Editorial

Die Schlussphase der Produktion der vorliegenden dérive-Ausgabe fällt mit dem Beginn der Corona-Virus-Ausgangsbeschränkung in Österreich zusammen. Wir haben daher unsere Redaktion kurzfristig auf Home-Office umgestellt. Auch den Vertrieb des Heftes wollen wir so gut wie möglich aufrechterhalten, hier kann es aber aufgrund der momentanen Einschränkungen zu Verzögerungen kommen. Ein guter Anlass darauf hinzuweisen, dass alle vergriffenen Ausgaben von dérive in unserem Webshop als PDF zum Download zur Verfügung stehen (https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/pdf). Sofort nach Bezahlung landet der Downloadlink für das gewählte Heft in Ihrer Mailbox und hilft dabei, die Zeit mit Wissen aus der Welt der Stadtforschung zu füllen. Erhältlich sind u. a. die Schwerpunkthefte Bidonvilles & Bretteldörfer – Ein Jahrhundert informeller Stadtentwicklung in Europa, Perspektiven eines kooperativen Urbanismus, Smart Cities, Stadt selber machen oder Vom Superblock zur Überstadt – Das Modell Wiener Wohnbau.

Die Auswirkungen von Covid-19 auf das Alltagsleben sind jetzt schon unglaublich, und doch scheint das erst der Anfang zu sein. Alle öffentlichen Veranstaltungen sind abgesagt, Geschäfte und Restaurants sind geschlossen, der Aufenthalt im öffentlichen Raum nur mehr in Ausnahmefällen gestattet. Zigtausende Menschen verlieren gerade ihre Arbeitsplätze, viele Kleinunternehmen fürchten den Konkurs, die Kultur- und Kunstszene steht vor dem Abgrund.

Die Coronakrise macht sichtbar, was kritischen BeobachterInnen seit langem klar war: Die Austeritätspolitik der letzten Jahre hat dazu geführt, unsere Gesellschaften zu schwächen und nicht – wie immer behauptet wird – » fit zu machen«. Resiliente Strukturen, um so eine Krise zu meistern, sind nur mehr in Ansätzen vorhanden. Mit dem Abbau des Sozialstaats wurden in den letzten beiden Jahrzehnten mit großem ideologischen und finanziellen Aufwand unzählige Menschen in die Selbständigkeit gedrängt, von denen viele jetzt vor dem Nichts stehen, ohne Aufträge und ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das Gesundheitssystem wurde in vielen Ländern kaputtgespart, sodass jetzt Kapazitäten zur Versorgung der vielen Kranken fehlen. In Ländern wie den USA sind Millionen Menschen gar nicht versichert und können sich nicht einmal die Corona-Tests leisten.

In Österreich stellt man verwundert fest, dass Schutzbekleidung und Schutzmasken für den Krankenhausbereich nur in sehr geringem Ausmaß im Land produziert werden. Schon eine kurzfristige Grenzsperre gefährdet die Versorgung. Das gleiche gilt für Medikamente. Produktionsbetriebe schließen, weil die globalen Lieferketten für Bestandteile zusammenbrechen. Baustellen in Wien werden dicht gemacht, weil viele der (schlecht bezahlten) BauarbeiterInnen in Ungarn, Polen oder der Slowakei leben. Landwirtschaftliche Betriebe fürchten aus demselben Grund Ernteausfälle. Wer soll all das Gemüse zum üblichen Hungerlohn ernten? Gleichzeitig nehmen österreichische Tourismusgebiete die Ansteckung von tausenden von UrlauberInnen in Kauf, um ihre Profite nicht zu gefährden.

Wie in jeder Krise zeigt sich auch in der Corona-Krise, dass es ohne Solidarität und Kooperation nicht geht. Alle RegierungspolitikerInnen reden vom notwendigen Schulterschluss aller Kräfte und vom Team Österreich. Selbst konservativen PolitikerInnen ist sonnenklar, dass der Markt in solchen Situationen nichts dazu beitragen kann, die Krise zu bewältigen. Jetzt braucht es staatliche Unterstützungen und gegenseitige Hilfe, damit das System nicht kollabiert. FernsehreporterInnen, die Regierungschefs fragen, ob durch all die angekündigten Maßnahmen das angestrebte und zum heiligen Gral der Austeritätspolitik erhobene »Nulldefizit« nicht in Gefahr sei, ernten Kopfschütteln. Und es zeigt sich, wie wichtig viele der am schlechtesten bezahlten Jobs in der Krise sind: Reinigungskräfte in Krankenhäusern, Personal in Supermärkten, TransportdienstleisterInnen oder Pflegekräfte halten mit ihrem Einsatz die Gesellschaft am Laufen.

