Editorial

Mit dieser Ausgabe von dérive feiern wir ein kleines Jubiläum: Manfred Russos Serie Geschichte der Urbanität ist vor genau zehn Jahren in Heft 7 zum ersten Mal erschienen. Der Titel der ersten Folge lautete »Die hellenische Entdeckung des Urbanen«. Die Serie, mit der wir mittlerweile bei Folge 36 halten, zählt zu den beliebtesten Bestandteilen von dérive wie uns zahlreiche Reaktionen aus der Leserschaft immer wieder bestätigen. Seit letztem Sommer entfaltet sie ihr komplexes Netzwerk des Urbanen zudem auch bei dérive - Radio für Stadtforschung regelmäßig – in komprimierter Fassung für alle Liebhaber des Auditiven zum Online-Hören oder zum Download für Unterwegs. In den Printausgaben von dérive ist Manfred Russo mittlerweile in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts angelangt, in der aktuellen Folge ist bereits von Ereignissen der 1990er-Jahre die Rede, die Gegenwart ist also nicht mehr fern. Doch keine Sorge: Es sind bestimmt noch einige Umwege, Abschweifungen und damit Folgen zu erwarten, bis die Geschichte irgendwann an ihr unweigerliches Ende kommen wird. An dieser Stelle jedenfalls ein großes Dankeschön an Manfred Russo für die ersten zehn ebenso spannenden wie erkenntnisreichen Jahre. Die aktuelle Folge der Geschichte der Urbanität widmet sich das zweite Mal dem Thema Postmoderne – Stadt und Angst. Diesmal geht es um die Edge City.

Den Schwerpunkt dieser Ausgabe von dérive mit dem schönen Titel Ex-zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume verdanken wir einer Gruppe von Architektinnen und Architekturwissenschaftlerinnen (Andrea Benze, Carola Ebert, Julia Gill, Saskia Hebert), die sich mit dieser Thematik schon längere Zeit umfassend beschäftigen. Der Hauptteil des Schwerpunkts besteht aus Texten der vier Schwerpunktredakteurinnen, von denen zwei einen städtebaulich-räumlichen Ansatz haben und die beiden anderen sich architektonischen Fragestellungen (Bungalow, Fertighaus) widmen. »Allen ist gemein, dass sie jeweils einen spezifischen Teilbereich dieses Themenfeldes ebenso baulich-räumlich wie im Hinblick auf seine gesellschaftliche Relevanz detailliert betrachten.« In einem zweiten Teil thematisieren Susanne Hauser und Iris Reuther »die Untersuchungen (nicht-)städtischer Orte und Bautypologien im Kontext übergeordneter Diskurse«. Mehr und genaueres über Ex-zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume erfahren Sie im Einleitungstext ab Seite 4.

Zwei Artikel aus unserer letzten Ausgabe haben Leser und Leserinnen veranlasst, uns schriftliche Reaktionen zu schicken, denen wir gerne Platz einräumen: Ein Auslöser waren Andreas Rumpfhubers kritische Anmerkungen zu Baugruppen in seinem Text »Vienna’s Housing Apparatus and Its Contemporary Challenges: Superblock turned Überstadt«, der Teil des Schwerpunkts zum Wiener Wohnbau war. Die Reaktion von Ernst Gruber, Vorstandsmitglied der im Artikel erwähnten Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen, finden Sie auf unserer Website. Anlass zur Diskussion gab unter anderem die Frage, ob die von Baugruppen behauptete soziale Verantwortung für Gesellschaft und Stadt mehr ist als schmückendes Beiwerk und mehr als der Versuch sozial relativ homogener Gruppen, ihre individuellen Wohnträume möglichst günstig umzusetzen. Ein weiterer umstrittener Aspekt ist die Rolle, die Architekten und Architektinnen als Initiatoren von Baugruppen einnehmen.

Die zweite Reaktion auf die letzte Ausgabe von dérive ist eine Replik auf Florian Hubers Artikel »Gentrifizierung: Reflexionen über einen kritischen Begriff in der Krise«: Roman Seidl, Justin Kadi und Mara Verlic sehen in Ihrer Replik auf Hubers Artikel, die im Magazinteil zu lesen ist, dessen Versuch einer Entpolitisierung des Begriffs der Gentrifizierung. Ich vermute und hoffe, dass zu beiden Themen noch nicht das letzte Wort gesprochen und geschrieben ist, und empfehle in beiden Fällen, auch die jeweils kritisierten Artikel in dérive 46 (noch einmal) zu lesen. Wir freuen uns über eine Fortsetzung der Diskussionen.

Auf besonderes Interesse sind auch die dérive-Radio­sendungen der letzten Monate gestoßen, was uns sehr freut. Eine Vielzahl von Downloads und Streams pro Sendung zusätzlich zur Ausstrahlung auf mehreren Radiostationen zeigen, dass dérive – Radio für Stadtforschung als eigenständiges Format eine weitere Ebene für die Auseinandersetzung mit dem Urbanen eröffnet hat. Wer unsere Sendungen noch nicht kennt, kann im Online-Archiv (http://cba.fro.at/series/1235) alle Beiträge jederzeit nachhören. Themen der letzten Sendungen waren der Wiener Wohnbau und seine Leistbarkeit, Kairos informelle Siedlungen und ihre Bedeutung für die Revolution im Arabischen Frühling und der Mitschnitt eines urbanize! Festival Vortrages von Klaus Ronneberger über Henri Lefebvre. Tune in!
Zurück zum Heft: Im Magazinteil gibt es nach längerer Zeit wieder einmal ein Stadtporträt zu lesen. Sebastian Prothmann stellt Ghanas Hauptstadt Accra vor, die stark von der Globalisierung geprägt ist, was sich durch Konsumverhalten aber auch in Wohnformen wie Gated Communities zeigt. Der zweite Magazin-Beitrag ist ein Interview mit Luis Fernandez, Autor bzw. Mitautor der Bücher Policing Dissent. Social Control and the Anti-Globalization Movement und Shutting Down the Streets. The Social Control of Global Dissent, deren Titel den Inhalt des Gesprächs, das Volcker Eick und Kendra Briken mit ihm geführt haben, gut umreißen. Eine ausführlichere Version dieses Interviews ist übrigens auf www.derive.at nachzulesen.

