Leider ist nichts davon heutzutage selbstverständlich. Wir leben nun einmal in keiner Ära des Friedens; vielmehr folgt eine Katastrophe auf die andere. 1. Die Nahrungsketten sind untergraben. 2. Die Volksgesundheit ist gefährdet. 3. Die Energieressourcen nehmen ab. 4. Vielerorts mangelt es an Raum. 5. Wertvolle Lebenszeit zerrinnt uns zwischen den Fingern. 6. Der soziale Zusammenhalt schwindet. 7. Schließlich wird uns immer deutlicher klar, dass wir viel zu lange Gewinne privatisiert und Verluste der Gesellschaft aufgebürdet haben, was eine tiefe Krise des Wirtschaftssystems zufolge hatte. Heute ist es schon fast ein Klischee, über die Bedrohung der wichtigsten Überlebensstrukturen des Planeten zu sprechen. Es fehlt nicht mehr viel, und auch die Katastrophe wird zur langweiligen Platitüde, die uns selbstverständlich erscheint.

In dieser angespannten Zeit der ungezählten Notlagen stellen wir nun ein Buch über Architektur vor. Dies mag wie ein frivoler Zeitvertreib daherkommen, eine bloße Pause, in der uns die Pracht und beruhigende Wirkung eines schönen Gebäudes über eine immer bedrohlichere Epoche hinwegtrösten soll. Aber unser Beruf hat keine Zeit für Entspannung, da rückblickend klar ist, dass die Architektur sehr stark zur Ausbreitung weltweiter Krisen beigetragen hat. Soll die Architektur also ihren Mehrwert unter Beweis stellen und die Last ihrer Schuld abschütteln, bedarf sie besserer Argumente als der bloßen Fähigkeit, Unterschlupf vor den Elementen zu bieten.

Bei genauerer Betrachtung stellt sich diese Last als gewaltig heraus. Krisenbilder im Kopf sind stets auch Bilder von Architektur: verstopfte Straßen, überfüllte Flughäfen, automatisierte Warenumschlagplätze, Massenhaltungen von Kühen, Schweinen und Hühnern, Fleischfabriken, Fast-Food-Lokale, Einkaufszentren, Hypermärkte und Quarantänezonen, weltweite Werkstofftransporte, Zersiedelung, Schlafstädte in der Wüste von Arizona, Sperrgebiete und Sicherheitsmauern, verlassene Häuser in Geisterstädten wie Detroit oder Seseña Nuevo. All dies begann mit Entwürfen.
Doch das Argument funktioniert in beide Richtungen: Hätten diese Bilder der Krise nicht bis vor kurzem noch als Beispiele des unerhörten Erfolgs der Globalisierung gelten können? Denken wir etwa an einen international gefeierten Architekten, der ständig durch die Welt jettet und so viele einzigartige Gebäude wie möglich entwirft, die ihrerseits einen bewundernden Massentourismus auslösen helfen: Sind das denn nicht die einmaligen, fantastischen Architekturgebilde, die von weither kommen und die jeweilige Stadt bekannt machen sollen? War es nicht eben diese Praxis, die den unerhörten Ruhm mancher Architekten begründete? Wie kann dieses bejubelte Podest über Nacht zum Symbol kulturellen Bankrotts werden?

Der Grund dafür ist nur im gleichermaßen schnellen Begreifen der Krise zu finden. Architektur, Design und Bauwesen werden immer stärker als Teil des Problems betrachtet. Art und Weise der Selbstorganisation und Selbstpräsentation der Branche gelten heute zunehmend als Soziallast: Gebäude, die an Zugänglichkeit und Erreichbarkeit, einem Beitrag zur Gesellschaft und praktischer Benutzbarkeit ebenso desinteressiert sind wie an der Idee, den Konsum fossiler Brennstoffe zu senken bzw. sich über den Ursprung der Baustoffe, die Effizienz des Bauvorgangs oder zukünftige Erhaltung Gedanken zu machen. Manche wollen schon das Schreckgespenst eines völlig verantwortungslosen Berufsstands ausgemacht haben, der es darauf anlegt, ohne Rücksicht auf Verluste oder Marktbedingungen immer höhere Honorare einzufordern. Ein Berufsstand, der das Bemühen um Achtung vor seiner Kulturleistung auf bloßes Spektakel gründet, lebt gefährlich.

Doch die Lösung liegt nicht in der Abschaffung der Architektur. Der sündige Architekt kann nur durch den erlösenden Architekten gerettet werden – und zwar in der Person von Architekturschaffenden, die sich der Herausforderung stellen.
Deshalb befasst sich dieses Buch vor allem mit niederländischer Architektur. Die Niederlande sind in mancher Weise überdurchschnittlich hart von der gegenwärtigen Krise betroffen und müssen sich mehr als andere Länder um eine Lösung bemühen. Wenn das Land diese Herausforderung ignoriert, verliert es seine Existenzberechtigung. Ohne Innovation sind die Niederlande als unabhängiges Land dem Untergang geweiht. Die Fakten sprechen hier eine klare Sprache. Die hohe Bevölkerungsdichte hat die Niederlande gezwungen, eine führende Rolle in der Industrialisierung der Nahrungsproduktion einzunehmen. Der immer größere Anteil älterer Menschen stellt das Gesundheitswesen vor schwere Herausforderungen. Ohne ständige Energiezufuhr wird das Land überflutet. Es benötigt mehr Boden, um den demografischen Druck abzufedern und sich ändernde Familienstrukturen einzubeziehen. Es benötigt Zeit, um den Wert von Innovationen zu testen. Es benötigt sozialen Frieden, um die vielen Ziele auch umzusetzen. Und als Hort des Kapitalismus ist es an neuen Maßstäben für das Weltwirtschaftssystem beteiligt und hat vielleicht mehr als andere Staaten dabei zu gewinnen. Fällt den Niederlanden angesichts dieser Herausforderungen nichts Neues ein, wird das Neue seinerseits mit voller Macht über die Niederlande herfallen.
Es stellt sich hier die Frage, ob die niederländische Architektur einer solchen Aufgabe gewachsen ist. Die Antwort steht keineswegs fest. Schließlich ist der Druck des Einfach-Weiterwurstelns beträchtlich. Zum Beispiel wird in Fachkreisen noch immer viel Energie auf alte Grabenkämpfe wie dem zwischen Modernisten und Traditionalisten aufgewendet – eine auf der Überzeugung beruhende Kontroverse, dass es in der Architektur dem Wesen nach um Stil und äußere Form gehe und Architekturschaffende sich daher für die Schule entscheiden, der sie jeweils angehören wollen: jener der modernen Ära oder jener, die dem Kunden „das gibt, was er will“. Dieser angebliche Kampf um Leben und Tod zieht sich nunmehr schon fast ein Jahrhundert hin.
Eine neuere Ansicht ist, dass ein Gebäude nur dann als Architektur gelten kann, wenn es ein intelligentes Konzept, beruhend auf einer umfangreichen Analyse von Kontext, Programm und zeitgenössischer Architektur- und Philosophiedebatte, verkörpert. Wurde die niederländische Architektur nicht weltberühmt mit SuperDutch, dem Werk einer Generation, die sich durch eine noch nie dagewesene konzeptuelle Kraft auszeichnete? Dieser Ansatz machte eine Gruppe äußerst intelligenter EntwurfskünstlerInnen zweifellos berühmt, ist aber wohl kaum Grund genug, um fortan in architektonischer Hinsicht einfach so weiterzumachen.
Heute, da sich das Jahr 2009 dem Ende nähert, sind Zweifel angebracht, ob der Berufsstand in den Niederlanden widerstandsfähig genug ist, das Steuer herumzureißen und neue Chancen zu ergreifen. Nach einer jüngeren Studie des Königlichen Instituts Niederländischer Architekten (BNA) fiel ein Drittel der Architekturbüros in weniger als zehn Monaten der Krise zum Opfer, und der Reichsbaumeister kündigte ein Nothilfsprogramm an, um das Entstehen einer infolge der Konjunkturprobleme und drastischen Einschnitte im Bauwesen „verlorenen“ Generation zu verhindern.
Die Architekturbeispiele in diesem Buch haben mit typisch niederländischer Architektur in diesem Sinne oder auch mit einem Hilfsprogramm kaum oder gar nichts zu tun. Sie sollen vielmehr ein radikaler Teil der Lösung sein. Diese Architektur bietet Lösungen für Fragen an, die sowohl viel größer als die Architektur per se als auch ohne Architektur unlösbar sind. Bei dieser Architektur geht es nicht um die angestrebte Form oder die mögliche Analyse, sondern vor allem um das, was nötig ist, um die Fähigkeit der Architektur, drängende Probleme zu lösen. Diese Architektur lässt sich nicht von der derzeitigen Marktsituation ablenken, in der sich die Frage stellt, ob es überhaupt Arbeit für Architekturschaffende geben wird. Vielmehr geht es um eine Vision der Zukunft und um die Konzentration, die man braucht, um dieses Bild scharf im Auge zu behalten. Damit geht es auch um die spekulative Denkweise junger und älterer Architekturschaffender, die für eine solche Vision grundlegend ist, und um die Recherchen hinter ihren Entwürfen.
Dieses Buch beginnt und endet jenseits der Architektur und stellt eine einzigartige Möglichkeit für die zeitgenössische Architektur dar – nämlich die Wiederentdeckung einer sozialen Notwendigkeit, die konsequent qualitätvolle Architektur erschafft. Solche Augenblicke sind eine historische Rarität; sie ereignen sich nur dann, wenn die alten Methoden nicht mehr angebracht und neue Methoden noch nicht auszumachen sind. Diese Krise ist eine zu wertvolle Chance, um sie zu versäumen. Sie bietet die Gelegenheit, zum Ursprung der Architektur als kreative Raumorganisation des menschlichen Lebens zurückzukehren – nicht durch die Wahl eines bestimmten Stils oder konzeptuelle Analysen, sondern durch die Erfindung neuer räumlicher Konstellationen; nicht durch Raumzuteilung und Umsetzung eines bestimmten Programms, sondern durch Mitschaffung einer Raumorganisation für eine Vielzahl von Programmen; nicht durch den Bau von Dingen im Raum, sondern durch die Organisation von Abläufen in der Zeit; kurz, eine Rückkehr nicht zum physischen Objekt, sondern zur erbrachten Leistung. Bei dieser Architektur geht es nicht um oberflächliche Schönheit, sondern um Ergebnisse. Endlich erweist sich die Architektur als unvergleichliches Innovationsfeld.

Diese Erkenntnis mag den Leser oder die Leserin überraschen. Ein Überblick über moderne Innovationstheorien zeigt bald, dass Erwartungen in Bezug auf zukünftige soziale Neuerungen und damit zukünftigen ökonomischen Wohlstand vor allem auf die Hochtechnologie abstellen: Informationstechnologie, Biotechnologie, Nanotechnologie und Neurotechnologie – in anderen Worten: Bits, Gene, Atome und Neuronen. Hier konzentrieren sich gigantische Ressourcen in der Forschung, hier sind soziale Relevanz und soziale Achtung verortet. Niemand in der weltweiten Wissensgesellschaft setzt mehr auf die Architektur, einen Berufsstand, der mit Stein, Boden, Raum, Langsamkeit assoziiert wird. Noch weniger ist zu erwarten, dass sich radikale Neuerungen in den genannten Technologiebereichen direkt in der Architektur widerspiegeln werden, ganz im Gegensatz zu den Ergebnissen früherer technischer Revolutionen: Kirche, Palast, Fabrik, Bahnhof, Bankgebäude. Wie kann die Architektur heute Vorteile aus den Fortschritten der Genetik und Nanotechnologie ziehen? Die Bedrohung der Architektur entspringt nicht nur der Wirtschaftskrise, sondern auch einer Krise der Motivation. Dauert diese zu lange an, könnte noch eine Talentkrise dazukommen.

Was kann die Architektur tun, um dieses Szenario abzuwenden und ihre soziale Rolle in der Gegenwart mit ihrer zukünftigen Mission in Einklang zu bringen? Ganz einfach – sie muss mit dem Notwendigen anfangen. Mehr als irgendeine neue Technologie liefert die alte Technologie der Architektur Lösungen für Probleme im Zusammenhang mit Nahrungsketten, Gesundheit, Energieflüssen, Raumknappheit, Zeitmanagement, sozialen Spannungen und dem heutigen Wirtschaftssystem.
Benötigt wird eine Raumorganisation, die den Menschen wieder zu Eigenständigkeit verhilft, die gesündere Milieus schafft, die Energie produziert, anstatt sie bloß zu verbrauchen, die Raum und Zeit nicht auffrisst, sondern sie vielmehr erzeugt, die den Zusammenhalt fördert – eine Raumorganisation, deren Wert als einheitlicher Prozess von Entwurf, Gebäude und Erhaltung definiert ist. Dies ist eine ebenso anspruchsvolle Aufgabe wie eine Apollo-Raumstation; in der niederländischen Dimension ist sie mit der symbolischen Kraft der Deltawerke vergleichbar. Der Architektur bietet sich heute eine Chance, die nur selten wiederkehrt.
Eine Architektur, die sich auf die vielen Möglichkeiten der Intensivierung und Kombination konzentriert, ist ein realistischer Ansatz. Im Gegensatz zu einer Architektur der monoprogrammatischen Zonen, rigiden Zweckbindung von Räumen, Flächenwidmungspläne und hoch individuellen, nicht wiederholbaren Statements finden wir eine Architektur, die aus dem Teilen von Raum, Dienstleistungen, Energie, Verkehrsmitteln, Öffentlichkeit und Werten Nachhaltigkeit gewinnt – eine Architektur, die durch das Teilen ganz neue Typologien schafft.
Dieses Buch bietet zahlreiche Beispiele einer solchen Architektur: von CO2-neutralen zu Energie erzeugenden Gebäuden und Landschaften, von qualitativ hochwertiger Architektur für einkommensschwache Gruppen zu einer Villa aus Abfallstoffen, von temporären Hotels in Abrisszonen zur Umgestaltung bestehender Sozialwohnungen, von einzigartigen Unternehmensbündnissen auf regionaler Ebene zu kooperativen und produktiven Teams, die die lokale Bevölkerung einbinden.

Architektur bietet eine solche Vision für die Zukunft schon heute an, wie dieses Buch belegt. Die hier vorgestellten Architekturschaffenden mögen im Alltag oft Konkurrenten sein – hier zeigen sie jedoch eine erstaunliche Einstimmigkeit in ihren Ambitionen für den Berufsstand. Dies ist kein Pakt, keine Bewegung, bei der alle in dieselbe Richtung blicken müssen, sondern eher ein Wettbewerb, bei dem die Teilnehmer von denselben innovativen Motivationen angetrieben werden: Ein Berufsstand macht sich auf, die Probleme zu lösen, die er mitgeschaffen hat.
Visionen der Zukunft, Bilder, die ihnen Macht verleihen, zielgerichtete Strategien, die Kraft der Überzeugung, um diesen Strategien zu folgen – all dies findet sich in diesem Buch. Was fehlt, ist die effiziente Umsetzung durch Entscheidungsträger. Wir hoffen, dass dieses Buch ihnen helfen wird, eben jene Entscheidungen zu treffen.

(Ole Bouman, Einleitender Essay zum Katalog der Ausstellung „Architecture of Consequence“, 2009, übersetzt von Sigrid Szabó)

Bauwerke

Presseschau

10. Mai 2011Ole Bouman
newroom

Architektur der Konsequenz.

Wenn alles glatt läuft, sind dies bloß langweilige, leere Platitüden: 1. Menschen brauchen genügend zu essen und zu trinken: gewiss. 2. Sie wollen gesund sein: ganz klar. 3. Ohne Energie können wir nicht leben: logisch. 4. Menschen brauchen ausreichend Platz: ohne Zweifel. 5. Sie brauchen auch Zeit, um sich zu verwirklichen: unbestreitbar. 6. Wenn mehrere Menschen zusammen leben, ist es wichtig, dass sie miteinander gut auskommen: selbstredend. 7. Und wenn Menschen miteinander Handel treiben wollen, um Vorteile aus all diesen Bedingungen zu ziehen, dann muss sich das auch rechnen: natürlich.

Wenn alles glatt läuft, sind dies bloß langweilige, leere Platitüden: 1. Menschen brauchen genügend zu essen und zu trinken: gewiss. 2. Sie wollen gesund sein: ganz klar. 3. Ohne Energie können wir nicht leben: logisch. 4. Menschen brauchen ausreichend Platz: ohne Zweifel. 5. Sie brauchen auch Zeit, um sich zu verwirklichen: unbestreitbar. 6. Wenn mehrere Menschen zusammen leben, ist es wichtig, dass sie miteinander gut auskommen: selbstredend. 7. Und wenn Menschen miteinander Handel treiben wollen, um Vorteile aus all diesen Bedingungen zu ziehen, dann muss sich das auch rechnen: natürlich.

In this fraught period of multiple emergencies we are presenting a book about architecture. This may sound like a flippant diversion, a pause to contemplate the magnificence and reassurance of a beautiful building in an era that is growing more and more menacing. But the profession has no time for such relaxation as it is evident in retrospect that architecture has contributed mightily to a spread of global crises. If architecture is to demonstrate its added value, and to shed its burden of guilt, it needs better arguments than its ability to offer shelter.

Upon closer inspection that burden turns out to be massive. Conjure up images of the crisis and what you see is architecture: jammed roads, packed airports, automated transhipment centres, vast cowsheds, battery farms for pigs and chickens, meat factories, fast food outlets, shopping malls, hypermarkets and quarantine zones, worldwide material transportation, urban sprawl, condominium cities in the desert of Arizona, no-go areas and security walls, abandoned homes in ghost towns like Detroit or Sesena Nuevo. And it all started with design.
But here the argument cuts both ways. Couldn’t these images of the crisis until recently be considered as exemplars of the unprecedented success of globalization? And still. Think of an internationally acclaimed architect who is constantly jetting around the world, designing as many unique buildings as possible that in turn help generate an admiring mass tourism. Isn’t this the one-off architecture that comes from far away to put the city on the world map? Hasn’t this practice brought architects to a pinnacle of unparalleled fame? How can that pinnacle become an overnight symbol of cultural bankruptcy?

The reason for this can only be found in the equally rapid awareness of the crisis. Architecture, design and construction are increasingly seen as part of the problem. The way in which this branch organizes and presents itself is now often taken to be a social debit – buildings that pay no heed to how they can be reached or accessed nor to what they contribute to society, how they can be adapted for use, the reduction of fossil fuel consumption, the provenance of their materials, the efficiency of the building process and their future management. Some people can already see the looming spectre of a totally irresponsible profession that seems bent on pricing itself out of the market, whatever the consequences. A profession that bases its efforts to win cultural respect on mere spectacle is living dangerously.

But the solution cannot dispense with architecture. The architect as sinner can only be redeemed by the architect as saviour, in the person of an architect who faces up to the challenge.
That is why this book is in particular about Dutch architecture. The Netherlands is in some respects harder hit than the average by the present crisis and will have to strive more than most other countries to find a solution. If this country ignores the challenge it will cease to exist. Without innovation the Netherlands is doomed to disappear as an independent country. Just look at the facts. The high population density has forced the Netherlands to become a leader in the industrialization of food production. The growing elderly population is a challenge to health care. Without a permanent supply of energy the country will be flooded. It needs new land to accommodate demographic pressure and to cater for changing lifestyles. It needs time to prove the value of innovations. It needs social peace to pursue its many desires. And as a crucible of capitalism, it is involved in and stands to gain more than any other country from a new benchmarking of the global economic system. If the Netherlands, under all this pressure, fails to think up something new, what is new will come up with something for the Netherlands.
The question now is whether Dutch architecture is up to the task. That is by no means a foregone conclusion. After all, the pressure just to keep plodding on is enormous. For example, a lot of energy in professional circles is still wasted on old feuds such as that between the modernists and the traditionalists, a controversy rooted in the notion that the essence of architecture is about style, external form, and that the architect therefore opts for the school to which he or she wants to belong, that of the modern era or that of providing „what the customer wants“. This supposedly life-and-death struggle has been dragging on for most of a century by now.
A more recent notion is that a building can only be architecture if it is the embodiment of an intelligent concept, based on an extensive analysis of context, programme and the current architectural and philosophical debate. Didn’t Dutch architecture become world famous with SuperDutch, the work of a generation that profiled itself with an unprecedented conceptual strength? This approach has certainly made a group of extremely intelligent designers famous, but it is debatable whether this is reason enough for architecture in general to continue along the same lines in future.
Now, past mid-2009, it is doubtful whether the architectural profession in the Netherlands has enough resilience to turn the tide and seize new opportunities. According to a recent investigation by the Royal Institute of Dutch Architects (BNA), one third of the architectural firms have succumbed to the crisis in less than ten months, and the Chief Government Architect has announced an emergency programme to prevent the emergence of a lost generation as a result of the economic depression and the drastic cuts that are taking place in the building sector.
The architecture in this book has little in common with typical Dutch architecture in this sense, neither does it have any connection with an emergency programme. Its aim is nothing less than to be a radical part of the solution. This architecture presents solutions to questions that are both much larger than architecture and impossible to tackle without architecture. This architecture is not about the desired form or the possible analysis. It is above all about necessity, about architecture’s capacity to resolve pressing problems. This architecture is not distracted by the current market situation, in which the question is whether there is work for architects. It is about a vision of the future and the focus that is required to keep that picture sharp. So it is also about the speculative minds of architects young and old which are essential for a vision of this kind and about their design research.
This book begins and ends beyond architecture, presenting a unique opportunity for architecture today, the rediscovery of a social necessity that consistently produces worthwhile architecture. Such moments are historically rare. They occur only when the old procedures are no longer adequate and the new ones have not yet arrived on the scene. This crisis is too valuable an opportunity to let slip by, a chance to turn back to where architecture starts, in the creative spatial organisation of life – not in style choices or concept analyses, but in the identification of new spatial constellations; not in the spatial allocation and accommodation of a given programme, but in helping to create a spatial organization for multiple programmes; not in making things in space, but in organizing processes in time; in short, not in the object, but in performance. This architecture is not about superficial beauty, but about results. Eventually, architecture turns out to be an unparalleled field of innovation.

This insight probably comes as a surprise to the reader. Anyone who explores contemporary theories of innovation will soon notice that expectations about future social breakthroughs and thus future economic prosperity are mainly concentrated on high tech: information technology, biotechnology, nanotechnology and neurotechnology. In other words, bits, genes, atoms and neurons. That is where the vast resources for research are concentrated, where social relevance and social respect are located. Nobody in this global knowledge field is still betting on architecture – the profession of stones, soil, space and slowness. Nether is it logical to expect that breakthroughs in the technologies mentioned above will have immediate architectural outcomes as earlier technological revolutions did: the church, the palace, the factory, the station, the bank. How can architecture today benefit from progress in genetics and nanotechnology? Architecture is not just suffering from an economic crisis but also threatened by a crisis of motivation. If that lasts too long it will be faced with a crisis of talent too.

What can architecture do to avert this scenario and unite its social role in the present with its future mission? Simply put, it must start with what is necessary. More than any new technology the old technology of architecture provides solutions to problems associated with food chains, healthcare, energy flows, lack of space, time management, social tensions and the present economic system.
What is needed is a spatial organization that allows people to achieve self-sufficiency again, that constructs healthier environments, that produces energy rather than merely consuming it, that does not cost space or time but creates them, that promotes cohesion, a spatial organization whose value is defined as a unified process of design, building and maintenance. This is an assignment with the appeal of an Apollo project, or, in the Dutch experience, the symbolic force of the Delta works project. Architecture has been presented with an opportunity that is seldom available.
An architecture that focuses on the many possibilities of intensification and combination is a realistic proposal. Rather than an architecture of monoprogrammatic zones, single issue spaces, zoning plans and highly individual, unrepeatable statements, it would be an architecture that derives sustainability from the sharing of space, services, energy, transport, the public domain and of values, an architecture that through that sharing achieves wholly new typologies.
This book is full of examples of that kind of architecture, from CO2-neutral to energy-producing buildings and landscapes, from high-quality architecture for lower income groups to a villa made from refuse, from temporary hotels in demolition zones to the redevelopment of existing social housing, from unique business alliances at the regional level to cooperative, productive teams involving local residents.

Architecture is already presenting this vision for the future, as this book demonstrates. The architects presented here, though often rivals in daily life, display a striking unanimity in their ambitions for their profession. Theirs is not a pact or movement in which all noses have to point in the same direction, but rather a competition in which the participants are driven by the same innovative motivation – their profession has set out to solve the problems it helped create.
Visions of the future, images to lend force to that vision, strategies for getting there, the force of conviction to follow those strategies can all be found in this book. The only thing missing is effective implementation by decision makers. We hope that this book will help to find them. (Introduction Essay of the catalogue of the exhibition „Architecture of Consequence“, Rotterdam 2009)

newroom, Di., 2011.05.10

09. Januar 2004Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

„Die Niederlande neu gestalten“

Jo Coenen als niederländischer Reichsbaumeister

Jo Coenen als niederländischer Reichsbaumeister

Der aus Maastricht stammende Jo Coenen steht einer Institution vor, die in der Welt ihresgleichen sucht. Er ist nämlich Reichsbaumeister der Niederlande und damit mitverantwortlich für die staatliche Architekturpolitik. Die einzigartige Stellung der niederländischen Architektur im internationalen Kontext ist also keineswegs zufällig.

Die Maastrichter müssen ein glückliches Völkchen sein. Die Stadt hat sich eine beschauliche Atmosphäre erhalten, von der sie besonders an Sommertagen zehrt. Schnell füllen sich dann die Strassencafés des Vrigthof-Platzes, und während man sich im Schatten der Sant Servaas Kerk verwöhnen lässt, kommt das Gefühl auf, in längst vergangene Zeiten versetzt zu sein. Kaum zu glauben, dass nur einen Steinwurf entfernt einer der eigenwilligsten Architekten der Niederlande in einem herrschaftlichen Altbau sein Atelier eingerichtet hat. Jo Coenen ist vieles in einer Person: Hochschullehrer, Architekt, Stadtplaner - und Reichsbaumeister. Als solcher ist er mit den höchsten planerischen Aufgaben betreut und berät die Regierung in ihren Entscheidungen.

Bevor Coenen vor zwei Jahren in die oberste Bauinstanz des Landes gewählt wurde, hatte er sich als Architekt einen Namen gemacht. So baute er 1993 in Rotterdam den Neubau des renommierten Niederländischen Architektur-Instituts (NAI), in welchem die einzelnen Gebäudeteile auf Kollisionskurs zu gehen scheinen. Impulsgebend sind auch spätere Projekte: Im Düsseldorfer Medienhafen vollendete er kürzlich einen 16-geschossigen Büroturm mit Fassaden aus Muschelkalk und Glas, der wie ein Ausrufezeichen am südlichen Ende des Hafenbeckens steht. Und auf dem Amsterdamer Oosterdok-Eiland errichtet er zurzeit eine «Stadtbibliothek». Aber Coenen besteht darauf, dass er sich neben seiner Tätigkeit als Architekt immer auch als Stadtplaner verstanden hat.


Funktionsmischung

So erstellte er für das unweit der Maastrichter Altstadt gelegene Industriegelände von «Sphinx Céramique» einen Masterplan mit einer Funktionsmischung aus Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur, für den er international anerkannte Kollegen an die Maas holen konnte. Vertreten ist sein Tessiner Lehrer Luigi Snozzi, der entlang des Ufers Apartmentblocks wie Waben aneinander reihte. Mario Botta bewies mit «La Fortezza» ein weiteres Mal seinen Hang zu festungsartigen Backsteinarchitekturen, Wiel Arets verlieh dem «Indigo Office Building» eine markante Fassade mit Fensterbändern, und Alvaro Siza baute neben sein Turmgebäude eine sichelförmige Anlage für Wohnungen und Büros. Vor ihnen hatte schon Aldo Rossi mit dem Bonnefanten-Museum ein Wahrzeichen errichtet. Schliesslich hat auch Coenen auf dem Areal gebaut. Am eindrucksvollsten gelang ihm dabei die Renovierung eines Theaterhauses und der Anbau eines Cafés, von dessen Terrasse der Blick bis zur Maas schweift.

Im Gespräch erzählt Coenen von seinem ersten Grossprojekt, dem Masterplan für die KNSM- Halbinsel am Amsterdamer Hafen, mit dem er den öffentlichen Raum der Stadt reaktivieren wollte. «Anders als in unseren Nachbarländern gibt es in den Niederlanden Politiker und Bürger, die noch immer Wert auf öffentliche Plätze legen.» Wenn man heute durch die fast menschenleeren Strassen der einstigen Hafenmole geht, versteht man schnell, dass auf KNSM und den benachbarten Halbinseln Java, Borneo und Sporenburg allzu sehr auf verdichtetes Wohnen gesetzt wurde - zulasten einer lebendigen Funktionsmischung. Es dauerte einige Jahre, bis sich die Hafenfront belebte durch die Cafés, Restaurants und Geschäfte in Kollhoffs «Piräus»-Gebäude und im «Hofhaus» von Diener & Diener. Nun aber, in seiner neuen Funktion als Reichsbaumeister der Niederlande, möchte Coenen alles besser machen. Nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren verliess er die beengten Räume des Ministeriums und zog mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern in ein grösseres Gebäude in Den Haag um. «Mir ist die räumliche Distanz zur Regierung wichtig, denn es ist ja meine Aufgabe, das Kabinett bei Bauaufgaben kritisch zu beraten.» Kurz darauf kam der Paukenschlag: Der neue Reichsbaumeister Coenen veröffentlichte eine Programmschrift mit dem Titel «Die Niederlande gestalten». Diese «Nota» stellte klar, welchen Richtlinien die staatliche Baupolitik in den nächsten Jahren folgen soll.

Der erste Satz beruhigte zwar noch die Gemüter durch den Hinweis auf das internationale Ansehen der niederländischen Architektur, doch dann heisst es: «Der Schwund öffentlicher Räume ist besorgniserregend, Wohnsiedlungen wuchern über die Grenzen von Städten und Dörfern.» Gleichzeitig sei die Qualität der öffentlichen Räume in den Städten so erschreckend, dass «die Niederländer sich wie zusammengepfercht» fühlen. Die erste, vor zwölf Jahren verabschiedete Nota zu «Raum für Architektur» setzte die Bedingungen für bauliche Qualität fest, während die folgende Nota von 1996 («Architektur des Raums») Richtlinien für die städtische Entwicklung und den Landverbrauch vorgab. Coenen erklärt, dass die neue Nota die früheren weiterführe, sich aber auch deutlich von ihnen unterscheide: «Wir müssen uns mit der gesamten gestalterischen Skala beschäftigen - von der Anfertigung eines Stuhls bis zum Städtebau, von der Stadt- bis zur Regionalplanung.»


Langfristige Konzepte

In seiner Nota «Die Niederlande entwerfen» möchte Coenen verschiedenste Fachkräfte zusammenbinden, um die gegenwärtige «Krise der Architektur» zu überwinden. Man versteht, dass Coenen die Herrschaft von Spezialisten entschieden ablehnt: «Wenn ästhetische Fragen im Vordergrund stehen, dann wird die Architektur zusehends eingeschränkt, und der Beruf verliert seinen Sinn.» Am liebsten möchte Coenen die Entscheidungen aus den Händen der Baukoordinatoren und Manager nehmen und sie wieder denen übergeben, die weniger durch das Schielen nach hoher Rendite als durch entwerferisches Denken geleitet werden. Um seinem Anspruch Nachdruck zu verleihen, machte Coenen zehn «Grosse Projekte» zum Kern seiner Architekturnota. So verschieden diese Projekte anmuten, wollen sie doch «eine ästhetisch anspruchsvolle Mischung aus Architektur, Infrastruktur und Landschaft» erreichen. «Delta Metropolis», das wohl anspruchsvollste Projekt, verfolgt die Umwandlung des fragmentierten Lebensraums Randstad in ein kohärentes urbanes System bei gleichzeitiger Verbesserung der Verkehrswege. Andere Projekte sehen die Erweiterung des Amsterdamer Rijksmuseum durch die Sevillaner Cruz und Ortiz oder den Schutz öffentlicher Stadträume vor rücksichtslos agierenden Developern vor.

«Wir sind dabei, die Niederlande neu zu gestalten», bekennt Coenen selbstbewusst. Er, der Professor für «Gebäudelehre und Entwerfen» an der TU Karlsruhe und später Gastprofessor in Aachen war, weiss sehr wohl, dass die niederländische Architekturpolitik klare Vorzüge besitzt. Versucht die Regierung doch möglichst viele langfristige Konzepte für die Zukunft des Landes voranzutreiben. Allein die Vielzahl von lokalen, regionalen und staatlichen Architekturzentren befruchtet die Diskussionskultur. Coenen erinnert beispielsweise an die Debatte anlässlich der Nota «Belvedere», die darauf zielte, die Wucherung der Städte einzudämmen und den Wert der Landschaft neu zu bestimmen. Die Anteilnahme an dieser Diskussion, so Coenen, sei vergleichbar gewesen mit der Breitenwirkung der IBA Emscherpark, die innerhalb von zehn Jahren das industriell geprägte Ruhrgebiet in einen vollkommen neuen Kulturraum transformiert habe. Für ihn machen die Diskussionen der Notas deutlich, dass Architektur jeden angehe. «Deswegen steht die Tür meines Ateliers jedem offen. Es ist doch eine wunderbare Einrichtung, wenn das Entwurfsatelier eine Verlängerung der Strasse ist. Jeder kann hereinkommen.»

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.01.09

22. Dezember 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Auf den Zug aufgesprungen

An das System europäischer Hochgeschwindigkeitszüge sind die Niederlande bisher nicht angeschlossen. In den nächsten zehn Jahren wird sich das ändern mit...

An das System europäischer Hochgeschwindigkeitszüge sind die Niederlande bisher nicht angeschlossen. In den nächsten zehn Jahren wird sich das ändern mit...

An das System europäischer Hochgeschwindigkeitszüge sind die Niederlande bisher nicht angeschlossen. In den nächsten zehn Jahren wird sich das ändern mit einer Nord-Süd-Linie von Amsterdam über Rotterdam nach Brüssel (Eröffnung 2005) und einer West-Ost-Verbindung über Utrecht Richtung Düsseldorf (2010). Eine Querverbindung nach Hamburg könnte schliesslich die Hansestadt zum 90 Minuten entfernten Vorort werden lassen. Diese Erfolgsmeldungen wären noch kein Anlass für eine Ausstellung des Nederlands Architectuurinstituut in Rotterdam; aber die Holländer versuchen, aus Versäumnissen anderer zu lernen und das ambitionierte Projekt nicht allein unter dem Primat planungsrechtlicher oder ökonomischer Kategorien durchzusetzen. Gewiss, man ist spät auf den Zug aufgesprungen, doch scheinen die niederländischen Architekten und Planer mit viel Realitätssinn und Pragmatismus das Entwicklungspotential der Städte und infrastrukturelle Innovation zu verbinden. So dürfte Ben van Berkels Bahnhofprojekt für Arnhem, das sich derzeit im Rohbau abzuzeichnen beginnt, zu einem Meilenstein der Verkehrsarchitektur avancieren. Benthem Crouwel wurden mit Brückenbauten beauftragt, Pi de Bruijn entwirft ein neues Zentrum am Bahnhof Amsterdam Süd, und MVRDV erarbeiten eine Studie zur Umgestaltung der Centraal Station von Amsterdam. Mobilität, so liess Rijksbouwmeester Wytze Patijn verlauten, sei heutzutage eines der wichtigsten Themen im Städtebau. Einen Überblick über die zukünftigen Bahntrassees sowie die wichtigsten Projekte gibt die Ausstellung - durchaus passend zum Thema - auf Informationsträgern in Form von Werbetafeln und Baustellenschildern.


[ Bis 2. Januar; Broschüre (niederländisch) hfl. 6.75. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.12.22

07. September 2001Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Triumph der künstlichen Natur

Ein Gespräch mit dem Rotterdamer Landschaftsplaner Adriaan Geuze

Ein Gespräch mit dem Rotterdamer Landschaftsplaner Adriaan Geuze

Unter dem Namen «West 8» stellte Adriaan Geuze, einer der wichtigsten Erneuerer der Landschaftsarchitektur, 1987 ein Team zusammen, das die unterschiedlichsten Aufgaben gelöst hat: vom Masterplan für Borneo-Sporenburg in Amsterdams altem Hafen bis zum Schouwburgplein in Rotterdam. Klaus Englert sprach mit Adriaan Geuze.

Wie kamen Sie zur Landschaftsarchitektur?

Wir machten uns nie Illusionen über Landschaftsarchitektur. Statt dessen gingen wir davon aus, dass in der heutigen Kultur architektonische Entwürfe, Ökologie, Stadtplanung und Industriedesign nicht voneinander zu trennen sind.

Sehen Sie einen Unterschied zwischen traditioneller Landschaftsarchitektur und Ihrer Arbeit?

Dieser Unterschied ist offensichtlich, und er beruht auf verschiedenen geistigen Voraussetzungen. Der Ursprung der heutigen Disziplin geht auf die romantische Landschaftsarchitektur zurück, auf Leute wie Frederick Law Olmsted, der in den Vereinigten Staaten arbeitete. Später, im 20. Jahrhundert, wurde die romantische Ideologie besonders in der deutschen und der skandinavischen Landschaftsarchitektur durch eine anthroposophische Komponente ergänzt. Der Leitgedanke war: Die Stadt ist schlecht und die Natur gut. In den zwanziger Jahren setzte man auf geistige und sportliche Rekreation in Grünanlagen und Parks. In den sechziger Jahren, in der Zeit der Hippies und des «Club of Rome», wurde über die Ausbeutung des Planeten Erde diskutiert. Dies führte dazu, dass die Natur als etwas grundsätzlich Gutes betrachtet wurde.

Wie ist diese Sicht mit der holländischen Tradition der Landgewinnung zu vereinbaren?

Die Holländer hatten stets auf die Natur eingewirkt. Aus dieser Tradition heraus habe ich einen starken Widerwillen gegen die romantische Landschaftsarchitektur entwickelt. Meine Professoren erzählten mir, dass die Menschen vor allem Opfer seien - Opfer der Stadt, des Verkehrs und des Kapitalismus - und dass die Landschaftsarchitektur einen Ausweg aufzeigen müsse. Ich meine jedoch, dass die Menschen keineswegs Opfer, sondern gut informierte und schöpferische Wesen sind - auf der Höhe der technologischen Entwicklung. Das bedeutet nicht, dass sich die Landschaftsarchitektur gegenüber ökologischen Anliegen gleichgültig verhalten sollte.

Eine neue Landschaftsarchitektur
Welche persönlichen Erfahrungen führten zu Ihrem Verständnis von Landschaftsarchitektur?

Zu meiner Studienzeit war die akademische Lehre vergiftet. Ausschlaggebend war nicht allein das romantische Reservoir, auch nicht der deutsche Naturkult der zwanziger oder die Hippie-Bewegung der sechziger Jahre, sondern die Verbindung aller drei Strömungen. Leider wurden diese Dogmen niemals offen artikuliert, weswegen es schwierig war, sie zu bekämpfen. Für mich kam eine weitere Erfahrung hinzu: Vor zwanzig Jahren, zur Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs, entstand ein riesiges Arbeitslosenheer, und zum ersten Mal wurde der politische Wunsch geäussert, eine Million Häuser innerhalb von zehn Jahren zu bauen. Es stellte sich schnell heraus, dass der Wildwuchs der Städte schwindelerregende Ausmasse annahm. Anstatt Ballungszentren und Uferlinien zu nutzen, brachte die Stadtplanung Krebsgeschwüre ohne funktionierende Infrastrukturen hervor. Also fragte ich mich: «Warum gestalten die Landschaftsarchitekten Parks, statt sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen?»

In welche Richtung sollte sich denn die Landschaftsarchitektur weiterentwickeln?

Seit den sechziger Jahren gibt es interessante Untersuchungen über unser Verhältnis zu Parks und zur natürlichen Umgebung. Sie haben ergeben, dass viele Menschen eine unmittelbare Konfrontation mit der Natur, die sie für gefährlich und unordentlich halten, möglichst vermeiden. Das Problem in meinem Land besteht darin, dass wir zu viele Grünanlagen haben und dass die Möglichkeit ausreichender Pflege kaum besteht. Wir brauchen mehr geschlossene Gartenanlagen, die zu Galerien, Museen oder Kirchen gehören. Deren Besitz und Unterhalt ist zwar privat, aber ihre Nutzung mehr oder weniger öffentlich.

Sehen Sie Unterschiede zur Landschaftsarchitektur in Deutschland oder in der Schweiz?

Es bestehen vollkommen verschiedene Voraussetzungen, weil die vor zwanzig Jahren begonnene Suburbanisierung die gesamten Niederlande nachhaltig ruiniert hat. Heute sind wir mit den Auswirkungen dieser Entwicklung konfrontiert.

Und wie begegnet man dieser Entwicklung auf der politischen Entscheidungsebene?

Das grundsätzliche Problem in den Niederlanden besteht darin, dass die einzelnen Gemeinden zu viel Macht besitzen und ihr eigenes Programm durchsetzen wollen. Dieses deregulative System bedingt, dass jede Stadt eine eigene Autobahnausfahrt besitzt, ein Business-Center und einen McDonald's. Das ist für ein kleines Land wie die Niederlande katastrophal. Deshalb machten wir den Vorschlag, die Regierungen auf regionaler Ebene zu stärken. Dies wird Auswirkungen auf die Randstad Holland haben, wo fünf Millionen Menschen, verteilt auf achtzig bis neunzig Gemeinden, leben.

Ist demnach das System Randstad mit seinen urbanen Wucherungen gescheitert?

Die holländische Stadtplanung hat viele Fehler gemacht. Vor dreissig Jahren wurden im sozialen Wohnungsbau Menschen in Hochhäuser eingepfercht, und später, als man die Probleme erkannte, wurden die Häuser in die Luft gesprengt. Heute sind die Fehler nicht minder gravierend. Man meint das Ei des Kolumbus in der angeblichen Vitalität suburbaner Siedlungen gefunden zu haben. Doch diese Suburbs haben weder eine städtische Dichte noch eine ländliche Atmosphäre, sie sind ein unsinniges Zwischending.

