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03. Januar 2025Anneke Bokern
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Miniapartment »The Cabanon« in Rotterdam

In einem nicht ganz 7 m² großen Raum auf dem Dach eines Wohnblocks hat das Architektenpaar Beatriz Ramo und Bernd Upmeyer ein komplettes Miniapartment samt Spabereich untergebracht. Damit erfüllten sie sich einen persönlichen Wunsch, wollen aber auch Denkanstöße für den Wohnungsbau liefern.

In einem nicht ganz 7 m² großen Raum auf dem Dach eines Wohnblocks hat das Architektenpaar Beatriz Ramo und Bernd Upmeyer ein komplettes Miniapartment samt Spabereich untergebracht. Damit erfüllten sie sich einen persönlichen Wunsch, wollen aber auch Denkanstöße für den Wohnungsbau liefern.

Wieder einmal so ein Werbegag für die internationalen Architekturblogs, mag man beim Anblick des Cabanon zunächst denken. Und tatsächlich wurde das fotogene Kleinstprojekt von den Medien sofort aufgegriffen, vielfach publiziert und mit modischen Etiketten versehen. Bei unserer Besichtigung stellen Beatriz Ramo und Bernd Upmeyer deshalb zunächst einmal klar, was ihr Miniprojekt nicht sein will: kein Prototyp für ein Tiny House, kein Pamphlet für Minimalismus und sicher keine Lösung für die Wohnungskrise.

Gestapelte Funktionen

Die Spanierin und der Deutsche leiten seit fast 20 Jahren ihre Studios STAR und BOARD, teilen sich einen Büroraum und sind auch privat ein Paar. Sie wohnen im zweiten Stock eines Wohnblocks aus den 1950er Jahren im Zentrum von Rotterdam. Vor etwa zehn Jahren fiel ihnen ein Zettel im Aufzug ins Auge: Ein Nachbar bot einen etwa 7 m² großen Abstellraum auf dem Dach für 11 000 Euro zum Kauf an. Vor Ort stellte sich heraus, dass der Raum ein 6 m² großes Fenster hat und an Strom, Heizung und Kanalisation angeschlossen ist, denn dieser und zwei weitere Aufbauten hatten in der Nachkriegszeit zeitweise als Wohnraum für Krankenschwestern gedient.

Das Architektenpaar fackelte nicht lange und kaufte den Dachaufbau. Upmeyer wollte den Raum zunächst nur als Wäschekammer nutzen, aber angesichts der vorhandenen Anschlüsse und der Aussicht kamen die beiden ins Grübeln. »In unserer Wohnung fehlte immer schon ein Gästezimmer, und im Badezimmer gab es nur eine Dusche«, sagt Bernd Upmeyer. Er träumte von einem Whirlpool, Beatriz Ramo gar von einer Sauna. Aber wie sollte man all das in einem nur 1,97 x 3,60 m großen Raum unterbringen? Es begann ein Entwurfsprozess, der fast zehn Jahre dauern sollte. Der Schlüssel war letztlich die Einsicht, dass nicht alle Funktionen dieselbe Raumhöhe brauchen. Da der Raum zwar keine große Grundfläche, aber 3 m Deckenhöhe hatte, konnten die verschiedenen Funktionen nicht nur neben-, sondern auch übereinander angeordnet werden. So gelang es, den kleinen Aufbau in vier separate Bereiche zu unterteilen.

Auf die Körpergröße zugeschnitten

Man erreicht das »Cabanon«, indem man mit dem Aufzug ins 6. Geschoss fährt und dann noch eine Treppe hinaufgeht. Dort stößt man auf eine unauffällige Tür, die sich (praktischerweise) nach außen öffnet. Dahinter betritt man einen rundum terrakottafarben gestalteten Raum, der zwar klein ist, aber dank des Panoramafensters mit Sitzbank zur Linken nicht klaustrophobisch wirkt. Geradeaus fällt der Blick auf eine geflieste Wand mit geometrischem All-over-Muster; rechts verstecken sich hinter einer Vielzahl von Fronten eine kleine Küchenzeile mit Waschbecken, Mikrowelle, Mülleimer und Minikühlschrank sowie ein Kleiderschrank mit ausfaltbarem Tisch. Die zwei dazugehörigen Klappstühle hängen zusammengefaltet an der Wand neben der Eingangstür.

Neben dem Tisch führt eine Tür in das Badezimmer. Etwas respektloser könnte man bei dem schlauchartigen, rundum mit hellblauen Mosaikkacheln verkleideten Raum auch von einem Duschklo sprechen, denn in seiner Decke befindet sich eine Regendusche, dahinter die Toilette. Mit 62 cm ist er gerade schulterbreit, während seine Höhe von 2,13 m genau auf die Körpergrößen von Ramo und Upmeyer zugeschnitten ist. In der rechten Wand liegt eine Schiebetür, durch die man in eine mit schwarzen Marmorplatten ausgekleidete Kammer gelangt. Zwei Holzsitze mit Infrarotstrahlern flankieren die Tür, daneben steht eine Badewanne mit Sprudeldüsen: Wir befinden uns im Spa mit »Sauna und Whirlpool«.

An der Innenseite der Duschtür hängt eine schwere Metallleiter. Man braucht sie, um ins Bett zu gelangen, das sich in einem 1,35 m breiten und 1,14 m hohen Alkoven über dem Spa befindet. Schiebetüren neben dem Bett bieten Zugriff auf einen Stauraum über der Dusche. »Dort können Gäste ihre Koffer verstauen, denn im Wohnbereich liegen sie nur im Weg«, sagt Ramo. Die Schlafnische ist rundum resedagrün – inklusive einer zotteligen Tagesdecke, die einem Sesamstraßenmonster gut stehen würde.

Ramo und Upmeyer haben ihre Kombination aus Gästezimmer und Spa nach Le Corbusiers legendärem Cabanon an der Côte d‘Azur benannt. Die Hütte am Mittelmeer ist jedoch mit 15 m² doppelt so groß und viel asketischer als ihre Namensgenossin in Rotterdam. Da Le Corbusier im benachbarten Restaurant aß und im Meer schwamm, enthielt sie weder Küche noch Bad, und das Bett war nur eine schmale Liege. Dagegen bezeichnet Upmeyer sein Cabanon als »epikuräisches Exempel im Kleinstformat«. Das zeigt sich nicht nur in den Funktionen, sondern auch in Farbgestaltung und Materialwahl: Der schwarze Marmor erinnert mehr an Mies van der Rohe als an Le Corbusier.

Optimierung des Raums

Wie die meisten Materialien und Objekte im Cabanon war der Marmor ein Zufallsfund. Ursprünglich wollte das Architektenpaar das Bad grün kacheln, stieß aber auf einen günstige Restposten schwarzer Fliesen. Die Wanne war ein Secondhand-Fundstück, das sogar zum maßgeblichen Element wurde: Ihre Abmessungen gaben die Größe des Spabereichs vor, ebenso wie der Kühlschrank die Tiefe der Küchenzeile und die handelsübliche Matratze die Breite des Betts bestimmte. Um diese Objekte herum zimmerte ein Schreiner aus Rotterdam, der eigentlich auf Schiffsinterieurs und Bühnenbilder spezialisiert ist, die Raumkonstruktion.

Wichtigste Hommage an Le Corbusier ist sicherlich die Anpassung des Interieurs an die Körpermaße der Nutzer, die damit quasi als Modulore dienten. In dieser Hinsicht gibt es auch Parallelen zum Rietveld-Schröder-Haus, das auf die Maße seiner nur 1,57 m großen Bauherrin zugeschnitten und ebenfalls ein räumliches Experiment war. Upmeyer und Ramo verstehen ihr Cabanon v. a. als Denkanstoß, um über einen flexibleren Umgang mit dem Bauvolumen nachzudenken. Es geht um eine Optimierung des Raums – wobei sie keinesfalls eine Reduktion, sondern eher eine Maximalisierung anstreben. Sie sind überzeugt, »dass sich unendliche Möglichkeiten eröffnen, wenn man Vorschriften lockert und nicht immer nur in Standardlösungen denkt«, so Upmeyer. Sie sehen das Cabanon auch als Plädoyer dafür, dass Architekt:innen wieder mehr Einfluss auf die Gestaltung von Wohnungen bekommen. Und ehe man anmerken kann, dass das aber große Ambitionen für ein kleines Projekt sind, wirft Ramo ein: »Eigentlich haben wir das Cabanon aber v. a. als Gästezimmer und Spa gebaut. Wir stehen jetzt mehrmals pro Monat im Bademantel im Aufzug und freuen uns auf ein heißes Bad.«

db, Fr., 2025.01.03



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db 2025|01-02 Anders Bauen

01. Oktober 2024Anneke Bokern
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Fahrradgarage Stationsplein in Amsterdam

Rund um den Amsterdamer Hauptbahnhof sind Fahrradparkplätze ewige Mangelware. Früher wurde in jede Nische ein Abstellraum für »fietsen« gequetscht. Nun gibt es mehrere neue Garagen, von denen die größte unter einem Hafenbecken liegt, Raum für 7 000 Drahtesel bietet und sich als wahrhaftige Fahrradkathedrale präsentiert.

Rund um den Amsterdamer Hauptbahnhof sind Fahrradparkplätze ewige Mangelware. Früher wurde in jede Nische ein Abstellraum für »fietsen« gequetscht. Nun gibt es mehrere neue Garagen, von denen die größte unter einem Hafenbecken liegt, Raum für 7 000 Drahtesel bietet und sich als wahrhaftige Fahrradkathedrale präsentiert.

Als treinfietser, also »Zugradler« bezeichnet man auf Niederländisch Pendler, die täglich per Fahrrad zum Bahnhof fahren, um dort ihre Reise mit dem Zug fortzusetzen. Sie machen insgesamt etwa die Hälfte aller Bahnreisenden in den Niederlanden aus – und dementsprechend groß ist der Bedarf an Parkmöglichkeiten für Fahrräder rund um niederländische Bahnhöfe.

Am Amsterdamer Hauptbahnhof Centraal herrschte deshalb lange ein nur mühsam kontrolliertes Fahrrad-Parkchaos. In jede verfügbare Nische und in jeden Restraum wurde ein Abstellplatz gequetscht. Das reichte aber hinten und vorne nicht, weshalb auch im öffentlichen Raum immer viele geparkte Räder zu finden waren. Seit einigen Jahren gilt jedoch rund um den Bahnhof ein striktes Abstellverbot für Drahtesel und werden falsch geparkte Exemplare gnadenlos abgeräumt.

22 000 Plätze bis 2030

Die größten Chancen auf einen offiziellen Platz hatte man lange im »Fietsflat«, einem von VMX Architects entworfenen Parkhaus für 2 500 Räder, das seit 2001 an der Westseite des Bahnhofs über einem Hafenbecken stand und eigentlich nur als Provisorium für drei Jahre gedacht war. Es steht noch immer dort, ist aber seit Anfang 2023 geschlossen und wartet auf eine Umnutzung. Denn als Teil einer ganzen Reihe von Baumaßnahmen rund um Amsterdam Centraal – 2013 wurde eine neue Bahnhofshalle am Ufer des IJ eröffnet, 2018 eine neue U-Bahnlinie eingeweiht und 2023 der Bahnhofsvorplatz zur Fußgängerzone umgestaltet – sind auch mehrere permanente Fahrradgaragen gebaut worden. So soll die Kapazität rund um den Bahnhof bis 2030 von ursprünglich 10 000 auf insgesamt 22 000 geparkte Räder wachsen und gleichzeitig der öffentliche Raum aufgeräumt werden.

Zwei Garagen sind auf der West- und Ostseite in den Bahnhofsbau integriert und bieten zusammen 2 500 Plätze. Daneben gibt es seit 2023 auch ein 230 m langes, von VenhoevenCS entworfenes Parkhaus für 4 000 Räder, das sich auf der Nordseite des Bahnhofs unter einem Boulevard am Wasser versteckt. Die größte neue »fietsenstalling« befindet sich jedoch unter einem Hafenbecken auf der Zentrumsseite des Bahnhofs. Sie wurde vom Büro wUrck aus Rotterdam entworfen und ebenfalls letztes Jahr eröffnet. Oben fahren die Rundfahrtboote, unten parken bis zu 7 000 Drahtesel – in einer wahrhaftigen Fahrradkathedrale

Transportbänder führen in die Tiefe

Vier Jahre dauerte der Bau der Unterwassergarage. Zunächst wurde die Baugrube ausgehoben, eine Pfahlgründung angelegt und darauf ein Boden aus Unterwasserbeton gegossen. Danach pumpte man das Wasser ab und baute die Garage in der trockenen Grube fertig, bevor man das Becken wieder flutete. Über dem Parkhaus beträgt die Wassertiefe 2,40 m – genug für die Grachtenrundfahrtboote, deren Anlegestellen das Becken säumen.

Der Eingang zur 9 m unter Straßenniveau gelegenen Garage befindet sich am Südufer des Hafenbeckens. Eine grundlegende Frage beim Entwurf war, wie man die Radler ohne steile Rampen oder umständliche Aufzüge in die Tiefe transportiert. Letztlich entschied man sich für Transportbänder, die Rad und Radelnde innerhalb von zwei Minuten in die Tiefe befördern, ohne die denkmalgeschützte Ansicht des 1889 errichteten Bahnhofsgebäudes vom Architekten Pierre Cuypers zu beeinträchtigen. Wände aus rauem grauem Basaltstein flankieren den Zugang, über den auch eine Treppe für Fußgänger hinab zu den Parkflächen führt. Auf halbem Weg gibt es noch ein Zwischengeschoss mit einem Büroraum, der von den Rundfahrt-Reedereien genutzt wird.

Kein Gewinnmodell

Spektakulär ist der Moment, in dem man das Podest am Ende des ersten Transportbands erreicht und sich genau auf Augenhöhe mit dem Wasserspiegel und den Booten befindet. Unten angekommen, liegt neben dem Eingang zunächst eine verglaste Servicestation, in der man Ersatzteile kaufen und kleine Reparaturen ausführen lassen kann. Daneben stehen die elektronischen Schleusen, an denen man sein Fahrrad mit der Chipkarte für den öffentlichen Nahverkehr ein- und auschecken kann. Wie in allen von der Stadt Amsterdam betriebenen Fahrradparkhäusern sind die ersten 24 Stunden gratis. Danach zahlt man 1,35 Euro pro Tag. Das ist aber kein Gewinnmodell, sondern eher als Maßnahme gegen unerwünschtes Langzeitparken gedacht.

Hat man die Schleusen passiert, findet man sich in einem großen, hellen, übersichtlichen Raum wieder, der mit nahtlosem Fließestrich-Boden und hinterleuchteten Wänden ausgestattet ist. Die visuelle Ruhe, die die Architektur ausstrahlt, bildet einen effektvollen Kontrast zu den bunten Drahteseln. Erstaunlich ist die Beleuchtung, die beinahe Tageslichtqualität hat und völlig vergessen lässt, dass man sich eigentlich tief unter dem Wasser befindet.

Komfort und gute Gestaltung

Als größte Herausforderung bei der Gestaltung solcher Garagen gilt es, die Radler dazu zu verführen, den Weg in die Unterwelt in Kauf zu nehmen. Stadt und Bahn setzen dabei nicht nur auf Komfort, sondern auch auf gute Gestaltung. »Wir haben sehr auf die Gebrauchsfreundlichkeit geachtet und darauf, dass die Garage wie geschmiert funktioniert«, sagt Oriol Casas Cancer, Partner bei wUrck. Die Architekten haben das Parkhaus als Ode an das Wasser gestaltet und auch verschiedene Kunstwerke zu diesem Thema integriert. Collagen aus Karten und Fotos, die die Entwicklung Amsterdams im Laufe der Jahrhunderte zeigen und in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum entworfen wurden, zieren die 50 m lange, gebogene Ostwand. An der Decke der Garage findet sich eine Reihe runder, ebenfalls hinterleuchteter Oculi mit historischen Stadtansichten.

Sie sind Teil einer leicht gebogenen Kolonnade aus tropfenförmigen Stützen, die den Raum von Süd nach Nord durchquert und als Hauptlaufroute dient. Zu ihrer Rechten und Linken liegen die Fahrradparkplätze. Rote und grüne LED-Lämpchen in den Stützen zeigen den Besetzungsgrad der Fahrradständer an. Das doppelstöckige Fahrradparksystem bietet neben Raum für normale Fahrräder auch breitere Plätze für Räder mit Korb oder Kindersitz; nur Lastenräder müssen draußen bleiben und in markierten Zonen im öffentlichen Raum parken.

Raue Schale, glänzender Kern

Hat man sein fiets abgestellt, braucht man die Garage nicht auf demselben Weg zu verlassen, sondern gelangt am anderen Ende der Halle trockenen Fußes zum Ausgang, der zunächst in die U-Bahnstation und von dort aus direkt in die Bahnhofshalle mündet. Auch er wird flankiert von zwei Kunstwerken: große, schwarzweiße Sgraffitos von Lex Hoorn aus den 1960er Jahren, die aus einem abgerissenen Bürobau stammen und zuvor im Gemeindedepot eingelagert waren. Nun haben sie ein neues Heim als Torwächter in der Fahrradgarage gefunden.

Die Architekten vergleichen die Garage wegen der rauen Basaltschale und des glänzend weißen, rundlichen Innenlebens gerne mit einer Auster. Viel bemerkenswerter sind jedoch die Qualität der Beleuchtung und die Raumwirkung des Baus. 2019 wurde am Bahnhof Utrecht eine noch größere Garage eröffnet, die Platz für 12 500 Räder bietet und damit den Weltrekord hält. Sie ist mit ihren drei Geschossen und einem Wald aus Stützen jedoch vergleichsweise labyrinthisch. In Amsterdam hat man schon beim Betreten der Garage alles im Blick und weiß sofort, wie man auf dem schnellsten Weg zum Zug gelangt. Und das ist es letztlich, was für den treinfietser zählt.

db, Di., 2024.10.01



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db 2024|10 Mobilität

01. April 2021Anneke Bokern
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Ein kulturelles Herz für Rotterdam-Süd

Rotterdam-Süd ist so etwas wie die »schäl Sick« der niederländischen Hafenstadt. Das Durchschnittseinkommen liegt unter der Armutsgrenze, und 70 % der Einwohner haben einen Migrationshintergrund. Für diese Zielgruppe entwarf De Zwarte Hond einen Theaterbau, der mit islamischer Ornamentik spielt und als niedrigschwelliges, öffentliches Wohnzimmer fungiert. Hier sollen sich bald Kultur und Stadtleben verbinden. Das Haus signalisiert Offenheit und weiß sich als kulturelles Herz in seiner Umgebung zu behaupten.

Rotterdam-Süd ist so etwas wie die »schäl Sick« der niederländischen Hafenstadt. Das Durchschnittseinkommen liegt unter der Armutsgrenze, und 70 % der Einwohner haben einen Migrationshintergrund. Für diese Zielgruppe entwarf De Zwarte Hond einen Theaterbau, der mit islamischer Ornamentik spielt und als niedrigschwelliges, öffentliches Wohnzimmer fungiert. Hier sollen sich bald Kultur und Stadtleben verbinden. Das Haus signalisiert Offenheit und weiß sich als kulturelles Herz in seiner Umgebung zu behaupten.

Rotterdam erfreut sich in den letzten Jahren immer größerer Popularität. Der Fernsehsender CNN rief die Hafenstadt zur »capital of cool« aus, und der Reiseführer Lonely Planet zählt sie gar zu den zehn Städten weltweit, die man gesehen haben muss. Im Zentrum schießt eine Architekturikone nach der anderen aus dem Boden: erst der Hauptbahnhof (s. db 2/2014), dann die Markthalle (s. db 11/2014), das Timmerhuis (s. db 3/2016) und demnächst das schüsselförmige Depot des Boijmans Museums (s. db 12/2020).

Jenseits der Hochglanzprojekte gibt es aber auch eine weniger bekannte Seite von Rotterdam. Sie liegt am Südufer der Maas und hat 200 000 Einwohner – fast 40 % der gesamten Einwohnerschaft der Stadt. Rotterdam-Süd besteht größtenteils aus Arbeitersiedlungen aus den Zwanziger Jahren und Stadterweiterungen aus der Nachkriegszeit. Zu Letzteren gehört die Gegend rund um den Zuidplein (Südplatz), die einmal zu einem zweiten Stadtzentrum werden sollte, aber nie fertiggestellt wurde. Heute präsentiert sich der Zuidplein als wenig einladendes städtebauliches Sammelsurium aus Hochbahntrasse, Busbahnhof, Einkaufszentrum, Kongresszentrum und Wohnhochhäusern.

Dazwischen stehen, wie Vorboten einer aufgeräumteren Zukunft, der Neubau eines Schwimmzentrums (s. db-Metamorphose 9/2020, S. 100) und das neue Theater Zuidplein.

Städtebauliches Schiebepuzzle

Seit einigen Jahren ist ein Stadterneuerungsprojekt im Gange, das das Gebiet um den Zuidplein gründlich umkrempeln will. Kaum ein Gebäude entgeht der Erneuerung, und auch der Außenraum soll aufgewertet und fußgängerfreundlicher werden. Damit die Metamorphose möglichst reibungslos vonstattengeht, wird sie in Phasen durchgeführt. Wie bei einem Schiebepuzzle nehmen Neubauten den Platz von Altbauten ein, deren Funktion immer ein Baufeld weiterrückt: Das neue Schwimmbad steht am Standort eines alten ­Bürobaus der Stadtverwaltung; und wo zuvor das Schwimmbad stand, steht nun das Theater Zuidplein. Der Altbau des Theaters – 1954 am Nordende des Zuidplein nach Entwurf von Sybold van Ravesteyn errichtet und in den 70er Jahren bis zur Unkenntlichkeit umgebaut – wird abgerissen. Dort wird in Zukunft der Busbahnhof angesiedelt, sodass der Raum unter und neben der Hochbahn-Haltestelle, wo momentan noch der Busbahnhof liegt, zum autofreien Boulevard werden kann.

Das neue Theater steht direkt neben der Metrostation Zuidplein und ist damit einer der sichtbarsten Neubauten im Ensemble. Sein Eingang ist zu einem kleinen Platz mit Caféterrassen orientiert, der auf der gegenüberliegenden Seite vom neuen Schwimmbad flankiert wird. Mit seinem auskragenden Dach, dem roséfarbenen Backstein und Fassadenpaneelen mit geometrischen Mustern fällt das Theater sofort ins Auge. Aus Lärmschutzgründen ist ein Großteil der Fassadenflächen völlig geschlossen, denn im Norden und Westen stehen Wohnungsbauten in nicht einmal 20 m Entfernung.

Hip-Hop-Konzerte und Bollywood-Abende

Daher hat De Zwarte Hond alle Büros und Umkleiden als Pufferzone auf der Nordseite des Gebäudes angeordnet. Zur Metrostation hin liegt dagegen der größere der beiden Säle hinter geschlossenen Backsteinwänden. Ihr roter Wasserstrichziegel ist mit einer weißen Engobe versehen, deren Deckungskraft variiert und damit Roséschattierungen erzeugt, die Leben in die Wand bringen. Zusätzlich hat der große Saal lange, hohe Fenster, unter denen Sitzbänkchen in die Außenwände eingebaut sind. Für Gliederung sorgt über jedem Fenster ein Streifen aus auf der Seite gemauerten, ihre Mulde nach außen kehrenden Ziegeln. Ihre Vertikalität betont die Höhe des Bühnenturms und kaschiert Notüberläufe und Dehnfugen. Da man mit einer Geräuschkulisse von bis zu 105 dB rechnet, empfahl sich das schwere Ziegelmauerwerk in Kombination mit Hohlräumen, Betoninnenwänden und Box-in-a-Box-Konstruktionen, um den Lärm im Gebäudeinnern zu halten.

Weiterhin bestimmen bronzefarbene, semitransparente Aluminiumpaneele das Außenbild des Theaters. Sie tragen ein Muster aus ineinander verschachtelten Rosetten, die sich aus kleinen Dreiecksformen zusammensetzen. In Kombination mit der Rundung unter dem Dachüberstand verleihen sie dem Gebäude eine exotische Anmutung, die mehr mit islamischer als mit niederländischer Architektur verwandt zu sein scheint. Dahinter steckt das Bestreben des Theaters, die Einwohner von Rotterdam-Süd anzusprechen.

In den 90er Jahren hatte das Theater Zuidplein noch eine konventionelle Programmierung mit Theateraufführungen und klassischen Konzerten – aber die Besucherzahlen schwanden angesichts der Konkurrenz zentraler gelegener, renommierterer Kulturhäuser. Vor etwa 20 Jahren erteilte die Stadt dem Theater daher den Auftrag, fortan auch »neue Rotterdamer« anzusprechen.

Gemeint waren die etwa 70 % der Einwohner von Rotterdam-Zuid mit Migrationshintergrund. Seither stehen Hip-Hop-Konzerte, Bollywood-Abende, Auftritte von Stand-up-Comedians und Jugendvorstellungen auf dem Programm. Ganz bewusst will man all jene in das Theater Zuidplein locken, die mit dem sonstigen Kulturangebot der Stadt wenig anfangen können. Dafür musste der Theaterbau so zugänglich wie möglich wirken.

Der Platz vor dem Theater dient dank der Caféterrasse bei schönem Wetter als Freiluft-Wohnzimmer. Von dort aus betritt man das doppelgeschossige Foyer, das ebenfalls als öffentliches Wohnzimmer formuliert ist. Die durchbrochenen Aluminiumpaneele der Fassade erzeugen tagsüber ein lebendiges Licht- und Schattenspiel im Foyer, während sie das Gebäude abends, wenn sein Innenleben beleuchtet ist, in eine große orientalische Laterne verwandeln.

Beim Betreten der Halle liegt zur Linken eine kleine, mit Glastüren abgetrennte Filiale der Stadtbücherei, in der auch Computer- und Sprachkurse abgehalten werden. Daneben befindet sich eine offene, ebenerdige Bühne für Kindervorstellungen und Nachbarschaftsaktivitäten, über der ein großer LED-Bildschirm hängt. Rechts vom Eingang steht eine pinkfarben beleuchtete Bar- und Kücheninsel, hinter der der Restaurantbereich seinen Platz hat. Überall im Raum verteilte Sitzmöbel, aber auch das Fischgrätmuster des Natursteinbodens tragen zum Wohnzimmercharakter bei.

Kristallgefüllte Geode

Der Zugang zu den Theatersälen liegt im hinteren Bereich der Halle und hebt sich durch seine sattroten Wände, Böden und Decken deutlich vom Dunkelgrau des Foyers ab. Die Farbwahl hat Signalwirkung, ist aber v. a. eine Reminiszenz an den Altbau des Theaters, der seit der letzten Renovierung im Jahr 2004 nicht nur innen, sondern auch außen knallrot war. Der kleine Saal war lilafarben, der große rot bestuhlt – dieses Schema hat De Zwarte Hond für den Neubau übernommen. Während der kleine Saal Platz für 250 Zuschauer bietet, passen in den großen über Parterre und Balkon verteilt 600 Besucher. Er ist rundum in saftiges Rot getaucht, von den Stühlen bis hin zu der akustisch wirksamen Wandbekleidung aus 6 000 Aluminium-Dreiecken, die von einer CNC-Fräse zugeschnitten und dann mit Hilfe eines Algorithmus positioniert wurden. Sie lassen den Saal wie das Innere einer kristallgefüllten, rubinroten Geode oder Druse wirken, reflektieren aber auch das Dreiecksmotiv der Fassadenbekleidung.

Damit möglichst unterschiedliche Veranstaltungen im Saal statt­finden können, ist zwischen Zuschauerraum und Bühne eine hochfahrbare Wand im Boden versteckt. Mit ihrer Hilfe kann die Bühne abgetrennt und in einen Stehsaal für 1 000 Zuschauer umfunktioniert werden. Ungewöhnlicherweise bieten drei vertikale Fensteröffnungen einen Ausblick von der Bühne auf die Straße und die gegenüberliegende Metrohaltestelle. Dieser Blickbezug erscheint als Sinnbild für die Ansprüche des Theaterbaus: Kultur und Stadtleben verbinden, Offenheit signalisieren und neben aus der Ferne angereisten Kulturliebhabern v. a. die Bewohner des Viertels ansprechen. Die eigenwillige Ästhetik des Gebäudes mit ihren orientalischen Anklängen sorgt darüber ­hinaus dafür, dass das neue »kulturelle Herz« von Rotterdam-Zuid sich in der städtebaulichen Kakofonie seiner Umgebung behaupten kann.

db, Do., 2021.04.01



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db 2021|04 Kulturbauten

08. Juni 2020Anneke Bokern
db

Klar Schiff machen

Die niederländische Redewendung »schoonschip maken« ist gleichbedeutend mit »klar Schiff machen«, aber »schoon« bedeutet auch ganz wörtlich »sauber«. Damit hat die Flotte aus 46 Wohnbooten, die in einem Kanal im Norden Amsterdams liegt, einen passenden Namen ­bekommen, will sie doch die nachhaltigste schwimmende Siedlung Europas sein. Unsere Amsterdam-Korrespondentin durchstreifte die Siedlung für uns.

Die niederländische Redewendung »schoonschip maken« ist gleichbedeutend mit »klar Schiff machen«, aber »schoon« bedeutet auch ganz wörtlich »sauber«. Damit hat die Flotte aus 46 Wohnbooten, die in einem Kanal im Norden Amsterdams liegt, einen passenden Namen ­bekommen, will sie doch die nachhaltigste schwimmende Siedlung Europas sein. Unsere Amsterdam-Korrespondentin durchstreifte die Siedlung für uns.

Der Johan van Hasseltkanal ist ein 1908 begonnener, aber nie vollendeter Nebenkanal des Flusses IJ in Amsterdam. Nur 900 m vom IJ entfernt endet er bereits als Sackgasse. Rund um dieses unfreiwillige Hafenbecken erstreckt sich der Polder Buiksloterham, der im 20. Jahrhundert als Gewerbe- und Industriegebiet eingerichtet wurde. Da jedoch der Wohnraumbedarf in Amsterdam groß ist und Buiksloterham nur einen Katzensprung von der Innenstadt entfernt liegt, begann vor etwa zehn Jahren eine Transformation der Gegend: Sie soll zu einem nachhaltigen, zirkulären Wohnviertel werden. Entgegen ihrer Gewohnheit, solche Gebiete aufzukaufen und in einem Rutsch zu beplanen, gibt die Stadt die nur schrittweise zur Bebauung frei. Zurzeit präsentiert sich die Gegend daher als spannendes Mischgebiet, in dem neue Baugruppenprojekte und Nullenergiehäuser zwischen Logistikbetrieben und Baumärkten entstehen.

Mitten in diesem Gebiet liegt, oder besser gesagt schwimmt, die Siedlung Schoonschip im Van Hasseltkanal. Sie zählt 30 Wassergrundstücke mit insgesamt 46 Wohnungen und beansprucht für sich, das »nachhaltigste schwimmende Wohnviertel in Europa« zu sein. Vermutlich stimmt das sogar, denn die Konkurrenz dürfte in dieser Kategorie nicht allzu groß sein.

Schwimmendes Asterixdorf

Von Süden kommend, überquert man eine kleine Brücke über den Kanal, ehe man die Häuser sieht. Wie ein Asterixdorf treibt das bunte Häuflein vor einer Kulisse aus achtgeschossigen Wohnblöcken (darunter mit Patch22 der bislang höchste Holzbau der Niederlande). Auf der gegenüberliegenden Kanalseite blickt man auf den Parkplatz eines Baumaschinenverleihs, vor dem ein altes Feuerschiff vertäut ist; ein Stückchen weiter wachsen entlang des Kais wiederum neue Wohnbauten aus dem Boden empor.

Den Zugang zu Schoonschip bilden hölzerne Stege. Aus der Nähe wird offensichtlich, dass alle schwimmenden Häuser zwar dieselbe Kubatur haben, dass sich ihre Architektur aber stark unterscheidet: von minimalistisch bis anthroposophisch ist alles dabei, wobei Holzbeplankungen in allen erdenklichen Maßen und Schattierungen das Bild bestimmen. Die breiten Stege zwischen den Häusern dienen gleichzeitig als öffentlicher Raum und als Abstellfläche, auf der Fahrräder, Kanus und Blumenkübel stehen. Hier und dort zimmert ein Bewohner noch an Teilen seines Heims, während seine Kinder auf dem Steg oder an der Uferböschung spielen. Neben den Stegen »treiben« kleine Erdhügel im Kanal, die bald zu schwimmenden Gärten werden sollen.

Von der Idee zur Produktion

Die Idee für Schoonschip hatte die Filmemacherin Marjan de Blok, als sie 2008 einen Dokumentarfilm über ein nachhaltiges Wohnboot drehte. Sie träumte von einer energieneutralen und zirkulären Siedlung solcher Häuser, und wusste damit bald auch einige Freunde zu begeistern. Gemeinsam entwickelten sie erste Ideen für die Realisierung. Den Standort fanden sie, als eine Architektin dazustieß, die wusste, dass im Bebauungsplan für Buiksloterham eine schwimmende Siedlung vorgesehen war. Kurz darauf lernte Marjan de Blok bei einem Vortrag über ein anderes Wasserwohnprojekt Sascha Glasl vom Architekturbüro Space & Matter kennen und beauftragte ihn mit einer Machbarkeitsstudie für den Standort in Amsterdam. Space & Matter setzten die Ideen der Freundesgruppe in einen Städtebauplan um und begleiteten die Bauherren, die inzwischen eine Stiftung gegründet hatten, in der Planungsphase. In Workshops mit den zukünftigen Bewohnern stellten sie deren Wünsche fest und entwickelten daraus das Konzept. Um sich moralisch zu verpflichten, musste jeder Teilnehmer ein Manifest unterschreiben, in dem die nachhaltigen Ambitionen festgehalten wurden.

Der Städtebauplan besteht aus fünf T-förmigen Holzstegen, deren Enden durch mobile Stegelemente – eigentlich Flöße – miteinander verbunden sind. An jedem T liegen, der Aussicht zuliebe leicht gegeneinander verdreht, sechs schwimmende Häuser. Während der Bebauungsplan 30 identische Bauten vorsah, schlugen die Architekten vor, die Hälfte der Parzellen mit 120-160 m² großen Doppelhäusern zu bebauen, sodass insgesamt 46 Wohneinheiten entstanden. Als Treibkörper dient jeweils eine 2,5 bis 3 m tiefe Betonwanne mit einem Aufbau in Holzskelettbauweise. Alle Häuser werden an einem Kanal im 10 km entfernten Zaandam gebaut, dann per Kran zu Wasser gelassen und nach Amsterdam geschleppt.

Upfall-Dusche und Mobility Hub

Bei der Materialisierung hatten die Bewohner im Prinzip freie Wahl, aber die meisten haben sich im Sinne des Manifests für natürliche, erneuerbare Materialien entschieden. Fast alle Häuser haben Holzfassaden; ein Wohnboot ist jedoch mit Solarpaneelen bedeckt, und ein anderes hat begrünte Wände. Der Architekt Wouter Valkenier hat sein schwimmendes Heim sogar komplett aus Restmaterialien gebaut. Beton ist, außer natürlich in den Treibkörpern, kaum vertreten, und Stahl wurde nur in wenigen Häusern als Balken für große Überspannungen verwendet.

