Editorial

Edtorial

84 Seiten hat diese Ausgabe von dérive und ist damit das umfangreichste dérive, das je erschienen ist. Wir haben die zusätzlichen Seiten aber nicht ausschließlich dazu genutzt, um noch mehr Texte unterzubringen, sondern diesmal auch mehr Platz für Fotos eingeräumt. Der von Christa Kamleithner redaktionell betreute Schwerpunkt Gouvernementalität wird von einer Fotoseri e begleitet, die aus dem Projekt Videotaxi / Ganz wie zu Hause von Margit Czenki und Christoph Schäfer stammt, das letzten Herbst auf der Hamburger Veddel realisiert wurde. Mehr darüber auf Seite 32.

Der von Michel Foucault geprägte Begriff der Gouvernementalität und dessen aktuelle Interpretation von Nikolas Rose waren für Christa Kamleithner Ausgangspunkt für die Konzeption des Schwerpunktes, der diese Theorien für die Stadt- und Raumplanung aufbereiten möchte. Rose stellt sein Konzept Regieren durch Community u. a. in dem Text Governing Cities, Governing Citizens dar, den wir (leicht gekürzt) aus Engin F. Isins Band Democracy, Citizenship and the Global City übernommen haben. Kamleithner zeichnet in ihrem einleitenden Beitrag Planung und Liberalismus die Planungsgeschichte inklusive des Selbstbildes der Planung nach, der Schwerpunkt liegt dabei auf den liberalen Anfängen der Planung und der gegenwärtigen, durch neo liberale Selbstaktivierungs- und -optimierungsforderungen geprägten Ausformung.

Susanne Krasmann, Soziologin in Hamburg, stellt Foucaults Forschungen zur Gouvernementalität vor, in denen er zeigt, „wie die Regierung sich historisch als ein spezifischer Machttypus etabliert, zeitgleich mit der Herausbildung der politischen Ökonomie als einem eigenständigen Wissenschaftsgebiet und der Bevölkerung als einem spezifischen Interventionsfeld der Regierung.“ Boris Michel, Autor des Buches Stadt und Gouvernementalität, und Fabian Kessl, Mitherausgeber des Buches Territorialisierung des Sozialen, geben einen Überblick über das Thema und beschäftigen sich insbesondere mit den räumlichen Neuordnungen, die mit den neuen Regierungsformen verbunden sind.

Stephan Lanz lotet Chancen und Risiken des mit Erwartungen meist überladenen Quartiersmanagements aus, das ein schönes Beispiel von Regieren durch Community darstellt. Ähnliche falsche Hoffnungen weckt das Modell der Regionalisierung, dem sich Uwe Kröcher in seinem Beitrag Vom Hoffnungsträger zum Wettbewerbshüter. Die Entdeckung der Region als Instrument neoliberaler Wirtschaftspolitik annimmt. Albrecht Göschel und Dirk Schubert beschäftigen sich mit neuen Formen von Stadtplanung und -politik, einmal anhand des Forschungsverbundes Stadt 2030 einmal am Beispiel Hamburg, das sich als „Wachsende Stadt“ versteht. Diese neuen Formen stehen deutlich im Zeichen eines zunehmenden Städtewettbewerbs, der wesentlicher Bestandteil gegenwärtiger Gouvernementalität ist.

Neben dem Schwerpunkt, dem Besprechungsteil, dem Kunstinsert und der Serie Geschichte der Urbanität, die sich diesmal Patrick Geddes Biopolis annimmt, gibt es eine Beitrag über Die Bauordnungen des 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf das Stadtbild und die Stadtgestalt von Wien, den Harald Stühlinger für dérive verfasst hat.

Zum Abschluss möchte ich noch auf Andreas Fogarasis Ausstellung im Wiener MAK hinweisen, die vom 9. April bis zum 14. September zu sehen sein wird. Die nächste Ausgabe von dérive erscheint Anfang Juni und knöpft sich die Auswirkungen von Sportevents wie der Fußball-EM auf die Stadt und ihre BewohnerInnen vor.

Christoph Laimer

Inhalt

Inhalt

Schwerpunkt: Gouvernementalität 

Planung und Liberalismus 
Christa Kamleithner

Foucaults Konzept der Gouvernementalität: Freiheit und Sicherheit, Einbindung und Exklusion
Susanne Krasmann

Governing Cities, Governing Citizens
Nikolas Rose

Städtisches Regieren. Anmerkungen zu Gouvernementalität und Stadt
Boris Michel

Regieren über soziale Nahräume. Zur (Re-)Territorialisierung des Sozialen
Fabian Kessl

Powered by Quartiersmanagement: Füreinander Leben im „Problemkiez“
Stephan Lanz

„Videotaxi / Ganz wie zu Hause.“ Hamburg-Veddel, September 2007 (Über die Fotoserie – Seite 4 bis 52 – zum Schwerpunkt) 
Margit Czenki und Christoph Schäfer

Vom Hoffnungsträger zum Wettbewerbshüter. Die Entdeckung der Region als Instrument neoliberaler Wirtschaftspolitik
Uwe Kröcher

Government und Governance. Zum Forschungsverbund „Stadt 2030“
Albrecht Göschel

Metropole Hamburg – Wachsende Stadt. „Good Governance“ und Stadtentwicklung zwischen Exklusion und Inklusion
Dirk Schubert

Magazin

Kunstinsert: „Geteilte Zuversicht“
Iris Andraschek 

„Der Anstrich des Gebäudes muss den Augen unschädlich seyn.“
Die Bauordnung des 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf Stadtbild und Stadtgestalt von Wien
Harald Stühlinger

Serie: Geschichte der Urbanität (Teil 23): Stadt und Natur Teil 1: Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis
Manfred Russo

