Editorial

Arbeit Leben heißt der Schwerpunkt von dérive 34. Ein Thema das vermutlich viele dérive-LeserInnen ganz persönlich betrifft. Die klaren Grenzen zwischen Privatheit und Beruf sind seit langer Zeit ebenso verschwunden wie der eine lebenslange Arbeitsplatz, der das Einkommen sichert. Für mich persönlich heißt das beispielsweise, dass ich einerseits einen Büroarbeitsplatz habe, an dem ich derzeit zwei Jobs (zwei freie Dienstverträge, ein Schreibtisch, ein Notebook, zwei Benutzerkonten, 1000 Zettel) abwechselnd (manchmal mehr oder weniger gleichzeitig) erledige und dazu natürlich auch mein Homeoffice habe, das meist abends oder am Wochenende zum Einsatz kommt. Das Notebook, das unverzichtbar zu nennen schon fast eine Untertreibung ist, wird ständig per Fahrrad hin und her transportiert. Freizeit zu genießen ohne an die Arbeit zu denken oder sie dafür zu instrumentalisieren, gelingt nicht automatisch, man muss dafür (meist gegen sich selbst) kämpfen.

Die Texte in dem von Andreas Rumpfhuber redaktionell betreuten Schwerpunkt dieser Ausgabe von dérive „beleuchten spezifische zeitgenössische Formen einer sich verändernden Architektur der Arbeit, in der Arbeit und Leben zunehmend konvergieren, was seit den 1960er Jahren in den Zentren des Kapitalismus vermehrt im Diskurs thematisiert wird.“ Alles weitere dazu in seinem einführenden Artikel.

Der Magazinteil bringt diesmal zwei Artikel, die sich mit urban design bzw. Kunst im öffentlichen Raum beschäftigen. Hilary Tsui, die sich mit der von ihr kuratierten, äußerst sehenswerten Ausstellung Cities of Desire jüngst ebenfalls mit der Thematik Street Art bzw. Kunst im öffentlichen Raum beschäftigt hat (siehe ihren Beitrag in dérive 33), hat den geschäftsführenden Direktor der Experimentadesign Biennale in Amsterdam, Wendel ten Arve, und den Kurator der Programmschiene Droog Event 2: Urban Play, Scott Burnham, für dérive interviewt. Daniel Kalt stellt die Ausstellung Zeichen-Setzung vor, die acht Beiträge rund um das Szenelokal fluc auf dem Wiener Praterstern zeigt.

Dort draußen ... im Dickicht der Weltarchitektur von André Krammer hält auf zwei Seiten Rückschau zur letzten Architekturbiennale in Venedig und Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität setzt mit dem zweiten Teil zur Moderne fort. Der Besprechungsteil ist diesmal wieder so umfangreich, dass er auf die Website ausgedehnt werden musste. Zwei Besprechungen finden sich ausschließlich dort. Die Buchbesprechungen zu dem von Elke Krasny herausgegebenen Band Urbanografien, zu Andreas Neumeisters Könnte Köln sein und zu Zukunft Alter von Volker Kreuzer u.a. werden in der kommenden Ausgabe von dérive, die Anfang April erscheinen und den Schwerpunkt Stadt & Comic haben wird, abgedruckt.

Worüber in diesem Heft eigentlich auch ausführlicher berichtet hätte werden sollen, ist das Symposium The Right to the City, das im November anlässlich des 80. Geburtstags von Peter Marcuse an der TU in Berlin stattgefunden hat. Die Veranstaltung bot Vorträge einiger der wichtigsten VertreterInnen der Critical Urban Theory, darunter beispielsweise Neil Smith und David Harvey, um neben Peter Marcuse, der nicht nur vorgetragen hat, sondern gemeinsam mit Neil Brenner (New York University) und Margit Mayer (Center for Metropolitan Studies) Mitveranstalter war, nur zwei zu nennen. Das Symposium war sehr von der Person und dem Werk Peter Marcuses geprägt und zeichnete sich durch ein außerordentliches Publikumsinteresse sowie einer äußerst positiven Aufbruchsstimmung aus. Das hatte vielleicht ein wenig mit der Wahl von Barack Obama, wenige Tage zuvor, zu tun, aber vor allem auch mit dem großen Interesse, das es im Moment für die Critical Urban Theory gibt, wie bei der Veranstaltung deutlich zu spüren war. Sämtliche Diskussionen und Vorträge der Veranstaltung können erfreulicherweise mittlerweile von der Website des Centers for Metropolitan Studiens als Audiofiles heruntergeladen werden.

Ein gutes Neues Jahr wünscht
Christoph Laimer

Inhalt

Inhalt

Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt: Arbeit Leben
Andreas Rumpfhuber

Flexibilität und Kontrolle in neuen Individualwirtschaften
Ulrike Mühlberger

Vermittelbar - Sichtbarkeit von Arbeiten und Lernen in der Stadt
Katharina Morawek

Die Arbeit, die die Freizeit in der Stadt macht
Julia Wieger

Gute Geister - Spuren unsichtbarer Arbeit in Los Angeles
Christina Linortner

Das Leben in Zellen
Gabu Heindl

Magazin

Urban Play – Catalyst for Urban Creativity
Hilary Tsui

Zeichen-Setzung
Daniel Kalt

Dort draußen … im Dickicht der Weltarchitektur
André Krammer

Serie

Geschichte der Urbanität - Moderne II: Modernismus von unten
Manfred Russo

KünstlerInnenseite

Franz Kapfer: Auf dem Dach des Hôtel des Invalides.....
Paul Rajakovics

Faits divers

Hinweise und Tipps
Anne Erwand, Elke Rauth

Besprechungen

Life Style Architektur für den Hire and Fire Alltag
Roland Schöny
Zukunft der Vergangenheit, Vergangenheit der Zukunft
Iris Meder
Vom Zauber des Zeichendreiecks
Susanne Karr
Los Angeles. Eine Autopie
Ursula Probst
Assoziationen nachzeichnen
Andreas Rumpfhuber
Option Liebe – ein „Silberstreif“ im (steirischen) Herbst
Paul Rajakovics
Baukünstler als Holzarbeiter
Heinz Kaiser
Eine Frage der Balance
Christina Linortner
Undisziplinierte Disziplinen? (Diese Besprechung gibt es nur online.)
Susanne Karr
Besser scheitern. Plädoyer für ein reset
Babara Holub
Das Ende eines Frühlings - Prag 1968
Günter Hainzl
Geh deinen Weg ruhig, mitten in Lärm und Hast
Susanne Karr
If you celebrate it, it's art
Susanne Karr
Viennale 2008 – Filme aus Landschaften (diese Besprechung gibt es nur online)
Tina Hedwig Kaiser
Urbanografien – Neue Erzählungen des urbanen Handelns
Paul Rajakovics
Vom Problem zur Ressource
Christoph Laimer
In weiter Ferne so nah
Elke Rauth

