Editorial
100 Jahre Oktober Revolution, 100 Jahre Republik Österreich, 50 Jahre 1968, 200. Geburtstag von Karl Marx, 50 Jahre Le droit à la ville (Recht auf Stadt) ... Die letzten und die kommenden Monate sind von zahlreichen Gedenk- und Jahrestagen geprägt. Über ein Ereignis, das vor 50 Jahren stattfand, hat die Regisseurin Kathrin Bygelow einen Film gedreht, der gerade in unseren Kinos gelaufen ist: Detroit. Im Juli 1967 fanden in Detroit Riots statt, bei denen sich nach einer Razzia in einer illegalen Bar Frustration und Zorn gegen den tief verwurzelten Rassismus, die immense Ungleichheit und die gesellschaftlich tolerierte Polizeibrutalität ihren Weg bahnten. Die auch als 12th Street Riot in die Annalen der Stadt eingegangenen Ausschreitungen kosteten 43 Menschen das Leben, über 1.000 Menschen wurden verletzt und mehr als 7.000 verhaftet. Die Stadt hatte damals schon viel von ihrem Glanz verloren. Zigtausende Arbeitsplätze in der Automobilindustrie waren aus der Stadt verschwunden, Arbeitslosigkeit, Armut, elende Wohnverhältnisse und Polizeibrutalität kennzeichneten den Alltag eines großen Teils der Bevölkerung. Betroffen waren vor allem die Schwarzen BewohnerInnen Detroits, die damals 40 Prozent der Bevölkerung ausmachten, heute sind es 80.
Detroit ist das Thema des Schwerpunkts in diesem Heft. Das Schicksal der Stadt erhält seit Jahren große, wenn auch meist oberflächliche Aufmerksamkeit: Von der Ästheti sierung des Verfalls der Stadt, der sich so attraktiv in Coffee table-Books darstellen lässt – Stichwort Ruin Porn –, über den Versuch mit Creative Industries oder Urban Farming ökonomische Impulse zu setzen bis zur Berichterstattung über den Konkurs der Stadt. Das dominante Narrativ von Detroit wiederholt sich in den Darstellungen und oszilliert zwischen den Polen Verfall und Wiederauferstehung. Der gesellschaftspolitische Kontext und die Erklärungen dafür, wie aus Detroit Destroit werden konnte, wie die Stadt nicht ganz unpassend gelegentlich genannt wird, sind im Detail weit weniger bekannt. Dem Niedergang der Stadt liegt tatsächlich ein Akt der Zerstörung zugrunde, der sich – wie in zahlreichen anderen Städten auch – auf Rassismus gründet. Der so genannte White Flight aus den heterogenen Innenstädten in die homogenen Vorstädte wäre ohne rassistische Praktiken im Immobilienhandel oder bei der Kreditvergabe, kombiniert mit einer spezifischen Steuerpolitik, nicht möglich gewesen.
Der von Lucas Pohl betreute Schwerpunkt in dieser Ausgabe von dérive versammelt Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten von Detroits urbaner Gesellschaft: Nach der Einleitung zum Schwerpunkt stellt der Detroiter Geograf Joshua Ackers die oben genannten gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen in einem historischen Abriss der letzten Jahrzehnte der Stadt dar und analysiert die aktuelle Situation im Zeitalter der Austeritätspolitik.
Eine der sehr konkreten Auswirkungen der neoliberalen Sparprogramme ist die Wasserversorgung der Bewohner und Bewohnerinnen Detroits. Seit 2014 wurde über 100.000 Haushalten das Wasser abgedreht, weil sich die BewohnerInnen nicht mehr in der Lage sehen, ihre Rechnungen zu bezahlen. (In Österreich wird übrigens jedes Jahr rund 28.000 Haushalten wegen offener Rechnungen der Strom abgedreht.) Die Community Organisation We the People kämpft seit Jahren gegen diese Politik und informiert in ihrem Beitrag für diesen Schwerpunkt über die Situation.
Lucas Pohl wirft in seiner Auseinandersetzung mit Detroit auch einen Blick auf einige der stadtprägenden Wolkenkratzer, die für ihn den Fall und Wiederaufstieg sowie die Machtverhältnisse in der Stadt beispielhaft verkörpern. Darüber hinaus macht er sich Gedanken um Fragen nach Zeit und Vergänglichkeit in einer Stadt, die sich wie kaum eine andere mit ihrem Untergang konfrontiert sah und sieht.
Kerstin Niemann und Alexa Färber sprechen in einem Interview mit dem Fotografen Camilo José Vergara, der Detroit seit mehreren Jahrzehnten fotografisch dokumentiert. Durch seine Arbeit ist er zu einem Chronisten der Stadt geworden, der im Gegensatz zu anderen FotografInnen keine Ruin-Porn- CoffeetableBooks produziert, indem er den Verfall ästhetisch in Szene setzt, sondern mit seinem Schaffen einen stadtforscherischen Zugang verfolgt.