Modell Amsterdamer Hafen
Bedeutet das städtebauliche Konzept für Borneo-Sporenburg im Amsterdamer Hafen einen Ausweg aus dem Dilemma der Suburbanisierung?

Auf Borneo-Sporenburg wollten wir zeigen, dass Modelle mit einer höheren Dichte besser funktionieren. Wir haben hier eine Dichte von hundert Häusern pro Hektare und gleichzeitig eine niedrige Bebauungshöhe geschaffen, weshalb das Projekt als Alternative zu den bestehenden Vorstädten und als Testfall für neue Typologien gesehen werden kann. Es gilt aber sehr genau zu untersuchen, wie sich die sozialen Strukturen dem architektonischen Umfeld anpassen. Für Borneo-Sporenburg erstellten wir einen Plan, der eine grosse architektonische Vielfalt zuliess, was für die Niederlande absolut einzigartig ist. Während Typologie und Baumaterialien vorgeschrieben wurden, gab es keine Einschränkung der architektonischen Freiheit - so wie beim Amsterdamer Grachtenhaus, das zwar in der Bauweise kaum Unterschiede aufweist, aber doch einen grossen Spielraum für individuelle Gestaltung freilässt. Ein Glücksfall kam hinzu: Die Marine gestattete uns, die sehr regulierten Siedlungseinheiten durch die einer alten Amsterdamer Tradition entsprechende Nutzung der Quais zu beleben: Leute kommen mit ihren Hausbooten und ihren verrückten Ideen und bringen ein anarchistisches und künstlerisches Element ins neue Quartier.

Den Architekten in den Niederlanden scheint es gut zu gehen.

Man könnte meinen, dass wir uns in den Niederlanden im goldenen Zeitalter der Architektur befinden, weil viele junge Architekten radikal Neues bauen. Dabei wird ein wesentlicher Aspekt übersehen: Durch mangelhafte Investitionen und durch fehlende handwerkliche Genauigkeit entsteht alles andere als dauerhafte Architektur. Die holländische Bauindustrie basiert lediglich auf der Massenproduktion von Paneelen, Mauern und Materialien. Deswegen sollte man sich keinen Illusionen hingeben, da die scheinbar so grossartigen Neubauten in hundert Jahren nicht mehr existieren werden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.09.07

14. Juni 2000Robert Kaltenbrunner
Neue Zürcher Zeitung

Die Weltidee des Ungebauten

Ein beispielhaftes Unterfangen: Man nehme einen Schriftsteller mit Affinität zur Baukunst und bitte ihn, aus einem Konvolut nicht realisierter Entwürfe...

Ein beispielhaftes Unterfangen: Man nehme einen Schriftsteller mit Affinität zur Baukunst und bitte ihn, aus einem Konvolut nicht realisierter Entwürfe...

Ein beispielhaftes Unterfangen: Man nehme einen Schriftsteller mit Affinität zur Baukunst und bitte ihn, aus einem Konvolut nicht realisierter Entwürfe eine Art architektonischer Weltidee zu formen. So geschehen nun durch Cees Nooteboom, der die niederländische Architekturgeschichte der letzten 150 Jahre auf eigenwillig- suggestive Weise Revue passieren lässt. Nootebooms «Nie gebaute Niederlande» will zeigen, dass diese Region ganz anders hätte aussehen können. So banal diese Botschaft klingen mag, so faszinierend ist sie bei näherem Hinsehen. Denn das Buch manifestiert zugleich auch, wie dieses Land einst ausgesehen hat. Selten sei, wie Nooteboom zur Begründung dieses Paradoxes anführt, «Wünschen, Sehnsüchten, Ideen und Träumen so klar und übergenau Ausdruck verliehen worden wie in der nicht gebauten Architektur».

Offeriert wird von Nooteboom eine Art apokrypher Historie: So blieb beispielsweise das Neue Museum in Amsterdam von L. H. Eberson deshalb ungebaut, weil es nicht einem «niederländischen» Stil, sondern der Formensprache von Louis XVI verpflichtet war. Nootebooms Beispiele reichen von W. C. Bauers Wettbewerbsentwürfen, in denen byzantinische und islamische Architekturelemente aufscheinen, über das Allgemeine Bibliotheksgebäude von K. P. C. de Bazel (1895) bis hin zu Berlages Projekt eines Beethovenhauses in Bloemendaal (1908). Dass auch unrealisierte Bauten den Beschauer manipulieren können, offenbaren zu Beginn der zwanziger Jahre die expressiven Wolkenkratzergebilde eines J. C. van Epen sowie die an die Revolutionsarchitektur eines Ledoux und Boullée angenäherte Vision einer Lichtstadt von H. P. J. London.

Spätestens hier erreicht der Spannungsbogen den Nährboden der klassischen Moderne: J. J. P. van Oud konzipierte 1919 in Purmerend eine Fabrik mit Büros und Magazinen, die das, was Mondrian im Zweidimensionalen realisiert hat, in den Raum zu übersetzen trachtete. Rietvelds «Kernwohnungen» (1940) gehorchten der Not und Van den Broeks und Bakemas Pampusplan für Amsterdam (1964/65) dem Geist der Zeit. Die Parlamentserweiterung von OMA (Rem Koolhaas mit Zaha Hadid, 1977) und das Einkaufszentrum Z-Mall in Leidschenveen (1997) von MVRDV mit der einer Ziehharmonika ähnelnden Baustruktur runden die subjektive Palette an Papier gebliebener Architektur ab. Eine beredte und bildmächtige Geschichte im Konjunktiv - wenn all dies nicht ungebaut geblieben wäre, dann, so Nooteboom, würde es auf uns einwirken wie alles andere um uns herum. Umso verführerischer, all dies durch die Brille des Literaten zu erblicken. Denn «im nicht Gebauten sehen wir uns, wie wir nicht geworden sind».


[ Cees Nooteboom: Nie gebaute Niederlande. Deutsche Verlags-Anstalt, München 1999. 120 S., Fr. 46.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.06.14

08. April 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Präriehäuser in Marsch und Geest

Seit 1911 standen niederländische Architekten im Banne Frank Lloyd Wrights. Nirgendwo sonst hatte der amerikanische Baumeister einen so starken Einfluss wie zwischen Rhein und Nordsee. Eine Ausstellung in Hilversum dokumentiert die Rezeption in all ihren Facetten.

Seit 1911 standen niederländische Architekten im Banne Frank Lloyd Wrights. Nirgendwo sonst hatte der amerikanische Baumeister einen so starken Einfluss wie zwischen Rhein und Nordsee. Eine Ausstellung in Hilversum dokumentiert die Rezeption in all ihren Facetten.

Ein grossformatiges Portfolio und eine handliche Publikation der Bauten von Frank Lloyd Wright, die der Berliner Verlag Ernst Wasmuth in den Jahren 1910 und 1911 herausbrachte, lösten in europäischen Architektenkreisen nachhaltige Begeisterung aus. Zwar hatte der Engländer Charles Robert Ashbee seinen amerikanischen Kollegen schon 1901 besucht, doch blieben Wrights Bauten diesseits des Atlantiks vorerst weitgehend unbekannt. Doch seit dem Erscheinen der Wasmuth-Publikation, zu der Ashbee ein Vorwort beigesteuert hatte, galten sie als Offenbarung: in Deutschland, wo sie Peter Behrens, Walter Gropius und Mies van der Rohe faszinierten, vor allem aber in den Niederlanden. Hendrik Petrus Berlage, der Wegbereiter der niederländischen Architektur des 20. Jahrhunderts, reiste damals in die Vereinigten Staaten; er versäumte Wright, der sich gerade in Berlin aufhielt, besuchte aber eine Reihe von seinen Bauten. Frucht seines Aufenthalts waren eine Reihe von Vorträgen und Veröffentlichungen, welche Frank Lloyd Wrights Bekanntheit in den Niederlanden weiter steigerten.

Publikationen und Adaptionen

Schnell wurden die Bauten des Amerikaners in den Niederlanden zitiert, kopiert und adaptiert. Die Breite und Vielfalt der Rezeption wurde nicht zuletzt dadurch begünstigt, dass das Land im Ersten Weltkrieg neutral blieb und das Bauwesen - anders als in den kriegführenden Ländern - eine regelrechte Blüte erlebte. Landhäuser in den Heide- und Dünengebieten entstanden nach dem Vorbild der Präriehäuser, die aufgrund der Verwendung von Backstein, der luxuriösen Innenausstattung und der Verzahnung von Architektur und Landschaft ein favorisiertes Vorbild darstellten. In Berkel-Enschot baute der Architekt F. A. Warners das Robie House nach, und zu den bekanntesten Adaptionen zählen zwei Villen des ebenfalls in die USA gereisten Robert van't Hoff in der Ortschaft Huis ter Heide: das Haus Verloop mit seinen typischen, breit gelagerten Dächern (1915) und die symmetrische, flachgedeckte Villa Nora (1916), die an das Thomas Gale House (1909) in Oak Park und das Bach House in Chicago (1915) erinnert.

«Dromen van Amerika - Nederlandse Architecten en Frank Lloyd Wright» heisst die reich bestückte Ausstellung, mit der im Museum Hilversum die Beziehungen zwischen dem Amerikaner und seinen niederländischen Bewunderern nachgezeichnet wird. Eine Chronologie von Leben und Werk Wrights an den Wänden bildet den Hintergrund, vor dem auf Podesten und in Tischvitrinen Dokumente der Rezeption ausgebreitet sind. Die Kenntnis des Œuvres wurde besonders durch Hendrik Theo Wijdeveld gefördert, der als Herausgeber der Zeitschrift «Wendingen» 1921 Kontakt mit Wright aufnahm. Das Novemberheft 1921 wurde diesem gewidmet, eine Doppelnummer im Jahr 1923 - und schliesslich die berühmte Sequenz von sieben aufeinander folgenden «Wendingen»-Heften im Jahr 1925. Es war wiederum Wijdeveld, der 1931 die erste europäische Ausstellung Wrights an das Stedelijk Museum Amsterdam vermittelte; für eine zweite Schau am gleichen Ort zeichnete 1952 J. J. Oud verantwortlich. Als einziger Entwurf Wrights, der in den Niederlanden umgesetzt wurde, gilt eine grüne Pressglasvase für die Königliche Glasmanufaktur Leerdam - in der Ausstellung sind auch zwei nicht realisierte Prototypen zu sehen.

Zur romantisch grundierten Rezeption des Wright der Präriehäuser trat schon in den ersten Jahren eine eher rationale Aneignung. So übernahm K. P. C. de Bazel die offene, von Pfeilern gegliederte Bürostruktur des auch von Berlage bewunderten Larkin Building für das Gebäude der Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim (1912). Rechtwinklige Volumina, vor- und zurückspringende Flächen sowie die Betonung horizontaler und vertikaler Elemente bestimmten die Entwürfe vieler Architekten in den zehner und zwanziger Jahren, vor allem jene der Stijl-Gruppe. In den Bauten von Jan Wils, etwa in dem Café De Dubbele Sleutel (1918/19) in Woerden, wird die Wright-Nachfolge besonders deutlich; purifizierter zeigen sich neoplastizistische Kompositionen wie die Villa Sevensteijn (1920) von Dudok und Wouda oder der nicht realisierte, an die Midway Gardens in Chicago angelehnte Entwurf für eine Schule in Scheveningen von Jan Duiker (1921-28).

Gescheiterte Visionen

Persönlich kamen Wijdeveld und Wright 1931 in Taliesin in Kontakt. Beide trugen sich mit der Idee einer künstlerischen Werkgemeinschaft, und Wijdeveld war als Direktor der Hillside Home School of Applied Arts and Industries vorgesehen. Doch die Idee einer Zusammenarbeit zerschlug sich; Wright gründet 1932 die Taliesin Fellowship, Wijdeveld plant, sein kulturelles Zentrum gemeinsam mit Mendelsohn und Ozenfant in Südfrankreich zu realisieren. Ein Waldbrand auf dem avisierten Terrain zwingt Wijdeveld zurück in die Niederlande, bevor das Projekt angelaufen ist; ein zweiter Versuch in Elckerlyc bei Hilversum scheitert wegen der deutschen Besatzung 1940. Ohne Erfolg bleibt 1950 auch der Versuch, Elckerlyc als Kooperation mit Taliesin durch Unesco-Mittel zu finanzieren.

Mit dem Siegeszug der internationalen Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg liess die Orientierung an Frank Lloyd Wright auch in den Niederlanden nach. Eine gewisse Verbindung bestand hinsichtlich des Umgangs mit Innen- und Aussenräumen bei den Strukturalisten Hertzberger, Blom und van Eyck; und Hugh Maaskant realisierte in Mijdrecht eine Filiale der Firma Johnson Wax, deren berühmter Hauptsitz in Racine (Wisconsin) von Wright stammte. Die Ausstellung klingt aus mit einem Hinweis auf die «Superdutch»-Architektur von OMA, MVRDV oder UN-Studio: Die heutigen Architekten, so die These, bezögen sich hinsichtlich ihrer internationalen Wirkung und ihres Star-Status auf den Amerikaner, der schon mit dem durch King Vidor verfilmten Roman «The Fountainhead» zum Rollenmodell des modernen Architekten avanciert war.

Wright in Amsterdams Arkadien

Anschliessend an einen Besuch der Ausstellung empfiehlt sich eine Fahrradfahrt durch das inmitten von Heidelandschaften gelegene Hilversum. Mit weitläufigen Villengebieten wurde das einstige Dorf im 19. Jahrhundert zum Arkadien von Amsterdam. Von der Wright-Rezeption vor Ort zeugen Villen von Jan Wils (1929) am Simon-Stevin-Weg, aber auch die bemerkenswerte Emma- Apotheke (1921) von Rueters und Symons. Wie kein anderer Architekt aber hat Dudok das Stadtbild von Hilversum geprägt - vor allem mit dem Rathaus und zahlreichen Schulgebäuden. In vielen seiner Bauten ist der Einfluss Wrights offensichtlich, auch wenn Dudok diesen zeitlebens verneint hat.

[ Bis zum 4. Juni im Museum Hilversum. Begleitbroschüre Euro 7.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.04.08

29. Juni 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Geborgenheit und Ordnung

In Architektenkreisen gelten die Niederlande als Vorposten der zeitgenössischen Baukunst. Doch ausgerechnet hier feiert eine spätpostmoderne Architektur neue Triumphe: Wohnanlagen haben die Form von Kastellen, und eine Siedlung bei Helmond entsteht in den Formen einer brabantischen Kleinstadt aus dem 17. Jahrhundert.

In Architektenkreisen gelten die Niederlande als Vorposten der zeitgenössischen Baukunst. Doch ausgerechnet hier feiert eine spätpostmoderne Architektur neue Triumphe: Wohnanlagen haben die Form von Kastellen, und eine Siedlung bei Helmond entsteht in den Formen einer brabantischen Kleinstadt aus dem 17. Jahrhundert.

Gemeinhin gelten die Niederlande als Musterland der zeitgenössischen Architektur. Die Bauten von UN Studio, Mecanoo oder Wiel Arets, die Projekte von MVRDV und NOX finden international Beachtung, viele prominente niederländische Architekturbüros sind inzwischen weltweit tätig, und in Rotterdam konnte Rem Koolhaas, ohne dessen Wirken der Boom des «Superdutch» kaum zu erklären wäre, unlängst im Vorfeld seines sechzigsten Geburtstags mit zwei Ausstellungen einen umfassenden Überblick über sein Gesamtwerk geben (NZZ 15. 4. 04). So wichtig die architektonischen Impulse auch sein mögen: Eine vorbehaltlose Idealisierung der niederländischen Baukunst ist schwerlich angebracht. Die Zersiedelung des Landes schreitet voran, und es sind keineswegs die aus Fachzeitschriften bekannten spektakulären Gebäude, welche das Bild prägen, sondern Bauten ohne jeden gestalterischen Anspruch. Daneben ist zu konstatieren, dass kaum einer der Protagonisten, welche für die Boomphase der niederländischen Architektur stehen, an inländischen Fakultäten unterrichtet. Am meisten aber überrascht eine neotraditionalistische Architektursprache, die sich zurzeit im Land grosser Beliebtheit erfreut.

Neue Burgen

In formaler Hinsicht läutete das innerstädtische Revitalisierungsmodell «De Resident» in Den Haag, mit dessen Planung 1988 begonnen wurde, den Retro-Trend ein. Zwischen dem Zentralbahnhof und dem Stadthaus von Richard Meier ist in den vergangenen Jahren nach einem Masterplan von Rob Krier sowie unter Mitwirkung von Sjoerd Soeters und Michael Graves ein innerstädtisch verdichteter Büro- und Wohnkomplex in bizarren spätpostmodernen Formen entstanden. Gerade in einem Land, das sich als Kunstprodukt zu verstehen schien und dessen architektonische Exponenten die Last des Geschichtlichen überwunden zu haben behaupteten, musste die Vergangenheitsbeschwörung erstaunen. Dies umso mehr, als sich die Postmoderne im internationalen Diskurs diskreditiert hatte, nachdem ihre irrlichternd-ironische Frühphase in der Sackgasse eines radikalen Eklektizismus gescheitert war.

Der zeitgenössische Trend zum Neohistorismus ist zweifellos als Krisenphänomen zu werten. Parallel zu Globalisierung und gesellschaftlichem Wandel restabilisiert sich das vorgeblich Vertraute, auch wenn es lediglich zu synthetischen Bildern gerinnt. Das Phänomen lässt sich in den postkommunistischen Staaten Osteuropas ebenso beobachten wie in den Siedlungen des «New Urbanism» der Vereinigten Staaten; in Deutschland mag man auf das Haus Bastian von Paul und Petra Kahlfeldt oder die Villa Gerl von Hans Kollhoff und Helga Timmermann verweisen, aber auch auf die grassierende Rekonstruktionsmanie.

Wie «De Resident» in Den Haag lehrt, fand der spätpostmoderne Neohistorismus in den Niederlanden sein Betätigungsfeld zunächst bei der Erneuerung der Innenstädte. Adolfo Natalini errichtete in historisierenden Formen nicht nur den Waag-Komplex auf dem kriegszerstörten Marktplatz von Groningen, sondern stampfte in Helmond rund um den Boscotondoplein mit seinen 120 Metern Durchmesser ein kulissenhaftes Plaza-Ensemble aus dem Boden, das aus Kulturzentrum, Bürokomplex, Kinocenter sowie 175 Apartments besteht. Noch erfolgreicher als Natalini ist Rob Krier, der durch seine IBA-Bauten in Berlin bekannt wurde und nach der Wende die Siedlung Kirchsteigfeld in Potsdam realisierte. Der Schwerpunkt des Schaffens von Krier und seinem Partner Christoph Kohl liegt inzwischen in den Niederlanden. Das umfangreichste der zahlreichen vom Berliner Büro aus betreuten Siedlungsprojekte ist Brandevoort bei Helmond, ein vollständig neuer Vorort, in dessen Mitte eine von Wassergräben umgebene «Veste» mit 600 Wohnungen realisiert wird. Tore, Türme und historisierende Ziegelsteinfassaden mit leicht variierenden Traufhöhen sollen das Bild einer mittelalterlichen Kleinstadt Brabants in Erinnerung rufen. Wie in den Niederlanden üblich, wurde der Rohbau in starkem Masse industrialisiert. Individualisierung entsteht durch die unterschiedlichen Fassaden und die - für niederländische Massstäbe - erstaunlich gut ausgeführten Werksteindetails. Brandevoort wirkt nicht billig, sondern steht für Wertbeständigkeit, Tradition und Kontinuität. Mit Geschäften und Schulen wollen die Planer einer monofunktionalen Schlafsiedlung vorbeugen, und in der Mitte der Veste errichten Krier und Kohl eine Markthalle wie aus dem 19. Jahrhundert.

Natürlich ist die autonome dörfliche Stadt eine Illusion, die der Lebenswirklichkeit ihrer Bewohner nicht entspricht. Aber Brandevoort, das auf die obere Mittelschicht zielt, ist äusserst erfolgreich. In Helmond, zu dem die synthetische Siedlung gehört, ist man stolz darauf, vermögendere Schichten in die Gemeinde zurückgeholt zu haben. Die «Veste» in Brandevoort steht nicht allein: In Almere, der geschichtslosen Stadt im Polder des IJsselmeers, lässt ein Projektentwickler eine «echte alte» Burg mit 46 Meter hohem Donjon errichten, die zukünftig als Hotel dient.

Populismus?

Noch bizarrer aber ist das Projekt De Haverleij nördlich von 's-Hertogenbosch: In der Wiesenlandschaft am Maasufer entsteht bis 2008 eine aus neun «Kastellen» und einer «Zitadelle» locker gefügte weitläufige Siedlung mit insgesamt 11 000 Wohneinheiten - gruppiert um einen Golfplatz, dessen Gestaltung ebenso wie das Landschaftslayout von Paul van Beek, einem früheren Partner im Büro «West 8», stammt. Jedes der Kastelle wird von einem anderen Architekturbüro realisiert, darunter Adolfo Natalini, Michael Graves, Claus en Caan und John Outram. Die Planer sehen in ihrem Projekt eine Kampfansage an den Flächenverschleiss der Streusiedlungen; doch nicht zuletzt in ökologischer Hinsicht ist De Haverleij fragwürdig. Eine Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr existiert nicht, und unter den «Burghöfen» befinden sich Tiefgaragen.

Erklären lassen sich die neuen Kastelle vor dem Hintergrund der Deregulierung des Wohnungsmarktes in den Niederlanden - und einer politisch veränderten Situation. Der vollständige Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsbau Mitte der neunziger Jahre, die Zerschlagung der bisherigen Wohnbauträger und die Verwandlung bisheriger Mieter in Eigentümer lassen die Nachfrage steigen nach Häusern und Wohnungen, die Wertbeständigkeit simulieren. Eine Mittelschicht, die sich von der Gefahr des Abstiegs bedroht sieht, favorisiert ein Leben in Sicherheit - das sich baulich in Form von Festungen und präindustriellen Siedlungsstrukturen darstellt. Nicht ohne Grund fand diese Haltung auf der politischen Ebene Niederschlag im Sieg des Rechtspopulisten Pim Fortuyn, der im Kampf gegen die niederländische Liberalität einen überraschenden Sieg über die etablierten Parteien errang. Zwar ist die Bewegung nach dem Tod des charismatischen Protagonisten marginalisiert, doch der neokonservative Roll-back dauert an: Rotterdam wird inzwischen von «Leevbar Rotterdam» («Lebenswertes Rotterdam») regiert, und «Leevbar Almere» hat unlängst das Projekt für ein Kunstmuseum in Almere platzen lassen, um die Gelder stattdessen in Sicherheitseinrichtungen zu investieren. Der Rezensent des renommierten «NRC Handelsblad» zog daraus in architektonischer Hinsicht folgende Bilanz: Nach den «Fuck the Context»-Gebäuden des Supermodernismus folge nun eine neokonservative «Fuck the Zeitgeist»-Architektur.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2004.06.29

24. Mai 2004Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

«Wir gestalten die Niederlande neu»

Die Niederlande haben sich in den letzten Jahren zu einer architektonisch führenden Nation entwickelt. Dies hat sich keineswegs zufällig ergeben. Eine staatlich koordinierte Baupolitik hat viel zu einer besseren Ausbildung, einem starken öffentlichen Interesse an Architektur und einer Planung von Projekten beigetragen, die im nationalen Interesse sind. Holländische Architekten sind absolute Frühstarter: Sie stehen bereits mitten im Berufsleben, wenn etwa ihre Schweizer Kollegen noch fürs Studium büffeln müssen.

Die Niederlande haben sich in den letzten Jahren zu einer architektonisch führenden Nation entwickelt. Dies hat sich keineswegs zufällig ergeben. Eine staatlich koordinierte Baupolitik hat viel zu einer besseren Ausbildung, einem starken öffentlichen Interesse an Architektur und einer Planung von Projekten beigetragen, die im nationalen Interesse sind. Holländische Architekten sind absolute Frühstarter: Sie stehen bereits mitten im Berufsleben, wenn etwa ihre Schweizer Kollegen noch fürs Studium büffeln müssen.

Vorzüge der Architekturpolitik

Von der pessimistischen Grundstimmung gegenüber Städteplanung und Architektur in unseren Gegenden sind die Niederländer, ein Volk von technokratischen Machern, weit entfernt. Spricht man beispielsweise den Maastrichter Architekten und niederländischen Reichsbaumeister Jo Coenen auf dieses Problem an, verweist er darauf, dass ein grundlegender Reformwille in seinem Heimatland vieles zum Besseren gewandelt hat. «Wir sind dabei, die Niederlande neu zu gestalten», bekennt er selbstbewusst und zeigt die Programmschrift «Die Niederlande gestalten». Es handelt sich um eine sogenannte Nota, in der ausgeführt wird, welchen Richtlinien die staatliche Baupolitik, unabhängig von den jeweiligen Legislaturperioden, in den nächsten Jahren folgen soll.

Coenen, der viele Jahre lang «Gebäudelehre und Entwerfen» an der Technischen Universität Karlsruhe unterrichtet hat, kennt die klaren Vorzüge der niederländischen Architekturpolitik. So versucht er derzeit, die zehn «Grossen Projekte» voranzubringen. Sie reichen von der Erweiterung des Amsterdamer Rijksmuseum bis hin zur «Delta Metropolis», die die Umwandlung des fragmentierten Lebensraums Randstad in ein kohärentes städtisches System bei gleichzeitiger Verbesserung der Verkehrswege vorsieht. Die Effizienz der holländischen Baupolitik liegt aber nicht einfach in der zentralen Koordinierung durch den Reichsbaumeister, sie resultiert aus der Vernetzung verschiedener Initiativen, seien es lokale, regionale oder staatliche Architekturzentren, deren Zusammenspiel die öffentliche Diskussionskultur wesentlich befruchtet. So konnte die Nota «Belvedere», die darauf abzielte, die Wucherung der Städte einzudämmen und den Wert der Landschaft neu zu bestimmen, einen ähnlichen Erfolg erzielen wie die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscherpark, die innerhalb von zehn Jahren das industrielle Ruhrgebiet in einen völlig neuen Kulturraum transformierte.

Piere als Paradiese

Von dieser architektonischen Kultur profitieren selbstverständlich viele in Holland arbeitende Architekten. Beispielsweise der Rotterdamer Adriaan Geuze: Nachdem der Stadtrat in den achtziger Jahren beschlossen hatte, die seit 1979 aufgegebenen Docklands östlich des Hauptbahnhofs zu bebauen, überlegte er, wie das «Oostelijke Havengebied» am Ij revitalisiert und die Stadt näher ans Wasser herangerückt werden kann. Mit Stadtplanern und Investoren setzte Geuze auf die Wiederbelebung der «hollandse waterstad». Auch Jo Coenen war anfangs mit von der Partie. Die beiden erstellten einen Masterplan für die Bebauung einiger Piere, die nicht mehr von Frachtschiffen angelaufen werden.

Coenen war für das erste Projekt, den Wohnungsbau auf der KNSM-Halbinsel, verantwortlich, auf der heute Hans Kollhoffs monumentaler «Piräus-Block» und Wiel Arets' schwarzer Wohnturm wie Landmarken prangen. Geuze widmete sich den Halbinseln Borneo und Sporenburg, wobei er sich an städtischen Konzepten orientierte, die man längst vergessen glaubte: «Im 17. Jahrhundert hatte es in Amsterdam eine hervorragende Stadtplanung hinsichtlich der Strassenführung und der Wasserlinien gegeben. Doch in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte man jegliche Vorstellung davon verloren, wie eine Stadt gebaut wird. Erst in letzter Zeit kam es zu einer Rückbesinnung auf die alten urbanistischen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts. Man versucht nun, das eigene städtische Erbe zu begreifen und wiederzubeleben.»

Adriaan Geuze bewundert Sjoerd Soeters' Bebauung der benachbarten Java-Halbinsel, weil es dort gelungen ist, an die Tradition der Amsterdamer Grachten anzuknüpfen. Aber er weiss, dass dies nicht mit nostalgischer Wehmut, sondern mit einer zeitgenössischen Interpretation der Architektur einhergehen muss. Soeters setzte auf Blockrandbebauung am Ufer und enge Grundstücke an den neuen Grachten, aber jeweils mit einem demonstrativen Individualismus.

Verdichtetes und differenziertes Bauen

Borneo und Sporenburg sind derweil zu einem Paradebeispiel für verdichtetes und differenziertes Bauen geworden. Von langweiligen Reihenhaus- Silhouetten will Adriaan Geuze nichts wissen: «Mich interessiert, dieselben strengen Regeln beizubehalten und doch individuelle Architektur zuzulassen.» Drei Superblöcke, die wie Gletschermassive das ruhige Meer der Wohnhäuser überragen, werden bald die Attraktion der beiden Halbinseln ausmachen. Von den zwei bisher fertiggestellten ist Frits van Dongens «Walfisch», der wie ein gestrandeter Moby Dick aussieht, zweifellos der spektakulärste. Die massiven Blöcke stehen im Kontrast zur niedrigen Gebäudehöhe, die man entlang der Strassen antrifft. Dabei konnte Geuze jegliche Eintönigkeit vermeiden, weil er jedem Architekten gestattete, mit verschiedenen Wohnungstypen zu experimentieren.

Das berühmteste Beispiel ist die Scheepstimmermanstraat auf Borneo, die mittlerweile für viele Architekturbegeisterte zu einem Mekka experimentellen Bauens geworden ist. Hier durften die Architekten ihren ganz eigenen Stil verwirklichen. So errichtete Koen van Velsen für einen holländischen Bergsteiger ein Wohnhaus, dessen gläserne Fronten um einen freistehenden Baum herum angeordnet sind. Anders ging das Rotterdamer Büro MVRDV (Maas, van Rijs, de Vries) vor. Die mittlerweile international bekannten Architekten bieten intelligente Raumaufteilung anstelle kapriziöser Bau-Kunststücke. Ihnen gelang es, extrem engen Grundstücken von 2,5 Metern Breite «das denkbar schmalste Haus» (MVRDV) abzuringen, in dem dennoch räumliche Vielfalt und, dank verglasten Seitenfronten, verblüffende Transparenz geboten werden.

Triumph der Newcomer

Überhaupt sind die Newcomer aus Rotterdam die eigentliche Überraschung in der holländischen Architekturszene. Erst 1999, als sich niemand einen Reim auf das merkwürdige Kürzel MVRDV machen konnte, verblüfften sie alle mit der Sendeanstalt VPRO in Hilversum. Und ein Jahr später debütierten sie auf internationalem Parkett mit ihrem kurios-phantastischen Sandwich-Pavillon für die Expo in Hannover. Auf einmal waren die drei jungen Rotterdamer in aller Munde. Trotz zahlreichen Aufträgen aus dem Ausland ist es ihnen wichtig, weiterhin in den Niederlanden zu bauen, und sogar auf den Amsterdamer Pieren sind sie mit lukrativen, aber höchst unterschiedlichen Projekten vertreten.

Auf der Oostelijke Handelskade renovieren sie erstmals einen denkmalgeschützten Altbau. Das Gebäude, das vor 60 Jahren der Gestapo noch als Internierungslager für Waisenkinder diente, überführt das Rotterdamer Trio derzeit in ein Luxushotel. Ein weiteres Projekt auf dem Silodam ist vor zwei Jahren fertiggestellt worden. Neben zwei ehemaligen Getreidesilos, einer säkularen Backsteinkathedrale und einem Speichergebäude im kargen «Béton brut»-Stil der fünfziger Jahre setzten sie ihr «Containerschiff» ans Kopfende des Silodams. Eine niederländische Tageszeitung titelte damals: «Ein hipper Ozeandampfer, klar zum Auslaufen». Und tatsächlich, der «Dampfer» mit seinen gestapelten Wohncontainern ragt mit seinen wuchtigen Stelzen aus dem Hafenbecken heraus. Weil MVRDV für jeden einzelnen «Container» individuelle Wohnungstypen entwickelte, deren Fassaden durch unterschiedliche Farben hervorgehoben sind, wirkt die knallbunte Schachtel aus dem Experimentallabor des Rotterdamer Avantgarde-Büros wie eine Farbattacke auf die Nüchternheit der sie umgebenden Hafenlandschaft.

Rotterdam gegen Amsterdam

Frits van Dongen, der sein Büro im Amsterdamer Jordaan-Viertel hat, profitierte in den letzten Jahren von der Umnutzung des Amsterdamer und des Rotterdamer Hafens. Beispielsweise errichtete er in Rotterdams «Kop van Zuid», dort, wo internationale Stars wie Renzo Piano und Norman Foster ihre modernen Landmarken an der Maas hochzogen, den Wohnblock «De Landtong» und machte die zuvor verpönte Blockbebauung wieder populär. Auf die lange Rivalität zwischen Amsterdam und Rotterdam angesprochen, meint van Dongen: «In Amsterdam bewegt sich momentan ungeheuer viel, obwohl bis vor einigen Jahren Rotterdam die Speerspitze der modernen Architektur war. Lange Zeit hat man sich hier in Amsterdam von der Vorstellung leiten lassen, die Stadt so gut wie möglich zu konservieren, da Kohärenz, Schönheit und Gemütlichkeit über alles gestellt wurden.

Anders in Rotterdam, wo man nach dem Krieg bestrebt war, eine gänzlich neue Stadt aufzubauen. Man wollte eine Stadt, die sich von der traditionellen holländischen Bauästhetik unterscheidet und gegenüber Experimenten aufgeschlossen ist.» Frits van Dongen gibt aber zu bedenken, dass Rotterdam in den letzten Jahren mächtig aufgeholt hat. Immerhin gebe es hier Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture, die legendäre Talentschmiede für junge Architekten, aus der etliche internationale Stars hervorgegangen sind. Und man solle nicht vergessen, dass Koolhaas auf der Wilhelminapier, direkt hinter Ben van Berkels grandioser Erasmusbrükke, den spektakulären MAB-Tower, ein hybrides Gebilde aus geschichteten Volumina, bauen wird.

Aber van Dongen erinnert sogleich daran, dass Amsterdam mittlerweile ganz neue Massstäbe gesetzt hat: «Neben den neuen Zentren in der Hafengegend sind wir damit beschäftigt, auf dem künstlichen Archipel Ijburg eine neue Stadt entstehen zu lassen. Das Ijburg-Projekt ist typisch holländisch. Es wird 50 000 bis 60 000 Menschen neuen Wohnraum verschaffen.»

Rem Koolhaas und seine Talentschmiede

Vor allem Rem Koolhaas, der in London wohnt, in Rotterdam arbeitet und sich in den Flughäfen der Welt zu Hause fühlt, hat die städtebauliche Entwicklung in den Niederlanden massgeblich geprägt. Für den Utrechter Universitätscampus «de Uithof» entwickelte er Anfang der neunziger Jahre einen Masterplan, der einen avantgardistischen Gegenpol zur Altstadt mit ihrer Grachtenseligkeit markiert. Die Delfter Architektengruppe Mecanoo baute hier die «Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Management», eine Hochschule als kleine in sich gekehrte Stadt mit drei künstlerisch gestalteten Patios. Und Koolhaas selbst errichtete die Pädagogik-Fakultät «Educatorium», deren ansteigender Hörsaal-Trakt wie eine Biskuitrolle über dem Mensabereich hinausragt.

Der Name Rem Koolhaas ist seit den letzten Jahren auch mit der holländischen Provinz verbunden. In den Poldern von Flevoland, 30 Kilometer von Amsterdam entfernt, modelt er das kleinstädtische Almere in ein Klein-Manhattan für 400 000 Menschen um. Internationale Architekten lud er ein, um dem Ort gemeinsam die kleinstädtische Gemütlichkeit auszutreiben. Das japanische Team Sanaa baut inmitten des Weerwater ein «Stadtheater», während das Amsterdamer Büro Claus en Kaan die neue Skyline von Almere durch einen skulpturalen Turmbau begrenzt. Neben dem Urban Entertainment Center, das William Alsop, der Popkünstler unter den Architekten, errichtet hat, lässt Koolhaas momentan sein Grosskino «Megabioscoop» aufrichten.

Almere als Wallfahrtsort

Schon jetzt ist absehbar, dass Almere in den nächsten Jahren zum Wallfahrtsort für Architekturfreaks wird. Floris Alkemade, Projektleiter beim Office for Metropolitan Architecture, spricht bereits von «Dutchtown», dem architektonischen Neuland in den Poldern: «Das Fehlen historischer Architektur bot uns die Chance, Almere neu zu erfinden. Wir wollen nicht, dass alles schön und gut sein muss. Lieber möchten wir dem Bestehenden eine neue Dynamik und einen neuen Massstab hinzufügen.» Mit diesem Grundsatz haben die holländischen Architekten in den letzten Jahren international Furore gemacht.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2004.05.24

07. September 2001Johann Christoph Reidemeister
Neue Zürcher Zeitung

Anzeichen einer anderen Moderne

Die Erfolgsfaktoren der neuen holländischen Architektur

Die Erfolgsfaktoren der neuen holländischen Architektur

Begeistert schaut die internationale Architektenschaft auf die Niederlande. Viele Büros sind in den letzten zehn Jahren mit spektakulären Entwürfen, die tatsächlich auch gebaut wurden, an die Öffentlichkeit getreten. Einige der Faktoren dieser Erfolgsstory stehen nun mit der jüngsten Generation von Architekten wieder zur Disposition.

Beim Landeanflug auf Amsterdam-Schiphol kreist das Flugzeug mitunter über Flevoland, dem grössten Polder der Niederlande. Aus der Vogelperspektive gesehen, formieren sich die künstlich dem Meer abgerungenen rechteckigen Ackerflächen zwischen den schnurgeraden Landstrassen zu einem abstrakt anmutenden Raster Mondrian'scher Ordnungslogik. Dieses Bild ist Symbol für das Selbstverständnis eines Volkes, das sich des Bodens unter den Füssen nicht gewiss sein darf. Die Niederlande sind denn auch für Kristin Feireiss, die vormalige Direktorin des Nederlands Architectuurinstituut (NAI), «das Land, das sich seine Bewohner selber schaffen».


Phänomene des Wachstums

Die Architektur wird von diesen Umständen unmittelbar betroffen. In einem Land, dessen Häuser zu einem grossen Teil auf Holzpfählen stehen, die in den sumpfigen Boden gerammt wurden, ist Architektur gleichbedeutend mit Existenz. Sie ist mehr als nur Mittel für die Schaffung von Wohn- und Arbeitsraum, sie ist Gegenstand der öffentlichen Diskussion und wird als Teil der nationalen Kultur verstanden. Der kollektive Pioniergeist, mit dem die nationalen Projekte zur Entwässerung und Eindeichung ganzer Meere Anfang des 20. Jahrhunderts vorangetrieben wurden, hat die Menschen in den letzten zehn Jahren erneut erfasst. Diesmal allerdings steht die architektonische Landschaft im Zentrum des Interesses, was dem Land eine baukulturelle Blüte beschert, um die es vielerorts beneidet wird.

Dabei sah es lange Zeit gar nicht nach einem architektonischen Aufbruch aus. Nach einer ungestümen Wachstumsphase in der Nachkriegszeit, in der man zukunftsgläubig von durchstrukturierten, ins Riesenhafte aufgetürmten Stadtlandschaften träumte, die nicht länger ein Ort der Begegnung, sondern ein Funktionsplan waren, fand sich das Land zu Beginn der achtziger Jahre in einer Rezession nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Visionen wieder. Die Wende brachte das vielgefeierte Poldermodell. Es beruhte im Wesentlichen auf der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und der Ausweitung von Teilzeitjobs und hat seit den ersten Konsensrunden im Jahr 1982 die Doppelleistung zuwege gebracht, eine wirtschaftliche Prosperität mit einer kulturellen gleichzuschalten, in deren Umfeld das international stark beachtete holländische Architekturexperiment überhaupt erst stattfinden konnte.

Die architektonische Blüte des Landes ging einher mit einem soliden wirtschaftlichen Wachstum, das seit nunmehr zwölf Jahren über dem Durchschnitt der EU liegt. Dieses Wachstum manifestiert sich nicht zuletzt in einem Baurausch, der ganze Stadtviertel in kürzester Zeit entstehen lässt oder grossmassstäbliche Planungen hervorbringt wie die einer neuen Stadt mit 40 000 Wohnungen auf künstlich aufgeschütteten Sandbänken, die vor der Küste Den Haags und Rotterdams verteilt werden sollen. Über 75 Prozent des Wohnraums sind nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Von Leerstand ist keine Rede. Im Gegenteil, die Nachfrage nimmt stetig zu. Das betrifft vor allem die boomende Randstad mit den Wirtschaftszentren Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht.


Architektur als Lebewesen

Gebaut wurde in den letzten Jahren viel. Architektonisch massgeblich aber waren vor allem überschaubare Bauaufgaben wie etwa Altersheime, Polizeireviere, Postämter, Radiosender, Universitätsgebäude, Museen und Villen. Die öffentliche Hand finanzierte die meisten dieser Bauprojekte. An ihnen konnte sich die junge Architektenschaft beweisen. Durchdacht und entspannt, erwachsen und bedingungslos jugendlich, so kommen ihre Entwürfe daher. Die Experimentierfreude, mit der die Architekten entwerfen, sieht man den oft rohen Bauten auf den ersten Blick nicht immer an. Doch mit jeder ihrer schlichten Kisten setzen sie neue Bautypologien in die flache Landschaft. Die ungebändigte Wildheit ihrer Architektur liegt in einer anarchischen Ungebundenheit allen Standards gegenüber und einer freudigen Innovationslust, die Motor für so unerwartete Gebäudestrukturen wie jene des niederländischen Expo-Pavillons von MVRDV sein kann. Nicht in einem an Gehry erinnernden Formenwirbel liegt das Ungezügelte ihrer gebauten Visionen, sondern in ihrer programmatisch konzeptuellen Arbeitsweise. Diese verdanken viele junge Architekten dem Theoretiker und Architekten Rem Koolhaas. Durch Koolhaas' Beispiel angeregt, untersuchen sie seit Beginn der neunziger Jahre in ihren Arbeiten die inhaltliche Beziehung zur Moderne und haben so eine schal gewordene Postmoderne überwunden. Entstanden ist vielerorts eine Architektur, die dem sinnlichen Detail eine untergeordnete Stellung zuweist, ein Anti-Design, die Verkündung einer Welt jenseits hedonistischen Stilgebarens.

