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10. April 2009Jan Tabor
Salzburger Nachrichten

Eine quadratische Wolke aus Stahl

Unbeachtet, nur wenige Schritte vom Oberen Belvedere entfernt, spielt sich das wohl denkwürdigste Architekturspektakel des 20. Jahrhunderts in Wien noch einmal ab.

Unbeachtet, nur wenige Schritte vom Oberen Belvedere entfernt, spielt sich das wohl denkwürdigste Architekturspektakel des 20. Jahrhunderts in Wien noch einmal ab.

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21er Haus

07. Dezember 2005Jan Tabor
Falter

Kampf der Peripherie

Am Graben, am Hohen Markt und am Donaukanal sind vier Siege der Stadt gegen den Stadtrand zu verzeichnen.

Am Graben, am Hohen Markt und am Donaukanal sind vier Siege der Stadt gegen den Stadtrand zu verzeichnen.

Die Altstadt ist jener Ort in Wien, wo der Kampf ausgetragen wird, den die winzige Großstadt Wien gegen ihre überdimensionale Peripherie zu führen hat. Derzeit sind in der vorweihnachtlichen City vier metropolitane Kleinsiege über die beständige Gefahr des Umkippens der Ganzstadt zum Stadtrand zu verzeichnen.

Wahrlich eine schöne Bescherung am Graben, dem wohl einzigen Ort in Wien, der noch nicht von der permanenten Peripherie erreicht wurde. Zwischen den beiden Häuserfronten abgehängt, schweben prachtvolle Leuchter so schwerelos und engelhaft herunter, als wären sie Himmelsboten. Ephemere Architektur. Sie erscheint und verschwindet wieder, in der Zeit dazwischen kann man den Raum über dem Graben völlig neu erfahren. Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern!

Während rundherum der elektrische Kleinkitsch leuchtend wuchert, wurde der Luftraum über dem Graben mit riesigen, quasivenezianischen Lustern bestückt. Die aus Tausenden kleinen Glühbirnen geflochtenen Leuchtkörper und Leuchtschleier in der Form von Flügeln sehen wie hybride Fluggeräte aus - etwas zwischen umgekehrter Gondel und dem ersten Flugzeug der Gebrüder Wright. Unter den prächtigen Lustern breitet sich aber weiterhin der entsetzliche Provinzgeist aus: die Punschkioske des Lions Club in Gestalt von echttirolerischen Almhütten.

Der zweite, weit leuchtende Sieg der Metropole über den Vormarsch der Peripherie ist die Erweiterung des Schuhgeschäftes Stiefelkönig in dem markanten Jugendstilhaus von Spielmann und Deller (1911) am Ende des Grabens. Die Wiener Architektengruppe BWM bereinigte die durch mehrfache Umbauten lädierte Fassade, indem sie der - sofern noch vorhanden - originalen Konstruktion der Schaufenster eine neue gläserne Schicht zufügte. Die ursprüngliche Grundstruktur der Schaufenster-Fassadenkonstruktion, in diesem Fall eine frühe „vorgehängte Fassade“, wird wieder sichtbar. Durch diesen fulminanten Eingriff gelingt es, das Innere des Geschäfts mit dem Außen zu verbinden. Das bislang düstere und unansehnliche Eck im Straßenraum wird zum Anziehungspunkt. Die Wirkung steht im Vordergrund, die eigentliche Architektur fällt kaum auf. Der gestalterische Eingriff ist derart einfühlsam durchgeführt, dass man den Eindruck hat, so elegant wie jetzt wäre es hier schon immer gewesen. Das Jugendstilgebäude, das aufgrund seiner Lage und der ausgefallenen Gestaltung zu den interessantesten seiner Art in Wien zählt, erhält viel von seinem ursprünglichen großstädtischen Flair zurück.

Wo immer Hans Hollein baut, erzittern die Stadtbilder. An der Ecke Wipplingerstraße/Hoher Markt hat er jetzt ein einstiges Banklokal in eine Filiale der Generali Versicherung umgebaut. Dabei hat Hollein in die Retrokiste der Siebzigerjahrearchitektur gegriffen. Damals war es üblich, die Sockelzonen von alten Häusern mit büchsenartigen Hüllen zu überziehen, die keine oder fast keine Rücksicht auf das Vorgefundene zu nehmen pflegten. Der gestalterische Bezug zu seiner frühesten Arbeit, dem berühmten Reti-Geschäft am Kohlmarkt, ist nicht zu verkennen, nur die frühere Virtuosität fehlt.

Auch bei der neuen Generali-Filiale handelt es sich um eine Art Büchse, die den unteren Teil eines Gründerzeithauses vollständig verdeckt. Ziehharmonikaartig gestellte Metallpaneele verwandeln ein Drittel einer unauffälligen Gründerzeitfassade in einen Container.

Die Absicht des Gestalters drängt sich geradezu auf: maximale Aufmerksamkeit zu wecken. Weit sichtbar sind die bordell-rot strahlenden, vertikalen Streifen und Embleme an der Fassade. Die Tag und Nacht leuchtende und auch sonst penetrant wirkende Präsenz hat allerdings einen guten Grund: Der bisher fade und als Geschäftszone unterentwickelte Hohe Markt hat dadurch einen längst erforderlichen Erneuerungsanstoß erhalten.

Vom Schwedenplatz aus sieht man neuerdings und möglicherweise eins zu eins, wie der neue Bau aussehen wird, der das alte Bürogebäude am Beginn der Taborstraße ersetzen soll. Die Fassade ist mit einem Transparent fast gänzlich bedeckt. Statt wie früher die Weihnachtssterne vom Schwedenplatz aus hierherzuprojizieren, zeigt der Bauherr Uniqa den von Jean Nouvel projektierten Büro-Hotel-Komplex. Überraschenderweise sieht die vergrößerte Architektur von Nouvel viel besser aus als in den bisher publizierten Zeitungsbildern.

Dennoch gibt es Bedenken. Allzu sehr lehnt sich Nouvel mit seinem Neubau an das schräge Generali-Gebäude von Hans Hollein an. Einerseits wortwörtlich: Der neue Baukörper wird zu dem bestehenden hingebogen, beide bilden zusammen ein Stadttor, wie es zu den antiquierten Sehnsüchten von Städtebauromantikern zählt. Andererseits hat Nouvel zu sehr die Form des vorgefundenen Bürohauses von 1960 übernommen, mit dem dessen Architekt Georg Lippert, im fatalen Zusammenspiel mit seinen anderen beiden Bauten (IBM, Raiffeisenbank), die Leopoldstadt städtebaulich vermauert hat. Das Bemerkenswerte an der Lösung von Hollein war nicht so sehr die Architektur selbst, sondern wie mit dem Generali-Turm die Leopoldstadt geöffnet und zugleich mit dem Gegenüber am Donaukanal, mit dem Schwedenplatz, verbunden wurde. Diesem vortrefflichen Gedanken Holleins vermag Nouvel nicht zu folgen.

Die Transparenz des Bauherrn ist eine Neuheit in Wien. Wir, empfindsame und couragierte Stadtbewohner, können den Entwurf begutachten, gut oder schlecht finden, wir können diskutieren, protestieren oder zustimmen. Dafür lassen sie uns reichlich Zeit, denn laut Transparent ist der Baubeginn für 2007 vorgesehen. So weit ersichtlich: Es zeichnet sich kein Malheur ab.

Falter, Mi., 2005.12.07

13. Juli 2005Jan Tabor
Falter

Autofahrer unterwegs

In der Lothringerstraße feiert die autogerechte Stadtplanung ein seltsames Comeback, und Jean Nouvel droht den Donaukanal zu behübschen.

In der Lothringerstraße feiert die autogerechte Stadtplanung ein seltsames Comeback, und Jean Nouvel droht den Donaukanal zu behübschen.

Es fährt sich gut durch die Lothringerstraße, sowohl auf dem Rad als auch mit dem Auto. Und es geht sich gut unter den Platanen auf dem Gehsteig der beruhigten Nebenfahrbahn. Alles probiert. Fabelhaft. Die Lothringerstraße, die davor mehr ein langer schmaler Platz denn eine Straße war, mit dem Grünstreifen in der Mitte eine Art verkehrte Ringstraße, ein Missing Link zwischen dem militärisch strengen Schwarzenbergplatz und dem mondänen Stadtpark, eine städtebauliche Rarität, diese vergessene Prachtstraße ist zu einer modernen, leistungsfähigen Schnellstraße durch weiterhin schmucke Gegend geworden.

Flott bis zu der Ampel, die sich an der Kreuzung Am Heumarkt befindet. Hier setzt die Gegenfahrtrichtung an, hier erfährt man, wie schwer die Neuordnung der Verkehrsströme auf der Strecke zwischen dem Karlsplatz und dem Donaukanal zu bewerkstelligen ist. Bis zur Urania reicht nun der Karlsplatz. Er ist endgültig eine „Gegend“ (Otto Wagner) geworden, durch die ein Autobahnzubringer führt.

Diese Topomorphose zu erreichen, war nicht schwer. Die hier siegreichen Verkehrsplaner griffen auf ein einfaches und lang bewährtes, wiewohl längst in Verruf geratenes Mittel zurück: die Trennung der Funktionen. Das Auseinandernehmen und -halten von fundamentalen Stadtfunktionen wurde in der von Le Corbusier initiierten berüchtigten Charta von Athen 1933 kategorisch verlangt. Im Konzept der „autogerechten Stadt“, der vorherrschenden Stadtplanungsdoktrin der Nachkriegszeit, wurde die Trennung perfektioniert und bis in die Achtzigerjahre praktiziert. Mit den bekannten Folgen: der Zerstörung der vorhandenen oder möglichen Urbanität.

Die autoungerechte Phase währte nicht lange. Bei der Neugestaltung der Lothringerstraße haben wir es mit einem Musterbeispiel für die in Wien seit etwa 1990 dominierende Retro-Stadtplanung zu tun. Verkehrsplanung ist wieder Stadtplanung, vereint unter einem Stadtrathut.

Das Auffälligste an Neugestaltung sind der Geländebuckel beim Hotel Intercontinental und die Gräben, die in Form und malerischer Wirkung ziemlich getreu jenen Gräben gleichen, die einst überall in den Dörfern die Straße von den Vorgärten der Häuser trennten. Längst sind diese mit Gras bewachsenen Mulden unter Parkplätzen oder Straßenerweiterungen verschwunden. Ursprünglich wollte Johann Georg Gsteu, der Architekt der Lothringerstraße, den versunkenen Wienfluss wenigstens stückweise freilegen. Das durfte oder wollte er nicht mehr. Die seltsamen Straßengräben in der Lothringerstraße sind als Erinnerung an den unglücklichen Fluss unter dem Straßenbelag zu verstehen. Nicht an die verschwundenen Straßengräben in den österreichischen Dörfern, obwohl die Lothringerstraße fast zur Hälfte wie ein Dorfanger in einer Marchfeldgemeinde ausschaut.

Die Podiumsdiskussion, die unter dem seltsamen Titel „Die Krise in der Kiste“ und einer glücklichen Almkuh auf dem groß projizierten Plakat vorige Woche im Architekturzentrum Wien abgehalten wurde, war selbst für diese an Esprit arme Institution ungewöhnlich langweilig geraten. Kurze Auffrischung brachte nur ein Streitgespräch darüber, ob das Interunfall-Bürohaus, das Jean Nouvel 1996 in Bregenz errichtete, ein miserables oder ein hervorragendes Bauwerk sei.

Der Vorarlberger Architekt Much Untertrifaller am Podium meinte, das Nouvel-Gebäude sei schlecht. Richard Manahl, ein Wiener Architekt aus Vorarlberg im Publikum, fand es hervorragend. Möglicherweise irrt er sich. Denn in dem von Otto Kapfinger 1999 herausgegeben Architekturführer „Baukunst in Vorarlberg seit 1980“ wird das Nouvel-Gebäude nicht verzeichnet. Auf Kapfingers Urteil ist Verlass. Er hat die Ausstellung „Konstruktive Provokation. Neues Bauen in Vorarlberg“, auf deren Plakat sich die fette Kuh befindet, zusammengestellt (bis 29.8. im Architekturzentrum). Bei der Diskussion ging es darum, ob der weltberühmte Architekturregionalismus (deshalb wohl die schöne Kuh auf dem Plakat) in Vorarlberg mit seiner Vorliebe für orthogonale Formen (deshalb wohl die Kiste im Diskussionstitel) bereits passé sei. Resümee: Die nach Wien ausgewanderten Vorarlberger bejahen die Untergangsthese, die heimattreuen verneinen sie. Die Auffassung der Heimattreuen wird von der Kapfinger-Ausstellung überzeugend illustriert.

Nach zwei Bauten an der Wiener Peripherie wird es dem Weltstar Jean Nouvel nun doch gelingen, mit seiner Architektur bis ins Zentrum der Weltstadt Wien vorzudringen. Fast bis ins Zentrum. Am Donaukanal, auf dem kleinen, durch Planungen bis zur Unerkennbarkeit misshandelten Platz am Brückenkopf der Schwedenbrücke, soll er neben dem Medientower einen weiteren Turm errichten.

Es ist Nouvels zweiter Versuch, diesen einprägsamen Ort zu beschmücken. Schon am Wettbewerb für die Neubebauung des abgerissenen ÖMV-Hauses hat er teilgenommen, den Hans Hollein mit dem Medientower gewann. Nouvel hatte damals eine Version seiner 1996 fertiggestellten, mittlerweile legendären Galeries Lafayette in der Berliner Friedrichstraße vorgelegt, ein mit einer weich modulierten Glashaut umhülltes Kaufhaus. Diesmal legte er harte Kanten vor und siegte.

Jean Nouvel ist ein vorzeitig verblühter Star, ein Architekt, auf den man sich nicht ganz verlassen kann. Es kann gut werden, sehr gut sogar. Oder auch schlecht. Auf den Bildern, die in den Zeitungen abgebildet wurden, wirkt das Hochhaus städtebaulich plump und formal diffus, eine fade Kiste. Aber gut. Wir können nur hoffen, dass lediglich die Fotocollagen und Renderings so schlecht sind, die in den Zeitungen oder im Internet veröffentlich wurden, nicht die Architektur selbst.

Wie wichtig die neuen Perlen am Donaukanal sind, zeigt sich an der Tatsache, dass Rudolf Schicker, der zuständige Planungsstadtrat, sich selbst zum Juroren ernannt hatte, um mitentscheiden zu können. So locker sind die Wettbewerbssitten mittlerweile geworden.

Falter, Mi., 2005.07.13

12. Mai 2005Jan Tabor
Falter

Aspern leuchtet

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: eine Apotheke, die ein Durchhaus ist, eine Einfahrt, die ein Wirtshaus ist, und ein Stuhl, der ein Prisma ist.

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: eine Apotheke, die ein Durchhaus ist, eine Einfahrt, die ein Wirtshaus ist, und ein Stuhl, der ein Prisma ist.

Der Apotheker zum Löwen von Aspern, Dr. Wilhelm Schlagintweit, ist ein klassischer Gutmensch. Es reicht ihm nicht, bloß ein Pharmazeut zu sein, er will auch noch als Aufklärer wirken. Er hat sich eine Apotheke bauen lassen, die einzigartig ist. Eine Apotheke als Passage, als Think-Tank und Kleinkloster: ein Durchgang mit zwei Höfen zwischen zwei Straßen, mit zwei Feuermauern, zwei Ahornbäumen, einer Birke, einer Rosskastanie und einem Ginkgo. Auf einer vierzig Meter tiefen und 16 Meter breiten Parzelle in Wien-Aspern errichtete Artec (Bettina Götz und Richard Manahl) ein Bauwerk, das in vieler Hinsicht außergewöhnlich ist. Es fängt mit der einfühlsamen Integration ins Stadtbild an und endet mit der Konstruktion der Decke, dem Farbkonzept, den Designdetails (zum Beispiel der Schubladen ohne Griffe).

Wenn die Apotheke offen hat, dann ist sie wirklich offen: Man kann durchgehen, auch wenn man nichts braucht - von der stark frequentierten und lauten Groß-Enzersdorfer Straße in die stille Zachgasse. Man sieht hindurch, und man sieht fast überall hinein in das geradezu verschwenderisch großzügig bemessene Verkaufslokal, in das Labor, das Lager oder hinter die kurzen Theken, die wie Lesepulte aussehen. Der Kundenraum ist eine Halle, und die ist durch die in der Betondecke eingelassenen Lichtbänder gegliedert. Wenn offen ist, dann ist auch der Hinterhof offen, wo sich der Verkaufsstand eines Biobauern befindet.

Wenn die Apotheke zu ist, dann sind an der Vorderfront die hellgrünen Vorhänge zugezogen. Nachts leuchtet die Apotheke zum Löwen von Aspern wie ein Teich.

Auf der Rückseite hingegen wird nur das Rollgitter runtergelassen, sodass der Passant immer einen Blick ins Labor mit all seinen seltsamen Gerätschaften werfen kann. Die Arbeitswelt bleibt ein Teil des Straßenlebens. Die Rückseite ist übrigens vielfältiger und spannender als die Vorderfront, die aus einer zwischen Boden und einem riesigen Sichtbetonbalken gespannten Glaswand besteht. Die Schräge simuliert ein Satteldach. Auf der anderen Seite befindet sich ein fast identischer Fertigteilbalken. Die vor Ort gegossene Sichtbetondecke zwischen den beiden Balken kommt ohne Stützen aus - eine verblüffend einfache (also geniale) Konstruktion, die von Artec und ihrem Statiker Oskar Graf treffend als „fliegender Teppich“ bezeichnet wird.

Auf dem Flachdach der Apotheke befindet sich ein von unten nicht sichtbarer pavillonartiger Glasaufbau, in dem sich das Büro, der Aufenthaltsraum fürs Personal und der Ruheraum für den Nachtdienst befinden; darüber eine Dachterrasse und ein Kräutergarten, der nach dem Vorbild der einstigen klösterlichen Paradiesgärten angelegt wurde. Hierher pflegt der Apotheker an Heilpflanzen Interessierte einzuladen, Schulklassen etwa. Die Architektur ist wie der Apotheker zum Löwen von Aspern: außergewöhnlich.

Wiewohl das Lokal noch nicht ganz fertig scheint, sieht man bereits deutlich: Sein Erstlingswerk ist Norbert Sputnic geglückt. Man fragt sich nur: Ist dem Bauherrn die Geduld mit dem Architekten und dessen Sehnsucht nach zeitgemäßer architektonischer Kargheit gerissen, oder ist ihm das Baugeld ausgegangen; oder steckt hinter dem unvollendeten Erscheinen gar eine höhere baukünstlerische Absicht: die Fassade als objet trouvé, als Zeitzeugnis. Obwohl das Lokal keinen Namen zu tragen scheint, hat es angeblich doch einen: Einfahrt - wegen der Ein- und Ausfahrt in die Tiefgarage unterm Karmelitermarkt, die extrem blöd situiert und gestaltet ist, sodass aus dem neuen Lokal kein Ausblick über das Marktgelände möglich ist. Die Tiefgarage hat den einst legendär vitalen Markt derart lädiert, dass jetzt unter uns, den Bewohnern des zweiten Bezirks, das Gerücht kursiert, dass der Markt aufgelassen und bebaut werden soll. Die „Einfahrt“ nun wird von uns als frohe Botschaft genommen: Der Markt wird leben.