Die nächste Ausgabe von dérive, die Anfang Juli erscheinen wird, untersucht die Auswirkungen und Herausforderungen des Klimawandels auf die Stadt. Eine anregende Lektüre wünscht

Christoph Laimer

Inhalt

Schwerpunkt | Ex-zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume
Fragen an die Lebensqualität und Lebensweisen in randständigen Gebieten
Andrea Benze, Carola Ebert, Julia Gill, Saskia Hebert

Bitterfeld-Wolfen zum Beispiel vom Schützenverein aus gesehen ...
Ausflüge zu alltäglichen Orten
Andrea Benze

Ortsverschiebungen
Ein Plädoyer für den Möglichkeitssinn
Saskia Hebert

Privatisierte Landschaft
Westdeutsche ArchitektInnenbungalows 1952-1959 zwischen kalifornischem Traum und (nicht-)städtischer Realität
Carola Ebert

Traumhauskataloge
What happened to the dream of the factory-made house?
Julia Gill

Praktischer Umgang mit dem (Nicht-)Städtischen
Erkenntnisse und Haltungen sind gefragt
Iris Reuther

Räume von unspektakulärer Normalität
Forschung und Theoriebildung im erweiterten Tätigkeitsfeld der Architektur
Susanne Hauser

Kunstinsert:
Kartenhaus
Ulrike Lienbacher

Magazin:
Polizeistrategien gegen aktuelle politische Protestbewegungen
Interview mit Luis Fernandez
Volker Eick und Kendra Briken

Gentrifizierung in der Krise?
Kritische Reflexion einer Reflexion
Justin Kadi, Roman Seidl und Mara Verlic

Der Globalisierung auf der Spur
Stadtporträt Accra
Sebastian Prothmann

Serie | Geschichte der Urbanität: Teil 36
Postmoderne. Stadt und Angst II

Die Geburt der Edge City. Pioniere aus dem Post-Riot-Stress
Manfred Russo

www.derive.at
Zur „Kritik an Baugruppen“
Ernst Gruber

Besprechungen:
Sackgasse Eigenlogik, Briefe zur spektakulären Gesellschaft , Gesellschaft und Siedlungsstruktur in Suburbia, Dichte - Sezierung eines mehrfach reanimierten Begriffes, Städte und ihre Eigenlogik. Ein Handbuch?, Das Grazer Annenviertel! Was Stadt auch sein kann S. 60, Europas Städte im Umbruch, My Winnipeg, From Dusk till dawn in Kreuzberg, Die Gartenzelle, ein ideologisch zerfurchter Ort, Unterschiede und Ähnlichkeiten europäischer Stadtentwicklungen

Ex-zentristische Normalität

(SUBTITLE) Zwischenstädtische Lebensräume

Fragen an die Lebensqualität und Lebensweisen in randständigen Gebieten

»Was ist das Leben?
Ich weiß es nicht.
Wo wohnt es?
Diese Frage beantworten die Lebewesen,
indem sie den Ort erfinden.«

Michael Serres 2005, S. 37


Das Leben in dispersen Strukturen peripherer Zwischenräume ist für viele Menschen Normalität und in sich ein vielschichtiges Phänomen. Im wissenschaftlichen Diskurs über die Stadt sind solche randständigen Gebiete und Lebenswelten gerade in baulich-räumlicher Hinsicht noch wenig erforscht. Als Architektinnen sehen wir Handlungsbedarf, diese realen, ideellen und individuell wie kollektiv gelebten Konstruktionen (nicht-)städtischer Lebenswelten differenziert zu analysieren.

Die vier folgenden Beiträge zeichnen jeweils ein anderes Bild von Normalität außerhalb städtischer Zentren: Sie untersuchen die eigentümliche Alltäglichkeit von Vereinsorten in der post-industriellen Stadtregion Bitterfeld-Wolfen, analysieren individuelle Sinnzuschreibungen und mehrfache Ortsverschiebungen in einer Großwohnsiedlung der ehemaligen DDR, sie hinterfragen das kosmopolitisch-moderne Ideal westdeutscher ArchitektInnenbungalows der Wirtschaftswunderzeit und die standardisiert wirkende Individualitätssuggestion des zeitgenössischen Fertighausangebots. Die Qualitäten dieser Lebenswelten lassen sich nur mittels eines erweiterten Architekturverständnisses erforschen, das auch Alltagsarchitektur betrachtet und dabei die konkret baulich-räumlichen Aspekte im Zusammenhang mit Themen wie Aneignung und persönlichen oder gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibungen diskutiert. In der Überlagerung der vier Analysen entsteht in diesem Heft ein vielschichtiges Mosaik normaler und zugleich ungewohnter (nicht-)städtischer Phänomene.