Ausgehend von dieser Basis ist das architektonische Spektrum immer breiter und schillernder geworden. Es reicht neuerdings bis hin zu der programmatischen Aufhebung des alten Gegensatzes von Natur und Technik in einer Architektur, die als genetisch selbstbestimmtes Lebewesen verstanden werden will. Kas Oosterhuis und Lars Spuybroek zählen zu den exponiertesten Repräsentanten dieses Trends. In einer Zeit, in der viel über drängende Aufgaben wie billigen Massenwohnungsbau nachgedacht wird, leisten sie sich den Luxus, einen lollibunten Designkanon aufzustellen und erst hinterher über dessen Funktionalisierung zu spekulieren. Ein Entwurf, der tiefer als die spektakulär gefaltete und erotisch geschwollene Aussenhaut blicken lässt, existiert nur in den seltensten Fällen. Denn wie muss man sich das Innere von Oosterhuis' «Rotterdam & Internet» vorstellen, einem Gebäude, das sich mit Hilfe einer Gummihaut über einen pneumatischen Fachwerkbau bewegt, zusammenzieht, anspannt und entspannt? Mit seinem gebauten Muskel versucht Oosterhuis den neuesten technischen Entwicklungen auf die Schliche zu kommen, die flimmernde, kugelbunt mutierende Internet-Gegenwart in einer Architektur einzufangen, die aussieht, als habe man eine Plasticdose mit Anabolika gemästet. Mit solch kompromisslos verschwenderischen Formphantasien, mit ihrer barocken Oberflächenseligkeit und der Vergötterung des Individuellen haben sich die jungen Biogendesigner über die Koolhaas'sche konzeptuelle Stringenz in der Architektur hinweggesetzt.

Der Dialog mit den Kunden beansprucht immer mehr Raum. Den Entwurfsprozess hat das nachhaltig verändert. Die Erwartungshaltung von Staat und Bauherrn zum Ausgangspunkt architektonischer Formfindung zu nehmen: das ist einer der wichtigsten Beiträge der jungen niederländischen Architektengeneration zum internationalen Architekturdiskurs. Auf den immer stärker eingeschränkten Handlungsspielraum des Architekten haben sie mit neuen Entwurfsmethoden reagiert, ihr Selbstverständnis haben sie den Umständen angepasst: nicht selbsternannter Kunstallmächtiger oder Heilsbringer ist der Architekt in Holland, sondern ein Ingenieur der Wünsche. Den Grundstein hat auch hier Koolhaas mit seinem Office for Metropolitan Architecture (OMA) gelegt. Dieses sah sich Anfang der achtziger Jahre beim städtebaulichen Entwurf für den IJ-Plein in Amsterdam mit den divergierenden Anforderungen der Anwohner aus den benachbarten Stadtvierteln und der künftigen Bewohner konfrontiert. In diesen Jahren der Demokratisierung führte die Kritik dieser Gruppen oft dazu, dass Architekten ihre weit vorangeschrittenen Pläne von Grund auf neu erarbeiten mussten. Statt mit einem fertigen Entwurf kam OMA deshalb mit einem grossen Koffer, der eine Auswahl von Plänen in standardisierter Form enthielt. Mit ihr wurde ein äusserst flexibler Verhandlungsprozess bestritten, während OMA die Wünsche der Betroffenen anhand der Pläne visualisierte und den endgültigen Entwurf ausarbeitete.

Eine pragmatische Architektur ist so in den letzten Jahren entstanden, die sich von jedem starren Stildenken distanziert. Architektur als Markenzeichen - «so etwas machen wir nicht», gibt etwa Mecanoo-Gründerin Francine Houben entschieden zu verstehen. «Wir haben eine sehr enge Beziehung zu unseren Kunden. Wir geben ihren Ideen eine Form. Das ist ein sehr individueller Prozess. Wollten sie ein weisses Haus, würden sie zu Richard Meier gehen, wollten sie ein verrücktes Haus, zu Frank Gehry. Bei uns bekommen sie etwas wirklich Besonderes.» Eine Aufgabe des Prinzips des freischaffenden Künstlers ist das keineswegs, sondern dessen modifizierende Rettung. Denn selbst eine computergestützte Kartierung aller auf die Bauaufgabe Einfluss nehmenden Kräfte, wie sie MVRDV in ihren «Datascapes» durchführen, ist ein sehr feines Instrument, das nicht faule Kompromisse produziert, sondern die verloren geglaubten Freiräume für die Architektur ermitteln helfen kann.


Die Rolle des Staates

Rund 10 Millionen Euro gibt der niederländische Staat jährlich zur Förderung der Architektur aus. Besonders viel Geld ist das nicht, aber es wird effektvoll eingesetzt: Das international bekannte NAI in Rotterdam erhält etwa 3,2 Millionen Euro jährlich und ist so zum grössten Architekturmuseum der Welt geworden. Seit 1993 leistet es herausragende Öffentlichkeitsarbeit für die Architektur mit Ausstellungen, Symposien und Workshops. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit Kindern, für die eigens ein Anbau von Jo Coenen errichtet wird. Für Kristin Feireiss, die nach fünf Jahren Tätigkeit das NAI verlässt, drückt sich das einzigartige Umfeld für Architektur in den Niederlanden auch in der erstmals für 2002 geplanten Architekturbiennale aus, deren Leitung sie übernehmen wird. Die Niederlande sind damit neben Italien das zweite europäische Land mit einer derartigen Veranstaltung.

Die Architekten werden aber auch direkt vom Staat subventioniert: zwei der wichtigsten Förderfonds sind der Stimuleringsfonds voor Architectuur in Rotterdam, der jährlich rund 2,5 Millionen Euro ausgibt, und der Fonds voor Beeldende Kunsten, Vormgeving en Bouwkunst, abgekürzt BKVB, in Amsterdam, der jährlich eine Summe von 800 000 Euro für Architektur aufwendet. In der Liste der Begünstigten finden sich Büros wie Mecanoo, MVRDV, Kas Oosterhuis. Gefördert werden Reisen, Publikationen und Projekte. Ausserdem gibt es Studienbeihilfen in Höhe von bis zu 28 000 Euro und Starthilfen bei der Gründung des eigenen Büros in Höhe von 15 000 Euro. Beim Stimuleringsfonds können auch Stiftungen, Museen, Verlage oder Architekturzeitschriften finanziellen Rückhalt für ihre Arbeit finden.

Selbst in hohe Staatsämter können Architekten aufsteigen. Nicht irgendwelche Technokraten lässt man über wichtige Fördermassnahmen entscheiden, sondern unbequeme Leute aus der Praxis. Der Mann, der als neuer Reichsbaumeister zukünftig die architektonischen Direktiven im Lande geben wird, heisst Jo Coenen. In dieser Funktion besitzt Coenen ein Mitspracherecht bei Gebäuden, die der Staat selber errichtet. Auch wenn er kein Vetorecht besitzt, ist seine Rolle als Ratgeber und Förderer eine äusserst einflussreiche. Die Koffer packen, das war Coenens erste Amtshandlung. Denn die Baubehörde in Den Haag entsprach nicht seinen Vorstellungen von einem kreativen Arbeitsumfeld. Stattdessen zog er in eine nahe gelegene alte Werkstatt, in der er ein Laboratorium zusammen mit hinzugezogenen Architekten aufbauen will. Nicht repräsentativer Ort und bürokratische Arbeitsweise definieren hier das hohe Staatsamt, sondern nur die Güte der Architektur von morgen.

Das Engagement des Staates für die Architektur wird von einer breiten öffentlichen Mitbestimmung getragen. Die gemeinschaftlichen Leistungen in der Landgewinnung etablierten eine Tradition, die die Architektur als Aufgabe der Allgemeinheit betrachtet. Anders als die Anhänger der Avantgarde setzen die Niederländer auf einen demokratischen Formfindungsprozess, der in endlose Bürgerbefragungen ausarten kann und dem ein radikaler Plan lediglich als Diskussionspapier für eine weitaus gewöhnlichere und alltäglichere Praxis dienen kann. Trotz oder gerade wegen dieser Hürden erhält auch noch die phantastischste Architektur Gehör und nicht selten eine Chance.


Der Erfolg der Jugend

Alle diese Charakteristika der zeitgenössischen niederländischen Architektur tragen zu ihrer Jugendlichkeit bei - eine Jugendlichkeit, die wörtlich genommen werden will. Immer wieder erstaunt, dass die Architekten hier nicht nur experimentelle Architektur realisieren können, sondern dies auch in einem Alter, in dem in anderen Ländern meist erst einmal die Zeit des Darbens einsetzt. Die Gründer von Mecanoo standen am Anfang dieses Trends. Sie gewannen 1985 den Wettbewerb für den Wohnkomplex am Kruisplein, Rotterdams zentraler Einkaufsstrasse. Damals waren sie noch Studenten und der Älteste der Gruppe gerade 25 Jahre alt. Und MVRDV war eine Gemeinschaft von Hochschulabsolventen ohne eigenes Büro, als 1993 Vertreter des Radiosenders VPRO sich bei ihnen meldeten, um sie mit dem Entwurf ihrer neuen Zentrale in Hilversum zu beauftragen. Die daraufhin hastig angemieteten Räume in einem Lagerhaus im Hafen von Rotterdam dienten dazu, langjährige Praxis vorzutäuschen. Die Verhandlungen bestritten die Jungarchitekten mit Tage zuvor eingekauften Kaffeetassen und grossen Hoffnungen. Den Auftrag erhielten sie umgehend. Mittlerweile hat sich das Büro über die gesamte Etage des Lagerhauses ausgedehnt. Der Blick aus Ländern, in denen ein solch taschenspielertrickartig beschleunigter Start in die eigene Karriere allenfalls aus finsteren Gangsterfilmen bekannt ist, lässt das vitale Gründerfieber der niederländischen Architekturszene nur umso heller erstrahlen.

Nicht lange ist es her, da war Koolhaas der Prophet dieser bedingungslosen Jugendlichkeit. 1978 schrieb er «Delirious New York», ein Manifest für den Aufbruch in ein neues architektonisches Zeitalter. Als begeisterter Verfechter metropolitaner Lebenslust feierte er die wuchernden Vergnügungsparks von Coney Island als den Ort, an dem an der Ablösung des in Manhattan etablierten Beaux-Arts-Stils laboriert wurde. Heute ist es kein anderer als Koolhaas, der die Jugend in den Niederlanden zur Besonnenheit aufruft: Zu schematisch gehe sie an ihre Aufgabe, verkenne die kritische Substanz der Moderne und ergehe sich im gefühligen Formalismus, so seine Kritik. Zeichen einer bevorstehenden Revolution wie damals auf Coney Island?

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.09.07

03. September 1999Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Verdichtete Utopien

Mit einem Doppelwohnhaus in Utrecht, einem Sendegebäude in Hilversum und einem Altenwohnheim in Amsterdam erregte das junge Rotterdamer Architekturbüro MVRDV viel Aufsehen. 1998 schoben die drei Architekten Winy Maas, Jakob van Rijs und Nathalie de Vries ein «Theoriejahr» ein, um ihre Utopien einer Stadt der Zukunft weiter zu verdichten.

Mit einem Doppelwohnhaus in Utrecht, einem Sendegebäude in Hilversum und einem Altenwohnheim in Amsterdam erregte das junge Rotterdamer Architekturbüro MVRDV viel Aufsehen. 1998 schoben die drei Architekten Winy Maas, Jakob van Rijs und Nathalie de Vries ein «Theoriejahr» ein, um ihre Utopien einer Stadt der Zukunft weiter zu verdichten.

Ein wuchtiges, quaderförmiges Hafengebäude nahe dem ältesten Teil des Rotterdamer Hafens. Ganz oben, im dritten Stock, befindet sich das Büro von MVRDV. Zwischen zahllosen Modellen aus Holz, Harz, Karton oder Kork schwirren 25 junge Mitarbeiter durch die grosszügig angelegten Räume. Zwischendurch fällt der Blick auf die gewaltigen Wassermassen der Maas - Sturm und Drang hier wie dort, eine Stimmung fast wie an der Amsterdamer Börse. Immer häufiger kommt es inzwischen vor, dass das nach den Namensinitialen der drei Gründungsmitglieder benannte Büro Aufträge ablehnen muss.


Sturm und Drang

Der Gründung von MVRDV durch Winy Maas (1959), Jakob van Rijs (1964) und Nathalie de Vries (1965) vor sieben Jahren gingen ein gemeinsames Studium an der TU in Delft und Erfahrungen bei Rem Koolhaas in Rotterdam, bei Berkel & Bos in Amsterdam und bei Mecanoo in Delft voraus. Winy Maas hatte überdies ein Landschaftsarchitektur-Studium absolviert und für die Unesco in Nairobi gearbeitet. Danach lief alles sehr schnell: Nachdem sich die drei Architekten schon 1991 mit dem Projekt «Berlin Voids» für eine Wohnbebauung im Prenzlauer Berg in Berlin einen Preis im Europan-2-Wettbewerb hatten sichern können, folgte 1993 der Auftrag für den Ende 1997 vollendeten Bau eines zentralen Sendegebäudes für den Alternativ-Radio-Sender VPRO in Hilversum (NZZ 27. 1. 98). Die Radiomacher wollten die 13 über die gesamte Stadt verteilten Standorte des Senders zu einem Gebäude zusammenführen. Als moderne Adaption von Herman Hertzbergers Centraal-Beheer-Bürogebäude in Apeldoorn (1968-1972), das in der Ära nach Achtundsechzig eine partizipatorische Architektur versucht hatte, errichtete MVRDV einen vollständig transparenten, fünfgeschossigen Betonbau, dessen mäandrierende Ebenen durch raffiniert angelegte Stege, Rampen und Treppen fliessend ineinander übergehen. Damit ergibt sich ein spielerisch gestaltetes Raumkontinuum von eher öffentlichen Zonen bis zu intimeren Räumen.

Zeitgleich mit dem VPRO-Gebäude stellten die MVRDV-Architekten ihren Woonzorgcomplex (WoZoCo) in Amsterdam Osdorp vor. Ausrichtung und Höhe der Gartenstadt aus den fünfziger Jahren waren baurechtlich festgelegt. MVRDV machte daraus eine gestalterische Tugend und hängte 13 der 100 Wohnungen als freischwebende Volumen von der Fassade ab. Eine perfekt inszenierte Ausnutzung des vorhandenen Raumes! Ähnlich auch der Grundgedanke für die Villa KBBW, ein viergeschossiges Zweifamilienhaus in Utrecht, das Winy Maas gemeinsam mit dem Architekten Bjaerne Mastenbroek (De Architektengroep, Amsterdam) errichtete: Mit den beiden zickzackartig miteinander verklammerten Wohnungen, deren transparente Fassaden ein völliges Verschmelzen von Innen- und Aussenraum erzeugen, zeigen die Architekten, dass sich das von ihnen vertretene Prinzip des Verschachtelns und Verdichtens auch auf den Wohnungs- und Siedlungsbau anwenden lässt.

Je mehr man sich mit den städtebaulichen Theorien von MVRDV auseinandersetzt, desto mehr geraten die vor Ort so individuellen Lösungen zu gebauten Manifesten von Urbanität und Verdichtung. In «Farmax», einem 753 Seiten dicken Buch von MVRDV, in dem die Leser durch utopische Szenarien für die Rotterdamer und die Amsterdamer Innenstadt geführt werden, propagieren die Architekten eine Steigerung der Kapazitäten unseres derzeitigen Lebensraumes durch horizontales und vertikales Zusammenballen mit maximaler Konzentration verschiedener Funktionen. Deutlich sichtbar bleibt dabei der Einfluss von Rem Koolhaas, dessen Buch «S,M,L,XL» einen neuen Typus Architekturbuch darstellte. Zwar behandelte Koolhaas nur seine Projekte und dachte weniger stark in Manifesten, dennoch beschwörte auch er auf essayistische Weise ein neues architektonisches Zeitalter herauf.


Kultur der Verdichtung

Für Koolhaas besteht der bedeutendste Beitrag Amerikas zum urbanen Design in den geballten Hochhaus-Zentren der Städte, ein Phänomen, das er als «Culture of Congestion», «Kultur der Ballung», bezeichnet. Ähnliches schwebt auch den Architekten von MVRDV vor: «Immer mehr Regionen der Welt sind zu mehr oder weniger durchgehenden städtischen Ballungsgebieten geworden.» In Europa zeige das allmähliche Zusammenwachsen von Gegenden in Oberitalien, im Schweizer Mittelland, im Rhein-Main-Gebiet, im Ruhrgebiet oder in der «Randstad» zwischen Rotterdam und Amsterdam, wie wichtig es sei, sich Gedanken über die Stadt der Zukunft zu machen, meinen die Architekten von MVRDV. Der zunehmenden Langeweile, die aus dieser homogenen Zersiedelung resultiere, stellen sie das Konzept einer abwechslungsreichen Kombination von vertikal und horizontal verdichteten Ballungszentren und «künstlichen» Naturflächen («Light Urbanism») entgegen.

Gegenwärtig arbeiten Maas, van Rijs und de Vries an der Computeranimation Metacity/Datatown. Das jüngst in der Berliner Galerie Aedes East und zuvor bereits in Den Haag gezeigte Projekt stellt einen visionären Stadtentwurf vor, der auf einer Extrapolation niederländischer Statistiken beruht. In einem begehbaren Kubus, dessen Wände aus Projektionsflächen bestehen, wurden die Besucher auf eine digitale Reise durch einen virtuellen Stadtstaat entführt. «Wie können wir die Stadt in Zeiten der Globalisierung und Bevölkerungsexplosion verstehen? Verlieren wir in dieser unübersichtlichen Fülle die Kontrolle, oder können wir den Ursachen nachgehen und sie manipulieren?» fragen die Architekten und fordern: «Lasst uns die dichteste Stadt der Welt erfinden, die erlaubt, Raum für eine wachsende Weltbevölkerung zu schaffen.» Ähnlich wie die im letzten Jahr vorgestellten Pläne des niederländischen Architekten Carel Weeber für ein «Wildes Wohnen» folgt auch Metacity/Datatown einer klassischen Annäherung zur Stadt, nämlich der Dauer von einer Reisestunde (im Mittelalter noch 4 Kilometer, mit einem modernen Hochgeschwindigkeitszug sind es heute bis zu 400 Kilometer). Der autarke Stadtstaat ist damit viermal so gross wie die Niederlande. Bei einer ebenfalls viermal so hohen Bevölkerungsdichte von rund 1500 Einwohnern je Quadratkilometer (der Kanton Genf zählt 1400, der Kanton Basel-Stadt 5200 Einwohner je Quadratkilometer) würden hier 250 Millionen Einwohner leben - die Bevölkerung der USA in einer einzigen Stadt!

Innerhalb von Metacity/Datatown unterscheiden die Architekten von MVRDV 26 Sektoren, variierend zwischen Landbau und Wald, Müllplatz und Friedhof, und stellen Berechnungen darüber an, wieviel Wald nötig ist, um das anfallende CO2 umzuwandeln, oder welcher Platz gebraucht wird, um die benötigte Energie durch Windkraft zu erzeugen - eine typisch holländische, fast calvinistische Methode: pragmatisch, klar und streng geordnet, beinahe spartanisch. Auch wenn man zweifelt, ob Metacity/Datatown tatsächlich die Visualisierung einer begehrenswerten Utopie oder eher die Darstellung eines Albtraums zeigt - in der Realität greift die Strategie der Verdichtung allemal und führt sogar zu ungeahnten Freiheiten, wie die bisher fertiggestellten Projekte des Büros beweisen. Im östlichen Hafengebiet von Amsterdam, dem derzeit kompaktesten Neubaugebiet in den Niederlanden, stellt MVRDV gegenwärtig zwei radikal in die Tiefe organisierte, schmale Reihenwohnhäuser fertig. Eine der beiden zwischen 4 und 5 Meter breiten und 16 Meter tiefen Parzellen wird sogar nur zur Hälfte bebaut! An die vollständig transparente Innenfassade des Hauses wollen die Architekten zwei Volumen hängen, die frei über dem unbebauten Teil des Grundstückes schweben. Innen- und Aussenraum sollen so unmerklich ineinander übergehen.

Als weitere Projekte entwickeln die Architekten gerade die «Z-Mall» für das staatlich festgesetzte Vinex-Gebiet Leidschenveen und den niederländischen Pavillon für die Expo 2000 in Hannover (NZZ 22. 4. 99). Das vertikale Mini-Öko-System soll aus verschiedenen Typen künstlich angelegter Landschaften (Pflanzen, Wasser, Regen, Wind, Strand, Häuser, Wald oder Landwirtschaft) bestehen, die auf insgesamt 35 Metern Höhe durch quadratische Geschossplatten voneinander getrennt und übereinander geschichtet werden. «Die Niederlande, ein Staat mit hoher Bevölkerungsdichte, haben eine lange Tradition der Landgewinnung aus dem Meer. Mit unserem Projekt wollen wir diese Künstlichkeit weiter radikalisieren», meint Maas optimistisch. Und weiter gedacht: Warum sollen unsere Kinder in Zukunft nicht tatsächlich im 12. Stock spielen? Dort gibt es immerhin einen kleinen See, und ausserdem fahren hier oben keine Autos!

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.09.03

19. Januar 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Monument für ephemere Medien

Hilversum gilt als die Radio- und Fernsehstadt der Niederlande. Hier nun konnte kürzlich ein nach den Entwürfen des Architekturbüros Neutelings Riedijk realisierter Bildspeicher für die audiovisuelle Kultur des Landes eröffnet werden.

Hilversum gilt als die Radio- und Fernsehstadt der Niederlande. Hier nun konnte kürzlich ein nach den Entwürfen des Architekturbüros Neutelings Riedijk realisierter Bildspeicher für die audiovisuelle Kultur des Landes eröffnet werden.

Als Radios noch mit Frequenzskalen und Ortsnamen versehen waren, galt Hilversum - wie seinerzeit auch Beromünster - im Ausland als ein Sehnsuchtsort. In der Tat verdankt die Stadt auf halbem Weg zwischen Utrecht und Amsterdam ihre Bekanntheit dem Rundfunk und den Medien. Dank der idyllischen Lage in Wald und Heide des Gooilands hatte Hilversum mitsamt den Nachbarorten Bussum, Laren, Naarden oder Blaricum schon um 1900 einen Aufschwung als Gartenvorstadt von Amsterdam erlebt - Villenquartiere mit ausgedehnten Grünanlagen zeugen auch heute noch von dieser Zeit der Prosperität. Doch zu einer eigentlichen Blüte gelangte die Stadt erst, nachdem das 1916 gegründete Radio Holland sich entschlossen hatte, Produktion und Sendebetrieb nicht in Amsterdam, sondern in Hilversum anzusiedeln.

Unter der Ägide des Architekten Willem Marinus Dudok erhielt die expandierende Stadt ein eigenes Gesicht. Im Stadterweiterungsgebiet jenseits der Bahnlinie nach Amsterdam und Utrecht entstand nach 1918 das ausgedehnte Produktionsgelände der Nederlandse Seintoestellen Fabriek NSF, die später von Philips übernommen wurde. Die Rundfunkanstalten selbst entsprangen gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Initiativen: die unabhängige Algemene Vereniging Radio Omroep (AVRO), das Arbeiterradio VARA, der christliche Rundfunk NCRV sowie die Radioanstalten der Protestanten (VPRO) und Katholiken (KRO). Die grossen Studiokomplexe aus den dreissiger Jahren liegen nördlich der Innenstadt verstreut im Siedlungsgebiet und zeugen mit ihrer eleganten und grosszügigen Architektur in hellem Klinker vom Anspruch, der sich mit dem neuen Medium verband.

Von der Radio-City zum Mediapark

Als die Rundfunkgesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg sich auch mit Fernsehproduktionen befassten und deshalb erhöhten Raumbedarf verzeichneten, kam es zu Erweiterungen der bestehenden Baulichkeiten. Zudem wurde die Radio-City als gemeinschaftlich nutzbares Produktionsgelände nördlich des Bahnhofs angelegt. Hier steht auch das Betriebsgebäude des Auslandradios Wereldomroep (Weltrundfunk), das van den Broek en Bakema 1961 als elegante Kreuzstruktur errichteten.

Neue private Produktionsgesellschaften haben sich inzwischen ebenfalls auf dem Areal niedergelassen, so jene von John de Mol, welche den Talk- und Quizboom der vergangenen Fernsehjahre mit prägenden Formaten gefördert hat. Mit der Neuordnung der Senderlandschaft in den neunziger Jahren sind auch die klassischen Sender in die nunmehr zum «Mediapark» erhobene Radio-City übersiedelt. Als Inkunabel der zeitgenössischen niederländischen Architektur gilt der neue Sitz von VPRO, das Erstlingswerk des erfolgreichen Architekturbüros MVRDV aus dem Jahr 1997. Höfe, Terrassen sowie wellenartig bewegte Böden und Decken bilden eine dem eher unkonventionellen Charakter des Senders entsprechende Arbeitslandschaft. Hinter dem VPRO-Gebäude wurden seither zwei weitere Neubauten realisiert: das als aufgeständerte Box in den Hang eingelassene Sendegebäude RVU, ebenfalls von MVRDV entworfen, sowie der nach Plänen von Koen van Velsen in den Wald integrierte Sitz des Rundfunkkommissariats.

Neues Wahrzeichen des Mediaparks aber ist das vor vier Wochen eröffnete Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid (Niederländisches Institut für Bild und Ton), ein bunt schimmerndes Volumen über quadratischem Grundriss. Es liegt exponiert an der stadtseitigen Zufahrt zum Mediapark, gegenüber der Multatulischool von Dudok. Den Wettbewerb des Jahres 1999 hatte das Büro Neutelings Riedijk gewonnen, das zu den wichtigsten Exponenten der niederländischen Architekturszene der Generation nach Rem Koolhaas zählt. Willem Jan Neutelings und Michiel Riedijk sind bekannt für eine in starkem Masse bildhafte Architektur mit kraftvollen Formen, einer komplexen inneren Organisation sowie grafischen Oberflächentexturen. Zu ihren wichtigen Werken zählen ein Wohnturm im östlichen Hafengebiet von Amsterdam (1998), in dessen kubisches Volumen 16 unterschiedliche Wohnungstypen eingeschachtelt sind, sowie fünf sphinxartig in das Wasser des Gooimeers vorstossende Wohnbauten in Huizen, einer Vorortgemeinde von Hilversum (2003). Ein neuer öffentlicher Bau ist das Schifffahrtskolleg in Rotterdam (2005); das turmartige «Museum aan de Stroom» in Antwerpen soll in den kommenden Jahren realisiert werden.

Die private Stiftung Beeld en Geluid wurde 1997 als Zusammenschluss verschiedener audiovisueller Archive und des Rundfunkmuseums gegründet. Das Institut mit seinen 200 Mitarbeitern sammelt und konserviert die nationalen Ton- und Bildbestände, wobei in der digitalen Ära gerade die Frage des Erhalts historischer Medien die grösste Herausforderung darstellt.

Canyon, Foyer, Blackbox

Das Raumprogramm, mit dem Neutelings Riedijk sich konfrontiert sahen, vereint drei Nutzungen: ausgedehnte Magazine, Büros für die Mitarbeiter und Publikumsbereiche. Zunächst dachten die Architekten an einen Turm, wie sie ihn auch in Antwerpen errichteten, doch liess die für das Areal geltende Baugesetzgebung nur eine Höhe von maximal 26 Metern zu. Daher entschied man sich, den Turm zur Hälfte versinken zu lassen und grosse Teile des Raumprogramms im Untergrund anzusiedeln. Betritt man das Gebäude durch den Haupteingang, so quert man zunächst auf einer Brücke eine Art Canyon. Atemberaubend ist der Blick hinunter in die Tiefe auf fünf terrassiert gestaffelte Geschosse für das Archiv. Die Idee der Abtreppung kehrt im grossen Foyer wieder, das sich quer durch das Gebäude erstreckt und dessen gesamte Höhe einnimmt: Der vertikalen Raumschicht mit den Büros im Westen steht die geschlossene, mit Metallelementen verkleidete Front der Ausstellungsbereiche gegenüber, die von Geschoss zu Geschoss weiter auskragt. Das zur Südfront mit dem Wasserbecken orientierte Selbstbedienungsrestaurant besteht ebenfalls aus einem abgetreppten Katarakt aus Sitzbereichen.

Über der Ebene mit zwei Film- und Vortragsräumen sowie einem grossen Saal für Wechselausstellungen erreicht man die «Media Experience», die als Blackbox in einem nachtblau gestrichenen Raum von 52 Metern Länge, 28 Metern Breite und 12 Metern Höhe eingerichtet ist und durch diverse Emporen und Einbauten gegliedert wird. Nach der Art eines Science-Museums finden sich hier 15 Themenpavillons, die Wissen vermitteln und zugleich unterhalten sollen. Die Besucher können hier den Betrieb eines Fernsehstudios erleben, sollen aber auch zu kritischer Reflexion animiert werden. Ob das funktioniert, bleibt fraglich: Manches wirkt allzu seicht, und die historischen Exponate gehen in der Masse von Hands- on-Displays unter, welche um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen.

Höchst eindrucksvoll indes sind die Fassaden des Baus. Der Videokünstler Jaap Drupsteen hat aus der niederländischen Fernsehgeschichte Hunderte von Bildern ausgewählt, diese durch digitale Modifikation horizontal verwischt und mit Farbpulver auf die Glasscheiben aufgedruckt. In einem durch Matrizen vorbereiteten Sandbett wurden die Scheiben anschliessend erneut gebrannt. Während die Fassade aus der Ferne wie ein unscharfes Testbild erscheint, lassen sich aus der Nähe einzelne Details erkennen. Eine Ausstellung im Museum Hilversum informiert über das Werk von Jaap Drupsteen und den aufwendigen Herstellungsprozess der Fassadenhaut. Ergänzend sind auch beleuchtete Modelle der wichtigsten Projekte von Neutelings Riedijk zu sehen.

[ Die Ausstellung «Over Beeld en Geluid» ist im Museum Hilversum bis zum 6. Mai zu sehen; kein Katalog. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.01.19

07. September 2001Robert Kaltenbrunner
Neue Zürcher Zeitung

Beispielhafte urbane Qualitäten

Die Renaissance des niederländischen Reihenhauses

Die Renaissance des niederländischen Reihenhauses

Das Reihenhaus schreibt in Holland Erfolgsgeschichte. Gerade die rigide technische Standardisierung scheint formale Experimente und ästhetische Vielfalt zu ermöglichen. Dabei geht es sowohl um die Typologie des Hauses, die veränderten Rahmenbedingungen des Wohnens als auch um die Beziehung zwischen Gebäude und Stadt.

Der Kulturkritiker Wend Fischer hat einmal mit Blick auf die Wohnarchitektur empfohlen, «dass die Brauchbarkeit das Kriterium der Qualität ist. Diese Wahrheit konzentriert die Dinge und Bauten auf den Menschen, der sie braucht; der Mensch ist der Sinn ihrer Zweckbestimmung, hierin beruht ihre selbstverständliche Humanität.» Ganz in diesem Sinne hat die niederländische Nachkriegsarchitektur eine reichhaltige Tradition an Bauten hervorgebracht, die weniger fertige Lösungen anbieten als vielmehr den Rahmen vorgeben, der von den Nutzern erst noch auszufüllen ist - davon ausgehend, dass eine prägnante Formgebung nicht notwendigerweise einengen muss, sondern im Gegenteil wichtige Impulse für das Geschehen im Raum geben kann.


Mode und Geschmack

Wenn das Reihenhaus für die Architektur ein eher profanes und sprödes Thema darstellt, so ist es schon überraschend, mit welcher Inbrunst es in den Niederlanden kultiviert wird. Hier hat die Individualisierung unter dem Stichwort der Erlebnisgesellschaft längst auch einen so sehr von Standardisierung und Serienfertigung bestimmten Bereich wie die Reihenhausproduktion erfasst. Sie begründet eine Suche nach spielerischen, eleganten und vor allem sinnlichen Lösungen, die gleichzeitig realistisch umsetzbar und unverkrampft «schön» sind. «Ich will, dass die Architektur modisch ist. Einige Architekten sind so naiv, zu behaupten, dass Architektur nichts mit Mode zu tun habe. Das ist Unsinn.» Erick van Egeraats offensives Bekenntnis zur Mode geht einher mit der Akzeptanz des Geschmacks des Konsumenten, so dass für ihn der Vergleich des Bauens mit anderen Dienstleistungen - etwa dem Kochen - nichts Unrühmliches ist. Es scheint, als stünde er damit nicht allein.

In Holland lässt man sich auf die reale Vielfalt, Ungewissheit und Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung bereitwilliger ein als andernorts. Als Reaktion auf die tiefe Krise der modernen Wohlfahrtsgesellschaft haben sich die Niederlande seit Ende der achtziger Jahre einer tiefgreifenden Liberalisierung und Modernisierung unterzogen: Zu verzeichnen ist der Umschwung vom staatsnahen Wohnungsbau zum freien Markt; vom moralisierenden Sozialdesign zur Freude am formalen Spiel, von einer sich als gebaute Moral verstehenden Architektur zu einer, die eher «die Corporate Identity einer aufgeklärten sozialen Demokratie» zur Verfügung stellen will. Der Markt, so die Vorstellung, die hinter der neuen Wohnungsbaupolitik steht, orientiert sich zwangsläufig an den Bedürfnissen und am Geschmack der Endverbraucher, in diesem Fall der Wohnungskäufer.

Dieser Geschmack ist gar nicht so schlecht. Offensichtlich wollen die Kunden, anders als es uns Zyniker weismachen, nicht in Walmdachidyllen mit Erkerexzessen wohnen, jedenfalls in den Niederlanden nicht. Das Reihenhaus nimmt in diesem Kontext eine zentrale Rolle ein: Es steht für stadtnahes Wohnen ohne Nachbarschaftszwang und ist alltagstauglich für eine Gesellschaft im Aufbruch. Relativ niedrige Baulandpreise - meist zwischen 80 und 130 Franken pro Quadratmeter - werden durch zentrale Steuerung sichergestellt. Rationelle Planung und Standardisierung, eine Bauorganisation und der Bauteam-Gedanke sind die Hintergründe für die verhältnismässig preiswerten Ergebnisse. Gleichwohl ist es frappant, wie sich Frische und Unverkrampftheit mit völliger Erinnerungslosigkeit mischen, die Widersprüchlichkeit von kommerziellem Produkt und heimatstiftender Aneignung im Konsum.

Lange durchlaufende Linien, weit auskragende horizontale Platten und Dachgesimse, kubisch betonte, regelmässig wiederholte Vor- und Rücksprünge, der Einsatz unterschiedlicher Fassadenebenen, die zusammen eine streng orthogonale, kubische Komposition formen - so etwa könnte eine formale Charakterisierung der Reihenhaussiedlungen der letzten Jahre lauten. Dabei werden die gewohnten Additionsregeln häufig in Frage gestellt - bis hin zu Überlegungen, wie man aus dem engem Korsett der trennenden Schotten ausbrechen könnte, ohne die Abgeschlossenheit der einzelnen Einheiten aufzugeben. - So einfach wie wirkungsvoll scheinen diesbezüglich etwa die Vorschläge von Neutelings & Riedijk für IJsselstein: Durch die Drehung der Häuser um 90 Grad - mithin bei extrem breiten, aber nicht sehr tiefen Grundrissen - werden die Innenräume ungleich heller und offener. Die grosse Breite wird durch die Back-to-Back-Anordnung kompensiert, wobei für die fehlende Rückfassade eine mehr als zehn Meter breite Vorderfront entschädigt. Ein weiteres Beispiel ist das Kasbah-artige Labyrinth von MVRDV in ihrem Siedlungsentwurf für den Hoornse Kwadrant: Die einzelnen Einheiten verschränken sich räumlich komplex in- und übereinander, ohne dass der Bezug zur Strasse oder die Abgeschlossenheit des einzelnen Hauses aufgehoben würde. Die innere Organisation aufs Äusserste flexibilisiert hat Teun Koolhaas bei seinen Reihenhäusern in Almere: Durch die Verlagerung der Treppe an die Fassade sowie eine kompakte innere Servicezone in jedem Geschoss können die gewohnten Nutzungen fast überall im Haus untergebracht werden; selbst eine Teilung in zwei Einheiten ist möglich.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass das Klein-in-Klein der achtziger Jahre als gebaute Intimität einer Ästhetik weicht, die durch äusserste Neutralität geprägt ist. Unklare Übergänge, halbprivate Bereiche werden häufig zugunsten neutraler, wenn nicht gar unpersönlicher Räume vermieden. Und mitunter wird der Bruch von abgeschirmter intimer Privatheit und kompromissloser Öffentlichkeit direkt in gebaute Form umgesetzt, etwa von de Architecten Cie. in Almere.


Architektur als Ereignis

Das Reihenhaus als Schnittpunkt von serieller Produktion und individueller Erscheinungsform ist gleichermassen professionell entwickeltes Produkt wie Heimat für einen Lebensabschnitt; seine Bewohner sind im heutigen Holland nicht mehr «Häuslebauer», die ein Leben lang an ihrem Traum arbeiten, sondern erlebnishungrige Konsumenten, die bei biographischen Veränderungen den Wechsel in eine neue Umgebung nicht scheuen. Dass durch eine missverstandene Individualität die geistlosesten Gebäudehaufen entstehen, ist in nahezu jedem Wohngebiet zu studieren. Identität wird dadurch kaum gestiftet. Anders bei den angeblich monoton wirkenden Wohnkomplexen in den Niederlanden. Jenseits moderner Utopien vom beglückenden Effekt einer «einzig richtigen» Architektur entstanden dort in den letzten zehn Jahren erfrischende Ensembles, in denen «Architektur als Ereignis» erlebbar ist.

Doch auch in der städtebaulichen Perspektive wird die innere Logik der niederländischen Entwicklung deutlich: das Denken in einfachen und prägnanten Bildern, ein In-Szene-Setzen von eindeutigen Stimmungen - allerdings ohne Berücksichtigung der ganzen Komplexität und Tiefe der Wirklichkeit. Das funktional Aufgegebene eines grösseren Ganzen, vordem in Begriffe wie Nachbarschaft, Siedlung oder Gemeinschaft gefasst, wird lediglich noch ästhetisch vermittelt. Die Architekten schöpfen Formen und Motive aus dem Reservoir der Moderne, ohne deren sozial-revolutionäre Hintergründe mit aufzuwirbeln. Gleichwohl, und seinen inhärenten städtebaulichen und siedlungsräumlichen Defiziten zum Trotz, hat der jüngste holländische Reihenhausbau beispielhafte urbane Qualitäten geschaffen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.09.07

04. Dezember 1998Robert Andreas Fischer
Neue Zürcher Zeitung

Künstliche Paradiese für Architekten

Mit der Verlegung der Hafenanlagen aufs Meer hinaus ist in Rotterdam viel Raum geschaffen worden für die Stadterweiterung. Mit Architektur im virtuellen bzw. computergestützten Sinne befasste sich heuer in der holländischen Hafenstadt das Dutch Electronic Art Festival.

Mit der Verlegung der Hafenanlagen aufs Meer hinaus ist in Rotterdam viel Raum geschaffen worden für die Stadterweiterung. Mit Architektur im virtuellen bzw. computergestützten Sinne befasste sich heuer in der holländischen Hafenstadt das Dutch Electronic Art Festival.

Die Welthafenstadt Rotterdam hat vor rund zehn Jahren begonnen, ihre Anlagen zu einem grossen Teil auf die offene See zu verschieben. Dadurch wurde auf einen Schlag enorm viel Raum für die Stadterweiterung frei. Seither wird aktiv geplant und gebaut, und Rotterdam ist zu einem Mekka für avantgardistische Architekten geworden. Zugleich führt die Stadt eine Tradition technologischen Fortschritts weiter, die sie bisher hauptsächlich in der Hydraulik und dem Wasserwesen pflegte und die sie nun auf die Elektronik übertrug. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass sich die Rotterdamer Veranstaltung für elektronische Kunst, das Dutch Electronic Art Festival (Deaf), intensiv mit der computerunterstützten Architektur beschäftigt – dem wahrscheinlich interessantesten Bereich kreativer Bildschirmgestaltung.

«Trans-Architektur»

An der Imagina 1997 in Monaco trat erstmals eine Gruppe junger Architekten unter der Bezeichnung «Trans-Architectures» auf und präsentierte ein neues Denken in Bauen und Planen, das sich auf den virtuellen Raum der elektronischen Koordinaten beschränkte. Obschon solche Bauten nicht wirklich «bewohnbar» sind, entstehen so Modelle und Konzepte, die unsere Zukunft prägen könnten. Der Begriff einer Transarchitektur stammt vom amerikanischen Architekten Marcos Novak, der in der Bildschirmarbeit die eminente «Flüssigkeit» gestalterischer Daten erkannte und der die mannigfaltigen Verbindungsmöglichkeiten im dreidimensionalen, architektonischen Entwerfen so entwickelt sehen möchte, wie dies beispielsweise ein Giles Deleuze auf rein intellektueller Ebene verlangt.

Die neueste Fassung von «Trans-Architectures 03» wurde in die diesjährige Deaf-Präsentation integriert, und einige der wichtigen Protagonisten der Gruppe sprachen über ihre Arbeit. So präsentierte der Holländer Lars Spuybroek den «Wasserpavillon», den er im Auftrag des Ministeriums für Wasserangelegenheiten in der Nähe von Rotterdam baute – eines der wenigen realisierten Projekte der Transarchitekten.

