Editorial

Editorial

dérive – Zeitschrift für Stadtforschung existiert seit über fünf Jahren und bisher ist es immer (fast) pünktlich erschienen, doch die aktuelle Ausgabe kommt zu spät, viel zu spät. Da es sich im Oktober abgezeichnet hat, dass wir den Erscheinungstermin auch mit einer akzeptablen Verspätung nicht einhalten können, haben wir uns entschlossen, diesen ausfallen zu lassen und dafür zum nächsten Termin ein umfangreicheres Heft zu veröffentlichen. Das Ergebnis liegt nun als Doppelnummer 21/22 vor und ist das dickste dérive, das wir bisher produziert haben. Doppelnummer heißt allerdings nicht, dass AbonnentInnen jetzt ein Heft weniger bekommen: Alle Abonnements werden automatisch um eine Ausgabe verlängert, d.h. die Doppelnummer zählt fürs Abonnement wie ein normales Heft.

Zusätzlich zum Schwerpunkt Urbane Räume – öffentliche Kunst, redaktionell von Roland Schöny betreut, gibt es nach zwei Jahren einen Nachschlag zu unserem Schwerpunktheft Temporäre Nutzungen dérive Heft 14 aus dem Jahr 2004). Margit Schild und Antje Havemann bieten in ihrem Artikel Der Nylonstrumpf als temporäre Aktion – oder: Was können Provisorien? eine theoretische Klärung des Phänomens. Ausgehend von etymologischen Recherchen bis zu praktischen Beispielen legen die Autorinnen dar, was Provisorien leisten können und wofür sie gänzlich ungeeignet sind.

Über ein praktisches Beispiel, nämlich den Palast der Republik, diskutieren Jesko Fezer und Philipp Oswalt in einem ausführlichen Interview, das Dietmar Kammerer für dérive geführt hat. Raumlabor Berlin hat uns dafür dankenswerterweise Bildmaterial der Aktionen Gasthof Bergkristall – Bergcamp und Fassadenrepublik, an denen sie maßgeblich beteiligt waren, zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus geht es in dem Interview um das Berufsbild von ArchitektInnen und die Möglichkeiten „oppositioneller Architektur“ sowie das Verhältnis BauherrIn – ArchitektIn. Ein weiteres Thema: Gentrification am Beispiel von Berlin Mitte.

Manfred Russos Serie macht diesmal Pause, dafür hat Russo für den Schwerpunktteil einen Beitrag über die Geschichte der Kunst im öffentlichen Raum geschrieben. Schwerpunktredakteur Roland Schöny ist im Rahmen von Kunst im öffentlichen Raum Wien für den inhaltlichen Aufbau zuständig und betreut die Projekte kuratorisch. Das vorliegende Heft ist nun aber keineswegs eine Dokumentation dieses Wiener Programms, sondern blickt weit über die Stadt und Landesgrenzen hinaus. Es ist uns ein Anliegen, die Situation urbaner Räume, die andere ökonomische und politische Voraussetzungen haben als z.B. solche in Mittel- und Westeuropa, und die lokalen Diskussionen vorzustellen. Als Beispiele finden sich Beiträge über Saõ Paolo von Nelson Brissac Peixoto, Moskau von Nikita Alexeev und Rumänien von Alina Serban im Heft. Ganz haben wir auf lokale und bekannte Beispiele natürlich nicht verzichtet. Wie unterschiedlich Qualität und Anspruch dabei sein können, zeigen Reinhard Braun mit einem Artikel über add on, Thomas Edlinger mit einem Beitrag über Salzburg im Allgemeinen und die Prestigeprojekte der Salzburg Foundation im Besonderen und Rosemarie Burgstaller mit einem Rückblick auf die Münchner kunstprojekte- riem. Den Abschluss des Schwerpunkts bilden der bereits erwähnte Artikel von Manfred Russo und Frank Hartmanns Text über Öffentlichkeit, Medientechnik und –struktur und die Frage, wer denn nun den Denk- und Wahrnehmungsraum konstituiert. Der Schwerpunkt beginnt mit einem einleitenden Artikel von Roland Schöny.

Das nächste Heft erscheint pünktlich (versprochen!) Anfang April 2006 mit dem Schwerpunkt Public Brands. Christoph Laimer

Inhalt

Inhalt

Editorial | Christoph Laimer
Der Nylonstrumpf als temporäre Aktion – oder: Was können Provisorien? | Antje Havemann, Margit Schild
Architektur, Politik, Opposition Ein Gespräch mit Philipp Oswalt und Jesko Fezer | Dietmar Kammerer

Urbane Räume – öffentliche Kunst:
Kunstprojekte im Spannungsfeld des Öffentlichen | Roland Schöny
Ansichten und Aussichten eines role models für Stadtentwicklungsprojekte – kunstprojekte_riem. München | Rosemarie Burgstaller
Amadeus, Amadeus! | Thomas Edlinger
add on – ein urbaner Cyborg | Reinhard Braun
Die Paradoxa einer besseren Welt | Alina Serban
Russland ist eine Chimäre, Moskau deren Gesicht | Nikita Alexeev
Arte/Cidade (Kunst/Stadt) | Nelson Peixoto
Vom Dekorum zur Installation | Manfred Russo
Kommunismus der Aufmerksamkeit | Frank Hartmann

KünstlerInnenseite:
„Der Dildo ist die parodistische Wahrheit der Heterosexualität“ | Katrina Daschner

Besprechungen:
Intime Orientierung: öffentliche Schau | Udo Häberlin
Leisure Class Design? | Erik Meinharter
Distinktionsgewinn oder Kollaboration | Christoph Laimer
Der Park in der Metropole | Erik Meinharter
Re-Evaluation der „Stunde Null“ | André Krammer
Die Donau – Mythos und Realität | Christoph Laimer
Ein Platz an der Sonne | Rebecca Harms
Streifenweise Stadt | Tina Hedwig Kaiser
Ein Panorama der Graffiti | Sonya Laimer
Post Skript: Die Ästhetik des Widerstands | André Krammer
Feministische Geographien | Bernd Hüttner
Kreuzbrav über alles Böse | Christoph Laimer
Im Raum der Szene | Jens Sennewald

Amadeus, Amadeus!

Im Sommer 2003 wurde während der Festspiele in Salzburg gegen das Künstlerquartett gelatin und dessen nackte Männerfigur aus Plastilin mit erigiertem Penis „Arc de Triomphe„ mobil gemacht. Zwei Jahre später regt nun eine weiblich gemeinte Skulptur im Weltstädtchen an der Salzach auf. Mit einer drei Meter hohen und 400 Kilo schweren Dame aus Bronze auf dem Ursulinenplatz ehrte Malerfürst Markus Lüpertz das Musik-Genie Mozart und vereinte so KritikerInnen unterschiedlichster Fraktionen.

