Editorial

Editorial

24 Ausgaben lang hieß der Medieninhaber und Verleger von dérive Verein IWI, ab dieser Ausgabe ist der Zeitschriftentitel mit dem Namen des Medieninhabers und Verlegers ident. Aus dem Verein IWI wurde der Verein dérive und der ist nun kein „normaler“ Kulturverein mehr sondern ein Verein für Stadtforschung. Das wird zwar an der Zeitschrift dérive nichts Großartiges verändern, schließt aber für einen Teil des dérive-Umfeldes doch ein Kapitel sozusagen offiziell ab, das eigentlich bereits vor Jahren beendet wurde und dem diese Zeitschrift einiges zu verdanken hat. IWI war eine Zeitschrift, die es in rund 3,5 Jahren auf ca. 180 Ausgaben gebracht hat und kaum einen Leser oder eine Leserin hatte, die nicht irgendwann selbst einen Beitrag verfasst hatte. IWI veranstaltete großartige Feste mit grandiosen Konzerten, die meist von den damaligen IWI-Haus- und Hofbands Die Antwort auf alles andere und Thilges 3 bestritten wurden. Selbstverständlich gab es auch ein IWI-eigenes Musiklabel, das eine Reihe von Kassetten und eine CD veröffentlichte. Gelegentlich gab es auch Ausstellungen und Modeschauen und es gab die Forschungsreisen durch Wien der IWI-Neigungsgruppe Stadtforschung, die sich den Namen laboratoire dérive verpasste und erste Überlegungen anstellte, eine neue Zeitschrift zu gründen. Dass nun ausgerechnet in dieser Ausgabe einige Fotos dieser Forschungsreisen verwendet werden, ist ein genauso reiner wie schöner Zufall. Auf dem Cover sind der Herausgeber und der Schwerpunktredakteur dieser Ausgabe zu sehen, wie sie sich irgendwann Ende der 1990er Jahre durch Wien treiben lassen.

So nun genug des nostalgisch (verklärten?) Blicks in die Vergangenheit. dérive ist seit dieser Ausgabe Mitglied bei Eurozine, einem Netzwerk europäischer Kulturzeitschriften, das auf seiner Website Artikeln der Mitgliederzeitschriften veröffentlicht. dérive wird nun von jeder Ausgabe einen Artikel für Eurozine zur Verfügung stellen, ebenso wie die rund 50 anderen Zeitschriften aus fast allen europäischen Ländern. Ein Blick auf die Website www.eurozine.com wird hiermit nachdrücklich empfohlen.

Ein weiterer Partner von dérive ist die Web-Architekturplattform nextroom (www.nextroom.at). In Heft 21/22 haben wir bereits kurz über die Kooperation berichtet: dérive beliefert die internationale nextroom-Fachbibliothek regelmäßig mit Beiträgen. nextroom feierte unlängst sein zehnjähriges Bestehen – wir gratulieren.

Der Schwerpunkt dieses Heftes hat den Titel Stadt mobil und thematisiert, wie Schwerpunktredakteur Erik Meinharter in seinem Einleitungstext schreibt, „nicht Verkehr, Verkehrspolitik, Verkehrsplanung, Verkehrsrecht, etc. ..., sondern die zentral beim Menschen situierte Mobilität in all ihrer städtischen Differenzierung.“ Das Spektrum der Beiträge reicht von Sándor Békésis Beitrag über die politische Geschichte des Stadtverkehrs, Manfred Russos Artikel über Bahnhöfe als Passagenraum und Stefan Bendiks Betrachtungen über die Stadt auf der Straße bis zu Anja Simmas Analysen vom Verhältnis von Raumstruktur und Verkehrsverhalten, Christoph Gollners ganz persönlichen Anmerkungen eines passionierten U-Bahn-Fahrers und Erik Meinharters Abschlusstext Gehen als urbane Strategie und urbanistische Praxis. Mehr dazu im Einleitungsartikel.

Im Magazinteil gibt es diesmal ein Interview mit Yona Friedman und eine Fortsetzung der unangekündigten Streetart-Serie von Daniel Kalt – diesmal stehen die Schablonengraffiti von Banksy im Mittelpunkt. Besonders freut uns, dass wir nun endlich einen Essay von Stefan Römer veröffentlichen können, der schon seit Jahren geplant war. Peter Neitzke berichtet vom Symposium City Sharing, das im Mai in Bukarest stattgefunden hat. Volker Eick interviewte Tobias Singelnstein und Peer Stolle, die beiden Autoren des Buches Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, und liefert damit einen Nachtrag zum letzten Schwerpunkt Sicherheit: Ideologie und Ware. Manfred Russos Serie über die Geschichte der Urbanität widmet sich diesmal Gérard de Nerval, dem Erfinder der urbanen Abschweifung. Am Ende des Heftes gibt es wie immer eine Reihe von Besprechungen. Christoph Laimer

Inhalt

Editorial
Christoph Laimer

Stadt mobil

Stadt mobil | Erik Meinharter
Die subversive Kraft des Kontrafaktischen | Sándor Békési
Raumstruktur und Verkehrsverhalten oder die Frage nach der Henne und dem Ei | Anja Simma
Der Bahnhof als Passagenraum | Manfred Russo
Stadt auf der Straße | Stefan Bendiks
Ahnen, nicht wissen: von der Freiheit im Überraum | Christoph Gollner
Gehen als Strategie und urbanistische Praxis | Erik Meinharter

Magazin

Der erratische Zustand der Realität
Yona Friedman, André Krammer, Christian Kühn
Architektur und Macht, Inklusion, Exklusion | Peter Neitzke
White Cubes, Black Boxes oder die Suche nach einer zeitgenössischen Kunstpräsentation im Ambient | Stefan Römer
Der Kunstbetrieb und seine unbekannten Größen: Der Fall Banksy | Daniel Kalt
Auf dem Weg in eine Sicherheitsgesellschaft: Das Versprechen von Sicherheit führt zur Verunsicherung | Volker Eick
Auf nach Chisinau! Christoph Laimer über Sprung in die Stadt - Chisinau, Sofia, Pristina, Sarajevo, Warschau, Zagreb Ljubljana herausgegeben von Katrin Klingan und Ines Kappert | Christoph Laimer

