Editorial

Normal – Direkter Urbanismus x 4 heißt ein Projekt, das transparadiso, das sind Barbara Holub und Paul Rajakovics, im Rahmen von Graz Kulturjahr 2020 umgesetzt haben. Das Kulturjahr war für sie »eine außergewöhnliche Chance, um relevante Themen von Stadtentwicklung an den Rändern, in ›peri-urbanen‹ Räumen, zu behandeln, die – obwohl die Mehrheit der Bevölkerung in solchen Räumen lebt – kaum im Planungsinteresse liegen«. Barbara Holub und Paul Rajakovics sind seit vielen Jahren für das Kunstinsert in dérive redaktionell verantwortlich und arbeiten im Kunst- und Architekturkontext an urbanen Themenstellungen. Zu Beginn des Projekts vor zwei Jahren (siehe dérive 79) haben die beiden einen ersten Beitrag in dérive als Vorschau auf Normal veröffentlicht. Nun, nach Abschluss des Projekts, haben wir ein ausführliches Interview zu ihrer Arbeit geführt. Transparadisos künstlerisch-urbanistische Auseinandersetzung mit der Grazer Peripherie nahmen wir zum Anlass, einen Schwerpunkt zusammenzu­stellen, der ähnliche Projekte in mehreren Städten gemeinsam vorstellt und Texte bringt, die sich der Thematik Stadtrand, Kunst und Kultur widmen.

Das Thema Peripherie ist nur eines, das transparadiso mit Normal – Direkter Urbanismus x 4 anvisiert haben. Wie der Titel schon verrät, spielten Normalität und damit Normsetzungen und Differenz eine wichtige Rolle. Wie sieht ein ›normales‹ Leben, ein ›normales‹ Wohnen (am Stadtrand) aus und wer bestimmt, was ›normal‹ ist? Wie verhält sich die Kunst zum Unspektakulären der Normalität? Ausgelöst hat dieses Nachdenken das Motto des Grazer Kulturjahres: Wie wir zusammen leben wollen?

Ein Autor, der sich schon viele Jahre mit dem Thema Peripherie und Kunst beschäftigt, ist der römische Kurator Giorgio des Finis. Er stellt in seinem Beitrag Die Stadt durch das Museum denken Museumskonzepte an der römischen Peripherie vor, die »als Gegenmaßnahme zum fortschreitenden Abbau des öffentlichen Raums« einen Begriff von Stadt vorschlagen, der »das ›Leben‹ in den Mittelpunkt stellt, das urbane Ökosystem als Gemeingut betrachtet und gegen die Idee einer Stadt kämpft, die nur der Ausbeutung und dem Profit dient«. Das reicht vom Museo delle periferie (RIF), das ein »Ort der Begegnung, der Verdichtung und Zusammenarbeit« im Stadtteil sein will, bis zum Museo dell’Altro e dell’Altrove (MAAM; dt: das Museum des Anderen und des Anderswo), das in einem besetzten Hausprojekt ansässig ist, dessen Schutz Ziel des Museums ist.

Nach der dritten Brücke über den Bosporus und dem neuen Flughafen von Istanbul ist der Istanbul-Kanal das nächste Megaprojekt, das Recep Tayyip Erdoğan gegen alle vor allem ökologischen Bedenken in Istanbul umsetzen will. Der Künstler Serkan Taycan hat bei der Istanbul Biennale 2013 das künstlerische Projekt Between Two Seas gestartet, das eine Wanderung entlang der 60 km langen prognostizierten Strecke des Kanals umfasst, um den Teilnehmer:innen diese bei vielen Stadtbewohner:innen wenig bekannte Region in der Peripherie von Istanbul nahezubringen. »In diesem Sinne ist das Gehen eine Suche nach Wissen, ein Akt der Solidarität und ein Akt des Widerstands«, schreiben die beiden Architekturwissenschaftlerinnen Ipek Türeli und Meltem Al in ihrem Beitrag über Taycans Projekt.

Die Ungleichbehandlung von Zentrum und Peripherie, was die Versorgung mit Kultureinrichtungen anbelangt, reicht im Osten Deutschlands in die Zeiten der DDR zurück. Zwar fehlte es selten an großen Plänen, zur Umsetzung kam es jedoch zumeist nicht. »Wie in den Neustädten Schwedt, Hoyerswerda oder Hellersdorf wurden auch in Halle-Neustadt keine prägnanten Kulturbauten realisiert, allerdings die damals größte Kaufhalle der DDR«, schreibt der Berliner Autor und Kurator Jochen Becker in seinem Beitrag, der diesen Mangel bis in die Gegenwart diagnostiziert. Beckers Text pendelt zwischen Einblicken in die Planung der Großsiedlungen der DDR, der künstlerischen Auseinandersetzung mit ebendiesen nach Ende der DDR und einem Hinweis auf die station urbaner kulturen, einem aktuellen diskursiven Veranstaltungs- und Ausstellungsraum im Berliner (Rand-)Bezirk Hellersdorf, an dem er beteiligt ist.