Die Beiträge nähern sich dieser Art des (nicht-)städtischen Lebens aus mehreren Blickwinkeln. Allen ist gemein, dass sie jeweils einen spezifischen Teilbereich dieses Themenfeldes ebenso baulich-räumlich wie im Hinblick auf seine gesellschaftliche Relevanz detailliert betrachten. Zwei Autorinnen wählen dabei einen städtebaulich-räumlichen Ansatz (Andrea Benze, Saskia Hebert), zwei fokussieren auf einen architektonischen Typus (Carola Ebert, Julia Gill) – wobei jeweils ein Beitrag am konkreten Beispiel des jeweiligen Forschungsgegenstands argumentiert und einer einen eher theoretischen Schwerpunkt setzt. Andrea Benze nimmt die Stadtregion Bitterfeld-Wolfen zum Ausgangspunkt und forscht dort, wo auf den ersten Blick nichts zu sehen ist. Auf der Suche nach alltäglichen sozialen Orten stößt sie auf die große Bedeutung soziokultureller Vereine in klein- und mittelstädtisch geprägten Transformationsregionen. Die detaillierte Analyse und experimentelle Kartographierung der Vereinsorte führt zu neuen Erkenntnissen über die Lebensweise, Lebensqualität und auch die gestalterische Ausprägung von alltäglichen sozialen Orten in der Stadtregion und macht Entwicklungspotenziale auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen sichtbar.

Saskia Hebert thematisiert in ihrem Beitrag die Diskrepanz zwischen gebauter Welt und gelebtem Raum. Am Beispiel der ehemals sozialistischen Großwohnsiedlung Halle-Neustadt zeigt sie, dass zwischen der baulich-räumlichen Erscheinung von Orten und dem biographisch bedingten Wissen, das mit ihnen verknüpft ist, erhebliche Differenzen bestehen können. Ausgehend von einer phänomenologisch fundierten Analyse des Wohnens wird das Wohnen selbst auf diese Weise als individuelles Engagement für den eigenen Ort erkennbar. Die alltäglichen Praktiken und Gewohnheiten, die uns in einer konkreten Wirklichkeit verankern und uns diese zugleich als Möglichkeitsraum erschließen, werden so zum wertvollen Potenzial für die Praxis der Stadtentwicklung.

Carola Ebert analysiert den westdeutschen Bungalow der 1950er und 1960er Jahre anhand von Wohnhäusern, die ArchitektInnen für sich selbst bauten. Unterschiedliche Beispiele erläutern drei wichtige Bungalowtypologien und zeigen, wie das konkrete Objekt sich – jeweils in einer individuellen architektonischen Lösung – räumlich mit dem privaten Garten verschränkt und gegenüber der Straße und den NachbarInnen weitgehend unsichtbar wird. Der westdeutsche Bungalow folgt dabei einem amerikanisch-kalifornischen Leitbild, in dem sich moderne Architektur mit einem als fortschrittlich empfundenen Lebensstil verknüpft. Während der Typus als solcher sich ideell der modernen kosmopolitisch ausgerichteten westlichen Welt zuordnet, steht letztlich jeder Bungalow in der privatisierten Landschaft seines Gartens für sich.

Julia Gill untersucht die kommerzielle Eigenheimproduktion in Deutschland. Der industrialisierte Fertighausbau verheißt den KäuferInnen heute nie da gewesene Individualität. Doch streben die Fertighäusler wirklich nach Individualisierung? Der Beitrag untersucht, welche Bilder und Vorbilder in Gestaltung und Vermarktung der Gebäude wirksam sind, um der Vielzahl abstrakter Wunschvorstellungen zu genügen. Es zeigt sich, dass sowohl diese Bilder – medial bis zur Standardisierung reproduziert – als auch die Wunschvorstellungen der KundInnen eher standardisiert als individuell sind. Die unter Vermarktungsdiktat stehende Lebenswelt der suburbanen Wohngebiete belegt vor allem den unauflöslichen Widerspruch einer standardisierten Individualität.

Die vier Beiträge beschreiben unterschiedliche Praktiken zur Konstruktion von Wohnarchitektur anhand idealisierter Bildwelten ebenso wie zur Aneignung und Transformationdes direkten Wohnumfelds im historischen Wandel oder von Leerstellen der Stadtregion. Die Praktiken dieser ex-zentrischen Normalität mögen auf den ersten Blick durchaus exzentrisch anmuten, erweisen sich zugleich jedoch in der Analyse als erfolgreiche Strategien der BewohnerInnen und BenutzerInnen, einen gelebten, individuellen Kontext – den eigenen Ort als persönliches Zentrum – in Relation zu einer gesellschaftlichen und/oder stadträumlichen Mitte zu etablieren. In allen vier Untersuchungen zeigt sich eine antagonistische Doppellogik, die Motive des Verbergens und der Abgrenzung mit einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und gemeinschaftlich geteilten Bild- und Lebenswelten vereint.

Zwei weitere Beiträge thematisieren die Untersuchungen (nicht-)städtischer Orte und Bautypologien im Kontext übergeordneter Diskurse: Iris Reuther betrachtet die Forschungsergebnisse zur ex-zentrischen Normalität mit Hinblick auf ihre Implikationen für die städtebauliche und architektonische Praxis. Sie argumentiert, dass der praktische Umgang mit dem (Nicht-)Städtischen veränderte konzeptionelle Haltungen sowie neue Erkenntnisse und Standards jenseits der traditionellen PlanerInnenperspektive erfordert. Susanne Hauser diskutiert die Relevanz der Untersuchungsgegenstände und -methoden im erweiterten Tätigkeitsfeld der Architektur, das im engen Austausch mit anderen gestaltenden sowie den kulturwissenschaftlichen Disziplinen einer qualifizierten eigenen Forschung und Theoriebildung bedarf. Diese impliziert und ermöglicht den analytischen Blick auf randständige Gebiete sowie auf die Eigenarten und Qualitäten von Räumen unspektakulärer Normalität.


Literatur:
Serres, Michael (2005): Atlas. Berlin: Merve

dérive, Mo., 2012.04.23

23. April 2012 Andrea Benze, Carola Ebert, Julia Gill, Saskia Hebert

Polizeistrategien gegen aktuelle politische Protestbewegungen

»What the police are doing is more akin to Counter Insurgency than to »Protest Policing … « [Luis Fernandez]

Luis Fernandez, Autor von Policing Dissent (2008) und Co-Autor von Shutting Down the Streets (2011), im Gespräch mit Volker Eick und Kendra Briken. Mitte November 2011 sprachen die beiden mit Fernandez über seine beiden Bücher, die globalisierungskritische Bewegung, Occupy Wall Street sowie über aktuelle Polizeitaktiken und -strategien gegen beide Protestbewegungen.