Die Fassade, in der ausgewiesene Ästhetikexperten wie Heimo Zobernig ein erhaltenswertes Kunstwerk erblicken, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Spuren des Umbaues trägt. Der Verputz der bündig eingebauten Fenster und Türen blieb als weiße Flecken unangetastet. Die Reste der einst auf den hellerbsengrünen Grundanstrich gepinselten Aufschriften sind noch erkennbar: Die Großbuchstaben FO und ein wenig weiter RBKOPIEN erinnern daran, dass hier früher ein Kopiergeschäft war.

Neben der Tür ragt ein würfelförmiges Glasaquarium aus der Fassade, in dem aber keine Fische schwimmen, sondern eine Vase steckt. Das Lokal sei work in progress, erklärt der Architekt, zu dem Glaskästchen werde sich noch ein Treppe und ein Podest hinzugesellen, um einen Hochstand fürs Zuzweitsein zu schaffen. Das Ding soll „Beichtstuhl“ heißen.

Der längliche Innenraum ist leicht gekrümmt, was ihm eine cool zeitgemäße Note verleiht. Zur Toilette führt eine Rampe, die mit einem schweren Eisengeländer ein Gegengewicht zu den Theken bildet, die - wie auch die übrige Einrichtung - eine Möbelcollage sind. Die Decke dominieren dicke Lüftungsrohre, die ein wenig an den legendären Roten Engel erinnern, wie er seinerzeit von Coop Himmelb(l)au geschaffen wurde. Die auffällig hohen Rückenlehnen der harten Sitzbänke sind sowjetrot und dem Schleudersitz der MIG 29 nachgebildet. Die Farbe hat Gûnes ausgewählt, die zwölfjährige Tochter von August, dem Einfahrtswirt. Die altdeutsch plumpen und unbequemen Stühle sind der einzige Makel der Einfahrt.

Was ist ein Stuhl? Oskar Strnad, „der große Lehrer“ von Margarete Schütte-Lihotzky an der Kunstgewerbeschule in Wien, pflegte seine Studenten und seine einzige Studentin durch merkwürdig banale Fragen zum präzisen Denken anzuregen. Nach einigen verlegenen Antworten, unter denen sich „ein Mensch, der noch nie einen Stuhl gesehen hat, nichts vorstellen kann“, antwortete er: „Ein Stuhl ist ein Prisma in der Höhe der Unterschenkel.“

Margarete Schütte-Lihotzky (1897- 2000), war die erste und die erste international erfolgreiche Architektin in Österreich. Sie lebte lange und schrieb auch lange an ihren Erinnerungen. Nun wurden diese von Karin Zogmayer aus dem Nachlass im Archiv der Universität für angewandte Kunst geholt, redigiert und im Residenz Verlag herausgegeben.1 Am Anfang, unter einem jugendlichen Porträtfoto der Architektin, befindet sich ein Zitat: „(...) im Übrigen habe ich immer sehr ungern geschrieben und wollte immer nur bauen“. Das, was sie doch geschrieben hat, ist nicht viel, dafür aber höchst interessant.

Falter, Do., 2005.05.12



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Apotheke „Zum Löwen von Aspern“



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Warum ich Architektin wurde

19. Januar 2005Jan Tabor
Falter

Ein Annus horribilis für propeller z

Für propeller z war das vergangene Jahr ein entsetzliches; ein Annus horribilis, wie Queen Elizabeth schlimme Zeiten für den Buckinghampalast zu nennen...

Für propeller z war das vergangene Jahr ein entsetzliches; ein Annus horribilis, wie Queen Elizabeth schlimme Zeiten für den Buckinghampalast zu nennen...

Für propeller z war das vergangene Jahr ein entsetzliches; ein Annus horribilis, wie Queen Elizabeth schlimme Zeiten für den Buckinghampalast zu nennen pflegt. Im vergangenen Sommer wurde in Essen eine riesige Abrissraupe losgeschickt, um „Meteorit“, das Wissenschaftszentrum des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerkes, der Erde gleichzumachen. Ohne die Architekten des 1998 errichteten futuristischen Gebäudes zu benachrichtigen. Von dem international viel beachteten Beispiel für das Space-Design-Revival der Neunzigerjahre ist nichts übrig geblieben. Keine Spur. Nur das Foto mit der demolierenden Raupe. Es fehlte nicht viel, und auch ein anderes legendäres Werk von propeller z wäre bis zum 31. Dezember 2004 spurlos verschwunden: die basis wien im MuseumsQuartier. Noch ist ein Rest vorhanden. Auch ein Rest an Hoffnung.

Das MuseumsQuartier ist kein günstiger Ort für gute zeitgenössische Architektur. Das Depot von Artec wurde vor drei Jahren aus dem MQ eliminiert. Jetzt ist die basis wien von propeller z an der Reihe. Offenbar soll keine bauliche Spur im MuseumsQuartier bleiben vom Versuch des ehemaligen Kunstministers Rudolf Scholten, eine völlig neue, geradezu exemplarisch und experimentell demokratische Kulturpolitik aufzubauen. Würde ich den MQ-Direktor Wolfgang Waldner nicht kennen und seine langsam greifenden Bemühungen, im MuseumsQuartier gute Architektur zu etablieren, nicht hoch schätzen, müsste ich ihm vorwerfen, er betreibe mit Mietverträgen Kulturpolitik.

Am 17. Dezember des vergangenen Jahres fand in den Räumen der basis wien eine Versteigerung statt, die der Demolierung eines bedeutenden Architekturwerkes gleichkam. Die 1998 von propeller z im Auftrag der Exbundeskuratorin Lioba Reddeker entworfene Inneneinrichtung des Kunstinformationszentrums hätte restlos entfernt werden müssen. Gemäß einer Klausel im Mietvertrag mit der MuseumsQuartiergesellschaft müssen nämlich alle gemieteten Räume zum Zeitpunkt des Auslaufens in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden.

Das Büro der basis wien wurde in einem barocken Saal eingerichtet, der unter Denkmalschutz steht. Die Architekten durften die Wände nicht antasten. Auf die besonderen Nutzungsbeschränkungen reagierten propeller z mit besonderer Fantasie. Die Möblierung und alle Anbauten waren entweder mobile oder freistehende, leicht zerlegbare Einheiten. Man muss sich wundern, dass das Denkmalschutzamt nicht die Gelegenheit ergriffen hat, über diese exemplarisch gelungene Implantation einer radikal zeitgenössischen Architektur in ein eindrucksvolles historisches Ambiente seinen schützenden Amtsarm zu halten. So aber blieb der basis wien nichts anderes übrig, als die mobilen Teile der Einrichtung zu versteigern.

Neuerdings keimt für die basis wien als Beispiel für hervorragendes Interieurdesign der Neunziger Hoffnung auf - partielle, vorübergehende Hoffnung. Das Wesentliche aus der Einrichtung, der Aluwandverbau, der als ein Wandschild durch die Tür in den Hof ragt, wurde noch nicht verkauft und musste noch nicht abgebaut werden. Wolfgang Waldner hat sich bereit erklärt, mit den Proponenten der basis wien über die Erhaltung der propeller-z-Architektur zu sprechen. Er setzte die Wiederherstellungsklausel des Mietvertrags aus. Vorübergehend.

Falter, Mi., 2005.01.19



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12. Januar 2005Jan Tabor
Falter

Das Weltstadteinkaufswagerl

Architektur Endlich haben „News“- und „Format“-Leser das Weltstadtkaufhaus, das sie verdienen: den neu eröffneten Meinl am Graben.

Architektur Endlich haben „News“- und „Format“-Leser das Weltstadtkaufhaus, das sie verdienen: den neu eröffneten Meinl am Graben.

Neuerdings bin ich nicht nur bloß Gourmand, sondern auch Gourmet. Feinschmecker. Auch ich. Dieses stolze und dank der modernen Sozialdemokraten selbst in breiten Bevölkerungsschichten populär gewordene Attribut habe ich unlängst schwarz auf weiß erhalten: auf dem Kassenzettel meines gründlich erneuerten Stamm-Meinl. Das Verkaufslokal sei nun noch angenehmer geworden, als es ohnehin bereits gewesen sei, hat der sozialkritische Schriftsteller Gustav Ernst, mein Freund und Nachbar, zu mir gesagt, als ich ihn am 31. Dezember zufällig in unserer gemeinsam bevorzugten Filiale getroffen habe.

Vor dem Umbau waren die massiven, freistehenden Regale so gestellt, dass das langgestreckte Verkaufslokal in der Mitte barrierenartig versperrt wurde. Jetzt sind die Regale wesentlich kürzer, filigraner und doch geräumiger; sie lassen die Mitte frei und lenken die Blicke der Kunden zum Stehcafe am anderen Ende der Halle. Die offenbar von einem fähigen Designer entworfenen Regale sind aus leichten, normierten Gitterelementen zusammenmontiert. Die neue Farbgebung, welche die einstige Meinl-Kennfarbe Gelb durch eine dunkelbraungraue Edelstahltönung ersetzt, bringt die Buntheit der Verpackungen zur Geltung, wirkt beruhigend, ist elegant. Im selben mattglänzenden Farbton sind auch die neuen Einkaufswagerl gehalten. Dass man für sie jetzt Münzen braucht, ist die einzige Neuerung in meiner Filiale, die keine Verbesserung, sondern eine Veschlechterung darstellt.

Die gleichen Einkaufswagerl stehen auch im neuen Gourmet-Tempel in der Wiener Innenstadt, dem angeblich erlesensten im ganzen Österreich, im renovierten Meinl am Graben. Das Graben-Meinlwagerl unterscheidet sich vom Taborstraßen-Meinlwagerl in zwei Merkmalen: es hat keine Münzverschließung, und die Handgriffe sind nicht mit Plastik, sondern mit Leder bezogen. Mit echtem Leder. Bereits im Zugriff aufs Wagerl ist also das Ergreifen des wahren Luxus enthalten - hier, am Graben, nur hier. Diese Ledergriffe dürften so wertvoll sein, dass sie in dem mit abgestellten Wagerln vollgestopften Entree stets von einem athletischen, kämpferisch uniformierten Jungmann eines privaten Security-Dienstes bewacht werden müssen.

Der neue Meinl am Graben - ein „Weltstadtfeinkosthaus?“. Das „Format muss man haben“-Magazin Format, Abteilung „Modernes Leben“, Unterabteilung „Reportage“, ist am Tag der Eröffnung in Wort und Bild dieser Frage nachgegangen. „Die Besucher sind sich einig: Ja, ist es, und sie scheuen sich nicht, Harrod's in London, Fouchon und Hedinard in Paris im gleichen Atemzug zu nennen.“ Wobei die Format-Urteilseinigkeit durch folgende für die Formatierung einer neuen Genuss- und Geschmackskultur des österreichischen Volkes wichtige Leute illustriert wird: den Ex-Bürgermeister Helmut Zilk, den Bildhauer Alfred Hrdlicka, den Ballettchef Michael Birkmayer und - selbstredend - durch Agnes Husslein, die Geschäftsführerin von Sotheby's in Wien. Sie alle machen einen glücklichen Eindruck: Endlich auch in Wien!

Ich hingegen, ein eingefleischter Gourmand, der hier eigentlich nichts zu suchen hat, kann meinen Augen nicht glauben: ein Weltstadtfeinkosthaus? Dies? Ich gehe mehrmals hin. Der Nahkampfmann von der Security hat viel zu tun. Er muss den Besuchern erklären, wie sie in den Gourmet-Tempel gelangen: nicht geradeaus, sondern gleichsam zweimal ums Eck. Beim dritten Besuch treffe ich endlich auch hier einen alten Freund: den renommierten, sozialkritischen Kulturhistoriker Christian Ehalt. Er meint, der renovierte Meinl illustriere, was sich sonst in der Gesellschaft abspielt: allgemeine Verunsicherung bezüglich der Werte, des Geschmacks, der Bedeutungen. Ein Abbild des globalen Durcheinanders. Meine Bemerkung, hier werde der Luxus so dargeboten, wie sich Wiener Hausmeister Harrod's in London vorstellten, bezeichnet Christian, der ein aufrechter 68er ist, als präpotent. Zu Recht. Im Aquarium der Fischabteilung (mit einem dürftigen Angebot) schwimmen munter prachtvolle Zierfische. Sie sind ebenso computergeneriert wie die riesige weihnachtliche Kaminflamme auf dem Plasmascreen im Stiegenhaus (jetzt gibt es ein anderes Bild). Der echte Hausmeister würde hier ein echtes Aquarium und nicht diese Aufrichtigkeit erwarten, mit der auf die virtuelle Qualität der Fische in der Verkaufskühlbox hingewiesen wird, die wirklich echt aussehen.

Hier, im Meinl am Graben, ist so gut wie alles Surrogat, ist fast alles daneben geplant, entworfen, ausgeführt und das meiste durcheinander geraten. Die Außengestaltung ist architektonisch banal. Das Entree erinnert an einen verstellten Hinterhof. Der eigentliche Eingang befindet sich in einem altnachgemachten Holzportal und sieht wie ein eingemauertes Schaufenster aus. Das Lokal ist unübersichtlich. Die Gänge zwischen den Regalen sind eng und labyrinthisch. Die Stiege ist falsch situiert und hässlich. Die vier Aufzüge hält man für den Durchgang zu der Gemüse-Stehbar im Hintergrund. Der Weinkeller sieht aus wie eine Tenne in der Buckligen Welt, die zur rustikalen Disco umgestaltet wurde. Bei den Regalen herrscht ein buntes Durcheinander, die meisten sind plump, vor allem die aus dem Quasimahagoniholz. Die Abteilungen für die verschiedenen Warengruppen (Obst und Gemüse, Brot und Semmeln et cetera) sind kitschig. Aber nicht richtig mutig kitschig, sondern gehoben kitschig, urban-rustikal, damit sich hier neben den neu dazugekommenen neureichen Hausmeistern und News-Lesern auch das ortsansässige, gehobene, wertkonservative (von Thomas Bernhard so vortrefflich beschriebene) Graben-Kohlmarkt-Lodenpublikum weiterhin wohl fühlt.

Die Vielfalt gleicht einer Ansammlung von künstlichen EU-Rustikalitäten. Die Decken mit den mächtigen Leitungen sind nur notdürftig hinter abgehängten plumpen Holzrosten versteckt. Die handwerkliche Bearbeitung der Möblierung ist ungewöhnlich schlampig. Noch schlampiger allerdings ist das Design selbst. Reiner Pfusch. Die Beleuchtung ist dilettantisch. Die Spotlampen blenden. Im Cafe duftet es nicht nach frisch geröstetem Kaffee, sondern es stinkt nach überreifem Käse, denn die Käseabteilung befindet sich gleich neben der im weißen Rosenkavalier-Stil eingerichteten Quasizuckerbäckerei und dem dunkelbraunen Quasicafe, einer Mischung aus englischem Pub, Wiener Cafe und der Lobby eines 3-Sterne-Hotels. Hier hängt eine billige Farbdruck-Kopie von Vermeers „Mädchen mit der Perle“, die Polstersitze sind zu niedrig, der enge Gang ist mit Einkaufswagerln mit Echtleder-Griffen verstopft.

Das Kaufhaus ist das Museum des kleinen Mannes, meint Walter Benjamin. So wie der neue Meinl am Graben an eines der neugestalteten österreichischen Museen erinnert, am ehesten an das MAK, so gleichen die ermatteten Kunden in dem ungemütlichen Meinl-Cafe den erschöpften Ausstellungsbesuchern in einer unwirtlichen Museumsrestauration. Heutzutage zeitgemäß zu sein, kann fürchterlich anstrengend sein. Wirklich zu bedauern ist das Personal: Der Meinl am Graben ist eine furchtbare Arbeitsstätte. Auch das gilt neuerdings als zeitgemäß.

Falter, Mi., 2005.01.12

22. Dezember 2004Jan Tabor
Falter

Der letzte Silberprinz

In einer bemerkenswerten Ausstellung im Mak erinnert sich Peter Eisenman an seine Werke und Ideen, mit denen er den Funktionalismus der frühen Moderne auf die Spitze treiben und damit überwinden wollte.

In einer bemerkenswerten Ausstellung im Mak erinnert sich Peter Eisenman an seine Werke und Ideen, mit denen er den Funktionalismus der frühen Moderne auf die Spitze treiben und damit überwinden wollte.

Zu Peter Eisenman fällt einem vor allem Peter Eisenman ein. So wie einem zu Le Corbusier zuerst Le Corbusier einfällt und erst danach die Villa Savoye oder die Regierungsstadt Chandigarh. Peter Eisenman ist ein prachtvoller Kerl. Fotogen selbstbewusst bis zum Sendungsbewusstsein. Das weiß auch Mak-Direktor Peter Noever (der ebenfalls einen Prachtkerl abgibt). Daher hat er auf die Plakate und Einladungen der Eisenman-Ausstellung im Mak den eindrucksvollen Dreiviertelkopf von Eisenman mit Noevers Mak im Hintergrund anbringen lassen und nicht etwa das fast ein Jahrzehnt lang heftig diskutierte und nun doch so gut wie fertige „Mahnmal für ermordete Juden Europas“ in Berlin. Das Denkmal ist offensichtlich in Begriff, zu jenem signifikanten Bauwerk zu werden, das einem bald zum Namen Eisenman einfallen wird; so wie man das Haus am Michaeler Platz mit Adolf Loos, das Haus Schröder mit Gerrit Rietveld oder die Casa dei fascio mit Guiseppe Terragni assoziiert - um eben jene Proponenten der klassischen Moderne zu erwähnen, auf die sich Eisenman neben Le Corbusier am stärksten beruft.

Peter Eisenman sieht aus wie ein Architekt, der eine Vision hat und eine Mission erfüllen muss. Er pflegt eine große Brille mit runder dünner Nickelfassung zu tragen (was ihn von Le Corbusier unterscheidet, der eine große Brille mit runder dicker Hornfassung bevorzugte). Meist hat er ein dick gestreiftes Hemd an und dazu breite Hosenträger sowie eine Fliege (auch dann, wenn er einen dünnen Pullover mit Rundhalsausschnitt trägt). Sein kurz geschnittenes dichtes Haar ist seit Jahren silbergrau. Peter Eisenman lächelt stets fröhlich (auch das unterscheidet ihn von Le Corbusier, der stets grimmig und gehetzt aussah) und strahlt Zuversicht und Gelassenheit aus. Er ist der letzte Silberprinz.