Salzburg? Mozart! Mozart? Nun ja. Eine „Hommage an Mozart„ sollte es zumindest werden, schließlich steht das Mozartjahr 2006 vor der Tür. Aber aus irgendwie weiblicher Sicht, denn schließlich „ist Mozart für mich Musik, und die ist weiblich„, so der Großkünstler aus Deutschland. Die Skulptur „soll ja nicht Mozart als eine Person wiedergeben, sonder eher die Muse„, sekundierte SPÖ-Bürgermeister Heinz Schaden. Letztendlich hatte die Hommage an das Prinzip des Weiblichen in oder um Mozart in der Planungsphase nur einen Arm und später dann, in der etwas vermännlichten Endversion, einen Stummel an der Hüfte, was die zunächst als Katalogautorin gewonnene und später sich von dem Werk distanzierende Schriftstellerin Marlene Streeruwitz angesichts der ersten Version der Figur dazu verleitete, den Torso eine „Krüppelin„ zu nennen. Der bildhauernde Künstler sah die Sache freilich anders. Er erkannte gerade im fehlenden Arm einen Verweis auf die menschliche Vergänglichkeit und hält solcherart den Zugang der Ewigkeit zum Körper für gewährleistet, ja mehr noch: Der Körper „kann also von der Ewigkeit vereinnahmt werden.„

Malerfürst Markus

Seit dem Sommer 2005 steht also die drei Meter hohe Inkarnation der Ewigkeit mit knallroten Lippen und dem weiß geschminkten Gesicht vor Fischer von Erlachs Markuskirche am Ursulinenplatz im Zentrum der Festspielstadt. Dort erweist sie nicht nur dem liebsten Kind der Stadt, sondern auch einem anderen Markus ihre Ehrerbietung: Markus Lüpertz, seit Jahren einer der kommerziell erfolgreichsten deutschen Künstler und Schöpfer der Bronzeskulptur. Lüpertz hat den Standort seiner Arbeit übrigens nicht nur mit Bedacht auf eine ästhetische Kommunikation seiner Figur mit der barocken Kirchenfassade des berühmten Baumeisters, sondern auch eingedenk seiner gern bekundeten Seelenverwandtschaft mit dem Komponisten gewählt. So thront das „Markus„-Werk (schließlich signierte der „Malerfürst„ und Bildhauer einst so salopp-selbstbewusst seine Frühwerke) nun vor der Markuskirche. Deren Rektor Nikolaj Hornykewiycz empfindet die in seinen Augen sexuell uneindeutige bildhauerische Repräsentation der Rückenansicht als „Provokation„ und der zuverlässig immer wieder aufbrandende Unmut unter vorbeiflanierenden BürgerInnen gipfelte Mitte August in einer Mal- und Schüttaktion des als „Pornojäger„ bekannten Sittenwächters Martin Humer, der die Skulptur mit rotem Lack und weißen Daunenfedern traktierte.

Nun stünden solche Erhitzungen entlang der scheinbar nicht tot zu kriegenden Oppositionslinien Hässlichkeit und Schönheit beziehungsweise „moderne„ Deformation und „vormoderne„ Idealisierung für wenig mehr als die never ending Provinzposse made in Österreich, deren letztes Salzburger Kapitel 2003 anlässlich des „Skandals„ um die phallische Männerskulptur Arc de Triomphe der Künstlergruppe gelatin gegeben wurde. Der „transgegenderte„ Mozart fügt sich aber in eine Reihe installativer Kunstwerke in der hoch verdichteten Tourismuszone Altstadt. Im Lauf von zehn Jahren plant nämlich die ÖVP-nahe, rein privatwirtschaftlich finanzierte Salzburg Foundation zehn künstlerische Eyecatcher an aufmersamkeits-ökonomischen Knotenpunkten der Innenstadt zu platzieren.

Big names, big money

Aufgefahren wird dabei durchwegs mit big names des Kunstmarktes: Nach Anselm Kiefer, Mario Merz und Marina Abramovic ist Lüpertz der vierte Künstler dieser Serie, dessen Mozart-Ehrerbietung heuer mit 500.000 Euro zu Buche schlug, wobei darin ein kolportiertes Honorar für Lüpertz von 360.000 Euro inkludiert ist. Abramovic huldigte übrigens schon letztes Jahr ebenfalls dem Komponisten, genauer dem „Spirit of Mozart„. Und zwar in Form eines 15 Meter hohen Hochsitzes ohne Sitz- und Lehnflächen und von acht Stühlen in der Wiese auf dem Hanusch-Platz. Der italienische Arte Povera-Künstler Mario Merz durfte sein luftiges, immerhin zwölf Meter hohes Edelstahliglu schon 2002 auf dem Mönchsberg errichten: Seitdem leuchten in Neonfarben „Ziffern im Wald„. Für den wuchtigen Auftakt der Reihe Kunstprojekt Salzburg aber sorgte im Jahr zuvor Anselm Kiefer im Furtwänglerpark. Der deutsche Pathoskünstler stellte dort ein verdüstertes, monumentales Gemälde einem Gestell von 60 bleiernen Folianten gegenüber und fasste diese Konstellation wiederum in ein 10 mal 6,5 mal 7 Meter großes Haus ein.

In den nächsten sechs Jahren soll nun – unter den wachsamen Augen der Hauptsponsorin, der Credit Suisse, und des Präsidenten der Foundation, ÖVP-Vizebürgermeister Karl Gollegger – dieser „städtische Kunst- und Skulpturenpark„, dessen erhoffte, signalhafte Sichtbarkeit angesichts der bereits existierenden vier Eingriffe in den öffentlichen Raum wohl schon jetzt unbestreitbar ist, weiter wachsen und schließlich vollendet werden. Zwar konnten, um den üblicherweise strengen Vorgaben der Salzburger Altstadterhaltungskommission gerecht zu werden, die jeweiligen Arbeiten zunächst nur mit einer Präsentationszeit von maximal drei Jahren eingereicht und dann auch als dezidiert temporäre Installationen im sorgsam gehüteten Stadtensemble genehmigt werden. Doch mittlerweile hat zumindest Kiefers Haus schon das vierte Jahr überlebt. Angesichts der hohen medialen Aufmerksamkeit und der Tatsache, dass der öffentlichen Hand ja keine Produktionskosten entstehen, ist wohl auch in absehbarer Zeit keine lokalpolitisch relevante Fraktion vorstellbar, die angesichts einer solchen Erfolgsstory den kleinlichen Paragraphenreiter spielen möchte. Schließlich lautet das Motto der Salzburg Foundation ja auch „Wir fördern das Weltkulturerbe„ – und da ist der Schulterschluss auf rhetorischer Ebene zur Bewahrung des barocken Erbes, dem sich die Altstadterhaltungskommission verschrieben hat, möglicherweise gar nicht so schwer.

Kunst als Dekor

Die kulturpolitische Agenda des Kunstprojektes Salzburg beschränkt sich aber nicht nur auf die spektakuläre Aufpolierung der Altstadt mit als zeitgenössisch empfundenen Kunstwerken, sondern zielt laut Selbstdarstellung auch auf einen „fruchtbaren Dialog„ der eingeladenen „international renommierten„ Künstlerpositionen mit der Stadt Salzburg selbst. Doch welches Salzburg ist hier gemeint, welche künstlerischen Annäherungen an die Stadt werden hier geleistet, wie wird sie „wahrgenommen und analysiert„? Angesichts der weitgehend disneyfizierten Innenstadt stellt der einstig sich als institutionskritisch verstehende Überschreitungsgestus von Kunst im öffentlichen Raum (die sich in diesem Fall noch dazu ausdrücklich als Ansammlung von durchaus konventionellen Skulpturen versteht) per se keine substantielle Gegenposition zu der auf die Optimierung von Erlebnisqualitäten und die Inszenierung von Komsumangeboten setzenden City-Raumplanung dar. Wenn, forciert durch die fortschreitende Privatisierung öffentlicher Räume, die Werbewirtschaft mit ihrer durchdesignten Oberflächenbespielung beziehungsweise die Spektakelarchitektur in Designer-Läden und Themenrestaurants ohnehin längst auf „kreative„ Branding-Lösungen und möglichst hohe Schauwerte setzen, geraten „künstlerische„ Lösungen, die ebenfalls visuelle landmarks setzen wollen ohne dabei zum reinen Dekor zu verkommen, unter Argumentationsnotstand. Solche Kunstwerke erscheinen unter den Bedingungen einer Eventkultur selbst zunehmend als zwar mehr oder weniger fremdartige, aber doch gern gesehene Trophäen einer kuratorischen Sammlerpraxis, die sich im urbanen Raumdekor reibungslos integrieren lassen.

