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13. Oktober 2023Elke Rauth
Christoph Laimer
dérive

Urban Commons – Fenster in eine mögliche Zukunft

Das Konzept der Commons hat sich von urbanen Nischen zu kommunalen Public-Common Partnerships entwickelt. Das vorliegende Heft versucht einen Reality Check zum Status quo.

Das Konzept der Commons hat sich von urbanen Nischen zu kommunalen Public-Common Partnerships entwickelt. Das vorliegende Heft versucht einen Reality Check zum Status quo.

Längst ist klar, dass die umfassende soziale, ökologische und ökonomische Transformation, die zur Rettung unserer Städte (und unserer Welt) notwendig ist, ohne ›die Vielen‹, ohne einen gemeinsamen, gesellschaftlichen Konsens und ohne ein hohes Maß an gemeinsamen Handlungen und gesamtgesellschaftlich getragenen Lösungen nicht gelingen wird. Wir brauchen also dringend ein mehr an Demokratie und eine umfassende, tiefgreifende Demokratisierung aller gesellschaftlicher Bereiche. Die Stadt ist dafür das perfekte Feld, weil sie als Einheit klein genug ist, um Veränderung voranzutreiben, zu erproben und implementieren, und groß genug, um diesen Veränderungen Wirkung zu verleihen. Einer dieser Ansätze für die Ausweitung demokratischer Räume und zukunftsweisender Formen der Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Bürger:innen ist das Konzept der Urban Commons, dem wir sowohl diese Ausgabe von dérive, als auch das urbanize! Festival 2023 widmen.

Über Commons wird in der Stadtforschung und darüber hinaus seit etlichen Jahren intensiv geforscht und diskutiert. Angestoßen wurde die breitere Auseinandersetzung durch Innovationen im IT-Bereich, darunter die weithin bekannten Projekte Linux oder Wikipedia. Ein weiterer deutlicher Schub für die Erforschung und Erprobung der Commons erfolgte 2009 mit der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Elinor Ostrom für ihre Forschungsarbeiten zur Nutzung und Verwaltung von gemeinschaftlichem Eigentum. Seither ist die Entwicklung viele Schritte weiter gegangen und bei konkreten Maßnahmen und Aktivitäten auf stadtpolitischer Ebene angelangt, die Urban Commons in vielen Städten durch Governance-Vereinbarungen zum Leben erwecken. In diesem Zusammenhang sei besonders auf die 2014 implementierte Regulation on Collaboration Between Citizens and the City for the Care and Regeneration of Urban Commons durch die Stadt Bologna verwiesen, die als Vorlage für viele Vereinbarungen in italienischen Städten und darüber hinaus dient. Eine dieser Städte ist Turin. Maria Francesca De Tullio und Violante Torre haben sich intensiv mit Commons in Turin auseinandergesetzt und die Geschehnisse mit kritischem Blick verfolgt. Dabei wird klar, wie hart gerungen werden muss, damit ›Urban Commons‹ nicht zum Etikett verkommt, hinter dem Privatisierungen verschleiert und traditionelle Machstrukturen prolongiert werden.

Bereits vor 15 Jahren stellte die Architekturtheoretikerin Christa Kamleithner mit dem Schwerpunktheft dérive N°31: Gouvernementalität1 die wichtige Frage, ob sich Städte unter dem Mantel der Kooperation und Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Initiativen einfach ihrer Aufgaben entledigen. Das neoliberale Dogma vom ›schlanken Staat‹, kombiniert mit dem Slogan des ›aktivierenden Staates‹, der als Abkehr vom sozialen Wohlfahrtsstaat verstanden wurde, geisterte allerorts durch die Welt. Auch im Kontext der aktuellen Forschung zu Urban Commons taucht der ›enabling state‹ also der ›ermöglichende Staat‹ auf (siehe Foster & Iaione in diesem Heft) und es gilt wachsam zu bleiben und neben der (Entscheidungs-)Macht auch die Mittel einzufordern, die urbane Commons benötigen, um langfristig bestehen zu können.

Auch Stavros Stavrides, ausgewiesener Experte und Aktivist für Urban Commons, sieht diese Gefahr in seinem Beitrag Öffentlichen Raum als Commons zurückgewinnen. Einen Ausweg erblickt er einzig in der Entwicklung »alternativer Formen der sozialen Organisation durch Commoning«. Sein Artikel widmet sich zentralen Fragen zu Gemeinschaft, Commoning und Identität sowie der Bedeutung von Kollaboration für das Commoning und fokussiert auf die Situation in Lateinamerika. Das macht auch Anna Puigjaner, die in Die Küche aus dem Haus holen die Geschichte und Entwicklung der beeindruckenden Urban Kitchens in Peru diskutiert. Auch in diesem Beispiel wird deutlich, wie einflussreich das Zusammenspiel verschiedener Stakeholder (Staat, NGOs, Commoners) und wie wichtig die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit von Urban Commons ist, um nicht zu einem Fall für »Regieren durch Community« (Nikolas Rose) zu werden.

Bei aller Notwendigkeit der kritischen Beobachtung sind Public-Common Partnerships (PCPs), mit denen der urbane Reichtum für die Allgemeinheit gesichert und verwaltet werden kann, anstatt der Profitlogik von Public-Private Partnerships (PPPs) zu folgen, zentraler Bestandteil der Weiterentwicklungen für die Anwendung urbaner Commons der letzten Jahre. Im umfangreichen Co-City Projekt von LabGov, einem internationalen Netzwerk, das sich auf die Entwicklung 
und Erforschung kollaborativer Governance von städtischen Räumen und Ressourcen konzentriert, wurden 200 Städte 
und über 500 Commons-Projekte analysiert. Die für diesen Schwerpunkt relevante Essenz aus den Erkenntnissen von Co-City in Form von grundlegenden Design Principles ist im Beitrag Die Stadt als Commons von Sheila R. Foster und 
Christian Iaione nachzulesen.

Wie Public-Common Partnerships genau funktionieren bzw. funktionieren sollten, um tatsächlich »Prozesse in Gang zu setzen, die dazu beitragen, die Grenzen des sozial wie politisch Möglichen zu verschieben«, erläutern auch Bertie Russell und Keir Milburn in ihrer Analyse Public-Common Partnerships, Autogestion und das Recht auf Stadt. Eine der Fragestellungen dreht sich dabei um die Verwendung des von PCPs erwirt­schafteten Mehrwerts. Fragen der Ökonomie, im speziellen der Finanzierung von Urban Commons gehen Levente Polyák, Daniela Patti und Jorge Mosquera in Financing non-speculative properties – Ownership, governance and the economy of commons nach. Sie stellen spannende Finanzierungsmöglichkeiten und deren Anwendung vor und argumentieren gleichzeitig, dass es als »key policy priority« dringend weitere, umfangreiche Modelle braucht, um »financing for non-speculative development projects across Europe« sicherzustellen. Schließlich stellen Urban Commons für die urbanen Gesellschaften besonders wichtige Ankerpunkte dar, deren Nutzen weit über die als Commons genutzten Ressourcen reicht.

Dagmar Pelger definiert solche Orte in ihrem Beitrag als ›Spatial Commons‹. Deren Definition ist oft unscharf und genau so in Verhandlung wie die Commons selbst. Trotzdem ist es wichtig festzulegen, wovon – und wovon nicht – die Rede ist, wenn es um Commons geht, um ›Commons Washing‹ (De Tullio und Torre) zu verhindern. Pelger setzt sich für eine Begriffsschärfung ein und verweist auch auf die Bedeutung des fortwährenden Nacherzählens der Geschichte von Commons, »um an ihr weiterzuschreiben«.

Das Konzept der Commons als transformativer Prozess kann auch dazu dienen, die Gestaltungs- und Aneignungsspielräume auszuweiten, etwa in Büchereien, die längst mehr sind als reine Orte der Bildung, Information und Wissensvermittlung. Die Kommerzialisierung der Stadträume hat u.a. dazu geführt, dass Büchereien zu wichtigen, kostenfreien Raumressourcen geworden sind: Sie sind, wie Alexa Färber und Marion Hamm in ihrem Text schreiben, genauso »Orte des Zusammenkommens, des Lernens, der Begegnung und Beratung« wie auch »geschützter Aufenthaltsort«. Im Zuge eines internationalen Forschungsprojekts untersuchen die beiden Autorinnen Büchereien in Rotterdam, Malmö und Wien.

Ein Common (Green) Space soll das Frachtenareal am Westbahnhof in Wien werden, wenn es nach der Initiative Westbahnpark.Jetzt geht. Im Interview erläutern drei der Aktivist:innen die überzeugenden ökologischen, sozialen und städtebaulichen Argumente für einen Park statt einer – von Stadt und ÖBB ins Auge gefassten – Wohnbebauung mit Grünraum und berichten von ›Particitainment‹ und fehlender Kommunikation der Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und bei der Liegenschaftseignerin Bahn mit den Bürger:innen.

»We are not naive« schreiben LabGov in der Conclusio ihrer Commons-Analyse von über 200 Städten weltweit und verweisen auf die vielen und beharrlichen Kräfte, die einer demokratischen Verwaltung und Vergesellschaftung von urbanen Ressourcen entgegenstehen. Dennoch eröffnen Urban Commons in zahlreichen Städten bereits heute Ausblicke auf eine gerechtere Verteilung von urbanen Ressourcen, schaffen Räume der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entfaltung jenseits der Profitlogik sowie Erfahrungen von demokratischer Aushandlung und Handlungsmacht. Der Prozess ist in vollem Gange und öffnet ein real-utopisches Fenster für eine zukunftsfähige, soziale und ökologische Transformation der Stadt – durch iterative Experimente und global geteilte Erfahrungen. Das Wissen und die Commoners stehen weltweit für Public-Common Partnerships bereit. Es liegt jetzt an den Städten, die Rahmenbedingungen zu schaffen.

1

Das Heft mit dem Schwerpunkt Gouvernementalität ist als gedruckte Ausgabe vergriffen, kann aber noch als PDF bezogen werden: https://shop.derive.at/collections/ einzelpublikationen/products/heft-31.

dérive, Fr., 2023.10.13



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dérive 92-93, Urban Commons

10. Februar 2023Elke Rauth
dérive

Stadt vom Rand aus betrachtet

»Was erlebt man, wenn man der Grenzlinie folgt, die eine Stadt geographisch und rechtlich definiert?« fragten sich die Künstler:innen und Stadtforscher:innen...

»Was erlebt man, wenn man der Grenzlinie folgt, die eine Stadt geographisch und rechtlich definiert?« fragten sich die Künstler:innen und Stadtforscher:innen...

»Was erlebt man, wenn man der Grenzlinie folgt, die eine Stadt geographisch und rechtlich definiert?« fragten sich die Künstler:innen und Stadtforscher:innen Adina Camhy, Robin Klengel, Coline Robin und Markus Waitschlager, als sie im Sommer 2020 zu ihrer siebentägigen Umrundung von Graz aufbrachen. Mit Open Street Map als Navigationshilfe, Rucksack, Zelt und allerlei Dokumentations-Werkzeugen startete die Forschungsreise entlang der 1938 unter dem NS-Regime festgelegten und bis heute weitgehend gültigen Grazer Stadtgrenze. Das Gehen als Methode lieferte die Geschwindigkeit für die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Begegnungen, die Grenzlinie diente der Forschungsgruppe als »roter Faden, der unterschiedliche Perspektiven greifbar werden ließ«. Der Forschungszugang der »Serendipity, das Prinzip etwas zu finden ohne explizit danach zu suchen« verlangte eine »lauernde Aufmerksamkeit und Offenheit«, die Tagesetappen, Abweichungen von der Route und Ausmaß des Erkenntnisgewinns pro Tag bestimmte. Denn schnell war klar: Auch – und gerade – am Rand ist die Stadt für das Auto konzipiert, sind »ganze Landstriche« durch »große Einfahrtsstraßen, Autobahnknoten und Parkplätze« definiert. Das Gehen schafft körperliches Bewusstsein für die autogerechte Planung, »etwa wenn uns Fahrbahnen ohne Gehsteige in den Straßengraben drängen oder ein Autobahnkreuz große Umwege nötig macht«.

Mit großer Akribie wurden Wahrnehmungs-Statistiken erstellt, und im liebevoll von Robin Klengel gezeichneten und extra beigelegten »Grazrand Statistik Sonderheft« mit recherchiertem Datenmaterial »nach bestem Wissen und Gewissen« vereint. Diese »Angaben ohne Gewähr« in schönster Alltagsforschungs-Manier erzählen ebenso vielstimmig Geschichten von der Peripherie wie von der Stadtrand-Expedition selbst, etwa wenn mit einer guten Portion Humor neben 10 Pferden, 7 Rehen, 30 Kühen, 2 Bussarden, 2,5 Mio. Ameisen und zahlreichen weiteren Tieren auch »zu viele« Gelsen, »viel zu viele« Spinnen oder »49 Zecken, 15 davon im Intimbereich« statistisch erfasst werden. Nachdenklich stimmt das beigelegte Poster mit zeichnerisch erfassten »informellen Architekturen«, gelingt dem Betrachter doch nur schwer eine Zuordnung zwischen Baumhaus zum Spielen und notdürftigem Unterschlupf für Menschen am Rand – der Stadt und der Gesellschaft.

Die unterschiedlichen Kapitel der Publikation dokumentieren die vielfältigen Blickwinkel der Forschenden auf den Grazer Rand: »Etappen« erfasst als tagebuchartiger Reisebericht, illustriert von Coline Robin, die Ereignisse und Beobachtungen entlang der sieben Teilstrecken. Fett gedruckte Verweise führen zum Kapitel »Orte«, das ausgesuchte Punkte am Weg hervorhebt, die mit Erlebnissen, historischem Hintergrundwissen und urbanistischen Einordnungen beschrieben und von Robin Klengel illustrativ festgehalten werden. »Gstettn« und »Bachbett«, »Gärtnerei« und »Golfplatz«, »Atriumhäuser« und »Farina Mühle«, »Kreisverkehr« und »Riesstraße« ergeben mit vielen mehr ein Bild der unterschiedlichen räumlichen und sozialen Situationen entlang der Strecke. »Fundstücke« versucht eine Annäherung an das Leben am Stadtrand durch Sammlung von Objekten entlang des Weges, die in forensischer Weise beschrieben und als Tages-Collagen von Markus Waitschacher fotografisch von Lena Prehal erfasst werden. Von Zivilisationsmüll bis Rehkiefer hinterlassen die durchwanderten Landschaften Spuren ihrer Nutzer:innen. Zwei weitere Fotostrecken erfassen Grenzsteine und Zäune entlang des Weges.

Das Kapitel »Begegnungen« dokumentiert Zaungespräche und flüchtige Zusammentreffen, Gastfreundschaft und die Verteidigung von Eigentum, wenn etwa der Grenzverlauf über einen privaten Hof führt, deren Besitzerin nur nach langer Diskussion dazu überredet werden kann, die Gruppe – einmalig – passieren zu lassen, oder im östlichen Hügelland »alle Wiesen mit ›Betreten Verboten‹-Schildern versehen« sind und die Gruppe umgehend vertrieben wird, als sie sich zum Frühstück unter einem Baum am Rande eines Ackers niederlässt. Die dokumentierten Gespräche und Erlebnisse verweisen immer auch auf strukturelle Zustände, sie erzählen von schwindenden Ackerflächen und der Unmöglichkeit einer kleinbäuerlichen Existenz, von der Enge der Vorstadt und der Macht des Eigentums, von Ausbeutung, dem Versagen der Verkehrspolitik und dem Aussterben des Gemeinschaftslebens in den Siedlungen.