Besprechungen

Moderne, Modernismus, Modernisierung
Jens Kastner über eine Austellung von Heidrun Holzfeind in der Galerie Taxispalais
Soziale Konstruktion des Raumes
Josef Hierlmeier über den Band  Raumproduktionen herausgegeben von Bernd Belina und Boris Michel
Neuskalierung des sozialen Raumes
Christa Kamleithner über Territorialisierung des Sozialen herausgegeben von Fabian Kessl und Hans-Uwe Otto
Panische Metropolis
Thomas Ballhausen über Panische Stadt von Paul Virilio 
Palästina, nicht Schlesien
Iris Meder über die Ausstellung The White City of Tel Aviv – Tel Aviv´s Modern Movement im Architekturzentrum Wien
Wilhelm Reich revisited
Susanne Karr über die Ausstellung Sex! Pol! Energy! im Jüdischen Museum Wien und den Katalog Wilhelm Reich Revisited
Diesseits und Jenseits von Retro
Iris Meder über die Bücher Stillgelegt von Christoph Lingg, Eastmodern von Hertha Hurnaus u.a. (Hg.) und Detours von Martin Feiersinger
Japans schwieriger Weg von der Leere zur Fülle
Manfred Russo über die Ausstellung Nagoya. Das Werden einer Großstadt im Wien Museum
Von der Stadtfurcht zum Angstraum
Udo Häberlin über Großstadtängste herausgegeben von Klaus Sessar, Wolfgang Stangl und René van Swaaningen
Geography matters for innovation
Christoph Laimer über das Buch Stadtpolitik von Hartmut Häußermann, Dieter Läpple und Walter Siebel
Die Monografie hat immer Saison
Elke Krasny über die Ausstellung Ich bin keine Küche im Ausstellungszentrum Heiligenkreuzer Hof
Herrschende Frauen
Susanne Karr über den Band Ohne Frauen ist kein Staat zu machen herausgegeben von Luise F. Pusch und Andrea Schweers

Impressum / Abonnement

Planung und Liberalismus

Der Schwerpunkt „Gouvernementalität“ setzt sich mit dem von Michel Foucault geprägten Begriff, der auf ein erweitertes Verständnis von „Regierung“ zielt, auseinander und versucht davon ausgehend die gegenwärtige Stadt- und Raumplanung zu analysieren. Eine Interpretation aktueller Gouvernementalität, die dafür als sehr brauchbar erscheint, ist Nikolas Roses Konzept „Regieren durch Community“; übertragen auf die Ebene der Stadt- und Raumplanung meint dieses einen Fokus auf „das Lokale“ und auf „soziale Nahräume“ sowie einen verstärkten Einbezug der Zivilgesellschaft und neuer lockerer Steuerungsformen, für die der Begriff „Governance“ üblich geworden ist. Dieser neue Fokus ist ambivalent, er schafft Freiräume und schließt diese aber auch wieder. Die Frage nach der eigentümlichen Verschränkung von Freiheit und Planung, die sowohl die liberale wie die neoliberale Gouvernementalität kennzeichnet, durchzieht den Schwerpunkt, der sich insbesondere mit der letzteren beschäftigt, aber auch kurze historische Rückblicke unternimmt.

Das Selbstbild der Stadt- und Raumplanung ist wesentlich dadurch bestimmt, Gegenkraft des Marktes zu sein. Dieses Bild geht auf die Anfänge der Disziplinengründung um 1900 zurück und die Geschichtsschreibung, die diese Anfänge begleitet hat. Die Planung erscheint hier als Bezwingerin eines chaotischen Zustandes, verursacht durch die Entstehung einer modernen mobilen Gesellschaft und entfesselter Märkte: es ging um einen „Kampf der Ordnung gegen das Chaos“ (Hegemann 1911, 8). Die daraus entstehende moderne Planung verfügt nicht mehr über jene umfassenden rechtlichen und finanziellen Ressourcen, die den Städtebauern in den absolutistischen Staaten des 18. Jahrhunderts zukamen; und sie muss nun auch mit einer Pluralität von ökonomischen und sozialen Kräften umgehen – diese scheint sie jedoch ab Anfang des 20. Jahrhunderts zumindest ordnen und befrieden zu können zu können.

In den letzten Jahrzehnten ist der Glaube an das Wissen und die Autorität der Planung weitgehend verschwunden. In den 1960er und 70er Jahren kam es zu einem Aufbegehren der Zivilgesellschaft gegen die autoritäre moderne Planung, insgesamt haben sich die ökonomischen und politischen Verhältnisse verändert. Von einem Rückzug der Politik und einer Dominanz des Marktes ist die Rede, das Selbstverständnis der Planung ist entsprechend in Frage gestellt. Die Planung sieht sich gezwungen, neue Formen zu entwickeln und mit verschiedenen AkteurInnen zu ko operieren, was einem Verlust an Regulationsvermögen gleichzukommen scheint. Im Folgenden wird demgegenüber argumentiert, dass diese Entwicklungen nicht auf weniger, sondern auf eine andere Art der Regulierung zielen, auf ein Ordnungssystem, in dem Planung und Freiheit miteinander verschränkt sind. Diese Verschränkung ist keine Neuerfindung der Gegenwart, sie ist ein Kennzeichen auch der Anfänge der modernen Planung im 19. Jahrhundert, auf die mir ein historischer Rückblick lohnend scheint, wie überhaupt einer modernen „Gouvernementalität“. Foucaults Konzept der Gouvernementalität ist für eine Befragung des Selbstverständnisses der Planung überaus relevant. Es meint eine Kritik an der Vorstellung staatlicher Regierung als einer abgrenzbaren Institution und kehrt die Verknüpfung politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Regelwerke heraus, die im Verbund ordnen und regulieren.

„Natürliche“ Regulierungen und die Freiheit zu zirkulieren

Der Begriff „Gouvernementalität“ bezieht sich bei Foucault sowohl auf ein erweitertes Konzept von Regierung wie auf eine historisch situierbare Regierungsreform, die eine solche Ausdehnung gezielt unternimmt (siehe Krasmann in diesem Heft). Diese neue Art der Regierung ist Ergebnis eines erstarkenden Liberalismus, der einerseits auf eine Zurücknahme von fixen Regelwerken und die Eigenaktivität der Individuen setzt und damit andererseits neue und weitere Ebenen von Regierung einzieht. Sie steht in gewisser Weise im Gegensatz zur Regulierungswut der Verwaltungsapparaturen des 18. Jahrhunderts und steht dennoch mit diesen in Verbindung. Denn schon die Kameral- und Polizeiwissenschaften dieser Zeit entwickeln ihre Ordnungsvorstellungen aus einer genauen Analyse ihres Gegenstandes; sie setzen nicht den beliebigen Willen eines Souveräns durch, sondern versuchen, mit der Empirie umzugehen.