Das Gebäude knüpft in seiner Art unmittelbar an die fliessende Eigenschaft der Informationsverwaltung auf dem Bildschirm an. Es integriert einige gestalterische Verfahren, die sonst für Festkörper nicht in Frage kommen. Wer den Pavillon begeht, wobei durch Sensoren Lichteffekte ausgelöst werden, scheint gleichsam über gefrorene Wellen zu gehen. Der amerikanische Architekt Greg Lynn wiederum erklärte, wie er gestalterische Techniken im virtuellen Raum für die Herstellung von Schallisolationen verwendet. Lynn wird im kommenden Jahr an der ETH in Zürich «räumliches Gestalten» unterrichten.

Die Präsentationen der Architekten Novak, Spuybroek und Lynn waren Teil eines Symposions, das die Organisatoren des Festivals unter dem Titel «The Art of the Accident» abhielten. Ein expliziter Bezug dieses Themas zum künstlerischen Einsatz elektronischer Instrumente oder zu den neuen Tendenzen in der virtuellen Architektur war dabei nicht auszumachen, und die Organisatoren sowie die Moderatoren der Konferenz unterliessen es trotz wiederholter Aufforderung, auf diese Fragen überhaupt einzutreten.

Virilios «integrale Unfälle»

Im Begleitbuch zum Symposion finden sich einige Bemerkungen des Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio über Unfälle. Während bisher Unfälle in ihren Wirkungen und Ausmassen beschränkt waren, werde der «integrale Unfall» sich künftig auf die ganze Welt auswirken. Um einen solchen könnte es sich vielleicht beim Jahr-2000- Problem handeln.
Neben der hauptsächlich von Architekturstudenten sehr gut besuchten Konferenz bot das Festival verschiedene Workshops, Projekte zwischen Wissenschaft und Kunst sowie Abendveranstaltungen, an denen die elektronischen Künste in Form von mit Video untermalten Sketches auf alten Theaterbühnen inszeniert werden. Dem Publikum gefiel's. Der Neuigkeitswert war indessen gering.

Im Bereich der eigentlichen elektronischen Künste wurden einige neue Arbeiten gezeigt, die teilweise zusammen mit der Ars Electronica in Linz oder mit dem Zentrum für Medienkunst in Karlsruhe (ZKM) entstanden oder dort bereits zu sehen waren. So entwickelte Masaki Fujihata seine komplexen Kommunikations-Interfaces weiter, die er vor einigen Jahren zuerst in Linz gezeigt hatte. «Nuzzle Afar» ist im ZKM verfeinert worden und hat nun einen ausserordentlich abstrakten Charakter. Es geht hier noch immer um die Suche nach andern Mitteln als der Tastatur oder der Maus, um den Computer zu steuern.

Visualisierung komplexer Ereignisse

Immer noch faszinierend ist die Arbeit der deutschen Gruppe «Knowbotic Research» aus dem Umfeld der Kunsthochschule für Medien in Köln. Sie beschäftigt sich mit der Visualisierung komplexer «large scale events» geographischer, demographischer oder soziographischer Natur. Diesmal arbeitete die Gruppe in den Favelas von São Paulo und entwickelte eine Reihe abstrakter Bildschirmdarstellungen («IO-Dencies»), welche die katastrophalen Lebensverhältnisse spiegeln. Die Gruppe besetzt neuerdings eine Professur für Neue Medien an der Fachhochschule für Gestaltung in Zürich.

Einem aufwendigen Videogame gleicht die Arbeit «Happy Doomsday» von Calin Dan (Rumänien/Niederlande): Zwei Anwender können von Geräten, wie sie in Fitnessklubs stehen, auf zwei parallelen Leinwänden einen «Krieg» auf dem europäischen Territorium führen. Die Arbeit ist zwar interaktiv, ob es sich aber um Kunst handelt, bleibe dahingestellt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1998.12.04

02. September 2005Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Gebaute Kontraste

Mit Projekten wie dem Utrechter «Junkie-Hostel» oder einem Brückenwärterhaus in Middelburg avancierten die Rotterdamer BAR Architecten um Joost Glissenaar und Klaas van der Molen zu einem der erfolgreichsten jungen Planungsbüros der Niederlande. Mit oft einfachen Mitteln schaffen sie überraschende Kontraste.

Mit Projekten wie dem Utrechter «Junkie-Hostel» oder einem Brückenwärterhaus in Middelburg avancierten die Rotterdamer BAR Architecten um Joost Glissenaar und Klaas van der Molen zu einem der erfolgreichsten jungen Planungsbüros der Niederlande. Mit oft einfachen Mitteln schaffen sie überraschende Kontraste.

Die Utrechter Maliebaan gehört zu den vornehmsten Adressen der Stadt. Hinter den prachtvoll verzierten neoklassizistischen Fassaden liegen die Kanzleien von Steuerbüros, Rechtsanwälten und Unternehmensberatern. Mitten in dieser noblen Gegend wurde Ende 2003 in einem dreigeschossigen Haus das durch die BAR Architecten gestaltete «Junkie-Hostel» für obdachlose Rauschgiftsüchtige eröffnet. Als wichtiger Baustein eines umfangreichen kommunalen Programms bietet die Einrichtung jedem ihrer insgesamt 28 Bewohner einen eigenen Schlafraum sowie mehrere Gemeinschaftsräume. Von aussen lässt nichts auf die an diesem Ort recht ungewöhnliche Funktion schliessen; die umgebaute Villa reiht sich nach wie vor nahtlos in die prachtvolle Allee ein. Umso überraschender präsentiert sich das Innere des Hauses, in dem die Architekten zwischen den vorder- und rückseitig gelegenen Wohnräumen zwei unregelmässige «Stapel» mit jeweils drei übereinander geschichteten, bis unter das Dach reichenden Service-Einheiten placiert haben. Und als sei diese Raumkomposition nicht schon ungewöhnlich genug, wurden die Oberflächen der Boxen durchgehend mit einem Fotoprint gestaltet, der übergrosse, fast schon psychedelisch wirkende Efeublätter zeigt - «nicht als ein Verweis auf eine durch Drogen verursachte Halluzination, sondern zusammen mit den himmelblau gestrichenen Wänden im Treppenhaus als ein Mittel, um den Übergang vom Leben auf der Strasse zum Leben unter einem Dach zu erleichtern», wie die BAR Architekten einleuchtend erklären.

Die Gründung des in einem Gewerbebau unweit des Rotterdamer Schiehavens ansässigen Büros BAR Architecten geht zurück auf den Europan-Wettbewerb von 1998, den Joost Glissenaar (1965) und Klaas van der Molen (1966) mit einem städtebaulichen Entwurf für ein Wohnquartier in Amsterdam Ost für sich entscheiden konnten. Das Projekt wurde zwar nicht realisiert, aber der Erfolg ermutigte das Duo, von dem Glissenaar zuvor bei MVRDV und van der Molen bei Kraaijvanger Urbis tätig war, kurz darauf zur Eröffnung eines eigenen Büros, wobei der Name BAR auf die Barcode-artige Anordnung der Wohnblöcke des Europan-Entwurfes zurückgeht.
Radikale Interieurs

«Wir verfolgen eine Entwurfsstrategie, mit der wir eine Art ‹ursprünglicher Architektur› erreichen wollen», erklären die Architekten im Gespräch und betrachten die unvoreingenommene Analyse der jeweiligen Funktion als ihr zentrales Leitmotiv. Eine eindeutige Formensprache ist ihnen dabei weniger wichtig. Als roter Faden hat sich stattdessen das bisweilen ironische Aufzeigen von Widersprüchen herauskristallisiert. Ein fast programmatisches Beispiel für dieses Vorgehen bietet das flexibel einsetzbare und unter anderem als Stadtteilzentrum in Leidsche Rijn eingesetzte Projekt «Mies meets Granpré» (2003) - eine Art Kreuzung aus Barcelona-Pavillon, einem gewöhnlichen Ziegelhaus und einem banalen Wohnwagen, mit der die Architekten einen gelungenen Kommentar auf die in der niederländischen Architektur kursierende Diskussion über das Verhältnis von Tradition (vertreten hier durch Granpré Molière) und Moderne (Mies van der Rohe) geschaffen haben.

Weitere Überraschungen bieten das Druckereigebäude «Plantijn Casparie» in Utrecht (2003) - ein aus drei flachen Volumina zusammengesetzter funktionaler Bau, dessen scheinbar massive Hauptfassade sich beim Näherkommen als weitgehend transparente, durch 80 Holzstützen getragene Glaskonstruktion erweist - und vor allem der Umbau eines ebenfalls in Utrecht gelegenen Altbaus von 1643 zum Sitz des Kunstzentrums BAK. Ähnlich wie beim «Junkie-Hostel» kontrastierten die Architekten dabei eine historische Altbaufassade mit einem radikal umgestalteten Interieur und entwickelten so eine sinnfällige architektonische Umsetzung des Konzeptes des Hauses, das sich als Mittler aktueller Kunstformen wie Multimedia und Performances versteht. Zentrales Element innerhalb der weiss gestrichenen Innenräume ist ein zwei Meter hinter der Aussenfassade eingefügtes, gebäudehohes Raumobjekt mit «Wänden» und Brücken aus perforiertem Stahl sowie Böden aus Glas, das Treppen, Toiletten, Empfangsraum, Bibliothek und Garderobe integriert und dabei ein labyrinthisches Spiel zwischen Realität und optischer Täuschung schafft.

Spannung zwischen Alt und Neu

Einen ähnlich gelungenen Kontrast zwischen Alt und Neu zeigt das Ende 2004 eröffnete Brückenwärterhaus in Middelburg, das als deutlicher Gegenpol zur pittoresken Innenstadtkulisse eine elegant detaillierte kristalline Glasarchitektur zeigt und dabei ein wichtiges städtebauliches Scharnier zwischen Innenstadt und Peripherie schafft. Tatsächlich durch einen Brückenwärter genutzt wird der Bau jedoch nur rund sechsmal im Jahr - zu Inspektionen etwa. Die restliche Zeit über dient er lediglich als automatisierte Schaltstation. Trotz dieser eingeschränkten Nutzung entschied sich die Stadt Middelburg dazu, den Bau nicht lediglich als funktionales Objekt zu betrachten, sondern bewilligte immerhin 300 000 Euro, um mit ihm gleichzeitig eine städtebauliche Aufwertung des Bahnhofareals zu erreichen. Die BAR Architecten (www.bararchitects.com) entwickelten daraufhin einen ambitionierten, markant geschnittenen Bau mit dreieckigem Grundriss, dessen zum Wasser hin schräg abfallendes Untergeschoss auf einem wuchtigen Betonsockel ruht. Von innen bietet die durchgehende Glashülle ein 360-Grad- Panorama, nach aussen hin zeigt sie je nach Tageszeit, Wetter und Blickwinkel die innen liegenden Installationen, oder sie spiegelt die Umgebung wider. Die Architekten selbst beschreiben den Bau deshalb als einen «auf einem Punkt ausbalancierten Diamanten, der erst nachts seine volle Ausstrahlung erreicht. Denn dann wird er von innen her beleuchtet und taucht das Wasser und die umgebende Bebauung durch das mit Siebdrucken bedeckte Glas hindurch in ein fast magisches Licht.»

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.09.02

30. Dezember 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Zukunftsvisionen

Das niederländische Architekturbüro MVRDV vereint in seiner Tätigkeit Pragmatismus und Vision. Während eine im Nederlands Architectuurinstituut in Rotterdam gestartete Wanderausstellung ins Innere der Bauten und Projekte führt, zeigen die Avantgardisten aus Rotterdam in Düsseldorf Szenarien für die künftige Entwicklung des Ruhrgebiets.

Das niederländische Architekturbüro MVRDV vereint in seiner Tätigkeit Pragmatismus und Vision. Während eine im Nederlands Architectuurinstituut in Rotterdam gestartete Wanderausstellung ins Innere der Bauten und Projekte führt, zeigen die Avantgardisten aus Rotterdam in Düsseldorf Szenarien für die künftige Entwicklung des Ruhrgebiets.

Die Idee des Stapelns und Schichtens von Funktionen zieht sich wie ein roter Faden durch das theoretische und praktische Œuvre des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV - angefangen mit dem unrealisierten, im Jahr der Bürogründung vorgelegten Entwurf «Berlin Voids» (1991), einem 27-geschossigen Wohnriegel für den Stadtteil Prenzlauer Berg. Nicht ein stereotypes Hochhaus in der Tradition der Nachkriegsmoderne war das Ziel, sondern ein dreidimensionales, von Löchern, Leerstellen und öffentlichen Räumen durchbrochenes Puzzle aus Wohnungen verschiedenster Typen. Die traditionelle, sich um Höfe gruppierende und in die Tiefe erstreckende Mietskaserne war gleichsam aus den Angeln gehoben und in die Vertikale gekippt worden.


Endlose Interieurs

Der Gedanke vertikaler Verdichtung setzte sich fort, ob im niederländischen Pavillon für die Expo 2000 in Hannover oder im Projekt «Pig City», demzufolge die Schweinezuchtbetriebe der Niederlande in autarken und nach ökologischen Kriterien bewirtschafteten «Pig Towers» konzentriert werden sollten. Jüngster realisierter Bau ist der auf einer Hafenmole errichtete Wohnkomplex «Silodam» nordwestlich des Stadtzentrums von Amsterdam. Mit dem zehngeschossigen, in vier Abschnitte gleicher Länge gegliederten Riegel entwickelten MVRDV ein Gegenmodell zur Unité d'habitation: Während Le Corbusier unterschiedliche Wohnungstypen um nahezu identische innere Strassen organisierte, manipulierten MVRDV das Erschliessungssystem, das - durch unterschiedliche Farbgebung differenziert - bald als Laubengang, Korridor, Brücke oder Passage ausgebildet ist. Jedem dieser Abschnitte ist ein bestimmter Wohnungstyp zugeordnet - eine Struktur, die sich auch an der Fassadenverkleidung des Äusseren abzeichnet: Auf der Mole errichtet, wirkt der Block von der Ferne wie ein mit Containern beladenes Schiff auf Reede.

Die Tatsache, dass bei den Projekten von MVRDV komplexe Raumprogramme in Körpern von zumeist klarer Gestalt Unterbringung finden, führte nun im Nederlands Architectuurinstituut (NAI) zu der Ausstellung «The hungry box: The endless interiors of MVRDV». Anders als sonst richtet sich der Fokus nicht auf den Gedanken des Stapelns, sondern auf die Vielgestaltigkeit innerer Landschaften, die sich in den Gebäuden und Entwürfen der Rotterdamer Architekten ausdehnen. Neben Bauten wie dem Rundfunksender VPRO in Hilversum, dem niederländischen Pavillon und dem Silodam-Komplex werden auch einige weniger bekannte Projekte vorgestellt, darunter der Wettbewerbsbeitrag für das Eyebeam Institute in New York, der Entwurf für das aus containerartigen Raumstrukturen aggregierte ethnographische Museum am Pariser Quai Branly, das einer eurozentrischen Hierarchisierung entgegenwirken soll, sowie das Projekt einer Zentralbibliothek für die niederländische Provinz Brabant: Die radial angeordneten Regale sind entlang einer Wegespirale von insgesamt 17 Kilometern Länge placiert, welche sich um einen Hohlraum herum in die Höhe schraubt und einen schier endlosen zylindrischen Turm entstehen lässt - Bücher-Babel am Beginn des 21. Jahrhunderts. Bei dem HAN-Gebäude der Universität Nijmegen sowie dem Palau de la Biodiversidad für Barcelona werden zentrale Hallen von einer Vielzahl unterschiedlich dimensionierter und multifunktional nutzbarer Raumelemente umfangen. Bestückt mit Modellen und auf Leinwänden aufgezogenen Grossfotos, ist die Schau als erste einer Serie von Wanderausstellungen konzipiert, mit denen das NAI in Europa und den USA zeitgenössische niederländische Architekturbüros vorstellen möchte.


Metropole an Rhein und Ruhr

Die Arbeitsbereiche von MVRDV oszillieren seit der Gründung des Büros zwischen Pragmatismus und Vision. Bücher wie «Farmax» und das aus einer Videoinstallation hervorgegangene «Metacity - Datatown» explizieren das von den Architekten verfolgte Konzept von «Datascapes», also einer computergenerierten Architektur, die auf der Auswertung einer Unzahl von statistischen Daten beruht. Mit trendigen Powerpoint-Präsentationen gelingt es Winy Maas, dem Frontman von MVRDV, dem Thema der Raum- und Landesplanung, das lang als spröde galt und auf Fachkreise beschränkt war, neue Aufmerksamkeit zu verschaffen. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Ausstellung «RheinRuhrCity - die unentdeckte Metropole», welche derzeit im NRW- Forum Kultur und Wirtschaft im Düsseldorfer Ehrenhof präsentiert wird.

Das Ruhrgebiet als grossflächiger Ballungsraum mit knapp 5,5 Millionen Einwohnern befindet sich in einem Prozess des postindustriellen Strukturwandels. Motor dieses Transformationsprozesses war im vergangenen Jahrzehnt die «IBA Emscher-Park». Trotz einigen Erfolgen steht es mit der Entwicklung nicht zum Besten: Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich über bundesrepublikanischem Durchschnitt, das Image der Region hat sich in der Aussenwahrnehmung nur wenig verbessert. Ein Problem stellt nicht zuletzt die durch die Eigenständigkeit der Gemeinden bedingte Städtekonkurrenz dar, die eine übergreifende Planung verhindert. So sind verschiedenenorts Medienzentren, Shopping-Malls oder Musicaltheater entstanden, die sich wirtschaftlich nicht als tragfähig erweisen können. Blockiert durch die auf Besitzstandswahrung bedachten lokalen Entscheidungsträger und die Interessen des Landes Nordrhein-Westfalen, agiert der Kommunalverband Ruhr (KVR) wenig erfolgreich.

«RheinRuhrCity» zeigt Szenarien für eine Entwicklung der Ruhrregion jenseits lokaler Beschränktheit auf. In der Mitte von Europa gelegen, von anderen Ballungsräumen wie der niederländischen Randstad, Hamburg und Frankfurt aus gut zu erreichen und überdies infrastrukturell perfekt erschlossen, bietet die Gegend zwischen Dortmund und Duisburg laut MVRDV beste Voraussetzungen, sich als Metropole zu etablieren. In grossflächigen Projektionen werden auf Basis eines Helikopterflugs über die Region vier «Extremszenarien» simuliert. «Park City» setzt auf Entvölkerung und grossflächige Renaturierung. «Archipel City» postuliert gegenüber der herrschenden Städtekonkurrenz die Ausbildung und Stärkung von spezifischen Funktionen an einzelnen Standorten: Essen als Mega-Business- Center in der Art der Pariser Défense, Oberhausen als Mega-Shopping-Center, Bochum als Mega-Universität, Düsseldorf als Mega-Airport. «Campus City» visualisiert die Verwandlung des Ruhrgebiets in eine gigantische Forschungsstadt. «Netzwerk City» schliesslich zeigt eine durch Kapazitätssteigerung und Ausbau der Infrastrukturachsen bedingte Verdichtung und Vernetzung.

Für die Ausstellung wurde ein als «innovatives Planungs-Tool» bezeichnetes, auf der Auswertung von statistischen Daten beruhendes Computerprogramm entwickelt, das MVRDV «Regionmaker» nennen. Während man am Monitor Häuschen und Bäume verstreut, stellen sich Zweifel hinsichtlich der Ernsthaftigkeit des Vorgehens von MVRDV ein. Aber mitunter bedarf es wohl erst einmal der Provokation, um den Zustand der Lethargie zu überwinden.


[Bis 5. Januar im NAI Rotterdam, anschliessend an verschiedenen Orten in Europa und den USA. Anstelle eines Katalogs liegt der Band 111 von «El Croquis» vor; im Januar erscheint zudem im Verlag des NAI ein von Aaron Betsky herausgegebenes Buch über MVRDV. - Bis 16. Februar im NRW-Forum Kultur und Wirtschaft in Düsseldorf. Begleitpublikation: MVRDV. The Regionmaker - RheinRuhrCity. Hatje-Cantz- Verlag, Ostfildern-Ruit 2002. 352 S., Euro 25.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.12.30

07. März 2003Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Reichtum und Komplexität

Im Jahre 1995 trennte sich Erick van Egeraat von Mecanoo und gründete das Büro EEA in Rotterdam. Typisch für sein Arbeiten ist ein Gespür für ebenso unerwartete wie sinnliche Materialkontraste. Gegenwärtig arbeitet EEA am Masterplan für das Amsterdamer Oosterdokseiland, auf dem bis 2010 eine Flaniermeile entstehen soll.

Im Jahre 1995 trennte sich Erick van Egeraat von Mecanoo und gründete das Büro EEA in Rotterdam. Typisch für sein Arbeiten ist ein Gespür für ebenso unerwartete wie sinnliche Materialkontraste. Gegenwärtig arbeitet EEA am Masterplan für das Amsterdamer Oosterdokseiland, auf dem bis 2010 eine Flaniermeile entstehen soll.

Von Anfang an war Rotterdam das wichtigste Experimentierfeld des 1956 in Amsterdam geborenen Erick van Egeraat, der während zwölf Jahren ein Vordenker des Delfter Architekturbüros Mecanoo war. Hier stehen nicht nur die meisten der Mecanoo-Bauten, hier befindet sich auch der Sitz des 1995 gegründeten Büros Erick van Egeraat Architects (EEA). Jüngster Beleg für seine enge Verbundenheit mit Rotterdam ist die Ichthus- Hochschule, die seit ihrer Eröffnung vor zwei Jahren als einer der wichtigsten architektonischen Eckpfeiler auf dem seit Mitte der neunziger Jahre neu erschlossenen Quartier Kop van Zuid gilt. Schon von weitem überzeugt der achtgeschossige Bau durch seine vollkommen transparente, durch Lamellen filigran gegliederte Glasfassade. Im Inneren der Hochschule findet sich eine offene, um ein lichtdurchflutetes Atrium organisierte Arbeitslandschaft mit Brücken, gläsernen Aufzügen und einem Restaurant mit Sicht auf den Rheinhafen und die durch van Egeraat noch bei Mecanoo zwischen 1985 und 1989 realisierte Wohnsiedlung an der Hillelaan.


Erfolge mit Mecanoo

Mit der Ichthus-Hochschule schliesst sich ein architektonischer Kreis, der fast 20 Jahre zuvor rund zwei Kilometer weiter nördlich begonnen hatte: Dort, am Rotterdamer Kruisplein, hatten van Egeraat und seine damaligen Kommilitonen Francine Houben, Henk Döll, Chris de Weijer und Roelf Steenhuis zwischen 1983 und 1985 auf Grund eines erfolgreichen Wettbewerbs einen Baukomplex mit 97 Sozialwohnungen realisieren und damit beweisen können, dass sozialer Wohnungsbau nicht nur preiswert, sondern auch schön sein kann.
Als es 1995 zum Bruch zwischen van Egeraat und Mecanoo kam, zählte das Team längst zu den erfolgreichsten niederländischen Architekturbüros. Erick van Egeraats wachsendes Interesse an eigenverantwortlicher Projektabwicklung und sein Wunsch, nicht nur hohe Qualität zu schaffen, sondern auch seine persönliche Handschrift noch stärker einzubringen, veranlassten ihn - und mit ihm rund die Hälfte der damaligen Mitarbeiter -, nach zwölf Jahren das Gemeinschaftsbüro zu verlassen und nach Rotterdam umzusiedeln. Heute beschäftigt EEA rund 110 Mitarbeiter in Rotterdam, Budapest, Prag und London.

Architektonisch betrachtet, geht der Ausstieg bei Mecanoo einher mit einer Konzentration auf eine „weiche, einladende“ Architektur, die van Egeraat selbst als „Modern Baroque“ bezeichnet. Mit Nostalgie hat dieser Begriff freilich nur wenig zu tun. Dazu ist van Egeraats Ansatz zu tief verwurzelt in der klassischen Moderne der Niederlande. Dennoch scheint es so, als hätte deren formale und intellektuelle Strenge bei den meisten von Erick van Egeraats Projekten einen sinnlichen Schmelzprozess durchlaufen. „Mit meinen Gebäuden will ich nicht das Minimale, sondern Reichtum und Komplexität erreichen“, sagt Erick van Egeraat. „Mit Glas funktioniert das perfekt, denn es ist vollkommen flexibel in seiner Ausdrucksform: Man kann es als Vorhang auffassen oder als etwas Hartes. Es ist transparent, aber es kann auch opak oder spiegelnd sein.“

So besteht die noch während der Mecanoo-Zeit begonnene Aufstockung der ING-Bank in Budapest (1992-94), mit der van Egeraat ein weisses Neorenaissance-Gebäude von 1882 krönte, aus einem organischen, zweigeschossigen Gebilde aus Holz, Stahl und Glas. Dieser auf dem Altbau aufliegende „Wal“ setzt sich aus 26 unterschiedlich geformten Schichtholzrahmen zusammen, die an der tragenden Hauptkonstruktion aus Stahl aufgehängt sind. Seine transparente Aussenhaut besteht aus insgesamt 483 unterschiedlich geformten Glasbauelementen. Bei der zweiten, 1997 abgeschlossenen Erweiterung der Bank experimentierte van Egeraat mit einem speziell beschichteten Glas, das bei geneigter Ansicht eine Fassade aus Naturstein vorzutäuschen scheint. Vollständige Transparenz ergibt sich nur bei bestimmten Lichtverhältnissen.

Den Einsatz der Details sowie des Materials und dessen Oberfläche, Farbigkeit, Transparenz oder Wärme betrachtet van Egeraat gerne als eine Sache des „Geschmacks“ und behauptet ganz ungeniert, dass seine Architektur den jeweiligen Bauherren vor allem schmecken muss: „Viele Architekten sind der Auffassung, dass Architektur nicht modisch sein darf. Ich denke jedoch, dass Architektur sich mit sämtlichen Tendenzen der Gegenwart auseinandersetzen sollte. Deshalb nehme ich ganz bewusst auch Einflüsse aus Mode und Design in meine Arbeit auf.“


Architektur und Geschmack

Ein überzeugendes Beispiel für diesen Anspruch ist das „Facelifting“ des von der Stadt Utrecht ausgearbeiteten Entwurfs für das Fachtechnische Gymnasium für Mode und Technik (1994-97), dessen Überarbeitung durch EEA fast schon einer modernen Frankenstein-Saga gleicht: Um dem eher uninspirierten Projekt neues Leben einzuhauchen, überzog van Egeraat den überwiegenden Teil des Gebäudes mit einer spannungsvoll gegliederten Hülle aus Glas und gewährte damit überraschende Einblicke in die darunter liegende technische Seite - auf strukturelle Bauglieder, Holz, freiliegendes Mauerwerk und auf die gelbe Steinwolle. Mit seinem ebenso einfachen wie sinnlichen Designkonzept verweist van Egeraat nicht nur auf die Konstruktion des Gebäudes, sondern macht gleichzeitig auch die an der Schule unterrichteten Fächer Grafik und Mode nach aussen sichtbar. Die Bekleidung des Gebäudes tritt mit dem Inhalt in einen spannungsvollen Dialog und schafft auf diese Weise einen subtil inszenierten Kommentar zu den Möglichkeiten eines Einflusses der Mode auf die Architektur.

Ähnlich ungewöhnlich zeigt sich auch die Erweiterung der Crawford Municipal Art Gallery in Cork, Irland (1996-2000), wo es van Egeraat gelang, sämtliche Vorstellungen von materieller Schwere und Leichtigkeit über Bord zu werfen: Zwar baute er das Gebäude mit den hier vorherrschenden Ziegeln fort. Anstatt diese aber zu mauern, wurden sie über einer Unterkonstruktion mit einem schnell trocknenden Kleber zu einer monolithischen, leicht gewellten Schale geformt. Die so entstandene organische Front wölbt sich nicht nur über die Glasfassade im Erdgeschoss, sondern überlappt auch den angrenzenden Altbau. Ein zusätzliches Überraschungsmoment bietet ein an die Arbeiten Lucio Fontanas erinnernder senkrechter Einschnitt, der die im Übrigen geschlossene Ziegelhaut auf halber Strecke verletzt. „In meiner Arbeit versuche ich, von der allgegenwärtigen Symmetrie und Ordnung wegzukommen und stattdessen Asymmetrie und Disharmonie ins Spiel zu bringen“, erklärt van Egeraat.


Neuste Arbeiten

Ein Wohnungsbauprojekt in Tilburg (1996-99), bei dem zwei einfache Volumen mit poliertem Naturstein, Zedernholz und grossen Glasflächen verkleidet wurden, zählt neben der Ichthus-Hochschule in Rotterdam zu den neusten Werken des Architekten. Für noch mehr Aufsehen sorgt gegenwärtig das Stadthaus in Alphen aan de Rijn, mit dem van Egeraat ein fast schon futuristischer Akzent in der beschaulichen Kleinstadt gelungen ist: Es vereint einen viergeschossigen, grossflächig verglasten und durch ein lang gestrecktes, organisches Dach bedeckten öffentlichen Bereich mit Ämtern und Stadtverwaltung und einen eher traditionell gehaltenen und ausschliesslich zur Vermietung vorgesehenen Baukörper. Die Glasfassaden sind mit Abbildungen von Blättern und Bäumen bedruckt, so dass sich das Gebäude fast in seiner Umgebung aufzulösen scheint. „Nötig? Nein! Aber doch schön anzusehen.“ - Und die Zukunft? Neben der Planung für das neue Theater der Royal Shakespeare Company in Stratford (Eröffnung des ersten Bauabschnittes voraussichtlich im Sommer 2005) ist van Egeraat gegenwärtig vor allem mit städtebaulichen Aufgaben beschäftigt: etwa mit der Umwandlung des Amsterdamer Oosterdokseilands, das sich vom Hauptbahnhof bis hin zu Renzo Pianos Wissenschaftsmuseum erstreckt.

Der für die Stadt Amsterdam und den Projektentwickler MAB aus Den Haag konzipierte Masterplan sieht bis zum Jahr 2010 die Schaffung einer innerstädtischen Flaniermeile mit Büros, Wohnungen und Kultureinrichtungen vor. Eingerahmt werden soll das rund 20 Hektaren grosse Areal durch Jo Coenens neues Hauptgebäude der Bibliothek Amsterdam im Osten nahe dem Wissenschaftsmuseum und dem von Toyo Ito geplanten europäisch-asiatischen Handelszentrum „New Chinatown Amsterdam“ direkt neben dem Hauptbahnhof. Dazwischen sind ein Hotel- und Kongresszentrum von David Chipperfield sowie Geschäfte, Büros und Wohnungen (unter anderem von Cruz & Ortiz) vorgesehen. Bei der Umsetzung steht van Egeraat eine reiche, skulpturale Formgebung vor Augen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.03.07

25. September 1999Franziska Leeb
Der Standard

Architekten sollen kommunizieren

Im Gespräch mit Franziska Leeb äußert sich der Architekt Ben van Berkel über sein Berufsbild, sein Vereinigtes Netzwerk und die „tiefe Planung“ als Ping-Pong zwischen digitaler, virtueller und greifbarer menschlicher Information.

Im Gespräch mit Franziska Leeb äußert sich der Architekt Ben van Berkel über sein Berufsbild, sein Vereinigtes Netzwerk und die „tiefe Planung“ als Ping-Pong zwischen digitaler, virtueller und greifbarer menschlicher Information.

Seit 1988 realisierte das Amsterdamer Architekturbüro Ben van Berkel und Caroline Bos zahlreiche international beachtete Projekte wie die Erasmusbrücke in Rotterdam, das Umspannwerk im niederländischen Amersfoort oder die Architekturgalerie Aedes Ost in Berlin. In Österreich haben Van Berkel & Bos die Wettbewerbe für das Grazer Musiktheater und das Umspannwerk in Innsbruck gewonnen. Ende letzten Jahres gründeten sie das UN Studio (United Network) und diesen Sommer stellten sie die dreibändige Publikation MOVE (siehe Kasten) vor. Die bereits fix scheinende Berufung Ben van Berkels an die Grazer Architekturfakultät wurde überraschenderweise von der Universität noch nicht bestätigt. Bleibt abzuwarten, wann und woher sich die steirische Architekturschule nun frischen, internationalen Wind holen wird.

DER STANDARD: Van Berkel & Bos ist mittlerweile ein architektonisches Markenzeichen. Wollen Sie das nun durch das neue UN Studio ersetzen?

Ben van Berkel: Van Berkel & Bos existiert weiterhin. Mit dem UN Studio haben wir eine neue Firma, besser gesagt ein Netzwerk, gegründet, das nach völlig neuen Grundsätzen operiert. Unter Van Berkel & Bos laufen andere Aktivitäten, wie zum Beispiel unsere publizistische Arbeit oder Ausstellungen. Als wir UN Studio gründeten, hatten wir etwas Angst, dass die Namensänderung vielleicht nicht akzeptiert werden würde, merken nun aber, wie gut sie aufgenommen wird. In einem Jahr gibt es möglicherweise nur noch das UN Studio.

Weist der neue Name auch auf eine neue Interpretation von Autorenschaft hin?

BvB: Ja, zumindest in dem Sinn, dass wir an ein Konzept des Berufes glauben, das sich von der klassischen Arbeitsweise abhebt. Natürlich ist es weiterhin der Architekt, bei dem alle Fäden zusammenlaufen und der entscheidet, wie ein Projekt im Detail bewältigt werden muss. Unsere Strategie ist ein kooperativer Prozess, in dem ich ähnlich einem Dirigenten agiere, der sich innerhalb des Orchesters bewegt - wie zum Beispiel John Cage - und nicht davor steht. UN Studio funktioniert ein bisschen so wie die DreamWorks Studios von Steven Spielberg. Wir möchten auch Leute anderer Disziplinen in unser Netzwerk aufnehmen. Wir haben bereits Grafikdesigner, die bei uns zusätzlich ihren eigenen Aktivitäten nachgehen und nicht von mir abhängig sind.

Wie groß ist bei dieser Bürostruktur die Gefahr, die Kontrolle zu verlieren?

BvB: Unserer Meinung nach eröffnet sie dem Architekten einen tieferen Zugang zu seinem eigenen Beruf und zu anderen Disziplinen. Der Architekt wird zum Mediator, zu einem public scientist, der im Spannungsfeld von Politik und Öffentlichkeit agiert und gegebenenfalls vermittelt.

Ihr neues Buch MOVE wird als Manifest betrachtet. Ist es ein Manifest für eine neue Architektur oder für einen neuen Architekten?

BvB: In erster Linie geht es um eine neue Auffassung des Berufes, es ist also eher ein Manifest zur Praxis, wobei wir nicht dogmatisch vorgehen. Wir sagen vielmehr, dass wir unsere eigene Politik, Architektur zu machen und Projekte zu organisieren, überdenken müssen. Wenn wir mit großen städtebaulichen oder öffentlichen Projekten beauftragt werden, haben wir mit unterschiedlichen Kunden zu tun. Der Einsatz neuer Kommunikationstechniken kann beitragen, Auftraggebern und Politikern Projekte besser zu veranschaulichen und Zusammenhänge zu verdeutlichen. Wir sind sehr daran interessiert herauszufinden, wie neue Technologien die Projektorganisation beeinflussen können. Es geht also nicht nur darum, Stimulator für eine andere Position des Architekten zu sein oder Dinge einfach neu zu benennen.

Drei Arbeitstechniken werden in MOVE besonders hervorgehoben: Diagramme, Hybridisierung und Mediation.

BvB: Die Mediation ist am wichtigsten, weil sie alle anderen Techniken und Disziplinen miteinbezieht. Wir haben nur die Bereiche der diagrammatischen Darstellung (die losgelöst von linearer Darstellung oder Sprache präzise Aussagen zu funktionalen Anforderungen zulässt) und die Hybridisation (Anm.: die Fusion von Konstruktion, Materialien, Wegführung, Raum) im Buch näher ausgeführt. Wir könnten noch über fünf andere Techniken reden.

Zu den Slogans des UN Studio zählt auch „Deep Planning“. Was bedeutet das?

BvB: Ein Deep Plan beinhaltet Infrastruktur, Städtebau, Ökonomie, Konstruktion und den Faktor Zeit. Vereinfacht ausgedrückt veranschaulicht der Deep Plan, wie das Leben, das Schlafen und das Arbeiten innerhalb von Städten funktioniert, und er läßt Untersuchungen zu, welche Infrastruktur welche Auswirkung auf das gesamte Programm hat. Wichtig ist, dass es ein ständiges Ping-Pong zwischen digitaler, virtueller und greifbarer menschlicher Information bleibt. Wir möchten uns nicht auf die völlig abstrakte Computerebene beschränken.

Das Bild, das Sie vom Architekten zeichnen, ist das eines Generalisten.

BvB: Wir arbeiten in so vielen Bereichen, auch sozial und politisch. Wie die wunderbare Situation in Holland zeigt, hat Architektur großen Einfluss auf das Alltagsleben. Jede Art von Lifestyle, bestimmte Rituale, das Alltagsleben stehen in enger Beziehung zu Architektur und Städtebau und sollten analysiert und verstanden werden.

Ist dieses Selbstverständnis von Architektur spezifisch für die Niederlande?

BvB: Wahrscheinlich ist die Situation hier sehr gut, weil wir die Unterstützung der Politik haben. Die Stadtpolitiker gehören meiner Generation an und trachten nach zeitgemäßen Veränderungen. Aber ich fürchte, dass in Holland vieles zu sehr nach ökonomischen Gesichtspunkten gesehen wird. Die soziale Situation ist gut, und es herrscht eine unglaubliche Dynamik. Doch wir betreiben zu wenig Forschung, und das ist meine Kritik an den Architekten hier in Holland. Sie produzieren nur Produkte. Im UN Studio wenden wir fünfzig Prozent unserer Arbeit für Forschung auf.

Das ist aber alles unbezahlte Arbeit.

BvB: Das meiste davon, ja. So gesehen sind wir eine Non-Profit-Organisation. Ein Architekt muss natürlich auch überleben, und wir wissen eigentlich ganz gut, wie.

Was beabsichtigten Sie mit der Publikation von MOVE?

BvB: Es ist vor allem ein Tagebuch, über das wir in einen Kommunikationsprozess treten und unsere Arbeitsweise darlegen möchten. Architekten sollten mehr kommunizieren und eine offene Diskussion über ihr Tun zulassen. Ein Architekt ist wie ein Politiker. Wir verantworten eine Menge an Geldern, haben Einfluss auf den öffentlichen Raum und sollten uns daher in einem kritischen Feld bewegen. Ich schätze Kritik. Das schärft die Positionierung und bringt uns weiter.

Soll das neue Rollenbild auch in die Lehre an den Universitäten eindringen?

BvB: Meiner Ansicht nach sollte sich die Ausbildung mit den aktuellen Veränderungen des Marktes, mit neuen Bautechnologien und Produktionsbedingungen intensiv auseinandersetzen. Studenten und angehende Architekten müssen über alle neuen Planungsstrategien unterrichtet sein, um zu verstehen, wie sie den Beruf in Zukunft ausüben können.

Worauf würde sich Ihre Lehre konzentrieren?

BvB: Wichtig ist, dass die Studenten begreifen, was es bedeutet, für die Öffentlichkeit zu bauen. Ein anderer Schwerpunkt ist das Wissen über Materialien und ihre Eigenschaften. Studenten sollten auf einer Ebene ausgebildet werden, auf der es ihnen möglich ist, selbst forschend aktiv zu werden. Durch diese Art der Ausbildung können sie im Gegensatz zu den üblichen Lehrmethoden ihre individuellen persönlichen Fähigkeiten ent- decken. Traditionelles Basiswissen ist wichtig, aber noch wichtiger als technische Fähigkeiten ist das Wissen um die umfassende Qualität von Architektur.

Es geht also darum, neue Herangehensweisen an den Entwurf aufzuzeigen?

BvB: Ja, besonders wie die Vorstellungskraft durch neue Methoden stimuliert werden kann. Ich bin auch sehr an Prototypen von Raum-Zeit-Modellen interessiert. Die Art, wie Raum sich formt und artikuliert, muss völlig neu konzipiert werden. Wir sollten mehr in topologischen Organisationen, wie ich das nenne, denken, in denen Aspekte von Landschaft, Städtebau, Ingenieurbau und Architektur vereint werden.

Wie wichtig ist die bildende Kunst für Sie? Es fiel mir auf, dass Sie in Publikationen sehr viele Ihrer Projekte und Ideen mit Werken von Künstlern illustrieren.

BvB: Ich finde Künstler manchmal inspirierender als Architekten. Wenn ich nach architektonischen Vorbildern gefragt werde, antworte ich immer, dass ich nie welche hatte. Natürlich waren einzelne Aspekte wichtig, zum Beispiel, wie Le Corbusier in dieser Wechselbeziehung zwischen Malerei und Architektur agierte. Was ich an den guten Künstlern mag, ist ihr unglaubliches Vorstellungsvermögen, bestimmte Denkrichtungen zu verbinden. Sie konstruieren mental anders als Architekten.


Was ist der Stand der Dinge bei Ihren Projekten für Graz und Innsbruck?

BvB: Das Innsbrucker Umspannwerk, schätze ich, wird in einem Jahr so gut wie fertig sein. Das Musikhaus und Musiktheater Graz geht auch gut voran, und ich bin optimistisch, dass es wie geplant Ende 2002 fertig ist. Ich bin sehr am Baugeschehen in Österreich interessiert. Die Detailqualität ist sehr gut. Das Interesse am Handwerk scheint höher zu sein als in Holland, wo man im Bereich der Organisation und Bauproduktion glaube ich erfinderischer ist.


Sie zählen mittlerweile zu den international anerkanntesten Architekten. Sind Sie so etwas wie der Kronprinz Ihres holländischen Kollegen Rem Koolhaas?

BvB: Ja, natürlich (lacht). Nein, um ernst zu bleiben: Wir sehen uns beide nicht als holländische Architekten. Wir haben mehr Möglichkeiten in Amerika denn je und fühlen uns total international. Es ist sehr beliebt, uns zu vergleichen, die Zeitschrift A+U hat uns unter dem Titel „Rem and Ben“ eine Ausgabe gewidmet. Aber wir haben keine familiäre Beziehung.

