordbahnhalle: »Die Nordbahnhalle aber ist abzutragen, um so den vertragsgemäßen Zustand herzustellen.«

Weiters wird umgehend klargestellt, dass auch bei der Entwicklung des denkmalgeschützten Wasserturms BürgerInnen keine Mitsprache haben sollten: »Es wird daher angeregt, einen Schwerpunkt auf die kulturelle, gastronomische und soziale Entwicklung des Wasserturms zu legen. Dies sollte in Kooperation mit der Stadt Wien, dem Bauträgerkonsortium Nordbahnhof und der ÖBB-Infrastruktur AG erfolgen.«[11]

Kapitel 5: Nachdenkpause, Teilabriss, Brand

Aufgrund der Aktivitäten der IG Nordbahnhalle verordnete (sich) die grüne Stadtplanung eine Nachdenkpause und beschloss, vorerst nur einen Teil der Nordbahnhalle abzureißen. Grund dürfte wohl auch die anstehende Nationalratswahl gewesen sein, bei der es für die Grünen um ihr politisches Überleben ging. Der Erfolg in der grünen Hochburg Wien sollte wohl nicht durch einen Konflikt um einen nicht-kommerziellen Gemeinwohlort für die Nachbarschaft gestört werden. Schließlich ist nur schwer zu argumentieren, warum sich ausgerechnet eine grüne Stadtplanung vehement gegen die Schaffung von nicht- kommerziellen Orten für Nachbarschaft, Kultur und Soziales stemmt. Im September erfolgte der aufgrund einer neuen Straßenbahnschleife notwendige Abriss eines Teils der Nordbahnhalle. Bedeutende Flächen gingen verloren, doch der Rest der Halle war immer noch groß. Die Grundfläche hatte nun 1.300 m², dazu gab es Büroflächen von 150 m² im ersten Stock und einen großen hohen Keller, der bisher nicht für öffentliche Veranstaltungen genutzt wurde, sich aber für lautere Events perfekt geeignet hätte. Die verbliebene Hallenstruktur war in gutem Zustand, weil sie Anfang der 2000er-Jahre teilweise erneuert worden war.

Die IG Nordbahnhalle drängte darauf, dass die Halle nach dem Teilabriss gegen Vandalismus verbarrikadiert werden sollte. Aufgrund der umgebenden Baustellenentwicklung war eine reguläre Nutzung bis April 2020 nicht möglich. Trotz der mündlichen Vereinbarung, die Halle zu sichern, passierte wochenlang nichts. Der befürchtete Vandalismus ließ nicht lange auf sich warten. Fenster wurden eingeworfen, Mobiliar zerstört, Lagerfeuer angezündet, ein alter Gabelstapler in Betrieb genommen, um alles niederzufahren, was im Weg stand – es war ein Trauerspiel. Immer wieder forderte die IG Nordbahnhalle, die angekündigte Verbarrikadierung endlich durchzuführen. Nach der Ankündigung, die Sicherung der Halle selbst in die Hand zu nehmen, wurden Türen und Fenster mit Schalungsplatten verschlossen.

Wenige Tage später, am Sonntag den 10. November, brannte die Halle ab.[12] Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Halle keinen Strom, es wurden keine selbstentzündlichen Materialien gelagert, es hatte mehrere Tage geregnet, am Tag des Brandes gab es kein Gewitter. Die Halle war gut gesichert und ein Eindringen ohne Werkzeug oder Schlüssel nur schwer vorstellbar. Der Brand wurde zur Mittagszeit von NachbarInnen entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt brannte die Nordbahnhalle aus dem Inneren heraus bereits lichterloh. Aufgrund der materiellen Umstände ging die IG Nordbahnhalle von Brandstiftung aus und äußerte diesen Verdacht in einer Stellungnahme am Abend desselben Tages.[13] Sie war mit dieser Vermutung nicht alleine. Mehr oder weniger alle NachbarInnen äußerten in den zahlreichen Presseberichten[14] den selben Verdacht. »Warm abgetragen« wurde zur kollektiven Annahme rund um das Brandgeschehen.

Fazit

Die Wiener Stadtpolitik ist für ihre ausgeprägte Top-down-Politik bekannt. Die seit Jahrzehnten regierende Sozialdemokratie sieht sich nach wie vor in der paternalistischen Position der Fürsorgerin, verantwortlich für das Wohl der Bevölkerung, was einerseits zu einer hohen Lebensqualität, andererseits aber zu einem tief gehenden Demokratiedefizit und einem verkümmerten Verständnis von Teilhabe und Mitsprache führt. Alle paar Jahre werden Instrumente erfunden, um Partizipation zu stärken. Diese sind jedoch stets so konzipiert, dass klar ist, wer schlussendlich Entscheidungen trifft, Macht ausübt und damit die Kontrolle behält. Die Bevölkerung darf zwar mitreden, aber nicht mitbestimmen. Das zahnlose und in keiner Weise bindende Petitionsrecht ist dafür ein gutes Beispiel.

Eine kooperative Stadtentwicklung auf Augenhöhe steht nicht auf der Agenda der »Smart City für alle«. Wenn Anliegen und Ideen aufkommen, die sich nicht mit den offiziellen Interessen der Stadtpolitik decken, wird die Kommunikation darüber so weit als möglich vermieden oder sie werden auf die lange Bank geschoben. Das hat sich auch in den nahezu zwei Perioden grüner Stadtplanung in Wien nicht geändert. Partizipation bedeutet in Wien nach wie vor in erster Linie Information und darüber hinaus eine Möglichkeit, Kritik zu kanalisieren und auszubremsen. Die grundlegende Richtung und die erwünschten Ergebnisse stehen in der Regel schon fest. Eine Fearless City (siehe http://fearlesscities.com) zu werden, die sich radikal den Interessen aller BewohnerInnen verpflichtet fühlt und die Zukunft der Stadt nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in breiten, konsultativen öffentlichen Aushandlungsprozessen bestimmt, steht für Wien also in keiner Weise auf der Tagesordnung.

Dieses demokratische Defizit zeigt sich deutlich, wenn es um das Thema Zwischennutzung geht. In Wien ist es üblich, dass bei Zwischennutzungen in erster Linie die Perspektive von InvestorInnen und EigentümerInnen berücksichtigt wird. Die von der Stadt nach langem Drängen der IG Kultur Wien eingerichtete Agentur Kreative Räume ändert daran nichts. Niemand will sich Ärger einhandeln. Statt die grundsätzliche Frage nach gesellschaftlichem Raumbedarf zu stellen, wird einem neoliberalen Zwischennutzungsmantra gehuldigt, das prekäre NutzerInnen in eine Dankbarkeitsrolle zwingt, statt zu thematisieren, welches Aufwertungsinstrument Zwischennutzungen für InvestorInnen eigentlich darstellen. Während international längst die negativen Effekte von Zwischennutzungen klar geworden sind, weshalb diese Strategie in anderen Städten gar nicht oder nur mehr eingeschränkt zur Anwendung kommt, heißt es in Wien auch von der grünen Stadtplanungspolitik völlig unreflektiert »Zwischennutzung muss Zwischennutzung bleiben«.

Der grundsätzliche Mangel an Räumen für nicht-kommerzielle Initiativen, die überwiegend aus dieser Not heraus auf den Zwischennutzungsmarkt drängen, obwohl sie eigentlich langfristigen Raumbedarf haben, ist kein Thema. Dass InvestorInnen aus Zwischennutzungen materiellen oder immateriellen Profit ziehen und es sich dabei nicht um Geschenke handelt, für die man ewig dankbar sein müsste, liegt auf der Hand, ausgesprochen wird das in Wien allerdings nicht.
Die Nordbahnhalle hätte ein soziales Modellprojekt für Nachbarschaft, Kultur und Wissenschaft, ein politisches Modellprojekt für ökologische Nachhaltigkeit und solidarische Ökonomie und ein rechtliches Modellprojekt für eine kooperative, gemeinnützige Trägerstruktur in Zusammenarbeit mit der Stadt Wien werden können. Es gab sowohl Interesse der unmittelbaren Nachbarschaft[15] als auch von Universitäten, Kulturinitiativen und stadtpolitischen AktivistInnen.[16]

Leider lag die Entscheidungsgewalt bei den AbrissbefürworterInnen. Selten zeigte sich so viel Unwillen, eine Diskussion zu führen. Selten regierte eine größere Ignoranz gegenüber allem Wissen einer gemeinwohlorientierten und zukunftsfähigen Stadtentwicklung. Selten wurde eine so einfache Möglichkeit, mittels einer Koproduktion von Stadtpolitik, Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft ein großartiges urbanes Projekt umzusetzen, derart leichtfertig vergeben. Die Folgen dieser Politik werden zu spüren sein. Die völlig unnötige Vernichtung[17] eines umfassenden sozialen Möglichkeitsraums durch die Stadtplanungspolitik wird dann längst vergessen sein.


[Christoph Laimer ist sauer, Aktivist der IG Nordbahnhalle und Chefredakteur von dérive — Zeitschrift für Stadtforschung. Dank für die Mitarbeit an Elke Rauth.]


Anmerkungen:
[01] Die IG Nordbahnhalle ist eine Initiative von NachbarInnen, ArchitektInnen, StadtforscherInnen, KünstlerInnen und sozialen Initiativen, die für eine dauerhafte Nutzung der Nordbahnhalle als soziales und kulturelles Nachbaschaftszentrum eingetreten ist. dérive war und ist Teil der Initiative
(ig-nordbahnhalle.org).
[02] Leitbild Nordbahnhof – Handout 3. Grätzel-Cafe 17.02.2014, unter dem Titel »Anregungen aus dem ersten Grätzel-Café vom 10. September 2013«. Verfügbar unter: https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/nord-bahnhof/grundlagen/leit-bild-2014/beteiligung/pdf/graetzel-cafe-3-empfehlungen.pdf [Stand 4.12.2019]
[03] Im Handout 3. Grätzel-Cafe 17.02.2014 heißt es: »Diese [Anregungen] bildeten die Grundlage für die Arbeit in den BürgerInnendialogen«.
[04] Verfügbar unter https://www. wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/nordbahnhof/grundlagen/leitbild-2014/pdf/handbuch-gesamt.pdf [Stand 4.12.2019]
[05] Die Freie Mitte ist als Teil des Nordbahnviertels konzipiert. Sie entsteht auf einem Teil des ehemaligen Bahngeländes, das mittlerweile großflächig verwildert ist. Die Nordbahnhalle steht am Rand dieses Geländes.
[06] https://nordbahnhof.wordpress.com/2018/02/23/schauen-sie-nicht-her-alles-muss-weg/ [Stand 4.1.2019]
[07] Am Rande sei erwähnt, dass es unüblich lange dauerte, bis die eingereichte Petition angenommen wurde. Nach mehrmaligem telefonischen Nachfragen wurde sie nach rund drei Wochen veröffentlicht, ursprünglich war von »längstens einer Woche« die Rede.
[08] Die Stellungnahmen sind hier veröffentlicht: https://www.wien.gv.at/petition/online/PetitionDetail. aspx?PetID=02efe8118ab24b4380143ea168f2afc6
[09] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20191108_ OTS0056/petitionsausschusstagteimwienerrathaus
[10] Davor gab es noch vereinzelte informelle Gespräche.
[11] Der angesprochene Wasserturm wurde durch den Einsatz von BürgerInnen unter Denkmalschutz gestellt und muss als Industriedenkmal erhalten werden. Er wurde in Gesprächen mit der IG Nordbahnhalle immer wieder als Alternative zur Nordbahnhalle bezeichnet. Das Problem: Der Wasserturm hat eine Grundfläche von 140 m², die Nordbahnhalle hatte (nach dem Teilabriss) inkl. Keller eine Fläche von rund 1.800 m². Eine kulturelle, gastronomische und soziale Entwicklung auf 140 m² ist auf jeden Fall eine Herausforderung.
[12] Eine Chronologie der Ereignisse findet sich hier: https://ig-nordbahnhalle.org/about/
[13] Siehe https://ig-nordbahnhalle.org
[14] Siehe: https://ig-nordbahn- halle.org/medienecho/
[15] In einer Umfrage der Wiener Tageszeitung Kurier sprachen sich im November 2019 67 Prozent der Nachbarschaft für den Erhalt der Nordbahnhalle aus.
[16] Radio dérive hat in seiner Dezembersendung SOS Nordbahnhalle #brennt einen Querschnitt von Stellungnahmen gebracht. Nachzuhören unter https://cba.fro.at/435317
[17] Wäre die Nordbahnhalle nicht abgebrannt, hätten sie die ÖBB bzw. die Stadt Wien nächsten Sommer abreißen lassen.

dérive, Mo., 2020.01.20



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»In der Umgehung des Kapitalmarktes
liegt die entscheidende Option einer neuen Wohnungspolitik.«
Novy 1982, S. 52

Das Witzige am Wohnen ist, dass es einerseits so selbstverständlich und alltäglich ist, es sich andererseits jedoch als furchtbar schwer herausstellt, es zu definieren. Wenn man geht, schläft oder isst, ist relativ klar, was man macht, aber was tut man, wenn man wohnt? Ein Blick ins etymologische Wörterbuch bringt wohnen in Zusammenhang mit gewöhnen und gewohnt, aber auch mit Wonne. »Lieben, schätzen«, ist zu lesen, »wäre demnach die Ausgangsbedeutung« (Kluge 2002, S. 995). Viel einfacher ist es mit der Wohnungsfrage. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird sie breit diskutiert und ist aufs Engste mit der Industrialisierung und dem Städtewachstum verknüpft. Ausschlaggebend für ihr Auftauchen ist, dass die Schaffung von Wohnraum ein Geschäftsmodell und Wohnraum somit zur Ware wurde.

Wohnen ist ein nicht substituierbares Gut und daher ein UN-Menschenrecht. Wir alle müssen Wohnen und brauchen ein Dach über dem Kopf. Wohnformen sind mit den politischen und ökonomischen Verhältnissen unauflöslich verbunden und dadurch geprägt. Das reicht von den feudal und patriarchal geprägten Zeiten, in denen Bauer und Knecht sowie Handwerker und Geselle unter einem Dach lebten, zu den späteren, von Unternehmern geschaffenen Arbeiterunterkünften, über das kleinfamiliäre Massenwohnen der Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert bis zu den Gated Communities und der Warenförmigkeit des Wohnens in der neoliberalen Gegenwart. Die Wohnungsfrage berührt Fragen der Ökonomie und Politik, der Ökologie und Nachhaltigkeit, der Architektur und Soziologie gleichermaßen.

Setzt man Wohnung nicht einfach nur mit Behausung gleich, zeigt sich, so seltsam es auch klingen mag, dass nicht immer schon gewohnt wurde. Wohnen im heutigen Sinne ist eine Folge gesellschaftlicher Verhältnisse und war nicht immer Teil menschlichen Lebens. Hartmut Häußermann und Walter Siebel setzen die Anfänge des Wohnens mit der Entstehung von Lohnarbeit und Freizeit an. Lohnarbeit findet nicht in der eigenen Unterkunft, sondern an einem externen Ort statt. Die unproduktiven Zeiten verteilen sich nicht mehr über den ganzen Tag, sondern werden am Ende des Arbeitstags konzentriert, wodurch erst so etwas wie Freizeit entsteht. »In diesem Prozess der räumlichen und zeitlichen Abspaltung von Teilen der produktiven Arbeit entsteht auch erst Wohnen im heutigen Sinn als räumliches, zeitliches und inhaltliches Gegenüber zur im Betrieb organisierten beruflichen Arbeit. Der Haushalt steht nicht mehr im Mittelpunkt der Wirtschaft. Markt und Erwerbswirtschaft drängen Selbstversorgung und ›Unterhaltswirtschaft‹ (Egner) an den Rand.« (Häußermann & Siebel 2000, S. 24–25)

Die Entwicklung vom »Ganzen Haus als autarker Selbstversorgungseinheit von Produktion und Konsum hin zum städtischen Konsumentenhaushalt« (ebd., S. 26) sowie derjenigen vom Großhaushalt von mehreren Familiengenerationen sowie Dienstpersonal, Gesellen, Knechten, Mägden hin zur Zweigenerationen-Kernfamilie schien unaufhaltsam. In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch gezeigt, dass es in beiden Bereichen zu einer Umkehr dieses Prozesses kommt oder die Entwicklung eine Abzweigung nimmt – wenn auch anfangs nur in Nischen und einzelnen Teilbereichen. Sowohl kollektive Wohnformen abseits der klassischen Kleinfamilie als auch der Wohnraum als Ort der Arbeit, Produktion und Selbstversorgung sind längst nicht mehr rein historische Motive oder Phänomene in weniger entwickelten Weltgegenden. Sie sind viel eher dabei, zu Modellprojekten für ein neues Zusammenleben in westlichen Städten zu werden, in denen Themen wie Wohnkosten, Vereinzelung, Nachhaltigkeit und Selbstverwirklichung immer wichtiger werden. Die Mängel des fordistischen Massenwohnens werden dadurch ein weiteres Mal transparent. Es braucht daher dringend Alternativen, die es längst und zunehmend vermehrt und vielfältiger gibt, wie wir in diesem Heft zeigen.

Eine der erwähnten Alternativen sind die Hausprojekte der jungen Schweizer Genossenschaften. Ungefähr zur selben Zeit als in Deutschland das Mietshäuser Syndikat gegründet und in Wien am Wohn- und Kulturprojekt Sargfabrik geplant wurde, erschien in Zürich eine Broschüre, die das Konzept für Kraftwerk1 dargelegt hat. Einige Jahre später war die Genossenschaft Kraftwerk1 gegründet und das erste Hausprojekt Hardturm umgesetzt. Mit Andreas Wirz, einem der damaligen Initiatoren und dem heutigen Vorstand im Schweizer Verband der Wohnbaugenossenschaften, haben wir für diesen Schwerpunkt ein Interview geführt. Eine interessante Erkenntnis dabei: Die Erfahrungen aus den Züri-brennt-Hausbesetzungen in den 1980er-Jahren waren für die Genossenschaften in Zürich genauso wichtig wie die Häuserkämpfe in Freiburg für das Mietshäuser Syndikat. Sie haben neben vielem anderen maßgeblich beeinflusst, welche Rolle Mitbestimmung und Selbstorganisation spielen oder welche neuen Wohntypologien sich entwickelt haben.

Um Selbstorganisation geht es auch im Artikel der Initiative School of Echoes Los Angeles, allerdings in Zusammenhang mit MieterInnenkämpfen in Los Angeles. Die AutorInnen sehen in Selbstorganisation nicht nur die einzige Chance, die Lebens- und Wohnverhältnisse für MieterInnen tatsächlich zu verbessern und Kämpfe zu gewinnen, sondern auch als »an experience of the possibility of true participatory democracy«. Ihr Artikel ist eine radikale Kritik sowohl des NGO‐Non‐Profit‐Sektors als auch des US-amerikanischen Housing Movements.

Für Wohnungs- und Wohnrechtsfragen sind in Österreich viele Behörden, Magistrate und Ministerien auf unterschiedlichen Ebenen zuständig. Darüber hinaus gibt und gab es zwischen den ehemals bestimmenden Parteien ÖVP und SPÖ immer schon sich gegenseitig ausschließende ideologische Positionierungen. Wie auch im aktuellen Wahlkampf deutlich sichtbar, ist für die rechtskonservative ÖVP das Thema Wohnungseigentum von zentraler Bedeutung, während die SPÖ in ihrer aktuellen Kampagne die Mieten durch Abschaffung der Umsatzsteuer senken will. Die Voraussetzungen für eine Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen fürs Wohnen sind auf Bundesebene also denkbar schlecht. Das Forum Wohn-Bau-Politik hat deswegen einen Wohnrechtskonvent gestartet, um mit BürgerInnen und ExpertInnen über ein Jahr hinweg im Dialog mit politisch Verantwortlichen ein Weißbuch für ein neues österreichisches Wohnrecht zu erarbeiten. Wie es dazu kam, was die Erwartungen und die entscheidenden Knackpunkte sind, stellt Barbara Ruhsmann in ihrem Artikel Der Wohnrechtskonvent – ein konsultativ-demokratisches Experiment vor.

Die Krise der Wohnraumversorgung, insbesondere in den wachsenden Großstädten, ist eine drängende sozialpolitische Frage. Kein Wunder also, dass sich auch die rechtsextremen Parteien AfD und FPÖ dazu positionieren. Wie nicht anders zu erwarten, verknüpfen sie auch diesen Themenbereich mit Migrations- und Sicherheitspolitik und vertreten nationalistisch-sozialprotektionistische Ansichten, gleichzeitig setzen sie auf Eigentum und unterstützen marktliberale Positionen. Diese Ansprüche sind nicht immer unter einen Hut zu bringen, eine inhaltlich stringente Politik kaum möglich.

Statements und Reaktionen enthalten je nach Situation und Konstellation immer wieder auch widersprüchliche Inhalte. Peter Bescherer, Gisela Mackenroth und Luzia Sievi analysieren in ihrem Beitrag für diesen Schwerpunkt, wie die AfD mit der gegenwärtigen Wohnungsfrage umgeht. Silvester Kreil hat sich die diesbezügliche Politik der FPÖ angesehen.

Den Abschluss des Schwerpunkts bildet ein Interview mit der Initiative Sommerpaket. Sie spielt mit ihrem Namen darauf an, dass Wien für Obdach- und Wohnungslose zwar ein Winterpaket schnürt, das von November bis April rund 900 zusätzliche Übernachtungsmöglichkeiten bietet, es diese Plätze aber eigentlich auch im Sommer, und damit übers ganze Jahr, bräuchte. Die Initiative setzt sich nicht nur für eine Verbesserung der Versorgung von Obdach- und Wohnungslosen ein, sondern auch für bessere Arbeitsbedingungen für die MitarbeiterInnen von Hilfs- und Betreuungseinrichtungen.

Als Extrabonus zum Schwerpunkt drucken wir anlässlich des Jubiläums 100 Jahre Rotes Wien einen Text über die sehr zu Unrecht immer ein wenig im Schatten des Gemeindebaus stehende Wiener Siedlerbewegung nach, den Klaus Novy 1981 geschrieben hat.