Nach einer längeren Vorgeschichte entwickelt sich so um 1800 eine neue Vorstellung von Regierung, die normative Vorstellungen aus einer Analyse der Wirklichkeit entwickeln möchte und die insofern, wie Foucault sagt, einer „Naturalität [...] im Inneren der politischen Künstlichkeit eines Machtverhältnisses“ (Foucault 2004a, 42) zum Durchbruch verhilft. Während disziplinierende Maßnahmen von einer fixen Norm ausgehen, basieren die neuen Sicherheitspraktiken auf einer Beobachtung der Wirklichkeit und gewinnen daraus erst eine (flexible) Norm. Die „Bevölkerung“ wird nun als Interventionsfeld entdeckt, und mit dieser treten demografische und sozialmedizinische Themen ins Zentrum der Politik. Die Bevölkerung ist dabei nicht nur „Objekt“, das der Regierung bedarf, sie ist auch „Subjekt“, das der Regierung sagt, was sie zu tun hat (Foucault 2004a, 70, 158). Die neuen Regulierungsweisen sind zweifach „natürlich“: Sie richten sich auf als natürlich angesehene und damit nicht beliebig formbare Sachverhalte wie Geburten- und Sterberaten oder die Nahrungsproduktion, und sie regulieren diese auf „natürliche“ Art und Weise, in Anpassung an die als notwendig erscheinenden Erfordernisse (Foucault 2004b, 33).

Die Kritik an der bis dahin geübten Regulierungspraxis, die insbesondere von der sich neu etablierenden politischen Ökonomie stammt, zielt nicht auf die Aufgabe jeglicher Regulierung und die Schaffung größtmöglicher Freiheit, sie sieht die Notwendigkeit einer größeren Kenntnis der Bedürfnisse und Abläufe, die dann entsprechend einzurichten wären: „Aber diese Mechanismen zu beachten, bedeutet nicht, daß sie [die Regierung, Anm.] sich ein rechtliches Regelwerk geben wird, das die individuellen Freiheiten und die Grundrechte der Individuen respektiert. Es soll einfach bedeuten, daß sie ihre Politik mit einer genauen, ständigen, klaren und deutlichen Kenntnis dessen ausrüsten wird, was in der Gesellschaft geschieht, was im Markt geschieht [...], so daß die Begrenzung ihrer Macht sich nicht aufgrund des Respekts vor der Freiheit der Individuen vollzieht, sondern einfach durch die Gewißheit der Wirtschafts analyse, die sie zu achten weiß.“ (Foucault 2004b, 95) Die Zurücknahme von Regulierungen und die (teilweise) Freigabe der Märkte zielt nicht auf die Herstellung unbeschränkter Freiheit, sie soll vielmehr eine neue Ordnung zu Tage fördern. Der Markt wird nun zu einem „Ort der Wahrheitsbildung“, der sich selbst überlassen werden muss, damit er „seine Wahrheit formulieren und sie der Regierungspraxis als Regel und Norm vorschlagen kann.“ (Foucault 2004b, 52)

Eine wesentliche Aufgabe der neuen Regierungspraxis wird es daher sein, ein freies Spiel der Zirkulationen zu ermöglichen; denn, und dies ist ein zentraler Punkt Foucaults, die anvisierte Freiheit ist nicht etwas, das einfach da wäre, sondern etwas, das produziert werden muss. Die Individuen treten nicht selbstverständlich als einzelne und zirkulierende auf und treten in einen freien Wettbewerb ein. Ein solcher stellt sich nicht von selbst ein, sondern muss eingerichtet werden – dies ist insbesondere auch eine Erkenntnis des Neoliberalismus: Der freie Markt ist die Aufgabe einer „aktiven Gouvernementalität“, der Wettbewerb „ein geschichtliches Ziel der Regierungskunst und keine Naturgegebenheit“ (Foucault 2004b, 173f.). Dieser spezifischen, damit verbundenen Form der Freiheit geht Foucault nach: Die moderne Freiheit sei, sagt er, nichts als eine „Zirkulationsfreiheit“ (ebd., 78); sie ist keine rechtlich verbürgte Freiheit, die das Individuum mit Optionalität ausstattet, sondern eine Freiheit zur Natürlichkeit, die einen als wahr imaginierten Kern freilegen möchte. Die Ermöglichung von Zirkulation, die Schaffung von Beweglichkeit tendiert dann auch dazu, das freie Spiel tendenziell wieder aufzuheben, sie zielt auf die Schaffung einer idealen Anordnung; darauf, die Dinge und Lebewesen an den (ökonomisch) richtigen Ort zu bringen.

Moderne Deterritorialisierung und moderne Planung

Die moderne Stadtplanung entsteht in Reaktion auf ein bis dahin unbekanntes Stadtwachstum, das in den deutschsprachigen Gebieten, die hier im Vordergrund stehen, ab etwa 1850 bzw. 1870 einsetzt.1 Das rasche Wachstum der bereits zuvor eher größeren Städte, das wie eine Naturgewalt über diese hereinbricht und als eine solche angesehen wird, ist genau das nicht, naturwüchsig, sondern Ergebnis einer gezielten Mobilisierung. Schon ab Anfang des 19. Jahrhunderts finden u. a. in Preußen Reformen statt, die eine Liberalisierung und Modernisierung zum Ziel haben. Diese Liberalisierung wird mittels polizeilicher Verordnung durchgesetzt; sie entspringt einem aufgeklärten Beamtengeist, der an eine Emanzipation der Bürger denkt, schließlich aber auf Kosten einer politischen Liberalisierung lediglich eine wirtschaftliche vollzieht. Zentrales Ziel der Reformen ist eine Stärkung der Wirtschaft, als Weg dahin wird in klassisch liberaler Argumentation die Herstellung von Wettbewerb angesehen. Eben zu diesem Zweck werden einige „Freiheiten“ eingeführt, unter anderem die Freizügigkeit der Person und die Gewerbefreiheit; politische Partizipation und Redefreiheit hingegen werden hintan gestellt. (Koselleck 1967)