Volker Eick und Kendra Briken:

Luis, in den vergangenen Jahren hast du intensiv zur globalisierungskritischen Bewegung geforscht. Euer neuestes Buch Shutting Down the Streets ist nun auf dem Markt. Worum geht es? Und wie unterscheidet es sich von deiner vor drei Jahren veröffentlichten Monographie Policing Dissent?

Luis Fernandez:

Zunächst will ich mich bei Amory Starr und Christian Scholl für all Ihre Unterstützung und für die Zusammenarbeit mit ihnen bedanken. Was Eure Frage angeht, denke ich, die beiden Bücher ergänzen sich sehr gut, weil sie in der Analyse der grundsätzlichen Mechanismen übereinstimmen, wie Rechtsdurchsetzung bei der Kontrolle politischen Widerspruchs funktioniert. Das erstgenannte Buch, Policing Dissent, ist verankert in den stürmischen Aktivitäten, die die Anti-Globalisierungs-Bewegung ausmachen, auch bekannt als Global Justice-, Anti-Corporate Globalization- oder Alter-Globalization-Bewegung. Das Buch ist aus meiner Beteiligung an dieser Bewegung zwischen 2000 und 2005 im nordamerikanischen Kontext entstanden. Policing Dissent analysiert die staatlichen Kontrollmechanismen aus der Perspektive desjenigen, auf den die Gummigeschoße zufliegen, nicht aus einer Polizei-Perspektive. Meine Absicht war, gleichzeitig voll engagierter Aktivist und Wissenschaftler zu sein, um aus der Mitte dieser politischen Arbeit heraus besser zu verstehen, wie die staatlichen Kontrollmechanismen sowohl auf den Körper wie auch auf das Bewusstsein der Protestierenden wirken. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wirkt das vielleicht etwas unorthodox, aber es gibt für eine solche Perspektive Vorläufer in der kriminologischen Forschung, die Arbeiten von Jeff Ferrell (Anm: Empire of Scrounge. New York: New York University Press, 2006) und Randall Amster (Anm: Lost in Space. El Paso, TX: LFB Scholarly Publishing, 2008) stehen etwa dafür, aber auch frühe Arbeiten aus der Soziologie und Ethnographie.

Mein Einstieg in die Bewegung und meine Teilnahme erlaubten mir genauer zu sehen, wie die Polizei Taktiken entwickelt, um der Bewegung die Spitze zu brechen und, wo immer möglich, versucht, die auf Netzwerken basierende Bewegung zu zerstören. In der Vergangenheit brauchten Organisationen (wie etwa die Gewerkschaften) zentralisierte und hierarchische Strukturen, um handlungsfähig zu sein. Die Person an der Spitze der Organisation verkündet irgendetwas, das wird dann durch die gewerkschaftlichen Leutnants weitergeleitet und kommt dann irgendwann am Ende der Leiter an. Die Alter-Gobalization oder globalisierungskritische Bewegung verweigert sich so einem hierarchischen Schema. Statt eines zentralisierten Systems haben die Beteiligten einen dezentralen, auf Netzwerken basierenden Ansatz für politische Organisierung und Protest entwickelt.

Bedeutsam war auch noch etwas Anderes: Zwar wissen beide, Aktivisten und Forschende, heute um die Bedeutung von neuen Technologien für Protestbewegungen und ihre organisatorischen Strukturen. Doch zu der Zeit, als die Idee für Policing Dissent entstand, also Mitte der 2000er Jahre, hatte die Polizei gerade erst begonnen, die Bedeutung von Mobiltelefonen, SMS, E-Mails, List-Servern und dann Facebook für die globalisierungskritische Bewegung zu verstehen – namentlich den Zusammenhang zwischen Netzwerk-Technologien und den schnellen und direkten Mobilisierungs- und Reaktionsmöglichkeiten.

Die Kontrolle netzwerk-basierter Bewegung

Der Einfluss dieser Technologien auf Protestmobilisierungen ist heute weltweit klar, inklusive der Mobilisierungen für den Arabischen Frühling, für die spanischen Encampados und seit kurzem für die verschiedenen Occupy Wall Street-Gruppierungen, die von New York City über Oakland und Portland auf einige hundert Städte in den ganzen USA übergegriffen haben. Zu der Zeit, als ich Policing Dissent schrieb, waren solche Mobilisierungsformen gerade erst im Entstehen begriffen und, noch wichtiger, die Polizei begann intensiv darüber nachzudenken, wie diese Kommunikationsformen kontrolliert werden können. Das Buch konzentriert sich also auf die Frage, wie der Staat (in Form der Strafverfolgungsbehörden) spezifische Techniken anwendet, um eine netzwerk-basierte Bewegung zu kontrollieren.

Während diese netzwerk-basierte Organisationsform in den ersten Runden der globalisierungskritischen Bewegung sehr effektiv eingesetzt werden konnte, hat die Staatsmacht darauf schnell mit Gegenmaßnahmen reagiert, darunter die vollständige Absperrung öffentlicher Räume, die massenhafte Ausrüstung der Polizei mit militärischer Ausrüstung und der Einsatz von Medienkampagnen. Das Buch stellt die These auf, dass wir über das übliche Verständnis von Repression hinausgehen und uns einen dynamischeren Begriff von Kontrolle und Polizeiarbeit zu eigen machen sollten, der drei getrennte, aber in Wechselwirkung stehende Kontrollformen unterscheidet. Es handelt sich um juristische, physische und psychologische Kontrollformen, die (räumlich und zeitlich) um jeden einzelnen Protest gelegt werden. Und so, wie diese Formen auf die globalisierungskritische Bewegung angewandt wurden, gilt das auch für den Arabischen Frühling, die Situation in Spanien und für andere netzwerk-basierte Bewegungen. Das Buch zieht Schlussfolgerungen, die für die gegenwärtig Protestierenden nützlich sein könnten.

