Editorial
Editorial
Die vorliegende Ausgabe von dérive bringt einige Neuerungen: Zum ersten Mal besteht der Schwerpunkt nicht nur aus Texten und Bildern, sondern es gibt auch Ton, und zwar in Form der CD Sehen mit Ohren von Ulrich Troyer, die die AbonnentInnen kostenlos als Beilage zum Heft bekommen und alle anderen Interessierten für 15 Euro (inkl. Versandspesen) bei dérive bestellen können. Alle LeserInnen, die jetzt AbonnentInnen werden, bekommen die CD ebenfalls kostenlos. Näheres zur CD ist auf Seite 2 dieses Heftes zu lesen, Näheres zum Schwerpunkt Stadt hören, dessen Redaktion diesmal der Stadtforscher Peter Payer inne hatte, finden Sie auf der nächsten Seite.
Die zweite Neuerung ist, dass dérive ab dieser Ausgabe von Vice Versa (Berlin) vertrieben wird, worüber sich vor allem unsere LeserInnen in Deutschland und der Schweiz freuen dürfen: Ab sofort ist dérive für Sie um einiges leichter zu erwerben, weil sich die Zahl der Verkaufsstellen durch die Zusammenarbeit mit Vice Versa deutlich erhöht. Sollte es trotzdem nach wie vor keine Buchhandlung in Ihrer Nähe geben, können Sie die jeweils aktuelle Ausgabe von dérive ebenso wie Backissues natürlich wie bisher auf unserer Website bestellen (www.derive.at). Dort sind auch die Inhaltsverzeichnisse aller Ausgaben und einige Texte nachzulesen.
Die dritte Neuerung ist, dass es ab sofort einen ermäßigten Abonnementpreis für StudentInnen gibt. Dieses StudentInnenabo zum Arme-Schlucker-Tarif kostet mit 14 Euro für ein Jahr (vier Hefte) kaum mehr als bei so manchen geistesverwandten Zeitschriften ein einziges Heft. Der Normalpreis für das Abonnement, der seit der ersten Ausgabe – und die ist vor immerhin fast sieben Jahren erschienen – nicht geändert wurde, liegt nun ebenso wie der Preis des Einzelheftes (in Österreich) etwas höher und beträgt wohlfeile 18 Euro. Und wer seiner besonderen Wertschätzung für dérive Ausdruck verleihen will, nutzt die Gelegenheit des dérive-Förderabos um immer noch sehr schmackhafte 35 Euro für vier Ausgaben.
Neben dem Schwerpunkt Stadt hören und dem Kunstinsert von Michael Blum erwartet Sie in dieser Ausgabe ein Essay von Daniel Kalt, dem Autor der dérive-Serie über Street-art, in dem er sich unter anderem darüber Gedanken macht, welche Faktoren „Scheitern“ und „Funktionieren“ von Kunst im öffentlichen Raum bedingen und was „Scheitern“ in diesem Zusammenhang überhaupt bedeuten kann. Als Beispiel dient Kalt dafür diesmal „durchaus ,legale‘ und offiziell beauftragte Kunst im öffentlichen Raum“.
Philipp Rode streift ein zweites Mal für uns durch Sofia und widmet sich diesmal der – wie man das vor einiger Zeit noch nannte – Peripherie, die durch das Unbestimmte, Undefinierte und Vergängliche gekennzeichnet ist und die in den letzten Jahren ins Zentrum der fachlichen Aufmerksamkeit gerückt ist. Dazu passend gibt es weiter hinten im Heft eine Buchbesprechung von Robert Temel über Susanne Hausers und Christa Kamleithners Buch Ästhetik der Agglomeration.
Eine kritische Analyse der Neubewertung des zu seiner Zeit extrem einflussreichen New Yorker Stadtplaners Robert Moses, dem nach Jahren der Nichtbeachtung derzeit gleich drei Ausstellungen in New York gewidmet sind, unternimmt für dérive Johannes Novy.
Manfred Russos Serie über die Geschichte der Urbanität schlägt mit Folge 19 ein neues Kapitel auf: Utopie I. Der Einbruch der Zeit in die Stadt.
Eine spannende Lektüre wünscht
Christoph Laimer
Inhalt
Schwerpunkt
Zum Schwerpunktthema „Stadt Hören“ | Peter Payer
Hör-Platz der Moderne. Zur Genese urbaner Soundscapes | Peter Payer
Die Töne der Globalisierung. Beobachtungen aus Zürich | Hans-Peter Meier-Dallach
Muzaks Macht. Ein Beipackzettel zum Einsatz von Musik im urbanen Raum | Michael Parzer
Auf dem Weg zu einer Klangarchitektur | Louis Dandrel
Auditive Architektur | Alex Arteaga, Thomas Kusitzky, Christoph Gehr
Wo die Ohren Augen machen. Über das Hören in der „Musikstadt Wien“ | Martina Nußbaumer
Akustische Fotografien. Der Radiojournalist Peter Waldenberger im Interview über die Praxis des Stadt-Hörens | Peter Payer
Kunstinsert
Istiklal Allee (bis 2066) von Michael Blum
Magazin
Schiefgegangen? Vom Scheitern der Kunst im öffentlichen Raum | Daniel Kalt
Ein Comeback für den „Power Broker“? New York erinnert sich an Robert Moses | Johannes Novy
Die Ränder der Stadt – Negativräume im postsozialistischen Sofia | Philipp Rode
Serie: Geschichte der Urbanität – Teil 19
Utopie I. Der Einbruch der Zeit in die Stadt | Manfred Russo
Besprechungen
Qualifizierung der Zwischenstadt
Robert Temel über Susanne Hausers und Christa Kamleithners Buch Ästhetik der Agglomeration
Wo ist zu Hause, Genossin?
