Editorial

Was für Zeiten! 2022 wurde die Miete für das dérive-Redaktionsbüro um 60 (!) Prozent erhöht, dazu gehen die Strom- und Gaskosten durch die Decke, ebenso wie die Druckkosten (Papier! Energie! Inflation!) und so ziemlich alle anderen Kosten auch. In Summe macht das mehrere tausend Euros aus. Um dieses Loch in der Kassa zu stopfen, müssen daher auch wir den Preis für Einzelhefte und Abonnements erhöhen: Da wir weiterhin unserer (Stadt-)Diskurs-für-Alle-Policy treu bleiben wollen, gibt es dérive ab sofort für immer noch wohlfeile 11 Euro bzw. vier Hefte im Jahres-Abo für weiterhin günstige 35 Euro (ermäßigt für 30 Euro). 2023 werden wir unser Angebot an digitalen PDF-Ausgaben weiter ausbauen, weil auch die Versandkosten – speziell ins Ausland – kontinuierlich steigen. Neben den bereits jetzt als PDF erhältlichen vergriffenen Heften wird es also bald mehr von dérive in digitaler Form geben. Stay tuned! Weil wir Papier lieben und ein Heft in der Hand immer noch ein wunderbares Lesevergnügen verspricht, wird es dérive selbstverständlich auch weiterhin gedruckt geben. Also am besten Abo – in Papier oder digital – abschließen, kein Heft versäumen und dabei auch noch unabhängige, kritische Strukturen unterstützen! Alle Infos dazu findet ihr im dérive-Kiosk auf derive.at.

Die vorliegende Ausgabe von dérive ist ein Sampler, und obwohl es keinen speziellen Schwerpunkt gibt, gruppieren sich einige Beiträge trotzdem um bestimmte Themen – konkret um den Stadtrand bzw. die Zwischenstadt. Bei der Zwischenstadt ist es nicht ganz zufällig, denn Thomas Sieverts’ Buch ›Zwischenstadt: Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land‹ ist vor 25 Jahren erschienen. Ein guter Anlass, über den Begriff neu nachzudenken und ihn auf seine Qualitäten abzuklopfen. Den Beginn macht ein Beitrag von Andre Krammer und Friedrich Hauer, die sich den Zusammenhang von informellen – ›wilden‹ – Siedlungen in Wien und der Fragmentierung der Stadtrandzonen angesehen haben. Die ›wilden‹ Siedlungen sind in mehreren Schüben ab dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden und prägten die Wiener Peripherie über Jahrzehnte. Mit dem Wiener Stadtrand beschäftigt sich auch der Forschungsbereich Städtebau der TU Wien: Wien ist stark monozentrisch geprägt und die Auseinandersetzung mit dem Rand ist in der Stadtentwicklungsdebatte unterrepräsentiert, speziell dann, wenn es um ein Gesamtkonzept im Kontext von Natur- und Stadtlandschaft, Infrastruktur und Stadtquartieren, Landwirtschaft, Gewerbe und Wohnbau geht. Ein kritischer Beitrag über das ›Wiener dazwischen‹, der auch Handlungsfelder benennt, ist deswegen von hoher Bedeutung. ›Die Stadt ernähren‹ von Jan Eelco Jansma und Sigrid Wertheim-Heck fragt danach, »welches die optimale räumliche Ebene für eine ökologisch, kulturell und wirtschaftlich widerstandsfähige stadtnahe Lebensmittelversorgung wäre«. Die Autor:innen analysieren dafür den Planungsprozess in Oosterwold am östlichen Stadtrand von Almere in den Niederlanden, der die Verschränkung von Wohnbau mit urbaner Landwirtschaft zum Ziel hatte. Andreas Garkisch, Professor
für Entwerfen und StadtArchitektur an der Bauhaus-Universität Weimar, nimmt schließlich das 25-Jahre-Jubiläum von Sieverts Zwischenstadt als Anlass für einen Aufruf, der eine »neue Kultur der fortwährenden Entwicklung bei gleichzeitiger Sicherung des Bestandes« fordert und angesichts der fortschreitenden Umweltzerstörung für ein »Verständnis für die weitgreifenden räumlichen Transformationsprozesse des suburbanisierten Raums« eintritt. Den Abschluss der Auseinandersetzung macht die Publikation ›GrazRand‹, die Elke Rauth für diese Ausgabe rezensiert hat.