Der Standard, Sa., 1999.09.25

07. Januar 2000Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Manhattan an der Maas

Seit den sechziger Jahren haben sich die Aktivitäten in den meisten europäischen Hafenstädten verlagert: in Rotterdam beispielsweise in Richtung Europort an der Maas-Mündung. Brachliegende ehemalige Hafenflächen und leerstehende Gebäude waren die Folge. Auf der Maas-Halbinsel Kop van Zuid wandeln sie sich nach einem städtebaulichen Plan von Teun Koolhaas seit Mitte der achtziger Jahre zu einem zentrumsnahen Quartier.

Seit den sechziger Jahren haben sich die Aktivitäten in den meisten europäischen Hafenstädten verlagert: in Rotterdam beispielsweise in Richtung Europort an der Maas-Mündung. Brachliegende ehemalige Hafenflächen und leerstehende Gebäude waren die Folge. Auf der Maas-Halbinsel Kop van Zuid wandeln sie sich nach einem städtebaulichen Plan von Teun Koolhaas seit Mitte der achtziger Jahre zu einem zentrumsnahen Quartier.

Die Gegensätze zwischen Amsterdam und Rotterdam sind seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich stärker geworden: Während sich die pittoreske, historisch gewachsene Innenstadt von Amsterdam nach wie vor durch eine homogene Höhe auszeichnet, erinnern in Rotterdam nur noch wenige Strassenzüge und Einzelbauten an die Zeit vor 1940, als deutsche Bomben die Stadt weitgehend zerstörten. Nach dem Krieg wurde die Maas- Metropole fast vollständig in neuen Formen wiederaufgebaut. Sie bietet heute fast das Bild einer amerikanischen Stadt.


Musterstadt der Moderne

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatte sich die Bebauung Rotterdams noch ausschliesslich auf die Bereiche nördlich der Maas erstreckt. Erst als die Hafenbecken nach und nach zum südlichen Ufer hin verlegt wurden, begann sich die Stadt zunehmend auch hierhin auszubreiten. Im Verlauf von nur 25 Jahren wurden mehr als 120 Hektar Agrarland zum Hafengebiet umgewandelt. Die stetig ansteigende Einwohnerzahl - die Bevölkerung Rotterdams wuchs um 1900 jährlich um rund 10 000 Menschen - führte seit 1916 zum Bau zahlreicher öffentlicher Wohnkomplexe, darunter bedeutende Projekte von Michiel Brinkman und dem damals neu eingesetzten Stadtarchitekten Jacobus J. Oud, der zwischen 1919 und 1930 Siedlungen in den Stadtteilen Spangen, Tusschendijken und Kiefhoek schuf. In der Folge entwickelte sich Rotterdam zu einer regelrechten Musterstadt der Moderne. Aus der gleichen Zeit stammt auch die im Nordwesten Rotterdams gelegene Van-Nelle-Fabrik von Brinkman & Van der Vlugt (1925-31), die noch heute als Ikone des Neuen Bauens gefeiert wird.

Nach dem deutschen Angriff im Mai 1940 blieben nur noch wenige innerstädtische Gebäude erhalten, darunter das Rathaus von 1920, das Postamt von 1923 und die gerade erst fertiggestellte Rotterdamer Börse. Statt eines Wiederaufbaus entschied man sich in Rotterdam jedoch konsequent für einen grossflächigen Neuaufbau. Federführend zeigte sich dabei vor allem das Büro Van den Broek & Bakema, das seit Beginn der fünfziger Jahre unter Beibehaltung der Maximen der Moderne unter anderem die berühmt gewordene Fussgängerzone De Lijnbaan errichtete.

War es seit Ende der sechziger Jahre eher Amsterdam, das mit den Forum-Architekten um Herman Hertzberger und dem vor kurzem verstorbenen Aldo van Eyck den niederländischen Architekturdiskurs bestimmte, so prognostizierte Rem Koolhaas Anfang der achtziger Jahre, dass nun in Rotterdam in städtebaulicher und architektonischer Hinsicht vieles geschehen werde. Koolhaas sollte recht behalten, denn tatsächlich wurde seitdem eine stattliche Anzahl städtebaulicher Projekte geplant und realisiert, mit teilweise atemberaubender Geschwindigkeit, die in anderen europäischen Städten - abgesehen vielleicht vom wiedervereinigten Berlin - so niemals denkbar wäre: Fast zeitgleich mit dem Bau der Kunsthalle von Rem Koolhaas (1988-92) wurde unweit davon Jo Coenens Niederländisches Architekturinstitut fertiggestellt. Im sogenannten Weena-Gebiet im Inneren der City, wo eine von Koolhaas entworfene Busstation am Hauptbahnhof die ankommenden Bahnreisenden begrüsst, war schon ab Mitte der achtziger Jahre in nur fünf Jahren Bauzeit ein Boulevard mit Hochhäusern im amerikanischen Stil errichtet worden.

Der Höhepunkt der städtebaulichen Entwicklung steht Rotterdam jedoch wohl erst noch bevor: Waren es durch die Verlegung der Hafenaktivitäten zum Europort hin zuerst die nördlichen Hafengebiete (De Oude Haven, De Leuvehaven und Delfshaven-Buitendijks), die eine Wohnfunktion bekamen, konzentriert sich die Entwicklung Rotterdams gegenwärtig auf die südliche Maas- Halbinsel Kop van Zuid. Bis zu Beginn der achtziger Jahre wohnten hier fast ausschliesslich Hafenarbeiter. Die Auslagerung der Hafenaktivitäten und die damit einhergehende Rezession führten im Viertel zu hoher Arbeitslosigkeit und steigender Kriminalität. Die Stadt erklärte die alten Hafengebiete daher zum Sanierungsgebiet.

Im Auftrag der Stadt Rotterdam entwickelte Teun Koolhaas, der Neffe von Rem Koolhaas, 1987 einen städtebaulichen Plan, der - durch die Londoner Docklands inspiriert - eine für die damalige Zeit neuartige Metamorphose des heruntergekommenen Hafengebietes vorsah. Ausgangspunkt des Konzepts war eine neue Verbindung zum Festland, die den zuvor durch die Maas abgeschnittenen Süden Rotterdams an das Zentrum anschliessen und die infrastrukturelle Voraussetzung für den Bau von 5300 Sozial- und Eigentumswohnungen, 380 000 Quadratmetern Bürofläche sowie Läden, Restaurants, Sport- und Freizeiteinrichtungen bilden sollte. Der Plan zeigt sich ähnlich rigoros, wie die Planungen zum Wiederaufbau der Stadt nach dem Weltkrieg: Auch bei der Neuordnung des ehemaligen Hafenquartiers Kop van Zuid sollten nur wenige der historischen Bauten erhalten bleiben.

Die Anbindung an die Innenstadt wurde 1996 durch die Eröffnung der atemberaubenden, deutlich an Arbeiten von Santiago Calatrava orientierten Erasmus-Brücke von Ben van Berkel erreicht - ein regelrechter «Quantensprung über die Maas», wie die Rotterdamer meinen. Seitdem wandelt sich die Maas-Halbinsel vom ehemaligen Industriegebiet zu einem nur noch wenige Minuten von der Innenstadt entfernten Quartier mit Wohn- und Dienstleistungsflächen. Um die architektonische Qualität der Neubauten zu sichern, werden die eingereichten Pläne der vorgesehenen Neubauten regelmässig durch die Mitglieder eines von der Stadtverwaltung eingesetzten internationalen Ausschusses von Sachverständigen begutachtet. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere dem städtebaulichen Zusammenhang der architektonischen Entwürfe. Ohne ein positives Gutachten des Quality Team erteilt die Stadt keine Baugenehmigung.


Architektonische Qualitätskontrolle

Erster Höhepunkt des neuen Stadtquartiers war die grossflächige Wohnbebauung de Landtong von Frits van Dongen (de Architekten Cie, Amsterdam), die fast zeitgleich mit der Erasmus- Brücke fertiggestellt wurde. Das Raumprogramm der dreiseitig vom Wasser umspülten «Landzunge» zwischen Spoorweghaven und Binnenhaven besteht aus insgesamt 623 Wohneinheiten, die von van Dongen auf unterschiedlich ausgebildete Wohnblöcke verteilt wurden: In einer wohlüberlegten Komposition aus Masse, Material und Typologie gehen fünf frei gestellte, zum Teil terrassierte Riegel in drei Turmbauten über, die aus dem viergeschossigen Sockel des Komplexes emporsteigen. Einem elfgeschossigen Riegel zur nördlich gelegenen Maas hin, der in seiner strengen Komposition die Backsteinarchitektur industrieller Hafengebäude zu zitieren sucht, steht dabei nach Süden hin ein etwas flacher gehaltener Riegel mit immerhin noch acht Geschossen entgegen. Besonders markant sind jedoch die mittleren drei Riegel der Landtong ausgebildet, die terrassenartig von vier Geschossen im Süden bis auf elf Geschosse im Norden ansteigen. Weiter südlich schliesst sich dem Komplex ein offeneres Wohngebiet mit überwiegend zwei- bis viergeschossigen Häusern an.

Im gegenüberliegenden Entrepothaven, einem inzwischen als Jachthafen genutzten Teil des Binnenhavens, wurde hingegen versucht, die besondere Atmosphäre des Ortes zu bewahren. Neben alten Hafenkränen blieb hier auch das für Rotterdamer Verhältnisse schon fast «antike» ehemalige Lagerhaus Der vijf Werelddelen (Die fünf Kontinente) aus dem Jahr 1879 erhalten. In den oberen Geschossen des Backsteingebäudes wurden rund einhundert neue Wohneinheiten eingerichtet, im Erdgeschoss sorgen Restaurants und Läden für Hafenatmosphäre. Weniger gelungen erscheint dagegen die gegenüberliegende Seite des Hafenbeckens, wo vergeblich versucht wurde, mit einer modernen Architektursprache an das Vorbild des alten Lagerhauses anzuknüpfen.

Mehr Einfühlungsvermögen beweist ein halbkreisförmig angelegter, mit Fassaden aus Holz verkleideter Wohnblock von Cepezed (1994-95), der am nordwestlichen Ende des ehemaligen Lagerhauses einen fliessenden Übergang zwischen einem Platz und dem angrenzenden Binnenhaven schafft. Mit seiner Kreisform zitiert das Gebäude überdies geschickt die ebenfalls halbkreisförmigen Enden eines langgestreckten, annähernd V-förmigen Wohnblocks von Carel Weeber, der südlich des Entrepothavens 549 Wohnungen zur Verfügung stellt. Der Bau sorgt für einen wichtigen städtebaulichen Akzent im östlichen Bereich des Kop van Zuid.


Türme und Theater

Die Rosestraat weiter abwärts, direkt neben dem Bahnhof Rotterdam-Zuid gelegen, schliesst das 1997 durch das Architektenduo Bolles & Wilson aus Münster und das Rotterdamer Büro Kruisheer Elffers fertiggestellte Albeda College den Kop van Zuid nach Süden hin ab. Auf dem dreieckigen Gelände treffen zwei unterschiedlich genutzte dreigeschossige Gebäudeflügel auf spitzem Winkel zusammen und steigen von dort zu einem raffiniert gestalteten, vertikalen Baukörper auf. Die Fassade des imposanten Turms weicht im Erdgeschoss des Gebäudes einige Meter zurück und neigt sich in den oberen Stockwerken weit nach vorn, so dass der Turm fast zu schweben scheint - ein überaus gelungener Bezug zum expressiv geknickten Pylon der Erasmus-Brücke!

Vom Albeda College führt der Rundgang wieder nach Norden; vorbei am Hillekop Plein, wo die Delfter Mecanoo-Architekten Ende der achtziger Jahre einen wellenförmig angelegten Wohnkomplex geschaffen haben, und schliesslich wieder zurück zur Erasmus-Brücke. Kurz vor der Brücke trifft der Blick auf den wuchtigen Wilhelminahof vom Rotterdamer Büro Kraaijvanger & Urbis (1994-97), der auf insgesamt 15 Geschossen rund 120 000 Quadratmeter Bürofläche bietet. Der in orangerotem Backstein gehaltene Baukörper dient als weithin sichtbare Eingangssituation des neuen Quartiers und stellt den zurzeit noch wichtigsten städtebaulichen Punkt für die Erschliessung des Kop van Zuid dar - sein gewaltiges Nordportal wirkt dabei fast wie eine steinerne Kulisse für das ebenfalls von Kraaijvanger & Urbis entworfene Gerichtssaalgebäude sowie für einen halbkreisförmig angelegten Büroturm von Cees Dam. Nach Osten und Süden hin wird der Wilhelminahof in den nächsten Jahren durch einen rund 135 Meter hohen Büroturm sowie durch zwei weitere grossflächige Gebäudekomplexe erweitert: auf der Zuidkade 1 sollen in vier Gebäuden Wohn- und Büroflächen von insgesamt 50 000 Quadratmetern entstehen, auf der Zuidkade 2 ist ein Ensemble mit rund 80 000 Quadratmeter Bürofläche geplant.

Direkt gegenüber dem Wilhelminahof wird gegenwärtig nach Plänen von Bolles & Wilson das Luxor-Theater errichtet. Hinter seinen tomatenroten Aussenwänden soll das Musicaltheater Platz für rund 1500 Besucher bereitstellen. Das Münsteraner Büro konnte sich mit seinem ungewöhnlichen Entwurf unter anderem gegen einen Vorschlag von Rem Koolhaas durchsetzen. Von der Baustelle des Luxor-Theaters sind es nur noch wenige hundert Meter zum Wilhelminapier, dem historischen Zentrum des Kop van Zuid. Rotterdam spielte eine wichtige Rolle bei der Emigration nach Amerika, seit 1873 stachen vom Wilhelminapier aus Tausende von Passagieren auf Schiffen der späteren Holland-Amerika-Linie (HAL) in See. Zurzeit wird die schmale Landzunge noch durch das prachtvolle, mit Jugendstilmotiven geschmückte Verwaltungsgebäude der HAL bestimmt, das zwischen 1901 und 1920 vom Büro Müller und Van der Tak realisiert wurde. Nach der aufwendigen Restaurierung des Gebäudes mit den zwei kupferfarbenen Türmen hat sich hier 1993 das Hotel New York eingerichtet, das als Geheimtip unter Rotterdam-Reisenden gilt.


Zukunftsprojekte

Einige Meter weiter schliesst sich das von Brinkman, Van den Broek & Bakema errichtete Schiffterminal (1937-53) und Norman Fosters Meerforschungszentrum (1994) an. Doch der nostalgische Blick in die Vergangenheit trügt: Schon die Baukräne verraten, dass sich das Gesicht des Wilhelminapiers in einigen Jahren vollständig gewandelt haben wird. Nach Fosters Plänen soll auf dem langgestreckten Pier eine doppelreihige Hochhaus-Skyline entstehen - die Rotterdamer sprechen schon jetzt erwartungsvoll von «Manhattan an der Maas». Den Auftakt des gigantischen Vorhabens bildet das von Foster geplante World Port Center, mit dessen Bau 1998 begonnen wurde.

Weniger lang brauchen die Rotterdamer auf Renzo Pianos neues Hauptgebäude der PTT Telecom zu warten. Der rund 100 Meter hohe Bau am Fuss der Erasmus-Brücke soll demnächst fertiggestellt sein. Die nach Norden, zur Stadt hin ausgerichtete Fassade neigt sich ähnlich wie das Albeda College von Bolles & Wilson weit nach vorn. «Das Gebäude ist Teil des Rotterdamer Hafens, die Kräne stehen hier auch nicht gerade», erläutert der italienische Architekt seinen Entwurf. Dessen zentrales Element ist ein ebenfalls rund 100 Meter hoher und schräg stehender, durch einen mächtigen Pfeiler gestützter Bildschirm, der die Reklamewände auf dem Times Square in New York, dem Piccadilly Circus in London, vor allem aber von «Blade Runner»-City zitiert. Die im oberen Teil verbreiteten Botschaften dieser überdimensionalen Zeitung sollen auch noch am anderen Maasufer lesbar sein. Wer immer also eines der 290 Luxusappartements in De Hoge Heren am gegenüberliegenden Kopf der Erasmus-Brücke beziehen wird, der kann aus den auf einem wuchtigen Sockel stehenden Zwillingstürmen von Wiel Arets stets die neusten Nachrichten erblicken.

Das ehrgeizige Projekt Kop van Zuid stellt gegenwärtig die zentrale städtebauliche Aufgabe Rotterdams dar. Ein gewaltiger Umbruch - die Betriebsamkeit des einst grössten Binnenhafens der Welt weicht Schritt für Schritt der postindustriellen Stadt mit ihren wuchtigen Büro- und Wohnkomplexen. Schnell drängen sich da Vergleiche mit der Umnutzung der ehemaligen Osthäfen in Amsterdam auf, wo auf den erhalten gebliebenen Hafenmolen KNSM, Java, Borneo und Sporenburg demnächst Häuser für insgesamt 20 000 Bewohner fertiggestellt sein werden (NZZ 5. 3. 99) - ein ähnlich gewaltiges Projekt, das jedoch anders als der umgestaltete Kop van Zuid kaum gewerbliche Flächen vorsieht.

Die Erneuerung des Kop van Zuid wird zwar erst in einigen Jahren abgeschlossen sein, doch schon jetzt sieht sich die Stadtverwaltung dazu ermutigt, weitere potentielle Stadterneuerungsgebiete in den Blick zu fassen. Und als sei es damit noch nicht genug, sollen demnächst zwei Bauwerke die Höhe des seit 1960 höchsten Turms der Niederlande, des Euromastes, überbieten: Für ein Wohnhaus am Boompjes Boulevard am nördlichen Maasufer ist eine Höhe von über 200 Metern vorgesehen, und für einen in unmittelbarer Nähe des Euromastes geplanten Turm werden sogar 300 Meter angestrebt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.01.07

07. Dezember 2001Helmut Adam
Neue Zürcher Zeitung

Home and Castle

«Domestic Delights» im NAI Rotterdam

«Domestic Delights» im NAI Rotterdam

Das jüngste Memorandum zur Raumordnung in den Niederlanden will den Hauseigentümern künftig Mitspracherecht bei der Gestaltung des Hauses garantieren. Da mag die Ausstellung «Domestic Delights» im Niederländischen Architekturinstitut Rotterdam zur rechten Zeit kommen. Anhand ausgewählter Zeichnungen, Modelle und Publikationen aus Museumsbesitz soll sich den Besuchern ein Panorama eines Jahrhunderts niederländischen Eigenheimbaus darbieten. So reicht die Spannweite von Hendrik Petrus Berlages Haus für den Psychologen Heymans (1895)bis hin zu Rem Koolhaas' Patiovillen in Rotterdam (1988). «City», «Suburbia», «CountryEstates» sind die vertikalen Schnitte betitelt, welche die Organisatoren durch die niederländische Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts legen; hinzu kommt mit indonesischen Beispielen etwas Kolonialarchitektur und mit Entenhäusern, Hühnerställen und Fasanerien das Thema Eigenheim für Tiere. Man blickt gerne auf die Exponate, ob es sich um die Dekorationsentwürfe von Berlage handelt, um P. J. C. Cuypers' ausführlich dokumentierten Umbau des mittelalterlichen Kastells de Haar in der Nähe von Utrecht oder um Piet Bloms mit Zwiebeltürmchen versehene russische Villa im Norden von Amersfoort (1993). Als Einblick in die Schätze des NAI-Archivs überzeugt die Schau. Als Überblick über die holländische Einfamilienhausarchitektur enttäuscht sie.


[Uit Eigen Huis - Domestic Delights. The finest houses from the collection of the NAI. Bis 27. Januar; kein Katalog.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.12.07

05. März 1999Daniel Niggli
Neue Zürcher Zeitung

Suche nach einem neuen Gleichgewicht

Der Umbau des östlichen Hafengebiets von Amsterdam illustriert in fast exemplarischer Art die sozio-ökonomischen Veränderungen der holländischen Gesellschaft der neunziger Jahre und deren Auswirkungen auf die stadtplanerischen Entwicklungen.

Der Umbau des östlichen Hafengebiets von Amsterdam illustriert in fast exemplarischer Art die sozio-ökonomischen Veränderungen der holländischen Gesellschaft der neunziger Jahre und deren Auswirkungen auf die stadtplanerischen Entwicklungen.

Holland mit seiner langen Tradition von staatlich gelenkter Wohnungsbaupolitik vollzog im Rahmen allgemeiner Deregulierungsmassnahmen in den späten achtziger Jahren eine Wende in der Wohnungsbaupolitik. Die Dominanz des Sozialwohnungsbaus sollte durch eine verstärkte Rolle des freien Marktes abgelöst werden. Zu diesem Zweck wurden die Wohnbauvereinigungen privatisiert und die staatlich organisierte Subventions- und Distributionspolitik liberalisiert. Damit sollte aus einer angebotsorientierten Wohnungsbaupolitik eine nachfrageorientierte Marktsituation entstehen, in welcher der nichtsubventionierte Markt, in einer Umkehrung der bestehenden Verhältnisse, rund 70 Prozent des Wohnbedarfs abdeckt. Gleichzeitig publizierte die niederländische Regierung im Jahre 1991 den vierten Bericht zur räumlichen Entwicklung (Vinex) und errechnete darin einen Bedarf von 800 000 neuen Wohnungen bis zum Jahre 2005. Diese werden vor allem auf zehn vom Staat bestimmten Schwerpunktgebieten (Vinex-Standorte) in der Nähe von Grossstädten mit guter infrastruktureller Anbindung entstehen. Da die Wohnungsbaupolitik und die Stadtentwicklung in den Niederlanden seit je sehr eng miteinander verknüpft sind, verliert die öffentliche Hand mit ihrem massiven Rückzug aus dem Wohnungsbau ein wichtiges Steuerungs- und Kontrollinstrument für die Raumordnung. Während die staatlichen Behörden im Wohnungsbau früher faktisch eine Monopolstellung innehatten, sind sie heute zur Kooperation mit Investoren und Projektentwicklern gezwungen.

Vielschichtigkeit und Differenzierung

Das östliche Hafengebiet von Amsterdam wurde Ende der siebziger Jahre durch die Auslagerung der Hafenaktivitäten zu Brachland. Für die Stadt als alleinige Besitzerin boten diese Flächen die Chance, in unmittelbarer Nähe zum Zentrum einen neuen Stadtteil zu realisieren. In einem langwierigen planerischen und politischen Prozess veränderte sich die Wahrnehmung des Hafengebiets. Wollte man zu Beginn der achtziger Jahre noch einzelne Hafenbecken zuschütten und das Gebiet mit einer homogenen Blockbebauung auffüllen und die Strukturen des angrenzenden Stadtviertels weiterführen, erkannte man Anfang der neunziger Jahre das räumliche und atmosphärische Potential der bestehenden Hafenanlage. Die ehemaligen Hafenmolen KNSM-Eiland, Java-Eiland und Borneo/Sporenburg wurden in ihrer ursprünglichen Form erhalten; und die Hafenbecken und das offene Wasser sollten als übergeordnetes und identitätsstiftendes Element genutzt werden. Der neue Stadtteil wird dabei zu einer Hafenlandschaft, in der viele Elemente an die ehemalige Funktion erinnern.

Seit der Kritik an der Monotonie der Wiederaufbauarchitektur in der Nachkriegszeit steht der Wunsch nach Vielseitigkeit und Differenzierung zuoberst auf der Prioritätenliste der holländischen Planungsbehörden. Nach diesen Grundsätzen wurde das östliche Hafengebiet bewusst als Patchwork nach den Entwürfen verschiedener Planer konzipiert. Innerhalb von nur sechs Jahren entstanden so drei verschiedene Masterpläne mit rund 5500 Wohnungen für die drei Teilgebiete.

Das KNSM-Eiland bildete den Auftakt der Planungsarbeiten auf den ehemaligen Hafenmolen. Dabei galt es, grundsätzlich festzulegen, in welcher Beziehung die neuen Gebäude zum Wasser stehen und in welcher Form auf bestehende Strukturen reagiert werden sollte. Die existierenden Lagerhäuser waren beidseitig parallel zu den langgezogenen Quaimauern angeordnet. Aus diesem einfachen, funktionalen Prinzip ergab sich eine deutliche Unterscheidung zwischen der Wasserfront und dem dazwischenliegenden, verkehrsführenden Raum. Das Stadtplanungsamt (DRO) wollte in seinem Vorschlag an diesem Bebauungsprinzip festhalten, da dadurch ein maximaler Kontrast zwischen den Quaianlagen und dem eher privaten und windgeschützten Innenraum erreicht werden konnte. Zusätzlich stehen so eine Mehrzahl der Wohnungen in direkter Beziehung zum Wasser. Alternativ dazu stellten van Herk & de Kleyn eine offene und kleinteilige Bebauungsstruktur quer zu den Quaimauern vor - ähnlich der vom Office for Metropolitan Architecture (OMA) realisierten Siedlung Ijplein in Amsterdam Nord -, die eine Vielzahl von räumlichen Beziehungen zum Wasser ermöglicht hätte.

Die Stadt entschied sich schliesslich für die Vorstellung des DRO und beauftragte Jo Coenen mit der Ausarbeitung eines Masterplans. Dieser reihte entlang eines breiten, leicht aus der Mitte der Insel verschobenen Erschliessungsboulevards grosse Bauvolumen mit unterschiedlichen Baukörpertiefen auf, die in einem monumentalen, kreisförmigen Rundbau kulminieren. Verschiedene bestehende Hafengebäude wurden dabei geschickt in die neue Komposition mit einbezogen. Die den Häuserblocks zugeordneten Aussenflächen wurden als windgeschützte Räume in die Volumetrie integriert. Vor allem die auf der Südseite placierten Superblocks, darunter das epochale Piräusgebäude von Hans Kollhoff und Christian Rapp, verweisen mit ihrer Grösse auf den Massstab der ehemaligen Lagerhäuser und reagieren auf die Weite der Wasserlandschaft.

Historische Bezüge

Das Prinzip der befestigten Ränder wurde auch zum Ausgangspunkt für das benachbarte Java- Eiland. Sjoerd Soeters, ein Vertreter der holländischen Postmoderne, setzte sich mit seinem Vorschlag in einem Studienauftrag gegen zwei Konkurrenten durch. Soeters akzeptierte die Vorgabe des DRO und übernahm in seinem Plan die sechsgeschossige an der Süd- und die achtgeschossige Randbebauung an der Nordseite der Halbinsel. Um die erhebliche Dimension dieser langgezogenen Struktur zu relativieren, zerschnitt und unterteilte er die Halbinsel mit vier Quergrachten, um sie anschliessend wieder mit Bogenbrücken zu verbinden. Als Vorbild für seine Städtebauoperation diente ihm dabei der historische Grachtengürtel Amsterdams. Mit der Absicht, grösstmögliche Vielfalt zu garantieren, wurde die Bebauungsstruktur in Kleineinheiten segmentiert, die analog zum historischen Vorbild in Höhe, Farbe und Materialaufbau differenziert sind. Die einzelnen Einheiten repräsentieren verschiedene Wohnungstypen und Lifestyles, wodurch die Aufteilung auch in programmatischer Hinsicht vollzogen wird. Entgegen der ursprünglichen Absicht, alle 5,4 Meter unterschiedliche Hauseinheiten aneinanderzureihen, wurden aus ökonomischen Gründen jeweils fünf Achsen zu einem Hausblock zusammengefügt. Gleichzeitig wurde die Zahl der beigezogenen Architekten für die Randbebauung auf fünf Architekten (Cruz & Ortiz, Rudy Uytenhaak, Kees Christiaanse, Sjoerd Soeters, Geurst & Schulze) limitiert. Deshalb wurden die erarbeiteten Prototypen repetiert und nach einem Zufallsprinzip auf die Gesamtlänge verteilt. Entlang der neuen Quergrachten schliesslich kommen vier- bis fünfgeschossige «Original- Grachtenhäuser» mit einem Achsabstand von 4,5 Metern zu stehen, die von neun jungen Architekten ausgearbeitet werden.

Die Projektion alter holländischer Städtebautypologien auf eine ehemalige Hafenmole steht in grösstmöglichem Kontrast zu Coenens Komposition von solitären Grossvolumen. Deren Baukörper homogenisieren die Vielfalt des Wohnens und vereinen sie zu einer hybriden Grossform. Das Rotterdamer Büro für Städtebautheorie Crimson bringt in seinem Buch «Reurb» die signifikanten Unterschiede dieser zwei Ansätze auf den Punkt. Sie charakterisieren Soeters Plan als einen Versuch, die Stadt aus der Keimzelle der idealen Wohneinheit heraus zu entwickeln, während Coenen in der Tradition des 19. Jahrhunderts mit den klassischen Elementen des Städtebaus wie Boulevard, Baublock und öffentlichem Raum beginne. Soeters stehe dabei in der Tradition von Aldo van Eyck, der eine direkte Beziehung zwischen architektonischer Differenzierung und sozialer Interaktion postuliere. Auch wenn beide Masterpläne fremde städtebauliche Konzepte auf das Hafengelände projiziert haben, trifft Coenens Plan doch viel mehr die Stimmung dieses Ortes, während Soeters pittoreske Collage eher deplaciert und in seiner forcierten Differenzierung sehr manieristisch wirkt.

Im Jahre 1992 begann der Planungsprozess für die letzten zwei Hafenmolen Borneo und Sporenburg. Als die Stadt realisierte, dass die Wohnungen dieser Etappe zeitgleich mit denjenigen von Java-Eiland auf den Markt kommen würden, war klar, dass hier eine andere Art von Wohnen angeboten werden musste. Der Anteil des subventionierten Wohnungsbaus wurde in der Entwicklung des östlichen Hafengebiets sukzessive von 100 Prozent in der ersten Bauetappe auf 50 Prozent auf KNSM-Eiland und 40 Prozent auf Java reduziert. Auf Borneo/Sporenburg sollte er schliesslich noch 30 Prozent ausmachen. Aus diesem Grund gab die Stadt das Bauland im Baurecht an private Projektentwickler ab. Gut zwei Drittel der 2200 Wohnungen auf Borneo/Sporenburg werden dabei von New Deal, einem eigens für das östliche Hafengebiet gegründeten Zusammenschluss aus vier Wohnungsbauvereinigungen und drei Generalunternehmern, erstellt.

Unsentimentale Flachverdichtung

Amsterdam leidet seit längerer Zeit unter der Abwanderung des Mittelstandes in suburbane Gebiete. Nach wie vor ist in Holland das Einfamilienhaus, dort traditionellerweise meist eine Reihenhauseinheit, die Wunschvorstellung von Wohnen. Das inoffizielle niederländische Planungsdogma der flachverdichteten Besiedlung und die ungebrochene Nachfrage führen dazu, dass ein Grossteil der neugeplanten Vinex-Gebiete aus riesigen Reihenhaussiedlungen mit einer Dichte von 30 Häusern pro Hektare besteht. Das ambitiöse Ziel der Stadt war es nun, als Alternative auf Innenstadtgebiet eine flache Bebauung mit 2200 Wohneinheiten anzubieten, in der 70 Prozent der Wohnungen direkt von der Strasse zugänglich sein sollten und 50 Prozent der Parkplätze auf der privaten Parzelle angeboten werden mussten. Die angestrebte Dichte entsprach, wie bereits auf KNSM- und Java-Eiland, 100 Einheiten pro Hektare. Im allgemeinen ist das holländische Bausystem von einem reibungslosen Ablauf eines standardisierten Planungs- und Bauprozesses geprägt. Plötzlich jedoch standen die involvierten Parteien vor einer Aufgabe mit vielen Unbekannten, und niemand wusste, wie diese planerischen Vorgaben umzusetzen waren. Erst diese Unsicherheiten jedoch generierten einen unorthodoxen und innovativen Planungsprozess.

Zwischen Superblock und Grachtenhaus

Sechs von der Stadt und New Deal beauftragte Architekten zeigten auf einer vorgegebenen Fläche auf, dass die Dichte von 100 Wohnungen pro Hektare architektonisch durchaus zu bewältigen war. Daraufhin wurde ein Studienauftrag an drei Planer vergeben, um diese Ideen städtebaulich umzusetzen. Die international bekannten Landschaftsarchitekten West 8 aus Rotterdam präsentierten schliesslich ein städtebauliches Projekt, welches die Vorgaben in ein ebenso einfaches wie radikales Konzept fasste. Die kompromisslose Umsetzung des Programms weist eine verblüffende Direktheit auf; fast drängen sich einem Begriffe wie «straight» oder «frisch» auf. In einer unsentimentalen Operation wurde die Problematik der Aufgabenstellung selber - und nicht mehr die Reinterpretation existierender Städtebaumodelle - zum urbanistischen Konzept. Um möglichst viel Bauland zu gewinnen, werden die Infrastruktur und der öffentliche Raum minimiert.

Der maximierte Profit aus dem optimal ausgenutzten Bauland deckt somit die reduzierten Kosten des öffentlichen Raums. Die Wasserflächen werden dabei als Kompensation für die minimalen Freiflächen betrachtet, während die privaten Aussenflächen in Form von Patios und Dachterrassen in die Hauseinheiten integriert werden. West 8 reduzierte im Unterschied zu den Machbarkeitsstudien die Bebauung auf durchgehend drei Geschosse mit einem überhöhten Sockelgeschoss von 3,5 Metern. Erst dadurch wurde es möglich, ausschliesslich Reihenhauseinheiten anzubieten. Um möglichst vielen Hauseinheiten einen direkten Strassenanschluss zu garantieren, wurden die Parzellen in die Tiefe organisiert und die Strassenfront minimiert.

Daraus resultierten zu Beginn 4 bis 5 Meter breite und 20 bis 40 Meter tiefe Bauparzellen. West 8 greifen mit diesem funktionalen Organisationsprinzip die Analogie zu Containerhäfen auf, bei denen zwischen den einzelnen Containerstapeln nur der absolut notwendige Zirkulationsraum freigehalten wird. Sechs Bebauungsstreifen bilden die Grundeinheit einer ersten Schicht, die wie ein Teppich über die beiden Landzungen ausgebreitet wird und deren Grundflächen gleichsam räumlich nachzeichnet. Im ursprünglichen Vorschlag transformierten West 8 das historische Grachtenhaus, welches traditionellerweise aus Vorder- und Hinterhaus besteht, in einen Patiohaus-Prototyp. Ähnlich Tadao Andos Suzuka-Patiohaus setzte sich dieser Typ aus zwei schmalen und tiefen Raumzonen zusammen - eine bebaut, die andere unbebaut. In einem zweiten Schritt wurden in diese erste, teppichartige Schicht drei Superblocks in präziser Beziehung zu vorhandenen Wahrzeichen der Umgebung wie Kollhoffs Piräusgebäude oder dem Shell-Hochhaus auf der anderen Flussseite gesetzt. Adriaan Geuze von West 8 vergleicht diese Massnahme mit Venedig, wo die Masse der Kanalhäuser durch einzelne Monumente differenziert und der monolitische Charakter der Stadtsilhouette gesprengt wird. Referenzpunkte und Blickbezüge werden geschaffen, welche dem Projekt eine landschaftliche Dimension verleihen, es in der Weite der Wasser- und Hafenlandschaft verankert und es gleichzeitig an die bestehende Stadt anbindet. - Auf den ersten Blick erscheint Borneo/Sporenburg wie eine Synthese aus Coenens Superblocks und einer kleinteiligen Grachtenhausromantik, doch der entscheidende Unterschied liegt in der Differenzierung zwischen urbanistischer Strategie und architektonischer Ausarbeitung. Während der Erfolg von Coenens Masterplan in grossem Masse von der architektonischen Qualität der einzelnen Blöcke abhängig ist, ist die städtebauliche Wirkung von Borneo/Sporenburg unabhängiger von architektonischen Momenten. Allerdings wird hier, im Gegensatz zu anderen gegenwärtigen Planungen, keine dynamische Entwicklungsmöglichkeit der Bebauung erreicht. Alle drei Masterpläne sind vielmehr strukturell wie programmatisch komplett determiniert. Der Vinex-Standort Leidse Rijn bei Utrecht von Max 1 hingegen löst die Stadtplanung von der Architektur ab und kontrolliert in erster Linie den öffentlichen Raum und die dazugehörige Infrastruktur. Damit bleibt die entstehende Architektur sowohl zeitlich als auch funktional flexibel.

Trotz der anschliessenden Anpassung an ökonomische Rahmenbedingungen und bautechnische Vorgaben - die Lamellenstruktur fiel dem auch zum Opfer - blieben die Planungsparameter unkonventionell genug, um von den beteiligten Architekten innovative Lösungen zu verlangen. Unter Einbezug von Kostenplanern und Bauunternehmern wurden die Projekte in verschiedenen Workshops optimiert und eine Vereinheitlichung des Fassadenmaterials festgelegt. Schliesslich erstellte New Deal auf Sporenburg achtzig Patiohäuser, um die potentielle Nachfrage auf dem Käufermarkt zu testen. Als sich dafür zweitausend Kaufwillige meldeten, waren auch die grössten Skeptiker überzeugt. Wäre dieser Marketingtest negativ verlaufen, dann hätte New Deal die Planungsarbeiten gestoppt.

Borneo/Sporenburg kann neben der Planung Leidse Rijn sicher als eine der repräsentativsten Planungen der Niederlande in den neunziger Jahren betrachtet werden. Sie verwenden die veränderten Parameter des sozio-ökonomischen Umfeldes und bilden sie in einem städtebaulichen Projekt ab. Das Bedürfnis der Gesellschaft nach zunehmender Intimisierung und Privatisierung manifestiert sich in einem Rückzug aus dem öffentlichen Raum in die introvertierte Wohneinheit. Während der freie Markt diese Nachfrage befriedigt, versucht der Staat, seine Investitionen in den öffentlichen Raum aus Geldmangel zu minimieren oder von privater Hand finanzieren zu lassen. In dem Sinne ist Borneo/Sporenburg als eine Reproduktion von Suburbia in der Stadt zu verstehen. Stadtbehörden und Marketingexperten vermarkten Borneo/Sporenburg denn auch unter dem Paradoxon «Urbanes Arkadien».

Kommerzielle und mediale Aspekte

Als die Regierung 1993 das faktische Ende der Wohnungsbausubventionspolitik bekanntgab, befürchteten viele Kritiker das Ende des Städtebaus und ein unkontrolliertes, vom Markt gesteuertes Planungschaos. Dagegen nehmen viele jüngere Architektur- und Planungsbüros die veränderte Marktsituation als Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Planungskonzepte wahr. Statt sich in ideologisch verklärter Rückbesinnung der neuen Situation zu verweigern, bedienen sie sich vorurteilslos der Möglichkeiten des veränderten Systems. Restriktionen und Einschränkungen enthalten für sie planerisches und architektonisches Potential. In der Überzeugung der Form- und Manipulierbarkeit der herrschenden Kräfte benützt sie der Planer, um ein Projekt zu «verkaufen». Dabei werden gerade kommerzielle und mediale Aspekte mit offensiven, zuweilen auch subversiven Angriffsstrategien für die Umsetzung ihrer Konzepte verwendet. Ihre unpolitische Haltung ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung der neunziger Jahre. In diesem Kräftespiel muss auch der Staat seine Rolle neu definieren und hier zu einem neuen Gleichgewicht mit dem freien Markt finden.

Borneo/Sporenburg zeigt eine neue Möglichkeit der Zusammenarbeit in Form einer Public-private partnership auf. Somit wird deutlich, dass auch im Bausektor das vielzitierte Poldermodell und konsensorientiertes Agieren politische und raumplanerische Lösungsansätze bietet. Darüber hinaus illustriert Borneo/Sporenburg die zunehmende Bedeutung der Landschaftsplanung in der gegenwärtigen Raumplanungsdiskussion in den Niederlanden. Die grossflächigen, flachverdichteten Bauvorhaben der Vinex-Standorte mit der dazugehörigen Infrastruktur werden das Bild des Landes einschneidend verändern

Gerade in Holland verwischen sich die Konturen von Kultur und Natur. Ein Grossteil des Landes ist künstlich erschaffen, und die Manipulation des Territoriums hat Tradition. Die neue Sicht der Stadterweiterung unter landschaftsarchitektonischen Aspekten überwindet die Gegensätze von Stadt und Land, von Bebautem und Unbebautem. Damit wird die urbane Landschaft zum Ausgangspunkt für grossmassstäbliche Interventionen als Alternative zur traditionellen Stadt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.03.05

07. September 2001Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Raffiniert verschachtelt

Wohnhäuser von MVRDV auf Borneo in Amsterdam

Wohnhäuser von MVRDV auf Borneo in Amsterdam

Im Hafengebiet von Amsterdam, ganz im Osten der Halbinsel Borneo, erlaubte die Stadt privaten Bauherrschaften, Häuser mit selbst gewählten Architekten zu realisieren. Das spektakulärste Ergebnis sind wohl die beiden Bauten von MVRDV.

Haus an Haus, so weit das Auge reicht. Das östliche Hafengebiet von Amsterdam gilt als das derzeit kompakteste Neubaugebiet der Niederlande. Nachdem das Gelände gegen Ende der siebziger Jahre durch die Verlegung von Hafenaktivitäten zum Brachland geworden war, sollten die Hafenbecken eigentlich zugeschüttet und das Gebiet mit einer homogenen Blockbebauung aufgefüllt werden. Gut nur, dass sich der Planungsprozess hinzog, denn es brauchte noch rund zehn Jahre, bis die Stadt das atmosphärische Potenzial des Areals erkannte. Nun sollten die ehemaligen Molen KNSM-Eiland, Java-Eiland, Borneo und Sporenburg erhalten bleiben und dem neuen Stadtteil gemeinsam mit Überresten der Hafenanlagen als identitätsstiftendes Element dienen.