Der Schwerpunkt wirft somit Schlaglichter auf einzelne Aspekte der Wohnungsfrage, die in ihrer Komplexität weit über diese Ausgabe der dérive hinaus geht. Viele andere Facetten haben wir bereits in früheren Heften behandelt. Daher planen wir als spezielles Service, demnächst eine Sammlung von ausgesuchten Texten rund um Wohnen und Wohnbau als PDF zu veröffentlichen.


Literatur:
Häußermann, Hartmut & Siebel, Walter (2000): Soziologie des Wohnens – Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens. 2. korrigierte Auflage. Weinheim/München: Juventa Verlag.
Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin / New York: de Gruyter.
Novy, Klaus (1982): Anmerkungen zum Verhältnis von Trägerformen und Finanzierungsalternativen. In: Arch+, Nr. 61, Februar 1982, S. 52–53. Aachen.
Reulecke, Jürgen (Hg.) (1997): Geschichte des Wohnens, Band 3 – 1800–1918 Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

dérive, Do., 2019.10.24



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dérive 77 Wohnungsfrage

08. Juli 2019Christoph Laimer
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Stadt - Land. Ein Vorwort

Die Residenzstadt Wien war zu Zeiten der Habsburger-Monarchie Hauptstadt eines großen Reiches und galt als Wasserkopf. Sie war Sitz des Kaiserhauses, an...

Die Residenzstadt Wien war zu Zeiten der Habsburger-Monarchie Hauptstadt eines großen Reiches und galt als Wasserkopf. Sie war Sitz des Kaiserhauses, an...

Die Residenzstadt Wien war zu Zeiten der Habsburger-Monarchie Hauptstadt eines großen Reiches und galt als Wasserkopf. Sie war Sitz des Kaiserhauses, an das man Steuern entrichten musste, das die eigene Volksgruppe, wenn es nicht die deutschsprachige war, diskriminierte und ausbeutete. Nach dem Ersten Weltkrieg, als vom großen Reich nur ein Rest übrig blieb, Wien eine hungernde Stadt war und die sozialdemokratische SDAP bei den ersten freien Wahlen die absolute Mehrheit erreichte, bekam der Hass auf Wien eine neue, antiproletarische Note. Das später so genannte Rote Wien (1919–1934) war das ideale Feindbild des konservativen Österreichs, das vor allem durch die von der Christlichsozialen Partei geführten Bundesländer repräsentiert wurde. Eine Besonderheit Österreichs war, dass damals fast 30 Prozent der Bevölkerung in der Hauptstadt lebten. Die Schärfe der ideologischen Gegensätze bekam dadurch noch mehr Gewicht. 1920 wurde Wien ein selbständiges Bundesland und konnte sich damit vom erzkonservativen, stark ländlich geprägten Niederösterreich abkoppeln. Seit diesem Zeitpunkt, mit Ausnahme der Zeiten der Diktaturen, waren und sind in Niederösterreich die ÖVP und in Wien die SPÖ (bzw. die jeweiligen Vorgängerparteien) die stärksten Parteien – eine unglaubliche Stabilität.

Trotz dieser eindeutigen Wahlergebnisse und der politischen Grenze, die es zwischen Wien und Niederösterreich gibt, wäre diese mit freiem Auge natürlich nicht erkennbar, gäbe es keine Ortsschilder und natürlich spielt sie in ganz vielen Bereichen keinerlei Rolle. So liegt Wiens größte Shopping Mall knapp außerhalb der Stadtgrenze in der gerade einmal 7.000 EinwohnerInnen zählenden niederösterreichischen Marktgemeinde Vösendorf, zahlreiche WienerInnen haben ihre Wochenendhäuschen im niederösterreichischen Waldviertel und noch mehr verlassen ihre Stadt für Ausflüge, um z. B. in den in Niederösterreich liegenden Wiener Alpen wandern zu gehen. Eine Gegend, die den hitzegeplagten WienerInnen schon seit Eröffnung der Südbahn Mitte des 19. Jahrhunderts wohlbekannt ist. Sie diente ihnen – zumindest den GroßbürgerInnen unter ihnen – ab dieser Zeit als Ort für die Sommerfrische. Ungefähr seit dieser Zeit kommt das tatsächlich hervorragende Wiener Wasser aus dieser Gegend. Dass WienerInnen gerne Wein aus Niederösterreich trinken, Spargel aus dem Marchfeld und Marillen aus der Wachau essen, sei nur nebenbei erwähnt.

Umgekehrt pendeln rund 190.000 NiederösterreicherInnen täglich nach Wien (interessanterweise auch 90.000 WienerInnen aus Wien hinaus), gar nicht so wenige von ihnen arbeiten bei der Stadt Wien. Polizisten wurden in Wien früher gerne Mistelbacher genannt, was der Legende nach auf ihren niederösterreichischen Herkunfts- bzw. Ausbildungsort verweist. Der Sozialforscher Günter Ogris sagt im Interview für diesen Schwerpunkt, dass die drei beliebtesten Kulturstätten der NiederösterreicherInnen in Wien liegen.
Man sieht, selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung zeigen sich sofort mannigfaltige Verbindungen und Abhängigkeiten, die die politische Grenze völlig ignorieren. »Die komplexen gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von Räumen verbieten es, räumliche Grenzen als scharfe Grenzen für unterschiedliche soziale Verhältnisse zu vermuten«, schreibt Ilse Helbrecht in ihrem Artikel, in dem sie sich mit den Begriffen Stadt und Land sowie Urbanität und Ruralität auseinandersetzt. Helbrecht wehrt sich heftig gegen vereinfachende Darstellungen, um urbane und rurale Räume zu identifizieren und kategorisieren, wie sie sich medial in den letzten Jahren großer Beliebtheit erfreut haben. Sie sieht Begriffe wie Urbanität und Ruralität als »Konstrukte der Wissenschaft, die spezifische Antworten auf Probleme und Herausforderungen bieten«.

Maximilian Förtner, Bernd Belina und Matthias Naumann treibt ebenso die Absicht, vor vereinfachenden Darstellungen zu warnen, im Speziellen bei der Interpretation von Wahlergebnissen der AfD. Mit Lefebvres Theorie der Urbanisierung, die Stadt und Land erfasst, und Adornos Begriff der Provinzialität, den er nicht exklusiv mit dem Ländlichen verknüpft, zeigen sie, dass die Zentralität als Wesen der Urbanität (Lefebvre) und der »individuelle Bildungsprozess« als Möglichkeit, die Provinz hinter sich zu lassen, viel erfolgsversprechendere Ansätze bei der Analyse von Wahlverhalten sind als die Stadt-Land-Dichotomie. Gemäß dieses Ansatzes be- schreiben die Autoren drei unterschiedliche Orte, die einen besonders hohen AfD-WählerInnenanteil gemeinsam haben, aber unterschiedlichen Raumtypen entsprechen.

Förtner, Belina und Naumann bezeichnen sie als Ort einer umfassenden Peripherisierung, als peripheres Zentrum bzw. als zentrale Peripherie. Mit dem schon erwähnten Günter Ogris vom Institut SORA, das in Österreich durch seine Hochrechnungen bei Wahlen bekannt ist, haben wir ein Gespräch geführt, um herauszufinden, wie viel Gehalt in der plakativen These steckt, dass die BewohnerInnen von Städten links oder liberal sind und die Landbevölkerung rechts und konservativ ist. Das Ergebnis der Stichwahl bei den letzten österreichischen Präsidentschaftswahlen 2016 zwischen Alexander Van der Bellen (Grün) und Norbert Hofer (FPÖ) schien diese These besonders zu unterstreichen.

Ogris macht im Interview auf den interessanten Umstand aufmerksam, dass die Geographie des Wahlverhaltens in Österreich sehr beständig ist und nur wenige Ereignisse in den letzten Jahrzehnten grundlegende Änderungen verursachten. Aber auch er verweist darauf, dass es urbanes Wahlverhalten eben nicht nur in den Städten gibt, sondern auch in mit diesen in Verbindung stehenden Räumen wie z. B. dem Burgenland, dessen Bevölkerung in einem hohen Ausmaß nach Wien pendelt.

Die Migration zwischen Land und Stadt behandelt Theresia Oedl-Wieser und geht damit einer anderen Geschichte über das Verhältnis von Stadt und Land nach, die in den letzten Jahren wieder öfter zu hören ist: Die Landflucht junger Frauen. Auch in diesem Fall unterstützen die Statistiken diese Erzählung und Oedl-Wieser zählt Gründe auf, die sie plausibel machen: Geschlechterrollen, Bildungschancen, Arbeitsmarkt.

Für genauere Erkenntnisse über die »Wechselwirkungen von Wanderungsmotiven, Lebensphasen, ökonomischem und sozialem Status sowie den sozialen Kategorien Geschlecht, Alter und Ethnizität« müsse allerdings »zielgerichteter unter- sucht werden«.

Mit den sich speziell in den USA seit Jahrzehnten immer weiter ausdehnenden räumlichen Schwellen zwischen Stadt und Land und ihrer Besiedlung setzt sich Judith Eiblmayr in ihrem Beitrag sowohl aus historischer als auch aus aktueller Perspektive auseinander. Dabei dürfen die Themen Mobilität und Spekulation nicht fehlen und das tun sie auch nicht.

Darüber hinaus geht es um psychische Phänomene wie suburban angst, das Fehlen bzw. die Vermeidung von öffentlichen Räumen und aufkeimende Gegenbewegungen.

Eine Gegenbewegung gibt es auch in Frankreich und jede/r von uns kennt sie: die Gelbwesten. Gerade diese hohe Bekanntheit scheint es schwer zu machen, einen sowohl unvoreingenommenen als auch kenntnisreichen Blick auf das Phänomen zu werfen. Viele BeobachterInnen scheitern dabei, sich nicht von einzelnen Aspekten ablenken zu lassen.

Dem Autor und Journalisten Jeremy Harding gelingt das dafür umso besser, weswegen wir seinen Text Unter Gelbwesten für diese Ausgabe übersetzt haben. Er ist selbst bei Demonstrationen der Gelbwesten mitgegangen, hat mit vielen von ihnen gesprochen und sich trotzdem einen unabhängigen Blick bewahrt. Auch hier stimmt es, von einer Folge der Disparität von Stadt und Land zu sprechen und gleichzeitig stimmt es auch wieder nicht. Viele ländlichen Regionen werden vernachlässigt, was zur Folge hat, dass sich Menschen ihr Leben trotz Vollzeitarbeit kaum mehr leisten können, aber das Gleiche trifft auf viele städtische Banlieues in oft noch viel größerem Ausmaß zu. Den Gelbwesten deswegen das Recht zu verwehren, für bessere Lebensverhältnisse auf die Straße zu gehen, wäre absurd; toll und politisch unglaublich interessant wäre es natürlich, sie würden das solidarisch und gemeinsam mit den BewohnerInnen der Banlieues machen.

dérive, Mo., 2019.07.08



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dérive 76 Stadt Land

01. Oktober 2018Christoph Laimer
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Nachbarschaft. There is such a thing as Society

Lange Zeit lautete eines der Versprechen der Stadt, in der Anonymität des Urbanen die Möglichkeit zu haben der sozialen Kontrolle des Dorfes – und den...

Lange Zeit lautete eines der Versprechen der Stadt, in der Anonymität des Urbanen die Möglichkeit zu haben der sozialen Kontrolle des Dorfes – und den...

Lange Zeit lautete eines der Versprechen der Stadt, in der Anonymität des Urbanen die Möglichkeit zu haben der sozialen Kontrolle des Dorfes – und den damit verbundenen Konsequenzen – zu entfliehen. Ganz egal welchen Lifestyle man pflegte, welche sexuelle Orientierung man hatte, welche politischen Ansichten man teilte und in welchen Kreisen man sich bewegte – die Stadt machte Platz für individuelle Lebensentwürfe und im besten Fall ließen sich gleichgesinnte Menschen finden, mit denen der eigene Lebensentwurf geteilt werden konnte.

Diese Freiheit durch Anonymität war autoritären politischen Bewegungen schon immer ein Dorn im Auge: Die Nationalsozialisten etwa installierten Blockwarte als Kontroll- und Überwachungsinstanz und damit als autoritäres Bindeglied zwischen Privatraum und NS-Terror-Regime, die als Treppen-Terrier der Ausspitzelung und Denunziation abtrünnigen Verhaltens in der Nachbarschaft dienten. Und auch die Figur der Hausmeiste- rInnen ist im öffentlichen Gedächtnis durchaus mit einem erheblichen Ausmaß an Kontrolle verbunden.

Die Anonymität aber war Teil des Freiheitsversprechens einer modernen, individualistischen Gesellschaft. Ermöglicht oder zumindest erleichtert wurde diese individuelle Freiheit durch einen Sozialstaat, der es erlaubte, die heimatliche Scholle hinter sich zu lassen und die familiären Bande zu lockern oder gar zu kappen, indem er soziale Absicherung in Krisenzeiten garantierte.

Interessanterweise hat sich der Wunsch nach Anonymität in den letzten Jahren vorrangig ins Internet verlagert, in der Stadt hingegen tritt dieser eher in den Hintergrund und wird durch die Beliebtheit von urbanen Dörfern überlagert. Das Thema soziale Kontrolle spielt in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle. Die überwunden geglaubte Dorf- und Landromantik, unterfüttert mit der Sehnsucht nach Authentizität und Naturverbundenheit und dem Versprechen einer heilen Welt, übt auf die gestresste, abstiegsgefährdete Mittelschicht eine große Anziehungskraft aus.

Bei aller Notwendigkeit für das Recht auf Anonymität

im Stadtraum einzutreten, führt kein Weg vorbei am Mensch als sozialem Wesen, für das soziale Kontakte und Austausch unerlässlich sind. In einer Zeit der immer stärkeren Fragmentierung und Vereinzelung ist die Sehnsucht nach einem Leben in Gemeinschaft deutlich im Anwachsen wie zahlreiche Haus- und Baugruppenprojekte zeigen. Im Gegensatz zum Land bietet die Stadt jedoch den Vorteil, sich soziale Kontakte aussuchen zu können und auch hier spielt das Thema Nachbarschaft zusehends wieder eine wichtigere Rolle.

Historisch war die räumliche Nähe der Nachbarschaft immer auch eine soziale: »Der Nachbar war von gleichem Stand, arbeitete und lebte unter ähnlichen Verhältnissen. Wer sich räumlich nah war, der war sich auch sozial nah, man war denselben Nöten und Zwängen unterworfen und zur Bewältigung des eigenen Alltags unausweichlich aufeinander angewiesen. Und viele blieben ihr Leben lang Mitglied ein und derselben Dorfgemeinschaft. Nachbarschaft war Schicksal.« (Siebel 2015) Die industrielle Revolution läutete ein Ende für eine Vielzahl dieser Dorfgemeinschaften ein, um ihr unstillbares Verlangen nach Arbeitskraft befriedigen zu können. Nachbarschaft konstituierte sich unter völlig veränderten Bedingungen in den ArbeiterInnen- vierteln neu. Mit der zunehmenden Diversifizierung der Gesellschaft, die dazu führte, dass nicht mehr alle BewohnerInnen einer Nachbarschaft in den selben Fabriken arbeiteten, den gleichen Lohn nach Hause brachten, von den gleichen Sorgen und Nöten geplagt wurden, übereinstimmende Interessen und Verhaltensnormen hatten, verschwand neben dem Bewusstsein einer gemeinsamen Klasse anzugehören mit den Segnungen des aufkommenden Wohlfahrtsstaates auch die ökonomische Notwendigkeit einer engen Nachbarschaft. Gegenseitige Hilfe war im Alltag nicht mehr notwendig, Nachbarschaft keine Schicksalsgemeinschaft mehr.

Walter Siebel weist in seinem Text über Nachbarschaft darauf hin, dass erst das Ende der Nachbarschaft als Produktionsgemeinschaft, wie sie in der Vormoderne durchaus verbreitet war, »die Intimisierung einer privaten Sphäre der Wohnung« (Siebel 2015) in breiten Kreisen der Gesellschaft zum Standard machte. Erst mit dieser Entwicklung entstand das Bedürfnis nach Distanz, Abschottung und dem Schutz der Privatsphäre.

Wie wir wissen, stimmt diese Analyse aktuell nicht mehr in vollem Umfang. Das Bedürfnis Nachbarschaft wieder in einem umfassenderen Verständnis zu leben, steigt zwar nicht unbedingt generell, aber doch in erheblicheren Teilen der Gesellschaft. Verantwortlich dafür sind mehrere Phänomene. Die radikale Individualisierung der Gesellschaft hat in den besonders stark von neoliberaler Politik geprägten Staaten wie beispiels- weise Großbritannien zu einer mit verheerenden Folgen verbundenen Vereinzelung und Vereinsamung von speziell alten, nicht mehr im Berufsleben stehenden Menschen geführt. Hunderttau- sende haben im Schnitt nur einmal monatlich die Möglichkeit eines Gesprächs mit Verwandten oder Bekannten, die Hälfte der über 75-Jährigen lebt alleine. Der Trend zu SeniorInnen-WGs, Generationenwohnen oder erfolgreiche private Initiativen wie die Online-Nachbarschafts-Plattform frag nebenan zeigen, dass das soziale Wesen Mensch wieder in den Vordergrund tritt und seine Rechte einfordert.

Ein anderes Ziel des Neoliberalismus, die Zerschlagung des Sozialstaates, trägt ebenfalls dazu bei, dass Nachbarschaften wieder als wichtige Ressource gesehen werden. Die aktuell in der Linken breit diskutierten Themen wie kollektives Eigentum und Commons wurzeln in jener Zeit, als Nachbarschaft nicht nur ein räumliches Nebeneinander, sondern ein soziales Netz- werk war. Garrett Dash Nelson erzählt in seinem Artikel für diese Ausgabe die Geschichte der (Klein-)Städte Neuenglands, die aus spezifischen historischen, gesellschaftlichen und auch räumlichen Gründen besonders demokratische Gemeinschaften bildeten, die zu einem hohen Grad auf Selbstverwaltung und Gemeineigentum basierten. Einzelne Aspekte dieser Struktur – wie beispielsweise Stadtversammlungen – haben sich in manchen Städten bis heute gehalten.

Die Krise der repräsentativen Demokratie ist eine weitere Ursache, die Nachbarschaften wieder verstärkt in den Blickpunkt rücken. Über munizipalistische Initiativen, die Nachbarschaften als zentralen Ort für eine radikale Demokratisierung sehen, mit Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau und ihrer Plattform Barcelona en Comú als populäre Aushängeschilder, war in dérive schon des Öfteren zu lesen. In der vorliegenden Ausgabe gibt es ein Interview mit Dario Azzellini, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema Selbstverwaltung beschäftigt, ein ausgewiesener Experte für die gesellschaftspolitischen Verhältnisse Venezuelas ist und Einblicke in die Bottom-up-entwickelten Selbstverwaltungsstrukturen gibt, die von der lokalen Nachbarschafts- bis auf die regionale Stadtebene reichen, und ihren Wechselbeziehung zu den zentralstaatlichen Organen.

Mit Ulrike Hamann und Sandy Kaltenborn aus der nachbarschaftlich organisierten Berliner Bottom-up-Initiative Kotti & Co haben wir über Auswirkungen für die Herausbildung sozialer Beziehungen in einer Nachbarschaft durch gemeinsamen öffentlichen Protest gesprochen. Die MieterInnen von Kotti & Co waren über die Jahre mit ständigen Mieterhöhungen konfrontiert, die 2011 ein Ausmaß erreichten, das weder trag- noch leistbar war. Bemerkenswert an Kotti & Co ist, dass es trotz der Diversität der Nachbarschaft und der gesellschaftlich marginalisierten Stellung vieler BewohnerInnen der Wohnbauten gelungen ist, sich über Jahre sichtbar und erfolgreich zu organisieren. Kotti & Co zeigt vor wie wichtig Selbstermächtigung und gegenseitige Unterstützung für eine Demokratisierung der urbanen Gesellschaften sind und welche Rolle Nachbarschaften dabei spielen können.

Um nachbarschaftliche Vernetzung und Aktivismus anzuregen und zu unterstützen, Informationen bereitzustellen und Wissen zu vermitteln, arbeitet die Berliner Plattform Tesserae Urban Social Research an der Entwicklung eines digitalen Nachbarschafts-Atlas. Lorenzo Tripodi, Teil von Tesserae und Autor eines Beitrages für diesen Schwerpunkt, sieht in nachbarschaftlichen Aktivitäten ebenso ein Potenzial für demokratische Reformen, weist aber gleichzeitig auf die Beschränkung lokaler Ansätze im Hinblick auf die übergreifenden globalen Faktoren hin. Der Nachbarschaftsatlas soll helfen, Wis- sen und Ressourcen auf lokaler Ebene zu mobilisieren und gleichzeitig Ebenen-übergreifende Beziehungen und Abhängigkeiten in größerem Maßstab aufzuzeigen.

Eine wichtige Funktion für Nachbarschaften haben immer auch Einrichtungen für die kleinteilige Nahversorgung und deren Funktion als soziale Treffpunkte gespielt. Die Struktur dieser Einrichtungen ist über die letzten Jahrzehnte stark ausgedünnt. In Missachtung der sozialen Funktionen von Greißlern, Gemischtwarenhandlungen und Tschecherln wurden diese in großer Zahl auf dem Altar der Marktwirtschaft geopfert. Shannon Mattern steuert zu diesem Themenkreis eine Betrach- tung der nachbarschaftlichen Funktion von Eisenwaren- und Gemischtwarenhandlungen in US-amerikanischen Städten bei und wie diese die Bedürfnisse und Werte der Gemeinschaft widerspiegeln und sie oft auch prägen.