Mit zwei Interviews unter dem Titel ›Temporär, experimentell, schnell‹ knüpfen wir an den Schwerpunkt ›Polyzentral und ökosozial‹ der letzten Ausgabe an. Demetrio Scopelliti, Stadtplaner aus Mailand, sowie Jokin Santiago und Marta Sola von Leku Studio aus Barcelona – allesamt Gäste des urbanize! Festivals 2022 – sprechen darin über ihre Erfahrungen mit taktischem Urbanismus und planerischen Eingriffen, um Straßenräume »wieder vermehrt für Fußgänger:innen, Radfahrer:innen und als Aufenthaltsräume zurückzugewinnen«.

Auf ›Eine vergessene Wohnutopie im Wiener Wohnbau‹ aus den 1950er und 60er Jahren, von der selbst die Wiener Stadtverwaltung nichts mehr weiß, macht uns Christina Schraml in ihrem Artikel über die sogenannten ›Alte-Leute-Siedlungen‹ aufmerksam. Diese wurden als »Lösung für die Probleme einer überalterten Gesellschaft« als Reihenhäuser auf dem Areal von Gemeindebauten errichtet und waren somit in deren soziales Gefüge eingebettet. Sie ermöglichten ein »selbstbestimmtes, barrierearmes Leben inmitten einer Gemeinschaft«.

Mit traurigen Anlässen beschäftigen sich zwei Nachrufe in dieser Ausgabe: Bruno Latour, dessen Akteur-Netzwerk-Theorie in den Texten von dérive-Autor:innen irgendwann Foucaults Panoptikum abgelöst hat, ist letzten Oktober verstorben. Manfred Russo erinnert an ein Werk Latours, das nie ins Deutsche übersetzt wurde: ›Paris ville invisible‹. Noch mehr als Bruno Latour hat das Werk des ebenfalls im Oktober 2022 verstorbenen Mike Davis diese Zeitschrift geprägt. Womöglich gäbe es dérive in dieser Form gar nicht, hätte Davis durch seine kritische Auseinandersetzung mit der urbanen Gesellschaft und dem Stadtraum in seinem legendären Werk ›City of Quartz‹ den Autor dieser Zeilen nicht so nachhaltig begeistert. Ähnlich erging es Michael Zinganel, der den Nachruf auf Mike Davis verfasst hat.

Für die Interviewserie über Kunst im öffentlichen Raum hat Ursula Maria Probst diesmal mit dem israelischen Kurator und Direktor des Instituts for Public Presence, Udi Edelman, ein Gespräch u. a. über den Umgang mit Denkmälern geführt. Ein Thema, das im Zuge vieler Proteste der letzten Jahre intensive Debatten ausgelöst hat. Das Kunstinsert ›Die Brücke‹ von Hannes Zebedin widmet sich den Dauerbrenner-Themen Flucht, Grenze, Widerstand und Antifaschismus.

dérive bleibt stabil, verspricht
Christoph Laimer

Inhalt

01
Editorial
Christoph Laimer

Schwerpunkt
04—11
Der instabile Rand – Laissez-Faire und Ordnungsversuche in Wien seit 1945
Andre Krammer, Friedrich Hauer

11—16
Wiener Dazwischen
Handlungsfelder und Heraus­forderungen des nord­östlichen Stadtrands
Johannes Bretschneider, Sebastian Sattlegger, Ute Schneider

17—22
Die Stadt ernähren
Eine soziale Praxisperspektive auf die Planung der Landwirtschaft im periurbanen Oosterwold, Almere
Jan Eelco Jansma, Sigrid Wertheim-Heck

23—28
Temporär, experimentell, schnell
Demetrio Scopelliti (Mailand) sowie Jokin Santiago und Marta Sola (Leku Studio, Barcelona) im Gespräch mit Erik Meinharter und Andre Krammer

29—31; 37—38
Alte-Leute-Siedlungen
Eine vergessene Wohnutopie im Wiener Wohnbau
Christina Schraml

Kunstinsert
32—36
Die Brücke
Hannes Zebedin

Magazin
39—44
Paris Ville invisible
Wie Bruno Latour auf Paris blickt
Manfred Russo

45—49
Monument und Aktion
Wer kann etwas tun und wer nicht?
Ursula Maria Probst, Udi Edelman

50—53
32 Jahre Old School Sozialismus!
Als Mike Davis’ humanistischer Marxismus unsere Stadt­geschichtsschreibung veränderte
Michael Zinganel

54—56
Zwischenstadt heute: Ein Aufruf
Andreas Garkisch

Besprechungen
57—64
Das Verhältnis von Kunst und Design zum Leben S.57
»Wir brauchen neue Konzepte« S.58
Stadt vom Rand aus betrachtet S.59
Betongold für Herrn und Frau Österreicher? S.60
Vom Fremdsein und Fremdwerden der Städte S.61
Fragmente einer Welcome City S.62
Empathie im Film S.63

