Editorial

Diese dérive-Frühjahrsausgabe kommt rund einen Monat später als üblich, aber das hat seinen guten Grund: dérive feiert heue­r seinen 10. Geburtstag und im Oktober erscheint zu diesem Anlass eine fette Doppel­nummer. Das vorliegende Frühjahrs­heft hat sich deswegen ein wenig Richtung Sommer verschoben und die Sommerausgabe fusioniert mit dem Herbstheft zum extradicken 10-Jahre-Zeitschrift-für-Stadtforschung-Reader, für den es sich zu warten lohnt, soviel sei versprochen!

Das Schwerpunktthema der Jubiläumsausgabe ist die Stadtforschung selbst: Wo sie steht und was sie kann, zeigen rund zwei Dutzend internationale AutorInnen quer durch alle Disziplinen. 12 KünstlerInnen gestalten speziell zum Jubiläum Kunst­inserts, die sich mit dem urbanen Raum auseinandersetzen. Ziel der Ausgabe ist ein umfassender Einblick in das vielschichtige und unendlich spannende Forschungsgebiet der Urban Studies.

Die großen 10-Jahres-Feierlichkeiten gehen von 1. bis 10.10.2010 über die Bühne und bieten ein breites Spektrum an Veranstaltungen: Neben der eigentlichen Jubiläums-Heftpräsentatio­n wird es Diskussione­n, Filme, Lesungen, Stadtführungen und dérives, Ausstellungskooperationen, einen Henri-Lefebvre-Abend und – natürlich! – ein rauschendes Fest geben. Blockieren Sie schon mal die ersten 10 Tage im Oktober für uns – es zahlt sich aus!

Doch nun zum aktuellen Heft, das ein Thema aufgreift, welches in dérive immer wieder von unterschiedlichen Perspektiven aus analysiert wurde und wird: Kunst/Kultur und Stadt. In Heft 6 (Dezember 2001) hat Andreas Fogarasi mit dem Schwerpunkt Argument Kultur vieles vorweggenommen, was Jahre später breit diskutiert wurde und auch heute noch wichtigen Stoff für Debatten darstellt: „Kultur als Standortargument“, Stichworte: Creative Industries, Kulturbauten und -bezirke. Für Heft 21/22 (Jänner 2006) hatte Roland Schöny den Schwerpunkt Urbane Räume – öffentliche Kunst konzipiert.

Kunst und urbane Entwicklung, dem Schwerpunkt von dérive 39, ist das von dérive-Redakteurin Barbara Holub kuratierte, internationale Symposium Für wen, waru­m und wie weiter? vorausgegangen, dessen Titel schon einiges darüber verrät, worum es diesmal geht. Im Zentrum steht „Die Rolle von Kunst im Kontext urbane­r Entwicklungen zwischen Freiraum und Abhängigkeit.“ Ausgewählte Beiträge des Symposiums bilden überarbeitet und erweitert den spannenden thematischen Bogen, gefasst von Barbara Holubs ausführlichem Einleitungsartikel, der die kontroversen Fragestellungen rund um das Thema aufgreift und durchleuchtet. Das Cover dieser Ausgabe zeigt zwei Bilder aus Holubs Arbeit Make News Instead of (2008), die die Umgestaltung der Stadt Plymouth (vor allem der Naval Base in Devonport) thema­tisiert. Die Naval Base als jahrhunderte­lange, traditionell wichtigste Arbeitgebe­rin von Plymouth litt nach Ende des Kalten Kriegs unter massivem Geschäftsrückgang und wurde mittlerweil­e privatisiert. Auf der Vorderseite sieht man das ehemalige Zentrum von Devonport, das im 2. Weltkrieg komplett zerstört und von der Naval Base an die Stadt Plymouth zurückgegeben wurde. Es wird nun von Red Row Developers in ein Wohnviertel transformiert. Im Rahmen der PPP wurde die Chance, ein aktuelles Stadtzentrum mit urbaner Qualität zu entwickeln, nicht wahrgenomme­n. Die Rückseite zeigt einen Screenshot aus der 16mm-Film-Dokumentation des Dockyard Strike in Plymouth (1969).