Mit Alltagsökonomie setzt sich auch Leonhard Plank in seinem Beitrag Foundational Economy auseinander. Er plädiert dafür die »demokratische Kontrolle über die Grund- lagen des guten Lebens vor Ort und von unten zurückzuerlangen« und streicht die Bedeutung des kollektiven Konsums unerlässlicher Güter und Dienstleistungen des Alltags für unser aller Wohlergehen hervor.

dérive, Mo., 2018.10.01



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dérive 73 Nachbarschaft

06. November 2017Christoph Laimer
Elke Rauth
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DEMOKRATIE ≠ Demokratie

»What is to be done, what we all must do together, is to engage in a collective struggle and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.« (Mark Purcell)

»What is to be done, what we all must do together, is to engage in a collective struggle and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.« (Mark Purcell)

Es ist nicht zu übersehen: Die Demokratie hat ein echtes Problem. Weit verbreitete Korruption, der überbordende Einfluss von globalen Unternehmen, partikulare Machtinteressen und Vetternwirtschaft, post-demokratische Strukturen, eine offensichtliche Unfähigkeit zum Dialog mit dem Souverän und das augenscheinliche Unvermögen der Nationalstaaten, den anstehenden Problemen dieser Welt in adäquater Weise zu begegnen, lassen immer mehr Menschen an der Funktionsfähigkeit der herrschenden politischen Klasse und damit auch der Demokratie an sich zweifeln. Jahrzehnte der Durchsetzung einer neoliberalen Agenda mit konsequentem Abbau von hart erkämpften sozialen Rechten und der vorsätzlichen Diskreditierung von grundlegenden Werten wie Gleichheit und Solidarität haben unsere Welt in ein schlingerndes Schiff mit ungewissem Kurs verwandelt.

It’s the inequality, stupid!

In den Städten sind diese Entwicklungen längst angekommen: Betongold trifft auf Wohnungsnot, Armut und Obdachlosigkeit; Angstpolitik und umfassende Sicherheitsregime im öffentlichen Raum auf Abbau von Freiheitsrechten und Verdrängung; massive Eigentumskonzentrationen auf das Aussortieren von immer mehr Menschen am Arbeitsmarkt. »Cities are the places where austerity bites« hat Jamie Peck vor einigen Jahren in dérive geschrieben – eine Analyse, die immer mehr Menschen betrifft. Die 99 % dieser Welt bekommen die frappierende Ungleichheit der neo-feudalistischen Verhältnisse unter einem von Gier getriebenen, neuen Geldadel in immer bedrohlicherer Weise im Alltag zu spüren. Was bringt uns also dazu, einen Schwerpunkt zum Thema Demokratie und Stadt zu veröffentlichen?

Demos und Kratos

Während die abgehängten Klassen sich scheinbar in großen Zahlen von Angstdiskurs und rechtspopulistischen Milchmädchen-Rechnungen angezogen fühlen, was weltweit einen besorgniserregenden Aufstieg von neuen autokratischen Führerfiguren hervorbringt, wächst auch der Widerstand gegen Demokratie als hohle Phrase und die Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung von Gesellschaft. Zentrum dieses Widerstandes sind die Städte. Doch welches Potenzial birgt das Konzept Demokratie über den bekannten Status Quo hinaus? Ein möglicher Ansatz verbirgt sich in einer etymologischen Spurensuche: Die gängigste und einfachste Übersetzung von Demokratie ist Volksherrschaft. Sie ist grundsätzlich nicht falsch, meist fällt aber unter den Tisch, dass demos keinesfalls im völkischen bzw. ethnischen Sinne zu verstehen ist. Dafür verwendeten die Griechen den Begriff ethnos. Demokratie steht also keineswegs für ethnische Ausgrenzung zur Verfügung, wie es die von der wahren Volksherrschaft träumenden Wir-sind- das-Volk-Fraktionen verlangen.

In seinem Beitrag For Democracy: Planning and Publics without the State setzt sich Mark Purcell näher mit der Begriffsdeutung von Demokratie auseinander. Das Ergebnis seiner demokratietheoretischen und etymologischen Analyse: Demokratie bedeutet im Kern, dass Menschen ihr angeborenes Potenzial, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, so frei als nur möglich nutzen können sollen. Purcell interpretiert kratos (dt. Macht, Stärke) nicht als Macht über oder Herrschaft über, sondern als die Macht oder das Vermögen zu etwas, also als Fähig- keit Dinge zu bewegen, Entscheidungen zu fällen, Probleme zu meistern. So wie in der attischen Demokratie die Bürger der Polis ihre Angelegenheiten in Versammlungen selbst regelten, fordert Purcell dazu auf, uns die Macht wieder zu eigen zu machen, die wir in der repräsentativen Demokratie an den Staat abgegeben haben, und das jedem Menschen innewohnende Potenzial zu nutzen. Dass diese natürlichen Fähigkeiten bei den meisten heute eher verkümmert scheinen und wir als Gesellschaft erst wieder lernen müssen, sie zu entdecken, ist offensichtlich.

Change begins in the city

Die Lust dazu ist in den letzten Jahren auf jeden Fall spürbar im Steigen begriffen. Das beginnt bei Community-Gärten, Fab-Labs oder selbstorganisierten Hausprojekten und reicht bis zu Bestrebungen der politischen Selbstverwaltung, wie wir sie derzeit beispielsweise bei der kurdischen Bevölkerung in Rojava und in zahlreichen Städten weltweit beobachten können. Ähnlich wie David Graeber von »elementarem Kommunismus« spricht, unter dem er vorrangig alltägliche gegenseitige Hilfe versteht, ohne die keine Gesellschaft funktionieren kann, deutet Purcell auf zahlreiche bereits bestehende Initiativen und Aktionen hin, die heute als Möglichkeitsfenster in eine andere Gesellschaft den Weg in Richtung einer umfassenderen Demokratie weisen. Für Purcell ist Demokratie kein Stadium, das irgendwann in seiner höchsten Vollendung erreicht werden kann, sondern ein Horizont auf den man sich asymptotisch zubewegt. Dabei tauchen frühe demokratische Werkzeuge wie etwa die offene Versammlung immer wieder auf, was ihre Wichtigkeit für die demokratische Gesellschaft unterstreicht. Am eindrucksvollsten passiert das derzeit in Städten wie Barcelona, wo die Stadtteilversammlung (Asamblea) eine wichtige Rolle in der Stadtpolitik spielt. Dass diese Form der unmittelbaren demokratischen Auseinandersetzung derzeit für intensives Nachdenken sorgt, beweist auch die im Oktober erscheinende neue Publikation von Hardt/Negri unter dem Titel Assembly.

Die Occupy-Bewegung und die weltweiten Platzbesetzungen der letzten Jahre mögen von vielen als nicht erfolgreich betrachtet worden sein, aber sie haben gemeinsam mit erfolgreichen kommunalen Experimenten wie etwa in Porto Alegre Prozesse in Gang gesetzt und umfassende Lernerfahrungen ermöglicht. In Summe bilden sämtliche Bestrebungen der Selbstorganisation fruchtbare Keime einer sich noch unscharf abzeichnenden, aber durchaus hoffnungsvollen neuen munizipalistischen Bewegung. In Spanien haben sich die Indignados des spanischen Movimiento 15-M von 2011 zahlreich in Initiativen organisiert und sind bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2015 als Bewegungs-Plattformen angetreten. Im Gegensatz zu populistischen Top-down-Bewegungen, die alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen, sind sie tatsächlich bottom-up entstanden. Mit ihren Programmen für echten gesellschaftlichen Wandel, gegen Korruption und soziale Ungleichheit und für eine offene, solidarische Gesellschaft haben sie in einer Vielzahl von spanischen Städten aus dem Stand den Wahlsieg davongetragen. Sie regieren mit Ahora Madrid und seiner neuen Bürgermeisterin Carmen Carmela sowohl das politische als auch mit Barcelona en Comú (BComú) und der PAH-Aktivistin Ada Colau das ökonomische Zentrum Spaniens und arbeiten intensiv an einer Öffnung der politischen Institutionen und der Entwicklung von neuen demokratischen Werkzeugen zur Verbindung der Ebene von Nachbarschaft und Stadtteilversammlung mit der institutionellen Stadtpolitik.

Radical Cities

Wie kann also eine Demokratie aussehen, die nicht in der weit verbreiteten Form der repräsentativen Demokratie erstarrt? Murray Bookchin, der 2006 verstorbene Begründer eines libertären Kommunalismus, dessen Ideen heute von zahlreichen politischen Gruppen wieder aufgegriffen werden, verfolgt in seinem Buch Die Agonie der Stadt (1996) die These, dass eine lebendige Demokratie nur dann möglich ist, wenn Menschen auf lokaler Ebene miteinander über ihre Anliegen von Angesicht zu Angesicht diskutieren und diesen Prozess nicht an BerufspolitikerInnen delegieren.

Er spricht sich für eine Entprofessionalisierung von Politik aus, weist aber stets darauf hin, dass diejenigen die sich in einer Versammlung auf Maßnahmen einigen, nicht zwangsläufig die sein müssen, die sie auch umsetzen.

Auch der Idee der Städtebünde hat Bookchin viel Aufmerksamkeit gewidmet und mit zahlreichen Beispielen von der Antike übers Mittelalter bis in die Gegenwart ihr Potenzial für eine demokratischere Gesellschaft belegt. Heute spielen Städte-netzwerke auf vielen Ebenen (wieder) eine wichtige Rolle und man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass sich ihre Bedeutung in Zukunft weiter erhöhen wird. Städte sind mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen tagtäglich und direkt konfrontiert und können sich nicht in nationalstaatlichen Realitätsverweigerungen und Inszenierungen ergehen, zumindest dann nicht, wenn sie als lebendige und lebenswerte Orte für alle erhalten bleiben wollen. Benjamin Barber hat mit seinem 2013 erschienenen Buch If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities diese Entwicklung auf den Punkt gebracht.

Bookchins libertärer Kommunalismus hat sich zwar als Begriff nicht wirklich durchgesetzt, in der aktuellen munizipalistischen Bewegung stoßen jedoch viele seiner Ideen auf großes Interesse. Der Begriff des Munizipalismus geht dabei historisch auf eine Bewegung während der Römischen Republik des 18. Jahrhunderts zurück, in der einige Kommunen sich in Gänze vom neuen Staat loszusagen versuchten, mit den Werten Selbstbestimmung und Autonomie als Kern der Idee. Juan Subirats, einer der Gründer von Barcelona en Comú, beschreibt in seinem Beitrag in dieser Ausgabe die Entwicklung der munizipalistischen Bewegung im heutigen Spanien und die Werte und Ziele, die in den lokal organisierten Wahlkämpfen im Vordergrund standen: Die Wiederaneignung der Institutionen im Sinne der BürgerInnen, die Bekämpfung von sozialer Not und der Zunahme von Ungleichheit, eine direkte Einbeziehung der Bür- gerInnen in öffentliche Entscheidungsprozesse und das Wieder- erlangen einer ethischen, moralischen, politischen Perspektive nach Jahren der Korruption und privaten Bereicherung an den öffentlichen Institutionen.

Lessons to learn

So spannend und hoffnungsvoll sich das Projekt der munizipalistischen Bewegung darstellt, so stellt sich doch die Frage, ob und wie es langfristig möglich ist, die vorhandenen Strukturen der Stadtpolitik und Kommunalverwaltung so zu nutzen, dass am Ende des Tages nicht doch automatisch wieder nur eine repräsentative Demokratie übrig bleibt. Auch der Hamburger Autor und Stadtaktivist Niels Boeing weist im Interview in dieser Ausgabe darauf hin, dass sich die Strukturen der Verwaltung mitsamt ihrer Beamtenschaft in der Vergangenheit immer wieder als starke, bewahrende Kräfte erwiesen haben, die über viel Wissen und Erfahrung und damit über eine nicht zu unterschätzende Macht verfügen, mit der bei allen Ansätzen eines grundlegenden Wandels gerechnet werden muss.

Barcelona en Comú arbeitet jedenfalls hart daran, die Institution der Asambleas (Stadtteilversammlungen) als den Ort zu institutionalisieren, an dem von der Bevölkerung Themen aufgeworfen und Fragen diskutiert werden, deren Antworten schließlich von Politik und Verwaltung aufgegriffen und umgesetzt werden. Können die komplexen Probleme der urbanen Gesellschaft mit solchen Modellen tatsächlich gelöst werden? Ist es also möglich an Demokratie als Projekt einer aktiven Selbstermächtigung zu arbeiten, anstatt sie nur passiv zu konsumieren?

Die Fragen sind berechtigt, kommen allerdings zu früh, um sie ernsthaft und umfassend beantworten zu können. Der harte Pragmatismus (Kate Shea Baird) des neuen Munizipalismus ist es auf jeden Fall wert, einen genauen Blick darauf zu werfen und die Entwicklung zu verfolgen.

Dass Barcelona en Comú es tatsächlich ernst meint, zeigen Bertie Russell, vom Urban Institute der Universität von Sheffield, und Oscar Reyes, der am Institute for Policy Studies forscht und in Barcelona lebt, in ihrer Analyse 20 Monate nach der Wahl: Ada Colaus Credo Feminizing Politics setzt auf einen komplett anderen Politikstil, der Zweifel und Widersprüche offen thematisiert und gleichzeitig die Rolle der Gemeinschaft und des Gemeinwohls bei der Lösungsfindung stärkt. Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht eine Politik der Commons, der Vergesellschaftung von lebensnotwendigen Infrastrukturen und gemeinsamen Entwicklung von Stadt. Sein Wahlprogramm entwickelte BComú auf Stadtteilversammlungen in lokalen Nachbarschaften und durch technische Online-Werkzeuge gemeinsam mit tausenden Menschen. Die größten Gewinne hat BComú in den ärmsten Nachbarschaften erzielt. Nach dem Wahlsieg installierte die Plattform einen Notfalls-Plan mit Maßnahmen gegen Zwangsräumungen, Strafen für Banken, die ihren Immobilienbesitz leer stehen lassen, und Subventionierung von Transport- und Energiekosten für Arbeitslose und MindesteinkommensbezieherInnen. Statt rassistischer und xenophober Angst- und Sündenbockpolitik werden von BComú die wahren Gründe thematisiert, warum immer mehr Menschen immer weniger zum Überleben haben, und Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage gesetzt. Soziale Stadtteilprojekte werden aus einem Fonds unterstützt, den die Abgeordneten von Barcelona en Comú durch eine selbst auferlegte Gehaltsbeschränkung von 2200 Euro speisen. Bei aller Lokalität verliert die Plattform den globalen Rahmen aber nicht aus den Augen: BComú vernetzt weltweit Städte und hat ein Komitee gegründet, um die gemachten Erfahrungen international zu diskutieren und zu teilen. All diese Ansätze verfolgen nicht einfach eine klassische sozialistische Politik, im Glauben, die besten Lösungen für das Wahlvolk zu haben. Barcelona en Comú glaubt ganz im Sinne des Stadt selber Machens daran, dass Menschen ihre Angelegenheiten gemeinsam und selbstorganisiert am besten regeln können, und verbindet Alltags- und ExpertInnen-Wissen, um Lösungen für die tatsächlichen Probleme der Menschen zu entwickeln.

dérive, Mo., 2017.11.06



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dérive 69 Demokratie

07. Juli 2017Christoph Laimer
dérive

Der Schwedenplatz und die Raumbildung gesellschaftlicher Verhältnisse

Wien ist aus städtebaulicher Perspektive nicht gerade für seine Plätze berühmt. Der Karlsplatz ist bekanntlich eher eine Gegend als ein Platz, so urteilte...

Wien ist aus städtebaulicher Perspektive nicht gerade für seine Plätze berühmt. Der Karlsplatz ist bekanntlich eher eine Gegend als ein Platz, so urteilte...

Wien ist aus städtebaulicher Perspektive nicht gerade für seine Plätze berühmt. Der Karlsplatz ist bekanntlich eher eine Gegend als ein Platz, so urteilte angeblich zumindest Otto Wagner. Den Rathausplatz bekommt man als solchen kaum einmal in den Blick, weil darauf mehr oder weniger ganzjährig irgendwelche Events stattfinden. Der Reumannplatz fällt auch eher in die Kategorie Gegend. Der Yppenplatz hätte räumlich zwar das Potenzial zur Piazza, ist aber mittlerweile ein einziger Gastgarten. Der Praterstern ist eine Verkehrshölle, was ein Drama ist, denn der Platz hätte ungeheures Potenzial für einen fantastischen Ort.

Ein weiteres Drama ist die mediale Berichterstattung über die Wiener Plätze: Sowohl der Karlsplatz und der Praterstern als auch der Schwedenplatz werden oder wurden teils jahrelang als gefährliche Orte gebrandmarkt, weil sich dort Menschen aufhalten, die den herrschenden Vorstellungen wie man auszusehen hat, sich zu benehmen hat, was man zu konsumieren hat und wie man seine Freizeit zu verbringen hat, nicht entsprechen. Die medial erzeugten Bilder verfestigen sich vor allem bei den Menschen, die die Plätze gar nicht kennen oder nutzen und haben immer wieder zu baulichen oder sicherheitspolitischen Maßnahmen geführt, die die Verdrängung unerwünschter Bevölkerungsgruppen zur Folge hatten.

Der Schwedenplatz, dem die vorliegende Publikation gewidmet ist, ist inso- ferne für Wien typisch, als auch er nicht der Vorstellung eines Platzes entspricht, hat man einen klassischen italienischen Platz als Vorbild vor Augen. Auch er wurde jahrelang als Angstraum beschrieben, was sich irgendwann tatsächlich in den Köpfen festgesetzt hat, obwohl er diesbezüglich in der jüngeren Vergangenheit sein Topranking an den Praterstern abgeben musste.

Den Schwedenplatz überhaupt als Platz wahrzunehmen, ist schon schwierig. Die Grenze zum Morzinplatz ist räumlich nicht wahrzunehmen und der angrenzende Franz-Josefs-Kai entspricht nicht dem klassischen Abschluss eines Platzes – vielmehr war der Schwedenplatz ursprünglich nicht mehr als eine Erweiterung des Kais. Die langgezogene Form des Schwedenplatzes ebenso wie die vielen Kioske, U-Bahn- sowie Parkgaragenauf- und abgänge, Entlüftungsschächte, der Busparkplatz und die Straßenbahnhalte- stellen verhindern das Raumgefühl, das ein klassischer Platz vermittelt. Seine heutige Form erhielt der Schwedenplatz erst in der Nachkriegszeit durch den Abriss einiger Häuser, die im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt worden waren.

Wenn der Schwedenplatz nicht durch seine städtebauliche Form punkten kann, so tut er das ganz sicher als lebendiger urbaner Ort. Kaum ein anderer Wiener Platz ist rund um die Uhr so bevölkert wie der Schwedenplatz. Das hat einerseits mit den beiden U-Bahn- und mehreren Straßenbahnlinien zu tun, die hier ihre Stationen bzw. Haltestellen haben, andererseits aber vor allem auch mit dem Umstand, dass in der Umgebung ein intensives Nachtleben herrscht und der Schwedenplatz die NachtschwärmerInnen 24/7 mit Fastfood und Getränken versorgt. Nicht zufällig war er ursprünglich auch Abfahrtsort aller Wiener Nachtbuslinien.

Rudi Gradnitzer hat sich für seine sozialräumliche Studie über den Schwedenplatz nicht eine Betrachtung des kompletten Platzes vorgenommen, sondern einzelne prototypische Aspekte ausgewählt. Das sind einerseits Gebäude: der Gemeindebau Georg-Emmerling-Hof, das Hotel Capricorn, der Raiffeisen-Tower und andererseits die Wiener Verkehrsbetriebe und die visuelle Kommunikation am Schwedenplatz und am angrenzenden Donaukanal.

In seiner Studie geht es dem Autor »um die Dechiffrierung von architektonisch gestützten Machtstrukturen und historischen Prägungen am Beispiel des Schwedenplatzes. [...] In diesem Sinne ist die Untersuchung als kritischer Beitrag zum besseren Verständnis des Bestehenden zu lesen«, und weiter sich auf Adorno berufend, »mit dem ausdrücklichen Ziel seiner Beseitigung«. Zu diesem Zwecke bedient sich Gradnitzer bei Henri Lefebvre, der in seinen Schriften zu Stadt und Raum immer hervorhob, dass Raum nicht einfach exis- tiert, sondern dass er produziert wird. Lefebvres Modell der Triade folgend, untersucht Gradnitzer jeweils den konzi- pierten, den materiellen und den gelebten Raum, was sich als sehr fruchtbarer Ansatz erweist. Neben diesem zwar in der Theorie in Stadtforschungskreisen mittlerweile weithin bekannten, aber praktisch eher selten angewandten Modell, ist die Breite der für die Studie verwendeten Literatur als besonders bemerkenswert hervorzuheben. Sie umfasst architekturhistorische ebenso wie zeitgeschichtliche, gesellschaftspolitische wie stadttheoretische, philosophische wie biographische Werke. Das führt beispielsweise dazu, dass im Kapitel über den im Roten Wien errichteten Georg-Emmerling-Hof nicht nur das Rote Wien und die österreichische Architekturgeschichte Thema sind, sondern – die Ansätze vergleichend – ebenso über die parallelen Entwicklungen in der Sowjetunion zu lesen ist. Superblock, Gartenstadt, Wohnhaus-Kommune und die Revolutionierung des Alltagslebens kommen ebenso vor wie der Umstand Erwähnung findet, dass das Parteilokal der SPÖ in den 1990ern geschlossen wurde und heute eher Graffiti als Anschläge mit Informationen den gelebten Raum ausmachen. Vermissen könnte man höchstens O-Töne von Bewohnern und Bewohnerinnen des Gemeindebaus.

Ein dem Autor besonders wichtiges Anliegen ist es, den nationalsozialistischen Anteil der österreichische Architekturgeschichte zu beleuchten und immer wieder auf die fließenden Übergänge von Karrieren im Nationalsozialismus zu solchen in der Nachkriegszeit aufmerksam zu machen. Das ist insoferne von Bedeutung, als das Bewusstsein dafür, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus nach wie vor Auswirkungen auf diese Stadt haben, viel zu wenig stark ausgebildet ist. Gradnitzer zeigt es am Beispiel des gebauten Schwedenplatzes und verweist – Friedrich Achleitner zitierend – darauf, dass 50 Prozent der an der Wiener Werkbundsiedlung beteiligten ArchitektInnen von den Nazis ermordet oder vertrieben wurden und dass diese die in der Zwischenkriegszeit fortschrittlichsten waren.

Ein weiterer Strang, der sich quer durch das Buch zieht und dem der Autor im Exkurs über visuelle Kommunikation mehrere Seiten widmet, ist die Auseinan- dersetzung mit Graffiti. Der Autor sieht darin weit mehr als eine künstlerisch-jugendkulturelle Ausdrucksform. Graffiti-Writer bezeichnet er als »die legitimen Verteidiger des konkreten, gelebten, sozialen Raumes, die Mittels Dérives und direkten, farblichen Eingriffen den öffentlichen Raum beleben und dem Urbanismus im Sinne von Stadt- und Raumplanung, Architektur und Sozialmanagement entgegentreten«.

