Editorial
Olympische Spiele und besetzte Häuser haben auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun, sind aber beides Themen dieser Ausgabe. Während es scheinbar immer mehr Städte für notwendig halten, sich bei Olympischen Spielen zu bewerben um im internationalen Städtewettbewerb zu punkten, oder wider aller Erfahrung glauben, mit der Austragung der Spiele ein gesellschaftspolitisches oder ökonomisches Problem lösen zu können (bzw. davon ablenken zu können), hat keine Stadt Lust, sich mit besetzen Häusern herumschlagen zu müssen.
Einen Einblick in den Schwerpunkt Candidates and Hosts – Olympische Spiele und Stadtplanung gibt der Einleitungsartikel von Wiebke Grösch/Frank Metzger, die diesen konzipiert und redaktionell betreut haben. Aktualität erhält der Schwerpunkt durch die wenige Tage alte Entscheidung von Salzburg, sich (nun doch) für die Winterspiele 2014 zu bewerben, und durch die (mittlerweile gefallene) Entscheidung, welche Stadt (Bewerberinnen waren Paris, New York, London, Moskau und Madrid) die Olympischen Spiele 2012 austragen wird. Salzburg bewirbt sich gegen den Willen der BewohnerInnen der Stadt – sie haben sich bei einer Abstimmung dagegen ausgesprochen – und mit Unterstützung der BewohnerInnen der ländlichen Tourismusregionen, die ihr Schicksal offenbar noch enger mit dem Tourismus verknüpfen wollen als es ohnehin schon ist. „Noch mehr Tourismus“ ist für PolitikerInnen und Landbevölkerung die einfaltslose Antwort auf die Frage nach Lösung der Probleme in einer Region, die diesbezüglich ihre Kapazitätsgrenzen eigentlich schon erreicht hat.
In Wien hat in den letzten Monaten eine rege Diskussion um Freiräume und Besetzungen stattgefunden, die in dieser Ausgabe mit einen Beitrag über die mehrfache Besetzung eines leerstehenden Gebäudes auf dem Uni-Campus Altes AKH Eingang findet. Im Zentrum dieser Debatte steht das Schicksal des EKH, ein ehemals besetztes Haus im Besitz der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), dass diese letztes Jahr verkauft hat. Der Käufer ist Inhaber einer Security-Firma und fühlt sich im Dunstkreis von Rechtsextremen sichtbar wohl. (siehe dérive 18, www.ekhbleibt.info). Vor kurzem hat nun auch die Stadt Wien erkannt, dass sie nicht länger zuschauen kann, wie die Situation rund um das EKH auf eine Eskalation zusteuert, und Verhandlungen mit dem neuen Besitzer über den Kauf des Hauses begonnen. Der Witz an der Sache ist, dass die BewohnerInnen und AktivisitInnen des EKH im Nachhinein vielleicht fast froh sein müssen, dass die KPÖ das Haus an Rechtsextreme verkauft hat (was die politische Blödheit der KPÖ nicht entschuldigen oder verharmlosen soll). Wäre das Haus von einem „normalen“ Investor gekauft worden, wäre es wohl kaum möglich gewesen, die Stadt dazu zu bringen, sich zu engagieren. Sollte das Haus tatsächlich von der Stadt Wien gekauft werden, wird es für das EKH jedoch vermutlich auch nicht leichter. All die radikalen Forderungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem EKH (im besten Fall) nichts anderes übrig bleiben wird, nun endgültig ein „normaler“ Teil der alternativen Kulturszene zu werden, und das ist eigentlich sehr schade. Christoph Laimer
Inhalt
Editorial
Christoph Laimer
Candidates and Hosts – Olympische Spiele und Stadtplanung:
- Candidates and Hosts | Wiebke Grösch/Frank Metzger
- Los Angeles und Atlanta | Virginie Lefebvre
- Vor- und nacholympisches Barcelona | Abel Albet i Mas, Maria-Dolors García-Ramón
- NYC2012 | www.2012landgrabs.net
- Planspiele | Bill Risebero
- Große Träume in einer schrumpfenden Stadt | Matthias Bernt
- Olympische Besatzung | Harry Ladis
- nach olympia | Wiebke Grösch/Frank Metzger
KünstlerInnenseite:
- Insert | Karin Triendl, Oliver Hangl
Stadtportrait:
- Global City Berlin? Illusionen und die Ironie der Geschichte | Erwin Riedmann
Shortcut / Raccourcis / Kurz:
- Freiraum | Gruppe Freiraum
Serie:
- Geschichte der Urbanität Teil 14 | Manfred Russo
Besprechungen:
- Lucius Burckhardt erwandern | Erik Meinharter
- Regieren durch Gemeinschaft | Jens Kastner
- Die Entstehung Israels | Christoph Laimer
- Der kurze Sommer der Anarchie | Paul Rajakovics
- Die Revolte der Schlurfraketen | Christoph Laimer
- Die Stadt in der Steppe | Christoph Laimer
- Der Raum im Film | Tina Hedwig Kaiser
Candidates and Hosts
(SUBTITLE) Olympische Spiele und Stadtplanung
Am 6. Juli 2005 entscheidet das Internationale Olympische Komitee (IOC) bei einer Sitzung in Singapur über den Austragungsort der Sommerspiele im Jahr 2012. In der Endrunde befinden sich die Metropolen London, Madrid, Moskau, New York und Paris. Sie sind die verbliebenen Kandidatinnen aus einer Vielzahl weltweiter Bewerberinnen, ausgewählt in nationalen und internationalen Vorentscheidungen. Allein in den USA hatten sich acht Städte um die Austragung beworben, in Deutschland waren es fünf Städte und Regionen.