Individuelle Auftraggeberschaft

Bei der Ausschreibung für die Entwicklung eines städtebaulichen Konzepts für Borneo und Sporenburg setzte sich das bekannte Planungsbüro West 8 unter Leitung von Adriaan Geuze gegen Vorschläge von Wytze Patijn und Quadrat (alle aus Rotterdam) durch. Um die geforderte Dichte von 100 Häusern je Hektare Bauland einhalten zu können, sah der Plan von West 8 vor, den überwiegenden Teil der insgesamt 2200 Wohneinheiten auf Borneo und Sporenburg als dreigeschossige, radikal in die Tiefe organisierte Reihenhausbebauung mit Flachdach und individuellem Zugang auszuführen. Die minimalen Freibereiche sollten durch die vorhandenen Hafenbecken kompensiert, die privaten Aussenflächen der Wohnungen als Patios und Dachterrassen in die zwischen 4,20 Meter und 6 Meter schmalen und bis zu 40 Meter tiefen Parzellen integriert werden. Um trotz der unterschiedlichen Planung einen Bezug zur grossflächigen Bebauung der benachbarten Hafenmolen KNSM und Java zu schaffen und dem Meer an Häusern eine Struktur zu geben, wurden dem dicht gewebten Reihenhausteppich zwei Monolithen von Frits van Dongen (De Architecten Cie, Amsterdam) und Kees Christiaanse (Rotterdam) - beide auf Sporenburg - zur Seite gestellt. Die Halbinsel Borneo wird dagegen durch einen elfgeschossigen Wohnbau von Koen van Velsen bestimmt, der wie ein Fels aus den flachen Häuserzeilen hervorragt. Noch hinter dem Superblock, am östlichen Ende der rund 700 Meter langen und 200 Meter breiten Halbinsel, liegt die Scheepstimmermanstraat - trotz den langgestreckten Häuserreihen, die die Strasse zu beiden Seiten hin umsäumen, ein relativ intimer und in sich gekehrter Ort.

Die Bebauung der Scheepstimmermanstraat folgt im Wesentlichen dem Konzept von West 8. Im Unterschied zu den übrigen auf Borneo und Sporenburg realisierten Wohnhäusern, die durchgehend von Generalunternehmen errichtet wurden, hat die Stadt hier jedoch sechzig privaten Auftraggebern die Möglichkeit gegeben, ihre eigenen Wohnungen entwerfen und bauen zu können - ein ziemlich einzigartiges Unternehmen, denn erstmals seit dem 17. Jahrhundert verkaufte die Stadt Amsterdam hier Baugrundstücke an Privatpersonen zum Bau von Eigentumswohnungen. Das aufsehenerregende Projekt steht damit in engem Zusammenhang mit der seit einigen Jahren in den Niederlanden geführten Diskussion über individuelle Auftraggeberschaft in den staatlich festgesetzten Neubaugebieten («Vinex-Gebieten»). Massgeblich an der Debatte beteiligt ist der Rotterdamer Architekt Carel Weeber: Noch 1980 sagte er das «Ende der Behaglichkeit» des Bauens der siebziger Jahre voraus und plädierte für grossflächige, durch öffentliche Auftraggeber finanzierte Wohnbauten, für Lösungen also, wie sie auf Java und der KNSM-Insel realisiert wurden. Jetzt vertritt Weeber das genaue Gegenteil und setzt sich für das in der Scheepstimmermanstraat praktizierte «wilde wonen» ein.


Traditionell oder radikal utopisch

Trotz aller Experimentierfreude zeigt die Scheepstimmermanstraat ein einheitliches Strassenbild: Verbindlich festgeschrieben war neben der durchgehenden Tiefe von 16 Metern vor allem die maximale Höhe der Bebauung (9,5 Meter). Sonst aber lässt das Konzept von West 8 den Bauherren und Architekten sämtliche Freiheiten: Bewegt sich schon die Breite der in der Scheepstimmermanstraat bebauten Parzellen willkürlich zwischen 4,20 und 6 Metern - zum Teil wurden auch zwei Baugrundstücke zusammengezogen, um mehr Freiheiten bei der Gestaltung des Grundrisses zu haben -, so zeigen die Fassaden der Häuser jede denkbare Möglichkeit der Gestaltung: Eher schlichte Entwürfe wechseln dabei übergangslos mit radikal-utopischen oder traditionellen Auffassungen - Backstein trifft hier unvermittelt auf Beton oder Aluminium, auf skulpturartig verzinkten Stahl oder Stuck, auf Glasbausteine oder Corten-Stahl. Gleich daneben wechseln Lochfassaden mit Holzlamellen und treffen typische Amsterdamer Grachtenhausfassaden auf italienische Formen. Zeigt sich die eine Front verschlossen, so ist die nächste offen und transparent oder bietet, wie der Entwurf von Herman Hertzberger, einen schmalen Gang zum Wasser. Die gleiche Vielfalt ist auch bei der Raumaufteilung zu beobachten: Verschachtelten Lösungen stehen offene Varianten mit flexiblen Grundrissen entgegen, die Raum bieten zur Einrichtung von Büros, hellen Künstlerateliers oder Restaurants und die über Dachterrassen, Erker, Balkone oder Patios, Galerien, Wintergärten oder tiefe Gärten verfügen.

Zwei besonders spektakuläre Entwürfe stammen aus der Feder von MVRDV aus Rotterdam. Auf der vier Meter breiten und 16 Meter tiefen Parzelle Nr. 18 haben Winy Maas, Jakob van Rijs und Nathalie de Vries den vorhandenen Raum optimal genutzt. Obwohl die baurechtlich festgelegte Höhe von 9,5 Metern eigentlich nur die Ausbildung von drei Geschossen erlaubt hätte, haben MVRDV durch eine überaus intelligente räumliche Organisation vier Etagen mit einem zusätzlichen Zwischengeschoss realisieren können. Zwei kastenförmig ins Wohnungsinnere integrierte Volumen sowie die Absenkung des zum Wasser hin vorgeschriebenen Gartens, den die drei Architekten als vollständig verglaste, patioartige Veranda ausgebildet haben, sorgen für zusätzlichen Raum und vermeiden eine langweilige Stapelung identischer Etagen. Den Architekten ist es trotz der erhöhten Geschosszahl gelungen, die raffiniert miteinander verschachtelten Räume teilweise höher als in üblichen Wohnungen auszuformen: Das der grosszügigen Veranda gegenüber im ersten Stock liegende Wohnzimmer strebt fast schachtartig nach oben und erreicht dabei die Höhe von rund sechs Metern! Das spannend inszenierte Raumerlebnis bildet einen interessanten Kontrast zur fast schon beklemmenden Enge der schmalen Treppen.


Gestapelte Blöcke

Direkt unter dem Wohnzimmer bietet der erste der beiden Blöcke zur Strasse hin Platz für Garage, Eingangsbereich, Abstellraum und Küche. Der zweite Block ragt als wuchtiges, scheinbar frei schwebendes Betonvolumen über der zweigeschossigen Veranda hervor - gerade so, als sei er von den Architekten aus dem Baukörper herausgeschoben worden. Von aussen ist der mit einem Fenstervorsprung ausgebildete Block mit rötlich-braunem Holz verkleidet, in seinem Inneren befinden sich ein Schlaf- und ein Badezimmer. Ein Stockwerk höher, wo das Dach des Hauses zum Wasser hin leicht ansteigt und wo der Blick über eine zweite Galerie ins untenliegende Wohnzimmer hinabstürzt, befindet sich ein lichtdurchflutetes Studio mit Zugang zu einer grosszügigen Dachterrasse. Von hier aus bietet sich den künftigen Bewohnern des Hauses ein prächtiger Ausblick auf das Hafenbecken und die Häuserfront am gegenüberliegenden Ufer.

Ein ähnlich verschachteltes Wohngebäude findet sich auf Parzelle Nr. 12. Auf dem fünf Meter breiten und 16 Meter tiefen Grundstück errichteten die Architekten ein experimentelles Patiohaus, das sich aus zwei schmalen Raumzonen zusammensetzt, von denen nur die rechte Hälfte vollständig bebaut ist. Auf diese Weise ist die Breite des Hauses auf nunmehr 2,5 Meter minimiert worden - die extremste Form des ursprünglichen Plans von West 8! Um die schmale Wohnung ausreichend mit Tageslicht versorgen zu können und den Einsatz von Kunstlicht zu vermeiden, wurde die zum «Innenhof» der Parzelle liegende Fassade des Gebäudes über die gesamte Länge und Höhe vollständig verglast. Innen- und Aussenraum gehen so ineinander über. Geschlossen zeigt sich dagegen die zum Wasser hin orientierte Stirnseite des Hauses.

Über dem unbebauten Teil der Parzelle haben die Architekten zwei geschlossene, nach oben hin verglaste Blöcke an die gläserne Fassade gehängt, die den als Garten vorgesehenen «Innenhof» des Grundstücks überkleiden. Das zur Strasse hin gelegene Volumen beherbergt ein Gästezimmer mit darüber liegendem Bad. In entgegengesetzter Richtung vergrössert ein zweiter Block das zweigeschossige Studio und schafft ausserdem die Plattform für eine Dachterrasse. Ein zusätzlich eingefügter dritter Block neben dem Eingangsbereich verbindet die Wohnung mit der Strasse. Unter seinem ansteigenden, als Garagenrampe fungierenden Dach haben die Architekten einen Lagerraum integriert.


Gebaute Manifeste

Schon in «Farmax», einem 753 Seiten dicken Buch von MVRDV, werden utopische Szenarien für extrem gestapeltes Wohnen und Arbeiten beschrieben. Seine Fortsetzung fand das horizontale und vertikale Zusammenballen mit der Anfang letzten Jahres unter anderem in der Galerie Aedes East in Berlin vorgestellten Videoanimation «Metacity/Datatown». MVRDV fragten: «Wie können wir die Stadt in Zeiten der Globalisierung und Bevölkerungsexplosion verstehen?», und entwickelten einen auf verschiedenen vertikalen Ebenen organisierten Stadtstaat für rund 250 Millionen Einwohner. Ein geschickt inszeniertes Gedankenspiel, das auf manchen Betrachter sicher etwas befremdlich wirken mag - in der gebauten Realität überzeugen die Strategien von MVRDV jedoch immer: Die Alterswohnungen in Amsterdam, das Sendegebäude VPRO in Hilversum oder das Doppelwohnhaus in Utrecht bilden ebenso überzeugende Manifeste urbaner Verdichtung wie der niederländische Pavillon auf der Expo 2000 oder eben die beiden Wohnhäuser auf Borneo.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.09.07



verknüpfte Akteure
MVRDV

07. Dezember 2001Robert Kaltenbrunner
Neue Zürcher Zeitung

Weg vom Volksschullehrer-Modernismus

In den Niederlanden boomt die Architektur

In den Niederlanden boomt die Architektur

Rechenschaft darüber abzulegen, was ein Architekt heute noch bewirken kann, in einer Welt, die von Desintegration, Unordnung, Massstabsvergrösserung, Flüchtigkeit und neuen Kommunikationsmitteln bestimmt wird, das ist eineTugend, über die nicht allzu viele Baumeister verfügen. In den Niederlanden indes hat dergleichen Konjunktur, wenn man Bart Lootsma Glauben schenken darf. Unter der Überschrift «Super Dutch» stellt der renommierte Kritiker ein Dutzend impulsgebender Büros vor, die seiner Meinung nach repräsentativ für ein neues Verständnis sind.

Seit zehn Jahren blüht in den Niederlanden eine Architektur, deren offenes Raumkonzept nach wie vor der Moderne verpflichtet ist, die jedoch eine reiche Bandbreite an Formen, Farben, Texturen und Materialien vor Augen führt. Der grafischen Abstraktion der Architektur von Wiel Arets stehen die komplexen, an den Tastsinn appellierenden Werke Ben van Berkels gegenüber. Adriaan Geuze vom Büro West 8 laboriertmit einer «funktionalistischen» Landschaftsarchitektur (Schouwburgplein in Rotterdam), währendMecanoo (etwa bei der Fakultät für Volkswirtschaft und Management in Utrecht) mit raffinierten Typologien arbeitet und eine starke Betonung auf die Gestaltung des öffentlichen Raums setzt. Das Atelier van Lieshout schliesslich lancierte Pläne, eine autarke Kommune namens AVL-Ville zu gründen inklusive Werkstätten für die Produktion von Waffen und Alkoholika - ein Vorschlagstark polemischen Charakters, eher darauf bedacht, eine Diskussion zu provozieren, als eine reale Umsetzung zu erfahren.

Das Vorgehen des Atelier van Lieshout ist bezeichnend für ein gesellschaftliches Klima, in dem neue Konzepte gedeihen können. Allerorts ist eine unbeschwerte «Just do it»-Mentalität spürbar, die sich - weitgehend frei von Moralismusund Ideologie - in den Dienst der Modernisierung stellt und mit Phantasie und Tatkraft aufeine Aufgabe stürzt. Mehrheitlich abgelehnt werden Bauformen, die sich allein auf die Ästhetik und das sinnliche Detail richten. Für die jungen Architekten heute beginnt jeder Auftrag deshalb mit einem buchstäblichen Kartieren aller denkbaren internen und externen Kräfte, die eventuelleinen wichtigen Einfluss auf das Zustandekommen eines Projektes haben könnten. Das macht selbst vermeintlich abgehobene Planungsansätze realitätstauglich. Kein Wunder also, wenn die niederländische Baukunst der neunziger Jahre in der Regel konzeptueller, minimalistischer, reduzierter oder auch «trockener» ausfällt als die des internationalen Mainstreams. - Dass sich die jüngere niederländische Architektur insgesamt einer durchschlagenden Wirkung erfreut, lässt sich indes auch auf das flankierende publizistischeLeuchtfeuer zurückführen, mit dem selbst die jungen Holländer sich und ihre Ideen höchst professionell vermarkten. Das Beispiel Rem Koolhaashat Schule gemacht: Mit provozierenden Vorträgen, fulminanten Buchprojekten, Gastprofessuren an internationalen Eliteschmieden und durch die Entwicklung von Theorien tritt man bewusst und medienwirksam in Erscheinung, will man sich selbst zum Markenartikel machen. In gewisser Weise knüpft das vorliegende Buch daran an: mit klarem theoretischen Impetus, attraktiver Gestaltung und alles andere als langatmig. Und es setzt Massstäbe für die weitere Rezeption.


[Bart Lootsma: Super Dutch. Neue niederländische Architektur. DVA, Stuttgart 2001. 264 S., 300 Abb., Fr. 98.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.12.07

05. April 2002Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

„Eine virologische Architektur“

Der Limburger Architekt Wiel Arets

Der Limburger Architekt Wiel Arets

Mit der Maastrichter Akademie für Kunst und Architektur hat Wiel Arets schon vor Jahren für internationales Aufsehen gesorgt. Seine minimalistischen Bauten interpretieren das bekannte Vokabular der frühen Moderne, wahren aber dabei eine deutliche Distanz zu der in den Niederlanden noch immer populären Neomoderne.

Beim Gang durch das historische Zentrum von Maastricht wird der architekturinteressierte Blick früher oder später auf die rostige Fassade aus Cortenstahl des Herrenausstatters Beltgens treffen. Mit dem 1987 eingerichteten Modegeschäft ist Wiel Arets ein unprätentiöser aber würdevoller Eingriff in die alte, einst von den Römern gegründete Stadt gelungen: Von der Fussgängerzone aus öffnet eine hohe, schmale Tür eine visuelle Schneise zu einem kleinen Patio hinter dem Verkaufsraum, in dessen Mitte die aufgesockelte Büste eines Römers steht. Die deutlich überhöhte, fast schon surreale Ästhetik verwandelt das Modegeschäft in eine Art architektonisches Kunstwerk und lässt die Herrenbekleidung unversehens zur spirituellen Ware werden.


Spitzenleistungen in der Provinz

Einen ganz anderen Eindruck gewinnt man einige hundert Meter weiter südwestlich, wo der 1955 im nahegelegenen Heerlen geborene Architekt vor einigen Jahren ein eigenes Wohn- und Bürohaus fertiggestellt hat - eine minimalistische, längliche Box aus Holz und Beton; nach vorne hin fast verschlossen, nach hinten hin deutlich offener, mit einem langgezogenen horizontalen Fensterband und einem Zugang zum Garten. Trotz seiner festen Verwurzelung in der niederländischen Provinz Limburg versteht sich Arets nicht eigentlich als niederländischer Architekt: „Ich glaube, dass wir eher Kinder unserer Zeit als von einem Ort abhängig sind“, meint Arets, der nach Reisen durch Japan, Russland, Amerika und Europa an der Architectural Association in London (1988-92), an der Columbia University in New York (1991/92) und als Dekan am Berlage-Institut in Amsterdam (1995-98) unterrichtete.

Schon die ersten, zwischen 1984 und 1989 entstandenen Projekte verraten eine deutliche Nähe zur frühen niederländischen Moderne - zu Arbeiten von Johannes J. P. Oud oder Leen van der Vlugt etwa. Mit Gebäuden wie dem Friseursalon in Heerlen (1987) oder der Apotheke in Brunssum (1986) beruft sich Arets noch einmal auf die Forderung, Architektur als Materialisation eines Konzepts zu typisieren und den Ideen von Abstraktion, Universalität, Dauerhaftigkeit und Transparenz eine physische Form zu geben. Von einer „Architektur der Freiheit“ spricht Arets und beschwört dabei die weisse kubische Form, die geschlossene Planung, die Wandstruktur aus Beton und Glas und die patternartige Ausbildung horizontaler Fensterbänder.

Gegenüber den Werken seiner modernen Vorgänger zeichnen sich Arets' Arbeiten jedoch von Beginn an durch einen latenten Bezug zum städtebaulichen Kontext aus. „Wir wollen, dass unsere Gebäude in den existierenden Kontext passen und dabei flexibel und offen für Veränderungen bleiben“, erklärt Arets. Und tatsächlich: Spätestens mit der 1993 fertiggestellten Erweiterung der Akademie für Kunst und Architektur in Maastricht gerät die strenge Geometrie mehr und in Bewegung - die Baukörper schweben, hängen oder überbrücken. Als ein Ergebnis der Massstabsausweitung entwickeln sie sich in Richtung einer verlängerten oder gruppierten Konfiguration. So gelang Arets in Maastricht mit zwei L-förmig angelegten, minimalistisch gehaltenen Blöcken nicht nur eine mutige Zäsur gegenüber der angrenzenden alten Bebauung - durch eine Fussgängerbrücke, die beide Baukörper miteinander verbindet, wurde überdies ein Tormotiv zwischen der historischen Stadt und dem neugeschaffenen „Gedenkplatz“ (Herdenkingsplein) etabliert, wo fast zeitgleich mit der Akademie auch ein durch die Delfter Mecanoo- Architekten entwickelter Wohnkomplex eingeweiht wurde.


Inhaltliche Polyphonie

„Zunehmend hört man, dass es die Aufgabe der Architektur sei, die Städte wieder zu reparieren“, stellt Arets in seinem 1994 veröffentlichten Essay „A Virological Architecture“ fest. Folgt man dem Gedanken, dann stellt sich unweigerlich die Frage nach der richtigen architektonischen Medizin. Im Hinblick auf die Akademie in Maastricht berichtet Arets: „Ich habe intensiv die städtebaulichen Implikationen dekodiert und dann an dieser Stelle ein Gebäude eingefügt, das langsam zwar, aber nachhaltig die Umgebung verändert. Dieser Effekt ist vergleichbar mit einem Virus - einem positiv verstandenen Virus. Ich möchte etwas entwickeln, das aus der Umgebung, also aus dem Organismus selbst hervorkommt, die Codierung dieses Organismus beeinflusst und schliesslich einen neuen Code einfügt.“ Erst durch diese Form der Entschlüsselung kann ein neues Gebäude nach Arets' Überzeugung die Energie erhalten, die es braucht, um die städtebauliche Situation positiv zu verändern und „Räume für das Unvorhergesehene“ und „Spannungen innerhalb der Stadt“ zu schaffen.

Arets will mit seiner Strategie Gebäude entstehen lassen, die zwar „scheinbar einfach aussehen, denen aber eine ungeheure Komplexität innewohnt, so dass man ständig Neues entdeckt“. Bewusst strebt er dabei keine Komplexität der Form, sondern eine „inhaltliche Komplexität“ an: „Ich suche nach inhaltlicher Polyphonie, weil sie ein vielschichtiges Lesen ermöglicht“, meint Arets und vergleicht sein Konzept schliesslich mit den vielschichtig angelegten Filmen von Jean-Luc Godard: „Die Wegführung von Gebäuden entspricht im Prinzip dem Blickwinkel eines Kameramanns.“

Auf den Wahrnehmungsprozess des Betrachters verweist auch das Spiel mit Transparenz und Transluzenz. So besteht die Aussenhaut der Maastrichter Akademie aus massiv aufeinander gestapelten, mattierten Verbundglassteinen oder Betonplatten. Einen ähnlichen Eindruck gewinnt der Besucher auch beim AZL-Pensionsfonds (1990-95) im nahegelegenen Heerlen, einem Erweiterungsbau, dessen rigorose Betonformen in starkem Kontrast zu dem aus mehreren Flügeln bestehenden Ziegelsteinbau von 1941 stehen. Unter einem auskragenden Betonkopfbau hindurch gelangen die Kunden zu einer Freitreppe aus transluzenten Glasbausteinen, die gleichzeitig die Decke des darunterliegenden Archivs bilden. Nachts verwandelt sich der gläserne Boden in einen leuchtenden Teppich, der von der Eingangstreppe aus bis weit in das Gebäude hinein reicht.

„Architektur ist ein Dazwischen, eine Membran, eine Alabasterhaut, ein Ding, das einmal opak und einmal durchsichtig ist, bedeutungsvoll und bedeutungslos, real und irreal“, stellte Arets 1992 in seinem Essay „An Alabaster Skin“ fest. „Wenn man über Haut, Transparenz und Dichte redet, dann soll man nicht nur über das eine Element des Gebäudes, die Fassade, reden. Das Gebäude als Ganzes kann als Haut verstanden werden.“ Ein heikles Unterfangen, schliesslich offenbart die gläserne Haut Geheimnisse aus dem Inneren und hebt die vertrauten Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf. Bei der 1998 fertiggestellten Polizeistation in Boxtel - einer von vier realisierten Polizeistationen des Architekten - suchte Arets nach einem spielerischen Kompromiss zwischen notwendigen Sicherheitsanforderungen und dem Bedürfnis, Einblick in die Arbeit der Polizei zu gewähren: Die einzelnen Baukörper wurden so zwar weitgehend von einer Haut aus mattem Industrieglas überzogen, aber nur an einigen Stellen lassen Öffnungen der inne liegenden Betonschale erahnen, was dahinter geschieht. „Reale“ Ein- und Ausblicke werden hingegen erst durch einige wenige horizontal geschnittene Fenster ermöglicht.


Architektur mit Textbezug

Arets' Architektur steht in engem Zusammenhang mit den Schriften, mit denen er sich beschäftigt oder beschäftigt hat. So prägten Nietzsches und Foucaults Schriften den Entwurf für das Gerichtsgebäude in Groningen, und die Amsterdamer Academy for the Arts (1990) weist Bezüge zu den Theorien von Gilles Deleuze und Félix Guattari auf. Im unmittelbaren Kontakt mit den Gebäuden von Arets lassen sich diese Verweise jedoch getrost beiseite schieben. Die suggestive Kraft der stellenweise fast archaischen Architektur spricht für sich selbst. Sie ist stärker als ihre Theorie und strahlt eine Präsenz aus, die jeden Besucher umgehend zum Benutzer werden lässt. Mit einer auf das äusserste reduzierten Architektur zelebriert Arets die rohe Oberfläche, so dass sie einen sinnlichen Reiz und eine haptische Qualität gewinnt. Seine Vorliebe für Beton, Glas (in allen denkbaren Formen), Holz und Zink ist dabei unübersehbar. Gerade der Werkstoff Beton aber gewinnt auf grossen Flächen eine japanisch inspirierte Kargheit.

Ein weiteres Exempel seiner Architektur hat Arets kürzlich mit dem neuen Hauptsitz für den Möbelhersteller Lensvelt in Breda geschaffen: ein langgestrecktes, kristallines Gebäude, das Fabrikhalle, Büros und Showroom unter einem Dach vereint. Auch hier wird der Baukörper zu weiten Teilen von einer transluzenten Hülle umgeben. Das leicht grünliche Glas lässt so schon von weitem die Funktion des Gebäudes erahnen: Hinter der entblössten Tektonik zeichnen sich deutlich sichtbar die Konturen von Paletten und anderem Zubehör der Möbelfirma ab. Beim Gang ins Innere des Gebäudes hält Arets eine weitere Überraschung bereit: Unter einer rund 2,50 Meter über die Erde gehängten Box gelangen die Besucher ganz unverhofft in einen langgestreckten Innenhof, der von den Rotterdamer Landschaftsarchitekten West 8 als ein zenartiges Stilleben mit einer hölzernen Rampe, Ginkgo-Bäumen und einem skulpturalen Wall aus scharfkantigem Schiefer gestaltet worden ist.

Noch nicht fertig gestellt oder noch in Planung sind das multifunktionale Oosterpark-Stadion in Groningen, das bis 2004 als Teil des 54 Hektaren grossen Innenstadtquartiers Europapark realisiert werden soll, und die im Südwesten von Amsterdam entstehenden, 150 Meter hohen Arena-Türme. Fortgeschritten sind auch die Arbeiten auf dem nach einem Masterplan von OMA erweiterten Utrechter Universitäts-Campus „De Uithof“, wo gegen Ende nächsten Jahres die von Arets geplante neue Bibliothek eröffnet wird. Die Entwürfe dieses bisher grössten Projektes des Limburger Architekten zeigen einen neungeschossigen, von einer siebdruckbeschichteten Glashaut umhüllten Bau, der mit den Nachbargebäuden durch zwei Fussgängerbrücken verbunden wird. Durch die transluzente Aussenhaut hindurch offenbart sich ein raffiniertes Puzzle aus hohen Patios, die eine offene Verbindung zwischen Lesesälen und Büros schaffen und die Bibliotheks-Archive aufnehmen sollen. Der Bau fasst die über die gesamte Stadt verstreuten Bibliotheksstandorte an einem Ort zusammen und schafft durch seine Lage im Zentrum des Campus auch einen wichtigen städtebaulichen Schnittpunkt. Das nur einen Steinwurf weit entfernte Educatorium von Rem Koolhaas erwartet also interessante Nachbarschaft.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.04.05



verknüpfte Akteure
Arets Wiel

07. Juni 2003Jan Tabor
Der Standard

Wohnen auf Rädern

Die laufende Architekturbiennale in Rotterdam greift ein umstrittenes Thema auf: wie man die Mobilität ins 21. Jahrhundert rettet. Die Städte sollen noch autogerechter werden. Die Aussteller setzen auf eine Symbiose zwischen Architektur und Autobahn. Kann das funktionieren? Die neue Generation der Planer glaubt: ja.

Die laufende Architekturbiennale in Rotterdam greift ein umstrittenes Thema auf: wie man die Mobilität ins 21. Jahrhundert rettet. Die Städte sollen noch autogerechter werden. Die Aussteller setzen auf eine Symbiose zwischen Architektur und Autobahn. Kann das funktionieren? Die neue Generation der Planer glaubt: ja.

Rotterdam hat seit 1995 ein neues Wahrzeichen: die Erasmusbrug. Die von Ben van Berkel in verfeinerter Calatrava-Manier entworfene Brücke hängt wie ein riesiges Zupfinstrument über den Nieuwe Maas und verbindet das Stadtzentrum mit Kop van Zuid, dem neuen Viertel für die aufstrebenden Menschen des 21. Jahrhunderts. Die Erasmusbrücke kann als eine Apotheose des Autoverkehrs gedeutet werden: eine Gesellschaft, die sich derart edel aussehende Verkehrsbauwerke errichten lässt, mag das Auto sehr.

Unweit der Erasmusbrücke, zwischen uwei neuen Türmen von Renzo Piano und von Norman Foster befindet sich Las Palmas, ein altes Hafenlagerhaus, das zum Ausstellungszentrum für die Avantgarde umgewidmet wurde. Dort steht ein Motorad BMW F650 GS. Es ist eines der Exponate der Architekturbiennale „Mobility. A room with a view“.

Autofahren macht Spaß. Wer immobil wird im Automobil, der befindet sich im Stau. Der Stau ist ein Zustand, ist Spaß in statu nascendi. In der Spaßgesellschaft ist Langeweile eine Notlage. Wo Not bedrückt, dort rücken Helfer vor. In den lang andauernden Staus, die sich alltäglich in und um Rotterdam herum bilden und manchmal bis nach Amsterdam reichen, waren im Frühjahr 2003 vier Männer auf zwei BMW F650 GS flott unterwegs. In ihren weißen Overalls sahen sie wie Engel aus. Sie tauchten auf, halfen und verschwanden wieder. An die genervten, apathisch oder aggressiv gewordenen Autofahrer verteilten sie kleine Notstandspakete mit der Aufschrift FILEkit©. File ist das holländische Wort für Stau. Je nach dem Typus des Im-Auto-Gestauten enthielten die weißen Kunststoffsäckchen verschiedene nützliche Gegenstände wie Kunststoffblume, Kondom, Markierungsstift, Esperanto-Luftballons, Aspirin, Wörterbuch, Kompass, Wasserpistole (für die Aggressiven), Kommunikations- oder Aktionsparfum und, für die meditativen Typen je nach der Religion, Bibel, Koran oder Zen. Die eigentliche inhaltliche Zusammenstellung einer der drei Varianten des FILEkits hing vom Zweck der Fahrt und der psychischen beziehungsweise charakterlichen Verfassung der angestauten Autofahrer ab.

Der Stau sei ein Sozialraum, und das Wesen des Sozialen sei Kommunikation. Das ist die konzeptuelle Basis für die Aktion "FILEkit©", zu der sich drei Gruppen - „Artgineerung“ aus Holland, „D+NL“ aus Deutschland und „feld72“ aus Österreich - zusammengefunden haben, um einen von rund 130 Projektbeiträgen für die 1. Architekturbiennale in Rotterdam zu realisieren. In Las Palmas, einem der beiden Ausstellungsorte, zeigen sie in Form eines Informationsstandes die Produkte ihrer Anstrengung, den Stauraum zum Kommunikationsraum zu machen. Das Projekt ist für die Denkrichtung der Biennale charakteristisch, wie diese wiederum für die Spaßgesellschaft symptomatisch ist.

Wann immer Städte in Not geraten, rücken rasch Retter aus. Architekten, Landschaftsplaner, Künstler, Ingenieure, Stadt- und Freizeitdesigner, Kulturtheoretiker etc. Was die klassischen Verkehrsplaner längst aufgegeben haben, nämlich die Bemühungen, Städte autogerecht gleichsam hoch zu frisieren, versuchen nun Architekten und andere, die man unter dem Attribut „jung und aufstrebend“ zusammenfassen könnte, noch einmal. Ihr Festival heißt „International Achitecture Biennale Rotterdam 2003“ und findet zum ersten Mal statt.

Die Autogerechtigkeit ist das Motto und das Ziel, jetzt wird sie allerdings Mobility genannt. Der Untertitel „A room with a view“ - eine Paraphrase des berühmten Zitates „Automobiles are like part-time dwellings on wheels“ von Richard Buckminster Fuller - ist die normative Metapher fürs Auto, für das neue Verständnis des Autos. Normativ in dem Sinn, dass damit der unbegrenzte Raum über Autobahnen und Autobahnkreuzungen angesprochen wird, der neuerdings in den politischen Stadtvorstellungen als Bauland für attraktive Stadterweiterungen mit Wohnbau für die neue mobile Mittelschicht populär geworden ist. Was mit den Bahnhöfen längst passiert, soll auf die Autobahnen übertragen werden. Den künftigen Nutzern der Autobahnüberbauungen wird mit dem Untertitel jene Wohnqualität versprochen, die sich alle wünschen: Zimmer mit Ausblick. Ins Grüne. Ruhig und sonnig.

Was heißt überbaut? Verflochten! Den Biennale-MacherInnen (auf dem Gruppenfoto des Biennaleteams sind 20 Frauen und ein Mann abgebildet) unter der Leitung von Francine Houben, Gründerin der erfolgreichen Gruppe Mecanoo Architects und Architekturdozentin an der TU Delft, geht es keineswegs um Darstellung oder gar weitere Propagierung der in den Niederlanden aufgrund des Baulandmangels ohnehin bereits intensiv praktizierten Überbauung von Autobahnen.

Ihnen geht es um viel mehr als um das, was im legendären, 1959 erschienen Buch des einstigen NS-Planers Hans Bernhard Reichow „Die autogerechte Stadt - ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos“ derart suggestiv empfohlen wurde, dass es zu der städtebaulichen Doktrin für den Wiederaufbau der deutschen Städte wurde und mehr Einfluss auf die Stadtgestaltung hatte als alle Le Corbusiers, Mies van der Rohes oder Walter Gropiuse zusammen.

Die Ideologie der autogerechten Stadt basierte auf der Trennung von Autofahrenden und nicht Autofahrenden mit Vorrang für die in den Wagen. Was die künftige Autotauglichkeit der Städte betrifft, sind die Apologeten der New Mobility radikaler und realistischer zugleich: Sie streben eine vollkommene Synthese der Stadt mit dem Verkehr an, die an der ohnehin längst offensichtlich phylogenetisch fixierten Symbiose von Mensch und seinem liebsten Vehikel, dem Auto, anknüpft. Denn so, wie die beiden Hauptausstellung geplant beziehungsweise geworden sind, wird unter „Mobility“ ausschließlich der Autoverkehr und die mit ihm zusammenhängenden technischen und - vor allem - mentalen Strukturen verstanden.

Dabei konzentriert man sich hauptsächlich auf die kommenden Städte und Stadterweiterungen, der Altbestand wird ideenmäßig gleichsam umgefahren. Die Biennale ist zum Forum für jene Fantasien geworden, in denen es um die Vereinigung des klassischen Autofahrens und Autobesitzens mit dem gegenwärtig-zukünftigen Lifestyle zu einer Megapolis des Megaspaßes geht. Auffallend an fast allen Beiträgen, selbst den fantastischsten, ist, dass mit einer konservativen Konstante gearbeitet wird: Was das Auto betrifft, bleibt alles fix wie ein Dogma: Motor, Form, Straßen, Geschwindigkeit, Lärm, Abgase und der Stau.

Diese beinahe andächtige Fixierung fällt in der zweiten Hauptausstellung im NAI, dem 1993 von J. Coenen im postmodernen Collagestil errichteten Nederlands Architectuurinstituut, auf. Außen und innen wird das Gebäude von etwa zwei Dutzend Autos so voll gestopft, dass man den Eindruck bekommt, die ganze Mobility-Biennale sei ausschließlich vom Verband der Niederländischen Gebrauchswagenhändler gesponsert worden. In einer Prater-artigen Schau werden Oldtimer auf sich drehende Scheiben gesetzt. Der Besucher kann sich hinein setzen und auf einer Projektionswand aus der Fahrerperspektive eine der Hauptrouten in einer der Metropolen wie Mexico City, Beirut, Budapest oder Peking nachfahren und sich dabei die Länder üblichen Autofahrer-unterwegs-Radiosendungen anhören.

In einem anderen Saal kann man sich historische Aufnahmen mit Aussagen zum Autoverkehr - zum Beispiel Adolf Hitler, den Förderer des Massenprodukts VW - anschauen. Als Projektionsflächen dienen in auf der Luft hängende vordere Autofensterscheiben. Wo Auto vorkommt, ist es mit dem Kitsch wie mit dem Lärm: unvermeidlich.

Aber Achtung! Ganz oben ist ein wenig Ausstellungsplatz übrig geblieben. Wenige Wochen vor der Eröffnung gingen noch Einladungen an elf Universitätsinstitute in verschiedenen Ländern, darunter das Studio Zaha Hadid von der Angewandten in Wien, mit Studentenprojekten zum Thema „Holland Avenue“ aufzuwarten. Es galt, ein 15 Kilometer langes Autobahnstück zwischen Rotterdam und Delft zu einer Stadt der Zukunft zu verwandeln. Die Zeit aber war knapp, das Budget fast null und die zur Verfügung gestellten Kojen minimal. Die Resultate der studentischen Anstrengungen sehen entsprechend aus: viel Computerarbeitsaufwand und wenig Ideen- und Darstellungsklarheit.

Im NAI wird vor allem Wert auf Spaß gelegt, in Las Palmas hingegen auf Informationen. Hier werden zahlreiche bereits vorhandene und zum Teil auch bereits verwirklichte Projekte aus namhaften Büros vorgestellt. Da oder dort Stars oder Studenten: Im Bewusstsein der Planer und Architekten hat sich offenbar die Ansicht von Buckminster Fuller (er ist der Architekt, der New York mit einer riesigen geodätischen Sphäre überdecken wollte) vollkommen durchgesetzt: Automobil ist ein Lebensraum, ist ein Teil der Lebensqualität.

Die letzte Architektur-Biennale „Next“ in Venedig war star-lastig, gesetzt und steril. Sie glich einer riesigen Mode-Boutique. Die Biennale in Rotterdam gleicht einem riesigen Workshop für Jungarchitekten, die Autos überaus mögen, aber noch immer Rad fahren (müssen), obwohl sie es sehr eilig haben.

Der Standard, Sa., 2003.06.07

22. April 1999Roman Hollenstein
Neue Zürcher Zeitung

Ein Wald auf der vierten Etage

Geht es um die Künstlichkeit der Landschaft, so kommt den Niederlanden weltweit der erste Platz zu. Auf dem Land, das dem Meer abgetrotzt oder durch Trockenlegung...

Geht es um die Künstlichkeit der Landschaft, so kommt den Niederlanden weltweit der erste Platz zu. Auf dem Land, das dem Meer abgetrotzt oder durch Trockenlegung...

Geht es um die Künstlichkeit der Landschaft, so kommt den Niederlanden weltweit der erste Platz zu. Auf dem Land, das dem Meer abgetrotzt oder durch Trockenlegung von Sümpfen gewonnenen wurde, sind selbst die Wälder von Menschenhand gemacht. Kanäle, Schleusen, Autobahnen, Alleen und Bahntrassees überziehen wie ein Raster den Boden, auf dem sich die «Randstad Holland» mit atemberaubendem Tempo ausdehnt: Zwischen Amsterdam und Rotterdam verschwinden wohl bald die letzten Tulpen- und Narzissenfelder, die in diesen Tagen mit ihrem Rot und Gelb betörende Akzente in die Landschaft setzen. Sie werden verdrängt von neuentstehenden Wohnsiedlungen und Bürohäusern, die nicht wie bei uns dicht an dicht gebaut, sondern ganz à l'américaine eingebettet sind in Grünanlagen mit breiten Parkways, grosszügigen Veloabstellplätzen und Biotopen. Wird hierzulande meist nur primitive Restraumbegrünung gepflegt, so sind in der Randstad ganze Heerscharen von Landschaftsgestaltern am Werk. Diese kreieren nicht immer Meisterwerke. Gleichwohl sind ihre Arbeiten oft besser als die Architektur, die sie umgeben. Und manchmal entdeckt man sogar Wegweisendes: etwa die heiss diskutierten Anlagen von West 8.

Aber nicht nur auf der grünen Wiese plant das Rotterdamer Büro West 8. Von ihm stammt auch der 1997 fertiggestellte Schouwburgplein, ein hochartifizieller «Stadtpark» im Herzen der Metropole an der Maas. Rotterdam ist nämlich gleichermassen die Hochburg der neuen holländischen Architektur und der Landschaftsgestaltung. Hier entsteht im Viertel Kop van Zuid eine ganze Stadtlandschaft, und hier realisierte der frühverstorbene Yves Brunier zusammen mit OMA den Rotterdamer Museumspark. An dieser grossartigsten Parkanlage der neunziger Jahre, die schon jetzt zu den Hauptwerken der abendländischen Gartenarchitektur gezählt werden darf, erhebt sich ausser der Kunsthal von Rem Koolhaas auch das Nederlands Architectuurinstituut (NAI), das Jo Coenen aus einem künstlichen Teich wachsen liess. Gegenwärtig gilt die Aufmerksamkeit dieses Museums der Landschaftsgestaltung. Schon die riesigen Siebdrucke auf den Fassaden deuten das Thema an. Allerdings sind darauf keine holländischen Landschaften dargestellt. Vielmehr verweisen die Bilder auf die im Rahmen der «IBA Emscher Park» in den letzten zehn Jahren durchgeführte ökologische, wirtschaftliche und soziale Umgestaltung des nördlichen Ruhrgebiets.

Die am 2. Juli in einem Symposium kulminierende Open-air-Schau ist Teil des noch bis ins Jahr 2001 dauernden Langzeitprojekts «Das Layout der Niederlande». In diesem Kontext werden in den nächsten acht Monaten in der Eingangshalle zehn junge Landschaftsarchitekturbüros vorgestellt. Auftakt zu der «9+1» betitelten Ausstellung machen die beiden Büros Vista und Atelier DS, die wie die nachfolgenden Teilnehmer – Diekman, Eker & Schaap, Juurlink en Geluk, Kaap 3, Parklaan, Studio I.S., Veenenbos en Bosch und West 8 – ihr Schaffen in selbstinszenierten Kojen präsentieren. Vom Büro Vista, zu dem sich vor fünf Jahren Sjef Jansen und Rik de Visser zusammenschlossen, sind bis zum 13. Juni Restrukturierungsprojekte sowie Entwürfe für Delft und Hilversum zu sehen. Das 1993 von Bruno Doedens und Maike van Stiphout gegründete Atelier DS, das mit seinen siegreichen Berliner Parkentwürfen internationale Anerkennung gefunden hat, versucht hingegen Antworten auf unser immer schneller pulsierendes Leben zu geben. Seine Arbeiten am Potsdamer Platz und in Scheveningen veranschaulichen das Streben nach klar und einfach strukturierten Umgebungen, in denen der Mensch wieder zu sich selbst finden soll. Nach der Eröffnung der letzten der fünf Doppelausstellungen soll am 25. November die Entwicklung der niederländischen Landschaftsarchitektur auf einer Tagung diskutiert und anschliessend in Buchform publiziert werden.