Urbanografien

(SUBTITLE) Neue Erzählungen des urbanen Handelns

Elke Krasny und Irene Nierhaus beginnen in dem von ihnen herausgegebenen Buch Urbanografien ihren einleitenden Text mit dem programmatischen Satz: „Im urbanen Handeln wird Stadt erzeugt. Städtische Repräsentationen und individuelle wie kollektive Stadtwahrnehmungen produzieren und reproduzieren Stadt als Erfahrungsraum.“ Das Buch widmet sich, wie sie im weiteren schreiben, der „Stadtforschung zwischen Kunst, Architektur und Theorie und versteht Stadträumlichkeit als Austausch zwischen Gebautem, Begangenem und in Eingriffen der Behörden, der Wirtschaft und der Städterinnen und Städter.“ Dieser sehr weit gefasste Kontext steht in einem ständigen Wechsel von AkteurInnenkonstellationen, deren Formation sie als urbanografisch bezeichnen. Jedenfalls stellen sie sich damit der sehr schwierigen Aufgabe, die Diskurse zum urbanen Handeln zu vernetzen bzw. ohne die üblichen Missverständnisse weiter zu verorten. Der aus Kunst des Handelns von Michel de Certeau abgeleitete Begriff des urbanen bzw. städtischen Handelns selbst wurde im deutschen Sprachraum erstmals wahrscheinlich erst 2000 in dem von Jochen Becker herausgegebenen Buch Bignes? Kritik der unternehmerischen Stadt einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Das 1980 in Paris erschienene Buch Art de faire (zu deutsch: Kunst des Handelns, Merve 1988) des französischen Philosophen und Theologen Michel de Certeau kann als Grundlage für Urbanografien gesehen werden und wird so auch in einem Großteil der Beiträge direkt oder indirekt als Literaturhinweis zitiert. Es kann somit als stiller Ausgangspunkt des in drei Abschnitte (Konstellationen, Interventionen und Relationen) gegliederten Buches gesehen werden.

Mittlerweile gibt es viele Bezeichnungen für Handlungen im Stadtraum und damit verbundenen urbanistischen Theorien. Über die Konstruktion von Situationen könnte hier der von Guy Debord eingeführte, aber etwas zu umfassende und damit oft missverständliche Begriff des unitären Urbanismus aus den späten 1950er Jahren als Ausgangsbasis eines auf Interaktion bezogenen Urbanismus betrachtet werden. Dieser Begriff war vielleicht zu lange Zeit und zu direkt mit der Person Debords und den späteren Krisen der Situationistischen Internationale verbunden gewesen, als dass er sich im Diskurs weiterentwickeln hätte können. Vielfach wurde daher aus dem unitären Urbanismus salopp ein situativer Urbanismus gezimmert. Der von Dennis Kaspori und Jeanne van Heeswijk eingeführte Begriff des instant urbanism wird im vorliegenden Buch nicht weiter ausgeführt, Jeanne van Heeswijk ist aber mit der Präsentation einer sehr spannenden Intervention im Buch vertreten. Elke Krasny schreibt in ihrem Beitrag vom „narrativen Urbanismus“. Er beschreibt eine subjektive Stadtwahrnehmung von Alltagswegen in Begleitung einer Urbanistin, wobei über Storytelling eine neue topologische Perspektive des Weges evoziert werden kann. Hier wäre es spannend, diese Form der „Produktion“, wie sie von der Autorin auch genannt wird, mit dem Begriff der Raumproduktion Henri Lefebvres zu verknüpfen. Dieser hat ja das Handeln bzw. die soziale Interaktion (also auch Gehen, Sprechen, wie die Praktiken de Certeaus) als Basis von Raum überhaupt gesehen und gilt auch als (kurzzeitiger) Lehrer Debords.

Irene Nierhaus widmet sich vielmehr der Darstellung von transformierten Räumen am Rande der Stadt, wie sie in den Filmen Pierr Paolo Pasolinis gezeigt werden. Dabei betrachtet sie diese Räume quasi von „außen“ als urbane Figuren des Planvollen (Planen von Raum und Gesellschaft) und des Randständigen (Brachen, Stadtrand, die Öffnung zu einem Außerhalb des Plans). Diese urbanografischen Figuren würden im ersten Fall in Lefebvres Darstellungsräumen bzw. im zweiten Fall des Randständigen in der Repräsentation von Räumen, wie sie auch in Lefebvres Revolution der Städte behandelt werden, ihren Ursprung finden. Interessant sind in diesem Zusammenhang im vorliegenden Buch die Ausführungen von Michael Müller, der historische Stadtwahrnehmungen (Francesco Petrarca und Ambrogio Lorenzetti) zum Anlass nimmt, analytische Raumqualitäten des Dazwischen und des Darüberhinaus als Kategorien einzuführen, die ein Einbetten einer „subjektiven Konstruktion“ von Stadt in ein ganzheitliches Stadtbild erlauben.