Drei Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen bieten Kontextualisierungen der GrazRand-Expedition: Kulturwissenschaftlerin Johanna Rolshoven nimmt in ihrem Beitrag »Die ausgefranste Stadt« einen Perspektivenwechsel auf den Rand als »Ort des Neuen« vor. Der Historiker Matthias Holzer sucht in »Die verschwundene Grenze«, mittels Karten und Geodaten Spuren jenes Verlaufs, der vor der Eingemeindung durch die Nationalsozialisten den Grazer Stadtrand bildete. Eine naturkundliche Perspektive auf die Stadtgrenze wirft der Biologe Werner E. Holzinger, wenn er in seinem Beitrag »Grünes Band« eine Runde um die Stadt dreht und dabei naturräumliche ebenso wie biologisch-ökologische Grenzen festmacht.

Die liebevoll gestaltete Publikation macht Lust auf urbane Forschungsreisen und dokumentiert auf ebenso ernsthafte wie leichtfüßig-humorvolle Weise die Entwicklungen an den Rändern, denen es – nicht nur in Graz – sowohl an stadtplanerischer Aufmerksamkeit wie architektonischer Fürsorge fehlt. Dabei, so die Forschungsgruppe, sind es gerade die Stadtränder, an denen entscheidende Weichenstellungen passieren: »Am Rand von heute entstehen die Zentren von morgen. Die Frage, welche Interessen sich am Stadtrand durch­setzen, ist entscheidend für das zukünftige Zusammenleben – nicht nur für Menschen, sondern für alle Lebewesen. Die Zukunft wird am Stadtrand entschieden.«


Camhy, Klengel, Robin, Waitschacher
GrazRand
herausgegeben von Elisabeth Fiedler, Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark
Verlag Bibliothek der Provinz, 2021
144 Seiten, 20 Euro

dérive, Fr., 2023.02.10



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dérive 90 Sampler

24. Oktober 2019Elke Rauth
dérive

Betroffenheit kollektivieren, Wohnungsfrage politisieren

»Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, ist ein Teil von ihr«, behauptet der Schweizer Filmemacher Thomas Hämmerli in seinem jüngsten Dokumentarfilm Die...

»Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, ist ein Teil von ihr«, behauptet der Schweizer Filmemacher Thomas Hämmerli in seinem jüngsten Dokumentarfilm Die...

»Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, ist ein Teil von ihr«, behauptet der Schweizer Filmemacher Thomas Hämmerli in seinem jüngsten Dokumentarfilm Die Gentrifizierung bin ich. Beichte eines Finsterlings, mit dem er dem kreativen Aufwertungsdilemma lustvoll-provokant nachgeht. Und tatsächlich: Die Debatte um Aufwertung und Verdrängung ist im deutschsprachigen Raum lange, um nicht zu sagen zu lange rund um die Schuldfrage geführt worden: Die kreativen Pionier-Kohorten aus prekären KünstlerInnen, StudentInnen oder Angehörigen linker Alternativszenen sind über viele Jahre in die individualisierte Gentrifizierungsfalle getappt, aus der sie sich halb selbst zerfleischend, halb mit dem Zeigefinger auf die jeweils anderen gerichtet, nicht zu befreien wussten. Eine Freude für all jene, die an der Gentrifizierung gut verdient und das konservative Storytelling in der medialen Öffentlichkeit genährt haben.

Nur langsam hat sich mit Manifesten der Recht auf Stadt Bewegung wie Not in our Name – Marke Hamburg (2009), Christoph Twickels Bestseller Gentrifidingsbums (2010) oder Andrej Holms Wir bleiben Alle! (2010) die Erkenntnis durchgesetzt, dass den Verwerfungen an den Wohnungsmärkten und der fortschreitenden Inwertsetzung des öffentlichen Raums nur mit einem kollektiven Ansatz auf der Ebene von Systemkritik in Theorie und Praxis beizukommen ist.

Es ist das große Verdienst der Stadtforscherin und Stadtaktivistin Lisa Vollmer, in der ersten Hälfte ihres schmalen, konzentrierten Bandes eine ebenso detaillierte wie zugängliche Abhandlung zum Stand der Gentrifizierungsforschung zu liefern, um dann erfolgreiche »Strategien gegen Gentrifizierung«, so auch der Titel des Buchs, systematisiert und übersichtlich den LeserInnen in flüssiger und verständlicher Sprache zur Verfügung zu stellen. Es geht Vollmer ganz eindeutig darum, mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit einen Beitrag für die Praxis zu leisten, ein Handwerkszeug für die Selbstorganisation von MieterInnen, für StadtaktivistInnen und alle, die sich gegen die systematische Verdrängung durch Aufwertung wehren müssen. Ohne die LeserInnen zu bevormunden, nimmt die Publikation nichts als gegeben an: Fachbegriffe werden im Text kurz und verständlich erläutert, ökonomische und politische Zusammenhänge transparent gemacht. Vollmer stellt klar, dass Gentrifizierung Teil der kapitalistischen Stadtproduktion ist mit »ihrer Inwertsetzung der baulichen Infrastruktur wie ihrer kulturellen Urbanität«. Auf erstaunlich wenigen Seiten werden sämtliche Aspekte kurz und knapp in Beziehung gesetzt: Klassische Gentrifizierungsphasen, Verdrängung und ihre individuellen Folgen, Segregation und ihre Folgen für die urbane Gesellschaft, unterschiedliche Erklärungsansätze, kulturelle Dynamiken, Finanzialisierung der Wohnungsmärkte, die Rolle des Staats, von Touristifizierung, Gewerbe und Neubau.

Nachdem Vollmer das Feld aus allen Blickwinkeln beleuchtet hat, macht sie klar, dass Gentrifizierung verstanden als »Bevölkerungspolitik«, ebenso wie der Kapitalismus an sich, kein Naturgesetz darstellt: »Ob Aufwertung auch zu Verdrängung führt, ist von politischen Entscheidungen abhängig.« Damit diese im Sinne des Gemeinwohls getroffen werden, braucht es Druck durch »die Stadt von unten«, damit »Politiken gegen Inwertsetzung« wie ein effektiver MieterInnenschutz, der Ausbau der MieterInnen-Mitbestimmung und der (Wieder-)Aufbau des gemeinnützigen und nicht-gewinnorientierten Sektors implementiert werden.

An dieser Stelle beginnt auch die praxisorientierte kritische Analyse der »Strategien gegen Gentrifizierung« mit vielen Beispielen aus den Recht auf Stadt Netzwerken, von MieterInnen-Bündnissen wie Kotti+Co, Bizim Kiez, Deutsche Wohnen & Co enteignen, Esso Häuser St. Pauli, Gängeviertel, dem Bündnis Stadt für Alle Bochum und vielen mehr. Analysiert wer den Kampagnen-Strategien und kreative Werkzeuge, aufgestellte Fettnäpfchen und produktive Wege, um sich aus Sackgassen und Partizipationsfallen zu befreien, ebenso wie Möglichkeiten und Bedingungen für Bündnisse außerhalb des angestammten Milieus. Exkurse zum Transformative Community Organizing oder zum Mietshäuser Syndikat bilden wichtige Querverweise zu Methoden und Modellen der Selbstorganisierung.

Mit Strategien gegen Gentrifizierung ist Lisa Vollmer eine Analyse gelungen, die Theorie und Praxis verbindet und Möglichkeiten der Selbstorganisierung aufzeigt. Damit stellt es ein wertvolles Werkzeug für die Weitergabe von erarbeitetem Wissen von und für urbane soziale Bewegungen dar. Man wünscht sich, die Stadtforscherin bekäme die Mittel, um darauf aufbauend ein noch umfassenderes illustriertes Handbuch zu erstellen, um dieses Wissen auch grafisch breiter rezipierbar zu machen. Das Zeug zum Klassiker hätte es.

dérive, Do., 2019.10.24



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dérive 77 Wohnungsfrage

06. November 2017Christoph Laimer
Elke Rauth
dérive

DEMOKRATIE ≠ Demokratie

»What is to be done, what we all must do together, is to engage in a collective struggle and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.« (Mark Purcell)

»What is to be done, what we all must do together, is to engage in a collective struggle and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.« (Mark Purcell)

Es ist nicht zu übersehen: Die Demokratie hat ein echtes Problem. Weit verbreitete Korruption, der überbordende Einfluss von globalen Unternehmen, partikulare Machtinteressen und Vetternwirtschaft, post-demokratische Strukturen, eine offensichtliche Unfähigkeit zum Dialog mit dem Souverän und das augenscheinliche Unvermögen der Nationalstaaten, den anstehenden Problemen dieser Welt in adäquater Weise zu begegnen, lassen immer mehr Menschen an der Funktionsfähigkeit der herrschenden politischen Klasse und damit auch der Demokratie an sich zweifeln. Jahrzehnte der Durchsetzung einer neoliberalen Agenda mit konsequentem Abbau von hart erkämpften sozialen Rechten und der vorsätzlichen Diskreditierung von grundlegenden Werten wie Gleichheit und Solidarität haben unsere Welt in ein schlingerndes Schiff mit ungewissem Kurs verwandelt.

It’s the inequality, stupid!

In den Städten sind diese Entwicklungen längst angekommen: Betongold trifft auf Wohnungsnot, Armut und Obdachlosigkeit; Angstpolitik und umfassende Sicherheitsregime im öffentlichen Raum auf Abbau von Freiheitsrechten und Verdrängung; massive Eigentumskonzentrationen auf das Aussortieren von immer mehr Menschen am Arbeitsmarkt. »Cities are the places where austerity bites« hat Jamie Peck vor einigen Jahren in dérive geschrieben – eine Analyse, die immer mehr Menschen betrifft. Die 99 % dieser Welt bekommen die frappierende Ungleichheit der neo-feudalistischen Verhältnisse unter einem von Gier getriebenen, neuen Geldadel in immer bedrohlicherer Weise im Alltag zu spüren. Was bringt uns also dazu, einen Schwerpunkt zum Thema Demokratie und Stadt zu veröffentlichen?

Demos und Kratos

Während die abgehängten Klassen sich scheinbar in großen Zahlen von Angstdiskurs und rechtspopulistischen Milchmädchen-Rechnungen angezogen fühlen, was weltweit einen besorgniserregenden Aufstieg von neuen autokratischen Führerfiguren hervorbringt, wächst auch der Widerstand gegen Demokratie als hohle Phrase und die Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung von Gesellschaft. Zentrum dieses Widerstandes sind die Städte. Doch welches Potenzial birgt das Konzept Demokratie über den bekannten Status Quo hinaus? Ein möglicher Ansatz verbirgt sich in einer etymologischen Spurensuche: Die gängigste und einfachste Übersetzung von Demokratie ist Volksherrschaft. Sie ist grundsätzlich nicht falsch, meist fällt aber unter den Tisch, dass demos keinesfalls im völkischen bzw. ethnischen Sinne zu verstehen ist. Dafür verwendeten die Griechen den Begriff ethnos. Demokratie steht also keineswegs für ethnische Ausgrenzung zur Verfügung, wie es die von der wahren Volksherrschaft träumenden Wir-sind- das-Volk-Fraktionen verlangen.

In seinem Beitrag For Democracy: Planning and Publics without the State setzt sich Mark Purcell näher mit der Begriffsdeutung von Demokratie auseinander. Das Ergebnis seiner demokratietheoretischen und etymologischen Analyse: Demokratie bedeutet im Kern, dass Menschen ihr angeborenes Potenzial, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, so frei als nur möglich nutzen können sollen. Purcell interpretiert kratos (dt. Macht, Stärke) nicht als Macht über oder Herrschaft über, sondern als die Macht oder das Vermögen zu etwas, also als Fähig- keit Dinge zu bewegen, Entscheidungen zu fällen, Probleme zu meistern. So wie in der attischen Demokratie die Bürger der Polis ihre Angelegenheiten in Versammlungen selbst regelten, fordert Purcell dazu auf, uns die Macht wieder zu eigen zu machen, die wir in der repräsentativen Demokratie an den Staat abgegeben haben, und das jedem Menschen innewohnende Potenzial zu nutzen. Dass diese natürlichen Fähigkeiten bei den meisten heute eher verkümmert scheinen und wir als Gesellschaft erst wieder lernen müssen, sie zu entdecken, ist offensichtlich.

Change begins in the city

Die Lust dazu ist in den letzten Jahren auf jeden Fall spürbar im Steigen begriffen. Das beginnt bei Community-Gärten, Fab-Labs oder selbstorganisierten Hausprojekten und reicht bis zu Bestrebungen der politischen Selbstverwaltung, wie wir sie derzeit beispielsweise bei der kurdischen Bevölkerung in Rojava und in zahlreichen Städten weltweit beobachten können. Ähnlich wie David Graeber von »elementarem Kommunismus« spricht, unter dem er vorrangig alltägliche gegenseitige Hilfe versteht, ohne die keine Gesellschaft funktionieren kann, deutet Purcell auf zahlreiche bereits bestehende Initiativen und Aktionen hin, die heute als Möglichkeitsfenster in eine andere Gesellschaft den Weg in Richtung einer umfassenderen Demokratie weisen. Für Purcell ist Demokratie kein Stadium, das irgendwann in seiner höchsten Vollendung erreicht werden kann, sondern ein Horizont auf den man sich asymptotisch zubewegt. Dabei tauchen frühe demokratische Werkzeuge wie etwa die offene Versammlung immer wieder auf, was ihre Wichtigkeit für die demokratische Gesellschaft unterstreicht. Am eindrucksvollsten passiert das derzeit in Städten wie Barcelona, wo die Stadtteilversammlung (Asamblea) eine wichtige Rolle in der Stadtpolitik spielt. Dass diese Form der unmittelbaren demokratischen Auseinandersetzung derzeit für intensives Nachdenken sorgt, beweist auch die im Oktober erscheinende neue Publikation von Hardt/Negri unter dem Titel Assembly.

Die Occupy-Bewegung und die weltweiten Platzbesetzungen der letzten Jahre mögen von vielen als nicht erfolgreich betrachtet worden sein, aber sie haben gemeinsam mit erfolgreichen kommunalen Experimenten wie etwa in Porto Alegre Prozesse in Gang gesetzt und umfassende Lernerfahrungen ermöglicht. In Summe bilden sämtliche Bestrebungen der Selbstorganisation fruchtbare Keime einer sich noch unscharf abzeichnenden, aber durchaus hoffnungsvollen neuen munizipalistischen Bewegung. In Spanien haben sich die Indignados des spanischen Movimiento 15-M von 2011 zahlreich in Initiativen organisiert und sind bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2015 als Bewegungs-Plattformen angetreten. Im Gegensatz zu populistischen Top-down-Bewegungen, die alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen, sind sie tatsächlich bottom-up entstanden. Mit ihren Programmen für echten gesellschaftlichen Wandel, gegen Korruption und soziale Ungleichheit und für eine offene, solidarische Gesellschaft haben sie in einer Vielzahl von spanischen Städten aus dem Stand den Wahlsieg davongetragen. Sie regieren mit Ahora Madrid und seiner neuen Bürgermeisterin Carmen Carmela sowohl das politische als auch mit Barcelona en Comú (BComú) und der PAH-Aktivistin Ada Colau das ökonomische Zentrum Spaniens und arbeiten intensiv an einer Öffnung der politischen Institutionen und der Entwicklung von neuen demokratischen Werkzeugen zur Verbindung der Ebene von Nachbarschaft und Stadtteilversammlung mit der institutionellen Stadtpolitik.