Das Schwerpunktthema der aktuellen Ausgabe ist Protest. Die Geschichte zeigt, dass Krisen immer wieder zur langfristigen Einschränkung von Rechten und Freiheiten genutzt werden. Wir sollten also, um noch einmal auf die aktuelle Situation Bezug zu nehmen, dafür sorgen, dass Ausgangssperren, Versammlungsverbote und Überwachungsmaßnahmen ebenso schnell wieder zurückgenommen werden, wie sie eingeführt wurden, wenn sich die Situation wieder beruhigt. Ein roter Faden der vorliegenden Ausgabe ist das Verhältnis von Partizipation und Konsens zu Protest und Konflikt. Partizipations-Strategien, die vor allem Kritik und Protest abschwächen wollen, erweisen sich zunehmend als Einbahnstraße. Bestehende Machtungleichheiten im Diskurs und der Unwille Kontrolle abzugeben, verunmöglichen eine Koproduktion von Stadt und eine Aushandlung von Differenzen auf Augenhöhe. Mehr dazu im Einleitungsartikel ab Seite 4 von Alexander Hamedinger vom Institut für Raumplanung, Forschungsbereich Soziologie der TU Wien, der gemeinsam mit Lukas Franta und Cornelia Dlabaja diesen Schwerpunkt redaktionell betreut hat.

Einen Beitrag zur Wiener Stadtgeschichte hat Friedrich Hauer für den Magazinteil verfasst: Die Donauregulierung von 1870–1875 und die damit im Zusammenhang stehende Stadtentwicklung als ausgedehntestes, landschaftsveränderndes Bauvorhaben der Stadt. Die Ränder der Stadt Graz, ihre Vernachlässigung und ihre Potenziale stehen im Mittelpunkt des Projekts NORMAL x 4 – Direkter Urbanismus für neue Stadtplanungsprozesse von Barbara Holub und Paul Rajakovics (transparadiso) gemeinsam mit Michael Petrowitsch, das wir ebenfalls im Magazinteil vorstellen. Das Kunstinsert stammt diesmal von Christoph Schäfer (Hamburg), der als Künstler und Stadtaktivist und Teil von u. a. Park Fiction oder der PlanBude idealtypisch zeigt, wie Aneignung und Teilhabe im Stadtteil quer durch die Gesellschaft gemeinsam organisiert werden können.

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt
04—10
Ist die kommunikative Planung am Ende? Protest und BürgerInnenbeteiligung in der Stadtentwicklung aus planungstheoretischer und planungs- praktischer Sicht
Alexander Hamedinger

11—19
Mitmachen, Selbermachen, Demokratisieren
Zum Verhältnis von MieterInnenprotest und partizipativer Planung
Lisa Vollmer

20—24
Protest und partizipative Planung am Beispiel des Otto-Wagner-Spitals
Helena Bernhardt, Eric Huberty, Matthias Tischler

25—31
Stadtplanung von unten
Das Wiener Brunnenviertel
Cornelia Dlabaja

Kunstinsert
32—36 Christoph Schäfer
Pest, Residenzpflicht, Vereinzelung und Aufstand

Schwerpunkt
37—42
Protest und Demokratie
Zum Verhältnis von Stadtplanung, Stadtpolitik und Gesellschaft aus demokratietheoretischer Perspektive
Lukas Franta

Magazin
43—49
Die Wasserstadt des speculativen Genies
Die Wiener Donauregulierung als städtebauliches Großprojekt seit 1870
Friedrich Hauer

50—52
Die Normalität des Unspektakulären an den Rändern der Stadt
Normal x 4 – Direkter Urbanismus für neue Stadtplanungsprozesse, Kulturjahr Graz 2020
Barbara Holub, Paul Rajakovics

Besprechungen
53—61
Keine Küche. Zwei Neuerscheinungen zur Architektin Margarete Schütte-Lihotzky S. 53