Für den Städtebau haben die Reformen enorme Konsequenzen. Die so genannte Bauernbefreiung wie auch der neue Konkurrenzdruck im städtischen Gewerbe erzeugen eine mittellose entwurzelte Unterschicht in neuer Größenordnung, die das Industrieproletariat der nun wachsenden Großstädte stellen wird. Wesentlicher Bestandteil der Reformen ist auch die Herstellung modernen Eigentums an Grund und Boden, der mit der Ablösung der vormals mit dem Boden verbundenen Herrschaftsverhältnisse zur Ware wird. Damit bildet sich ein dynamischer Bodenmarkt aus, und der Städtebau wird auf eine neue, ökonomische Grundlage gestellt. Basiert er zuvor auf der Verfügungsgewalt der zentralen Instanz eines Landesfürsten, gewinnt er nun eine scheinbar naturwüchsige Basis, mit der sich der Städtebau auseinander setzen muss. Die städtebaulichen Ideen des 18. Jahrhunderts werden zunehmend hinfällig, die Vorstellung von Stadt als einem architektonisch durchgestalteten Stadtkörper, der eine stabile soziale Ordnung widerspiegelt, verliert die Grundlagen. (Fehl 1983) Die Konzepte und Instrumente, mit denen die Stadtplaner dem Stadtwachstum begegnen, sind zunächst noch die alten: Straßenpläne, die Straßenführung und Blockgrößen festlegen und dabei dem alten Muster geschlossener Fluchten folgen. Neu ist, dass darüber hinaus wenig Auflagen gemacht werden, was in Folge zu dichtester homogener Bebauung und zur „Mietskaserne“ führt, aus deren Kritik der moderne Architektur- und Planungsdiskurs hervorgegangen ist. Unterlegt sind diese Planungen – hier wäre insbesondere an den Berliner Hobrechtplan zu denken – mit liberalen Argumentationen: Der Plan soll die Freihaltung des öffentlichen Grundes sichern, darüber hinaus aber die Eigentümer möglichst wenig einschränken; zudem wird von einer Gleichbehandlung der Eigentümer ausgegangen und von einer Differenzierung des städtischen Raumes bewusst abgesehen.

Genau daran wird ab 1870 massive Kritik geübt, immer noch oder gerade auch mit liberalen Argumenten, nun jedoch vor dem Hintergrund einer stärkeren Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Diese Kritik stammt insbesondere von Statistikern und Ökonomen, die eine genaue Kenntnis der sozialen Topografie, der Verkehrsverhältnisse und Bodenwerte haben. Aus dieser Sicht ergibt sich ein anderes Stadtbild, das von einer bereits durch den Bodenmarkt angestoßenen sozialen und funktionalen Zonierung ausgeht und diese zur Norm erhebt: „Eine „Großstadt“, überall „großartig“ oder „gleich“, ist nichts als „hohler Schein“, weil sie „den normalen Verhältnissen“ in der Klassengesellschaft nicht entspricht: die „mutmaßliche Zukunft gewisser Stadtteile in sozialer Beziehung“ verlangt eine danach getroffene Gestaltung der Konfiguration ihrer Straßen‘ [...]; und weiter: die auf dem Plan fehlende „Straßenindividualisierung“ verhindert es, „die verschiedenen, in einem städtischen Gemeinwesen vereinigten Tendenzen der Gesellschaft durch ihrem Wesen entsprechende Formen zur Erscheinung zu bringen“; denn schließlich solle man, „ohne eine Stadt zu kennen, es bereits dem Plane ansehen [...], wo die Arbeiter-, die Luxus-, die Geschäfts- und Wohnviertel sich befinden“.“ (Rodriguez-Lores 1980, 36; E. Bruch zitierend)

Die Planer beklagen zwar ein durch die Spekulation verursachtes Chaos, das sie zu bändigen hätten, jedoch ist die städtische Realität, die sich auf Grund der neuen ökonomischen Lage einstellt, nicht beliebig. Und eben diese sich durch das ökonomische Spiel ergebenden Gesetzmäßigkeiten nimmt die moderne Planung zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen; sie richtet sich nicht gegen den freien Markt, sondern nur gegen dessen Auswüchse bzw. mehr noch gegen veraltete Planungsformen, die mit diesem nicht umzugehen wüssten. Kernstück der neuen Planung sind Zonenpläne, die bis heute wesentliches Planungsinstrument sind; sie teilen den städtischen Raum in Zentrum, Wohn- und Industriegebiete und schreiben dabei auch soziale Differenzen fest. Das Verhältnis von Wirklichkeit und Planung ist dabei überaus komplex, einerseits gibt der Bodenmarkt diese Zonierungen vor, andererseits hätten sich diese ohne Planung weniger klar durchgesetzt. Die Motivationen der Planung sind verschiedene, es stehen hygienische und wohnreformerische Anliegen dahinter, die mit den Zonierungen eine aufgelockerte Bebauung durchsetzen wollen, ebenso wie ökonomische Anliegen, denen es um die Sicherung von Grundstückswerten und Teilmärkten geht, die durch eine soziale und bauliche Durchmischung gefährdet wären (Weiland 1985). Das Paradoxe der modernen Planung ist, dass sie im Grunde das herzustellen sucht, was sie als existierend voraussetzt – das aber macht, wie Foucault zeigt, insgesamt das Projekt des Liberalismus aus (Foucault 2004a, 77).