So gesehen erscheint es dann auch nur sinnfällig, dass unter derartigen Rahmenbedingungen großzügiges Sponsoring auf den Plan tritt: Gerade weil die Grenzen zwischen einer gleichermaßen musealisierten und kommerzialisierten Tourismusmeile und z.B. den beiden künstlerischen Hommagen von Lüpertz und Abramovic an den großen und noch größer vermarkteten Sohn der Stadt fließend sind, sind es auch die Unterschiede zwischen regulärer PR-Arbeit und Kunstfinanzierung. Die genannten Arbeiten führen die Stadt als touristischen und werbewirksamen Text bruchlos weiter, ohne sich weiter um die dieser Erzählung zugrunde liegenden Ausblendungen einer auch anderen europäischen Mittelstädten vergleichbaren Stadtentwicklung (Innenstadt-„Säuberungen„ von unerwünschten Personengruppen, Zersiedelung an den Stadträndern mit dem damit verbundenen Kaufkraftabfluss an die Umgebung, Verkehrs-, Umwelt- und Wohnproblematik u.ä.) zu kümmern. Nirgendwo zur Sprache in diesem reflexartigen Rekurs auf das gängigste Klischee des Städtchens an der Salzach kommt naturgemäß dessen Lebensrealität in den Wohnsiedlungen und Nachkriegsneubaubezirken abseits der zu historisch verbrämten Schausequenzen stilisierten Fußgängerzone. Tunlichst vermieden wird es, die Normalität eines lediglich als touristischen Zentrums bekannten, strukturell jedoch auf Dienstleistung ausgerichteten Bezirksstädtchens mit zentrifugalen Entwicklungsschüben zu thematisieren.

Projekte abseits vom Stadtmarketing

Wie Sichtbarmachungen dessen, was im Städtemarketing Salzburgs als kultureller big player ausgespart bleibt, aussehen können, zeigten etwa an einem Wochenende im Mai dieses Jahres das Projekt Trichtlinnburg – Ein städtisches Abenteuer oder auch 1997/98 Public Space in Salzburg Lehen. Trichtlinnburg, initiiert vom Salzburger Kunstverein, reflektierte den Status Quo der drei touristisch stark frequentierten europäischen Städte Maastricht, Tallinn und Salzburg. Gerade die Frage nach der Transformationskraft des Massentourismus sowohl in Bezug auf das Ensemble der urbanen Zeichen wie auch auf materiell-ökonomische Entwicklungen stand im Zentrum der künstlerischen Überlegungen. Internationale KünstlerInnen wie Pia Lanzinger oder Sanja Ivekovic beschäftigten sich in teils rechercheorientierten Arbeiten mit der Bedeutung medialisierter und/oder touristischer Blickkonstruktionen auf die Stadt. Andere Projekte waren eher partizipativ angelegt und involvierten die BewohnerInnen der europäischen Partnerstädte oder die Salzburger Bevölkerung vor Ort. Barbara Holub und Paul Rajakovics etwa ermunterten in ihrem Beitrag „wunschfreischaltung-schlüsselfertig„ die BesucherInnen, ihre Wünsche zur Nutzung von leer stehenden Geschäftslokalen zu artikulieren.

Mit diesem Projekt könnte man auch einen losen historischen Bogen zu Public Space in Salzburg Lehen ziehen. Damals wurde dort durch eine Kooperation von fünf lokalen Kunstinstitutionen (Salzburger Kunstverein, Galerie 5020, Galerie Fotohof, Öffentlicher Raum Salzburg, Sommerakademie) ein kritisch-urbanistisches Programm in der Peripherie der Stadt lanciert. Nach der eher diskursiv angelegten ersten Phase 1997, die der Recherche und Kontextualisierung von lokalspezifischen Problemstellungen diente, folgten im Jahr darauf konkrete Interventionen im Stadtraum. Der belgische Architekt Luc Deleu etwa thematisierte den Verfall des öffentlichen Lebens und der betrieblichen Infrastruktur entlang von stark befahrenen Einfallsstraßen am Beispiel der Ignaz-Harrerstraße, die von der Autobahnabfahrt direkt zum Hauptbahnhof führt. Deleu schlug für die Dauer der Ausstellung die Sperrung der Straße für den Autoverkehr von 12 bis 14 Uhr vor, um das Durchzugsgebiet zumindest temporär als Flaniermeile wieder zu beleben.

Dass gegen diese Version von Kunst im öffentlichen Raum die Boulevardpresse umgehend mobil machte und von der damals noch regierenden ÖVP, unterstützt von der SPÖ und der Autofahrerpartei, eine Subventionssperre angedroht wurde, erscheint wenig verwunderlich. Und so blieb die mittägliche soziale Skulptur aus FußgängerInnen dann doch bloße Utopie. Nur ein Hinweisschild von Luc Deleu an der Ignaz-Harrerstraße verwies 1998 für kurze Zeit auf sein Vorhaben. Aber vermutlich gehört der abseits des innerstädtischen Filetstücks liegende Stadtteil Salzburg Lehen auch nicht zum Weltkulturerbe.

Literatur:
Öffentlicher Raum Salzburg-Lehen. Ein Projekt von Galerie Fotohof, Galerie 5020, Initiative Architektur, Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst, Salzburger Kunstverein. Redigiert von Helmut Draxler. Salzburg: Pustet, 1998.

dérive, So., 2005.12.25

25. Dezember 2005 Thomas Edlinger

Der Nylonstrumpf als temporäre Aktion – oder: Was können Provisorien?

„…ich muss mich immer wieder vorbereiten, immer wieder vorbereiten und muss mich in meinem ganzen Leben so verhalten, dass kein einziger Augenblick nicht der Vorbereitung angehört.„ (Beuys in: Harlan 1986, 17)

Bevölkerungsschrumpfung, das Freiwerden von Flächen, zunehmende Arbeitslosigkeit, vermehrte Mittellosigkeit, sich ändernde Werte und Ansprüche des Einzelnen an seine Lebensgestaltung, kurz: die Folgen einer globalisierten Gesellschaft wirken sich auch auf die Aufgabenstellungen von Stadtentwicklung und -planung aus. Vor allem die unter den Schlagwörtern „temporäre Installationen„ und „Zwischennutzungen„ zusammengefassten Projekte boomen – aber halten sie als Konzepte auch stand (vgl. Schild 2005)?

