Editorial
Mit dieser Ausgabe von dérive feiern wir ein kleines Jubiläum: Manfred Russos Serie Geschichte der Urbanität ist vor genau zehn Jahren in Heft 7 zum ersten Mal erschienen. Der Titel der ersten Folge lautete »Die hellenische Entdeckung des Urbanen«. Die Serie, mit der wir mittlerweile bei Folge 36 halten, zählt zu den beliebtesten Bestandteilen von dérive wie uns zahlreiche Reaktionen aus der Leserschaft immer wieder bestätigen. Seit letztem Sommer entfaltet sie ihr komplexes Netzwerk des Urbanen zudem auch bei dérive - Radio für Stadtforschung regelmäßig – in komprimierter Fassung für alle Liebhaber des Auditiven zum Online-Hören oder zum Download für Unterwegs. In den Printausgaben von dérive ist Manfred Russo mittlerweile in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts angelangt, in der aktuellen Folge ist bereits von Ereignissen der 1990er-Jahre die Rede, die Gegenwart ist also nicht mehr fern. Doch keine Sorge: Es sind bestimmt noch einige Umwege, Abschweifungen und damit Folgen zu erwarten, bis die Geschichte irgendwann an ihr unweigerliches Ende kommen wird. An dieser Stelle jedenfalls ein großes Dankeschön an Manfred Russo für die ersten zehn ebenso spannenden wie erkenntnisreichen Jahre. Die aktuelle Folge der Geschichte der Urbanität widmet sich das zweite Mal dem Thema Postmoderne – Stadt und Angst. Diesmal geht es um die Edge City.
Den Schwerpunkt dieser Ausgabe von dérive mit dem schönen Titel Ex-zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume verdanken wir einer Gruppe von Architektinnen und Architekturwissenschaftlerinnen (Andrea Benze, Carola Ebert, Julia Gill, Saskia Hebert), die sich mit dieser Thematik schon längere Zeit umfassend beschäftigen. Der Hauptteil des Schwerpunkts besteht aus Texten der vier Schwerpunktredakteurinnen, von denen zwei einen städtebaulich-räumlichen Ansatz haben und die beiden anderen sich architektonischen Fragestellungen (Bungalow, Fertighaus) widmen. »Allen ist gemein, dass sie jeweils einen spezifischen Teilbereich dieses Themenfeldes ebenso baulich-räumlich wie im Hinblick auf seine gesellschaftliche Relevanz detailliert betrachten.« In einem zweiten Teil thematisieren Susanne Hauser und Iris Reuther »die Untersuchungen (nicht-)städtischer Orte und Bautypologien im Kontext übergeordneter Diskurse«. Mehr und genaueres über Ex-zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume erfahren Sie im Einleitungstext ab Seite 4.
Zwei Artikel aus unserer letzten Ausgabe haben Leser und Leserinnen veranlasst, uns schriftliche Reaktionen zu schicken, denen wir gerne Platz einräumen: Ein Auslöser waren Andreas Rumpfhubers kritische Anmerkungen zu Baugruppen in seinem Text »Vienna’s Housing Apparatus and Its Contemporary Challenges: Superblock turned Überstadt«, der Teil des Schwerpunkts zum Wiener Wohnbau war. Die Reaktion von Ernst Gruber, Vorstandsmitglied der im Artikel erwähnten Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen, finden Sie auf unserer Website. Anlass zur Diskussion gab unter anderem die Frage, ob die von Baugruppen behauptete soziale Verantwortung für Gesellschaft und Stadt mehr ist als schmückendes Beiwerk und mehr als der Versuch sozial relativ homogener Gruppen, ihre individuellen Wohnträume möglichst günstig umzusetzen. Ein weiterer umstrittener Aspekt ist die Rolle, die Architekten und Architektinnen als Initiatoren von Baugruppen einnehmen.
Die zweite Reaktion auf die letzte Ausgabe von dérive ist eine Replik auf Florian Hubers Artikel »Gentrifizierung: Reflexionen über einen kritischen Begriff in der Krise«: Roman Seidl, Justin Kadi und Mara Verlic sehen in Ihrer Replik auf Hubers Artikel, die im Magazinteil zu lesen ist, dessen Versuch einer Entpolitisierung des Begriffs der Gentrifizierung. Ich vermute und hoffe, dass zu beiden Themen noch nicht das letzte Wort gesprochen und geschrieben ist, und empfehle in beiden Fällen, auch die jeweils kritisierten Artikel in dérive 46 (noch einmal) zu lesen. Wir freuen uns über eine Fortsetzung der Diskussionen.