Insgesamt gelingt dem Autor in dem mit knapp 200 Seiten nicht ausufernden Band eine exemplarische und dichte Auseinandersetzung mit dem Schwedenplatz, die trotz der Fülle an Ausführungen gut lesbar ist und viele Tipps für die eigene Leseliste enthält. Wer den Schwedenplatz allerdings gar nicht kennt, sollte ihn dennoch auf jeden Fall selber besuchen, um seine Atmosphäre kennenzulernen; am besten tagsüber und in der Nacht – für Speis und Trank ist gesorgt.



Rudi Gradnitzer
Schwedenplatz. Das Flachdach unter den Wiener Plätzen Wien: bahoe books, 2016
216 Seiten, 16,80 Euro

dérive, Fr., 2017.07.07



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dérive 68 Sampler

26. Oktober 2015Elke Rauth
Christoph Laimer
dérive

Perspektiven eines kooperativen Urbanismus

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im...

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im...

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im Alltag wie Informationen zur Verfügung stellen, Dinge verborgen, mit Rat und Tat zur Seite stehen oder Feste gemeinsam feiern. Diese nichtkommerziellen Formen der Kooperation bilden die Basis des menschlichen Zusammenlebens. Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens würden ohne diesen elementaren Kommunismus nicht funktionieren. Das gilt sowohl für den normalen Alltag als auch für Ausnahmesituationen wie beispielsweise die aktuelle Flüchtlingskrise. Man möchte sich gar nicht ausmalen, mit welcher menschlichen Katastrophe wir konfrontiert wären, gäbe es nicht die beeindruckende Zusammenarbeit von NGOs, Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern und Helferinnen an den Grenzen, Bahnhöfen, Flüchtlingsunterkünften. Wie die kommerzielle und polit-bürokratische Variante der Betreuung von AsylwerberInnen funktioniert, zeigen uns die Firma ORS und die politischen Verantwortlichen in Bund und Ländern, die alles andere als kooperativ sind, seit Monaten und Jahren im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und der unerträglichen Debatte um die Unterbringung von AsylwerberInnen.

Die Wirkmächtigkeit des kapitalistischen Realismus

Ähnliche Beispiele für spontane, bottom-up-organisierte Hilfe in Kooperation mit Hilfsorganisationen gibt es zuhauf und immer wieder zeigt sich, dass warenförmiger Austausch und Konkurrenz in unmittelbaren Katastrophensituationen zu langsam, zu kompliziert und deswegen schlicht ungeeignet sind oder wie im Falle des kommerziellen Schlepperwesens gefährlich und teuer. Der elementare Kommunismus ist also nicht irgendeine Träumerei weltfremder UtopistInnen sondern Voraussetzung und Basis für das Funktionieren der Gesellschaft. Trotzdem steht er unter ständigem Druck und muss sich gegen die Einspeisung in die kapitalistische Verwertungsmaschinerie zur Wehr setzen.

Selbst in Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die normalerweise nicht im Verdacht revolutionären Aufbegehrens stehen, machen sich JournalistInnen mittlerweile Sorgen um die »letzten Brachen sinnfreien Vor-sichhinlebens« (ja, auch die sind gefährdet), die die »kapitalistische Logik« zu verschlingen droht: »Das war schon immer der Trick des Kapitalismus: Uns zu verkaufen, was es vorher umsonst gab. Jetzt hat er die neueste Marktlücke entdeckt: den Kommunismus.« (Staun 2013)

Obwohl – abgesehen von ein paar übereifrigen neoliberalen MusterschülerInnen – die Mehrheit der Menschen ihre konkurrenzbefreiten, nichtkommerziellen Oasen des Alltags wohl kaum opfern wollen würde, gilt das kapitalistische Wettbewerbssystem dennoch weithin als unverzichtbar und notwendig – sozusagen als Normalzustand. Ideologien bringen es mit sich, dass nicht nur BefürworterInnen an ihre allumfassende Wahrheit glauben, sondern es auch GegnerInnen schwer fällt, des Kaisers neue Kleider als Schwindel zu erkennen. Die viel zitierte Bemerkung von Frederic Jameson, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen, bringt auf den Punkt, wie schwer es ist, Alternativen außerhalb des herrschenden Systems zu denken. Kapitalistischen Realismus nennt der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher diese Wirkmächtigkeit, diese »alles durchdringende Atmosphäre, die nicht nur die Produktion von Kultur bestimmt, sondern auch die Regulierung von Arbeit und Bildung, die zudem als eine Art unsichtbare Barriere fungiert, die das Denken und Handeln hemmt« (Fisher 2013). So verwundert es nicht, dass KritikerInnen des Wettbewerbssystems die Durchdringung der Gesellschaft mit Konkurrenzdenken als umfassender wahrnehmen, als sie tatsächlich ist. Mit ein Grund, warum auch die Möglichkeiten für Verän-derung oft nicht erkannt oder unterschätzt werden.

Von PaläoanthropologInnen wissen wir, dass Kooperation schon am Beginn der Menschheitsgeschichte stand. In Studien weisen sie darauf hin, dass der Homo Sapiens sich u.a. durch »increased social cooperation« (Antón et al. 2014) von anderen Arten der Gattung Homo unterschieden hat – ohne Kooperation kein Homo sapiens sapiens. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit ist einer der Hauptgründe, warum es Menschen gelang und gelingt, unter widrigsten Bedingungen zu überleben. »Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist also kein Zusatz, sondern konstitutives Merkmal der Natur des Menschen.« (Meretz 2012) Fragt sich nur: »Warum konnten sich dennoch ›Konkurrenzverhältnisse‹ etablieren? Weil sich der Homo sapiens das irgendwann ›leisten konnte‹, also mehr produzierte, als für das unmittelbare Überleben erforderlich war.

Eine nichtproduzierende herrschende Klasse konnte sich etablieren. Basis von klassenförmig oder wie auch immer strukturierten Konkurrenzverhältnissen ist dabei stets die gesamtgesellschaftliche Kooperation. Konkurrenz und Kooperation bilden folglich keinen Gegensatz, sondern ein Verhältnis. Konkurrenz und Ko-operation sind jedoch nicht gleichursprünglich, sondern Konkurrenz setzt Kooperation voraus, was umgekehrt nicht gilt.« (ebd.)

Sand im Getriebe der Verwertungsmaschinerie

Dem ständig nach neuen Verwertungsmöglichkeiten Ausschau haltenden Kapital ist das Prinzip des Wettbewerbs und der Konkurrenz unauslöschlich eingeschrieben – Konkurrenz ist seine innere Natur, schrieb Karl Marx. Die freie Konkurrenz der Individuen, der Wettbewerb der Ideen gelten heute als Voraussetzung jeglicher Innovation. Seit der Neoliberalismus zur Leitideologie unseres Gesellschaftssystems geworden ist und der Prozess der Inwertsetzung sich anschickt, die letzten weißen Flecken auf der Landkarte der Menschheit zu erobern, finden sich auch die Städte im Wettbewerbssystem wieder: sei es der Wettbewerb um Investitionen, um LeistungsträgerInnen, TouristInnen, Kreative, Megaevents. Konkurrenz hat sich als einer der Pfeiler der Gesellschaft etabliert und verdrängt andere Formen der gesellschaftlichen Organisation sowohl aus immer mehr Handlungsfeldern des Alltags als auch aus dem Bewusstsein der Menschen. Als jüngste Entwicklung setzt der Neoliberalismus an, die letzten Winkel des Privaten in Wert zu setzen – aus Gastfreundschaft wird Airbnb, aus Mitfahrgelegenheiten Uber, aus Nachbarschaftshilfe Leihdirwas.

Gegen diesen Prozess organisiert sich in vielen Städten Widerstand, der auch auf kooperativen Formen der Zusammenarbeit fußt. Er manifestiert sich in der Commons-Bewegung ebenso wie in politischen Bottom-up-Netzwerken und BürgerInnen-Initiativen. Bei den spanischen Regionalwahlen 2015 feierten basisdemokratisch organisierte Wahl-Plattformen erdrutschartige Erfolge, die einen Machtwechsel in vier der fünf größten Städte Spaniens, darunter Barcelona und Madrid, einbrachten. Kooperation abseits von Konkurrenz und Verwertung hat es in Städten immer gegeben; das Bewusstsein, aktiv neue Formen als Gegenmodell zu testen, hat sich jedoch erst in den letzten Jahren verstärkt. Die Netzkultur mit ihren flachen Hierarchien und neuen Formen der Arbeitsorganisation, ihrer Forderung nach Transparenz und offenem Zugang zu Wissen bietet nicht nur technische Möglichkeiten, sondern inspiriert auch zu neuen Formen der Organisation. Michael Hardt verweist in diesem Zusammenhang auf Lenin, der davon ausging, dass die Form der Arbeitsorganisation in hohem Maße auch die Form der Organisation politischen Denken und Handelns bestimmt. Wenn also, so Hardt, »die vorherrschende Form der Arbeitsorganisation heute in horizontalen und dezentralisierten Kooperations-Netzwerken besteht, könnte man sich eine politische Form vorstellen, die ebenso dezentralisiert und horizontal ist. […]

Menschen sind bei ihrer Arbeit flexibel, autonom und kooperativ, und das erlaubt ihnen, in der Politik horizontale Netzwerke zu knüpfen und zusammen zu arbeiten.« (Vogel 2010) Der Postfordismus mit seinen flexiblen und dezentralen Organisationsformen der Arbeit eröffnet als unbeabsichtigtes Nebenprodukt somit möglicherweise Fenster für eine andere Zukunft der Stadtgesellschaft.

Die Stadt als Œuvre

Dem Stadtsoziologen Henri Lefebvre galten Städte immer als Œuvre. Damit wollte er sie nachdrücklich von einem warenförmigen Produkt abgrenzen und betonen, dass Städte ein kooperatives Werk aller StadtbewohnerInnen sind. Diese Entwicklung sah er als gefährdet und prognostizierte schon frühzeitig Entwicklungen wie Privatisierung, Verdrängung oder globale Urbanisierung, die heute offensichtlich sind.

Stadt ist das natürliche Habitat der Kooperation und ein logischer Ort für das Entstehen von gesellschaftlichen Laborsituationen und sozialen Innovationen. Der urbane Raum bietet beste Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Werkzeuge und Handlungsmodelle, um das Versprechen auf individuelle Lebensgestaltung als positive Errungenschaft der Moderne mit der sozialen Verfasstheit des Menschen stärker in Einklang zu bringen. Dabei bilden Kooperation und Konkurrenz nicht notwendigerweise ein Gegensatzpaar, wie Richard Sennett (2014) betont: Die Stadt als Raum in ständiger Bewegung, als Ort von Konflikt und Aushandlung benötigt wohl beides. Kooperation definiert Sennett als Handwerk, das den Dialog als Möglichkeit mehrere Meinungen anzuerkennen und eher dem Zuhören Raum zu geben als dem geschliffenen Argument ebenso umfasst wie das Denken und Kommunizieren in Möglichkeitsräumen statt in absoluten Wahrheiten. Empathie sieht er als jene Fähigkeit, Neugier für andere Lebenswelten zu entwickeln, die es gegenseitig zu erkunden gilt.

In der urbanen Praxis eröffnen kooperative Ansätze jedoch nicht nur eine Reihe von Chancen, sondern auch eine Menge Fragen: Einerseits hat sich die Suche nach neuen Formen des Miteinanders deutlich intensiviert, andererseits dreht sich das Wettbewerbskarussell immer schneller und zwingt nicht nur Individuen, sondern auch Unternehmen, Institutionen und Städte in eine ständige Konkurrenzsituation. Gleichzeitig hat die Finanzkrise weltweit Bewegungen Aufschwung verliehen, die nach alternativen Wegen suchen, um den sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Egal ob Recht auf Stadt-Netzwerke, De-Growth/Post-Wachstums-Bewegung, Urban Commons, Gemeinwohl-Ökonomie, freie Software- oder Sharing-Initiativen – den Ausgangspunkt dieser Suche bildet immer Kooperation im Sinne des Zusammenwirkens einzelner zum Wohle vieler. Dass es dabei bessere und schlechtere, wichtige und weniger wichtige und selbstverständlich auch zu kritisierende Modelle und Ansätze gibt, versteht sich von selbst. Erfahrungen mit staatlichen Programmen wie Big Society (GB) oder Participation Society (NL) zeigen beispielsweise, wie viel neoliberale Kraft im Ruf der Kommunen nach Zusammenarbeit mit ihren BürgerInnen steckt.[1] Als dominantes Narrativ verdeckt der Ruf nach Kooperation wichtige Diskussionen über die Verteilung von Macht, Mitteln und den Zustand unserer demokratischen Systeme. Bürgerbeteiligungen und partizipative Planungsansätze bilden allzu oft nur ein Feigenblatt in längst beschlossenen Stadtentwicklungsprozessen. Auch in Sachen Zusammenarbeit gilt es also genau zu fragen, wer mit wem, wie und warum auf welcher Basis kooperieren soll.

Die im Titel des Schwerpunkts angesprochenen Perspektiven sehen wir in Konzepten wie Urban Citizenship, Urban Commons, Autogestion bzw. Selbstverwaltung. Es geht in diesem Heft also um Fragen einer umfassenden Gleichberechtigung jedes einzelnen Individuums der Stadtbevölkerung, der Produktion und Verteilung von Gütern, der kollektiven Stadtproduktion und der Möglichkeit der Mitgestaltung und Teilhabe, der Kommunikation und der Gesellschaftsorganisation. Also um nicht mehr und nicht weniger als die kooperative Stadt.


Anmerkung:
[01] 2013 hat der niederländische König Willem-Alexander in einer Fernsehansprache das Ende des Wohlfahrtsstaates angekündigt und verlautbart, dass dieser durch eine »Participatiemaatschappij«, eine Gesellschaft der Partizipation ersetzt werden wird: »These days people want to make their own choices, arrange their own lives and look after each other. These developments make it appropriate to organise care and social provision close to people and in collaboration with them.« (The Amsterdam Herald 2013). Vorbild dafür ist David Camerons Vision einer Big Society, die ebenfalls das Ziel hat, staatliche Leistungen zu kürzen, um BürgerInnen und Kommunen damit zu belasten.

Literatur:
Antón, Susan C.; Potts, Richard & Aiello, Leslie C. (2014): Evolution of early Homo: An integrated biological perspective. In: Science, Vol. 345 no. 6192. DOI: 10.1126/science.1236828.
Fisher, Mark (2012): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Symptome unserer kulturellen Malaise. Hamburg: VSA.
Graeber, David (2014): Schulden. Die ersten 5000 Jahre. München: Wilhelm Goldmann.
Meretz, Stefan (2012): Konkurrenz und Kooperation. In: Streifzüge, Heft 56. Verfügbar unter: www.streifzuege.org/2012/konkurrenz-und-kooperation [20.09.2015]
Meretz, Stefan (2014): Grundrisse einer freien Gesellschaft. In: Konicz, Tomasz & Rötzer, Florian (Hg.):
Aufbruch ins Ungewisse. Auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise. Hamburg: Heise.
Senett, Richard (2014): Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: dtv.
Staun, Harald (2013): Der Terror des Teilens, In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.12.2013. Verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/shareconomy-der-terror-des-teilens-12722202.html [20.09.2015].
The Amsterdam Herald (2013): King Willem-Alexander: ›participation society‹ must replace welfare state. In: The Amsterdam Herald, 17.9.2013. Verfügbar unter: www.amsterdamherald.com/index.php/rss/982-20130917-king-willem-alexander-participation-society-must-replace-welfare-state-netherlands-dutch-recession-royals-politics [20.09.2015].
Vogel, Steffen (2010): Michael Hardt im Interview. In: Freitag, 6.4.2010. Verfügbar unter: www.freitag.de/autoren/der-freitag/michael-hardt-im-interview [20.09.2015].

dérive, Mo., 2015.10.26



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26. Oktober 2015Christoph Laimer
dérive

Pasolini, Lefebvre, Tati und die Kritik des fordistischen Alltags

Beim urbanize-Festival 2012 hat Klaus Ronneberger im Wiener Filmmuseum einen höchst interessanten Vortrag zur Urbanismuskritik von Guy Debord, Henri Lefebvre...

Beim urbanize-Festival 2012 hat Klaus Ronneberger im Wiener Filmmuseum einen höchst interessanten Vortrag zur Urbanismuskritik von Guy Debord, Henri Lefebvre...

Beim urbanize-Festival 2012 hat Klaus Ronneberger im Wiener Filmmuseum einen höchst interessanten Vortrag zur Urbanismuskritik von Guy Debord, Henri Lefebvre und Jacques Tati gehalten. Vor kurzem ist eine Publikation von ihm erschienen, in der er das Thema wieder aufgreift, nur dass er Guy Debord durch Pier Paolo Pasolini ersetzt.

Die drei Zeitgenossen, die persönlich nicht miteinander in Kontakt standen, werden in jeweils einem eigenen Kapitel »als Kritiker des fordistischen Alltags« portraitiert. In seiner Einleitung schreibt Ronneberger, dass ihn die Kritik aller drei an der fordistischen Nachkriegsmoderne und der »wachsenden Entfremdung der Menschen von ihren Alltagsbedingungen durch den ›Konsumkapitalismus‹« sowie an dem damals weit verbreiteten Fortschrittsoptimismus interessiert hat. Unter Peripherie und Ungleichzeitigkeit fasst er das Aufeinanderprallen von der in weiten Teilen noch stark agrarisch geprägten, kleinteilig föderalistischen Gesellschaft Italiens und Frankreichs mit der durch eine staatliche, zentralistische Normierungsstrategie geförderten Modernisierung, die »das Andere, das Vormoderne als Abweichung registriert und gegebenenfalls auch verfolgt«, zusammen. In beiden Ländern kam es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zu einer starken Landflucht und im Falle Frankreichs auch zu einer transnationalen Zuwanderung, die zu einer umfassenden Urbanisierung führte und die Städte an ihren Rändern wachsen ließ.

Industrialisierung und Massenproduktion setzen sich mit – im Vergleich zu England und Deutschland – Verspätung durch und etablierten sich in einer, vor allem in Italien noch in weiten Teilen handwerklich und kleingewerblich strukturierten und geprägten Wirtschaft. Die Kritik der drei Protagonisten schrammt (wenn überhaupt) stets nur äußerst knapp an einer konservativen Nostalgie vorbei und war damals z.B. im Vergleich zu den britischen Cultural Studies und ihrer Einschätzung der Möglichkeiten, sich durch Konsum selbst zu ermächtigen und kreativ zu sein, auf den ersten Blick wohl heillos antiquiert. Pasolini sprach in Zusammenhang mit dem hedonistischen Konsumismus gar von einem »neuen Faschismus«.

Aus heutiger Sicht verschwimmen die damals noch klaren Widersprüche. All das, was in der (Massen-)Konsumgesellschaft ursprünglich verschwand, also Handwerk, Authentizität, Ursprünglichkeit, kleinteilige bäuerliche Strukturen, Wissen über Produktionsabläufe, Herstellungsmethoden, Inhaltsstoffe etc., steht heute wieder hoch im Kurs. Der widerständige Charakter existiert allerdings nur noch in Nischen oder ist zur bloßen Attitüde verkommen. Attribute wie Authentizität sind mittlerweile selbst feste Bestandteile der Welt des Konsums.

Pasolini lebte, bevor er nach Rom ging, in einem kleinen Ort im norditalienischen Friaul. Besonders fasziniert war er von Furlan, der Sprache der Region, die dort heute noch sowohl Alltags- als auch Amtssprache ist. Er schätzte ihre Klarheit und die Abwesenheit »von bürgerlichen Metamorphosen und Metaphern«. Eine Faszination, die er später in Rom für den in den Borgate, den ursprünglich informell errichteten Siedlungen der Vorstädte, gesprochenen Jargon erneut aufbrachte. Den Normierungsdruck, der auf Sprachen wie Furlan oder den Verhaltensweisen der BewohnerInnen der Borgate lastete, nahm Pasolini als Nivellierung und »Kolonialisierung subalterner Alltagspraktiken« wahr.

Ronneberger schildert die Nachkriegs-Stadtentwicklung Roms und Pasolinis ausufernde Streifzüge durch die ihn faszinierende römische Peripherie, deren BewohnerInnen dem allgegenwärtigen Konformismus weniger zu verfallen schienen als die sich entwickelnde italienische Massengesellschaft. Interessant ist Pasolinis Verhältnis zum Katholizismus. Diesen sah er historisch zwar als Machtmittel der Eliten, seine Grundlagen übten trotzdem eine Anziehungskraft auf ihn aus. Seine filmische Auseinandersetzung mit religiösen Themen wurde sicher durch den Umstand gefördert, dass er auch Religion durch die »konsumistische Revolution« gefährdet sah, da er meinte, die Herrschenden seien für den Machterhalt nicht mehr auf sie angewiesen.

Was Lefebvre mit Pasolini teilt, ist die Wertschätzung einfacher, traditioneller Alltagspraktiken. Was für Pasolini das Friaul, waren für Lefebvre die Pyrenäen, denen er sich zeitlebens verbunden fühlte. Ronneberger registriert eine starke Sympathie für »die sozialen und kulturellen Überreste längst vergangener Hirten- und Bauernrepubliken« und »[e]ine nostalgische Sehnsucht nach einem nicht entfremdeten Leben«. Das fordistische Konsummodell, dem Lefebvre ebenso kritisch gegenüber stand wie Pasolini, ermöglichte es der westlichen Gesellschaft, »auf offene Gewalt« zu verzichten. Lefebvre sah Zeit und Raum immer stärker dem Markt unterworfen und somit dem selbstbestimmten Alltag der Menschen entrissen. Lefebvres Kritik am Urbanismus von oben und der Reduktion des Wohnens auf reine Unterbringung in den Grands Ensembles der Banlieues dürfte dérive-LeserInnen weitgehend bekannt sein, weshalb hier nicht weiter darauf eingegangen wird.