Neue Perspektiven auf Provinz, Peripherie und Urbanität S.55
Mit der Wohnungsfrage kommt die Bodenfrage S. 56
Wasserstadt Wien S. 58
Der Mann und die Großstadt – Otto Wagner in Paris S. 59
Der Alltag, ein Kampf S. 61

68
Impressum

Keine Küche

(SUBTITLE) Zwei Neuerscheinungen zur Architektin Margarete Schütte-Lihotzky

Margarete Schütte-Lihotzky wurde nicht nur wegen ihres langen Lebens (1897–2000) zur Legende. Sie ist bekannt als erste Architektin Österreichs und Pionierin der »sozialen Frage« in Architektur und Städtebau, als Widerstandskämpferin gegen die NS-Diktatur, Kommunistin und Aktivistin der Frauenbewegung in der Zweiten Republik. Nicht zuletzt ging sie als Erfinderin der Frankfurter Küche in die Designgeschichte des 20. Jahrhunderts ein.

Eine Reduktion auf ein Einbaumöbel ist sowohl ob ihres vielseitigen Œouvres als auch ob ihres komplexen und durchwegs politischen Lebenswegs unzulässig – und dennoch nicht wenig verbreitet. Schütte-Lihotzky selbst setzte sich in ihren späten Jahren, als das öffentliche Interesse an ihren Erfahrungen und Arbeiten erwach- te, gegen solche klischeehaften Verkürzungen zur Wehr. Gerne wird sie mit Sätzen wie »Ich bin keine Küche!« zitiert. 20 Jahre nach ihrem Tod widmen sich zwei neu erschienene Bücher ihrer vielschichtigen Person. Um es hier vorwegzunehmen: Es handelt sich um ein Ärgernis und einen Glücksfall.

Das von Mona Horncastle verfasste Buch Margarethe Schütte-Lihotzky ist die bislang einzige monografisch angelegte Biografie der »Architektin, Widerstandskämpferin, Aktivistin«. Die Autorin, Kunsthistorikerin und Kuratorin, ist bisher vor allem durch verschiedenen Malern gewidmete »Kunst-Comics« und eine Biografie von Gustav Klimt in Erscheinung getreten. Der Band gliedert sich entlang der Stationen des Lebenswegs von Schütte-Lihotzky: Wien, Frankfurt, Sowjetunion, Türkei, Widerstand und Gefangenschaft, kommunistische Architektin und Aktivistin im Nachkriegs-Wien. Es wird ausgiebig aus ihren autobiografischen Schriften und aus Briefwechseln zitiert, einmal sogar 30 Seiten am Stück. Das Buch ist nicht zuletzt deshalb passagenweise durchaus angenehm zu lesen, grafisch sehr ansprechend gestaltet und elegant gesetzt. Leider weist es gravierende inhaltliche Mängel auf. Hier ist zunächst ein Essential jeder seriösen biografischen Arbeit anzusprechen: Quellenkritik, insbesondere in Bezug auf die zahlreichen, teilweise Jahrzehnte auseinander liegenden Selbstzeugnisse Schütte-Lihotzkys, scheint Horncastle unbekannt. Dadurch bekommt der ganze Text etwas Kolportagehaftes, das bisweilen in betulichen Plauderton mündet. Letzteren kann man mögen oder auch nicht. Schwer wiegt allerdings, dass die Autorin immer wieder ihre profunde Unkenntnis all jener Bereiche aufblitzen lässt, die für die Kontextualisierung des vielseitigen Lebens von Margarete Schütte-Lihotzky unerlässlich wären – europäische Geschichte, Stadtbau- und Designgeschichte, Marxsche Theorie und Marxismus, Grundlinien der österreichischen und Wiener Verhältnisse im langen 20. Jahrhundert. So wird beispielsweise mehrfach und entgegen jede historische Evidenz behauptet, Wien und Frankfurt wären nach dem Ersten Weltkrieg baulich zerstört gewesen und die Architektin sei im »Wiederaufbau« tätig geworden (S. 37, 52, 62). Stellenweise muss man auch groben Unfug lesen, etwa von den »zwei sich ausschließenden marxistischen Klassen Proletariat oder Kapitalismus« (S. 56) oder von 1.200 neu zu erbauenden Städten in der Sowjetunion, die in den 1930er-Jahren »mit einem für damalige Verhältnisse gigantischen Budget von umgerechnet 16,8 Mio. Euro« errichtet werden sollten (S. 87). Wenn wirklich 14.000 Euro für eine ganze sowjetische Stadt reichten, dann ist das entweder nicht sonderlich gigantisch, oder aber nicht sonderlich gut umgerechnet oder umrechenbar. Auch der Unterschied zwischen dem Wiener Stadtbauamt, dem Parteivorstand der SPÖ und der österreichischen Regierung bleibt der Autorin ein Rätsel (S. 214).