Die um 1900 entwickelten Zonenplanungen denken die Konzepte der „funktionellen Stadt“ und der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ bereits vor. Die Planung des 20. Jahrhunderts geht allerdings, jedenfalls in der Theorie, nur von einer funktionalen, nicht von einer sozialen Differenzierung aus. Ein wesentlicher Unterschied besteht auch in den jeweils angedachten Planungspraktiken: Während sich die Planung des 20. Jahrhunderts, etwa in der Charta von Athen, überaus autoritär gibt und von flächendeckenden detaillierten Plänen und damit von einer stabilen Ordnung ausgeht, hegt die moderne Planung in ihren Anfängen Misstrauen gegenüber einer solchen Fixierung. Auf die Klugheit des Marktes vertrauend und in Kritik an polizeilich verordneten Straßenplänen schlägt sie ein Vorgehen vor, das sich erst heute durchzusetzen scheint: Die Planung solle sich, so die Grundsätze des Verbandes Deutscher Architekten- und Inge nieur-Vereine 1874 (1906), darauf beschränken, die wichtigsten Verkehrsverbindungen festzulegen, und detaillierte Teilplanungen den privaten Projektentwicklern überlassen; der Charakter der verschiedenen Gebiete soll zwar spezifiziert werden, jedoch nicht durch Zwang, sondern mittels empirischer Erhebungen und Schaffung von Anreizen. Insgesamt solle nicht zu viel und für einen zu weiten Zeitraum, sondern nur für die jüngere Zukunft geplant werden, damit sich die Stadtform organisch entwickeln könne. Hier zeigt sich die Auffassung einer liberalen Gouvernementalität, die davon ausgeht, dass das Wissen der Planung nie vollständig sei und dem Spiel der Kräfte freier Lauf gelassen werden solle, um dieses Wissen zu vermehren und eine und eine als natürlich vorgestellte Ordnung zu Tage treten zu lassen.

Gegenwärtige Formen der Planung

Dieses Misstrauen gegen Planung, auch von dieser selbst, ist heute wieder aktuell; der Glaube an eine umfassende flächendeckende Planbarkeit, wie sie der fordis tische Wohlfahrtsstaat entwickelt hat, hat sich verflüchtigt. Insbesondere aus dieser Zeit stammt unser Bild von der Stadt- und Raumplanung als Gegenkraft des Marktes, das sich vom sozialen Wohnungsbau ableitet wie vom Anspruch der Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse und der damit verbundenen Angleichung von Stadt und Land (Brenner 1997). Die ökonomischen Leitbilder und Management theorien haben sich seither verschoben. Die moderne fordistische Planung versuchte, die Stadt oder überhaupt den nationalen Raum als ein durchdachtes Unternehmen zu organisieren, in das die einzelnen, durchaus differenzierten Raumteile eingegliedert waren. Wettbewerb fand zwischen Nationen statt, innerhalb des nationalen Raums hingegen Ausgleich und Abstimmung. Mit der Ablösung des Fordismus wird nun der Wettbewerb als Mittel der internen Organisation eingeführt.

Damit verändern sich Methoden und Bezugspunkte der Planung. Seit Ende der 1970er Jahre setzt sich eine neue Planungs praxis durch, die sich als „Politik der kleinen Schritte“ versteht: der so genannte „Inkrementalismus“, der nur bedingt übergeordnete Ziele verfolgt, sondern der Impulse setzen und damit Prozesse der Selbst organisation in Gang bringen möchte (Albers 1993, 101f.). Planung wird dadurch nicht abgeschafft, sie wird jedoch an jeweils besondere Situationen gebunden und als punktuelle Intervention, nicht mehr als Vorschrift verstanden. Dieses schrittweise Vorgehen erfährt in zeitlich und räumlich begrenzten Projekten eine Bündelung der organisatorischen und finanziellen Kräfte – insofern spricht man auch von „projektorientierter Planung“ (Siebel/Ibert/Mayer 1999). Mit dieser Fokussierung auf einzelne Projekte soll insbesondere Aufmerksamkeit erregt werden, es geht darum, InvestorInnen und ansässige wie künftige BürgerInnen anzusprechen.

Komplexer geworden ist auch die Sicht auf soziale und lokale Unterschiede, die (wieder) Ausgangspunkt der Planung sind. Die Rolle der Planung könnte man mit Nikolas Rose (u. a. 2000) als therapeutisch-pädagogische beschreiben: Ihre Aufgabe ist es, die einzelnen Individuen und Orte auf ihre besonderen Eigenschaften hinzuweisen und sie über die Eingliederung in Gemeinschaften, soziale Nahräume oder Regionen zu stärken und zu aktivieren. Verschiedenen Lebensstilen und Milieus soll zu ihrem Recht verholfen werden, gleichzeitig werden diese aber auch vereinfacht, ökonomisch nutzbar gemacht und in einem stabilen räumlichen Rahmen verortet. Rose beschreibt mit seinem Konzept des „Regierens durch Community“ eine spezifisch neoliberale Gouvernementalität, für die der nationale Raum kein Bezugspunkt mehr ist, sondern die an dessen Stelle Quartiere, Städte und Regionen als Ausgangspunkte planerischer Intervention stellt.2 Die damit verbundene Differenzierung des Raumes ist komplexer als jene der alten Zonenplanungen; sie basiert nicht mehr auf einem einfachen gesellschaftlichen Schichtenmodell und planlichen Festlegungen, sondern sie arbeitet mit sozialem Kapital, gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und der Eigendynamik kommunikativer Prozesse. Die Wende hin zu einer kommunikativen Planung ist ambivalent: Es geht dabei um die Berücksichtigung und Anerkennung bestehender sozialer Räume, aber auch um die Herstellung aktiver Orte, die sich im regionalen und globalen Wettbewerb behaupten können. Dieser Wettbewerb bestimmt die heutige räumliche Struktur, und er wird nicht nur von Marktgesetzen, sondern auch von Politik und Planung maßgeblich bestimmt. Die Planung erhält in diesem Spiel eine aktive Rolle, sie hat das Ziel einer Förderung des Wettbewerbs und der Konstituierung der Individuen, der Städte, der Regionen als UnternehmerInnen. Eine solche Planung leitet zur Selbsterkenntnis an und stellt diese unter einen „Imperativ der Selbstoptimierung“ (Klopotek 2004, 220). Vielfalt wird so zu einer eminent regierbaren Vielfalt, die sich auf der Basis ökonomischer Zwänge in absehbaren, scheinbar „natürlichen“ und „notwendigen“ Grenzen einspielt.

[ Christa Kamleithner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin, Fachbereich Kunst- und Kulturgeschichte im Studiengang Architektur und Lehrbeauftragte am Center for Metropolitan Studies, TU Berlin. ]

dérive, Mi., 2008.04.16

Anmerkungen
[1] An der Entstehung der neuen Disziplin sind insbesondere deutsche Planer und Theoretiker beteiligt, auch aus diesem Grund ist ein solcher Fokus sinnvoll.
[2] Siehe die Beiträge in diesem Heft wie auch Kamleithner 2007.