Serie

Geschichte der Urbanität:
Transformationen der Öffentlichkeit, Teil III: Der Flaneur II - Frühe Stadtsüchtige | Manfred Russo

KünstlerInnenseite:
Miniconflicts | Anna Meyer

Besprechungen:
Großer Bahnhof. Eine Ausstellung, die um Jahrzehnte zu spät kommt. Manfred Russo über die Ausstellung Großer Bahnhof - Wien und die weite Welt im Wien Museum | Manfred Russo
Wohnen im Bauwagen | Christoph Laimer
Die Stadt der Theorie ohne Theorie der Stadt. Andrè Krammer über Angelus Eisingers Buch Die Stadt der Architekten. Anatomie einer Selbstdemontage | André Krammer
Was sind temporäre Räume? Margit Schild über Temporäre Räume. Konzepte zur Stadtnutzung herausgegebenvon Florian Haydn, Robert Temel | Margit Schild
Gefahrenherd Millionenstadt? Christoph Laimer über Florian Rötzers Essay Vom Wildwerden der Städte | Christoph Laimer
Die gehobene Stadt. Thomas Ballhausen über Hans Peter Duerrs Rungholt - Die Suche nach einer versunkenen Stadt | Thomas Ballhausen
Lob der Klothoide. Iris Meder über Raum-Maschine Reichsautobahn von Benjamin Steininger | Iris Meder
Ein Leben im Exil. Christoph Laimer über Anny Robert: Herlich ist's in Tel Aviv - aus der Wiener Perspektiv' herausgegeben von Daniela Ellmauer et al | Christoph Laimer
Vom Ghetto ins Gefängnis. Christoph Laimer über die Essaysammlung Das Janusgesicht des Ghettos von Loïc Wacquant | Christoph Laimer

Stadt mobil

Mobilität, verstanden als Beweglichkeit und nicht als Bewegung an sich, stellt eine Grundfunktion des gesellschaftlichen Systems und der städtischen Entwicklung dar. Sie ist keine ziel- oder zweckbestimm-te Ressource, sondern eine Basis des gesellschaftlichen Handelns. Auch wenn sie noch so eingeschränkt oder in ihren Möglichkeiten begrenzt ist, stellt sie einen individuellen Faktor des gesellschaftlichen und auch städtischen Lebens dar. Deshalb wird in dieser Ausgabe nicht Verkehr, Verkehrspolitik, Verkehrsplanung, Verkehrsrecht etc. behandelt, sondern die zentral beim Menschen situierte Mobilität in all ihrer städtischen Differenzierung. Am ehesten nähert sich die Ausgabe der Forderung Stephan Rammlers an, die vernachlässigte Disziplin einer Verkehrssoziologie weiter auszubauen, stadtwissenschaftliche Beiträge zum Verkehr zu liefern.

Mobilität und Stadt sind untrennbar verbunden

Stadtgründung fußt auf der Möglichkeit des Transports von produzierten Gütern aus dem Umland in die primärproduktionslose Stadt. Die Stadtentwicklung reagiert als Netzwerk von Bewegungsräumen und den dazwischenliegenden „statischen“ Elementen der Parzellen auf die Bewegungen von Menschen und Gütern. Stadt ist auf diese Bewegungen angewiesen und verändern sich deren Formen, verändert sich auch die Stadt. Aus der räumlichen Anordnung von unterschiedlichen Funktionen resultiert ein Transport entlang dieses Netzwerks. Lageveränderungen und Verbindungsveränderungen aufgrund politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher und technischer Neuordnungen, die Auswirkungen auf die Mobilität der Gesellschaft haben, zeigen sich, wenn auch aufgrund der Stabilität des städtischen Netzwerks sehr langsam, in der Stadtstruktur. Ändert sich die Mobilität, ändert sich auch die Stadt.

Stadtplanerische Eingriffe, wie zum Beispiel eine forcierte Stadtentwicklung ent-lang radialer Achsen, ziehen erst Jahre später Modifikationen des Mobilitätsverhaltens und weitere Entwicklungen entlang dieser Achsen nach sich. Auch ver-änderte Regulationsmechanismen oder ökonomische Wandlungen beeinflussen die Mobilität. Diese Entwicklungen sind voneinander abhängig. Die Auswirkungen der Pendlerpauschale in Österreich oder der km-Pauschale in Deutschland um 1955 (vgl. Kühne) auf die Wahl des Verkehrsmittels bei notwendiger Mobilität sind sicherlich als sehr stark das Mobilitätsverhalten beeinflussende Faktoren einzuschätzen. Dadurch können Versuche, wie z.B. mittels Aufklärungsprogrammen auf eine neue „nachhaltige Mobilitätskultur“ hinzuwirken nur kleine Teilerfolge erzielen.

Missverständnis Automobilität

Mobilität wird zumeist als Automobili-tät missverstanden. Nicht nur auf der Basis dieses Missverständnisses werden soziale Komponenten der Mobilität wie unterschiedliche Verfügbarkeiten, Tagesabläufe oder Anforderungen nicht mobiler Gruppen in den Betrachtungen negiert. Die räumliche Dominanz des motorisierten Individualverkehrs, seine Eroberung der Straße durch die Durchsetzung einer „Dromokratie“ (vgl. Virilio) blendet andere Formen der Mobilität aus.