68
Impressum

Zwischenstadt heute: Ein Aufruf

Mit ›Fridays for Future‹ ist der Klimawandel schlussendlich ins Bewusstsein aller gerückt. Beinahe täglich fordert jemand ein radikales Umdenken. Allerdings wird das Paradigma des grenzlosen Wachstums weder von der Politik noch der Industrie angetastet. Im Gegenteil, nachdem man Jahrzehnte nicht gehandelt hat, soll nun in einer fast atemberaubenden Geschwindigkeit mit dem ›European Green Deal‹ die Energiewende erreicht werden. CO2-Neutralität wird zu einem Mantra. Für unsere urbanisierte Kulturlandschaft wird dies eine weitere Herausforderung. Zusätzlich zu dem bereits existierenden Flächenbedarf für Landwirtschaft, Industrie, technische Infrastruktur, Mobilität und Logistik, wird auch die alternative Energiegewinnung Flächen benötigen. Die Versiegelung und Zerschneidung unserer Landschaft werden somit weiter zunehmen. Der Flächenverbrauch von momentan fast 12 ha, 16 Fußballfeldern pro Tag allein in Bayern (Bayerisches Landesamt für Statistik 2022) wird weiter voranschreiten. Der Lebensraum vieler Arten schwindet und im Schatten dieser großen Transformationen schreitet geräuschlos der Ökozid, das Artensterben weiter voran.

Wenn wir uns den Problemen der Umweltzerstörung, der Biodiversität und des Klimawandels wirklich stellen wollen, wird schnell deutlich, dass wir ein besseres Verständnis für die weitgreifenden räumlichen Transformationsprozesse des suburbanisierten Raums brauchen. Die verstädterte Landschaft wirkt durch die Schneisen der Infrastruktur wie ein Schnittmuster, an deren Knotenpunkten sich Zentren anlagern. Mit seiner hohen Komplexität und Dynamik entzieht sich der Urban Sprawl einem einfachen Verständnis von Ordnung und Schönheit. Stadt und Landschaft sind zu einer urbanen Kulturlandschaft zusammengewachsen, die sich in den letzten Jahrzehnten hochgradig funktionalisiert hat und sich mit weiterhin zunehmender Geschwindigkeit immer wieder anpasst, um unseren hedonistischen Lebensstandard zu sichern.

Die Zwischenstadt in der Lehre

Unter dem Titel ›Peripherie (vs.) Zentrum‹ haben wir uns in den letzten Semestern an der Professur ›Entwerfen und StadtArchitektur‹ der Bauhaus-Universität Weimar in Theorieseminaren und Entwurfsstudios intensiv mit der Suburbanisierung der Landschaft und der
parallel zunehmenden Leere in den Innenstädten auseinandergesetzt. In Kooperation mit verschiedenen Lehrstühlen der Bauhaus-Universität Weimar, der Universität Luxemburg, dem Karlsruher Institut für Technologie, sowie den Technischen Universitäten von München und Wien wurde diese Untersuchung im vergangenen Sommersemester 2022 fortgesetzt.

25 Jahre nach Erscheinen des Buchs ›Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt. Raum und Zeit. Stadt und Land‹ von Thomas Sieverts haben wir uns wieder mit diesem Raum, diesem vielschichtigen Phänomen auseinandergesetzt. Trotz mancher langen Passagen hat das Buch kaum etwas an Aktualität eingebüßt. Sein großer Verdienst war es, dem unscharfen und vagen Phänomen, dem Raum zwischen Stadt und Land einen Namen zu geben: Zwischenstadt. Mit seiner Einfachheit hat es Sieverts’ Begriff ermöglicht, über diesen Raum zu sprechen, ihn zu diskutieren und damit überhaupt sichtbar zu machen. Dabei ist es spannend, zu verfolgen, wie Sieverts es schafft, keine Antworten zu geben, sondern im gesamten Buch die Frage immer wieder aus einer anderen Perspektive zu stellen: Was liegt zwischen Stadt und Land? Wie wollen wir diesem Raum begegnen? Bis zuletzt gibt das Buch, gibt auch Sieverts in Interviews keine eindeutigen Antworten. Die Città diffusa bleibt ein unscharfes Phänomen, das im ständigen Wandel ist. Sieverts lässt mit Bedacht die Fragen offen. Auch wenn dies zum Teil unbefriedigend wirkt, ist das offene Ende eine intelligente Wendung. Die Frage wird zur Aufforderung, sich selbst mit der Zwischenstadt zu beschäftigen und eigenständig über das Phänomen nachzudenken. Jeder findet dabei seinen eigenen Zugang. So sind während des gemeinsamen Projekts die verschiedenen Professuren ganz unterschiedlich mit dem Thema umgegangen. Auf der Suche nach den richtigen Strategien im Umgang mit der Zwischenstadt am Stadtrand von Wien und München, in den Grenzgebieten von Luxemburg und im Tessin hat sich ein interessanter Dialog zwischen den verschiedenen Professionen und Expert:innen, aber auch zwischen den beteiligten Planer:innen und Generationen entwickelt (Sustainable Urbanism et al. 2022).