Dass Schütte-Lihotzky dann noch en passant ein »feministischer Anspruch« abgesprochen wird, ist zumindest insofern fragwürdig, als dies einer begrifflichen Klärung bedürfte (S. 223). Das sind nur einige Punkte, die jedoch ausreichen, das Vertrauen in die Arbeit der »bekennenden Sprachfetischistin« (S. 287) Horncastle im Ganzen gründlich zu erschüttern. Obendrein scheint man auf Lektorat und Korrektorat verzichtet zu haben, denn es finden sich neben offenkundig falschen Datumsangaben unangenehm viele Grammatik- und Interpunktionsfehler im Text.

Das war die schlechte Nachricht. Die Gute: Ebenfalls letzten Herbst ist ein Sammelband mit dem Titel Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk erschienen. Das von Marcel Bois und Bernadette Reinhold herausgegebene Buch geht auf eine Tagung im Oktober 2018 zurück, die von der Universität für angewandte Kunst Wien in Kooperation mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg veranstaltet wurde. Was zunächst vielleicht trocken klingt, ist in Wahrheit ein ansprechend gestaltetes, interessant bebildertes und durchwegs auch für ein breites Publikum gut zu lesendes Werk, das den letzten Forschungsstand zu Schütte-Lihotzky wiedergibt. Wer die Durchschnittsexemplare der Gattung Tagungsband kennt, wird also nicht nur ob des breiten Spektrums an vertretenen Disziplinen und Zugängen positiv überrascht.

Der Band gliedert sich in fünf Abschnitte, die jeweils eine Reihe von kürzeren Beiträgen enthalten. Er beginnt mit biografischen und geschlechterhistorischen Perspektiven auf das »Jahrhundertleben« der Architektin (Karin Zogmayer, Christine Zwingl). Hier finden sich etwa ein interessanter Beitrag zur Ausbildung der ersten Architektinnengeneration in Österreich (Sabine Plackolm-Forsthuber) und kritische Überlegungen zu den autobiografischen Schriften von Schütte-Lihotzky (Bernadette Reinhold). Der zweite Abschnitt widmet sich den Stationen ihres transnationalen Architektinnenlebens: Sophie Hochhäusl zeichnet Schütte-Lihotzkys Beitrag zur Wiener Siedlerbewegung der frühen 1920er-Jahre nach, Claudia Quiring jenen zum sozialen Wohnbauprogramm des Neuen Frankfurt (1926–1930). Besondere Einblicke bietet Thomas Flierls Text zu den architektonisch sehr produktiven Jahren des Ehepaars Schütte in Stalins Sowjetunion (1930–1937), für die er auch noch umfangreichen Forschungsbedarf feststellt. Burcu Dogramaci legt neues Material zu Schütte-Lihotzkys »Intermezzo in Istanbul« (1938– 1940) vor, wo beispielsweise typisierte Dorfschulen nach ihren Entwürfen entstanden. Auch die oft wenig beachtete Zeit nach ihrer Gefangenschaft in Nazi-Deutschland (1941–1945) wird thematisiert. Monika Platzer widmet ihren Beitrag den vergessenen Architekturdiskursen in Wien nach Kriegsende. Für eine kommunistische Architektin und überzeugte Verfechterin der sowjetischen Verhältnisse waren im »neuerfundenen« Österreich die Handlungsspielräume sehr eingeschränkt. Wechselvoll und zeitweise intensiv waren die Kontakte Schütte-Lihotzkys zum Bauwesen in der jungen DDR. Wie Clara Aßmann zeigt, wurden ihre Hoffnungen, den Bau von Kindereinrichtungen mitzugestalten, aus ideologischen, die Entwurfshaltung und die Organisationsform der Planung betreffenden Gründen wiederholt enttäuscht. Materialreich und gelungen ist auch die Neudeutung des Tagebuchs ihrer zweiten Chinareise (1956) durch Helen Young Chang. Die Autorin zeigt Schütte-Lihotzkys Gespaltenheit zwischen Bewunderung für die traditionelle Architektur Chinas einerseits und der Fortschrittsideologie der KP andererseits, die in jenen Jahren anhob, genau diese Baukultur zu vernichten.