Die im Planungskontext seit Jahren geführten Debatten um Zwischennutzungen und temporäre Aktionen gehen in die richtige Richtung, vermeiden aber häufig eine theoretische Klärung des Phänomens. Eine genaue Definition und Unterscheidung der häufig gedankenlos synonym gebrauchten Begriffe „temporär„, „transitorisch„, „ephemer„, „provisorisch„ oder „vorläufig„ unterbleibt in der Regel. Viele Projekte arbeiten unter diesen Labeln, weil es gerade in Mode ist, weil die den Projekten anhaftende Unverbindlichkeit zuweilen einfach bequem ist oder weil die Nähe zur Kunst finanzielle und administrative Probleme lösen hilft. Allzu häufig bleiben diese Projekte folgenlos – das Ergebnis blinden Agierens, das vorübergehend ganz schick anzusehen war. Dabei bieten Provisorien weitaus mehr: sie sind Handlungsoptionen bei unbestimmten Bedingungen.

An den Anfang unserer Überlegungen stellen wir zur Klärung des Begriffes „Provisorium„ eine etymologische Beschreibung des Zustands „provisorisch„:
- provisorisch: frz. provisoire, zu lat. providere, provisum „Vorsorge treffen“, nur vorläufig, behelfsmäßig (Brockhaus 1996-1999).
- provisorisch: nur als einstweiliger Notbehelf, nur zur Überbrückung eines noch nicht endgültigen Zustandes dienend, nur vorläufig, behelfsmäßig (Duden 1990).
- provisorisch: Adj. „vorläufig, einstweilig, behelfsmäßig“ (2. Hälfte 18. Jhd.), wohl nach dem Muster von gleichbed. frz. provisoire, engl. provisory (ursprünglich „in Erwartung einer endgültigen Regelung für etwas Sorge tragend“) gebildet zu lat. provisum‚ „vor sich sehen, vorhersehen, Vorsorge tragen, Vorkehrungen treffen“ vgl. lat. videre „sehen, wahrnehmen, erkennen“, vielleicht schon ein entsprechendes mlat. Adjektiv voraussetzend (vgl. mlat provisorius „päpstlich verliehen“); dazu latinisierendes Provisorium n. „vorläufiger Zustand“ (19. Jhd., vgl. gleichbed. frz. provisoire m.) (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1993).

Ein vielfach zitierter „Klassiker„ – der Nylonstrumpf als Keilriemenersatz – lässt die Funktionsweise von Provisorien anschaulich werden: Ein Provisorium entsteht mit den Mitteln, die gerade vor Ort und unter den gegebenen Umständen greifbar sind, es bezieht sich unmittelbar auf die Situation. Im Falle des kaputten Keilriemens ist die Notwendigkeit zum spontanen Handeln in der Situation gegeben, da man sich weiter fortbewegen möchte, zum anderen müssen Materialien zweckentfremdet werden, da die üblichen Ersatzteile nicht verfügbar sind. In der Konsequenz bedeutet dies: für das Problem wurde unter den gegebenen Umständen mit vorhandenen Mitteln eine funktionierende Lösung gefunden. Ausschlaggebend für eine solche eher unkonventionelle Lösung ist die Entscheidung, ein kalkulierbares Risiko einzugehen, indem auf die bewährte Lösung verzichtet und stattdessen die im Moment einzig mögliche Lösung favorisiert wird. Am Anfang des Provisoriums steht ein unvorhergesehener Handlungsanlass, ein zwingender Moment (oder eine Notsituation) und der Entschluss: „Das machen wir erst mal so!„. Der Mechanismus, der hier wirkt, ist im Prinzip nichts Neues. Im Zusammenhang mit Kreativitätsmethoden wird die Erkenntnis genutzt, dass Stress auslösende Momente zu (kreativen und/oder neuen) Lösungen führen können.

Provisorisches Handeln ist demnach vorausschauendes Handeln; es lebt maßgeblich von einer allgemeinen Vorbereitung, die dann plötzlich zum Einsatz kommt. Der Vorgang, durch den ein Provisorium entsteht, lässt sich prägnant zusammengefasst als spontanes Handeln im Rückgriff auf einen unmittelbaren Bezugsrahmen charakterisieren. Hier wird die Nähe des Provisoriums zur Improvisation deutlich. „Improvisieren„ bedeutet: „aus dem Stegreif, ohne Vorbereitung gestalten„ (Kluge 1995). Es wurde im 18. Jh. entlehnt aus dem gleichbedeutenden italienischen „improvvisare„, das wiederum abgeleitet ist von „improvviso„ (ital.) und „unerwartet, unvorhergesehen, unvermutet„ bedeutet. (ebd.) Die Improvisation ist – beispielsweise in der Musik und im Tanz – eine hohe Kunstform und nicht nur dort eine allgemein hochgeschätzte Fähigkeit. Die begriffliche Nähe zum Improvisieren, also zu einer Form der höheren Kunst, sowie die oft überraschende Zweckentfremdung von Materialien und Mitteln erklären, warum funktionierende Provisorien unsere Bewunderung wecken.

Die Ästhetik von Provisorien besticht durch ein Moment des Unkonventionellen, Unorthodoxen und Flexiblen. Aufgrund der fordernden Umstände ihrer Entstehung (kaum Zeit, begrenzte Mittel oder zumindest begrenzter Kostenaufwand, unbedingte Funktionalität) bringen sie die Lösung eines Problems auf den Punkt und überzeugen durch ihre Klarheit und Einfachheit. Dieter Hoffmann-Axthelm schreibt dem Provisorischen überdies die Qualitäten „Leichtigkeit, Spontanität, Veränderungsfähigkeit„ zu und resümiert: „Das Provisorische, Leichte steht in unserer Welt auf der Liste der aussterbenden Eigenschaften. Keiner hält es aus. Jede Wasser- oder Lichtleitung muss unter Putz, jede raue Stelle muss verkleidet werden, wir leben, auf allen Ebenen, eine Ästhetik der hermetisch geschlossenen Flächen. Wenn es mal anders kommt (Naturkatastrophen, Unfall usw.) ist man fassungslos„ (Hoffmann-Axthelm 1994, 47). Die Herstellung von Provisorien ist anscheinend an eine bestimmte Umgebung, eine bestimmte Materialbeschaffenheit und an eine Erkennbarkeit von materiell/konstruktiven Zusammenhängen gebunden. Der VW Käfer war reparabel, ein modernes, mit Elektronik ausgestattetes Fahrzeug verschließt sich den provisorischen Lösungen. In diesem Zusammenhang gedacht wird aber auch die andere, unzureichende und mit Mängeln behaftete Seite des Labels „Provisorium„ deutlich. Das spontan Gebaute wird häufig nur als „Pfusch„ wahrgenommen oder hat tatsächlich nur eine kurze Funktionsdauer, bevor es ersetzt werden muss. Damit wären wir bei der Kehrseite des Provisoriums: dem Begriff „Pfusch„/ „pfuschen„:
- pfuschen: „unfachmännisch, unordentlich, flüchtig arbeiten„, zuvor „unberechtigt eine nicht zunftgemäß gelernte Arbeit verrichten„ (16. Jh.) (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1993).