Iris Meder über den Band Heimat Moderne herausgegeben vom Experimentale e. V
Beyond Sound Art
Axel Stockburger über die Ausstellung Ear Appeal in der Kunsthalle Exnergasse
Wie wird Wien gebaut?
Robert Temel über Reinhard Seiß’ Buch zur Wiener Stadtentwicklung: Wer baut Wien?
Der Konsum des eigenen Lebens
Susanne Karr über Zygmunt Baumans Essays Flaneure, Spieler und Touristen
Vom Trafalgar Square ins Linzer Franckviertel
Paul Rajakovics über die beiden Ausstellungen revisit: Urbanism Made in London und revisit: Linz Franckviertel im Linzer afo
Das Elend der Welt
Christoph Laimer über Mike Davis neues Buch Planet der Slums
Ansichtssachen
Sonya Laimer über die beiden Fotobücher Wien: Momente einer Stadt von Paul Albert Leitner und Wien – gestern und heute von Lászlo Lugo Lugosi
Vom Gehen, vom Lümmeln, vom Knien
Iris Meder über die Ausstellung Lessons from Bernard Rudofsky im Architekturzentrum Wien
Landschaft und Film
Tina Hedwig Kaiser über die - Berlinale 2007
Pfade, die sich verzweigen
Stefanie Krebs über Mirjam Schaubs Janet Cardiff – The Walk Book
Bombay: Stadt der Extreme
Christoph Laimer über Suketu Mehtas Buch Maximum City – Bombay
Von der Subkultur zum Standortvorteil
Bernd Hüttner über Philipp Klaus’ Buch Stadt, Kultur, Innovation. Kulturwirtschaft und kreative innovative Kleinstunternehmen in der Stadt Zürich
Abo-Beilage: Ulrich Troyer: Sehen mit Ohren (CD mit 24-seitigem Booklet)
Schwerpunkt „Stadt Hören“
(SUBTITLE) „Mein Ohr steht auf der Straße wie ein Eingang.“
Dieser Satz Robert Musils könnte paradigmatisch für den aktuell zu bemerkenden Trend zur Beschäftigung mit den Klängen und Geräuschen der Stadt stehen. In zahlreichen wissenschaftlichen, künstlerischen und medialen Projekten wird dem Hören (in) der Stadt nachgeforscht, und auch Urbanistik, Architektur und Stadtplanung widmen sich in zunehmendem Maße unserer akustischen Umwelt. Grund genug also, um im vorliegenden Schwerpunktheft von dérive einige Aspekte dieses Diskurses aus transdisziplinärer Sicht zu beleuchten.
Zu Beginn werden jene fundamentalen akustischen Veränderungen dargelegt, denen die europäische Stadt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unterworfen war. Urbanisierung, Industrialisierung und Technisierung ließen eine allerorts wahrnehmbare neue Geräuschkulisse entstehen, deren Zusammensetzung und Qualität sich völlig anders als bisher darstellte. „Lärm“ und „Großstadtwirbel“ wurden zu Inbegriffen der neuen Zeit, deren akustische Emanationen man – bis heute – in unterschiedlichsten Strategien zu bewältigen sucht.
Dass Städte auch an der Wende zum 21. Jahrhundert einem merkbaren akustischen Wandel unterliegen, verdeutlicht der Schweizer Soziologe Hans-Peter Meier-Dallach. Er beschäftigt sich am Beispiel von Zürich mit den akustischen Auswirkungen der Globalisierung, die sich u. a. in einer Nivellierung der „Welttonhalle“ und einem zunehmend lautloseren Fließen der Geldströme manifestiert.
Ein ebenfalls globales Phänomen ist die allerorts anzutreffende Hintergrundmusik („Muzak“), deren Entwicklung, Rezeption und (fragwürdiger) Wirksamkeit der Wiener Musiksoziologe Michael Parzer nachgeht.
Qualitativ hochwertige Architektur aus Tönen zu errichten, ist vornehmstes Ziel des renommierten französischen Komponisten und Klangdesigners Louis Dandrel. Er stellt seine ersten, in den Jahren 1988 bis 1990 in Hongkong und Osaka realisierten Projekte vor, in denen er auf pointierte Art auf die jeweils herrschenden Soundscapes reagierte.
Dass Klangdesign im öffentlichen Raum gegenwärtig auch in Deutschland zum Thema wird, zeigt ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der Universität der Künste in Berlin: Auditive Architektur. Alex Arteaga, Thomas Kusitzky und Christoph Gehr berichten über die neue künstlerisch-wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit der Gestaltung des Klangs und der Klangumgebung von Bauwerken beschäftigt.
Wohl keine andere Stadt der Welt wird so oft mit Tönen assoziiert wie Wien. Wie sich das Label „Musikstadt Wien“ entwickelte und welche politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren dabei bis heute eine wesentliche Rolle spielen, analysiert die Wiener Kulturwissenschaftlerin Martina Nußbaumer.
Seine langjährige Erfahrungen mit urbanen Soundscapes schildert schließlich der Wiener Radiojournalist Peter Waldenberger, der für die Ö1-Sendung Diagonal bislang mehr als zwanzig Städteportraits gestaltet hat – für viele der akustische Erstkontakt mit bisher unbekannten Hör-Räumen.