Der dritte, Begegnungen betitelte Abschnitt des Buchs ist den Beziehungen Margarete Schütte-Lihotzkys zu vier für ihr Leben wichtigen Männern gewidmet: dem sozialdemokratischen Ökonomen und Politiker Otto Neurath, der sie im Wien der frühen 1920er-Jahre politisierte und mit dem sie freundschaftlich verbunden war (Günther Sandner). Dem Architekten Herbert Eichholzer, der sie in Istanbul für den kommunistischen Widerstand gewann und 1943 den Nazis zum Opfer fiel (Antje Senarclens de Grancy). Dem Architekten Wilhelm Schütte, mit dem sie 1927 bis 1951 liiert war und der in der bisherigen architekturhistorischen Rezeption stets im Schatten seiner Frau geblieben ist (David Baum). Schließlich dem weitgehend unbekannten, nach dem Krieg in Ostberlin lebenden Übersetzter und Dramaturgen Hans Wetzler – bis zu seinem Tod 1983 ihr enger Vertrauter und wie sie kommunistischer Kosmopolit (Marcel Bois). Das ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil die politischen Aktivitäten und kommunistischen Netzwerke Schütte-Lihotzkys im Gegensatz zu ihrem architektonischen Werk noch einer systematischen Analyse und Interpretation bedürfen. Diese Leerstelle versucht der vierte Abschnitt des Bandes ansatzweise zu füllen. Hier erfahren die LeserInnen mehr über Schütte-Lihotzkys Kampf gegen das NS-Regime (Elisabeth Boeckl-Klamper), über ihr frauenpolitisches Engagement in der Zweiten Republik (Karin Schneider)
und die konsequente Ausgrenzung der KPÖ im beginnenden Kalten Krieg (Manfred Mugrauer).

Der letzte Abschnitt widmet sich unter dem Titel Kindergärten und Küchen der Reflexion und Rezeption des architektonischen Œuvres. Er ist insofern bemerkenswert, als hier eine pädagogische (Sebastian Engelmann) und eine architekturhistorische (Christoph Freyer) Perspektive auf Schütte-Lihotzkys Bauten für Kinder zusammentreffen. Schließlich geht es doch auch noch um die unvermeidliche Frankfurter Küche: als global gefragtes Museumsobjekt (Änne Söll) und als Zirkulationsobjekt auf dem Kunstmarkt (Marie-Theres Deutsch).

Auf die Resultate zukünftiger Forschung zu Margarete Schütte-Lihotzky und ihrer Umgebung darf mit Spannung gewartet werden. Es ist zu hoffen, dass die Auseinandersetzung mit dieser vielseitigen Persönlichkeit ihren multidisziplinären Charakter beibehält und in einen ähnlich gut kuratierten Austausch tritt, wie er sich in dem besprochenen Sammelband abbildet. Desiderat dabei wäre jedenfalls eine weitere Vertiefung in ihr Leben und Wirken in der Sowjetunion und in die Zeit nach 1945. Auch fehlen bislang biografische Arbeiten zu wichtigen Frauen im Leben Schütte-Lihotzkys.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der blaue Sammelband von Bois und Reinhold ist auf allen Ebenen (Seriosität, inhaltliche Breite, Neuheitswert, Sprache etc.) die bessere Alternative zur rosaroten Biografie von Horncastle. Wem die lebensgeschichtlichen Inhalte in Ersterem nicht genügen sollten, für die oder den könnten die autobiografischen Texte Margarete Schütte-Lihotzkys eine interessante, wenngleich nicht unkritisch zu konsumierende Ergänzung sein: Warum ich Architektin wurde (aufgelegt zuletzt 2019) und Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945 (zuletzt 2014).


Mona Horncastle
Margarethe Schütte-Lihotzky: Architektin, Widerstandskämpferin, Aktivistin
Wien, Graz: Molden Verlag, 2019
287 Seiten, 28 Euro

Marcel Bois & Bernadette Reinhold (Hg.)
Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk
Basel: Birkhäuser Verlag, Edition Angewandte , 2019
360 Seiten, 40 Euro

dérive, Mi., 2020.04.15

15. April 2020 Friedrich Hauer

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