Das motorisierte Individualfahrzeug hat den Straßenraum entdemokratisiert und die Verfügbarkeit des städtischen Raumes gemäß seinen technischen Anforderungen differenziert und doch ist diese Entwicklung gleichzeitig mit einer Mobilitätssteigerung zuvor immobiler Gruppen verbunden. In der gesellschaftlichen Entwicklung hat das Automobil selbst keinen Individualisierungsschub ausgelöst. Es ist jedoch ein probates Mittel, dieser Tendenz Vorschub zu leisten, als soziale Praxis des individualisierten Verkehrs die gesellschaftliche Differenzierung zu unterstützen. Dies schlägt sich auch räumlich in einer Verfügbarkeit von zentrumsfernen Wohnorten nieder.

Das Automobil wird mit allem Optimismus eines intermodalen Verkehrsansatzes auch nur soweit tragbar sein, wie seine Infrastruk-tur eine Ausweitung und Verdichtung der Verkehrsmenge verkraftet. In einer Studie zur Mobilität 2025 im Auftrag des deutschen Automobilherstellers BMW wurde bereits vom Mythos des „individuell verfügbaren Fortbewegungsmittels“ Automobil abgegangen. Bei sinkenden Haus-halts-einkommen und steigenden Treibstoffpreisen wird dies auch nicht mehr leistbar sein.1

Der Mythos der Befreiung der Gesellschaft durch ein motorisiertes Individualverkehrsmittel ist schon aufgrund der Geschichte der Verbreitung des Automobils nicht halt-bar. Dementsprechend wird sich die Stadtstruktur wie auch die gesellschaftliche Mobilität verändern. Dass diese Entwicklungen jedoch auch in einem historisch-kritischen Zusammenhang gesehen werden können, beschreibt Sándor Békési eindrucksvoll in seinem Beitrag.

Orte der Mobilität in der Stadt

Auch die scheinbar statischen Orte der hohen Beweglichkeit sind für die soziale Struktur der Stadt von Bedeutung. Bahnhöfe, die bei ihrer Entstehung in ihrem Umfeld für Aufwertungen und städtische Verdichtungsmaßnahmen sorgen, sind als Gebäude im Stadtraum Transiträume und daher Zufluchtsorte ebenso wie Orte der Repräsentation. Die hohe Frequenz des Kommens und Gehens bietet die Möglichkeit, in überdachten Räumen nicht aufzufallen und gleichermaßen auffallend zu sein. Manfred Russo beschreibt in seinem Beitrag den Bahnhof als einen schon immer hoch verdichteten sozialen Ort.

Die Straße als Raum und Initial städtischer Entwicklung hat, wie an den radialen Entwicklungsachsen zu sehen ist, ebenfalls eine neue Zuschreibung bekommen. Wenn J. B. Jackson schreibt: „Roads no longer lead to places, they are places“, dann ist ein Schritt über die Mobilisierung des Raumes wieder retour zu dessen Fixierung geschehen. Stefan Bendiks von Artgineering be-trachtet in seinem Text so einen Raum, der nach einer rasanten Entwicklung als Verkehrsachse einen Urbanisierungsschub erfahren hat und dann durch eine neue Autobahn aus der kollektiven Erfahrung ausgeschieden ist. Was geschieht mit den Räumen der Bewegung, wenn sich diese von dort zurückzieht?2

Stadt formt Mobilität formt Stadt

Das Verhältnis von Stadt und Mobilität ist dialektisch. Mobilität von Menschen und Gütern verformt die Stadt im gleichen Maße wie die bestehende Stadtstruktur Formen der Mobilität ermöglicht oder ausschließt. Die „Stadt der kurzen Wege“ muss nicht eine Stadt mit weniger Verkehr bedeuten. Der Mythos vom im virtuellen Netzwerk verbundenen Heimarbeiter, der durch seine neue „freie“ Erwerbsarbeit (die nebenbei Nebenkosten des Arbeitgebers spart) auch noch für den Abbau von CO2, Feinstaub und sonstigen Umweltbelastungen sowie für die Befreiung verstopfter Straßen sorgt, sollte aufgelöst werden.

Das Verkehrsaufkommen, welches in der Mehrzahl vom Freizeitverkehr mitdominiert wird (vgl. Badrow), ist ein ge-sellschaftliches Phänomen, das sich nicht durch Schritte in Richtung der alten Zunfthäuser, die Arbeiten und Wohnen im Verband ermöglichten, stoppen lässt. Aus der Freiheit zur Mobilität ist längst ein Zwang erwachsen. Eine Dienstleistungsgesellschaft mit gestiegener Anforderung an Waren und Gütertransport und dem Transport von DienstleisterInnen zwischen verschiedenen Orten führt zu einer gene-rellen Mobilisierung des Individuums. Richard Sennet schreibt in seinem Buch Der flexible Mensch, dass nicht nur die äußere, sondern auch die geforderte innere Flexibilität des modernen Menschen Auswirkungen auf den Raum wie auch auf die Gesellschaftsstruktur hat. „Die moderne Kultur des Risikos weist die Eigenheit auf, schon das bloße Versäumen des Wechsels als Zeichen des Misserfolgs zu bewerten, Stabilität erscheint fast als Lähmung. Das Ziel ist weniger wichtig als der Akt des Aufbruchs. Gewaltige soziale und ökonomische Kräfte haben an dieser Insistenz auf ständiger Veränderung gearbeitet: die Entstrukturierung von Institutionen, das System der flexiblen Produktion – auch die handfesten Immobilien scheinen in Fluss geraten zu sein. Da will niemand zurückbleiben. Wer sich nicht bewegt, ist draußen.“(Sennet, S. 115). Im Beitrag von Anja Simma wird deutlich, dass unterschiedliche Alltagsstrukturen verschiedene Verfügbarkeiten von Mobilität erfordern und sich dadurch gesellschaftliche Differenzierungen oder Unausgewogenheiten über Bewegungsradien und verfügbare Handlungsspielräume der StadtbewohnerInnen ausdrücken. Diese Faktoren scheinen stärker zu wirken als die gemeinhin als bedeutend angenommenen von Raum und Mobilität.