Auf den Dächern der Häuser befinden sich Solarpaneele und Sonnenboiler. Heizwärme wird mithilfe von Wasserwärmepumpen aus dem Kanal gewonnen, dessen Mindesttemperatur in 4 m Tiefe bei 4-5°C liegt. Bemerkenswert ist, dass die gesamte Siedlung mit einem einzigen Anschluss an das staatliche Stromnetz auskommt. Jedes Haus ist mit einer Batterie ausgestattet, in der der Überschuss an gewonnener Energie gespeichert und mittels eines Smartgrid unter den Bewohnern verteilt wird.

Das Wasser für Duschen und Toiletten stammt aus 1000-Liter-Regenwassertanks. Das reicht, denn die Häuser sind mit Vakuumtoiletten ausgestattet, die nur 1 l Wasser pro Spülung verbrauchen, und viele nutzen außerdem Upfall-Duschen, bei denen das Wasser in einem geschlossenen System zirkuliert und kontinuierlich aufbereitet wird, sodass nur etwa 2 l Frischwasser pro Duschminute benötigt werden.

Autos besitzen die Bewohner von Schoonschip nicht mehr. Stattdessen teilen sie sich einen Fuhrpark mit Elektroautos, -mopeds und -rädern, die in einem Mobility Hub organisiert sind und auf einem nahen Parkplatz bereitstehen.

Einheitliche Bewohnerschaft

Ein Spaziergang über die Stege bietet trotz niederländischer Gardinenlosigkeit weniger Einblicke als man erwarten würde. Zwar offenbaren ein paar Häuser dank großer Fensterfronten ihr großzügiges Innenleben mit Split Levels und offenen Grundrissen – so etwa das schwimmende Haus, das Sascha Glasl für sich selber entworfen hat. Viele andere zeigen dem Besucher jedoch die kalte Schulter und öffnen sich nur zum Wasser hin. Denn bei aller Variation ist eines sehr einheitlich: die soziale Zusammenstellung der Bewohner. Allesamt sind sie junge, gut ausgebildete, gutverdienende Niederländer, darunter viele Kreative und auch manch bekannte Medienpersönlichkeit. Am Zugang zu den Stegen weisen (sehr unniederländische) Schilder darauf hin, dass man sich auf Privatgelände begibt und Besuchergruppen nicht erwünscht sind.

Dementsprechend kam auch schnell der Vorwurf auf, es handele sich um ein elitäres schwimmendes Dorf. Dabei wollten die Initiatoren angeblich sogar soziale Mietwohnungen ins Konzept aufnehmen, aber die kontaktierte Wohnungsbaugesellschaft konnte nicht schnell genug mitziehen. Die Initiatoren hoffen nun, dass ihr Beispiel Schule machen wird.

Und warum auch nicht, denn in den dicht bevölkerten Niederlanden herrscht Wasserüberschuss und werden immer mehr Rückhaltebecken benötigt, während gleichzeitig das Bauland knapp wird. Schwimmende Häuser verursachen dank der ausgelagerten Produktion kaum Baulärm und sind komplett reversibel. Das weiß man schon, seit vor zehn Jahren auf dem Steigereiland (s. db 10/2010, S. 18) die erste Wassersiedlung angelegt wurde, an der sich Schoonschip jetzt orientiert hat. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis irgendwo Version 3.0 auftaucht.

db, Mo., 2020.06.08



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db 2020|06 Stadtspaziergänge

06. März 2020Anneke Bokern
Bauwelt

Städtebau, der Länge nach

In Almere wurde ein Konzept umgesetzt, das den Bewohnern größtmögliche Gestaltung ermöglicht. Ein 100 Meter langer Wohnbau führt den Beweis.

In Almere wurde ein Konzept umgesetzt, das den Bewohnern größtmögliche Gestaltung ermöglicht. Ein 100 Meter langer Wohnbau führt den Beweis.

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Bauwelt 2020|05 Die grüne Pflicht

08. Oktober 2018Anneke Bokern
db

Smaragd im Park

Klassische Konzerte, House-Parties, Fashion Shows und Volleyball-Turniere: Im neuen Parksaal des Konzerthauses Musis Sacrum in Arnheim ist alles möglich. Die Vielfalt der Veranstaltungen spielt sich hinter einer sattgrün melierten Keramikfassade ab, die den Bau zur Erweiterung des Parks werden lässt.

Klassische Konzerte, House-Parties, Fashion Shows und Volleyball-Turniere: Im neuen Parksaal des Konzerthauses Musis Sacrum in Arnheim ist alles möglich. Die Vielfalt der Veranstaltungen spielt sich hinter einer sattgrün melierten Keramikfassade ab, die den Bau zur Erweiterung des Parks werden lässt.

Musis Sacrum (Den Musen geweiht) ist ein alteingesessenes Konzerthaus in Arnheim und Heimat des Arnhem Philharmonic Orchestra. Das Stammhaus wurde 1847 in einem Park am Rande der Innenstadt errichtet und im Laufe der Zeit mehrfach umgebaut und erweitert. Mit seinem etwas plumpen Eklektizismus galt schon der Ursprungsbau nicht gerade als Schönheit, und die diversen Um- und Anbauten, darunter ein unter Sparzwängen entstandener Saal aus den 1970er Jahren auf der Parkseite, bewirkten auch keine Verbesserung. Die Wegeführung war unlogisch, die Akustik schlecht, das Dach leckte, und der gesamte Bau steckte voller Asbest.

Es musste also etwas geschehen. Als 2014 endlich öffentliche Mittel verfügbar wurden, luden die Stadt und die Leitung des Konzerthauses fünf Architekturbüros ein, einen Entwurf für eine Erneuerung des Anbaus und die Renovierung des Altbaus zu erarbeiten. Aus dem Wettbewerb ging das Amsterdamer Büro Van Dongen & Koschuch, das bereits zwölf weitere Konzertsäle in den Niederlanden im Portfolio hat, als Gewinner hervor: Als einzige Teilnehmer hatten sie vorgeschlagen, den Neubau durch ein Foyer vom Altbau zu trennen und einen Teil des Raumprogramms unterirdisch unterzubringen.

Minimale Sanierung des Bestands, maximale Strahlkraft des Neubaus

Mit insgesamt 18 Mio. Euro für Neubau und Sanierung war das Budget sehr beschränkt. Ursprünglich sollte der neue Saal deshalb nur ein Volumen von 10 000 m³ bekommen. Aber für eine optimale Akustik muss die Höhe des Saals mindestens der Hälfte der Tiefe entsprechen, was auf 15 000 m³ hinauslief. Um das zu finanzieren, wurde die Renovierung des Altbaus recht einfach gehalten: Die Installationen wurden erneuert, der große Saal mit fünf hohen, schmalen Fenstern zur Stadt hin geöffnet, alte Parkettböden freigelegt, und alle Räume in eine etwas charakterlose beigefarbene Grundfarbe getaucht (mit der Option, ehemalige Wanddekorationen zu einem späteren Zeitpunkt wiederherzustellen).

Viel bildbestimmender als der Altbau ist glücklicherweise der neue Erweiterungsbau auf der Parkseite, der an die Stelle des Anbaus aus den 1970er Jahren getreten ist. An den Altbau schließt, unter einem Kragdach und über einem Treppensockel aus Beton, die Glasfassade des Neubaus an. Auf der stadtzugewandten Seite befinden sich der neue Haupteingang und das Foyer, das an das Foyer des Altbaus anschließt. Auf der Nordseite liegt eine Logistik-Achse mit Zulieferung, Büros und Backstage-Bereich. Alle Garderoben, Studios und sonstige Nebenräume wurden im UG untergebracht – eine für die Niederlande, wo unterirdische Baumaßnahmen normalerweise viel Geld kosten, ungewöhnliche Lösung, die aber dank des niedrigen Grundwasserspiegels in Arnheim möglich war. Damit die Aufenthaltsräume dennoch Tageslicht erhalten und gleichzeitig nicht von außen einsehbar sind, befindet sich vor der Nordfassade ein langer, schmaler, abgesenkter Patio.

Keramikfassade als Hingucker

Das Volumen des neuen Konzertsaals ist 17 m hoch und steckt als autonomes Objekt mit abgerundeten Ecken durch das Betondach. Hingucker ist die mit smaragdgrün melierten, 8 cm breiten Keramikelementen bekleidet Fassade, die das gesamte Volumen umhüllt – sowohl außen als auch hinter der Glasfassade. Dafür wurden insgesamt 15 000 Keramikröhren mit trapezförmigem Querschnitt angefertigt und in der Manufaktur Koninklijke Tichelaar im friesischen Makkum, die auf Keramikprodukte für architektonische Anwendungen spezialisiert ist, von Hand glasiert. Mit einem Kännchen wurden fünf verschiedene Grüntöne über die auf Kante gestellten Elemente gegossen. Der so erzeugte sirupartige Verlauf bewirkt, dass jedes Element anders aussieht und die handwerkliche Entstehungsweise deutlich sichtbar ist.

Um der Fassade noch mehr Tiefe zu verleihen, wurden die Elemente in zwei Maßen angefertigt und abwechselnd montiert. So entsteht eine vertikale Reliefstruktur mit viel Tiefe, Bewegung und einer facettenreichen, samtigen Farbgebung. Die glasierten Keramikmodule sind über einer Mineralwoll-Dämmschicht angebracht und in Aluminiummanschetten eingehängt. Während sich außen zwischen den Elementen jeweils eine T-förmige Dichtung befindet, liegt im Innern dort ein 2 cm breiter Spalt, der schallschluckend wirkt. Hinter den Keramikelementen versteckt sich ohnehin viel mehr als man zunächst denkt: Ventilation, Absaugung, Schlauchtrommeln und Anschlüsse aller Art sind in der sattgrünen Wand verborgen. Auf diese Art konnte alles Geld in die Fassade fließen und nicht etwa in ein aufwendiges Deckensystem.

So flexibel wie irgend möglich

Hinter dem Keramikgewand befindet sich der neue Konzertsaal mit 1 000-1 750 flexibel montierbaren Sitzplätzen und einem umlaufenden Balkon. Sein Akustikkonzept wurde gemeinsam mit dem Büro Peutz ausgearbeitet und an einem 1:10-Modell getestet. Die Wände sind mit Eichenholzkassetten mit einem teils unregelmäßigen Sägezahnmotiv bekleidet. Zusätzlich verstecken sich hinter der Wandbekleidung noch 250 ausklappbare, schwarze Faltpaneele, mit deren Hilfe man die Nachhallzeit im Saal von 2,3 Sekunden auf 1 Sekunde reduzieren kann, sodass er vom Klassik- zum Pop-Saal wird. Multifunktionalität war ohnehin das Leitmotiv: Auch Bühne und Saalboden sind je nach Nutzungsart in der Höhe verstellbar.

Größter Kunstgriff hier ist jedoch die 10 m hohe und 16 m breite Glaswand hinter der Bühne. Um eine Schallisolierung von 58 dB zu gewährleisten, besteht sie aus zwei 50 mm dicken Isolierglasschichten, zwischen denen ein breiter, begehbarer Spalt liegt. Bei Konzerten im Saal kann sie mit einem großen Rollo verdunkelt werden. Man kann den gesamten Saal aber auch zum Park hin öffnen, denn die Glaselemente sind auf einer im Boden eingelassenen Schiene fahrbar. Wenn man die Glaswand öffnet und sich das Orchester umdreht, spielt es auf einmal ein Open-Air-Konzert für die Parkbesucher.

Nicht nur dank dieser Öffnung, sondern auch durch das satte Grün der Keramikfassade wird das Gebäude zu einer echten Verlängerung des Parks. Die Grüntöne der Blätter und des Grases, aber auch des schlammigen kleinen Wasserlaufs kehren in der Fassade zurück, die außerdem bei unterschiedlicher Lichteinstrahlung einen immer wieder anderen Anblick bietet. Im Innern treffen die grünen Keramikelemente auf Türen, Handläufe und Schilder aus Messing und weiße Natursteinböden, was an den Materialgebrauch von Gio Ponti denken lässt und somit etwas stilvollen Fünfziger-Jahre-Charme versprüht.

Laut den Architekten hat die Keramikfassade nicht mehr gekostet als eine vergleichbare Klinkerfassade. Ihr Effekt ist aber ungleich größer, verleiht sie dem Gebäude doch Wiedererkennungswert, verankert es in seinem Kontext, birgt schlaue Detaillösungen und hat – auch in Kombination mit den weiteren Materialien – eine edle, handwerkliche Ausstrahlung, die nichts von den Budgetbeschränkungen verrät.

db, Mo., 2018.10.08



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db 2018|10 Keramik

02. Mai 2018Anneke Bokern
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Park mit Schleife

Eine nur 3 ha große Grünanlage zwischen der Innenstadt von Utrecht und dem Neubaugebiet Leidsche Rijn nimmt seit 2017 eine Schule und eine schwungvolle Rampe zu einer Fahrradbrücke auf. Dem Planerteam ist es erstaunlich gut gelungen, die erforderlichen Funktionen auf engem Raum zu verbinden und dadurch möglichst viel Parkfläche zu erhalten.

Eine nur 3 ha große Grünanlage zwischen der Innenstadt von Utrecht und dem Neubaugebiet Leidsche Rijn nimmt seit 2017 eine Schule und eine schwungvolle Rampe zu einer Fahrradbrücke auf. Dem Planerteam ist es erstaunlich gut gelungen, die erforderlichen Funktionen auf engem Raum zu verbinden und dadurch möglichst viel Parkfläche zu erhalten.

»Mehrfache Raumnutzung« (meervoudig ruimtegebruik) ist ein oft gehörtes Stichwort in den Niederlanden. V.a. im Ballungsraum Randstad, der mit über 900 Einwohnern pro Quadratkilometer zu den dichtest besiedelten Regionen der Welt gehört, herrscht chronischer Platzmangel. Da bleibt nur, Funktionen zu stapeln oder miteinander zu verschränken. So entstanden in der Region ­innerhalb der letzten Jahre u. a. ein Strandboulevard mit integrierter Park­garage, ein Park auf einem Einkaufszentrum, das auch als Deich fungiert, ein Sportplatz mit Regenwasserrückhaltebecken – und schließlich eine Schule mit Fahrradrampe auf dem Dach, eingepasst in den kleinen Victor-Hugo-Park in Utrecht.

Die Dafne-Schippers-Brücke, benannt nach einer niederländischen Leichtathletin, liegt westlich der Innenstadt von Utrecht und verbindet den Stadtteil Oog in Al mit dem Neubauviertel Leidsche Rijn. Sie führt über den Amsterdam-Rheinkanal, eine der wichtigsten Binnenschifffahrtsrouten der Niederlande. Während Oog in Al ein ruhiges, grünes Wohnviertel aus den 30er Jahren ist, handelt es sich bei Leidsche Rijn, das jenseits des Kanals liegt, um das derzeit größte Neubaugebiet der Niederlande. Bis 2030 sollen dort auf einer Fläche von 2 500 ha insgesamt 100 000 Menschen wohnen – in einem Meer aus Reihenhäusern, unterbrochen von höherer Wohnbebauung entlang der Hauptstraßen. Um zu vermeiden, dass all diese Vorstadtbewohner mit dem Auto in die enge Innenstadt pendeln, bedurfte es einer neuen Fahrradverbindung über den Kanal. In Utrecht ist fahrradgerechte Planung ein großes Thema, denn wenngleich die Amsterdamer Fahrradkultur international viel bekannter ist, profiliert sich die viertgrößte Stadt des Landes gerne als Fahrradhauptstadt. Im »Copenhagenize Index 2017« belegt Utrecht den zweiten Platz – selbstverständlich hinter Kopenhagen, aber einen Platz vor Amsterdam.

7000 pro Tag

Zwar gab es bereits zwei Brücken über den Kanal, die auch für Radler freigegeben sind, aber sie bieten keinen direkten Anschluss an die Innenstadt, ­liegen in einem Abstand von zwei Kilometern voneinander entfernt und sind obendrein stark befahrene Autobrücken.

Schon in den ersten städtebaulichen Plänen für Leidsche Rijn, die 1995 entstanden, wurde deshalb der Victor-­Hugo-Park als »Anlandepunkt« einer Fahrradbrücke auserkoren, denn er befindet sich direkt am Kanal, auf halber Strecke zwischen den beiden bestehenden Brücken. Außerdem ließ sich von diesem Standort aus ein ebenerdiger Fahrradweg in beinahe gerader Linie zum Hauptbahnhof führen, wodurch sich die Entfernung von Leidsche Rijn in die Innenstadt um etwa einen Kilometer verkürzt. Wenn der neue Stadtteil fertiggestellt sein wird, sollen davon schätzungsweise 7 000 Radfahrer pro Tag profitieren.

Und genau das war anfänglich das Problem.
Umstanden von Wohnblöcken aus den 30er Jahren war der Victor-Hugo-Park vor seiner Umgestaltung eine etwas vernachlässigte Grünfläche mit einem Schulgebäude aus den 50er Jahren, dessen Pausenhöfe in den Park integriert waren. Die Außenraumgestaltung bestand aus einer Rasenfläche, einigen Bäumen und einer (noch immer vorhandenen) zierlichen Bronzeskulptur ­einer Hirschkuh. Bei den Anwohnern stieß die Vorstellung, dass ihr Park ­einer riesigen Brückenzufahrt geopfert und obendrein zur Durchgangszone für tausende Radfahrer täglich werden würde, auf wenig Gegenliebe. Auch die konservativen und sozialistischen Parteien im Stadtrat waren dagegen, denn sie hielten die bestehenden Brücken für ausreichend. Letztlich wurden sie­­­­ jedoch von den Grünen und Linksliberalen, die die Mehrheit im Stadtrat haben, überstimmt. Zum Projekt, das insgesamt 25 Mio. Euro gekostet hat, gehörte neben der neuen Brücke und Außenraumgestaltung auch der Abriss des bestehenden Schulgebäudes sowie der Neubau einer Montessori-Grund­schule sowie 15 neue Reihenhäuser an der Südseite des Parks. Da die Fahrradverbindung aufgrund des Schiffsverkehrs in 7 m Höhe über den Kanal geführt werden musste, entstand die Idee, die neue Schule in Teilen darunter zu schieben und so den Flächenverbrauch zu minimieren.

Besänftigt

Die Europäische Ausschreibung gewann ein Team aus dem etablierten Architekturbüro Rudy Uytenhaak + Partners Architecten gemeinsam mit dem jüngeren Büro Next Architects, dem Ingenieursbüro Arup und den Landschaftsarchitekten von Bureau B+B. Alle beteiligten Planer hatten bereits zuvor erfolgreich zusammengearbeitet, wenngleich auch in anderen Konstellationen. In der Vorentwurfsphase arbeiteten sie das Projekt gemeinsam aus und teilten erst danach die einzelnen Aufgabenbereiche untereinander auf. Einzig die Reihenhäuser gehörten nicht zum Projektumfang und wurden später von ­einem anderen Architekturbüro realisiert. Die Anwohner und die Schul­leitung wurden bereits früh in die Planung einbezogen. Es wurden mehrere Informationsabende veranstaltet und Arbeitsgruppen zusammengestellt. Nach der Präsentation des Vorentwurfs waren die Anwohner etwas besänftigt und leisteten weniger Widerstand gegen das Projekt, im Wissen, dass ihr Park nicht völlig verschwinden würde.

Die weiße, stählerne Hängebrücke selbst, zu der die Rampe durch den Park führt, überspannt 110 m und entfaltet v. a aufgrund ihres nur 30 cm dicken Brückendecks eine filigrane Wirkung. In Leidsche Rijn wird der Überbau von einem A-förmigen Pylon getragen, in Oog in Al von einem niedrigeren, H-förmigen Pylon, der an den Maßstab des Wohnviertels anknüpft. Der gesamte Radweg ist, wie in den Niederlanden üblich, rot asphaltiert – wobei das Rot hier besonders kräftig ausgefallen ist und eher an eine Leichtathletikbahn erinnert. Der Grund ist, dass die Brücke auch als Laufstrecke gedacht und mit entsprechenden weißen Abstandsmarkierungen versehen ist.

Schwungvoll

Die Brückenzufahrt liegt sehr prominent an der Südseite des Victor-Hugo-Parks. In Utrecht ist sie bereits als »Korkenzieher« bekannt, denn um den ­Höhenunterschied für Radler kräftesparend zu überbrücken, führt sie in einer schwungvollen Mäanderbewegung in die Höhe. Ihre Steigung beträgt ­zwischen 2,56 % und 4,05 %. Als große Schleife umfasst sie einen runden ­Basketballplatz mit einer halbrunden Bank, der auf Wunsch der Anwohner hier (anstatt, wie zunächst geplant, mitten in der Grünanlage) angesiedelt wurde. Danach führt der Radweg über eine Brücke, die für den Schulhof ­darunter als Torsituation auf dem Weg zum Schuleingang fungiert, und schließlich über das Dach des niedrigeren Bauteils der Schule, bevor er in ­einem rechten Winkel nach Westen abknickt und in die Brücke übergeht.

Die beiden Bauteile der Grundschule sind mit abgerundeten Ecken sowie ­einer Fassade aus bunt melierten Klinkern versehen. Der niedrigere nimmt die Turnhalle auf. Der höhere, zweigeschossige Bauteil, in dem sich die Aula und je zwei Spiel- und Klassenzimmer befinden, begrenzt Park und Schulhof zum Kanal hin. Während das Dach des Hauptbaus 109 Solarpaneele, oberhalb einer extensiven Begrünung, aufnimmt, dient das Dach der Sporthalle ‒ von der Brücke aus begehbar ‒ als Schulgarten.

Lerneffekt

Der kleine Victor-Hugo-Park selbst zeigt sich als geometrisch geformte Landschaft, in der die Rasenflächen in Richtung der Brückenzufahrt ansteigen, von zwei Fußwegen durchkreuzt und von zwei großen Lichtmasten beleuchtet. Zum Basketballplatz hin fällt der »Rampenhügel« in Form eines terrassierten Amphitheaters ab. Die kniehohen Mäuerchen mit Abdeckungen aus Betonfertigteilen, die den Radweg von den Rasenflächen abgrenzen, bestehen aus denselben Klinkern wie die Schulfassade. Die »niederländisch steile« Betontreppe wiederum, die Fußgängern als direkter Zugang zur Brücke dient, verweist mit ihren weißen, metallenen Geländern deutlich auf die Gestaltung der im weiteren Wegeverlauf folgenden Brücke.

Für den Bau der Brückenzufahrt und der Schule mussten einige bestehende Bäume weichen, aber zur großen Freude der Anwohner wurden sogar mehr Bäume neu gepflanzt als zuvor gefällt wurden. Da der vormalige Baumbestand kein ausgeprägtes Blütenbild aufwies, entschieden sich die Landschaftsarchitekten von Bureau B+B bei den Neupflanzungen für Magnolien.

Im Ergebnis ist mit dem Projekt eine in ihrer funktionalen Vielfalt erstaunlich kohärente Außenraumgestaltung als Synthese aus Architektur und Landschaftsarchitektur gelungen.

Für Radfahrer ist es ein echtes Erlebnis, von der Brücke in einer schwungvollen Bewegung ­herabzurollen, über die Schule hinweg und an spielenden Kindern vorbei. Zwar ist die Brückenzufahrt mehr als dominant, dient zugleich aber auch als identitätsstiftendes Element. Mit ihrer großen Schleife umarmt sie den Schulhof und das Basketballfeld und wirkt geradezu beschützend. Ob die kleinen Mäuerchen zwischen Rasen, Schulhof und Radweg deutschen Sicherheitsvorschriften genügen würden, ist zweifelhaft. Auf die Frage, ob nicht die Gefahr bestehe, dass Kinder beim Spielen auf den Radweg rennen, antwortet eine Lehrerin mit niederländischem Gleichmut: »Dass sie das nicht tun sollten, lernen sie schnell genug.«

db, Mi., 2018.05.02



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db 2018|05 Außenraum

12. August 2016Anneke Bokern
Bauwelt

A Home Away From Home

Auch in den Niederlanden fehlt es an Unterkünften für Flüchtlinge. Die Zentrale Unterbringungsbehörde für Asylsuchende und das Büro des Reichsbaumeisters lobten deshalb gemeinsam einen Wettbewerb aus. Die Teilnehmer waren aufgerufen, Alternativen zu den gängigen Wohncontainern zu entwickeln, die es im Land gibt. Ob solche Konzepte allerdings auch als dauerhafte Wohnungen für Geringverdiener taugen, wie sich Reichsbaumeister Floris Alkemade das vorstellt?

Auch in den Niederlanden fehlt es an Unterkünften für Flüchtlinge. Die Zentrale Unterbringungsbehörde für Asylsuchende und das Büro des Reichsbaumeisters lobten deshalb gemeinsam einen Wettbewerb aus. Die Teilnehmer waren aufgerufen, Alternativen zu den gängigen Wohncontainern zu entwickeln, die es im Land gibt. Ob solche Konzepte allerdings auch als dauerhafte Wohnungen für Geringverdiener taugen, wie sich Reichsbaumeister Floris Alkemade das vorstellt?

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Presseschau 12

03. Januar 2025Anneke Bokern
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Miniapartment »The Cabanon« in Rotterdam

In einem nicht ganz 7 m² großen Raum auf dem Dach eines Wohnblocks hat das Architektenpaar Beatriz Ramo und Bernd Upmeyer ein komplettes Miniapartment samt Spabereich untergebracht. Damit erfüllten sie sich einen persönlichen Wunsch, wollen aber auch Denkanstöße für den Wohnungsbau liefern.

In einem nicht ganz 7 m² großen Raum auf dem Dach eines Wohnblocks hat das Architektenpaar Beatriz Ramo und Bernd Upmeyer ein komplettes Miniapartment samt Spabereich untergebracht. Damit erfüllten sie sich einen persönlichen Wunsch, wollen aber auch Denkanstöße für den Wohnungsbau liefern.

Wieder einmal so ein Werbegag für die internationalen Architekturblogs, mag man beim Anblick des Cabanon zunächst denken. Und tatsächlich wurde das fotogene Kleinstprojekt von den Medien sofort aufgegriffen, vielfach publiziert und mit modischen Etiketten versehen. Bei unserer Besichtigung stellen Beatriz Ramo und Bernd Upmeyer deshalb zunächst einmal klar, was ihr Miniprojekt nicht sein will: kein Prototyp für ein Tiny House, kein Pamphlet für Minimalismus und sicher keine Lösung für die Wohnungskrise.

Gestapelte Funktionen

Die Spanierin und der Deutsche leiten seit fast 20 Jahren ihre Studios STAR und BOARD, teilen sich einen Büroraum und sind auch privat ein Paar. Sie wohnen im zweiten Stock eines Wohnblocks aus den 1950er Jahren im Zentrum von Rotterdam. Vor etwa zehn Jahren fiel ihnen ein Zettel im Aufzug ins Auge: Ein Nachbar bot einen etwa 7 m² großen Abstellraum auf dem Dach für 11 000 Euro zum Kauf an. Vor Ort stellte sich heraus, dass der Raum ein 6 m² großes Fenster hat und an Strom, Heizung und Kanalisation angeschlossen ist, denn dieser und zwei weitere Aufbauten hatten in der Nachkriegszeit zeitweise als Wohnraum für Krankenschwestern gedient.

Das Architektenpaar fackelte nicht lange und kaufte den Dachaufbau. Upmeyer wollte den Raum zunächst nur als Wäschekammer nutzen, aber angesichts der vorhandenen Anschlüsse und der Aussicht kamen die beiden ins Grübeln. »In unserer Wohnung fehlte immer schon ein Gästezimmer, und im Badezimmer gab es nur eine Dusche«, sagt Bernd Upmeyer. Er träumte von einem Whirlpool, Beatriz Ramo gar von einer Sauna. Aber wie sollte man all das in einem nur 1,97 x 3,60 m großen Raum unterbringen? Es begann ein Entwurfsprozess, der fast zehn Jahre dauern sollte. Der Schlüssel war letztlich die Einsicht, dass nicht alle Funktionen dieselbe Raumhöhe brauchen. Da der Raum zwar keine große Grundfläche, aber 3 m Deckenhöhe hatte, konnten die verschiedenen Funktionen nicht nur neben-, sondern auch übereinander angeordnet werden. So gelang es, den kleinen Aufbau in vier separate Bereiche zu unterteilen.

Auf die Körpergröße zugeschnitten

Man erreicht das »Cabanon«, indem man mit dem Aufzug ins 6. Geschoss fährt und dann noch eine Treppe hinaufgeht. Dort stößt man auf eine unauffällige Tür, die sich (praktischerweise) nach außen öffnet. Dahinter betritt man einen rundum terrakottafarben gestalteten Raum, der zwar klein ist, aber dank des Panoramafensters mit Sitzbank zur Linken nicht klaustrophobisch wirkt. Geradeaus fällt der Blick auf eine geflieste Wand mit geometrischem All-over-Muster; rechts verstecken sich hinter einer Vielzahl von Fronten eine kleine Küchenzeile mit Waschbecken, Mikrowelle, Mülleimer und Minikühlschrank sowie ein Kleiderschrank mit ausfaltbarem Tisch. Die zwei dazugehörigen Klappstühle hängen zusammengefaltet an der Wand neben der Eingangstür.

Neben dem Tisch führt eine Tür in das Badezimmer. Etwas respektloser könnte man bei dem schlauchartigen, rundum mit hellblauen Mosaikkacheln verkleideten Raum auch von einem Duschklo sprechen, denn in seiner Decke befindet sich eine Regendusche, dahinter die Toilette. Mit 62 cm ist er gerade schulterbreit, während seine Höhe von 2,13 m genau auf die Körpergrößen von Ramo und Upmeyer zugeschnitten ist. In der rechten Wand liegt eine Schiebetür, durch die man in eine mit schwarzen Marmorplatten ausgekleidete Kammer gelangt. Zwei Holzsitze mit Infrarotstrahlern flankieren die Tür, daneben steht eine Badewanne mit Sprudeldüsen: Wir befinden uns im Spa mit »Sauna und Whirlpool«.

An der Innenseite der Duschtür hängt eine schwere Metallleiter. Man braucht sie, um ins Bett zu gelangen, das sich in einem 1,35 m breiten und 1,14 m hohen Alkoven über dem Spa befindet. Schiebetüren neben dem Bett bieten Zugriff auf einen Stauraum über der Dusche. »Dort können Gäste ihre Koffer verstauen, denn im Wohnbereich liegen sie nur im Weg«, sagt Ramo. Die Schlafnische ist rundum resedagrün – inklusive einer zotteligen Tagesdecke, die einem Sesamstraßenmonster gut stehen würde.

Ramo und Upmeyer haben ihre Kombination aus Gästezimmer und Spa nach Le Corbusiers legendärem Cabanon an der Côte d‘Azur benannt. Die Hütte am Mittelmeer ist jedoch mit 15 m² doppelt so groß und viel asketischer als ihre Namensgenossin in Rotterdam. Da Le Corbusier im benachbarten Restaurant aß und im Meer schwamm, enthielt sie weder Küche noch Bad, und das Bett war nur eine schmale Liege. Dagegen bezeichnet Upmeyer sein Cabanon als »epikuräisches Exempel im Kleinstformat«. Das zeigt sich nicht nur in den Funktionen, sondern auch in Farbgestaltung und Materialwahl: Der schwarze Marmor erinnert mehr an Mies van der Rohe als an Le Corbusier.

Optimierung des Raums

Wie die meisten Materialien und Objekte im Cabanon war der Marmor ein Zufallsfund. Ursprünglich wollte das Architektenpaar das Bad grün kacheln, stieß aber auf einen günstige Restposten schwarzer Fliesen. Die Wanne war ein Secondhand-Fundstück, das sogar zum maßgeblichen Element wurde: Ihre Abmessungen gaben die Größe des Spabereichs vor, ebenso wie der Kühlschrank die Tiefe der Küchenzeile und die handelsübliche Matratze die Breite des Betts bestimmte. Um diese Objekte herum zimmerte ein Schreiner aus Rotterdam, der eigentlich auf Schiffsinterieurs und Bühnenbilder spezialisiert ist, die Raumkonstruktion.

Wichtigste Hommage an Le Corbusier ist sicherlich die Anpassung des Interieurs an die Körpermaße der Nutzer, die damit quasi als Modulore dienten. In dieser Hinsicht gibt es auch Parallelen zum Rietveld-Schröder-Haus, das auf die Maße seiner nur 1,57 m großen Bauherrin zugeschnitten und ebenfalls ein räumliches Experiment war. Upmeyer und Ramo verstehen ihr Cabanon v. a. als Denkanstoß, um über einen flexibleren Umgang mit dem Bauvolumen nachzudenken. Es geht um eine Optimierung des Raums – wobei sie keinesfalls eine Reduktion, sondern eher eine Maximalisierung anstreben. Sie sind überzeugt, »dass sich unendliche Möglichkeiten eröffnen, wenn man Vorschriften lockert und nicht immer nur in Standardlösungen denkt«, so Upmeyer. Sie sehen das Cabanon auch als Plädoyer dafür, dass Architekt:innen wieder mehr Einfluss auf die Gestaltung von Wohnungen bekommen. Und ehe man anmerken kann, dass das aber große Ambitionen für ein kleines Projekt sind, wirft Ramo ein: »Eigentlich haben wir das Cabanon aber v. a. als Gästezimmer und Spa gebaut. Wir stehen jetzt mehrmals pro Monat im Bademantel im Aufzug und freuen uns auf ein heißes Bad.«

db, Fr., 2025.01.03



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db 2025|01-02 Anders Bauen

01. Oktober 2024Anneke Bokern
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Fahrradgarage Stationsplein in Amsterdam

Rund um den Amsterdamer Hauptbahnhof sind Fahrradparkplätze ewige Mangelware. Früher wurde in jede Nische ein Abstellraum für »fietsen« gequetscht. Nun gibt es mehrere neue Garagen, von denen die größte unter einem Hafenbecken liegt, Raum für 7 000 Drahtesel bietet und sich als wahrhaftige Fahrradkathedrale präsentiert.

Rund um den Amsterdamer Hauptbahnhof sind Fahrradparkplätze ewige Mangelware. Früher wurde in jede Nische ein Abstellraum für »fietsen« gequetscht. Nun gibt es mehrere neue Garagen, von denen die größte unter einem Hafenbecken liegt, Raum für 7 000 Drahtesel bietet und sich als wahrhaftige Fahrradkathedrale präsentiert.

Als treinfietser, also »Zugradler« bezeichnet man auf Niederländisch Pendler, die täglich per Fahrrad zum Bahnhof fahren, um dort ihre Reise mit dem Zug fortzusetzen. Sie machen insgesamt etwa die Hälfte aller Bahnreisenden in den Niederlanden aus – und dementsprechend groß ist der Bedarf an Parkmöglichkeiten für Fahrräder rund um niederländische Bahnhöfe.

Am Amsterdamer Hauptbahnhof Centraal herrschte deshalb lange ein nur mühsam kontrolliertes Fahrrad-Parkchaos. In jede verfügbare Nische und in jeden Restraum wurde ein Abstellplatz gequetscht. Das reichte aber hinten und vorne nicht, weshalb auch im öffentlichen Raum immer viele geparkte Räder zu finden waren. Seit einigen Jahren gilt jedoch rund um den Bahnhof ein striktes Abstellverbot für Drahtesel und werden falsch geparkte Exemplare gnadenlos abgeräumt.