Mark Kammerbauer stellt im Magazinteil in einem Artikel über die Auswirkungen des Hurrikans Katrina auf New Orleans „die Problematik des fragmentarischen Wiederaufbaus und der involvierten staatlichen Programme, in Verbindung mit Evakuierung und Rückkehr als integriertem Komplex“ in den Mittelpunkt. „Wenn man nicht weiß, wohin die Reise gehen soll, ist das Experimentieren ein Weg mit den beschriebenen Unsicherheiten umzugehen“, befindet anschließend Daniela Karow-Kluge in ihrem Beitrag Planen ohne Sicherheit, der die Rolle des Experiments in den raumgestaltenden Disziplinen zum Thema hat. Manfred Russo nimmt sich in seiner Serie Geschicht­e der Urbanität erstmals den Fordismus zur Brust und analysiert in einer besonders ausführlichen Folge das spezielle Verhältnis von Paternalismus und Urbanismus.

Wir wünschen viel Vergnügen und freuen uns auf das gemeinsame Feiern im Herbst!
Christoph Laimer

Inhalt

Editorial

Schwerpunkt: Für wen, warum und wie weiter?
Die Rolle von Kunst im Kontext urbaner Entwicklungen zwischen Freiraum und Abhängigkeit
Barbara Holub

Three Stages in the Art of Public Partizipation. The Relational, Social and Durational
Paul O’Neill

Urban Renewal: The Case of Dox
Jaroslav Andel

Cultural Research for New Urbanism
Mick Wilson

Talks on Public Art: Three Support Structures
Céline Condorelli

Die dritte Ebene: ambulanter Urbanismus
Paul Rajakovics

Kunstinsert
Catrin Bolt: Wahrnehmungsverschiebungen

Magazin

Planing for Dystopia/Green (Non-)Re-Building? Der Fall New Orleans
Mark Kammerbauer

Planen ohne Sicherheit. Raumgestaltung für zukünftige Entwicklungen
Daniela Karow-Kluge

Serie

Geschichte der Urbanität – Teil 30, Moderne VII: Fordismus I, Paternalismus und Urbanismus.
Manfred Russo

Besprechungen

Novi Belgrad: Differentiated Neighbourhoods
Elke Krasny über das Projekt Differentiated Neighbourhoods initiiert vom Museum of Contemporary Art Belgrad

Wir müssen das Leben ändern
André Krammer über The situationist and the city herausgegeben von Tom McDonough

Soziale Seriosität und Minimalismus
Robert Temel über Ottokar Uhl: A Dossier herausgegeben von Joseph Masheck

Der Blick des Modeflaneurs
Maria Welzig über Ausstellung und Blog The Vienna Fashion Observatory

Raum, Zeit, (Dis)Kontinuität
Thomas Ballhausen über den Comic Die Hermetische Garage von Moebius

„I am other I now“
Susanne Karr über die Ausstellung Role-Taking, Role-Making in der Generali Foundation

Autogestion, Self-Management, Partizipation
Elke Krasny über Autogestion, or Henri Lefebvre in New Belgrade herausgegeben von Sabine Bitter & Helmut Weber

Bahnhof, Puff, Gemeindebau
Iris Meder über das Buch Der Wiener Gürtel. Wiederentdeckung einer Prachtstraße von Madeleine Petrovic

Zwischen Mahnmal und Disneyland
Verena-Cathrin Bauer über Der Mauer um die Wette gedenken. Die Formation einer Heritage-Industrie am Berliner Checkpoint Charlie von Sybille Frank

Für wen, warum und wie weiter?

(SUBTITLE) Die Rolle von Kunst im Kontext urbaner Entwicklungen zwischen Freiraum und Abhängigkeit

In den letzten Jahren wurden in Europa Kunst und künstlerische Praktiken im urbanen Raum zunehmend von Regeneration-Prozessen geprägt und gezielt zur Image-Findung in neuen Stadtentwicklungsgebieten, zur Schaffung einer neuen Identität in Umstrukturierungsprozessen oder zur Problemlösung vorhandener (oft sozialer) Defizite herangezogen. Damit einhergehend fand eine immer stärkere Kategorisierung der KünstlerInnen und der jeweiligen künstlerischen Praxis statt.

Ist es für die KünstlerInnen sowie für die gesellschaftliche Entwicklung erstrebenswert, Kunst wieder von den konkreten Wirkungshoffnungen der Stakeholder zu befreien? Sollten KünstlerInnen, die im Rahmen von Stadtentwicklung funktionalisiert werden bzw. sich auch aktiv um diese erweiterten Operationsfelder künstlerischen Handelns bemühen, nicht den anderen ExpertInnen gleichgestellt werden, d.h. den gesamten Prozess begleiten, anstatt punktuelle Aufgaben zu übernehmen? Wo liegen die Risiken aber auch die Vorteile, seine Arbeit dafür einzusetzen, „to make the world a better place“? Wie kann Kunst ihr kritisches Potenzial entfalten, ohne dass dieses sofort vereinnahmt wird? Was ist die „Funktion von Kunst“ und welche Auswirkungen hat Kunst auf die Rolle von UrbanistInnen?