Aufsehenerregendes Highlight des gegenwärtigen Ausstellungsangebots im NAI, das unter anderem auch Herman Hertzbergers «Artikulationen» und eine Übersicht über «Zwei Jahrhunderte Architektur in den Niederlanden» umfasst, ist die ausser Programm noch bis zum 5. Mai zu sehende Präsentation des holländischen Ausstellungspavillons für die Expo 2000 in Hannover. Der von Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries, den sich kurz MVRDV nennenden Trendsettern der Rotterdamer Nachwuchsszene konzipierte Pavillon stapelt auf den sechs Ebenen einer 40 Meter hohen, offenen Architektur auf provokative Weise die holländische Landschaft. Das in seiner absoluten Künstlichkeit an eine Raumstation erinnernde Projekt ist die ebenso bizarre wie poetische Zukunftsvision einer urbanen und landschaftlichen Verdichtung und damit gleichsam die Formwerdung der beiden bereits zu Kultbüchern avancierten Schriften von MVRDV: «Farmax» und «Metacity Datatown».

Dem sich vordergründig ökologisch gebenden Pavillon mit seiner auf Hollands ungebrochenen Glauben an die Machbarkeit anspielenden Auftürmung des immer rarer werdenden Landes eignet eine Ironie, wie man sie letztmals in den Entwürfen von Archigram gesehen hat. Zuoberst säumen sechs Windmühlen eine Teichlandschaft. Von dieser fallen Wasservorhänge über das darunterliegende Geschoss, in dem sich ein Theater befindet. Auf der vierten Etage können die Besucher einen Wald durchstreifen und anschliessend das Reich der Wurzeln erkunden. Das Labyrinth aus kubischen Blumengittern im zweiten Stock lässt sich als skulpturale Anspielung auf die streng ausgerichteten Tulpenfelder, die Dünenlandschaft im ersten Geschoss hingegen als Hinweis auf die ungezähmte Natur interpretieren. Restaurant, Informationsbereich und Sanitäranlagen schliesslich sind im abgesenkten Erdgeschoss untergebracht. Mit diesem futuristischen Architekturspektakel dürfte Holland auf der Expo den Gegenpol zu Zumthors kontemplativem Schweizer Pavillon markieren und so einmal mehr beweisen, mit welcher Frechheit und Innovationslust seine Architekten und Landschaftsplaner den internationalen Diskurs mitbestimmen.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1999.04.22

03. September 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Rund oder vielfältig?

Entgegen verbreiteten Vorbehalten bedeutet kommerzielles Bauen nicht notwendigerweise gestalterische Beliebigkeit. Das beweisen mehrere neue Bauten, welche Ben van Berkel und sein Büro Rotterdamer UN Studio in den Niederlanden errichtet haben.

Entgegen verbreiteten Vorbehalten bedeutet kommerzielles Bauen nicht notwendigerweise gestalterische Beliebigkeit. Das beweisen mehrere neue Bauten, welche Ben van Berkel und sein Büro Rotterdamer UN Studio in den Niederlanden errichtet haben.

Der Südosten von Amsterdam zählt nicht eben zu den städtebaulich geglücktesten Ensembles der niederländischen Metropole: Östlich der vielbefahrenen Bahnstrecke Richtung Utrecht erstrecken sich die zehngeschossigen Wohnblocks der Grosssiedlung Bijlmermeer, die mit ihren endlosen wabenförmigen Strukturen den Endpunkt der niederländischen Spätmoderne markierte und inzwischen in weiten Teilen abgerissen ist. Auf der anderen Seite der Gleise steht die „ArenA“, das überdachte Fussballstadion von Ajax Amsterdam, als Paradigma einer von Investoren gesteuerten Architektur der neunziger Jahre - funktional, ökonomisch optimiert, aber von geringer gestalterischer Qualität. Der Umbau der Bahnstation Bijlmer durch Nicholas Grimshaw ist noch im Gange, aber die weiten Freiflächen, Bürokomplexe und Gewerbebrachen, die rings um das Stadion entstanden sind, vermitteln einen Eindruck der Trostlosigkeit, auch wenn ein Multiplex-Kinocenter regen Besucherverkehr garantiert.

Etwas versteckt hinter protzigen Bürobauten ist nun, gleichsam im Windschatten des Stadions, ein kleines Gebäude entstanden, dessen Form von der Belanglosigkeit ringsum absticht. Einem gedrungenen, lang gestreckten Körper entspriesst ein zweiter, vertikaler; der Doppel-Blob - den man auch als eine kontinuierliche, in sich verdrehte Figur verstehen kann - erinnert etwas an eine träge Rakete, die in der Startrampe ruht. Das seltsame Gebilde ist das niederländische Domizil von „Living Tomorrow“, einer 1991 in Brüssel gegründeten Organisation, die es diversen Wirtschaftsunternehmen ermöglicht, in ihren Räumen zukunftsfähige Produkte zu testen. Hauptakteure in Amsterdam sind Hewlett-Packard, Logica und Unilever, dazu treten eine Reihe weiterer Firmen wie Philips, Bosch und der niederländische Hersteller von Designprodukten Gispen. Während „Living Tomorrow“ in Brüssel in zwei wenig attraktiven Häusern ansässig ist, beauftragte man für den Neubau in Amsterdam das Büro UN Studio, das 1999 von Ben van Berkel und seiner Partnerin Caroline Bos gegründet wurde.

Theorie und Praxis

Unter den niederländischen Architekten der mittleren Generation gelingt Ben van Berkel der Spagat zwischen Theorie und Praxis vielleicht am besten. Während das Möbius-Haus (1999) als gebautes architektonisches Manifest die Fachwelt begeisterte, avancierte die elegante Erasmusbrug (1996), die das nördliche Maasufer Rotterdams mit dem Stadtentwicklungsgebiet Kop van Zuid verbindet, zum architektonischen Wahrzeichen von Rotterdam. Eine kleinere Schwester der Rotterdamer Brücke konnte im vergangenen Sommer in Utrecht eingeweiht werden: Die Prins Claus Brug verbindet das östlich des Zentrums gelegene Quartier Kanaleneiland mit Leidsche Rijn, einem der grössten Neubaugebiete des Landes. Vom internationalen Erfolg des Büros zeugt das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart, das im Jahr 2006 fertig gestellt sein wird. Wie beim Guggenheim Museum in New York werden sich die Besucher auf Rampen von oben nach unten durch das Gebäude schrauben, dessen Grundrissform an einen Wankelmotor erinnert.
Verglichen mit dem Stuttgarter Projekt nimmt sich der „Living Tomorrow“-Pavillon eher bescheiden aus. Aus gebogenen Stahlrippen, Beton und Industrieblech (als Fassadenverkleidung) entstand ein Gebilde, das für die Dauer von fünf Jahren konzipiert wurde und dann wieder demontiert werden soll. Futuristisch wie ein Raumschiff sieht das Gebäude allerdings nur von aussen aus: Über eine blau ausgeleuchtete Treppe im horizontal gelagerten Baukörper gelangt man auf die Hauptebene des ersten Obergeschosses mit Café und Réception - Innenarchitektur und Möblierung waren nicht Aufgabe der Architekten. Auch die im Turm auf mehreren Geschossen untergebrachten Ausstellungsbereiche wie „Wohnung der Zukunft“ und das „Büro der Zukunft“ nehmen sich eher konventionell aus, wenn man davon absieht, dass die Möbel und Geräte mit Digitaltechnik voll gestopft sind. Der Kühlschrank überwacht seinen Inhalt, und der Staubsauger wird von Sensoren gelenkt.

Spektralfarben im Hof

Eine andere Formensprache als die Bubble-oder Blob-Ästhetik kam bei dem Bürokomplex „La Défense“ zur Anwendung. Eine grosse fünfeckige Parzelle in Nachbarschaft des Hauptbahnhofs von Almere, der weitläufigen Stadtlandschaft im IJsselmeerpolder, wurde so bebaut, dass sich eine mäanderförmige Hofstruktur ergab. Die polygonale Form des Umrisses widerspiegelt sich im Ansteigen und Abfallen der Dachflächen: Von drei auf sechs Geschosse wachsen die Volumina, um sich dann wieder zu senken. Mit Rampen und Treppen wird dieses plastische Spiel der Faltungen im Bereich des Hofes nachgezeichnet. Wesentlich zum Reiz des Gebäudes trägt vor allem die Farbigkeit und Materialität der Fassaden bei. Während silbrig-grau schimmernde Metallelemente die Aussenfront des Gebäudekomplexes vereinheitlichen, sind die Hoffassaden aus Glaselementen aufgebaut, in die irisierende Metallfolien integriert wurden. Weil die dicht nebeneinander stehenden Gebäude sich wechselseitig spiegeln, entstehen spannungsreiche optische Effekte, und die Fassaden changieren zwischen Rot, Orange, Gelb, Grün und Blau. „La Défense“, nutzungsneutral konzipiert, ist das Investitionsobjekt eines Immobilienentwicklers; dass auch derlei Bauaufgaben zu architektonischer Qualität führen können, hat UN Studio hier eindrucksvoll bewiesen.

Das komplexeste Bauwerk des Büros aus Amsterdam entsteht allerdings derzeit in Arnhem. Lapidar „Arnhem Central“ heisst das gewaltige Projekt einer „public transportation area“ in Form einer intermodalen Vernetzung von verschiedenen Verkehrssystemen. Der Bahnhof ist hier weder Haltepunkt noch Shopping-Center mit Gleisanschluss, sondern eine räumliche Turbine zur Bewältigung eines hohen Passagieraufkommens. Das Projekt ist ein Musterbeispiel des von Ben van Berkel beschworenen „Deep Planning“, bei welchem der Architekt sich nicht mehr als Gestalter von Oberflächen, sondern als Organisator komplexer Planungsprozesse versteht. Die unterste Ebene, jene der Parkgeschosse, ist schon in Betrieb; bis zum Jahr 2007 soll Arnhem einen Verkehrsknoten erhalten, der durch eine Reihe von Hochhäusern auch als vertikale Dominante in Erscheinung tritt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.09.03



verknüpfte Akteure
UNS

05. Mai 2006Anneke Bokern
Neue Zürcher Zeitung

Die Privatisierung der Gartenstädte

Grosse Wohnungen mit halböffentlichen Innenhöfen sollen in Amsterdams Aussenvierteln finanzkräftige Bewohner anlocken. Das Resultat sind Miniatur- Gartenstädte hinter hohen Mauern, die das Verhältnis von Innen und Aussen ganz neu definieren.

Grosse Wohnungen mit halböffentlichen Innenhöfen sollen in Amsterdams Aussenvierteln finanzkräftige Bewohner anlocken. Das Resultat sind Miniatur- Gartenstädte hinter hohen Mauern, die das Verhältnis von Innen und Aussen ganz neu definieren.

«Ich komme aus einem abgelegenen marokkanischen Dorf. Aus Amsterdam-West.» Diesen Witz erzählt der marokkanisch-niederländische Kabarettist Rachid Larouz jetzt schon seit einigen Jahren, und das Publikum lacht immer noch. Amsterdam-West, das ist gleichbedeutend mit tristen Wohnhochhäusern, Satellitenschüsseln und Kopftüchern. Mehr als die Hälfte der Einwohner in den Stadtteilen westlich des Autobahnrings, der die Amsterdamer Innenstadt umgibt, stammen nicht aus den Niederlanden; 20 Prozent sind arbeitslos. Bekanntester Sohn der Aussenbezirke ist Mohammed B., der Mörder des Filmemachers Theo van Gogh.

Kein Wunder also, dass die Niederländer im vergangenen Herbst, als in Paris die Banlieues brannten, beunruhigt auf den Westen ihrer Hauptstadt schauten. Denn wie die Pariser Satellitenstädte wurden auch die Amsterdamer Stadterweiterungen nach dem Zweiten Weltkrieg nach modernistischen Städtebauprinzipien angelegt. Als Grundlage diente der «Allgemeine Erweiterungsplan», den der Stadtplaner Cornelis van Eesteren bereits zwischen 1929 und 1934 entwickelt hatte. Er sah eine strikte Funktionsscheidung vor: Wohnen, Erholung und Verkehr wurden räumlich getrennt voneinander organisiert; zum Arbeiten sollten die Einwohner in die Innenstadt oder an den Hafen pendeln. Die Wohngebiete wurden als sogenannte Gartenstädte angelegt, mit einer in öffentlichen Grünflächen nach dem Sonnenstand ausgerichteten, rationalistischen Zeilenbebauung. Bis zu 15-geschossige Wohnhochhäuser wechseln sich mit niedrigeren Reihenhauszeilen ab.

Monofunktional und leblos

Als die neuen Viertel um 1970 fertig gestellt waren, dauerte es jedoch nicht lange, bis sich dieses Konzept als gescheitert erwies. Die Siedlungen waren zu monofunktional und leblos, das Abstandsgrün zu ungemütlich und das Wohnungsangebot zu einseitig. Wer es sich leisten konnte, zog schnell wieder weg. Stattdessen kamen jene Bevölkerungsgruppen, die man in den Niederlanden gerne als «chancenarm» bezeichnet.

Seit einigen Jahren versucht die Stadt nun, die Verarmung aufzuhalten und die Gartenstädte wieder attraktiver zu machen. Im Gegensatz zu Rotterdam, wo in manchen Problembezirken kurzerhand ein Zuzugsstopp für Ausländer mit geringem Einkommen eingeführt wurde, setzt Amsterdam auf Neubauprojekte, die zahlungskräftigeres Publikum anlocken sollen. Von den derzeit 54 000 Wohnungen in Amsterdam-West werden bis 2015 etwa 10 000 abgerissen. Dafür sollen 17 500 Wohnungen neuen Typs entstehen. Das klingt drastisch, aber bis jetzt ist von grossen Abrissaktionen noch nichts zu sehen. Es hat erst eine vorsichtige «Impfung» der Stadtviertel mit einzelnen neuen Bauten begonnen. Eingeschleust wurden in den letzten Jahren vor allem Wohnkomplexe und -blöcke mit grossen Miet- und Eigentumswohnungen, deren Architektur sich möglichst deutlich von der Zeilenbebauung der Nachkriegszeit absetzt.

Moderne Festungen

Auffällig ist, dass kaum eines der Projekte versucht, sich in sein Umfeld einzufügen. Im Gegenteil: Allesamt grenzen sie sich ganz bewusst von der Umgebung ab. Den Anfang machte der «Noorderhof» nach einem städtebaulichen Plan von Rob Krier, dem luxemburgischen Neo-Traditionalisten. Wie das berühmte gallische Dorf hockt der Komplex aus hübschen Reihenhäuschen seit 1999 zwischen riesigen Wohnhochhäusern. Sprossenfenster, dekorative Gesimse, Vorgärtchen und verwinkelte Gassen bestimmen das Bild im Inneren der Hofanlage. Nach aussen schirmt eine höhere Randbebauung den Komplex von der ungeliebten Nachbarschaft ab. Das Konzept ging auf: Die Wohnungen im Noorderhof sind heiss begehrt und ebenso teuer wie in manch einem Innenstadtbezirk. «In der Nähe ist ein weiterer Wohnkomplex in Planung», sagt eine städtische Mitarbeiterin. «Wenn es nach den Anwohnern ginge, sollten wir dort ‹weiterkrieren›.»

Bis anhin ist der Noorderhof jedoch der einzige neotraditionalistische Eindringling in den Gartenstädten. Aber trotz ihrer moderneren Formensprache sind die meisten Neubauprojekte nicht minder introvertiert als die Anlage von Krier. So wurde 2002 ein origineller Wohnblock mit 26 verschiedenen Wohnungstypen vom jungen Architekturbüro Arons & Gelauff realisiert, der auf einem zweigeschossigen Sockel mit Geschäften und Parkgarage ruht. Auf dem Dach des Sockelbaus erheben sich die sechs Wohngeschosse und umschliessen einen kollektiven Innenhof für die Bewohner. Obwohl durch eine teilweise Aufständerung ein Durchguck geschaffen und mit Fensterbändern ein offener Fassadencharakter erzeugt wurde, ist der geschlossene Baublock eigentlich eine moderne Festung und zeigt der Umgebung ebenso die kalte Schulter wie der Noorderhof.

Pseudoöffentlicher Raum

Mit dem erhöhten Innenhof haben Arons & Gelauff Schule gemacht. Ganz in der Nähe ihres Projekts wurde vor kurzem ein Block von Mecanoo fertig gestellt, der auf einem ähnlichen Konzept beruht, wenngleich er auf den ersten Blick offener wirkt: Seine drei unterschiedlich hohen Flügel mit Fassaden aus dunklem Backstein und Metallpaneelen legen sich hufeisenförmig um einen grossen, mit Holzbohlen gedeckten Binnenplatz, der sich zu einem Park und einem See öffnet. Allerdings ist auch dieser Innenhof weder öffentlich zugänglich noch für Passanten einsehbar, denn er liegt etwa zwei Meter über Strassenniveau, über einer halb im Boden versenkten Garage. Es entsteht ein pseudoöffentlicher Raum, der vor allem der Aussicht der Bewohner dient.

Auch MVRDV spielen bei ihrem Wohnkomplex «Parkrand», der sich zurzeit im Bau befindet, mit dieser Semi-Öffentlichkeit. In einen öffentlichen Park stellen sie fünf Türme, die durch Wolkenbügel, aber auch durch eine kollektive Terrasse im ersten Stock miteinander verbunden sind. Der Park setzt sich also innerhalb des Blocks fort, ist aber nicht für jedermann betretbar. Einerseits ist diese Abgrenzung angesichts der schwierigen sozialen Situation in den Vierteln nachvollziehbar, andererseits wirkt sie ein wenig wie eine ängstliche Verballhornung der Gartenstadt-Utopie. Öffentlicher wird durch halbprivaten Raum, Abstandsgrün durch Gemeinschaftsterrassen ersetzt. FARO Architecten, die den neuen Typus mit einem Entwurf für zwei Strassenblöcke auf städtebaulichen Massstab übertragen haben, bezeichnen diesen denn auch als «zeitgenössische Gartenstadt». Hochhäuser und niedrigere Reihenhäuser bilden dort eine geschlossene Blockwand, die einen Innenraum mit einer Mischung aus kollektiven und privaten Gärten umschliesst. Offiziell mag die Schaffung unterschiedlicher Wohnungstypen das Hauptanliegen der neuen Entwicklungen in den Gartenstädten sein. Eigentlich geht es aber um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Offenheit und Geschlossenheit, Öffentlichkeit und Privatheit, Innen und Aussen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.05.05

02. Oktober 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Natur? Eine Frage der Sozialarbeit

Der niederländische Landschaftsarchitekt Bart Brands über Lifestyle, Bürokratie und dreckige Fingernägel

Der niederländische Landschaftsarchitekt Bart Brands über Lifestyle, Bürokratie und dreckige Fingernägel

Standard: Wo steht die europäische Garten- und Landschaftsarchitektur im Jahr 2010?

Brands: Für viele Leute ist der Garten eine Art Statussymbol geworden. Je größer der Garten, je teurer die Outdoor-Küche, je blauer der Swimming-Pool, desto besser. Das ist ein richtiger Wettstreit unter Nachbarn. Doch es gibt noch einen ganz anderen Trend, der mir viel besser gefällt: Leute verwenden den Garten als verlängertes Wohnzimmer und gleichzeitig als eine Art grünen Zufluchtsort, an dem sie ihr eigenes Gemüse anpflanzen. Sogar Michelle Obama macht das! Der Garten ist also Symbol für eine Rückbesinnung zur Natur.

Standard: Sie sind ...?

Brands: Ich bin der mit dem Dreck unter den Fingernägeln, der sich nach der Gartenarbeit die Hände nicht gewaschen hat. Der Garten als Designstück - das ist mir zuwider.

Standard: In Ihrem Vortrag meinten Sie, dass Landschaftsarchitekten zusehends zu Dirigenten und Regisseuren werden. Was meinen Sie damit?

Brands: Früher hat man einen Entwurf gemacht, der wurde realisiert, und das war's. Das ist heute anders. Ich beobachte, dass immer mehr Landschaftsarchitekten eine Art interaktives Drehbuch schreiben. Das heißt: Sie realisieren zunächst einmal einen ersten Rohentwurf und schauen sich an, wie der Grünraum von der Bevölkerung angenommen wird. Erst danach reagieren sie darauf und stellen den Entwurf fertig. Man sieht daran, ganz gut, welchen Einfluss ein Garten auf die Menschen hat - aber natürlich auch umgekehrt.

Standard: Woher kommt dieser Wunsch nach Partizipation?

Brands: Es mag eigenartig klingen, aber es ist wahr: Die eigentliche Initiative geht von den Sozialarbeitern aus. Immer wieder sind sie es, die an Gemeinden und Planer herantreten und appellieren, endlich einmal ein Gemeinschaftsprojekt mit der Bevölkerung zu realisieren. Mittlerweile hat sich das Thema verselbstständigt. Wir nennen das Social Engineering - ein furchtbares Wort.

Standard: In der Architektur gab es das System Partizipation schon vor 30 Jahren. Und es ist gescheitert!

Brands: Und wissen Sie, warum? Weil die Architekten damals die Verantwortung komplett an die Bürger abgegeben haben! Und das funktioniert nicht! Teilhabe bedeutet, wie der Name schon sagt, dass die Bevölkerung am Planungsprozess teilhat. Mehr ist es nicht. Der Planer muss die Zügel in der Hand behalten.

Standard: Leidsche Rijn, ein von Ihnen entwickelter und in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung entstandener Park in den Niederlanden, wurde zerstört und umgebaut, noch bevor er überhaupt fertig war. Was ist passiert?

Brands: Wir haben einen Park entworfen, an dem wir mit den Leuten vor Ort kontinuierlich weiterplanen und weiterbauen wollten. Vegeblich. Das Problem war, dass Planungsabteilung, Bauabteilung und Abteilung für Erhaltung und Pflege nicht miteinander kommuniziert haben. Solche Projekte scheitern daran, dass es in den Ämtern schlimmer zugeht als vor hundert Jahren.

Standard: Was passierte danach?

Brands: Die Gemeinde musste das Projekt neu ausschreiben. Das Resultat ist ein klassischer Park nach klassischer Methode - da kennen sich die Beamten aus.

Standard: Die Abteilungen sind in den meisten Städten getrennt. Wie kann man das Problem lösen?

Brands: Ein innovatives Projekt innerhalb einer verkrusteten, altmodischen Struktur zu realisieren ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die einzige Möglichkeit ist, in solchen Fällen beispielsweise eine übergeordnete Ebene zu installieren, die für Planung, Bau und Erhaltung gleichermaßen verantwortlich ist.

Standard: Wo sehen Sie den öffentlichen Raum in 50 Jahren?

Brands: Öffentlicher Grünraum in der Stadt wird immer wichtiger. Die telekommunikativen und virtuellen Räume werden immer größer, gleichzeitig haben die Menschen kaum noch realen Platz für die Pflege ihrer sozialen Beziehungen. Sich auf dem Hauptplatz zu treffen ist schon lange nicht mehr das, was es früher mal war. Überall herrscht Konsumationszwang. Nur ein Beispiel: Auf dem Markusplatz in Venedig wurden vor einiger Zeit alle Parkbänke entfernt. Wer sich heute hier hinsetzen will, muss dafür in Form eines Cappuccinos teuer bezahlen.

Der Standard, Sa., 2010.10.02



verknüpfte Akteure
Brands Bart

17. Oktober 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Gotteshaus und Burg

Rijksmuseum und Hauptbahnhof in Amsterdam sind die bekanntesten Werke von P. J. H. Cuypers. Eine grosse Doppelausstellung in Rotterdam und Maastricht gibt Einblick in das Schaffen des Neugotikers.

Rijksmuseum und Hauptbahnhof in Amsterdam sind die bekanntesten Werke von P. J. H. Cuypers. Eine grosse Doppelausstellung in Rotterdam und Maastricht gibt Einblick in das Schaffen des Neugotikers.

Gemeinhin gilt Hendrik Petrus Berlage, der Schöpfer der Börse in Amsterdam, als Ahnherr der modernen niederländischen Architektur. Berlage selbst aber wertete anders: Er sah in Petrus Josephus Hubertus Cuypers, dem Architekten des Hauptbahnhofs und des Rijksmuseum in Amsterdam, den eigentlichen Vorreiter. Das Leben von Cuypers, der als grösster niederländischer Architekt des 19. Jahrhunderts gilt, währte nahezu ein Jahrhundert – von 1827 bis 1921. In der Epoche des Klassizismus geboren, starb er zu einer Zeit, da der Rationalismus von De Stijl und der Expressionismus der Amsterdamer Schule die Architekturszene beherrschten. Cuypers' Nachlass im Archiv des Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam ist in den vergangenen Jahren systematisch aufgearbeitet worden – nicht zuletzt, um das notwendige Material für die derzeitigen Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten am Rijksmuseum und an der Centraal Station sowie dem Kasteel de Haar, Cuypers' grossem Spätwerk, bereitstellen zu können. Mit der jetzigen Ausstellung, «Cuypers – Architecture with a Mission», und einer gewichtigen Publikation findet das Inventarisierungsprojekt seinen Abschluss. Zum ersten Mal präsentiert das NAI eine Ausstellung zweigeteilt, nämlich am Hauptstandort in Rotterdam und in der im vergangenen Jahr bezogenen Dépendance in Maastricht.

Der äusserst umfangreiche Nachlass stellte die eigentliche Herausforderung für die Ausstellungsmacher dar. Sie haben sich dazu entschieden, keinen Gesamtüberblick über das Œuvre des Architekten zu geben. Stattdessen legen sie zwei synchrone Schnitte durch das Werk von Cuypers. Dem Jahr 1877 gilt die Ausstellung in Rotterdam, dem Jahr 1897 diejenige in Maastricht.
Bauen für die Kirche

Als Cuypers 1877 seinen 50. Geburtstag feierte, befand er sich auf dem ersten Höhepunkt seiner Karriere. Ähnlich wie William Morris hatte er mit kunsthandwerklichen Arbeiten begonnen und 1852 die Werkstätten für christliche Kunst in seinem Geburtsort Roermond in der Provinz Limburg gegründet. Im Zuge der Liberalisierung nach 1848 hatten auch Katholiken in den Niederlanden das Recht auf freie Religionsausübung erhalten; 1853 wurden die historischen Bistümer wiederhergestellt. Diese sollten zu Cuypers' wichtigsten Auftraggebern werden. Mit der Restaurierung und Neumöblierung von Kirchen begann seine Tätigkeit, doch bald folgten auch Neubauten. Dass er dabei auf die Neugotik zurückgriff, hat mit dem Interesse an diesem Stil zu tun, der seit Mitte des 18. Jahrhunderts Europa ergriffen hatte. Cuypers' wichtigste Inspirationsquellen waren Augustus Welby Pugin, der die englische Reformbewegung massgeblich beeinflussen sollte, vor allem aber Eugène Viollet-le-Duc.

Der Franzose hatte mit seinen Restaurierungen von Kathedralen und Burgen, mehr noch aber durch seine Schriften die zeitgenössische Sicht der französischen Gotik geprägt. Insbesondere die Vorstellung von einem «ehrlichen», also materialgerechten Baustil und die Betonung des Strukturellen waren erste Anzeichen für eine Überwindung des Eklektizismus. Unverkleidete Ziegelgewölbe, offengelegte Tragstrukturen und eine aus der Eigenfarbigkeit von Baumaterialien resultierende Polychromie kennzeichnen die Bauten Cuypers', der – wie an zahlreichen seiner insgesamt 67 neu errichteten Kirchen ersichtlich – eher als Nachfolger von Viollet-le-Duc denn als grosser Innovator verstanden werden muss.

Auf grossen, staffeleiähnlichen Displays werden Cuypers' riesige, vielfach kolorierte Entwürfe gezeigt; dazu treten Zeichnungen für die Details, die beweisen, dass das Atelier von Cuypers auch die gesamte Innenausstattung bis hin zu den liturgischen Gegenständen konzipierte. Ebenfalls zu sehen sind die Entwürfe für die wichtigsten Profanbauten. Dazu zählen die Stadtvillen, die Cuypers auf dem 1865 von ihm selbst erworbenen Terrain am Amsterdamer Vondelpark errichtet hatte, vor allem aber das Rijksmuseum und die Centraal Station. Gerade das Museum erhitzte die Gemüter. Auch wenn der Architekt Varianten in der Sprache von Gotik und Renaissance vorgelegt hatte, sahen manche Kritiker den katholischen Geist am Werk – und damit etwas für das reformierte Amsterdam völlig Inadäquates.

Burgenromantik

Im Jahre 1897 – das Rijksmuseum war 1885, die Centraal Station 1889 fertig gestellt worden – gehörten die Kontroversen der Vergangenheit an. Cuypers, auch als Rijksbouwmeester zu Einfluss gelangt, befand sich im Zenit seines Ruhmes. Die dem Neuen gegenüber aufgeschlossene Architekturzeitschrift «Architectura et Amicitia» widmete ihm ein Sonderheft, und gerade von einer jüngeren Architektengeneration wurde der Siebzigjährige verehrt, etwa von K. P. C de Bazel oder Lauweriks. Dies weniger seiner Bauten wegen als vielmehr aufgrund einer Haltung, die ihn als Protagonisten der Reformarchitektur erscheinen liess. Mit dem Katholizismus hatten die Jungen, die der Theosophie oder sozialistischen Idealen anhingen, weniger Mühe. Tempelvisionen imaginierte auch Berlage noch um 1920.

Im Zentrum der Maastrichter Schau steht der Wiederaufbau des Kasteel de Haar in Haarzuilens bei Utrecht. Der Auftrag wurde Cuypers durch seinen Freund Victor van de Stuerts vermittelt, den Leiter der Abteilung Kunst und Wissenschaften im niederländischen Innenministerium. 1890 hatte Baron Etienne van Zuylen van Nijevelt, durch die Heirat mit Hélène de Rothschild zu Vermögen gelangt, die ruinöse Burganlage seiner Vorfahren geerbt. Im Jahr darauf beauftragte er Cuypers mit dem Wiederaufbau, der nicht eine Rekonstruktion werden sollte, sondern eine gebaute Phantasmagorie des Mittelalters aus romantischem Geist, als bizarres Gesamtkunstwerk seltsam verspätet und quer in der Zeit stehend, dabei selbstverständlich mit allem Komfort der Zeit ausgestattet. Weil der Baron die umliegenden Häuser nicht von seinem Wohnsitz aus sehen wollte, liess er in neoabsolutistischem Gestus abseits ein ganzes Dorf samt Wirts- und Gemeindehaus neu errichten. Die Pläne dazu stammen von Jos Cuypers, der in das Büro seines Vaters eingetreten war und dieses auch nach dessen Tod weiterführte.

Im 20 Jahre dauernden Projekt in Haarzuilens fand der niederländische Historismus zu einem späten Höhepunkt. Nach Jahren der Vernachlässigung wird das Kasteel bis 2010 restauriert. Schlechter erging es einer Reihe von Cuypers' Kirchen, die vorwiegend in den sechziger Jahren abgerissen wurden. Und die romanische Basilika Sint Servaas in Maastricht, mit deren Restaurierung sich der Architekt ein halbes Jahrhundert auseinandersetzte, zeigt nach den jüngsten Umgestaltungen kaum noch Spuren von Cuypers' Wirken.

[ Bis 6. Januar 2008 im NAI Rotterdam und Maastricht, Katalog: P. J. H. Cuypers (1827–1921). The Complete Works. Hrsg. Hetty Berens. NAI Publishers, Rotterdam 2007. 400 S., € 49,50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2007.10.17

02. März 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Transformationen in Stadt und Hafen

Innenstadt und Hafenareale stehen im Brennpunkt der urbanistischen Entwicklung Rotterdams. Nun hat sich die boomende Hafenmetropole selbstbewusst zur Architekturstadt 2007 ausgerufen.

Innenstadt und Hafenareale stehen im Brennpunkt der urbanistischen Entwicklung Rotterdams. Nun hat sich die boomende Hafenmetropole selbstbewusst zur Architekturstadt 2007 ausgerufen.

Von der verheerenden Zerstörung durch das Bombardement der deutschen Luftwaffe am 14. Mai 1940 hat sich Rotterdam bis heute nicht vollständig erholt. Mehrere Generationen von Stadtplanern haben die Stadt im Geist der Moderne wiederaufzubauen versucht. Van den Broek & Bakema und Hugh Maaskant begannen 1951 mit dem innerstädtischen Lijnbaan-Viertel, das mit seinen eine Fussgängerzone flankierenden Geschäftspavillons und den dahinter aufragenden Wohnscheiben als urbanistische Inkunabel der fünfziger Jahre weltweit Nachahmung fand. Auch wenn später kleinteiligere Strukturen das urbane Gefüge ergänzten: Der Innenstadt von Rotterdam mangelt es an Aufenthaltsqualität. So ist es seit Jahren ein Ziel, durch Nachverdichtung mehr Leben in das Zentrum zu bringen. Das wichtigste Projekt ist eine grosse Markthalle, die nahe der U-Bahn-Station Blaak bis 2009 entstehen soll.

Die Markthalle als Kathedrale

Die Umgebung der zukünftigen Markthalle wird bestimmt von der gotischen Sint-Laurens-Kerk, die als einziges historisches Relikt davon zeugt, dass sich hier einst die Keimzelle der städtischen Entwicklung befand, und den bizarren, auf die Spitze gestellten Kubushäusern (1978-84) des Strukturalisten Piet Blom. Die lange Freifläche der Binnenrotte, die sich dazwischen aufspannt, dient traditionell als offener Marktplatz. Nicht zuletzt neue Hygienevorschriften, denen zufolge beispielsweise der Verkauf von Fleisch im Freien untersagt ist, haben nun zu der Idee einer überdeckten Markthalle geführt - ein Bautypus, der in den Niederlanden anders als in anderen europäischen Staaten in der Vergangenheit keine Vorbilder hat. Gewiss bleibt abzuwarten, ob am Ende tatsächlich eine lebendige Markthalle oder ein Luxus-Food-Court entsteht, doch die Intentionen, die der Projektentwickler Provast bisher bekanntgegeben hat, stimmen zuversichtlich. In der 100 Meter langen Halle sollen etwa 70 Marktstände eingerichtet werden, wobei man kleine lokale Anbieter bevorzugen und ein Augenmerk auf biologische Produkte legen will.

Das Vorgehen bei der Planung der Markthalle ist typisch für die neue rechtsorientierte Stadtregierung, die eigene Investitionen in den öffentlichen Sektor verweigert und dessen Gestaltung dem freien Spiel wirtschaftlicher Kräfte überlässt. Das Grundstück wurde dem Projektentwickler verkauft, der darauf das Bauprojekt für 120 Millionen Euro realisiert; mit 35 Millionen investiert die Stadt allein in die Infrastruktur der Tiefgarage mit ihren 1100 Plätzen. Dass unter diesen Voraussetzungen doch ein bemerkenswertes Projekt entstehen kann, ist dem Unternehmen Provast zu verdanken, das den Ende 2004 prämierten Wettbewerbsentwurf von MVRDV realisiert.

Finanziert wird das Konzept der Markthalle durch Zusatznutzungen, und so entwarfen die Architekten eine zwölfgeschossige Mantelbebauung, welche sich auf beiden Längsseiten über den Freiraum der an den Stirnen und im Zenitalbereich verglasten Halle mit den Marktständen wölbt. Im Sockel sollen Lebensmittelgeschäfte und Gastronomiebetriebe einziehen, darüber sind knapp 250 Eigentums- und Mietwohnungen geplant. Ohne Zweifel besitzt das spektakuläre, 40 Meter hohe Gebäude das Potenzial, als neuer Attraktor das bisher trotz innerstädtischer Lage eher im Schatten des jetzigen Zentrums gelegene Laurenskwartier zu beleben - die Projektentwickler sprechen von einem Zeichen für die Stadt und einer Kathedrale für Rotterdam. Im Februar 2006 hat die Stadt dem Verkauf der Liegenschaft zugestimmt, so dass einer Realisierung nichts mehr im Wege steht.

Revitalisierung der Maasufer

Neben den innerstädtischen Interventionen konzentriert sich die Stadtplanung in Rotterdam auf die Transformation und Revitalisierung der nicht mehr benötigten Hafenareale am Nord- und Südufer der Maas. Die Umnutzung begann schon in den siebziger Jahren, doch erst das Grossprojekt der Neubebauung von Kop van Zuid, der der Innenstadt gegenüberliegenden, durch die zum Wahrzeichen avancierte Erasmus-Brücke verbundenen Hafenareale, liess eine neue Wasserfront entstehen, in die sich auch seit 2005 eine Wohnbebauung des zum Traditionalisten konvertierten, in den Niederlanden erfolgreichen Hans Kollhoff einfügt. Umgenutzte Lagerhäuser und Terminals verbinden sich auf der Landzunge des Wilhelminapiers mit Hochhäusern von Renzo Piano, Norman Foster und dem 156 Meter hohen Turm «Montevideo» von Mecanoo. Diesem «Maashattan» antworten im südöstlich jenseits des Rijnhaven gelegenen Stadtteil Katendrecht zwei Wohntürme von DKV.

Auf das bedeutendste Projekt der Hafenrevitalisierung stösst man derzeit am Nordufer der Maas. Müller- und Lloydpier heissen die beiden Landzungen zwischen dem Stadtteil Delfshaven und der Innenstadt, die nach städtebaulichen Masterplänen von Kees Christiaanse Architects and Planners (KCAP) bebaut werden. Die Ausgangsidee der Architekten bestand darin, die übliche Nutzungstrennung zu vermeiden und eine weitgehende funktionale Durchmischung zu ermöglichen. Der Müllerpier wird schon seit den siebziger Jahren nicht mehr für den Hafenbetrieb genutzt. Da die Fläche über lange Jahre als Standort einer Kirmes diente, war sie weitgehend planiert, als KCAP mit den Planungen begannen.

Es ist die Grundüberzeugung von Kees Christiaanse, dass nur ein auf sozialer und funktionaler Diversifikation beruhendes Stadtquartier lebenswert, urban und letztlich erfolgreich ist. «The City as Loft» nennt Christiaanse sein Konzept, möglichst undeterminierte Räume zu schaffen, die informell genutzt werden können und eine urbane Klientel anziehen, die nicht unbedingt finanzstark ist, aber durch eigene Aktivität als urbaner Generator wirkt. Das ist insbesondere im Bereich des Lloydpiers gelungen, wo die bestehenden Altbauten für Filmstudios, Ateliers oder Lofts umgenutzt wurden; an der Nordkante des Quartiers findet sich das alternative Theaterhaus «Onafhankelijk Toneel» und jenseits vom Westzeedijk das Rotterdamer Konservatorium. Zur eigentlichen Landmarke aber ist das weithin sichtbare Scheepvaart en Transport College an der Maasfront des Lloydpiers geworden. Das Büro Neutelings Riedijk hat die Ausbildungsstätte für Seefahrt und Hafenlogistik als 70 Meter hohe Skulptur konzipiert, die aus einem Sockelbereich, dem wuchtigen Turm und einem im Querschnitt trapezoiden, 20 Meter auskragenden Auditoriumsvolumen in der Höhe besteht; verkleidet ist das im Inneren durch Rolltreppen erschlossene Gebäude mit silbergrauen und blauen, gewellten Stahlblechplatten in Schachbrettanordnung. Während sich die Seitenfront des unteren Hörsaals zur Maas hin öffnet, wirkt die gerahmte Verglasung des oberen Auditoriums wie ein Periskop Richtung Nordsee.

Von Willem Jan Neutelings stammen auch Entwürfe für die Bebauung des Müllerpiers, an der ausserdem EGM, de Architekten Cie. und KCAP beteiligt sind. Die der Industrialisierung des Bauwesens geschuldete niederländische «Tunnelbauweise» aus raumbildenden Betonelementen überführte Neutelings in ungewohnt plastische, mit Backstein verkleidete Volumina. Der abgetreppte Baukörper des Gebäudes «Aert van Nes» entstand für die Stiftung Humanitas, die ungewohnte Wege im Bereich Alterswohnungen beschreitet. Das Restaurant «De Zingende Zeeleeuw» im Erdgeschoss und das wie eine Schublade aus der Front auskragende Hallenbad im Geschoss darüber stehen auch externen Besuchern offen.

Es sei erstaunlich, in welchem Masse die Angebote der Stiftung Humanitas zur Belebung des Quartiers beitrügen, erklärt Christiaanse im Gespräch. Er konnte bereits zwei Bauten auf dem Müllerpier realisieren. Experimente seien allerdings nach dem politischen Wechsel in Rotterdam auch im Wohnungsbau kaum gefragt. So favorisieren die privatisierten Wohnungsbaugesellschaften und Projektentwickler die konventionelle Familienwohnung - während der Masterplan «Townhouses» eine Mischung aus Wohnen und Arbeiten vorsah.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.03.02

03. September 2004Anneke Bokern
Neue Zürcher Zeitung

Eine Stadt gewinnt Land

Im Osten Amsterdams wird derzeit im IJmeer der neue Stadtteil IJburg mit Wohn- und Arbeitsraum für 45 000 Menschen angelegt. Von den sieben künstlichen Inseln, die bis 2012 entstehen sollen, sind drei fertiggestellt. Die ersten Bauten lassen vermuten, dass die Zeit der Experimente im niederländischen Wohnungsbau vorbei ist.

Im Osten Amsterdams wird derzeit im IJmeer der neue Stadtteil IJburg mit Wohn- und Arbeitsraum für 45 000 Menschen angelegt. Von den sieben künstlichen Inseln, die bis 2012 entstehen sollen, sind drei fertiggestellt. Die ersten Bauten lassen vermuten, dass die Zeit der Experimente im niederländischen Wohnungsbau vorbei ist.