Dass Blinde und Sehbehinderte die Stadt akustisch intensiver erleben, ist evident. Der Wiener Musiker und Klangkünstler Ulrich Troyer spürte dem in einem Forschungsprojekt nach, dessen spannende Ergebnisse – künstlerisch verarbeitet – auf der CD Sehen mit Ohren erschienen sind. Sie ist für AbonnentInnen von dérive als kostenloser „Bonustrack“ beigelegt.
Ich bedanke mich sehr herzlich bei allen AutorInnen und InterviewpartnerInnen, die für dieses Schwerpunktheft Beiträge, Informationen und Abbildungen zur Verfügung gestellt haben.
Christoph Laimer sei gedankt für seine spontane Bereitschaft, das Thema Stadt & Hören in dérive aufzunehmen.dérive, Fr., 2007.04.13
13. April 2007 Peter Payer
Die Töne der Globalisierung
(SUBTITLE) Beobachtungen aus Zürich
Globalisierung sehen, sehen und sehen, zum Beispiel am Fernseher zwischen hundert Sendern switchen, die Bilderflut durchrauschen. Wir sind „just landed“ auf dem Flughafen von Zürich; die führerlose Bahn gleitet geisterhaft vom einen zum anderen Trakt. Die Hallen sind frei von Widerhall. Das Sounding ist clean; dann muhen Kühe, das Chalet Suisse bringt Töne und Holz ins Spiel ein. Die Ankunft ist Therapie. Globalisierung und ihre Beschwörung kann man auch hören.
Hört sich die Welt flach an, so ganz nach dem gängigen Slogan von Thomas L. Friedman „The world is flat?“ Manche, die viel reisen, bejahen diese Frage. In Zürich, Wien, Sevilla, New York oder Moskau, weltweit vernimmt man ähnliche Töne. Nivellierung, Angleichung und Monotonie nehmen zu, besonders wenn man in die großen Waren- und Shopping-Arenen geht. Folgen die Geräusche und Töne im Zuge der Globalisierung dem Satz von Adam Smith, seiner politischen Ökonomie? [1] Er hatte die Weltökonomie im Auge. Er setzte das Jahresprodukt für jedes Land aus drei Ordnungen zusammen: jene, die von der Bodenrente leben, jene, die vom Lohn existieren und solche, die im Profit schwimmen. Die drei Ordnungen sind konstitutiv, meint er, für jede zivilisierte Gesellschaft.
Wir spielen etwas mit diesem Lehrsatz und deuten den Globus als eine Welttonhalle. Globalisierung ist dann ein Prozess, der sich hören lässt: In jedem Land gibt es drei Tonordnungen, Töne und Geräusche, die aus dem Besitzstand des kulturellen Bodens leben, solche, die aus der Arbeit der Menschen entstammen und Töne, die im Luxus ihr Eigenleben führen. Wir erkunden diese Hypothese am Fallbeispiel von Zürich. [2]
Töne aus der Bodenrente trifft man in Zürich am Bellevue bei einem Föhneinbruch an. Die lauten würdigen Zürcher Trams klingen, rattern und dröhnen noch ganz aus Eisen und Metall; ihre Töne verstärken sich. Die Geräusche der Eisenbahnzüge vom gegenüber liegenden Seeufer schwellen an. Das Föhnfenster Richtung Alpen hellt sich gelb-rötlich auf. Das Stimmungsbild legt sich über all die vielen kleinen Stimmen-, Geräusch- und Tongebilde. Die Stimmungsformation lebt aus der Bodenbeschaffenheit, der Tektonik, dem Klima, dem Wetter. Wenn man Wien, Moskau oder Paris kennt, ist es klar – diesen Tag gibt es nur in Zürich, der Stadt zwischen den Moränen, die der Föhn noch kleiner macht als sie eigentlich ist.
„Paris s’éveille.“ Die Geräusche aus der Arbeitszone klingen anders. In den Tönen hört man, wie die Stadt arbeitet, sich bewegt oder vergnügt. Man schließt die Augen und hört sich die Laute an: die Schritte der PassantInnen, Gesprächsfetzen, die Signale von Vehikeln und zuweilen die Laute von Hunden. Dazu gehört das Rattern der fahrbaren Einkaufstaschen und Reisekoffer. Die Töne entstehen aus schnellen Bewegungen der in die gleiche Richtung eilenden Menschen; die Geräusche vereinen sich zu einem Fluss, weil sich die Töne der einzelnen Schritte verlieren wie die Details in einer unscharfen Photographie. Wenn man die Augen öffnet, ist man nicht überrascht: Man blickt zurück auf den Bahnhof, wo sich das dreistellige Netz der Geräuschmaschine kreuzt, die S-Bahn-Linien im Sous-Terrain, die Trams an der Oberfläche und die Züge hin und zurück zum Flughafen.
Die hektischen Geräusche der PassantInnen, der Töne aus der Arbeit, begegnen den Tönen, die im Luxus ihr Eigenleben führen. Die Töne der Luxus- und Profitzone sind anders. Sie kümmern sich wenig um Boden oder Arbeit. Sie haben sich wie ein Profitcenter organisiert. Sie schweben aus Lautsprechern, Sound-Anlagen und den öffentlichen oder privaten Systemen der Tonkreation und -übertragung. Zuletzt ist ganz vorsichtig, aber immer stärker das Internet hinzugekommen. Diese Tonordnung hat sich in den letzten Jahren verselbständigt. Sie durchdringt schleichend die Geräusche aus Arbeit, Bewegung, Tätigkeit und Mühe. Sie arbeitet bewusst mit Animation; sie stimmt ein, verlockt, dämpft. Sie versucht in Konsumrevieren Lustordnung zu sein.