Das Buch beschreibt aber auch einige Interventionen, wie jene in Bremen von bzw. mit Elke Krasny selbst, welche unter dem Titel Ein Stadtspaziergang zu Orten der Transformation durch Rebecca Burwitz, Christa John, Ninja Kaupa, und Janne Köhne im dritten Teil (Relationen) dokumentiert werden. Immer wieder wird Bremen beispielhaft zum Ausgangspunkt urbaner Betrachtungen, wie beim Beitrag Eberhard Syrings Stadtbild, Raumbild, Leitbild, der im Sinne Kevin Lynchs das Erscheinungsbild von Städten hinterfragt und am Ende auf die offene Leitbilddiskussion verweist. Robert Temel beschäftigt sich mit den Zeitlichkeiten von Interventionen als Potenzial für Städte und führt dabei analytisch sehr klare Kategorien eines temporären Urbanismus ein (das Ephemere, das Provisorische und das Temporäre), bevor er diese über aktuelle konkrete städtebauliche Beispiele verortet.

Jeanne van Heeswijk führt uns nach Niew Crooswijk in Rotterdam, wo ein ganzes Viertel abgesiedelt wird, um danach dieses Gebiet, aber auch seine Geschichte für den neu gebauten und gentrifizierten Stadtteil missbrauchen zu können: Die „Geschichte“ des Bezirkes wird durch Abriss und Verdrängung der ansässigen Bevölkerung zerstört, um sie danach scheinheilig marketingtechnisch als Mythos wiederauferstehen zu lassen. Van Heeswijk beschreibt in Make history, not memory Widerstand, konsequente Interventionen und Manifeste für einen verzweifelten ArbeiterInnenbezirk, wo Intervention nicht Selbstzweck, sondern dringende Notwendigkeit wird.

Das Buch beinhaltet noch weitere interessante Beiträge, wie etwa jenen über „kartographische Einsätze“ vom Verein maiz, jedoch würde man sich nach dem Vorwort der beiden Autorinnen, welches sehr wohl die diskursiven Grundlagen einer Stadtforschung des „urbanen Handelns“ kurz zusammenfasst, dann auch wünschen, dass der Diskursschluss einer Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie am Ende des Buches nochmals kommentiert würde. Der letzte Beitrag von Victor Kittlausz kann diesem hohen Anspruch (des Abschlusses) nicht gerecht werden, wobei der Beitrag jedoch durchaus spannende Denkansätze beinhaltet. Insgesamt ist Urbanografien eine spannende Dokumentation eines Status Quo des temporären Urbanismus (um hier den Begriff Robert Temels zu benutzen), der uns immer noch ins Offene führt.

Elke Krasny, Irene Nierhaus (Hg.)
Urbanografien – Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie
Berlin: Reimer Verlag, 2008
208 Seiten, 39,90 Euro

dérive, Di., 2009.01.13

13. Januar 2009 Paul Rajakovics

Arbeit Leben

Seit jeher markiert und organisiert Architektur Räume der Produktion, formuliert strukturelle wie symbolische Ordnungen, die nach innen wie nach außen wirken. Es ist dabei egal, ob die Arbeitsgemeinschaften von einem/einer quasi-transzendenten HerrscherIn oder UnternehmerIn von außen gesetzt werden oder ob es selbstorganisierte Interessensgemeinschaften sind, die Architektur rahmt. Die Exklusivität der Produktionsräume ist in unterschiedlicher Art und Weise konzipiert, jedoch immer durch Verhaltensmaßregeln und Kodices reglementiert. Sie werden zudem seit jeher in Relation zum Leben – zum Wohnen und zur Freizeit – definiert. Ihre innere Logik entsteht zunächst in Abgrenzung dazu, gleichzeitig werden aber Aspekte des Lebens in ihr etabliert. So sind Produktionsstätten auch Designs, die Arbeitsbedingungen der versammelten Arbeiter und Arbeiterinnen in Differenz zu vorhandenen Lebensbedingungen modifizieren.

Brennpunkt moderner Produktionsräume ist das Arbeitsleben des Menschen, dessen Arbeitskraft an einfache, dynamische oder energetische Maschinen oder auch kyber-netische Apparate und Computer angeschlossen ist.[1] Im Innenraum wird die Arbeitskraft hervorgebracht und nimmt dort idealerweise zu. Dabei geht es mit den Mitteln der Architektur darum, eine Gruppe von Menschen zu versammeln und deren Arbeitsleben anzureichern, es produktiv zu machen, zu maximieren, es zu komponieren und zu administrieren.[2]

Arbeitsarchitektur ist Teil diskontinuierlicher Prozesse der Subjektivierung, denen entsprechend sich ArbeiterIn, LeistungsträgerIn, ArchitektIn, UnternehmerIn als Subjekt „das heißt als rationale, reflexive, sozial orientierte, moralische, expressive, grenzüberschreitende, begehrende etc. Instanz zu modellieren hat und modellieren will“,[3] und stellt mithin nicht einfach bloß neutralen Raum bereit, sondern ist als Praxis direkt auf Subjekte ausgerichtet. Als Mittel der Subjektivierung ist sie Teil einer Organisation und Repräsentation von Produktion, die das Leben durch Arbeitszeiten und Produktionszyklen rhythmisiert, organisiert und strukturiert und gleichsam die Arbeitsverhältnisse und Produktionsbedingungen spiegelt und auf sie einwirkt. So kann Arbeitsarchitektur als ein spezielles Konfliktfeld verstanden werden, das für die Produktion von Subjekten mitkonstituierend ist, wie sie im vorliegenden Heft von dérive anhand zeitgenössischer Beispiele verhandelt wird.