Östlich von Amsterdam liegt eine grosse, flache Mondlandschaft im IJmeer. Sand und Wasser, soweit das Auge reicht. Eine grellweisse Brücke verbindet das Festland mit der Sandfläche. Man passiert herumliegendes Baugerät, einsame Strommasten, eine Würstchenbude. Dann tauchen die ersten Gebäude auf: eine Reihe mehrgeschossiger Neubauten, dahinter ein kleines Viertel mit Reihenhäusern. Einige hundert Meter weiter geht der Sand wieder ins Wasser über. Kaum zu glauben, dass diese Mondlandschaft einmal ein neues Stadtviertel von Amsterdam mit 18 000 Wohnungen auf sieben Inseln werden soll. Kaum zu glauben aber auch, dass es an dieser Stelle noch vor fünf Jahren gar kein Land gab. Doch mit der Anlage der ersten Inseln von IJburg wurde erst Ende 1999 begonnen. Mit dem Haven-, Riet- und Steigereiland sind drei der geplanten sieben Eilande inzwischen fertig. Im Gegensatz zu den meisten Landgewinnungsprojekten in Holland wird IJburg nicht eingepoldert, sondern aufgespült: Aus dem IJsselmeer wird Sand abgesaugt und im IJmeer aufgeschichtet. Nach etwa einem Jahr ist das Neuland so weit gesackt und gefestigt, dass es Häuser tragen kann. Dass diese Methode der Landgewinnung nicht ganz billig ist, versteht sich von selbst. Aber Amsterdam hat keine Wahl, denn die Stadt plagt ein akutes Platzproblem. Während die Einwohnerzahl stetig wächst, gibt es im Umland kaum noch Raum für Stadterweiterungen. Also musste man auf eine Massnahme zurückgreifen, die in den Niederlanden Tradition hat: Wenn es kein geeignetes Bauland gibt, macht man sich selber welches.

Abwechslungsreicher Archipel

Die Idee zur Anlage eines Inselstadtteils an diesem Ort geht bis ins Jahr 1965 zurück. Damals entwickelte das Architekturbüro Van den Broek en Bakema einen Plan für eine modernistische Archipelstadt, in der nicht weniger als 350 000 Menschen wassernah wohnen und arbeiten sollten. Die Gemeinde optierte indes für den Bau der Pendlerstädte Almere und Purmerend sowie des Hochhausviertels Bijlmermeer. Die Monofunktionalität dieser neuen Siedlungen hat sich jedoch im Laufe der Zeit als problematisch erwiesen, weshalb man sich bei der Planung von IJburg wieder mehr an der funktionalen Durchmischung orientiert hat. IJburg soll urban und abwechslungsreich werden. Jede Insel erhält einen eigenen Charakter, vom städtischen Haveneiland über die luxuriösen Rieteilanden bis hin zum eigenwilligen Steigereiland mit seinen Hausbootanlegern. Um den Archipel an das Stadtzentrum anzubinden, wurde eigens eine Strassenbahnlinie angelegt.
Allerdings hat bisher noch niemand eine Strassenbahn am Horizont gesichtet, und von der künftigen Betriebsamkeit ist auch noch nicht viel zu spüren. Der Bau der ersten Wohnungen verläuft schleppend, da die Wirtschaftslage sich verschlechtert hat und der Wohnungsmarkt seit einiger Zeit stagniert. Als erste Gebäude wurden die Brücke von Richard Grimshaw und eine Telefonzentrale mit Lichtfassade des Ateliers Zeinstra van der Pol fertiggestellt, die jahrelang einsam in den Nachthimmel blinkte. Allmählich beginnen sich aber Rohbauten um die Telefonzentrale auf dem Haveneiland zu scharen. Die Insel erhält eine dichte Blockrandbebauung, die mit einem variationsreichen Strassenbild einhergehen soll. Deshalb werden die Baublöcke jeweils von einem Architekten koordinierend geplant, der sich jedoch den Entwurf der einzelnen Gebäude mit mindestens drei anderen Büros teilen muss. Unter den beteiligten Architekten sind etablierte Büros wie Kees Christiaanse Architects, Claus en Kaan oder De Architekten Cie, aber auch jüngere Teams wie VMX oder Arons en Gelauff.

Konjunktur contra Innovation

Die bisher realisierten Blöcke an der IJburglaan, der künftigen Hauptstrasse, machen bereits deutlich, dass IJburg wohl kein Laboratorium für innovative Architektur ähnlich den östlichen Hafeninseln in Amsterdam wird. Zwar hat Block 4 von Maccreanor Lavington kürzlich einen der begehrten RIBA-Awards erhalten, aber im Vergleich zu den radikalen Patiohäusern, die vor fünf Jahren nach einem Masterplan von West 8 auf Borneo-Sporenburg entstanden, sehen die mehrgeschossigen Backsteinbauten ziemlich blass aus. Wenn die Konjunktur schwächelt, bestimmt eben auch in Holland kostengünstige und konsensfähige Architektur den Markt. Hinzu kommt, dass ein Aufsichtsteam aus konservativen Architekten und Stadtplanern über die Ästhetik der Entwürfe wacht und manch eine Idee im Keim erstickt.

Auch die Reihenhäuser auf dem Grossen Rieteiland haben wenig Neues zu bieten. Einzig das Kleine Rieteiland verspricht spannend zu werden, denn es besteht grösstenteils aus freien Grundstücken, die der Käufer mit einem Haus nach seinem Geschmack bebauen darf - in Holland noch immer eine revolutionäre Idee. Die Bauherren müssen sich lediglich an den städtebaulichen Rahmenplan halten, den das Amsterdamer Büro Bosch Architecten entwickelt hat und der eine Bebauung mit „Reihenvillen“ mit Skyboxes vorsieht. Auf vier Parzellen haben Bosch ihre Vorgaben zu beispielhaften Villen ausgearbeitet und damit die bisher schönsten und typologisch interessantesten Bauten auf IJburg geschaffen. Äusserlich suburbane Villen, haben die schwarz glitzernden Bauten innen Loftcharakter und inszenieren dank einem Wechselspiel introvertierter und extrovertierter Räume den Dialog mit der wasserreichen Umgebung. Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft noch mehr solche architektonischen Perlen im Sand von IJburg zu finden sein werden. Nächstes Jahr beginnt das Aufspülen der vierten Insel, des Centrumeilands. Dort, wo einmal eine Brücke das Haveneiland mit dem Centrumeiland verbinden soll, liegt der schönste Ort von IJburg: ein temporärer Strand mit Restaurant und Blick übers IJsselmeer. Hinter dem Zaun, der das Areal umgibt, weist ein Schild den Besucher darauf hin, auf welch unsicherem Grund er sich befindet: Vorsicht, Treibsand!

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.09.03

04. Juni 1999Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Bauen mit wenig Theorie und viel Engagement

Mit einem kreativ gestalteten Wohnblock in Rotterdam haben die Mecanoo-Architekten Mitte der achtziger Jahre demonstriert, dass auch sozialer Wohnungsbau schön sein kann. Inzwischen zählt das nach dem dadaistischen Pamphlet «Mecanoo» von Theo van Doesburg benannte Team zu den erfolgreichsten niederländischen Architekturbüros der letzten Jahre.

Mit einem kreativ gestalteten Wohnblock in Rotterdam haben die Mecanoo-Architekten Mitte der achtziger Jahre demonstriert, dass auch sozialer Wohnungsbau schön sein kann. Inzwischen zählt das nach dem dadaistischen Pamphlet «Mecanoo» von Theo van Doesburg benannte Team zu den erfolgreichsten niederländischen Architekturbüros der letzten Jahre.

Der Entwurf war stimmig, keine Frage. Aber dass sie den Wettbewerb zur Bebauung des Rotterdamer Kruisplein tatsächlich auch gewinnen könnten, daran hatten die drei Delfter Architekturstudenten Francine Houben, Henk Döll und Roelf Steenhuis wohl selbst nicht geglaubt. Eilig mietete die inzwischen durch die beiden Studienkollegen Chris de Weijer und Erick van Egeraat erweiterte Gruppe daraufhin einen kleinen Büroraum in der Delfter Innenstadt, und kaum achtzehn Monate später wurden die letzten der insgesamt 97 Sozialwohnungen im Rotterdamer Zentrum fertiggestellt. Um die verschiedenen Formen gemeinschaftlichen Wohnens mit hoher gestalterischer Qualität verbinden zu können, setzten die Architekten dabei von Anfang an auf einen intensiven Dialog mit Bauherren, künftigen Bewohnern und Nachbarn - eine Strategie, die bis heute die Planungsphase ihrer Projekte bestimmt.


Wohnungsbau

Seit der Fertigstellung des Wohnkomplexes am Kruisplein vor nunmehr 14 Jahren hat Mecanoo mehr als 220 Projekte entworfen. Etwa 80 davon sind bereits realisiert worden, weitere 35 Projekte befinden sich noch in der Planung. Das kleine Hinterzimmer in de Oude Delft 203 dient dabei nur noch als Bibliothek, denn längst haben sich die Aktivitäten des Büros über das gesamte Gebäude ausgeweitet. Zwei grossflächige Etagen mit einem kirchenähnlichen Raum im Zentrum bieten fast schon fürstliche Arbeitsbedingungen für die mittlerweile rund 60 Mitarbeiter von Mecanoo.

Die Bedeutung des staatlich gelenkten Wohnungsbaus, der vielen jungen Architekten als Sprungbrett zur Selbständigkeit dient, ist in den Niederlanden nach wie vor gross. Für die Architekten von Mecanoo bildete die Bebauung des Kruisplein den Auftakt zu einer ganzen Reihe weiterer Wohnbauprojekte. Allein in Rotterdam entwickelte die Gruppe Stadtquartiere am Tiendplein (1984-90), an der Hillelaan (1985-89) und am Ringvaartsplas (1988-93). In Maastricht folgte fast zeitgleich die Bebauung des Herdenkingsplein, in Den Haag stellte das Büro vor zwei Jahren ausserdem ein kompaktes Wohngebiet mit rund 800 Wohnungen am Groothandelsmarkt fertig. Die Idee der Gartenstadt, realisiert durch kleinteilige Reihenhausparzellen am Rand des Geländes, wird dabei mit wellenförmig angelegten Blöcken und einem zentralen Hochhaus verknüpft, das - ähnlich wie der zentrale Baukörper in der Rotterdamer Hillelaan - eine deutliche Nähe zu Alvar Aaltos «Neuer Vahr» in Bremen erkennen lässt.

Wo sich andere niederländische Architekturbüros, vor allem OMA oder MVRDV, in manifestartigen Schriften der Utopie einer maximal verdichteten Grossstadt anzunähern versuchen, bekennen sich die Architekten von Mecanoo offen zur Tradition der niederländischen Moderne; zu Jacobus Oud und Gerrit Rietveld oder zu den «Forum-Architekten» um Herman Hertzberger und den vor kurzem verstorbenen Aldo van Eyck, denen vor allem an der sozialen und integrativen Dimension der Architektur gelegen war. Wirkliche theoretische Programme sucht man bei Mecanoo jedoch vergeblich. «Wir sind frei von Dogmen, und das bedeutet, dass wir nie vorab Stellung beziehen», beschreiben Houben, Döll und de Weijer ihre Arbeit (van Egeraat, der bis 1995 massgeblich an zahlreichen Projekten beteiligt war, hat Mecanoo inzwischen ebenso verlassen wie Steenhuis). «Alles andere würde bedeuten, dass sämtliche Diskussionen über Architektur schnell in puren Stilfragen versanden, und die interessieren uns nicht. Wir suchen statt dessen bewusst eine langsame Annäherung. In manchen Fällen muss man ein bestehendes Gewebe fortsetzen und verstärken. In anderen Fällen ist es dagegen ratsamer, das vorgefundene Gewebe durch ein neues zu ersetzen. Die Entscheidungen sind vor allem vom Ort abhängig.»

Besonders eindrucksvoll lässt sich die Philosophie der Mecanoo-Architekten beim Rotterdamer Wohnhaus von Francine Houben am Kralingse Plas (1990-91) verfolgen. Durch eine fast vollständig gläserne Fassade bietet die lichtdurchflutete Villa am Ende einer Reihe von Häusern aus dem 19. Jahrhundert eine schöne Aussicht auf das Wasser und die Bäume des gegenüberliegenden Parks. Im dreigeschossigen, raffiniert verschachtelten Inneren, mit dem die Architekten an den eleganten Modernismus von Alvar Aaltos Villa Mairea (1937-39) anknüpfen, wurden grosse, durchgehende Räume mit überraschenden Durchgängen geschaffen, die sämtlich in offener Verbindung zueinander stehen. Deutlich zeigt sich dabei die Sensibilität gegenüber den Materialien: Die Projektarchitekten Houben und van Egeraat kontrastierten warme Materialien wie Holz, Kupfer und Bambus mit kühlen Baustoffen wie Glas, Stahl und Beton und erzeugten so ein raffiniertes Design mit ausserordentlich sinnlichen und taktilen, fast schon poetischen Effekten und Reizen. Den für den Boden verwendeten Beton behandelten sie mit einer Lage aus Wachs, die dem rauhen Material einen subtilen Glanz verleiht. Je nach Intimität der Räume wird das Material wärmer, durch das Zusammensetzen von Holz und Stein wird ausserdem die natürliche Farbe verstärkt.


Landschaftsplanung

Ein anderes eher kleinformatiges Projekt hatten die Architekten von Mecanoo ein Jahr zuvor ein paar Kilometer weiter südöstlich am Maasufer errichtet. Die frech verspielte, scheinbar ungleichgewichtige Formgebung des «Boompjes»-Pavillons (1989-90) fügt sich nahtlos in die Hafenaktivitäten sowie eine von Kees Christiaanse errichtete schwarze Arkade mit einer zum Wasser hin gelegenen Tribüne ein und bildet zudem ein gelungenes städtebauliches Pendant zum zeitgleich gebauten 16stöckigen Hochhaus von Wim Quist auf der gegenüberliegenden Strassenseite.

Mit Beginn der neunziger Jahre lässt sich eine deutliche Erweiterung des Aufgabenfeldes von Mecanoo beobachten. Lag der Schwerpunkt des Büros in den ersten Jahren ausschliesslich in den Bereichen Wohnungs- und Städtebau, ist Mecanoo seit einigen Jahren auch auf den Gebieten Landschafts- und Innenarchitektur tätig. Ein überaus gelungenes Projekt haben die Architekten dabei auf dem nach Masterplänen von Rem Koolhaas erweiterten Utrechter Universitätscampus «de Uithof» geschaffen: Die nach dem Vorbild einer arabischen Kasbah errichtete Fakultät für Wirtschaft und Management (1993-95), ein kompakter, relativ flach gehaltener Gebäudeblock aus Beton, Glas, Stahl und Holz, umschliesst in ihrem Inneren drei hofartig angelegte Gärten - einen üppigen Dschungel-Patio, einen japanisch inspirierten Zen-Patio und einen mit Teich und Felsbrocken gestalteten Wasser-Patio.

Zu noch spektakuläreren Mitteln hat Mecanoo beim Bau der neuen Bibliothek der Technischen Universität in Delft (1992-98; NZZ 2. 6. 98) gegriffen. Von aussen zeigt sich der gegenüber dem 1966 gebauten «Béton-brut-Koloss» des berühmten Hörsaalzentrums von van den Broek & Bakema gelegene Bau weit eher als skulpturale Landschaft denn als universitäres Gebäude. Ein schräg ansteigendes, begehbares Grasdach, das am Fuss der breiten Eingangstreppe beginnt und nach etwa 80 Metern seinen Höhepunkt erreicht, mündet in ein rund 40 Meter hohes kegelförmiges Element, das in seinem Inneren vier Leseebenen beherbergt. Die übrigen Räume der Bibliothek, das Magazin, die Verwaltungsräume und den grossen Arbeitssaal, der durch seine transparenten Glasfassaden einen schönen Blick nach aussen ermöglicht, haben die Mecanoo-Architekten raffiniert unter dem aufsteigenden Grasdach verborgen.


Typologische Erneuerungen

Durch die zunehmende Online-Bereitstellung von Informationen verwandelt sich der repräsentative Bücherspeicher von einst mehr und mehr zur multimedialen Schnittstelle zwischen Benutzern und Informationseinheiten. Mit der Strategie, den weitaus grössten Teil des Buchbestandes kurzerhand ins Erdreich zu versenken, wo auf Regalen von insgesamt 45 km Länge rund eine Million Bücher ruhen, haben die Architekten auch eine zeitgemässe typologische Erneuerung der Bauaufgabe Bibliothek geschaffen. Den Besuchern unmittelbar zugänglich sind nur 80 000 wichtige Publikationen in einem vier Geschosse hohen Bücherregal, das an der Stirnseite des grossen Lesesaals vor eine ultramarin leuchtende Wand gehängt wurde. Die Bewegungen der Besucher vor den Regalen verleihen der Wand Tiefe und machen sie zu einem fast schon theatralisch inszenierten Schaufenster. Das gleiche Ultramarin, das sich im übrigen auch bei den Bodenbelägen im Kegel der Bibliothek wiederfindet, hatte die Projektarchitektin Francine Houben schon kurz zuvor beim sensiblen Umbau einer protestantischen Kirche aus dem 18. Jahrhundert zu einem Theater für die Amsterdamer Theatergesellschaft «De Trust» verwendet. Trotz einem Budget von nur 3 Millionen Franken war es ihr dabei gelungen, mit Hilfe von wenigen Akzenten wie Farbe und Licht die Aufmerksamkeit des Publikums auf bestimmte Bereiche zu lenken.

Zuletzt haben die Mecanoo-Architekten zwei Wohnbauten in Amsterdam fertiggestellt. In der Vinkenstraat das Domizil einer Wohngruppe älterer homosexueller Männer und Frauen, in der im gleichen Block gelegenen Brouwersgracht ein auf den ersten Blick wenig spektakuläres Doppelwohnhaus mit grossen Fensterpartien und Holzvertäfelungen, hinter dessen leicht nach vorne geneigtem Mauerwerk sich jedoch eine um so freiere Anordnung des Grundrisses verbirgt. «Je mehr man in der Lage ist, die Essenz eines Ortes zu verstärken, um so freier ist man in der architektonischen Formgebung. Das könnte man unseren Ausgangspunkt nennen», erklären die Architekten schlicht.

Robert Uhde

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.06.04

09. April 1999Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Ein Fenster zum Wald

Als der Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter mit dem Bau einer Seniorenvilla für ein älteres Ehepaar in der niederländischen Gemeinde Moergestel bei s'Hertogenbosch beauftragt wurde, liess er sich von Le Corbusiers «petite maison» am Genfer See inspirieren. Entstanden ist eine kleine Hommage eines Jungarchitekten an den grossen Meister.

Als der Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter mit dem Bau einer Seniorenvilla für ein älteres Ehepaar in der niederländischen Gemeinde Moergestel bei s'Hertogenbosch beauftragt wurde, liess er sich von Le Corbusiers «petite maison» am Genfer See inspirieren. Entstanden ist eine kleine Hommage eines Jungarchitekten an den grossen Meister.

Die Villa La Roche in Paris war gerade bezogen und «Vers une architecture» soeben erschienen, da machte sich der 37jährige Le Corbusier daran, seinen Eltern ein einfaches Haus in Corseaux bei Vevey am Ufer des Genfersees zu entwerfen. «Unser Haus ist einfach, so einfach wie sein Architekt», sollte seine Mutter später über die kleine Villa sagen. Le Corbusiers Vater lebte nur ein knappes Jahr in der «petite maison», er verstarb schon 1925. Seine Mutter, sollte jedoch noch 35 Jahre hier verbringen, bis zu ihrem Tod im Alter von 100 Jahren. Kurz darauf wurde die Villa unter Denkmalschutz gestellt. Eine späte Ehrung für die «längliche Kiste auf der Erde», wie der Meister das Haus nannte.

Ein Haus fürs Alter

Als der 1962 geborene Amsterdamer Architekt Paul de Ruiter vor einigen Jahren mit dem Entwurf einer Villa für ein etwa sechzigjähriges Ehepaar betraut wurde, erinnerte er sich an das Haus in Corseaux. Ihm schwebte kein originalgetreues Abbild, kein einfaches Zitat vor, sondern eine zeitgemässe und freie Übersetzung, die das Vorbild Le Corbusiers eher als assoziativen Hintergrund denn als konkrete Handlungsvorgabe begreifen wollte. Schon die Kulisse der «Villa Aurora Borealis», der «Morgenröte des Nordens», hätte kaum besser gewählt werden können: Der kompakte und fast minimalistische flache Bau aus Glas, Backstein und Zedernholz fügt sich sensibel in die waldige, leicht hügelige Landschaft Brabants ein. Dem Grundgedanken folgend, dass die Bewohner unabhängig bis ins hohe Alter in der Villa leben können sollten, hat Paul de Ruiter den 230 Quadratmeter grossen Grundriss des Hauses in zwei rechteckige, ineinander gedrehte Baukörper aufgeteilt. Beide Bereiche sind so angelegt, dass sie sich jederzeit zu zwei getrennten Wohnungen umstrukturieren lassen. Bei Pflegebedarf können also etwa die Kinder oder andere Personen mit in die Villa einziehen.
Um die Möglichkeit der Aufteilung in zwei getrennte Wohnungen auch nach aussen sichtbar werden zu lassen, haben beide Volumen eine eigene Materialsprache und Detaillierung erhalten: Nach Norden hin, wo Le Corbusier die Villa seiner Eltern in futuristische Blechschindeln hüllte, schliesst sich die Brabanter Villa durch anthrazitfarbenen Backstein und ein mit Kupfer beschichtetes Schrägdach von der Aussenwelt ab. Hier befindet sich der Gästebereich mit eigenem Bad und ein Arbeitszimmer. Der nach Süden zum Wald hin sich anschliessende «eigentliche» Wohnbereich mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und grossem Bad ist dagegen in rötlichem Zedernholz gehalten. Für ausreichend Licht im langen Flur zwischen beiden Baukörpern sorgt ein 16 Meter langes Oberlicht, das den Höhenunterschied zwischen dem flachen Wohnbereich und dem schrägen vorderen Bereich ausgleicht.

Nach Süden schafft viel Glas offene und helle Räume in der waldigen Umgebung. Besonders schön ist der Blick auf die Bäume aus dem vier Meter breiten Fenstervorsprung aus rahmenlosem, verleimtem Isolierglas – eine Spezialanfertigung, die für ein Höchstmass an Transparenz und Abstraktion sorgt und in diesen Ausmassen in den Niederlanden bisher noch nicht realisiert worden ist. Vom Garten aus wird dann ein weiteres Detail sichtbar: Hier hat de Ruiter den Höhenunterschied des Grundstückes genutzt, um einen Teil des in Holz gehaltenen Baukörpers spielerisch über dem Boden schweben zu lassen.
Um den Bewohnern im Alter ein möglichst barrierefreies Wohnen zu ermöglichen, weisen die einzelnen Räume der Villa keine Höhenunterschiede und keine Treppen auf und gehen fliessend ineinander über. Sämtliche Türen wurden dabei so verbreitert und proportional erhöht, dass man sie auch mit dem Rollstuhl benutzen kann. Wenn die mattgläsernen Türen offen sind, entsteht quer durchs Haus eine 15 Meter lange Sichtachse, die vom Badezimmer zum äusseren Ende des Wohnzimmers reicht. Im Zentrum befindet sich dabei das Schlafzimmer, «denn auch bei einer eventuellen Bettlägerigkeit sollen sich die Bewohner nicht an den Rand des Hauses abgeschoben fühlen», meint der Architekt.

Ästhetik und Ökologie

Paul de Ruiter, der nach seinem Studium an der TU in Delft zwischen 1991 und 1992 im renommierten Amsterdamer Büro van Berkel & Bos gearbeitet hat, sucht in seiner Arbeit nach einem ästhetisch wie energetisch sinnvollen Zusammenspiel von Gebäude, Fassade und Umraum. «Es imponiert mir, wie Jean Nouvel moderne Technologie als selbstverständlichen Teil von Kultur betrachtet», meint er und erwähnt dann auch den Minimal-Künstler Donald Judd und dessen Verständnis von Raum und Licht. Für das soeben fertiggestellte Mercator-1-Gebäude, das erste von insgesamt sechs Gebäuden, die Paul de Ruiter für den neuen Wissenschafts- und Technologiepark der Universität Nijmegen plant, hat er eine neuartige zweischalige Fassade aus Glas und transparentem Stoff entwickelt, deren abstrakte Rahmeneinteilung in der Tat interessante Bezüge zu Judd erkennen lässt. Aber Paul de Ruiter denkt schon weiter: «Mercator 6 soll dann ausschliesslich mit Wind- und Sonnenenergie auskommen. Gebäude können auf diese Weise zu Energieproduzenten umgestaltet werden.»

Neben der Villa «Aurora Borealis» und dem Mercator-1-Gebäude hat Paul de Ruiter in den vergangenen vier Jahren die Orchard Business Area in Wageningen, den ebenfalls in Nijmegen gelegenen Houtlaan Technology & Science Park und das Unternehmerzentrum Simon Stevin in Arnheim realisiert – eine beachtliche Referenzliste für einen erst 36jährigen Architekten, die aber in den Niederlanden keinen Einzelfall darstellt. Während andernorts über die schwierige Lage von Berufseinsteigern geklagt wird und Architekten noch mit vierzig als «jung» gelten, sorgen in den Niederlanden neben kurzen Studienzeiten vor allem der gegenwärtige Wirtschaftsboom und eher günstige Baukosten dafür, dass eine beachtliche Zahl junger, innovativer Büros sich profilieren kann. Paul de Ruiter jedenfalls muss sich kaum Gedanken über die Zukunft seines Büros machen: Mit dem Mercator-Projekt in Nijmegen wird er die nächsten acht Jahre beschäftigt sein, noch in diesem Jahr wird er ausserdem drei weitere Senioren-Villen bauen. Was ihn stört, ist, dass dieser Bautypus noch immer mit einem negativen Image behaftet ist, «dabei sind ältere Menschen heute oft erstaunlich aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen».

Die Entwurfsarbeiten zur ersten der drei Villen sind so gut wie abgeschlossen; im Zentrum des Hauses hat Paul de Ruiter ein kleines Atrium mit einem Schwimmbecken vorgesehen. Noch nicht entschieden hat er dagegen über das Dach der Villa. Gegenwärtig beabsichtigt er, erneut Kupfer zu verwenden. «Im Verlauf von etwa 20 Jahren wechselt das Dach dann seine Farbe und erhält dabei seine typische leuchtend-grüne Patina.» Ein schönes Bild des Alterns.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.04.09

04. März 2005Robert Uhde
Neue Zürcher Zeitung

Belebte Industrie

Die Philips-Fabriken in Eindhoven gehören zu den bekanntesten Beispielen funktionalistischer Industriearchitektur in den Niederlanden. Schon in der Vergangenheit...

Die Philips-Fabriken in Eindhoven gehören zu den bekanntesten Beispielen funktionalistischer Industriearchitektur in den Niederlanden. Schon in der Vergangenheit...

Die Philips-Fabriken in Eindhoven gehören zu den bekanntesten Beispielen funktionalistischer Industriearchitektur in den Niederlanden. Schon in der Vergangenheit wurden Teile des Komplexes einer neuen Nutzung zugeführt, darunter die zum Veranstaltungszentrum «De Witte Dame» umgewandelte ehemalige Lampenfabrik und die frühere Bürozentrale «De Admirant», die beide in den zwanziger Jahren durch Dirk Roosenburg geplant wurden. Noch mehr Möglichkeiten bietet das rund 27 Hektaren grosse und in den kommenden Jahren nach und nach frei werdende Areal «Srijp S», auf dem nach der städtebaulichen Planung des Rotterdamer Büros West 8 bis zum Jahr 2017 ein von begrünten Boulevards erschlossenes neues innerstädtisches Quartier mit 1600 Wohnungen sowie 130 000 Quadratmetern Büro- und Gewerberaum entstehen soll. Durchgehendes Motiv des Projekts ist der Kontrast zwischen den neuen Baublöcken und Hochhäusern und dem Bestand, der zu rund einem Drittel erhalten bleiben soll. Markanteste Zeitzeugen sind dabei der Labor-Komplex, das backsteinerne «Veemgebouw» und die auf einer Länge von 400 Metern daran anschliessende, strahlend weisse Gebäudezeile «De Hoge Rug». Als erster Akzent soll im Jahr 2006 das Klokgebouw genannte ehemalige Uhrengebäude von 1929 als «Muziekfabriek» mit drei Konzerthallen für rund 3000 Besucher eröffnet werden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.03.04

02. September 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Baukunst im Tulpenland

Führer zur Architektur der Gegenwart sind auf Reisen unverzichtbare Hilfsmittel, allein, sie veralten schnell. So musste der von Paul Groenendijk und Piet...

Führer zur Architektur der Gegenwart sind auf Reisen unverzichtbare Hilfsmittel, allein, sie veralten schnell. So musste der von Paul Groenendijk und Piet...

Führer zur Architektur der Gegenwart sind auf Reisen unverzichtbare Hilfsmittel, allein, sie veralten schnell. So musste der von Paul Groenendijk und Piet Vollaard erarbeitete, 1987 erstmals publizierte «Guide to Modern Architecture in the Netherlands» in der vierten (1992) und fünften Auflage (1998) stark erweitert werden. Nach weiteren sechs Jahren entschieden sich die Autoren nun nicht zu einer neuerlichen Überarbeitung, sondern zu der Publikation eines «Guide to Contemporary Architecture in the Netherlands», der lediglich Bauten der vergangenen 25 Jahre enthält und hinsichtlich der Chronologie nicht Berlages Börse (1903), sondern Rem Koolhaas' Planung für den Amsterdamer Ij-Plein (1982) an den Anfang rückt. Das etwas spröde, mit Schwarzweissfotos von Piet Rook illustrierte, aber weitgehend auf Pläne verzichtende Layout wurde ebenso beibehalten wie das Querformat. Insgesamt ist ein handliches, gut ausgewähltes und knapp kommentiertes Kompendium zeitgenössischen Bauens in einer der wichtigsten Architekturregionen Europas entstanden, das auch die aktuellsten Bauten einschliesst - etwa das Son-O-House von NOX bei Eindhoven oder die Universitätsbibliothek von Wiel Arets in Utrecht.

[ Paul Groenendijk und Piet Vollaard: Guide to Contemporary Architecture in the Netherlands. Niederländisch/englisch. Verlag 010 Publishers, Rotterdam 2004. 152 S., Euro 24.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.09.02

10. Juli 1999Ute Woltron
Der Standard

Architektur der Zukunft. Nacherzählt.

Der Holländer Hans Ibelings ruft nun die Supermoderne aus

Der Holländer Hans Ibelings ruft nun die Supermoderne aus

Die Architektur bedarf der Propheten und Theoretiker, und das Schöne an dieser wilden Disziplin ist, daß alle mit ihren freundlichen oder bissigen, besonnenen oder wütenden Theorien immer irgendwie recht haben. Charles Jencks zum Beispiel hat 1977 mit dem Buch The Language of Post-Modern-Architecture als erster die Postmoderne, die wohl populärste - heute allgemein allerdings nicht mehr sonderlich goutierte und deshalb extrem kurzlebige - Architekturströmung der vergangenen Jahrzehnte ausgerufen. Er hat sie damit freilich nicht erfunden, denn auch die Architektur scheint wie Finken- und Affenarten unaufhaltsam nach den Gesetzen der Evolution über alle Grenzen hinweg in ähnlichen, verwandten Ausformungen zu wachsen und zu gedeihen.

Der Holländer Hans Ibelings ist einer dieser Rufer in der Szene der Architektur. In der Publikation Supermodernism. Architecture in the Age of Globalization, erschienen bei NAi Publishers (Netherlands Architecture Institute, Rotterdam, 1998) macht er sich Gedanken über den Einfluß der Globalisierung auf die Weltarchitektur und kommt zu dem Schluß: Obwohl ihr allgemein die Negativtendenz der Gleichmacherei und der unerwünschten allgemeinen Homogenisierung der menschlichen Lebenswelt nachgesagt wird, gerate sie der Architektur eindeutig zum Vorteil und habe - zum Beweis - in den vergangenen Jahren weltweit eine ganz spezielle neutrale Superarchitektur produziert.

Ibelings untermauert seine haarfein herbeiargumentierten Thesen natürlich mit allerhand Beispielen. Er geizt auch nicht mit den Namen der momentan Großen der Branche, doch ordnet er keinen Architekten der von ihm ausgerufenen neuen Strömung direkt unter. Im Gegenteil: Sie alle, ob Rem Koolhaas oder Jean Nouvel, Dominique Perrault oder Herzog & De Meuron, sind individueller Teil des ausgerufenen Supermodernismus-Ganzen und beweisen es durch ihre Unabhängigkeit und ihren jeweiligen Individualismus.

Ibelings Supermodernism ist ein sehr unterhaltsam geschriebenes kleines Buch über die Architektur, die da ist und die Architektur, die da kommen mag. Es hält sich nicht bei belanglosen Formalismen auf, sondern beschreibt das Häuserbauen in seinen gesellschaftlichen Grundfesten. Das wird nicht nur die Fachleute interessieren, und das ist genau der Grund, warum die Propheten und die Theoretiker dieser wilden Disziplin Architektur so wichtig sind

Der Standard, Sa., 1999.07.10

25. August 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Grünräume zwischen Tradition und Zukunft

Mit sieben Ausstellungen zum Thema Landschaftsarchitektur wartet die Internationale Triennale Apeldoorn 2008 auf. Die Ausstellungsorte verteilen sich auf die Stadt und ihre reizvolle Umgebung.

Mit sieben Ausstellungen zum Thema Landschaftsarchitektur wartet die Internationale Triennale Apeldoorn 2008 auf. Die Ausstellungsorte verteilen sich auf die Stadt und ihre reizvolle Umgebung.

Die Natürlichkeit der Landschaft ist meist eine Illusion. Landschaft wurde und wird durch direktes oder indirektes menschliches Einwirken geformt. Das gilt besonders für die Niederlande. Mit der Trockenlegung des Beemster-Polders in Nordholland Anfang des 17. Jahrhunderts begann ein Prozess, der mit der Trockenlegung der Zuidersee und dem Deltawerk im 20. Jahrhundert kulminierte: der Kampf des Menschen gegen das Wasser sowie die Sicherung und Vergrösserung des Territoriums. Die Frage von Künstlichkeit und Natürlichkeit ist daher ein wichtiges Thema in der zeitgenössischen niederländischen Architektur und Landschaftsarchitektur: Man mag an die bühnenartige Platzgestaltung des Schouwburgplein von West 8 in Rotterdam denken oder an den von MVRDV als Stapelung prototypischer Landschaften konzipierten niederländischen Pavillon der Expo 2000 in Hannover.

Dichter Veranstaltungsreigen

In diesem Sommer wird mit der Internationalen Triennale Apeldoorn 2008 der Versuch unternommen, Landschaftsarchitektur und Landschaftsgestaltung breitenwirksam in den Niederlanden zum Thema zu machen. Mehrere Kulturinstitutionen, unterstützt von der Stadt Apeldoorn, der Provinz Gelderland, verschiedenen Ministerien und privaten Sponsoren haben ein reichhaltiges Programm arrangiert: Nicht weniger als sieben Ausstellungen bilden das Kernprogramm der Triennale, die durch Kongresse, Vorträge und partizipatorische Privatgartenprojekte ergänzt wird; im Park Berg en Bos wurde die Blumenpromenade «The Royal Mile» angelegt. Man fragt sich, ob weniger nicht mehr gewesen wäre. Im CODA-Museum Apeldoorn beispielsweise, einem der jüngsten Bauten von Herman Hertzberger, ist «The Discovery of the Netherlands» zu sehen, ein Panorama der niederländischen Landschaftsmalerei vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Den attraktiven Leihgaben zum Trotz hätte man eine derartige Schau auch in anderen Museen zeigen können.

In der Nettenfabriek, einem nicht mehr genutzten historischen Industriekomplex neben dem Bahnhof Apeldoorn, sind drei Ausstellungen untergebracht. «Power of Place» sucht etwas bemüht die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Landschaft. Überzeugender ist der «Canon of the Dutch Landscape»: Aufgezogen auf 60 Banner, werden im Hofraum des Industriebaus Grossfotos niederländischer Landschaften gezeigt – fünf aus jeder der zwölf Provinzen. Daneben ist in einer 1000 Meter langen Halle der früheren Netzfabrik die monografische Ausstellung «Invisible Work» des 1948 geborenen Landschaftsarchitekten Michael van Gessel zu sehen, der zu den erfolgreichsten Vertretern seines Berufsstands in den Niederlanden zählt und Projekte seines jungen, ursprünglich aus Irland stammenden Kollegen Patrick McCabe in die Präsentation integriert.

Van Gessel arbeitet in verschiedenen Massstäben bis hin zu grossräumigen Landschaftsplanungen, wobei sich die sensiblen, niemals spektakulären Projekte bewusst von der Herangehensweise der «Superdutch»-Architekten absetzen. Sein besonderes Interesse gilt historischen Kulturlandschaften; eines der besten Projekte konnte er 2005 auf dem Grebbeberg realisieren, der seit je strategisch wichtigen Anhöhe über dem Niederrhein zwischen Arnhem und Utrecht. Mit zurückhaltenden Interventionen aus Stahl gelang es van Gessel, eine merowingische Wallanlage in ihrem Bezug zur Umgebung für die Besucher lesbar und begehbar zu machen, ohne die historische Substanz zu beeinträchtigen. Als Berater befasst er sich überdies mit der Nieuwe Hollandse Waterlinie, einer Befestigungsanlage, die nach 1815 als Kette von Forts, Schleusen und Deichen angelegt wurde, um bei Gefahr einen Landstreifen zwischen dem IJsselmeer im Norden und dem Biesbosch im Süden fluten und feindliches Eindringen verhindern zu können.

Der Befestigungsgürtel, der seit einigen Jahren erforscht wird und den Status des Unesco-Weltkulturerbes erlangt hat, ist auch in der Ausstellung «A Wider View» in der ehemaligen Funkstation von Radio Kootwijk zu sehen. Das grandiose, gartenkünstlerisch inszenierte Betongebäude, das Julius Luthman 1923 in der Wald- und Heidelandschaft der Veluwe südwestlich von Apeldoorn realisierte, diente ursprünglich der Funkverbindung mit Bandung auf Java; seit mehreren Jahren steht es leer und wartet auf eine neue Nutzung. In der Maschinenhalle wird nun eine instruktive Übersicht über die Herausforderungen im Umgang mit europäischen Kulturlandschaften gegeben. Dabei geht es um Grenzlandschaften wie den römischen Limes, den Atlantikwall oder den «Ypernbogen» des Ersten Weltkriegs, um Fluss- und Wasserregionen, um die Wiederherstellung und den Erhalt traditioneller Landschaftsformen wie der Terrassen der Cinque Terre oder um den Umgang mit industriellen Territorien – von den Minen in Cornwall über die Braunkohlengebiete in der Lausitz bis hin zur «Green Metropolis», die Henri Bava für die Rhein-Ruhr-Region konzipiert hat.

Die schönste Ausstellung der Triennale befindet sich im Barockschloss Het Loo bei Apeldoorn, das Ende des 17. Jahrhunderts als Jagdsitz errichtet und von Mitgliedern der königlichen Familie bis 1975 bewohnt wurde. «Landscapes of the Imagination» ist ein opulent mit Skizzen, Entwürfen und Perspektiven bestückter Überblick über vier Jahrhunderte europäischer Landschaftsarchitektur und deren Darstellungsweisen. Vom perspektivischen Stich eines Renaissancegartens führt der Weg bis zur computergenerierten Perspektive des englischen Büros Gross.Max.

William Kents Zeichnung für Claremont und Capability Browns Plan von Wimpole dokumentieren den englischen Landschaftsgarten, das 19. Jahrhundert ist mit Sckell, Lenné, Repton und Alphand vertreten. Zu den Höhepunkten der Schau zählen die Gouachen des Waldfriedhofs in Stockholm von Gunnar Asplund und Sigurd Lewerentz (1932–35) sowie die fünf Meter lange Bleistiftzeichnung des Seeuferwegs am Zürichhorn von Willi Neukom aus dem Jahr 1963, die nachgerade obsessiv jeden Kiesel und jede Steinplatte wiedergibt.

Rekonstruktionen

Abschliessend lohnt ein Gang durch den Schlosspark: Die zweiteilige Barockanlage, Anfang des 19. Jahrhunderts durch eine Gestaltung im englischen Stil ersetzt, war zwischen 1977 und 1984 trotz kritischen Stimmen anhand von historischen Stichen und Ausgrabungsbefunden rekonstruiert worden. 1990 tauchte unverhofft ein authentischerer Gartenplan aus dem Jahr 1706 auf, der nun die Grundlage für die Revision der Rekonstruktion darstellte. Rechtzeitig zur Triennale haben nun die Parterres im unteren Gartenbereich eine Form erhalten, die dem ursprünglichen Zustand näherkommen mag. Ob eine Rekonstruktion, welche die Gestaltung des 19. Jahrhunderts eliminierte, die richtige Strategie darstellt, bleibt aber fraglich.

[ Bis 28. September 2008. Kataloge: 100 Days of Culture, Gardens and Landscapes. International Triennial Apeldoorn; 176 S., € 29.50. – Landscapes of the Imagination. Designing the European Tradition of Garden and Landscape Architecture 1600–2000; 160 S., € 27.95 (beide 2008 bei NAI Publishers Rotterdam erschienen). ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2008.08.25

03. Mai 2012Paul Andreas
Neue Zürcher Zeitung

Planen ohne Masterplan

Zum fünften Mal sucht die Architekturbiennale Rotterdam (IABR) nach innovativen Ansätzen in der Stadtplanung. Im Fokus stehen die Ausstellungen «Making City» und «Smart Cities», die das Potenzial von Kooperationen und Allianzen für die Stadtplanung weltweit ausloten, sowie drei Rotterdamer Test-Areale.

Zum fünften Mal sucht die Architekturbiennale Rotterdam (IABR) nach innovativen Ansätzen in der Stadtplanung. Im Fokus stehen die Ausstellungen «Making City» und «Smart Cities», die das Potenzial von Kooperationen und Allianzen für die Stadtplanung weltweit ausloten, sowie drei Rotterdamer Test-Areale.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Beiträge
EUROPA ARCHITEKTUR

Publikationen

Zeitschriften

4 | 3 | 2 | 1