Die These von Thomas L. Friedman – die Welt ist flach – heißt übertragen in die Welttonhalle, dass die drei Ordnungen auf der Erde ähnlich werden. Mit der Bildung der einen Welt, OneWorld, formen sich auch die lokalen Ton- und Klangreiche ähnlich. Die akustische Globalisierung steht nach dieser These vor der Tür. Wir überprüfen diese These in Zürich und wählen Stationen aus, wo man den Puls der Globalisierung spüren und hören kann, Orte, wo sich globale und lokale Töne mischen.
Weltgeldgesellschaft – die Schweigende
Zürichs Rolle als Banken- und Finanzplatz ist bekannt. Durch die Stadt fließen Ströme von Geld, Wertpapieren, Aktien. Das Geld rollte schon früher ohne großen Lärm. Ich höre es aber noch rollen; damals in den 1960er Jahren war das Geld noch versilbert, schwerer und klingend. Die Schritte der ein- und ausgehenden Broker im Börsengebäude widerhallten kräftiger, und die Bügelfalten der Anzüge waren schneidender als heute. Die Schalterdame besprach das Geld durch die Begrüßung und Verabschiedung; die Stimme klingt noch nach von meinem letzten Besuch vor dem Wechsel zur Karte. Dann die Automaten – Tippgeräusche, das innere Rauschen im Automaten, das Klicken, das leichte Zischen der Noten, das Schnappen und Weggehen. Noch stiller und rasanter die Tonfolgen im Warenhaus; ein Zischgeräusch nimmt die Karte ein und wirft sie aus – ohne Nebentöne. Die Geräusche aus Aktivitäten und der Arbeit mit Geld sind ruhig, ja zuweilen unheimlich still geworden. Das Klingen der Münzen wurde zum Rauschen oder Zischen, bis es in den virtuellen Medien ganz verstummt. Man spürt dies im Perimeter der Banken, schon vor dem Öffnen der automatischen Glastüren. Die Geldgesellschaft liebt das Schweigen. In Zürich ist dieses omnipräsent; man spürt es in der Diskretheit und darin, wie diese das Bild der Stadt bei AusländerInnen und SchweizerInnen prägt. Zürich ist und bleibt eine stille Stadt – im Image und als Realität.
Weltverkehrsgesellschaft – die Nähe zur Ferne
In der Erinnerung an die 1960er Jahre hörte man die internationale Gesellschaft auf dem Hauptbahnhof und an der Bahnhofstrasse. Der Verkehr dröhnte und rauschte um die Bahnhofsanlage, die noch ganz Fläche ohne unterirdische Passagen war. Die dritte Tonordnung hörte man noch kaum, und selbst die Lautsprecher offenbarten sich im Befehlston. Der Flughafen hob sich als Ton- und Geräuschlandschaft klar vom Bahnhof ab. Was ist in Zürich einmalig, wenn man heute vom Bahnhof zum Flughafen fährt? Es ist die Nähe in die Ferne; man hat kaum die Stimme für die Abfahrt gehört, folgt jene, die den Flughafen ansagt. Man nimmt die letzten Töne der Stadt direkt mit ins akustische Gewebe, das den Flugpassagier bis zum Abflug einhüllt. Kontraste und Vielfalt liegen ohne Pausen ganz nah zusammen – wie zwei kurz aufeinander folgende Crescendos. Man hat – in der Schweiz allgemein – fast immer zu wenig Zeit, um sich zurückzulehnen, Pausen zu genießen, z. B. auf einer Fahrt von Heathrow nach London City.
Weltfluchtgesellschaft – die Schnelle
Zürich hörte sich in den 1960er bis -70er Jahren noch wie eine Stadt an, die aus ihren Eigentönen lebte. Heute ballen sich jeden Morgen die Pendlergeräusche vor allem an den Eintrittsstellen in die Stadt, an den Bahnhöfen. Die Agglomeration ist auf der Flucht in die Stadt und am Abend zurück aus der Stadt. Die Pendlerzüge sind spezielle Tongefüge; meist kaltes Schweigen, mit dem Rauschen von Gratiszeitungen, Gesprächsfetzen und Musik, die eigentlich nicht aus den Ohrmuscheln dringen sollte. Etwa ab sieben Uhr nehmen die Laute der schnellen Schritte, der hastigen Gesprächsfragmente am Handy, ausgelassene Töne von SchülerInnen zu. Die für die Schweiz typische Raffung der Landschaft, die hohe Dichte von Haltestellen, lässt Geräusche und Töne kaum ausklingen. Schnelligkeit und Dichte verbinden sich im tonalen Gefüge. In Zürich kann man in kurzen Abständen die Töne ganz unterschiedlicher Quartiere und BewohnerInnen hören.
Zürich im Eventrausch – Weltrauschgesellschaft.
Die Stadt Zürich hat sich in den letzten Jahren in die Richtung zur Eventstadt hin bewegt. In der Tat hören wir in den neuen Trendhallen und Lokalen in Zürich West und an vielen anderen Orten schrille Töne. Der Sechseläuteplatz ist fast ununterbrochen bespielt – die Bahnhofshalle rauscht mit – sie, das eigentliche Tonhalle-Heiligtum der Stadt mit dem Engel über dem Gewoge. Tonal gesehen hat das stille Zürich vom Paradeplatz tatsächlich ein zweites, lautes Gesicht bekommen. Die Love Parade war dabei ein Antrieb, aber auch die vielen Leerräume, welche das Verstummen der Industriemaschinerie hinterlassen hat.