Die in diesem Heft vorgestellten Untersuchungen beleuchten spezifische zeitgenössische Formen einer sich verändernden Architektur der Arbeit, in der Arbeit und Leben zunehmend konvergieren, was seit den 1960er Jahren in den Zentren des Kapitalismus vermehrt im Diskurs thematisiert wird. Der Philosoph Antonio Negri und der Literaturwissenschafter Michael Hardt beschreiben diese Veränderungen als Übergang vom Massenarbeiter zum gesellschaftlichen Arbeiter. In Anlehnung an den (und gleichzeitiger Distanzierung vom) italienischen Philosophen und Operaisten Mario Tronti[4] nennen sie dies die gesellschaftlichen Fabrik:

„Die Verallgemeinerung des Fabrikregimes ging einher mit Veränderungen in der Art und Qualität der Arbeitsprozesse. Arbeit heißt in den gegenwärtigen metropolitanen Gesellschaften mit ungebrochener Tendenz immaterielle Arbeit – also intellektuelle, affektiv-emotionale und technowissenschaftliche Tätigkeit, Arbeit des Cyborg.“[5]

Negri und Hardt erweitern den traditionellen marxistischen Begriff der Arbeit durch die Vielfalt der gesellschaftlichen Produktion, die als wertschaffende Praxisform gleichermaßen natürliche Bedürfnisse, künstliche Wünsche und gesellschaftliche Verhältnisse anspricht und auch die Sphäre der Marx’schen Nichtarbeit beinhaltet. Indem Negri und Hardt Arbeit mit den Prozessen der Selbstverwertung als Möglichkeit verstehen, durch Affirmation eine andere Gesellschaft zu denken, versuchen sie subversive Kräfte zu erkennen, die Ordnungen des Kapitals und der Staatsapparate, die der Kontrolle und Ausbeutung dienen, zu unterwandern und ihnen eine radikale Alternative entgegenstellen können (Multitude).[6]

Die beiden Autoren thematisieren damit Konditionen und Modi des Lebens, die in westlichen Industriegesellschaften immer bedeutender werden, weisen auf die Veränderung der begrifflichen Konzeption, der Eigenschaften und Bedingungen der Arbeit hin, die sich zusehendes vom vormals festgeschriebenen und bestimmten Ort der Produktion löst und eine Kategorisierung von produktiver versus unproduktiver Arbeit, oder auch die Unterscheidung zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln,[7] obsolet macht. Der Begriff der gesellschaftlichen Fabrik ist einer, der „die informationelle und kulturelle Dimension der Ware hervorbringende Qualität [...] artikuliert“[8] und damit eine Form der Arbeit beschreibt, die heute zunehmend diffus wird:[9] Arbeitszeit und Freizeit vermischen sich, die eigentliche Tätigkeit wird ununterscheidbar zur Aus- bzw. Weiterbildung, das Privatleben und die Vita Activa vermengen sich, wie dies Mario Tronti bereits 1966 beschreibt:

„Wenn sich die Fabrik zum Herren der gesamten Gesellschaft aufwirft – die gesamte gesellschaftliche Produktion wird industrielle Produktion –, dann verlieren sich die besonderen Merkmale der Fabrik innerhalb der allgemeinen Merkmale der Gesellschaft. Wenn die gesamte Gesellschaft auf die Fabrik reduziert wird, dann scheint die Fabrik als solche zu verschwinden.“[10]

Natürlich existiert diese Form der Arbeit gleichzeitig zu anderen Formen der Fabrikation und Produktion, die aber zusehends aus den westlichen Industrienationen ausgelagert werden. Ihre Signifikanz liegt darin, dass sie den erstarkenden Produktionsmodus einer kulturellen Praxis und einer Diskursformation beschreibt, die Luc Boltanski und Eve Chiapello als Den neuen Geist des Kapitalismus bezeichnen und als eine neue, allgemeine Ideologie darstellen, „die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt.“[11] Dessen massenhafte Verbreitung verbinden die beiden französischen AutorInnen eng mit der Emanzipationsbewegung der 1960er Jahre und ihrer Kritik am Kapitalismus. Neue Arbeitsorganisationen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, Aufspaltung der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer (Outsourcing, Gastarbeiter, Gastarbeiterinnen), der Abbau des Arbeitnehmerschutzes und der Sozialstandards sowie die wachsende Arbeitsbelastung bei gleichbleibenden Lohn sind für Boltanski und Chiapello die sichtbaren Folgen.[12]

Dem räumlichen Aspekt einer allseits in der Gesellschaft aufgehenden Produktionsform geht dieses Heft von dérive nach. Die Artikel, die hier versammelt sind, erforschen räumliche Konstruktionen, die keiner herkömmlichen Fertigung von physischen Erzeugnissen entsprechen und sich gleichermaßen überall in unseren urbanen Agglomerationen verteilen. Die Texte verfolgen Bewegungen und spüren Formationen nach, die in den paradigmatischen Arbeitsarchitekturen der 1960er Jahre erstmals modellhaft sichtbar werden.[13] Exemplarisch sind hier zu nennen: die Bürolandschaften (1956ff.) der Gebrüder Schnelle und ihres Quickborner Teams, Cedric Price’ Fun Palace (1962-66), das Bürogebäude der Versicherungsanstalt Centraal Beheer (1968-71) des Architekten Herman Hertzberger, die Hollein’sche Fernsehperformance Mobiles Büro (1969), der Friedensaktivismus von John Lennon und Yoko Ono, das Bed-In (März und Mai 1969) in Amsterdam und in Montreal, aber auch die als Freizeitarchitekturen im Diskurs flottierenden Projekte wie Constants New Babylon oder auch die Ville Spatiale von Yona Friedman sind Beispiele, die teils reaktiv auf einen erstarkenden Diskurs, der sich in den 1960er Jahren am Denkmodell der Kybernetik und dem damit einhergehenden politischen Versprechen einer konsensualen, konfliktfreien Demokratie und am Populärdiskurs über die Freizeitgesellschaft orientiert und teils – im Blick auf eine heute erst voll absehbare Entwicklung der Arbeitsmodi und Arbeitsbedingungen – prophetisch sind.