Eine intergenerationale Auseinandersetzung

Drei Generationen waren beteiligt. Sieverts, der den Begriff geprägt hat, die Lehrenden, die sich am Begriff abgearbeitet haben, und die Studierenden, die sich zum ersten Mal mit der Zwischenstadt auseinandergesetzt haben.

Im Gespräch wurde deutlich, dass jede der Generationen einen anderen Zugang zum Begriff und zur Wahrnehmung des Raums der Zwischenstadt hat. Die erste Generation kannte noch den Zustand davor, die zweite erlebte die Verfestigung und die dritte, aufgewachsen in der Zwischenstadt, fragt nun nach Veränderungen. Im intergenerationellen Gespräch wurde uns deutlich, dass sich anhand der sich wandelnden Sichtweisen auf die Zwischenstadt und der sich verändernden Erwartungshaltungen auch gut die Transformation der Zwischenstadt selbst beschreiben lässt.

Für die Generation Sieverts, die noch die Folgen des Zweiten Weltkriegs, die komplette Zerstörung der Innenstädte persönlich erlebt hat, blieb dieser Verlust prägend. Die Stadt sollte wieder als kompakte, dichte Stadt, die Landschaft als ungestörtes Idyll erlebbar werden. Trotzdem wollte man bei der Modernisierung des Bauens und der Gesellschaft mithalten. Diese zum Teil widersprüchlichen Sehnsüchte prägten die Planungen. Ab Mitte der 1970er Jahre zeigte der Wirtschaftsaufschwung seine Kehrseite. Offene Mülldeponien, die Abwässer und Abluft der Schwerindustrie, das Fischsterben im Rhein – plötzlich wurden zum ersten Mal die Grenzen des Wachstums bewusst. Die sich nach und nach urbanisierende Landschaft wurde mit der immer stärker werdenden Umweltbewegung endlich thematisiert. In dem ›Film Grün‹ kaputt von Dieter Wieland von 1983 kann man gut nachvollziehen, wie diese frühen Eingriffe in die zum Teil noch vorindustriell, landwirtschaftlich geprägte Landschaft, in diese Idylle, geschmerzt haben müssen. Sieverts entdeckte während der ›IBA Emscher Park‹ das Potenzial der Transformation einer geschundenen ehemaligen Industrielandschaft zu einem eine ganze Region verbindenden Natur- und Erholungsraum. Der Optimismus, der aus den Erfolgen der Proteste gegen die Nachkriegsmoderne, für die Umwelt und aus dem persönlichen Erfolg der ›IBA Emscher Park‹ gewonnen wurde, trägt das später publizierte Buch zur Zwischenstadt. Es war eine Generation, die angefangen hat in der Zeit des Wirtschaftswunders und ihr gesamtes Berufsleben an baulichen Umsetzungen beteiligt war. Für sie waren Probleme nur Herausforderungen, die nach neuen Ideen und Lösungen verlangten. Diese zupackende, erfrischende Art vermittelte Sieverts in all seinen Gesprächen, selbst heute noch im hohen Alter.