22 000 Plätze bis 2030

Die größten Chancen auf einen offiziellen Platz hatte man lange im »Fietsflat«, einem von VMX Architects entworfenen Parkhaus für 2 500 Räder, das seit 2001 an der Westseite des Bahnhofs über einem Hafenbecken stand und eigentlich nur als Provisorium für drei Jahre gedacht war. Es steht noch immer dort, ist aber seit Anfang 2023 geschlossen und wartet auf eine Umnutzung. Denn als Teil einer ganzen Reihe von Baumaßnahmen rund um Amsterdam Centraal – 2013 wurde eine neue Bahnhofshalle am Ufer des IJ eröffnet, 2018 eine neue U-Bahnlinie eingeweiht und 2023 der Bahnhofsvorplatz zur Fußgängerzone umgestaltet – sind auch mehrere permanente Fahrradgaragen gebaut worden. So soll die Kapazität rund um den Bahnhof bis 2030 von ursprünglich 10 000 auf insgesamt 22 000 geparkte Räder wachsen und gleichzeitig der öffentliche Raum aufgeräumt werden.

Zwei Garagen sind auf der West- und Ostseite in den Bahnhofsbau integriert und bieten zusammen 2 500 Plätze. Daneben gibt es seit 2023 auch ein 230 m langes, von VenhoevenCS entworfenes Parkhaus für 4 000 Räder, das sich auf der Nordseite des Bahnhofs unter einem Boulevard am Wasser versteckt. Die größte neue »fietsenstalling« befindet sich jedoch unter einem Hafenbecken auf der Zentrumsseite des Bahnhofs. Sie wurde vom Büro wUrck aus Rotterdam entworfen und ebenfalls letztes Jahr eröffnet. Oben fahren die Rundfahrtboote, unten parken bis zu 7 000 Drahtesel – in einer wahrhaftigen Fahrradkathedrale

Transportbänder führen in die Tiefe

Vier Jahre dauerte der Bau der Unterwassergarage. Zunächst wurde die Baugrube ausgehoben, eine Pfahlgründung angelegt und darauf ein Boden aus Unterwasserbeton gegossen. Danach pumpte man das Wasser ab und baute die Garage in der trockenen Grube fertig, bevor man das Becken wieder flutete. Über dem Parkhaus beträgt die Wassertiefe 2,40 m – genug für die Grachtenrundfahrtboote, deren Anlegestellen das Becken säumen.

Der Eingang zur 9 m unter Straßenniveau gelegenen Garage befindet sich am Südufer des Hafenbeckens. Eine grundlegende Frage beim Entwurf war, wie man die Radler ohne steile Rampen oder umständliche Aufzüge in die Tiefe transportiert. Letztlich entschied man sich für Transportbänder, die Rad und Radelnde innerhalb von zwei Minuten in die Tiefe befördern, ohne die denkmalgeschützte Ansicht des 1889 errichteten Bahnhofsgebäudes vom Architekten Pierre Cuypers zu beeinträchtigen. Wände aus rauem grauem Basaltstein flankieren den Zugang, über den auch eine Treppe für Fußgänger hinab zu den Parkflächen führt. Auf halbem Weg gibt es noch ein Zwischengeschoss mit einem Büroraum, der von den Rundfahrt-Reedereien genutzt wird.

Kein Gewinnmodell

Spektakulär ist der Moment, in dem man das Podest am Ende des ersten Transportbands erreicht und sich genau auf Augenhöhe mit dem Wasserspiegel und den Booten befindet. Unten angekommen, liegt neben dem Eingang zunächst eine verglaste Servicestation, in der man Ersatzteile kaufen und kleine Reparaturen ausführen lassen kann. Daneben stehen die elektronischen Schleusen, an denen man sein Fahrrad mit der Chipkarte für den öffentlichen Nahverkehr ein- und auschecken kann. Wie in allen von der Stadt Amsterdam betriebenen Fahrradparkhäusern sind die ersten 24 Stunden gratis. Danach zahlt man 1,35 Euro pro Tag. Das ist aber kein Gewinnmodell, sondern eher als Maßnahme gegen unerwünschtes Langzeitparken gedacht.

Hat man die Schleusen passiert, findet man sich in einem großen, hellen, übersichtlichen Raum wieder, der mit nahtlosem Fließestrich-Boden und hinterleuchteten Wänden ausgestattet ist. Die visuelle Ruhe, die die Architektur ausstrahlt, bildet einen effektvollen Kontrast zu den bunten Drahteseln. Erstaunlich ist die Beleuchtung, die beinahe Tageslichtqualität hat und völlig vergessen lässt, dass man sich eigentlich tief unter dem Wasser befindet.

Komfort und gute Gestaltung

Als größte Herausforderung bei der Gestaltung solcher Garagen gilt es, die Radler dazu zu verführen, den Weg in die Unterwelt in Kauf zu nehmen. Stadt und Bahn setzen dabei nicht nur auf Komfort, sondern auch auf gute Gestaltung. »Wir haben sehr auf die Gebrauchsfreundlichkeit geachtet und darauf, dass die Garage wie geschmiert funktioniert«, sagt Oriol Casas Cancer, Partner bei wUrck. Die Architekten haben das Parkhaus als Ode an das Wasser gestaltet und auch verschiedene Kunstwerke zu diesem Thema integriert. Collagen aus Karten und Fotos, die die Entwicklung Amsterdams im Laufe der Jahrhunderte zeigen und in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum entworfen wurden, zieren die 50 m lange, gebogene Ostwand. An der Decke der Garage findet sich eine Reihe runder, ebenfalls hinterleuchteter Oculi mit historischen Stadtansichten.

Sie sind Teil einer leicht gebogenen Kolonnade aus tropfenförmigen Stützen, die den Raum von Süd nach Nord durchquert und als Hauptlaufroute dient. Zu ihrer Rechten und Linken liegen die Fahrradparkplätze. Rote und grüne LED-Lämpchen in den Stützen zeigen den Besetzungsgrad der Fahrradständer an. Das doppelstöckige Fahrradparksystem bietet neben Raum für normale Fahrräder auch breitere Plätze für Räder mit Korb oder Kindersitz; nur Lastenräder müssen draußen bleiben und in markierten Zonen im öffentlichen Raum parken.

Raue Schale, glänzender Kern

Hat man sein fiets abgestellt, braucht man die Garage nicht auf demselben Weg zu verlassen, sondern gelangt am anderen Ende der Halle trockenen Fußes zum Ausgang, der zunächst in die U-Bahnstation und von dort aus direkt in die Bahnhofshalle mündet. Auch er wird flankiert von zwei Kunstwerken: große, schwarzweiße Sgraffitos von Lex Hoorn aus den 1960er Jahren, die aus einem abgerissenen Bürobau stammen und zuvor im Gemeindedepot eingelagert waren. Nun haben sie ein neues Heim als Torwächter in der Fahrradgarage gefunden.

Die Architekten vergleichen die Garage wegen der rauen Basaltschale und des glänzend weißen, rundlichen Innenlebens gerne mit einer Auster. Viel bemerkenswerter sind jedoch die Qualität der Beleuchtung und die Raumwirkung des Baus. 2019 wurde am Bahnhof Utrecht eine noch größere Garage eröffnet, die Platz für 12 500 Räder bietet und damit den Weltrekord hält. Sie ist mit ihren drei Geschossen und einem Wald aus Stützen jedoch vergleichsweise labyrinthisch. In Amsterdam hat man schon beim Betreten der Garage alles im Blick und weiß sofort, wie man auf dem schnellsten Weg zum Zug gelangt. Und das ist es letztlich, was für den treinfietser zählt.

db, Di., 2024.10.01



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01. April 2021Anneke Bokern
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Ein kulturelles Herz für Rotterdam-Süd

Rotterdam-Süd ist so etwas wie die »schäl Sick« der niederländischen Hafenstadt. Das Durchschnittseinkommen liegt unter der Armutsgrenze, und 70 % der Einwohner haben einen Migrationshintergrund. Für diese Zielgruppe entwarf De Zwarte Hond einen Theaterbau, der mit islamischer Ornamentik spielt und als niedrigschwelliges, öffentliches Wohnzimmer fungiert. Hier sollen sich bald Kultur und Stadtleben verbinden. Das Haus signalisiert Offenheit und weiß sich als kulturelles Herz in seiner Umgebung zu behaupten.

Rotterdam-Süd ist so etwas wie die »schäl Sick« der niederländischen Hafenstadt. Das Durchschnittseinkommen liegt unter der Armutsgrenze, und 70 % der Einwohner haben einen Migrationshintergrund. Für diese Zielgruppe entwarf De Zwarte Hond einen Theaterbau, der mit islamischer Ornamentik spielt und als niedrigschwelliges, öffentliches Wohnzimmer fungiert. Hier sollen sich bald Kultur und Stadtleben verbinden. Das Haus signalisiert Offenheit und weiß sich als kulturelles Herz in seiner Umgebung zu behaupten.

Rotterdam erfreut sich in den letzten Jahren immer größerer Popularität. Der Fernsehsender CNN rief die Hafenstadt zur »capital of cool« aus, und der Reiseführer Lonely Planet zählt sie gar zu den zehn Städten weltweit, die man gesehen haben muss. Im Zentrum schießt eine Architekturikone nach der anderen aus dem Boden: erst der Hauptbahnhof (s. db 2/2014), dann die Markthalle (s. db 11/2014), das Timmerhuis (s. db 3/2016) und demnächst das schüsselförmige Depot des Boijmans Museums (s. db 12/2020).

Jenseits der Hochglanzprojekte gibt es aber auch eine weniger bekannte Seite von Rotterdam. Sie liegt am Südufer der Maas und hat 200 000 Einwohner – fast 40 % der gesamten Einwohnerschaft der Stadt. Rotterdam-Süd besteht größtenteils aus Arbeitersiedlungen aus den Zwanziger Jahren und Stadterweiterungen aus der Nachkriegszeit. Zu Letzteren gehört die Gegend rund um den Zuidplein (Südplatz), die einmal zu einem zweiten Stadtzentrum werden sollte, aber nie fertiggestellt wurde. Heute präsentiert sich der Zuidplein als wenig einladendes städtebauliches Sammelsurium aus Hochbahntrasse, Busbahnhof, Einkaufszentrum, Kongresszentrum und Wohnhochhäusern.

Dazwischen stehen, wie Vorboten einer aufgeräumteren Zukunft, der Neubau eines Schwimmzentrums (s. db-Metamorphose 9/2020, S. 100) und das neue Theater Zuidplein.

Städtebauliches Schiebepuzzle

Seit einigen Jahren ist ein Stadterneuerungsprojekt im Gange, das das Gebiet um den Zuidplein gründlich umkrempeln will. Kaum ein Gebäude entgeht der Erneuerung, und auch der Außenraum soll aufgewertet und fußgängerfreundlicher werden. Damit die Metamorphose möglichst reibungslos vonstattengeht, wird sie in Phasen durchgeführt. Wie bei einem Schiebepuzzle nehmen Neubauten den Platz von Altbauten ein, deren Funktion immer ein Baufeld weiterrückt: Das neue Schwimmbad steht am Standort eines alten ­Bürobaus der Stadtverwaltung; und wo zuvor das Schwimmbad stand, steht nun das Theater Zuidplein. Der Altbau des Theaters – 1954 am Nordende des Zuidplein nach Entwurf von Sybold van Ravesteyn errichtet und in den 70er Jahren bis zur Unkenntlichkeit umgebaut – wird abgerissen. Dort wird in Zukunft der Busbahnhof angesiedelt, sodass der Raum unter und neben der Hochbahn-Haltestelle, wo momentan noch der Busbahnhof liegt, zum autofreien Boulevard werden kann.

Das neue Theater steht direkt neben der Metrostation Zuidplein und ist damit einer der sichtbarsten Neubauten im Ensemble. Sein Eingang ist zu einem kleinen Platz mit Caféterrassen orientiert, der auf der gegenüberliegenden Seite vom neuen Schwimmbad flankiert wird. Mit seinem auskragenden Dach, dem roséfarbenen Backstein und Fassadenpaneelen mit geometrischen Mustern fällt das Theater sofort ins Auge. Aus Lärmschutzgründen ist ein Großteil der Fassadenflächen völlig geschlossen, denn im Norden und Westen stehen Wohnungsbauten in nicht einmal 20 m Entfernung.

Hip-Hop-Konzerte und Bollywood-Abende

Daher hat De Zwarte Hond alle Büros und Umkleiden als Pufferzone auf der Nordseite des Gebäudes angeordnet. Zur Metrostation hin liegt dagegen der größere der beiden Säle hinter geschlossenen Backsteinwänden. Ihr roter Wasserstrichziegel ist mit einer weißen Engobe versehen, deren Deckungskraft variiert und damit Roséschattierungen erzeugt, die Leben in die Wand bringen. Zusätzlich hat der große Saal lange, hohe Fenster, unter denen Sitzbänkchen in die Außenwände eingebaut sind. Für Gliederung sorgt über jedem Fenster ein Streifen aus auf der Seite gemauerten, ihre Mulde nach außen kehrenden Ziegeln. Ihre Vertikalität betont die Höhe des Bühnenturms und kaschiert Notüberläufe und Dehnfugen. Da man mit einer Geräuschkulisse von bis zu 105 dB rechnet, empfahl sich das schwere Ziegelmauerwerk in Kombination mit Hohlräumen, Betoninnenwänden und Box-in-a-Box-Konstruktionen, um den Lärm im Gebäudeinnern zu halten.

Weiterhin bestimmen bronzefarbene, semitransparente Aluminiumpaneele das Außenbild des Theaters. Sie tragen ein Muster aus ineinander verschachtelten Rosetten, die sich aus kleinen Dreiecksformen zusammensetzen. In Kombination mit der Rundung unter dem Dachüberstand verleihen sie dem Gebäude eine exotische Anmutung, die mehr mit islamischer als mit niederländischer Architektur verwandt zu sein scheint. Dahinter steckt das Bestreben des Theaters, die Einwohner von Rotterdam-Süd anzusprechen.

In den 90er Jahren hatte das Theater Zuidplein noch eine konventionelle Programmierung mit Theateraufführungen und klassischen Konzerten – aber die Besucherzahlen schwanden angesichts der Konkurrenz zentraler gelegener, renommierterer Kulturhäuser. Vor etwa 20 Jahren erteilte die Stadt dem Theater daher den Auftrag, fortan auch »neue Rotterdamer« anzusprechen.

Gemeint waren die etwa 70 % der Einwohner von Rotterdam-Zuid mit Migrationshintergrund. Seither stehen Hip-Hop-Konzerte, Bollywood-Abende, Auftritte von Stand-up-Comedians und Jugendvorstellungen auf dem Programm. Ganz bewusst will man all jene in das Theater Zuidplein locken, die mit dem sonstigen Kulturangebot der Stadt wenig anfangen können. Dafür musste der Theaterbau so zugänglich wie möglich wirken.

Der Platz vor dem Theater dient dank der Caféterrasse bei schönem Wetter als Freiluft-Wohnzimmer. Von dort aus betritt man das doppelgeschossige Foyer, das ebenfalls als öffentliches Wohnzimmer formuliert ist. Die durchbrochenen Aluminiumpaneele der Fassade erzeugen tagsüber ein lebendiges Licht- und Schattenspiel im Foyer, während sie das Gebäude abends, wenn sein Innenleben beleuchtet ist, in eine große orientalische Laterne verwandeln.

Beim Betreten der Halle liegt zur Linken eine kleine, mit Glastüren abgetrennte Filiale der Stadtbücherei, in der auch Computer- und Sprachkurse abgehalten werden. Daneben befindet sich eine offene, ebenerdige Bühne für Kindervorstellungen und Nachbarschaftsaktivitäten, über der ein großer LED-Bildschirm hängt. Rechts vom Eingang steht eine pinkfarben beleuchtete Bar- und Kücheninsel, hinter der der Restaurantbereich seinen Platz hat. Überall im Raum verteilte Sitzmöbel, aber auch das Fischgrätmuster des Natursteinbodens tragen zum Wohnzimmercharakter bei.

Kristallgefüllte Geode

Der Zugang zu den Theatersälen liegt im hinteren Bereich der Halle und hebt sich durch seine sattroten Wände, Böden und Decken deutlich vom Dunkelgrau des Foyers ab. Die Farbwahl hat Signalwirkung, ist aber v. a. eine Reminiszenz an den Altbau des Theaters, der seit der letzten Renovierung im Jahr 2004 nicht nur innen, sondern auch außen knallrot war. Der kleine Saal war lilafarben, der große rot bestuhlt – dieses Schema hat De Zwarte Hond für den Neubau übernommen. Während der kleine Saal Platz für 250 Zuschauer bietet, passen in den großen über Parterre und Balkon verteilt 600 Besucher. Er ist rundum in saftiges Rot getaucht, von den Stühlen bis hin zu der akustisch wirksamen Wandbekleidung aus 6 000 Aluminium-Dreiecken, die von einer CNC-Fräse zugeschnitten und dann mit Hilfe eines Algorithmus positioniert wurden. Sie lassen den Saal wie das Innere einer kristallgefüllten, rubinroten Geode oder Druse wirken, reflektieren aber auch das Dreiecksmotiv der Fassadenbekleidung.

Damit möglichst unterschiedliche Veranstaltungen im Saal statt­finden können, ist zwischen Zuschauerraum und Bühne eine hochfahrbare Wand im Boden versteckt. Mit ihrer Hilfe kann die Bühne abgetrennt und in einen Stehsaal für 1 000 Zuschauer umfunktioniert werden. Ungewöhnlicherweise bieten drei vertikale Fensteröffnungen einen Ausblick von der Bühne auf die Straße und die gegenüberliegende Metrohaltestelle. Dieser Blickbezug erscheint als Sinnbild für die Ansprüche des Theaterbaus: Kultur und Stadtleben verbinden, Offenheit signalisieren und neben aus der Ferne angereisten Kulturliebhabern v. a. die Bewohner des Viertels ansprechen. Die eigenwillige Ästhetik des Gebäudes mit ihren orientalischen Anklängen sorgt darüber ­hinaus dafür, dass das neue »kulturelle Herz« von Rotterdam-Zuid sich in der städtebaulichen Kakofonie seiner Umgebung behaupten kann.

db, Do., 2021.04.01



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db 2021|04 Kulturbauten

08. Juni 2020Anneke Bokern
db

Klar Schiff machen

Die niederländische Redewendung »schoonschip maken« ist gleichbedeutend mit »klar Schiff machen«, aber »schoon« bedeutet auch ganz wörtlich »sauber«. Damit hat die Flotte aus 46 Wohnbooten, die in einem Kanal im Norden Amsterdams liegt, einen passenden Namen ­bekommen, will sie doch die nachhaltigste schwimmende Siedlung Europas sein. Unsere Amsterdam-Korrespondentin durchstreifte die Siedlung für uns.

Die niederländische Redewendung »schoonschip maken« ist gleichbedeutend mit »klar Schiff machen«, aber »schoon« bedeutet auch ganz wörtlich »sauber«. Damit hat die Flotte aus 46 Wohnbooten, die in einem Kanal im Norden Amsterdams liegt, einen passenden Namen ­bekommen, will sie doch die nachhaltigste schwimmende Siedlung Europas sein. Unsere Amsterdam-Korrespondentin durchstreifte die Siedlung für uns.

Der Johan van Hasseltkanal ist ein 1908 begonnener, aber nie vollendeter Nebenkanal des Flusses IJ in Amsterdam. Nur 900 m vom IJ entfernt endet er bereits als Sackgasse. Rund um dieses unfreiwillige Hafenbecken erstreckt sich der Polder Buiksloterham, der im 20. Jahrhundert als Gewerbe- und Industriegebiet eingerichtet wurde. Da jedoch der Wohnraumbedarf in Amsterdam groß ist und Buiksloterham nur einen Katzensprung von der Innenstadt entfernt liegt, begann vor etwa zehn Jahren eine Transformation der Gegend: Sie soll zu einem nachhaltigen, zirkulären Wohnviertel werden. Entgegen ihrer Gewohnheit, solche Gebiete aufzukaufen und in einem Rutsch zu beplanen, gibt die Stadt die nur schrittweise zur Bebauung frei. Zurzeit präsentiert sich die Gegend daher als spannendes Mischgebiet, in dem neue Baugruppenprojekte und Nullenergiehäuser zwischen Logistikbetrieben und Baumärkten entstehen.

Mitten in diesem Gebiet liegt, oder besser gesagt schwimmt, die Siedlung Schoonschip im Van Hasseltkanal. Sie zählt 30 Wassergrundstücke mit insgesamt 46 Wohnungen und beansprucht für sich, das »nachhaltigste schwimmende Wohnviertel in Europa« zu sein. Vermutlich stimmt das sogar, denn die Konkurrenz dürfte in dieser Kategorie nicht allzu groß sein.

Schwimmendes Asterixdorf

Von Süden kommend, überquert man eine kleine Brücke über den Kanal, ehe man die Häuser sieht. Wie ein Asterixdorf treibt das bunte Häuflein vor einer Kulisse aus achtgeschossigen Wohnblöcken (darunter mit Patch22 der bislang höchste Holzbau der Niederlande). Auf der gegenüberliegenden Kanalseite blickt man auf den Parkplatz eines Baumaschinenverleihs, vor dem ein altes Feuerschiff vertäut ist; ein Stückchen weiter wachsen entlang des Kais wiederum neue Wohnbauten aus dem Boden empor.

Den Zugang zu Schoonschip bilden hölzerne Stege. Aus der Nähe wird offensichtlich, dass alle schwimmenden Häuser zwar dieselbe Kubatur haben, dass sich ihre Architektur aber stark unterscheidet: von minimalistisch bis anthroposophisch ist alles dabei, wobei Holzbeplankungen in allen erdenklichen Maßen und Schattierungen das Bild bestimmen. Die breiten Stege zwischen den Häusern dienen gleichzeitig als öffentlicher Raum und als Abstellfläche, auf der Fahrräder, Kanus und Blumenkübel stehen. Hier und dort zimmert ein Bewohner noch an Teilen seines Heims, während seine Kinder auf dem Steg oder an der Uferböschung spielen. Neben den Stegen »treiben« kleine Erdhügel im Kanal, die bald zu schwimmenden Gärten werden sollen.

Von der Idee zur Produktion

Die Idee für Schoonschip hatte die Filmemacherin Marjan de Blok, als sie 2008 einen Dokumentarfilm über ein nachhaltiges Wohnboot drehte. Sie träumte von einer energieneutralen und zirkulären Siedlung solcher Häuser, und wusste damit bald auch einige Freunde zu begeistern. Gemeinsam entwickelten sie erste Ideen für die Realisierung. Den Standort fanden sie, als eine Architektin dazustieß, die wusste, dass im Bebauungsplan für Buiksloterham eine schwimmende Siedlung vorgesehen war. Kurz darauf lernte Marjan de Blok bei einem Vortrag über ein anderes Wasserwohnprojekt Sascha Glasl vom Architekturbüro Space & Matter kennen und beauftragte ihn mit einer Machbarkeitsstudie für den Standort in Amsterdam. Space & Matter setzten die Ideen der Freundesgruppe in einen Städtebauplan um und begleiteten die Bauherren, die inzwischen eine Stiftung gegründet hatten, in der Planungsphase. In Workshops mit den zukünftigen Bewohnern stellten sie deren Wünsche fest und entwickelten daraus das Konzept. Um sich moralisch zu verpflichten, musste jeder Teilnehmer ein Manifest unterschreiben, in dem die nachhaltigen Ambitionen festgehalten wurden.

Der Städtebauplan besteht aus fünf T-förmigen Holzstegen, deren Enden durch mobile Stegelemente – eigentlich Flöße – miteinander verbunden sind. An jedem T liegen, der Aussicht zuliebe leicht gegeneinander verdreht, sechs schwimmende Häuser. Während der Bebauungsplan 30 identische Bauten vorsah, schlugen die Architekten vor, die Hälfte der Parzellen mit 120-160 m² großen Doppelhäusern zu bebauen, sodass insgesamt 46 Wohneinheiten entstanden. Als Treibkörper dient jeweils eine 2,5 bis 3 m tiefe Betonwanne mit einem Aufbau in Holzskelettbauweise. Alle Häuser werden an einem Kanal im 10 km entfernten Zaandam gebaut, dann per Kran zu Wasser gelassen und nach Amsterdam geschleppt.

Upfall-Dusche und Mobility Hub

Bei der Materialisierung hatten die Bewohner im Prinzip freie Wahl, aber die meisten haben sich im Sinne des Manifests für natürliche, erneuerbare Materialien entschieden. Fast alle Häuser haben Holzfassaden; ein Wohnboot ist jedoch mit Solarpaneelen bedeckt, und ein anderes hat begrünte Wände. Der Architekt Wouter Valkenier hat sein schwimmendes Heim sogar komplett aus Restmaterialien gebaut. Beton ist, außer natürlich in den Treibkörpern, kaum vertreten, und Stahl wurde nur in wenigen Häusern als Balken für große Überspannungen verwendet.

Auf den Dächern der Häuser befinden sich Solarpaneele und Sonnenboiler. Heizwärme wird mithilfe von Wasserwärmepumpen aus dem Kanal gewonnen, dessen Mindesttemperatur in 4 m Tiefe bei 4-5°C liegt. Bemerkenswert ist, dass die gesamte Siedlung mit einem einzigen Anschluss an das staatliche Stromnetz auskommt. Jedes Haus ist mit einer Batterie ausgestattet, in der der Überschuss an gewonnener Energie gespeichert und mittels eines Smartgrid unter den Bewohnern verteilt wird.

Das Wasser für Duschen und Toiletten stammt aus 1000-Liter-Regenwassertanks. Das reicht, denn die Häuser sind mit Vakuumtoiletten ausgestattet, die nur 1 l Wasser pro Spülung verbrauchen, und viele nutzen außerdem Upfall-Duschen, bei denen das Wasser in einem geschlossenen System zirkuliert und kontinuierlich aufbereitet wird, sodass nur etwa 2 l Frischwasser pro Duschminute benötigt werden.

Autos besitzen die Bewohner von Schoonschip nicht mehr. Stattdessen teilen sie sich einen Fuhrpark mit Elektroautos, -mopeds und -rädern, die in einem Mobility Hub organisiert sind und auf einem nahen Parkplatz bereitstehen.

Einheitliche Bewohnerschaft

Ein Spaziergang über die Stege bietet trotz niederländischer Gardinenlosigkeit weniger Einblicke als man erwarten würde. Zwar offenbaren ein paar Häuser dank großer Fensterfronten ihr großzügiges Innenleben mit Split Levels und offenen Grundrissen – so etwa das schwimmende Haus, das Sascha Glasl für sich selber entworfen hat. Viele andere zeigen dem Besucher jedoch die kalte Schulter und öffnen sich nur zum Wasser hin. Denn bei aller Variation ist eines sehr einheitlich: die soziale Zusammenstellung der Bewohner. Allesamt sind sie junge, gut ausgebildete, gutverdienende Niederländer, darunter viele Kreative und auch manch bekannte Medienpersönlichkeit. Am Zugang zu den Stegen weisen (sehr unniederländische) Schilder darauf hin, dass man sich auf Privatgelände begibt und Besuchergruppen nicht erwünscht sind.

Dementsprechend kam auch schnell der Vorwurf auf, es handele sich um ein elitäres schwimmendes Dorf. Dabei wollten die Initiatoren angeblich sogar soziale Mietwohnungen ins Konzept aufnehmen, aber die kontaktierte Wohnungsbaugesellschaft konnte nicht schnell genug mitziehen. Die Initiatoren hoffen nun, dass ihr Beispiel Schule machen wird.

Und warum auch nicht, denn in den dicht bevölkerten Niederlanden herrscht Wasserüberschuss und werden immer mehr Rückhaltebecken benötigt, während gleichzeitig das Bauland knapp wird. Schwimmende Häuser verursachen dank der ausgelagerten Produktion kaum Baulärm und sind komplett reversibel. Das weiß man schon, seit vor zehn Jahren auf dem Steigereiland (s. db 10/2010, S. 18) die erste Wassersiedlung angelegt wurde, an der sich Schoonschip jetzt orientiert hat. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis irgendwo Version 3.0 auftaucht.

db, Mo., 2020.06.08



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06. März 2020Anneke Bokern
Bauwelt

Städtebau, der Länge nach

In Almere wurde ein Konzept umgesetzt, das den Bewohnern größtmögliche Gestaltung ermöglicht. Ein 100 Meter langer Wohnbau führt den Beweis.

In Almere wurde ein Konzept umgesetzt, das den Bewohnern größtmögliche Gestaltung ermöglicht. Ein 100 Meter langer Wohnbau führt den Beweis.

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08. Oktober 2018Anneke Bokern
db

Smaragd im Park

Klassische Konzerte, House-Parties, Fashion Shows und Volleyball-Turniere: Im neuen Parksaal des Konzerthauses Musis Sacrum in Arnheim ist alles möglich. Die Vielfalt der Veranstaltungen spielt sich hinter einer sattgrün melierten Keramikfassade ab, die den Bau zur Erweiterung des Parks werden lässt.

Klassische Konzerte, House-Parties, Fashion Shows und Volleyball-Turniere: Im neuen Parksaal des Konzerthauses Musis Sacrum in Arnheim ist alles möglich. Die Vielfalt der Veranstaltungen spielt sich hinter einer sattgrün melierten Keramikfassade ab, die den Bau zur Erweiterung des Parks werden lässt.

Musis Sacrum (Den Musen geweiht) ist ein alteingesessenes Konzerthaus in Arnheim und Heimat des Arnhem Philharmonic Orchestra. Das Stammhaus wurde 1847 in einem Park am Rande der Innenstadt errichtet und im Laufe der Zeit mehrfach umgebaut und erweitert. Mit seinem etwas plumpen Eklektizismus galt schon der Ursprungsbau nicht gerade als Schönheit, und die diversen Um- und Anbauten, darunter ein unter Sparzwängen entstandener Saal aus den 1970er Jahren auf der Parkseite, bewirkten auch keine Verbesserung. Die Wegeführung war unlogisch, die Akustik schlecht, das Dach leckte, und der gesamte Bau steckte voller Asbest.

Es musste also etwas geschehen. Als 2014 endlich öffentliche Mittel verfügbar wurden, luden die Stadt und die Leitung des Konzerthauses fünf Architekturbüros ein, einen Entwurf für eine Erneuerung des Anbaus und die Renovierung des Altbaus zu erarbeiten. Aus dem Wettbewerb ging das Amsterdamer Büro Van Dongen & Koschuch, das bereits zwölf weitere Konzertsäle in den Niederlanden im Portfolio hat, als Gewinner hervor: Als einzige Teilnehmer hatten sie vorgeschlagen, den Neubau durch ein Foyer vom Altbau zu trennen und einen Teil des Raumprogramms unterirdisch unterzubringen.

Minimale Sanierung des Bestands, maximale Strahlkraft des Neubaus

Mit insgesamt 18 Mio. Euro für Neubau und Sanierung war das Budget sehr beschränkt. Ursprünglich sollte der neue Saal deshalb nur ein Volumen von 10 000 m³ bekommen. Aber für eine optimale Akustik muss die Höhe des Saals mindestens der Hälfte der Tiefe entsprechen, was auf 15 000 m³ hinauslief. Um das zu finanzieren, wurde die Renovierung des Altbaus recht einfach gehalten: Die Installationen wurden erneuert, der große Saal mit fünf hohen, schmalen Fenstern zur Stadt hin geöffnet, alte Parkettböden freigelegt, und alle Räume in eine etwas charakterlose beigefarbene Grundfarbe getaucht (mit der Option, ehemalige Wanddekorationen zu einem späteren Zeitpunkt wiederherzustellen).

Viel bildbestimmender als der Altbau ist glücklicherweise der neue Erweiterungsbau auf der Parkseite, der an die Stelle des Anbaus aus den 1970er Jahren getreten ist. An den Altbau schließt, unter einem Kragdach und über einem Treppensockel aus Beton, die Glasfassade des Neubaus an. Auf der stadtzugewandten Seite befinden sich der neue Haupteingang und das Foyer, das an das Foyer des Altbaus anschließt. Auf der Nordseite liegt eine Logistik-Achse mit Zulieferung, Büros und Backstage-Bereich. Alle Garderoben, Studios und sonstige Nebenräume wurden im UG untergebracht – eine für die Niederlande, wo unterirdische Baumaßnahmen normalerweise viel Geld kosten, ungewöhnliche Lösung, die aber dank des niedrigen Grundwasserspiegels in Arnheim möglich war. Damit die Aufenthaltsräume dennoch Tageslicht erhalten und gleichzeitig nicht von außen einsehbar sind, befindet sich vor der Nordfassade ein langer, schmaler, abgesenkter Patio.

Keramikfassade als Hingucker

Das Volumen des neuen Konzertsaals ist 17 m hoch und steckt als autonomes Objekt mit abgerundeten Ecken durch das Betondach. Hingucker ist die mit smaragdgrün melierten, 8 cm breiten Keramikelementen bekleidet Fassade, die das gesamte Volumen umhüllt – sowohl außen als auch hinter der Glasfassade. Dafür wurden insgesamt 15 000 Keramikröhren mit trapezförmigem Querschnitt angefertigt und in der Manufaktur Koninklijke Tichelaar im friesischen Makkum, die auf Keramikprodukte für architektonische Anwendungen spezialisiert ist, von Hand glasiert. Mit einem Kännchen wurden fünf verschiedene Grüntöne über die auf Kante gestellten Elemente gegossen. Der so erzeugte sirupartige Verlauf bewirkt, dass jedes Element anders aussieht und die handwerkliche Entstehungsweise deutlich sichtbar ist.

Um der Fassade noch mehr Tiefe zu verleihen, wurden die Elemente in zwei Maßen angefertigt und abwechselnd montiert. So entsteht eine vertikale Reliefstruktur mit viel Tiefe, Bewegung und einer facettenreichen, samtigen Farbgebung. Die glasierten Keramikmodule sind über einer Mineralwoll-Dämmschicht angebracht und in Aluminiummanschetten eingehängt. Während sich außen zwischen den Elementen jeweils eine T-förmige Dichtung befindet, liegt im Innern dort ein 2 cm breiter Spalt, der schallschluckend wirkt. Hinter den Keramikelementen versteckt sich ohnehin viel mehr als man zunächst denkt: Ventilation, Absaugung, Schlauchtrommeln und Anschlüsse aller Art sind in der sattgrünen Wand verborgen. Auf diese Art konnte alles Geld in die Fassade fließen und nicht etwa in ein aufwendiges Deckensystem.

So flexibel wie irgend möglich

Hinter dem Keramikgewand befindet sich der neue Konzertsaal mit 1 000-1 750 flexibel montierbaren Sitzplätzen und einem umlaufenden Balkon. Sein Akustikkonzept wurde gemeinsam mit dem Büro Peutz ausgearbeitet und an einem 1:10-Modell getestet. Die Wände sind mit Eichenholzkassetten mit einem teils unregelmäßigen Sägezahnmotiv bekleidet. Zusätzlich verstecken sich hinter der Wandbekleidung noch 250 ausklappbare, schwarze Faltpaneele, mit deren Hilfe man die Nachhallzeit im Saal von 2,3 Sekunden auf 1 Sekunde reduzieren kann, sodass er vom Klassik- zum Pop-Saal wird. Multifunktionalität war ohnehin das Leitmotiv: Auch Bühne und Saalboden sind je nach Nutzungsart in der Höhe verstellbar.