Wenn es um Polizeirepression geht, gibt es für die Öffentlichkeit zwar weniger sichtbare, aber starke Kontrollströme, die subtil aus dem Hintergrund wirksam werden. Werden Proteste angekündigt, umfassen diese subtilen Kontrollformen Auseinandersetzungen um Demonstrationsgenehmigungen, die Kanalisierung von Massendemonstrationen in so genannte Protestzonen und juristische Anmeldeverfahren und Demonstrationsauflagen, die auf die Bändigung des Protests zielen. Bei den zahlreichen Anti-IWF-Protesten haben die Strafverfolgungsbehörden zum Beispiel regelmäßig die Angst vor vermeintlich gefährlichen Protestierenden geschürt, Polizeitruppen in Kampfausrüstung aufmarschieren lassen und ähnliche Taktiken angewandt. Genauso wurden härtere, offensichtlichere Kontrollmethoden eingesetzt, etwa flächendeckende Razzien und Massenverhaftungen von Protestierenden. In Policing Dissent habe ich dann nicht nur untersucht, wie der Staat durch seine verschiedenen Strafverfolgungsbehörden bereits abweichende Meinungen kontrolliert, mir also nicht nur die direkte Polizeigewalt auf der Straße angesehen, sondern auch die von den Behörden entwickelten Strategien zur Regulierung und Pazifizierung des Rechts auf freie Rede und gegen radikale Gesellschaftsanalysen neben und über Demonstrationen hinaus.

Shutting Down the Streets ist ein etwas anderes Buch. Wir haben es zu einer Zeit geschrieben, als sich die erste Welle der globalisierungskritischen Bewegung bereits im Niedergang befand und die Polizei längst sorgfältig Strategien entwickelt hatte, wie sie Massenmobilisierungen gegen die Großveranstaltungen von G8, WTO, NATO und vergleichbaren Organisationen unter Kontrolle halten konnte. Um ein Beispiel zu nennen, das im deutschsprachigen Raum bekannt sein dürfte: Shutting Down the Streets beginnt mit dem Mauerbau rund um den Tagungsort des G8-Treffens in Rostock-Heiligendamm im Sommer 2007. Der deutsche Staat hat einen zweieinhalb Meter hohen Metallzaun mit einem Betonfundament gleich so gebaut, dass auf ihm kilometerlang NATO-Drahtrollen drapiert werden konnten. Als er dann fertig war, sah er eher aus, als sichere er ein Gefängnis ab als ein Treffen von FührerInnen demokratischer Staaten. Spätestens 2007 hatte die Polizei also verstanden, wie sie die Protestierenden weit entfernt vom eigentlichen Ziel ihres Protests einschanzen, isolieren und separieren konnte. Im Ergebnis werden der mögliche Einfluss und die potenzielle Belästigung von Demonstrationen minimiert, während gleichzeitig versucht wird, eine Fassade demokratischer Legitimität aufrechtzuerhalten.

Von der Kontrolle zur Kriminalisierung

Das neue Buch lässt sich als Aktualisierung von Policing Dissent lesen. Wir gehen davon aus, dass sich gegenwärtig ein Angriff auf die Fundamente liberaler Demokratie beobachten lässt. Allerdings gibt es dort ein Paradox. Im selben Moment, in dem grundlegende demokratische Rechte angegriffen werden, unterstützen dieselben Regierungen demokratische Bestrebungen im Inneren und nach Außen, insbesondere wenn es um Menschenrechte in Ländern wie China geht. Unabhängig davon, ob es sich dabei um reine Rhetorik handelt – eine große Zahl von Menschen in diesen Ländern glaubt, sie lebten in einer Demokratie.

Das zweite Buch betrachtet mithin die gegenwärtige soziale Kontrolle von Widerspruch in seinen verschiedenen Ausprägungen, die Auswirkungen, die das auf jede einzelne Faser unserer Gesellschaften hat, und es geht davon aus, dass damit ein grundlegender Wandel einhergeht. Wir gehen davon aus, dass ein zentraler Wandel in der Kontrolle radikaler Bewegungen darin liegt, dass kriminalisiert wird, was noch vor kurzem als Grundrecht galt, wie etwa das Versammlungsrecht, das Recht auf freie Organisierung und auf freie Rede. Allerdings geht das Buch auch über dieses Argument hinaus, denn es zeigt, dass die aktuellen Polizeistrategien viel eher mit Aufstandsbekämpfung als mit der Kontrolle von Demonstrationen zu tun haben. Was an Energien, Ressourcen, Überlegungen und Taktiken gegen Massenmobilisierungen aufgeboten wird, ist dem sehr ähnlich, was das Militär entwickelt hat, um die Herzen und Hirne einer rebellischen Bevölkerung zu gewinnen. Es geht also nicht allein um die Kontrolle abweichender Meinungen, sondern das Buch zeigt, welche Schritte unternommen werden, um Bewegungen zu kontrollieren, die das Potenzial haben, unsere Gesellschaft grundlegend zu verändern.

Eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen hat die polizeiliche Bearbeitung von Protest untersucht (oder, genauer, die Interaktion zwischen Polizei und Protestierenden), dabei Interaktionsmodelle entwickelt und gezeigt, wie diese sich im Zeitverlauf verändern; am bekanntesten dürften die so genannten Eskalationsmodelle sein. Unser Ansatz in diesem Buch ist anders. Wir sehen Polizeiarbeit in diesem Zusammenhang als nur eine von vielen Taktiken in einem System verschiedener Kontrollmechanismen, die viel subtiler, indirekter und einflussreicher sind als nur ein ziviles Management von Protest. Und es geht uns nicht allein um die polizeiliche Kontrolle von Widerspruch durch öffentlich Protestierende, sondern um eine viel größere Gruppe. Uns geht es auch um die Wirkungen auf diejenigen, die einfach auf der Straße sind, die Demonstrationen aus der Ferne unterstützen, und um diejenigen, die vielleicht teilnehmen würden, aber abgeschreckt sind von dem repressiven Image, das die polizeilichen Kontrollen generieren. Mit Shutting Down the Streets definieren wir damit den Begriff Widerspruch auch als ein Konzept, das eine Vielzahl von Verhaltensweisen umfasst, die von Formen regulären Protests bis zu Widerstandsaktionen reichen können (siehe Graphik).

Die unterschiedliche Bedeutung dieser Zonen zu verstehen, scheint uns aus zwei Gründen wichtig. Erstens operiert Kontrolle in jeder dieser Zonen auf unterschiedliche Art und Weise. Beispielsweise können Medienkampagnen die Wahrnehmung von denjenigen beeinflussen, die keine Absicht hatten, auf eine Kundgebung oder zu einer Demonstration zu gehen, die aber sehr wohl einen Einfluss darauf haben, wie sich eine politische Stimmung landesweit verbreitet und vermittelt. Trotzdem tendieren wir als AktivistInnen dazu, die Folgen von Kontrollpolitik auf solche Leute zu ignorieren. Zweitens: Wenn man einen Blick auf die Effekte von Kontrollstrategien über die verschiedenen Zonen hinweg wirft, bemerkt man erst die Breite von Konsequenzen, die solche Strategien und Taktiken haben. Mit anderen Worten, es erschließt sich eine spezifische Form von Aufstandsbekämpfung. Zudem lässt sich erkennen, wie eine spezifische Taktik, etwa der Bau von Absperrungen und Kontrollzäunen, sowohl dazu dient, Mobilisierungen zu spezifischen Orten zu verhindern als auch den Effekt hat (oder doch haben soll), eine Art Wahrnehmungsfelder zu generieren, die Spuren hinterlassen, sich als Erfahrungen einschreiben und damit Einfluss haben auf zukünftige Mobilisierungen, aber auch auf den Aufbau zukünftiger Bewegungen. [...].

Eick/Briken: Was sind aus deiner Perspektive und für dich gegenwärtig in den USA wichtige Themen?

Fernandez: Gegenwärtig beschäftigen mich vor allem zwei Themen. Das erste Thema ist Immigration. Die Tatsache, dass ich in Arizona lebe, hat mir einen Platz in der ersten Reihe am Epizentrum einer Migrationsfeindlichkeit verschafft, die auch in vielen anderen Ländern präsent ist. Aber selbst hier in Arizona, wo viele der drakonischsten Gesetze formuliert worden sind, beobachtete ich starke Momente von Widerstand. So wollte der Gesetzgeber in Arizona im Mai 2010 ein Gesetz verabschieden, das die Polizei verpflichtet hätte, jeden anzuhalten, den sie für einen Undokumentierten hält – was in Arizona als rassistische Kontrolle von Personen mit mexikanischem Hintergrund übersetzt werden muss, egal ob legal oder nicht. Trotzdem: Zur Hochzeit der repressiven Propaganda gelang es der Repeal Coalition, etwa 500 Leute zu einem Treffen der Stadtverwaltung zu mobilisieren (die Koalition arbeitet eng mit Undokumentierten zusammen; siehe: http://www.repealcoalition.org/news). Die meisten von ihnen waren Undokumentierte, was ja auch bedeutet, dass sie unter normalen Umständen nie als politische AkteurInnen wahrgenommen worden wären, denn die normalen politischen Kanäle (wie sie Stadtverwaltungen darstellen) hören ja nur Leuten zu, die wählen. Diese Leute aber dürfen nicht wählen, werden als illegal bezeichnet, und das ist auch noch gesetzlich abgesichert. Nichtsdestotrotz standen viele von ihnen im Mai den PolitikerInnen gegenüber und sprachen sich gegen die aktuellen Gesetze aus. Sie haben nicht nur geredet, sondern forderten die Aufmerksamkeit der Offiziellen ein. Sie bestanden darauf, dass sie gehört werden und dass die lokalen PolitikerInnen auch ihre Interessen repräsentieren. Für mich war das eine unglaubliche Erfahrung, denn das herrschende juristische und politische System ist ja absichtsvoll so konstruiert, ihre politische Subjektivität auszuradieren, sie unsichtbar, fügsam und gefügig zu machen.

Weltweite Protestwellen

[…] Das zweite Thema, das mich gerade beschäftigt, sind die gegenwärtigen Protestwellen, die die Welt erschüttern. Diese Protestwelle, die in Tunesien begann, sich nach Ägypten und weiter nach Europa und in die USA verbreitete, scheint etwas Neues zu sein, eine andere Form von Protest als die, die wir bisher analysiert haben. Der entscheidende Unterschied ist vermutlich der diesen Protesten zugrunde liegende globale ökonomische Kollaps, der sich 2008 zu entwickeln begann.