Stadtrand und Zwischenstadt

Der Stadtrand hat sich als Form der autogerechten Stadtentwicklung in die ländlichen Bereiche ausgeweitet. Mobilität und Verkehr sind die treibenden Kräfte der Veränderung einer Stadt. Schon mit der industriellen Revolution und dem zunehmenden Waren- und Personenverkehr hat sich die Konfiguration der Stadt massiv verändert. Distanzen haben sich relativiert, feste räumliche Bezüge aufgelöst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor der Entstehung der modernen Massenmobilität, wurde die verändernde Kraft des (motorisierten) Verkehrs für die Städte thematisiert. Mit der auf dem 4. CIAM-Kongress 1933 (Thema „funktionale Stadt“) beschlossenen Charta von Athen war der mobilitätsgerechte – damals automobilitätsgerechte – Städtebau durch die Forderung einer Differenzierung der Straßen nach ihrer Funktion als eine zentrale Aufgabe der Stadtentwicklung entstanden. Diese Mobilisierung durchzieht dann die städtischen und städtebaulichen Strategien des 20. Jahrhunderts.

Heute ist offensichtlich, dass jede neue Maßnahme in der Stadt verschiedenste Formen von Verkehr nach sich zieht. Die unterschiedlichsten Verkehrsmittel (Automobil, Eisenbahn etc.) haben den Städtebau und die Stadt so maßgeblich verändert wie z. B. der Aufzug die Architektur. Die Bezeichnungen städtebaulicher Strategien binden sich an Mobilität, wie die Begriffe und Konzepte der „Bandstadt“3 (Soria y Mata 1882) oder „Zwischenstadt“ (Sieverts 1999) oder das Schlagwort der idealisierten „Stadt der kurzen Wege“ zeigen, und dokumentieren damit, wie untrennbar Stadt und Mobilität ineinander verwoben sind.

Die oben beschriebene Automobilisierung der Gesellschaft produzierte einhergehend mit einer Tendenz zur Individualisierung einen breiten, netzartigen Rand der Stadt. Der Urban Fringe ist in seiner patchworkartigen Netzstruktur die ideale Umsetzung der Stadt auf der Basis eines motorisierten Individualverkehrs. Eine Nivellierung der Zentren und eine Überbetonung der linearen Entwicklung entlang netzartig verlaufender Infrastrukturen führt zu einer Vermischung von Stadt und Land, die schlussendlich ihre Differenz auflöst. Diese Stadtlandschaft oder Metropole ist der Schlusspunkt der Auflösung des Stadtrandes.

Bewegung schafft Stadtbetrachtung und Stadterfahrung. Die Form der Bewegung kann entscheidend dafür sein, wie Stadt beschrieben, erfahren und betrachtet wird. Ob es die Initialerfahrung des U-Bahn-fahrenden späteren Stadtforschers ist, wie der Beitrag von Christoph Gollner zeigt, oder das Gehen am Stadtrand als künstlerische (Boris Sieverts) oder wissenschaftliche (Lucius Burckhardt) Praxis. Die Form der Bewegung kann aus diesen Zonen zu Erkenntnissen führen, die ein tieferes Verständnis von Stadt und Mobilität fördern und Strategien basierend auf alternativen Mobilitätsdefinitionen unterstützen.

dérive, Mo., 2006.10.23

Fussnoten:
[1] Hier sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt, dass diese Tendenz laut der Studie auch noch von einer Privatisierung des öffentlichen Personennahverkehrs begleitet werden soll.
[2] Manche Stätten der Bewegung werden zu Gedenkstätten der ideologischen Vergangenheit einer gewalttätigen „Versöhnung von Natur und Technik“, wie die „Strecke 46“, eine nie fertig gestellte Autobahnstrecke aus nationalsozialistischer Zeit zwischen Bad Hersfeld und Würzburg.
[3] Bezeichnenderweise war Arturo Soria y Mata, bevor er mit seinem Konzept einer „Ciudad lineal“ eine an einem Strang öffentlichen Verkehrs orientierte Stadtentwicklung propagierte, für die Planung der Straßenbahn in Madrid zuständig.

Literatur:
Alexander Badrow, Verkehrsentwicklung deutscher Städte im Spiegel repräsentativer Verkehrsbefragungen unter besonderer Berücksichtigung des Freizeitverkehrs,
Dissertation TU Dresden 2000
Lucius Burckhardt, Ist Landschaft schön? – Die Spaziergangswissenschaft. Berlin: Martin Schmitz Verlag, 2006
IFMO – Institut für Mobilitätsforschung – Eine Forschungseinrichtung der BMW Group, Zukunft der Mobilität – Szenarien für das Jahr 2025, Erste Fortschreibung, München: BWM AG Verlag, 2005
J. B. Jackson, A sense of Place ... A sense of Time. New Haven: Yale University Press, 1994
Thomas Kühne, Cornelia Rauh-Kühne (Hg.), Raum und Geschichte. Regionale Traditionen und föderative Ordnungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Leinfelden: DRW-Verlag, 2001
Stephan Rammler, Mobilität in der Moderne, Verkehrssoziologie – Geschichte und Theorie, in: WZB-Mitteilungen 94, 2001, S. 14-16
Richard Sennet, Der flexible Mensch. Berlin: Berlin Verlag, 1998
Boris Sieverts, Wie man Städte bereisen sollte, Ausstellungstext auf
www.neueraeume.de
Thomas Sieverts, Zwischenstadt, zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Braunschweig:Vieweg Verlag, Bauwelt Fundamente 118, 1997, 3. Auflage 1999
Paul Virilio, Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung. München: Hanser (Edition Akzente), 1989