Auf besonderes Interesse sind auch die dérive-Radiosendungen der letzten Monate gestoßen, was uns sehr freut. Eine Vielzahl von Downloads und Streams pro Sendung zusätzlich zur Ausstrahlung auf mehreren Radiostationen zeigen, dass dérive – Radio für Stadtforschung als eigenständiges Format eine weitere Ebene für die Auseinandersetzung mit dem Urbanen eröffnet hat. Wer unsere Sendungen noch nicht kennt, kann im Online-Archiv (http://cba.fro.at/series/1235) alle Beiträge jederzeit nachhören. Themen der letzten Sendungen waren der Wiener Wohnbau und seine Leistbarkeit, Kairos informelle Siedlungen und ihre Bedeutung für die Revolution im Arabischen Frühling und der Mitschnitt eines urbanize! Festival Vortrages von Klaus Ronneberger über Henri Lefebvre. Tune in!
Zurück zum Heft: Im Magazinteil gibt es nach längerer Zeit wieder einmal ein Stadtporträt zu lesen. Sebastian Prothmann stellt Ghanas Hauptstadt Accra vor, die stark von der Globalisierung geprägt ist, was sich durch Konsumverhalten aber auch in Wohnformen wie Gated Communities zeigt. Der zweite Magazin-Beitrag ist ein Interview mit Luis Fernandez, Autor bzw. Mitautor der Bücher Policing Dissent. Social Control and the Anti-Globalization Movement und Shutting Down the Streets. The Social Control of Global Dissent, deren Titel den Inhalt des Gesprächs, das Volcker Eick und Kendra Briken mit ihm geführt haben, gut umreißen. Eine ausführlichere Version dieses Interviews ist übrigens auf www.derive.at nachzulesen.
Die nächste Ausgabe von dérive, die Anfang Juli erscheinen wird, untersucht die Auswirkungen und Herausforderungen des Klimawandels auf die Stadt. Eine anregende Lektüre wünscht
Christoph Laimer
Inhalt
Schwerpunkt | Ex-zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume
Fragen an die Lebensqualität und Lebensweisen in randständigen Gebieten
Andrea Benze, Carola Ebert, Julia Gill, Saskia Hebert
Bitterfeld-Wolfen zum Beispiel vom Schützenverein aus gesehen ...
Ausflüge zu alltäglichen Orten
Andrea Benze
Ortsverschiebungen
Ein Plädoyer für den Möglichkeitssinn
Saskia Hebert
Privatisierte Landschaft
Westdeutsche ArchitektInnenbungalows 1952-1959 zwischen kalifornischem Traum und (nicht-)städtischer Realität
Carola Ebert
Traumhauskataloge
What happened to the dream of the factory-made house?
Julia Gill
Praktischer Umgang mit dem (Nicht-)Städtischen
Erkenntnisse und Haltungen sind gefragt
Iris Reuther
Räume von unspektakulärer Normalität
Forschung und Theoriebildung im erweiterten Tätigkeitsfeld der Architektur
Susanne Hauser
Kunstinsert:
Kartenhaus
Ulrike Lienbacher
Magazin:
Polizeistrategien gegen aktuelle politische Protestbewegungen
Interview mit Luis Fernandez
Volker Eick und Kendra Briken
Gentrifizierung in der Krise?
Kritische Reflexion einer Reflexion
Justin Kadi, Roman Seidl und Mara Verlic
Der Globalisierung auf der Spur
Stadtporträt Accra
Sebastian Prothmann
Serie | Geschichte der Urbanität: Teil 36
Postmoderne. Stadt und Angst II
Die Geburt der Edge City. Pioniere aus dem Post-Riot-Stress
Manfred Russo
www.derive.at
Zur „Kritik an Baugruppen“
Ernst Gruber
Besprechungen:
Sackgasse Eigenlogik, Briefe zur spektakulären Gesellschaft , Gesellschaft und Siedlungsstruktur in Suburbia, Dichte - Sezierung eines mehrfach reanimierten Begriffes, Städte und ihre Eigenlogik. Ein Handbuch?, Das Grazer Annenviertel! Was Stadt auch sein kann S. 60, Europas Städte im Umbruch, My Winnipeg, From Dusk till dawn in Kreuzberg, Die Gartenzelle, ein ideologisch zerfurchter Ort, Unterschiede und Ähnlichkeiten europäischer Stadtentwicklungen
Ex-zentristische Normalität
(SUBTITLE) Zwischenstädtische Lebensräume
Fragen an die Lebensqualität und Lebensweisen in randständigen Gebieten
»Was ist das Leben?