Radical Cities

Wie kann also eine Demokratie aussehen, die nicht in der weit verbreiteten Form der repräsentativen Demokratie erstarrt? Murray Bookchin, der 2006 verstorbene Begründer eines libertären Kommunalismus, dessen Ideen heute von zahlreichen politischen Gruppen wieder aufgegriffen werden, verfolgt in seinem Buch Die Agonie der Stadt (1996) die These, dass eine lebendige Demokratie nur dann möglich ist, wenn Menschen auf lokaler Ebene miteinander über ihre Anliegen von Angesicht zu Angesicht diskutieren und diesen Prozess nicht an BerufspolitikerInnen delegieren.

Er spricht sich für eine Entprofessionalisierung von Politik aus, weist aber stets darauf hin, dass diejenigen die sich in einer Versammlung auf Maßnahmen einigen, nicht zwangsläufig die sein müssen, die sie auch umsetzen.

Auch der Idee der Städtebünde hat Bookchin viel Aufmerksamkeit gewidmet und mit zahlreichen Beispielen von der Antike übers Mittelalter bis in die Gegenwart ihr Potenzial für eine demokratischere Gesellschaft belegt. Heute spielen Städte-netzwerke auf vielen Ebenen (wieder) eine wichtige Rolle und man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass sich ihre Bedeutung in Zukunft weiter erhöhen wird. Städte sind mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen tagtäglich und direkt konfrontiert und können sich nicht in nationalstaatlichen Realitätsverweigerungen und Inszenierungen ergehen, zumindest dann nicht, wenn sie als lebendige und lebenswerte Orte für alle erhalten bleiben wollen. Benjamin Barber hat mit seinem 2013 erschienenen Buch If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities diese Entwicklung auf den Punkt gebracht.

Bookchins libertärer Kommunalismus hat sich zwar als Begriff nicht wirklich durchgesetzt, in der aktuellen munizipalistischen Bewegung stoßen jedoch viele seiner Ideen auf großes Interesse. Der Begriff des Munizipalismus geht dabei historisch auf eine Bewegung während der Römischen Republik des 18. Jahrhunderts zurück, in der einige Kommunen sich in Gänze vom neuen Staat loszusagen versuchten, mit den Werten Selbstbestimmung und Autonomie als Kern der Idee. Juan Subirats, einer der Gründer von Barcelona en Comú, beschreibt in seinem Beitrag in dieser Ausgabe die Entwicklung der munizipalistischen Bewegung im heutigen Spanien und die Werte und Ziele, die in den lokal organisierten Wahlkämpfen im Vordergrund standen: Die Wiederaneignung der Institutionen im Sinne der BürgerInnen, die Bekämpfung von sozialer Not und der Zunahme von Ungleichheit, eine direkte Einbeziehung der Bür- gerInnen in öffentliche Entscheidungsprozesse und das Wieder- erlangen einer ethischen, moralischen, politischen Perspektive nach Jahren der Korruption und privaten Bereicherung an den öffentlichen Institutionen.

Lessons to learn

So spannend und hoffnungsvoll sich das Projekt der munizipalistischen Bewegung darstellt, so stellt sich doch die Frage, ob und wie es langfristig möglich ist, die vorhandenen Strukturen der Stadtpolitik und Kommunalverwaltung so zu nutzen, dass am Ende des Tages nicht doch automatisch wieder nur eine repräsentative Demokratie übrig bleibt. Auch der Hamburger Autor und Stadtaktivist Niels Boeing weist im Interview in dieser Ausgabe darauf hin, dass sich die Strukturen der Verwaltung mitsamt ihrer Beamtenschaft in der Vergangenheit immer wieder als starke, bewahrende Kräfte erwiesen haben, die über viel Wissen und Erfahrung und damit über eine nicht zu unterschätzende Macht verfügen, mit der bei allen Ansätzen eines grundlegenden Wandels gerechnet werden muss.

Barcelona en Comú arbeitet jedenfalls hart daran, die Institution der Asambleas (Stadtteilversammlungen) als den Ort zu institutionalisieren, an dem von der Bevölkerung Themen aufgeworfen und Fragen diskutiert werden, deren Antworten schließlich von Politik und Verwaltung aufgegriffen und umgesetzt werden. Können die komplexen Probleme der urbanen Gesellschaft mit solchen Modellen tatsächlich gelöst werden? Ist es also möglich an Demokratie als Projekt einer aktiven Selbstermächtigung zu arbeiten, anstatt sie nur passiv zu konsumieren?

Die Fragen sind berechtigt, kommen allerdings zu früh, um sie ernsthaft und umfassend beantworten zu können. Der harte Pragmatismus (Kate Shea Baird) des neuen Munizipalismus ist es auf jeden Fall wert, einen genauen Blick darauf zu werfen und die Entwicklung zu verfolgen.

Dass Barcelona en Comú es tatsächlich ernst meint, zeigen Bertie Russell, vom Urban Institute der Universität von Sheffield, und Oscar Reyes, der am Institute for Policy Studies forscht und in Barcelona lebt, in ihrer Analyse 20 Monate nach der Wahl: Ada Colaus Credo Feminizing Politics setzt auf einen komplett anderen Politikstil, der Zweifel und Widersprüche offen thematisiert und gleichzeitig die Rolle der Gemeinschaft und des Gemeinwohls bei der Lösungsfindung stärkt. Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht eine Politik der Commons, der Vergesellschaftung von lebensnotwendigen Infrastrukturen und gemeinsamen Entwicklung von Stadt. Sein Wahlprogramm entwickelte BComú auf Stadtteilversammlungen in lokalen Nachbarschaften und durch technische Online-Werkzeuge gemeinsam mit tausenden Menschen. Die größten Gewinne hat BComú in den ärmsten Nachbarschaften erzielt. Nach dem Wahlsieg installierte die Plattform einen Notfalls-Plan mit Maßnahmen gegen Zwangsräumungen, Strafen für Banken, die ihren Immobilienbesitz leer stehen lassen, und Subventionierung von Transport- und Energiekosten für Arbeitslose und MindesteinkommensbezieherInnen. Statt rassistischer und xenophober Angst- und Sündenbockpolitik werden von BComú die wahren Gründe thematisiert, warum immer mehr Menschen immer weniger zum Überleben haben, und Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage gesetzt. Soziale Stadtteilprojekte werden aus einem Fonds unterstützt, den die Abgeordneten von Barcelona en Comú durch eine selbst auferlegte Gehaltsbeschränkung von 2200 Euro speisen. Bei aller Lokalität verliert die Plattform den globalen Rahmen aber nicht aus den Augen: BComú vernetzt weltweit Städte und hat ein Komitee gegründet, um die gemachten Erfahrungen international zu diskutieren und zu teilen. All diese Ansätze verfolgen nicht einfach eine klassische sozialistische Politik, im Glauben, die besten Lösungen für das Wahlvolk zu haben. Barcelona en Comú glaubt ganz im Sinne des Stadt selber Machens daran, dass Menschen ihre Angelegenheiten gemeinsam und selbstorganisiert am besten regeln können, und verbindet Alltags- und ExpertInnen-Wissen, um Lösungen für die tatsächlichen Probleme der Menschen zu entwickeln.

dérive, Mo., 2017.11.06



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dérive 69 Demokratie

26. Oktober 2015Elke Rauth
Christoph Laimer
dérive

Perspektiven eines kooperativen Urbanismus

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im...

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im...

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im Alltag wie Informationen zur Verfügung stellen, Dinge verborgen, mit Rat und Tat zur Seite stehen oder Feste gemeinsam feiern. Diese nichtkommerziellen Formen der Kooperation bilden die Basis des menschlichen Zusammenlebens. Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens würden ohne diesen elementaren Kommunismus nicht funktionieren. Das gilt sowohl für den normalen Alltag als auch für Ausnahmesituationen wie beispielsweise die aktuelle Flüchtlingskrise. Man möchte sich gar nicht ausmalen, mit welcher menschlichen Katastrophe wir konfrontiert wären, gäbe es nicht die beeindruckende Zusammenarbeit von NGOs, Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern und Helferinnen an den Grenzen, Bahnhöfen, Flüchtlingsunterkünften. Wie die kommerzielle und polit-bürokratische Variante der Betreuung von AsylwerberInnen funktioniert, zeigen uns die Firma ORS und die politischen Verantwortlichen in Bund und Ländern, die alles andere als kooperativ sind, seit Monaten und Jahren im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und der unerträglichen Debatte um die Unterbringung von AsylwerberInnen.

Die Wirkmächtigkeit des kapitalistischen Realismus

Ähnliche Beispiele für spontane, bottom-up-organisierte Hilfe in Kooperation mit Hilfsorganisationen gibt es zuhauf und immer wieder zeigt sich, dass warenförmiger Austausch und Konkurrenz in unmittelbaren Katastrophensituationen zu langsam, zu kompliziert und deswegen schlicht ungeeignet sind oder wie im Falle des kommerziellen Schlepperwesens gefährlich und teuer. Der elementare Kommunismus ist also nicht irgendeine Träumerei weltfremder UtopistInnen sondern Voraussetzung und Basis für das Funktionieren der Gesellschaft. Trotzdem steht er unter ständigem Druck und muss sich gegen die Einspeisung in die kapitalistische Verwertungsmaschinerie zur Wehr setzen.

Selbst in Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die normalerweise nicht im Verdacht revolutionären Aufbegehrens stehen, machen sich JournalistInnen mittlerweile Sorgen um die »letzten Brachen sinnfreien Vor-sichhinlebens« (ja, auch die sind gefährdet), die die »kapitalistische Logik« zu verschlingen droht: »Das war schon immer der Trick des Kapitalismus: Uns zu verkaufen, was es vorher umsonst gab. Jetzt hat er die neueste Marktlücke entdeckt: den Kommunismus.« (Staun 2013)

Obwohl – abgesehen von ein paar übereifrigen neoliberalen MusterschülerInnen – die Mehrheit der Menschen ihre konkurrenzbefreiten, nichtkommerziellen Oasen des Alltags wohl kaum opfern wollen würde, gilt das kapitalistische Wettbewerbssystem dennoch weithin als unverzichtbar und notwendig – sozusagen als Normalzustand. Ideologien bringen es mit sich, dass nicht nur BefürworterInnen an ihre allumfassende Wahrheit glauben, sondern es auch GegnerInnen schwer fällt, des Kaisers neue Kleider als Schwindel zu erkennen. Die viel zitierte Bemerkung von Frederic Jameson, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen, bringt auf den Punkt, wie schwer es ist, Alternativen außerhalb des herrschenden Systems zu denken. Kapitalistischen Realismus nennt der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher diese Wirkmächtigkeit, diese »alles durchdringende Atmosphäre, die nicht nur die Produktion von Kultur bestimmt, sondern auch die Regulierung von Arbeit und Bildung, die zudem als eine Art unsichtbare Barriere fungiert, die das Denken und Handeln hemmt« (Fisher 2013). So verwundert es nicht, dass KritikerInnen des Wettbewerbssystems die Durchdringung der Gesellschaft mit Konkurrenzdenken als umfassender wahrnehmen, als sie tatsächlich ist. Mit ein Grund, warum auch die Möglichkeiten für Verän-derung oft nicht erkannt oder unterschätzt werden.

Von PaläoanthropologInnen wissen wir, dass Kooperation schon am Beginn der Menschheitsgeschichte stand. In Studien weisen sie darauf hin, dass der Homo Sapiens sich u.a. durch »increased social cooperation« (Antón et al. 2014) von anderen Arten der Gattung Homo unterschieden hat – ohne Kooperation kein Homo sapiens sapiens. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit ist einer der Hauptgründe, warum es Menschen gelang und gelingt, unter widrigsten Bedingungen zu überleben. »Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist also kein Zusatz, sondern konstitutives Merkmal der Natur des Menschen.« (Meretz 2012) Fragt sich nur: »Warum konnten sich dennoch ›Konkurrenzverhältnisse‹ etablieren? Weil sich der Homo sapiens das irgendwann ›leisten konnte‹, also mehr produzierte, als für das unmittelbare Überleben erforderlich war.

Eine nichtproduzierende herrschende Klasse konnte sich etablieren. Basis von klassenförmig oder wie auch immer strukturierten Konkurrenzverhältnissen ist dabei stets die gesamtgesellschaftliche Kooperation. Konkurrenz und Kooperation bilden folglich keinen Gegensatz, sondern ein Verhältnis. Konkurrenz und Ko-operation sind jedoch nicht gleichursprünglich, sondern Konkurrenz setzt Kooperation voraus, was umgekehrt nicht gilt.« (ebd.)

Sand im Getriebe der Verwertungsmaschinerie

Dem ständig nach neuen Verwertungsmöglichkeiten Ausschau haltenden Kapital ist das Prinzip des Wettbewerbs und der Konkurrenz unauslöschlich eingeschrieben – Konkurrenz ist seine innere Natur, schrieb Karl Marx. Die freie Konkurrenz der Individuen, der Wettbewerb der Ideen gelten heute als Voraussetzung jeglicher Innovation. Seit der Neoliberalismus zur Leitideologie unseres Gesellschaftssystems geworden ist und der Prozess der Inwertsetzung sich anschickt, die letzten weißen Flecken auf der Landkarte der Menschheit zu erobern, finden sich auch die Städte im Wettbewerbssystem wieder: sei es der Wettbewerb um Investitionen, um LeistungsträgerInnen, TouristInnen, Kreative, Megaevents. Konkurrenz hat sich als einer der Pfeiler der Gesellschaft etabliert und verdrängt andere Formen der gesellschaftlichen Organisation sowohl aus immer mehr Handlungsfeldern des Alltags als auch aus dem Bewusstsein der Menschen. Als jüngste Entwicklung setzt der Neoliberalismus an, die letzten Winkel des Privaten in Wert zu setzen – aus Gastfreundschaft wird Airbnb, aus Mitfahrgelegenheiten Uber, aus Nachbarschaftshilfe Leihdirwas.

Gegen diesen Prozess organisiert sich in vielen Städten Widerstand, der auch auf kooperativen Formen der Zusammenarbeit fußt. Er manifestiert sich in der Commons-Bewegung ebenso wie in politischen Bottom-up-Netzwerken und BürgerInnen-Initiativen. Bei den spanischen Regionalwahlen 2015 feierten basisdemokratisch organisierte Wahl-Plattformen erdrutschartige Erfolge, die einen Machtwechsel in vier der fünf größten Städte Spaniens, darunter Barcelona und Madrid, einbrachten. Kooperation abseits von Konkurrenz und Verwertung hat es in Städten immer gegeben; das Bewusstsein, aktiv neue Formen als Gegenmodell zu testen, hat sich jedoch erst in den letzten Jahren verstärkt. Die Netzkultur mit ihren flachen Hierarchien und neuen Formen der Arbeitsorganisation, ihrer Forderung nach Transparenz und offenem Zugang zu Wissen bietet nicht nur technische Möglichkeiten, sondern inspiriert auch zu neuen Formen der Organisation. Michael Hardt verweist in diesem Zusammenhang auf Lenin, der davon ausging, dass die Form der Arbeitsorganisation in hohem Maße auch die Form der Organisation politischen Denken und Handelns bestimmt. Wenn also, so Hardt, »die vorherrschende Form der Arbeitsorganisation heute in horizontalen und dezentralisierten Kooperations-Netzwerken besteht, könnte man sich eine politische Form vorstellen, die ebenso dezentralisiert und horizontal ist. […]

Menschen sind bei ihrer Arbeit flexibel, autonom und kooperativ, und das erlaubt ihnen, in der Politik horizontale Netzwerke zu knüpfen und zusammen zu arbeiten.« (Vogel 2010) Der Postfordismus mit seinen flexiblen und dezentralen Organisationsformen der Arbeit eröffnet als unbeabsichtigtes Nebenprodukt somit möglicherweise Fenster für eine andere Zukunft der Stadtgesellschaft.