Silver prince. Der Amerikaner Tom Wolfe, Schriftsteller („Fegefeuer der Eitelkeiten“), Dandy und ein Passionseuropäer wie Eisenman, veröffentlichte 1981 ein dünnes, aber ungemein erfolgreiches Buch, das Pamphlet „From Bauhaus to Our House“. Wolfe griff darin jene Moderne, die man nun klassisch zu nennen pflegt, als unamerikanisch und verderblich an. Ihre Proponenten bezeichnete er als „Silberprinzen“, von denen einige nach Amerika geraten seien, um die amerikanische Aschenbrödel-Architektur wachzuküssen. Sie, die - wie Marcel Breuer, Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius - vor allem als Emigranten aus Nazideutschland kamen, seien für den Niedergang der amerikanischen autochthonen Baukultur verantwortlich.

Über die Auswirkungen dieses Buchs, das wenig später unter dem Titel „Mit dem Bauhaus leben“ auf Deutsch erschienen ist, lässt sich nur spekulieren. Weil es den Aufschwung der Postmoderne und das Renegatentum unter den Jüngern der reinen Lehre der Moderne zu beschleunigen half, dürften sie heftig gewesen sein. Seine Jünger heißen Michael Graves, Charles Gwathmey, John Hejduk, Richard Meier und - dessen Cousin - Peter Eisenman. Als Gruppe traten die Genannten 1969 in einer Ausstellung im Museum of Modern Art in New York auf und zeigten Arbeiten, die durch einen radikalen Rückgriff auf die frühe Moderne der Zwanzigerjahre gekennzeichnet waren. Es waren ausschließlich Einfamilienhäuser, allerdings mehr Architekturmanifeste als Häuser fürs unbeschwerte Wohnglück. Zeitweise sah es so aus, als würden Graves - und davor auch Eisenman - zu Kronprinzen der 1977 vom britischen Theoretiker Charles Jencks ausgerufenen Postmoderne avancieren. Das ist dann doch nicht ganz so gekommen.

Obwohl Eisenman 1932 in Newark/New Jersey als Sohn einer amerikanisch assimilierten jüdischen Familie geboren wurde, sieht er wie ein europäischer Architekt und europäischer Intellektueller aus - allerdings so, wie sich die Amerikaner einen solchen vorstellen. Eisenman weiß, dass zu einer richtigen Architekturtheorie, die Einfluss haben will, auch das richtige Erscheinungsbild des Architekten gehört. Es ist das Outfit der klassischen gutbürgerlich-revolutionären Männlichkeit der Zwanzigerjahre, der so genannten „weißen“ Moderne, auch Funktionalismus, Neue Sachlichkeit, Internationaler Stil oder Bauhausstil genannt. Das „Klassische“ an ihr wird als Hinweis auf ihre strengen Regeln, auf die ästhetische und soziale Verbindlichkeit ihrer Architektur verstanden.

In Wirklichkeit stammt der Begriff „klassische Moderne“ von Peter Eisenman, der als Architekturtheoretiker an der frühen Moderne von Le Corbusier, Rietveld oder Terragni kritisiert, dass sie sich nur verbal und theoretisch von der Tradition gelöst habe, faktisch aber eben „klassisch“ geblieben sei. Eisenmans Kritik ist eine konstruktive. Als Architekturpraktiker versucht er in seinen Projekten, die klassische Moderne weiterzutragen, weiterzuentwickeln, sie zu „dynamisieren“, um mit einer von ihrer Klassizität und den damit einhergehenden Verpflichtungen und Dogmen befreiten, bei aller Kritik aber heiß geliebten europäischen „weißen“ Moderne in die Tiefen der menschlichen Seele vorzudringen. Mit seiner Architektur will Eisenman in die dunklen Verliese des menschlichen Unterbewusstseins vorstoßen.

Die Moral des Architekten besteht Eisenman zufolge nämlich nicht in der Erfüllung irgendwelcher Funktionen und Erwartungen, sondern vor allem darin, „die Psyche des Menschen für das Unbewusste und Verdrängte“ zu öffnen. Daher will Eisenman „das Präsente zurücktreten lassen, um Raum für das Absente zu schaffen“. Man kann es auch mit „sich erinnern“ umschreiben, mit „jaddá“, dem hebräischen Wort für die aktive Übernahme des Gewesenen in die Gegenwart, das weder mit Tradition noch mit verordnetem Nichtvergessen übersetzt werden kann.

Von all dem erzählt die Mak-Ausstellung, die „Barfuß auf weiß glühenden Mauern“ betitelt ist. In dreißig Kapiteln in Form von weißen Kojen, „Säulen“ genannt, erinnert sich Eisenman an seine Werke und seine Ideen: dreißig White Cubes. Manchmal enthalten sie Modelle, oft kleine oder größere Versatzstücke, die für verwirklichte oder nur geplante Bauten stehen - Installationen, welche die Gedanken des Architekten veranschaulichen. Manche Kojen (und Ideen) lassen sich betreten, manche sind nur durch Schlitze einsehbar. Manche sind greifbar, manchen, eben nicht.

Außerhalb dieser Kojen bewegt man sich in einem dunklen, undefinierbaren Raum ohne Orientierungshinweise. Die niedrige Decke drückt aufs Gemüt. Falls Beklemmungen entstehen, dann ist dies beabsichtigt. Es handelt sich mehr um eine Archivmetapher als um eine Ausstellung.

Der White Cube wird im Mak zur Black Box. Die metaphysische Begegnung mit Peter Eisenman als Architekturausstellung ist einzigartig. Man weiß nicht, was man erfährt, aber man erfährt sehr viel - über Architektur, das Denken und das Dazwischen.

Falter, Mi., 2004.12.22

22. Dezember 2004Jan Tabor
Matthias Dusini
Falter

„Naiv wie Wittgenstein“

Peter Eisenman im Gespräch über die lokalen Bezüge seiner Mak-Schau, über divenhafte Architekten und softe Radikale.

Peter Eisenman im Gespräch über die lokalen Bezüge seiner Mak-Schau, über divenhafte Architekten und softe Radikale.

Vor wenigen Monaten starb der französische Philosoph Jacques Derrida, dessen Dekonstruktivismus einen großen Einfluss auf Peter Eisenmans Architektur hatte. 1986 arbeiteten die beiden für ein Gartenprojekt in Paris zusammen. Beiden gemeinsam ist das Interesse für politisch diskreditierte Figuren. Derrida trug viel zur Neubewertung des deutschen Philosophen Martin Heidegger bei, Eisenman versuchte eine Ehrenrettung des faschistischen Architekten Giuseppe Terragni.

Falter: Fehlt Ihnen Derrida?

Peter Eisenman: Ja. Einer der Räume unten in der Ausstellung des Mak sollte ihm gewidmet sein. Ich schreibe gerade ein Buch für den Passagen-Verlag mit dem Titel „The Architecture of the Desaster“, das ihm gewidmet sein wird. Nach seinem Tod kann man Derridas Bedeutung besser einschätzen als zu Lebzeiten. Er wird noch wichtiger werden.

Warum?

Ohne die starke emotionale Präsenz seiner Person werden wir sein Werk aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Manche Leute verschwinden in der Geschichte, Derrida nicht. Man wird ihn in derselben Liga sehen wie Kant, Hegel oder Heidegger. Er ist wahrscheinlich wichtiger als Benjamin und Adorno.

Wenn man dieses Ranking auf die Architektur überträgt, in welcher Liga würden Sie sich selber sehen?

Wahrscheinlich werde ich, wenn ich tot bin, wichtiger sein als in der Gegenwart. Weil die Geschichte Zeit hat, zu verdauen, was ich gesagt und getan habe. Das heißt nicht, dass ich mich ganz oben in den Rängen sehe.

Wird Sie die nächste Generation als Theoretiker oder als Architekt in Erinnerung behalten?

Ich bin Architekt. Wenn gesagt wird, dass ich eine alternative Architekturpraxis in den Vereinigten Staaten vertrete, sage ich: Nein, es ist die einzig mögliche. Ich habe bisher 800 Millionen Euro verbaut. Das können nicht die Werke eines Philosophen sein. Meine Architektur und meine Theorie hängen zwar zusammen, sind aber nicht zwangsläufig voneinander abhängig. Sie können in die Ausstellung runtergehen und dort etwas fühlen: Sie werden glücklich oder traurig sein, sich irritiert oder verloren vorkommen, ohne irgendetwas über die Architektur wissen zu müssen.

Sie haben in Cambridge studiert, wo auch der Philosoph Ludwig Wittgenstein gelehrt hat. Gibt es einen Bezug der Ausstellung zum Wittgenstein-Haus in Wien?

Diese Ausstellung ist sehr ortsspezifisch. Sie bezieht sich auf Freud, Wittgenstein, Loos, sogar Karl Kraus. Ich bin 1962 zum ersten Mal nach Wien gekommen und habe mir damals das Wittgenstein-Haus angeschaut. Es ist naiv. Loos ist ein Architekt, der keine philosophischen Texte schreiben, und Wittgenstein ein Philosoph, der keine Architektur machen kann. Diese Ausstellung atmet den Geist beider. Die Ausstellung ist in gewisser Weise naiv wie das Wittgenstein-Haus, nicht so raffiniert wie Loos, der weiße Schachteln mit sehr komplexem Innenleben geschaffen hat. Die Ausstellung würde in Berlin oder New York jedenfalls ganz anders ausschauen.

Warum?

Kein New Yorker wäre imstande, Ihre Frage nach Wittgenstein und seinem Haus zu stellen. Erst neulich musste ich jemanden korrigieren, der behauptete, Wittgenstein sei in Oxford gewesen.

Woher kam das Interesse an der Wiener Moderne?

Wittgenstein war ein einfacher Weg, meine intuitiven Gedanken über Le Corbusier, Giuseppe Terragni oder Mies van der Rohe philosophisch zu verorten. Loos habe ich erst später verstanden. Aber wie viele Leute würden hier in Wien die Bezüge sehen, die Sie angesprochen haben?

Vielleicht zehn?

Das ist schon viel.

In den letzten Jahren haben Sie den Personenkult um die so genannten Stararchitekten kritisiert. Sie selbst sprechen aber auch immer von großen Namen: Loos, Le Corbusier, Zaha Hadid oder Rem Koolhaas. Ist das nicht ein Widerspruch?

Rem war in meinem Institut ein Niemand, den ich von der Straße aufgelesen habe. Ich habe ihm seinen ersten Preis verschafft und das Geld für sein erstes Buch „Delirious New York“, das er in meinem Studio geschrieben hat. Zaha war eine seltsame Studentenfreundin von Rem. Das sind für mich heute keine Stars, sondern Freunde.

Ihre Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass das Bild in der Architektur wichtiger geworden ist als der reale Raum. Wie wollen Sie hinter das Image vordringen?

Seit 9/11 befinden wir uns in einer Zeit des Terrors. Wir haben ein großes, spektakuläres Medienereignis gesehen. Die Ausstellung hier im Haus verneint das spektakuläre Bild. Sie ist antimonumental im Gegensatz zu Zahas Mak-Ausstellung.

Wieso ist das so?

Zaha ist von ihrer Persönlichkeit her eine Diva. Das zeigt sich darin, wie sie in einen Raum hereinrauscht, die ganze Luft absorbiert. Das bin nicht ich. Ich möchte sie nicht übertreffen, sondern in eine andere Richtung gehen. Nach innen.

Sie wollen implodieren?

Implosion ist eines meiner Lieblingswörter.

Auf den ersten Blick wirkt Ihre Ausstellung radikal antimuseal. Dann aber sieht man, dass sie wie jede andere auch Werke präsentiert. Ist die Bezeichnung „soft radical“ zutreffend?

Das ist gut. Die Ausstellung ist sehr viel weniger radikal, als ich ursprünglich gedacht hatte. Sie ist so elegant, auch mit dem Licht, das von oben durch die Säulen einfällt. Peter Noever, der Direktor des Mak, hätte keine Ausstellung akzeptiert, die nur aus Säulen besteht. Jetzt will er sogar Aufkleber mit Werktiteln haben. Peter ist ein softer Radikaler.

Falter, Mi., 2004.12.22



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Publikationen

Presseschau 12

10. April 2009Jan Tabor
Salzburger Nachrichten

Eine quadratische Wolke aus Stahl

Unbeachtet, nur wenige Schritte vom Oberen Belvedere entfernt, spielt sich das wohl denkwürdigste Architekturspektakel des 20. Jahrhunderts in Wien noch einmal ab.

Unbeachtet, nur wenige Schritte vom Oberen Belvedere entfernt, spielt sich das wohl denkwürdigste Architekturspektakel des 20. Jahrhunderts in Wien noch einmal ab.

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21er Haus

07. Dezember 2005Jan Tabor
Falter

Kampf der Peripherie

Am Graben, am Hohen Markt und am Donaukanal sind vier Siege der Stadt gegen den Stadtrand zu verzeichnen.

Am Graben, am Hohen Markt und am Donaukanal sind vier Siege der Stadt gegen den Stadtrand zu verzeichnen.

Die Altstadt ist jener Ort in Wien, wo der Kampf ausgetragen wird, den die winzige Großstadt Wien gegen ihre überdimensionale Peripherie zu führen hat. Derzeit sind in der vorweihnachtlichen City vier metropolitane Kleinsiege über die beständige Gefahr des Umkippens der Ganzstadt zum Stadtrand zu verzeichnen.

Wahrlich eine schöne Bescherung am Graben, dem wohl einzigen Ort in Wien, der noch nicht von der permanenten Peripherie erreicht wurde. Zwischen den beiden Häuserfronten abgehängt, schweben prachtvolle Leuchter so schwerelos und engelhaft herunter, als wären sie Himmelsboten. Ephemere Architektur. Sie erscheint und verschwindet wieder, in der Zeit dazwischen kann man den Raum über dem Graben völlig neu erfahren. Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern!

Während rundherum der elektrische Kleinkitsch leuchtend wuchert, wurde der Luftraum über dem Graben mit riesigen, quasivenezianischen Lustern bestückt. Die aus Tausenden kleinen Glühbirnen geflochtenen Leuchtkörper und Leuchtschleier in der Form von Flügeln sehen wie hybride Fluggeräte aus - etwas zwischen umgekehrter Gondel und dem ersten Flugzeug der Gebrüder Wright. Unter den prächtigen Lustern breitet sich aber weiterhin der entsetzliche Provinzgeist aus: die Punschkioske des Lions Club in Gestalt von echttirolerischen Almhütten.

Der zweite, weit leuchtende Sieg der Metropole über den Vormarsch der Peripherie ist die Erweiterung des Schuhgeschäftes Stiefelkönig in dem markanten Jugendstilhaus von Spielmann und Deller (1911) am Ende des Grabens. Die Wiener Architektengruppe BWM bereinigte die durch mehrfache Umbauten lädierte Fassade, indem sie der - sofern noch vorhanden - originalen Konstruktion der Schaufenster eine neue gläserne Schicht zufügte. Die ursprüngliche Grundstruktur der Schaufenster-Fassadenkonstruktion, in diesem Fall eine frühe „vorgehängte Fassade“, wird wieder sichtbar. Durch diesen fulminanten Eingriff gelingt es, das Innere des Geschäfts mit dem Außen zu verbinden. Das bislang düstere und unansehnliche Eck im Straßenraum wird zum Anziehungspunkt. Die Wirkung steht im Vordergrund, die eigentliche Architektur fällt kaum auf. Der gestalterische Eingriff ist derart einfühlsam durchgeführt, dass man den Eindruck hat, so elegant wie jetzt wäre es hier schon immer gewesen. Das Jugendstilgebäude, das aufgrund seiner Lage und der ausgefallenen Gestaltung zu den interessantesten seiner Art in Wien zählt, erhält viel von seinem ursprünglichen großstädtischen Flair zurück.

Wo immer Hans Hollein baut, erzittern die Stadtbilder. An der Ecke Wipplingerstraße/Hoher Markt hat er jetzt ein einstiges Banklokal in eine Filiale der Generali Versicherung umgebaut. Dabei hat Hollein in die Retrokiste der Siebzigerjahrearchitektur gegriffen. Damals war es üblich, die Sockelzonen von alten Häusern mit büchsenartigen Hüllen zu überziehen, die keine oder fast keine Rücksicht auf das Vorgefundene zu nehmen pflegten. Der gestalterische Bezug zu seiner frühesten Arbeit, dem berühmten Reti-Geschäft am Kohlmarkt, ist nicht zu verkennen, nur die frühere Virtuosität fehlt.

Auch bei der neuen Generali-Filiale handelt es sich um eine Art Büchse, die den unteren Teil eines Gründerzeithauses vollständig verdeckt. Ziehharmonikaartig gestellte Metallpaneele verwandeln ein Drittel einer unauffälligen Gründerzeitfassade in einen Container.

Die Absicht des Gestalters drängt sich geradezu auf: maximale Aufmerksamkeit zu wecken. Weit sichtbar sind die bordell-rot strahlenden, vertikalen Streifen und Embleme an der Fassade. Die Tag und Nacht leuchtende und auch sonst penetrant wirkende Präsenz hat allerdings einen guten Grund: Der bisher fade und als Geschäftszone unterentwickelte Hohe Markt hat dadurch einen längst erforderlichen Erneuerungsanstoß erhalten.

Vom Schwedenplatz aus sieht man neuerdings und möglicherweise eins zu eins, wie der neue Bau aussehen wird, der das alte Bürogebäude am Beginn der Taborstraße ersetzen soll. Die Fassade ist mit einem Transparent fast gänzlich bedeckt. Statt wie früher die Weihnachtssterne vom Schwedenplatz aus hierherzuprojizieren, zeigt der Bauherr Uniqa den von Jean Nouvel projektierten Büro-Hotel-Komplex. Überraschenderweise sieht die vergrößerte Architektur von Nouvel viel besser aus als in den bisher publizierten Zeitungsbildern.

Dennoch gibt es Bedenken. Allzu sehr lehnt sich Nouvel mit seinem Neubau an das schräge Generali-Gebäude von Hans Hollein an. Einerseits wortwörtlich: Der neue Baukörper wird zu dem bestehenden hingebogen, beide bilden zusammen ein Stadttor, wie es zu den antiquierten Sehnsüchten von Städtebauromantikern zählt. Andererseits hat Nouvel zu sehr die Form des vorgefundenen Bürohauses von 1960 übernommen, mit dem dessen Architekt Georg Lippert, im fatalen Zusammenspiel mit seinen anderen beiden Bauten (IBM, Raiffeisenbank), die Leopoldstadt städtebaulich vermauert hat. Das Bemerkenswerte an der Lösung von Hollein war nicht so sehr die Architektur selbst, sondern wie mit dem Generali-Turm die Leopoldstadt geöffnet und zugleich mit dem Gegenüber am Donaukanal, mit dem Schwedenplatz, verbunden wurde. Diesem vortrefflichen Gedanken Holleins vermag Nouvel nicht zu folgen.