Somit zu Jacques Tati bei dem die Sehnsucht nach der vormodernen Zeit, dem noch nicht entfremdeten Alltag ebenfalls ständig zu spüren ist. Technizistische Konsumartikel, moderne Möbel und Architektur sowie die neue Arbeitswelt sind in seinen Filmen ständiger Anlass für feinen Spott und treffen auf großes Unverständnis. Der auf der Hand liegende Verdacht, Tati sei völlig technikfeindlich und rückwärtsgewandt und verkläre nur das gute alte französische Landleben mit seiner angeblichen Gemütlichkeit, spießt sich allerdings mit seinen Anstrengungen, seine Filme technisch möglichst perfekt zu produzieren und dabei – ohne Rücksicht auf Verluste – auch auf neueste zum Teil noch unausgereifte Innovationen zu setzen.

Ronneberger hebt hervor, dass Tati »manche Mythen der Nachkriegsgesellschaft entzaubert« und ebenso wie Pasolini und Lefebvre »auf der Suche nach dem Widerständigen gegen die Zumutungen der fordistischen Rationalität« war. Er verweist in diesem Zusammenhang auf eine Szene in Playtime, in der ein offensichtlich ohne handwerkliche Sorgfalt errichtetes Restaurant im Laufe eines Abends Schritt für Schritt in Bruch geht, was die Stimmung der Gäste jedoch keineswegs dämpft, sondern – ganz im Gegenteil – vielmehr Anlass für größte Ausgelassenheit ist. Die Absicht, das subversive Potenzial, das genau in solchen Momenten aufblitzt, zu zeigen, vereint Pasolini, Lefebvre und Tati und Ronneberger versteht es, sie in den Werken aller drei aufzuspüren und schärft damit unseren Blick für die Brüche und Risse in der polierten Fassade des kapitalistischen Alltags.


Klaus Ronneberger
Peripherie und Ungleichzeitigkeit. Pier Paolo Pasolini, Henri Lefebvre und Jacques Tati als Kritiker des fordistischen Alltags
Hamburg: adocs, 2015
132 Seiten, 15,90 Euro

dérive, Mo., 2015.10.26



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dérive 61 Perspektiven eines kooperativen Urbanismus

02. Februar 2015Christoph Laimer
dérive

Safe City - Sicherheit beginnt im Kopf

Der Begriff der Sicherheit ist ebenso weit verbreitet wie vieldeutig.1 Der Soziologe Zygmunt Bauman hat darauf hingewiesen, dass die deutsche Sprache im...

Der Begriff der Sicherheit ist ebenso weit verbreitet wie vieldeutig.1 Der Soziologe Zygmunt Bauman hat darauf hingewiesen, dass die deutsche Sprache im...

Der Begriff der Sicherheit ist ebenso weit verbreitet wie vieldeutig.1 Der Soziologe Zygmunt Bauman hat darauf hingewiesen, dass die deutsche Sprache im Vergleich zur englischen beim Thema Sicherheit »untypisch sparsam« ist. Das Englische kennt security, safety und certainty und erlaubt damit eine weitaus höhere Präzession in der Beschreibung unterschiedlicher Facetten der Thematik. Trotz oder gerade wegen seiner Uneindeutigkeit hat der Begriff der Sicherheit im politischen und medialen Diskurs in den letzten Jahren –oder mittlerweile vielmehr Jahrzehnten – einen ungeheuren Aufschwung erfahren. Die Freiheit, das große Schlagwort aus den Zeiten des Kalten Krieges und Pendant zur Sicherheit, hat hingegen deutlich an Bedeutung und Strahlkraft eingebüßt; sie fristet ein eher marginales Dasein, am ehesten noch als »freier Markt« im Dunstkreis neoliberaler Marktverfechter oder als Absenz jeglicher Regulierung der öffentlichen Hand im Denken der extremistischen Tea-Party-Bewegung.

Der Aufschwung des Themas Sicherheit geht auch mit einer Bedeutungsverschiebung einher, die sowohl mit dem Erstarken von populistischen, rechtsextremen Parteien als auch mit der Ideologie des Neoliberalismus in Zusammenhang zu bringen ist. Verband man in Zeiten des klassischen Wohlfahrtsstaates Sicherheit vorrangig mit sozialen Themen wie beispielsweise der Sicherung von Arbeitsplätzen und günstigem Wohnraum, steht heute der Schutz vor Kriminalität und Terrorismus an oberster Stelle.

Im lange Zeit wohlfahrtsstaatlichen Österreich spielte Sicherheit im Sinne von Fürsorge stets eine große, Freiheit hingegen eine eher nebensächliche Rolle. Die staatstragenden Parteien versprachen ihrer jeweiligen Klientel in den Nachkriegsjahrzehnten, sich um alle Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten des Alltags zu kümmern, und verlangten als Gegenleistung nicht mehr und nicht weniger als die Mitgliedschaft in der Partei und alle vier Jahre die richtige Stimmabgabe bei den Wahlen. Ein gut geöltes System, das lange einwandfrei funktionierte und erst ins Schlingern geriet, als ab den 1980er Jahren neue Player das Feld betraten und sowohl Wohlfahrtsstaat wie Keynesianismus ideologische Konkurrenz bekamen. Damals wären neue Konzepte abseits des Neoliberalismus gefragt gewesen, doch zumindest in Österreich waren die ehemals staatstragenden Parteien vor allem damit beschäftigt, sich von der nationalistischen Law & Order-Politik der FPÖ vorantreiben zu lassen, ohne ihr viel entgegen zu setzen. Als Ergebnis wurden zahlreiche FPÖ-Forderungen speziell in der Asyl- und Migrationspolitik tatsächlich umgesetzt und bestimmen bis heute die öffentliche Sicherheitsdebatte maßgeblich mit.

Das subjektive Sicherheitsgefühl

Einer der zentralen Aspekte in der Diskussion um Sicherheit und Stadtgesellschaft im Allgemeinen und öffentlichen Raum im Besonderen ist der des »subjektiven Sicherheitsgefühls«. Es hat sich zum absoluten Maßstab für sicherheitspolitische Maßnahmen entwickelt, die als Konzept nicht mehr in Frage gestellt werden. Was vor geraumer Zeit hauptsächlich von rechtspopulistischen Parteien gefordert wurde, ist im Mainstream angekommen, wird von der Mehrheit der Parteien vertreten und zeigt sichtbare Auswirkungen auf das städtische Leben: höhere Polizei-Präsenz auf der Straße, mehr Befugnisse für die Polizei selbst und Ausweitung von polizeilichen Aufgaben auf private AkteurInnen, Überwachung des öffentlichen Raums mit Kameras, Einrichtung von so genannten Schutz- oder Verbotszonen, Platzverbote und Wegweiserechte, Verdrängung von marginalisierten Personengruppen aus zentralen städtischen Räumen – die Liste ist ebenso lang wie ihre Erscheinungsbilder zur urbanen Alltäglichkeit geworden sind.

Die einfache Frage, ob das subjektive Sicherheitsgefühl mit einer objektiven Bedrohungslage korreliert und damit all die erwähnten Maßnahmen rechtfertigt, ist zwar in der Kriminal- und Stadtsoziologie seit vielen Jahren und in zahlreichen Abhandlungen ein Thema, aber weder die politischen EntscheidungsträgerInnen noch eine breite Öffentlichkeit scheinen davon Kenntnis zu nehmen. Ganz allgemein scheint es um das Wissen bezüglich der Verbreitung von Kriminalität bei den handelnden AkteurInnen schlecht bestellt zu sein: Unverantwortliche PolitikerInnen und hetzerische Medien tragen ihren Teil zu einem völlig verzerrten Bild in der Öffentlichkeit bei und sind somit für eine breite Verunsicherung mitverantwortlich. So wird, um eine erhöhte Bedrohungslage zu konstruieren, beispielsweise gerne auf den Anstieg von Strafbestands-Anzeigen verwiesen. Unter den Tisch fällt dabei gerne die Tatsache, dass die Verurteilungen gleichzeitig im Sinken begriffen sind. In Österreich verzeichnet die Zahl der rechtskräftigen gerichtlichen Verurteilungen in den letzten Jahren eine kontinuierliche Abnahme und erreichte laut Statistik Austria 2013 mit 4,69 Verurteilungen pro 1.000 Strafmündigen den niedrigsten Stand seit 1947.

Bei Verbrechen gegen Leib und Leben gibt es laut dem Kriminalitätsbericht 2013 des österreichischen Innenministeriums bei einer Minderheit der Fälle (38,1%) keine Opfer-Täter-Beziehung, bei Verbrechen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung sind es gar nur 7,1%. Einzig bei strafbaren Handlungen gegen fremdes Vermögen ist die Zahl derjenigen Fälle, bei denen keine Beziehung zwischen Opfer und Täter besteht, mit 70,4% relativ hoch. Insgesamt besteht aber bei rund zwei Drittel aller strafbaren Handlungen zwischen Opfer und Täter eine familiäre oder bekanntschaftliche Beziehung. Der gefährliche öffentliche Raum spielt also bei einem Großteil der Delikte als Tatort keine Rolle. Selbst beim noch verbleibenden Drittel jener Verbrechen außerhalb des persönlichen Radius von Opfer und Täter teilt sich der öffentliche Raum seine Funktion als Tatort mit nicht-öffentlichen Räumen, in denen Betrugsdelikte begangen werden, Wirtschaftskriminalität ihr Unwesen treibt oder Ladendiebstahl stattfindet. Es kann also durchaus davon ausgegangen werden, dass der öffentliche Raum nicht per se einen Hotspot der Kriminalität darstellt. Trotzdem würde ein Umfrage-Ranking der unsichersten Orte dem öffentlichen Raum wohl eine Top-Platzierung bescheren. Besonders paradox zeigt sich das Verhältnis von Kriminalitätsfurcht und tatsächlicher Bedrohungslage im öffentlichen Raum bei Frauen. »Die im öffentlichen Raum bei Frauen immer wieder nachgewiesenen Unsicherheitsgefühle stehen nicht in einem direkten Zusammenhang mit einer hier tatsächlich erhöhten Deliktbelastung. Selbst für explizite Angsträume kann festgestellt werden, dass es sich keineswegs um herausragende Tatorte bzw. Orte der Gewalt handelt. [...] Wäre die tatsächliche Gefahrenlage Hintergrund der Unsicherheiten, so müssten sich diese bei Frauen weit eher auf auf den privaten Raum beziehen und dieser müsste entsprechend gemieden werden.« (Ruhne 2003, S. 60) Faktisch ist die ohnedies geringe Gefahr, im öffentlichen Raum Opfer eines Verbrechens zu werden, für Männer weitaus höher als für Frauen.

Kriminalitätsfurcht ohne Kriminalität

Wie kann man sich nun das Paradox der Entkoppelung von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht erklären? Die Stadtsoziologin Ingrid Breckner und der Kriminologe Klaus Sessar weisen auf die Auswirkungen von armen und reichen Stadtvierteln in einer Stadt hin: »Das Anders-Sein in der ›Stadt der Armen‹ und der ›Stadt der Reichen‹, in der ›Stadt der Niedriglohn-Arbeit und Arbeitslosigkeit‹ im Vergleich zur ›Stadt der Dichter und Denker‹, der ›Stadt der Schönen und Erfolgreichen‹ oder der ›Stadt der Filmaufnahmen‹ erzeugt u.U. mehr Angst und Verunsicherung als homogenes Leben unter gleichermaßen Geknechteten.« (2002, S. 112) Deswegen sei es notwendig, »Differenzen sozialräumlicher Lebensbedingungen in einer Großstadt unter Berücksichtigung ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrer politischen und wirtschaftlichen Traditionen« (ebd.) zu untersuchen, um den tatsächlichen Gründen heutigen (Un)Sicherheitsempfindens in Städten auf die Spur zu kommen. Der Kriminalsoziologe Gerhard Hanak schrieb vor etlichen Jahren in dérive über die Situation in Wien, »dass also eine negative Beurteilung der Sicherheitsverhältnisse vielfach als Teil eines umfassenderen Unzufriedenheitssyndroms (und weniger als Reflex spezifischer Sicherheits- oder gar Kriminalitätsprobleme) zu verstehen ist« (2004, S. 19) »Die Minderheit, die Unsicherheit (im weiteren Sinn) thematisiert und als Problem benennt, tut das des öfteren vor dem Hintergrund allgemeinerer, diffuserer Unzufriedenheit (mit den persönlichen Lebensbedingungen und/oder mit dem räumlichen Umfeld). [...] Unzufriedenheit wird zum einen dann artikuliert, wenn das eigene Wohnumfeld nicht den persönlichen Aspirationen und Respektabilitätsansprüchen entspricht, zum anderen von der relativ kleinen Minderheit, die den lokalen sozialen Wandel der vergangenen Jahrzehnte eindeutig oder überwiegend negativ erfährt und bewertet«. (2004, S. 21)

Die Soziologin Renate Ruhne betont, dass Sicherheit und Unsicherheit stets als sozial konstruiert verstanden werden müssen und sich nicht gegenseitig ausschließen: »›Sicherheit‹ ist nicht die Abwesenheit von ›Unsicherheit‹.« Nachvollziehbar wird diese Aussage, wenn Ruhne auf die vier unterschiedlichen Bedeutungsfelder hinweist, die von Sicherheit umschlossen werden: Schutz vor Gefahr, Ohne-Sorge-Sein (Sich-geborgen-Fühlen und Geschützt werden), Gewissheit (Ohne-Zweifel-Sein), Verlässlichkeit.2 »Damit geraten eigene Fähigkeiten und Handlungskompetenzen ebenso wie andere Menschen, die im Zweifelsfall verlässlich beistehen, oder auch die Verlässlichkeit von Informationen beispielsweise in den Blick.« (Ruhne 2003, S. 63) Die unterschiedlichen Bedeutungen von Sicherheit müssen laut Ruhne als Einheit gefasst werden; daraus folgt, dass die Abwesenheit einer objektiven Gefahr zu wenig ist, um eine subjektives Sicherheitsgefühl zu erzeugen. Voraussetzung für eine Übereinstimmung von objektiver Bedrohungslage und subjektivem Sicherheitsgefühl ist, dass »auf das wahrgenommene Bild der Außenwelt Verlass ist und die Wahrnehmungsverarbeitung dem Kriterium der ›richtigen Erkenntnis‹, der Gewißheit, genügt.« (Kaufmann 1973 zit. nach Ruhne 2003,
S. 63f.) Der Aspekt der Wahrnehmung der Gefahr hat also eine entscheidende Bedeutung, und genau hier ist der Haken: »Bei der Wahrnehmung von Gefahren kann es aber hinsichtlich des ›Kriteriums der richtigen Erkenntnis‹, der ›Verlässlichkeit‹, des ›Wissens‹ zu mehr oder weniger starken Diskrepanzen kommen.« (Ruhne 2003, S. 64) Ruhne plädiert deswegen z. B. im Hinblick auf das Thema Frauen im öffentlichen Raum dafür, »die bisherige Fiktion einer verstärkten Gefährdung als Hintergrund einer vermehrten Unsicherheit kritisch zu hinterfragen und bewusst Abschied zu nehmen von einem Ansatz an einer vermeintlich erhöhten Gefahr.« Die Ausweisung von Angsträumen ist aus dieser Perspektive kontraproduktiv, weil sie keine empirische Grundlage hat, falsche Einschätzungen und Vermeidungshaltungen verstärkt, insgesamt also Orte als gefährlich ausweist, die es in der Regel nicht sind.

Ein interessantes Phänomen, das man auch im Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit kennt, ist die gleichzeitige Akzeptanz von sich widersprechenden Erzählungen, die sich durch persönliche Erfahrung und medial vermittelte Bilder ergeben. Bei der Fremdenfeindlichkeit sieht das so aus, dass der nicht aus Österreich stammende Arbeitskollege, den man seit Jahren gut kennt, ein sympathischer und anständiger Zeitgenosse ist, aber all die anderen Fremden faul sind, sich Sozialleistungen erschleichen und besser wieder nach Hause geschickt werden sollten. Umfragen zum Thema Sicherheit zeigen, dass sich die meisten Menschen selbst zwar nicht gefährdet sehen und auch keine Angst haben, beispielsweise abends den öffentlichen Raum zu nutzen, aber die Lage – wie man aus den Medien und von Gerüchten weiß – grundsätzlich als unsicher eingeschätzt wird und deswegen davon ausgegangen wird, dass Mitmenschen durchaus gefährdet sind (Reuband 1994, 216f.).

Urbane Kompetenz

Trotz einer negativen Einschätzung der Sicherheitslage kann aber zumindest bei einem gewissen Prozentsatz der Menschen von einer Handlungskompetenz im Umgang mit imaginierten und tatsächlichen Unsicherheiten ausgegangen werden. Der Stadtsoziologe Detlev Ipsen hat immer wieder auf die »urbane Kompetenz« der StadtbewohnerInnen als wünschenswerte Fähigkeit hingewiesen. Den Kern des Sicherheitsproblems sah er in der entstehungsbedingten Realität der modernen Stadt, in der unterschiedliche Interessen und Ideen aufeinander treffen, weswegen es zwangsläufig keine urbane Gesellschaft ohne Kontroversen und Auseinandersetzungen geben kann (Ipsen 1997). Das Konzept der urbanen Kompetenz reagiert auf diese verdichtete Unterschiedlichkeit (Henri Lefebvre) als Charakteristikum der Stadt durch Kenntnisnahme und Akzeptanz: Urbanes Leben bedeutet Konflikt und Aushandlung. Urbane Kompetenz zeigt sich im offenen und selbstverständlicheren Umgang damit. Das Erlernen von urbaner Kompetenz kann jedoch weder Top-down verordnet noch als Privatangelegenheit betrachtet werden, sondern muss »als kollektive[r] und zugleich emanzipatorische[r] Lernprozess, eingebunden in eine zivile Gesellschaft« (Glasauer 2003, S. 26) gesehen werden.

Es gilt somit Strukturen zu schaffen, welche die urbanen Kompetenzen der Bürger und Bürgerinnen stärken. Dazu zählt die Ausweitung von Mitspracherechten und Möglichkeiten des aktiven Eingreifens in stadtpolitische Entscheidungsprozesse. Stattdessen setzen die meisten Städte jedoch auf mehr Ordnungspolitik, mehr Kontrolle und Überwachung und noch mehr Möglichkeiten, die Lösung von Alltagskonflikten zu delegieren, was vorhandene urbane Kompetenzen eher verkümmern als gedeihen lässt. »Die Delegation von Problemlösungen an staatliche Stellen zementiert [jedoch] nicht nur Abhängigkeiten, sondern stabilisiert zugleich Unsicherheiten und Ängste.« (Glasauer 2003, S. 26) Untersuchungen zeigen, »dass, je ausgeprägter eine mögliche Einflussnahme auf die Gestaltung des Alltags beurteilt wird, [...] umso geringer ist die Angst vor einer negativen persönlichen Zukunft wie auch vor Konfrontationen mit kriminellen Delikten.« (ebd.)

Den überbordenden Bestrebungen nach Überwachung und Kontrolle ebenso wie der Tendenz, die StadtbewohnerInnen zu Kunden und Kundinnen zu degradieren, gilt es deswegen Visionen einer selbstbestimmten und solidarischen Stadt gegenüber zu stellen. Die Verlagerung von Verantwortung an Bürger und Bürgerinnen muss allerdings auch mit einer Verlagerung der Macht verbunden sein. Nur so kann es zu einem Zugewinn an Freiheit kommen. (Liessmann 2014)

In europäischen Krisenländern und ihren urbanen Ballungsräumen lässt sich in den letzten Jahren ein Trend zum solidarischen Handeln und eine deutliche Abkehr vom jahrzehntelangen Konkurrenz-Individualismus ausmachen, der Anlass zur Hoffnung gibt und als echtes Potenzial für die Zukunft der Stadtgesellschaft weiterentwickelt werden sollte. »Es muss daher eine vordringliche kommunalpolitische Aufgabe sein, die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten des aktiven Eingreifens der Menschen zu ermöglichen. In erster Linie ist dafür nicht Geld nötig, sondern produktive Ideen und Konzepte, die die gesellschaftspolitische Relevanz der vielfältigen sichtbaren wie unsichtbaren sozialen Netzwerke in den Quartieren zur Kenntnis nehmen und diese unterstützen.« (Glasauer 2003, S. 26)

Urbane Sicherheit beginnt im Kopf und erwächst aus tatsächlichen Handlungsspielräumen der StadtbewohnerInnen. Ihre Herstellung bedarf keiner Erhöhung der Polizeipräsenz, sondern einer echten Diskussion der Machtfrage zwischen Stadtpolitik und StadtbewohnerInnen. Dem Hochrüsten unserer Städte mit Law & Order-Sicherheitspolitik gilt es entschieden entgegen zu treten. »Wenn wir die Welt aussperren und die Stadt abriegeln, schließen wir uns im Gefängnis unserer eigenen Ängste ein.« (John Friedmannn)


Literatur:
Breckner, Ingrid & Sessar, Klaus (2003): Unsicherheiten in europäischen Großstädten. In: Gestring, Norbert; Glasauer, Herbert; Hannemann, Christine; Petrowsky, Werner; Pohlan, Jörg (Hg).: Jahrbuch StadtRegion 2002. Schwerpunkt: Die sichere Stadt. Opladen: Leske +Budrich.
Glasauer, Herbert (2003): Stadt – Raum – Angst. Überlegungen zu einem aktuellen Kuriosum. In: dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 12, S. 23–26.
Hanak, Gerhard (2004): (Un)Sicherheit findet Stadt – »Insecurities in European Cities«. In : dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 16, S. 19–22.
Hanak, Gerhard & Stangl, Wolfgang (2003): »Wien – sichere Stadt«. Sicherheit als Markenzeichen. (Interview). In: dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 12, S. 8–11.
Ipsen, Detlev (1997): Sicherheit durch Urbane Kompetenz. Verfügbar unter: www.safercity.de/1997/urbkomp.html
(Stand 21. 9. 2014).
Liessmann, Konrad Paul (2014): Schuld sind immer die anderen. In: Die Presse, Spectrum, 20. 9. 2014, S. I–II.
Reuband, Karl-Heinz (1994): Steigende Kriminalitätsfurcht – Mythos oder Wirklichkeit? Objektive und subjektive Bedrohung durch Kriminalität. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 4, S. 214–220.
Ruhne, Renate (2003): »Sicherheit« ist nicht die Abwesenheit von »Unsicherheit«. In: Gestring, Norbert; Glasauer, Herbert; Hannemann, Christine; Petrowsky, Werner; Pohlan, Jörg (Hg).: Jahrbuch StadtRegion 2002. Schwerpunkt: Die sichere Stadt. Opladen: Leske + Budrich.

dérive, Mo., 2015.02.02



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dérive 57 Safe City

05. Dezember 2012Christoph Laimer
dérive

Stadt selber MACHEN

Die Top-Down-Verwaltung und Planung der funktionalis­tischen, fordistischen Stadt in der Nachkriegszeit sah sich spätestens in den 1960er Jahren einer...