Die Stadt als Œuvre

Dem Stadtsoziologen Henri Lefebvre galten Städte immer als Œuvre. Damit wollte er sie nachdrücklich von einem warenförmigen Produkt abgrenzen und betonen, dass Städte ein kooperatives Werk aller StadtbewohnerInnen sind. Diese Entwicklung sah er als gefährdet und prognostizierte schon frühzeitig Entwicklungen wie Privatisierung, Verdrängung oder globale Urbanisierung, die heute offensichtlich sind.

Stadt ist das natürliche Habitat der Kooperation und ein logischer Ort für das Entstehen von gesellschaftlichen Laborsituationen und sozialen Innovationen. Der urbane Raum bietet beste Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Werkzeuge und Handlungsmodelle, um das Versprechen auf individuelle Lebensgestaltung als positive Errungenschaft der Moderne mit der sozialen Verfasstheit des Menschen stärker in Einklang zu bringen. Dabei bilden Kooperation und Konkurrenz nicht notwendigerweise ein Gegensatzpaar, wie Richard Sennett (2014) betont: Die Stadt als Raum in ständiger Bewegung, als Ort von Konflikt und Aushandlung benötigt wohl beides. Kooperation definiert Sennett als Handwerk, das den Dialog als Möglichkeit mehrere Meinungen anzuerkennen und eher dem Zuhören Raum zu geben als dem geschliffenen Argument ebenso umfasst wie das Denken und Kommunizieren in Möglichkeitsräumen statt in absoluten Wahrheiten. Empathie sieht er als jene Fähigkeit, Neugier für andere Lebenswelten zu entwickeln, die es gegenseitig zu erkunden gilt.

In der urbanen Praxis eröffnen kooperative Ansätze jedoch nicht nur eine Reihe von Chancen, sondern auch eine Menge Fragen: Einerseits hat sich die Suche nach neuen Formen des Miteinanders deutlich intensiviert, andererseits dreht sich das Wettbewerbskarussell immer schneller und zwingt nicht nur Individuen, sondern auch Unternehmen, Institutionen und Städte in eine ständige Konkurrenzsituation. Gleichzeitig hat die Finanzkrise weltweit Bewegungen Aufschwung verliehen, die nach alternativen Wegen suchen, um den sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Egal ob Recht auf Stadt-Netzwerke, De-Growth/Post-Wachstums-Bewegung, Urban Commons, Gemeinwohl-Ökonomie, freie Software- oder Sharing-Initiativen – den Ausgangspunkt dieser Suche bildet immer Kooperation im Sinne des Zusammenwirkens einzelner zum Wohle vieler. Dass es dabei bessere und schlechtere, wichtige und weniger wichtige und selbstverständlich auch zu kritisierende Modelle und Ansätze gibt, versteht sich von selbst. Erfahrungen mit staatlichen Programmen wie Big Society (GB) oder Participation Society (NL) zeigen beispielsweise, wie viel neoliberale Kraft im Ruf der Kommunen nach Zusammenarbeit mit ihren BürgerInnen steckt.[1] Als dominantes Narrativ verdeckt der Ruf nach Kooperation wichtige Diskussionen über die Verteilung von Macht, Mitteln und den Zustand unserer demokratischen Systeme. Bürgerbeteiligungen und partizipative Planungsansätze bilden allzu oft nur ein Feigenblatt in längst beschlossenen Stadtentwicklungsprozessen. Auch in Sachen Zusammenarbeit gilt es also genau zu fragen, wer mit wem, wie und warum auf welcher Basis kooperieren soll.

Die im Titel des Schwerpunkts angesprochenen Perspektiven sehen wir in Konzepten wie Urban Citizenship, Urban Commons, Autogestion bzw. Selbstverwaltung. Es geht in diesem Heft also um Fragen einer umfassenden Gleichberechtigung jedes einzelnen Individuums der Stadtbevölkerung, der Produktion und Verteilung von Gütern, der kollektiven Stadtproduktion und der Möglichkeit der Mitgestaltung und Teilhabe, der Kommunikation und der Gesellschaftsorganisation. Also um nicht mehr und nicht weniger als die kooperative Stadt.


Anmerkung:
[01] 2013 hat der niederländische König Willem-Alexander in einer Fernsehansprache das Ende des Wohlfahrtsstaates angekündigt und verlautbart, dass dieser durch eine »Participatiemaatschappij«, eine Gesellschaft der Partizipation ersetzt werden wird: »These days people want to make their own choices, arrange their own lives and look after each other. These developments make it appropriate to organise care and social provision close to people and in collaboration with them.« (The Amsterdam Herald 2013). Vorbild dafür ist David Camerons Vision einer Big Society, die ebenfalls das Ziel hat, staatliche Leistungen zu kürzen, um BürgerInnen und Kommunen damit zu belasten.

Literatur:
Antón, Susan C.; Potts, Richard & Aiello, Leslie C. (2014): Evolution of early Homo: An integrated biological perspective. In: Science, Vol. 345 no. 6192. DOI: 10.1126/science.1236828.
Fisher, Mark (2012): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Symptome unserer kulturellen Malaise. Hamburg: VSA.
Graeber, David (2014): Schulden. Die ersten 5000 Jahre. München: Wilhelm Goldmann.
Meretz, Stefan (2012): Konkurrenz und Kooperation. In: Streifzüge, Heft 56. Verfügbar unter: www.streifzuege.org/2012/konkurrenz-und-kooperation [20.09.2015]
Meretz, Stefan (2014): Grundrisse einer freien Gesellschaft. In: Konicz, Tomasz & Rötzer, Florian (Hg.):
Aufbruch ins Ungewisse. Auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise. Hamburg: Heise.
Senett, Richard (2014): Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: dtv.
Staun, Harald (2013): Der Terror des Teilens, In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.12.2013. Verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/shareconomy-der-terror-des-teilens-12722202.html [20.09.2015].
The Amsterdam Herald (2013): King Willem-Alexander: ›participation society‹ must replace welfare state. In: The Amsterdam Herald, 17.9.2013. Verfügbar unter: www.amsterdamherald.com/index.php/rss/982-20130917-king-willem-alexander-participation-society-must-replace-welfare-state-netherlands-dutch-recession-royals-politics [20.09.2015].
Vogel, Steffen (2010): Michael Hardt im Interview. In: Freitag, 6.4.2010. Verfügbar unter: www.freitag.de/autoren/der-freitag/michael-hardt-im-interview [20.09.2015].

dérive, Mo., 2015.10.26



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dérive 61 Perspektiven eines kooperativen Urbanismus

28. Oktober 2009Elke Rauth
dérive

Schizophrenie und Alltag

Achs­e des Bösen, Atom­streit, unverfrorener Antisemitismus inklusive gelebtem Israelhass, Terror und Wahlbetrug – die Nachrichten aus dem Iran, die unser...

Achs­e des Bösen, Atom­streit, unverfrorener Antisemitismus inklusive gelebtem Israelhass, Terror und Wahlbetrug – die Nachrichten aus dem Iran, die unser...

Achs­e des Bösen, Atom­streit, unverfrorener Antisemitismus inklusive gelebtem Israelhass, Terror und Wahlbetrug – die Nachrichten aus dem Iran, die unser Bild des Landes prägen, sind eindeutig. 2009 jährt sich die Islamische Revolution zum dreißigsten Mal und die Verhältnisse haben tiefe Spuren in der iranischen Gesellschaft hinterlassen: Die Kluft zwischen Innen und Außen, zwischen der Privatheit hinter verschlossenen Türen und dem offiziellen, nach außen gerichteten Leben wächst stetig.

Im visuellen Gedächtnis des Westens erscheint der Iran in erster Linie in Bildern der 14 Millionen Metropole Teheran, der brodelnden Hauptstadt des fundamentalistischen Gottes­staates. Genau ihr ist eine aktuelle Erscheinung des kleinen, engagierten Schweizer Salis Verlag gewidmet: Transit Teheran – Pop, Kunst, Politik, Religion. Junges Leben im Iran. versammelt eine Vielzahl von Beiträgen im Iran lebender und arbeitender KünstlerInnen, MusikerInnen, FotografIn­nen, FilmemacherInnen, AutorInnen, WissenschaftlerInnen und JournalistInnen, die ihr bis zur Schizophrenie wider­sprüchliches Dasein unter der Diktatur der religiösen Fundamentalisten abbilden. „Am besten lässt sich Teheran mit dem Begriff der Dichotomie beschreiben“, bemerken die HerausgeberInnen Maziar Bahari und Malu Halasa in ihrem einführenden Text, „das Konzept spiegelt sich in jedem Aspekt des Teheraner Alltags wider. So können iranische Rapper, Death-Metal-Rocker und Punks in Privathäusern vor einem Dutzend, ja selbst vor Hunderten von Zuhörern ihre Musik spielen, kommt aber ein Album auf den Markt, müssen Sie damit rechnen, wegen ,Verbreitung westlich-dekadenter Ideen, die das Bild des Gottestaates beschmutzen‘ vorgeladen zu werden.“

Transit Teheran liefert einen vielschichtigen Einblick in eine unbekannte Stadt und zeigt aufmüpfige Überlebensstrategien einer jungen Generation. Mit verzweifelten, satirischen, nostalgischen, realistischen und durchgängig ebenso spannenden wie berührenden Beiträgen eröffnen die AutorInnen unbekannte Blickwinkel auf ihr Teheran und ein Leben im Ausnahmezustand, geprägt von Mut, Gestaltungs­willen und dem festen Glauben an die Freiheit des Geistes und eine selbstbestimmte Zukunft.

Wie vielschichtig und für Nicht-IranerIn­nen oft auch unbegreiflich sich der Teheraner Alltag darstellt, zeigen unter anderem eine Reihe von Beiträgen zum Leben der Frauen unter den Bedingungen der Sharia. Den Auftakt macht die Fotografin und Autorin Newsha Tavakolian mit ihrem Foto-Essay Girl Power – Wie die andere Hälfte lebt. Darin dokumentiert sie verschiedenste Lebensstadien junger Iranerinnen zwischen Verschleierungs-Ritualen, Mädchen-Fußball, Fitnessclub und Transsexualität – letztere darf im Übrigen seit den 1980er Jahren durch eine entsprechende Fatwa von Ayatollah Khomeini offiziell gelebt werden, was dem Iran nach Thailand die höchste Anzahl von Geschlechtsumwandlungen weltweit beschert. „Als Iranerin bin ich persönlich involviert, ich fotografiere gewissermaßen mein eigenes Leben“ schreibt die Künstlerin in der Erläuterung zu ihrem Beitrag. „Unsere Existenz im Iran ist paradox. (…) Auf der Straße müssen wir Kopftücher tragen und dürfen in der Öffentlichkeit keinem Mann die Hand geben, gleichzeitig wird von uns erwartet, dass wir auf Partys wie Popstars auftreten und unseren Männern Haute Cuisine servieren. (…) Nach ihren Gesetzen beträgt das Blutgeld für uns nur die Hälfte (…), aber all das hat uns zu Kämpferinnen gemacht.“

Asieh Aminis Essay Die Weißen Kopftücher. Freiheit ist ein Stadion, ein Symbol, ein politischer Akt, ein Traum berichtet vom symbolischen Kampf iranischer Feministinnen, sich den Zugang zum Teheraner Fußballstadion zu erstreiten. Aufschlussreich auch die Fotoreportage Dragnet Teheran. Diese Frauen sind das Gesetz von Abbas Kowsar­i und Samaneh Ghardarkhan, die über die Ausbildung und den Einsatz von Polizistinnen zur Sicherstellung der öffentlichen Ordnung sowie die Veränderungen ihrer Rolle seit der Islamischen Revolution berichten. Roya Karimi vermittelt ihre Erfahrungen in Islamschulen für Frauen. Innerhalb einer der 199 Schulen für weibliche Geistliche, während der bereits verstorbene Fotojournalist Kaveh Golestan sensible Portraits weiblicher Prostituierter aus Shar-e No zeigt, dem unter dem Schah 1975 offiziell eingerichteten Rotlichtviertel Teherans, dass 1979, dem Jahr der Islamischen Revolution, dem Erdboden gleich gemacht wurde.

Die Beiträge Bedrohtes Paradies – Aus Teherans Gartenvorstadt ist eine Baustelle geworden von Viveca Mellegard, Die Halde – An den Rändern der Stadt von Zoreh Khoshnamak und Vali Asr – Die längst­e Straße von Magnum-Fotograf Thoma­s Dworzak widmen sich den urbanen Transformationsprozessen in der stetig anwachsenden Großstadt und dem sich auch räum­lich konstituierenden Gefälle in der iranischen Gesellschaft. Drogen, Kriminalität und Obdachlosigkeit prägen in den vernachlässigten Randzonen der Stadt den Alltag. Erst langsam reagieren die Machthaber mit Rehabilitierungsprogrammen und der Ausgabe von sauberen Spritzen in öffentlichen Parks auf die schätzungsweise zwei Millionen Drogenabhängigen in der Hochburg des Opium- und Heroinhandels. Verwandelte Landschaften von Abbas Kowsari und Soheila Beski widmet sich dem öffentlichen Raum und beschreibt „eine radikale Umbenennung von Monumenten, Plätzen und Straßen nach der Revolution, die einige Teheraner gefangen lässt in den sich verändernden Versionen der Vergangenheit.“

Transit Teheran verdichtet in wunderbarer Gestaltung brillante Kurzgeschichten, Reportagen, Essays und Fotostrecken junger iranischer Intellektueller zu einem reflektierten und in weiten Teilen völlig unbekannten Bild der jungen Hauptstadt, und zeichnet so eine kämpferische Generation in der Hoffnung auf Freiheit.

Für Maziar Bahari, kanadisch-iranische­r Dokumentarfilmer und Mitherausgeber des beeindruckenden Bandes, hat diese im Juni 2009 ihr vorläufiges Ende gefunden: Er wurde in Teheran festgenommen und sitzt seither in Haft – ohne Anklage und ohne Lebenszeichen. Wer seine Freilassung unterstützen möchte, kann das mit einer einfachen Unterschrift tun: http://freemaziarbahari.org.


Malu Halasa, Maziar Bahari (Hg.)
Transit Teheran – Pop, Kunst, Politik,
Religion. Junges Leben im Iran
Zürich: Salis Verlag, 2009
240 Seiten, 39 Euro

dérive, Mi., 2009.10.28



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dérive 37 Urbanität durch Migration

Presseschau 12

13. Oktober 2023Elke Rauth
Christoph Laimer
dérive

Urban Commons – Fenster in eine mögliche Zukunft

Das Konzept der Commons hat sich von urbanen Nischen zu kommunalen Public-Common Partnerships entwickelt. Das vorliegende Heft versucht einen Reality Check zum Status quo.