200.2.11 Public Art

Public Art refers to the practice of making artwork consisting of objects or interventions in, to and/or for public or semi-public spaces.[1]

Wenn die Politik keine Verantwortung mehr für Stadtentwicklung und damit für einen Bereich, der großteils gesellschaftliche Entwicklungen mitdefiniert, übernimmt, muss Kunst diese übernehmen. Dieser Anspruch von KünstlerInnen wie FOS erhält eine neue Aktualität, in einer zweiten Runde, nach der Debatte um sozial engagierte Kunst (die dann oft als Sozialarbeiterkunst abgestempelt wurde) der 1990er Jahre. Der Markt habe die politische Rhetorik so infiltriert, dass es nur noch darum ginge, KundInnen und AbonnentInnen anzuziehen,...[2]

Welche Rolle nehmen KünstlerInnen in der Gesellschaft ein? Dies ist eine Frage, die immer wieder neu und aus verschiedenen Perspektiven gestellt werden muss. Bis in die 1980er Jahre war das Selbstverständnis des Architekten als dem „Gestalter von Gesellschaft“ noch fast ungebrochen. Heute wissen wir, dass Gesellschaft (und eben auch das urbane Leben) zu stark von ökonomischen Interessen geprägt ist und die PPP (Public-Private-Partnerships) in den letzten Jahren zusehends das Public dem Private (Interesse) unterordnen mussten. Viele Städte haben Finanzprobleme und können oder wollen es sich nicht mehr leisten, ihre eigensten Aufgaben zu erfüllen. ArchitektInnen und UrbanistInnen agieren entsprechend der veränderten Rahmenbedingungen: Aufgaben werden erfüllt und gleichzeitig in einem Parallel-Leben, das sich urbane Interventionen nennt und meist auf Eigeninitiative basiert oder von Kunstprogrammen nachgefragt wird, hinterfragt.

D.h. Notwendigkeiten und Möglichkeiten klaffen auseinander. KünstlerInnen übernehmen Aufgaben zur Verbesserung der Kommunikation in sozialen Konfliktsituationen, arbeiten mit der Community, treten als ProblemlöserInnen auf, stellen Budgets auf, prekär, und auf einmal gibt es einen Stop - weil kein neues Budget mehr aufzutreiben ist.[3] Hier gilt es sehr genau zu differenzieren, wo KünstlerInnen tatsächlich Aufgaben übernehmen, die eigentlich von anderen ExpertInnen behandelt werden sollten, bzw. wo das Potenzial von Kunst liegt, über Notwendigkeiten hinaus eine künstlerisch eigenständige Positionierung zu entwickeln, die mit den Parametern und auch konkreten Funktionen (siehe auch Text von Céline Condorelli) arbeitet, und gleichzeitig aber unabhängig von konkreten Erwartungshaltungen agiert. Parallel dazu entwickeln UrbanistInnen Zwischennutzungen, temporäre Projekte, urbane Interventionen für Kulturhauptstädte, Biennalen etc. - ein Engagement zur Aktivierung von Räumen, das immer noch darauf hofft, irgendwann einmal womöglich doch Eingang in aktualisierte Planungsstrategien zu finden. D.h. beiden Gruppen gelang es bis dato nicht, in einem größeren Zusammenhang von Stadtentwicklung, abseits der jeweiligen konkreten Situation, d.h. auch an politischen Strukturen anzusetzen.

Diese Fragestellungen bildeten den Ausgangspunkt für ein Symposium, das am 11.März 2010 im Kunstraum Niederösterreich in Wien unter dem Titel Für wen, warum und wie weiter? Die Rolle von Kunst im Kontext urbaner Entwicklungen zwischen Freiraum und Abhängigkeit stattfand.[4] (...)

Céline Condorelli behandelt in ihrem Beitrag Talks on Public Art: Three Support Structures für diesen Schwerpunkt von dérive die Institution als Support Structure für die Community/Gesellschaft.10 Sie hat dafür ein eigenes Format entwickelt, das ihre multiple Rolle zwischen Architektin, Künstlerin und Kuratorin widerspiegelt.