Die Top-Down-Verwaltung und Planung der funktionalis­tischen, fordistischen Stadt in der Nachkriegszeit sah sich spätestens in den 1960er Jahren einer...

Die Top-Down-Verwaltung und Planung der funktionalis­tischen, fordistischen Stadt in der Nachkriegszeit sah sich spätestens in den 1960er Jahren einer Kritik ausgesetzt, die als Beginn einer Bewegung bezeichnet werden kann. Als Meilen­stein für den Beginn von Aufbegehren und Einmischung in städtische Planungsfragen gilt dabei Jane Jacobs einflussreiches Werk The Death and Life of Great American Cities, das sich zum Dauerbestseller entwickelt hat. Etwa zeitgleich wie Jane Jacobs’ Buch erschien auch jenes Werk (Le droit à la ville), in dem Henri Lefebvre erstmals von einem »Recht auf Stadt« schreibt. Lefebvre spricht sich darin für die kollektive (Wieder-)Aneignung des städtischen Raumes durch seine Bewohner und Bewohnerinnen ebenso wie die selbstbestimmte Gestaltung des Lebens­umfeldes in einer Stadt für alle aus. »Recht auf Stadt« funktioniert aktuell als Inspiration und gemeinsames Dach für zahlreiche Initiativen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass in ihren Städten die Aussicht auf bzw. die Realisierung von Profit maßgeblich bis ausschließlich die Stadtent­wicklung bestimmt. Aktivitäten gegen Kahlschlagsanierungen, Wohnungspolitik, Stadtauto­bahnen und der Kampf um selbstverwaltete Räume prägten ab den 1960 / 70er Jahren Initiativen, die sich für mehr Gestaltungsfreiheit und Mitspracherecht in der Stadtplanung und ihrem persönlichen urbanen Lebensraum einsetzten. Die breite Palette neuer sozialer Bewegungen (Feminismus, Ökologie, Frieden, Schwule, ..), die wir heute zumeist als NGOs oder Parteien kennen, haben ihre Ursprünge ebenfalls in dieser gesellschaftspolitischen Umbruchsituation.

Auf den für die noch im funktionalistischen Nachkriegs-Städtebau verwurzelten Stadtverwaltungen ungewohnten Widerspruch reagierten diese zuerst mit Unverständnis ob der Undankbarkeit ihrer BürgerInnen, nach einer ausgedehnten Schrecksekunde folgten in Städten wie Wien oder Berlin neue Konzepte wie die »sanfte« oder »behutsame« Stadter­neuerung. Institutionen wie die Wiener Gebietsbetreuungen wurden etabliert, die sowohl als Anlaufstellen für BürgerInnen dienen sollten, als auch die Aufgabe hatten sozial-räumliche Problemlagen zu identifizieren.

Die Einführung von Bürgerbeteiligungsverfahren und ähnlichen formalisierten partizipativen Modellen kann einer­seits als Erfolg des Wider­standes gewertet werden, in dem Sinne, dass oppositio­nelle, außer­parlamentarische Stimmen zumindest angehört werden. Andererseits stand dahinter natürlich die Stra­tegie, dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihn zu kanali­sieren. Außerdem stellte sich bald heraus, dass es nur bestim­mten Segmenten der Be­völkerung möglich war, sich und ihre Wünsche und Vor­stellungen in diesen Verfahren einzubringen und marginali­sierte Gruppen davon erst gar nichts erfuhren. Die Modelle haben sich im Laufe der Zeit verbessert, Kritik und Unzu­friedenheit blieben jedoch ebenso wie die hierarchische Struktur und die sehr unterschiedlich verteilten Möglichkeiten der Teilhabe erhalten. Wie sich immer wieder zeigt, gelingt selbst die einfache Vermittlung von Informationen – etwa was das Mietrecht anbelangt – oft nicht und erreicht genau jene nicht, die sie am dringendsten nötig haben.

In einem Beitrag über den Status Quo der Wiener Gebietsbetreuungen im Magazinteil dieser Ausgabe zeigen Katharina Kirsch-Soriano da Silva und Christoph Stoick auf, dass für das Quartiersmanagement leider Aspekte wie Aufwertung und die Stärkung des Standortfaktors immer mehr Bedeutung gewinnen, eine Analyse aktueller Entwicklungen »wie die räumliche Integration von Alt- und Neubaugebieten sowie die sich verändernde Bedeutung des öffentlichen Raums« jedoch zu kurz kommen.

»Die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Strasse gehen.«

Eine Initiative, die sich nicht auf kontrollierte Beteili­gungs­formen und paternalistische Konzepte der Partizipation einlassen wollte, entwickelte Mitte der 1990er Jahre in Hamburg St. Pauli/Altona mit Bezug auf die Theorien von Gilles Deleuze und Félix Guattari das Konzept einer kollektiven Wunschproduktion bzw. eines parallelen Planungs­prozesses. Ziel des Projekts, das schließlich unter dem Namen Park Fiction bekannt wurde und hier aufgrund seines nachhaltigen Einflusses etwas ausführlicher dargestellt werden soll, war es zu verhindern, dass das letzte Grundstück mit freiem Blick auf Elbe und Hafen verkauft und mit Apartment­blöcken zugebaut würde. Christoph Schäfer, einer der InitiatorInnen von Park Fiction, hat in einem Interview vor etlichen Jahren einmal gesagt: »Unsere Idee ist, dass StadtkonsumentInnen zu StadtproduzentInnen werden, und da sind Mittel und Werkzeuge zu entwickeln, wie man das umsetzen kann.« (Vrenegor 2001)

»Ohne zu diesem Zeitpunkt staatlicherseits legitimiert worden zu sein, fingen wir mit der Wunschproduktion direkt an: wir organisierten diesen Prozess als Spiel, entwickelten Fragebögen, die die Frage nach Parkentwürfen verbanden mit der Frage nach Situationen, Ferienorten, Städten, nach den Orten des Glücks, ob man dort allein war oder mit jemandem, und mit wem und wie viele sonst noch da waren; nach Urlaubsfotos, Beschreibungen und Skizzen. (...) Diese Praxis wurde getragen von einem Nachbarschaftsnetzwerk, das sich in der Zeit der Hausbesetzungen kennengelernt und radikalisiert hatte. Neben einzelnen Nachbarn gab es streitlustige Pastoren, eine visionäre Schulleiterin, eine Grafikerin, Cafebesitzer, KünstlerInnen und vor allem die Musikszene um den Golden Pudel Klub. (...) Als es nach einem Jahr endlich gelang, einen hochrangigen Politiker auf unser Gelände zu ziehen, war Park Fiction als Vorstellung und Wunschpark bereits überall, und als soziales Geflecht ganz real, hip, und im deutschsprachigen Kunstbereich bekannt.« (Schäfer 2007)

Bis aus dem Konzept dann tatsächlich der Park wurde, dauerte es schlussendlich bis 2004. 1 Park Fiction ist nicht nur ein intensiv genutzter und beliebter Park geworden, sondern diente und dient ähnlichen Projekten und Initiativen als Inspiration und Vorbild.

Wie weiter oben schon angesprochen, waren die Theorien von Deleuze und Guattari zu Wunsch und Wunschproduktion für die InitiatorInnen von Park Fiction ein wichtiger Impetus. Deleuze und Guattari entwickelten ihre Theorien zur Wunschproduktion in Auseinandersetzung mit den Schriften von Sigmund Freud und Jacques Lacan. In Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie 1 (1977, S. 150) schreiben sie: »Wird der Wunsch verdrängt, so weil jede Wunsch­position, wie winzig sie auch immer sei, etwas an sich hat, das die herrschende Ordnung einer Gesellschaft in Frage stellt: nicht, dass der Wunsch nichtgesellschaftlich sei, im Gegenteil. Aber er ist umstürzlerisch; keine Wunschmaschine, die nicht ganze gesellschaftliche Sektoren in die Luft jagte. Was auch immer gewisse Revolutionäre denken mögen, der Wunsch ist in seinem Innersten revolutionär – der Wunsch, nicht das Fest! – und keine einzige Gesellschaft kann auch nur eine einzige wahre Wunschposition ertragen, ohne dass ihre hierarchischen, ihre Ausbeutungs- und Unterwerfungsstrukturen gefährdet wären.«

Park Fiction gewann besonders in der Kunstwelt Auf­merksamkeit, was nicht zuletzt mit der Präsentation auf der Documenta 11 (2002) zusammenhängen dürfte. Kein Wunder, dass zahlreiche Projekte in den folgenden Jahren ähnliche Ansätze versuchten. Die Auseinandersetzung mit stadtpoli­tischen Themen und dem öffentlichen Raum hat in der Kunstszene stark an Bedeutung gewonnen, wobei es natürlich ein breites Spektrum an Zugängen und Methoden gibt. In Österreich ist Wochenklausur als Kunstinitiative zu erwähnen, die sehr früh (ab 1993) in diesem Feld tätig war. Sehr wichtig waren in diesem Zusammenhang auch die so genannten Innenstadtaktionen, die gegen die Kommerziali­sierung des öffentlichen Raums und ähnliche Phänomene, die sich Mitte der 1990er-Jahre verstärkt im urbanen Raum zeigten, protestierten und an denen sich viele Künstler und Künstlerinnen beteiligt haben. Auch die dérive-RedakteurInnen Barbara Holub und Paul Rajakovics haben als transparadiso mehrere Projekte verwirklicht, in denen Wünsche in der Auseinandersetzung mit dem eigenen urbanen Lebensumfeld eine wichtige Rolle spielten (siehe dazu z. B. den Text »Freistellen« – ein Plädoyer in dérive 14).

Die breite Auseinandersetzung der Kunstszene mit urbanen Themen hat mittlerweile eine Entwicklung erfahren, die dazu geführt hat, dass künstlerische ebenso wie architektonische Arbeiten gerne für Maßnahmen des Stadtmarketings eingesetzt werden – für Kunst im öffentlichen Raum gibt es in vielen Städten gut gefüllte Fördertöpfe. Bei manchen Künstlern und Künstlerinnen ist es mittlerweile zu einer Spezialisierung bei der Auseinandersetzung mit städtischen Problemlagen gekommen, die diese die Forderung erheben lässt, dass ihre Expertise offiziell als solche anerkannt und bezahlt wird, was derzeit nicht unbedingt üblich ist. Mit der Position einer Person, die aus unmittelbarer, persönlicher Betroffenheit handelt – wie das bei Park Fiction der Fall war – hat das allerdings nichts mehr zu tun. Vermutlich ist es aber auch nur in so einer Situation möglich, für ein Projekt über eine so lange Zeit aktiv zu sein.

Eine sehr engagierte Gruppe, die derzeit mit einer Wunschproduktion arbeitet, versucht gemeinsam mit anderen Initiativen auf die Nutzung der riesigen, leerstehenden alten Rindermarkthalle in Hamburg St. Pauli Einfluss zu nehmen. Die Aktivitäten laufen seit ca. zwei Jahren und steuern auf eine entscheidende Phase zu, weil der Bezirk und der offiziell vorgesehene (Zwischen-)nutzer, die Lebensmittelkette Edeka, die künftige Nutzung der Rindermarkthalle vorstellen werden (bzw. mittlerweile – nach Redaktionsschluss – vorgestellt haben).[2]

Aktueller Stand

Das Interesse an der Auseinandersetzung mit städtischen Räumen hat in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlichsten Perspektiven einen deutlichen Aufschwung erfahren und neue Bündnisse, Konzepte und Widerstandsformen entstehen lassen. Auf universitärer Ebene gibt es neue Masterstudien und Lehrgänge, dazu kommen zahlreiche Ausstellungen, Publikationen, Kongresse etc.: erwähnt seien hier beispielhaft die Ausstellun­gen (alle 2012) Hands-On Urbanism im Architektur­zentrum Wien, Oh my Complex im Württembergischen Kunstverein oder Besetzt im Wien Museum, Making City als Thema der Rotterdam Biennale, Active Urbanism als Motto des INURA-Kongresses und natürlich Stadt selber machen, das dérive-Festival ur3anize! Dazu kommen reihenweise Blogs, einer der jüngsten Zugänge ist UrbaniZm aus Wien, neue Zeitschriften (sub/urban, Stadtaspekte, urban spacemag) und natürlich zahlreiche Initiativen und Bündnisse wie Platz da!? in Wien oder Recht auf Stadt bzw. Right to the City in zahlreichen europäischen und amerikanischen Städten.

Es ist ermutigend zu sehen, dass sich in vielen Städten immer mehr Menschen nicht mehr damit abfinden wollen, in Sachen Stadtplanung, -entwicklung und -politik regelmäßig vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. All die erfreulichen Entwicklungen sollen die Frage, wovon eigentlich genau die Rede ist, wenn man von »Stadt selber machen« spricht, nicht unbeantwortet lassen. Die auf den ersten Blick überraschenden und eigenartigen ideologischen Verbindungs­linien, die sich auftun, sieht man sich den Themenkomplex genauer an, sind nämlich nicht unerheblich.

Krise

Es ist keine große Erkenntnis, dass staatliches Versagen bzw. der Rückzug des Staates von seinen (sozialen) Aufgaben und ökonomische Krisen den Zulauf zu oppositionellen Bewe­gun­gen und Gruppen verstärken und die Zahl neuer Initiativen erhöhen. Doch diese Umstände alleine reichen noch nicht aus, um eine Stärke zu gewinnen, die die etablierten Strukturen ins Wanken bringt. Dazu gehört mehr und zwar der Glaube an die eigene Stärke und der Glaube, dass der Erfolg möglich ist. Hannah Arendt schreibt in ihrem wunderbar schlauen Buch Macht und Gewalt: »Überhaupt ist Empörung keineswegs eine automatische Reaktion auf Not und Leiden; niemand reagiert mit Wut auf eine Krankheit, der die Medizin machtlos gegen­übersteht, oder auf ein Erdbeben oder auf an sich unerträgliche gesellschaftliche Zustände, solange sie unab­änder­lich scheinen. Nur wenn der begründete Verdacht besteht, daß Bedingungen geändert werden könnten und dennoch nichts geschieht, stellt sich Wut ein.« (Arendt 1993, S. 64) »Stadt selber machen« kann eine Forderung bzw. eine Selbstermächtigung ebenso wie eine Notwendigkeit sein. Eine Forderung in einer Stadt, die bis zum letzten Ziegel reguliert ist und ihren Bewohnern und Bewohnerinnen keinerlei Möglich­keit lässt, ihren Lebensraum selber oder zumindest mitzuge­stalten, und eine Notwendigkeit in einer Stadt, die nicht die geringste Infrastruktur und schon gar keinen sozialen Wohnbau zur Verfügung stellt. Was bedeutet es, wenn die Forderung nach »Stadt selber machen« just zu jenem Zeitpunkt an Beliebtheit gewinnt, an dem der Staat sich von seinen sozialen Aufgaben immer stärker zurückzieht, sie auslagert oder vernachlässigt und zivilgesellschaftliches Engagement einfordert (siehe dazu das dérive Schwerpunktheft zu Gouvernementalität, dérive 31). Trägt man unabsichtlich dazu bei ein System (Neoliberalismus) zu unterstützen, dass man eigentlich abzulehnen glaubt?

Die Berliner Politikwissenschaftlerin Margot Mayer hat sich mit der ideologischen Nähe von »progressive movements« und (Neo-)Liberalismus eingehend beschäftigt und sieht »several affinities between neoliberal ideas and the claims of 1960s movements besides the emphasis on freedom and spontaneity«, nämlich z. B. »strong overlaps in the appreciation for autonomy, self-determination and self-management« sowie »an explicit anti-statism«. Beide sähen in einer zu starken staatlichen Intervention eine Einschränkung von persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten, Eigenverantwortung und -initiative. Der Unterschied sei, dass Neoliberale anstatt staatlicher (Über-)Regulierung den Markt, die progressive movements jedoch alternative Netzwerke bevorzugen. Als Folge dieser Ablehnung sieht Mayer die Gefahr von »self-exploitation and precarious work conditions«. Zusammenfassend meint sie: »This liberal current within the alternative milieu, which presents its creative while precarious existence as rebellious and innovative, dovetails nicely with the neoliberal activation of all human creativity into pervasive competition and contributes, if inadvertently, to the deterioration of labour conditions and social security more broadly.« Bleibt die Frage, ob das zwangs­läufig so ist oder ob es doch ein Möglichkeit gibt best of both worlds zu haben oder überspitzt gesagt, ob man die Garantie nicht zu verhungern doch mit der Gefahr erkaufen muss, vor Langeweile zu sterben wie der Situationist Raoul Vaneigem einst befürchtete.

Eine Bestätigung für Mayers These liefert Simone Beate Borgstede in einem Text über die in den 1980er Jahren besetzten Häuser der Hamburger Hafenstraße. Borgstede, selbst ursprünglich Besetzerin und jetzt legale Bewohnerin, schreibt: »Andere Aspekte des ›Hafenstraßen-Diskurses‹ wie der des ›Empowerments‹ durch die gegenseitige Hilfe, der auf mehr Autonomie von Sozialhilfe im Sinne von mehr Würde und Kreativität abzielte, trafen sich allerdings mit der liberalen und konservativen Forderung nach ›weniger Staat‹« (Borgstede 2010, S. 857) Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die große Begeisterung, die vor ein paar Jahren vor allem in Architekt­Innen­kreisen informellen Siedlungen entgegengebracht wurde. Das Staunen über die innovativen Lösungen sowie die kreative Wiederverwertung von Reststoffen und Müll ließen die kargen Lebensbedingungen und die Vorzüge einer Toilette mit Wasserspülung oft in Vergessenheit geraten. Eine dringend notwendige Kritik dieser Tendenzen hat Alexander Jachnow in einem Aufsatz für den in diesem Zusammenhang wichtigen Band »Learning From *« (Metrozones) verfasst. Der Titel des Artikels: »Die Attraktivität des informellen, der große Einfluss der Zivilgesellschaft und andere Fehleinschätzungen«. Er weist z.B. auf die mafiösen Strukturen und den starken Einfluss politischer Parteien auf informelle Siedlungen hin (er bezieht sich hier auf Mexiko City), der dem Blick von außen meist entgeht. Stadt selber machen hat hier oft auch zur Folge, dass billige, gefährliche Grundstücke extrem dicht bebaut werden, wohingegen zur Bebauung ausgewiesene (teure) Baugründe nur locker bebaut würden.

Seine Kritik setzt bei den niedrigen Löhnen der Menschen und »dem Preis des Bodens, der eine scheinbare absolute Größe darstellt« (S. 82) an. »Resümierend ist schließlich festzustellen, dass die Kreativität und die Möglichkeiten der Selbstentfaltung, die den Bewohnern gern nachgesagt wird, stark eingeschränkt bleiben.« (a. a. O.)

Wessen Recht auf Stadt

Bei aller Begeisterung über urbane Initiativen wird auch häufig übersehen, dass es nicht nur diejenigen gibt, die gerne mit dem Rad durch die Stadt fahren, sich für einen wirklich für alle zugänglichen öffentlichen Raum und eine offene Stadt sowie für ein lebendiges, vielfältiges kulturelles Leben einsetzen und dafür sind, dass Leerstand genutzt werden kann. Da sind auch diejenigen, die sich hinter ihren Thujenhecken verschanzen und dagegen sind, dass vor ihrem Haus ein Gehsteig errichtet wird, weil der könnte ja auch genutzt werden und die etwa im zehnten Bezirk in Wien regelmäßig sämtliche Radabstellanlagen zerstören, weil die Straßen auf immer und ewig dem Auto gehören sollen. Stadt selber machen zu fordern und dafür einzutreten ist schön und gut, gleichzeitig sollte man sich aber auch überlegen, ob man bereit ist die dafür notwendigen Debatten auszutragen und den langen Atem mitzubringen, der dafür Voraussetzung ist. Ebenso wie es notwendig ist, die Fallstricke rechtzeitig zu erkennen und den Staat nicht aus seinen sozialen Verpflichtungen zu entlassen sowie politische Forderungen zu stellen.

Der Schwerpunkt

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe setzt nach dieser Einleitung mit einem Artikel von Nicole Vrenegorfort, der eine Skizze jener Stadt zeichnet, auf die viele StadtaktivistInnen mit Anerkennung blicken: Hamburg. Vrenegor liefert keine chronologische Aufzählung der Ereignisse der letzten Jahre, sondern bewegt sich Entlang einer imaginären Linie – das ist auch der Titel ihres Artikels – mit einem Bus der Linie 3 durch Hamburg. Sie schreibt über eine Stadt im Ausverkauf und die Kampagnen und Kämpfe dagegen ebenso wie über die Bewohner und Bewohnerinnen derjenigen Stadtteile, für die sich die städtische Verwaltung kaum interessiert und die sie meist links liegen lässt.

Konkret heißt das, dass deren Lebensqualität viel weniger Aufmerksamkeit und Budget zuteil wird, als denjenigen Landmarks und Bevölkerungsschichten, die für eine Stadt im Städtewettbewerb offenbar notwendig sind. Wer sich genauer über die Ereignisse im Rahmen der Recht-auf-Stadt-Bewegung informieren will, findet im Internet zahlreiche Seiten (z.B. www.rechtaufstadt.net).

Die Stadt in der Revolte hieß 2010 das Schwerpunkt­thema einer Ausgabe von Das Argument, für die Ellen Bareis redaktionell mitverantwortlich war. Mittlerweile ist viel passiert: Stichworte Arabischer Frühling und Occupy. Wir haben Ellen Bareis gebeten unter Berücksichtigung der jüngsten Entwicklungen einen Blick auf die (Theorie-)Geschichte urbaner sozialer Bewegungen zu werfen. Eine Grundthese dabei ist, dass mit den neoliberalen Doktrinen der 1980er Jahre ein neuer Zyklus im Prozess der Urbanisierung begann, der sich insbesondere in den Ländern des Südens verheerend auswirkte, wo die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank die Nationalstaaten zu Instrumenten der Privatisierungsdynamik werden ließen.