Das Konzept der Commons hat sich von urbanen Nischen zu kommunalen Public-Common Partnerships entwickelt. Das vorliegende Heft versucht einen Reality Check zum Status quo.

Längst ist klar, dass die umfassende soziale, ökologische und ökonomische Transformation, die zur Rettung unserer Städte (und unserer Welt) notwendig ist, ohne ›die Vielen‹, ohne einen gemeinsamen, gesellschaftlichen Konsens und ohne ein hohes Maß an gemeinsamen Handlungen und gesamtgesellschaftlich getragenen Lösungen nicht gelingen wird. Wir brauchen also dringend ein mehr an Demokratie und eine umfassende, tiefgreifende Demokratisierung aller gesellschaftlicher Bereiche. Die Stadt ist dafür das perfekte Feld, weil sie als Einheit klein genug ist, um Veränderung voranzutreiben, zu erproben und implementieren, und groß genug, um diesen Veränderungen Wirkung zu verleihen. Einer dieser Ansätze für die Ausweitung demokratischer Räume und zukunftsweisender Formen der Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Bürger:innen ist das Konzept der Urban Commons, dem wir sowohl diese Ausgabe von dérive, als auch das urbanize! Festival 2023 widmen.

Über Commons wird in der Stadtforschung und darüber hinaus seit etlichen Jahren intensiv geforscht und diskutiert. Angestoßen wurde die breitere Auseinandersetzung durch Innovationen im IT-Bereich, darunter die weithin bekannten Projekte Linux oder Wikipedia. Ein weiterer deutlicher Schub für die Erforschung und Erprobung der Commons erfolgte 2009 mit der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Elinor Ostrom für ihre Forschungsarbeiten zur Nutzung und Verwaltung von gemeinschaftlichem Eigentum. Seither ist die Entwicklung viele Schritte weiter gegangen und bei konkreten Maßnahmen und Aktivitäten auf stadtpolitischer Ebene angelangt, die Urban Commons in vielen Städten durch Governance-Vereinbarungen zum Leben erwecken. In diesem Zusammenhang sei besonders auf die 2014 implementierte Regulation on Collaboration Between Citizens and the City for the Care and Regeneration of Urban Commons durch die Stadt Bologna verwiesen, die als Vorlage für viele Vereinbarungen in italienischen Städten und darüber hinaus dient. Eine dieser Städte ist Turin. Maria Francesca De Tullio und Violante Torre haben sich intensiv mit Commons in Turin auseinandergesetzt und die Geschehnisse mit kritischem Blick verfolgt. Dabei wird klar, wie hart gerungen werden muss, damit ›Urban Commons‹ nicht zum Etikett verkommt, hinter dem Privatisierungen verschleiert und traditionelle Machstrukturen prolongiert werden.

Bereits vor 15 Jahren stellte die Architekturtheoretikerin Christa Kamleithner mit dem Schwerpunktheft dérive N°31: Gouvernementalität1 die wichtige Frage, ob sich Städte unter dem Mantel der Kooperation und Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Initiativen einfach ihrer Aufgaben entledigen. Das neoliberale Dogma vom ›schlanken Staat‹, kombiniert mit dem Slogan des ›aktivierenden Staates‹, der als Abkehr vom sozialen Wohlfahrtsstaat verstanden wurde, geisterte allerorts durch die Welt. Auch im Kontext der aktuellen Forschung zu Urban Commons taucht der ›enabling state‹ also der ›ermöglichende Staat‹ auf (siehe Foster & Iaione in diesem Heft) und es gilt wachsam zu bleiben und neben der (Entscheidungs-)Macht auch die Mittel einzufordern, die urbane Commons benötigen, um langfristig bestehen zu können.

Auch Stavros Stavrides, ausgewiesener Experte und Aktivist für Urban Commons, sieht diese Gefahr in seinem Beitrag Öffentlichen Raum als Commons zurückgewinnen. Einen Ausweg erblickt er einzig in der Entwicklung »alternativer Formen der sozialen Organisation durch Commoning«. Sein Artikel widmet sich zentralen Fragen zu Gemeinschaft, Commoning und Identität sowie der Bedeutung von Kollaboration für das Commoning und fokussiert auf die Situation in Lateinamerika. Das macht auch Anna Puigjaner, die in Die Küche aus dem Haus holen die Geschichte und Entwicklung der beeindruckenden Urban Kitchens in Peru diskutiert. Auch in diesem Beispiel wird deutlich, wie einflussreich das Zusammenspiel verschiedener Stakeholder (Staat, NGOs, Commoners) und wie wichtig die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit von Urban Commons ist, um nicht zu einem Fall für »Regieren durch Community« (Nikolas Rose) zu werden.

Bei aller Notwendigkeit der kritischen Beobachtung sind Public-Common Partnerships (PCPs), mit denen der urbane Reichtum für die Allgemeinheit gesichert und verwaltet werden kann, anstatt der Profitlogik von Public-Private Partnerships (PPPs) zu folgen, zentraler Bestandteil der Weiterentwicklungen für die Anwendung urbaner Commons der letzten Jahre. Im umfangreichen Co-City Projekt von LabGov, einem internationalen Netzwerk, das sich auf die Entwicklung 
und Erforschung kollaborativer Governance von städtischen Räumen und Ressourcen konzentriert, wurden 200 Städte 
und über 500 Commons-Projekte analysiert. Die für diesen Schwerpunkt relevante Essenz aus den Erkenntnissen von Co-City in Form von grundlegenden Design Principles ist im Beitrag Die Stadt als Commons von Sheila R. Foster und 
Christian Iaione nachzulesen.

Wie Public-Common Partnerships genau funktionieren bzw. funktionieren sollten, um tatsächlich »Prozesse in Gang zu setzen, die dazu beitragen, die Grenzen des sozial wie politisch Möglichen zu verschieben«, erläutern auch Bertie Russell und Keir Milburn in ihrer Analyse Public-Common Partnerships, Autogestion und das Recht auf Stadt. Eine der Fragestellungen dreht sich dabei um die Verwendung des von PCPs erwirt­schafteten Mehrwerts. Fragen der Ökonomie, im speziellen der Finanzierung von Urban Commons gehen Levente Polyák, Daniela Patti und Jorge Mosquera in Financing non-speculative properties – Ownership, governance and the economy of commons nach. Sie stellen spannende Finanzierungsmöglichkeiten und deren Anwendung vor und argumentieren gleichzeitig, dass es als »key policy priority« dringend weitere, umfangreiche Modelle braucht, um »financing for non-speculative development projects across Europe« sicherzustellen. Schließlich stellen Urban Commons für die urbanen Gesellschaften besonders wichtige Ankerpunkte dar, deren Nutzen weit über die als Commons genutzten Ressourcen reicht.

Dagmar Pelger definiert solche Orte in ihrem Beitrag als ›Spatial Commons‹. Deren Definition ist oft unscharf und genau so in Verhandlung wie die Commons selbst. Trotzdem ist es wichtig festzulegen, wovon – und wovon nicht – die Rede ist, wenn es um Commons geht, um ›Commons Washing‹ (De Tullio und Torre) zu verhindern. Pelger setzt sich für eine Begriffsschärfung ein und verweist auch auf die Bedeutung des fortwährenden Nacherzählens der Geschichte von Commons, »um an ihr weiterzuschreiben«.

Das Konzept der Commons als transformativer Prozess kann auch dazu dienen, die Gestaltungs- und Aneignungsspielräume auszuweiten, etwa in Büchereien, die längst mehr sind als reine Orte der Bildung, Information und Wissensvermittlung. Die Kommerzialisierung der Stadträume hat u.a. dazu geführt, dass Büchereien zu wichtigen, kostenfreien Raumressourcen geworden sind: Sie sind, wie Alexa Färber und Marion Hamm in ihrem Text schreiben, genauso »Orte des Zusammenkommens, des Lernens, der Begegnung und Beratung« wie auch »geschützter Aufenthaltsort«. Im Zuge eines internationalen Forschungsprojekts untersuchen die beiden Autorinnen Büchereien in Rotterdam, Malmö und Wien.

Ein Common (Green) Space soll das Frachtenareal am Westbahnhof in Wien werden, wenn es nach der Initiative Westbahnpark.Jetzt geht. Im Interview erläutern drei der Aktivist:innen die überzeugenden ökologischen, sozialen und städtebaulichen Argumente für einen Park statt einer – von Stadt und ÖBB ins Auge gefassten – Wohnbebauung mit Grünraum und berichten von ›Particitainment‹ und fehlender Kommunikation der Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und bei der Liegenschaftseignerin Bahn mit den Bürger:innen.

»We are not naive« schreiben LabGov in der Conclusio ihrer Commons-Analyse von über 200 Städten weltweit und verweisen auf die vielen und beharrlichen Kräfte, die einer demokratischen Verwaltung und Vergesellschaftung von urbanen Ressourcen entgegenstehen. Dennoch eröffnen Urban Commons in zahlreichen Städten bereits heute Ausblicke auf eine gerechtere Verteilung von urbanen Ressourcen, schaffen Räume der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entfaltung jenseits der Profitlogik sowie Erfahrungen von demokratischer Aushandlung und Handlungsmacht. Der Prozess ist in vollem Gange und öffnet ein real-utopisches Fenster für eine zukunftsfähige, soziale und ökologische Transformation der Stadt – durch iterative Experimente und global geteilte Erfahrungen. Das Wissen und die Commoners stehen weltweit für Public-Common Partnerships bereit. Es liegt jetzt an den Städten, die Rahmenbedingungen zu schaffen.

1

Das Heft mit dem Schwerpunkt Gouvernementalität ist als gedruckte Ausgabe vergriffen, kann aber noch als PDF bezogen werden: https://shop.derive.at/collections/ einzelpublikationen/products/heft-31.

dérive, Fr., 2023.10.13



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dérive 92-93, Urban Commons

10. Februar 2023Elke Rauth
dérive

Stadt vom Rand aus betrachtet

»Was erlebt man, wenn man der Grenzlinie folgt, die eine Stadt geographisch und rechtlich definiert?« fragten sich die Künstler:innen und Stadtforscher:innen...

»Was erlebt man, wenn man der Grenzlinie folgt, die eine Stadt geographisch und rechtlich definiert?« fragten sich die Künstler:innen und Stadtforscher:innen...

»Was erlebt man, wenn man der Grenzlinie folgt, die eine Stadt geographisch und rechtlich definiert?« fragten sich die Künstler:innen und Stadtforscher:innen Adina Camhy, Robin Klengel, Coline Robin und Markus Waitschlager, als sie im Sommer 2020 zu ihrer siebentägigen Umrundung von Graz aufbrachen. Mit Open Street Map als Navigationshilfe, Rucksack, Zelt und allerlei Dokumentations-Werkzeugen startete die Forschungsreise entlang der 1938 unter dem NS-Regime festgelegten und bis heute weitgehend gültigen Grazer Stadtgrenze. Das Gehen als Methode lieferte die Geschwindigkeit für die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Begegnungen, die Grenzlinie diente der Forschungsgruppe als »roter Faden, der unterschiedliche Perspektiven greifbar werden ließ«. Der Forschungszugang der »Serendipity, das Prinzip etwas zu finden ohne explizit danach zu suchen« verlangte eine »lauernde Aufmerksamkeit und Offenheit«, die Tagesetappen, Abweichungen von der Route und Ausmaß des Erkenntnisgewinns pro Tag bestimmte. Denn schnell war klar: Auch – und gerade – am Rand ist die Stadt für das Auto konzipiert, sind »ganze Landstriche« durch »große Einfahrtsstraßen, Autobahnknoten und Parkplätze« definiert. Das Gehen schafft körperliches Bewusstsein für die autogerechte Planung, »etwa wenn uns Fahrbahnen ohne Gehsteige in den Straßengraben drängen oder ein Autobahnkreuz große Umwege nötig macht«.

Mit großer Akribie wurden Wahrnehmungs-Statistiken erstellt, und im liebevoll von Robin Klengel gezeichneten und extra beigelegten »Grazrand Statistik Sonderheft« mit recherchiertem Datenmaterial »nach bestem Wissen und Gewissen« vereint. Diese »Angaben ohne Gewähr« in schönster Alltagsforschungs-Manier erzählen ebenso vielstimmig Geschichten von der Peripherie wie von der Stadtrand-Expedition selbst, etwa wenn mit einer guten Portion Humor neben 10 Pferden, 7 Rehen, 30 Kühen, 2 Bussarden, 2,5 Mio. Ameisen und zahlreichen weiteren Tieren auch »zu viele« Gelsen, »viel zu viele« Spinnen oder »49 Zecken, 15 davon im Intimbereich« statistisch erfasst werden. Nachdenklich stimmt das beigelegte Poster mit zeichnerisch erfassten »informellen Architekturen«, gelingt dem Betrachter doch nur schwer eine Zuordnung zwischen Baumhaus zum Spielen und notdürftigem Unterschlupf für Menschen am Rand – der Stadt und der Gesellschaft.

Die unterschiedlichen Kapitel der Publikation dokumentieren die vielfältigen Blickwinkel der Forschenden auf den Grazer Rand: »Etappen« erfasst als tagebuchartiger Reisebericht, illustriert von Coline Robin, die Ereignisse und Beobachtungen entlang der sieben Teilstrecken. Fett gedruckte Verweise führen zum Kapitel »Orte«, das ausgesuchte Punkte am Weg hervorhebt, die mit Erlebnissen, historischem Hintergrundwissen und urbanistischen Einordnungen beschrieben und von Robin Klengel illustrativ festgehalten werden. »Gstettn« und »Bachbett«, »Gärtnerei« und »Golfplatz«, »Atriumhäuser« und »Farina Mühle«, »Kreisverkehr« und »Riesstraße« ergeben mit vielen mehr ein Bild der unterschiedlichen räumlichen und sozialen Situationen entlang der Strecke. »Fundstücke« versucht eine Annäherung an das Leben am Stadtrand durch Sammlung von Objekten entlang des Weges, die in forensischer Weise beschrieben und als Tages-Collagen von Markus Waitschacher fotografisch von Lena Prehal erfasst werden. Von Zivilisationsmüll bis Rehkiefer hinterlassen die durchwanderten Landschaften Spuren ihrer Nutzer:innen. Zwei weitere Fotostrecken erfassen Grenzsteine und Zäune entlang des Weges.

Das Kapitel »Begegnungen« dokumentiert Zaungespräche und flüchtige Zusammentreffen, Gastfreundschaft und die Verteidigung von Eigentum, wenn etwa der Grenzverlauf über einen privaten Hof führt, deren Besitzerin nur nach langer Diskussion dazu überredet werden kann, die Gruppe – einmalig – passieren zu lassen, oder im östlichen Hügelland »alle Wiesen mit ›Betreten Verboten‹-Schildern versehen« sind und die Gruppe umgehend vertrieben wird, als sie sich zum Frühstück unter einem Baum am Rande eines Ackers niederlässt. Die dokumentierten Gespräche und Erlebnisse verweisen immer auch auf strukturelle Zustände, sie erzählen von schwindenden Ackerflächen und der Unmöglichkeit einer kleinbäuerlichen Existenz, von der Enge der Vorstadt und der Macht des Eigentums, von Ausbeutung, dem Versagen der Verkehrspolitik und dem Aussterben des Gemeinschaftslebens in den Siedlungen.