Die Organisationsberater Gebrüder Schnelle haben eine wissenschaftlich-ökonomische Planungsmethode, die Organisationskybernetik, entwickelt, in der sie, in Verlängerung der Tradition des scientific management und gleichzeitig in Distanzierung dazu, über die diagrammatische Analyse des Informationsflusses die Arbeitsorganisation von Menschen und Maschinen optimierten und einen horizontalen, schier unendlichen, dennoch nach außen hin klar begrenzten Raum der Bürolandschaft produzierten. In dem sollten sich Menschen wie Maschinen möglichst frei, ungezwungen und dennoch einfach fassbar und kontrollierbar anordnen lassen.[14] Die innere Organisation gehorcht einer funktional differenzierten, flachen Hierarchie, in der alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Expertinnen und Experten gleichgestellt in Teams, funktional getrennt von einer disziplinarischen Instanz, selbstorganisiert und konsensual zusammenarbeiten sollen.[15]

Der Fun-Palace stellt einen netzwerkartigen Raum als Infrastruktur dar, in dem nicht mehr gearbeitet werden muss, sondern die Fort- und Weiterbildung Programm ist. Die bewegliche, räumliche Struktur ist die architektonische Repräsentation des kybernetischen Modells, das sich ohne Grenzen als gigantisches Mobile in permanenter und fortdauernder Modulation und Reform über die Welt zieht. Wie der Innenraum der Bürolandschaft wird der Raum des Fun-Palace in kleinen überschaubaren Gruppen, den Enclosures, organisiert, die als Aktivitätszonen architektonisch möglichst neutral gehalten werden, um jedes beliebige (zukünftige) Programm aufnehmen zu können.

Herman Hertzberger dagegen versucht im Bürokomplex Centraal Beheer, eine Art Kolonie in einer neuen Stadt, ein statisches Bollwerk der Arbeit als Wohnhaus zu schaffen, das er als Antithese zur Bürolandschaft versteht und das ausschließlich durch den Gebrauch, durch die aktive Appropriation der Struktur zum wohnlichen Arbeitsplatz werden kann. Hertzberger setzt in seinem Entwurf aktive, autonome und mündige Subjekte voraus, die in horizontaler Organisation kleiner untereinander abhängiger Gruppen in der dreidimensionalen Matrix des Gebäudes angeordnet werden. Die geschlossene Idealform, die noch charakteristisch für die Bürolandschaft ist, wird zur Stadt hin geöffnet und durch die Situierung eines quasi-öffentlichen Konsumraumes hybridisiert. In Material und Organisation werden privater Innenraum und öffentlicher Stadtraum ununterscheidbar. Ideell gedacht beginnt der kybernetisch organisierte Raum ins Außen zu fließen und sich in der Stadt auszubreiten.

Die beiden experimentellen Architektur-projekte New Babylon des niederländischen Künstlers Constant Nieuwenhuys und die Raumstadt des israelischen Architekten Yona Friedman zählen ebenfalls zu einer Reihe von Projekten, die reaktiv den vorherrschenden Diskurs spiegeln, die Architektur u. a. durch kleine überschaubare, horizontal organisierte Gemeinschaften – Teams, wenn man so will – ordnen, die zueinander in enger Relation stehen und deren Mitglieder untereinander abhängig sind. Sie reflektieren dabei den Diskurs der Kybernetik und postulieren die unschuldige Gesellschaft jenseits jeglichen Konflikts, die durch Verflachung der Hierarchien, durch Teambildung und Feedbackschleifen, sprich durch den Umbau der Gesellschaften von einer disziplinaren hin zu einer kontrollierenden, konstruiert wird.

In seinem Projekt Mobiles Büro, das im Rahmen der Sendung Das österreichische Portrait im Dezember 1969 im österreichischen Fernsehen präsentiert wurde, inszeniert sich Hans Hollein als der hybride, global agierende Unternehmer, als Idea Man, der ein erweitertes Verständnis von Architektur hin zu einem ganzheitlichen Design propagiert und umsetzt. Hollein öffnet sich den neuen Informationstechnologien und setzt sich als virtuoser visionärer Pragmatiker ohne moralischen Impetus in Szene. Mit dem radikalen Design des Mobilen Büros macht er eine Arbeits- und Lebenssituation sichtbar und umreißt damit die Problematik, aber auch gleichzeitig die notwendigen materiellen und programmatischen Qualitäten einer Arbeitsarchitektur für den modernen, individualisierten Arbeitsnomaden: eine klimatische und psychologische Schutzhülle, die sich jeder Situation und jedem Gebrauch anpasst und die als Blase für den Einzelnen notwendigerweise adäquate technologische Anschlussmöglichkeiten für Gesellschaft beinhaltet.

John Lennon und Yoko Ono dagegen eignen sich in einem unternehmerischen Akt für ihre Vision einer alternativen Gesellschaft den hybrid gebrauchten Arbeits- und Lebensraum des Grand Hotels an. Mit dem Bed-In affimieren sie den hegemonialen Raum einer exklusiven Gesellschaft, den öffentlichen Charakter der transparenten Architektur und die Praxis der bürgerlichen Produktion, das Gespräch, für ihre verstörendes Unternehmen und drehen im Augenblick der Performance den Status des Hotelzimmers und des Bettes um. In der Performance werden das Hotelzimmer und das Bett zum Symbol eines Inklusionsraumes einer künstlerisch-unternehmerischen Praxis des Entzugs. Sie refigurieren den gewohnten Raum des Establishments für den Moment als utopischen Ort des Rückzugs als Zeichen einer anderen Gesellschaft, indem sie die künstlerische Praxis Yoko Onos mit der unternehmerischen Handlung John Lennons konvergieren lassen.

So nehmen das Mobile Büro wie auch das Bed-In Formen zeitgenössischer Arbeitsweisen und den Gebrauch von Architektur vorweg: Zum einen der flexible, permanent mobile Kreativarbeiter, der Projekte macht, zum anderen die ultimative Arbeitsutopie des Arbeitens im Bett. Sind sie jedoch für die 1960er Jahren als politische Projekte lesbar, die im Moment der Intervention die Verhältnisse, die den gewohnten Arbeitsplatz bestimmen, im Verhältnis zur Gemeinschaft neu ordnen, kippt die emanzipatorische Vorstellung des neuen Arbeitens heute dialektisch um und wird zur Norm, Arbeit wird Leben ... oder in den Worten Negris und Hardts: „Die Welt ist Arbeit.“[16]

Hier schließen die Beiträge dieses Hefts an. Sie thematisieren anhand von konkreten zeitgenössischen Phänomenen und Situationen eine Entwicklung, hinter die wir nicht mehr zurück können, und explizieren eine Forschung, die sich auf eine zeitgenössische Arbeitsarchitektur einlässt und sie als ein sich permanent veränderndes Netzwerk räumlicher Praxen versteht, das sich nicht einzig auf exzellente, herausragende Gebäude oder urbane Strukturen reduzieren lässt, sondern verschiedenste Formen von Interventionen und Vermittlungen inkludiert.