Die Transparenz des Bauherrn ist eine Neuheit in Wien. Wir, empfindsame und couragierte Stadtbewohner, können den Entwurf begutachten, gut oder schlecht finden, wir können diskutieren, protestieren oder zustimmen. Dafür lassen sie uns reichlich Zeit, denn laut Transparent ist der Baubeginn für 2007 vorgesehen. So weit ersichtlich: Es zeichnet sich kein Malheur ab.

Falter, Mi., 2005.12.07

13. Juli 2005Jan Tabor
Falter

Autofahrer unterwegs

In der Lothringerstraße feiert die autogerechte Stadtplanung ein seltsames Comeback, und Jean Nouvel droht den Donaukanal zu behübschen.

In der Lothringerstraße feiert die autogerechte Stadtplanung ein seltsames Comeback, und Jean Nouvel droht den Donaukanal zu behübschen.

Es fährt sich gut durch die Lothringerstraße, sowohl auf dem Rad als auch mit dem Auto. Und es geht sich gut unter den Platanen auf dem Gehsteig der beruhigten Nebenfahrbahn. Alles probiert. Fabelhaft. Die Lothringerstraße, die davor mehr ein langer schmaler Platz denn eine Straße war, mit dem Grünstreifen in der Mitte eine Art verkehrte Ringstraße, ein Missing Link zwischen dem militärisch strengen Schwarzenbergplatz und dem mondänen Stadtpark, eine städtebauliche Rarität, diese vergessene Prachtstraße ist zu einer modernen, leistungsfähigen Schnellstraße durch weiterhin schmucke Gegend geworden.

Flott bis zu der Ampel, die sich an der Kreuzung Am Heumarkt befindet. Hier setzt die Gegenfahrtrichtung an, hier erfährt man, wie schwer die Neuordnung der Verkehrsströme auf der Strecke zwischen dem Karlsplatz und dem Donaukanal zu bewerkstelligen ist. Bis zur Urania reicht nun der Karlsplatz. Er ist endgültig eine „Gegend“ (Otto Wagner) geworden, durch die ein Autobahnzubringer führt.

Diese Topomorphose zu erreichen, war nicht schwer. Die hier siegreichen Verkehrsplaner griffen auf ein einfaches und lang bewährtes, wiewohl längst in Verruf geratenes Mittel zurück: die Trennung der Funktionen. Das Auseinandernehmen und -halten von fundamentalen Stadtfunktionen wurde in der von Le Corbusier initiierten berüchtigten Charta von Athen 1933 kategorisch verlangt. Im Konzept der „autogerechten Stadt“, der vorherrschenden Stadtplanungsdoktrin der Nachkriegszeit, wurde die Trennung perfektioniert und bis in die Achtzigerjahre praktiziert. Mit den bekannten Folgen: der Zerstörung der vorhandenen oder möglichen Urbanität.

Die autoungerechte Phase währte nicht lange. Bei der Neugestaltung der Lothringerstraße haben wir es mit einem Musterbeispiel für die in Wien seit etwa 1990 dominierende Retro-Stadtplanung zu tun. Verkehrsplanung ist wieder Stadtplanung, vereint unter einem Stadtrathut.

Das Auffälligste an Neugestaltung sind der Geländebuckel beim Hotel Intercontinental und die Gräben, die in Form und malerischer Wirkung ziemlich getreu jenen Gräben gleichen, die einst überall in den Dörfern die Straße von den Vorgärten der Häuser trennten. Längst sind diese mit Gras bewachsenen Mulden unter Parkplätzen oder Straßenerweiterungen verschwunden. Ursprünglich wollte Johann Georg Gsteu, der Architekt der Lothringerstraße, den versunkenen Wienfluss wenigstens stückweise freilegen. Das durfte oder wollte er nicht mehr. Die seltsamen Straßengräben in der Lothringerstraße sind als Erinnerung an den unglücklichen Fluss unter dem Straßenbelag zu verstehen. Nicht an die verschwundenen Straßengräben in den österreichischen Dörfern, obwohl die Lothringerstraße fast zur Hälfte wie ein Dorfanger in einer Marchfeldgemeinde ausschaut.

Die Podiumsdiskussion, die unter dem seltsamen Titel „Die Krise in der Kiste“ und einer glücklichen Almkuh auf dem groß projizierten Plakat vorige Woche im Architekturzentrum Wien abgehalten wurde, war selbst für diese an Esprit arme Institution ungewöhnlich langweilig geraten. Kurze Auffrischung brachte nur ein Streitgespräch darüber, ob das Interunfall-Bürohaus, das Jean Nouvel 1996 in Bregenz errichtete, ein miserables oder ein hervorragendes Bauwerk sei.

Der Vorarlberger Architekt Much Untertrifaller am Podium meinte, das Nouvel-Gebäude sei schlecht. Richard Manahl, ein Wiener Architekt aus Vorarlberg im Publikum, fand es hervorragend. Möglicherweise irrt er sich. Denn in dem von Otto Kapfinger 1999 herausgegeben Architekturführer „Baukunst in Vorarlberg seit 1980“ wird das Nouvel-Gebäude nicht verzeichnet. Auf Kapfingers Urteil ist Verlass. Er hat die Ausstellung „Konstruktive Provokation. Neues Bauen in Vorarlberg“, auf deren Plakat sich die fette Kuh befindet, zusammengestellt (bis 29.8. im Architekturzentrum). Bei der Diskussion ging es darum, ob der weltberühmte Architekturregionalismus (deshalb wohl die schöne Kuh auf dem Plakat) in Vorarlberg mit seiner Vorliebe für orthogonale Formen (deshalb wohl die Kiste im Diskussionstitel) bereits passé sei. Resümee: Die nach Wien ausgewanderten Vorarlberger bejahen die Untergangsthese, die heimattreuen verneinen sie. Die Auffassung der Heimattreuen wird von der Kapfinger-Ausstellung überzeugend illustriert.

Nach zwei Bauten an der Wiener Peripherie wird es dem Weltstar Jean Nouvel nun doch gelingen, mit seiner Architektur bis ins Zentrum der Weltstadt Wien vorzudringen. Fast bis ins Zentrum. Am Donaukanal, auf dem kleinen, durch Planungen bis zur Unerkennbarkeit misshandelten Platz am Brückenkopf der Schwedenbrücke, soll er neben dem Medientower einen weiteren Turm errichten.

Es ist Nouvels zweiter Versuch, diesen einprägsamen Ort zu beschmücken. Schon am Wettbewerb für die Neubebauung des abgerissenen ÖMV-Hauses hat er teilgenommen, den Hans Hollein mit dem Medientower gewann. Nouvel hatte damals eine Version seiner 1996 fertiggestellten, mittlerweile legendären Galeries Lafayette in der Berliner Friedrichstraße vorgelegt, ein mit einer weich modulierten Glashaut umhülltes Kaufhaus. Diesmal legte er harte Kanten vor und siegte.

Jean Nouvel ist ein vorzeitig verblühter Star, ein Architekt, auf den man sich nicht ganz verlassen kann. Es kann gut werden, sehr gut sogar. Oder auch schlecht. Auf den Bildern, die in den Zeitungen abgebildet wurden, wirkt das Hochhaus städtebaulich plump und formal diffus, eine fade Kiste. Aber gut. Wir können nur hoffen, dass lediglich die Fotocollagen und Renderings so schlecht sind, die in den Zeitungen oder im Internet veröffentlich wurden, nicht die Architektur selbst.

Wie wichtig die neuen Perlen am Donaukanal sind, zeigt sich an der Tatsache, dass Rudolf Schicker, der zuständige Planungsstadtrat, sich selbst zum Juroren ernannt hatte, um mitentscheiden zu können. So locker sind die Wettbewerbssitten mittlerweile geworden.

Falter, Mi., 2005.07.13

12. Mai 2005Jan Tabor
Falter

Aspern leuchtet

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: eine Apotheke, die ein Durchhaus ist, eine Einfahrt, die ein Wirtshaus ist, und ein Stuhl, der ein Prisma ist.

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: eine Apotheke, die ein Durchhaus ist, eine Einfahrt, die ein Wirtshaus ist, und ein Stuhl, der ein Prisma ist.

Der Apotheker zum Löwen von Aspern, Dr. Wilhelm Schlagintweit, ist ein klassischer Gutmensch. Es reicht ihm nicht, bloß ein Pharmazeut zu sein, er will auch noch als Aufklärer wirken. Er hat sich eine Apotheke bauen lassen, die einzigartig ist. Eine Apotheke als Passage, als Think-Tank und Kleinkloster: ein Durchgang mit zwei Höfen zwischen zwei Straßen, mit zwei Feuermauern, zwei Ahornbäumen, einer Birke, einer Rosskastanie und einem Ginkgo. Auf einer vierzig Meter tiefen und 16 Meter breiten Parzelle in Wien-Aspern errichtete Artec (Bettina Götz und Richard Manahl) ein Bauwerk, das in vieler Hinsicht außergewöhnlich ist. Es fängt mit der einfühlsamen Integration ins Stadtbild an und endet mit der Konstruktion der Decke, dem Farbkonzept, den Designdetails (zum Beispiel der Schubladen ohne Griffe).

Wenn die Apotheke offen hat, dann ist sie wirklich offen: Man kann durchgehen, auch wenn man nichts braucht - von der stark frequentierten und lauten Groß-Enzersdorfer Straße in die stille Zachgasse. Man sieht hindurch, und man sieht fast überall hinein in das geradezu verschwenderisch großzügig bemessene Verkaufslokal, in das Labor, das Lager oder hinter die kurzen Theken, die wie Lesepulte aussehen. Der Kundenraum ist eine Halle, und die ist durch die in der Betondecke eingelassenen Lichtbänder gegliedert. Wenn offen ist, dann ist auch der Hinterhof offen, wo sich der Verkaufsstand eines Biobauern befindet.

Wenn die Apotheke zu ist, dann sind an der Vorderfront die hellgrünen Vorhänge zugezogen. Nachts leuchtet die Apotheke zum Löwen von Aspern wie ein Teich.

Auf der Rückseite hingegen wird nur das Rollgitter runtergelassen, sodass der Passant immer einen Blick ins Labor mit all seinen seltsamen Gerätschaften werfen kann. Die Arbeitswelt bleibt ein Teil des Straßenlebens. Die Rückseite ist übrigens vielfältiger und spannender als die Vorderfront, die aus einer zwischen Boden und einem riesigen Sichtbetonbalken gespannten Glaswand besteht. Die Schräge simuliert ein Satteldach. Auf der anderen Seite befindet sich ein fast identischer Fertigteilbalken. Die vor Ort gegossene Sichtbetondecke zwischen den beiden Balken kommt ohne Stützen aus - eine verblüffend einfache (also geniale) Konstruktion, die von Artec und ihrem Statiker Oskar Graf treffend als „fliegender Teppich“ bezeichnet wird.

Auf dem Flachdach der Apotheke befindet sich ein von unten nicht sichtbarer pavillonartiger Glasaufbau, in dem sich das Büro, der Aufenthaltsraum fürs Personal und der Ruheraum für den Nachtdienst befinden; darüber eine Dachterrasse und ein Kräutergarten, der nach dem Vorbild der einstigen klösterlichen Paradiesgärten angelegt wurde. Hierher pflegt der Apotheker an Heilpflanzen Interessierte einzuladen, Schulklassen etwa. Die Architektur ist wie der Apotheker zum Löwen von Aspern: außergewöhnlich.

Wiewohl das Lokal noch nicht ganz fertig scheint, sieht man bereits deutlich: Sein Erstlingswerk ist Norbert Sputnic geglückt. Man fragt sich nur: Ist dem Bauherrn die Geduld mit dem Architekten und dessen Sehnsucht nach zeitgemäßer architektonischer Kargheit gerissen, oder ist ihm das Baugeld ausgegangen; oder steckt hinter dem unvollendeten Erscheinen gar eine höhere baukünstlerische Absicht: die Fassade als objet trouvé, als Zeitzeugnis. Obwohl das Lokal keinen Namen zu tragen scheint, hat es angeblich doch einen: Einfahrt - wegen der Ein- und Ausfahrt in die Tiefgarage unterm Karmelitermarkt, die extrem blöd situiert und gestaltet ist, sodass aus dem neuen Lokal kein Ausblick über das Marktgelände möglich ist. Die Tiefgarage hat den einst legendär vitalen Markt derart lädiert, dass jetzt unter uns, den Bewohnern des zweiten Bezirks, das Gerücht kursiert, dass der Markt aufgelassen und bebaut werden soll. Die „Einfahrt“ nun wird von uns als frohe Botschaft genommen: Der Markt wird leben.

Die Fassade, in der ausgewiesene Ästhetikexperten wie Heimo Zobernig ein erhaltenswertes Kunstwerk erblicken, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Spuren des Umbaues trägt. Der Verputz der bündig eingebauten Fenster und Türen blieb als weiße Flecken unangetastet. Die Reste der einst auf den hellerbsengrünen Grundanstrich gepinselten Aufschriften sind noch erkennbar: Die Großbuchstaben FO und ein wenig weiter RBKOPIEN erinnern daran, dass hier früher ein Kopiergeschäft war.

Neben der Tür ragt ein würfelförmiges Glasaquarium aus der Fassade, in dem aber keine Fische schwimmen, sondern eine Vase steckt. Das Lokal sei work in progress, erklärt der Architekt, zu dem Glaskästchen werde sich noch ein Treppe und ein Podest hinzugesellen, um einen Hochstand fürs Zuzweitsein zu schaffen. Das Ding soll „Beichtstuhl“ heißen.

Der längliche Innenraum ist leicht gekrümmt, was ihm eine cool zeitgemäße Note verleiht. Zur Toilette führt eine Rampe, die mit einem schweren Eisengeländer ein Gegengewicht zu den Theken bildet, die - wie auch die übrige Einrichtung - eine Möbelcollage sind. Die Decke dominieren dicke Lüftungsrohre, die ein wenig an den legendären Roten Engel erinnern, wie er seinerzeit von Coop Himmelb(l)au geschaffen wurde. Die auffällig hohen Rückenlehnen der harten Sitzbänke sind sowjetrot und dem Schleudersitz der MIG 29 nachgebildet. Die Farbe hat Gûnes ausgewählt, die zwölfjährige Tochter von August, dem Einfahrtswirt. Die altdeutsch plumpen und unbequemen Stühle sind der einzige Makel der Einfahrt.

Was ist ein Stuhl? Oskar Strnad, „der große Lehrer“ von Margarete Schütte-Lihotzky an der Kunstgewerbeschule in Wien, pflegte seine Studenten und seine einzige Studentin durch merkwürdig banale Fragen zum präzisen Denken anzuregen. Nach einigen verlegenen Antworten, unter denen sich „ein Mensch, der noch nie einen Stuhl gesehen hat, nichts vorstellen kann“, antwortete er: „Ein Stuhl ist ein Prisma in der Höhe der Unterschenkel.“

Margarete Schütte-Lihotzky (1897- 2000), war die erste und die erste international erfolgreiche Architektin in Österreich. Sie lebte lange und schrieb auch lange an ihren Erinnerungen. Nun wurden diese von Karin Zogmayer aus dem Nachlass im Archiv der Universität für angewandte Kunst geholt, redigiert und im Residenz Verlag herausgegeben.1 Am Anfang, unter einem jugendlichen Porträtfoto der Architektin, befindet sich ein Zitat: „(...) im Übrigen habe ich immer sehr ungern geschrieben und wollte immer nur bauen“. Das, was sie doch geschrieben hat, ist nicht viel, dafür aber höchst interessant.

Falter, Do., 2005.05.12



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Apotheke „Zum Löwen von Aspern“



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Warum ich Architektin wurde

19. Januar 2005Jan Tabor
Falter

Ein Annus horribilis für propeller z

Für propeller z war das vergangene Jahr ein entsetzliches; ein Annus horribilis, wie Queen Elizabeth schlimme Zeiten für den Buckinghampalast zu nennen...

Für propeller z war das vergangene Jahr ein entsetzliches; ein Annus horribilis, wie Queen Elizabeth schlimme Zeiten für den Buckinghampalast zu nennen...

Für propeller z war das vergangene Jahr ein entsetzliches; ein Annus horribilis, wie Queen Elizabeth schlimme Zeiten für den Buckinghampalast zu nennen pflegt. Im vergangenen Sommer wurde in Essen eine riesige Abrissraupe losgeschickt, um „Meteorit“, das Wissenschaftszentrum des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerkes, der Erde gleichzumachen. Ohne die Architekten des 1998 errichteten futuristischen Gebäudes zu benachrichtigen. Von dem international viel beachteten Beispiel für das Space-Design-Revival der Neunzigerjahre ist nichts übrig geblieben. Keine Spur. Nur das Foto mit der demolierenden Raupe. Es fehlte nicht viel, und auch ein anderes legendäres Werk von propeller z wäre bis zum 31. Dezember 2004 spurlos verschwunden: die basis wien im MuseumsQuartier. Noch ist ein Rest vorhanden. Auch ein Rest an Hoffnung.

Das MuseumsQuartier ist kein günstiger Ort für gute zeitgenössische Architektur. Das Depot von Artec wurde vor drei Jahren aus dem MQ eliminiert. Jetzt ist die basis wien von propeller z an der Reihe. Offenbar soll keine bauliche Spur im MuseumsQuartier bleiben vom Versuch des ehemaligen Kunstministers Rudolf Scholten, eine völlig neue, geradezu exemplarisch und experimentell demokratische Kulturpolitik aufzubauen. Würde ich den MQ-Direktor Wolfgang Waldner nicht kennen und seine langsam greifenden Bemühungen, im MuseumsQuartier gute Architektur zu etablieren, nicht hoch schätzen, müsste ich ihm vorwerfen, er betreibe mit Mietverträgen Kulturpolitik.

Am 17. Dezember des vergangenen Jahres fand in den Räumen der basis wien eine Versteigerung statt, die der Demolierung eines bedeutenden Architekturwerkes gleichkam. Die 1998 von propeller z im Auftrag der Exbundeskuratorin Lioba Reddeker entworfene Inneneinrichtung des Kunstinformationszentrums hätte restlos entfernt werden müssen. Gemäß einer Klausel im Mietvertrag mit der MuseumsQuartiergesellschaft müssen nämlich alle gemieteten Räume zum Zeitpunkt des Auslaufens in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden.

Das Büro der basis wien wurde in einem barocken Saal eingerichtet, der unter Denkmalschutz steht. Die Architekten durften die Wände nicht antasten. Auf die besonderen Nutzungsbeschränkungen reagierten propeller z mit besonderer Fantasie. Die Möblierung und alle Anbauten waren entweder mobile oder freistehende, leicht zerlegbare Einheiten. Man muss sich wundern, dass das Denkmalschutzamt nicht die Gelegenheit ergriffen hat, über diese exemplarisch gelungene Implantation einer radikal zeitgenössischen Architektur in ein eindrucksvolles historisches Ambiente seinen schützenden Amtsarm zu halten. So aber blieb der basis wien nichts anderes übrig, als die mobilen Teile der Einrichtung zu versteigern.