23. Oktober 2006 Erik Meinharter

Der erratische Zustand der Realität

Yona Friedman, geb. 1923, ist französischer Architekt, Architekturtheoretiker und Stadtplaner ungarischer Herkunft, wohnhaft in Paris. In den 1960er Jahren veröffentlichte er die Manifeste „Architecture Mobile“ und „La ville spatiale“. Diese visionären Megastrukturen über bestehenden Städten, in denen die BewohnerInnen ihre räumliche und soziale Welt flexibel gestalten sollten, sind bis heute viel diskutierte Klassiker der städtebaulichen Avantgarde. Friedman sprach in seinem Vortrag in Wien über das Prinzip der Unberechenbarkeit und Unkontrollierbarkeit in der Mathematik, Physik, aber auch von räumlichen und sozialen Entwicklungen. Er plädiert angesichts einer erratischen Realität für das Operieren mit offenen Systemen, für eine in die Praxis umgesetzte direkte Demokratie, nicht zuletzt in der Produktion von Raum.

dérive: Sie haben Systeme konzipiert, die kontinuierlich verändert werden können – auf Grund sich verändernder Bedürfnisse und Wünsche. Heute dienen Architektur und Stadtplanung oft der Etablierung von Marken – das impliziert ein fixiertes, wieder erkennbares Bild. ArchitektInnen entwickeln ihre eigene Marke, um als „Stars“ wahrgenommen zu werden. Gibt es noch Raum für Konzepte und Strategien?

Yona Friedman: Ich möchte nicht ungerecht sein. Aber das System der Stars ist eine lächerliche Angelegenheit. Ich denke, dass Kultur von Gewohnheiten und Stilen geprägt ist. Es gibt natürlich individuelle Positionen, die aber in eine Gesamtheit eingebettet sein sollten. Auch das „Star-System“ der Vergangenheit brachte negative Resultate. Gotische und mittelalterliche Architektur war großartig, gleichzeitig individuell und doch ein gemeinsamer Stil. Wenn man gewisse Tendenzen in der Renaissance betrachtet, findet man hingegen Schwächen. Ein Stil da, ein anderer dort und keine Kohärenz. Die Kohärenz beginnt auf einer unteren Ebene, nicht auf der „Star“-Ebene. Und es gibt wunderbare Barock-Architektur, aber nicht unbedingt als Folge eines „Star“-Systems.

dérive: Hat Le Corbusier Ihre ville spatiale kommentiert?

YF: Ja – positiv. 1957 war ich sehr unsicher. Ich dachte, ich entwickle mich weg von der Architektur-Gemeinschaft. Ich habe während des CIAM-Kongresses in Dubrovnik bemerkt, dass die ville spatiale etwas Neues für die Architekten war. Ich wusste erst nicht, ob ich hingehen sollte. Ich traf Le Corbusier, und wir sprachen zwei Stunden. Er sagte mir: „Ich würde so etwas nicht machen, aber Sie müssen es machen. Alle Architekten werden gegen Sie sein. Aber das macht nichts.“ Es war eine sehr starke Unterstützung und ich hatte keine Bedenken mehr, mich mit diesem Rückhalt an Alison und Peter Smithson zu wenden. Aber ich komme noch einmal auf Ihre allererste Frage zurück. Le Corbusier hatte eine sehr seltsame Einstellung. Sein Erfolg war ja, dass er kopiert wurde, und er wurde oft kopiert. Aber er war zornig auf die Leute, die ihn kopierten. Das ist sehr seltsam. Weil ja genau diese Kopien sein Erfolg waren.

dérive: In der ville spatiale erbauen die BewohnerInnen die Stadt nach ihren individuellen Präferenzen - der/die ArchitektIn ist nicht SchöpferIn einer finalen Form, sondern stellt ein Rahmenwerk zur Verfügung. Aber individuelle Wünsche werden oft manipuliert – etwa durch Werbung und Kommerz. Sind freundliche, aufgeklärte NutzerInnen nicht eine Illusion?

YF: Ja, freundliche, aufgeklärte NutzerInnen sind eine Illusion, aber das kümmert mich nicht. Es können dumme NutzerInnen sein. Wenn man Leute auf der Straße anschaut, sind diese nicht notwendigerweise geschmackvoll angezogen, aber der generelle Eindruck ist vielfältig. Viele dumme NutzerInnen würden eine facettenreiche Landschaft erzeugen. Einfach auf Grund ihrer Anzahl und auf Grund von Regeln. Ein anderes Beispiel: Auf der Straße schaut man als ArchitektIn auf die Gebäude, aber das tut sonst niemand. Die Straße wird von den Auslagen der Geschäfte gebildet. Die sind banal, und doch geben sie der Straße ihre Lebensqualität.

dérive: Aber etwas anzuschauen und etwas zu erfahren sind zwei unterschiedliche Dinge. Sind Ihre Konzepte in Bezug auf Partizipation und Wahlmöglichkeit der NutzerInnen und Offenheit der Struktur universelle Prinzipien oder sind diese vom Kontext abhängig?

YF: Für mich ist das ein universelles Prinzip. Nicht nur in der Architektur. In meinen letzten Büchern habe ich Unberechenbarkeit thematisiert, in der Physik, in der Mathematik. Die Mathematik wird oft auf Arithmetik reduziert, auf ein regu-läres System, aber das ist sie nicht, sie ist voll von unberechenbaren Elementen. Ich könnte mich auf Gödel beziehen, aber auch, auf einer einfacheren Ebene, auf Leibniz. Man nimmt eine Zahl, addiert eine weitere. Und so weiter. Erhält eine Primzahl, dann eine perfekte Zahl, auf einmal eine Quadratzahl. Das bedeutet, dass man nie weiß, was als nächstes kommt. Das ist die Definition von Unberechenbarkeit/Unkontrollierbarkeit. Von einer bestimmten Stufe aus weiß man nicht, was die nächste bringen wird. Auch im sozialen Verhalten ist es ein Prinzip. Man weiß nicht, wie sich Leute verhalten werden. Alles ist möglich, zu jedem Zeitpunkt. Das ist die erratische Struktur der Realität.

dérive: Gestern in Ihrem Vortrag nannten Sie Architektur ein Hindernis. Als solches steht sie gewissermaßen diesen erratischen Prozessen im Weg. Deshalb möchten Sie sie zur Seite schieben. Hannah Arendt hat über öffentlichen Raum geschrieben, dass er etwas ist wie ein Tisch, ein Objekt zwischen Menschen, das diese gleichzeitig trennt und verbindet. Aber ein Objekt wird benötigt. Das Objekt hat hier nicht nur die Rolle eines Hindernisses, sondern auch die eines Gegenstandes der Verhandlung.