Paul O'Neill präsentiert einen Überblick über die jüngere Entwicklung des Diskurses von der Kunst öffentlicher Partizipation, von relational Art (Nicolas Bourriaud) über den social turn, und führt dann „Partizipation als mittelfristige (durational) Erfahrung von öffentlicher Zeit“ ein. O'Neill bezieht sich dabei auf sein Forschungsprojekt Locating the Producer, in welchem er anhand von fünf ausgewählten, längerfristig angelegten (durational) internationalen Projekten im urbanen Raum, die für konkrete Kontexte neuer Stadtentwicklungen bzw. für sich verändernde urbane Strukturen (Regeneration) geplant wurden, das Potenzial und die Bedingungen untersucht, unter welchen diese Projekte und die daraus resultierenden künstlerischen Prozesse tatsächlich in urbane Entwicklungen eingreifen können.

In Prag gibt es bis dato kein spezielles Programm zu Kunst im öffentlichen Raum. Die Bedingungen von künstlerischer Produktion sind immer noch geprägt von dem Erbe eingesessener Machtstrukturen in der post-kommunistischen Situation und kaum zur Verfügung stehenden öffentlichen Förderungen. Somit kommt privaten Initiativen wie dem 2008 gegründeten DOX eine noch verantwortungsvollere Rolle zu. Jaroslav Andel, Kurator von DOX, präsentiert in seinem Text Urban Renewal: The Case of DOX die Entstehungsgeschichte von DOX (das allein auf Privatinitiative eines Prager Unternehmers, der nach Australien emigriert war, basiert) und die Rolle dieser Kunstinstitution im Kontext der aktuellen kulturellen Situation von Prag – vor dem Hintergrund von zwanzig Jahren postkommunistischer Strukturen.

Paul Rajakovics diskutiert in Die dritte Ebene: Ambulanter Urbanismus die Gaps zwischen aktuellen Problemen und Aufgabenstellungen von urbaner Entwicklung und der zunehmenden Schwächung von Stadtplanungsämtern und populistisch agierenden Stadtpolitikern aus der Perspektive des Urbanisten und Architekten - als Vertreter jener ArchitektInnengruppen, die in den letzten zehn Jahren als wesentlichen Aspekt ihrer Praxis experimentelle Zugangsweisen zu Urbanismus entwickelt haben. Er behandelt dabei die Differenzierung der Begriffe und Rollen von Urban Planning, Urban Design (im deutschen Sprach- und Begriffsgebrauch vereint als Stadtplanung) und ambulantem Urbanismus, und dessen Hintergrund über den unitären Urbanismus und Aktivismus. Wer sind die jeweiligen AkteurInnen und wie kann deren Handeln parallel zu künstlerisch-urbanen Praktiken gelesen werden? Abgründe bzw. Gefahren hinsichtlich Vereinnahmung und Gentrifizierung werden dabei ebenso angesprochen wie die Potenziale des Wünschens als Produktivkraft für (ungeplante) urbane Entwicklungen.

Mick Wilson, Dean der GradCAM in Dublin, untersucht in Cultural Research for New Urbanisms wie aktuelle Forschung durch kulturelle Praxis einen Einfluss über den akademischen Kontext hinaus haben und sich in der urbanen Situation vermitteln kann. Er untersucht den Begriff des Neoliberalismus nach David Harvey und dessen Auswirkungen auf die Möglichkeiten von Öffentlichkeit – und führt One & Other, ein Projekt, das Antony Gormley 2009 für das leere vierte Podest auf dem Trafalgar Square in London realisierte, als populistisch angelegtes und damit das Konzept von Öffentlichkeit desavouierendes Projekt an. Anhand der im Februar 2010 von Mick Wilson kuratierten Konferenz Arts Research: Publics and Purposes an der GradCAM, die das Symposium auf Ausstellungen ausweitete, führt Mick Wilson ein Plädoyer für die Notwendigkeit, wie Lehre und Forschung in und durch kulturelle Praxis das Feld akademischen Agierens auf Galerien, die Straße, auf Baustellen und angezweifelte urbane Räume erweitern können.[11]

200.2.11.4 Execution

Die meist multiplen Rollen, die die AutorInnen in ihrer Praxis einnehmen, spiegeln das Feld ihres Agierens wieder, das nicht auf einfache Lesarten reduziert werden kann und somit den Begriff von Öffentlichkeit und Schaffen von Räumen bzw. Situationen[12] für vielfältige Entwicklungen entsprechend des spezifischen Kontexts für eine differenzierte Betrachtung öffnen. Die Dichotomie zwischen Kunstinstitution und öffentlichem urbanem Raum ist ein ausgedientes Modell. Längst ist es Alltag künstlerischer Praxis, das Ineinandergreifen von KünstlerInnen und UrbanistInnen, die sich mit urbanen Fragestellungen beschäftigen, zwischen Arbeiten für Institutionen und den öffentlich-urbanen Raum zu forcieren. Der Schwerpunkt fokussiert also urbanes Handeln, das sich nicht auf ein kurzfristiges Event in der überstrapazierten urbanen Sphäre von Biennalen, Kulturhauptstädten oder Kunst-im-öffentlichen-Raum-Programmen reduziert, sondern längerfristig angelegt ist und tatsächlich in urbane Entwicklungen eingreifen möchte. Hier übernehmen KünstlerInnen oft Aufgaben, die ursprünglich das Feld von UrbanistInnen waren, die diese jedoch aufgrund überkommener Planungsstrategien nicht mehr ausfüllen können. Wir sind also mit einer Kollision von Notwendigkeiten, wie wir einerseits den aktuellen Herausforderungen urbaner Entwicklungen begegnen, und andererseits von konventionellen starren Rollenbildern, von KünstlerInnen und UrbanistInnen geprägt, konfrontiert.