Größter Kunstgriff hier ist jedoch die 10 m hohe und 16 m breite Glaswand hinter der Bühne. Um eine Schallisolierung von 58 dB zu gewährleisten, besteht sie aus zwei 50 mm dicken Isolierglasschichten, zwischen denen ein breiter, begehbarer Spalt liegt. Bei Konzerten im Saal kann sie mit einem großen Rollo verdunkelt werden. Man kann den gesamten Saal aber auch zum Park hin öffnen, denn die Glaselemente sind auf einer im Boden eingelassenen Schiene fahrbar. Wenn man die Glaswand öffnet und sich das Orchester umdreht, spielt es auf einmal ein Open-Air-Konzert für die Parkbesucher.

Nicht nur dank dieser Öffnung, sondern auch durch das satte Grün der Keramikfassade wird das Gebäude zu einer echten Verlängerung des Parks. Die Grüntöne der Blätter und des Grases, aber auch des schlammigen kleinen Wasserlaufs kehren in der Fassade zurück, die außerdem bei unterschiedlicher Lichteinstrahlung einen immer wieder anderen Anblick bietet. Im Innern treffen die grünen Keramikelemente auf Türen, Handläufe und Schilder aus Messing und weiße Natursteinböden, was an den Materialgebrauch von Gio Ponti denken lässt und somit etwas stilvollen Fünfziger-Jahre-Charme versprüht.

Laut den Architekten hat die Keramikfassade nicht mehr gekostet als eine vergleichbare Klinkerfassade. Ihr Effekt ist aber ungleich größer, verleiht sie dem Gebäude doch Wiedererkennungswert, verankert es in seinem Kontext, birgt schlaue Detaillösungen und hat – auch in Kombination mit den weiteren Materialien – eine edle, handwerkliche Ausstrahlung, die nichts von den Budgetbeschränkungen verrät.

db, Mo., 2018.10.08



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db 2018|10 Keramik

02. Mai 2018Anneke Bokern
db

Park mit Schleife

Eine nur 3 ha große Grünanlage zwischen der Innenstadt von Utrecht und dem Neubaugebiet Leidsche Rijn nimmt seit 2017 eine Schule und eine schwungvolle Rampe zu einer Fahrradbrücke auf. Dem Planerteam ist es erstaunlich gut gelungen, die erforderlichen Funktionen auf engem Raum zu verbinden und dadurch möglichst viel Parkfläche zu erhalten.

Eine nur 3 ha große Grünanlage zwischen der Innenstadt von Utrecht und dem Neubaugebiet Leidsche Rijn nimmt seit 2017 eine Schule und eine schwungvolle Rampe zu einer Fahrradbrücke auf. Dem Planerteam ist es erstaunlich gut gelungen, die erforderlichen Funktionen auf engem Raum zu verbinden und dadurch möglichst viel Parkfläche zu erhalten.

»Mehrfache Raumnutzung« (meervoudig ruimtegebruik) ist ein oft gehörtes Stichwort in den Niederlanden. V.a. im Ballungsraum Randstad, der mit über 900 Einwohnern pro Quadratkilometer zu den dichtest besiedelten Regionen der Welt gehört, herrscht chronischer Platzmangel. Da bleibt nur, Funktionen zu stapeln oder miteinander zu verschränken. So entstanden in der Region ­innerhalb der letzten Jahre u. a. ein Strandboulevard mit integrierter Park­garage, ein Park auf einem Einkaufszentrum, das auch als Deich fungiert, ein Sportplatz mit Regenwasserrückhaltebecken – und schließlich eine Schule mit Fahrradrampe auf dem Dach, eingepasst in den kleinen Victor-Hugo-Park in Utrecht.

Die Dafne-Schippers-Brücke, benannt nach einer niederländischen Leichtathletin, liegt westlich der Innenstadt von Utrecht und verbindet den Stadtteil Oog in Al mit dem Neubauviertel Leidsche Rijn. Sie führt über den Amsterdam-Rheinkanal, eine der wichtigsten Binnenschifffahrtsrouten der Niederlande. Während Oog in Al ein ruhiges, grünes Wohnviertel aus den 30er Jahren ist, handelt es sich bei Leidsche Rijn, das jenseits des Kanals liegt, um das derzeit größte Neubaugebiet der Niederlande. Bis 2030 sollen dort auf einer Fläche von 2 500 ha insgesamt 100 000 Menschen wohnen – in einem Meer aus Reihenhäusern, unterbrochen von höherer Wohnbebauung entlang der Hauptstraßen. Um zu vermeiden, dass all diese Vorstadtbewohner mit dem Auto in die enge Innenstadt pendeln, bedurfte es einer neuen Fahrradverbindung über den Kanal. In Utrecht ist fahrradgerechte Planung ein großes Thema, denn wenngleich die Amsterdamer Fahrradkultur international viel bekannter ist, profiliert sich die viertgrößte Stadt des Landes gerne als Fahrradhauptstadt. Im »Copenhagenize Index 2017« belegt Utrecht den zweiten Platz – selbstverständlich hinter Kopenhagen, aber einen Platz vor Amsterdam.

7000 pro Tag

Zwar gab es bereits zwei Brücken über den Kanal, die auch für Radler freigegeben sind, aber sie bieten keinen direkten Anschluss an die Innenstadt, ­liegen in einem Abstand von zwei Kilometern voneinander entfernt und sind obendrein stark befahrene Autobrücken.

Schon in den ersten städtebaulichen Plänen für Leidsche Rijn, die 1995 entstanden, wurde deshalb der Victor-­Hugo-Park als »Anlandepunkt« einer Fahrradbrücke auserkoren, denn er befindet sich direkt am Kanal, auf halber Strecke zwischen den beiden bestehenden Brücken. Außerdem ließ sich von diesem Standort aus ein ebenerdiger Fahrradweg in beinahe gerader Linie zum Hauptbahnhof führen, wodurch sich die Entfernung von Leidsche Rijn in die Innenstadt um etwa einen Kilometer verkürzt. Wenn der neue Stadtteil fertiggestellt sein wird, sollen davon schätzungsweise 7 000 Radfahrer pro Tag profitieren.

Und genau das war anfänglich das Problem.
Umstanden von Wohnblöcken aus den 30er Jahren war der Victor-Hugo-Park vor seiner Umgestaltung eine etwas vernachlässigte Grünfläche mit einem Schulgebäude aus den 50er Jahren, dessen Pausenhöfe in den Park integriert waren. Die Außenraumgestaltung bestand aus einer Rasenfläche, einigen Bäumen und einer (noch immer vorhandenen) zierlichen Bronzeskulptur ­einer Hirschkuh. Bei den Anwohnern stieß die Vorstellung, dass ihr Park ­einer riesigen Brückenzufahrt geopfert und obendrein zur Durchgangszone für tausende Radfahrer täglich werden würde, auf wenig Gegenliebe. Auch die konservativen und sozialistischen Parteien im Stadtrat waren dagegen, denn sie hielten die bestehenden Brücken für ausreichend. Letztlich wurden sie­­­­ jedoch von den Grünen und Linksliberalen, die die Mehrheit im Stadtrat haben, überstimmt. Zum Projekt, das insgesamt 25 Mio. Euro gekostet hat, gehörte neben der neuen Brücke und Außenraumgestaltung auch der Abriss des bestehenden Schulgebäudes sowie der Neubau einer Montessori-Grund­schule sowie 15 neue Reihenhäuser an der Südseite des Parks. Da die Fahrradverbindung aufgrund des Schiffsverkehrs in 7 m Höhe über den Kanal geführt werden musste, entstand die Idee, die neue Schule in Teilen darunter zu schieben und so den Flächenverbrauch zu minimieren.

Besänftigt

Die Europäische Ausschreibung gewann ein Team aus dem etablierten Architekturbüro Rudy Uytenhaak + Partners Architecten gemeinsam mit dem jüngeren Büro Next Architects, dem Ingenieursbüro Arup und den Landschaftsarchitekten von Bureau B+B. Alle beteiligten Planer hatten bereits zuvor erfolgreich zusammengearbeitet, wenngleich auch in anderen Konstellationen. In der Vorentwurfsphase arbeiteten sie das Projekt gemeinsam aus und teilten erst danach die einzelnen Aufgabenbereiche untereinander auf. Einzig die Reihenhäuser gehörten nicht zum Projektumfang und wurden später von ­einem anderen Architekturbüro realisiert. Die Anwohner und die Schul­leitung wurden bereits früh in die Planung einbezogen. Es wurden mehrere Informationsabende veranstaltet und Arbeitsgruppen zusammengestellt. Nach der Präsentation des Vorentwurfs waren die Anwohner etwas besänftigt und leisteten weniger Widerstand gegen das Projekt, im Wissen, dass ihr Park nicht völlig verschwinden würde.

Die weiße, stählerne Hängebrücke selbst, zu der die Rampe durch den Park führt, überspannt 110 m und entfaltet v. a aufgrund ihres nur 30 cm dicken Brückendecks eine filigrane Wirkung. In Leidsche Rijn wird der Überbau von einem A-förmigen Pylon getragen, in Oog in Al von einem niedrigeren, H-förmigen Pylon, der an den Maßstab des Wohnviertels anknüpft. Der gesamte Radweg ist, wie in den Niederlanden üblich, rot asphaltiert – wobei das Rot hier besonders kräftig ausgefallen ist und eher an eine Leichtathletikbahn erinnert. Der Grund ist, dass die Brücke auch als Laufstrecke gedacht und mit entsprechenden weißen Abstandsmarkierungen versehen ist.

Schwungvoll

Die Brückenzufahrt liegt sehr prominent an der Südseite des Victor-Hugo-Parks. In Utrecht ist sie bereits als »Korkenzieher« bekannt, denn um den ­Höhenunterschied für Radler kräftesparend zu überbrücken, führt sie in einer schwungvollen Mäanderbewegung in die Höhe. Ihre Steigung beträgt ­zwischen 2,56 % und 4,05 %. Als große Schleife umfasst sie einen runden ­Basketballplatz mit einer halbrunden Bank, der auf Wunsch der Anwohner hier (anstatt, wie zunächst geplant, mitten in der Grünanlage) angesiedelt wurde. Danach führt der Radweg über eine Brücke, die für den Schulhof ­darunter als Torsituation auf dem Weg zum Schuleingang fungiert, und schließlich über das Dach des niedrigeren Bauteils der Schule, bevor er in ­einem rechten Winkel nach Westen abknickt und in die Brücke übergeht.

Die beiden Bauteile der Grundschule sind mit abgerundeten Ecken sowie ­einer Fassade aus bunt melierten Klinkern versehen. Der niedrigere nimmt die Turnhalle auf. Der höhere, zweigeschossige Bauteil, in dem sich die Aula und je zwei Spiel- und Klassenzimmer befinden, begrenzt Park und Schulhof zum Kanal hin. Während das Dach des Hauptbaus 109 Solarpaneele, oberhalb einer extensiven Begrünung, aufnimmt, dient das Dach der Sporthalle ‒ von der Brücke aus begehbar ‒ als Schulgarten.

Lerneffekt

Der kleine Victor-Hugo-Park selbst zeigt sich als geometrisch geformte Landschaft, in der die Rasenflächen in Richtung der Brückenzufahrt ansteigen, von zwei Fußwegen durchkreuzt und von zwei großen Lichtmasten beleuchtet. Zum Basketballplatz hin fällt der »Rampenhügel« in Form eines terrassierten Amphitheaters ab. Die kniehohen Mäuerchen mit Abdeckungen aus Betonfertigteilen, die den Radweg von den Rasenflächen abgrenzen, bestehen aus denselben Klinkern wie die Schulfassade. Die »niederländisch steile« Betontreppe wiederum, die Fußgängern als direkter Zugang zur Brücke dient, verweist mit ihren weißen, metallenen Geländern deutlich auf die Gestaltung der im weiteren Wegeverlauf folgenden Brücke.

Für den Bau der Brückenzufahrt und der Schule mussten einige bestehende Bäume weichen, aber zur großen Freude der Anwohner wurden sogar mehr Bäume neu gepflanzt als zuvor gefällt wurden. Da der vormalige Baumbestand kein ausgeprägtes Blütenbild aufwies, entschieden sich die Landschaftsarchitekten von Bureau B+B bei den Neupflanzungen für Magnolien.

Im Ergebnis ist mit dem Projekt eine in ihrer funktionalen Vielfalt erstaunlich kohärente Außenraumgestaltung als Synthese aus Architektur und Landschaftsarchitektur gelungen.

Für Radfahrer ist es ein echtes Erlebnis, von der Brücke in einer schwungvollen Bewegung ­herabzurollen, über die Schule hinweg und an spielenden Kindern vorbei. Zwar ist die Brückenzufahrt mehr als dominant, dient zugleich aber auch als identitätsstiftendes Element. Mit ihrer großen Schleife umarmt sie den Schulhof und das Basketballfeld und wirkt geradezu beschützend. Ob die kleinen Mäuerchen zwischen Rasen, Schulhof und Radweg deutschen Sicherheitsvorschriften genügen würden, ist zweifelhaft. Auf die Frage, ob nicht die Gefahr bestehe, dass Kinder beim Spielen auf den Radweg rennen, antwortet eine Lehrerin mit niederländischem Gleichmut: »Dass sie das nicht tun sollten, lernen sie schnell genug.«

db, Mi., 2018.05.02



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db 2018|05 Außenraum

12. August 2016Anneke Bokern
Bauwelt

A Home Away From Home

Auch in den Niederlanden fehlt es an Unterkünften für Flüchtlinge. Die Zentrale Unterbringungsbehörde für Asylsuchende und das Büro des Reichsbaumeisters lobten deshalb gemeinsam einen Wettbewerb aus. Die Teilnehmer waren aufgerufen, Alternativen zu den gängigen Wohncontainern zu entwickeln, die es im Land gibt. Ob solche Konzepte allerdings auch als dauerhafte Wohnungen für Geringverdiener taugen, wie sich Reichsbaumeister Floris Alkemade das vorstellt?

Auch in den Niederlanden fehlt es an Unterkünften für Flüchtlinge. Die Zentrale Unterbringungsbehörde für Asylsuchende und das Büro des Reichsbaumeisters lobten deshalb gemeinsam einen Wettbewerb aus. Die Teilnehmer waren aufgerufen, Alternativen zu den gängigen Wohncontainern zu entwickeln, die es im Land gibt. Ob solche Konzepte allerdings auch als dauerhafte Wohnungen für Geringverdiener taugen, wie sich Reichsbaumeister Floris Alkemade das vorstellt?

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Bauwelt 2016|31 Grundstück im Block

31. März 2015Anneke Bokern
db

IJdock in Amsterdam (NL)

Die Stadtplaner wollten nicht länger die bestehenden Uferlagen mit weiteren, vergleichsweise niedrigen Häusern verbauen, sondern konzentrierten die Flächen...

Die Stadtplaner wollten nicht länger die bestehenden Uferlagen mit weiteren, vergleichsweise niedrigen Häusern verbauen, sondern konzentrierten die Flächen...

Die Stadtplaner wollten nicht länger die bestehenden Uferlagen mit weiteren, vergleichsweise niedrigen Häusern verbauen, sondern konzentrierten die Flächen für Büros, Wohnungen und ein Hotel auf einer vorgelagerten Insel. Die Formen des skulpturalen Gebäudekomplexes sind von Sichtachsen und dem Wunsch nach städtebaulicher Kompaktheit bestimmt. Von der unter Sicherheitsaspekten kaum besser zu wählenden Lage im Wasser profitiert v. a. der neue Justizpalast.

Wie in vielen europäischen Städten, wurden auch in Amsterdam in den letzten Jahrzehnten ehemalige Hafengebiete als Lebensraum wiederentdeckt. Das gesamte südliche Ufer des IJ (sprich: Ei) wurde seit Mitte der 90er Jahre transformiert und an die Innenstadt angebunden. Das Schlussstück dazu bildet das 500 m nördlich des Hauptbahnhofs gelegene IJdock: eine künstliche Halbinsel mit auffällig skulpturaler Bebauung, so groß wie zwei Fußballfelder.

Wasserflächen als Baugrund zu nutzen, ist in Amsterdam keine neue Idee. Jahrhundertelang wurde dem IJ bei jeder Gelegenheit Land abgerungen, und schrumpfte die Wasserfläche immer mehr. Nachdem der Seitenarm der ehemaligen Zuiderzee und des heutigen IJsselmeers mit dem Noordzeekanaal 1876 eine direkte Verbindung zum Meer erhalten hatte, dehnte sich der Hafen allmählich entlang des gesamten IJ-Ufers aus. Überall wurde Neuland für neue Hafengebiete gewonnen – mit der Folge, dass das Stadtzentrum immer mehr vom Wasser abgeschnitten wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog der Hafen weiter nach Westen und ließ stadtnahe Brachen zurück, die seit den 90er Jahren im Rahmen einer Nachverdichtungsstrategie ungestaltet wurden. Auf insgesamt sieben Inseln und Halbinseln, die von Ost nach West phasenweise entwickelt wurden, entstanden neue Wohnviertel am Wasser, wurden aber auch gezielt öffentliche Gebäude und Kulturbauten angesiedelt.

Lichtgeometrie

Die letzte Funktion, die es am Ufer westlich vom Hauptbahnhof unterzubringen galt, war ein Kurzparker-Hafen in Kombination mit einem Hotel. Um das Projekt rentabel zu machen, wurde es noch um Wohnungen und Büros erweitert. Nur wohin damit? Man hätte die Gebäude einfach entlang des Westerdoksdijks aufreihen können, aber eine räumliche Konzentration schien ratsamer, da der Blick von der Uferstraße auf das Wasser ohnehin schon fast überall verbaut ist. 1996 entwickelten Dick van Gameren und Bjarne Mastenbroek einen ersten Masterplan, der zunächst noch aus einzelnen Gebäuden im Wasser bestand. In einem zweiten Schritt wurde daraus eine kompakte Insel, an deren Westseite ein geschützter Hafen für Freizeitboote liegt. Um genug Abstand zur Fahrrinne im IJ zu wahren, durfte sie max. 180 x 60 m groß sein; die max. erlaubte Bebauungshöhe lag bei 44 m.

Mit dieser Höhe gerät das IJdock allerdings von der historischen Altstadt aus ins Blickfeld. Die Architekten ließen deshalb in ihrem Modell entlang vier wichtiger Sichtachsen Licht durch die Straßenzüge streifen; wo das Licht auf den Block traf, machten sie Einschnitte. Da der Quader rechnerisch Büro- und Wohnflächen von 130 000 m² hätte umfassen können, aber nur 89 000 m² benötigt wurden, konnten insgesamt 41 000 m² herausgeschnitten werden, sodass ein dreidimensionales Puzzle aus Gebäuden, die aus dem orthogonalen Grundraster heraustreten, entstand. Im Grunde schließt das IJdock weniger an die Bebauung der Altstadt als vielmehr an deren Straßen und Grachten, also an die Leerräume an. Fünf Gebäude reihen sich zu beiden Seiten einer Nord-Süd-Achse auf, die die Insel mit dem Festland verbindet und sie diagonal durchkreuzt. Die auffälligste Sichtachse ist jedoch der »Keizersgrachtschnitt«: ein trichterförmiger Handkantenschlag, der mehrere Gebäude in teils bizarr geformte Stücke zerteilt und das IJdock von der Keizersgracht aus unsichtbar machen soll.

2009 wurde mit der Anlage der Insel begonnen. Der zunächst verfolgte Gedanke, sie als schwimmende Wanne zu realisieren, stellte sich als zu aufwendig heraus, da die tragfähige Sandschicht, auf der in Amsterdam alle Gebäude gegründet werden, an dieser Stelle mit fast 40 m sehr tief liegt. So wurde das IJdock letztlich auf 860 Pfählen errichtet.

Hochwasserschutz ist in Amsterdam kein Thema, da das gesamte Stadtgebiet mit Pumpen und Schleusen abgesichert ist und es keine Schwankungen im Wasserspiegel gibt. Wichtiger war die Frage nach Auffahrunfällen, denn das IJdock liegt in einer Kurve des IJ, durch die sich auch Kreuzfahrtschiffe zwängen müssen. Als Kollisionsschutz trieb man deshalb eine 11 m breite Doppelreihe aus Stahlrohren und Spundwänden in den Grund – eine Art Knautschzone. 50 000 m³ Schlick wurden bis auf eine Tiefe von 5 m unter Meeresspiegel abgesaugt und durch 30 000 m³ sauberen Sand ersetzt. Nach dem Abpumpen des restlichen Wassers und Plattwalzen des Sands, konnte mit der Pfahlgründung für die Gebäude begonnen und dann die 25 cm dicke Betonwanne gegossen werden.

Isoliert, sichtbar und zentral

Im basaltbekleideten Sockel befinden sich zwei Parkgeschosse mit etwa 500 Stellplätzen sowie, unter einer kaum wahrnehmbaren Anhöhe, ein Servicegeschoss. Darüber erheben sich, von West nach Ost, ein Bürobau, in dem auch die schon vorher an dieser Stelle ansässige Wasserpolizei unterkam, ein Hotel und ein Wohnblock mit Ladenflächen im EG. Ihre Architekten erhielten (wie in den Niederlanden üblich) Direktaufträge, z. T. mit vorhergeschalteten, geschlossenen Auswahlverfahren.

Auch die beiden östlichen Bauteile sollten Büronutzungen aufnehmen. Die jeweiligen Entwürfe mit reichlich Flächen für Restaurants und Geschäfte im EG und auffällig transparenten Fassaden stammten von Bolles & Wilson und Diederen Dirrix. Allerdings konnten sich dafür keine Investoren erwärmen.

Schließlich meldete der Gerichtshof Interesse an, der zuvor seinen Hauptsitz in einem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert gehabt hatte, das aber schon lange zu klein geworden war. Für die beiden Gebäude, die heute gemeinsam den Justizpalast bilden, legten fünf Büros, die aus einer europaweiten Ausschreibung hervorgegangen waren, dem Reichsbaumeister einen Vorentwurf vor. Man entschied sich für Claus en Kaan.

Felix Claus nimmt angesichts der vordefinierten Volumina kein Blatt vor den Mund: Er bezeichnet die Idee, das besonders komplexe Raumprogramm der Justizbehörde in eine bestehende Kubatur zu pressen, als »völlig bescheuert«. Er löste die Aufgabe, indem er auf der stadtzugewandten Westseite des Hauptbaus alle Verkehrsbereiche und Foyers und auf der zum Canyon orientierten Ostseite die Gerichtssäle und darüber die Büros stapelte. Im Souterrain befinden sich 26 Zellen. Eine gläserne Laufbrücke im sechsten Stock führt in den zweiten Gebäudeteil, in dem die Büros des Justizministeriums untergebracht sind.

Die Standortwahl fiel u. a. deshalb auf das IJdock, weil es zugleich isoliert, sichtbar und zentral liegt. Der Zugang auf der Halbinsel, am Ende einer Sackgasse, ist leicht zu kontrollieren. Wichtiger als die Sicherheitskriterien waren allerdings das Raumangebot, die Nähe zur Innenstadt und die Prominenz der Lage. Im Gesamten betrachtet entstand nun im Zusammenklang mit dem Hauptbahnhof, dem Muziekgebouw aan 't IJ (3XN), dem EYE Film Institute auf der gegenüberliegenden Flussseite (Delugan Meissl, s. db 6/2012, S. 61) und eben dem Justizpalast ein von diesen markanten öffentlichen Gebäuden definierter »Wasserplatz« auf dem IJ. Zu diesem hin orientiert, markiert eine 20 m große Auskragung wie eine vorgestreckte Kinnlade den Haupteingang und schafft einen überdachten öffentlichen Platz, der leider – ganz im Gegensatz zu den vorangegangenen Vorstellungen – spürbar als Durchgangszone gedacht ist und keinerlei Möblierung aufweist.

Beim Betreten des Justizpalasts hingegen staunt man nicht schlecht: Das außen gar so kühle und abstrakte Gebäude ist innen rundum mit chinesischem Marmor und hölzernen Kassettendecken ausgestattet.

Sachliche Aussenseite, spektakuläre Innenseite

Die Materialisierung der Bauten auf dem IJdock wurde von Dick van Gameren mitbestimmt, der als koordinierender Architekt für das Gesamtprojekt auftrat und den öffentlichen Raum entwarf. Damit sich der Komplex deutlich von der Bebauung der Altstadt unterscheidet, sollte er nach außen hell und modern auftreten und es durfte kein traditioneller Backstein verwendet werden. So entstand die glatte, sachliche Außenseite aus hellem Naturstein, Beton und Glas, die in starkem Kontrast zum Innenleben des IJdock steht: Dort präsentiert sich die Diagonale als spektakulärer Straßenraum mit einer messerscharfen Ecke à la Flat Iron Building, Fassaden aus grünen Klinkern mit muslimisch anmutenden Balkonbekleidungen und schrundigen Schieferplatten auf den Dachflächen. Bezug zum Wasser gibt es allerdings nur sehr sparsam dosiert: Auf der Ostseite wird der Blick entlang zweier schmaler Einschnitte zum EYE Film Institute am gegenüber liegenden Ufer gelenkt, aber verweilen möchte man in den zugigen Schlitzen nicht. Auf der ruhigeren Westseite versteckt sich hinter dem Hotel der Freizeithafen mit Café-Terrasse und führt eine von NEY + Partners entworfene Fahrrad- und Fußgängerbrücke vom Justizpalast auf das Festland. Aus Sicherheitsgründen dürfen am Brückengeländer keine Fahrräder angeschlossen werden, weshalb das Geländer komplett aus vertikalen Stäben ohne Querverbindungen besteht.

Das Resultat ist ein seltsam zwiespältiger Gebäudekomplex: gleichzeitig skulptural und nüchtern; teils experimentell, teils konventionell; sowohl in seinen Kontext eingebettet als auch solitär; auf dem Wasser, aber mit wenig direktem Bezug dazu.

Ein bisschen muss man angesichts des Justizpalasts an das legendäre Château d'If vor Marseille denken. Offenbar ist auch Bjarne Mastenbroek, der gemeinsam mit Dick van Gameren den Masterplan entwickelte, diese Inkohärenz aufgefallen, sagte er doch einmal in einem Interview über das IJdock: »Viel wichtiger für eine Stadt als die Architektur ist der Raum zwischen den Gebäuden. Mit gutem Städtebau und schlechten Gebäuden kann man recht weit kommen, aber mit schlechtem Städtebau und guten Gebäuden kommt man nirgends hin.«

db, Di., 2015.03.31



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db 2015|04 An und auf dem Wasser

24. Februar 2014Anneke Bokern
db

Netter warten

Das temporäre Wartehäuschen an dem kleinen niederländischen Provinzbahnhof punktet mit signifikanter, aber offener Gestaltung, bietet einen beheizbaren Warteraum und Platz für einen kleinen Laden. Die Architekten haben es aus Containern gebaut und mit einer gehörigen Portion niederländischen Humors ausgestattet.

Das temporäre Wartehäuschen an dem kleinen niederländischen Provinzbahnhof punktet mit signifikanter, aber offener Gestaltung, bietet einen beheizbaren Warteraum und Platz für einen kleinen Laden. Die Architekten haben es aus Containern gebaut und mit einer gehörigen Portion niederländischen Humors ausgestattet.

»Prettig Wachten« (Angenehm Warten) ist ein Programm, mit dem das niederländische Bahninfrastruktur-Unternehmen Prorail die Wartezeit an kleinen Bahnhöfen für Fahrgäste erträglicher gestalten will. Betreut wird es vom »Bureau Spoorbouwmeester« (Bahnbaumeister-Büro), einem Team von Architekten und Designern, das seit 2001 innerhalb von Prorail als unabhängiges Beratungsorgan in Sachen Bahnhofsarchitektur und -design tätig ist. Bureau Spoorbouwmeester entwickelt Gestaltungsrichtlinien, führt Auswahlverfahren durch, betreut Entwurfsprozesse und gibt Denkmalschutzstudien in Auftrag. Der Spoorbouwmeester ist – ähnlich dem bekannteren Rijksbouwmeester – ein Architekt mit eigenem Büro, der einige Jahre lang zwei Tage pro Woche für Prorail arbeitet. Bis 2009 hatte Nathalie de Vries von MVRDV den Posten inne; dann übernahm Koen van Velsen.

Insgesamt 25 Bahnhöfe sollen in den Niederlanden im Rahmen von Prettig Wachten aufgewertet werden. Dahinter steckt ein Aktionsplan des Ministeriums für Infrastruktur und Umwelt, das eine jährliche Fahrgastzunahme von 5 % anpeilt und ein positives »Warteerlebnis« als wichtigen Faktor für das Wachstum benennt. V. a. die kleinen Bahnhöfe haben den Wartenden meist wenig zu bieten: Manch ein niederländischer Provinzbahnhof besteht nur aus zwei Bahnsteigen, einer Fahrplantafel und einer Sitzbank. Dabei bedürfte es oft nur eines kleinen Eingriffs, um den Aufenthalt angenehmer zu machen und das Sicherheitsgefühl zu erhöhen. Deshalb beschlossen Koen van Velsen und Prorail, mit Prettig Wachten genau diese Bahnhöfe ins Visier zu nehmen. In Zusammenarbeit mit Fahrgästen und Ladenbetreibern wird für jeden Bahnhof ein individueller Ansatz entwickelt und dann ein Architekturbüro, Künstler oder Designer mit dem Entwurf beauftragt.

So wurde im friesischen Wolvega durch das Entfernen einer Wand der vorhandene Blumenladen zu einem Teil des Warteraums. Der Blumenhändler schenkt jetzt auch Kaffee aus und hält die Toiletten sauber. Auf dem Bahnhof von Roermond läuft eigens für diesen Ort komponierte Musik; und am Bahnhof des Den Haager Vororts Moerwijk, der zuvor nur aus Bahnsteigen bestand, gibt es nun zwei leuchtend orangefarbene, archetypische Wartehäuschen in Treibhausoptik. Es geht bei Prettig Wachten hauptsächlich darum, die Identität des jeweiligen Orts zu stärken; erstaunlicherweise darf dabei die Corporate Identity des Bahnbetreibers völlig in den Hintergrund treten.

Kecke Bezüge

Kein anderes der neun bisher realisierten Projekte macht das so deutlich wie das temporäre Bahnhofsgebäude von NL Architects in Barneveld. Die Gemeinde in der Mitte des Landes ist v. a. für ihre zahlreichen Hühnerfarmen bekannt: Auf knapp 30 000 Einwohner kommen 2,9 Mio. Stück Federvieh. Die einspurige Bahnlinie, die durch Barneveld führt, ist deshalb in den Niederlanden als »Hühnerstrecke« bekannt. Der Bahnhof Barneveld-Noord liegt außerhalb des Ortskerns und bezieht seine Daseinsberechtigung aus einem benachbarten Gewerbegebiet, hauptsächlich aber aus einer Park+Ride-Garage mit 320 bewachten Stellplätzen. In der Hauptverkehrszeit fährt alle Viertelstunde ein Zug in die nächste Großstadt Amersfoort.

Eine etwas aufdringlich gestaltete Überführung verbindet die Park+Ride-Garage über eine Grünzone und ein paar Gleisstränge hinweg mit dem Bahnhofsgelände. Dort steht das auf den ersten Blick viel unauffälligere neue Wartehäuschen. In Wirklichkeit wirkt es keinesfalls so monumental wie auf manchen Fotos, sondern eher putzig und humorvoll. Es besteht aus drei schwarz gestrichenen Containern auf einem Glassockel, unterbrochen durch einen ebenfalls schwarzen, hochkant gestellten Container, der einen Turm bildet. Der nördliche Teil nimmt ein kleines Café mit minimalistischer weißer Bar auf, das von einer örtlichen Arbeitsagentur für Behinderte betrieben wird. Der Container darüber dient als Stauraum für Möbel- und Geräte des Shops. Den südlichen Teil nimmt der nur mit einer Granitbank ausgestattete Warteraum ein. Einer der beiden Container darüber beinhaltet die nötige Lüftungstechnik und Elektroinstallation, der andere hat keinen Boden und sorgt für zusätzliche Deckenhöhe. Er ist mit perforierten weißen Akustikpaneelen ausgekleidet, und in den Ecken hängen große vertikale Leuchtstoffröhren.

Insgesamt sind die wenigen Details des kleinen Gebäudes erstaunlich gut ausgeführt, auch wenn die industriellen Materialien verraten, dass es nicht teuer war. Im Turm ist die Bahnhofstoilette untergebracht, die trotz Rundum-Standardausstattung aus wenig anheimelndem Edelstahl ein überraschendes räumliches Erlebnis bietet: Durch eine Glasscheibe, die den hohlen, schlotförmigen Container oben abschließt, fällt Tageslicht herein und verleiht dem profanen Raum etwas unerwartet Sakrales. »Royal Flush« nennen die Architekten das – und man darf sich ihr hintergründiges Grinsen dazu vorstellen. Auch in der Außenansicht spielt Sakrales eine Rolle: Eine Uhr weckt die Assoziation an einen Kirchturm, unterstrichen durch goldenes Federvieh, welches oben auf dem Turm hockt – allerdings handelt es sich dabei um eine Henne, nicht um einen Hahn. Ebenso wie mit den goldenen Eieraufklebern, die als Sicherheitsmaßnahme für Sehbehinderte auf den Glasscheiben angebracht sind, spielen die Architekten damit natürlich auf die »Hühnerstrecke« an. Obwohl sie das in ihren Projekttexten nicht ausdrücklich erwähnen, ist die Kirchturm-Parallele aber auch als Anspielung auf das ausgesprochen christliche Gepräge der Gemeinde gedacht. Das Städtchen liegt im niederländischen Bibelgürtel, wo viele strenggläubige protestantisch-reformierte Christen wohnen; die radikal konservative »Staatkundig Gereformeerde Partij« ist die stärkste Kraft im Gemeinderat.

Wenn man dann auch noch bedenkt, dass die Container durchaus als Verweis auf das benachbarte Gewerbegebiet gelten können, hat der kleine Bahnhofsbau sogar auf drei Ebenen Bezug zur Identität des Orts – wenngleich teilweise auf eine subversive, etwas unehrerbietige Art, die für die Arbeit von NL Architects typisch ist. Vielleicht hat die Gemeinde Barneveld sich den kleinen Seitenhieb gefallen lassen, weil das Wartehäuschen ohnehin nur ein temporäres ist. In Zukunft soll im Sockel der Park+Ride-Garage eine echte Bahnhofshalle mit allem Drum und Dran untergebracht werden, in der das Warten sicherlich mindestens genauso angenehm sein, aber weniger Anlass zum Schmunzeln bieten wird.

db, Mo., 2014.02.24



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db 2014|01-02 Ankommen Abfahren

08. April 2013Anneke Bokern
db

Architektonischer Zuwanderer

Auf dem »Nieuwe Oosterbegraafplaats« in Amsterdam befindet sich nicht nur das größte muslimische Gräberfeld der Niederlande, sondern auch der erste muslimische Friedhofspavillon. Durch die Materialwahl und die moderne Formensprache stellt der objekthafte kleine Bau eine gelungene Synthese der Kulturen dar.