Medial wird Detroit mit Blick auf die Kunstszene immer wieder als neues New York oder neues Berlin gehandelt. Nora Küttel zeigt in ihrem Beitrag, wie es um die Lebensrealität der Künstler und Künstlerinnen zwischen Kommodifizierung, Gentrifizierung, sozialem Engagement und Vereinnahmung tatsächlich steht und wie viel – oder wie wenig – die nach Aufmerksamkeit heischenden Das-Neue...-Schlagzeilen mit der Realität der Stadt zu tun haben.
Auch Scott Hocking ist Künstler in Detroit und hat für dérive einen Essay verfasst, in dem er erzählt, wie er in der Stadt aufgewachsen ist, sie immer wieder durchwandert hat, wie er begonnen hat sich künstlerisch mit ihr auseinanderzusetzen und sie nachts fotografisch dokumentiert.
Der Magazinteil bringt einen Beitrag des Hamburger Urbanisten Michael Ziehl, der sich am Beispiel des Hamburger Gängeviertels, in dem er selbst seit langer Zeit aktiv ist, ansieht, wie es um die äußerst schwierigen Kooperationen zwischen BürgerInnen und Stadtverwaltungen steht.
Das Kunstinsert von Cäcilia Brown trägt den schönen Titel Ausschweifendes Reden ist ein schöner Laster und zeigt u.a. einen raketenförmigen Anhänger, der dem Wiener Wagenplatz Treibstoff als Toilette dient.
Christoph Laimer
Inhalt
01
Editorial
Christoph Laimer
Schwerpunkt
04 — 05
Eine Stadt im Zerfall
Vorwort zum Schwerpunkt Detroit
Lucas Pohl
06 — 12
The Decline of Detroit in Three Acts
Joshua Ackers
13 — 18
Die unsterbliche Stadt: Das Unbehagen in den Wolkenkratzern von Detroit
Lucas Pohl
19 — 26
Tracking the Transformation of Detroit’s Cultural Heritage
Interview with the photographer Camilo José Vergara
Alexa Färber, Kerstin Niemann
27 — 31
Art for whose Sake? Zwischen Kommodifizerung, Gentrification und sozialem Engagement
Nora Küttel
37 — 42
Detroit Nights
Scott Hocking
43 — 45
Mapping the Water Crisis
We the People of Detroit Community Research Collective
Kunstinsert
32 — 36
Cäcilia Brown
Ausschweifendes Reden ist ein schöner Laster
Cäcilia Brown, Andreas Fogarasi
Magazin
46 — 50
Zukunftsfähigkeit durch Kooperation – Ein Laborbericht aus dem Gängeviertel
Michael Ziehl
Besprechungen
51 — 55
Die neuen Munizipalismen.
Soziale Bewegungen und die Regierung der Städte. S. 51
Elke Rauth
All that is Solid Melts into Air — An Alternative History of the City S. 52
Rixt Hoekstra
Dos Naye Lebn — Birobidschan, das Jerusalem am fernöstlichen Amur S. 53
Ursula Probst
Diese Wildnis hat Kultur S. 54
Paul Rajakovics
Das Ringen um die nackte Existenz S. 55
Ursula Probst
60
Impressum
Eine Stadt im Zerfall
(SUBTITLE) Vorwort zum Schwerpunkt Detroit
Das Vorwort zu einem Themenheft über Detroit zu schreiben gestaltet sich in etwa so schwer, wie die Gestaltung eines solchen Schwerpunktes. Schließlich wurde kaum eine Stadt innerhalb und außerhalb der Stadtforschung aus so vielen Gründen herangezogen, um urbane Phänomene in der Geschichte und Gegenwart zu erörtern, dass sich bei einer Zusammenstellung an Beiträgen über Detroit notwendig die Frage stellt, wie sich die einzelnen Texte zu einem großen Ganzen verknüpfen lassen.
Als Hochburg der Automobilindustrie avancierte Detroit unter der Federführung von Henri Ford im 20. Jahrhundert zu einer der prosperierendsten und wohlhabendsten Städte der USA. Im Zuge der Krise des Fordismus und politischen Unruhen schrumpfte Detroit seit den 1950er Jahren schließlich sukzessive um über die Hälfte der Bevölkerung. Zeitweise verließ alle 48 Minuten eine Familie die Stadt, wie Joshua Akers in seinem überblicksartigen Abriss von Detroits Entwicklung für diesen Schwerpunkt festhält. Nachdem das Bild der Stadt für einige Zeit vor allem durch ausgestorbene Wohnviertel, leere Straßenzüge und verfallene Wolkenkratzer geprägt war, sorgte der Zuzug von jungen Kreativen für einen erneuten Imagewandel. Die Stadt erfindet sich neu und wird zu einem Anziehungspunkt des DoItYourselfUrbanismus. Dieses Comeback bringt jedoch einige millionenschwere Investments und Spekulationsvorhaben mit sich. Ganze Viertel werden abgerissen, neugebaut und saniert, um Platz zu machen für ein neues Detroit, dessen Ausmaße sich zum jetzigen Zeitpunkt zwar noch nicht vorhersagen lassen, doch von Nora Mariella Küttel in ihrem Beitrag bereits passend mit der Frage Whose Detroit? infrage gestellt werden.