Ich weiß es nicht.
Wo wohnt es?
Diese Frage beantworten die Lebewesen,
indem sie den Ort erfinden.«
Michael Serres 2005, S. 37
Das Leben in dispersen Strukturen peripherer Zwischenräume ist für viele Menschen Normalität und in sich ein vielschichtiges Phänomen. Im wissenschaftlichen Diskurs über die Stadt sind solche randständigen Gebiete und Lebenswelten gerade in baulich-räumlicher Hinsicht noch wenig erforscht. Als Architektinnen sehen wir Handlungsbedarf, diese realen, ideellen und individuell wie kollektiv gelebten Konstruktionen (nicht-)städtischer Lebenswelten differenziert zu analysieren.
Die vier folgenden Beiträge zeichnen jeweils ein anderes Bild von Normalität außerhalb städtischer Zentren: Sie untersuchen die eigentümliche Alltäglichkeit von Vereinsorten in der post-industriellen Stadtregion Bitterfeld-Wolfen, analysieren individuelle Sinnzuschreibungen und mehrfache Ortsverschiebungen in einer Großwohnsiedlung der ehemaligen DDR, sie hinterfragen das kosmopolitisch-moderne Ideal westdeutscher ArchitektInnenbungalows der Wirtschaftswunderzeit und die standardisiert wirkende Individualitätssuggestion des zeitgenössischen Fertighausangebots. Die Qualitäten dieser Lebenswelten lassen sich nur mittels eines erweiterten Architekturverständnisses erforschen, das auch Alltagsarchitektur betrachtet und dabei die konkret baulich-räumlichen Aspekte im Zusammenhang mit Themen wie Aneignung und persönlichen oder gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibungen diskutiert. In der Überlagerung der vier Analysen entsteht in diesem Heft ein vielschichtiges Mosaik normaler und zugleich ungewohnter (nicht-)städtischer Phänomene.
Die Beiträge nähern sich dieser Art des (nicht-)städtischen Lebens aus mehreren Blickwinkeln. Allen ist gemein, dass sie jeweils einen spezifischen Teilbereich dieses Themenfeldes ebenso baulich-räumlich wie im Hinblick auf seine gesellschaftliche Relevanz detailliert betrachten. Zwei Autorinnen wählen dabei einen städtebaulich-räumlichen Ansatz (Andrea Benze, Saskia Hebert), zwei fokussieren auf einen architektonischen Typus (Carola Ebert, Julia Gill) – wobei jeweils ein Beitrag am konkreten Beispiel des jeweiligen Forschungsgegenstands argumentiert und einer einen eher theoretischen Schwerpunkt setzt. Andrea Benze nimmt die Stadtregion Bitterfeld-Wolfen zum Ausgangspunkt und forscht dort, wo auf den ersten Blick nichts zu sehen ist. Auf der Suche nach alltäglichen sozialen Orten stößt sie auf die große Bedeutung soziokultureller Vereine in klein- und mittelstädtisch geprägten Transformationsregionen. Die detaillierte Analyse und experimentelle Kartographierung der Vereinsorte führt zu neuen Erkenntnissen über die Lebensweise, Lebensqualität und auch die gestalterische Ausprägung von alltäglichen sozialen Orten in der Stadtregion und macht Entwicklungspotenziale auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen sichtbar.
Saskia Hebert thematisiert in ihrem Beitrag die Diskrepanz zwischen gebauter Welt und gelebtem Raum. Am Beispiel der ehemals sozialistischen Großwohnsiedlung Halle-Neustadt zeigt sie, dass zwischen der baulich-räumlichen Erscheinung von Orten und dem biographisch bedingten Wissen, das mit ihnen verknüpft ist, erhebliche Differenzen bestehen können. Ausgehend von einer phänomenologisch fundierten Analyse des Wohnens wird das Wohnen selbst auf diese Weise als individuelles Engagement für den eigenen Ort erkennbar. Die alltäglichen Praktiken und Gewohnheiten, die uns in einer konkreten Wirklichkeit verankern und uns diese zugleich als Möglichkeitsraum erschließen, werden so zum wertvollen Potenzial für die Praxis der Stadtentwicklung.