Auf dem »Nieuwe Oosterbegraafplaats« in Amsterdam befindet sich nicht nur das größte muslimische Gräberfeld der Niederlande, sondern auch der erste muslimische Friedhofspavillon. Durch die Materialwahl und die moderne Formensprache stellt der objekthafte kleine Bau eine gelungene Synthese der Kulturen dar.

Der Nieuwe Oosterbegraafplaats, im Südosten von Amsterdam, ist mit 33 ha der größte Friedhof der Stadt. Spaziert man über die Anlage von 1894, fallen einem die vielen ausländischen Namen auf den Grabsteinen auf – angesichts einer Ausländerquote von 51 % in der Grachtenstadt, kein Wunder. Seit September 2012 gibt es in der äußersten Südwestecke des Friedhofs nun auch ein muslimisches Gräberfeld, das mit seinem Platz für 1 400 Gräber das größte in Amsterdam ist. Da es jedoch in muslimischen Kulturen weder Grabsteine noch Grabschmuck gibt, könnte man es auf den ersten Blick beinahe für eine einfache Wiese halten. Nur ein travertinbekleideter Pavillon mit einem unverkennbar muslimischen Fassadenornament, der am Rande des Gräberfelds steht, lässt ahnen, was es mit der Wiese auf sich haben könnte.

Muslimischen Traditionen zufolge werden Verstorbene nur in Leinentücher gewickelt, auf der rechten Seite liegend, mit dem Gesicht gen Mekka gewandt bestattet. Während solche sarglosen Erdbestattungen in Deutschland nur mit Sondergenehmigung möglich sind, sind sie in den Niederlanden prinzipiell erlaubt. Dennoch ist das kleine Gebäude der erste muslimische Trauerpavillon der Niederlande. Zwar gibt es inzwischen bereits auf etwa 40 Friedhöfen muslimische Gräberfelder, aber bislang mussten sie alle ohne Gebäude auskommen. Die rituellen Waschungen, die bei einer muslimischen Beerdigung unerlässlich sind, mussten die Hinterbliebenen zu Hause oder an kleinen Waschbecken unter freiem Himmel vornehmen. Um diesem und anderen Ritualen einen würdigen Rahmen zu geben, beauftragte die Friedhofsverwaltung zusammen mit einer muslimischen Stiftung das junge Amsterdamer Architekturbüro PUUUR, geleitet vom türkischstämmigen Niederländer Furkan Köse, mit dem Entwurf eines Trauerpavillons.

Kein islamischer Archetypus

In der islamischen Welt gibt es auf jedem Friedhof zwar ein Gebäude, in dem Leichenwaschungen, rituelle Waschungen und Gebete vorgenommen werden können, aber auch dort haben solche Bauten keine spezifische Bautradition und sind keine architektonischen Archetypen. Das ermöglichte Köse – der zuvor eine Moschee im Osten der Niederlande gebaut und dabei selber erfahren hatte, welche Kontroversen kleinste Veränderungen an symbolbeladenen, traditionellen Bautypen auslösen können – gestalterische Freiheit beim Entwurf des Trauerpavillons. Dieser präsentiert sich als autonomes Objekt, das direkt neben dem Gräberfeld über einem Kiesboden zu schweben scheint. Einem Sandwich ähnlich, sind die Travertinfassaden zwischen zwei hellen Betonbändern wie eingeklemmt. Durch das Verdrehen des Gebäudekerns gegenüber der äußeren Kontur entstehen schräg zulaufende Veranden und zwei kleine Patios; der Übergang zwischen Innen und Außen ist fließend, wie es in der islamischen Architektur Tradition hat.

Im baulichen Kontext fällt weniger die moderne Formensprache des Pavillons als vielmehr seine ortsuntypische cremefarbene edle Farbigkeit auf. So ist der Beton nicht gestrichen, sondern hat einen leicht glänzenden weißen Marmorzuschlag, die Glastüren des Gebäudes haben champagnerfarben eloxierte Aluminiumrahmen, und was auf den ersten Blick wie dünne Travertinplatten aussieht, sind in Wirklichkeit 10 cm dicke, aus der Türkei importierte Travertinblöcke mit ornamentalen Scheinfugen. Das große Ornament neben dem Eingang ist ein Relief des niederländischen Künstlers Rem Posthuma, den die Architekten von Anfang an in den Entwurfsprozess mit einbezogen haben. Es besteht aus unglasierten Keramikelementen und zeigt ein muslimisch anmutendes grafisches Muster, das endlos fortsetzbar ist und damit das ewige Leben der Seele symbolisieren soll.

Leichenwäsche und stehendes Gebet

Im Innern des Pavillons befinden sich ein Gebetsraum mit Umgang, der durch eine Schiebetür von einem Raum mit Leichenwaschtisch getrennt ist, sowie ein Servicebereich mit kleiner Teeküche und Toiletten. Dazu gehört auch der Waschraum, auf den man beim Betreten des Pavillons zunächst stößt und in dem die Trauernden die rituelle Fußwaschung vornehmen können. Anschließend findet im Gebetsraum das stille Al-djanaazah-Gebet statt. Der Leichnam wird meist schon am Tag vor der Bestattung in Gegenwart eines Imam und einiger enger Verwandter vor Ort gewaschen, in weiße Leinentücher gewickelt und aufgebahrt.

Auf den ersten Blick wirkt der Raum nicht besonders groß; aber da das Gebet im Stehen abgehalten wird, passen dem Architekten zufolge ca. 100 Personen hinein. Zudem kann man die Glastüren öffnen, den Leichnam vor dem Pavillon am Gräberfeld aufbahren und so zusätzlich Platz gewinnen. Wichtig ist v. a., dass die Betenden sich in Richtung Mekka wenden – und zwar nicht nur ungefähr, sondern auf Grad und Minute genau. Daraus ergab sich die charakteristische Verdrehung im Gebäudegrundriss: Während Boden- und Deckenplatte sich an der orthogonalen Rasterstruktur des Friedhofsgeländes orientieren, ist der Gebäudekern auf Mekka ausgerichtet.

Neutrales Innenleben

Im Innern wirkt der Bau dank seines weißen Fließestrichbodens und weißer Wände, zahlreicher Glastüren sowie der Rasterdecke aus hinterleuchtetem Milchglas mit vier zentralen Oberlichtern sehr hell und neutral, schafft aber gleichzeitig eine intime Atmosphäre. Die Neutralität des Interieurs kommt nicht von ungefähr, denn in den Niederlanden leben Menschen aus vielen verschiedenen islamischen Ländern – Türken, Marokkaner, surinamische Hindustanis, Indonesier und Molukkern –, die alle ihre eigenen Varianten des Islam pflegen, eigene Beerdigungsbräuche und eine eigene Baukultur haben. So wollten die marokkanischen Vertreter der Auftrag gebenden Stiftung z. B. einen Teppichboden im Gebetsraum haben, während die Türken strikt dagegen waren. Da es der Architekt ohnehin nicht allen hätte recht machen können, war der Weg frei für eine minimalistische Architektur, die nur abstrahierte oder allgemeingültige Elemente der islamischen Bautraditionen aufnimmt. Damit passt der Trauerpavillon einerseits in den zeitgenössischen niederländischen Architektur-Kontext, gibt sich durch seine Materialisierung und Ornamentik aber andererseits dennoch als Zuwanderer zu erkennen. Sogar in dem Olivenbäumchen, das in einem der Patios steht, manifestiert sich eine Synthese christlicher und islamischer Symbolik.

Als türkischstämmigem Niederländer der zweiten Generation war Köse aber auch daran gelegen, dass Frauen und Männer, niederländische und ausländische Gäste sich in dem Pavillon gleichermaßen willkommen fühlen und dort nicht ausschließlich streng orthodoxe muslimische Trauerfeiern abgehalten werden können. Sein Gebäude sieht er ganz unbescheiden als »Meilenstein auf dem Weg zur Integration« – und hat damit sicherlich Recht. Denn während v. a. türkische und marokkanische Einwanderer nach dem Tod bislang meist in ihr Geburtsland rücküberführt wurden, steigt seit einiger Zeit die Nachfrage auch dieser Gruppen nach Bestattungsmöglichkeiten in den Niederlanden deutlich an. Auf dem Gräberfeld neben dem Pavillon sind jedenfalls bereits zahlreiche Plätze belegt, obwohl es erst vor wenigen Monaten eröffnet wurde.

db, Mo., 2013.04.08



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db 2013|04 Trauer braucht Raum

09. Januar 2013Anneke Bokern
db

Untergraben

Der unterirdische Erweiterungsbau verbindet zwei einzelne Bestandsgebäude miteinander und schafft neuen Raum für Wechselausstellungen, tritt dabei im Stadtbild aber nur als begehbarer Dachpark in Erscheinung. Im Innern präsentiert er sich dagegen als gleißend weiße, futuristisch anmutende Raumlandschaft, mit der sich die räumliche Struktur des Museums völlig verändert hat. Scharfe Kontraste, unterschiedliche Raumwirkungen und die Bezugnahme auf den Außenraum schaffen einen erlebnisreichen Ausstellungsort.

Der unterirdische Erweiterungsbau verbindet zwei einzelne Bestandsgebäude miteinander und schafft neuen Raum für Wechselausstellungen, tritt dabei im Stadtbild aber nur als begehbarer Dachpark in Erscheinung. Im Innern präsentiert er sich dagegen als gleißend weiße, futuristisch anmutende Raumlandschaft, mit der sich die räumliche Struktur des Museums völlig verändert hat. Scharfe Kontraste, unterschiedliche Raumwirkungen und die Bezugnahme auf den Außenraum schaffen einen erlebnisreichen Ausstellungsort.

Assen ist die Hauptstadt von Drenthe, einer ländlichen Provinz im Nordosten der Niederlande. Im Zentrum des verschlafenen, nur 67 000 Einwohner zählenden Städtchens befindet sich ein historischer Gebäudekomplex, zu dem u. a. ein altes Zisterzienserkloster gehört und der heute das Drents Archief sowie das Drents Museum beherbergt. Seit Kurzem markiert ein kapselartiger, weißer Pavillon zwischen den alten Gemäuern den Eingang des unlängst von ZECC Architecten umgebauten Provinzarchivs. Dass auch das benachbarte Drents Museum gerade umgebaut und erweitert wurde, bemerkt man dagegen erst auf den zweiten Blick.

Dabei handelt es sich eigentlich um einen viel drastischeren Eingriff, denn das Museum hat 2 000 m² zusätzliche Ausstellungsfläche sowie eine völlig neue Raumstruktur erhalten. Umstrukturierung und Erweiterung haben hauptsächlich unterirdisch stattgefunden und treten im historischen Stadtbild lediglich als parkähnliche, begrünte Wellenlandschaft des Dachs in Erscheinung.

Vom Kutscherhaus zur Leuchtboje

Das Drents Museum wurde 1885 gegründet und besitzt eine Sammlung mit Kunst und Kunsthandwerk aus den nördlichen Niederlanden, v. a. aber zahlreiche prähistorische Artefakte aus der Provinz Drenthe, darunter die berühmte Moorleiche des »Mädchens von Yde«. Seine Räumlichkeiten im ehemaligen Provinzverwaltungsamt am Westende des alten Klosterkomplexes waren für die aktuellen Besucherzahlen zu klein geworden. Zum Wettbewerb für Umbau und Erweiterung waren 2007 fünf internationale Architekturbüros geladen worden. Erick van Egeraats Vorschlag zur radikalen inneren Umstrukturierung und unterirdischen Erweiterung des Museums brachte ihm den Gewinn ein.

Den Haupteingang hat er vom Provinzverwaltungsamt in das benachbarte Kutscherhaus verlegt. 1781 erbaut, ist es das älteste Gebäude des Museumskomplexes – und scheint nun, dank eines neuen Glassockels, einen Meter über dem Erdboden zu schweben. So subtil der Eingriff auf Außenstehende wirken mag, hat er bei den Denkmalschützern doch für einige Aufregung gesorgt: V. a. der niederländische Reichsdienst für Archäologie, Kulturlandschaft und Denkmäler protestierte lautstark, denn auf der gegenüberliegenden Platzseite steht ein sehr ähnliches, zur selben Zeit entstandenes Gebäude. Der historische Zusammenhang gehe durch die Aufständerung verloren, argumentierte der Reichsdienst – konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen. Nun leuchtet nachts das Licht von innen durch den Glassockel und macht das Haus, wie Erick van Egeraat formuliert, zur »Leuchtboje«. Bei Tag wird die eigentliche Funktion des Sockels deutlich: Durch das Glasband kann das Tageslicht bis in die neue Unterwelt des Museums fallen. Diese befindet sich direkt unter dem Kutscherhaus, das während der Bauzeit mit einigem Aufwand um 24 m verschoben werden musste.

Düstere Oberwelt, lichtdurchflutete Unterwelt

Man betritt das Museum durch das Kutscherhaus, das trotz zweier großer neuer Fenster, welche frühere Holztore ersetzen, ein ziemlich düsteres Gemäuer ist. Schwarz gestrichene Wände und die Dachkonstruktion aus schweren Holzbalken dominieren den spärlich beleuchteten Raum, in dem – gleichsam als Vorbote des kommenden Raumerlebnisses – nur ein dramatisch von unten beleuchteter weißer Ticketschalter thront. Die Besucher steigen eine ebenfalls weiße Marmorwendeltreppe hinab in die Unterwelt. Und siehe da: Auf einmal findet man sich in einer gleißend weißen, lichtdurchfluteten Halle wieder.

In einer Umkehrung jeglicher Erwartungshaltung stellt der Architekt dem finsteren historischen Eingangsbau eine strahlend helle, futuristisch anmutende Unterwelt gegenüber. Das verfehlt seine Wirkung nicht: Der Besucher wird geradezu wachgerüttelt.

Die unterirdische Halle dient als Verteilerraum inklusive Museumsshop und Garderobe. Vom Boden über die Wände, Möbel und Treppen ist rundum alles weiß, mit zwei Aufzugschächten aus Chrom und Glas als einziger Ausnahme. Ganz so klinisch rein wie auf den Architekturfotos sieht das in Wirklichkeit nicht aus, denn das quietschbunte Warenangebot des Museumsshops bringt Farbe ins Bild. Die Schmutzstreifen, die schon jetzt an einigen Stellen zu sehen sind, fallen angesichts der blendenden Weiße noch nicht ins Gewicht. Ob das aber auch in Zukunft so bleiben wird?

Dass es sich um einen Entwurf des Maximalisten Erick van Egeraat handelt, bezeugen nur vier tordierte Säulen, die das Kutscherhaus tragen, sowie die ebenfalls skulptural verdrehte Wendeltreppe, deren Formensprache ein wenig an Erich Mendelsohn denken lässt. Eine zweite, baugleiche Wendeltreppe am Nordende der Halle führt in den Altbau des Museums, in dem die Sammlung untergebracht ist. Erklimmt man sie, wird man plötzlich wieder in die Vergangenheit versetzt, denn der Altbau birgt ein düsteres Labyrinth aus historischen Sälen mit üppig verzierten Wänden und dunklen Holzböden. Die in schummrigem Licht ausgestellten Moorleichen jagen einem unweigerlich Schauer über den Rücken. ›

Organisch gestaffelte Dachlandschaft

Dann geht es wieder die Wendeltreppe hinab, zurück in die etwas überdimensionierte weiße Weite der Halle. An ihrem gegenüberliegenden Ende befindet sich der Zugang zum 1 000 m² großen neuen Saal, der für Wechselausstellungen konzipiert wurde. Seine bogenförmigen, versetzt angeordneten Dachsegmente haben verglaste Seiten, sodass viel Licht in den 6-8 m hohen Raum fällt, das mittels eingebauter Jalousien reguliert werden kann. Die nötigen Leuchten sind, wie alle Installationen, in schlitzförmige Kanäle in der Decke integriert.

Mit seiner unverstellten Weite ist der Saal ein Gegenbild zu den verwinkelten Räumen und Gängen im historischen Teil des Museums und bietet Gelegenheit für Ausstellungen mit großformatigen Werken. Für die meterhohen Gemälde des sowjetischen Realismus', die dort zurzeit zu sehen sind, bildet er einen sehr passenden Rahmen. Ein »White Cube« im klassischen Sinne ist er jedoch trotz aller Weiße nicht, denn die expressiven Wellenformen des Dachs sind sehr präsent und alles andere als neutral. Auch die Stadt ist auf unerwartete Weise im Saal präsent, denn an seinem Südende führt eine Treppe auf eine Empore mit Glasfront, durch die man auf einen kleinen, in weißen Marmor gefassten Teich und die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite blickt – und in die Realität zurückgeholt wird.

Der Teich ist Teil der Außengestaltung des neuen Gebäudeflügels, den eine organisch gestaffelte, begrünte Dachlandschaft bedeckt. Sie ist an die Stelle eines früheren Parkplatzes getreten und soll den Architekten zufolge eine Verbindung zwischen einem kleinen Park im Westen und dem Gelände eines alten Landguts im Osten des Museumskomplexes schaffen. Da der Garten jedoch eingezäunt und nur während der Museumsöffnungszeiten zugänglich ist, will er sich in der Praxis nicht so recht in den grünen Korridor eingliedern. Ohnehin präsentiert er sich weniger als Park denn als etwas eigenartige Mischung aus begrüntem Dach und Kräutergarten. Die Hügellandschaft ist mit niedrigen Bodendeckern, Gräsern und Kräutern in Streifen bepflanzt und auf Pfaden begehbar. Durch die Fenster unter den wuchtigen Holz-Dachbalken kann man auch den einen oder anderen Blick in den großen Museumssaal werfen.

Mit der Streifenbegrünung und der aufwendigen Gestaltung der hölzernen Balken und Fensterpfosten trägt die Dachlandschaft viel deutlicher die Handschrift Erick van Egeraats als das Museumsinterieur. Dort wollte er der Üppigkeit der historischen Museumssäle offenbar ganz bewusst eine minimalistische neue Unterwelt gegenüberstellen. In der Tat könnte der Kontrast kaum größer sein: Der Besucher wird in ein Wechselbad der Raumeindrücke getaucht: von der geheimnisvollen Düsternis des Kutscherhauses bis zur lichtdurchfluteten, blendenden Weiße der Halle und des neuen Saals. Bei aller räumlichen Theatralik könnten die Exponate beim Museumsbesuch schnell zur Nebensache werden, aber zumindest die großformatigen, pompösen Gemälde des sozialistischen Realismus' können sich gut behaupten. Ob das auch für leisere Kunstwerke gilt, muss der nächste Besuch zeigen.

db, Mi., 2013.01.09



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db 2013|01-02 Präsentieren inszenieren

29. September 2012Anneke Bokern
Der Standard

Eine Badewanne fällt ins Wasser

Das Stedelijk Museum in Amsterdam öffnet nach acht Jahren wieder seine Pforten. Kann es an seine besten früheren Zeiten anschließen?

Das Stedelijk Museum in Amsterdam öffnet nach acht Jahren wieder seine Pforten. Kann es an seine besten früheren Zeiten anschließen?

Acht Jahre lang war das Stedelijk Museum in Amsterdam geschlossen. Am vergangenen Wochenende hat das Gebäude, das einst als eines der bedeutendsten Museen für moderne Kunst in Europa galt, wieder geöffnet. Der auffällige Erweiterungsbau von Benthem Crouwel Architects ist im Volksmund schon als „Badewanne“ bekannt. Zwar ist das wuchtige Gebilde mit weißer Hochglanzhaut, das der Rückseite des Altbaus plakativ entwächst, umstritten, aber in der Grachtenstadt freut man sich vor allem darüber, dass das Museum endlich wieder funktionstüchtig ist.

Das 1895 eröffnete „Städtische Museum“ - so die wörtliche Übersetzung - besitzt eine umfangreiche Sammlung moderner Kunst von den Impressionisten über die Nachkriegsmoderne bis hin zur Gegenwart. Berühmt ist es vor allem für seine Malewitsch-Sammlung sowie für seine großen Videokunstbestände, aber auch für Werke niederländischer Künstlergruppen wie De Stijl und CoBrA.

Allein, nachdem es in den 1970ern und 1980ern eines der angesagtesten Museen Europas war, verlor es dann zusehends den Anschluss an aktuelle Entwicklungen. Immer lauter wurden die Stimmen, die dem damaligen Direktor Rudi Fuchs eine allzu eigenwillige, wenig zeitgemäße Sammlungs- und Ausstellungspolitik vorwarfen. Gleichzeitig entspann sich eine kulturpolitische Posse um die Erweiterung des Museumsbaus, die erst jetzt ihr Ende gefunden hat.

Schon die letzten 20 Jahre hatte sich der Stammsitz des Museums als zu klein und vor allem als höchst renovierungsbedürftig erwiesen. 1992 wurde daher der US-Architekt Robert Venturi mit einem Erweiterungsentwurf beauftragt. Doch als der erste Gründungspfahl in den sandigen Amsterdamer Boden gerammt war, befand man den Entwurf plötzlich für viel zu teuer. Fuchs bestellte einen kostengünstigeren Entwurf beim portugiesischen Meister der feinen Klinge, Álvaro Siza. Dieser entwarf einen Komplex aus minimalistischen weißen Kuben, die um mehrere Patios organisiert und über zwei gläserne Gänge mit dem Altbau verbunden werden sollten. Auch für diese Version fehlte das Geld. In den folgenden Jahren wartete Fuchs mit immer neuen, fruchtlosen Vorschlägen zur Finanzierung auf, bis der Stadtrat den Plan Ende 2002 endgültig vom Tisch fegte. Woraufhin der Direktor seinen Job schließlich an den Nagel hängte. Ein Jahr später musste der Altbau von heute auf morgen aus feuerpolizeilichen Gründen geschlossen werden - und hier beginnt die Geschichte um das aktuelle Haus: 2004 wurde ein Wettbewerb für die Renovierung und Erweiterung des Altbaus ausgeschrieben, aus dem Benthem Crouwel Architects mit der weißen Badewanne als Gewinner hervorgingen. Es war das mit Abstand gewagteste Projekte unter allen eingereichten Beiträgen.

Lange Seifenoper

Doch damit war die Seifenoper noch lange nicht vorbei. Aufgrund technischer Probleme und durch den Bankrott eines Generalunternehmers verzögerte sich der Bau um weitere vier Jahre. 2008 hätte er fertig sein sollen. Stattdessen musste das Museum sein temporäres Unterkommen verlassen und verschwand vier Jahre lang völlig aus dem Stadtbild. Letztendlich hat das gesamte Projekt 127 Millionen Euro gekostet - 37 Millionen mehr als geplant. Man kann sich vorstellen, was für ein Seufzer der Erleichterung durch die Amsterdamer Kunstwelt ging, als das Stedelijk Museum letzte Woche endlich wiedereröffnet wurde. Dass nun ein überdimensionales Badezimmermöbel am ehrwürdigen Museumplein steht oder eher schwebt, scheint da fast zweitrangig. An den backsteinernen Altbau schließt auf Höhe der Dachlinie ein vierzig Meter tiefes Kragdach an und stülpt sich zu einem schüsselförmigen Volumen aus. Die Verkleidung besteht aus Komposit-Paneelen, die aus einem Kunststoffharz und der Synthetikfaser Twaron gefertigt wurden. Ein weißes Hochglanz-Coating sorgt dafür, dass die Fassade beinahe glitschig glatt wirkt.

Der Raum darunter ist völlig verglast und dient als neues Foyer, das in die davorgelegene „Piazza“ übergeht. Ob Letztere diese Bezeichnung verdient? Bisher ist sie vor allem ein zugiger Restraum zwischen Museum, Warenaufzugsschacht und wenig attraktiver Supermarkt-Rückseite. Bemerkenswert allerdings, dass das Stedelijk damit seinen Haupteingang von der Straßenseite an den Museumplein verlegt hat. Das benachbarte Van Gogh Museum weist der grünen Museumsmeile noch immer den Rücken.

Vom Foyer aus betrachtet ist der Neubau deutlich als separates Gebäude erkennbar. Der Altbau wird nur an wenigen Stellen berührt. Im Untergeschoß, das sich bis unter den Vorplatz erstreckt, liegen ein großer Ausstellungssaal, die Bibliothek sowie ein Infozentrum. Von dort führt eine lange Rolltreppe direkt ins Obergeschoß, wo sich ein weiterer Ausstellungssaal befindet. Im Foyer tritt der Rolltreppen-Schacht als rätselhafte gelbe Röhre in Erscheinung. Etwas ungelenk durchkreuzt sie den Raum.

Auch sonst ist das Foyer nicht gerade die Schokoladenseite des Gebäudes, verströmt es doch aufgrund der kühlen Farb- und Materialwahl weniger Museumsflair als kühle Flughafenatmosphäre. Benthem Crouwel Architects sind vor allem als Entwerfer mehrerer Bahnhöfe und des Flughafens Schiphol bekannt. Fragt man jedoch Chefarchitekt Mels Crouwel, so ist das Foyer das Herzstück des neuen Entwurfs: „Wir wollten eigentlich vor allem einen großen Eingang mit einem Kragdach und einer besonderen Materialisierung gestalten. Man könnte beinahe übersehen, dass auch noch neue Museumssäle hinzugekommen sind.“ Dabei scheint die Gestaltung dieser Säle in ihrer Einfachheit viel gelungener. Sowohl im Alt- als auch im Neubau wurden die Räume mit weißen Wänden und Eichenholzboden versehen. Während der Übergang von Alt zu Neu von außen penetrant ins Auge springt, ist beim Ausstellungsbesuch kaum etwas zu merken. Eines muss man dem neuen Stedelijk Museum lassen: Als White Cube taugt es durchaus. Zur Eröffnung präsentiert Ann Goldstein, seit 2010 Direktorin des Museums, in den vergleichsweise kleinen Sälen des Altbaus die Sammlung in chronologischer Form, während in den 3400 Quadratmeter großen neuen Ausstellungsräumlichkeiten jeweils eine Ausstellung mit Werken zeitgenössischer Künstler zu sehen ist.

Ob es selbst ein Werk zeitgenössischen Könnens ist? Mitnichten. Im Gegensatz zum neuen, ebenfalls ikonenhaften EYE Film Institute des Wiener Büros Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) in Amsterdam-Noord, mit dem das Stedelijk oft verglichen wird, fehlt der Badewanne ihre skulpturale Eleganz. Es bleibt beim plumpen Behältnis. Die Amsterdamer indes scheinen fürs Erste heilfroh. Sie haben ihr Stedelijk zurück - und damit auch ihre Malewitschs, De Koonings und Karel Appels. Ob das in Haus dank Ann Goldstein wieder in die internationale Weltklasse gelangt, bleibt abzuwarten.

Der Standard, Sa., 2012.09.29



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Stedelijk Museum

01. Februar 2012Anneke Bokern
db

Zwischen den Bäumen

Auf den ersten Blick erscheint das Rehazentrum Groot Klimmendaal als recht behäbige Maschine. Innen herrscht jedoch dank geschickt platzierter Lufträume, farbiger Lichtkuppeln, großer Fensterflächen und schöner Materialien alles andere als Krankenhausatmosphäre. Ein Gang durchs Foyer ähnelt gar einem Waldspaziergang hinter Glas.

Auf den ersten Blick erscheint das Rehazentrum Groot Klimmendaal als recht behäbige Maschine. Innen herrscht jedoch dank geschickt platzierter Lufträume, farbiger Lichtkuppeln, großer Fensterflächen und schöner Materialien alles andere als Krankenhausatmosphäre. Ein Gang durchs Foyer ähnelt gar einem Waldspaziergang hinter Glas.

Finalist beim Mies van der Rohe Preis für Europäische Architektur, Gebäude des Jahres des BNA (Bund Niederländischer Architekten), Publikumspreisgewinner bei den Dutch Design Awards, Gewinner des Hedy d'Ancona Preis für Gesundheitsbauten, Architekturpreis der Stadt Arnheim. Die Liste der Preise und Nominierungen, die das Rehabilitationszentrum Groot Klimmendaal erhalten hat, ist fast so lang wie das Gebäude selbst. Und das will etwas heißen, denn der Bau, der am Stadtrand von Arnheim im Wald thront, misst stattliche 120 m. Ob er all diese Lorbeeren verdient? An lyrischen Beschreibungen mangelt es in den Juryurteilen jedenfalls nicht. Der BNA sprach von »Poesie im Wald«, und auch die Architekten selber formulieren, ihr Gebäude stehe »wie ein stilles Reh« zwischen 100 Jahre alten Buchen.

Vor Ort stellt sich zunächst heraus, dass der Vergleich mit dem zierlichen Tier etwas fehl am Platze ist, denn in Wirklichkeit ähnelt das Bauwerk eher einem wuchtigen Raumschiff, das im Wald notgelandet ist. In prekärer Balance hockt der Riese am Rand eines Abhangs zwischen den Bäumen und wirkt, als könne man ihn mit einem Fingerschnips herunterschubsen. Die Umgebung des Baus betont seine Ausmaße noch, denn um ihn herum sind zahlreiche niedrige, pavillonartige Gebäude aus den 60er Jahren im Wald verteilt. Sie alle beherbergen gemeinsam das Rehabilitationszentrum Groot Klimmendaal, in dem jährlich 3 400 Patienten behandelt werden, die einen Unfall oder eine schwere Krankheit hinter sich haben. Groot Klimmendaal deckt alle Bereiche der medizinischen Rehabilitation ab, ist dabei aber besonders auf die Behandlung von Kindern sowie auf den Bereich der Beatmungsunterstützung spezialisiert. Wie in den Niederlanden üblich, findet die Rehabilitation vorwiegend ambulant und nur in Ausnahmefällen stationär statt. Im Großen und Ganzen ist das niederländische Rehasystem dem deutschen recht ähnlich. Einziger Unterschied ist, dass alle Maßnahmen von einem speziellen Reha-Arzt koordiniert werden, der die Behandlungen verordnet und das Behandlungsteam aus Ärzten, Psychologen, Physio-, Ergo- und anderen Therapeuten leitet.

Koen van Velsen hat nicht nur das neue Hauptgebäude von Groot Klimmendaal entworfen, sondern auch einen Masterplan für das gesamte 9,4 ha große Waldgelände entwickelt, das er selbst als »Gesundheitsgewerbegebiet« bezeichnet. Ziel dieses Plans ist es, den Buchenwald auf Dauer zu entrümpeln. Dafür sollen die vielen kleinen Gebäude nach und nach abgerissen und ihre Funktionen in drei Großbauten zusammengeführt werden.

Das neue Hauptgebäude wurde als erstes realisiert, ein Schul- und ein Wohnungsbau sollen noch folgen. Einfach war der Weg zum Neubau jedoch nicht, denn vom ersten Entwurf bis zur Fertigstellung vergingen 13 Jahre. Das liegt einerseits an der Herangehensweise von Koen van Velsen, der dafür bekannt ist, dass er sich nicht mit Details aus dem Katalog zufrieden gibt, andererseits aber auch an Budgetproblemen. So sollte das Gebäude anfänglich eine Spiegelfassade erhalten, die es völlig im Buchenwald hätte verschwinden lassen. Sie erwies sich als zu teuer, sodass der Bau nun mit Trapezblechen aus braun anodisiertem Aluminium bekleidet ist, die zumindest im Winter ebenfalls einen gewissen Camouflage-Effekt erzeugen.

Umgekehrte Stufenpyramide

Angesichts seiner BGF von fast 14 000 m² hat das Gebäude eine verhältnismäßig kleine Grundfläche, aus der sich das Volumen als umgekehrte Stufenpyramide erhebt. Der Haupteingang befindet sich unter einer gewaltigen Auskragung auf der Nordseite. Von dort betritt man ein lichtes, doppelgeschossiges Foyer, dessen Glasfassade einen großartigen Ausblick auf den Wald bietet. Das Foyer legt sich um einen Kern, in dem mit Sporthalle, Schwimmbad und Theater die halböffentlichen Funktionen des Rehazentrums untergebracht sind. Diese werden nicht nur von Patienten, sondern auch von Anwohnern und Schulen aus der Umgebung genutzt.

Die weiteren Funktionsbereiche von Groot Klimmendaal sind nach einem denkbar einfachen Prinzip über die nach oben immer größer werdenden Geschosse verteilt: Büros und Technikräume befinden sich im zur Hälfte in den Hügel gesteckten UG, Behandlungs- und Sprechzimmer im 2. OG. Während die Sprechzimmer entlang der Fassaden angeordnet sind, sind die Übungsräume im Gebäudeinnern untergebracht. Im 3. OG scharen sich 60 Krankenzimmer für stationäre Patienten um vier Lichthöfe. Auf dem Dach des Gebäudes wartet noch eine Überraschung, denn dort befindet sich ein erst nachträglich ins Programm aufgenommenes, sogenanntes Ronald McDonald Haus mit einem separaten Zugang, der quer über das Dach führt. Die McDonald’s Kinderhilfe Stiftung baut und betreibt Ronald McDonald Häuser in der Nähe von Kliniken, damit die Familien kranker Kinder während der Behandlung dort wohnen können.

Spazierroute durchs Gebäude

Was Groot Klimmendaal auszeichnet, ist nicht so sehr die Anordnung der Funktionsbereiche, sondern eher die Gestaltung der Verkehrsflächen und Resträume. Vier Lichthöfe, die teils mit roten, grünen und gelben Lichtkuppeln überdeckt sind, schaffen Blickbeziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen und lassen Tageslicht bis ins Innerste des Gebäudes fallen. Stellenweise befinden sich in den Wänden der Räume, die an die Lichthöfe grenzen, zusätzliche Fenster, die Ein- und Ausblicke ermöglichen. Dadurch gibt es im gesamten Gebäude kaum einen Raum ohne Kontakt zur Außenwelt; der Bau wirkt, im Gegensatz zu seiner behäbigen äußeren Erscheinung, im Innern licht, luftig und transparent. Dank der großen Fensterfronten dringt der Wald auf allen Geschossen beinahe in das Gebäude ein. Am wörtlichsten geschieht das im Restaurant, das am Südende des Foyers liegt und dessen über dem Abgrund auskragende Sitzecken rundum verglast und mit dem Wald verzahnt sind. Wie im gesamten EG sind hinter der Glasfassade die Stahlträger der Fachwerkkonstruktion sichtbar, die die 30 m breite und 16 m tiefe Auskragung ermöglicht. Die sonstige Konstruktion des Gebäudes besteht aus Hohldielendecken in Kombination mit Betonstützen und Stahlträgern; zwei Betonkerne sorgen für Stabilität.

Eine schlitzartig schmale Holztreppe durchschneidet das Gebäude diagonal vom untersten bis ins oberste Geschoss und soll die Angestellten zum Treppensteigen zwischen den Abteilungen ermuntern. Auch sonst will der Bau Bewegung stimulieren: Sämtliche Korridore sind breiter als gewöhnlich und dienen, wie Abstandsmarkierungen auf dem Boden belegen, als Ort für Geh- und Radfahrübungen. Ermöglicht wird dies u. a. dadurch, dass es keine Sackgassen gibt, sondern die Flure als endlose Spazierroute durchs Gebäude führen.