Hier wird deutlich, dass das Provisorium eine zwiespältige Gestalt hat. Es ist nicht die eine perfekte, große Lösung, wohl aber ein Weg dorthin, indem es eine funktionierende aber reversible Zwischenlösung anbietet. Als solches erweist sich das Provisorium als besonders brauchbar in prozessorientierten Planungsverläufen.
In der planenden Praxis verdeutlichen unter anderem Begriffe wie „situatives Entwerfen„ (entwickelt von Hille von Seggern) eine Annäherung und Auseinandersetzung mit diesem Thema: „Indem gesehen wird, dass das räumlich-materielle nur ein Element einer Situation neben vielen anderen ist – vom Wetter, der Zeit angefangen, über die Handlung der anwesenden Personen, die Geschichte des Ortes, bis zu den Gerüchen, den symbolischen Bedeutungen kann [...] ein Entwurf und seine Umsetzung im Maßstab 1:1 benutzt werden, um in einer Situation unmittelbar Neues zu initiieren„ (v. Seggern 2000, 12). Bereits der Baumeister und Städteplaner Camillo Sitte (1843-1903), dessen Ideen Stadtplanung und Städtebau maßgeblich beeinflussten, riet zur Verwendung von Provisorien. Mit ihrer Hilfe lassen sich Planungen in situ und vor allem von der interessierten Öffentlichkeit nachvollziehbar überprüfen. Er schlug vor, bei wichtigen Bauvorhaben provisorische Ausstellungsgebäude „aus Brettern und Tünche so zusammenzubauen, dass sie zugleich ein naturgetreues Modell der geplanten Verbauung darstellen. Da würde jedermann, auch der Laie, die Wirkung beurteilen können, und die öffentliche Meinung wäre sicherlich in die Lage gesetzt, zu entscheiden, ob nach diesem Modell eine definitive Verbauung in Angriff zu nehmen sei, oder nicht„ (Sitte 1909, 184).

Eine Idee wird in Form des Provisoriums in die Gegenwart geholt und vor Ort wahrnehmbar – ganz im Sinne des im etymologischen Wortstamm zu findenden „pro visum“: vor sich sehen; oder „videre“: sehen, wahrnehmen, erkennen. Die angestrebte Lösung wird mittels eines behelfsmäßig anmutenden Ersatzes erlebbar gemacht. Indem ein Provisorium die Frage stellt: „Ist das die richtige Idee für diesen Ort?„, kommt ihm im Planungs- und Herstellungsprozess eine wichtige Aufgabe zu. Es dient der Überprüfung einer Idee im Raum und der schnellen Bereitstellung von Funktionen und Nutzungen, da die endgültige Lösung noch aus verschiedenen Gründen (z. B. ein nicht enden wollender Disput um einen Raum oder lange Planungsprozesse) noch nicht bereitgestellt werden kann. Das Bauen eines Provisoriums setzt also eine Vorstellung vom zukünftigen Zustand voraus. Es nimmt Bezug auf etwas Nachfolgendes, es verweist auf eine kommende, komplettere und haltbarere Lösung. Damit bietet ein Provisorium ein Anschlusspotenzial, dem gleichzeitig eine Handlungsaufforderung innewohnt.

Die im Folgenden herangezogenen drei prominenten Beispiele lassen die oben herausgearbeiteten spezifischen Merkmale von Provisorien anschaulich werden.

Die „Provisorische Promenade am Beverello Pier„ in Neapel (gebaut 1998) veranschaulicht eine im Sinne von Camillo Sitte probehafte Umsetzung und zudem die schnelle Bereitstellung einer Planungslösung. Bei den Planungen zur Umgestaltung des Neapolitaner Hafens testeten die Initiatoren eine neue Vorgehensweise: sie starteten zeitgleich drei Aktionen, die normalerweise hintereinander ablaufen würden. Neben zwei Entwürfen für das gesamte Areal und einen neuen Terminal wurde ein ausführungsreifer und sofort umgesetzter Plan für eine provisorische Promenade angefertigt. Die aus Holz gebaute Promenade ersetzt eine Trennmauer zwischen Hafen und Altstadt und bietet so den vorher abweisenden Raum der Öffentlichkeit dar. Die „provisorische Promenade Beverello Pier„ stellt also ein Detail der anberaumten Idee schon vor Abschluss aller Planungsphasen mit einer ausgesprochen günstigen und leicht auf- und abbaubaren Konstruktion vor. In seiner konkreten Gestalt und mit dem neu geschaffenen eindrucksvollen Raumerlebnis informiert das Provisorium über die Idee und leistet gleichzeitig Überzeugungsarbeit. Bei längeren Planungsphasen werden mit dem langsamen Verschwinden des hölzernen Provisoriums die nächsten Entwicklungsschritte automatisch erforderlich. Das Provisorium ist also ein sichtbares Versprechen und gleichzeitig ein Zeugnis dafür, das dies Versprechen sehr wahrscheinlich auch eingehalten wird: „Auf dem Material des Provisoriums lässt sich wie auf einer Uhr die Zeit ablesen, die seit Planungsbeginn verstrichen ist. Das Material misst Verzögerungen, zeichnet Warteschleifen auf und verhindert Rückzieher, die ansonsten oft das Aus für Projekte dieser Größenordnung bedeuten„ (Boeri 2000, 16).

Die oben beschriebenen zwiespältigen Eigenschaften eines Provisoriums – die unkonventionelle, leichte, bestechende Ästhetik, und im Gegenzug dazu das Unzureichende, der Pfusch – werden am Beispiel des „Bataille Monument„ von Thomas Hirschhorn anlässlich der documenta 11 in Kassel (2002) besonders deutlich. Im Außenraum der tendenziell unterprivilegierten Kasseler Wohnanlage Friedrich-Wöhler-Siedlung entwarf der Künstler Thomas Hirschhorn fünf Standorte, die zusammen das „Bataille-Monument„ – ein Denkmal für den von ihm geschätzten Schriftsteller und Philosophen Georges Bataille – ergeben. Die Entwürfe setzte er zusammen mit Anwohnerinnen und Anwohnern vor Ort um. Im Hinblick auf provisorische Techniken ist bemerkenswert, dass Hirschhorn mit den signifikanten Merkmalen des Provisorischen zu spielen weiß. Einerseits ist die Gestalt der Stationen geboren aus dem Mangel an Materialien und Fachwissen, andererseits weiß Hirschhorn um ihr ästhetisches und soziales Funktionieren. Seine Funktion als Denkmal erfüllte das Bataille Monument auf spektakulär verkehrte Weise. In der Regel setzen Denkmäler den zu Ehrenden auf einen Sockel – deutlich über die Köpfe der „normalen„ Menschen, das Material soll von Dauer sein; also wird es aus Stein oder Metall gefertigt. Das provisorische Denkmal ist im Grunde ein Widerspruch in sich. Es stellt durch die Mitarbeit am Aufbau die Auseinandersetzung mit dem zu Gedenkenden in den Vordergrund und ist bemüht, Barrieren abzubauen. In seiner Funktion genügt und überzeugt es vor allem durch seine simple Existenz, da an dieser Stelle sonst nichts geschehen wäre. Die Ästhetik des Provisorischen bekommt hier neben allen anderen Erwägungen also auch eine symbolische Funktion.