Im Magazinteil setzt Ursula Maria Probst mit ihrer Interviewserie zur Kunst im öffentlichen Raum fort. Für diese Ausgabe hat sie mit Cornelia Offergeld, der neuen Kuratorin von KÖR Wien, über soziale Verantwortung in der Kunst, Individualität und Kollektivität, Stadtgeschichte, Migration und Nachbarschaft und selbstverständlich über ihre kommenden Themenschwerpunkte gesprochen.

Der zweite Beitrag des Magazinteils kommt noch einmal zurück nach Graz und erinnert uns an ein wegweisendes Hausprojekt, das gemeinschaftliches und selbstbestimmtes Wohnen im Gemeindebau ermöglicht hat. Es handelt sich dabei um das 1987 eröffnete Haus für Studenten am Grazer Lendplatz, das über drei Jahrzehnte von Student:innen selbstorganisiert bewohnt wurde. Jomo Ruderer hat sich im Zuge seiner Diplomarbeit nicht nur mit der Geschichte des Objekts beschäftigt, sondern auch über neue Nutzungsmodelle nachgedacht.

Für das Kunstinsert dieser Ausgabe kombiniert die in Paris lebende Künstlerin Tiphaine Calmettes Bilder aus ihrem Atelier zu einem ausschnitthaften Bildatlas. »In ihren Objekten, Installationen und sozialen Ereignissen«, schreibt Andreas Fogarasi in seinem Text zum Insert, »provoziert [sie] Entropie und Kontrollverlust und beweist dennoch eine große Sensibilität für die Möglichkeiten künstlerischer Form«.

Eine anregende Lektüre wünscht Christoph Laimer

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt

04—11
Die Normalität von Vielfalt und Einfalt in städtischen Peripherien
Gespräch über ein Kunstprojekt an den Rändern von Graz
Barbara Holub & Paul Rajakovics (transparadiso), Christoph Laimer

12—16
Die Stadt durch das Museum neu denken
Giorgio de Finis

17—24
Wandern in der Peripherie
Aktivistische Kunst und städtischer Widerstand gegen Megaprojekte in Istanbul
Ipek Türeli, Meltem Al

25—31
Reiz der Pampa
Großsiedlungen und urbane Kulturen
Jochen Becker

Kunstinsert
32—36
Tiphaine Calmettes
Une petite histoire entre nous, arrangements #1,2,3,4
Andreas Fogarasi

Magazin

37—42
Gemeinschaftliches und selbstbestimmtes Wohnen im Gemeindebau
Vergangenheit und Zukunft eines Grazer Pilotprojekts
Jomo Ruderer

43—46
Öffentliche Kunst am Schnittpunkt von Kunst, Gesellschaft und Politik
Cornelia Offergeld, Ursula Maria Probst

Besprechungen

47—54
Urbane Räume in der plattformbasierten Organisation sozialer Reproduktion S. 47
Solidarität unter Nicht-Gleichen S. 48
Jenseits des Spektakulären S. 49
De-Tours – Wie Film urbanen Raum produziert S. 50
Europa macht Platz S. 52
Trotzdem – »Theater als Chance, das Leben wirklich zu sehen« S. 53
Bad Gastein 2.0 – es wird wieder nach Gold gegraben S. 55

60
Impressum

Urbane Räume in der plattformbasierten Organisation sozialer Reproduktion

Gerade in der Stadt sind Strukturen des Plattformkapitalismus augenfällig: Auf Rad- und Fußwegen bringen Lieferdienste Einkäufe kurzfristig zur Kundschaft, für die verpasste letzte U-Bahn lässt sich per App ein*e Uber-Fahrer*in buchen, samstags fährt die Reinigungskraft von einem Haushalt zum nächsten und richtet die Wohnung für das Wochenende her.

Auch das Babysitten und Pflegeeinsätze können als ›Gigs‹ per App gebucht werden. Der Sammelband Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion fragt, wie sich Care-Arbeit im digitalen Kapitalismus verändert und nimmt Letzteren als Brennglas für sozialen Wandel diesseits der Wohnungstür. Plattformbasierte Geschäftsmodelle – so die Ausgangsüberlegung der Herausgeber:innen – seien aufschlussreich, um die gegenwärtige Logik sozialer Reproduktion nach einem neoliberalen Umbau von Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat zu verstehen. Zunächst formuliert Julia Dück einen subjekt- und staatstheoretisch fundierten Reproduktionsbegriff aus und erläutert damit die methodologische Perspektive des Sammelbands. Die Grenzen zwischen produktiver und reproduktiver fürsorglicher Arbeit würden historisch und kulturell fortlaufend verhandelt. Eine durch Produktivität und Wachstumszwänge krisenhaft gewordene soziale Reproduktion spiegele sich in verunsicherten Geschlechterbildern, sozialen Beziehungen und Lebensweisen sowie in ethisch-moralischen Konflikten wider. Die grundlegenden Mechanismen eines Strukturwandels sozialer Reproduktion im Plattformkapitalismus zeigt Moritz Altenried auf. Er arbeitet Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Geschäftsmodellen von Plattformunternehmen heraus: Ehemals informelle Arbeitsverhältnisse würden in Beschäftigungsmodellen wie ›Crowd Work‹ oder ›Gig Work‹ mit neuen digitalen Kontroll- und Bewertungstechniken kombiniert, und unternehmerische Risiken auf die Arbeiter:innen verlagert. Dies sei Grundlage für ein vermeintlich schlankes Geschäftsmodell, das darauf ziele, materielle und immaterielle soziale Infrastrukturen zu privatisieren und zu ökonomisieren. Der Beitrag von Ursula Huws beobachtet einen neoliberalen Rückzug des Sozialstaats von öffentlichen Diensten und eine Wiederkehr privater Dienstleistungen. Nutzungsweisen von Care-Arbeit vermittelnden Plattformen, die aus der gegenwärtigen Kommodifizierung von Hausarbeit hervorgehen, offenbaren dabei veränderte Klassenbeziehungen. Die Nutzung von plattformbasierten Angeboten sei ein klassenübergreifendes Phänomen. Machtbeziehungen seien also anhand verschiedener Nutzungsweisen zu erforschen.