Drei Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen bieten Kontextualisierungen der GrazRand-Expedition: Kulturwissenschaftlerin Johanna Rolshoven nimmt in ihrem Beitrag »Die ausgefranste Stadt« einen Perspektivenwechsel auf den Rand als »Ort des Neuen« vor. Der Historiker Matthias Holzer sucht in »Die verschwundene Grenze«, mittels Karten und Geodaten Spuren jenes Verlaufs, der vor der Eingemeindung durch die Nationalsozialisten den Grazer Stadtrand bildete. Eine naturkundliche Perspektive auf die Stadtgrenze wirft der Biologe Werner E. Holzinger, wenn er in seinem Beitrag »Grünes Band« eine Runde um die Stadt dreht und dabei naturräumliche ebenso wie biologisch-ökologische Grenzen festmacht.

Die liebevoll gestaltete Publikation macht Lust auf urbane Forschungsreisen und dokumentiert auf ebenso ernsthafte wie leichtfüßig-humorvolle Weise die Entwicklungen an den Rändern, denen es – nicht nur in Graz – sowohl an stadtplanerischer Aufmerksamkeit wie architektonischer Fürsorge fehlt. Dabei, so die Forschungsgruppe, sind es gerade die Stadtränder, an denen entscheidende Weichenstellungen passieren: »Am Rand von heute entstehen die Zentren von morgen. Die Frage, welche Interessen sich am Stadtrand durch­setzen, ist entscheidend für das zukünftige Zusammenleben – nicht nur für Menschen, sondern für alle Lebewesen. Die Zukunft wird am Stadtrand entschieden.«


Camhy, Klengel, Robin, Waitschacher
GrazRand
herausgegeben von Elisabeth Fiedler, Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark
Verlag Bibliothek der Provinz, 2021
144 Seiten, 20 Euro

dérive, Fr., 2023.02.10



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dérive 90 Sampler

24. Oktober 2019Elke Rauth
dérive

Betroffenheit kollektivieren, Wohnungsfrage politisieren

»Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, ist ein Teil von ihr«, behauptet der Schweizer Filmemacher Thomas Hämmerli in seinem jüngsten Dokumentarfilm Die...

»Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, ist ein Teil von ihr«, behauptet der Schweizer Filmemacher Thomas Hämmerli in seinem jüngsten Dokumentarfilm Die...

»Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, ist ein Teil von ihr«, behauptet der Schweizer Filmemacher Thomas Hämmerli in seinem jüngsten Dokumentarfilm Die Gentrifizierung bin ich. Beichte eines Finsterlings, mit dem er dem kreativen Aufwertungsdilemma lustvoll-provokant nachgeht. Und tatsächlich: Die Debatte um Aufwertung und Verdrängung ist im deutschsprachigen Raum lange, um nicht zu sagen zu lange rund um die Schuldfrage geführt worden: Die kreativen Pionier-Kohorten aus prekären KünstlerInnen, StudentInnen oder Angehörigen linker Alternativszenen sind über viele Jahre in die individualisierte Gentrifizierungsfalle getappt, aus der sie sich halb selbst zerfleischend, halb mit dem Zeigefinger auf die jeweils anderen gerichtet, nicht zu befreien wussten. Eine Freude für all jene, die an der Gentrifizierung gut verdient und das konservative Storytelling in der medialen Öffentlichkeit genährt haben.

Nur langsam hat sich mit Manifesten der Recht auf Stadt Bewegung wie Not in our Name – Marke Hamburg (2009), Christoph Twickels Bestseller Gentrifidingsbums (2010) oder Andrej Holms Wir bleiben Alle! (2010) die Erkenntnis durchgesetzt, dass den Verwerfungen an den Wohnungsmärkten und der fortschreitenden Inwertsetzung des öffentlichen Raums nur mit einem kollektiven Ansatz auf der Ebene von Systemkritik in Theorie und Praxis beizukommen ist.

Es ist das große Verdienst der Stadtforscherin und Stadtaktivistin Lisa Vollmer, in der ersten Hälfte ihres schmalen, konzentrierten Bandes eine ebenso detaillierte wie zugängliche Abhandlung zum Stand der Gentrifizierungsforschung zu liefern, um dann erfolgreiche »Strategien gegen Gentrifizierung«, so auch der Titel des Buchs, systematisiert und übersichtlich den LeserInnen in flüssiger und verständlicher Sprache zur Verfügung zu stellen. Es geht Vollmer ganz eindeutig darum, mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit einen Beitrag für die Praxis zu leisten, ein Handwerkszeug für die Selbstorganisation von MieterInnen, für StadtaktivistInnen und alle, die sich gegen die systematische Verdrängung durch Aufwertung wehren müssen. Ohne die LeserInnen zu bevormunden, nimmt die Publikation nichts als gegeben an: Fachbegriffe werden im Text kurz und verständlich erläutert, ökonomische und politische Zusammenhänge transparent gemacht. Vollmer stellt klar, dass Gentrifizierung Teil der kapitalistischen Stadtproduktion ist mit »ihrer Inwertsetzung der baulichen Infrastruktur wie ihrer kulturellen Urbanität«. Auf erstaunlich wenigen Seiten werden sämtliche Aspekte kurz und knapp in Beziehung gesetzt: Klassische Gentrifizierungsphasen, Verdrängung und ihre individuellen Folgen, Segregation und ihre Folgen für die urbane Gesellschaft, unterschiedliche Erklärungsansätze, kulturelle Dynamiken, Finanzialisierung der Wohnungsmärkte, die Rolle des Staats, von Touristifizierung, Gewerbe und Neubau.

Nachdem Vollmer das Feld aus allen Blickwinkeln beleuchtet hat, macht sie klar, dass Gentrifizierung verstanden als »Bevölkerungspolitik«, ebenso wie der Kapitalismus an sich, kein Naturgesetz darstellt: »Ob Aufwertung auch zu Verdrängung führt, ist von politischen Entscheidungen abhängig.« Damit diese im Sinne des Gemeinwohls getroffen werden, braucht es Druck durch »die Stadt von unten«, damit »Politiken gegen Inwertsetzung« wie ein effektiver MieterInnenschutz, der Ausbau der MieterInnen-Mitbestimmung und der (Wieder-)Aufbau des gemeinnützigen und nicht-gewinnorientierten Sektors implementiert werden.

An dieser Stelle beginnt auch die praxisorientierte kritische Analyse der »Strategien gegen Gentrifizierung« mit vielen Beispielen aus den Recht auf Stadt Netzwerken, von MieterInnen-Bündnissen wie Kotti+Co, Bizim Kiez, Deutsche Wohnen & Co enteignen, Esso Häuser St. Pauli, Gängeviertel, dem Bündnis Stadt für Alle Bochum und vielen mehr. Analysiert wer den Kampagnen-Strategien und kreative Werkzeuge, aufgestellte Fettnäpfchen und produktive Wege, um sich aus Sackgassen und Partizipationsfallen zu befreien, ebenso wie Möglichkeiten und Bedingungen für Bündnisse außerhalb des angestammten Milieus. Exkurse zum Transformative Community Organizing oder zum Mietshäuser Syndikat bilden wichtige Querverweise zu Methoden und Modellen der Selbstorganisierung.

Mit Strategien gegen Gentrifizierung ist Lisa Vollmer eine Analyse gelungen, die Theorie und Praxis verbindet und Möglichkeiten der Selbstorganisierung aufzeigt. Damit stellt es ein wertvolles Werkzeug für die Weitergabe von erarbeitetem Wissen von und für urbane soziale Bewegungen dar. Man wünscht sich, die Stadtforscherin bekäme die Mittel, um darauf aufbauend ein noch umfassenderes illustriertes Handbuch zu erstellen, um dieses Wissen auch grafisch breiter rezipierbar zu machen. Das Zeug zum Klassiker hätte es.

dérive, Do., 2019.10.24



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dérive 77 Wohnungsfrage

06. November 2017Christoph Laimer
Elke Rauth
dérive

DEMOKRATIE ≠ Demokratie

»What is to be done, what we all must do together, is to engage in a collective struggle and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.« (Mark Purcell)

»What is to be done, what we all must do together, is to engage in a collective struggle and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.« (Mark Purcell)

Es ist nicht zu übersehen: Die Demokratie hat ein echtes Problem. Weit verbreitete Korruption, der überbordende Einfluss von globalen Unternehmen, partikulare Machtinteressen und Vetternwirtschaft, post-demokratische Strukturen, eine offensichtliche Unfähigkeit zum Dialog mit dem Souverän und das augenscheinliche Unvermögen der Nationalstaaten, den anstehenden Problemen dieser Welt in adäquater Weise zu begegnen, lassen immer mehr Menschen an der Funktionsfähigkeit der herrschenden politischen Klasse und damit auch der Demokratie an sich zweifeln. Jahrzehnte der Durchsetzung einer neoliberalen Agenda mit konsequentem Abbau von hart erkämpften sozialen Rechten und der vorsätzlichen Diskreditierung von grundlegenden Werten wie Gleichheit und Solidarität haben unsere Welt in ein schlingerndes Schiff mit ungewissem Kurs verwandelt.

It’s the inequality, stupid!

In den Städten sind diese Entwicklungen längst angekommen: Betongold trifft auf Wohnungsnot, Armut und Obdachlosigkeit; Angstpolitik und umfassende Sicherheitsregime im öffentlichen Raum auf Abbau von Freiheitsrechten und Verdrängung; massive Eigentumskonzentrationen auf das Aussortieren von immer mehr Menschen am Arbeitsmarkt. »Cities are the places where austerity bites« hat Jamie Peck vor einigen Jahren in dérive geschrieben – eine Analyse, die immer mehr Menschen betrifft. Die 99 % dieser Welt bekommen die frappierende Ungleichheit der neo-feudalistischen Verhältnisse unter einem von Gier getriebenen, neuen Geldadel in immer bedrohlicherer Weise im Alltag zu spüren. Was bringt uns also dazu, einen Schwerpunkt zum Thema Demokratie und Stadt zu veröffentlichen?

Demos und Kratos

Während die abgehängten Klassen sich scheinbar in großen Zahlen von Angstdiskurs und rechtspopulistischen Milchmädchen-Rechnungen angezogen fühlen, was weltweit einen besorgniserregenden Aufstieg von neuen autokratischen Führerfiguren hervorbringt, wächst auch der Widerstand gegen Demokratie als hohle Phrase und die Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung von Gesellschaft. Zentrum dieses Widerstandes sind die Städte. Doch welches Potenzial birgt das Konzept Demokratie über den bekannten Status Quo hinaus? Ein möglicher Ansatz verbirgt sich in einer etymologischen Spurensuche: Die gängigste und einfachste Übersetzung von Demokratie ist Volksherrschaft. Sie ist grundsätzlich nicht falsch, meist fällt aber unter den Tisch, dass demos keinesfalls im völkischen bzw. ethnischen Sinne zu verstehen ist. Dafür verwendeten die Griechen den Begriff ethnos. Demokratie steht also keineswegs für ethnische Ausgrenzung zur Verfügung, wie es die von der wahren Volksherrschaft träumenden Wir-sind- das-Volk-Fraktionen verlangen.

In seinem Beitrag For Democracy: Planning and Publics without the State setzt sich Mark Purcell näher mit der Begriffsdeutung von Demokratie auseinander. Das Ergebnis seiner demokratietheoretischen und etymologischen Analyse: Demokratie bedeutet im Kern, dass Menschen ihr angeborenes Potenzial, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, so frei als nur möglich nutzen können sollen. Purcell interpretiert kratos (dt. Macht, Stärke) nicht als Macht über oder Herrschaft über, sondern als die Macht oder das Vermögen zu etwas, also als Fähig- keit Dinge zu bewegen, Entscheidungen zu fällen, Probleme zu meistern. So wie in der attischen Demokratie die Bürger der Polis ihre Angelegenheiten in Versammlungen selbst regelten, fordert Purcell dazu auf, uns die Macht wieder zu eigen zu machen, die wir in der repräsentativen Demokratie an den Staat abgegeben haben, und das jedem Menschen innewohnende Potenzial zu nutzen. Dass diese natürlichen Fähigkeiten bei den meisten heute eher verkümmert scheinen und wir als Gesellschaft erst wieder lernen müssen, sie zu entdecken, ist offensichtlich.

Change begins in the city

Die Lust dazu ist in den letzten Jahren auf jeden Fall spürbar im Steigen begriffen. Das beginnt bei Community-Gärten, Fab-Labs oder selbstorganisierten Hausprojekten und reicht bis zu Bestrebungen der politischen Selbstverwaltung, wie wir sie derzeit beispielsweise bei der kurdischen Bevölkerung in Rojava und in zahlreichen Städten weltweit beobachten können. Ähnlich wie David Graeber von »elementarem Kommunismus« spricht, unter dem er vorrangig alltägliche gegenseitige Hilfe versteht, ohne die keine Gesellschaft funktionieren kann, deutet Purcell auf zahlreiche bereits bestehende Initiativen und Aktionen hin, die heute als Möglichkeitsfenster in eine andere Gesellschaft den Weg in Richtung einer umfassenderen Demokratie weisen. Für Purcell ist Demokratie kein Stadium, das irgendwann in seiner höchsten Vollendung erreicht werden kann, sondern ein Horizont auf den man sich asymptotisch zubewegt. Dabei tauchen frühe demokratische Werkzeuge wie etwa die offene Versammlung immer wieder auf, was ihre Wichtigkeit für die demokratische Gesellschaft unterstreicht. Am eindrucksvollsten passiert das derzeit in Städten wie Barcelona, wo die Stadtteilversammlung (Asamblea) eine wichtige Rolle in der Stadtpolitik spielt. Dass diese Form der unmittelbaren demokratischen Auseinandersetzung derzeit für intensives Nachdenken sorgt, beweist auch die im Oktober erscheinende neue Publikation von Hardt/Negri unter dem Titel Assembly.

Die Occupy-Bewegung und die weltweiten Platzbesetzungen der letzten Jahre mögen von vielen als nicht erfolgreich betrachtet worden sein, aber sie haben gemeinsam mit erfolgreichen kommunalen Experimenten wie etwa in Porto Alegre Prozesse in Gang gesetzt und umfassende Lernerfahrungen ermöglicht. In Summe bilden sämtliche Bestrebungen der Selbstorganisation fruchtbare Keime einer sich noch unscharf abzeichnenden, aber durchaus hoffnungsvollen neuen munizipalistischen Bewegung. In Spanien haben sich die Indignados des spanischen Movimiento 15-M von 2011 zahlreich in Initiativen organisiert und sind bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2015 als Bewegungs-Plattformen angetreten. Im Gegensatz zu populistischen Top-down-Bewegungen, die alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen, sind sie tatsächlich bottom-up entstanden. Mit ihren Programmen für echten gesellschaftlichen Wandel, gegen Korruption und soziale Ungleichheit und für eine offene, solidarische Gesellschaft haben sie in einer Vielzahl von spanischen Städten aus dem Stand den Wahlsieg davongetragen. Sie regieren mit Ahora Madrid und seiner neuen Bürgermeisterin Carmen Carmela sowohl das politische als auch mit Barcelona en Comú (BComú) und der PAH-Aktivistin Ada Colau das ökonomische Zentrum Spaniens und arbeiten intensiv an einer Öffnung der politischen Institutionen und der Entwicklung von neuen demokratischen Werkzeugen zur Verbindung der Ebene von Nachbarschaft und Stadtteilversammlung mit der institutionellen Stadtpolitik.