Indem sie „für eine Woche in Klausur„ gehen und an einem bestimmten Problem konzentriert und mit vollem Einsatz, aber eben zeitlich sehr begrenzt arbeiten, spitzen die Aktionen der Künstlergruppe „wochenklausur„ den Gedanken des Provisorischen ganz gezielt zu. Ihre Projekte bieten explizit einen in Kürze hergestellten Zustand an, mit dem ab jetzt das jeweilige Problem weiter angegangen werden kann – wenn denn die Bereitschaft dafür da ist. Das initiierte Provisorium hat bewiesen, dass in der jeweiligen Situation Handlung möglich ist – Ausreden sind daher nicht mehr angebracht. Die Arbeiten appellieren sehr stark an einen nachfolgenden verbesserten Zustand, der jedoch keinesfalls erzwungen wird oder erzwungen werden kann. Die Projekte entstehen aus der Wahrnehmung sozialer Probleme, die zwar im Grunde offensichtlich, jedoch gesellschaftlich in Randexistenzen verdrängt werden. Der Aufforderungscharakter der Projekte lautet also zunächst: seht hin und nehmt zur Kenntnis, dass etwas getan werden kann und dieses Tun einfach ist.

Provisorien sind eine zwiespältige Angelegenheit: sie laufen dem planenden Sicherungswunsch einer kontrollierten Zukunft entgegen und leben doch genau von der Vorratshaltung, die aus diesem Sicherungswunsch resultiert. Provisorien werden auf einem vorhandenen Fundus gebaut, der jedoch unzureichend ist. Wäre er perfekt oder nahezu vollkommen, wären alle Notwendigkeiten vorhanden um etwas „Richtiges„ und nicht nur etwas Vorläufiges herzustellen. Provisorien sind die idealen Vermittler zwischen Chaos und strikter Planung – denn die Unmöglichkeit beider Extreme wird hier ästhetisch erlebbar und physisch manifest: Chaos ist nicht lebbar, weil zu frustrierend; strikte Planung ist ein nicht existentes Konstrukt (das, wäre es existent, tot wäre). Provisorien sind demnach gelebte Differenz (vielleicht sind sie deshalb so schwer zu ertragen?).

Die Beurteilung von Provisorien fällt je nach Wertesystem anders aus: von einem technischen oder ästhetischen Standpunkt aus können Provisorien durch ihr hohes Maß an Stimmigkeit und Effektivität (Einfachheit) bestechen. Im Rahmen von Wirtschaftlichkeit und Planung hat das Provisorium Vorteile – solange es eben ein Provisorium bleibt, dass als simulierter Endzustand zum Sammeln von Erfahrungen beiträgt. Auf Dauer gestellte Provisorien bergen Gefahren (schneller, teils unberechenbarer Verfall) und absehbare Folgekosten (Ersatz). Das Provisorium ist nicht als Antwort, nur als Frage denkbar.

Fragen als Zustandsform – permanent gelebte Differenz – ist als Konzept ausgesprochen anstrengend, aber eine zutreffende Spiegelung realer Lebensverhältnisse in modernen, individualisierten Gesellschaften. Da Provisorien Gestalt gewordene Fragen sind (was gehört hier eigentlich hin?), ist ihre Erforschung mit gleichen Mitteln (als ständige Befragung) eine Möglichkeit, sich ihnen zu nähern. Ein Übergangszustand kann nur im Moment seines Erscheinens und Wirkens präzise aufgenommen werden. Da er nur begrenzt für sich selbst stehen und Objekt der Bearbeitung werden kann, ist seine Klärung in besonderem Maße auf Verweise in andere Zeiten, zu verwandten Phänomenen, Techniken usw. angewiesen.

Literatur
Stefano Boeri, Neapel: Materialtest für den Städtebau. In: Topos 32, 2000, S. 15-16.
Brockhaus (1996-1999): Die Enzyklopädie in 24 Bänden, Leipzig-Mannheim
Christopher Dell, Improvisation braucht Methode – sieben Takes. In: arch+ 167, Off-Architektur 2 Netzwerke, Oktober 2003, S. 4-7.
Duden (1990): Fremdwörterbuch, Mannheim
Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Bd. 2: M-Z. Hg. vom Zentralinstitut für Sprachwissenschaft unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. Berlin: Akademie-Verlag, 1993.
Volker Harlan, Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Beuys. Stuttgart: Urachhaus, 1986.
Dieter Hoffmann-Axthelm, Nischen, Spielräume, Provisorien. Ein Plädoyer für den Auszug aus festen Behältnissen. In: DU. Die Zeitschrift der Kultur 643, 1994, S. 46-49.
Dieter Hoffmann-Axthelm, Container, Behälter des Neuen. In: Stiftung Bauhaus Dessau (Hg.), Edition Bauhaus. Bd. 2: Zeitzeichen Baustelle. Texte zusammengestellt von Franz Pröfener. Frankfurt/New York: Campus, 1998, S. 266-271.
Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch derdeutschen Sprache. 23., erw. Aufl. Berlin: de Gruyter, 1995.
Margit Schild, Temporäre Installationen in der Landschafts- und Freiraumplanung. Ein Beitrag zur Diskussion. In: Beiträge zur räumlichen Planung. Bd. 79. Hannover: 2005.
Hille von Seggern, Entwerfen im Prozess, Entwerfen für einen Entwicklungsprozess. Begleitblätter zur Vorlesung „Landschafts- und Freiraumplanung, Freiraumentwicklung II, Prozesse gestalten„ am Institut für Freiraumentwicklung und planungsbezogene Soziologie. Fachbereich Landschaftsgestaltung und Umweltentwicklung. Universität Hannover, 2000.
Camillo Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung moderner Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien. Wien, 1909.

dérive, So., 2005.12.25

25. Dezember 2005 Antje Havemann, Margit Schild

Arte/Cidade (Kunst/Stadt)

Das Projekt Arte/Cidade in São Paulo wurde als Kooperation zwischen TheoretikerInnen, ArchitektInnen und zahlreichen lokalen und internationalen KünstlerInnen Mitte der neunziger Jahre ins Leben gerufen und bestand aus vier Etappen. Die erste erfolgte in einem still gelegten Schlachthof in der südlichen Zone der Stadt. Die zweite Intervention im Zentrum der Stadt fand in drei Gebäuden und auf dem von ihnen umrissenen Areal statt, das von einem Viadukt durchschnitten wird. Die dritte ging im Westen der Stadt entlang eines Nebenbahngleises über die Bühne und die letzte dieser Interventionen im Jahr 2002 war für ein im östlichen Teil der Stadt gelegenes ehemaliges Industriegebiet auf einem Ausschnitt von ca. 10 km2 konzipiert. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, welche Erfahrungen sich für das Verhältnis von Kunst und Stadtraum in einer Megacity wie São Paulo ziehen lassen.

Die Ausgangssituation

Arte/Cidade entstand in São Paulo/Brasilien als Projekt, das sich seit dem Jahr 1994 Interventionen im städtischen Raum widmete. Ausgangspunkt war die zeitgenössische Metropole als komplexer und dynamischer Raum, der sich in beständiger Wandlung befindet und damit neue und ungewöhnliche urbane Konfigurationen hervorbringt. Im Rahmen des Projekts wurden Aktivitäten initiiert, die sowohl den Status wie auch die konventionellen Vorgehensweisen der Kunst, der Architektur und des Städtebaus hinterfragen. Denn: Sich Prozessen zu stellen, die als Folge der Globalisierung auftreten, erfordert eine Überschreitung von etablierten Erörterungen und Techniken.

Die Idee war, die Stadt São Paulo als einen Ort zu betrachten, dem alle Fragestellungen über Städte und Kunst inhärent sind. Während die jüngsten städtischen Revitalisierungstendenzen und die etablierten Formen der Kunst im öffentlichen Raum vor der Komplexität sowie der Fülle an neuen Situationen kapitulierten, postulierte Arte/Cidade einen Diskurs neuer urbaner und künstlerischer Strategien von Interventionen in Großstädten.