Umso erstaunlicher scheint, dass das Interieur ganz ohne Rammschutz und »Krankenhaustapeten« auskommt. Stattdessen ist es mit weißem Fließestrich, weiß verputzten Wänden sowie einer Edelstahl-Systemdecke ausgestattet, in die alle notwendigen Installationen integriert sind. In Kombination mit den knalligen Farbakzenten der Lichtkuppeln entsteht eine freundliche, ganz und gar nicht krankenhaushafte Atmosphäre. Einziges etwas megalomanes Element scheint die gigantische Auskragung am Eingang zu sein. Sie hat jedoch durchaus eine Daseinsberechtigung, denn an dieser Stelle soll in Zukunft einer der beiden anderen Neubauten andocken – wobei Groot Klimmendaal für dessen Realisierung momentan das Geld fehlt. Aufgrund veränderter Förderstrukturen und der krisenbedingten Zurückhaltung der Banken liegt die zweite Phase des Masterplans bis auf Weiteres auf Eis. Bis dahin können sich die Rehapatienten schon einmal an einem Gebäude erfreuen, das man ohne Übertreibung als zeitgenössische Version legendärer Sanatoriumsbauten der klassischen Moderne wie W. M. Duikers Zonnestraal bezeichnen kann.

db, Mi., 2012.02.01



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db 2012|02 Gesundheit

17. Januar 2012Anneke Bokern
db

Mitgedacht

Auf dem Steigereiland, einer Insel des neuen Archipel-Stadtteils IJburg in Amsterdam, steht ein auffällig weißer Wohnblock an der Hauptstraße. Hinter seiner kühlen Fliesenfassade verbirgt sich eine typisch niederländische Verbindung von sozialen Ansprüchen und kommerziellen Interessen; bei der Gestaltung der 71 sozialen Mietwohnungen durften die Bewohner mitreden.

Auf dem Steigereiland, einer Insel des neuen Archipel-Stadtteils IJburg in Amsterdam, steht ein auffällig weißer Wohnblock an der Hauptstraße. Hinter seiner kühlen Fliesenfassade verbirgt sich eine typisch niederländische Verbindung von sozialen Ansprüchen und kommerziellen Interessen; bei der Gestaltung der 71 sozialen Mietwohnungen durften die Bewohner mitreden.

Die Niederlande waren stets als Land des seriellen Wohnungsbaus bekannt. Groß angelegte staatliche Wohnungsbauprogramme, ein standardisierter Bauprozess und die nahezu ausschließliche Vergabe von Bauland an Wohnungsbaugesellschaften und Projektentwickler, nicht aber an private Bauherren, haben die legendären Neubauviertel auf den Poldern hervorgebracht, in denen jedes Reihenhaus dem anderen gleicht. Lange waren die Niederländer damit zufrieden und protestierten weder gegen ewig gleiche Wohnungstypen noch gegen fehlenden Wiedererkennungswert. Erst im letzten Jahrzehnt ist der Wunsch nach mehr Individualität im Wohnungsbau laut geworden. Den Auftakt bildete die »Scheepstimmermanstraat« im östlichen Hafengebiet von Amsterdam, wo Privatleute Ende der 90er Jahre erstmals Baugrund erwerben und ein Reihenhaus nach Wunsch errichten konnten. Das Beispiel hat Schule gemacht, und v. a. im höheren Preissegment gibt es nun immer mehr private Bauherren und Baugruppen. Im Bereich der sozialen Mietwohnungen ist man gerade dabei, Erfahrungen mit Bewohnerpartizipation sammeln.

Trend zur Individualisierung

Auf dem Steigereiland, der westlichsten Insel des künstlichen Archipels IJburg, finden sich zahlreiche Beispiele für den Trend zur Individualisierung. Als städtebauliches Experimentierfeld ausgewiesen, ist die Insel durchsetzt mit individuellen Reihenhäusern, frei stehenden und sogar schwimmenden Wohnhäusern (s. db 10/2010, S. 18-25) privater Bauherren sowie Baugruppenprojekten aller Größenordnungen. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig verwunderlich, dass auch der bislang einzige soziale Wohnblock auf dem Steigereiland auf einem Individualisierungsexperiment basiert. Block 128 beherbergt 71 soziale Mietwohnungen, die aus einem Partizipationsprozess hervorgegangen sind.

Er ist der südlichste von drei U-förmigen Wohnblöcken an der Haupterschließungsachse von IJburg und umarmt, wie seine Nachbarbauten, einen, allerdings nur zweiseitig umschlossenen Innenhof, in dem einige Wohnhäuser privater Bauherren stehen. Im Osten grenzt er an die Hauptstraße, im Norden an den vorgelagerten Pausenhof einer Grundschule und im Süden an das Ufer des IJmeers. Dort befindet sich nur ein seltsam kurzer Seitenflügel, der wie amputiert wirkt, denn auf der anschließenden Brache sollten ursprünglich als Teil des Projekts zehn Eigentumsreihenhäuser am Wasser entstehen, die jedoch vorerst einmal der Wirtschaftskrise zum Opfer gefallen sind.

Das Bild des Gebäudes wird von seiner ungewöhnlich hellen Fassade und den Balkonen mit hellgrünen Milchglasbrüstungen bestimmt. Aus der Nähe wird deutlich, dass die Fassaden mit glasierten Keramikfliesen in gebrochenem Weiß und mit hellgrauen Sprenkeln bekleidet sind. Alle quadratischen Fenster sind feststehend und haben weiße Fensterrahmen, während die öffenbaren Fenster an dunkelbraunen Rahmen zu erkennen sind. Für etwas Variation sorgen außerdem die Laubengänge auf der Hofseite des nördlichen Gebäuderiegels, wie zufällig verteilte Erker und zwei unterschiedliche Balkonformate. Exponiertheit sind die Niederländer gewohnt – ob ihre ausländischen Mitbewohner allerdings die in dichtem Abstand vor die Fassade gehängten Balkone zum Aufenthalt nutzen werden, wird sich angesichts einer doch recht steifen Brise erst noch zeigen müssen.

Eine Kuriosität findet sich auf der Nordostecke des Blocks: Dort sind große dreieckige Balkone aus dem Gebäudevolumen ausgeschnitten, weil neben dem Bau eine Hochspannungsleitung verläuft, unter der in einem 100 m breiten Sicherheitsstreifen kein Wohnraum, wohl aber Außenraum liegen darf.

Partizipation und Stadterneuerung

Insgesamt macht der Block aufgrund seiner Materialisierung einen recht kühlen Eindruck, und von den unvermeidlichen Parkplätzen im Hof wird einem auch nicht gerade warm ums Herz. Doch dafür ist er klar strukturiert und wirkt im Innern dank der großen Fenster, von denen einige auch die Treppenhäuser mit reichlich Licht versorgen, erstaunlich hell und großzügig. Die Bewohner sind ohnehin glücklich über ihre neuen Wohnungen, denn sie sind größtenteils aus schlecht gedämmten, hellhörigen, heruntergekommenen Nachkriegsbauten in einem Stadterneuerungsgebiet hier herübergezogen.

Hier ist auch der Grund dafür zu suchen, dass Partizipationsmodelle im Sozialen Wohnungsbau in den Niederlanden derzeit immer häufiger von sich reden machen. Im Südosten und im Westen Amsterdams sind große Stadterneuerungsprojekte im Gange, in deren Rahmen Nachkriegsbauten mit sozialen Mietwohnungen generalsaniert oder abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden, um mehr Variation ins Wohnungsangebot zu bringen und finanzkräftigere Bewohner in die Problemviertel zu locken. Wohin aber soll man die bisherigen Mieter umsiedeln, und wie bewegt man sie überhaupt zum Auszug? Im konkreten Fall handelte es sich um einen Komplex mit 312 Sozialwohnungen aus den 50er Jahren im Stadtteil Geuzenveld, die generalsaniert und z. T. zusammengelegt werden sollen. Nach der Renovierung wird die Hälfte der Einheiten als Eigentumswohnungen auf den Markt gebracht, und nur ein Drittel wird noch als Sozialwohnung vermietet. Folglich mussten möglichst viele bisherige Mieter weg. Als Anreiz bot man ihnen die Möglichkeit, den Entwurf ihres neuen Wohnblocks und ihrer Wohnungen zu beeinflussen.

Waschküche statt Whirlpool

Das Einbeziehen der Mieter begann bereits beim Auswahlverfahren. 15 Mieter bildeten eine Kommission, die zwischen zwei Architekturbüros wählen durfte und sich für DP6 aus Delft entschied. Zwar hatte DP6 dank eines früheren Projekts mit Wohnungen für türkische Senioren in Haarlem bereits Erfahrung mit Bewohnerpartizipation, da aber ein Großteil der Kommisionsmitglieder einen Einwanderungshintergrund hat, zog man vorsichtshalber ein Büro für interkulturelles Management hinzu, das Hilfestellung bei Kommunikationsproblemen bieten sollte. Danach wurde die Mieterkommission auf 34 Parteien erweitert, und es folgte ein erster Workshop, bei dem eruiert wurde, welche Mängel die alten Wohnungen aus Sicht der Bewohner hatten und was sie sich von ihrer neuen Wohnung wünschten. Zum Erstaunen der Architekten forderten die Mieter keine Whirlpools oder Dachterrassen, sondern äußerten realistische Wünsche, wie etwa einen separaten Raum für die Waschmaschine.

Auffällig war, dass Niederländer gerne eine offene und Ausländer lieber eine geschlossene Küche haben wollten. Die Fassade wünschte man sich hell und mit viel Glas, und im Hof wollte die Kommission lieber einen Garten mit Grillstelle als einen Spielplatz haben.

Auf Basis dieser Wünsche entwickelten die Architekten 45 Wohnungstypen. Die vorgegebenen Wohnungsgrößen von 70, 80 und 100 m² koppelten sie jeweils an ein Achsmaß und legten die Position der Leitungsschächte fest, damit die anschließende Stapelung im Block – dessen Gestalt im Masterplan festgelegt war – möglich wurde. Letztlich hatten die Bewohner Einfluss auf die Fassadengestaltung, die Einteilung ihrer Wohnungen und auf die Größe des Außenraums. Beim Abstellraum konnten sie entscheiden, ob er (wie in den Niederlanden üblich) komplett in der Wohnung oder zur Hälfte im EG des Blocks liegen sollte. Es gab jedoch auch Bewohnerwünsche, die nicht umgesetzt werden konnten, da die Wohnungen sonst nicht mehr den baurechtlichen Bestimmungen entsprochen hätten: Innerhalb der minimal dimensionierten Sozialwohnungen ist es z. B. kaum möglich, mit Zimmergrößen zu spielen.

Nach dem Vorentwurf durfte jede beteiligte Partei sich einen Wohnungstyp aussuchen und seine Lage im Gebäude bestimmen. Laut den Architekten ging das reibungslos über die Bühne; bei Streitigkeiten hätte der am längsten in Amsterdam gemeldete Bewohner die erste Wahl gehabt. Auch den Landschaftsarchitekten für die Gestaltung des Innenhofs durfte der Bewohnerausschuss zu guter Letzt noch auswählen.

Mehrere Fliegen mit einer Klappe

Dass solch ein Prozess das Gebäude deutlich teurer macht als einen gewöhnlichen Sozialen Wohnungsbau, versteht sich von selbst. Aber im Idealfall schlägt der Auftraggeber damit dennoch mehrere Fliegen mit einer Klappe: Denn einerseits verlassen die Mieter bereitwilliger ihre alten Wohnungen und andererseits entwickeln sie mehr Verantwortungsbewusstsein für ihre neue Wohnumgebung und gehen pfleglicher damit um. Dazu gehört auch, dass durch den Partizipationsprozess im Vorhinein ein Gemeinschaftsgefühl aufkommen kann, das bei anderen Neubauprojekten oft Jahre auf sich warten lässt. Auf lange Sicht ist sicher auch von Vorteil, dass durch die Partizipation eine große Bandbreite an unterschiedlichen Wohnungstypen entsteht, denn gerade in den Stadterneuerungsgebieten von Amsterdam-West ist der monotone Wohnungsvorrat eine Ursache für soziale Probleme.

Ganz zufrieden ist die Wohnungsbaugesellschaft in diesem Fall aber dennoch nicht, da nur 34 von 312 Parteien am Prozess teilhaben wollten. Der Rest ließ sich nicht dazu bewegen, von Amsterdam-West auf das Neuland am anderen Ende der Stadt umzusiedeln.

db, Di., 2012.01.17



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db 2012|01 Wohnkonzepte

07. November 2011Anneke Bokern
db

Gezielte Einschnitte

Aus einem heruntergekommenen Wohnhaus in Rotterdam-Süd haben Zecc und Rolf.fr eine bewohnbare Skulptur gemacht. Das alte Haus dient nur noch als Hülle, die von neuen Öffnungen durchstoßen wird. Auch innen ist Öffnung das Schlüsselwort: Im vollständig entkernten Haus hängt ein »Raumobjekt«, das weder Türen noch Wände noch Zimmer hat.

Aus einem heruntergekommenen Wohnhaus in Rotterdam-Süd haben Zecc und Rolf.fr eine bewohnbare Skulptur gemacht. Das alte Haus dient nur noch als Hülle, die von neuen Öffnungen durchstoßen wird. Auch innen ist Öffnung das Schlüsselwort: Im vollständig entkernten Haus hängt ein »Raumobjekt«, das weder Türen noch Wände noch Zimmer hat.

Mitten in einer ganz gewöhnlichen Straße im Rotterdamer Arbeiterviertel Katendrecht sitzt ein Fremdkörper. Eingeklemmt zwischen einer dreigeschossigen Reihenhauszeile und einem niedrigen Werkstattbau aus dem 19. Jahrhundert, wirkt das schwarzglänzende Haus mit Kunstgras-Seitenfassade wie ein Eindringling aus einer anderen Welt. Was es so befremdlich macht, ist v. a. seine Zweideutigkeit: Einerseits schließt es nahtlos an seine Nachbarbauten an, andererseits könnte es kaum andersartiger sein. Es wirkt zugleich abstrakt und vertraut, neu und alt, fehl am Platz und in seinem Kontext verankert. Die wenigen neuen Fenster, deren tiefe Stahlrahmen die alte Fassade an scheinbar willkürlichen Stellen durchstoßen, machen das Verwirrspiel noch größer.

Zwarte Parel, also »schwarze Perle« hat Bewohner Rolf Bruggink sein Domizil getauft. Er hat es in Zusammenarbeit mit dem in Utrecht ansässigen Architekturbüro Zecc entworfen, das er 2003 gemeinsam mit Marnix van der Meer gründete, aber 2007 wieder verließ, um fortan unter dem Namen Rolf.fr als Möbeldesigner zu arbeiten. Die Begründung für seinen Ausstieg aus der Architektur ist angesichts der Schwarzen Perle wenig verwunderlich: Im Baugeschäft musste Bruggink für seinen Geschmack zu viele Kompromisse eingehen. Entsprechend fern jeglichen Zugeständnisses an Konventionen oder Stereotypen hielt er sich beim Entwurf seines eigenen Arbeits- und Wohnhauses.

Von der Wasserkocherei zum Bastelhaus

Bevor Bruggink 2008 zum Besitzer des Hauses wurde, stand es über 30 Jahre lang leer. Bei Google Streetview kann man noch den Zustand vor dem Umbau sehen: Der Sockelbereich des Backsteinbaus war mit grauen Steinplatten bekleidet und sämtliche Fenster mit zusammengeklaubten Brettern mehr schlecht als recht zugenagelt. Aufgrund seines erbärmlichen Zustands und seiner Lage in einem Problemviertel von Rotterdam, das früher v. a. für Prostitution bekannt war und seither mit hohen Arbeitslosen- und Immigrantenzahlen kämpft, wurde das Haus in das »klushuizen-Programm« der Gemeinde aufgenommen. Im Rahmen dieses Programms – klushuis bedeutet soviel wie »Bastelhaus« – kauft die Stadt Rotterdam verfallene Häuser auf, um sie extrem günstig, aber unter einer Reihe von Bedingungen weiterzuverkaufen. Die neuen Eigentümer verpflichten sich, innerhalb eines Jahres 200 000 Euro in die Renovierung des Hauses zu investieren und danach drei Jahre lang selber darin zu wohnen. Ziel des Projekts ist es, den Leerstand zu bekämpfen und gleichzeitig die Gentrifizierung von Stadtvierteln zu befördern. Nachdem die ersten Versuche vor einigen Jahren erfolgreich verliefen, sind derzeit 170 solche »klushuizen« im Angebot.

Rolf Bruggink zufolge hat er die Schwarze Perle nicht nur günstig, sondern sogar umsonst von der Gemeinde bekommen. Das Haus aus dem späten 19. Jahrhundert beherbergte in den Obergeschossen einst zwei kleine Mietwohnungen und im EG eine Wasserkocherei, in der die Bewohner des Viertels, in dem es keinen Warmwasseranschluss gab, eimerweise heißes Wasser kaufen konnten. Mittlerweile war es eigentlich abrissreif, denn wie Bruggink bald feststellen musste, waren sämtliche Geschossbalken verrottet. Letzteres trug zu der Entscheidung bei, alle Geschossdecken und Trennwände zu entfernen und den so entstandenen 5 m breiten, 10 m langen und 11 m hohen Raum ganz neu einzuteilen.

Gestapelte Funktionsbereiche

Im EG des Gebäudes befindet sich nun ein 5 m hoher Atelierraum mit anschließendem Bambusgärtchen. Die eigentliche Sensation ist aber der darüber liegende Wohnbereich, in dem es keine Zimmer, Wände oder Türen im konventionellen Sinne mehr gibt. Stattdessen stapeln sich dort halboffene Funktionszonen, die zum Essen, Kochen, Arbeiten oder Schlafen dienen. Ein riesiges skulpturales Objekt, aus Holzstäben zusammengeleimt und von den obersten Deckenbalken abgehängt, bildet den Kern des Gebäudes, ist Treppe, Boden, Wand und Decke und nimmt außerdem alle Leitungen auf. In seiner Allseitigkeit wirkt es wie ein dreidimensionales, kantiges Möbiusband, zu dessen räumlicher Abstraktion das Fehlen von Treppengeländern und sonstigen Details noch beiträgt. Vom Atelier aus schraubt man sich durch die verschiedenen Lebensbereiche hindurch nach oben, bis man auf die Dachterrasse gelangt, auf der ein gläsernes Gewächshaus mit frei stehender Badewanne steht. Unterwegs öffnen sich immer wieder Lufträume, die Blickbeziehungen bieten und die Höhe des schlotartigen Raums betonen.

Die Position der neuen Fensteröffnungen bestimmten die Architekten erst, als das Interieur fertig entworfen war. Sie wurden ganz auf das neue Innenleben des Hauses abgestimmt und entsprechen deshalb nicht den alten Fensterplatzierungen. Stattdessen befindet sich das Fenster im 1. OG nun genau vor der Spüle und jenes im 2. OG vor dem Arbeitsplatz. Außen haben sie tiefe, beinahe scharfkantige Stahlrahmen, die den Akt des Durchstoßens der alten Fassade und der aus Holz nachgebildeten alten Sprossenfensterscheiben betonen. Innen hingegen liegen sie fast ohne Laibung in der Wand: Nicht einmal ein Fenstergriff stört die Detaillosigkeit, denn sie können nicht geöffnet werden. Zusätzliches Tageslicht fällt, dank der offenen Raumanordnung, von einem Oberlicht-Band hinter der Dachtraufe bis in die untere Wohnebene. Hinzu kommen die kleinen neuen, spielerisch verteilten, quadratischen Fenster in der Seitenfassade, die jedoch ebenfalls eher dem Lichteinfall als dem Ausblick dienen. Insgesamt hat das Haus deshalb einen recht introvertierten Charakter und scheint an seinem eigenen komplexen Innenleben genug zu haben, womit es die Hoffnung der Gemeinde, dass solche Bastelhäuser einen positiven Effekt auf die Umgebung haben könnten, ein wenig ad absurdum führt. Einzig die Dachterrasse sowie die unverändert gebliebenen alten Balkontüren an der Rückseite des Hauses bieten eine Aussicht – auf die Gärten im Blockinneren.

Verfremdung und Abstraktion

Wird das Bild des Hauses außen von etwas zu witzigem knallgrünen Kunstgras in Kombination mit dem glänzenden Schwarz der Hauptfassade geprägt (die, wie niederländische Grachtenhäuser im 17. Jahrhundert, mit gefärbtem Leinöl gestrichen wurde), so dominieren innen die drei Grautöne, mit denen das Raumobjekt lackiert ist. Als Kontrast dient die rechte Seitenwand, die im bröseligen Rohzustand belassen wurde, sowie die linke Seitenwand, die weiß gestrichen ist und auf der sich noch die Spuren der alten Handläufe abzeichnen. Diese Strategie der Verfremdung des Alten durch neue Eingriffe, die es ab- strahieren und gleichzeitig sichtbar lassen, haben Zecc und Rolf Bruggink natürlich nicht neu erfunden. Bemerkenswert ist bei der Schwarzen Perle jedoch, mit welcher Konsequenz das Thema durchgezogen wurde, wie sehr Innen und Außen einander bedingen, obwohl der Altbau eigentlich nur noch eine Hülle ist, und wie neuartig das Raumerlebnis ist, das daraus entsteht.

db, Mo., 2011.11.07



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db 2011|11 Öffnungen

02. März 2011Anneke Bokern
db

Tierheim in Amsterdam

Das größte Tierheim der Niederlande steht knallgrün und kurvig am Stadtrand von Amsterdam. Von außen betrachtet wirft es die Frage auf, ob ein derartiges Gebäude zu schön für seine Funktion sein kann. Von innen ist es nüchtern und funktional und überrascht mit einer ungewöhnlichen, doch gelungenen Grundrissorganisation.

Das größte Tierheim der Niederlande steht knallgrün und kurvig am Stadtrand von Amsterdam. Von außen betrachtet wirft es die Frage auf, ob ein derartiges Gebäude zu schön für seine Funktion sein kann. Von innen ist es nüchtern und funktional und überrascht mit einer ungewöhnlichen, doch gelungenen Grundrissorganisation.

Tierheime sind Stiefkinder der Architektur. Bei ihrer Gestaltung stehen meist finanzielle und funktionale Erwägungen im Vordergrund. Obendrein scheint das ungeschriebene Gesetz zu gelten, dass ihr Erscheinungsbild, entsprechend der etwas unerquicklichen Funktion, möglichst zurückhaltend sein sollte. Eine der wenigen Ausnahmen auf weiter Flur war lange die 2001 fertiggestellte »Stadt der Tiere« in Berlin von Dietrich Bangert, die aufgrund ihrer Sichtbeton-Coolness sogar als Filmset gefragt ist. So weit hat es das 2008 eröffnete Tierheim in Amsterdam von den Architekten Arons & Gelauff zwar noch nicht gebracht, aber auch dieser Bau sprengt die Konventionen seiner Gattung. Elegant schmiegt sich das Gebäude mit grün schimmernder Pixel- fassade an eine Durchgangsstraße im äußersten Westen Amsterdams.

Mit Raum für 180 Hunde und 480 Katzen ist das als private Stiftung geführte »Dierenopvangcentrum Amsterdam« das größte Tierheim der Niederlande. Daneben beherbergt der Neubau auch eine Tierpension mit dem klangvollen Namen »Pet & Breakfast«, einen Hundefriseursalon und eine Tierarztpraxis. Hervorgegangen ist das Tierheim aus der Fusion zweier kleinerer Tierasyle, von denen eins bis 2004 in einem zu kleinen und veralteten Vorgängerbau am heutigen Standort untergebracht war. Wie leider oft bei Tierheimen, handelte es sich bei diesem Standort um ein eher unglücklich zugeschnittenes Restgrundstück an der Peripherie: In einem Gewerbegebiet nahe der westlichen Stadtgrenze von Amsterdam gelegen, hat es die Form eines langgestreckten unregelmäßigen Dreiecks, das von einem kleinen Kanal und einem Deich begrenzt wird. Für ein Tierheim nach dem gängigen Kammmodell – mit einem langen Gang, an den auf beiden Seiten Zwinger und Käfige anschließen –, eignete es sich deshalb nicht.

Weniger Gefängnisatmosphäre

Aber genau dieses Modell wollten die Architekten, die vom Bauherrn direkt beauftragt wurden und bislang keine Erfahrungen mit Bauten für Tiere hatten, ohnehin umgehen, da es ihrer Meinung nach zuviel Gefängnisatmosphäre ausstrahlt. Sie drapierten das Gebäude als langes, schmales Band auf dem Grundstück; der Bau ist an manchen Stellen nur 6 m tief. Das neue Tierheim zeichnet die Grundstücksgrenze nach und umschließt zwei Innenhöfe, die als Spielflächen für die Hunde dienen. Durch das Verlegen der Baumasse an den Grundstücksrand entstanden 2 700 m² Spielfläche, umgeben von ausschließlich nach innen orientierten Zwinger- und Käfigtrakten, die gleichzeitig als Lärmschutzwand dienen. Denn obwohl die nächsten Wohnbauten in mehr als 200 m Entfernung liegen, stand Lärmschutz bei der Planung ganz oben auf der Prioritätenliste. Auf das EG mit den Hundezwingern wurde deshalb zusätzlich als Puffer ein OG gesetzt, in dem die Katzen untergebracht sind – womit die Tiere trotz ihrer räumlichen Nähe zueinander laut Aussage der Mitarbeiter erstaunlicherweise keinerlei Probleme haben.

Zwischen den beiden Höfen befindet sich an einem kleinen Platz das Eingangsgebäude mit einem lichten, doppelgeschossigen Foyer, an das im EG Rezeption, Tierarztpraxis, Lager- und Technikräume und im OG Vortragssaal, Konferenzraum, Büros, Personalraum und eine Dienstwohnung grenzen.

Aussen hui, innen anders

Nach außen präsentiert sich das Gebäude als weitgehend geschlossenes, mäanderndes grünes Band, das wie eine Burg von einem kleinen Wassergraben umgeben ist. Als Fassadenmaterial dienen verzinkte Stahlpaneele mit einer Pulverbeschichtung in zwölf verschiedenen Grüntönen. Damit wurde einerseits der Wunsch der Gemeinde nach einem Gebäude »mit grünem Charakter« mehr als wörtlich erfüllt und andererseits ein Bezug zum Gras auf dem Deich hinter dem Tierheim hergestellt. Wichtiger scheint jedoch, dass das Aussehen des Baus dank der farbenfrohen Fassade von der gängigen Vorstellung vom Tierheim als deprimierendem »Tierknast« meilenweit entfernt ist. Allzu lang müssen die meisten Tiere sowieso nicht im Tierheim ausharren, da die Durchlaufzeiten in Amsterdam recht kurz sind. Im Schnitt halten Hunde sich nur etwa einen Monat und Katzen eineinhalb Monate im Dierenopvangcentrum auf, ehe sie ein neues Herrchen oder Frauchen finden. Neuartig für die Niederlande ist, dass auch die Katzen, deren Käfige nur 60 x 60 cm groß sind, freien Zugang zu einem Gruppenzwinger für je 20 Artgenossen haben. Die Hunde sind in 3,60 m² großen Zwingern untergebracht. Das ist sogar etwas größer, als es das Gesetz verlangt, denn die minimalen Zwingergrößen liegen in den Niederlanden je nach Schulterhöhe des Hundes (bis zu 30 cm, 30-50 cm oder größer 50 cm), zwischen 2 und 3 m².

Das Gebäude wurde als Mischkonstruktion aus Betonfertigteilen und Kalksandstein-Mauerwerk errichtet. Da die Hundekäfige täglich mit einer Hochdruckspritze gereinigt werden, musste das EG aus Beton bestehen. Der darüber gelegene Katzenbereich wird dagegen nur konventionell mit Wasser gesäubert und konnte aus Kalksandstein mit einer schmutzabweisenden Epoxidharz-Dispersion errichtet werden.

Allerdings hält das Tierheim im Innern nicht ganz, was seine saftig grüne Fassade außen verspricht. Aufgrund von Budgetkürzungen sind die Innenhöfe mit den 17 Hundespielplätzen, trotz lustiger Hundeknochen-Bänke, recht karg geraten. Das finden auch die Architekten, die die Atmosphäre in den Höfen als »klinisch« bezeichnen. Ursprünglich hatten sie andere Pläne: Während nun schlichte weiße Faser- zementplatten als Bekleidung der Innenfassaden dienen, sollten dort eigentlich vertikale Paneele in verschiedenen Rosé-, Rot- und Brauntönen angebracht werden, die es hinsichtlich Farbwirkung und Knalleffekt mit der Außenfassade hätten aufnehmen können. Stattdessen wirken die blasse Innen- und die saftige Außenseite des Tierheims nun merkwürdig inkongruent. Dass obendrein die Maschendrahtzäune zwischen den Spielplätzen im Nachhinein mit grau- weißen Sichtschutzschirmen aus Kunststoff geschlossen werden mussten, weil die Hunde sich in Kläffkonzerte steigerten, wenn sie Artgenossen auf den benachbarten Spielplätzen sahen, trägt auch nicht gerade zur Raumwirkung bei.

Ein Hilton für Hunde?

Dafür ist es den Architekten gelungen, die aufwendigen Klimainstallationen, die ein Tierheim erfordert, zu verbergen. Hunde- und Katzenkäfige haben eine Fußbodenheizung und werden mechanisch ventiliert. Um die Ausbreitung von Krankheitskeimen über das Belüftungssystem zu verhindern, gibt es für je zehn Käfige eine separate Ventilationsanlage, so dass auf dem Dach des Tierheims eine ganze Batterie dieser Installationen steht, zu der sich auch noch die Klima-anlage für die restlichen Bereiche des Tierheims gesellt. Von außen sieht man das jedoch nicht, weil die Fassade ein Stück über das Dach hinausragt.

Was den Bau, den Arons & Gelauff gerne als »Hilton für Hunde« bezeichnen, zu einer Ausnahmeerscheinung unter den Tierheimen macht, ist neben seiner ungewöhnlichen räumlichen Organisation v. a. der Mut zur Auffälligkeit. Eine Mitarbeiterin findet ihn sogar zu schön für seinen bescheidenen Zweck: Sie berichtet, dass manch ein Lieferant seine Preise erhöht, wenn er den schicken Neubau sieht.

db, Mi., 2011.03.02



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db 2011|03 Bauen für Tiere

06. Oktober 2010Anneke Bokern
db

Modul-Armada

Der auf künstlich aufgespülten Sandinseln entstehende Stadtteil IJburg bietet Raum für Experimente. Im Teilbereich Steigereiland wurde der Versuch unternommen, Sozialwohnungen und Hausboote mit Einfamilienhaus-Charakter auf kleinstem Raum zusammenzubringen. Als verbindendes Element dient ein modulares Bausystem, das einerseits flexibel ausbaubar ist und andererseits auch den weniger betuchten Bewohnern der Anlage ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln kann. Offen bleibt jedoch die Frage, inwieweit der direkte Anschluss an die Wasserwege die romantischen Erwartungen einiger Bewohner erfüllen und so manchen Nachteil der Lage mitten im See ausgleichen kann.

Der auf künstlich aufgespülten Sandinseln entstehende Stadtteil IJburg bietet Raum für Experimente. Im Teilbereich Steigereiland wurde der Versuch unternommen, Sozialwohnungen und Hausboote mit Einfamilienhaus-Charakter auf kleinstem Raum zusammenzubringen. Als verbindendes Element dient ein modulares Bausystem, das einerseits flexibel ausbaubar ist und andererseits auch den weniger betuchten Bewohnern der Anlage ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln kann. Offen bleibt jedoch die Frage, inwieweit der direkte Anschluss an die Wasserwege die romantischen Erwartungen einiger Bewohner erfüllen und so manchen Nachteil der Lage mitten im See ausgleichen kann.

Gäbe es eine Rangliste der Niederlande-Klischees, dann stünden Hausboote vermutlich ziemlich weit oben, kurz hinter Tulpen, Windmühlen und Coffeeshops. Vermutlich ist das der Grund, weshalb sich im Ausland die Legende verbreitet hat, die Niederländer lebten massenhaft in schwimmenden Häusern und seien Experten im Wasserwohnungsbau. Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Zwar gibt es in den Niederlanden durchaus eine Menge Hausboote, aber architektonisch wertvolle Exemplare sind selten. Bewusst geplante, großmaßstäbliche Wassersiedlungen gab es bislang nicht. Doch in letzter Zeit entstehen erste Pläne für schwimmende Stadtviertel, z. B. in der Blauwe Stad bei Groningen, an den Noorderplassen in Almere und im Poelpolder nahe Den Haag. Wie man sich denken kann, ist der Grund dafür u. a. der Klimawandel. Nun sind die Niederländer aber nicht so naiv, zu glauben, dass schwimmende Eigenheime im Falle eines Deichbruchs ihre Rettung wären. Abgesehen vom hohen Lifestyle-Wert solcher Projekte, geht es vielmehr um ganz praktische Fragen des Wassermanagements und der Raumplanung. Denn aufgrund der Erderwärmung müssen in den Niederlanden immer mehr Wasserreservoires und Überlaufbecken angelegt werden, während in dem dichtbesiedelten Land gleichzeitig ein Mangel an Baugrund herrscht. Die naheliegende Lösung ist somit, auf dem Wasser zu wohnen.

Wiederum einen anderen, aber nicht weniger pragmatischen Hintergrund hat die neue Waterbuurt (Wassernachbarschaft) auf dem Steigereiland. Wie alle sieben Inseln des künstlichen Archipels IJburg, das derzeit östlich von Amsterdam entsteht, wurde auch die westlichste nach dem Pfannkuchenprinzip aus mehreren Schichten Sand aufgespült. Während sich das Neuland der anderen Inseln jedoch innerhalb eines Jahres setzt und bebaubar wird, befindet sich der nördliche Teil des Steigereilands über einer Urstromrinne und hat deshalb einen schwächeren Grund mit längerer Setzungszeit. An dieser Stelle befindet sich erst in 60 m Tiefe eine tragende Lehmschicht. Konventionelle Gebäude müssten auf Pfählen gegründet werden, die dreimal so lang wie üblich wären. Obendrein läuft quer über das Steigereiland eine Stromleitung, unter der nicht gebaut werden darf, so dass sich teure Landgewinnung dort nicht lohnt. Es lag also nahe, links und rechts der Stromschneise eine Wassersiedlung anzulegen. Dicht an dicht im Teich

Das Wasserviertel verbirgt sich hinter einem fünfgeschossigen Gebäuderiegel mit Wohnungen und Geschäftsräumen, der an der Haupterschließungsachse von IJburg steht. Durch vier große Tore sind die Stege erreichbar, an denen die schwimmenden Häuser liegen. Da die Wasserfläche im Westen und Osten von einem Deich begrenzt wird und sich am nördlichen Rand der Insel noch ein Viertel mit bis zu achtgeschossigen Wohnblöcken befindet, erscheint sie eher wie ein künstlicher Teich als wie ein umfriedeter Teil des IJsselmeers. Während an den Stegen nördlich des Strommasts individuell gestaltete Wasserwohnhäuser liegen, wurde der gesamte südliche Teil vom Architekturbüro Marlies Rohmer als Wohnanlage aus einem Guss entworfen, ähnlich den berühmten VINEX-Reihenhaussiedlungen auf dem platten Land. Insgesamt 75 Wohnungen gehören zum Projektgebiet, darunter 17 Deichhäuser am Haringbuisdijk und drei schmale, hohe Pfahlhäuser, die als Wahrzeichen neben der Schleuse und zwei beweglichen Brücken stehen. Der Großteil der Wohnungen liegt jedoch auf dem Wasser. Neben 13 Einfamilien- und zwölf Doppelhäusern gibt es 18 Häuser mit jeweils drei Wohnungen, die die ersten schwimmenden Mietwohnungen in den Niederlanden sind. Noch sind allerdings nicht alle Wassergrundstücke besetzt, denn die Häuser werden in einem kleinen Betrieb im IJsselmeerstädtchen Urk gefertigt, dessen Kapazität beschränkt ist. Bis Anfang 2011 sollen die Lücken gefüllt sein.