Die Effekte dieses Kollapses sind gegenwärtig einigermaßen unvorhersehbar und facettenreich, und sie schlagen sich in den jeweiligen Ländern unterschiedlich nieder. Beispielsweise haben sie in Griechenland zu ernsthaften politischen Auseinandersetzungen geführt, wo sich die Bevölkerung gegen die gegen sie gerichteten Sparmaßnahmen wehrt. Das waren ausgesprochen gewaltsame Auseinandersetzungen. In Spanien sehen wir eher ordentliche Demonstrationen, wo Hunderte und Tausende von Leuten auf öffentliche Plätze gezogen sind, um dort zu demonstrieren und zu bleiben. Die Riots in England sind gleichsam noch interessanter, weil sie sich zwar auch aus vergleichbaren Stimmungen speisten, aber die Krawalle waren keine Auseinandersetzung einer sozialen Bewegung, wie das in Griechenland oder Spanien der Fall gewesen ist. In England haben wir einen Ausbruch von Gewalt gesehen, der jeden völlig überrascht hat, auch die Polizei. Wenn man sich ansieht, wie die Polizei in den englischen Städten reagiert hat, dann hat sie ähnliche Techniken angewandt, wie sie bei den G8-Protesten so gut funktioniert haben. Allerdings sind sie in England gründlich schief gegangen. So hat zum Beispiel die Londoner Polizei Barrikaden zur Separierung und Isolierung (Anm.: Techniken, die für Massendemonstrationen entwickelt worden sind) mit dem Ziel errichtet, die Randale zu befrieden. In einem Fall fiel die Polizei in eine Nachbarschaft ein, riegelte sie mit Zäunen und Polizisten ab, und das nur, um zusehen zu können, wie die Rioter hier verschwinden und an einem anderen Ort in der Stadt wieder auftauchen. Ganz anders als traditionelle ProtestiererInnen haben sich die Leute in England an keine Protestregeln gehalten, hauptsächlich, weil sie eben keine traditionellen DemonstrantInnen sind. Diese spezifischen Momente sind vor allem auch deshalb so interessant, weil sich in ihnen das fragile (und hochdynamische) Verhältnis zwischen Kontrolle und Widerstand zeigt.

Aus dieser Perspektive macht auch die US-amerikanische Occupy Wall Street-Bewegung keinen Unterschied. Sie hat sich mehr oder weniger zufällig aus dem Quasi-Fake einer Zeitschrift entzündet, die zur Besetzung von New York aufrief. Die Gruppe wuchs schnell auf mehrere hundert Protestierende an, die Polizei nahm sofort mehrere Dutzend von ihnen in der Hoffnung fest, das würde die kleine Gruppe nachhaltig zerlegen. Stattdessen konnte sie je mehr Raum greifen und dabei jedes Mal mehr Leute gewinnen, je energischer die Polizei gegen sie vorging. Anfang November 2011 gab es etwa 1.500 Besetzungen öffentlicher Plätze quer durch die USA, von kleinen Städten wie Albany bis zu größeren Metropolen wie San Francisco und Oakland. Mitte November begann die Polizei, aggressiver gegen die Protestierenden vorzugehen und sie aus den besetzten Parks zu vertreiben, in manchen Fällen in ganz ähnlicher Weise, wie sie auch gegen die globalisierungskritische Bewegung vorgegangen ist. Aber auch diese Vorgehensweise führte zu einer Intensivierung der Bewegung, weil sich noch mehr Leute auf den Straßen versammelten.

Für mich stellt sich Occupy als Fortsetzung des Arabischen Frühlings, der Krise in Europa und der Riots in England dar. Die Wurzeln dieser Kämpfe sind ähnlich: ökonomischer Niedergang und Ungleichheit, beides aktualisiert durch die globale Finanzkrise. Was mich an Occupy interessiert, ist, wie sich die lokale und nationale Politik in den USA durch diese Bewegung verändert und wie die Polizei mit dem Protest umgeht. Occupy beginnt bereits, die Strafverfolgungsbehörden landesweit zu ermüden, insbesondere in Städten wie etwa Oakland, wo die Demonstrationen die ökonomisch klamme Stadtverwaltung zwingen, immer mehr Polizei auf die Straße zu schicken. Das verschärft die Krise zusätzlich. Zur gleichen Zeit wird aber auch deutlich, dass die Polizeiaktionen nicht den gewünschten Erfolg bringen. Während sie einige der Kontrollformen anwenden, die sie auch gegen die globalisierungskritische Bewegung in Anschlag gebracht haben, können sie diesen Protest damit nicht stoppen.

Im Moment wird noch nicht das gesamte Arsenal an sogenannten weniger tödlichen Waffen angewandt, weil nach jedem Einsatz die Reaktionen der Öffentlichkeit negativ ausfallen. Es scheint, als hätten die Protestierenden der Occupy-Bewegung die Polizei, zumindest für den Moment, aus dem Gleichgewicht gebracht. Das wird allerdings nicht lange anhalten. Es gibt bereits Hinweise darauf, dass landesweit koordinierte Anstrengungen der Strafverfolgungsbehörden existieren. Die Bundespolizei FBI hat bereits begonnen, mit mehreren führenden Polizeibeamten aus zahlreichen Städten die Räumung der Occupy-Camps zu koordinieren. Das ist gut dokumentiert und auch klar erkennbar an der Räumung der größeren Camps in New York, Oakland, Portland und Los Angeles. Eine weitere aktuelle Entwicklung ist die Medienberichterstattung über Occupy. Bis vor kurzem haben die Medien über die Bewegung vor allem positiv berichtet. Allerdings können wir in den letzten Wochen eine Art Medienwende beobachten, eine veränderte Rahmung der Protestierenden – von aufgebrachten BürgerInnen zu gefährlichen Kriminellen, die weder Arbeit noch Lösungsvorschläge haben. Wenn sich diesemediale Darstellung verfestigt, dann erwarte ich noch mehr Polizeigewalt. Und es ist schwer zu sagen, wie die Protestierenden reagieren werden. Die polizeiliche Bearbeitung der Occupy-Bewegung ist im Wandel begriffen, sie verändert sich sehr schnell von Tag zu Tag. Allerdings lassen sich auch Potenziale für grundlegende weitere Entwicklungen erkennen. Es sind nicht zuletzt diese Potenziale, die meine Arbeit antreiben und mich weiter elektrisieren. [...]