Seit es den OrganisatorInnen der Spiele von Los Angeles 1984 durch eine massive Kommerzialisierung gelungen war, die Olympischen Spiele, im Gegensatz zu vorangegangenen Olympiaden, ohne finanzielle Verluste durchzuführen, und das Bewerbungsverfahren durch das IOC zu Gunsten einer größeren medialen Präsenz der Bewerberstädte geändert wurde, ist die Zahl der Bewerbungen sprunghaft angestiegen. Wesentliche Motivation sind natürlich die erhofften – und von den BefürworterInnen meist maßlos überschätzten – positiven ökonomischen Effekte. Sowohl die Teilnahme am Auswahlverfahren als auch die Austragung Olympischer Spiele werden als perfekte Bühne angesehen einem weltweiten Publikum die Vorzüge, touristische Attraktivität sowie die logistische und ökonomische Leistungsfähigkeit der Stadt unter Beweis zu stellen, um sich – durch diese gigantische Werbemaßnahme – als Marke im globalen Wettbewerb der postindustriellen Dienstleistungsstädte um Touristenströme, Konzernstandorte und Kapital zu positionieren. Kein Wunder also, dass sich die Teilnehmerinnen im Wettstreit der (Möchtegern-)Metropolen – wie die AthletInnen – mitunter illegaler Methoden bedienen, um ihre Gewinnaussichten zu maximieren. So hat sich Salt Lake City die Austragung der Winterspiele 2002 durch die Zahlung von Bestechungsgeldern von etwa einer Million US-Dollar an Mitglieder des Auswahlkomitees „erkauft“.
Andererseits dient dieses „Spitzenereignis“ städtischer Festivalisierung als Katalysator urbaner Umwälzungen. Die Ausrichtung Olympischer Spiele ist der perfekte Vorwand für den Neu- und Umbau von Sportstätten, für die Durchführung infrastruktureller Großprojekte wie Straßenbau und den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sowie für die Um- und Neugestaltung von Wohn- und Geschäftsvierteln. Getragen von einer – wie auch immer zu begründenden – Olympiaeuphorie der Bevölkerung und entsprechenden zur Verfügung gestellten Finanzmitteln, kann die städtische Umgestaltung enorm beschleunigt werden. Den gewünschten positiven Effekten auf Wirtschaft, Arbeitsmarkt und städtischen Lebensraum stehen in der Realität u. a. Immobilienspekulationen, Mietpreissteigerungen, die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und – wie z. B. im Falle von Athen – die Vernichtung von Grünflächen, eine Erhöhung der Umwelt- und Verkehrsbelastung, eine starke Überwachung des öffentlichen Raumes und Steuererhöhungen in Folge der durch die Spiele verursachten Verschuldung gegenüber.
Die Beiträge dieser Ausgabe untersuchen am Beispiel ehemaliger, künftiger und gescheiterter Olympiastädte die Herangehensweisen, Vorraussetzungen und Beweggründe für die Durchführung eines derartigen globalen Megaevents und die sich aus den spezifischen Kontexten ergebenden städtebaulichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen.
Als positives Beispiel für die städtebaulichen Auswirkungen der Olympiade werden stets die Veränderungen Barcelonas im Rahmen der Olympiade 1992 herangezogen. Maria-Dolors García-Ramón und Abel Albet i Mas stellen in ihrem Artikel die Übertragbarkeit des so genannten „Barcelona-Modells“ in Frage und weisen auf die besonderen historischen und sozialen Vorraussetzungen hin, die die umfassende Neugestaltung der Stadt ermöglichten. Dabei machen sie auch auf die oft übersehenen Schattenseiten der Entwicklungen in Barcelona aufmerksam. Ausgangspunkt ihres Beitrags ist die Verleihung der „Royal Gold Medal“ durch das Royal Institute of British Architects im Jahr 1999 an die Stadt Barcelona und die damit verbundene Empfehlung deren Umbau als Blaupause für die Neugestaltung englischer Großstädte zu begreifen. Bill Risebero greift diesen Gedanken auf und überprüft in seinem Artikel inwieweit sich das „Barcelona-Modell“ auf die Neuplanungen für das Londoner Eastend im Rahmen der Olympiabewerbung 2012 übertragen lässt. Im strukturschwachen Londoner Osten würden im Falle der Olympiavergabe in einem neu angelegten Olympia-Park der größte Teil der olympischen Sportstätten, das olympische Dorf und ein neuer internationaler Bahnhof entstehen. Die Folge wäre – laut der offiziellen Website der Londoner Bewerbung – die größte städtebauliche Veränderung Londons seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Angesichts der Fehlentwicklungen seit den achtziger Jahren bezweifelt Risebero jedoch, dass die geplanten Bauprojekte die von den OlympiabefürworterInnen angekündigten positiven Effekte hätten, und mahnt vor allem eine Änderung der Planungsstrukturen hinsichtlich einer stärkeren Beteiligung der Bevölkerung an.
Eine der großen städtebaulichen Herausforderungen der Olympischen Spiele sind die zur Unterbringung der SportlerInnen und Offiziellen entstehenden olympischen Dörfer. Am Beispiel einer Reihe von uns besuchter ehemaliger olympischer Dörfer (Barcelona, Lillehammer, Rom, Seoul und Sydney) untersuchen wir in unserem Beitrag die Widersprüche zwischen den Ansprüchen olympischer Utopie und der städtebaulichen Realität der Dörfer nach den Spielen. Vom IOC und den Medien noch immer als „Dörfer des Friedens und der Völkerverständigung“ idealisiert, werden sie jedoch zum Schutz vor terroristischen Übergriffen streng von der Außenwelt abgeschirmt. Diese Abschottung während der Spiele kann zu einer Ghettoisierung des Dorfes nach den Spielen führen.
Mit der zunehmenden massenmedialen Verbreitung der Spiele verändert sich auch deren städtische Erscheinung. Das medial vermittelte Bild der Architektur tritt in den Vordergrund. Virginie Lefebvre stellt diese Entwicklung in ihrem Artikel am Beispiel der Olympischen Spiele in Los Angeles (1932 und 1984) und Atlanta (1996) dar. Insbesondere in Los Angeles 1984 wurden anstelle dauerhafter Bauten bereits bestehende Einrichtungen wie Universitäten für die Zeit der Spiele umgenutzt. Durch die Errichtung temporärer architektonischer Strukturen wurde die Stadt zur fernsehtauglichen Kulisse des olympischen Medienevents.
Demgegenüber analysiert Matthias Bernt das Paradoxon Olympischer Spiele im schrumpfenden Leipzig und die überzogenen Hoffnungen, die die Leipziger Stadtregierung damit verbunden hatte. Während die Stadt einerseits unter konstantem Bevölkerungsschwund und einem entsprechend großen Wohnungsleerstand leidet, sahen die Planungen für den Fall der Spiele andererseits den Neubau von 8 bis 10.000 neuen Wohnungen (insbesondere für das olympische Dorf) vor.