Weder das Symposium noch dieses Heft können oder wollen eine Handlungsanweisung sein. Dies wäre zu einfach und würde sich der Komplexität der Fragen entziehen. Eher gilt es, eine Bestandsaufnahme nach zehn oder fünfzehn Jahren experimenteller urbaner Interventionen der jüngeren ArchitektInnen-Generation zu machen, die als veränderte urbanistische Praxis keinerlei Auswirkung auf die konventionelle Stadtplanung hatten, sondern wie Kunstprojekte dazu eingekauft, geordert wurden oder unter meist selbstausbeuterischen Bedingungen von engagierten ArchitektInnen initiiert wurden.

Den Kunstprojekten im öffentlichen Raum wiederum wird vorgeworfen, sie würden sich für die Interessen von DeveloperInnen instrumentalisieren lassen, sie wären keine gute Kunst, weil zu sozial orientiert und zu wenig ästhetisch-künstlerisch wahrnehmbarer Output. Sie mischten sich in Agenden ein, die sie nichts angehen, und erzeugten damit neue Konfliktzonen mit ExpertInnen anderer Sparten (LandschaftsplanerInnen, SoziologInnen etc.)..... „Kunst im öffentlichen Raum sei wie Schnee in der Stadt: Zuerst erfreut, dann nervt sie“.[13] (...)

200.2.11.6 Waiting

Was also, wenn KünstlerInnen sich den ihnen gestellten Aufgaben auf ihre eigene Weise entledigen, dies heißt aber nicht ohne Verantwortung? Was, wenn sie nicht die Erwartungshaltung to make the world a better place in einer direkt nachvollziehbaren Weise verfolgen, sondern Widerstände einbauen, Konflikte offenlegen und womöglich provozieren und somit das Leben sichtbar machen, das ansonsten in Neurosen endet und eine Situation schafft, die dann irgendwann als Scheitern eines Stadtviertels tituliert wird?
In welchen Räumen agieren KünstlerInnen, UrbanistInnen, KuratorInnen, Stadtplanungsämter, Galerien, Kunstinstitutionen, Kunstmessen, KiöR-Programme heute? Gibt es die Trennungen zwischen diesen Funktionen und den Communities, die sie ansprechen, noch? Grant Kester definiert Community[21] als notwendigerweise komplex. Er warnt vor einer vereinfachenden Beschwörung von Community , vor allem wenn eine Person im Namen von anderen spricht. Dies bedeutet in weiterer Folge, dass niemand die Rolle und Verantwortung für jemand anderem übernehmen kann – sondern Fragestellungen nur in einer neuen, Disziplinen überschreitenden Komplizenschaft verhandelt werden können.

Die komplexe Theoriebildung (aktuell vor allem im englischen Raum), die all die Projekte, die unter Kunst im öffentlichen Raum subsumiert werden, analysiert und begleitet, erneuert sich in einer Geschwindigkeit, mit der die behäbigen Instrumentarien der Stadtplanung und langwieriger politischer Prozesse, die einerseits oft von Legislaturperioden bestimmt werden und deshalb auf kurzfristig sichtbare Erfolge abzielen, und andererseits aufgrund der Langwierigkeit politischer Entscheidungsfindung den akuten Fragestellungen hinterherhinken, nicht mithalten können. Es wäre also eine Chance, die engagierte und oft unter schwierigen bis selbstausbeuterischen finanziellen Bedingungen[22] agierende Praxis, den Planungsinstrumentarien zur Seite zu stellen und als gleichwertig zu positionieren, damit die künstlerisch-urbane Praxis offiziell die eingangs beschriebenen Aufgaben aktueller urbaner Entwicklungen wahrnehmen kann, die sie ohnedies wahrnimmt, und somit anderen an Stadtentwicklung beteiligten ExpertInnen gleichgestellt wird.