Carola Ebert analysiert den westdeutschen Bungalow der 1950er und 1960er Jahre anhand von Wohnhäusern, die ArchitektInnen für sich selbst bauten. Unterschiedliche Beispiele erläutern drei wichtige Bungalowtypologien und zeigen, wie das konkrete Objekt sich – jeweils in einer individuellen architektonischen Lösung – räumlich mit dem privaten Garten verschränkt und gegenüber der Straße und den NachbarInnen weitgehend unsichtbar wird. Der westdeutsche Bungalow folgt dabei einem amerikanisch-kalifornischen Leitbild, in dem sich moderne Architektur mit einem als fortschrittlich empfundenen Lebensstil verknüpft. Während der Typus als solcher sich ideell der modernen kosmopolitisch ausgerichteten westlichen Welt zuordnet, steht letztlich jeder Bungalow in der privatisierten Landschaft seines Gartens für sich.
Julia Gill untersucht die kommerzielle Eigenheimproduktion in Deutschland. Der industrialisierte Fertighausbau verheißt den KäuferInnen heute nie da gewesene Individualität. Doch streben die Fertighäusler wirklich nach Individualisierung? Der Beitrag untersucht, welche Bilder und Vorbilder in Gestaltung und Vermarktung der Gebäude wirksam sind, um der Vielzahl abstrakter Wunschvorstellungen zu genügen. Es zeigt sich, dass sowohl diese Bilder – medial bis zur Standardisierung reproduziert – als auch die Wunschvorstellungen der KundInnen eher standardisiert als individuell sind. Die unter Vermarktungsdiktat stehende Lebenswelt der suburbanen Wohngebiete belegt vor allem den unauflöslichen Widerspruch einer standardisierten Individualität.
Die vier Beiträge beschreiben unterschiedliche Praktiken zur Konstruktion von Wohnarchitektur anhand idealisierter Bildwelten ebenso wie zur Aneignung und Transformationdes direkten Wohnumfelds im historischen Wandel oder von Leerstellen der Stadtregion. Die Praktiken dieser ex-zentrischen Normalität mögen auf den ersten Blick durchaus exzentrisch anmuten, erweisen sich zugleich jedoch in der Analyse als erfolgreiche Strategien der BewohnerInnen und BenutzerInnen, einen gelebten, individuellen Kontext – den eigenen Ort als persönliches Zentrum – in Relation zu einer gesellschaftlichen und/oder stadträumlichen Mitte zu etablieren. In allen vier Untersuchungen zeigt sich eine antagonistische Doppellogik, die Motive des Verbergens und der Abgrenzung mit einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und gemeinschaftlich geteilten Bild- und Lebenswelten vereint.
Zwei weitere Beiträge thematisieren die Untersuchungen (nicht-)städtischer Orte und Bautypologien im Kontext übergeordneter Diskurse: Iris Reuther betrachtet die Forschungsergebnisse zur ex-zentrischen Normalität mit Hinblick auf ihre Implikationen für die städtebauliche und architektonische Praxis. Sie argumentiert, dass der praktische Umgang mit dem (Nicht-)Städtischen veränderte konzeptionelle Haltungen sowie neue Erkenntnisse und Standards jenseits der traditionellen PlanerInnenperspektive erfordert. Susanne Hauser diskutiert die Relevanz der Untersuchungsgegenstände und -methoden im erweiterten Tätigkeitsfeld der Architektur, das im engen Austausch mit anderen gestaltenden sowie den kulturwissenschaftlichen Disziplinen einer qualifizierten eigenen Forschung und Theoriebildung bedarf. Diese impliziert und ermöglicht den analytischen Blick auf randständige Gebiete sowie auf die Eigenarten und Qualitäten von Räumen unspektakulärer Normalität.
Literatur:
Serres, Michael (2005): Atlas. Berlin: Mervedérive, Mo., 2012.04.23
23. April 2012 Andrea Benze, Carola Ebert, Julia Gill, Saskia Hebert