Luis A. Fernandez arbeitet im Department of Criminal Justice, Northern Arizona University in Flagstaff/Arizona. Kendra Briken und Volker Eick sind im Sonderforschungsbereich 597 »Staatlichkeit im Wandel« der Universität Bremen tätig. Demnächst erscheint ein von den beiden redaktionell betreutes Sonderheft der Zeitschrift Social Justice unter dem Titel Policing the Crisis — Policing in Crisis.


Literatur:
Luis A. Fernandez (2008): Policing Dissent. Social Control and the Anti-globalization Movement. New Brunswick, New Jersey, London: Rutgers University Press.
Amory Starr; Luis A. Fernandez & Christian Scholl (2011): Shutting Down the Streets. The Social Control of Global Dissent. New York: New York University Press.

Eine ausführlichere Version dieses Interviews in deutscher Sprache ist auf www.derive.at, das vollständige Interview in englischer Sprache ist unter http://policing-crowds.org/security/article/luis-fernandez-on-arizonas-immigration-laws-and-policing-as-counter-insurgency nachzulesen

dérive, Mo., 2012.04.23

23. April 2012 Volker Eick, Kendra Birken

From Dusk till dawn in Kreuzberg

»Der ›Graefekiez‹ droht der Gentrifizierung zum Opfer zu fallen, und dann das: Die Milch ist aus«. Das ist kein unerhebliches Problem in einem Bezirk, in dem namhafte Kneipen wie das Wirtschaftswunder oder das West-Germany langsam ihrem Ende zugehen — zu Gunsten von kleinen, schicken Cafés, in denen nun Horden von jungen Menschen aus der Medienbranche ihren täglichen Latte Macchiato genießen. Klaus Bittermann fängt in Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol genau diese Diskrepanz zwischen der »alten Welt« der original »Balliner« und der »neuen Welt« des gentrifizierten Kreuzberger Graefekiez ein. In 79 kurzen Episoden erzählt der Autor, der selbst seit dreißig Jahren in dem Viertel wohnt, von Alltagszenarien, die von Gewinnern und Verlierern der Gentrifizierung berichten. Hier treffen junge Alternative, die in warmen Sommernächten auf der Admiralbrücke feiern, auf Obdachlose und arme Menschen, die am Tag darauf die liegengebliebenen Flaschen in den Supermarkt tragen. »Aufeinander treffen« ist an dieser Stelle eigentlich das falsche Wort, denn in den zahlreichen Alltagsminiaturen wird deutlich, dass sich im Graefekiez verschiedene Welten entwickelt haben, die sich nur wenig füreinander interessieren: Da ist die junge Frau mit den vier Jobs im Kreativbereich und da sind die ebenso jungen Väter in Jack Wolfskin-Jacken, die an Sonntagen in langen Schlangen vor den Bio-Bäckereien des Viertels warten. Aber auch die Alkoholiker, die vor Getränke Hoffmann ihre Tage verbringen, die alte Dame, die manchmal ihr Essen aus dem Fenster wirft, oder der Mann mit Mundschutz und Kaisers-Tüte, der still allen vorbeifahrenden Autos hinterher schimpft.

Obwohl Klaus Bittermann schon sehr lange im Graefekiez lebt, schafft er es mit einem Blick, den man fast als das Gegenteil von going-native beschreiben kann, seine Umwelt zu erfassen. Dies tut er mit einem sehr trocken-sarkastischen Ton, ohne allzu sehr ins Wertende zu gehen. Als Autor und Verleger ist er selbst Teil der Latte-Macchiatisierung und davon berichten auch die Episoden, in denen er von seinem eigenen Alltag zwischen Lesungen, Ausstellungseröffnungen, Cafébesuchen und anderen Veranstaltungen der linken Kulturszene erzählt. Dennoch merkt man ihm die Sympathie für den alten Graefekiez und dessen Einwohner an: »Die Parterre­wohnung neben dem Spätkauf, aus der mich die kleine schwankende und struppelige Frau mit den großen Zahnlücken um einem Euro anhaute, wird gerade saniert. Auf einem Zettel an der Scheibe steht eine Telefonnummer. Der Zettel verrät nicht, was aus der Frau mit den großen Zahnlücken geworden ist. Wieder eine weniger, bei der es auffällt, dass sie nicht mehr da ist (…) bei tausend anderen, die hier wohnen, würde es mir nicht auffallen, weil die alle einen Fahrradhelm aufhaben und weite erdfarbene dreiviertellange Hosen tragen. Wie kann man die alle auseinanderhalten?«

So schafft es Bittermann auf sehr unterhaltsame Art und Weise, durch die vielen kleinen Alltagsbeobachtungen in ihrer nur scheinbaren Banalität ein Schlaglicht auf die aktuell voranschreitende Gentrifizierung in Berlin-Kreuzberg zu werfen. Bittermann trauert nicht nach, er dokumentiert lediglich die Veränderungen in seinem Viertel mit einem ironisch-kritischen Blick: »Zwei Häuser weiter guckt Otto aus dem Fenster seiner Hochparterre-Wohnung. Er guckt da meistens raus. Dafür er hat er sich schon ein Kissen aufs Fensterbrett gelegt, um seine Ellbogen weicher zu betten. Der Mann ist ein Relikt aus dem alten Viertel, als es in der Straße noch kein Café gab, sondern nur einen Sanitärladen. Otto ist ein Gentrifizierungsgewinner, denn er hat heute viel mehr zu gucken als früher.«


Klaus Bittermann
Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol
Berlin: Edition Tiamat, 2011
191 Seiten, 14 Euro

dérive, Mo., 2012.04.23

23. April 2012 Anne Erwand

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