Die Rahmenbedingungen, ob und unter welchen Bedingungen dies möglich wäre, und welche Auswirkungen dies wiederum auf die Rollen von KünstlerInnen und UrbanistInnen hat, ja ob die diversen Rollen aller an urbanen Prozessen Beteiligten nicht viel mehr in ein neues Selbstverständnis eines urban practitioners münden könnten, untersuche ich derzeit auch in einem Forschungsprojekt an der TU Wien,23 das 2013 abgeschlossen sein wird.


Anmerkungen:
[01] Gerber, Alison (2006): Artists's Work Classification. Künstlerhaus Büchsenhausen. Alle Zitate in kursiv sind dieser Publikation entnommen; S. 61 ff..
[02] In: FOS (2007): Liquid Chain Into The Vapour Wall: The Fall. S. 133.
[03 So wurde der Trekroner Art Plan, den Kerstin Bergendal 2000 begann und der bis 2012 konzipiert war, auf eine Warteposition geschickt – bis wieder Gelder kommen (siehe auch Text von Paul O'Neill).
[04] Das Symposium wurde veranstaltet von Kunst im Öffentlichen Raum Niederösterreich und konzipiert von Barbara Holub. TeilnehmerInnen waren: Jaroslav Andel, Kurator, Theoretiker, DOX, Prag; Binna Choi, Kuratorin, Theoretikerin, CASCO, Utrecht; Céline Condorelli, Künstlerin, Architektin, Eastside Projects, Birmingham; Christine und Irene Hohenbüchler, Künstlerinnen, TU Wien, Wien; Paul O'Neill, Künstler, Theoretiker, Kurator, Situations, Bristol; Paul Rajakovics, Urbanist, Architekt, transparadiso, Wien; Mick Wilson, Künstler, Theoretiker, GradCAM, Dublin.
(...)
[10] Support Structure von Céline Condorelli ist 2009 bei Sternberg Press erschienen.
[11] Weitere Informationen unter: www.gradcam.ie
[12] Siehe: www.situations.org.uk. Situations ist ein Kunst- und Forschungsprogramm, das 2003 von Claire Doherty an der University of the West of England (UWE), Bristol, gegründet wurde. Der Fokus liegt auf der Beauftragung von Werken, die sich außerhalb des konventionellen Galerien- oder Ausstellungskontextes platzieren und die eine Involvierung von Öffentlichkeit propagieren.
[13] Siehe: Matthias Dusini(2010): Friedhof der steinernen Kuscheltiere. In: Falter 8/10, S.26-27.
(...)
[21] Grant H.Kester (2004): Conversation Pieces. Community Communication in Modern Art. University of California Press, S. 130.
[22] Damit ist nicht das Volumen von Regeneration Projekten wie z.B. in GB gemeint, die große Summen für Kunstprojekte zur Verfügung stellen, um ein neues Image zu erzeugen. sondern damit sind all jene Projekte gemeint, die Kommunikation involvieren, die die Bevölkerung miteinbeziehen und längerfristige urbane Prozesse initiieren, sie sind meist unterfinanziert und erfordern ein enormes Energie-Potenzial der beteiligten KünstlerInnen und UrbanistInnen, die in Feldern von urbanen Interventionen agieren. Diese prekären Produktionsbedingungen konterkarieren die oft noch vorherrschende Auffassung, dass KiöR-Projekte ein gutes Geschäft für KünstlerInnen seien.
[23] Mit Christine Hohenbüchler, Inge Manka und Karin Harather, Institut für Kunst und Gestaltung/ Zeichnen und Visuelle Sprachen, realisiert im Rahmen von Innovative Ideen, 2010-2013

dérive, Fr., 2010.06.04

04. Juni 2010 Barbara Holub

Novi Beograd: Differentiated Neighbourhoods.

(SUBTITLE) Elke Krasny über das Projekt Differentiated Neighbourhoods initiiert vom Museum of Contemporary Art Belgrad

In Südosteuropa ist die Rasanz urbaner Transformationen durchdrungen vom ökonomischen Paradigma des kapitalintensiven Neoliberalismus. Die Logiken des Informellen auf allen Ebenen und des Marktes in vielen Facetten beherrschen den städtischen Alltag. Alle stabilen Anhaltspunkte und langfristigen Kontinuitäten sind durchbrochen. Vorherrschend sind Turboakzeleration und Kapitallogik. In deren Folge sind Sprünge und Risse, Widersprüche und Konflikte auszumachen, die den sozialen und kulturellen urbanen Raum in Bedrängnis versetzen. Novi Beograd/New Belgrade ist ein exemplarisches Labor der Ideologien und der Ökonomien.