YF: Sie kennen die Raumdefinition von Leibniz. Raum existiert nicht, außer es gibt mindestens ein Objekt. Das ist evident. Das zeigt eine gewisse Komplementarität. Hindernisse sind notwendig, aber ich mag die Idee nicht, dass sie vorherbestimmt sind.

dérive: Es gibt zu viele Hindernisse in der Architektur?

YF: Das hängt vom Kontext ab, deshalb betone ich immer, dass soziales Verhalten erratisch ist. Leute brauchen manchmal Hindernisse, und sie schaffen welche. Manchmal wollen sie sie loswerden. Aber ich denke nicht, dass die Architekten das alleine definieren.

dérive: Welche Form von Machtstruktur wäre Ihrer Meinung nach fähig, ein derart aufwändiges System wie die ville spatiale zu implementieren?

YF: Ich denke, die Machtstruktur wäre nicht geplant und wäre mehr und mehr reduziert. Es würde sehr stark von natürlichen Führungstalenten abhängen. Leute haben eine Idee und könnten eine Gruppe bilden. Das ist noch nicht sehr gefährlich.

dérive: Wie sehen Sie das Verhältnis von Privatheit, Öffentlichkeit und Politik? Was denken Sie über die Beziehung von Politik, Architektur und Urbanismus? Glauben Sie an große Politik, große Projekte?

YF: Ich denke, darin liegt meine Kritik an der Mainstream-Architektur. Sie ist unweigerlich ein politisches Werkzeug. Das Star-System ist typischerweise die Kreation einer bestimmten politischen Einstellung. Mein Denken ist nicht unpolitisch, aber auf andere Weise politisch. Sie könnten es direkte Demokratie nennen, wenn Sie wollen. Aber es geht nicht um große Worte. Sie entsteht im Handeln. Leute laufen über die Kärntnerstraße, das ist ursprüngliche, direkte Demokratie. Niemand stößt an den anderen an. Niemand tötet den anderen. Es funktioniert. Es hat seine eigene Regelhaftigkeit. Das ist für mich Gesellschaft: Individuen, die von Gepflogenheiten zusammengehalten werden. Die Routine ist das stärkste Element. Das ist niemals abstrakt, es passiert affektiv.

dérive: Sehen Sie Ihre Arbeit für die UNESCO als politisch an?

YF: Ja und Nein. Ich habe das nicht als politisch betrachtet, aber es hat Menschen beeinflusst. Sie hatten ein Problem und suchten nach Rat. Und Rat kann nicht nur gelehrt sein, man kann Anstöße geben. Sie machten es dann auch auf Ihre Weise. Ich weiß nicht, ob Sie Paolo Frere kennen. (Anm. d. Red.: Der Initiator einer Pädagogik der Unterdrückten) Er meinte, es wäre das Wichtigste, AnalphabetInnen zu unterrichten. Das war der Grund dafür, dass wir befreundet waren, weil ich das auf visuellem Gebiet versuchte. Als ich Zeichnungen und Poster mit Leuten im öffentlichen Raum in Indien machte, fingen die Leute an, es selbst zu tun, es wurde zu einer Form des Ausdrucks. So wie Rap politisch wurde. Ich denke, es geht immer um die Idee der eigenen Verantwortung in seinen Belangen. Du solltest maximale Information bekommen. Die Information mag parteiisch sein, das ist ihr Charakter. Aber du musst sie schälen und herausnehmen, was du brauchst. Mit der Architektur und der Gesellschaft oder auch der Mathematik ist es das gleiche. Es gibt dieses unausgesprochene Prinzip dahinter. Unausgesprochen, weil ich es nicht kenne.

dérive: Können wir in der Betrachtung des Phänomens von Zersiedelung und Suburbanisierung – trotz aller Kritik – etwas von diesen ungeplanten Territorien lernen? Und: Die Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie werden unscharf. Wird die Polarität verschwinden?

YF: Ich glaube nicht. Ich gebe ein Beispiel: Von Paris nach Tours braucht man 55 Minuten. Von einem Vorort ins Pariser Zentrum ist es mehr als eine Stunde. Aber Tours ist nicht eine Vorstadt von Paris, sondern ein eigenes Zentrum. Paris oder London zu besuchen, ist ein routinierter Akt. Die Peripherie wird nicht besichtigt.
Die Vorstädte wurden mit gutem Willen gebaut. Aber es existiert keine Routine. Sie haben ihre Rolle nicht gefunden.
Es ist nicht nur eine Frage der Ökonomie. Eine ärmliche Gegend innerhalb einer großen Stadt ist etwas wie eine unabhängige Einheit.
Einmal habe ich gesagt, dass das Land unsere letzte Kolonie ist. Aber es ist noch schlimmer. Die Vorstädte sind unsere letzten Kolonien. Und Kolonien explodieren. Denke Sie an die letzte Revolte in Paris. Es war eine sehr interessante Angelegenheit. Es war keine politische Revolte, und sie war nicht zentriert. Es hat angefangen, als die Leute wirklich verärgert waren. Ich glaube, soziale Entwicklungen können nicht gelenkt werden. Aber man kann Werkzeuge bereitstellen, und die Menschen machen etwas damit.

dérive: Gibt es für Sie eine kritische Größe einer Stadt?