Adam Smith kann man als Vater des Szenarios Entwicklung zu einer einheitlichen Welt sehen. Folgen ihm auch die Töne? In vielem gibt es andere Beobachtungen. Konstantin Leontjew, [3] ein Sozialphilosoph im ausgehenden 18. Jahrhundert, hält dem liberalen Ökonomen ein starkes Bild entgegen. Die Tonordnungen leben primär aus der „Bodenrente“. Sie sind, meint er, gleich wie Gesellschaften Organismen einer bestimmten Kultur. Die einzelnen Töne sind wie die Individuen und Gruppen despotisch eingebunden in diesen ganzen Organismus; Töne, die ausfallen oder ausbrechen, sind so verderblich wie das Herz, das seine Pflicht zum Ganzen nicht mehr ausüben will. Die Welt der Töne ist nicht flach, sondern sehr vielfältig und einmalig. Die Töne suchen die Despotie der Eigenart – sie sammeln sich und revoltieren gegen die Abflachung und gegen eine Welt der Oberfläche, OneWorld. Die akustische Globalisierung hat – nach dieser These – den Kampf überhaupt nicht gewonnen; er ist offen. Wir hören leicht aus dieser Annahme eine moderne Stimme der Soziologie – Samuel Huntington. Er neigt zu der Ansicht, dass der Kampf der Kulturen für die Zukunft bestimmend sein wird.
Was meinen die Töne und Geräusche selbst zu den Thesen? Ich bin am Vorabend aus Moskau in Zürich gelandet und schreite – es ist Sonntagmorgen – durch die Stadt. Ich höre eine Cobra-Tram fast lautlos vorüber gleiten, höre aber die Domglocke dafür etwas lauter. In Warschau, Moskau oder Berlin fliehen die Geräusche flach auseinander; die Bodenrente ist hier die schnelle Flucht in die endlosen Tiefebenen hinaus. Ich höre in Zürich, wie die Töne und Stadtgeräusche wie eh und je auseinander streben, um wieder von den Abhängen der Moränen zurück zu kehren. Die Töne leben aus dieser Bodenrente; bleiben wirksam auch ohne Föhn und quietschende alte Trams.
[ Autor: Hans-Peter Meier-Dallach ist Soziologe und Leiter von cultur prospectiv/Institut für sozialwissenschaftliche Forschungen in Zürich. Präsident der World Society Foundation. Zahlreiche internationale und transdisziplinäre Ausstellungsprojekte und Publikationen. ]dérive, Fr., 2007.04.13
[1] „… those who live by rent, who live by wages, who live by profit. These are the three great, original, and constituent orders of every civilised society, from whose revenue that of every other order is ultimately derived.“ (Adam Smith, 1776)
[2] Vertiefter mit dem soziologischen Hintergrund beschäftigt sich der Artikel „Die Stadt als Tonlandschaft“ (Meier-Dallach, H. P .et al.1992).
[3] Konstantin Leontjew ist ein typischer Vertreter des konservativen Russlands in der großen Debatte der Sozialphilosophie. Sie warf im 19. Jahrhundert große Wellen. Er sagt etwa: „Der liberal-egalitäre Prozess ist das Gegenprinzip zum Prozess der Entwicklung. In diesem hält eine Idee im Inneren den Gesellschaftskörper stark zusammen, (...) begrenzt die auseinander strebenden zentrifugalen Tendenzen.“ Er wendet sich kategorisch gegen Fortschritt, Liberalisierung, Gleichheit oder Individualisierung und meint: „Der Kampf gegen jeden Despotismus, jenen der Stände, Werte, Klöster – ja sogar gegen den Despotismus des Reichtums, ist nichts anderes als ein Verfallsprozess, die Nivellierung der morphologischen Kontraste, die Zerstörung der Eigenart (...) des Gesellschaftskörpers.“
Literatur
Friedman, Thomas L. (2005), The world is flat. A short history of the twenty-first century. New York: Farrar, Straus and Giroux.
Huntington, Samuel P. (1998): The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon Schuster.
Meier-Dallach, H. P. & Meier, H. (1992). Die Stadt als Tonlandschaft. Beobachtungen und soziologische Überlegungen. Sociologia Internationalis, Sondernummer Gesellschaft und Musik, Beiheft 1, Berlin: Duncker & Humblot. S. 415-428
Walicki, Andrzej (1973): Rosyjska filozofia i my´sl spo_eczna od O´swiecenia do marksizmu. Warszawa: Wiedza Powszechna.
13. April 2007 Hans-Peter Meier-Dallach
Ein Comeback für den „Power Broker“?
(SUBTITLE) New York erinnert sich an Robert Moses
Er selbst verglich sich gerne mit Baron Haussmann, den er für seine großangelegte Modernisierung von Paris bewunderte. [1] Seine Gegner erinnerte er dagegen mitunter an Josef Stalin, mit dem ihn die Überzeugung verband, dass der Zweck noch jedes Mittel gerechtfertigt habe. [2] Die Rede ist von Robert Moses, dem „Masterbuilder“ von New York, der als einflussreichster und zugleich umstrittenster amerikanischer Stadtplaner der Moderne in die Städtebaugeschichte einging.