Neuerdings keimt für die basis wien als Beispiel für hervorragendes Interieurdesign der Neunziger Hoffnung auf - partielle, vorübergehende Hoffnung. Das Wesentliche aus der Einrichtung, der Aluwandverbau, der als ein Wandschild durch die Tür in den Hof ragt, wurde noch nicht verkauft und musste noch nicht abgebaut werden. Wolfgang Waldner hat sich bereit erklärt, mit den Proponenten der basis wien über die Erhaltung der propeller-z-Architektur zu sprechen. Er setzte die Wiederherstellungsklausel des Mietvertrags aus. Vorübergehend.

Falter, Mi., 2005.01.19



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propeller z

12. Januar 2005Jan Tabor
Falter

Das Weltstadteinkaufswagerl

Architektur Endlich haben „News“- und „Format“-Leser das Weltstadtkaufhaus, das sie verdienen: den neu eröffneten Meinl am Graben.

Architektur Endlich haben „News“- und „Format“-Leser das Weltstadtkaufhaus, das sie verdienen: den neu eröffneten Meinl am Graben.

Neuerdings bin ich nicht nur bloß Gourmand, sondern auch Gourmet. Feinschmecker. Auch ich. Dieses stolze und dank der modernen Sozialdemokraten selbst in breiten Bevölkerungsschichten populär gewordene Attribut habe ich unlängst schwarz auf weiß erhalten: auf dem Kassenzettel meines gründlich erneuerten Stamm-Meinl. Das Verkaufslokal sei nun noch angenehmer geworden, als es ohnehin bereits gewesen sei, hat der sozialkritische Schriftsteller Gustav Ernst, mein Freund und Nachbar, zu mir gesagt, als ich ihn am 31. Dezember zufällig in unserer gemeinsam bevorzugten Filiale getroffen habe.

Vor dem Umbau waren die massiven, freistehenden Regale so gestellt, dass das langgestreckte Verkaufslokal in der Mitte barrierenartig versperrt wurde. Jetzt sind die Regale wesentlich kürzer, filigraner und doch geräumiger; sie lassen die Mitte frei und lenken die Blicke der Kunden zum Stehcafe am anderen Ende der Halle. Die offenbar von einem fähigen Designer entworfenen Regale sind aus leichten, normierten Gitterelementen zusammenmontiert. Die neue Farbgebung, welche die einstige Meinl-Kennfarbe Gelb durch eine dunkelbraungraue Edelstahltönung ersetzt, bringt die Buntheit der Verpackungen zur Geltung, wirkt beruhigend, ist elegant. Im selben mattglänzenden Farbton sind auch die neuen Einkaufswagerl gehalten. Dass man für sie jetzt Münzen braucht, ist die einzige Neuerung in meiner Filiale, die keine Verbesserung, sondern eine Veschlechterung darstellt.

Die gleichen Einkaufswagerl stehen auch im neuen Gourmet-Tempel in der Wiener Innenstadt, dem angeblich erlesensten im ganzen Österreich, im renovierten Meinl am Graben. Das Graben-Meinlwagerl unterscheidet sich vom Taborstraßen-Meinlwagerl in zwei Merkmalen: es hat keine Münzverschließung, und die Handgriffe sind nicht mit Plastik, sondern mit Leder bezogen. Mit echtem Leder. Bereits im Zugriff aufs Wagerl ist also das Ergreifen des wahren Luxus enthalten - hier, am Graben, nur hier. Diese Ledergriffe dürften so wertvoll sein, dass sie in dem mit abgestellten Wagerln vollgestopften Entree stets von einem athletischen, kämpferisch uniformierten Jungmann eines privaten Security-Dienstes bewacht werden müssen.

Der neue Meinl am Graben - ein „Weltstadtfeinkosthaus?“. Das „Format muss man haben“-Magazin Format, Abteilung „Modernes Leben“, Unterabteilung „Reportage“, ist am Tag der Eröffnung in Wort und Bild dieser Frage nachgegangen. „Die Besucher sind sich einig: Ja, ist es, und sie scheuen sich nicht, Harrod's in London, Fouchon und Hedinard in Paris im gleichen Atemzug zu nennen.“ Wobei die Format-Urteilseinigkeit durch folgende für die Formatierung einer neuen Genuss- und Geschmackskultur des österreichischen Volkes wichtige Leute illustriert wird: den Ex-Bürgermeister Helmut Zilk, den Bildhauer Alfred Hrdlicka, den Ballettchef Michael Birkmayer und - selbstredend - durch Agnes Husslein, die Geschäftsführerin von Sotheby's in Wien. Sie alle machen einen glücklichen Eindruck: Endlich auch in Wien!

Ich hingegen, ein eingefleischter Gourmand, der hier eigentlich nichts zu suchen hat, kann meinen Augen nicht glauben: ein Weltstadtfeinkosthaus? Dies? Ich gehe mehrmals hin. Der Nahkampfmann von der Security hat viel zu tun. Er muss den Besuchern erklären, wie sie in den Gourmet-Tempel gelangen: nicht geradeaus, sondern gleichsam zweimal ums Eck. Beim dritten Besuch treffe ich endlich auch hier einen alten Freund: den renommierten, sozialkritischen Kulturhistoriker Christian Ehalt. Er meint, der renovierte Meinl illustriere, was sich sonst in der Gesellschaft abspielt: allgemeine Verunsicherung bezüglich der Werte, des Geschmacks, der Bedeutungen. Ein Abbild des globalen Durcheinanders. Meine Bemerkung, hier werde der Luxus so dargeboten, wie sich Wiener Hausmeister Harrod's in London vorstellten, bezeichnet Christian, der ein aufrechter 68er ist, als präpotent. Zu Recht. Im Aquarium der Fischabteilung (mit einem dürftigen Angebot) schwimmen munter prachtvolle Zierfische. Sie sind ebenso computergeneriert wie die riesige weihnachtliche Kaminflamme auf dem Plasmascreen im Stiegenhaus (jetzt gibt es ein anderes Bild). Der echte Hausmeister würde hier ein echtes Aquarium und nicht diese Aufrichtigkeit erwarten, mit der auf die virtuelle Qualität der Fische in der Verkaufskühlbox hingewiesen wird, die wirklich echt aussehen.

Hier, im Meinl am Graben, ist so gut wie alles Surrogat, ist fast alles daneben geplant, entworfen, ausgeführt und das meiste durcheinander geraten. Die Außengestaltung ist architektonisch banal. Das Entree erinnert an einen verstellten Hinterhof. Der eigentliche Eingang befindet sich in einem altnachgemachten Holzportal und sieht wie ein eingemauertes Schaufenster aus. Das Lokal ist unübersichtlich. Die Gänge zwischen den Regalen sind eng und labyrinthisch. Die Stiege ist falsch situiert und hässlich. Die vier Aufzüge hält man für den Durchgang zu der Gemüse-Stehbar im Hintergrund. Der Weinkeller sieht aus wie eine Tenne in der Buckligen Welt, die zur rustikalen Disco umgestaltet wurde. Bei den Regalen herrscht ein buntes Durcheinander, die meisten sind plump, vor allem die aus dem Quasimahagoniholz. Die Abteilungen für die verschiedenen Warengruppen (Obst und Gemüse, Brot und Semmeln et cetera) sind kitschig. Aber nicht richtig mutig kitschig, sondern gehoben kitschig, urban-rustikal, damit sich hier neben den neu dazugekommenen neureichen Hausmeistern und News-Lesern auch das ortsansässige, gehobene, wertkonservative (von Thomas Bernhard so vortrefflich beschriebene) Graben-Kohlmarkt-Lodenpublikum weiterhin wohl fühlt.

Die Vielfalt gleicht einer Ansammlung von künstlichen EU-Rustikalitäten. Die Decken mit den mächtigen Leitungen sind nur notdürftig hinter abgehängten plumpen Holzrosten versteckt. Die handwerkliche Bearbeitung der Möblierung ist ungewöhnlich schlampig. Noch schlampiger allerdings ist das Design selbst. Reiner Pfusch. Die Beleuchtung ist dilettantisch. Die Spotlampen blenden. Im Cafe duftet es nicht nach frisch geröstetem Kaffee, sondern es stinkt nach überreifem Käse, denn die Käseabteilung befindet sich gleich neben der im weißen Rosenkavalier-Stil eingerichteten Quasizuckerbäckerei und dem dunkelbraunen Quasicafe, einer Mischung aus englischem Pub, Wiener Cafe und der Lobby eines 3-Sterne-Hotels. Hier hängt eine billige Farbdruck-Kopie von Vermeers „Mädchen mit der Perle“, die Polstersitze sind zu niedrig, der enge Gang ist mit Einkaufswagerln mit Echtleder-Griffen verstopft.

Das Kaufhaus ist das Museum des kleinen Mannes, meint Walter Benjamin. So wie der neue Meinl am Graben an eines der neugestalteten österreichischen Museen erinnert, am ehesten an das MAK, so gleichen die ermatteten Kunden in dem ungemütlichen Meinl-Cafe den erschöpften Ausstellungsbesuchern in einer unwirtlichen Museumsrestauration. Heutzutage zeitgemäß zu sein, kann fürchterlich anstrengend sein. Wirklich zu bedauern ist das Personal: Der Meinl am Graben ist eine furchtbare Arbeitsstätte. Auch das gilt neuerdings als zeitgemäß.

Falter, Mi., 2005.01.12

22. Dezember 2004Jan Tabor
Falter

Der letzte Silberprinz

In einer bemerkenswerten Ausstellung im Mak erinnert sich Peter Eisenman an seine Werke und Ideen, mit denen er den Funktionalismus der frühen Moderne auf die Spitze treiben und damit überwinden wollte.

In einer bemerkenswerten Ausstellung im Mak erinnert sich Peter Eisenman an seine Werke und Ideen, mit denen er den Funktionalismus der frühen Moderne auf die Spitze treiben und damit überwinden wollte.

Zu Peter Eisenman fällt einem vor allem Peter Eisenman ein. So wie einem zu Le Corbusier zuerst Le Corbusier einfällt und erst danach die Villa Savoye oder die Regierungsstadt Chandigarh. Peter Eisenman ist ein prachtvoller Kerl. Fotogen selbstbewusst bis zum Sendungsbewusstsein. Das weiß auch Mak-Direktor Peter Noever (der ebenfalls einen Prachtkerl abgibt). Daher hat er auf die Plakate und Einladungen der Eisenman-Ausstellung im Mak den eindrucksvollen Dreiviertelkopf von Eisenman mit Noevers Mak im Hintergrund anbringen lassen und nicht etwa das fast ein Jahrzehnt lang heftig diskutierte und nun doch so gut wie fertige „Mahnmal für ermordete Juden Europas“ in Berlin. Das Denkmal ist offensichtlich in Begriff, zu jenem signifikanten Bauwerk zu werden, das einem bald zum Namen Eisenman einfallen wird; so wie man das Haus am Michaeler Platz mit Adolf Loos, das Haus Schröder mit Gerrit Rietveld oder die Casa dei fascio mit Guiseppe Terragni assoziiert - um eben jene Proponenten der klassischen Moderne zu erwähnen, auf die sich Eisenman neben Le Corbusier am stärksten beruft.

Peter Eisenman sieht aus wie ein Architekt, der eine Vision hat und eine Mission erfüllen muss. Er pflegt eine große Brille mit runder dünner Nickelfassung zu tragen (was ihn von Le Corbusier unterscheidet, der eine große Brille mit runder dicker Hornfassung bevorzugte). Meist hat er ein dick gestreiftes Hemd an und dazu breite Hosenträger sowie eine Fliege (auch dann, wenn er einen dünnen Pullover mit Rundhalsausschnitt trägt). Sein kurz geschnittenes dichtes Haar ist seit Jahren silbergrau. Peter Eisenman lächelt stets fröhlich (auch das unterscheidet ihn von Le Corbusier, der stets grimmig und gehetzt aussah) und strahlt Zuversicht und Gelassenheit aus. Er ist der letzte Silberprinz.

Silver prince. Der Amerikaner Tom Wolfe, Schriftsteller („Fegefeuer der Eitelkeiten“), Dandy und ein Passionseuropäer wie Eisenman, veröffentlichte 1981 ein dünnes, aber ungemein erfolgreiches Buch, das Pamphlet „From Bauhaus to Our House“. Wolfe griff darin jene Moderne, die man nun klassisch zu nennen pflegt, als unamerikanisch und verderblich an. Ihre Proponenten bezeichnete er als „Silberprinzen“, von denen einige nach Amerika geraten seien, um die amerikanische Aschenbrödel-Architektur wachzuküssen. Sie, die - wie Marcel Breuer, Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius - vor allem als Emigranten aus Nazideutschland kamen, seien für den Niedergang der amerikanischen autochthonen Baukultur verantwortlich.

Über die Auswirkungen dieses Buchs, das wenig später unter dem Titel „Mit dem Bauhaus leben“ auf Deutsch erschienen ist, lässt sich nur spekulieren. Weil es den Aufschwung der Postmoderne und das Renegatentum unter den Jüngern der reinen Lehre der Moderne zu beschleunigen half, dürften sie heftig gewesen sein. Seine Jünger heißen Michael Graves, Charles Gwathmey, John Hejduk, Richard Meier und - dessen Cousin - Peter Eisenman. Als Gruppe traten die Genannten 1969 in einer Ausstellung im Museum of Modern Art in New York auf und zeigten Arbeiten, die durch einen radikalen Rückgriff auf die frühe Moderne der Zwanzigerjahre gekennzeichnet waren. Es waren ausschließlich Einfamilienhäuser, allerdings mehr Architekturmanifeste als Häuser fürs unbeschwerte Wohnglück. Zeitweise sah es so aus, als würden Graves - und davor auch Eisenman - zu Kronprinzen der 1977 vom britischen Theoretiker Charles Jencks ausgerufenen Postmoderne avancieren. Das ist dann doch nicht ganz so gekommen.

Obwohl Eisenman 1932 in Newark/New Jersey als Sohn einer amerikanisch assimilierten jüdischen Familie geboren wurde, sieht er wie ein europäischer Architekt und europäischer Intellektueller aus - allerdings so, wie sich die Amerikaner einen solchen vorstellen. Eisenman weiß, dass zu einer richtigen Architekturtheorie, die Einfluss haben will, auch das richtige Erscheinungsbild des Architekten gehört. Es ist das Outfit der klassischen gutbürgerlich-revolutionären Männlichkeit der Zwanzigerjahre, der so genannten „weißen“ Moderne, auch Funktionalismus, Neue Sachlichkeit, Internationaler Stil oder Bauhausstil genannt. Das „Klassische“ an ihr wird als Hinweis auf ihre strengen Regeln, auf die ästhetische und soziale Verbindlichkeit ihrer Architektur verstanden.

In Wirklichkeit stammt der Begriff „klassische Moderne“ von Peter Eisenman, der als Architekturtheoretiker an der frühen Moderne von Le Corbusier, Rietveld oder Terragni kritisiert, dass sie sich nur verbal und theoretisch von der Tradition gelöst habe, faktisch aber eben „klassisch“ geblieben sei. Eisenmans Kritik ist eine konstruktive. Als Architekturpraktiker versucht er in seinen Projekten, die klassische Moderne weiterzutragen, weiterzuentwickeln, sie zu „dynamisieren“, um mit einer von ihrer Klassizität und den damit einhergehenden Verpflichtungen und Dogmen befreiten, bei aller Kritik aber heiß geliebten europäischen „weißen“ Moderne in die Tiefen der menschlichen Seele vorzudringen. Mit seiner Architektur will Eisenman in die dunklen Verliese des menschlichen Unterbewusstseins vorstoßen.

Die Moral des Architekten besteht Eisenman zufolge nämlich nicht in der Erfüllung irgendwelcher Funktionen und Erwartungen, sondern vor allem darin, „die Psyche des Menschen für das Unbewusste und Verdrängte“ zu öffnen. Daher will Eisenman „das Präsente zurücktreten lassen, um Raum für das Absente zu schaffen“. Man kann es auch mit „sich erinnern“ umschreiben, mit „jaddá“, dem hebräischen Wort für die aktive Übernahme des Gewesenen in die Gegenwart, das weder mit Tradition noch mit verordnetem Nichtvergessen übersetzt werden kann.

Von all dem erzählt die Mak-Ausstellung, die „Barfuß auf weiß glühenden Mauern“ betitelt ist. In dreißig Kapiteln in Form von weißen Kojen, „Säulen“ genannt, erinnert sich Eisenman an seine Werke und seine Ideen: dreißig White Cubes. Manchmal enthalten sie Modelle, oft kleine oder größere Versatzstücke, die für verwirklichte oder nur geplante Bauten stehen - Installationen, welche die Gedanken des Architekten veranschaulichen. Manche Kojen (und Ideen) lassen sich betreten, manche sind nur durch Schlitze einsehbar. Manche sind greifbar, manchen, eben nicht.

Außerhalb dieser Kojen bewegt man sich in einem dunklen, undefinierbaren Raum ohne Orientierungshinweise. Die niedrige Decke drückt aufs Gemüt. Falls Beklemmungen entstehen, dann ist dies beabsichtigt. Es handelt sich mehr um eine Archivmetapher als um eine Ausstellung.

Der White Cube wird im Mak zur Black Box. Die metaphysische Begegnung mit Peter Eisenman als Architekturausstellung ist einzigartig. Man weiß nicht, was man erfährt, aber man erfährt sehr viel - über Architektur, das Denken und das Dazwischen.

Falter, Mi., 2004.12.22

22. Dezember 2004Jan Tabor
Matthias Dusini
Falter

„Naiv wie Wittgenstein“

Peter Eisenman im Gespräch über die lokalen Bezüge seiner Mak-Schau, über divenhafte Architekten und softe Radikale.

Peter Eisenman im Gespräch über die lokalen Bezüge seiner Mak-Schau, über divenhafte Architekten und softe Radikale.

Vor wenigen Monaten starb der französische Philosoph Jacques Derrida, dessen Dekonstruktivismus einen großen Einfluss auf Peter Eisenmans Architektur hatte. 1986 arbeiteten die beiden für ein Gartenprojekt in Paris zusammen. Beiden gemeinsam ist das Interesse für politisch diskreditierte Figuren. Derrida trug viel zur Neubewertung des deutschen Philosophen Martin Heidegger bei, Eisenman versuchte eine Ehrenrettung des faschistischen Architekten Giuseppe Terragni.

Falter: Fehlt Ihnen Derrida?