Seit dem Terroranschlag bei der Münchner Olympiade 1972 ist die Abwehr terroristischer Gefahren eines der wichtigsten Themen bei der Organisation der Spiele; mit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich diese Situation nochmals verschärft. Ihren bisherigen Höhepunkt (hinsichtlich Umfang und Kosten) erreichten die Sicherheitsmaßnahmen bei den Sommerspielen in Athen im letzten Jahr. Harry Ladis berichtet über das Ausmaß der dort getroffenen Sicherheitsmaßnahmen und deren Auswirkungen auf die Kontrolle des öffentlichen Raumes.
Angesichts der negativen Effekte der Spiele mehrt sich in Kandidatenstädten der Widerstand sowohl von politisch und sozial aktiven Gruppierungen (z. B. durch antiolympische Komitees) als auch in der breiten Bevölkerung. Bei der Volksbefragung zur Salzburger Bewerbung für die Winterspiele 2014 sprachen sich 60 Prozent der BürgerInnen der Stadt gegen die Olympiade aus. Dass der Protest Wirkung haben kann, zeigt u. a. die erfolgreiche Imagebeschmutzungskampagne der OlympiagegnerInnen in Berlin Anfang der neunziger Jahre. Als Beispiel aktueller Protestformen stellen wir eine Plakataktion gegen die New Yorker Bewerbung für die Spiele 2012 vor.dérive, So., 2005.07.10
10. Juli 2005 Wiebke Grösch, Frank Metzger
Global City Berlin?
(SUBTITLE) Illusionen und die Ironie der Geschichte
World Cities oder Global Cities nennt die polit-ökonomische Stadtforschung den neuen, seit den achtziger Jahren sich herausbildenden Städtetypus, der sich von anderen Städten dadurch unterscheidet, dass dort „Kontrollkapazität” über die neue internationale Arbeitsteilung hergestellt wird (Friedmann und Wolf 1982, Friedmann 1986, 1995, Sassen 1991, 1994). Die weltweit „verstreute Fabrik” der neoliberalen Globalisierung muss koordiniert und integriert werden, was nicht nur hohe Anforderungen an die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien stellt, sondern auch die Fähigkeit zur Innovation finanzwirtschaftlicher und juristischer Instrumente voraussetzt. Da Global Cities sowohl über die technologische Infrastruktur als auch über Finanzdienstleister, Börsen und Rechtsberatungsunternehmen verfügen, bieten sie den Headquarters des multinationalen Kapitals entscheidende Agglomerationsvorteile. Von hier aus wird die Globalisierung gesteuert; Global Cities sind daher „strategische” Knotenpunkte der Weltwirtschaft.
Das Global City-Argument geht noch weiter: Erstens wirken Global Cities aufgrund der ökonomischen Beziehungen, die sie weltweit unterhalten, als Magnete für EinwanderInnen. Und zweitens entwickeln Global Cities aufgrund ihrer spezifischen Qualifikations-, Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse eine besonders polarisierte Sozialstruktur. Auf der einen Seite benötigen die Headquarters und ihre finanzwirtschaftlichen und juristischen „ZulieferInnen” hoch qualifiziertes und gut bezahltes Personal, das für sich den Lebensstil einer Urban Gentry beansprucht. Auf der anderen Seite schafft der globale Wirtschaftssektor gering qualifizierte und schlecht bezahlte Arbeitsplätze, die entweder wie z.B. im Reinigungs- oder Sicherheitsgewerbe direkt oder wie in der Gastronomie oder in anderen persönlichen Dienstleistungsbranchen indirekt zur Reproduktion der Global City beitragen. Diesem Arbeitsplatzangebot steht eine Nachfrage gegenüber, die sich aus EinwanderInnen, Arbeitslosen und prekär Beschäftigten zusammensetzt. Leben in der Global City heißt demnach, besonders ausgeprägte Ungleichheitsrelationen zu erfahren (Sassen 1991, 1994).
Global Cities gibt es nur in begrenzter Anzahl. New York, London und Tokio gehören ebenso fraglos dazu wie Los Angeles und Paris. Aber ist Berlin eine Global City, wie es sich die politische Klasse der Stadt so sehr wünscht? Muss man nicht davon ausgehen, dass die Hauptstadt der größten Volkswirtschaft Europas, in dessen Zentrum sie noch dazu liegt, sich naturwüchsig zur Global City entwickelt? Seit Berlin nach dem Mauerfall schlagartig in die globale Ökonomie, von der die Stadt vorher weit gehend isoliert war, geworfen wurde, hat zumindest die Armut spürbar zugenommen. Wachsende Armut alleine reicht jedoch nicht als Indikator für den Status als Global City, denn definitionsgemäß geht es vor allem um Kontrollkapazität über die globale Ökonomie. Im Folgenden möchte ich zunächst (1) die ökonomische Ausgangsposition Berlins zum Zeitpunkt des Mauerfalls und die euphorischen Erwartungen an den wirtschaftlichen Entwicklungspfad der Stadt darstellen, dann (2) das Scheitern der Global City-Bestrebungen auf ganzer Linie aufzeigen, um schließlich (3) einen Berliner Wirtschaftssektor globaler Reichweite zu identifizieren, der seine Entstehung u.a. der Dynamik der städtischen Subkultur verdankt, die von der Stadtpolitik lange ignoriert wurde.
1. Der Wille zur Macht: Die Global City-Euphorie nach Mauerfall
Historisch beruhte die Industrialisierung Berlins auf der Expansion von Textilproduktion, Metallverarbeitung und Elektroindustrie und führte nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 zu einem explosionsartigen Urbanisierungsprozess. „Die Großbanken und die in Berlin ansässigen Industriekonzerne erhoben die Reichshauptstadt zu einer Headquarter-City mit einer vereinten Kapitalmacht, die in Europa ohnegleichen war und allenfalls von New York City übertroffen wurde” (Helms 2000: 59). Während des Kaiserreichs (1871-1918), der Weimarer Republik (1918-1933) und des Dritten Reichs (1933-1945) war Berlin daher tatsächlich einmal eine Wirtschaftsmetropole von Weltrang, freilich ohne die Kommandofunktion einer Global City zu erfüllen, welche die „verstreute Fabrik” des globalisierten Produktivkapitals voraussetzt. Erst die Herrschaft der Nazis zerstörte den Metropolenstatus nachhaltig und zwar in dreierlei Hinsicht: (1) Durch den von den Nazis entfachten II. Weltkrieg wurde die Hälfte des Wohnraumbestandes und ein Drittel der Industrieanlagen innerhalb Berlins zerstört (Ribbe und Schmädeke 1994: 194). (2) Die Alliierten Mächte befreiten die Stadt vom Faschismus und teilten sie zunächst in vier, bald jedoch in zwei Sektoren auf. Die Teilung besiegelte auf lange Zeit die ökonomische und politische (nicht aber ideologische – man denke an den Kalten Krieg) Bedeutungslosigkeit der Stadt. (3) Zunächst die Vertreibungs-, später die Vernichtungspolitik der Nazis dezimierte die Zahl der Berliner Juden und Jüdinnen von 170.000 während der Weimarer Republik auf 5.000 im Jahr 1945; außerdem gab es bei Kriegsende kaum noch registrierte „Ausländer” in der Stadt. Hatte Berlin während der Weimarer Republik über ein ausgeprägt internationales Kulturleben verfügt, blieb nun eine empfindliche Lücke im Alltag der Stadt (Häußermann und Kapphan 2000: 55).