Das Heft wird von einem Text der Ökonomin Ulrike Mühlberger eröffnet. Mühlberger diskutiert die rechtlichen Konstruktionen formal Selbstständiger, die ohne MitarbeiterInnen exklusiv für eine Firma arbeiten und dort angestellten-ähnliche Bedingungen vorfinden, jedoch arbeitsrechtlich schlechter gestellt sind, und eine hybride Position zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit einnehmen müssen, in der sie einen Teil des Unternehmensrisikos tragen und gleichzeitig durch Kontrollmechanismen an einer echten Selbstständigkeit gehindert werden. Mühlbergers Beitrag rahmt mit ihrer empirischen Analyse die vier Fallbeispiele, von denen Katharina Morawek, Julia Wieger, Christina Linortner und Gabu Heindl berichten.

Den ersten Fall stellt der Themenpark Minopolis in Wien-Floridsdorf dar. Katharina Morawek, Kunstvermittlerin und Lehrbeauftragte an der Akademie der bildenden Künste in Wien, berichtet darüber, wie Kindern zwischen 4 und 12 Jahren urbanes Arbeitsleben, das ausschließlich durch Arbeit und Konsum bestimmt scheint, spielerisch vermittelt wird. Im zweiten Fallbericht begleitet die Architektin Julia Wieger den Umgestaltungsprozess des Max-Winter-Platzes als Form eines exklusiven Arbeitsprozesses der Kommunikation. Das aufgrud der Präsenz von Sexarbeiterinnen als Problemviertel deklarierte Stuwerviertel in Wien-Leopoldstadt soll durch ein exklusives partizipatives Verfahren aufgewertet werden. Dabei werden einerseits Kinder in den Arbeitsprozess integriert und andererseits die Sexarbeiterinnen ausgeschlossen. Im dritten Fallbeispiel dieses Heftes portraitiert Christina Linortner gute Geister in Los Angeles. Sie berichtet über zweierlei Arten von Ghostwritern, einerseits den working poor, die als mobile Putzkräfte, oft ohne Aufenthaltsbewilligung in den Vereinigten Staaten, meist mehrere Jobs haben und permanent in der „Stadt der Engel“ unterwegs sind, und andererseits den AutorInnen, die für andere Menschen Bücher schreiben und oftmals eine bestimmte Zeit hinweg in den Villen ihrer meist berühmten AuftraggeberInnen wohnen. Zuletzt berichtet die Architektin Gabu Heindl über ein zeitgenössisches Leben in Zellen. Heindl spannt einen großen Bogen und analysiert das Motiv der Zelle anhand verschiedener kultureller Artefakte, um auf eine spezifische Form einer aktuellen Arbeitszelle zu kommen: die Manga Kissas, die Internetcafés in Japan.

Illustriert werden die Berichte von Portraits aus der Fotoserie Reservate der deutschen Künstlerin Sinje Dillenkofer. Sie zeigen Sekretärinnen von Vorstandsvorsitzenden aus New York und verschiedenen deutschen Städten. Das inszenierte (im Original) farbige und das dokumentarisch schwarzweiße Portrait wurden jeweils am Arbeitsplatz aufgenommen. Die farblosen Bilder zeigen die Frauen in ihrer alltäglichen Arbeitskleidung und werden mit den Inszenierungen ihrer wahren oder imaginierten privaten Identitäten in Relation gesetzt und konfrontiert.


Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu Deleuze, Gilles (1993): Kontrolle und Werden, in: Ders.: Unterhandlungen, 1972-1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 243-253 (zuerst publiziert in: Futur antérieur, Nr.1, Frühjahr 1990). Im Gespräch mit Toni Negri exemplifiziert Deleuze den Übergang von den Disziplinargesellschaften zu den Kontrollgesellschaften. Dabei assoziiert er mit jedem Gesellschaftstypen einen Maschinentypen: „Jeden Gesellschaftstyp kann man selbstverständlich mit einem Maschinentypen in Beziehung in Beziehung setzen: einfache oder dynamische Maschinen für die Souveränitätsgesellschaften, Kybernetik und Computer für die Kontrollgesellschaften.“ (S. 251)
[2] Vgl. Foucault, Michel (2006): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt: Suhrkamp (Franz. Originalausgabe: 2004, Vorlesung: 1978), S. 145-150
[3] Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Göttingen: Velbrück Wissenschaft, S. 10
[4] Vgl. Tronti, Mario (1974): Arbeiter und Kapital. Frankfurt: Verlag Neue Kritik,1974 (Italienisches Original: 1966; der Text Fabrik und Gesellschaft wurde erstmals in Quaderni Rossi 2/1962 publiziert), S. 17-40. Zu einer ausführlichen Diskussion Trontis politischer Konzeption in Relation zur Architektur und zu den unterschiedlichen politischen Konzeptionen siehe: Aurielli, Pier Vittorio (2008): The Project of Autonomy, Politics and Architecture within and against Capitalism. New York: Princeton Architectural Press, vor allem S. 31-38
[5] Negri, Antonio; Hardt; Michael (1997): Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne. Berlin/Amsterdam: Edition ID-Archiv,(Original: 1994 und 177), S. 14f.
[6] a.a.O., S. 5 und 13. Zum Begriff der Multitude: Negri, Antonio; Hardt; Michael (2004): Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt: Campus, (Englisches Original: 2004)
[7] Vgl. Arendt, Hannah (2007): Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München: Pieper, (Englisches Original: 1958)
[8] Lazzarato, Maurizio (1998): Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus. In: Atzert, Thomas (Hg.); Negri, Antonio; Lazzarato, Maurizio & Virno, Paolo: Umherschweifende Produzenten. Berlin: ID Verlag, S. 39-52, hier: 39
[9] Vgl. auch: Boutang, Yann Moulier (1998): Vorwort. In: Atzert, Thomas (Hg.); Negri, Antonio; Lazzarato, Maurizio & Virno, Paolo: Umherschweifende Produzenten. Berlin: ID Verlag,
[10] Vgl. Tronti, Mario (1974): Arbeiter und Kapital. Frankfurt: Verlag Neue Kritik,1974 (Italienisches Original: 1966; der Text Fabrik und Gesellschaft wurde erstmals in Quaderni Rossi 2/1962 publiziert), S. 17-40, hier: S. 32
[11] Boltanski, Luc; Chiapello, Éve (2006): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK VerlagsgesmbH, (Französisches Original: 1999), S. 43
[12] a.a.O., S. 270-304
[13] Ich habe unter dem Titel Architektur immaterieller Arbeit meine Untersuchungen der im Folgenden genannten Projekte im Dezember als Dissertation an der Königlichen Akademie der Künste in Kopenhagen eingereicht. Eine digitale Fassung findet sich aufwww.rumpfhuber.org
[14] Das Team der Gebrüder Schnelle weist an mehreren Stellen darauf hin, dass das Bürogebäude als klare, eindeutige räumliche Markierung nur notwendig sei, so lange die Technologie nicht weit genug entwickelt sei, von zu Hause oder sonstwo aus zu arbeiten. Vgl. zum Beispiel: Gottschalk, Ottmar; Lorenzen; Hans J. (1966): Eine neue Form von Bürogebäuden. In: Kommunikation, Nr. 4, Vol. II
[15] Die Belegschaften, die in die neuartigen Büroräume umgesiedelt werden sollen, werden in Seminaren auf die Arbeitsräume vorbereitet. Zudem sind sie in den Organisationsprozess eingebunden, um ein möglichst friktionsfreies Klima zu schaffen.
[16] Negri, Antonio; Hardt; Michael (1997): Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne. Berlin/Amsterdam: Edition ID-Archiv,(Original: 1994 und 177), S. 16