YF: Sehen Sie – das ist interessant in Indien. Es ist ein überbevölkertes Land, aber die Städte sind nicht überbevölkert. Ich kannte Bombay in den siebziger Jahren. Heute sind 36 Jahre vergangen. Bombay ist gewachsen, aber nicht explodiert, wie man angenommen hatte.
Auch andere indische Städte sind gewachsen, ohne zu explodieren. Indien hat eine Kleinstadt-Struktur behalten. Ich denke, China auch, obwohl das Land so weitläufig ist – und obwohl Shanghai zu groß geworden ist.
Anders ist die Sache bei Istanbul: Als ich Istanbul kennen lernte, gab es 800.000 EinwohnerInnen. Istanbul für etwa zwei Millionen EinwohnerInnen wäre auch noch ok. Aber heute hat Istanbul 17 Millionen Einwohner. Die Großstadt ist zwar sehr attraktiv, aber dann gibt es auch ziemlich große Enttäuschungen und Probleme.

dérive: Implizieren Sie damit auch, dass – wenn neue Städte geschaffen werden sollten – ab einer gewissen Größe neue Zentren geplant werden sollten? In Asien planen Sie ja gegenwärtig neue Städte. Und auch andere europäische PlanerInnen bauen dort neue Städte.

YF: Ich weiß nicht, wo neue Städte hinführen. Unter Alexander dem Großen wurden 200 Alexandrias gegründet. Heute gibt es eines. Oder wenn Sie nach Amerika schauen: Die Zahl bedeutender Städte des 19. Jahrhunderts, die verschwunden sind, ist überraschend – es ist keine verschwunden. Es ist seltsam, aber so ist es, an vielen Orten. Und die Situation in Europa ist auch weit weniger dramatisch als überall anderswo. In Europa hat sich nie eine Konzentration im Sinne einer Mega--city ausgebildet. Brüssel ist die Hauptstadt Europas und scheint in der Größe beinahe konstant zu bleiben.

dérive: Wir haben eine andere Demografie. Sie nimmt ab.

YF: Außerdem haben wir eine andere ökonomische Realität. In Indien ist ein Grund dafür, dass es keine überbevölkerten Städte gibt, dass es viele Sprachen gibt. Es gibt keine indische Sprache. Es wird Marathi gesprochen, dann gehen Sie in ein Dorf zweihundert Kilometer entfernt, und da ist es komplett anders. Nicht völlig anders, aber anders genug.

dérive: Was denken Sie über den Boom der so genannten minimalistischen Architektur heute? Sie haben ja in den fünfziger und sechziger Jahren ein spezielles Konzept des Minimalen erarbeitet. Wir denken, dass Ihr Konzept des Minimalen eine sehr soziale Idee war und nicht eine rein ästhetische. Minimalismus heute ist dagegen sehr teuer geworden.

YF: Ich weiß. Das hat kommerzielle Gründe. Das ist eben das Star-System. Etwa vor zehn Jahren hat die Stadt nach Unterkünften für Obdachlose in Paris gesucht. Ich machte einen Vorschlag, den ich „2 Wände und 1 Dach“ nannte. Die Leute sollten diese einfachen Strukturen besetzen. Es war als eine Form organisiertes Besetzens gedacht. Das wurde abgelehnt.

dérive: Vielleicht mochte der Wohlfahrtsstaat ihr Modell nicht. „2 Wände und 1 Dach“ ist nicht genug für den Wohlfahrtsstaat, weil er einen minimalen Standard definiert und man nicht darunter gehen kann.

YF: Sicher. Und es gibt noch zwei Schwier-igkeiten: Die Firmen, die der Staat fragte, waren nicht interessiert, weil es nicht perfekt aussah. Und zweitens stellte der Staat Land zur Verfügung, was ja das teuerste Gut ist, und deshalb wollte er etwas Spek-takuläreres machen. Mein Ansatz war, dass nicht Land zur Verfügung gestellt werden sollte, sondern Luftraum genützt werden sollte wie etwa über den Rangierbahnhöfen.

dérive: Denken Sie, dass Ihre Ansätze auch in der Mainstream-Praxis Anwendung finden könnten?

YF: Wissen Sie, es ist in meinem Interesse, gewisse Prozesse in Gang zu bringen. Ich hatte nie die Illusion, dass der Prozess mir gehört oder dass ich ihn kontrollieren könne. Ich kann nicht sagen, was das Resultat sein wird, weil ich auch nicht an finale Resultate glaube. Ich kann nur Prozesse in Gang bringen und dann … ok ...

dérive: Architektur ist eine Einladung zu einem Spiel?

YF: Ich glaube, dass ArchitektInnen nicht verstehen, dass sie nur den Ausgangspunkt eines Prozesses gestalten. In den Siebzigern war ich in Hongkong. Die Regierung hatte einige Gebäude errichtet. Ein Jahr später sahen sie anders aus, weil die Leute Balkone anbauten und Vogelkäfige und Gott weiß was. Ich habe Fotografien von Häusern gemacht, wo man die ursprüngliche von Architekten entworfene Form nicht mehr ausmachen konnte. Als ich 1949 Le Corbusier kennenlernte, sagte er mir: „Schauen Sie sich nicht die Gebäude von mir an, die Leute haben sie verändert. Es ist eine Katastrophe, Sie können sich die cité universitaire anschauen gehen, aber alles andere wurde verändert.“ Aber das war genau das Schöne, dass die Gebäude verändert wurden.

dérive, Mo., 2006.10.23

Das Interview führten André Krammer (dérive) und Christian Kühn (Bauforum, Die Presse) anlässlich des Vortrags „Irregular Structures“ an der Akademie der bildenden Künste in Wien am 22. Mai 2006. Das Interview wurde in Englisch geführt.

23. Oktober 2006 Christian Kühn, André Krammer



verknüpfte Akteure
Yona Friedmann

Auf dem Weg in eine Sicherheitsgesellschaft: Das Versprechen von Sicherheit führt zur Verunsicherung

(SUBTITLE) Volker Eick im Gespräch mit Tobias Singlnstein und Peer Stolle

„Sicherheit: Ideologie und Ware“ war der Schwerpunkt von dérive, Heft 24. Volker Eick interviewte für dérive Tobias Singelnstein und Peer Stolle, die beiden Autoren des Buches „Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert“, und liefert damit eine Fortführung des Themas.