Arte/Cidade strebte nach Interventionen, die sich nicht allein auf das unmittelbar Lokale bezogen, sondern suchte auch eine Verbindung zum weiten Territorium der Großstädte sowie zu den globalen Neugestaltungen der Wirtschaft, der Macht und der Kunst. Ziel war es, die Wahrnehmung auch für Situationen zu schärfen, die sich nicht bloß in der Erforschung des unmittelbaren Ortes und der visuellen Feststellung genügen. Interventionen, welche die Prozesse der städtischen und globalen Umstrukturierungen berücksichtigen, sich jedoch der institutionalisierten und körperschaftlichen Aneignung von urbanem Raum und künstlerischen Praktiken widersetzten.

Es gilt, das Repertoire, das sich in den jüngsten Projekten im urbanen Raum entwickelt hat, zu festigen. Eine operative Beschäftigung mit dem urbanen Raum fordert die Entwicklung von adäquaten, ästhetischen und technischen Instrumenten und Vorgehensweisen: die Umsetzung von individuellen Vorschlägen in Projekten (in Form von technischen Zeichnungen) sowie die Abgleichung von technischen, materiellen, strukturbedingten und politischen Fragen, wie etwa die Beziehungen mit den im Entwicklungsprozess involvierten lokalen Gemeinschaften und politischen Entscheidungsträgern.

Neue Bedingungen erfordern neue Strategien

Die im Rahmen von Arte/Cidade gesammelten Erfahrungen hatten ein Ensemble an Verfahrensweisen bezüglich der Auswahl von „Situationen“ als auch hinsichtlich der angewandten künstlerischen und städtebaulichen Vorgehensweisen zum Ergebnis. Aber, diese Praktiken im urbanen Raum riefen auf Grund ihrer engen Beziehung zu Eingriffen in die städtische Weiterentwicklung sowie zur Politik von kunstnahen Institutionen Fragen wach: Wie könnte eine Evaluierung der durch Arte/Cidade entwickelten Maßnahmen ausschauen? Welche Rolle und Bedeutung hat dieser künstlerische Prozess angenommen? Welchen städtebaulichen Effekt, sei es in Bezug auf die Wirtschaft, das Soziale oder die Politik, hat das Projekt geschaffen? Der beschleunigte Prozess der globalen Verdichtung von Städten hat zu einer radikalen Veränderung der Bedingungen für und Prinzipien von städtischen Interventionen geführt. Megaprojekte im städtebaulichen Bereich und transnationale Kulturinstitutionen sind für Umstrukturierungen von Städten auf globaler Ebene verantwortlich. Es verlangt also nach einem neuen Repertoire auf technischer, ästhetischer und institutioneller Ebene sowie nach neuen Strategien, um Aktionen im öffentlichen Raum zu setzen.

Wie gestalteten sich die ästhetischen Ergebnisse der im Rahmen von Arte/Cidade durchgeführten Projekte? Wie sehr beeinflussen sie Prinzipien und Vorgehensweisen nachfolgender Projekte, die sich mit dem urbanen Raum beschäftigten? Eine Rezeptionsanalyse von Arte/Cidade und der im Rahmen des Projekts geschaffenen Kunstwerke steht noch aus. Rückschauend ist es gut möglich, dass einige der künstlerischen Interventionen als noch sehr den Regeln der plastischen Kunst verpflichtend erschienen, einer phänomenologischen Wahrnehmung von Objekten im Raum. Um intensivere und umfassendere Effekte zu erzielen, ist es ist vonnöten, weitere konzeptionelle und operative Parameter in diese künstlerische Praxis einzuführen; Strategien, die es ermöglichen, die institutionellen, diskursiven und ökonomischen Apparate der Stadt und der Kunstwelt herauszufordern. Es gilt aufzuzeigen, wie die Schaffung von städtischem Raum und Kultur – ebenso wie die Rezeption dieses Prozesses – zusehends den Allianzen von Wirtschaft und Macht unterworfen wird.

Ein Weg, diese Fragestellung zu fokussieren, wäre die Analyse der Schicksale der Örtlichkeiten, an denen die Interventionen stattgefunden haben. An einigen von ihnen entstanden Kulturzentren, Shoppingcenter und Großprojekte der Stadtplanung mit Wohn- und Bürotürmen. Anderswo entwickelten sich favelas oder Plätze für informelle Aktivitäten. Die weitere, künftige Bestimmung dieser Orte wird ebenso vielfältig sein wie die Rolle, die Arte/Cidade in diesen Prozessen möglicherweise eingenommen hat.

Angesichts dieser neuen Beziehung zwischen Kunst und städtischer Entwicklung: Welche Alternativen eröffnen sich nun den Interventionen in Metropolen, die sich in globaler Umstrukturierung befinden? Diese Projekte können sich den weiten, außergewöhnlich komplexen, dynamischen und unförmigen Gebieten zuwenden, die aus städtebaulichen Entwicklungsprojekten ausgeschlossen sind. Es ist ihnen möglich, Megaprojekte auf strukturelle Alternativen der Beschäftigung mit bis heute vernachlässigten Gebieten – auf die dynamische Unbestimmtheit dieser in den Zwischenräumen liegenden Territorien und auf eine adäquate Vorgehensweise – hinzuweisen; Vorschläge der Gestaltung und Nutzung von Infrastruktur aufzuwerfen, welche die Gliederung des städtischen Gewebes intensivieren und verändern könnten. Programmatische und leistungsfähige Interventionen in urbanen Situationen zu fordern, die in direkter Verbindung mit den lokalen Gemeinschaften stehen – anders als die Arbeiten, die von der vorherrschenden Zeichnung der Stadt und den ökonomischen und sozialen Interessen der Herrschenden dominiert sind. Eine Möglichkeit, neue urbane Strategien einzuführen.

In den vergangenen Jahren ließ sich ein Phänomen beobachten, das die Parameter der Bewertung von urbanem Raum und die Tragweite der Interventionen gänzlich verändern sollte: die weltweite Verdichtung der größten Metropolen mit dem Aufkommen von riesigen stadtarchitektonischen und vom internationalen Kapital geförderten Projekten. Sie neigen dazu, sich selbst genügende Enklaven zu schaffen, die, von mächtigen architektonischen Strukturen beherrscht, vom restlichen urbanen Gewebe abgeschnitten sind und somit der Dekadenz, der sozialen Ausgrenzung und der Gewalt überlassen werden. In enger Verbindung zu diesem Prozess verstärkt sich in den großen Museen und im Rahmen von Themenausstellungen mit weltweiter Ausrichtung die Tendenz, die ästhetische Produktion und Rezeption dieser globalen Logik mit ihren weitläufigen artifiziellen und inszenierten Arealen zu unterwerfen – eine Monumentalität, welche die Stadt und die Kunst letztlich für Spektakel und Kulturtourismus verfügbar machen.

Es ist nicht mehr möglich, Projekte für den urbanen Raum zu konzipieren, ohne diese neuen Bedingungen in Betracht zu ziehen. Gemäß der steigenden räumlichen, institutionellen und sozialen Komplexität von urbanen Situationen muss jede Intervention diesem intensiven Prozess der Neustrukturierung von Städten Rechnung tragen. Dies bedeutet, dass es notwendig ist, Strategien zu entwickeln, die den Prinzipien der örtlichen Begrenzung, der totalitären architektonischen Form und der institutionellen oder kooperativen Instrumentalisierung der Kunst entgegenstehen.