18 Wochen dauert der Bau eines Wasserhauses im Trockendock. Danach werden die Wohnungen – z. T. bereits aneinander gekoppelt, damit sie beim Transport nicht kippen – quer über das IJsselmeer geschleppt und an ihren Standort gebracht, leicht versetzt zueinander, um eine möglichst gute Aussicht zu gewährleisten. Das Viertel ist ziemlich dicht geraten, denn der Abstand von Wand zu Wand beträgt nur 12 m. Von den inneren Stegen aus sieht man vor lauter Häusern kaum Wasser. Das liegt auch daran, dass die Stege etwas niedriger als die Eingangstüren liegen und die Häuser insgesamt drei Geschosse zählen. Im Gegensatz zu den meisten niederländischen Wasserwohnungen, deren Proportionen aus Gründen der Stabilität jenen eines Bootes gleichen, sind die Häuser von Marlies Rohmer eher kubisch und ähneln damit gewöhnlichen Wohnhäusern. Unterhaltsfreie Holzoptik

Jedes Haus ist an zwei Stahlpfählen festgemacht, wobei ein zwischen zwei Ringen angebrachter Kunststoffgleiter ermöglicht, dass es sich mit dem Wasserspiegel auf und ab bewegt. Gezeiten gibt es im IJsselmeer nicht, so dass nur mit maximal 60 cm Höhenunterschied gerechnet wurde. Dieser Wert errechnet sich aus einem Pegelunterschied von ca. 10 cm zwischen Sommer und Winter, dem Wasserstand bei extremem Dauerregen und der Differenz zwischen völlig leerem und sehr schwer beladenem Haus. Als Schwimmkörper dient eine Betonwanne, die 1,50 m tief im Wasser versinkt. Sie besteht aus doppelt bewehrtem Beton und gilt nicht nur als leckfrei und unsinkbar, sondern benötigt auch keine weitere Aussteifung, so dass ein frei einteilbares UG entsteht, das bei den Einfamilienhäusern 6,80 x 9,20 m und bei den gekoppelten Wohnungen 4,85 x 9,20 m misst. Um durch den Beton dringenden Wasserdampf abzuführen, befindet sich in der Wanne eine isolierte Vorsatzwand mit einem belüfteten Luftspalt. Der Aufbau besteht aus einer Holzskelettkonstruktion, die mit Kunststoffplatten ausgefacht und damit sehr leicht ist. Dadurch liegt der Schwerpunkt der Häuser niedrig. Zwar können sie zunächst in eine gehörige Schieflage geraten, wenn die Bewohner beim Einzug ihre Möbel aufstellen, aber das lässt sich mit nachträglich angebrachten Schwimmelementen beheben. Der Zugang zu den meisten Wohnungen liegt in der Seitenfassade, damit der Höhenunterschied zwischen Steg und Tür über eine möglichst lange, auf Rädern gelagerte Laufbrücke bequem überbrückt werden und die Hauptfassaden komplett verglast werden konnten. Nur bei den Mittelwohnungen in den Dreiergruppen befindet sich die Eingangstür in der Hauptfassade und ist über eine flexible Scherentreppe zu erreichen. Dahinter liegt bei allen Häusern das Hochparterre mit Küche und einem weiteren Zimmer. Das Wohnzimmer und die Terrasse befinden sich im auskragenden OG, Schlafzimmer und Bad liegen im UG. Um etwas Abwechslung in das Konzept zu bringen, konnten die Bewohner selbst aussuchen, in welche Richtung ihre Dachterrasse orientiert sein sollte, auch lassen sich die Häuser mit Elementen aus einem Baupaket wie Wintergarten, Ponton oder Markise erweitern. Daneben sorgen die unterschiedlichen Farben der Seitenfassaden aus Mineralfaser-Paneelen in Holzoptik für Variation. Dieses Material wählten die Architekten, ebenso wie die Kunststofffensterrahmen, weil die Fassaden komplett unterhaltsfrei sein müssen. Größere Fensterformate und schlichtere Paneele, die gar nicht erst versuchen, wie Holz auszusehen, hätten sich besser gemacht.

Zahnloser Tiger

Obwohl man es in einem Land, das Erfahrung mit Hausbooten hat, nicht erwarten würde, lagen die größten Probleme im Anschluss der Siedlung an Strom und Wasser sowie im Brandschutz. Letztlich wurden die Leitungen, inklusive einer trockenen Steigleitung, in einem Betontunnel unter die perforierten Metallstege gehängt und für jedes Haus ein Stromzähler auf dem Steg platziert. Da jeder Steg zwei Fluchtwege bieten muss, wurden die Stegenden verbreitert und in der Mitte mit einer hüfthohen Trennwand aus Glas unterteilt, hinter der die Bewohner im Brandfall kriechend flüchten sollen. Unter den Stegen befinden sich kleine Propeller, die das Wasser in Bewegung halten und verhindern sollen, dass der See umkippt. Damit die Häuser nicht irgendwann auf Schlick aufsetzen, wird außerdem alle 10 Jahre der Grund ausgebaggert, wofür die Bewohner ihre schwimmenden Terrassen zeitweise entfernen müssen. Es bedarf aber ohnehin einer gewissen Opferbereitschaft, wenn man auf dem Wasser wohnen will, denn alle Einkäufe müssen von der Garage zum Haus getragen werden, bei Umzügen kommt als Transportmittel nur ein Handwagen infrage, schwere Schränke sollten möglichst weit unten platziert, austariert und festgeschraubt sein, und von Hängelampen wird ganz abgeraten. Dafür bekommt man ein Eigenheim mit eigenem Bootsanleger und direktem Zugang zum IJsselmeer zum moderaten Preis von 2 300 Euro/m² (Durchschnitt Amsterdam: 3 600, IJburg: 3 200, Flevoland: 1 900 Euro). Marlies Rohmer findet ohnehin, dass das Wohnen auf dem Wasser nicht mit allen Mitteln den Gewohnheiten des Lebens an Land angeglichen werden muss: »Das ist, als wenn man sich einen Tiger ins Haus holt und ihm alle Zähne zieht.«

db, Mi., 2010.10.06



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db 2010|10 Auf dem Wasser

07. Oktober 2009Anneke Bokern
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Leben in der Bude

In den Niederlanden ist die Verwendung von Holz eher noch ungewöhnlich. Doch um später aufgrund möglicher Kosteneinsparungen keine Abstriche bei der Oberflächengestaltung machen zu müssen, entschieden sich die Architekten von Anfang an für ein Tragwerk, dessen Massivholz- und Hohlkastenelemente auch unbekleidet und unbehandelt eine ansprechende und angenehme Oberfläche ergeben – eine kluge, taktisch geschickte Entscheidung, die die Innenraumqualität der »Kultur-Container« einmalig macht und vielleicht auch des- wegen immer für ein volles Haus sorgt?

In den Niederlanden ist die Verwendung von Holz eher noch ungewöhnlich. Doch um später aufgrund möglicher Kosteneinsparungen keine Abstriche bei der Oberflächengestaltung machen zu müssen, entschieden sich die Architekten von Anfang an für ein Tragwerk, dessen Massivholz- und Hohlkastenelemente auch unbekleidet und unbehandelt eine ansprechende und angenehme Oberfläche ergeben – eine kluge, taktisch geschickte Entscheidung, die die Innenraumqualität der »Kultur-Container« einmalig macht und vielleicht auch des- wegen immer für ein volles Haus sorgt?

Vathorst ist ein Neubauviertel im Nordosten der niederländischen Stadt Amersfoort. Es ist Teil des VINEX-Wohnungsbauprogramms der niederländischen Regierung, das 1993 mit der »Vierde Nota Ruimtelijke Ordening Extra« (der vierten, außerordentlichen Raumplanungsnota) ins Leben gerufen wurde und in dessen Rahmen bis 2015 landesweit rund 750 000 neue Wohnungen in Großstadtnähe entstehen sollen. Inzwischen haben diese Siedlungen jedoch einen etwas zweifelhaften Ruf bekommen: Spricht man von einem »typischen Vinex-Viertel«, dann ist eine monotone und vor allem monofunktionale Reihenhaussiedlung auf dem Polder gemeint.

In diesem Sinne ist Vathorst, wo bis zum Jahr 2014 insgesamt 11 000 neue Wohnungen entstehen sollen, keine Ausnahme. Denn obwohl dort Versuche unternommen werden, etwas Variation in die Gebäudetypologien zu bringen und auch freistehende Einfamilienhäuser und städtische Wohn-blöcke zu errichten, besteht der Großteil der bisher fertig gestellten Plan- gebiete noch immer aus Reihenhäusern mit handtuchgroßen Gärtchen.

Ungewöhnlich ist in Vathorst allerdings, dass im Zentrum der halbfertigen Siedlung kein Shopping Center thront, sondern ein Kulturzentrum, das als Begegnungsort für die Bewohner gedacht ist. Auf einer großen Wiese, einem geplanten Park, steht ein Bau, der sich nicht nur durch seine Position und Funktion von der Umgebung abhebt, sondern auch durch sein Material: Er besteht aus Holz, was man in den backsteinernen Niederlanden eher selten sieht. Geht man um ihn herum, verraten die großen weißen Lettern, die über seine dunkelgrauen Holzfassaden verteilt sind, den Namen des Zentrums: »De Kamers«, zu deutsch »Die Zimmer«. Dieser Name diente als Leitmotiv für den Entwurf. Wie ein Stapel Bauklötze setzt sich das Gebäude aus mehreren kubischen Volumen zusammen, die einen Theatersaal sowie Räume für Ausstellungen, Kurse, Feiern und Konferenzen bergen.

Zwei oder drei umgebaute Container

»De Kamers« war aber keineswegs von Anfang an Teil des Masterplans von Vathorst. Statt dessen geht die Gründung des Kulturzentrums auf die Privatinitiative eines Pfarrers und eines Künstlers zurück, die beide in einem VINEX-Viertel nahe Amersfoort gewohnt und so erfahren haben, wie leblos diese Neubausiedlungen vor allem in den Anfangsjahren sein können. 2003 schlugen sie deshalb der Entwicklergemeinschaft Vathorst, zu der die Gemeinde Amersfoort und fünf kommerzielle Projektentwickler gehören, vor, ein Kulturzentrum einzurichten, das zunächst ganz bescheiden ausfallen sollte. Sie dachten nur an zwei oder drei umgebaute Baucontainer, in denen man Filme zeigen und hin und wieder ein Essen organisieren könnte. Die Entwicklergemeinschaft brachte die Initiatoren daraufhin in Kontakt mit Korteknie Stuhlmacher Architecten. Das junge Rotterdamer Büro, geleitet von der Deutschen Mechthild Stuhlmacher und dem Niederländer Rien Korteknie, wurde 2001 mit einem knallgrünen, parasitären Dachpavillon bekannt, der vollständig aus einem deutschen Massivholzprodukt gefertigt war. In den folgenden Jahren haben sie einige weitere Fertigholzbauten errichtet, darunter ein temporäres Künstleratelier bei Utrecht und ein Vereinsgebäude für einen Ruderclub in Amstelveen.

Wachsen und Schrumpfen

Zunächst lautete der Auftrag der Initiatoren an Korteknie Stuhlmacher also lediglich, ein paar vorgefertigte Baucontainer zu verschönern, damit sie als Kulturzentrum dienen könnten. Die Architekten überzeugten sie jedoch bald, dass man containerartige Räume besser selber bauen und damit ein erweiterbares Gebäude schaffen sollte. Dass dabei letztlich ein Bau mit 1 000 m² Bruttogeschossfläche und einem Budget von 1,4 Mio. Euro herauskommen würde, hätte damals noch keiner vermutet. In den ersten drei Jahren der Planungsphase wurde das Projekt ständig von Finanzproblemen gebeutelt, und auch der geplante Standort wechselte mehrmals. Je nach aktuellem Stand der Dinge wuchs und schrumpfte der Entwurf. Was jedoch von Anfang an konstant blieb, war das Baumaterial Holz, für das sich Korteknie Stuhlmacher aus einer ganzen Reihe von Gründen entschieden hatten. Zu den Vorteilen zählten zunächst einmal seine Preisgünstigkeit, Flexibilität und kurze Bauzeit. Außerdem erfordert es keine zusätzliche Bekleidung – deren Qualität in den Niederlanden oft als erste in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn das Geld knapp wird. Es hat gute akustische Eigenschaften und erzeugt eine wohn- liche Atmosphäre. Obendrein erhielt das Projekt dank des für die Niederlande neuartigen Baumaterials auch noch 60 000 Euro Subventionen vom Programm für »industrielles, flexibles und demontables Bauen« des Raumplanungsministeriums. Als dann noch eine beträchtliche Summe von privaten Spendern hinzukam, konnte der Bau endlich beginnen.

»De Kamers«

Wegen der vielfältigen Funktionen des Gebäudes sollte seine architekto- nische Form nicht programmatisch gebunden sein. Rund um ein Foyer entstand ein Ensemble aus unterschiedlich großen Kuben, in denen jeweils ein oder zwei Räume untergebracht sind: das Theater, ein Wohnzimmer, ein Esszimmer, ein Lesezimmer und ein Dachzimmer. Das Tragwerk des Gebäudes besteht, wie bereits bei den anderen Holzbauten von Korteknie Stuhlmacher, vor allem aus Massivholzelementen, die aus kreuzweise verleimten Fichtenholzplatten bestehen. Da diese jedoch nicht für große Spannweiten geeignet waren, entschieden sich die Architekten für Geschossdecken mit vorgefertigten Hohlkastenelementen aus Fichtenholz. In ihre Unterseiten sind bereits akustisch wirksame Perforationen zur Schalldämmung eingearbeitet.

Beim Betreten bemerkt man sofort die erstaunlich warme, vor allem aber nicht »billig« wirkende Ausstrahlung des Gebäudes. Auch die etwas beklemmende Sauna-Atmosphäre, die Holzbauten manchmal verströmen, kommt glücklicherweise nicht auf. Im Erdgeschoss grenzen das Theater sowie Ess- und Wohnzimmer an das doppelgeschossige Foyer. Letzteres ist der einzige Teil des Gebäudes, der nicht auf dem Holzbau- system basiert: Bis zur Höhe des ersten Geschosses besteht seine Konstruktion aus Beton und Kalksandstein, denn sonst hätten die darüber liegenden Räume aufgrund niederländischer Brandschutzbestimmungen mit einer Brandschutzverkleidung versehen werden müssen.

Das Herz des Kulturzentrums ist das Wohnzimmer, das mit einem offenen Kamin und einer umlaufenden hölzernen Sitzbank sowie beinahe geschosshohen Schiebefenstern ausgestattet ist und für Veranstaltungen aller Art genutzt werden kann. Als zusätzliche Lichtquellen dienen einfache Leuchtstoffröhren. Nebenan befindet sich das Esszimmer mit Küche, das ebenfalls zweigeschossig mit Luftraum ist. Größter Raum im Erdgeschoss ist jedoch das Theater mit 100 Sitzen. Auch hier lassen zwei große Fenster mit Schiebeläden bei Bedarf Tageslicht einfallen, und die Umkleiden, die im ersten Obergeschoss liegen, können in den Bühnenraum integriert werden. Im ersten Stock befindet sich außerdem der Zugang zur Empore des Theaters und über dem Wohnzimmer der Leseraum mit Bibliothek. Darüber liegt nur noch das doppelt hohe Dachzimmer, in dem Kurse oder Workshops abgehalten werden können.

Die einzigen Farben, die in »De Kamers« mit dem hellen Holz kontrastieren, sind das Graugrün und Blaugrau der Türen, Fensterrahmen und des Bodenbelags. In manchen Räumen wurden auch die Wände mit einer farbigen Sockelvertäfelung aus MDF-Platten vor Verschmutzung geschützt. Diese Materialisierung und Farbwahl bestimmt alle Räume des Gebäudes und verleiht ihm trotz seiner additiven Struktur eine sehr harmonische Wirkung. Nicht einmal unschöne Installationen stören die Optik, denn von Kabeln bis Feuerwehrschläuchen ist alles in vorgefertigten Nischen und Aussparungen in den Wänden untergebracht.

Obwohl die Räume dank ihrer großen Fenster sehr hell sind und selbst das Theater über eine große Schiebetür Kontakt zur Außenwelt hat, wirkt der Bau von außen betrachtet erstaunlich geschlossen. Ab einer Höhe von 2,50 m ist seine Holzkonstruktion mit einer dunkelgrauen, hitzebehandelten Fassadenschalung aus Fichtenholz bekleidet. Darunter befindet sich ein Sockel aus Faserzementplatten, die von den Nutzern des Zentrums bemalt werden dürfen und der Architektur ein verspieltes Element hinzufügen. Vor allem tragen die ungezwungen bunten Wände aber deutlich nach außen, was die Hauptaufgabe von »De Kamers« ist: etwas Leben und Spaß in die Schlafsiedlung Vathorst zu bringen.

db, Mi., 2009.10.07



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db 2009|10 Holz angemessen

29. April 2008Anneke Bokern
Neue Zürcher Zeitung

Urhütte im Glashaus

In den vergangenen Wochen wurden in Oslo zwei wichtige Kulturbauten eröffnet: das neue Opernhaus von Snøhetta und das Architekturmuseum. Dieses befindet sich in einem Altbau, den der 83-jährige norwegische Pritzker-Preis-Träger Sverre Fehn um einen Anbau erweitert hat.

In den vergangenen Wochen wurden in Oslo zwei wichtige Kulturbauten eröffnet: das neue Opernhaus von Snøhetta und das Architekturmuseum. Dieses befindet sich in einem Altbau, den der 83-jährige norwegische Pritzker-Preis-Träger Sverre Fehn um einen Anbau erweitert hat.

Oslo gilt nicht gerade als aufregende Stadt. Bei einer Umfrage des Internet-Reiseportals Tripadvisor wurde die norwegische Hauptstadt kürzlich zur drittteuersten und zweitlangweiligsten Stadt Europas gewählt. Vielleicht geht es den Norwegern einfach zu gut. Dank üppigen Ölvorkommen floriert die Wirtschaft, und die Arbeitslosenzahlen sind niedrig. Aus so etwas entstehen kaum städtische Brüche oder aufmüpfige Subkulturen, die andere Städte spannend machen. Schon gar nicht in Skandinavien. Was daraus in Oslo aber durchaus resultiert, ist eine ganze Reihe neuer Kulturbauten von bekannten Architekten – allen voran das neue Opernhaus von Snøhetta, das Anfang April eröffnet wurde und von dem man sich ganz offensichtlich einen Bilbao-Effekt erhofft. Ihm ging Anfang 2006 das Nobel Peace Center mit einem neuen Interieur des britischen Architekten David Adjaye voraus. Und als wäre das noch nicht genug, wurde nun auch noch ein neues Architekturmuseum eröffnet, mit einem Anbau nach den Plänen des norwegischen Pritzker-Preis-Trägers Sverre Fehn, dem auch die Eröffnungsausstellung gewidmet ist.

Geschenkter Gaul

Im Gegensatz zum Londoner Jungstar Adjaye ist der 1924 geborene Fehn ein Architekturveteran. Sein Pavillon, der an einen Altbau im Stadtzentrum anschliesst, nimmt sich im Vergleich zu dem von einem trendigen Innenleben geprägten Nobel Peace Center oder zur ikonenhaften Snøhetta-Oper denn auch eher zurückhaltend aus. Passanten zeigt das kleine Bauwerk die kalte Schulter in Form von mannshohen, geschlossenen Betonwänden, die als Reminiszenz an die dicken Mauern der benachbarten Burg zu verstehen sind. Sie umgeben einen Glaskubus, dessen obere Hälfte mit Sonnenschutz-Lamellen bedeckt ist, und sind nur an wenigen Stellen aufgeklappt, so dass man eine Vorahnung vom Raum dahinter bekommt. Der Zugang zum Pavillon führt durch den zweistöckigen klassizistischen Altbau, an den er anschliesst und der 1830 von Christian Heinrich Grosch für die Nationalbank errichtet wurde.

Bevor das Architekturmuseum jüngst in diesen Bau gezogen war, befand es sich in einem nicht wirklich für Ausstellungen geeigneten Haus. Schon 1997 warf deshalb Direktor Ulf Grønvold ein Auge auf das Gebäude der ehemaligen Nationalbank. «Der Architekt Grosch studierte beim grossen Klassizisten C. F. Hansen in Kopenhagen und wurde danach zu einer Vaterfigur der norwegischen Architekten», erklärt er die Bedeutung des Baus. Aus museumspolitischen Gründen dauerte es jedoch über zehn Jahre, bis das Architekturmuseum umziehen konnte. Denn 2003 wurden die Nationalgalerie, das Museum für Moderne Kunst, das Kunsthandwerksmuseum und das Architekturmuseum zum Nationalmuseum zusammengelegt, dessen einzelne Abteilungen im Laufe der Zeit in einem einzigen Gebäude untergebracht werden sollten. Grønvold beharrte jedoch auf einem eigenen Unterkommen, was die Suche nach Geldern für den Um- und Anbau seiner Wunschbehausung nicht eben erleichterte. Doch dann fand er einen privaten Geldgeber, der bereit war, einen von Sverre Fehn entworfenen Anbau an die Nationalbank zu finanzieren. Angesichts dieses «geschenkten Gauls» musste der Staat wohl oder übel mitziehen und sich bereit erklären, den Umbau des historischen Grosch-Gebäudes zu bezahlen. Der Auftrag dafür ging ebenfalls an Fehn.

Dass die Wahl auf den 83-jährigen Fehn fiel, hatte verschiedene Gründe. Einerseits gilt der vor allem mit Museumsbauten bekannt gewordene Pritzker-Preis-Träger als einer der grossen Architekten Norwegens, andererseits gab es ausgerechnet in Oslo bisher keinen Kulturbau von ihm. Aber der eigenwillige Architekt hat in seiner langen Karriere ohnehin nur etwa sechzig Projekte realisieren können. Pritzker-Preis hin oder her, Fehn ist sicher kein typischer Stararchitekt. Stattdessen hat er viel Zeit mit Unterrichten verbracht und war von 1971 bis 1995 Professor an der Architekturschule Oslo, was ihn mindestens ebenso sehr zur Vaterfigur für die heutige Generation norwegischer Architekten macht, wie Grosch es für die frühen Modernisten war.

Gesamtkunstwerk mit Baldachin

Aus dem Altbau des jetzigen Architekturmuseums hat Fehn ein skandinavisch-minimalistisches Gesamtkunstwerk gemacht. Zwar wurde das Treppenhaus, das gleich hinter dem Eingang liegt, im Auftrag des Denkmalamts eher dilettantisch restauriert, aber dafür hat Fehn die weiteren Räume sehr behutsam mit weiss verputzten Wänden, Glastüren und schlichten, selbst entworfenen Eichenholzmöbeln ausgestattet. Aufregend ist das nicht, aber konsequent. Interessanter ist der Pavillon, der sich im Inneren als viel geräumiger, heller und vor allem poetischer entpuppt, als man von aussen vermuten würde. Im Glaskubus steht eine baldachinartige Konstruktion aus vier Betonstützen mit einem leicht gewölbten Dach – eine Art Urhütte. Mehr nicht.

Die Eröffnungsausstellung präsentiert anhand von Fotos und Plänen, aber vor allem von Holzmodellen 32 Projekte von Sverre Fehn, die er selber ausgewählt hat. Darunter befinden sich sein legendärer, von Bäumen durchstossener Pavillon für die Biennale in Venedig (1958) und der norwegische Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel (1959), zwei Vorläufer seines Osloer Ausstellungsgebäudes, aber auch zahlreiche Entwürfe jüngeren Datums. Sie zeigen, dass Fehn die Kunst beherrschte, mit der Zeit zu gehen und gleichzeitig sich selber treu zu bleiben. Mehrere Architekturrichtungen des 20. Jahrhunderts kommen in der Schau zum Zuge: vom Modernismus über den Strukturalismus bis hin zur Postmoderne. Aber immer bleibt Fehns Handschrift erkennbar, die sich im Landschaftsbezug, in der Verwendung von Holz und Sichtbeton, in der Komposition von Volumina entlang einer zentralen «Wirbelsäule» und nicht zuletzt in den poetischen Untertönen seiner Bauten manifestiert.

Im Kontext der Ausstellung wird leicht sichtbar, dass das Architekturmuseum ein Alterswerk ist. Der Pavillon hat seine Schwächen – etwa die Glaslamellen, die sich mit ihren auffälligen Punkthalterungen nicht so recht in die einfache Struktur eingliedern wollen. Sein Grundkonzept kann jedoch durchaus als Essenz von Fehns Architekturauffassung gesehen werden. Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Bau definitiv um Fehns letztes Werk, denn nach dem Entwurf zog sich der Meister ins Altersheim zurück – ein leiser Abgang, der ganz zu Fehn passt.

[ Die Eröffnungsausstellung Sverre Fehn dauert bis 3. August. Katalog: Sverre Fehn: Intuition – Reflection – Construction. Norwegisches Nationalmuseum, Oslo 2008. 150 S., nKr. 199.–. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2008.04.29



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Nasjonalmuseet - Arkitektur

07. Mai 2007Anneke Bokern
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Lichtfang im Dorfkern

Im alten Dorfkern von Soest nahe Utrecht errichtete das Amsterdamer Architekturbüro einen Gartenpavillon, der einerseits sensibel auf seinen Standort reagiert, ihm andererseits aber die kalte Schulter zeigt. Offiziell als Scheune deklariert, dient er als Erweiterung eines zum Wohnhaus umfunktionierten historischen Altenstifts.

Im alten Dorfkern von Soest nahe Utrecht errichtete das Amsterdamer Architekturbüro einen Gartenpavillon, der einerseits sensibel auf seinen Standort reagiert, ihm andererseits aber die kalte Schulter zeigt. Offiziell als Scheune deklariert, dient er als Erweiterung eines zum Wohnhaus umfunktionierten historischen Altenstifts.

Soest ist ein Ort zwischen Utrecht und Amersfoort auf einem Ausläufer des Utrechter Hügelrückens. Bereits im Jahr 1029 wurde das Dorf, dessen Bewohner im Mittelalter größtenteils Bauern und Torfstecher waren, urkundlich erwähnt. Im 20. Jahrhundert stieg die Einwohnerzahl von Soest sprunghaft an: zunächst durch Eingemeindungen, dann durch den Neubau von Sozialwohnungssiedlungen in der Nachkriegszeit und Reihenhaussiedlungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Gab es um 1900 gerade einmal 4700 Soester, so zählt die Gemeinde heute etwa 45000 Einwohner und hat ihren dörflichen Charakter weitgehend verloren. Der lauschige alte Dorfkern mit der gotischen Kirche im Mittelpunkt existiert zwar noch, ist jedoch weit an den östlichen Rand der Gemeinde gerückt. Sein Dorfbild und ein Großteil der alten Gebäude, die das »Kirchenviertel« ausmachen, stehen unter Denkmalschutz. Wie in vielen Dörfern im Einzugsbereich des Ballungsraums Randstad, wurden die meisten ehemals öffentlichen Gebäude in Oud-Soest inzwischen zu Wohnhäusern umfunktioniert. So auch das frühere »Alte Männer- und Frauenhaus«, das 1782 als Altenstift errichtet wurde. Heute wohnt dort die Familie eines Zahnarztes und einer Unternehmensberaterin. Und wie so oft, genügte ihnen der Wohnraum im alten Gebäude auf Dauer nicht. Ihre Versuche, einen Ausbau des Hauses genehmigen zu lassen, scheiterten jedoch immer wieder am Protest der Nachbarn und am Denkmalschutzamt. Die Bauherrin ist die Schwester des Architekten Bjarne Mastenbroek (früher de architectengroep, heute SeArch), der einige Entwürfe für den Umbau ausarbeitete. Nach mehreren Anläufen überließ er den sensiblen Auftrag jedoch seinem ehemaligen Mitarbeiter Paddy Tomesen, der seit 2001 gemeinsam mit Theo Rooijakkers ein eigenes Büro in Amsterdam führt. Statt eines Umbaus schlug Rooijakkers vor, zwei Scheunen im Garten abzureißen und an ihrer Stelle einen freistehenden, hölzernen Pavillon zu errichten. Dessen Umfang durfte den einer Scheune nicht überschreiten, so dass die Architekten eines der zwei Geschosse unter die Erde verlegten, um auf eine Nutzfläche von insgesamt etwa 100 Quadratmetern zu kommen. Die Auftraggeber waren zufrieden, die Nachbarn immerhin geteilter Meinung. Nun galt es nur noch, die Mitarbeiter des Denkmalamtes für den Entwurf zu gewinnen, denn wie in den Niederlanden üblich, gab es nur wenige festgeschriebene Bauregeln, vieles beruhte auf persönlicher Überzeugungskraft. Letztlich ließen die Beamten sich unter anderem, wie Tomesen grinsend erzählt, durch ein speziell angefertigtes Modell »im Märklin-Stil« erweichen: Der Bau des Pavillons wurde genehmigt.

Die Scheune, die eine Wohnung ist

Im Inneren des Holzbaus befindet sich eigentlich eine komplette Wohnung, inklusive Küche und Bad. Genutzt wird sie allerdings als Atelier, Orangerie und Abstellraum und offiziell musste sie sogar als Scheune deklariert werden, um die Baugenehmigung zu erhalten. Holz ist zweifelsfrei das Hauptthema des Gebäudes: Abgesehen vom Kellergeschoss, wurde der Pavillon ganz aus sibirischem Lärchenholz errichtet, das teils massiv, teils in Form von Laminat oder Furnier verwendet wurde. Nur das Souterrain besteht aus Beton, aber auch dort kehrt das Thema Holz zumindest optisch in der Brettschalungsstruktur der unverputzten Wände wieder. Die Konstruktion des Gartenhauses besteht aus 15 Rahmenbindern, die in einem Raster von 90 Zentimetern platziert wurden und ein Pultdach tragen. Zur Straße und zur Hecke hin, die das Grundstück im Norden von dem des Nachbarn trennen, erhielt das Haus je eine geschlossene Wand aus Multiplexplatten, die die Konstruktion aussteifen. Darüber ist außen eine Verkleidung aus überlappenden, ungeschliffenen Lärchenbrettern angebracht, die an die Stulpschalung traditioneller niederländischer Scheunen erinnert. Einziger Unterschied ist, dass die Bretter hier nicht geteert, sondern schwarz gestrichen sind. Die Seiten des Gebäudes, die für die Anwohner sichtbar sind, unterscheiden sich also auf den ersten Blick so gut wie gar nicht von den alten Scheunen, die auf mehreren Grundstücken in Oud-Soest stehen. Nähert man sich dem Gebäude jedoch vom Garten her, ist es kaum wieder zu erkennen. Während die Straßenfassaden völlig geschlossen und sehr rau sind, öffnet sich der Bau zum Garten und bietet einen leichtfüßigen, eleganten, ganz und gar nicht rustikalen Anblick. Das liegt nicht nur an der Glasfassade mit schlanken Holzsprossen, sondern auch daran, dass der Bau ein Stück über dem Erdboden zu schweben scheint. Denn quer über das Souterrain haben die Architekten 25 Zentimeter dicke Balken gelegt, die den Geschossboden tragen, und die Zwischenräume zwischen Balken und Betonwänden verglast. Vor allem nachts verwandeln sich diese Fensterchen auf Fußniveau in einen etwas zurückliegenden Leuchtstreifen, der das Gebäude optisch abheben lässt. An der Südseite des Baus ragen die Balken über die Betonwanne hinaus und tragen eine überdachte Terrasse, die eine Übergangszone zwischen Innen- und Außenraum schafft. Als Sicht- und Sonnenschutz wurden sechs Schiebepaneele aus vertikalen Holzlatten vor der Glasfassade angebracht, die einzeln bewegt werden können aber kaum die Hälfte der Fassadenfläche bedecken. Es bleibt ein halboffenes, wintergartenähnliches Gebäude, das als modernes Gegenstück zum schweren, historischen »Alte Männer- und Frauenhaus« erscheint.

Licht durchflutet

Im Inneren des Hauses befindet sich im Wesentlichen in jedem Geschoss ein großer, offener Raum, in dem ein Kern steht, durch den sämtliche Leitungen laufen und der auch die Treppe aufnimmt. Sowohl im Ober- als auch im Untergeschoss lässt sich der Raum mittels zweier Schiebetüren in Höhe des Kerns unterteilen. Während das Obergeschoss auch innen rundum lärchenholzverkleidet ist, sind die Wände im Souterrain weiß gestrichen. Dort wird ein weiterer Effekt der Fensterbänder zwischen den Balken deutlich: Sie sorgen dafür, dass viel Tageslicht eindringen kann, so dass kein frösteliges Kellergefühl aufkommt, sondern eher ein intimer Wohnraum entsteht. Im Obergeschoss wurden außerdem zwischen den Pfosten der geschlossenen Fassadenseiten die Zwischenräume im Boden verglast, so dass ein Bezug zwischen den beiden Geschossen entsteht und am Abend indirektes Licht aus dem Souterrain nach oben dringt. Solch liebevolle Details machen die Qualitäten des Gartenpavillons aus, den die Architekten als »Light Catcher« (Lichtfang) bezeichnen. Man kann dem Gebäude – seiner Formensprache, aber vor allem den für niederländische Verhältnisse unglaublich aufwendigen Details – auf den ersten Blick ansehen, dass Paddy Tomesen mehrere Jahre in Japan studiert und gearbeitet hat. Gleichzeitig schließt es in seiner Handwerklichkeit und mit seinen natürlichen Materialien an den alten Dorfzusammenhang an, ohne sich bei den historischen Gebäuden in der Umgebung anzubiedern. Im Gegenteil: Eigentlich zeigt es dem Dorf die kalte »Stulpschalungs-Schulter«, während es für seine Besitzer den Blick auf den gotischen Kirchturm von Soest, den Garten und das dahinter liegende Deichvorland so großzügig wie möglich in Szene setzt.

db, Mo., 2007.05.07



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db 2007|05 Dorf-Strukturen

02. Januar 2007Anneke Bokern
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Glaubenssache

Die Expansion des Amsterdamer Flughafens verschlang auch die Kirche der benachbarten Gemeinde. Als »eine feste Burg« entstand an anderer Stelle ein Ersatzbau, dessen Materialität das landläufige Bild von Bauten mit »Waschbeton-Optik« auf den Prüfstand stellt.