Nach der Teilung Berlins, insbesondere aber nach dem Mauerbau im Jahre 1961, verlief die wirtschaftliche Entwicklung Ost- und Westberlins weit gehend voneinander isoliert. Während Westberlin, die Insel im „roten Meer”, in den ideologischen Schlachten des Kalten Krieges zum „Schaufenster des Westens” aufgebaut wurde, floh das Industrie- und Finanzkapital aus Angst vor seiner realsozialistischen Enteignung bereits 1945 aus Ost- und Westberlin in die Bundesrepublik. Die großen Banken zogen nach Frankfurt am Main oder Düsseldorf, die Versicherungsunternehmen nach München, Köln oder Hamburg. AEG ging nach Frankfurt am Main, Siemens nach München (Helms 2000: 61). Opulente föderale Subventionen für Westberlin, wegen denen „die Stadt zu den am höchsten subventionierten Wirtschaftsregionen weltweit”(Seiler 1998: 27) gezählt werden musste, wahrten die Profitabilität der so genannten „verlängerten Werkbänke” kapitalintensiver und niedrig qualifizierter Arbeit vor allem in der Montage, der Nahrungs- und der Genussmittelindustrie. Zur Stärkung der Westberliner Wirtschaft wurden außerdem politische Institutionen der Bundesrepublik in die Mauerstadt verlegt und erhebliche Gelder in die staatliche Kunst- und Kulturförderung gelenkt. In Ostberlin baute die sozialistische Planwirtschaft auf der vorgefundenen Wirtschaftsstruktur auf und „konzentrierte als Hauptstadt und herausragendes ökonomische Zentrum der DDR in besonderem Maße politische und wirtschaftliche Leitungs-, Management- und Koordinationsfunktionen” (Wechselberg 2000: 73), die allerdings auf den nationalstaatlichen Raum beschränkt blieben. Vor 1989 waren ausländische Investoren sowohl in Ost- als auch in Westberlin nahezu unbekannt.
Im Taumel des Mauerfalls am 9. November 1989 wurden schnell weit reichende Pläne geschmiedet und große Visionen entworfen, die allesamt auf der Erwartung basierten, dass Berlin ein rasanter Aufstieg zur wirtschaftlichen Weltmetropole bevorstünde. Die Entscheidungen von DaimlerChrysler Services AG, ehemals debis, und Sony ihr Hauptquartier bzw. ihre Europazentrale nach Berlin an den Potsdamer Platz zu verlegen, die Bewerbung Berlins für die Olympischen Spiele im Jahr 2000 und der Hauptstadtbeschluss im Jahr 1991 verstärkten den Eindruck einer Boomtown. Verschiedene Entwicklungsszenarien imaginierten Berlin wegen seiner Nähe zu Osteuropa, das Anfang der neunziger Jahre seiner „ursprünglichen Akkumulation” harrte, als „Drehscheibe zwischen Ost und West” oder sahen Berlin angesichts der unverzüglich einsetzenden Deindustrialisierung bereits als zukünftige „Dienstleistungsmetropole”. Die Wachstumsprognosen wissenschaftlicher Forschungsinstitute erwarteten bis zum Jahr 2010 eine Bevölkerungszunahme um 0,6 bis 1,4 Millionen EinwohnerInnen für die Stadt und zusätzlich um 300.000 bis 600.000 EinwohnerInnen für die Region (Heuer 1990: 47f); der zusätzliche Büroflächenbedarf in der Region bis 2010 wurde mit bis zu 19 Millionen Quadratmetern angegeben (von Einem 1990). Die Metropolenträume erzeugten reale Konsequenzen – vor allem auf dem Immobilienmarkt. Zeitweise wurden für Büroflächen in Berlin Quadratmeterpreise gezahlt, die sogar die höchsten Mieten innerhalb des deutschen Städtesystems, im Bankenviertel der Global City Frankfurt am Main, übertrafen (Krätke 2003a: 12). Staatlich subventioniert durch großzügige Angebote zur Steuerabschreibung wurden zwischen 1990 und 1998 fast 7 Millionen Quadratmeter vor allem in der Innenstadt gelegener Büroflächen neu gebaut (ebd.).
Das begriffsgeschichtlich damals sehr junge Global City-Konzept wurde von den Spin Doctors des Stadtmarketing aus seinem polit-ökonomischen Kontext gelöst, von seinen kapitalismuskritischen Konnotationen gereinigt und in ein Marketingkonzept für städtisches Wachstum in Zeiten der Globalisierung verwandelt. Auch die Kritiker der Wachstumseuphorie rezipierten das Global City-Theorem, wiesen auf die drohende soziale Polarisierung durch die Global City-Formierung hin und befürchteten, dass die gesamte Innenstadt einem rapiden Restrukturierungs- und Gentrifizierungsprozess unterworfen würde (Krätke 1991, Helms 1992). Die bemerkenswerte Offenheit eines Verwaltungsvertreters, der von einer „Gründerzeit mit Markanz und Brutalität” sprach und die Rolle der Stadtplanung als „gut organisierte Verdrängung” definierte, schien deren Befürchtungen zu bestätigen.
2. Berlin heute: Ökonomische Krise, soziales Drama und politisches Desaster
Heute, 16 Jahre nach Mauerfall schaut Berlin keineswegs auf einen kometenhaften Aufstieg zur Global City zurück. Stattdessen befindet sich die Stadt bereits seit einigen Jahren in einer tief greifenden Wirtschaftskrise, die sich in stagnierend hoher Arbeitslosigkeit und Armut niederschlägt, und steht angesichts einer von der Stadtpolitik verursachten „extremen Haushaltssituation” vor einem politischen Scherbenhaufen.