Unsere Generation ist aufgewachsen mit einem den europäischen Kontinent umspannenden Autobahnnetz, mit den Trassen der Schnellbahnen. Die Stadtlandschaft, das Kontinuum von Häusern, Feldern und Infrastruktur war dabei für uns der gewohnte Ausblick. Die Ästhetik der Zwischenstadt ist mittlerweile Teil unserer Sozialisation geworden. Natur war für uns immer schon eine zu schützende. Die Reservate der Erholung und des kontrollierten Abenteuers waren für uns bereits Inseln im großen zusammenhängenden Raum der Zwischenstadt. Die Umweltschutzgesetzgebung für Luft, Wasser und Boden hat die Lebensqualität erhöht, gleichzeitig haben neue Vorschriften die Zwischenstadt gezähmt. Nach und nach verschwanden die Nischen und Halden. Das Planungsrecht nahm sich des Raums an, er wurde geordnet und verwaltet. Mit der Wende nahm in Deutschland die Renaissance der Innenstädte an Fahrt auf, bedeutende Planungsaufträge im Zentrum der Innenstädte wurden vergeben. Das Interesse an der Zwischenstadt verlor sich, und die Debatte um sie entwickelte sich zu einem eher akademischen Diskurs. Unsere Generation interessierte nicht mehr die Sehnsucht der Älteren nach Schönheit und Harmonie. Wir suchten in den Brüchen, den Kontrasten und bizarren Begegnungen, die die Zwischenstadt mittlerweile auszeichnete, unsere eigene Ästhetik. Es war der intellektuelle Reiz, den Kazuo Shinohara in dem Text ›Toward a Super-Big Numbers Set City and a Small House Beyond‹ (2011) als the »the beauty of chaos« beschrieb, die Suche nach immer neuen, immer spekulativeren Bildern, die unsere Beschäftigung mit der Zwischenstadt motivierte. Wie in einem Roadmovie wurde die Fahrt zu einer Suche zu sich selbst. Gleichzeitig veränderte sich die Zwischenstadt seit der Erscheinung von Sieverts’ Buch massiv. Die Rationalisierungen in der Landwirtschaft, die Globalisierung der Produktion und der Warenverteilung, die weiter zunehmende Mobilität der Gesellschaft transformierten die Kulturlandschaft weiter. Der langanhaltende Wirtschaftsaufschwung beschleunigte diese Dynamik. Die Schere zwischen den erfolgreichen und den strukturschwachen Regionen in Europa nahm weiter zu. Wir haben dies als Planer:innen erlebt. Immer mehr originäre Planungsbereiche wurden den Fachdisziplinen Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur entzogen. Die meisten Bauten der Zwischenstadt wurden durch generisch entwickelte Typenbauten ersetzt und immer weniger Planungsaufgaben als Gestaltungsaufgaben vergeben. Die Planung der Zwischenstadt wurde reduziert auf eine funktionale Strukturplanung. Dies führt zu einer weiter zunehmenden Angleichung unterschiedlicher Kulturlandschaften. Wie ein Netz überzieht eine großmaßstäblichere und generische Infrastruktur die Landschaft und überformt die Topografie. Politik und Wirtschaft, Gesetze und ökonomische Bedingungen haben, kontrolliert von der Administration, den Raum zu dieser heutigen, sehr effizienten Kulturlandschaft geformt.

In unsicheren Zeiten

Die heute junge Generation hat sich mit den Klimaprotesten politisiert, sie demonstriert aus einem berechtigten Zorn. Der Widerstand gegen die Klimaerwärmung, das Engagement für die Umwelt und mehr Gerechtigkeit ist zu ihrem Anliegen geworden. Es ist eine Generation, die so umfassend informiert ist wie keine zuvor, die im Wohlstand aufgewachsen ist und doch große Unsicherheit verspürt. Es gibt eine neue Sehnsucht nach einem alles tragenden Idealismus. Viele der Studierenden sind in der Zwischenstadt aufgewachsen. Sie kennen das Phänomen als Teil ihres Alltags. Die eigene Siedlung, der eigene Supermarkt, das eigene Umfeld, in dem man aufgewachsen ist, kennt man, hier kann man sich orientieren. Die Zwischenstadt als Raum ohne Ordnung und Maß, als Raum ohne Seele nehmen wir nur auf der Durchreise wahr. Es ist die Zwischenstadt der anderen. Die ›aufgeräumte‹ Zwischenstadt, die flurbereinigte Landschaft täuscht diese Generation nicht mehr. Es geht nicht um vermeintlich ästhetische, sondern um ökologische Probleme, die nun in einem globalen Zusammenhang gesehen werden. Sprache und Form werden wieder hinterfragt, um offener für alle zu sein. Inklusion erfordert eine neue Ästhetik. Während die Diskussion um den richtigen Sprachgebrauch und die richtige Form der Zusammenarbeit bereits in vollem Gang ist, hat die Suche nach einer angemessenen Architektur und Stadtplanung erst begonnen. Es geht um eine Ästhetik der Offenheit, die sich nicht auf die Suche begibt nach einer kurzfristigen, funktionalen oder formalen Perfektion, sondern Brüche und Resträume zulässt. Eine Ästhetik, die tolerant ist gegenüber Nutzer:innen, Pflanzen, Tieren, alten Bestandsbauten, die ein Gefühl für die Narrative des Ortes entwickelt, um spezifische und doch robuste, interpretationsoffene Strukturen zu entwickeln. Das Ringen um die Form, die Suche nach der richtigen Sprache ist Teil des politischen Bewusstseins der jüngsten Planer:innengeneration, der damit einhergehende hohe Anspruch an sich selbst und die Umgebung ist eine entsprechende Herausforderung. Das Studium der Form und der Sprache wird zu einer Suche nach Handlungsstrategien für eine umwelt- und sozialgerechte Zu­­kunft. In Zeiten des Umbruchs wollen sie alles ändern und suchen doch Sicherheit.