Die Expansion des Amsterdamer Flughafens verschlang auch die Kirche der benachbarten Gemeinde. Als »eine feste Burg« entstand an anderer Stelle ein Ersatzbau, dessen Materialität das landläufige Bild von Bauten mit »Waschbeton-Optik« auf den Prüfstand stellt.

Rijsenhout ist ein 4000-Seelen-Dorf am östlichen Rand des Haarlemmermeerpolders, dem ältesten maschinell trockengelegten Polder der Niederlande. Was zunächst nach beschaulichem Landleben klingt, hat damit in Wirklichkeit wenig zu tun. Einen großen Teil der Polderfläche nimmt der Flughafen Schiphol ein. Der Rest ist eine nicht enden wollende Ansammlung von gesichtslosen Siedlungen und Gehöften, Gewächshäusern, Bürokomplexen und Gewerbehöfen, umgeben von pfannkuchenflachen, geometrischen Ackerflächen. Und über allem dröhnen ständig die Motoren der startenden und landenden Jets.

Die Hauptdurchgangsstraße von Rijsenhout wird von frei stehenden Wohnhäusern aus dunklem Backstein gesäumt und ist eigentlich nicht weiter bemerkenswert. Dass man sich hier nicht lange aufhält, beweisen nicht nur die vorbeirasenden Autos, sondern auch das Nichtvorhandensein eines Gehwegs. Aber selbst bei einer Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern kommt man nicht umhin, einen Fremdkörper im Einerlei wahrzunehmen: In der Reihe der Wohnhäuser taucht plötzlich ein skulpturaler, maisgelber Kirchenbau mit einem 15 Meter hohen Turm auf. Die Ästhetik des abgetreppten Volumens erinnert ein wenig an Bauten von Willem Marinus Dudok (1884–1974) aus seiner Frank-Lloyd-Wright-Phase, scheint aber auf den ersten Blick mindestens ebenso sehr mit brutalistischer Architektur der sechziger und siebziger Jahre verwandt. Letzteres liegt unter anderem am Material: Die Kirche besteht ganz aus sandgestrahltem Ortbeton, dem auf den ersten Blick der Charakter von Waschbeton zu eigen ist.

Der Flughafen will sein Frachtareal erweitern und hat dafür seit 1990 die meisten Gebäude im einige Kilometer nördlich von Rijsenhout gelegenen Ort Rozenburg aufgekauft und abgerissen. Nur die alte Kirche der Niederländisch-Reformierten Gemeinde Haarlemmermeer-Ost stand noch.

Nach vierzehnjährigen Verhandlungen einigte man sich 2005 darauf, dass die Flughafengesellschaft die alte Kirche abreißen durfte, dafür aber in Rijsenhout eine neue Kirche für die Gemeinde errichten sollte. Obwohl die Kirchengemeinschaft zunächst ihren Hausarchitekten beauftragen wollte, entschied sie sich letztlich für das Büro Claus en Kaan, vorgeschlagen von Schiphol Real Estate. Die Architekten, die noch nie eine Kirche gebaut hatten und angesichts der schwindenden Kirchgängerzahlen in den Niederlanden vermutlich auch nie wieder eine bauen werden, versprachen der Gemeinde ein außergewöhnliches Gebäude.

Die Kirche besteht aus drei Teilen: dem Kirchensaal für 250 Besucher, einem Trakt mit Besprechungszimmern, Kinderhort und Teeküche sowie einer Wohnung für den Küster. Sie alle sind um ein großes, innen liegendes Foyer arrangiert, das man durch den Haupteingang an der Nordseite des Gebäudes betritt. Beleuchtet wird es über mehrere schlitzförmige, horizontale Fensteröffnungen, die teils direkt unter, teils direkt über dem Übergang von Wand zu Dach liegen. Zwei große Flügeltüren trennen das Foyer vom Kirchensaal und ermöglichen, es bei großen Veranstaltungen als Erweiterung des Saals zu benutzen.

Dem recht einfachen Grundriss steht eine für niederländische Verhältnisse hochwertige Materialisierung des Kircheninneren gegenüber. Das Foyer wurde rundum mit osteuropäischem Eichenholz verkleidet, hinter dem auch die Klimaanlage sowie alle Leitungen versteckt sind. Altar, Kanzel und Orgelgehäuse bestehen aus demselben Material und wurden ebenfalls von Claus en Kaan entworfen. Den Boden bedecken sowohl im Foyer als auch im Kirchensaal anthrazitfarbene Keramikfliesen; die Bestuhlung besteht aus einfachen Stahlrohrstühlen mit schwarzen Holzsitzen und -lehnen. Insgesamt wirken die Räume zwar warm, aber auch recht karg – was zu den Grundsätzen der streng protestantischen Glaubensgemeinschaft passt.

Nahezu verspielt wirkt bei all dieser Strenge das verspringende Muster, das die dimmbaren Neonröhren an der Decke des Kirchensaals bilden.

Die einzelnen Funktionsbereiche der Kirche sind von außen deutlich ablesbar: Da Kirche, Wohnung und Gemeinschaftsräume jeweils eine andere Deckenhöhe haben, präsentiert sich der Bau als Konglomerat aus abgestuften und zusammengeschobenen kubischen Elementen. So wurde mit minimalen Mitteln ein skulpturaler Eindruck erzeugt, zu dem auch die Wasserspeier einen großen Teil beitragen: Sie sind in kubische Mauervorsprünge integriert.

Mit Fenstern sind die Architekten an den Schauseiten der Kirche eher sparsam umgegangen. In der Hauptfassade befindet sich nur ein einziges großes laibungsloses Fenster mit dünnem Stahlrahmen über dem Altar, das genau dasselbe Format hat wie das vertikale Fenster in der Turmspitze. Die Seitenfassaden sind, abgesehen vom einem braunen Stahltor, völlig geschlossen. Dagegen haben die zum Parkplatz hin orientierten Gemeinschaftsräume und die Küsterwohnung jeweils große Fensterfronten mit dreißig Zentimeter tiefen Laibungen, die aber von der Straße aus nicht zu sehen sind.

Raue Betonhaut

Die Geschlossenheit der Fassaden und das Fehlen eines sichtbaren Dachrandes, vor allem aber die uniforme Materialisierung in »Waschbeton-Optik« lassen die Kirche sehr monolithisch wirken. Während jedoch bei Waschbeton die Platten am Ende der Fertigung ausgewaschen werden, wurde hier die fertige Fassade sandgestrahlt. Das Ergebnis sieht Waschbeton täuschend ähnlich – wobei man dieses Fassadenmaterial in der Regel wahrhaftig nicht mit Skulpturalität oder Monolithik assoziiert. Im Gegenteil: Kaum ein anderes Material ist so sehr zum Synonym für menschenfeindliche Bausünden der siebziger Jahre geworden. Den meisten Leuten fallen zu diesem Stichwort vor allem billige Massenwohnungsbauten und unattraktive Mehrzweckhallen ein, verkleidet mit mausgrauen, stumpfen, pickeligen Fertigteilplatten. In Rijsenhout handelt es sich jedoch nicht um vorgefertigte Platten, sondern um eine tragende Fassade aus 28 Zentimeter dickem Ortbeton. Was man auf den ersten Blick für Dehnungsfugen halten könnte, sind in Wirklichkeit Schalfugen. Um den gewünschten Farbton und die Kieselgröße für den Beton zu bestimmen, haben Claus en Kaan zahlreiche Materialproben anfertigen lassen. Zuletzt wurde auf dem Kirchengrundstück ein Fassadenmuster errichtet, an dem der Strahlprozess getestet wurde. Man entschied sich für einen gelb eingefärbten Beton und eine etwas größere Gesteinskörnung als gewöhnlich. Als die Kirche dann stand, waren die Architekten, die noch keine Erfahrung mit dem Material hatten, dennoch schockiert darüber, wie intensiv gelb sie schien. Erst nach dem Sandstrahlen nahm sie ihre jetzige, sanft maisgelbe Farbe an.

Der Beton überzieht das Gebäude wie eine raue Haut. Seine Struktur passt unerwartet gut zur Gesamtform: Sie überträgt ihre Skulpturalität sozusagen auf einen kleineren Maßstab. Damit bewerkstelligt der Kirchenbau beinahe so etwas wie eine Ehrenrettung des unbeliebten Waschbeton-Looks. Die Fassade ist taktil, warm und schwer.

Allerdings verträgt sich die Betonhaut gar nicht mit dem blaugrauen Kies, mit dem die Außenanlagen bestreut wurden. Mit Ausnahme zweier Pflanzbeete und eines betonierten Pfads zum Tor ist das gesamte Gelände damit bedeckt. Laut den Architekten geschah das aus ästhetischen Erwägungen, denn der große Parkplatz hinter der Kirche steht nur sonntags voller Autos. Man wollte dort keine Asphaltwüste schaffen, sondern eine Einheit mit der Architektur erreichen. Tatsächlich beißt sich der Farbton des Kieses jedoch mit dem des Betons und strahlt die lieblos zugeschüttete Optik des Geländes unvorteilhaft auf die Kirche ab. Dadurch wirkt die Fassade im Gesamtbild harscher als nötig. Das ändert aber nichts daran, dass dieser Kirchenbau sicher manch einen, der kiesgespickte Betonfassaden bisher für einen Frevel gehalten hat, zum Glauben bekehren kann.

Beton
Ausführungsvorgaben durch die Architekten:
Beton, Schalung und Ebenheit waren nach der niederländischen Richtlinie CUR 100 »Schoon Beton« (Sichtbeton) auszuführen. Auch in Deutschland wird diese Vorschrift oft zur Rate gezogen.
Einen wesentlicher Unterschied zu den meisten deutschen Sichtbetonausschreibungen stellte die Forderung dar, mit Hilfe des Reifecomputers nach Erreichen der Ausschalfestigkeit den festgelegten Reifegrad zum Ausschalen der Betonflächen zu ermitteln. Um eine einheitliche Betonfarbe zu erhalten, ist es unbedingt nötig, immer dieselbe Reife anzustreben, diese kann gleichzeitig mit der Ausschalfestigkeit übereinstimmen.
Die Wände (3 m und 7 m hoch) sollten in jeweils nur einem Betonierabschnitt betoniert werden. Für die Wandaußenseite war eine Betonüberdeckung von 60 mm vorgegeben, die ohne die Verwendung von Abstandhalterklötzen zu realisieren war. Die äußere Bewehrungsmatte musste an der inneren befestigt werden.
Die Durchankerungsöffnungen mussten mit demselben Beton geschlossen werden. Die Fensterlaibungen wurden poliert, die Außenflächen sandgestrahlt (Vergleich mit Probewand) und mit Funcosil hydrophobiert.

Nach vielen Betonversuchen wurden folgende Festlegungen getroffen:
Betonfestigkeitsklasse: C25/30 nach 91 Tagen
Gesteinskörnung: 0/32
Zement: CEM III/B 42,5 N/LH
Zusatzstoff : Kalksteinmehl (380 kg/m³)
Mehlkorn: Gehalt mindestens 160 l/m³
Farbpigment: Gelb (10 kg/m³)

Wandaufbau:
– Beton (280 mm)
– Holzlattung
– Isolierung (125 mm)
– dampfdichte Schicht
– 2 x Gipsplatte

db, Di., 2007.01.02



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Kirche in Rijsenhout



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db 2007|01 Beton

03. November 2006Anneke Bokern
db

Stark verästelt

Das auf einem schmalen Grundstück und unter strengen auflagen errichtete Bürogebäude ist auf allen vier Seiten mit einer Aststruktur aus vorgefertigten Betonelementen überzogen. der ornamentale Schleier lässt den Bau klar aus der Häuserzeile heraustreten, obwohl er dabei nur verhältnismäßig leise Töne anschlägt.

Das auf einem schmalen Grundstück und unter strengen auflagen errichtete Bürogebäude ist auf allen vier Seiten mit einer Aststruktur aus vorgefertigten Betonelementen überzogen. der ornamentale Schleier lässt den Bau klar aus der Häuserzeile heraustreten, obwohl er dabei nur verhältnismäßig leise Töne anschlägt.

René van Zuuk ist eigentlich auf Skulpturalität sp ezialisiert. Bekannt wurde der inzwischen 44-jährige Architekt aus Almere vor zehn Jahren durch ein helmförmiges Schleusenwärterhaus nahe Groningen. In letzter Zeit folgten unter anderem ein blobbiger Pavillon für das Architekturzentrum Arcam in Amsterdam (siehe db 11/2003) und der Wohnblock »The Wave« in Almere mit seiner schuppigen, gewölbten Front. Beinahe alle seine bisherigen Gebäude sind frei stehende, expressiv geformte Solitäre mit Metallfassaden.
Dem entsprechend dürfte das Bürohochhaus an der Zilverparkkade in Lelystad eine ganz neue Herausforderung für ihn gewesen sein, galt es doch, einen in eine Häuserzeile eingeklemmten Bau mit rechteckiger Grundfläche zu entwerfen.

Defilee der Diven

Das Gebäude namens »Dominor« gehört zum Masterplan Lelystad-Zentrum, den West 8 vor fünf Jahren erstellt hat. Ähnlich dem benachbarten Almere, soll Lelystad, das ebenfalls auf einem der neuen Polder im IJsselmeer liegt, in den nächsten Jahren ein dichteres, funktional durchmischtes Stadtzentrum erhalten. Davon ist bisher allerdings noch nicht viel zu sehen. Aus dem Bahnhof Lelystad-Zentrum kommend, findet man sich in einer gesichtslosen Fußgängerzone mit niedriger, mausgrauer Bebauung aus den siebziger Jahren wieder. Einzig ein grellorangefarbenes Th eater, das UN Studio am Nordrand des Zentrumsgebiets bauen, und die hohe Gebäudezeile der Zilverparkkade an seinem Südrand stechen aus dem Einerlei hervor.

An der Zilverparkkade entstehen momentan zwölf Büro- und Wohnbauten nach dem Grachtenmodell: Schulter an Schulter stehend, bilden sie eine geschlossene Zeile, werden aber jeweils von einem anderen Architekten entworfen und unterscheiden sich auch in der Bauhöhe. Der niedrigste Bau wird vier, der höchste 14 Geschosse haben. Für das zweite Gebäude in der Zeile wurde René van Zuuk beauftragt, auf einem nur 220 Quadratmeter großen Grundstück einen neungeschossigen Bürobau mit auffälligem Äußeren und möglichst viel vermietbarer Fläche zu errichten. Angesichts dieser Vorgaben des Auftraggebers war schnell klar, dass einzig die Fassade gestalterischen Spielraum bot. Van Zuuks Bau besteht aus einer einfachen Betonschottenkonstruktion. Die zum Park orientierte Südfassade sowie die obersten zwei Geschosse der Westfassade, die über den niedrigeren benachbarten Bau hinausragen, sind komplett verglast. Vor der Glasfront brachte der Architekt eine zweite »Fassade« an: eine Netzstruktur aus kantigen Sichtbetonzweigen, die nur die Sockelzone frei lässt. Dieser ornamentale Vorhang liegt über dem anthrazitfarbenen Bau wie ein übergeworfenes Spitzendeckchen und lässt ihn selbst in der architektonischen Kakofonie der Zilverparkkade sofort ins Auge springen. Über die Signalwirkung hinaus, kommen der Struktur noch weitere Funktionen zu. Da der Auftraggeber keinen Kran auf dem Dach installieren wollte, mussten vor den geschosshohen Fenstern Balkone für Fensterputzer angebracht werden, obwohl der Masterplan keine auskragenden Elemente am Gebäude erlaubte. Also setzte Van Zuuk die Fenster etwa einen halben Meter in der Fassade zurück und brachte vor dem Betonskelett die Zweigstruktur an.

So entstanden zwischen den beiden Fassadenebenen die erforderlichen Balkone, die obendrein als Schutz vor Brandübergriff fungieren, während die Zweige als Brüstung dienen. Auf den ersten Blick erinnert die Zweigfassade sehr an den »Algue«-Vorhang, den die Bouroullec-Brüder für Vitra entworfen haben. Erst wenn man genauer hinsieht, fällt auf, dass Van Zuuks Fassade im Gegensatz zum Raumteiler der Bouroullecs nicht auf einer ständigen Wiederholung desselben Elements beruht. Stattdessen hat Van Zuuk, nach eigenem Bekunden inspiriert von M.C. Escher, eine Handvoll großer und kleiner Bausteine entwickelt, aus denen sich eine nahtlose, scheinbar wiederholungsfreie Struktur zusammensetzen lässt. Sie bietet aus unterschiedlichen Perspektiven jeweils einen anderen Anblick: Vom Fuß des Gebäudes aus besehen scheint die Fassade recht schwer und beinahe geschlossen. Im Inneren des Baus erweist sie sich jedoch als weitmaschig genug, um die Aussicht nicht zu behindern. Aus der Ferne betrachtet wirkt sie leicht und filigran.

Differenzierungen

Um der Konsequenz willen hat Van Zuuk das Motiv auf den Seitenwänden des Gebäudes fortgesetzt. Dort tauchen die Zweigelemente als Relief auf den dunkelgrauen Betonplatten auf, bleiben aber auf der geringen Fläche ziemlich wirkungslos. Besser funktioniert diese Strategie an der Rückseite des Baus. An die Stelle der geschosshohen Fenster treten dort horizontale Fensterbänder über geschlossenen Brüstungen, die wiederum aus den anthrazitfarbenen Betonplatten mit hellgrauem Zweigrelief bestehen. Vor den Fenstern scheint das blattlose Geäst weggeschnitten worden zu sein. An der Rückseite des Gebäudes wird auch seine Einteilung ablesbar. Eine vertikale Einkerbung unterteilt den Bau in einen schmaleren Teil, der Erschließung, Toiletten, Teeküchen und einen kleinen Büroraum beherbergt, und einen breiteren Teil, in dem die frei einteilbaren Bürogeschosse liegen. Dazwischen befindet sich ein Flur, der in einen kleinen Balkon in der Kerbe mündet und darüber Zugang zum Fluchttreppenhaus bietet. René van Zuuk ist mit seinem Entwurf ein paradoxes Kunststück gelungen: Obwohl »Dominor« der einzige Bau an der Zilverparkkade ist, der eine quasi-organische Ornamentik aufweist, ist er gleichzeitig der Bau mit dem wenigsten Schnickschnack in der Zeile. Und auch innerhalb des OEuvres von René van Zuuk wirkt er trotz oder gerade wegen seines ornamentalen Schleiers, nicht zuletzt aber auch wegen der Beschränkung auf wenige industrielle Materialien geradezu minimalistisch.

db, Fr., 2006.11.03



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Bürogebäude in Lelystad



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db 2006|11 Ornament

05. Mai 2006Anneke Bokern
Neue Zürcher Zeitung

Die Privatisierung der Gartenstädte

Grosse Wohnungen mit halböffentlichen Innenhöfen sollen in Amsterdams Aussenvierteln finanzkräftige Bewohner anlocken. Das Resultat sind Miniatur- Gartenstädte hinter hohen Mauern, die das Verhältnis von Innen und Aussen ganz neu definieren.

Grosse Wohnungen mit halböffentlichen Innenhöfen sollen in Amsterdams Aussenvierteln finanzkräftige Bewohner anlocken. Das Resultat sind Miniatur- Gartenstädte hinter hohen Mauern, die das Verhältnis von Innen und Aussen ganz neu definieren.

«Ich komme aus einem abgelegenen marokkanischen Dorf. Aus Amsterdam-West.» Diesen Witz erzählt der marokkanisch-niederländische Kabarettist Rachid Larouz jetzt schon seit einigen Jahren, und das Publikum lacht immer noch. Amsterdam-West, das ist gleichbedeutend mit tristen Wohnhochhäusern, Satellitenschüsseln und Kopftüchern. Mehr als die Hälfte der Einwohner in den Stadtteilen westlich des Autobahnrings, der die Amsterdamer Innenstadt umgibt, stammen nicht aus den Niederlanden; 20 Prozent sind arbeitslos. Bekanntester Sohn der Aussenbezirke ist Mohammed B., der Mörder des Filmemachers Theo van Gogh.

Kein Wunder also, dass die Niederländer im vergangenen Herbst, als in Paris die Banlieues brannten, beunruhigt auf den Westen ihrer Hauptstadt schauten. Denn wie die Pariser Satellitenstädte wurden auch die Amsterdamer Stadterweiterungen nach dem Zweiten Weltkrieg nach modernistischen Städtebauprinzipien angelegt. Als Grundlage diente der «Allgemeine Erweiterungsplan», den der Stadtplaner Cornelis van Eesteren bereits zwischen 1929 und 1934 entwickelt hatte. Er sah eine strikte Funktionsscheidung vor: Wohnen, Erholung und Verkehr wurden räumlich getrennt voneinander organisiert; zum Arbeiten sollten die Einwohner in die Innenstadt oder an den Hafen pendeln. Die Wohngebiete wurden als sogenannte Gartenstädte angelegt, mit einer in öffentlichen Grünflächen nach dem Sonnenstand ausgerichteten, rationalistischen Zeilenbebauung. Bis zu 15-geschossige Wohnhochhäuser wechseln sich mit niedrigeren Reihenhauszeilen ab.

Monofunktional und leblos

Als die neuen Viertel um 1970 fertig gestellt waren, dauerte es jedoch nicht lange, bis sich dieses Konzept als gescheitert erwies. Die Siedlungen waren zu monofunktional und leblos, das Abstandsgrün zu ungemütlich und das Wohnungsangebot zu einseitig. Wer es sich leisten konnte, zog schnell wieder weg. Stattdessen kamen jene Bevölkerungsgruppen, die man in den Niederlanden gerne als «chancenarm» bezeichnet.

Seit einigen Jahren versucht die Stadt nun, die Verarmung aufzuhalten und die Gartenstädte wieder attraktiver zu machen. Im Gegensatz zu Rotterdam, wo in manchen Problembezirken kurzerhand ein Zuzugsstopp für Ausländer mit geringem Einkommen eingeführt wurde, setzt Amsterdam auf Neubauprojekte, die zahlungskräftigeres Publikum anlocken sollen. Von den derzeit 54 000 Wohnungen in Amsterdam-West werden bis 2015 etwa 10 000 abgerissen. Dafür sollen 17 500 Wohnungen neuen Typs entstehen. Das klingt drastisch, aber bis jetzt ist von grossen Abrissaktionen noch nichts zu sehen. Es hat erst eine vorsichtige «Impfung» der Stadtviertel mit einzelnen neuen Bauten begonnen. Eingeschleust wurden in den letzten Jahren vor allem Wohnkomplexe und -blöcke mit grossen Miet- und Eigentumswohnungen, deren Architektur sich möglichst deutlich von der Zeilenbebauung der Nachkriegszeit absetzt.

Moderne Festungen

Auffällig ist, dass kaum eines der Projekte versucht, sich in sein Umfeld einzufügen. Im Gegenteil: Allesamt grenzen sie sich ganz bewusst von der Umgebung ab. Den Anfang machte der «Noorderhof» nach einem städtebaulichen Plan von Rob Krier, dem luxemburgischen Neo-Traditionalisten. Wie das berühmte gallische Dorf hockt der Komplex aus hübschen Reihenhäuschen seit 1999 zwischen riesigen Wohnhochhäusern. Sprossenfenster, dekorative Gesimse, Vorgärtchen und verwinkelte Gassen bestimmen das Bild im Inneren der Hofanlage. Nach aussen schirmt eine höhere Randbebauung den Komplex von der ungeliebten Nachbarschaft ab. Das Konzept ging auf: Die Wohnungen im Noorderhof sind heiss begehrt und ebenso teuer wie in manch einem Innenstadtbezirk. «In der Nähe ist ein weiterer Wohnkomplex in Planung», sagt eine städtische Mitarbeiterin. «Wenn es nach den Anwohnern ginge, sollten wir dort ‹weiterkrieren›.»

Bis anhin ist der Noorderhof jedoch der einzige neotraditionalistische Eindringling in den Gartenstädten. Aber trotz ihrer moderneren Formensprache sind die meisten Neubauprojekte nicht minder introvertiert als die Anlage von Krier. So wurde 2002 ein origineller Wohnblock mit 26 verschiedenen Wohnungstypen vom jungen Architekturbüro Arons & Gelauff realisiert, der auf einem zweigeschossigen Sockel mit Geschäften und Parkgarage ruht. Auf dem Dach des Sockelbaus erheben sich die sechs Wohngeschosse und umschliessen einen kollektiven Innenhof für die Bewohner. Obwohl durch eine teilweise Aufständerung ein Durchguck geschaffen und mit Fensterbändern ein offener Fassadencharakter erzeugt wurde, ist der geschlossene Baublock eigentlich eine moderne Festung und zeigt der Umgebung ebenso die kalte Schulter wie der Noorderhof.

Pseudoöffentlicher Raum

Mit dem erhöhten Innenhof haben Arons & Gelauff Schule gemacht. Ganz in der Nähe ihres Projekts wurde vor kurzem ein Block von Mecanoo fertig gestellt, der auf einem ähnlichen Konzept beruht, wenngleich er auf den ersten Blick offener wirkt: Seine drei unterschiedlich hohen Flügel mit Fassaden aus dunklem Backstein und Metallpaneelen legen sich hufeisenförmig um einen grossen, mit Holzbohlen gedeckten Binnenplatz, der sich zu einem Park und einem See öffnet. Allerdings ist auch dieser Innenhof weder öffentlich zugänglich noch für Passanten einsehbar, denn er liegt etwa zwei Meter über Strassenniveau, über einer halb im Boden versenkten Garage. Es entsteht ein pseudoöffentlicher Raum, der vor allem der Aussicht der Bewohner dient.

Auch MVRDV spielen bei ihrem Wohnkomplex «Parkrand», der sich zurzeit im Bau befindet, mit dieser Semi-Öffentlichkeit. In einen öffentlichen Park stellen sie fünf Türme, die durch Wolkenbügel, aber auch durch eine kollektive Terrasse im ersten Stock miteinander verbunden sind. Der Park setzt sich also innerhalb des Blocks fort, ist aber nicht für jedermann betretbar. Einerseits ist diese Abgrenzung angesichts der schwierigen sozialen Situation in den Vierteln nachvollziehbar, andererseits wirkt sie ein wenig wie eine ängstliche Verballhornung der Gartenstadt-Utopie. Öffentlicher wird durch halbprivaten Raum, Abstandsgrün durch Gemeinschaftsterrassen ersetzt. FARO Architecten, die den neuen Typus mit einem Entwurf für zwei Strassenblöcke auf städtebaulichen Massstab übertragen haben, bezeichnen diesen denn auch als «zeitgenössische Gartenstadt». Hochhäuser und niedrigere Reihenhäuser bilden dort eine geschlossene Blockwand, die einen Innenraum mit einer Mischung aus kollektiven und privaten Gärten umschliesst. Offiziell mag die Schaffung unterschiedlicher Wohnungstypen das Hauptanliegen der neuen Entwicklungen in den Gartenstädten sein. Eigentlich geht es aber um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Offenheit und Geschlossenheit, Öffentlichkeit und Privatheit, Innen und Aussen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.05.05



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europa1 Niederlande

18. April 2005Anneke Bokern
Neue Zürcher Zeitung

Gutaussehende Alleskönner

«Es ist ein Klischee, dass die meisten Klischees der Wahrheit entsprechen. Aber wie die meisten Klischees entspricht natürlich auch dieses Klischee nicht...

«Es ist ein Klischee, dass die meisten Klischees der Wahrheit entsprechen. Aber wie die meisten Klischees entspricht natürlich auch dieses Klischee nicht...

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03. September 2004Anneke Bokern
Neue Zürcher Zeitung

Eine Stadt gewinnt Land

Im Osten Amsterdams wird derzeit im IJmeer der neue Stadtteil IJburg mit Wohn- und Arbeitsraum für 45 000 Menschen angelegt. Von den sieben künstlichen Inseln, die bis 2012 entstehen sollen, sind drei fertiggestellt. Die ersten Bauten lassen vermuten, dass die Zeit der Experimente im niederländischen Wohnungsbau vorbei ist.

Im Osten Amsterdams wird derzeit im IJmeer der neue Stadtteil IJburg mit Wohn- und Arbeitsraum für 45 000 Menschen angelegt. Von den sieben künstlichen Inseln, die bis 2012 entstehen sollen, sind drei fertiggestellt. Die ersten Bauten lassen vermuten, dass die Zeit der Experimente im niederländischen Wohnungsbau vorbei ist.

Östlich von Amsterdam liegt eine grosse, flache Mondlandschaft im IJmeer. Sand und Wasser, soweit das Auge reicht. Eine grellweisse Brücke verbindet das Festland mit der Sandfläche. Man passiert herumliegendes Baugerät, einsame Strommasten, eine Würstchenbude. Dann tauchen die ersten Gebäude auf: eine Reihe mehrgeschossiger Neubauten, dahinter ein kleines Viertel mit Reihenhäusern. Einige hundert Meter weiter geht der Sand wieder ins Wasser über. Kaum zu glauben, dass diese Mondlandschaft einmal ein neues Stadtviertel von Amsterdam mit 18 000 Wohnungen auf sieben Inseln werden soll. Kaum zu glauben aber auch, dass es an dieser Stelle noch vor fünf Jahren gar kein Land gab. Doch mit der Anlage der ersten Inseln von IJburg wurde erst Ende 1999 begonnen. Mit dem Haven-, Riet- und Steigereiland sind drei der geplanten sieben Eilande inzwischen fertig. Im Gegensatz zu den meisten Landgewinnungsprojekten in Holland wird IJburg nicht eingepoldert, sondern aufgespült: Aus dem IJsselmeer wird Sand abgesaugt und im IJmeer aufgeschichtet. Nach etwa einem Jahr ist das Neuland so weit gesackt und gefestigt, dass es Häuser tragen kann. Dass diese Methode der Landgewinnung nicht ganz billig ist, versteht sich von selbst. Aber Amsterdam hat keine Wahl, denn die Stadt plagt ein akutes Platzproblem. Während die Einwohnerzahl stetig wächst, gibt es im Umland kaum noch Raum für Stadterweiterungen. Also musste man auf eine Massnahme zurückgreifen, die in den Niederlanden Tradition hat: Wenn es kein geeignetes Bauland gibt, macht man sich selber welches.

Abwechslungsreicher Archipel

Die Idee zur Anlage eines Inselstadtteils an diesem Ort geht bis ins Jahr 1965 zurück. Damals entwickelte das Architekturbüro Van den Broek en Bakema einen Plan für eine modernistische Archipelstadt, in der nicht weniger als 350 000 Menschen wassernah wohnen und arbeiten sollten. Die Gemeinde optierte indes für den Bau der Pendlerstädte Almere und Purmerend sowie des Hochhausviertels Bijlmermeer. Die Monofunktionalität dieser neuen Siedlungen hat sich jedoch im Laufe der Zeit als problematisch erwiesen, weshalb man sich bei der Planung von IJburg wieder mehr an der funktionalen Durchmischung orientiert hat. IJburg soll urban und abwechslungsreich werden. Jede Insel erhält einen eigenen Charakter, vom städtischen Haveneiland über die luxuriösen Rieteilanden bis hin zum eigenwilligen Steigereiland mit seinen Hausbootanlegern. Um den Archipel an das Stadtzentrum anzubinden, wurde eigens eine Strassenbahnlinie angelegt.
Allerdings hat bisher noch niemand eine Strassenbahn am Horizont gesichtet, und von der künftigen Betriebsamkeit ist auch noch nicht viel zu spüren. Der Bau der ersten Wohnungen verläuft schleppend, da die Wirtschaftslage sich verschlechtert hat und der Wohnungsmarkt seit einiger Zeit stagniert. Als erste Gebäude wurden die Brücke von Richard Grimshaw und eine Telefonzentrale mit Lichtfassade des Ateliers Zeinstra van der Pol fertiggestellt, die jahrelang einsam in den Nachthimmel blinkte. Allmählich beginnen sich aber Rohbauten um die Telefonzentrale auf dem Haveneiland zu scharen. Die Insel erhält eine dichte Blockrandbebauung, die mit einem variationsreichen Strassenbild einhergehen soll. Deshalb werden die Baublöcke jeweils von einem Architekten koordinierend geplant, der sich jedoch den Entwurf der einzelnen Gebäude mit mindestens drei anderen Büros teilen muss. Unter den beteiligten Architekten sind etablierte Büros wie Kees Christiaanse Architects, Claus en Kaan oder De Architekten Cie, aber auch jüngere Teams wie VMX oder Arons en Gelauff.

Konjunktur contra Innovation

Die bisher realisierten Blöcke an der IJburglaan, der künftigen Hauptstrasse, machen bereits deutlich, dass IJburg wohl kein Laboratorium für innovative Architektur ähnlich den östlichen Hafeninseln in Amsterdam wird. Zwar hat Block 4 von Maccreanor Lavington kürzlich einen der begehrten RIBA-Awards erhalten, aber im Vergleich zu den radikalen Patiohäusern, die vor fünf Jahren nach einem Masterplan von West 8 auf Borneo-Sporenburg entstanden, sehen die mehrgeschossigen Backsteinbauten ziemlich blass aus. Wenn die Konjunktur schwächelt, bestimmt eben auch in Holland kostengünstige und konsensfähige Architektur den Markt. Hinzu kommt, dass ein Aufsichtsteam aus konservativen Architekten und Stadtplanern über die Ästhetik der Entwürfe wacht und manch eine Idee im Keim erstickt.

Auch die Reihenhäuser auf dem Grossen Rieteiland haben wenig Neues zu bieten. Einzig das Kleine Rieteiland verspricht spannend zu werden, denn es besteht grösstenteils aus freien Grundstücken, die der Käufer mit einem Haus nach seinem Geschmack bebauen darf - in Holland noch immer eine revolutionäre Idee. Die Bauherren müssen sich lediglich an den städtebaulichen Rahmenplan halten, den das Amsterdamer Büro Bosch Architecten entwickelt hat und der eine Bebauung mit „Reihenvillen“ mit Skyboxes vorsieht. Auf vier Parzellen haben Bosch ihre Vorgaben zu beispielhaften Villen ausgearbeitet und damit die bisher schönsten und typologisch interessantesten Bauten auf IJburg geschaffen. Äusserlich suburbane Villen, haben die schwarz glitzernden Bauten innen Loftcharakter und inszenieren dank einem Wechselspiel introvertierter und extrovertierter Räume den Dialog mit der wasserreichen Umgebung. Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft noch mehr solche architektonischen Perlen im Sand von IJburg zu finden sein werden. Nächstes Jahr beginnt das Aufspülen der vierten Insel, des Centrumeilands. Dort, wo einmal eine Brücke das Haveneiland mit dem Centrumeiland verbinden soll, liegt der schönste Ort von IJburg: ein temporärer Strand mit Restaurant und Blick übers IJsselmeer. Hinter dem Zaun, der das Areal umgibt, weist ein Schild den Besucher darauf hin, auf welch unsicherem Grund er sich befindet: Vorsicht, Treibsand!

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.09.03



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Profil

Lebt seit 2000 als freie Architektur- und Designjournalistin in Amsterdam. Ihre Artikel erscheinen u.a. in Bauwelt, Baumeister, db, Metamorphose, design report, Frame, Mark und DAMn° Magazine. Darüber hinaus organisiert sie unter dem Namen architour Architekturführungen in den Niederlanden.

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