Ökonomische Krise: Nachdem die föderalen Subventionen Anfang der neunziger Jahre rasch heruntergefahren worden waren, erwiesen sich die „verlängerten Werkbänke” Westberlins bald als nicht wettbewerbsfähig. Produktionsstätten wurden geschlossen oder wanderten in Niedriglohnländer ab. Die Industriekombinate in Ostberlin wurden häufig unter Wert an Privatunternehmen verkauft, ausgeschlachtet und ebenfalls geschlossen, denn die neuen Eigentümer wollten lediglich potenzielle Konkurrenten ausschalten oder interessierten sich ohnehin nur für die Immobilie. Außerdem waren viele osteuropäische Auftraggeber nach der Währungsunion nicht mehr in der Lage, die Produkte der Ostberliner (und ostdeutschen) Industrie in Deutschmark zu bezahlen, und gingen so als Kunden verloren. Zur Wirtschaftskrise kam es schließlich, als der rasanten und durchgreifenden Deindustrialisierung im Osten wie im Westen der Stadt weder ein Reindustrialisierungsschub noch der allseits erwartete Dienstleistungsboom folgten.
Die allzu gründliche Deindustrialisierung Berlins hat zur Erosion der langfristigen Entwicklungspotenziale unternehmensnaher Dienstleistungen beigetragen. Deshalb ist der Traum von der Dienstleistungsmetropole ebenso wie die daran geknüpfte Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt geplatzt. Im Vergleich zu Hamburg, München und Frankfurt am Main sind in Berlin die auf hoch qualifizierte Beschäftigung beruhenden Teilsektoren Wirtschaftsprüfung, Unternehmens- und Rechtsberatung erkennbar unterrepräsentiert, während sich Berlin „[i]m Bereich der unternehmensnahen Dienstleistungen, die ja gern zum Hoffnungsträger einer metropolitanen Dienstleistungsökonomie ernannt werden, […] als die „Hauptstadt der Putzkolonnen und Privat-Sheriffs““ (Krätke und Borst 2000: 44) darstellt. Berlin belegt im Städtevergleich lediglich in den Teilsektoren Gebäudereinigung Wachdienste und Immobilienverwaltung eine Spitzenposition– denn auch ein Büroleerstand von 1,2 Millionen Quadratmetern will geputzt, bewacht und verwaltet sein.
Zum Zeitpunkt des Mauerfalls konnte Berlin im nationalen und internationalen Städtewettbewerb um mobiles Kapital kaum Aktivposten vorweisen, musste sich aber in einem Städtesystem behaupten, in dem die zentralen wirtschaftlichen Funktionen bereits weit gehend vergeben waren. Bisher ist es kaum gelungen, die Marktöffnung in Osteuropa zu nutzen und die Funktion als „Ost-West-Drehscheibe” einzunehmen. Stattdessen wird Berlin wie beim „Bockspringen” (Krätke 2003a: 3) einfach übergangen, während sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Polen und westdeutschen bzw. westeuropäischen Regionen überproportional verstärkt haben. Zwar nahmen bspw. die Exporte von Berlin nach Polen zu, ihr Anteil sank aber im Verhältnis zu anderen Bundesländern dramatisch (Rada 2001: 88). Angesichts der Schwäche der städtischen Ökonomie fällt die Antwort auf die Frage nach der Kontrollkapazität Berlins über andere Regionen fast peinlich aus. Nicht nur, dass Berliner Unternehmen nur über minimale überregionale Kontrollkapazitäten verfügen, die Kontrollbilanz, also die Verrechnung der Kontrolle durch Berliner Unternehmen mit der Kontrolle über Berliner Unternehmen, fällt sogar negativ aus (Krätke 2001: 1782). Berlin ist ganz eindeutig keine Global City (Mayer 1997, Sassen 2000: 17).
Soziales Drama: Obwohl Berlin also das Kernkriterium des Global City-Status nicht erfüllt, zeigen alle Untersuchungen der städtischen Sozialstruktur und ihrer Dynamik, dass Arbeitslosigkeit und Armut stark zugenommen haben. Der Zusammenbruch der Industrie, aber auch massiver Stellenabbau im öffentlichen Sektor verursachten hohe Arbeitsplatzverluste, die durch neue Beschäftigung nicht kompensiert wurden. Die Arbeitslosigkeit stieg von rund zehn Prozent im Jahr 1991 auf über 19 Prozent im Jahr 2005. Gemessen an der 50-Prozent- bzw. 40-Prozent-Schwelle des durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens lebten im Jahr 2000 neun Prozent der Berliner in Armut und drei Prozent oder ungefähr 100.000 Personen in strenger Armut (TOPOS 2001: 32). Sozialräumlich konzentrieren sich die Armen in den westlichen innerstädtischen Gebieten (der Stadtteile Kreuzberg, Neukölln, Tiergarten und Wedding), während in den östlichen innerstädtischen Gebieten (der Stadtteile Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain) kleinräumige Gentrifizierung zu verzeichnen ist. Kürzlich wurde erstmalig festgestellt, dass sich die Wohngebiete der Armen entlang einer Ost-West-Achse ausbreiten und neben den innerstädtischen Gebieten nun auch die peripheren Gebiete der Stadtteile Spandau im Westen und Marzahn und Hellersdorf im Osten umfassen (Senatsverwaltung für Gesundheit 2004). Diese Ausweitung weist eher auf die soziale Entgrenzung der Armut als auf ihre Randwanderung hin.