dérive, Di., 2009.01.13

13. Januar 2009 Andreas Rumpfhuber

Dort draußen … im Dickicht der Weltarchitektur / André Krammer

Über Zwischentöne auf der von Aaron Betsky kuratierten Architekturbiennale in Venedig und eine Konferenz zum Thema Wohnbau im Österreich-Pavillon.

Die diesjährige Architekturbiennale ließ den Besucher insgesamt ein wenig ratlos zurück. Das vage Motto Out There – Architecture Beyond Building verführte vor allem die eingeladenen Stars der internationalen Szene dazu, unverbindliche Kunst-Objekte abzuliefern, die zwischen Retro-Design und Manierismus changierten. So lief man durch die grandiosen Hallen der ehemaligen Schiffswerft des Arsenals wie durch das Stage-Set eines B-Movies der 1960er Jahre, durch eine Sequenz autistisch anmutender Installationen.

Aber nicht der Mangel an gezeigter „gebauter Architektur“ war der Sündenfall der diesjährigen Schau, sondern das Fehlen eines starken kuratorischen Konzepts. Gemeinsame Strategien in der Raumproduktion im Umgang mit globalen Herausforderungen wurden nicht konsistent aufgezeigt. Dennoch gab es auf den zweiten Blick auch Fundstücke zu entdecken.

Im italienischen Pavillon, in dem „experimentelle Architektur“ versammelt war, wurden auch Projekte gezeigt, die sich ernsthaft mit sozialen und ökologischen Themen der Gegenwart auseinandersetzten. Das französische ArchitektInnen-duo Lacaton & Vassal zeigte vor, wie man kostengünstig mit dem (ungeliebten) Erbe anonymer Plattenbauten umgehen kann. Sie propagieren nicht den Abriss der eher tristen Wohnblocks an der Pariser Ringstraße aus den frühen 1960er Jahren, sondern einen intelligenten, preiswerten Umbau, der interessante Qualitätssprünge schafft. Die alte Fassade wird abgetragen und durch großzügige Verglasungen ersetzt, die spektakuläre Ausblicke auf das Pariser Umfeld freigeben. Zwei neue Lifteinbauten erleichtern den Zugang. Die Wohnfläche der Apartments wird durch einen Zubau erweitert – aus Raumnot wird Großzügigkeit. Während des Umbaus selbst können die BewohnerInnen sogar in ihren Apartments bleiben.
Das in Caracas ansässige Architektenteam Urban Think Tank, bestehend aus dem Venezolaner Alfredo Brillembourg und dem Österreicher und Hollein-Schüler Hubert Klumpner, fällt mit einem einfachen, aber umso bestechenderen Konzept auf. In ihrem Projekt MetroCable schlagen sie die Einrichtung einer Gondelseilbahn in einem Armenviertel von Caracas vor, dem Barrio San Agostin. Die in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Seilbahn-Spezialisten Doppelmayr entwickelte Bahn soll die 40 000 BewohnerInnen des Viertels direkt mit dem U-Bahn-Netz der Stadt verbinden. Mit dieser Strategie wollen die Architekten verhindern, dass ein Straßennetz durch die verwinkelte Häuserstruktur des Armenviertels geschlagen wird, dem eine Unzahl an Häusern zum Opfer fallen würde. Leider standen neue Arbeitsweisen und Strategien wie diese nicht im Zentrum der Schau. Dafür gab es in den Länderpavillons manches zu entdecken.

Im amerikanischen Pavillon etwa wurden heuer Büros gezeigt, die jenseits der kommerziellen Architekturproduktion agieren. Die vorgestellten Büros sehen sich als Akteure in einem gesellschaftlichen Umfeld, dem sie ihr architektonisches Know-How zur Verfügung stellen. Das Rural Studio etwa baut mit StudentInnen seit Anfang der 1990er Jahre in Hale County, Alabama – einem der ärmsten ländlichen Gebiete Amerikas – preisgünstige Architektur für die verarmte Bevölkerung. Verwendet werden vorgefundene Materialien oder auch wieder verwertbarer Müll wie Bahnschwellen, bunte Flaschen, alte Ziegel, abgetragenes Bauholz und Wellpappe. Die Bevölkerung wird in den Entwicklungsprozess mit eingebunden. Das „Rural Studio“ entwickelte aus einem sozialen Ansatz heraus eine aufregende, neue Ästhetik.