Volker Eick: Der Bremer Professor Stephan Quensel hat Euer Buch unlängst als „kritischen Überblick“ gelobt. Wo seht Ihr die zentralen Charakteristika der von Euch als „Sicherheitsgesellschaft“ bezeichneten Entwicklungen im Sicherheits- und Ordnungsbereich?

Tobias Singelnstein: Unserer Auffassung nach lässt sich ein ganz grundlegender Wandel im Bereich sozialer Kontrolle beobachten, der vor allem von drei Entwicklungen geprägt ist. Einerseits gibt es eine Verlagerung sozialer Kontrolle vom privaten Nahraum noch mehr hin zu professionellen Akteuren. Andererseits verändern sich die Mechanismen und Institutionen in diesem Bereich angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen. Dazu zählt das Bestreben, Kontrolle effektiver zu machen, indem sie früher, vielfältiger und breiter stattfindet. Zum anderen findet eine zunehmende Ver-abschiedung vom wohlfahrtsstaatlichen Ideal der umfassenden sozialen Integration statt. So erleben Mechanismen des sozialen wie auch des repressiven Ausschlusses eine Renaissance.
Peer Stolle: Vor diesem Hintergrund ist Sicherheit zu einem zentralen Bezugspunkt und einem Schlüsselkonzept westlicher Gesellschaften geworden. Eine aufkommende Risikologik führt nicht nur dazu, dass immer wieder neue Risiken gefunden werden, vor denen es sich zu schützen gilt. Sie produziert auch ständig neue Unsicherheiten, da Gefahren und Risiken immer und überall lauern. Dies hat zur Folge, dass sich Sicherheitsstrategien verstärkt in unseren Alltag einschreiben und unser soziales Leben bestimmen. Sicherheit wird damit zu einem Element der gegenwärtigen sozialen Ordnung, so dass es unserem Er-achten nach gerechtfertigt ist, von einer Sicherheitsgesellschaft zu sprechen.

VE: Euer Fokus liegt auf neuen Formen „sozialer Kontrolle“. Und Ihr unterscheidet Sozialkontrolle zunächst nach der Ebene der Normgenese und der Durchsetzungsebene, ihr unterscheidet sodann nach formellen und informellen Verhaltens-anforderungen, und ihr identifiziert als Träger von sozialer Kontrolle staatliche, kommerzielle und private Akteure sowie Mechanismen struktureller Sozialkontrolle. Das wirft die Frage auf, ob es irgendetwas gibt, was Ihr nicht als „soziale Kontrolle“ fasst?

TS: Soziale Kontrolle ist unserem Ver-ständnis nach die Gesamtheit der Mechanismen, mit denen eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zur Einhaltung ihrer sozialen Normen anzuhalten. Dementsprechend handelt es sich um sehr vielfältige Erscheinungsformen, die sich auf verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens finden lassen. Sie können von Akteuren ebenso wie strukturell geprägt sein.
PS: Du hast natürlich Recht, dass der Begriff der Sozialkontrolle sehr weit ist. Aus diesem Grunde haben wir uns auch in der „Sicherheitsgesellschaft“ auf bestimmte Formen sozialer Kontrolle konzentriert und die ganze Frage des sozialen Nah-raums etc. herausgenommen.

VE: Wenn Regieren über Verunsicherung erfolgt und gleichzeitig Sicherheit versprochen wird, wie Ihr schreibt, wird dann Sicherheit durch Verunsicherung versprochen?

TS: Ich würde es eher umgekehrt formulieren: Das Versprechen von Sicherheit führt zu Verunsicherung. Denn Sicherheit wird ja nicht konkret versprochen, sondern als abstraktes, schwammig bleibendes Ziel. Es handelt sich um einen Zustand, der nicht mess- und fassbar und letztlich auch nie zu erreichen ist.
In diesem Sinne ist Sicherheit immer bedroht und ein Ideal, für dessen Erreichung immer neue Maßnahmen und Anstrengungen nötig sind. Dabei impliziert das Versprechen von Sicherheit, dass diese eben nicht vorhanden und erreicht ist.

VE: Bezogen auf das Ziel sozialer Kontrolle in der neuen Sicherheitsgesellschaft schreibt Ihr, es bestehe in der „Herstellung umfassender sozialer Ordnung“ und solle „die Ermöglichung einer allgegenwärtigen Kontrolle von allen Bürgern durch möglichst viele andere Bürger unter der Fahne der Risikominimierung“ ermöglichen. Wer sind denn diese „anderen Bürger“?

TS: Das kann im Prinzip jeder sein – mit Ausnahme vielleicht derjenigen, die von den noch bestehenden Inklusionsversprechen nicht mehr erreicht werden können oder sollen. Es geht darum, einen möglichst großen Teil der Bevölkerung zu aktivieren und zu responsabilisieren, selbst im Sinne der beschriebenen Sicherheitsproduktion zu wirken.

PS: Ja, es sind potenziell alle. Es sind diejenigen, die dafür sorgen, dass muslimisch aussehende Reisende das Flugzeug verlassen müssen; es sind auch die, die sich in Nachbarschaftsinitiativen engagieren, um das eigene Viertel von Unordnung und Kriminellen frei zu halten. Es sind aber auch wir alle, die auf den Rückzug des Staates beim Schutz vor Eigentums- und Vermögenskriminalität auf individuelle Präventionsbemühungen setzen: Wir schließen unsere Fahrräder mit zwei Schlössern oder lassen es erst gar nicht auf der Straße stehen, benutzen Lenkradkrallen, schließen Versicherungen ab und lassen die Kinder nicht mehr alleine auf der Straße spielen. Das Primat der Risikominimierung und Sicherheitsoptimierung bestimmt große Teile unseres gegenwärtigen Alltags.

[ Tobias Singelnstein; Peer Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2006. 160 Seiten, 19,90 Euro. ]

dérive, Mo., 2006.10.23

23. Oktober 2006 Volker Eick

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