Literatur
Albers, Gerd (1993): Über den Wandel im Planungsverständnis. In: RaumPlanung, 61, 1993, S. 97-103
Brenner, Neil (1997): Die Restrukturierung staatlichen Raums: Stadt- und Regionalplanung in der BRD 1960-1990. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 109, 1997, S. 545-565
Fehl, Gerhard (1983): „Stadt als Kunstwerk“, „Stadt als Geschäft“. Der Übergang vom landesfürstlichen zum bürgerlichen Städtebau. In: Fehl, Gerhard & Rodriguez-Lores, Juan (Hg.): Stadterweiterungen 1800-1875. Von den Anfängen des modernen Städtebaues in Deutschland. Hamburg: Christians, S. 135-184
Foucault, Michel (2004a): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, hg. v. Michel Senellart. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Foucault, Michel (2004b): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, hg. v. Michel Senellart. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Hegemann, Werner (1911): Der Städtebau, nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung, 1. Teil. Berlin: Wasmuth
Kamleithner, Christa (2007): (Neue) Gemeinschaften. Muster biopolitischer Raumordnung. In: Schwarte, Ludger (Hg.): Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosphie. Bielefeld: Transcript, S. 268-284
Klopotek, Felix (2004): Projekt. In: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne & Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 216-221
Koselleck, Reinhart (1967): Preußen zwischen Reform und Revolution. Stuttgart: Klett
Rodriguez-Lores, Juan (1980): Die Grundfrage der Grundrente. Stadtplanung von Ildefonso Cerdá für Barcelona und James Hobrecht für Berlin. In: Stadtbauwelt, 65, 1980, S. 29-36
Rose, Nikolas (2000): Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens. In: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne & Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 72-109
Siebel, Walter; Ibert, Oliver & Mayer, Hans-Norbert (1999): Projektorientierte Planung – ein neues Paradigma? In: Informationen zur Raumentwicklung, 3/4, 1999, S. 163-172
Verband Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine (1906): Denkschrift über Grundsätze des Städtebaues. Berlin
Weiland, Andreas (1985): Die Frankfurter Zonenbauordnung von 1891 – eine „fortschrittliche“ Bauordnung? Versuch einer Entmystifizierung. In: Rodriguez-Lores, Juan & Fehl, Gerhard (Hg.): Städtebaureform 1865-1900. Von Licht, Luft und Ordnung in der Stadt der Gründerzeit. Teil 1. Hamburg: Christians, S. 343-388

16. April 2008 Christa Kamleithner

Japans schwieriger Weg von der Leere zur Fülle

Über die Ausstellung Nagoya. Das Werden einer Großstadt im Wien Museum

Nagoya heißt die drittgrößte Stadt Japans und ist Gegenstand einer Ausstellung des Wien Museums mit dem Titel Das Werden einer japanischen Großstadt. Wie wird man eine japanische Großstadt? Im Grunde ganz einfach, indem man wächst, möglichst schnell, und sich dabei entwickelt, wie durch das japanische Wort „nobiru“ ausgedrückt wird. Schwieriger ist die Frage, warum man eigentlich eine Großstadt wird und wie man das den Besuchern erklärt. Im Wien Museum hat man sich in bewährter Manier an die Präsentation von Alltags- und Kulturobjekten und entsprechenden Bildern gehalten, eine Form der Darstellung, die gewissermaßen das kontextuelle Verständnis beim Betrachter voraussetzt und mit einbezieht. Ein Alltagsobjekt kann einen Besucher sofort in die Situation des Gebrauchs und der Verwendung versetzen, es führt ihn über sein potenzielles Zu-Handen-Sein sofort zu brauchbaren Assoziationen und Erlebnissen.

Schwierig wird es im Falle der Darstellung des Wachstums einer Stadt, wie es hier am Beispiel Nagoya versucht wird. Man darf zwar annehmen, dass bei uns jeder Toyota und niemand Nagoya kennt, schließlich hat sich Japan nach dem Zweiten Weltkrieg dahingehend begnügtseinen Imperialismus auf die Herstellung und den Export von Massenprodukten wie Autos, HiFi-Geräten, Fotoapparaten und andere Hightechgeräten zu beschränken. Denn im Grunde steht Nagoya und sein Wachstum für den fundamentalen Wandel einer Weltkultur und Hochkultur, für den Weg Japans, das sich als erstes ostasiatisches Land seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von seinem inneren Rückzug freiwillig in die Weltgesellschaft zurückgemeldet hat und zugleich auch im Rahmen eines Hegemonieanspruchs systematisch die Nachbarländer unter seine Kontrolle zu bringen versuchte. Erst die Niederlage im Pazifischen Krieg bedeutete das Ende seiner Großmachtambitionen und darüber hinaus eine fürchterliche Demoralisierung durch die schwersten Bombenangriffe des Krieges, die eine Reihe von Großstädten ausradierte. Auch wenn wir von Hiroshima wissen, wird es nur selten erwähnt und im Falle Nagoyas lässt sich ebenfalls eine völlige Brandmarkung der aus Holzhäusern bestehenden Altstadt durch Brandbomben erkennen, die ausschließlich auf Auslöschung jedes Lebens ausgerichtet war. Japan wurde in den letzten Kriegwochen gewissermaßen zum Utilitarismus zurückgebombt, zur Einsicht, dass die Beherrschung von Märkten die einzige Erfolg versprechende Strategie zur Macht bedeutet. Insoferne bedeutet diese Katastrophe auch nur eine kurze Episode einer Interruption des Wachstums, die sich in der Statistik folgendermaßen ausdrückt: 1941: 1.379.738 Ew., Kriegsende 1945: 597.941 Ew. Und 10 Jahre später, 1955, schon wieder 1.336.780 Einwohner, die sich später auf über zwei Millionen erhöhen sollten. Nach Kriegsende machte die Stadt ein Wiederaufbauprogramm durch, das zunächst unter dem Paradigma der funktionalen Effizienz und Suburbanisierung stand, mittels Rasterplan ausgeführt wurde und sich hinsichtlich Flächennutzung nicht von westlichen Projekten unterschied. Erst seit den 1980er Jahren erfolgte aufgrund ökologischer Probleme, zuvor hatte man dem Autoverkehr absolute Priorität eingeräumt, ein Paradigmenwechsel zu qualitativem Wachstum, wobei man sich auch hier der internationalen Entwicklung anschloss.