Die Politisierung der Planer:innen

In den Gesprächen mit Thomas Sieverts wurde deutlich, dass jede Generation ihren Idealismus pflegt, eigene Momente des Widerstands, der Demonstrationen. Auch wenn es die Jüngeren nicht offensiv nachgefragt haben, steht die Frage im Raum: Hat das Buch, haben unser aller Anstrengungen als Planer:innen etwas bewegt? Wohl eher nein. 25 Jahre später stellen wir fest: es hat sich nichts Grundlegendes verändert. Im Gegenteil: Das Wirtschaftswachstum unserer Gesellschaft hat weiter zugenommen und immer mehr Habitate vieler Arten werden gefährdet. Aller Voraussicht nach wird ausgerechnet die ersehnte Energiewende, mit ihrem Flächenbedarf für Photovoltaik, der Beeinträchtigung vieler Vogelarten durch die Windräder, die Situation eher weiter verschärfen.

Thomas Sieverts verkörpert noch heute den Idealismus seiner Zeit. Er ist ein lebendes Plädoyer, sich als Planer:in in die Politik einzubringen. Im Projekt wurde uns deutlich, dass wir uns heute weder den naiven Idealismus der Vergangenheit noch den Zynismus der Nachwendejahre weiter leisten können. Jetzt ist der richtige Moment, zu handeln. Nach Zeiten ungebremsten Konsums ist allen die Endlichkeit unseres Lebensraums bewusst geworden. Die Folgen des Klimawandels, der enorme Verlust der Biodiversität werden konkret spürbar. Die Grenzen des Wachstums sind durch die zunehmenden Krisen plötzlich wieder direkt erlebbar. Trotzdem bleiben die grundsätzlichen Haltungen in Politik und Wirtschaft bestehen. Der Flächenverbrauch, auch der Energieverbrauch sinken absehbar erstmal nicht. Die Bodenspekulation wird den Druck auf Land als Ressource weiterhin erhöhen. Landwirte werden sich demnächst den Boden, auf dem sie wirtschaften, nicht mehr leisten können. Nun müssen wir den politischen Druck erhöhen, um, wie 2018 in Bayern (Süddeutsche Zeitung 2018), Volksbegehren zum Ende des Flächenverbrauchs zu erreichen. Dabei geht es diesmal nicht um eine Reduzierung, sondern um den Stopp jeder Versiegelung, jedes weiteren neuen Verbrauchs. Erst mit der Verknappung der Flächen und der anstehenden Krise wird es wieder Raum für neue Ideen und Strategien geben, werden wir zu einer neuen Aushandlungspraxis zwischen den verschiedensten Ansprüchen kommen.

Ein Aufruf

Das Buch von Thomas Sieverts war vor 25 Jahren die Aufforderung, sich mit der Zwischenstadt zu befassen. Jetzt stellen wir die Aufforderung neu auf: Die Zwischenstadt wird mit neuen Ansprüchen konfrontiert, die begrenzten Flächen werden neu ausgehandelt. Wir Planer:innen, Architekt:innen wollen im Verbund mit allen anderen Professionen – von der Ökologie, der Landwirtschaft bis zur Verkehrsplanung – eine Planung, die sich nicht als einfache Strukturplanung auf ihre funktionale und territoriale Logik reduziert. Wir wollen erstmals die Zwischenstadt als Kulturlandschaft weiterentwickeln, miteinander Lösungen suchen, die mit der Natur, der Topografie und der jeweiligen Kultur arbeiten. Entwürfe, die offen sind für Veränderungen und dabei die geschaffenen Artefakte der Zwischenstadt, die Bauten der Infrastruktur, des Handels und der Industrie integrieren. Es geht dabei um eine neue Kultur der fortwährenden Entwicklung bei gleichzeitiger Sicherung des Bestandes, die nicht zuletzt auch um eine eigene Ästhetik ringt und es schafft, aus der Zwischenstadt von heute wieder ganz spezifische regionale Räume, eigene Kulturlandschaften zu entwickeln.