Die fragilen Bleistiftzeichnungen von imaginierten Stadt- und Naturräumen an den weißen Wänden des japanischen Pavillons sorgten trotz aller Zurückhaltung für einen sinnlichen Höhepunkt. Der britische Pavillon zeigte Wohnbauten von fünf britischen Architekturbüros „zuhause“ und „auswärts“ (Home/Away). Die unterschiedliche Qualität in den Projekten ein und desselben Büros (die Bauten außerhalb der Insel weisen eklatant höhere Qualität auf), unterstreicht die gegenwärtig mangelhaften Rahmenbedingungen für Wohnbau in Großbritannien. Der Kurator – der Architekturkritiker Ellis Woodmann – thematisierte so die Abhängigkeit der Architekturproduktion von politischen Voraussetzungen und setzte einen Kontrapunkt zur Selbstbezogenheit der Architekturelite. Woodmann hielt auch einen Vortrag auf der Konferenz zum Thema Wohnbau, die im Österreich-Pavillon Anfang Oktober abgehalten wurde. „Wohnbau als Anlass“ war neben der Präsentation von Einzelpositionen (Pauhof und Josef Lackner) ein Schwerpunkt, den Kuratorin Bettina Götz dieses Jahr für den österreichischen Pavillon setzte. Das Thema gewann nicht zuletzt durch das Platzen der Immobilienblase in den USA zusätzliche Aktualität. So wird man in Zukunft wieder verstärkt über verdichtete Wohnformen im Gegensatz zum Wohnen im Einfamilienhaus nachdenken müssen – nicht nur in Amerika.

Der Architekturtheoretiker Werner Sewing lud zu einer international besetzten Konferenz, die überraschenderweise keineswegs aus einschlägigen Wohnbauexperten und -expertinnen bestand. Vielmehr ging es Sewing um eine Hinterfragung von Wohnbau als Baustein der Stadtentwicklung. In Podiumsdiskussionen zwischen und nach Einzelreferaten suchte man nach gemeinsamen Nennern in der jeweiligen Praxis: Worauf können sich gegenwärtige EinzelkämpferInnen der Architektur noch einigen? Teilweise herrschte auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage Ratlosigkeit.

Der in Frankreich lebende Brite Duncan Lewis beispielsweise entwickelt seine Projekte nach einer genauen Recherche vor Ort. Für das Projekt eines sozialen Wohnbaus im französischen Mulhouse, das er in der Konferenz präsentierte, betrieb er zweiwöchige Feldforschungen vor Ort, um die Menschen und die Alltagskultur in der Region kennenzulernen. Die Tradition der Leute, ihre Häuser ständig durch Zubauten und Adaptierungen nach ihrem individuellen Geschmack zu verändern, nahm Lewis zum Ausgangspunkt seines Entwurfs. Er entwarf keine fotogenen Gebäude für das Hochglanzmagazin, sondern eine flexible Wohnstruktur aus vorgefertigten Stahlelementen, die zukünftige Erweiterungen und Umformungen zulässt. Auch die Räume zwischen den Häusern haben ein stählernes Rahmenwerk, das auch für Bepflanzungen benützt werden kann. Es entsteht ein grünes Netzwerk inmitten der dichten Bebauungsstruktur, ein Park, der von den AnrainerInnen gestaltet und verändert werden kann. Öffentliche und private Räume überschneiden sich, man begegnet sich, eine Nachbarschaft entsteht – so die Hoffnung des Architekten.

Im darauffolgenden Referat präsentierte François Roche von R&Sie(n) abgehobene Experimente, die von maschinell erzeugten Formprozessen ausgehen, die in amorphe computergenerierte Gebilde münden. Mit Fragen nach neuen Wohnmodellen und deren Auswirkung auf die Raumentwicklung hatte dies freilich nichts zu tun. So bekundete man sich im Anschluss nur gegenseitigen Respekt und Sympathie, ohne dass nur irgendwelche inhaltlichen Anknüpfungspunkte sichtbar geworden wären. Interessant wurde es, als deutlich wurde, wie unterschiedlich sich die Rahmenbedingungen für Architektur und Wohnbau in den einzelnen Herkunftsländern der Vortragenden darstellen (Walter Angonese – Südtirol, Atelier Bow-Wow – Japan, Hermann Czech und Dietmar Steiner – Österreich, Christian Kerez – Schweiz, Duncan Lewis und R&Sie(n) – Frankreich, Ellis Woodman – Großbritannien).

Das Atelier Bow-Wow aus Tokio etwa stellte seine Einfamilienhäuser vor, die auf engem Raum mitten in der Acht-Millionen-Stadt Tokio gebaut wurden. Der zur Verfügung stehende minimale bebaubare Raum wurde optimal ausgenützt, um eine höchst mögliche Wohnqualität zu erreichen. Christian Kerez aus Zürich zeigte seine Wohnprojekte, die in der landschaftlichen Weite des Großraum Zürich errichtet werden. Es handelt sich um komplexe, spektakuläre Architektur, in der man „auch“ wohnen kann – „Liebhaberprojekte“, die einen räumlichen Luxus jenseits des Status Quo bieten.
Sowohl das Atelier Bow-Wow als auch Christian Kerez benützen in ihren Wohnbauten das „universelle“ Architekturvokabular der Moderne. Doch die darüber hinausgehenden spezifischen Merkmale ihrer Projekte sind auf ihren jeweiligen Kontext zurück zu führen.

Die Konferenz machte deutlich, dass heute außergewöhnliche Leistungen auf dem Gebiet des Wohnbaus aus einem Dialog mit den jeweiligen, sehr spezifischen örtlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen heraus entstehen und sich nicht aus abstrakten Theorien oder Utopien ableiten lassen. Den oft rigiden Bebauungsvorschriften wird ein Maximum an Wohnraum und architektonischer Qualität abgerungen. An einen darüber hinaus gehenden gemeinsamen Nenner glaubten zumindest die Teilnehmer dieser Konferenz nicht.

dérive, Di., 2009.01.13

13. Januar 2009

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