Viele Vorhaben, die Moses im Laufe seiner beispiellosen Karriere im öffentlichen Dienst realisierte, wie zum Beispiel das Lincoln Center oder die zahlreichen öffentlichen Schwimmbäder und Parks, die Moses im Rahmen der Investitionsprogramme des New Deal errichten ließ, werden bis heute sowohl von ExpertInnen als auch von New Yorker BürgerInnen geschätzt. Und trotzdem sind es weniger die Errungenschaften Moses’ als vielmehr seine verschrobene Persönlichkeit, seine fragwürdigen Methoden sowie die häufig zerstörerischen Folgen seines Handelns, die das Bild von Robert Moses in der Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten prägten.
Entscheidend zu diesem Bild Moses beigetragen hat Robert Caros 1974 erschienene und 1975 mit der Pulitzer-Preis augezeichnete Biographie The Power Broker - Robert Moses and the Fall of New York[3] Caros über 1200 Seiten schweres Epos, das in den USA zu den Klassikern der Stadtliteratur zählt, präsentiert Moses’ Leben als eine Art Faustsche Tragödie. 1881 als Sohn deutsch-jüdischer Eltern in Connecticut geboren, habe Moses seine Karriere im Bau- und Planungsbereich als Idealist begonnen, der wichtige Reformen im Staat New York und in New York City durchführte, das Vertrauen in den bis dato von Korruption und Inkompetenz geprägten öffentlichen Sektor wiederherstellte und der Region zwischen 1920 und 1950 durch eine Reihe wegweisender Infrastrukturprojekte – Brücken, Tunnels, Parks und Wohnungen – ein neues Antlitz verlieh. Der Erfolg seiner Projekte, sein politisches Know-how sowie sein Talent, sich als effizienter und selbstloser Bürokrat in der Öffentlichkeit zu profilieren, erlaubten es Moses, wie Caro schreibt, so gut wie alle wichtigen Ämter im Bau- und Planungsbereich New Yorks in sich zu vereinen und seine dem Leitbild der städtebaulichen Moderne verpflichtete Vision einer ganzheitlichen und umfassenden Überplanung New Yorks voranzutreiben – gegebenenfalls auch ohne demokratische Legitimation. Frühere Projekte Moses‘ wie Jones Beach, die Triborough Bridge, Riverside Park oder Stuyvesant Town waren, wie Caro anerkennt, obwohl sie häufig die soziale Herkunft des aus wohlhabendem Hause stammenden Moses widerspiegelten, qualitätvoll, städtebaulich bedeutend und deshalb zurecht populär.
Bei vielen seiner späteren Projekte, wie z.B. dem von ihm geplanten Autobahnnetz in Lower und Midtown Manhattan, sah sich Moses hingegen mit massiven Protesten konfrontiert. AktivistInnen wie Jane Jacobs beklagten, dass Moses der Stadt nach Gutsherrenart seinen Willen aufdrückte und New Yorks städtebaulicher Integrität und sozialer Balance durch einen beispiellosen Prozess „kreativer Zerstörung“ schweren Schaden zufügte. Eine Entfremdung zwischen Moses und dem von ihm verkörperten Planungsverständnis auf der einen und einem wachsenden Teil der New Yorker Bevölkerung auf der anderen Seite war die Folge. Moses setzte seine stetig radikaler werdenden Umbauvorhaben Caro zufolge unbeirrt fort und verwandelte sich, statt auf die wachsenden Proteste zu reagieren, zusehends in einen destruktiven, amoralischen und auf seinen eigenen Machterhalt bedachten Egozentriker, bevor er nach einer Reihe politischer Niederlagen und Skandale 1968 sein letztes wichtiges Amt als Vorsitzender der Triborough Bridge and Tunnel Authority verlor. Moses’ ursprünglicher Nimbus als nahezu allmächtiger, jedoch dem Allgemeinwohl verpflichteter Masterbuilder, so bilanziert Caro, war zerstört, und mit ihm der Ruf der von Moses personifizierten modernen Stadtplanung im großen Stil.
Lange Zeit genoss The Power Broker eine Art Deutungshoheit über Moses’ Leben und Schaffen betreffende Fragen. Als hätten HistorikerInnen und StadtforscherInnen Caros Biographie nichts hinzuzufügen oder wollten es nicht auf einen Vergleich mit ihr ankommen lassen, blieb The Power Broker über mehr als drei Jahrzehnte die einzige ausführliche und breit rezipierte Arbeit, die sich mit dem Lebenswerk des New Yorker „Planungszars“ beschäftigte.
Bis heute. Jetzt, 33 Jahre nach der Erstveröffentlichung von The Power Broker, bekommt Caros Sicht der Dinge erstmals ernsthafte Konkurrenz. Mit Robert Moses and the Modern City hat Anfang Februar in New York eine Ausstellung eröffnet, die Caros Einschätzung in Frage stellt und den Masterbuilder in einem anderen, ungleich positiveren Licht erscheinen lässt.