In dieser explosiven Melange der Veränderungen initiierte Zoran Eric, Kurator des Centre for Visual Culture am Museum of Contemporary Art (MoCAB) in Belgrad, das langfristig angelegte künstlerische und urbanistische Rechercheprojekt Differentiated Neighbourhoods. Das Zentrum für visuelle Kultur kann als paradigmatisch für die ideologischen Veränderungen des Kulturbegriffs im spezifischen lokalen Kontext von Belgrad angesehen werden. Es war in den 1970er Jahren gegründet worden, hatte sich aus der Museumspädagogik heraus entwickelt und verfolgte den Anspruch durch Kunst zu erziehen. Es setzte auf die soziale Rolle von Kunst und kooperierte in seinen Seminaren und Aktivitäten mit Schulen, mit Fabriken, mit öffentlichen Firmen, mit Universitäten. Als Zoran Eric 2005 an diesem Zentrum für visuelle Kultur die Stelle des Kurators annahm, galt es, dessen Rolle in den veränderten Rahmenbedingungen der Verhältnisse zwischen Gesellschaft, Kultur, Staat und Stadt neu zu definieren. Wiewohl manche der Begriffe gleich geblieben sein mögen, ist es ihr Bedeutungsinhalt und ihr Kontext, der neue Ansprüche stellt, andere Inhalte und Zusammenhänge konstruiert. Die Publikation Differentiated Neighbourhoods of New Belgrade ist als eine Nachlesespur aus dem Recherche- und Untersuchungsprojekt in und über Novi Beograd geblieben.

Trotz globalisierter Bewegungsströme sind nicht alle Orte der Welt gleichermaßen im System von Austausch und Mobilität mit eingeschlossen. Das Buch Differentiated Neighbourhoods of New Belgrade, das mit einem Zitat des Globalisierungstheoretikers Arjun Appadurai über die Produktion von Neighbourhoods beginnt, ist wegen Auslieferungsrestriktionen nicht international auslieferbar, es muss direkt über das Museum of Contemporary Art in Belgrad (www.msub.org.rs) erworben werden.

Um einen kritischen Diskurs und eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Novi Beograd zu führen, wurde im Februar 2006 ein erstes Treffen des Teams veranstaltet. Der Hintergrund der Auseinandersetzung ist zum einen die Gegenwart in Novi Beograd, in der Eric die „perverse Ehe von neoliberalem, räuberischem Kapitalismus und aggressivem orthodoxem Christentum“ betont. Zum anderen ist es das spezifische historische Erbe dieses Stadtteils als Moderneexempel des Sonderwegs Jugoslawiens zwischen Ost und West. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Novi Beograd von jugoslawischen Arbeitsbrigaden errichtet. 1961, das im heutigen Westen als jenes Jahr in kollektiver Erinnerung geblieben ist, in dem der Mauerbau in Berlin begann, fand in Belgrad die Gründungssitzung der Bewegung der Blockfreien Staaten statt, initiiert vom jugoslawischen Präsidenten Tito, vom ägyptischen Staatschef Nasser, vom indonesischen Präsidenten Sukarno sowie vom indischen Premier Nehru.

Der über ein Jahr währende Prozess der lokalen Stadtfeldforschung Differentiated Neighbourhoods führte zu drei Themenschwerpunkten. Zum einen wurde eine Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe Novi Beograds als Verwaltungshauptstadt des sozialistischen Jugoslawiens und mit der Frage der sozialräumlichen Homogenisierung versus Differenzierung geführt. Ein zweiter thematischer Schwerpunkt konzentrierte sich auf die aktuellen urbanen Transformationen und den bedrohlich-überwältigenden Vormarsch von neoliberalen, kapitalintensiven Kräften, die in die leeren Räume von Novi Beograd eindringen und diese in Besitz nehmen. Der dritte Angelpunkt der künstlerischen und urbanistischen Recherchen setzte auf eine Innensicht, auf die subkulturellen, marginalisierten und segregierten neighbourhoods und die kollektiven Orte, an denen ein Gefühl der Identifikation und der lokalen Identität (wieder) entstehen kann. Hier stellte sich auch zentral die Frage, wie Community Building durch künstlerische oder urbanistische Strategien und Methoden mitinitiiert und befördert werden kann.