Der dritte Beitrag ist ein Interview mit Juan Haro, einem Vertreter des Movement for Justice in El Barrio. Das Movement ist 2004 aus dem Kampf um Wohnhäuser in East Harlem entstanden. Der Hausbesitzer wollte die Mieter und MieterInnen, vorrangig EinwanderInnen aus Mexiko, vertreiben, um mehr Profit aus seinen Häusern zu holen. Dieser erste Kampf der BewohnerInnen, den sie ebenso eindrucksvoll gewannen wie denjenigen gegen den darauf­folgenden Eigentümer, ist ein beeindruckendes Beispiel für eine urbane soziale Bewegung. 2006 wurde die Initiative von der New Yorker Village Voice zum Best Power to the People Movement gewählt.

Im vierten Artikel zum Schwerpunkt Stadt selber machen macht sich Elke Krasny auf die erfolgreiche Suche nach Zusammenhängen zwischen der Produktion des Raums und der Produktion der Sprache. Konkret forscht Krasny nach den »Beziehungen, die zwischen dem Kolonialen und dem Kulturellen in der europäischen Ideengeschichte und dem Raum der realen ökonomischen und sozialen Verhältnisse« zu finden sind.

Zusätzlich zu dieser Ausgabe von dérive haben wir gemeinsam mit KuKuMA und dem Rechtsinfokollektiv eine Rechtefibel herausgebracht, die über Rechtsfragen in Zusammenhang mit der Nutzung des öffentlichen Raums informiert. Einen Einblick in diese Thematik gibt Angelika Adensamer auch im Magazinteil dieser Ausgabe. Abschließend bleibt zu hoffen, dass unser Beitrag zu Stadt selber machen hilft, Diskussionen anzuregen und zu fördern und die Idee weiterzutragen, damit es nicht bei einem Strohfeuer bleibt.

Anmerkung:
[01] Der Prozessverlauf ist im Inter­net ausführlich doku­mentiert und kann auf der Website www.parkfiction. org nachgelesen werden. Des Weiteren gibt es den Film »Park Fiction — die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Strasse gehen« von Margit Czenki.
[02] Mehr dazu im Artikel von Nicole Vrenegor auf Seite 12.

Literaturverzeichnis:
Arendt, Hannah (1993) [1970]: Macht und Gewalt. München/Zürich: Pieper.
Becker, Joachim et al (Hg.)(2003): Learning From*. Reihe Metrozones, Band 2. Berlin: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst.
Borgstede, Simone Beate (2010): Der Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen. St. Pauli Hafenstraße, 1981 bis 1987. In: Das Argument, Heft 289 (6/2010).
Deleuze, Gilles & Guattari, Félix (1977): Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie 1. Suhrkamp. Frankfurt 1977, S. 150.
Kamleithner, Christa (2008): Gouvernementalität. Schwerpunkt in: dérive — Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 31.
Mayer, Margit (2010): Neoliberal Urbanization and the Politics of Contestation. In: Sohn, Heidi, Robles-Duran, Miguel & Kaminer, Tahl (Hg.): Urban Asymmetries. Studies in Uneven Urban Development. Rotterdam: 010 Publishers.
Schäfer, Christoph (2007): Unter den Palmen — der Schnee. Verfügbar unter: http://www.saloon-la-realidad.com/texte/unterdenpalmenderschnee.html (Stand 23.8.2012).
Vrenegor, Nicole (2001): Die Wünsche verlassen die Wohnung. Interview mit Christoph Schäfer. In: analyse & kritik — Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 449, 12.4.2001, Verfügbar unter: http://wiki.rechtaufstadt.net/index.php/Interview:_Park_Fiction (Stand 23.8.2012).

dérive, Mi., 2012.12.05



verknüpfte Zeitschriften
dérive 49 Stadt selber machen

20. Juli 2011Christoph Laimer
dérive

Urban Nightscapes - Die Eroberung der Nacht

Nachtleben und Urbanisierung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das Entstehen der modernen Großstädte in der Mitte des 19. Jahrhunderts und die...

Nachtleben und Urbanisierung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das Entstehen der modernen Großstädte in der Mitte des 19. Jahrhunderts und die...

Nachtleben und Urbanisierung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das Entstehen der modernen Großstädte in der Mitte des 19. Jahrhunderts und die Ausweitung des Lebens immer breiterer Bevölkerungsschichten in die Nacht fielen nicht zufällig in denselben Zeitabschnitt, sondern waren aufs Engste miteinander verknüpft. Es scheint daher nur logisch, dass KritikerInnen des Nachtlebens meist auch KritikerInnen der (Groß-)Städte waren. Heute boomt das Leben in vielen Städten rund um die Uhr, die 24-Stunden-Stadt ist oftmals Realität, und wo sie es noch nicht ist, schreitet die Entwicklung eilig voran. Damit einher geht allerdings auch eine immer stärkere Kommerzialisierung und Regulierung. Wie ein fremdes Territorium wird die Nacht Stück für Stück erobert: Internationale Konzerne wollen am urban nightlife verdienen und überziehen die global cities mit uniformen Unterhaltungsangeboten. Nichtkommerzielle Veranstalter werden zusehends aus dem Markt gedrängt. Unerwünschte Personen werden ausgesperrt, zahlungskräftige TouristInnen umworben, die Überwachung der nächtlichen Stadt wird immer dichter. Konflikte zwischen um Nachtruhe kämpfenden AnrainerInnen und vergnügten NachtschwärmerInnen sind ebenso ein Aspekt wie Viertel und Quartiere, die neue Arbeitsplätze und Einnahmemöglichkeiten durch die Ausdehnung des Nachtlebens erhoffen.

Bis in die 1830er/40er-Jahre existierte kein nennenswertes Nachtleben: Mit Einbruch der Dunkelheit schritten Nachtwächter ihre Runden ab und machten durch akustische Signale auf die beginnende Nachtruhe aufmerksam. Für eine völlige Kontrolle über die Stadt und das Leben in ihr war es für die Herrschenden notwendig, während der Nacht keine Bewegungsfreiheit auf den Straßen zu ermöglichen. Der Bürger, der die Nacht zu Hause in seinem Bette schlafend verbringt, galt als Norm. Die Nacht außerhalb der eigenen vier Wände war mit Unsicherheit, Gefahr für Leib und Leben sowie Kriminalität verknüpft. Der redliche Bürger tat also gut daran, zu seiner eigenen Sicherheit sein Heim abzusperren und damit sich und seine Familie zu schützen. (Schlör 1991, S. 38)

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begann diese klare Trennung jedoch langsam, sich aufzulösen. Die Grenze zwischen Tag und Nacht bekam erste Risse. Die Gründe dafür waren einerseits versorgungstechnische und anderer-seits vergnügungssüchtige. Die Städte nahmen mit der Industrialisierung stark an Bevölkerung zu, und die Versorgung der Bewohner und Bewohnerinnen mit Lebensmitteln wurde ein logistisch immer größerer Aufwand. Die Märkte der Stadt wuchsen und wurden zu sehr früher Stunde beliefert. Rund um die Märkte herrschte in den späten Nacht- und den frühen Morgenstunden daher ein reges Treiben. Bauern und Bäuerinnen lieferten ihre Lebensmittel, Gelegenheitsarbeiter und -arbeiterinnen boten ihre Arbeitskraft an, in der Umgebung entstanden Lokale, die für die frühe Kundschaft öffneten.

War das Feiern großer, rauschender Feste lange ein Vergnügen des Adels gewesen, mehrten sich mit dem Aufstieg des Bürgertums und seiner zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung zusätzlich Anzahl und Orte für nächtliche Festivitäten. Dabei nahm das Bürgertum auch Anleihen bei Vergnügungsformen unterer sozialer Schichten. Joachim Schlör weist in seinem äußerst lesenswerten Buch Nachts in der großen Stadt darauf hin, dass sich in Paris ganz in der Nähe der Markthallen das Palais Marchand befand, »das als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens geschildert« wurde. Die räumliche Nähe der beiden Institutionen ließ mit der Zeit Verbindungslinien entstehen, die vermutlich auch durch Prostitution befördert wurden. (Schlör 1991, S. 39f.)

In den folgenden Jahrzehnten dehnte sich das Nachtleben immer weiter aus, und die nächtliche Unterhaltung wurde bald zu einem Markenzeichen von Städten wie Paris und Berlin. Diese Ausweitung des Lebens in die Nacht hatte auch zur Folge, dass immer mehr Menschen in der Nacht arbeiteten. Das betraf Dienstleistungsberufe, aber auch die Bereiche Verkehr, Energieversorgung und Kommunikation. Schichtarbeit verbreitete sich und erfasste immer mehr Arbeitsfelder. Begleitet wurde diese Eroberung der Nacht von heftigen Debatten. Obrigkeit und Polizei fürchteten den zunehmenden Kontrollverlust und wollten die geänderten Verhältnisse nicht akzeptieren: Die Gefahren der Nacht und das Sicherheitsproblem wurden stark in den Vordergrund gerückt und oftmals übertrieben dargestellt. Dagegen hielt eine Vielzahl von StadtbewohnerInnen, die sich nicht länger ihren Lebensstil vorschreiben lassen wollten und die positiven Seiten des städtischen (Nacht-)Lebens schätzen lernten. Der Versuch, Ruhe und Ordnung für die Nacht aufrechtzuerhalten, wurde als unmodern und immer mehr auch als lächerlich empfunden.

Das polizeiliche Idealbild einer Stadtnacht, in der ab zehn Uhr alle schlafen, war nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Debatten um Sicherheit und Kriminalität in der Nacht begleiten uns jedoch bis heute und sorgen nach wie vor für Schlagzeilen, obwohl das Problem in vielen Städten im Vergleich zu anderen eher gering ist.

Interessant im Zusammenhang mit der Diskussion um das Nachtleben ist der Umstand, dass die schärfsten KritikerInnen der nächtlichen Vergnügungen zumeist diejenigen waren, die sich generell kritisch über das Stadtleben bzw. die Großstädte äußerten.

Umgekehrt sahen die NachtschwärmerInnen das nächtliche Unterhaltungsangebot als essentiellen Teil ihres urbanen Lebensgefühls: Das Nachtleben entwickelte sich zu einem typischen Ausdruck des Stadtlebens an sich. Im Mittelpunkt der Kritik am Nachtleben stand die Sittenlosigkeit, also das Bild eines »Sündenpfuhls Stadt«, der besonders für junge, in ihren Moralvorstellungen noch nicht gefestigte Menschen eine Gefahr bedeutet. Dieses Bild der (nächtlichen) Stadt als Verführerin tauchte auch im Nationalsozialismus, oft verknüpft mit Antisemitismus, wieder auf. Antisemitismus und Antiurbanismus waren im Dritten Reich Aspekte eines zusammengehörenden Argumentationsmusters.

Die 24-Stunden-Stadt

Bis heute schreitet die Eroberung der Nacht voran, und die 24-Stunden-Stadt ist oftmals bereits Realität. Dass die Wiener U-Bahn bis Herbst 2010 auch an den Wochenenden ihren Betrieb vor 1 Uhr einstellte, wirkte fast provinziell und unpassend für eine moderne (Groß-)Stadt. Ein verheerendes Image für den internationalen Städtewettbewerb. In Wien wurde über die Einführung des 24-Stunden-Betriebs der U-Bahnen an Wochenenden und vor Feiertagen eine Volksbefragung durchgeführt, bei der sich 55 Prozent dafür aussprachen. Die Abhaltung der Volksbefragung zeigt das Bewusstsein der Stadtverwaltung für jenen Teil der Bevölkerung, der nicht in einer 24-Stunden-Stadt leben will. Es war also ein geschickter Schachzug, noch dazu knapp vor Gemeinderatswahlen, sich diese nicht unumstrittene, aber für das internationale Image der Stadt wichtige Maßnahme von einer Umfrage absegnen zu lassen. Knapp ein Jahr später führt Wien eine Debatte um die Ausweitung der Sperrstundenregelungen für Clubs von 4 Uhr auf 6 Uhr. Auch das keine leichte Debatte in einer Stadt, deren Bevölkerung ihre Ruhe schätzt und verteidigt. Ähnliche Probleme kennt aber nicht nur Wien: Auch die Partymetropole Barcelona, die auf ihrer offiziellen Website mit dem Satz »Barcelona is full of places to party and there is somewhere for everyone« wirbt, lancierte jüngst eine Kampagne mit dem Titel »A Barcelona de nit, abaixa el Volum« (»Reduziere die Lautstärke im Barcelona der Nacht«). Die Gratwanderung zwischen internationalem Hipnessfaktor und Lebensqualität der BewohnerInnen ist für viele Städte schwer, noch dazu wenn ihre BewohnerInnen unter Lebensqualität oft gänzlich Unterschiedliches verstehen. In den Niederlanden gibt es in etlichen Städten seit einigen Jahren so genannte Nachtburgemeester (Nachtbügermeister), die sich um die speziellen Anliegen der NachtschwärmerInnen kümmern. Die Internationalisierung des Nachtlebens und die Zunahme seiner ökonomischen Bedeutung bedeutet in Städten wie Amsterdam nämlich zunehmend auch, dass Ausgehen immer teuerer und schicker wird. Die Anzahl der Clubs, die für weniger wohlhabende und junge Ausgehwillige leistbar sind und die ihre Türen nicht nur den Schönen und Reichen öffnen, nimmt ab. (Mehr über die urban nightscapes der Niederlande im Artikel von Ilse van Limpt u. a. ab Seite 18 und über die Konflikte rund um das Nachtleben im Hamburger Schanzenviertel bzw. New Yorks Williamsburg im Artikel von Anne Vogelpohl ab Seite 13.)

Kommerzialisierung des Nachtlebens

Die Kommerzialisierung und Globalisierung des Nachtlebens schreitet also unaufhaltsam voran. Viele Clubs werden von Streetwear-, Getränke- oder Telekom-Konzernen gesponsert, nicht zuletzt um sich Abend für Abend internationale DJs leisten zu können. Der dem Kapitalismus eigene Expansionsdrang, der jeden nicht verwerteten Quadratmeter Boden aufspürt und jegliche kulturelle Äußerung auf ihre Markttauglichkeit testet, hat das Nachtleben immer stärker im Griff. Die Bodenschätze der Nacht werden im Nightlife gesucht. Jugend-, Alternativ- und Subkulturen sind dabei besonders attraktive Objekte. Sie gelten als authentisch, entsprechen dem aktuellen Zeitgeist und geben somit einen idealen Hintergrund für Marketing-Aktivitäten globaler MarkenproduzentInnen ab. Das hat übrigens auch Wien Tourismus erkannt. Auf ihrer Website werden unter dem Menüpunkt Nightlife fast ausschließlich Lokale und Clubs beworben, die man zumindest vor einigen Jahren noch dem Alternativsektor zugeordnet hätte, wie Flex, Fluc, Chelsea, Rhiz und einige mehr.

Auffallend sind die Parallelen, die es im Hinblick auf Ökonomisierung zwischen Clubs, Bands, DJs auf der einen und Sport auf der anderen Seite gibt. MusikerInnen und DJs werden von Unternehmen unter Vertrag genommen wie Fußballer oder Tennisspielerinnen. Ein aktuelles Ford-Modell wird beispielsweise mit einem Song des österreichischen Alternative-Shootingstars Soap & Skin beworben.

Namen von Festivals enthalten Sponsorennamen ähnlich wie Fußballligen (Volksbank & The Gap Festivaltour, Eristoff Tracks – Urban Art Forms Festival). Festivalgelände werden ebenso umbenannt wie Fußballstadien (Ottakringer Arena auf dem Festivalgelände Wiesen). So ist es nicht weiter verwunderlich, dass ein Unternehmen, das für sein Marketing berühmt ist, hier eine Vorreiterrolle spielt: Red Bull. Red Bull lässt nicht einfach sein Logo auf Clubflyern abdrucken, sondern ist längst selbst Akteur mit der seit Jahren bestehenden Red Bull Music Academy – »Exploring music behind the beat since 1998«. Die Red Bull Music Academy bietet Workshops für DJs an, veranstaltet Vorträge und Partys und geht Partnerschaften mit ins Konzept passenden Clubs wie beispielsweise der Pratersauna in Wien ein. Bei Festivals wie etwa dem deutschen Melt taucht Red Bull nicht wie andere Unternehmen in der Liste der SponsorInnen auf, sondern zeichnet selbst für einen Teil des Programms verantwortlich. Man kann generell davon ausgehen, dass Red Bull nicht nur seinen Energydrink, der von Veranstaltern übrigens exklusiv bezogen werden muss, sondern immer öfter auch gleich die DJs liefert und somit als Teil der Szene und nicht als Sponsor auftritt und wahrgenommen wird. Auch das eine Parallele zum Sport, wo Red Bull neben dem SportlerInnen-Sponsoring auch Fußballclubs und Formel-1-Teams besitzt und selbst managt.

Im Bereich Mainstream-Großevents ist ebenso wie in anderen Wirtschaftszweigen ein zunehmender Konzentrationsprozess zu beobachten. Es gibt globale Player wie die US-amerikanische AEG (Anschutz Entertainment Group), die ebenfalls sowohl Sport als auch Nightlife (AEG Live) bedient. Zu AEG gehören große Venues wie die O2 Worlds in Berlin, London (ehemals Millennium Dome) und Hamburg, gleichzeitig stellt AEG auch einen der weltgrößten Konzertveranstalter dar. AEG ist Partner der deutschen Eventim-Gruppe, die wiederum nach eigenen Angaben europäischer Marktführerin im Ticketing ist und ebenso Konzerte, Festivals etc. veranstaltet. Der weltweit größte Konzertveranstalter heißt Live Nation (USA), der sich vor nicht allzu langer Zeit den größten Kartenverkäufer und Künstlermanager Ticketmaster einverleibt hat.

Red Bull wiederum ist offizieller »Energy Drink Partner« von Live Nation und auch mit AEG immer wieder geschäftlich verknüpft. Gerüchten zufolge will Red Bull aktuell von AEG die Hamburger Eishockeymannschaft Freezers kaufen, die Red Bull Arena in New Jersey war früher im Besitz von AEG, und der ehemalige AEG-Europa-Chef Detlef Kornett arbeitet jetzt für Red Bull. Man kennt sich also.

Auch bei den Besitzern von Großclubs ist ein Konzentrationsprozess zu beobachten. Wenige Unternehmen betreiben immer mehr Lokale, und das grenzüberschreitend. Ein gutes Beispiel ist MPC (Music-Park-Concepts) aus Deutschland, angeblich Europas größter Betreiber von Großraumdiskotheken. Im deutschen Sprachraum zählt MPC über 30 »Erlebnisgastronomieobjekte«, unter anderem in Wien, Zürich, Basel, Karlsruhe und Dortmund. MPC rechnet schlappe 90 Prozent der jungen Nachtschwärmer zu seinem Zielpublikum, die restlichen zehn Prozent sind Szenepublikum, das Lokale eher nach der Qualität der Musik als nach Events auswählt und für MPC laut eigener Aussage deswegen nicht zu erreichen ist. MPC setzt auch im Hinblick auf Effizienz und Kontrolle neue Maßstäbe: In ihrem Venue Praterdome, Wiens größter Discothek, werden alle BesucherInnen am Eingang fotografiert und bekommen einen Ausweis, auf den alle konsumierten Getränke gebucht werden. Bezahlt wird beim Verlassen des Lokals. Werbung wird für den Praterdome vorrangig über Aktionen und Getränkepreise gemacht. Um die Sache rund zu machen, betätigt sich MPC auch als Booking-Agentur für DJs und hält enge Kontakte zu Radiosendern – in Wien beispielsweise zu Radio Energy, das die Praterdome-Veranstaltungen im Powerplay bewirbt.

Einen unverzichtbaren Bestandteil bildet das Nachtleben auch für den Tourismus. Neben bekannten Angeboten wie dem Besuch von Opern, Theatern, Musicals, Konzerten und Clubs entwickelten sich – nicht zuletzt dank der Marketingstrategien von Billigfliegern – neue Angebote, auf die viele Städte jedoch liebend gerne verzichten würden. Vor allem osteuropäische Ziele wie Bratislava, Riga oder Budapest, aber auch westeuropäische Städte wie Amsterdam sind attraktive Destinationen für Unternehmen wie beispielsweise Pissup Tours, die sich auf die Veranstaltung von Junggesellenpartys und ähnlich alkoholvernichtungszentrierten Feierlichkeiten spezialisiert haben. Unter dem Motto »Beer, Babes, Bullets« (der deutschsprachige Slogan lautet »Pistolen, Pils, Puppen«) werden jährlich zehntausende Männer, speziell aus Großbritannien, eingeflogen, um sich volllaufen zu lassen, Schießübungen zu veranstalten und ihren triebgesteuerten Machofantasien hemmungslos nachgeben zu können.

Die Kommerzialisierung des Nachtlebens ist weit fortgeschritten und wird wohl auch nicht so leicht zu stoppen sein. Abseits all dieser Entwicklungen gibt es aber immer wieder erfolgreiche Kämpfe um selbstbestimmte, weitgehend nicht-kommerzielle Räume, die andere Perspektiven eröffnen. Der Stadtpolitik stünde es im eigenen Interesse gut an, sich neben dem Ankurbeln des Städtewettbewerbs und des Städtetourismus sowie der Rücksichtnahme auf Ruhebedürftige auch für den Raumbedarf für Veranstaltungen nicht-gewinnorientierter Gruppen und Initiativen aus Kunst, Kultur, Politik und Wissenschaft einzusetzen. Geeignete Räume dafür gibt es in jeder Stadt. Alle Bewohner und Bewohnerinnen einer Stadt sollen die Chance haben, entsprechend ihren Interessen sowie sozialen Bedürfnissen und unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten eine Vielfalt an Angeboten, die (nächtliche) Freizeit zu verbringen, zur Auswahl zu haben. Es kann nicht sein, dass die Kommerzialisierung sämtlicher Lebensbereiche und die zunehmende Konzentration auf die Außenwirkung der Städte eine Einschränkung des sozialen Lebens und eine Verarmung der Lebensqualität für diejenigen bedeutet, die mit den uniformen Event-Angeboten nichts anfangen können oder nicht über ausreichende Mittel verfügen, um sich das Nachtleben leisten zu können.