Peter Eisenman: Ja. Einer der Räume unten in der Ausstellung des Mak sollte ihm gewidmet sein. Ich schreibe gerade ein Buch für den Passagen-Verlag mit dem Titel „The Architecture of the Desaster“, das ihm gewidmet sein wird. Nach seinem Tod kann man Derridas Bedeutung besser einschätzen als zu Lebzeiten. Er wird noch wichtiger werden.

Warum?

Ohne die starke emotionale Präsenz seiner Person werden wir sein Werk aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Manche Leute verschwinden in der Geschichte, Derrida nicht. Man wird ihn in derselben Liga sehen wie Kant, Hegel oder Heidegger. Er ist wahrscheinlich wichtiger als Benjamin und Adorno.

Wenn man dieses Ranking auf die Architektur überträgt, in welcher Liga würden Sie sich selber sehen?

Wahrscheinlich werde ich, wenn ich tot bin, wichtiger sein als in der Gegenwart. Weil die Geschichte Zeit hat, zu verdauen, was ich gesagt und getan habe. Das heißt nicht, dass ich mich ganz oben in den Rängen sehe.

Wird Sie die nächste Generation als Theoretiker oder als Architekt in Erinnerung behalten?

Ich bin Architekt. Wenn gesagt wird, dass ich eine alternative Architekturpraxis in den Vereinigten Staaten vertrete, sage ich: Nein, es ist die einzig mögliche. Ich habe bisher 800 Millionen Euro verbaut. Das können nicht die Werke eines Philosophen sein. Meine Architektur und meine Theorie hängen zwar zusammen, sind aber nicht zwangsläufig voneinander abhängig. Sie können in die Ausstellung runtergehen und dort etwas fühlen: Sie werden glücklich oder traurig sein, sich irritiert oder verloren vorkommen, ohne irgendetwas über die Architektur wissen zu müssen.

Sie haben in Cambridge studiert, wo auch der Philosoph Ludwig Wittgenstein gelehrt hat. Gibt es einen Bezug der Ausstellung zum Wittgenstein-Haus in Wien?

Diese Ausstellung ist sehr ortsspezifisch. Sie bezieht sich auf Freud, Wittgenstein, Loos, sogar Karl Kraus. Ich bin 1962 zum ersten Mal nach Wien gekommen und habe mir damals das Wittgenstein-Haus angeschaut. Es ist naiv. Loos ist ein Architekt, der keine philosophischen Texte schreiben, und Wittgenstein ein Philosoph, der keine Architektur machen kann. Diese Ausstellung atmet den Geist beider. Die Ausstellung ist in gewisser Weise naiv wie das Wittgenstein-Haus, nicht so raffiniert wie Loos, der weiße Schachteln mit sehr komplexem Innenleben geschaffen hat. Die Ausstellung würde in Berlin oder New York jedenfalls ganz anders ausschauen.

Warum?

Kein New Yorker wäre imstande, Ihre Frage nach Wittgenstein und seinem Haus zu stellen. Erst neulich musste ich jemanden korrigieren, der behauptete, Wittgenstein sei in Oxford gewesen.

Woher kam das Interesse an der Wiener Moderne?

Wittgenstein war ein einfacher Weg, meine intuitiven Gedanken über Le Corbusier, Giuseppe Terragni oder Mies van der Rohe philosophisch zu verorten. Loos habe ich erst später verstanden. Aber wie viele Leute würden hier in Wien die Bezüge sehen, die Sie angesprochen haben?

Vielleicht zehn?

Das ist schon viel.

In den letzten Jahren haben Sie den Personenkult um die so genannten Stararchitekten kritisiert. Sie selbst sprechen aber auch immer von großen Namen: Loos, Le Corbusier, Zaha Hadid oder Rem Koolhaas. Ist das nicht ein Widerspruch?

Rem war in meinem Institut ein Niemand, den ich von der Straße aufgelesen habe. Ich habe ihm seinen ersten Preis verschafft und das Geld für sein erstes Buch „Delirious New York“, das er in meinem Studio geschrieben hat. Zaha war eine seltsame Studentenfreundin von Rem. Das sind für mich heute keine Stars, sondern Freunde.

Ihre Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass das Bild in der Architektur wichtiger geworden ist als der reale Raum. Wie wollen Sie hinter das Image vordringen?

Seit 9/11 befinden wir uns in einer Zeit des Terrors. Wir haben ein großes, spektakuläres Medienereignis gesehen. Die Ausstellung hier im Haus verneint das spektakuläre Bild. Sie ist antimonumental im Gegensatz zu Zahas Mak-Ausstellung.

Wieso ist das so?

Zaha ist von ihrer Persönlichkeit her eine Diva. Das zeigt sich darin, wie sie in einen Raum hereinrauscht, die ganze Luft absorbiert. Das bin nicht ich. Ich möchte sie nicht übertreffen, sondern in eine andere Richtung gehen. Nach innen.

Sie wollen implodieren?

Implosion ist eines meiner Lieblingswörter.

Auf den ersten Blick wirkt Ihre Ausstellung radikal antimuseal. Dann aber sieht man, dass sie wie jede andere auch Werke präsentiert. Ist die Bezeichnung „soft radical“ zutreffend?

Das ist gut. Die Ausstellung ist sehr viel weniger radikal, als ich ursprünglich gedacht hatte. Sie ist so elegant, auch mit dem Licht, das von oben durch die Säulen einfällt. Peter Noever, der Direktor des Mak, hätte keine Ausstellung akzeptiert, die nur aus Säulen besteht. Jetzt will er sogar Aufkleber mit Werktiteln haben. Peter ist ein softer Radikaler.

Falter, Mi., 2004.12.22



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Eisenman Peter

10. November 2004Jan Tabor
Falter

Times Square in Vienna

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: vier mal mehr, mal weniger gelungene Neubauten im und ums MuseumsQuartier

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: vier mal mehr, mal weniger gelungene Neubauten im und ums MuseumsQuartier

Das neue Bürohaus in der Breite Gasse dürfte das schmalste Gebäude in Wien sein, vielleicht gar auf der ganzen Welt. Das passt gut hierher, weil es sich nur wenige Schritte von jenem Eckhäuschen befindet, von dem die Sehenswürdigkeitstafel behauptet, dies sei das kleinste Haus in Wien.

Der neue Rekordbau, der den Eingang ins MuseumsQuartier von der Breiten Gasse aus schafft, ist 69 Schritte lang, sieben Schritte breit und - auf der MQ-Seite - etwa 23,5 Schritte hoch. Carl Pruscha, der Architekt, hatte, als ich ihn anrief, keine Maße parat, also musste ich das Gebäude abschreiten. Beim Telefonat, hatte ich das Gefühl, er will sich zu seinem Bau nicht richtig bekennen. Es wäre verständlich, wenn er auf Distanz gehen will.

Das schmale neue Haus selbst ist nicht verhaut, ganz im Gegenteil. In seiner architektonisch trostlosen Umgebung fällt es positiv auf mit seinen schmalen horizontalen Fenstern, die in der Fassade elegant, unregelmäßig und logisch verteilt sind wie früher die Löcher auf den Computerlochkarten. In der Umgebung ist das Haus, trotz der dunklen Farben der Edelroststahlplatten seiner beiden Fassaden, eine leuchtende Erscheinung.

Auf einer der Fassadenplatten ist jener Rost gewordene Abdruck eines Bauarbeiterschuhes zu sehen, der mich auf die Idee brachte, das elegant proportionierte - 6:3:1 - Haus mangels Maßangaben selbst abzuschreiten. Am schönsten erscheint das schlanke Gebäude in jenem städtebaulichen Ausschnitt, der durch die Blicklücke entsteht, die sich ergibt, wenn man unten im MQ vor der schrecklichen Stiege zwischen dem MUMOK und der Kunsthalle steht.

Obwohl es nicht danach aussieht, ist das kleine Bürohaus möglicherweise das bedeutendste Bauwerk in Wien nach der Fertigstellung des MuseumsQuartiers. Denn der Neubau schließt die legendäre Baulücke nach einem Kleinhaus, das demoliert wurde, um das MuseumsQuartier und damit die ganze Innenstadt sowie die Breite Gasse und damit den ganzen, dicht bevölkerten Bezirk Neubau miteinander zu verbinden und der Anlage die Wirkung einer innenstädtischen Barriere zu nehmen.

Um die Baulücke größer zu machen, wurde noch ein schmales Haus nebenan demoliert. Allerdings nicht, um Platz für einen großzügigen Eingang ins MQ zu schaffen, sondern um das neue Bürohaus zu erweitern, das nun den verschämten Charme eines herkömmlichen Spekulationsbaus spätestens dann auszustrahlen beginnt, wenn man das MuseumsQuartier betritt.

Den Eingang hat der Architekt total verhaut. Oder wer auch immer. Es ist kein Tor. Es ist bloß ein Ausschnitt aus dem Bürohaus, ein lustloses Bebauungsloch, das mit einer hässlichen Stiege und einem plumpen Aufzugschacht aus schlampig bearbeitetem Sichtbeton gestopft wurde. Der Eingang Breite Gasse ist außerdem der einzige Zugang zum neuen Glacis Beisl. Mit ihm ist das MuseumsQuartier endgültig eine Gastronomiefestung mit Kunst- und Kulturanhang geworden. Das ist gut so. Denn mit der Außenkunst, man schaue sich das Kunstobjekt „1:1“ neben dem MUMOK an, ist das MuseumsQuartier nicht zu retten. Nur mit Konsum.

Auch das neue Glacis Beisl ist verhaut. Weil die einst einzigartige Situation hier nach dem devastationsartigen Umbau der Hintertrakte durch Manfred Wehdorn derart grundverhaut ist, dass überhaupt keine Architektur mehr helfen kann, weder schlechte (wie jetzt) noch gute (vielleicht später). Der einstige, von wunderschönen geschlossenen Mauern geschützte Garten sieht jetzt wie ein enger, scheußlicher Tiergraben einer Burg aus.

Da sich der gläserne Zubau des Glacis Beisls unterhalb des Dachstegs befindet, schaut man von dort aus hinunter wie in ein Terrarium, in dem nicht fremde Affen, sondern Wiener Feinschmecker tafeln. Um diesen Eindruck ein wenig zu entschärfen, wurde der Glasappendix in eine Kiste aus rotweinrot gefärbten, nach einem floralen Jugendstilmuster durchlöcherten Holzfaserplatten gesteckt, als wäre er mit einem Naturtarnnetz überzogen.

Der Hof mit dem Kindermuseum Zoom und dem soeben eröffneten Theaterhaus für junges Publikum Dschungel Wien ist der erste, der im Sinne eines urbanen vitalen Zentrums wirklich tadellos funktioniert. Das Theater verfügt über zwei einander gegenüberliegende Spielsäle, die miteinander durch einen weiten Raum verbunden sind, der zugleich Theaterfoyer und Theatercafé ist. Indem sie die Geräumigkeit belassen haben, ja, sie durch die Gestaltung zelebrieren, ist es den Architekten Christian Lichtenwagner und Willi Froetscher vortrefflich gelungen, beide Funktionen unter einer schönen Decke - dem barocken Ziegelgewölbe - unterzubringen.

Der Raum wurden offen gelassen und spärlich, aber ausreichend mit leichtem Möbel bestückt: 1950er-Retro aus dünnen Stahlstäben und mit niedlichen orangenen Gänsefüßchen beschuht. Das ist das einzig Kindliche hier. Sonst Erwachsenendesign. Die Glaswände nach außen sind groß und geben den Blick frei auf den einzigen erfolgreich belebten Hof im ganzen MuseumsQuartier.

Unter anderem erfolgreich belebt durch einen neuartigen Kiosk, der dem quadratischen Außenraum tagsüber eine spannende biomorphe Note verleiht und nachts in eine chamäleonartig wechselnde synthetische Farbigkeit versinkt, die dem visuell faden MQ ein wenig von der behaglichen Lichtatmosphäre des Times Square verleiht. Nur dreihundert farbige Neonröhren sind für so viel glamouröse New-York-Illusion nötig.

Entworfen wurde die futuristische Würstelbude aus milchigem Plexiglas von Kristof Jarder. Der ER.FRISCHER, wie er sein Erstlingswerk nennt, hat die Form eines Boxerhandschuhes, der zum Giftpilz und zurück mutiert. Trotzdem ist die gekurvte Budenleuchte nicht nur formal ordentlich ausgefallen, sondern auch funktionell perfekt. Die Läden werden mit Hilfe von Teleskopen aufgehoben und dienen als Vordächer. Damit die Kundschaft, tagsüber hauptsächlich Kinder, bis hinauf zur Theke reichen kann, liegt rundherum eine zylindrische Rampe wie ein umgedrehter Teller.

Der einzige Mangel ist stadtgestalterischer Natur: Der Kiosk wurde unvorteilhaft in einem Eck des Hofes abgestellt, statt ihn in die Mitte auf der Diagonale zwischen beiden Kinderzentren zu stellen. Dort aber soll demnächst eine Eiche gesetzt werden. Ob eine echte, fragile, oder eine strapazierbare aus Kunststoff, ist nicht klar.

Falter, Mi., 2004.11.10

06. Oktober 2004Jan Tabor
Falter

Hastige Moderne

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: Besuchen Sie Bukarest, solange es noch nicht renoviert ist. Rumänische Architektur mal zwei.

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: Besuchen Sie Bukarest, solange es noch nicht renoviert ist. Rumänische Architektur mal zwei.

Grob geschätzt befindet sich Wien auf halbem Weg zwischen Paris und Bukarest. Die Gründerzeit von Bukarest ereignete sich etwa ein halbes Jahrhundert später als jene von Wien, diese wiederum ein Vierteljahrhundert später als jene von Paris. Das in der Zwischenkriegszeit weit verbreitete Klischee, wonach Bukarest das Paris des Ostens sei, wird weiterhin gerne bemüht, entbehrt aber jeglicher Grundlage. Paris ist weit entfernt. In jeder Hinsicht.

Die rumänische Hauptstadt war eine von vielen osteuropäischen Städten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine rasante Umwandlung von einem Kaff in eine Großstadt erfuhr, die man als pulsierend und modern, mitunter sogar als „westlich“ zu bezeichnen pflegte. Bukarest war und ist faszinierend als Bukarest.

In der Zeit zwischen 1918 und 1939 stieg die Einwohnerzahl von 380.000 auf 870.000. Bemerkenswert ist, dass diese Zahlen mit jenen für Wien zwischen etwa 1848 und 1870 weitgehend übereinstimmen. Offensichtlich folgt urbanes Bevölkerungswachstum gleichen Gesetzen. Diese enormen Einwohnerzuwächse verursachten einen enormen Bedarf an Bauten aller Art und Größe. Wer durch Bukarest fährt, staunt, wie westlich diese Stadt ist: Ganze Straßenzüge entlang sieht man Bauten der klassischen Moderne, von denen die offizielle, das heißt westliche Architekturgeschichte bisher kaum Notiz genommen hat. Im „Hatje-Lexikon der Architektur des 20. Jahrhunderts“, einem Standardwerk, kommt Rumänien nicht vor. Auch kein einziger rumänischer Architekt.

Es gibt zumindest ein Haus dort, das es unbedingt verdient hätte, in die Lexika der Weltarchitektur aufgenommen zu werden: die Villa Juster, errichtet 1931 von Marcel Iancu (1885-1984), der an der ETH in Zürich studierte und dort Mitbegründer der Dada-Urzelle Cabaret Voltaire war. Die plastische Hauptfassade des Hauses Juster ist eines der besten Beispiele für den Einfluss des De Stijl außerhalb von Holland. In der Ausstellung „Architektur in Bukarest 1920-1945“ im Wiener Ringturm ist die einzigartige Qualität dieses Hauses schon deshalb nicht zu übersehen, weil es auf einem großformatigen Foto in den Vordergrund gestellt wird. In ihrer emotionslosen Sachlichkeit gibt die Aufnahme von Pierre Levy nicht nur die eindrucksvolle Komposition der Hauptfassade, sondern auch den jämmerlichen Zustand des Hauses wieder.

Der Luxemburger Levy war unlängst der Architektur wegen in Bukarest unterwegs. Rund fünfzig seiner schwarz-weißen Außenaufnahmen wurden von den Mitarbeitern des Münchner Architekturhistorikers Winfried Nerdinger ausgewählt und mit Erklärungstexten und Grundrissen ergänzt. Diese als repräsentativ geltenden Bauwerke werden durch den Fotografen - der als „Fotodesigner“ bezeichnet wird - nicht verklärt. Er mag, das sieht man, die modernen Häuser sehr, aber er hält Abstand. Sie werden in jenem Zustand präsentiert, in den sie der Lauf der Jahre und die gesellschaftlichen Umstände gebracht haben: Die Fassaden sind von der Zeit gezeichnet und oststaatenlädiert, also romantisch verlottert. Meist aber nicht arg beschädigt, denn man baute damals zwar rasant schnell, aber solid. Die Bauten befinden sich also in einem zweifachen Originalzustand, dem ursprünglichen und dem von der Zeit zugefügten. Fabelhaft.

Die Bukarester Moderne wird im Pressetext als „sanft“ apostrophiert. Eher war es eine hastige, pragmatisch harte Moderne. Ihre Proponenten bezogen ihre Vorbilder von dort, wo gerade welche zu haben waren, aus Köln, Rom, Prag, Amsterdam, Wien und auch aus Paris. Adaptiert wurden diese schnell, ohne lange über die vielen Dogmen der strengen Moderne, die man heutzutage die klassische nennt, nachzudenken.

Die Behauptung, die rumänische moderne Architektur sei hauptsächlich von der französischen geprägt, ist falsch. Von der mondänen Eleganz und Leichtigkeit der Viel-Glas-und-wenig-Baumasse-Architektur ist nicht viel zu merken. Ohne auf Wiener Vorbilder zu pochen: Ähnlichkeiten zwischen der Architektur der Zwischenkriegszeit in Bukarest und in Wien - vor allem bei den kommunalen Wohnhausanlagen - drängen sich bald auf. Vor allem die monumental schweren, mitunter aggressiv wirkenden Balkone und Loggien als schmückende Kennformen der Zeit - obwohl es in Bukarest keinen sozialen Wohnbau gab. Rasant pragmatische Moderne wie in Wien: harte, modellierte Baumasse als Ornament.

Man sollte sich von dieser unauffälligen Ausstellung dazu anregen lassen, nach Bukarest zu reisen. Und zwar bald, solange man noch nicht begonnen hat, diese vergessene Moderne zu demolieren oder (was oft schlimmer ist) zu restaurieren. Bevor Superomania vollendet wird.

„Superomania. Selling Architecture“: Trotz des Titels ist der rumänische Beitrag auf der 9. Architekturbiennale in Venedig besonders unauffällig und uneitel. Auch besonders hinterhältig (selbst-)kritisch. In Form von Leuchtkästen mit perfekten Farbfotos denken die Rumänen darüber nach, was der so genannte Westen dem so genannten Osten nach der ein halbes Jahrhundert andauernden Trennung nun an Architekturen andrehen will. Kein „Paris des Ostens“ mehr, sondern das überall gleiche und gleich aggressive Weltfirmen-Baudesign, das das Stadtbild aller neokapitalistischen Länder beherrscht.