Robert Moses and the Modern City ist ein Gemeinschaftsprojekt des Museum of the City of New York, des Queens Museum of the Arts und der Wallach Gallery der Columbia University und besteht aus drei Teilen. Remaking the Metropolis im Museum of the City of New York widmet sich Moses’ wichtigsten städtebaulichen Projekten und bietet einen Überblick über den maßgeblich auf Moses’ Initiative zurückgehenden Wandel New Yorks zwischen 1934 und 1968. Die in der Wallach Gallery gezeigte Ausstellung Slum Clearance and the Superblock Solution beleuchtet die von Moses durchgeführten Slumbeseitigungs- und Stadterneuerungsmaßnahmen der 1950er und 1960er Jahre. Und The Road to Recreation am Queens Museums of the Arts hat Moses’ Tätigkeit als Parkbeauftragter zum Thema und widmet sich den von ihm errichteten öffentlichen Parks und Stränden sowie ihrer Erschließung durch Park- und andere Highways.
Zusammen bieten die drei Ausstellungen einen in diesem Umfang bislang nicht dagewesenen Überblick über Moses’ Lebenswerk und seinen Einfluss auf die gebaute Umwelt New Yorks und seiner Umgebung. Dutzende, zum Teil bisher nicht öffentlich gezeigte Originalaufnahmen, -dokumente und Modelle geben Aufschluss über nahezu alle Vorhaben während Moses’ langer Karriere im Bau- und Planungsbereich, während eine Reihe großformatiger Fotos von Andrew Moore AusstellungsbesucherInnen den heutigen Zustand einzelner Projekte vor Augen führt und ihre heutige Bedeutung im New Yorker Stadtbild zeigt.
Bewusst richten alle drei Ausstellungen dabei den Blick der Öffentlichkeit auf Robert Moses’ Rolle als Modernisierer. Als Mann, der New York trotz Großer Depression und anderer Krisen nicht aufgab und der Metropole stattdessen durch seinen Mut zur Vision und seine Fähigkeit „to get things done“ zu ihrer heutigen Bedeutung verhalf. Der Gegensatz zu Caros The Power Broker könnte drastischer nicht ausfallen: Während Caro Moses in den 1970er Jahren wegen seines politischen Machtmissbrauchs und seiner Zerstörungswut für den damaligen Niedergang New Yorks mitverantwortlich machte, feiert Robert Moses and the Modern City Moses als Visionär, der durch seinen Zukunftsglauben und seine Tatkraft die Weichen für den heutigen Erfolg und Wohlstand der Stadt legte. Zwar leugnen die AusstellungsmacherInnen um die Architekturhistorikerin Hillary Ballon nicht, dass viele Baudenkmale und Wohnquartiere Moses’ in Beton gegossenem und in Form von Schnellstraßen und Großsiedlungen daherkommendem Forschrittsglauben zum Opfer fielen. Auch bestreiten sie nicht, dass Moses die vielschichtigen sozialen Ungleichheiten in New York durch Projekte eher verstärkte als entschärfte. Diese und andere negative Seiten Moses’ finden Erwähnung, werden aber häufig mit Hinweis auf den gesellschaftspolitischen Kontext, in dem Moses agierte, relativiert. Nicht Moses’ eigene Vorurteile, sondern der damalige Geist der Zeit sei für die Diskriminierung von AfroamerikanerInnen und anderen Minderheiten im Rahmen der von Moses vorangetriebenen Slumbeseitigungs-, Verkehrs- und Wohnungsbaupolitik verantwortlich gewesen, ist zum Beispiel einem Beitrag von Kenneth Jackson im Begleitkatalog der Ausstellungen zu entnehmen. [4] Und auch der von Moses kompromisslos vorangetriebene Ausbau des motorisierten Individualverkehrs zu Lasten öffentlicher Verkehrsmittel sei in erster Linie auf das damals vorherrschende Planungsleitbild der autogerechten Stadt und nicht so sehr auf Moses’ eigene Überzeugungen zurückzuführen.
Während Robert Caro versuchte, Moses’ Taten unter Heranziehung seiner Persönlichkeit und seines Werdegang zu verstehen, begreifen Hillary Ballon und ihre KollegInnen Moses eher als Produkt seiner Zeit – zumindest dann, wenn sie seine Schattenseiten thematisieren. Dieser Ansatz ist nicht unproblematisch. Denn obwohl es richtig ist, dass Moses keinesfalls für alle Verfehlungen seiner Zeit verantwortlich gemacht werden kann, drängt sich mitunter der Eindruck auf, dass die KuratorInnen mit zweierlei Maß messen, wenn sie Moses einerseits zur Ausnahmepersönlichkeit erklären, die New York durch ihr politisches Geschick und ihre Durchsetzungskraft nahezu im Alleingang in eine moderne Metropole verwandelte, viele seiner Fehlleistungen andererseits aber auf institutionelle und strukturelle Rahmenbedingungen und Zwänge zurückführen.
Dass Moses sich bei vielen seiner Projekte sehr wohl von seiner Abneigung gegenüber Minderheiten leiten ließ und soziale Katastrophen im Zuge seiner von Flächenabriss und Kahlschlagsanierung gekennzeichneten Bau- und Planungspolitik mitnichten nur achselzuckend in Kauf nahm, sondern häufig sogar absichtlich forcierte, ist in The Power Broker ausführlich dokumentiert. Caro beschreibt zum Beispiel, wie Moses für den Bau des berüchtigten Cross Bronx Expressway ganze Wohnquartiere in der Bronx abreißen ließ, obwohl dies durch eine alternative Streckenführung hätte verhindert werden können. Für diese Tat, die zehntausende BewohnerInnen obdachlos machte und ExpertInnen zufolge wesentlich zum anschließenden Niedergang der South Bronx beitrug, war nicht die damalige Autovernarrtheit des Landes oder der mangelnde Respekt der städtebaulichen Moderne gegenüber gewachsenen Stadtvierteln verantwortlich. Verantwortung trug alleine Robert Moses selbst.