Literaturverzeichnis:

Chatterton, Paul & Hollands, Robert (2003):
Urban Nightscapes. Youth Cultures, Pleasure Spaces and Corporate Power. London/New York: Routledge.

Gepp, Joseph (2008):
Das Prinzip Disco. Hier wird gesoffen. Hier wird geprotzt. Hier fischt H. C. Strache nach jungen Wählern. Ein Abend in der Großraumdisco. In: Falter, 44/2008.

Schlör, Joachim (1994):
Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840 bis 1930. München: dtv sachbuch.

dérive, Mi., 2011.07.20



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dérive 44 Urban Nightscapes

02. Februar 2011Christoph Laimer
dérive

Ist das Leben planbar?

Nicht mehr genutzte Industrie- und Gewerbegebiete, ehemalige Bahnhofsareale und ganz allgemein Brachen, vor allem dann, wenn sie zentrumsnah liegen, stehen...

Nicht mehr genutzte Industrie- und Gewerbegebiete, ehemalige Bahnhofsareale und ganz allgemein Brachen, vor allem dann, wenn sie zentrumsnah liegen, stehen...

Nicht mehr genutzte Industrie- und Gewerbegebiete, ehemalige Bahnhofsareale und ganz allgemein Brachen, vor allem dann, wenn sie zentrumsnah liegen, stehen in wachsenden Städten unter enormen Verwertungsdruck. In Wien werden derzeit zahlreiche solcher Flächen vor allem mit Wohnungen bebaut. Die größten Diskussionen ruft aber keine dieser zentrumsnahen Flächen hervor (Nord- bzw. Südbahnhofgelände, Aspanggründe, etc.) sondern das ehemalige Flugfeld Aspern, das im Osten Wiens liegt. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind von dort aus in Zukunft sowohl der im Zentrum Wiens liegende Karlsplatz als auch Bratislava in 30 Minuten erreichbar, so die Wien 3420 Aspern Development AG in ihren Werbebroschüren. Ganz anders als beim Flugfeld Tempelhof in Berlin – siehe den Artikel von Nikolai Roskamm in diesem Heft – ist die Entwicklung Asperns bis 2028 durchgeplant. 20.000 Menschen sollen zu diesem Zeitpunkt dort leben und arbeiten.

Die Wiener Stadtentwicklung musste sich in den letzten Jahrzehnten oft vorwerfen lassen, zu wenig geplant zu haben bzw. die Planung Investorendruck geopfert zu haben. Die Kritik an mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schlecht erreichbaren Wohnsiedlungen, die die BewohnerInnen praktisch dazu zwingen, das Auto zu verwenden und U-Bahnlinien die haarscharf an Bahnhöfen vorbeigeplant werden, kennt in Wien jeder. Bei der Entwicklung von Aspern hat man Vorwürfe dieser Art ernst genommen, was zur Folge hatte, dass sich die Baustelle für die U2 Station bereits breit machte, als von anderen Bautätigkeiten noch keine Spur war. Aber bei Aspern will man offenbar nichts dem Zufall überlassen und hat nicht nur Infrastrukturmaßnahmen rechtzeitig mitgedacht sondern auch genaue Vorstellung vom »Workstyle Lifestyle« der künftigen BewohnerInnen. Aspern wird »das ganze Leben« vereinen wie die Marketingabteilung verspricht. Wie umfangreich die Planungen, auch was den öffentlichen Raum betrifft, sind, zeigt die Website www.seestadt-aspern.at nachdrücklich.

An dieser Stelle hakt nun die Künst­lerin Barbara Holub ein. Sie sieht den Fehler nicht darin, dass etwa zuwenig geplant wird, sie kritisiert die Vorstellungen von einer Zukunft, die, durchorganisiert und vorbestimmt, keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr offen lässt. Ein Anstoß für ihr jüngst erschienenes Buch found, set, appropriated waren mehrere sogenannter Stadtrandspaziergänge, die sie 2010 am Flugfeld Aspern, der künftigen Seestadt organisiert hat. Der Stadtrand steht hier symbolisch für das wenig Beachtete, das nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und gerade deswegen mehr Offenheit bietet. Das Zentrum muss funktionieren, es darf keine Überraschungen geben, alles muss geplant werden. Holub plädiert dafür, diese Randlage als Chance zu sehen, die Neugierde, Eigeninitiative, Lebendigkeit zulässt und ermutigt. Hier ist nicht Verwertbarkeit das oberste Ziel, hier dürfen, ja sollen Fehler passieren. Überraschungen werden begrüßt, weil sie Unvorhergesehenes mit sich bringen und nicht abgelehnt, weil sie Risiken bergen. »Was bedeutungslos erscheint, wird neue Bedeutung erlangen.«

Aus diesen Gedanken entwickeln sich gesellschaftspolitische Überlegungen grundsätzlicher Art, die auch auf die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft eingehen. Holub entwirft die Fiktion einer zukünftigen Gesellschaft, die sie Blue Frog Society nennt. Diese »arbeitet an einem Lebensraum, der heute noch unsichtbar für uns ist. An einem Gesellschaftsraum dem unabhängig von territorialem Denken eine neuen Form von gemeinschaftlichem Verständnis zu Grunde liegt, das den bisherigen Naturgesetzen im Sinne von survival of the fittest trotzt.« Holub versteht diesen visionären Entwurf als Kontrapunkt zum heute alles dominierenden Pragmatismus. Ihr Ansatz erinnert sicher nicht zufällig immer wieder an die Situationistische Internationale. Auf der dem Buch beigelegten CD, die ein in Kooperation mit dem Kunstradio von ORF/Ö1 produzieres Hörstück enthält, ist z.B. vom Schaffen von Situationen die Rede oder davon, poetische Momente im Alltag einzuführen.
Ein wichtiges Anliegen Holubs ist die Forderung KünstlerInnen bei Projekten, wie es die Seestadt Aspern eines ist, von Anfang an miteinzubinden und nicht erst zu einem Zeitpunkt, an dem es nur mehr um Reparatur gehen kann, wie das heute bei vielen Stadtteilprojekten der Fall ist. Sie fordert KünstlerInnen auf Verantwortung zu übernehmen und weiterzugeben.

Den Hauptteil des äußerst ansprechend gestalteten Buches nehmen Zeichnungen von Barbara Holub ein, die gelegentlich an Comics erinnern. Die Zeichnungen, die in den letzten Jahren entstanden sind und oft über mehrere Seiten reichen, zeigen urbane Alltagssituationen an weltweit ganz unterschiedlichen Plätzen.

Freizeitbeschäftigungen sind hier ebenso Thema, wie politische Demonstrationen oder Parallelwelten. Die Zeichnungen sind, Holubs Plädoyer für Offenheit und gegen die »Überdeterminiertheit des Plans« folgend, konsequenterweise meist nicht vollendet, ermöglichen also theoretisch, dass BetrachterInnen selbst zum Stift greifen und sie weiterzeichnen. Holub spricht deswegen auch von einem Malbuch.

Ob dieser Vorschlag aufgegriffen wird oder man doch lieber dem Hörstück lauscht und dabei durch die Zeichnungen blättert, sich mit den 10 Aspekten der Blue Frog Society beschäftigt, Ines Gebetsroithers Text über found, set, appropriated liest oder die Fotodokumentation der Stadtrandspaziergänge ansieht, bleibt den LeserInnen bzw. NutzerInnen des Buches überlassen. Lohnend ist es in jedem Fall.

dérive, Mi., 2011.02.02



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dérive 42 Sampler

28. Oktober 2009Christoph Laimer
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Keine Stadt ohne Einwanderung oder: die Normalität der Migration

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
Karl Valentin

Kein Tag vergeht ohne einen Beitrag in der Tagespresse, im Radio und Fernsehen zum Themenkomplex...

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
Karl Valentin

Kein Tag vergeht ohne einen Beitrag in der Tagespresse, im Radio und Fernsehen zum Themenkomplex...

Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
Karl Valentin

Kein Tag vergeht ohne einen Beitrag in der Tagespresse, im Radio und Fernsehen zum Themenkomplex Integration und Migration – in Österreich wird das Thema vorzugsweise unter dem Schlagwort „Ausländerthema“ oder „Ausländerproblem“ abgehandelt. Man könnte meinen, Zuwanderung nach Österreich gibt es erst seit fünf bis zehn Jahren, so aufgeregt wird die Diskussion geführt. Dass die FPÖ es seit fast 20 Jahren schafft, Wahlkampf für Wahlkampf „Ausländer“ zum Thema zu machen und die anderen Parteien eben solange unfähig sind darauf adäquat zu reagieren bzw. offenbar nicht in der Lage sind, eine eigenständige Politik zu verfolgen, die sich nicht ständig daran orientiert, was die FPÖ gerade macht, lässt einen nur mehr ratlos den Kopf schütteln.

Der allgemeinen Aufgeregtheit soll mit diesem dérive-Schwerpunkt ein wenig Gelassen­heit entgegengesetzt werden. Migration ist seit ewigen Zeiten eine der normalsten Sachen der Welt und Städte, die nicht in Bedeutungslosigkeit und Langeweile versinken wollen, sollten froh sein, ein Ziel für Zuwanderung abzugeben. Man stelle sich nur eine Stadt wie Wien ohne ZuwanderInnen vor: Hätte die Donaumetropole in den letzten 150 Jahren keine Einwanderung erfahren, wäre sie wohl nicht mehr als eine schrumpfende Kleinstadt bar jeder internationaler Bedeutung, deren BewohnerInnen auf zahlreiche „typische“ Leibspeisen, lieb gewonnene Ausdrücke und tourismusfördernde Gebäude ebenso verzichten wie sie sich mit einem bescheidenen Kultur-, Wissenschafts- und Geistesleben begnügen müssten. 20 bis 30 Prozent an im Ausland geborenen BewohnerInnen ist für zahlreiche Städte weltweit seit Jahrzehnten Normalität, auch Zahlen bis zu 50 Prozent sind keine Seltenheit mehr.

Neu an der Migration ist aber, dass sie ihr Gesicht verändert. Migrationsrouten waren lange Zeit relativ klar nachvollziehbar und übersichtlich – AlgerierInnen gingen nach Frankreich, Pakistani nach Großbritannien, TürkInnen nach Deutschland – die Liste ließe sich noch lange fortführen. Heute gibt es eine unglaubliche Vielzahl sich kreuzender Routen, die nicht mehr eindeutig historischen oder politischen Verbindungen zwischen altem und neuem Heimatland entsprechen. Auch die Kategorien und rechtlichen Status der MigrantInnen sowie die sozialen und politischen Implikationen haben sich vervielfacht. Steve Vertovec, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttin­gen, spricht in diesem Zusammenhang deshalb von einer „diversification of diversity“ (Vertovec, 2008). Für Zielländer und -städte ist es unabding­bar sich auf diese neuen Bedingungen einzustellen: „Social, political and economic success will be determined by how well societies adapt themselves to increasing complexity (not how they fight it).“ (Vertovec, 2008)

Migration ist ein Querschnittsthema und deswegen ist es höchst an der Zeit, wie zuletzt auch der Wiener Bürgermeister Häupl gefordert hat, ein Integrationsstaatssekretariat einzurichten. Die bisherige – und nach wie vor gültige – Ansiedelung der österreichischen Integrationspolitik im Innenministerium hat in den letzten Jahren nur dazu geführt, dass Integrations- und Asylpolitik in erster Linie mit den Themen Sicherheit und Kriminalität verknüpft worden ist. (Was im Übrigen nicht erst seit der konservativen Innenministerin Maria Fekter Faktum ist, auch zurzeit der SPÖ-Innenminister Löschnak und Schlögl in den 1990er Jahren stellte sich die Situation in Österreich ähnlich dar.) Es ist mehr als an der Zeit zu ignorieren, was Rechts-Außen-Parteien zu diesem Thema vermelden. Ohne eigenständige, moderne und offene Migrationspolitik ist keine annehmbare Lösung in Sicht. Denn egal wie man dazu steht: Migration ist eine alltägliche Realität und betrifft alle Aspekte der Stadtgesellschaft – von Bildung, Kultur, Wohnen, Sozial- und Gesundheitsthemen, bis zur politischen Teilhabe und dem Arbeitsmarkt – und wird künftige Generationen noch stärker prägen als sie es bisher schon getan hat.

Diese Normalität der Migration zeigt sich in zahlreichen Statistiken. Auch der in Öster­reichs Hauptstadt gern getätigte Hinweis, doch einen Blick ins Telefonbuch zu werfen, um daran erinnert zu werden, welch beträchtlicher Teil der WienerInnen osteuropäische Wurzeln hat, besitzt noch immer seine Berechtigung. Das Wien um 1900 ist noch heute regelmäßig Thema von Publikationen, Ausstellungen und wissenschaftlichen Forschungen und gilt als die große Zeit der Wissenschaften und Künste. Gerade in diesem historischen Zeitraum erlebte Wien eine ungeheure Zuwanderung, welche die EinwohnerInnenzahl zwischen 1870 und 1910 von 840.000 auf über 2 Mio. emporschnellen ließ, was die derzeit aktuellen Zuwanderungszahlen allesamt lächerlich erscheinen lässt. Dass damals für viele Menschen, die während dieser Zeit nach Wien kamen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen katastrophal waren und der Antisemitismus enorme Verbreitung fand, ist die bekannte Schattenseite. Dass Wien noch heute von den architektonischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen profitiert, bleibt jedoch unbestritten.[1]

35 Prozent der Wiener Betriebe sind aktuell im Besitz von UnternehmerInnen, die 72 unterschiedliche Staatsbürgerschaften besitzen, nur eine nicht, nämlich die österreichische. Die Eltern von rund 50 Prozent der Wiener ErstklasslerInnen haben keine österreichische Staatsbürgerschaft[2] bzw. nicht Deutsch als Muttersprache. WienerInnen mit Migrationshintergrund prägen also schon heute zu einem guten Teil das Leben der Stadt und werden das in Zukunft noch stärker tun. Völlig egal also, ob wir darüber glücklich sind oder nicht: Es wird für unser aller Zukunft das Schlaueste sein, den Umstand zur Kenntnis zu nehmen, zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen.

Um genau das zu tun, dürfen sich die regierenden PolitikerInnen ab sofort durchaus ein wenig anstrengen und endlich eine Politik gestalten, die sich nicht ständig an den jeweiligen Kampagnen von Stammtischweisheiten absondernden Rechts-Außen-Parteien wie der FPÖ orientiert. Diese haben nämlich nicht das geringste Interesse, eine Gesellschaft mitzugestalten, die allen BewohnerInnen der Stadt ein lebenswertes Umfeld bietet, individuelle Freiheiten sichert, ein berufliches Fortkommen und Bildung ermöglicht. Schließlich würden sie sich damit die eigenen politischen Pfründe abgraben und nur mehr als Kleinparteien am Rande des politischen Spektrums vor sich hin dümpeln. In Wien sind in letzter Zeit erste Ansätze in Richtung einer eigenständigen Migrationspolitik zu beobachten. Mitverantwortlich dafür ist Kenan Güngör, der etliche österreichische Städte, Organisationen und Bundesländer in Sachen Integrationspolitik berät und gemeinsam mit den jeweiligen Akteuren Leitbilder dafür entwickelt. Ein Interview mit Kenan Güngör findet sich als Abschluss dieses Schwerpunkts ab Seite 26.

Auch Erol Yildiz konstatiert in seinem Beitrag Von der Hegemonie zur Diversität die positiven Veränderungen der letzten Jahre, die sich in Deutschland beispielsweise an Staatsbürgerschaftsrecht und Zuwanderungsgesetz zeigen. Insgesamt beurteilt er die Fortschritte des Migrationsdiskurses jedoch weiterhin kritisch: Für Yildiz dominiert nach wir vor „das Bild eines ,nicht anpassungsfähigen‘ Migranten, der sich in seine ethnische Nische zurückzieht, seine ,Herkunftskultur‘ reproduziert, in der medialen und realen Parallelwelt lebt und zu Fundamentalismus und Gewalt neigt“ die Debatte. Er sieht eine große Differenz zwischen diesem nach wie vor hegemonialen Blick, der von außen auf die Migranten-Communities geworfen wird, und der unspektakulären Alltagspraxis und Lebenswirklichkeit migrantischer Gruppen. „Was aus der Außenperspektive als negativ und homogen präsentiert wird, erweist sich aus der Binnensicht als durchaus differenziert, mehrdimensional und hybrid.“

Einen weiteren Beitrag zum Schwerpunkt liefert Wolf-Dietrich Bukow. Auch Bukow sieht Normalität in Form einer „alltäglichen Routine im Umgang mit Diversität“, die vor allem dort zu finden ist, wo „Diversifizierung des Alltags aus welchen Gründen auch immer gelebt und oft schon aus pragmatischen Gründen zugelassen wird, in jedem Fall weit ,unterhalb‘ der politischen Debatten.“ Im Zentrum seines Textes steht die Frage, wie die europäische Stadt strukturell auf Mobilität reagiert. Dazu untersucht er „wie urbane Arrangements arbeiten bzw. wie Mobilität und die in diesem Zusammenhang zunehmende Diversität von der Stadt als einem lebenden System verarbeitet, nämlich ,strukturell akkommodiert‘ wird.“

Klaus Ronneberger und Vassilis Tsianos beginnen ihren Beitrag zum Schwerpunkt mit einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Migration, beginnend mit der Anwerbung der GastarbeiterInnen, die in Deutschland in den 1950er und in Österreich in den 1960er Jahren startete. Zentral in ihrem Beitrag Panische Räume sind allerdings die Fragen rund um die räumliche Segregation von MigrantInnen und Begriffe wie Ghetto und Parallelgesellschaft, die trotz ihrer zunehmenden Beliebtheit für die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum bestenfalls sehr ungenau oder überspitzt, und meist schlicht falsch sind. Ronneberger und Tsianos vermissen hier kritische Positionen in der deutschsprachigen Stadtforschung sowie eine ideologie- und diskurskritische Diskussion über Rassismus, wie sie in der anglo-amerikanischen Debatte anzutreffen ist. Dabei weisen die beiden darauf hin, dass „die Referenz auf Kultur die ideologische Konstruktion des Fremden dominiert und als naturalisierende Kategorie fungiert“.

Man muss an dieser Stelle vielleicht ein wenig weiter ausholen und neben der von Ronneberger und Tsianos erwähnten Problematik, die darauf hinaus läuft „die Ursache des Rassismus in seine Opfer zu verlegen“, auch über das Paradoxon des Multikulturalismus, wie es der französische Autor Pascal Bruckner in seinem Essay Fundamentalismus der Aufklärung oder Rassismus der Antirassisten? vor einigen Jahren in der Debatte um Ayaan Hirsi Ali formuliert hat, nachdenken: „Er (der Multikulturalismus, Anm. C.L.) gewährt allen Gemeinschaften die gleiche Behandlung, nicht aber den Menschen, aus denen sie sich bilden, denn er verweigert ihnen die Freiheit, sich von ihren eigenen Traditionen loszusagen. Stattdessen: Anerkennung der Gruppe, Unterdrückung des Individuums.

Bevorzugung der Tradition gegen den Willen all jener, die Bräuche und Familie hinter sich lassen, weil sie zum Beispiel die Liebe nach ihrer eigenen Vorstellung leben wollen.“ Bruckner spricht hier einen Aspekt an, der es verdienen würde, breiter und vor allem auch sachlicher diskutiert zu werden. Bisher findet diese Diskussion im deutschsprachigen Raum – und hier vor allem in Deutschland – meist sehr emotional statt, was zu verhärteten Standpunkten und Stillstand statt Entwicklung führt.

Menschen in erster Linie als Träger einer Kultur oder Religion zu sehen, und die – auf Seiten der Linken – daraus folgenden kulturrelativistischen Positionen, müssen einer Kritik unterzogen und zur Diskussion gestellt werden. Die Möglichkeit der freien Entfaltung der Persönlichkeit ohne Rücksicht auf Religion oder Kultur ist ein zu wichtiges Gut. Die leidige Kopftuchdebatte bildet hierbei nur ein, wenn auch bereits klassisches Beispiel: Von vielen Linken und Grünen wird das Recht ein Kopftuch zu tragen meist viel hartnäckiger verteidigt, als das Recht kein Kopftuch zu tragen. Da wir aber weit davon entfernt sind, dass muslimische Frauen dies­e Frage ohne äußeren Druck für sich selbst ent­scheiden können, würde es mehr Linken und Grünen gut anstehen, auch hier aktiv einen Nachdenkprozess zu beginnen.

Schließlich gehört es zu den Grundbedingungen einer offenen Stadtpolitik, allen BewohnerInnen gleiche Rechte zu garantieren, ihnen den gleichen Zugang zu öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und Universitäten zu ermöglichen und ihnen die Teilhabe am politischen Willensbildungs­prozess zu sichern. Finden alle diese Voraussetzungen vor und sind die BewohnerInnen somit auch BürgerInnen der Stadt, eröffnet dies erst die Freiheit der Entscheidung, welchen politischen, kulturellen oder wie auch immer gearteten Netzwerken und Communities jede/r einzelne von ihnen angehören will – oder eben nicht.


Anmerkungen:
[01] Ähnliche, sehr anschauliche Erfolgsgeschichten von Städten mit starker Zuwanderung bieten Beiträge in dem von Erol Yildiz, der in diesem Schwerpunkt mit einem Beitrag vertreten ist, mitherausgegebenen Band Ressource Migration.
[02] An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Erhalt der Staatsbürgerschaft in Österreich unglaublich lange Fristen und sonstige Hürden bereithält.

Literatur:
Vertovec, Steve (2008): New Complexities and Challenges of Diversity. Vortrag beim Internationalen Symposium Städte – Sprachen – Kulturen, Mannheim, 19. September 2008 (Verfügbar unter: http://www.hausderdeutschensprache.de, Stand 01.10.2009)
Bruckner, Pascal (2007): Fundamentalismus der Aufklärung oder Rassismus der Antirassisten? (Verfügbar unter: http://www.perlentaucher.de/artikel/3594.html, Stand 01.10.2009)

dérive, Mi., 2009.10.28



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