Das Buch und die dazugehörige DVD versammeln nun Einsichten in dieses prozessbasierte, diskursreiche und rechercheintensive Kunstprojekt. Die Vielzahl der Essays und der fotografischen Dokumente beinhaltet unter anderem einen Essay von Ljiljana Blagojevic zu New Belgrade: The Capital of No-City's Land, den Beitrag von Mark Terkessidis The Space in-between the Blocks. Learning from Local Modes of Place-making, die Auseinandersetzung von Sabine Bitter und Helmut Weber mit NEW, Novi Beograd 1948 - 1986 - 2006, die Untersuchungsmethode von Dubravka Sekulic, Dunja Predic und Davor Eres We Ask Architects Who are Asked: As Those Asked about New Belgrade, Stefan Römers Road-movie Boulevard der Illusionen oder Bik van der Pols Art is either Plagiarism or Revolution, or: Something is Definitely going to Happen Here.

Im Zuge der intensiven künstlerischen Stadtfeldforschungen fand eine Wiederentdeckung des Textes von Henri Lefebvre zum städtebaulichen Wettbewerb zu Novi Beograd aus dem Jahr 1986 statt. Aus diesem Fund gestalteten Sabine Bitter und Helmut Weber in Folge das Künstlerbuch Autogestion or Henri Lefebvre in New Belgrade. Lefebvre sah die Stadt als partizipatives Oeuvre aller. Gegen die obrigkeitsverordnete Stadtplanung wurde das Potenzial der Selbstorganisation gestellt. Differentiated Neighbourhood, erschienen auf Englisch und auf Serbisch, ist intellektuelle Aufbauarbeit, sich mit dem Denkmöglichen von Stadt in rasanten Transformationsprozessen intensiv auseinanderzusetzen.


MOCAB CVC 2009
Novi Beograd: Differentiated Neighbourhoods
Text: serbisch und englisch, inkl. einer DVD
440 Seiten, ca. 25 Euro

dérive, Fr., 2010.06.04

04. Juni 2010 Elke Krasny

Catrin Bolt: Wahrnehmungsverschiebungen

Vor fast einem Jahr konnte Catrin Bolt den Wettbewerb Mahnmal für die Zwangsarbeiterlager St. Pölten-Viehofen unter 164 TeilnehmerInnen ex aequo mit Tatiana Lecomte für sich entscheiden. Die Umsetzung dieses Projektes soll durch Kunst im Öffentlichen Raum Niederösterreich und die Stadt St. Pölten noch in diesem Jahr erfolgen. Orientierungstafeln, die im jetzigen Freizeitareal aufgestellt werden, zeigen dann die Gegend aus der Vogelperspektive, allerdings auf einem Foto aus dem Jahr 1945, auf dem die zwei Zwangsarbeiterlager zu sehen sind. Durch die Kombination des auf den Ort abgestimmten Mediums mit der historischen Darstellung des Ortes eröffnet sich eine Perspektive, die das nicht mehr Sichtbare und Vergessene wahrnehmbar macht.

Zugänge dieser Art bestimmen sehr häufig die Arbeit von Catrin Bolt, die im Spannungsfeld zwischen Fotografie und Objekt tätig ist. Den Objekten wird durch fotografisch motivierte Darstellungs- und Wahrnehmungsverschiebungen eine aktive und neue Rolle zugeschrieben. Dabei bekommt das fotografierte Objekt durch ganz einfache Mittel, wie Blickpunkt und Bildwinkel, einen neuen inhaltlichen Kontext. So hat Catrin Bolt beispielsweise 2005 in Georgien Alltagsgegenstände und Möbel in verschiedenen Landschaften inszeniert, so dass aus ihnen Skulpturen geworden sind. Es handelt sich dabei jedoch weder um klassische Skulpturen im Sinne der New Yorker 1960er Jahre noch um Readymades, wie dies die Objekte selbst suggerieren. Vielmehr ist es der gewählte Standpunkt, der eine neue Art von Skulptur produziert.

Für das Kunstinsert dieser dérive-Ausgabe hat Catrin Bolt in Paris eine Serie von Fotoarbeiten erstellt, die sich thematisch der Architektur annähert. Oft haben Gebäude eine besondere Anziehung, wenn man nicht gleich erahnt, welche Funktion sie tatsächlich haben – es entsteht eine Offenheit, die ihnen eine Chance gibt als unabhängiges Objekt zu bestehen. Mit dem Titel MoMA-Series beschreibt Catrin Bolt diese jedoch als Museen Moderner Kunst. Zurzeit arbeitet Bolt in Odessa und Sydney an einer Ausstellung mit dem Titel Thema verfehlt für den Kunstraum Lakeside in Klagenfurt, die am 19.5.2010 eröffnet wird.

dérive, Fr., 2010.06.04

04. Juni 2010 Paul Rajakovics

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