Details von rund zwanzig Neubauten, die in den letzten Jahren von Firmen wie IBM, Nokia, Shiseido oder Rolex in Rumänien errichtet wurden. Keine Angaben ergänzen die Superbauwerke. Kein Architektenname, kein Baujahr, keine Adresse. Anonyme Moderne von heute, entsetzlich. Und der immer gleiche Bildtext mit jeweils anderen Markennamen. „If Swarovski would have designed buildings“ zu Beispiel.

[ „Architektur in Bukarest 1920-1945“: bis 12.11. im Ringturm (1., Schottenring 30). 9. Architekturbiennale: bis 7.11. in Venedig. ]

Falter, Mi., 2004.10.06

15. September 2004Jan Tabor
Falter

Die Farbe Rot

Die Architekturbiennale in Venedig widmet sich der Naturhörigkeit in der zeitgenössischen Architektur und präsentiert die interessanteste Selbstdarstellung Österreichs, die es dort je zu sehen gab.

Die Architekturbiennale in Venedig widmet sich der Naturhörigkeit in der zeitgenössischen Architektur und präsentiert die interessanteste Selbstdarstellung Österreichs, die es dort je zu sehen gab.

Die Farbe der Metamorphose ist Rot. Diese Erkenntnis stellt sich ein, sobald man auf eine der zahlreichen quadratischen Markierungen aus rotem Gummistoff tritt, mit denen die verwinkelten Wege um die Giardini und das Arsenale beklebt sind. Die großen Aufkleber sehen aus, als wären sie aus einem roten Teppich ausgeschnitten, enthalten das Wort Metamorph und einen Pfeil, der in die Richtung eines der vielen Zugänge in die weitläufigen und weit verstreuten Gehege der 9. Architekturbiennale hinweisen. Das Hauptthema dieser weltgrößten Leistungs-, Ideen- und Eitelkeitenrundschau für Architekten: Metamorphose. Ihre Kennfarbe erweckt Erwartungen auf ein Ereignis sondergleichen. Diese werden tatsächlich erfüllt. Es ist das frische Rot einer sich abzeichnenden Revolution. Es gibt Metamorphosen, die als Revolutionen beginnen. Dies ist der Zustand der Architektur. So lässt sich die diesjährige Biennale verkürzt auf den Punkt bringen.

Allerdings ist das Biennale-Rot nicht nur ein symbolisches, sondern auch ein atmosphärisches Rot, das, wie man unterwegs sieht, aus weichen Zwischentönen besteht, die in Regenbogentöne übergehen und bis ins Naturgrün (Ökologie!) und Himmelblau (Luftschlösser!) reichen. Der Natur und der Landschaft gilt die Zuneigung des radikal verwandelten Architekten von heute - und nicht mehr, wie gestern noch, dem urbanen Chaos. Der Architekt von heute ehrt die Natur, lernt von der Natur, ahmt sie nach, wo es geht. Er verachtet Tradition, Geschichte und die Lehren von Las Vegas, mit denen Robert Venturi einst die Rückkehr zum Banalen und die Abkehr von der strengen Moderne ausrief. Der neue Architekt, sagt uns die Biennale, liebt Formen, die der Natur entnommen sind oder zumindest entnommen scheinen - von den kleinsten Mikroorganismen bis zu den höchsten Bergen. Das Biennale-Motto könnte also auch „Zurück zur Natur“ heißen - was immer man unter Natur versteht. Nur fass- und greifbar muss es sein.

Eine der Abteilungen, in denen die Positionen zusammenfassend markiert und vorgestellt werden, heißt Topografie. Hier kann man Aufnahmen namhafter Fotokünstler etwa von Felsformationen sehen. Architektur, die Landschaft wird, und Landschaft, welche die Architektur formt, das ist der Zustand. Auch Landschaftsplaner werden neuerdings Stars. Die holländische Gruppe West 8 zum Beispiel.

Die anderen Kapitel heißen Transformation, Episoden, Oberflächen, Atmosphären, Natur des Künstlichen und Qualen der Stadt („Harrowing of the City“). Die österreichischen Architekten in dieser Hauptschau sind Architektur Consult (Domenig Eisenköck Peyker), Adolf Krischanitz, Beger + Parkkinen, Coop Himmelb(l)au, Volker Giencke, Klaus Kada, the next ENTERprise, Boris Podrecca, querkraft, Wolfgang Tschapeller. Mit dem Goldenen Löwen für Transformation in der Architektur wurde Günther Domenig ausgezeichnet. Geehrt wurde er für den architektonisch und ethisch kongenial gelösten Einbau eines Antinazimuseums in den unfertig gebliebenen gigantomanischen NS-Kongresspalast auf dem ehemaligen Gelände der NSDAP-Reichsparteitage in Nürnberg. Unser Mann in der Biennale-Jury heißt Dieter Bogner, der Vorsitzende der Jury für den Kiesler-Preis, die höchste österreichische Auszeichnung für international bedeutende Architekten und Künstler, Kurt W. Forster. Der Kiesler-Preis wurde im Anschluss an die Biennale-Eröffnung im Guggenheimmuseum den Architekten Hani Rashid und Lise Anne Couture verliehen.

Die beiden nennen sich Asymptote. Wie groß die Übereinstimmung mit der Architekturauffassung von Friedrich Kiesler und Asymptote ist, kann man in der Fandazione Guggenheim Foundation feststellen, wo derzeit die Ausstellung „Kiesler and Peggy, the visionary and the collector“ zu sehen ist. Die Hauptausstellung „Metamorph“ im Arsenale ist dem Thema und dem Inhalt enstprechend von Asymptote gestaltet. Die rund 300 Meter lange Säulenhalle der einstigen Seilfabrik ist durch Gestelle unterteilt, die wie Segmente von riesigen zerschnittenen Muscheln oder Schalen aussehen und mit den ähnlich geformten senkrechten Stellwänden abgeschlossene Räume so bilden, dass die ganze Halle überblickbar bleibt und dem strengen tektonischen Rhythmus der mächtigen Säulen ein neuer, weicher Rhythmus der senkrechten und waagrechten Gestelle kontrapunktisch hinzugefügt wird. Die Räume zwischen den Säulen baumeln zeitgeistig barock - die Lichtregie ist entsprechend.

Die mit Modellen aller Art und Größe, überfüllten schaukelförmigen Gestelle wirken wie überreich gedeckte Festtische, die sich unter dem ideellen Gewicht der tafelartig aufgetischten Architekturexempel biegen. Gegenwartsarchitektur in Hülle und Fülle. Alle Modelle können von allen Seiten betrachtet werden, die sorgfältig gestalteten und gedruckten Informationstafeln ermöglichen eine nüchterne Bestandsaufnahme der Gegenwartsarchitektur, obwohl die Ausstellung dem mit kostbaren Weihgaben bestückten Tempel eines unersättlichen Architekturgottes gleicht.

Die Stars, deren kultische Verehrung vor allem die letzte Biennale unerträglich machte, sind hier reichlich vertreten, aber eben als Gleiche unter Gleichen, und nur um mit ihren bedeutenden Beiträgen diese aufregende Inventur der gegenwärtigen revolutionären Veränderungen zu vervollständigen.

Die diesjährigen Biennale-Macher unter der Leitung des Architekturtheoretikers Kurt W. Forster mögen lapidare Symbolik, die Gestalter der Biennale, Asymptote, mögen symbolisch geometrische Formen: Gestalten aus Geraden, denen sich eine ins Unendliche verlaufende Kurve nähert, ohne sie zu erreichen; kurzum: Asymptoten. In der Allee zwischen dem Eingang in die Giardini und dem Eingang in den italienischen Pavillon trifft man sie wieder. Dort befindet sich ein architektonisches Objekt, das ins Unendliche zu zielen scheint und als eine lang gezogene Absprungschanze beschrieben werden kann. Es drückt Aufschwung, Beschleunigung und Loslösung aus. Das Objekt ist rot, und es führt den Blick ohne Umschweife zum Dach des Zentralpavillons.

Dort schlägt plötzlich wie aus dem sprichwörtlich heiteren Himmel ein roter Blitz ein und schleudert rote Bautrümmer umher. Im Zentralpavillon ist der erste Teil der internationalen Schau untergebracht. Drinnen finden die Besucher eine riesige dreiteilige Skulptur vor, die wie die zerlegte Turbine eines interplanetaren Raumschiffs aussieht. In Wirklichkeit ist es die Spitze des Turms von Babel. Der Blitz und die Trümmer auf dem Dach sind Teil der Skulptur „Turris Babel“ von Massimo Scolari. Sie soll jene Energie symbolisieren, die auch den babylonischen Turm zerstört hat und der wir auch die Zerstörung überholter Prinzipien des Bauens und den radikalen Neubeginn zu verdanken haben. Der letzte Zweifel, ob das Rot die Farbe der Metamorphose und die Metamorphose die Form der Revolution ist, wird beseitigt.

Wieder ein österreichisches Jubiläum: siebzig Jahre. Der österreichische Pavillon wurde 1934 von Josef Hoffmann errichtet. Es war eine Art politisches Geschenk der autoritären Regierung Dollfuß an den Duce. Seit Peter Weibels Kommissariat (1993-1999) versuchen die meisten zur Teilnahme bestimmten Künstler und Architekten den austrofaschistischen Charme (und Charme hat die penetrant axiale Architektur von Hoffmann tatsächlich) zu unterminieren - bewusst oder unterbewusst. Das ist diesmal besonders gut und einfühlsam schräg gelungen. Die Gruppe AllesWirdGut (AWG) hat draußen eine schräge Plattform gelegt, aus der eine einfache Bude wächst wie aus einer flachen Böschung. (Man merke: Generalmetamorphose - Landschaft, die Architektur wird.) Das Gebilde ist einheitlich mit einem schwarzen Belag aus Abfallgummi überzogen, der mit dem Weiß des Hoffmann-Pavillons kontrastriert. Plattform und Bude dienen als Bühne für die Auftritte und Aktionen von Architektengruppen, die eingeladen wurden, um am Ruhm in Venedig zu partizipieren. Insoweit geht das Konzept von Austrokommissärin Marta Schreieck voll auf. Schreiecks Vorstellung, die eingeladenen vier Gruppen - neben AWG noch nextENTERprise, querkraft und pool - würden zu einem gemeinsamen Konzept zusammenfinden und auf diese Weise die spezifisch österreichische Neigung junger Architekten zur Gruppenbildung darstellen, hingegen wurde enttäuscht. Die anderen drei Gruppen ziehen vor, ihre kleine private Leistungsschau vorzuführen.

Als zweiter Österreichschwerpunkt kommt die vortreffliche Architektur der Supermarktkette MPreis hinzu: jede Filiale ein anderer Architekt. Das Interesse des Publikums dafür ist unerwartet groß. Im internationalen Vergleich erscheinen die Österreicher als Menschen, die den Spaß ernst nehmen. Im nationalen Vergleich ist die heurige Präsentation im österreichischen Pavillon die beste, seitdem es die Architekturbiennale gibt. Learning from the Prater: Drei Trittvehikel stehen zum Durchfahren des Pavillons bereit und werden gern verwendet. Sie haben elegante rote Gestelle.

[ Metamorph. In Giardini und Arsenale Venedig. Bis 7.11., tägl. 10-18 Uhr. ]

Falter, Mi., 2004.09.15

08. September 2004Jan Tabor
Falter

Formen ohne Reserven

Eine Ausstellung im Künstlerhaus geht auf intelligente Weise der uralten theoretischen Frage nach, wie die Form in die Architektur kommt.

Eine Ausstellung im Künstlerhaus geht auf intelligente Weise der uralten theoretischen Frage nach, wie die Form in die Architektur kommt.

Die Herkunft des ersten dekonstruktivistischen Hauses ist geklärt. Als Buster Keaton und die Schauspielerin Sybil Sealey 1920 heirateten, bekamen sie von einem Onkel als Hochzeitsgeschenk ein Fertigteilhaus zum Selberbauen. Keatons berühmte Tolpatschigkeit, die Hinterhältigkeit eines rachsüchtigen Nebenbuhlers, der die Kisten mit den eingepackten Hausteilen falsch nummeriert hat, sowie Katastrophen wie ein Hurrikan haben das banale amerikanische Vorstadthaus zu einem dekonstruktivistischen Meisterwerk geformt.

Zwanzig Minuten dauert der Film „One Week“, in dem Keaton den Dekonstruktivismus, diese für die Verfahrenheit des 20. Jahrhunderts so illustre Architekturauffassung, erfindet. Dabei erfährt man alles Wesentliche über die verquickte Kunst des Bauens. Der köstliche Stummfilm, der auf die beiden Seiten einer Leinwand über der Prachtstiege des Künstlerhauses projiziert wird, ist nicht nur der Anfang und das Ende der Ausstellung „Reserve der Form“, er ist zugleich die perfekte Zusammenfassung der Problematik, die man als die Suche nach der Antwort auf eine uralte theoretische Frage umschreiben kann: Wie kommt die Form in die Architektur

Schwierige Suche. Man braucht Stunden, um alles zu begreifen. Bereits die Einladung zur Eröffnung stöhnt unter der Gewichtigkeit der vielen berühmten Namen, rund achtzig insgesamt. Buster Keaton wird nicht genannt. Sonst allesamt Extremformer, die mit ihren Werken, Ideen, Einfällen und Entwürfen die ausgefallenen Gedanken der beiden Kuratoren über das Werden und das Verschwinden von Formen illustrieren - meist in Form von schwarzblau gedruckten, collagierten Abbildungen, die auch die gewichtigsten Namen in Rauch verwandeln.

Sehr bekannte, weniger bekannte und - nur vereinzelt - wirklich unbekannte Bauwerke werden von der Architekturtheoretikerin Angelika Fitz und dem Architekten Klaus Stattmann, selbst ein Extremformer, so miteinander verknüpft, nebeneinander gestellt und (wohl überlegt) durcheinander gebracht, dass auch die bekanntesten darunter als unbekannt erscheinen. Fitz und Stattmann schauen sich die Formen, die sie interessieren, mit jenem verträumten, allseits gerechten anthropologischen Blick an, mit dem Bernhard Rudovsky in den Fünfzigerjahren unter dem Begriff „Architektur ohne Architekten“ die Analysen und Wertschätzungen von anonymen Gestaltungen revolutionierte. Ein Blick, der Wunder sieht, wohin er fällt.

Rasch besehen, erscheint die Ausstellung harmlos, ratlos, haltlos durcheinander. Sie sieht wie eine Kunstausstellung von Kunstvermittlern aus. Dann fallen die poetischen Titel der einzelnen Kapitel auf. „Operative Schatten“. „Dachreserven“. „Positionswechsel“. „Zwischen Räumen“. Dann fängt man an zu lesen, zu schauen und die Rätsel der Formen aufzulösen. Viele Rätsel. Unmengen von Verknüpfungen. Extreme Formen. Formen mit viel feinem Humor. Wie die Ausstellung selbst. Dann erinnert man sich an Rudovsky. Déjà vu. Genial. So ordentlich hat schon lange niemand die Formfrage gestellt und spaßig geantwortet. Aus nichts wird nichts und aus etwas wird etwas, aber stets etwas anderes. In der Differenz ist die Reserve.

Die Ausstellung ist nicht nur spannend, humorvoll und intelligent. Sie ist auch gelassen, sie hat einen angenehmen räumlichen Rhythmus, und sie ist, was sie besonders symphatisch macht, autobiografisch. Deshalb wirkt sie so authentisch. Stattmann hat bei Prix studiert, daher seine Vorliebe für Formen und Fragen am Rande des Möglichen. Formen aus dem Ende und dem Anfang der Architekturgeschichte. Formen ohne Reserven.

[ Bis 14.10. im Künstlerhaus (1., Karlsplatz 5) ]

Falter, Mi., 2004.09.08

01. September 2004Jan Tabor
Falter

Der Selbstüberbieter

A star is born: Mit 71 Jahren wird Günther Domenig langsam als Architekt von Weltgeltung anerkannt, als einer, der seiner Zeit stets voraus war und ist. Das T-Centre in Wien beweist es einmal mehr.

A star is born: Mit 71 Jahren wird Günther Domenig langsam als Architekt von Weltgeltung anerkannt, als einer, der seiner Zeit stets voraus war und ist. Das T-Centre in Wien beweist es einmal mehr.

Ein Haus verendet wie ein Vieh. Es atmet kaum noch. Einst war es ein berühmtes Bankhaus. Die Tür ist zu. Im Foyer brennt Neonlicht. Die altmodische elektrische Uhr funktioniert noch: 18.27 Uhr. Ab und zu bleibt jemand stehen, zückt seine Bankomatkarte und will Geld abheben. Der Bankomat ist abmontiert, das Loch provisorisch abgedeckt. Unter dem Loch sammeln sich leere Bierdosen und Fußgängerzonenabfälle.

Die im Eingang integrierte Kleinbar ist in Betrieb. Mit ihrem gartenlaubenartigen Schanigarten sieht sie aus wie ein Kiosk irgendwo am Stadtrand, nicht mehr wie jenes mondäne Straßenbistro von einst. Aber es heißt noch immer „ZCAFÉ“ - nach der einst legendären Z, der Zentralsparkasse der Stadt Wien. Sie ließ sich in der gerade neu eingerichteten Fußgängerzone von Favoriten eine Filiale von einem noch wenig bekannten jungen Architekten namens Günther Domenig erbauen. Eine Bankfiliale für sich und ein Haus für den Kulturverband Favoriten, der von hier aus die Peripherie kulturell versorgen und urbanisieren sollte.

So aber waren die Zeiten damals: Die Banken verstanden sich nicht nur als Geld-, sondern auch als Kulturinstitute, als Förderer modernster Künste und Architekturen. Dieses in den 68er-Jahren entstandene Verständnis manifestiert sich in dem von Günther Domenig entworfenen Bankkulturhaus aufs Eindrucksvollste. Es steht an der Peripherie, in einem Arbeiterviertel, allein schon aus dem Grund, dass so ein ausgefallenes, ein weltbedeutendes Bauwerk in der sakrosankten Innenstadt nie bewilligt worden wäre. Aber auch der Standort Favoriten löste einen Behördenkampf sondergleichen aus. Für sein nun, Jahrzehnte später, fertig gestelltes T-Mobile-Gebäude wird man Domenig, wie er sagt, „all die erforderlichen Bewilligungen nachwerfen“.