Andreas Garkisch ist Architekt, Stadtplaner und einer der Gründer des Büros 03 Arch. Er studierte an der TU München Architektur und anschließend Philosophie und Soziologie an der LMU München. Seit 2019 ist er Professor für Entwerfen und StadtArchitektur an der Bauhaus-Universität Weimar. Er war bis 2022 Mitglied des Baukollegiums Berlin und gehört dem Gestaltungsbeirat der Stadt Leipzig an.


[Literatur:
Bayerisches Landesamt für Statistik (2022): Statistische Berichte. Flächenerhebung nach Art der tatsächlichen Nutzung in Bayern zum Stichtag 31. Dezember 2020; korrigierte Fassung vom 22.11.2022. Fürth.
Shinohara, Kazuo (2011): Toward a Super-Big Numbers Set City and a Small House Beyond. In: Casas Houses 2G, 58/59, S. 281 ff. Barcelona.
Süddeutsche Zeitung (2018): Verfassungsrichter stoppen Volksbegehren zum Flächenverbrauch. In: Süddeutsche Zeitung, 17. Juli. München. https://sz.de/1.4058029
Sustainable Urbanism, Lehrstuhl für nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land, Mark Michaeli, Sebastian Klawiter, Julia Micklewright, Technische Universität München (Hg.): Zwischenstand der Zwischenstadt. München. https://www.arc.ed.tum.de/fileadmin/w00cgv/land/_my_direct_uploads/221118_Magazin_Online_Version.pdf
Wieland, Dieter (1983): Grün kaputt. Film 43 min. Bayerischer Rundfunk, München.]

dérive, Fr., 2023.02.10

10. Februar 2023 Andreas Garkisch

Stadt vom Rand aus betrachtet

»Was erlebt man, wenn man der Grenzlinie folgt, die eine Stadt geographisch und rechtlich definiert?« fragten sich die Künstler:innen und Stadtforscher:innen Adina Camhy, Robin Klengel, Coline Robin und Markus Waitschlager, als sie im Sommer 2020 zu ihrer siebentägigen Umrundung von Graz aufbrachen. Mit Open Street Map als Navigationshilfe, Rucksack, Zelt und allerlei Dokumentations-Werkzeugen startete die Forschungsreise entlang der 1938 unter dem NS-Regime festgelegten und bis heute weitgehend gültigen Grazer Stadtgrenze. Das Gehen als Methode lieferte die Geschwindigkeit für die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Begegnungen, die Grenzlinie diente der Forschungsgruppe als »roter Faden, der unterschiedliche Perspektiven greifbar werden ließ«. Der Forschungszugang der »Serendipity, das Prinzip etwas zu finden ohne explizit danach zu suchen« verlangte eine »lauernde Aufmerksamkeit und Offenheit«, die Tagesetappen, Abweichungen von der Route und Ausmaß des Erkenntnisgewinns pro Tag bestimmte. Denn schnell war klar: Auch – und gerade – am Rand ist die Stadt für das Auto konzipiert, sind »ganze Landstriche« durch »große Einfahrtsstraßen, Autobahnknoten und Parkplätze« definiert. Das Gehen schafft körperliches Bewusstsein für die autogerechte Planung, »etwa wenn uns Fahrbahnen ohne Gehsteige in den Straßengraben drängen oder ein Autobahnkreuz große Umwege nötig macht«.

Mit großer Akribie wurden Wahrnehmungs-Statistiken erstellt, und im liebevoll von Robin Klengel gezeichneten und extra beigelegten »Grazrand Statistik Sonderheft« mit recherchiertem Datenmaterial »nach bestem Wissen und Gewissen« vereint. Diese »Angaben ohne Gewähr« in schönster Alltagsforschungs-Manier erzählen ebenso vielstimmig Geschichten von der Peripherie wie von der Stadtrand-Expedition selbst, etwa wenn mit einer guten Portion Humor neben 10 Pferden, 7 Rehen, 30 Kühen, 2 Bussarden, 2,5 Mio. Ameisen und zahlreichen weiteren Tieren auch »zu viele« Gelsen, »viel zu viele« Spinnen oder »49 Zecken, 15 davon im Intimbereich« statistisch erfasst werden. Nachdenklich stimmt das beigelegte Poster mit zeichnerisch erfassten »informellen Architekturen«, gelingt dem Betrachter doch nur schwer eine Zuordnung zwischen Baumhaus zum Spielen und notdürftigem Unterschlupf für Menschen am Rand – der Stadt und der Gesellschaft.