Drei Projektphasen

Das waren die Fragestellungen, welche die Gründungsarbeit von Arte/Cidade kennzeichneten. Die Vorbereitung des Projektes gestaltete sich in drei Phasen: eine ausgedehnte städtebauliche Untersuchung der jeweiligen Region, die Auswahl der Orte und die Entwicklung der Intervention. Die von den teilnehmenden KünstlerInnen und ArchitektInnen durchgeführte Untersuchung fokussierte die Rolle des Gebietes in der Neustrukturierung São Paulos im Sinne der Globalisierung. Sie wird durch die Erhebung der potenziellen „Situationen“ von Interventionen sowie von Gebieten, welche eine für Großstädte charakteristische strukturelle Komplexität und örtlich gegebene soziale Dynamiken vorweisen könnten, vervollständigt.

Hierbei wurde versucht, nicht von isolierten Lokalitäten auszugehen, sondern jeweils eine ganze Region in Betracht zu ziehen, um die Prozesse der urbanen Neustrukturierung, die architektonischen Elemente und die Formen der bereits vorherrschenden Inanspruchnahme zu verstehen. Es handelte sich um eine neue Art der Initiierung von künstlerischen und urbanen Interventionen, die in kritischer Reflexion von den Strategien ausging, die von KünstlerInnen seit der land art und im Rahmen von urbanen Revitalisierungspraktiken entwickelt wurden. Die Gebiete wurden von allen Beteiligten begutachtet. Sie alle trugen mit wichtigen Literatur- und Ortsvorschlägen zum Gesamtprojekt bei und bereicherten so die ursprünglichen Projektideen. Ausgehend von dieser Arbeit entwickelten die eingeladenen KünstlerInnen und ArchitektInnen ihre Vorschläge.

Wie ist es nun in der Erarbeitung von städtischen Interventionen möglich, die multiplen und komplexen Gegebenheiten, welche die Gesamtsituation prägen, zu berücksichtigen? Wie kann gewährleistet werden, dass die TeilnehmerInnen, viele von ihnen nicht aus Brasilien stammend, mit diesen Fakten zu arbeiten vermögen? Eine Gruppe von ArchitektInnen und IngeneurInnen leistet bei jedem Projekt begleitende Hilfestellung und bemüht sich, die Grenzen der strukturellen und technischen Möglichkeiten sowie die städtische und soziale Reichweite jedes Projektes abzustecken. In jedem einzelnen Fall werden die Möglichkeiten der Interventionen im städtischen Raum und in Gebäuden, die Probleme der strukturellen Tragkraft, der Gebrauch von Materialen und die elektrischen Vorrichtungen studiert, immer im Hinblick auf die Erprobung und die Möglichkeiten der Überschreitung der konventionellen Funktionen.

Alternative Strategien zur Neustrukturierung der Stadt

Die Komplexität und die Bandbreite der vorgeschlagenen Interventionen erlauben nicht, so ein unkritisches Anpassen an die vorherrschende Situation vermieden werden soll, im Arbeitprozess auf entsprechende technische und operative Hilfestellungen zu verzichten. Daher wird – abgesehen vom Bruch mit den heute erstarrten Vorgehensweisen in Projekten in Bezug auf spezifische Orte – zusätzlich versucht, eine intuitive, generelle ästhetisierende Anpassung an die Lokalitäten zu vermeiden. Ziel ist es, zu verhindern, dass die Verortung lediglich als Kontext dient, als Prospekt für Werke, die Anspielung und lediglich Kommentar der Situationen bleiben. Die im Rahmen von Arte/Cidade entwickelten Vorschläge sind im Grunde genommen keine architektonischen und städteplanerischen Projekte. Sie weisen auf alternative Strategien der weltweiten Neustrukturierung der Stadt ebenso hin wie auf eine Stadtpolitik der Dezentralisierung. Diese Strategien basieren auf den Aktivitäten, die sich in diesen – in städtischen Zwischenräumen liegenden – Gebieten entwickeln, auf einer Dynamisierung ohne Konzentration auf Ausschlussmechanismen, auf Akzeptanz von räumlicher Heterogenität sowie auf unterschiedlichen Beschleunigungsprozessen.

Die Projekte beschäftigten sich mit einer intensiven Kartografie der Stadt, die es vermag, die Komplexität und die Dynamik des Gebietes, die Varietät der Formen seiner Inanspruchnahme sowie die Möglichkeiten der im Gange befindlichen Eingriffe aufzuzeigen. Es ist eine Arbeit an der Schnittstelle unterschiedlicher Vektoren, in den Zwischenräumen eines fragmentierten städtischen Gewebes und im unregelmäßigen Fluxus der Großstadt. Ziel ist es, neue Verbindungen zwischen den unterschiedlichsten Situationen zu schaffen, ihre Bedeutung und urbane, kulturelle und soziale Wirkung zu erweitern, sowie die Rezeption dieser Prozesse seitens der Bevölkerung zu intensivieren. Im Gegensatz zu den konventionellen Maßnahmen ging es im Rahmen von Arte/Cidade um ein hohes Maß an Experimentierfreudigkeit, da die Projekte mit Fakten und Variablen zu tun hatten, die sich der Vorhersage und der Kontrolle entziehen. Es sind dies Komponenten, die das Spiel der Akteure im urbanen Raum und die die der Stadt eingeschriebene Unbestimmtheit akzeptieren.

Interventionen in Großstädten verlegen die Frage nach der Rezeption großer urbaner Gebiete, die sich vollends den mental maps ihrer BewohnerInnen entziehen, auf die etablierten Parameter des Städtebaus und auf die Theorie von Kunst im öffentlichen Raum. Welche Fragen stellen sich in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung von Interventionen dieses Ausmaßes? Fällt die Wahl auf einen sich der persönlichen Erfahrung entziehenden Ort, so ist es unmöglich, einen gemeinsamen Begriff der Dimensionen und Zeichnung des Ortes zu finden. Städte unterliegen zusehends den Strategien der Monumentalisierung – Marketing, Immobiliengeschäfte und Kulturtourismus; Arte/Cidade steht für das Anliegen, den – diesen Prozessen inhärenten – Charakter des Spektakels zu vermeiden.

Arte/Cidade, ursprünglich ein Projekt, das sich mit künstlerischen Interventionen im öffentlichen urbanen Raum beschäftigt: Könnte es sich zu einem Diskussionsfeld weiterentwickeln, das Platz bietet, über Prozesse der städtischen Neustrukturierung nachzudenken, in der künstlerische und städteplanerische Interventionen einen anderen Stellenwert einnehmen? Wird Arte/Cidade es schaffen, jene Glaubwürdigkeit zu erreichen, um Initiativen seitens Regierungen und der großen privaten Trusts in seine Diskussion integrieren zu können? Ist es möglich, im von großen Trusts und von mächtigen politischen und wirtschaftlichen Institutionen bestimmten bestehenden Szenario der Verwaltung von Städten und der Kultur eine öffentliche Diskussion über die Alternativen der Stadtentwicklung und der künstlerischen Tätigkeit zu schaffen?

dérive, So., 2005.12.25

25. Dezember 2005 Nelson Brissac Peixoto

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