Radical Cities

Wie kann also eine Demokratie aussehen, die nicht in der weit verbreiteten Form der repräsentativen Demokratie erstarrt? Murray Bookchin, der 2006 verstorbene Begründer eines libertären Kommunalismus, dessen Ideen heute von zahlreichen politischen Gruppen wieder aufgegriffen werden, verfolgt in seinem Buch Die Agonie der Stadt (1996) die These, dass eine lebendige Demokratie nur dann möglich ist, wenn Menschen auf lokaler Ebene miteinander über ihre Anliegen von Angesicht zu Angesicht diskutieren und diesen Prozess nicht an BerufspolitikerInnen delegieren.

Er spricht sich für eine Entprofessionalisierung von Politik aus, weist aber stets darauf hin, dass diejenigen die sich in einer Versammlung auf Maßnahmen einigen, nicht zwangsläufig die sein müssen, die sie auch umsetzen.

Auch der Idee der Städtebünde hat Bookchin viel Aufmerksamkeit gewidmet und mit zahlreichen Beispielen von der Antike übers Mittelalter bis in die Gegenwart ihr Potenzial für eine demokratischere Gesellschaft belegt. Heute spielen Städte-netzwerke auf vielen Ebenen (wieder) eine wichtige Rolle und man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass sich ihre Bedeutung in Zukunft weiter erhöhen wird. Städte sind mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen tagtäglich und direkt konfrontiert und können sich nicht in nationalstaatlichen Realitätsverweigerungen und Inszenierungen ergehen, zumindest dann nicht, wenn sie als lebendige und lebenswerte Orte für alle erhalten bleiben wollen. Benjamin Barber hat mit seinem 2013 erschienenen Buch If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities diese Entwicklung auf den Punkt gebracht.

Bookchins libertärer Kommunalismus hat sich zwar als Begriff nicht wirklich durchgesetzt, in der aktuellen munizipalistischen Bewegung stoßen jedoch viele seiner Ideen auf großes Interesse. Der Begriff des Munizipalismus geht dabei historisch auf eine Bewegung während der Römischen Republik des 18. Jahrhunderts zurück, in der einige Kommunen sich in Gänze vom neuen Staat loszusagen versuchten, mit den Werten Selbstbestimmung und Autonomie als Kern der Idee. Juan Subirats, einer der Gründer von Barcelona en Comú, beschreibt in seinem Beitrag in dieser Ausgabe die Entwicklung der munizipalistischen Bewegung im heutigen Spanien und die Werte und Ziele, die in den lokal organisierten Wahlkämpfen im Vordergrund standen: Die Wiederaneignung der Institutionen im Sinne der BürgerInnen, die Bekämpfung von sozialer Not und der Zunahme von Ungleichheit, eine direkte Einbeziehung der Bür- gerInnen in öffentliche Entscheidungsprozesse und das Wieder- erlangen einer ethischen, moralischen, politischen Perspektive nach Jahren der Korruption und privaten Bereicherung an den öffentlichen Institutionen.

Lessons to learn

So spannend und hoffnungsvoll sich das Projekt der munizipalistischen Bewegung darstellt, so stellt sich doch die Frage, ob und wie es langfristig möglich ist, die vorhandenen Strukturen der Stadtpolitik und Kommunalverwaltung so zu nutzen, dass am Ende des Tages nicht doch automatisch wieder nur eine repräsentative Demokratie übrig bleibt. Auch der Hamburger Autor und Stadtaktivist Niels Boeing weist im Interview in dieser Ausgabe darauf hin, dass sich die Strukturen der Verwaltung mitsamt ihrer Beamtenschaft in der Vergangenheit immer wieder als starke, bewahrende Kräfte erwiesen haben, die über viel Wissen und Erfahrung und damit über eine nicht zu unterschätzende Macht verfügen, mit der bei allen Ansätzen eines grundlegenden Wandels gerechnet werden muss.

Barcelona en Comú arbeitet jedenfalls hart daran, die Institution der Asambleas (Stadtteilversammlungen) als den Ort zu institutionalisieren, an dem von der Bevölkerung Themen aufgeworfen und Fragen diskutiert werden, deren Antworten schließlich von Politik und Verwaltung aufgegriffen und umgesetzt werden. Können die komplexen Probleme der urbanen Gesellschaft mit solchen Modellen tatsächlich gelöst werden? Ist es also möglich an Demokratie als Projekt einer aktiven Selbstermächtigung zu arbeiten, anstatt sie nur passiv zu konsumieren?

Die Fragen sind berechtigt, kommen allerdings zu früh, um sie ernsthaft und umfassend beantworten zu können. Der harte Pragmatismus (Kate Shea Baird) des neuen Munizipalismus ist es auf jeden Fall wert, einen genauen Blick darauf zu werfen und die Entwicklung zu verfolgen.

Dass Barcelona en Comú es tatsächlich ernst meint, zeigen Bertie Russell, vom Urban Institute der Universität von Sheffield, und Oscar Reyes, der am Institute for Policy Studies forscht und in Barcelona lebt, in ihrer Analyse 20 Monate nach der Wahl: Ada Colaus Credo Feminizing Politics setzt auf einen komplett anderen Politikstil, der Zweifel und Widersprüche offen thematisiert und gleichzeitig die Rolle der Gemeinschaft und des Gemeinwohls bei der Lösungsfindung stärkt. Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht eine Politik der Commons, der Vergesellschaftung von lebensnotwendigen Infrastrukturen und gemeinsamen Entwicklung von Stadt. Sein Wahlprogramm entwickelte BComú auf Stadtteilversammlungen in lokalen Nachbarschaften und durch technische Online-Werkzeuge gemeinsam mit tausenden Menschen. Die größten Gewinne hat BComú in den ärmsten Nachbarschaften erzielt. Nach dem Wahlsieg installierte die Plattform einen Notfalls-Plan mit Maßnahmen gegen Zwangsräumungen, Strafen für Banken, die ihren Immobilienbesitz leer stehen lassen, und Subventionierung von Transport- und Energiekosten für Arbeitslose und MindesteinkommensbezieherInnen. Statt rassistischer und xenophober Angst- und Sündenbockpolitik werden von BComú die wahren Gründe thematisiert, warum immer mehr Menschen immer weniger zum Überleben haben, und Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage gesetzt. Soziale Stadtteilprojekte werden aus einem Fonds unterstützt, den die Abgeordneten von Barcelona en Comú durch eine selbst auferlegte Gehaltsbeschränkung von 2200 Euro speisen. Bei aller Lokalität verliert die Plattform den globalen Rahmen aber nicht aus den Augen: BComú vernetzt weltweit Städte und hat ein Komitee gegründet, um die gemachten Erfahrungen international zu diskutieren und zu teilen. All diese Ansätze verfolgen nicht einfach eine klassische sozialistische Politik, im Glauben, die besten Lösungen für das Wahlvolk zu haben. Barcelona en Comú glaubt ganz im Sinne des Stadt selber Machens daran, dass Menschen ihre Angelegenheiten gemeinsam und selbstorganisiert am besten regeln können, und verbindet Alltags- und ExpertInnen-Wissen, um Lösungen für die tatsächlichen Probleme der Menschen zu entwickeln.

dérive, Mo., 2017.11.06



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dérive 69 Demokratie

26. Oktober 2015Elke Rauth
Christoph Laimer
dérive

Perspektiven eines kooperativen Urbanismus

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im...

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im...

Als »elementaren Kommunismus« bezeichnet der Anthropologe David Graeber in seinem Buch Schulden – die ersten 5000 Jahre gegenseitige Hilfeleistungen im Alltag wie Informationen zur Verfügung stellen, Dinge verborgen, mit Rat und Tat zur Seite stehen oder Feste gemeinsam feiern. Diese nichtkommerziellen Formen der Kooperation bilden die Basis des menschlichen Zusammenlebens. Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens würden ohne diesen elementaren Kommunismus nicht funktionieren. Das gilt sowohl für den normalen Alltag als auch für Ausnahmesituationen wie beispielsweise die aktuelle Flüchtlingskrise. Man möchte sich gar nicht ausmalen, mit welcher menschlichen Katastrophe wir konfrontiert wären, gäbe es nicht die beeindruckende Zusammenarbeit von NGOs, Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern und Helferinnen an den Grenzen, Bahnhöfen, Flüchtlingsunterkünften. Wie die kommerzielle und polit-bürokratische Variante der Betreuung von AsylwerberInnen funktioniert, zeigen uns die Firma ORS und die politischen Verantwortlichen in Bund und Ländern, die alles andere als kooperativ sind, seit Monaten und Jahren im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und der unerträglichen Debatte um die Unterbringung von AsylwerberInnen.

Die Wirkmächtigkeit des kapitalistischen Realismus

Ähnliche Beispiele für spontane, bottom-up-organisierte Hilfe in Kooperation mit Hilfsorganisationen gibt es zuhauf und immer wieder zeigt sich, dass warenförmiger Austausch und Konkurrenz in unmittelbaren Katastrophensituationen zu langsam, zu kompliziert und deswegen schlicht ungeeignet sind oder wie im Falle des kommerziellen Schlepperwesens gefährlich und teuer. Der elementare Kommunismus ist also nicht irgendeine Träumerei weltfremder UtopistInnen sondern Voraussetzung und Basis für das Funktionieren der Gesellschaft. Trotzdem steht er unter ständigem Druck und muss sich gegen die Einspeisung in die kapitalistische Verwertungsmaschinerie zur Wehr setzen.

Selbst in Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die normalerweise nicht im Verdacht revolutionären Aufbegehrens stehen, machen sich JournalistInnen mittlerweile Sorgen um die »letzten Brachen sinnfreien Vor-sichhinlebens« (ja, auch die sind gefährdet), die die »kapitalistische Logik« zu verschlingen droht: »Das war schon immer der Trick des Kapitalismus: Uns zu verkaufen, was es vorher umsonst gab. Jetzt hat er die neueste Marktlücke entdeckt: den Kommunismus.« (Staun 2013)

Obwohl – abgesehen von ein paar übereifrigen neoliberalen MusterschülerInnen – die Mehrheit der Menschen ihre konkurrenzbefreiten, nichtkommerziellen Oasen des Alltags wohl kaum opfern wollen würde, gilt das kapitalistische Wettbewerbssystem dennoch weithin als unverzichtbar und notwendig – sozusagen als Normalzustand. Ideologien bringen es mit sich, dass nicht nur BefürworterInnen an ihre allumfassende Wahrheit glauben, sondern es auch GegnerInnen schwer fällt, des Kaisers neue Kleider als Schwindel zu erkennen. Die viel zitierte Bemerkung von Frederic Jameson, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen, bringt auf den Punkt, wie schwer es ist, Alternativen außerhalb des herrschenden Systems zu denken. Kapitalistischen Realismus nennt der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher diese Wirkmächtigkeit, diese »alles durchdringende Atmosphäre, die nicht nur die Produktion von Kultur bestimmt, sondern auch die Regulierung von Arbeit und Bildung, die zudem als eine Art unsichtbare Barriere fungiert, die das Denken und Handeln hemmt« (Fisher 2013). So verwundert es nicht, dass KritikerInnen des Wettbewerbssystems die Durchdringung der Gesellschaft mit Konkurrenzdenken als umfassender wahrnehmen, als sie tatsächlich ist. Mit ein Grund, warum auch die Möglichkeiten für Verän-derung oft nicht erkannt oder unterschätzt werden.

Von PaläoanthropologInnen wissen wir, dass Kooperation schon am Beginn der Menschheitsgeschichte stand. In Studien weisen sie darauf hin, dass der Homo Sapiens sich u.a. durch »increased social cooperation« (Antón et al. 2014) von anderen Arten der Gattung Homo unterschieden hat – ohne Kooperation kein Homo sapiens sapiens. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit ist einer der Hauptgründe, warum es Menschen gelang und gelingt, unter widrigsten Bedingungen zu überleben. »Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist also kein Zusatz, sondern konstitutives Merkmal der Natur des Menschen.« (Meretz 2012) Fragt sich nur: »Warum konnten sich dennoch ›Konkurrenzverhältnisse‹ etablieren? Weil sich der Homo sapiens das irgendwann ›leisten konnte‹, also mehr produzierte, als für das unmittelbare Überleben erforderlich war.

Eine nichtproduzierende herrschende Klasse konnte sich etablieren. Basis von klassenförmig oder wie auch immer strukturierten Konkurrenzverhältnissen ist dabei stets die gesamtgesellschaftliche Kooperation. Konkurrenz und Kooperation bilden folglich keinen Gegensatz, sondern ein Verhältnis. Konkurrenz und Ko-operation sind jedoch nicht gleichursprünglich, sondern Konkurrenz setzt Kooperation voraus, was umgekehrt nicht gilt.« (ebd.)

Sand im Getriebe der Verwertungsmaschinerie

Dem ständig nach neuen Verwertungsmöglichkeiten Ausschau haltenden Kapital ist das Prinzip des Wettbewerbs und der Konkurrenz unauslöschlich eingeschrieben – Konkurrenz ist seine innere Natur, schrieb Karl Marx. Die freie Konkurrenz der Individuen, der Wettbewerb der Ideen gelten heute als Voraussetzung jeglicher Innovation. Seit der Neoliberalismus zur Leitideologie unseres Gesellschaftssystems geworden ist und der Prozess der Inwertsetzung sich anschickt, die letzten weißen Flecken auf der Landkarte der Menschheit zu erobern, finden sich auch die Städte im Wettbewerbssystem wieder: sei es der Wettbewerb um Investitionen, um LeistungsträgerInnen, TouristInnen, Kreative, Megaevents. Konkurrenz hat sich als einer der Pfeiler der Gesellschaft etabliert und verdrängt andere Formen der gesellschaftlichen Organisation sowohl aus immer mehr Handlungsfeldern des Alltags als auch aus dem Bewusstsein der Menschen. Als jüngste Entwicklung setzt der Neoliberalismus an, die letzten Winkel des Privaten in Wert zu setzen – aus Gastfreundschaft wird Airbnb, aus Mitfahrgelegenheiten Uber, aus Nachbarschaftshilfe Leihdirwas.