Jedenfalls sind die Daten beeindruckend: Die Stadt selbst hatte 1889 157.000 und hat heute 2,1 Millionen Einwohner, das gesamte Agglomerationsgebiet umfasst bereits neun Millionen, womit der 22. Platz in der Rangreihe der Megacities eingenommen wird, wenngleich man in Japan immer noch Nummer 3 hinter der Region Tokio/Kawasaki/Yokohama (Nr. 1 mit 33 Millionen) und Osaka/Kobe/Kioto (Nr. 6 mit 16 Millionen) ist.

Die Evidenz des Wachstums ist also unbestritten, doch die Frage nach dem Grund des Wachstums bleibt unklar. Natürlich kann man von der Annahme ausgehen, dass die Entwicklung einer Stadt im Kapitalismus naturwüchsig so verläuft, dass Wachstum quasi das neue Telos der Stadt darstellt, so wie aus einem Samenkorn eine Stadt hervorgeht, deren Form aber nicht endgültig ist und sich stets verändert. Viele europäische Großstädte haben ähnliche Entwicklungen durchgemacht, wobei hier der Zusammenhang von Kapitalismus und Wachstum unbestritten ist. Der Autor möchte aber doch der Frage nachgehen, inwiefern diese Kriterien einer kapitalistischen Wirtschaftsethik auch für Japan als ein prototypisch orientalisches Land, das sich über Jahrhunderte von der Welt zurückzog, Geltung haben können. Daher zurück zu den schönen Exponaten der frühen Epoche Nagoyas, die noch vom alten Japan Zeugnis abgeben.

Der Mythos
Die Stadt selbst entstand im 17. Jahrhundert (Edo-Zeit 1600-1867) nicht durch Gründung, sondern durch Übersiedlung, was für uns ungewohnt klingt, da wir von einer festen topologischen Verknüpfung von Volk und Ort ausgehen, wenn man vom Mythos in Vergils Aeneis absieht, dem Untergang Trojas, der Flucht nach Rom und der dortigen Stadtgründung, die einer Übersiedlung gleichkam. Die Verlegung der Stadt von Kiyosu nach Nagoya um 1607 war strategisch bedingt, weil die alten Anlagen unzureichend waren und der Shogun durch die Errichtung einer neuen Burgstadt bessere Verteidigungsbedingungen schaffen wollte. Der Typus der Burgstadt war im 17. Jahrhundert die bevorzugte Art der Stadt im vielschichtigen Feudalsystem Japans. Der Neubau dieser Flachburg mangels Gelände erhöhung wurde durch die Anbringung des goldenen Shachi, eines mythologischen Meerestiers mit dem Kopf eines Tigers und dem Körper eines Karpfens am Dach abgeschlossen. Die Nähe zur Burg bildete auch den sozialen Rang der Bewohner ab, wobei der Bevölkerungsanteil des Kriegeradels und der Samurai mit ihren Familien vierzig Prozent ausmachte. Der Rest setzt sich aus Händlern und Handwerkern zusammen, was bereits damals auf eine wirtschaftliche Gesinnung hindeutete, zumal in der Umgebung viel Forstwirtschaft und Bergbau betrieben wurde. Nachdem die Kriegerkaste die Steuerhoheit hatte, waren die Schichten der Händler, Handwerker und Bauern steuerpflichtig und mussten die weitgehend untätige Schicht der Samurai erhalten.

Die Burg von Nagoya lag zwar nicht im Zentrum, sondern nördlich der Stadt und stellte quasi einen dezentrierten Ort dar, an den sich die Stadt anschloss. Genau genommen befindet sich das Zentrum der Stadt an der Peripherie, und wer die Grafik der Burg (1852) betrachtet, wird hier sehr viel mehr den Charakter der Entleerung und der Verflüchtigung an der Peripherie erkennen, als ein dominantes Gebäude wahrnehmen. Man könnte daher durchaus auch hier vom leeren Zentrum sprechen, wie Roland Barthes angesichts des Tokioter Kaiserpalastes gemeint hatte, weil es sich im Gegensatz zu den westlichen Stadtzentren um keinen Ort der Fülle, sondern um einen der Leere handelte. Beim Hintergrund dieser Annahme von Barthes handelt es sich um die buddhistische Tradition, die im Nichts und der absoluten Leere den ultimativen Wert erkennt (das mahayanis tische Grundaxiom von der allgemeinen Leere,issai kaiku). Genau diesen Eindruck spiegeln noch die wenigen aber wunderbaren Bilder und Pläne jener Zeit wieder.

Wirtschaftsethik
Allerdings gilt die buddhistische Einstellung der Weltabgewandtheit als geschäfts- und wirtschaftsfeindlich und würde Wachstum allenfalls als Krankheit betrachten, die die bedrohliche Fülle der Welt noch verstärkt. In Japan verhielt es sich freilich so, dass der Buddhismus in der verwickelten Geschichte des Landes im ersten Jahrtausend eine zentrale Rolle spielte, ehe er danach von den zahlreichen synkretistischen Formen des Shintoismus eher überlagert denn abgelöst wurde. Dieser dürfte den Kriegerkasten der Dynastie der Shogun eine passendere und weniger weltabgewandte Religion für ihre von aristokratischem Stolz und Würde geprägte Haltung und ihre nationalen Ziele dargestellt haben. Im Hintergrund ist der Buddhismus aber immer noch als eine wirksame religiöse Kraft aufgrund seiner Ethik verblieben, der das soziale Leben stark beein flusste, allerdings scheint er nach Weber keine charismatischen Gurus mit dem magischen Heilandsprestige hervorgebracht zu haben. Für die Herausbildung einer Wirtschaftsethik im Sinne Max Webers, also einer inneren Motivation zur Arbeit, dürften die verschiedenen Sekten relevant gewesen sein, die aufgrund mangelnder soteriologischer Möglichkeiten bestimmte asketische Haltungen begünstigten und damit ähnlich dem Protestantismus eine positive Einstellung zur Arbeit erzeugten.