Das wissen auch die AusstellungsmacherInnen, meinen aber, dass die berechtigte Kritik, mit der sich Moses besonders gegen Ende seiner Karriere konfrontiert sah, dazu geführt habe, dass viele positive Aspekte seines baulichen Erbes in der Vergangenheit nicht hinreichend gewürdigt worden seien. Man habe sich nach Moses’ Niedergang in den 1960er Jahren zu lange ausschließlich mit den Kehrseiten seines Schaffens befasst, findet zum Beispiel Sarah Henry, die stellvertretende Direktorin des Museum of the City of New York. Nun, über 25 Jahre nach Moses Tod, sei es an der Zeit, sich den Errungenschaften seiner Ära zu widmen und von ihnen zu lernen.
Nicolai Ouroussoff, der Architekturkritiker der New York Times, teilt diese Auffassung und beglückwünschte die AusstellungsmacherInnen für ihren Versuch, das längst „zur Karikatur verzerrte“ Image Moses’ als rücksichtslosen und bösartigen Bürokraten durch ein „differenziertes Portrait“ des Masterbuilders zu korrigieren.[5]
Doch es gibt auch andere Stimmen. Irritiert reagierten viele BeobachterInnen zum Beispiel auf die Nachricht, dass Robert Caro zu keinem Zeitpunkt in die Vorbereitung der Ausstellungen miteingebunden war, sondern stattdessen nur durch Zufall von ihrer Planung erfuhr. Erst auf Druck einiger SponsorInnen entschied man sich, Caro für eine Veranstaltung im Rahmenprogramm einzuladen. Bei der Diskussionsveranstaltung anlässlich der Ausstellungseröffnung Anfang Februar war seine kritische Sicht auf Moses’ Lebenswerk hingegen nicht erwünscht. [6] Ebenfalls für Aufsehen sorgt der Zeitpunkt der Ausstellungen. Nachdem New Yorks Bürgermeister Stadtentwicklung und –planung in den vergangenen Jahrzehnten weitestgehend privaten AkteurInnen überlassen hatten und sich bis auf wenige Projekte auf rahmensetzende Maßnahmen konzentrierten, scheint New Yorks heutiges Stadtoberhaupt Michael Bloomberg in Moses’ Fußstapfen treten zu wollen und hat der Stadt eine umfassende Bau- und Planungsoffensive verordnet, die deutliche Parallelen zur Ära des Power Brokers aufweist. [7] Ähnlich wie Robert Moses verfolgt Bloomberg das Ziel, New York von Grund auf zu erneuern, um – so die offizielle Darstellung – New Yorks Spitzenposition im internationalen Städtewettbewerb gegenüber KonkurrentInnen zu verteidigen oder gar auszubauen und die Stadt auf das prognostizierte Bevölkerungswachstum der nächsten Jahre vorzubereiten. Schon jetzt ist der Wiederaufbau Lower Manhattans nur noch eines von vielen massiven Großprojekten, die die Stadt in Atem halten, und viele Anzeichen deuten darauf hin, dass die Planungsskepsis, die der Ära Moses folgte, endgültig vorüber ist. Big Urbanism,8 Stadtplanung im großen Stil, feiert unter Bürgermeister Bloomberg in New York ein vor wenigen Jahren noch nicht für möglich gehaltenes Comeback, und da trifft es sich natürlich aus der Sicht der Stadtspitze gut, dass der nach seinem Niedergang in Ungnade gefallene Robert Moses jetzt von den AusstellungsmacherInnen öffentlichkeitswirksam als Visionär gefeiert wird. Seine Rehabilitierung eignet sich hervorragend, um Bloombergs umstrittene Stadtvisionen gegenüber KritikerInnen zu rechtfertigen, die klagen, dass viele seiner gigantomanischen Stadtumbauprojekte nicht demokratisch legitimiert seien und nicht genug Rücksicht auf intakte Stadtviertel und die Bedürfnisse ihrer BewohnerInnen nähmen. Der Zweck heiligt schließlich die Mittel. Oder, wie Moses es ausdrückte: „Es gibt eben kein Omelett ohne zerschlagene Eier.“
[ Autor: Johannes Novy ist Doktorand der Stadtplanung an der Columbia Universität in New York und Fellow des Center for Metropolitan Studies (CMS) in Berlin. ]dérive, Fr., 2007.04.13
[1] Moses, Robert (1970): Public Works. A dangerous trade. New York: McGraw Hill.
[2] Berman, Marshall (1988): All that is solid melts into Air. New York: Penguin Books. S.298-348
[3] Caro, Robert A. (1974): The Power Broker. Robert Moses and the Fall of New York. New York: Knopf.
[4] Ballon, Hillary & Jackson, Kenneth T. (Hrsg.) (2007): Robert Moses and the Modern City. The Transformation of New York. New York/London: W.W. Norton & Company.
[5] Ouroussoff, Nicolai (2007): Complex, Contradictory Robert Moses. In: New York Times, 2.2.2007.
[6] Schuerman, Matthew (2007): Robert Moses Returns: Power Broker spurs Car-Jackson Bout In: The New York Observer, 29.1.2007
[7] Fainstein, Susan (2005): The Return of Urban Renewal. In: Harvard Design Magazine, Spring/Summer 2005, S. 9-14.
[8] David, Haskell (2006), Big Urbanism.In New York Times Magazine, 10.12.2006.
13. April 2007 Johannes Novy