Gegen diesen Prozess organisiert sich in vielen Städten Widerstand, der auch auf kooperativen Formen der Zusammenarbeit fußt. Er manifestiert sich in der Commons-Bewegung ebenso wie in politischen Bottom-up-Netzwerken und BürgerInnen-Initiativen. Bei den spanischen Regionalwahlen 2015 feierten basisdemokratisch organisierte Wahl-Plattformen erdrutschartige Erfolge, die einen Machtwechsel in vier der fünf größten Städte Spaniens, darunter Barcelona und Madrid, einbrachten. Kooperation abseits von Konkurrenz und Verwertung hat es in Städten immer gegeben; das Bewusstsein, aktiv neue Formen als Gegenmodell zu testen, hat sich jedoch erst in den letzten Jahren verstärkt. Die Netzkultur mit ihren flachen Hierarchien und neuen Formen der Arbeitsorganisation, ihrer Forderung nach Transparenz und offenem Zugang zu Wissen bietet nicht nur technische Möglichkeiten, sondern inspiriert auch zu neuen Formen der Organisation. Michael Hardt verweist in diesem Zusammenhang auf Lenin, der davon ausging, dass die Form der Arbeitsorganisation in hohem Maße auch die Form der Organisation politischen Denken und Handelns bestimmt. Wenn also, so Hardt, »die vorherrschende Form der Arbeitsorganisation heute in horizontalen und dezentralisierten Kooperations-Netzwerken besteht, könnte man sich eine politische Form vorstellen, die ebenso dezentralisiert und horizontal ist. […]

Menschen sind bei ihrer Arbeit flexibel, autonom und kooperativ, und das erlaubt ihnen, in der Politik horizontale Netzwerke zu knüpfen und zusammen zu arbeiten.« (Vogel 2010) Der Postfordismus mit seinen flexiblen und dezentralen Organisationsformen der Arbeit eröffnet als unbeabsichtigtes Nebenprodukt somit möglicherweise Fenster für eine andere Zukunft der Stadtgesellschaft.

Die Stadt als Œuvre

Dem Stadtsoziologen Henri Lefebvre galten Städte immer als Œuvre. Damit wollte er sie nachdrücklich von einem warenförmigen Produkt abgrenzen und betonen, dass Städte ein kooperatives Werk aller StadtbewohnerInnen sind. Diese Entwicklung sah er als gefährdet und prognostizierte schon frühzeitig Entwicklungen wie Privatisierung, Verdrängung oder globale Urbanisierung, die heute offensichtlich sind.

Stadt ist das natürliche Habitat der Kooperation und ein logischer Ort für das Entstehen von gesellschaftlichen Laborsituationen und sozialen Innovationen. Der urbane Raum bietet beste Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Werkzeuge und Handlungsmodelle, um das Versprechen auf individuelle Lebensgestaltung als positive Errungenschaft der Moderne mit der sozialen Verfasstheit des Menschen stärker in Einklang zu bringen. Dabei bilden Kooperation und Konkurrenz nicht notwendigerweise ein Gegensatzpaar, wie Richard Sennett (2014) betont: Die Stadt als Raum in ständiger Bewegung, als Ort von Konflikt und Aushandlung benötigt wohl beides. Kooperation definiert Sennett als Handwerk, das den Dialog als Möglichkeit mehrere Meinungen anzuerkennen und eher dem Zuhören Raum zu geben als dem geschliffenen Argument ebenso umfasst wie das Denken und Kommunizieren in Möglichkeitsräumen statt in absoluten Wahrheiten. Empathie sieht er als jene Fähigkeit, Neugier für andere Lebenswelten zu entwickeln, die es gegenseitig zu erkunden gilt.

In der urbanen Praxis eröffnen kooperative Ansätze jedoch nicht nur eine Reihe von Chancen, sondern auch eine Menge Fragen: Einerseits hat sich die Suche nach neuen Formen des Miteinanders deutlich intensiviert, andererseits dreht sich das Wettbewerbskarussell immer schneller und zwingt nicht nur Individuen, sondern auch Unternehmen, Institutionen und Städte in eine ständige Konkurrenzsituation. Gleichzeitig hat die Finanzkrise weltweit Bewegungen Aufschwung verliehen, die nach alternativen Wegen suchen, um den sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Egal ob Recht auf Stadt-Netzwerke, De-Growth/Post-Wachstums-Bewegung, Urban Commons, Gemeinwohl-Ökonomie, freie Software- oder Sharing-Initiativen – den Ausgangspunkt dieser Suche bildet immer Kooperation im Sinne des Zusammenwirkens einzelner zum Wohle vieler. Dass es dabei bessere und schlechtere, wichtige und weniger wichtige und selbstverständlich auch zu kritisierende Modelle und Ansätze gibt, versteht sich von selbst. Erfahrungen mit staatlichen Programmen wie Big Society (GB) oder Participation Society (NL) zeigen beispielsweise, wie viel neoliberale Kraft im Ruf der Kommunen nach Zusammenarbeit mit ihren BürgerInnen steckt.[1] Als dominantes Narrativ verdeckt der Ruf nach Kooperation wichtige Diskussionen über die Verteilung von Macht, Mitteln und den Zustand unserer demokratischen Systeme. Bürgerbeteiligungen und partizipative Planungsansätze bilden allzu oft nur ein Feigenblatt in längst beschlossenen Stadtentwicklungsprozessen. Auch in Sachen Zusammenarbeit gilt es also genau zu fragen, wer mit wem, wie und warum auf welcher Basis kooperieren soll.

Die im Titel des Schwerpunkts angesprochenen Perspektiven sehen wir in Konzepten wie Urban Citizenship, Urban Commons, Autogestion bzw. Selbstverwaltung. Es geht in diesem Heft also um Fragen einer umfassenden Gleichberechtigung jedes einzelnen Individuums der Stadtbevölkerung, der Produktion und Verteilung von Gütern, der kollektiven Stadtproduktion und der Möglichkeit der Mitgestaltung und Teilhabe, der Kommunikation und der Gesellschaftsorganisation. Also um nicht mehr und nicht weniger als die kooperative Stadt.


Anmerkung:
[01] 2013 hat der niederländische König Willem-Alexander in einer Fernsehansprache das Ende des Wohlfahrtsstaates angekündigt und verlautbart, dass dieser durch eine »Participatiemaatschappij«, eine Gesellschaft der Partizipation ersetzt werden wird: »These days people want to make their own choices, arrange their own lives and look after each other. These developments make it appropriate to organise care and social provision close to people and in collaboration with them.« (The Amsterdam Herald 2013). Vorbild dafür ist David Camerons Vision einer Big Society, die ebenfalls das Ziel hat, staatliche Leistungen zu kürzen, um BürgerInnen und Kommunen damit zu belasten.

Literatur:
Antón, Susan C.; Potts, Richard & Aiello, Leslie C. (2014): Evolution of early Homo: An integrated biological perspective. In: Science, Vol. 345 no. 6192. DOI: 10.1126/science.1236828.
Fisher, Mark (2012): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Symptome unserer kulturellen Malaise. Hamburg: VSA.
Graeber, David (2014): Schulden. Die ersten 5000 Jahre. München: Wilhelm Goldmann.
Meretz, Stefan (2012): Konkurrenz und Kooperation. In: Streifzüge, Heft 56. Verfügbar unter: www.streifzuege.org/2012/konkurrenz-und-kooperation [20.09.2015]
Meretz, Stefan (2014): Grundrisse einer freien Gesellschaft. In: Konicz, Tomasz & Rötzer, Florian (Hg.):
Aufbruch ins Ungewisse. Auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise. Hamburg: Heise.
Senett, Richard (2014): Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: dtv.
Staun, Harald (2013): Der Terror des Teilens, In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.12.2013. Verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/shareconomy-der-terror-des-teilens-12722202.html [20.09.2015].
The Amsterdam Herald (2013): King Willem-Alexander: ›participation society‹ must replace welfare state. In: The Amsterdam Herald, 17.9.2013. Verfügbar unter: www.amsterdamherald.com/index.php/rss/982-20130917-king-willem-alexander-participation-society-must-replace-welfare-state-netherlands-dutch-recession-royals-politics [20.09.2015].
Vogel, Steffen (2010): Michael Hardt im Interview. In: Freitag, 6.4.2010. Verfügbar unter: www.freitag.de/autoren/der-freitag/michael-hardt-im-interview [20.09.2015].

dérive, Mo., 2015.10.26



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dérive 61 Perspektiven eines kooperativen Urbanismus

28. Oktober 2009Elke Rauth
dérive

Schizophrenie und Alltag

Achs­e des Bösen, Atom­streit, unverfrorener Antisemitismus inklusive gelebtem Israelhass, Terror und Wahlbetrug – die Nachrichten aus dem Iran, die unser...

Achs­e des Bösen, Atom­streit, unverfrorener Antisemitismus inklusive gelebtem Israelhass, Terror und Wahlbetrug – die Nachrichten aus dem Iran, die unser...

Achs­e des Bösen, Atom­streit, unverfrorener Antisemitismus inklusive gelebtem Israelhass, Terror und Wahlbetrug – die Nachrichten aus dem Iran, die unser Bild des Landes prägen, sind eindeutig. 2009 jährt sich die Islamische Revolution zum dreißigsten Mal und die Verhältnisse haben tiefe Spuren in der iranischen Gesellschaft hinterlassen: Die Kluft zwischen Innen und Außen, zwischen der Privatheit hinter verschlossenen Türen und dem offiziellen, nach außen gerichteten Leben wächst stetig.

Im visuellen Gedächtnis des Westens erscheint der Iran in erster Linie in Bildern der 14 Millionen Metropole Teheran, der brodelnden Hauptstadt des fundamentalistischen Gottes­staates. Genau ihr ist eine aktuelle Erscheinung des kleinen, engagierten Schweizer Salis Verlag gewidmet: Transit Teheran – Pop, Kunst, Politik, Religion. Junges Leben im Iran. versammelt eine Vielzahl von Beiträgen im Iran lebender und arbeitender KünstlerInnen, MusikerInnen, FotografIn­nen, FilmemacherInnen, AutorInnen, WissenschaftlerInnen und JournalistInnen, die ihr bis zur Schizophrenie wider­sprüchliches Dasein unter der Diktatur der religiösen Fundamentalisten abbilden. „Am besten lässt sich Teheran mit dem Begriff der Dichotomie beschreiben“, bemerken die HerausgeberInnen Maziar Bahari und Malu Halasa in ihrem einführenden Text, „das Konzept spiegelt sich in jedem Aspekt des Teheraner Alltags wider. So können iranische Rapper, Death-Metal-Rocker und Punks in Privathäusern vor einem Dutzend, ja selbst vor Hunderten von Zuhörern ihre Musik spielen, kommt aber ein Album auf den Markt, müssen Sie damit rechnen, wegen ,Verbreitung westlich-dekadenter Ideen, die das Bild des Gottestaates beschmutzen‘ vorgeladen zu werden.“

Transit Teheran liefert einen vielschichtigen Einblick in eine unbekannte Stadt und zeigt aufmüpfige Überlebensstrategien einer jungen Generation. Mit verzweifelten, satirischen, nostalgischen, realistischen und durchgängig ebenso spannenden wie berührenden Beiträgen eröffnen die AutorInnen unbekannte Blickwinkel auf ihr Teheran und ein Leben im Ausnahmezustand, geprägt von Mut, Gestaltungs­willen und dem festen Glauben an die Freiheit des Geistes und eine selbstbestimmte Zukunft.

Wie vielschichtig und für Nicht-IranerIn­nen oft auch unbegreiflich sich der Teheraner Alltag darstellt, zeigen unter anderem eine Reihe von Beiträgen zum Leben der Frauen unter den Bedingungen der Sharia. Den Auftakt macht die Fotografin und Autorin Newsha Tavakolian mit ihrem Foto-Essay Girl Power – Wie die andere Hälfte lebt. Darin dokumentiert sie verschiedenste Lebensstadien junger Iranerinnen zwischen Verschleierungs-Ritualen, Mädchen-Fußball, Fitnessclub und Transsexualität – letztere darf im Übrigen seit den 1980er Jahren durch eine entsprechende Fatwa von Ayatollah Khomeini offiziell gelebt werden, was dem Iran nach Thailand die höchste Anzahl von Geschlechtsumwandlungen weltweit beschert. „Als Iranerin bin ich persönlich involviert, ich fotografiere gewissermaßen mein eigenes Leben“ schreibt die Künstlerin in der Erläuterung zu ihrem Beitrag. „Unsere Existenz im Iran ist paradox. (…) Auf der Straße müssen wir Kopftücher tragen und dürfen in der Öffentlichkeit keinem Mann die Hand geben, gleichzeitig wird von uns erwartet, dass wir auf Partys wie Popstars auftreten und unseren Männern Haute Cuisine servieren. (…) Nach ihren Gesetzen beträgt das Blutgeld für uns nur die Hälfte (…), aber all das hat uns zu Kämpferinnen gemacht.“

Asieh Aminis Essay Die Weißen Kopftücher. Freiheit ist ein Stadion, ein Symbol, ein politischer Akt, ein Traum berichtet vom symbolischen Kampf iranischer Feministinnen, sich den Zugang zum Teheraner Fußballstadion zu erstreiten. Aufschlussreich auch die Fotoreportage Dragnet Teheran. Diese Frauen sind das Gesetz von Abbas Kowsar­i und Samaneh Ghardarkhan, die über die Ausbildung und den Einsatz von Polizistinnen zur Sicherstellung der öffentlichen Ordnung sowie die Veränderungen ihrer Rolle seit der Islamischen Revolution berichten. Roya Karimi vermittelt ihre Erfahrungen in Islamschulen für Frauen. Innerhalb einer der 199 Schulen für weibliche Geistliche, während der bereits verstorbene Fotojournalist Kaveh Golestan sensible Portraits weiblicher Prostituierter aus Shar-e No zeigt, dem unter dem Schah 1975 offiziell eingerichteten Rotlichtviertel Teherans, dass 1979, dem Jahr der Islamischen Revolution, dem Erdboden gleich gemacht wurde.

Die Beiträge Bedrohtes Paradies – Aus Teherans Gartenvorstadt ist eine Baustelle geworden von Viveca Mellegard, Die Halde – An den Rändern der Stadt von Zoreh Khoshnamak und Vali Asr – Die längst­e Straße von Magnum-Fotograf Thoma­s Dworzak widmen sich den urbanen Transformationsprozessen in der stetig anwachsenden Großstadt und dem sich auch räum­lich konstituierenden Gefälle in der iranischen Gesellschaft. Drogen, Kriminalität und Obdachlosigkeit prägen in den vernachlässigten Randzonen der Stadt den Alltag. Erst langsam reagieren die Machthaber mit Rehabilitierungsprogrammen und der Ausgabe von sauberen Spritzen in öffentlichen Parks auf die schätzungsweise zwei Millionen Drogenabhängigen in der Hochburg des Opium- und Heroinhandels. Verwandelte Landschaften von Abbas Kowsari und Soheila Beski widmet sich dem öffentlichen Raum und beschreibt „eine radikale Umbenennung von Monumenten, Plätzen und Straßen nach der Revolution, die einige Teheraner gefangen lässt in den sich verändernden Versionen der Vergangenheit.“

Transit Teheran verdichtet in wunderbarer Gestaltung brillante Kurzgeschichten, Reportagen, Essays und Fotostrecken junger iranischer Intellektueller zu einem reflektierten und in weiten Teilen völlig unbekannten Bild der jungen Hauptstadt, und zeichnet so eine kämpferische Generation in der Hoffnung auf Freiheit.

Für Maziar Bahari, kanadisch-iranische­r Dokumentarfilmer und Mitherausgeber des beeindruckenden Bandes, hat diese im Juni 2009 ihr vorläufiges Ende gefunden: Er wurde in Teheran festgenommen und sitzt seither in Haft – ohne Anklage und ohne Lebenszeichen. Wer seine Freilassung unterstützen möchte, kann das mit einer einfachen Unterschrift tun: http://freemaziarbahari.org.


Malu Halasa, Maziar Bahari (Hg.)
Transit Teheran – Pop, Kunst, Politik,
Religion. Junges Leben im Iran
Zürich: Salis Verlag, 2009
240 Seiten, 39 Euro

dérive, Mi., 2009.10.28



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