Die in diesen Einführungsartikeln umrissenen Veränderungen sozialer Reproduktion werden in anschließenden Fallstudien vertieft. In der Gesamtschau geben sie neue Impulse für die Stadtforschung. Yannick Erkner, Marcella Rowek und Anke Strüver zeigen Raumproduktionen plattformvermittelter Hausarbeit und Pflege auf. Die bereits in suburbanen Eigenheimsiedlungen angelegte Unterscheidung von in Privaträumen (unsichtbar) verrichteter Hausarbeit und im urbanen Raum (sichtbarer) produktiver Arbeit würde gegenwärtig auch in vornehmlich urban verankerter plattformvermittelter Hausarbeit fortgeführt.

Begegnungsräume für die Care-Arbeiter:innen fehlen auch hier, was eine (Selbst-)Organisation erschwere. Wenn sich die Autor:innen auf der Grundlage dieser raumbezogenen Perspektive für eine umfassendere Untersuchung plattformbasierter Sorgearbeit aussprechen, ist damit auch die Suche nach Räumen für politische Beziehungen unter Haus- und Pflegearbeiter:innen allgemein verbunden. Dieses Desiderat kritischer Sozialforschung löst Lisa Bor ein, indem sie Helpling, eine Reinigungskräfte vermittelnde Plattform, in beobachtender Teilnahme untersucht. Auch sie resümiert: Plattformen verstärkten den Charakter unsichtbarer Arbeit. Informelle Räume, Chats und Facebook-Gruppen, die momentan Foren zum Erfahrungsaustausch bieten, könnten Ansatzpunkte für eine noch ausstehende Organisierung sein. Mira Wallis wirft den Blick auf individuelle Zeitkonflikte zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit.
Plattformvermitteltes Crowd Working von zu Hause aus erscheint hier vielfach als Lösung, um Lohnarbeit und private Pflege- und Erziehungsarbeit zu verbinden. Prekäre, unterbezahlte Solo-Selbstständigkeit von zu Hause aus erscheint den Arbeiter:innen als Teilhabechance auf dem Arbeitsmarkt – trotz eigener familiärer Sorgeverpflichtungen. Diese Analyse von Wallis rekonstruiert spezifische Krisenmomente sozialer Reproduktion in der Peripherie als verschärfte Ausschlüsse gerade von öffentlichen Care-Infrastrukturen. Rabea Berfelde erforscht Motive für die Vermietung der eigenen Wohnung auf Airbnb. Analysen von Touristifizierung und Verdrängung in Städten fügt Berfelde die Beobachtung hinzu, dass die Vermietung über Airbnb ein Reproduktionsmodell anbiete, in dem Prekarisierte allerdings zu Akteur:innen von Gentrifizierung würden.

Diese empirischen Analysen liefern ein dichtes Bild von Erfahrungen einer im Neoliberalismus krisenhaften sozialen Reproduktion und von Strategien ihrer Handhabung. Sie zeigen dabei auf vielseitige Weise Raumproduktionen gegenwär­tiger Care-Arbeit auf. Damit liefert der Sammelband wichtige Impulse für Architektur und Stadtplanung. Gerade wenn es um die praktische Frage nach einer sozial gerechten gemeinschaftlichen bzw. öffentlichen Organisation von Care-Arbeit geht, regt der Sammelband zur interdisziplinären Debatte an: Welche Räume sollten für eine neue Gestaltung sozialer und gesellschaftlicher Reproduktion geschaffen werden? Die Autor:innen verdeutlichen: Ein erster Schritt liegt in der Sichtbarmachung.


Moritz Altenried, Julia Dück, Mira Wallis (Hg.)
Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion
Münster: Westfälisches Dampfboot, 2021
295 Seiten, 30 Euro
Open access: https://www.rosalux.de/publikation/id/44269/plattformkapitalismus-und-die-krise-der-sozialen-reproduktion

dérive, Di., 2022.03.01

01. März 2022 Gisela Machenroth

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