Da ein Heft zu Detroit eventuell nahelegt, dass hier ein repräsentatives Bild von der Stadt gezeichnet werden würde, möchte ich eingangs dafür sensibilisieren, wie unmöglich es ist, ein solches Bild zu entwerfen. Längst sind die Zeiten vorbei, in denen Synonyme, wie Motor City oder Motown herhalten konnten, um Detroit hinlänglich zu bezeichnen und auch das Gerede von Detroit als sterbender Stadt hat ausgedient. Detroit Is No Dry Bones, um den Titel des neuen Buchs von Camilo José Vergara zu zitieren. Vergara, der in einem Interview mit Alexa Färber und Kerstin Niemann in dieser Ausgabe darüber reflektiert, wie er die Stadt seit über 25 Jahren dokumentarisch begleitet, gehörte zu den ersten Fotografen, die den Ruinen Detroits ihre Aufmerksamkeit schenkten. Doch auch wenn der Verfall immer noch omnipräsent das Stadtbild prägt und bis heute ganze Viertel verfallen und weggerissen werden, stehen gerade in der Innenstadt Detroits frisch sanierte Hochhäuser und Wohnbauten bereit, um Zugezogene willkommen zu heißen. Wo vor ein paar Jahren noch Wohnviertel waren, finden sich nun großzügige Grünflächen und zwischen Ateliers, Cafés und urbanen Gärten wirken Armut und Obdachlosigkeit, die vor einiger Zeit noch ausschlaggebend für die Debatten rund um Detroit waren, heute eher wie Randerscheinungen. Diesen zunehmend unsichtbar werdenden AkteurInnen der Stadt widmet sich Scott Hocking in seinem essayistischen Beitrag. Der Künstler baut seit Jahren Skulpturen an verlassenen Orten Detroits und gibt einen einzigartigen Einblick in seine nächtliche Arbeit in den Ruinen.
Detroit ist die Stadt der Widersprüche. Vielleicht ist sie gerade deshalb in den letzten Jahren zu einem Spielfeld für die kritische Stadtforschung geworden. Während die Geisterstadt zu einem ikonischen Beweis für die Endlichkeit der kapitalistischen Stadtentwicklung wurde, liefern die großangelegten Gentrifizierungsprozesse und neoliberale Austeritätspolitik gegenwärtig vor allem das Material für kritische Reflexionen über aktuelle Trends der kapitalistischen Stadtentwicklung. Wo sich gestern noch wie nirgends sonst über die Postapokalypse fantasieren ließ, schreitet heute bereits mit aller Beharrlichkeit die Wiederherstellung des Status Quo voran – ein Gegensatz, dem ich mich in meinem Beitrag zu diesem Heft durch einen Blick auf die Wolkenkratzerarchitektur Detroits gewidmet habe.
Über die Schwierigkeit, eine einheitliche Erzählung von der Stadt zu liefern, löst Detroit damit auf eindrucksvolle Weise ein, was Henri Lefebvre in seiner programmatischen Schrift La Révolution urbaine aus den 1970er Jahren als Ausgangspunkt für das künftige Denken der Stadtforschung in Aussicht stellte: die Annahme einer Unmöglichkeit von der Stadt als Ding sprechen zu können. Während Lefebvres These jedoch vor allem darauf zielte, die Stadt nicht mehr als lokal abgrenzbaren Gegenstand, sondern als global wirkmächtigen Urbanisierungsprozess zu verstehen, sensibilisiert Detroit für eine andere Tragweite dieser Unmöglichkeit. Die Stadt wird zum Unding, doch nicht, weil sie sich grenzenlos ausbreitet, sondern weil sie keine Einheit darstellt – weder heute noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte.
Was uns Detroit lehrt, ist die inhärente Widersprüchlichkeit des Urbanen. In Detroit zerfallen mehr als die Gebäude, das Phänomen Stadt selbst zerfällt. Sobald man versucht die Stadt auf den Begriff zu bringen, entzieht sich ein Teil von ihr dieses Zugriffs. Von Detroit sprechen heißt demnach immer auch nicht von Detroit zu sprechen. Wie eine glibberige Masse lässt sich die Stadt nicht festhalten, sodass sie keine zusammenhängende Geschichte, sondern nur einen Flickenteppich an inkompatiblen Versatzstücken liefert. Anstelle eines übergeordneten Rahmens, geben die Texte zum Schwerpunkt Detroit einen Einblick in die unterschiedlichen und teils paradoxen Wirklichkeiten der Stadt, versammelt von ForscherInnen und KünstlerInnen aus Detroit und anderswo. Und weil kein Bild und kein Text repräsentativ dafürsteht, was Detroit im Kern ausmacht – weil jedes Narrativ vernachlässigt, ausblendet oder schlicht vergisst – lässt die Zusammenstellung von Texten, die dieses Themenheft vereint, auch keinen anderen Rahmen zu als den Namen der Stadt selbst.dérive, Mi., 2018.02.14
14. Februar 2018 Lucas Pohl