Politisches Desaster: Statt die endogenen Potenziale der Stadt durch gezielte Investitionen zu fördern, saß die Global City-Politik in Berlin dem Missverständnis auf, dass direkte staatliche Subventionen mobiles Kapital in die Stadt bringen würden. Für das gigantische Leuchtturmprojekt einer faktisch privatisierten Büro- und Einkaufsstadt am Potsdamer Platz wurden beispielsweise wurden Filetgrundstücke so erheblich unter Wert verkauft, dass die EU-Wettbewerbskommission eine Nachzahlung forderte (Schweitzer 1997: 94). Gleichzeitig stand der Politik vor allem die städtische Öffentlichkeit im Wege, die prompt entweder in folgenlose Diskussionen des als Legitimationsveranstaltung inszenierten „Stadtforums” verwickelt oder von bedeutenden Entscheidungen einfach ausgeschlossen wurde. Der mit hochrangigen PolitikerInnen besetzte „Koordinierungsausschuss für innerstädtische Investitionen” tagte zwischen 1991 und 1993 als Geheimgremium und war für die investorenfreundliche Abwicklung von über 50 Großprojekten in der City-Ost zuständig. Planungsfehler, Demokratiedefizite und die Privatisierung der Stadtentwicklungspolitik wurden dabei in Kauf genommen. „Die Berliner Akteure machten […] allein die Rationalität des Ökonomischen und damit die Logik der umworbenen Investoren zur […] Grundlage ihrer Entscheidungen. Es scheint, als zeichne sich vor allem hierdurch die Berliner Variante der „unternehmerischen Stadt“ aus” (Lenhardt 1998: 63). In Antizipation der Investorenlogik verschärfte sich ab Mitte der neunziger Jahre die Repression gegen die neue Armutsbevölkerung der Stadt. Zentrale öffentliche Plätze und frisch privatisierte Räume wie bspw. innerstädtische Bahnhöfe samt Umfeld wurden zum Einsatzort öffentlich-privater Partnerschaften zur Vertreibung von Personen, die aus Sicht der Ordnungshüter nicht ins „Stadtbild” passten. Z.B. erteilt die Polizei in Kooperation mit privaten Sicherheitsdiensten an etwa dreißig polizeiintern definierten „gefährlichen Orten” Haus- und Platzverweise, nach Schätzungen allein im Jahr 1997 mehr als 224.000-mal (Eick 1998).
Diese falsch – oder nur allzu gut – verstandene Global City-Politik kulminierte im „Berliner Bankenskandal”. Die Lokalpolitik hatte den Immobilienboom nicht nur rhetorisch, sondern auch tatkräftig durch das von der landeseigenen Bankgesellschaft entwickelte Finanzierungsinstrument des geschlossenen Immobilienfonds unterstützt, das den fast ausschließlich zur politischen Klasse selbst gehörenden Anlegern hohe Gewinne unter allen Umständen garantierte – notfalls aus dem öffentlichen Haushalt. Nach dem Platzen der Immobilienblase verwandelten sich die finanzierten Bauprojekte häufig in Investitionsruinen. Trotzdem kommt das Land für die Garantien auf und finanziert private Gewinne auf Kosten der öffentlichen Hand. Kritiker nennen Berlin, wohl nicht ganz im Sinne des Stadtmarketing, eine „Stadt der Talente” vor allem für Filz und Korruption (Krätke 2003a). Die finanziellen Lasten des Bankenskandals verschärfen die mittlerweile zur „extremen Haushaltsnotlage” ausgewachsene Finanzkrise der Stadt, die durch rigide Kürzungen föderaler Gelder, verfehlte politische Prioritätensetzungen und öffentliche Misswirtschaft entstanden war. Im Zuge des auf den Sparzwang sich berufenden neoliberalen Totalumbaus wurden sozialstaatliche Einrichtungen und Programme, Kultur und Wissenschaft massiv gekürzt und die öffentliche Daseinsvorsorge (Wohnungsbau, Gas-, Strom- und Wasserversorgung, Schwimmbäder) privatisiert. Die gegenwärtige sozialdemokratisch-sozialistische Lokalregierung konnte diesen Kurs abmildern, ohne jedoch einen erkennbaren Politikwechsel zu vollziehen.
3. Der subkulturelle Umweg zur Macht als Ironie der Geschichte
Während die Berliner Politik auf die Global Players starrte, die die Stadt mit ihren Konzernzentralen beglücken sollten, hat sich die Berliner Medienindustrie auf der Basis endogener Potenziale, aber lange Zeit von der offiziellen Politik unbemerkt, zu einem Wirtschaftssektor von globaler Reichweite und Bedeutung entwickelt. Angelagert an die weiter definierte Kulturindustrie, die auch die traditionell staatlich geförderten Bereiche Tanz, Theater und Kunst umfasst, besteht das medienindustrielle Cluster Berlins heute aus mehr als 7.000 Unternehmen aus Film, Funk und Fernsehen, Musik, Buch- und Zeitungsbranche sowie Werbung und Design und nimmt nicht nur im nationalen, sondern auch im globalen Maßstab eine herausragende Position ein. 19 der 33 globalen Medienunternehmen haben eine Niederlassung in Berlin (Krätke 2003b). Deshalb gehört Berlin neben New York, London, Paris, Los Angeles, München und Amsterdam zu den „alpha world media cities” (Krätke 2003a: 9). „While Berlin is still not a global city, when defined as an economic centre with global „control capacities“ and as a centre of strategic corporate services […], it is a first-rank global media city in terms of being a creativity centre for cultural production and the media industry with a worldwide significance and impact” (Krätke 2003b: 614).
Am Beispiel der Musikindustrie lässt sich gut darstellen, dass der Quantensprung zur globalen Medienstadt seine Wurzeln im Zusammenspiel lokaler Komponenten und Potenziale hat (Bader 2003). So war etwa für die Entwicklung der Techno-Subkultur der neunziger Jahre die Verfügbarkeit leer stehender industrieller und residenzieller Räume nach Mauerfall in Ostberlin von zentraler Bedeutung. Die temporäre Umnutzung dieser Räume, die oft nach dem Prinzip Hit and Run funktionierte, war möglich aufgrund ungeklärter Eigentumsverhältnisse, zunächst fehlender Handhabe der Behörden und ihrer späteren Überlastung. „Illegale”, d.h. nicht konzessionierte Clubs und Kneipen in besetzten, später auch in zur Zwischennutzung freigegebenen Wohnhäusern und Industriegebäuden dienten als bauliche Hardware für die Entfaltung der musikalischen Subkultur. Von mindestens ebenso zentraler Bedeutung waren aber das kreative Potenzial und die zunächst informelle Vernetzung der Musikproduzenten selbst. Die Alternativkultur der neuen sozialen Bewegungen hatte bereits lange vor dem Mauerfall viele junge Kreative nach Westberlin gelockt. Im Musiksektor entstanden im Zuge der „neuen deutschen Welle” und des „Punk” der frühen achtziger Jahre Labels, Studios und Veranstalter, die der Techno-Subkultur in den späten achtziger und neunziger Jahren als Ausgangspunkt für die Entwicklung eigener kultureller Codes, Stile und Medien diente. Eigene Clubs, Labels und Plattenläden bildeten schließlich die auf räumliche Nähe angewiesene Infrastruktur, mittels derer das Wissen über die subkulturellen Trends transportiert und verbreitet wurde. Solange die Technosubkultur nur als störende Übergangserscheinung der Nachmauerzeit wahrgenommen wurde, die allenfalls eine touristische Attraktion darstellte, flossen öffentliche Fördergelder nur sehr eingeschränkt. Erst als die Aussicht auf Global Players akut wurde, die von der Kreativität der kleinen Labels zu profitieren suchten, verschob sich das Bild hin zu einer förderwürdigen, vor Kreativität strotzenden Szene mit wirtschaftlichem Potenzial (Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen und Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur 2005). Anfangs mag die Subversivität und Informalität der Techno-Subkultur in einem Spannungsverhältnis zur Corporate Culture der „großen” Musikindustrie gestanden haben. Die Ansiedelung von Universal Music Deutschland und MTV Deutschland in einem innerstädtischen Gebiet Berlins mit hoher subkultureller Dichte weist jedoch auf eine gewisse, nicht nur räumliche Annäherung von Subkultur und Industrie hin und zeigt die Inwertsetzung subkultureller Produkte im Rahmen globaler Kapitalakkumulation an. „Subkultur ist nicht mehr nur Gegenkultur, sondern auch eine Gründerkultur von Netzwerken gewinnorientierter Kleinunternehmen.” (Bader 2003: 142).