Die unterschiedlichen Kapitel der Publikation dokumentieren die vielfältigen Blickwinkel der Forschenden auf den Grazer Rand: »Etappen« erfasst als tagebuchartiger Reisebericht, illustriert von Coline Robin, die Ereignisse und Beobachtungen entlang der sieben Teilstrecken. Fett gedruckte Verweise führen zum Kapitel »Orte«, das ausgesuchte Punkte am Weg hervorhebt, die mit Erlebnissen, historischem Hintergrundwissen und urbanistischen Einordnungen beschrieben und von Robin Klengel illustrativ festgehalten werden. »Gstettn« und »Bachbett«, »Gärtnerei« und »Golfplatz«, »Atriumhäuser« und »Farina Mühle«, »Kreisverkehr« und »Riesstraße« ergeben mit vielen mehr ein Bild der unterschiedlichen räumlichen und sozialen Situationen entlang der Strecke. »Fundstücke« versucht eine Annäherung an das Leben am Stadtrand durch Sammlung von Objekten entlang des Weges, die in forensischer Weise beschrieben und als Tages-Collagen von Markus Waitschacher fotografisch von Lena Prehal erfasst werden. Von Zivilisationsmüll bis Rehkiefer hinterlassen die durchwanderten Landschaften Spuren ihrer Nutzer:innen. Zwei weitere Fotostrecken erfassen Grenzsteine und Zäune entlang des Weges.

Das Kapitel »Begegnungen« dokumentiert Zaungespräche und flüchtige Zusammentreffen, Gastfreundschaft und die Verteidigung von Eigentum, wenn etwa der Grenzverlauf über einen privaten Hof führt, deren Besitzerin nur nach langer Diskussion dazu überredet werden kann, die Gruppe – einmalig – passieren zu lassen, oder im östlichen Hügelland »alle Wiesen mit ›Betreten Verboten‹-Schildern versehen« sind und die Gruppe umgehend vertrieben wird, als sie sich zum Frühstück unter einem Baum am Rande eines Ackers niederlässt. Die dokumentierten Gespräche und Erlebnisse verweisen immer auch auf strukturelle Zustände, sie erzählen von schwindenden Ackerflächen und der Unmöglichkeit einer kleinbäuerlichen Existenz, von der Enge der Vorstadt und der Macht des Eigentums, von Ausbeutung, dem Versagen der Verkehrspolitik und dem Aussterben des Gemeinschaftslebens in den Siedlungen.

Drei Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen bieten Kontextualisierungen der GrazRand-Expedition: Kulturwissenschaftlerin Johanna Rolshoven nimmt in ihrem Beitrag »Die ausgefranste Stadt« einen Perspektivenwechsel auf den Rand als »Ort des Neuen« vor. Der Historiker Matthias Holzer sucht in »Die verschwundene Grenze«, mittels Karten und Geodaten Spuren jenes Verlaufs, der vor der Eingemeindung durch die Nationalsozialisten den Grazer Stadtrand bildete. Eine naturkundliche Perspektive auf die Stadtgrenze wirft der Biologe Werner E. Holzinger, wenn er in seinem Beitrag »Grünes Band« eine Runde um die Stadt dreht und dabei naturräumliche ebenso wie biologisch-ökologische Grenzen festmacht.

Die liebevoll gestaltete Publikation macht Lust auf urbane Forschungsreisen und dokumentiert auf ebenso ernsthafte wie leichtfüßig-humorvolle Weise die Entwicklungen an den Rändern, denen es – nicht nur in Graz – sowohl an stadtplanerischer Aufmerksamkeit wie architektonischer Fürsorge fehlt. Dabei, so die Forschungsgruppe, sind es gerade die Stadtränder, an denen entscheidende Weichenstellungen passieren: »Am Rand von heute entstehen die Zentren von morgen. Die Frage, welche Interessen sich am Stadtrand durch­setzen, ist entscheidend für das zukünftige Zusammenleben – nicht nur für Menschen, sondern für alle Lebewesen. Die Zukunft wird am Stadtrand entschieden.«


Camhy, Klengel, Robin, Waitschacher
GrazRand
herausgegeben von Elisabeth Fiedler, Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark
Verlag Bibliothek der Provinz, 2021
144 Seiten, 20 Euro

dérive, Fr., 2023.02.10

10. Februar 2023 Elke Rauth

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