Diese für die damalige Zeit in Asien außergewöhnliche Haltung führte offensichtlich zu einer wirtschaftlichen Orientierung, die auch die folgende Frage besser beantwortet: Wieso kam es bei diesen Übergängen, die plötzlich eine Öffnung für die Moderne ermöglichten, einmal zu Beginn der Meiji -Ära 1868 und das zweite Mal nach dem verlorenen Pazifischen Krieg um 1945, zu einer derartigen Freisetzung von Produk­tionsenergie? Vor allem der radikale Wandel der Stadt in der Meiji-Ära, der „leuchtenden Herrschaft“, die etwa mit der Entwicklung der liberalen Ära in Europa zusammenfiel und den Sturz des Feudalsystems mit seinen Kriegerkasten als Voraussetzung hatte, indem die Macht an den Tenno zurückfiel, bedeutete eine Zentralisierung durch Auflösung der Fürstentümer und die Errichtung eines modernen Staates. Erstaunlich ist hier vor allem der unmittelbare Übergang vom Feudalismus in die Moderne, der dieses enorm e industrielle Wachstum auslöste. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden ein elektrisches Eisenbahn- und Straßenbahnnetz errichtet, das Straßennetz ausgebaut, Gasleitungen verlegt und ein leistungsfähiger Hafen gebaut. Eine Textil- und Keramikindustrie entwickelte sich, neben landwirtschaftlichen Produkten und Holzerzeugnissen. Die Bevölkerungsziffern betrugen1889 157.496, 1907 354.733 und 1921 schon 616.700 Einwohner, die sich bis 1941 noch auf 1.379.738 verdoppeln sollten.

Das Reich der Zeichen. Japanische Snobs
Ein Abschnitt der Ausstellung widmet sich auch dem Theater. Schon während der Edo-Zeit unter Fürst Muneharu gab es an die 60 Theater, teils im Freudenviertel gelegen, und dieses Interesse hat sich bis heute erhalten. Dieser Umstand erinnert an eine gravierende kulturelle Differenz zwischen Japan und dem Westen, die schon Roland Barthes in seinem großartigen Essay über das Theater angesprochen hat, nämlich das hohe Maß an Konventionalität und fehlender Symbolfähigkeit im Sinne einer Vertiefung der Innenwelt aufgrund des wesentlich geringeren Maßes an Introspektion bzw. Introjektion. Dieser Prozess einer phänomenalen Anreicherung der Innenwelt, die ein europäisches Erbe des Christentums, vor allem aber des Protestantismus und der Romantik durch permanente Anleitung zur Innenschau darstellt, hat sich in Japan nie verbreitet. Es gibt daher nicht diese tiefe innere Verknüpfung des Einzelnen mit seinem Innenleben, die immer zu spezifischen Symbolformen führt, die im Grunde immer nur für den Einzelnen verständlich sind und die völlige Individualisierung vorantreiben. Ergebnis dieses Prozesses ist die Persönlichkeit, die sich aufgrund ihrer inneren Disposition und inneren Erlebnisse erklärt, die zu einer Identität durch Innenleben führt. Bei den Japanern existierte dieser Begriff der Persönlichkeit nicht, weil sie keinen Kult der Introspektion betrieben haben und daher eine wesentlich größere Fähigkeit zum Zeichengebrauch aufweisen, wenn man darunter die konventionelle, allgemein verbindliche Bedeutung eines Zeichens versteht.

Man muss natürlich an dieser Stelle einfügen, dass die Übernahme der westlichen Kultur bzw. des westlichen Konsumismus auch eine entsprechende Triebstruktur und Persönlichkeit notwendig macht, die Gefühle und Konsum dermaßen zusammenschweißt, sodass eine funktionierende Konsummaschine entsteht, die heute in der Gestalt unserer Städte zu beobachten ist. Unser Innen ist heute durch Konsum und Erlebnis bestimmt, als Nachfolge einer problematischen Kombination von Sakralität und Triebstruktur. Noch wehren sich die Japaner gegen diese letzte Form der Verwestlichung, Arbeit und Produktion ist ihnen immer leichter gefallen als Konsum, was auch an der Gestalt von Nagoya zu beobachten ist. Erst in den letzten Jahren dringt der absolute Konsumismus in Form der Unterhaltungsindustrie im Land und in der Stadt, wenngleich streckenweise auf hohem Niveau, vor.

Das hat auch mit dem snobistischen Appeal der Japaner zu tun, von dem Alexandre Kojève nach seiner Japanreise in Zusammenhang mit seiner Theorie vom Ende der Geschichte gesprochen hat. Für ihn wurde in Japan der Snobismus als die interesselose Negativität demokratisiert, das heißt gut hegelisch die Negativität der Ästhetik als reiner Form als Entgegensetzung gegenüber dem animalischen Inhalt des Menschen. Das Ende der Geschichte lässt für Kojève zwei Wege offen, entweder das Abendland zu japanisieren oder Japan zu amerikanisieren, wobei letzteres bedeutet, wie gelehrte Affen Liebe zu machen. Der Umstand, dass in der Ausstellung über Nagoya keine Erwähnung des No-Theaters und der Teezeremonie zu finden sind, lässt doch den Eintritt der letzteren Variante befürchten.

Wer dieser Dinge eingedenk ist, wird eine, trotz der notwendigen Komprimierung, außerordentlich sehenswerte Ausstellung vorfinden, die mehr Fragen eröffnet als sie beantworten kann.

[ Ausstellung: Nagoya. Das Werden der japanischen Großstadt
Wien Museum Karlsplatz. 7. Februar 2008 bis 4. Mai 2008 ]

[ Katalog: Nagoya. Das Werden der japanischen Großstadt
Salzburg: Verlag Anton Pustet, 2008
280 Seiten, 29,- Euro ]

dérive, Mi., 2008.04.16

16. April 2008 Manfred Russo

4 | 3 | 2 | 1