Im Schatten von Boom und Krise der Stadtökonomie im Berlin nach der „Wende” haben subkulturelle Innovationsmilieus und postindustrielle Raumnutzung dazu beigetragen, dass sich ein Mediensektor von globaler Reichweite entwickelt, der Berlin in einer sektoralen Städtehierarchie auf die vordersten Plätze katapultiert hat. Die bittere Ironie dieses Aufstiegs liegt darin, dass dieser hinter dem Rücken der offiziellen Politik stattgefunden hat, die die Potenziale der Subkultur zunächst unterschätzt oder sogar als schädlich eingeschätzt hatten, und dass unterdessen die exogen orientierte Metropolenpolitik der Stadtregierung Berlin in ein politisches und ökonomisches Desaster mit gravierenden sozialen Konsequenzen geführt hat.dérive, So., 2005.07.10
Literatur
Bader, Ingo 2003: Wechselwirkung zwischen urbanen subkulturellen Bewegungen und der Ansiedelung von Betrieben der Musikindustrie. Von der Berliner Techno- und Clubkultur zur Global Media City. Diplomarbeit am Geographischen Institut der Freien Universität Berlin. In: ingo.zweibeiner.com. Zugriff am 11.08.2004
Eick, Volker 1998: Neue Sicherheitsstrukturen im neuen Berlin. „Warehousing” öffentlichen Raums und staatlicher Gewalt. In: Prokla 110. 28:1
Friedmann, John 1986: The World City Hypothesis. In: Development and Change. 17:1
Friedmann, John 1995: Ein Jahrzehnt der World City-Forschung. In: Hansruedi Hitz u.a. (Hrsg.): Capitales Fatales. Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich. Rotpunktverlag: Zürich
Friedmann, John und Goetz Wolf 1982: World City Formation: An Agenda for Research and Action. In: International Journal of Urban and Regional Research. 6:3
Häußermann, Hartmut und Andreas Kapphan 2000: Berlin: Von der geteilten zur gespaltenen Stadt? Sozialräumlicher Wandel seit 1990. Leske und Budrich: Opladen
Helms, Hans G. 1992: Der Gabentisch. Einleitende Bemerkungen zum Umbau Großberlins und der Neuen Bundesländer zu den Konditionen des Finanzkapitals und der Hochtechnologien. In: ders. (Hrsg.): Die Stadt als Gabentisch. Reclam: Leipzig
Helms, Hans G. 2000: Geschichte der industriellen Entwicklung Berlins und deren Perspektiven. In: Albert Scharenberg (Hrsg.): Berlin: Global City oder Konkursmasse? Eine Zwischenbilanz zehn Jahre nach dem Mauerfall. Dietz: Berlin
Heuer, Hans 1990: Wirtschaftliche und infrastrukturelle Aspekte der Planung im Großraum Berlin. In: Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen (Hrsg.): Erste Stadtkonferenz Berlin. Planen, Bauen, Wohnen. Kongreßbericht. Referat Öffentlichkeitsarbeit: Berlin
Krätke, Stefan 1991: Berlins Umbau zur neuen Metropole. In: Leviathan. 19:3
Krätke, Stefan 2001: Berlin: Towards a Global City? In: Urban Studies. 38:10
Krätke, Stefan 2003a: City of Talents? Berlin's Regional Economy, Socio-spatial Fabric and „Worst Practice” Urban Governance. In: International Journal of Urban and Regional Research. 28:3
Krätke, Stefan 2003b: Global Media Cities in a Worldwide Urban Network. In: European Planning Studies. 11:6
Krätke, Stefan und Renate Borst 2000: Berlin. Metropole zwischen Boom und Krise. Leske und Budrich: Opladen
Lenhardt, Karin 1998: „Bubble-politics” in Berlin. Das Beispiel Koordinierungsausschuß für innerstädtische Investitionen: eine „black box” als Macht- und Entscheidungszentrale„. In: Prokla. 28:1
Mayer, Margit 1997: Berlin - Los Angeles. Berlin auf dem Weg zur „Global City„? In: Prokla. 27:4
Rada, Uwe 2001: Berliner Barbaren. Wie der Osten in den Westen kommt. Basisdruck: Berlin
Ribbe, Wolfgang und Jürgen Schmädeke 1994: Kleine Berlin-Geschichte. Stapp: Berlin
Sassen, Saskia 1991: The Global City: New York, London, Tokyo. Princeton UP: Princeton
Sassen, Saskia 1994: Cities in a World Economy. Pine Forge: Thousand Oaks, London, New Delhi
Sassen, Saskia 2000: Ausgrabungen in der „Global City”. In: Albert Scharenberg (Hrsg.): Berlin: Global City oder Konkursmasse? Eine Zwischenbilanz zehn Jahre nach dem Mauerfall. Dietz: Berlin
Schweitzer, Eva 1997: Grossbaustelle Berlin. Wie die Hauptstadt verplant wird. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Nicolai: Berlin
Seiler, Günter 1998: Von Subventionsmentalitäten und Metropolenträumen. Reformulierung städtischer Politikformen am Beispiel Berlins. In: Prokla. 28:1
Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz (Hrsg.) 2004: Sozialstrukturatlas Berlin 2003 - Ein Instrument der quantitativen, interregionalen und intertemporalen Sozialraumanalyse und -planung. Spezialbericht 2004-1. Eigenverlag: Berlin
Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen und Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur (Hrsg.) 2005: Kulturwirtschaft in Berlin. Entwicklung und Potentiale. Eigenverlag: Berlin
TOPOS 2001: Einkommens- und Armutsbericht Berlin 2000. Eigenverlag: Berlin
von Einem, Eberhard 1990: Berlin-Scenario 2010 - Flächen und Standorte. In: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz (Hrsg.): Metropole Berlin: Mehr als Markt! Eigenverlag: Berlin
Wechselberg, Carl 2000: Transformation und Peripherisierung. Die alte und neue Ökonomie Berlins. In: Albert Scharenberg (Hrsg.): Berlin: Global City oder Konkursmasse? Eine Zwischenbilanz zehn Jahre nach dem Mauerfall. Dietz: Berlin
10. Juli 2005 Erwin Riedmann
Freiraum
Die verschiedenen Herrschaftsverhältnisse, welche uns und unser Leben konstituieren und prägen, durchziehen nicht zuletzt auch den Raum, in dem wir uns bewegen, so zumindest die Ausgangshypothese einer Wiener Gruppe, welche es sich zum Ziel gesetzt hat, Raumaneignung unter dem Schlagwort „Freiraum“ verstärkt zu thematisieren. Die soziale Konstruktion des Raums und deren Materialisierung in Architektur und Raumgestaltung sind durch Macht durchdrungen, deren verschiedene Ausformungen wie Rassismus, Sexismus, Heterosexismus, Klasse und Kapitalismus sind ihm eingeprägt. Die räumlichen Strukturen und die in ihnen verankerten hegemonialen Bedeutungen, Werte und Normen reglementieren und normieren wiederum unser alltägliches Verhalten und unsere Interaktionen, geben diesen einen Rahmen.
Um mögliche Alternativen zu den herrschenden Verhältnissen versuchen und proben zu können, müssen deswegen Räume geschaffen bzw. erobert werden, in denen ökonomische Zwangsstrukturen und herrschende Diskurse zumindest zum Teil außer Kraft gesetzt werden. Solch einen Platz strebt die Gruppe Freiraum an: „Einen selbstbestimmten Freiraum, den wir gemeinsam aufbauen. Eine Spalte in der Realität, an der wir nach Lebenslust und Kreativität suchen können, an der wir Fähigkeiten und Träume miteinander und füreinander einbringen können; an der wir mit Formen des Zusammenlebens jenseits von Markt und Herrschaft experimentieren können.“ (Kommuniqué der Gruppe Freiraum vom 10. 7. 2004, www.freiraum.at.tt)
Aus diesen Gründen wurde nach einer ersten kurzfristigen Besetzung einer leerstehenden ehemaligen Universitätsbücherei im Juni 2004 am 10. Juli desselben Jahres zum ersten Mal ein größeres Areal am Universitätscampus im Alten AKH in Wien von einer Gruppe StudentInnen, Arbeitslosen und Jugendlichen in Besitz genommen. Noch in der selben Nacht wurde von über hundert Menschen begonnen, das als Mistablage benutzte, 1.400 m² große Gelände hinter dem so genannten Narrenturm selbstorganisiert instand zu setzen. Schutt wurde entfernt, die Sanitäranlagen reaktiviert, Tausende Liter Wasser herangeschafft, provisorische Elektroleitungen für das ganze Gelände installiert, eine Latrine gebaut und eine Großküche eingerichtet, Essen für rund zwei Wochen besorgt und eingelagert, eine Bühne gebaut, eine Musikanlage aufgestellt, ein Kulturprogramm entwickelt und Konzerte für den nächsten Abend organisiert; ein Raum wurde für eine Ausstellung adaptiert und die Ausstellung anschließend umgesetzt, ein mehrere hundert Quadratmeter großes Segel über den Hof zwischen die Kastanien gespannt usw. Längerfristig geplant waren die Schaffung eines im ansonsten durchkommerzialisierten und teuren Universitätsviertel dringend benötigten unkommerziellen Cafés mit regelmäßiger kostenloser Küche, Kulturprojekte und –veranstaltungen wie eine offene Galerie und Theater, eine kritische Gegenuniversität mit selbstorganisierten Seminaren und Lesekreisen, ein autonomer Frauenraum, ein „Kostnix-Laden“, eine freie Kinderstube und generell ein offener Platz, an der jede/r ihre/seine Ideen und Bedürfnisse frei umsetzen können sollte.
Polizeilich beendet wurde diese Besetzung nach nur zwei Tagen am 12. Juli 2004. Mehrere Dutzend AktivistInnen ließen sich vom Gelände tragen. In der Folge kam es zu weiteren Aktionen und temporären Raumaneignungen, um der Forderung nach einem Freiraum Nachdruck zu verschaffen, sowie zu einer weiteren, diesmal nach nur einem Tag geräumten Besetzung des Areals hinter dem Narrenturm am 13. Juli 2004, bei der die Instandsetzungsarbeiten am ansonsten leeren Gebäude und Garten fortgesetzt wurden. Im Herbst und Winter wurde eine Kampagne zur Drucksteigerung auf die Universität Wien lanciert; nebenbei kam es in regelmäßigen Abständen zu einer Reihe kurzzeitiger, so genannter „stiller“ Besetzungen, um die Auseinandersetzung mit dem Thema Raumaneignung insbesondere angesichts der wachsenden Gefährdung der wenigen bestehenden autonomen Räume in Wien zu institutionalisieren. Nach einer wetterbedingten Winterpause wurde das Gelände im Universitätscampus dann am 13. Mai 2005 und 23. Mai 2005 wieder neu belebt und Workshops und Kulturprogramme abgehalten; beide Besetzungen fanden aber schon am darauffolgenden Tag ein Ende. Die Themen Raumaneignung und Freiraum bleiben jedoch nach wie vor bestehen.
Weitere Informationen zum Projekt Freiraum gibt es auf der Website www.freiraum.at.ttdérive, So., 2005.07.10
10. Juli 2005 Gruppe Freiraum