Nachdem das Z-Haus eröffnet worden war, blieb der Welt der Weltarchitektur die Spucke weg. Man erblickte eine Bestie. „Diese wilde, zuckende, schlangenhafte, fischleibige, fliegenhäutige Mischung aus Geisterbahn, Labyrinth und Urwelt-Garten hat einen heißen Atem“, dichtet der renommierte deutsche Architekturkritiker Peter M. Bode 1980. „Die Visiere' über den Fenstern im unteren Bereich sind aufgesträubt wie die Schuppen eines Gürteltieres, das man gegen den Strich gebürstet hat.“

Jetzt ist es aus mit dem Vieh. Die Fensteraugen hat man schon lange nicht geputzt. Die Blechfassadenhaut ist verdreckt und von Tauben beschissen. In der Eingangsnische, von Architekten selbst „Schnauze“ genannt, sammeln sich Abfälle. Das sich noch vor kurzem an dem kunstvollen Gerüsthalter über dem Eingang drehende Logo der Bank Austria wurde abmontiert und einige Schritte weiter, an der neuen Filiale angebracht. Sie befindet sich in einem frisch aufgeputzten Gründerzeithaus. Am 6. August 2004, fast auf den Monat genau 25 Jahre nach der feierlichen Eröffnung des weltweit gefeierten Bank- und Kulturhauses in der Favoritenstraße 118 wurde das symbolträchtig heruntergekommene Bauwerk verlassen. In den Amtsstuben des Bundesdenkmalamtes grübeln die vom legislativen Sofiensäle-Desaster schockierten Schutzbeamten darüber, ob und wie sie die einstige Z-Filiale unter Denkmalschutz stellen können. Das wird nicht leicht sein. Die vom Fürsten Potemkin gegründete Wiener Schule der Denkmalpflege, die unter Architektur nur die Fassade versteht, taugt für das Domenig-Gebäude mit ihren extraordinären Innenformen überhaupt nicht.

Das Gasthaus Zum ewigen Leben an der Kreuzung von Rennweg und Grasbergergasse. Es wird viel demoliert in dieser noch immer von Tankstellen und Autosalons geprägten Gegend an der einstigen Ausfallstraße Richtung Zentralfriedhof und Flughafen Schwechat. Demoliert wurde auch das legendäre Gasthaus, sein „schattiger Garten“, von dem ein Schild am Geländer kündet, darf noch bestehen. Von hier aus ist der Blick auf den riesigen einprägsamen Neubau der T-Mobile-Zentrale, T-Centre genannt, besonders lohnend.

Das Gebäude, das durch seinen auffälligen mehrmals gefalteten Rohbau die Stadtteile an der Südosttangente schon bald nach der Grundsteinlegung im Frühjahr 2002 beherrscht hat, erscheint von der Ferne als ein zwar vielfältiger und -kantiger, aber im Ganzen homogener Körper. Man kann das T-Centre mit einem riesigen Walfisch vergleichen, der hier, am Ufer der urzeitlichen Donau, gestrandet ist. Oder mit einem gefalteten horizontalen Wolkenkratzer, der, wie Georg Pölzl, der Bauherr und T-Mobile-Direktor, stolz vermerkt, mit 134.000 Quadratmetern Bruttogeschoßfläche doppelt so groß ist wie der Millennium-Tower am neuzeitlichen Donauufer.

Jedes neue Gebäude von Domenig ist mit seinen Vorgängern stärker verbunden, als es zunächst den Anschein hat. Die Z-Filiale ist im T-Centre enthalten, das Steinhaus, Domenigs weltberühmtes Privatdomizil und Baumanifest in Steindorf am Ossiacher See, kann als Vorbau für das T-Centre gelten. Dabei handelt es sich aber nicht um bloße Fortsetzungen, sondern um Übertreffungen. Jedes Haus ist ein Experiment (das aus vielen Teilexperimenten besteht) und keines wird wiederholt. Die Serie der Experimentalbauten aus Domenigs Labor gilt nicht der Verfeinerung und auch nicht der Bestätigung formalästhetischer Gewagtheiten, sondern deren radikaler Überbietung. Nach dem Unterschied zischen Hans Hollein und Günther Domenig gefragt, meint der renommierte, an der TU Wien lehrende Architekturtheoretiker Christian Kühn: „Hollein wiederholt sich, Domenig überholt sich.“

Unter den weltberühmten österreichischen Stararchitekten ist Domenig am wenigsten ein Star. Die Rezeption seiner Architektur erschöpft sich oft in metaphorischer Nacherfindung und nicht in der Nachempfindung der ungeheuren Sensibilität und Waghalsigkeit, mit der diese Bauten konzipiert und durchgezogen werden. Es ist bezeichnend, dass das Grazer Kunsthaus (Kennmetapher: A Friendly Alien) als eine unerhörte Novität zelebriert wird, während man ein benachbartes Bauwerk übersieht, das viel wichtiger ist als der gefeierte Trickbau von Peter Cook and Colin Fournier: der Mehrzwecksaal der Kongregation der Schulschwestern in Graz-Eggenberg.

Dieser von Günther Domenig gemeinsam mit seinem langjährigen Partner Eilfried Huth 1972 konzipierte und 1977 vollendete Bau erfüllt einiges mehr von dem, was die Architekten mit dem Kunsthaus zu leisten versprochen haben, aber nicht halten konnten. Der in einem Klosterhof verborgene Schalenbau ist eine wirkliche Pionierleistung auf dem Gebiet der erst jetzt ungemein populär gewordenen biomorphen Architektur. In seiner Rede im MAK anlässlich des siebzigsten Geburtstages von Günther Domenig sagte der amerikanische Architekt Thom Mayne über „the Zed Bank“: „Wenn ich zurückblicke, begreife ich nun, dass sie der Vorläufer dessen war, was heute in der zeitgenössischen Architektur passiert. Erst jetzt können Computer diese Formensprache umsetzen, die zur Währung der nächsten Generation wird.“ Günther Domenig ist der Superstar der nahen Zukunft.

Falter, Mi., 2004.09.01



verknüpfte Akteure
Domenig Günther [der 2012 verstorbene Domenig]

11. August 2004Jan Tabor
Falter

Heiß wie in Jo'burg

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: Eine Ausstellung dokumentiert die Hitze in den Hütten südafrikanischer Townships, und auch ein neues Hochhaus am Wiener Donaukanal leidet unter bauklimatologischen Problemen.

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: Eine Ausstellung dokumentiert die Hitze in den Hütten südafrikanischer Townships, und auch ein neues Hochhaus am Wiener Donaukanal leidet unter bauklimatologischen Problemen.

Vor wenigen Monaten, im Frühjahr 2004, erlebten die Bewohner der Blechhüttensiedlung Orange Farm an der Peripherie von Johannesburg etwas, was sie sich zuvor wohl kaum vorzustellen wagten. „Oh look the whites! They are working for the blacks! Usually the uMlungus', the white people, say Hey black, take a hammer, do this, do that'“, riefen sie entzückt aus. „I am very excited about what is happening“, kommentiert Thandi Mjiyakho Kyoka, die Leiterin der Behindertenorganisation Modimo o Moholo, das einzigartige Ereignis. „Really, I don't know how to explain.“

Die uMlungus, die den Schwarzen von Orange Farm dieses Erlebnis sondergleichen bescherten, waren 26 Studentinnen und Studenten der Technischen Universität in Wien, Abteilung Wohnbau + Entwerfen. Sie waren angereist, um unter der Leitung von Peter Fattinger, Sabine Gretner und Franziska Orso zwei Gebäude zu errichten. Das eine ist ein Mehrzweckhaus für das Masibambane College, das zum Beispiel als Wohnstätte für die Gastlehrer dienen kann. Das Masibambane College ist eine Volksschule, aus Anlass der ersten freien Wahlen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid 1994 von Christoph Chorherr und Helmut Zilk gemeinsam initiiert und von der Stadt Wien finanziert. Es dient außerdem als Gemeindezentrum. Das andere Gebäude, das von den Studenten ebenfalls aus einfach zu beschaffendem Baumaterial in Selbstbauweise innerhalb von fünf Wochen errichtet wurde, ist eine Tagesheimstätte mit geschützter Werkstatt für die Behindertenorganisation Modimo o Moholo.

Die TU-Studenten haben den Bewohnern von Orange Farm das Erlebnis ihres Lebens und zwei nützliche Häuser beschert und dem Architekturzentrum Wien die seit langem wichtigste, interessanteste und wahrscheinlich auch wirksamste Ausstellung über eine der spannendsten Städte der Welt. „JO'BURG NOW! Baustelle Südafrika“ enthält, als erweiterte Version jener Ausstellung, die bereits auf der fünften Architektur-Biennale in Saõ Paulo gezeigt wurde, kongeniale Ergänzungen der Dokumentation des außerordentlich erfreulichen TU-Studentenprojektes. Zusammengestellt wurde sie von einem Team junger, engagierter Architekten, die in Johannesburg leben und arbeiten, und dem auch Anne Graupner angehört, eine aus Österreich stammende Absolventin der Universität für angewandte Kunst.

Johannesburg entstand 1886, als hier Goldvorkommen entdeckt wurden. Obwohl die Goldminen keine wichtige Rolle mehr spielen, ist Jo'burg mittlerweile das wichtigste Wirtschaftszentrum Südafrikas geworden. Dennoch ist es eine Goldgräberstadt geblieben. Eine Metropole, die während ihrer Geschichte vier Mal von Grund auf umgebaut wurde und sich weiterhin in einem rasanten stetigen Umwandlungsprozess befindet. Das Hauptproblem für die Stadtplaner sei es, demokratische Strukturen zu schaffen, die der Stadt weiterhin vollkommen fehlen, meint Anne Graupner. Damit ist nicht nur die soziale Infrastruktur gemeint, sondern auch die Beschaffenheit des öffentlichen Raumes, der den Schwarzen bis 1994 verweigert wurde.

In Joannna, Joostes, eMjivu, Goudstad, eGoli, Jopies, Jozi, Kwandonga oder eben Jo'burg - 27 verschiedene Ortsnamen werden auf der Ausstellungstafel im Hof des AzW aufgezählt - gibt es 3,2 Millionen Menschen. 74 Prozent davon sind Schwarze, und die meisten leben in Townships wie etwa dem berüchtigten Schwarzenghetto Soweto oder Orange Farm, in aus Abfallmaterial selbst gebauten Blechhütten, die nur 15 Quadratmeter groß sind und bunt und eindrucksvoll wie die Materialcollagen des Nouveau Réalisme. Nur ein Drittel dieser Behausungen hat einen Wasseranschluss, aber sechzig Prozent einen Fernseher.

Die Hütten, Shacks genannt, seien furchtbar heiß, sagt Franziska Orso. Extrem heiß. Wie heiß, das können die Ausstellungsbesucher selbst erfahren. Auf dem AzW-Hof wurde eine Blechhütte nachgebaut.

Kürzlich wurde das Uniqa-Hochhaus, das wie eine schlecht gedrehte und zusammengeklebte Papiertüte aussieht, eröffnet. Weil der Neubau an einer überaus prominenten Stelle entstehen sollte, am Kopf der Aspernbrücke und in der Sichtachse des Stubenringes, wurde uns, der Allgemeinheit in Wien, die Einrichtung eines öffentlichen Raumes versprochen, der draußen beginnen und im Inneren fortgesetzt werden sollte. Eine Art Passage. Daraus ist fast nichts geworden.

Tatsächlich ist es zu einer Erweiterung des Straßenraumes gekommen, aber keiner wirklichen, echt öffentlichen. Kein Vergleich mit jenen kleinen, freien Plätzen und platzartigen Hallen oder Passagen, die in New York zuerst vorgeschrieben wurden und nun eine Selbstverständlichkeit bei Hochhaus-Neubauten geworden sind.

Unterhalb des Wiener Gebäudes sind Freiflächen entstanden, die vor allem als Vorplatz des weithin protzenden Versicherungspalastes dienen. Die Gestaltung ist von der selektierenden Art. Hält man sich hier ein wenig länger auf, so kommt man sich wie ein Eindringling in fremdes Revier vor.

Draußen auf dem Vorplatz ist es (am 5. August 2004) fürchterlich heiß. So heiß, wie es in derart beschaffenen Hochhäusern in der Regel zu sein pflegt. Ein wohl bekanntes bauklimatologisches Problem. Drinnen im Foyer, unter und hinter der riesigen schrägen, doppelschaligen Dachwand, ist es kühl (die Klimaanlage läuft) und auch sonst angenehm. Den Architekten Heinz Neumann und Erik Steiner, die mit der selbst kreierten unmöglichen Form eines sich spiralförmig öffnenden elliptischen Zylinders hart und letztlich erfolglos zu kämpfen hatten, ist das Foyer überaus gut gelungen. Es ist geräumiger und großzügiger als in Wien üblich. Die mächtigen Stahlbetonpfeiler kontrastieren mit dem Glas der Innenfassaden. Die Farben, hauptsächlich helle Grautöne, sind gut gewählt und fein abgestimmt. Das trifft auch auf das äußere Erscheinungsbild zu, wodurch die offensichtliche Fragwürdigkeit der Gebäudeform - die man immerhin als gewagt bezeichnen kann - abgemildert wird. Diese Form, so ein Gerücht, sei von dem Uniqa-Logo, das an eine Lassoschlinge erinnert, abgeleitet. Das dürfte stimmten. Die Schlinge setzt sich auch in dem elliptischen Innenraum des Foyers und der Lobbytheke fort.

Dort gibt eine kleine Cafeteria. Ihre Betreiber sprachen (am heißen Nachmittag des 5. August 2004) untereinander italienisch. Der Kaffee ist hervorragend. Die Sessel sind spiralförmig geformt. Die Atmosphäre ist mondän. Es gibt einen schönen Blick auf den Aspernplatz und die vortrefflich renovierte Urania mit ihrer elliptischen Form und ihren mächtigen spiralförmigen Rampen. Von hier besehen, erscheint die Urania als hauptsächliche Inspirationsquelle für die gewagte Form. Von hier besehen, stellt man erfreut fest: Der Neubau trägt doch wesentlich dazu bei, dass die trostlose Hinterhofsituation am Donaukanal verschwindet. Dass das neue Bürohaus am Donaukanal fast eine Sehenswürdigkeit ist.

Falter, Mi., 2004.08.11



verknüpfte Bauwerke
UNIQA Tower

21. Juli 2004Jan Tabor
Falter

Sinnlichkeit im Keller

Manfred Wolff-Plottegg, Verfechter einer psychoanalytischen Baukunst, hat das Café Korb um ein erotisches Klo bereichert.

Manfred Wolff-Plottegg, Verfechter einer psychoanalytischen Baukunst, hat das Café Korb um ein erotisches Klo bereichert.

Das Café Korb auf den Tuchlauben wurde unlängst von einem verheerenden Wasserrohrbruch heimgesucht. Das Inzident im Kellergeschoß sowie der Umstand, dass das Café Korb Peter Weibels Stammlokal ist, haben sich als Glücksfall für den Bestand an aktuell vorzeigbarer zeitgenössischer Architektur in Wien erwiesen: Endlich gibt es hier ein Baukunstwerk von Manfred Wolff-Plottegg, das öffentlich zugänglich ist. Der Professor an der TU Wien und Freund von Peter Weibel ist der führende, um nicht zu sagen einzige Proponent einer aktionistisch inspirierten und psychoanalytisch angehauchten Architektur in Österreich.

Auch Plottegg ist eine Art Wiener Architekturlegende. Man erzählt sich von einem tollen Klo, das der Grazer Architekt bereits vor Jahren einem namhaften Wiener Psychoanalytiker und Verfechter der Analtheorie Freuds derart raffiniert mit Spiegeln ausgestattet haben soll, dass die Klobenutzer an ihren Ausscheidungsprozessen teilnehmen können, was sich für das seelische Gleichgewicht zwischen Es und Ego heilbar auswirken soll. In der Architekturszene kursieren Beschreibungen, die an Erfindungsreichtum und sinnlichen Farbigkeiten mit den klassischen Schilderungen von Junggesellenmaschinen wetteifern können, jene von Franz Kafka inbegriffen.

Offensichtlich hat keiner der begeisterten Überbringer der Klokunde das wunderbare Ding der periskopen Autoinspektion mit eigenen Augen gesehen. Man erzählt davon mit glänzenden Augen und fügt Erinnerungen an das legendäre Café Costes in Paris an, wo es am Klo eine spiegelnde Pissoirwand gab. Sie war derart berühmt, dass auch Damen das kommunikative Männerabteil in Scharen aufzusuchen pflegten. Dieses von Philippe Starck 1984 gestaltete Café, das den Weltruhm des Designers begründete, gibt es längst nicht mehr. Nun rückt Plottegg eindrucksvoll nach.

Die Toiletten im Café Korb befinden sich im Untergeschoß. Dort befindet sich auch die „artlounge“, ein fensterloses Kellerverlies, das von Günter Brus, Peter Kogler, Manfred Wolff-Plottegg und Peter Weibel gemeinsam gestaltet wurde und seither von einem Hauch des wahren Wiener Undergrounds durchweht wird. Hier pflegen führende Philosophen und Kunstrhetoriker der Stadt ihre theoretischen Diskurse abzuhalten. Der Zugang zum Untergeschoß ist ein einfaches türloses Loch in der Wand mit der eleganten Holztäfelung aus den 1950er-Jahren. Das Café Korb ist eines der letzten, die im mehr oder weniger originalen Zustand erhalten geblieben sind.

Direkt über dem Locheingang hängt das Foto einer Aktion von Valie Export. Es stellt die Künstlerin dar, wie sie sich liegend an den Rand eines abgerundeten und mit einer roten Linie markierten Gehsteigs anschmiegt. Es geht um Körpersprache. Diese rote Gehsteiglinie korrespondiert mit den Linien der beiden Handläufe, die mit roten Kunststoff belegt sind, der wiederum mit dem roten Linoleum der Stufen harmoniert. Es handelt sich um erotisches Rot.

Erst nach dem Besuch der tollen neuen Toilette fällt auf, wie erotisch die Gestaltung des Café-Interieurs aus den frühen 1950er-Jahren war. Neben dem Export-Foto hängt jenes Plakat, mit dem die kunstsinnige Cafetiere Susanne Widl im Frühjahr 2002 zur Eröffnung der im einstigen Kegelbahnkeller eingerichteten Artlounge eingeladen hat. Das Motto der Artlounge stammt wohl von Weibel selbst: „Die Rückkehr der Kommunikation“.

Die Rückkehr der Klommunikation. Das neue Klo im Korb von Manfred Wolff-Plottegg ist ein Meisterstück der kommunikationsfördernden Innenarchitektur - dies fällt bereits vor den beiden Milchglas-Flügeltüren mit ihren großen schwarzen Piktogrammen auf. Die Benutzer erscheinen als Schatten. Allenfalls sieht man deren Füße. Denn die beiden Abteile befinden sich in ein und demselben Raum, die betriebliche Trennung der Geschlechter erfolgt durch ein endloses Paravent, das in der Luft zu hängen scheint. Die Lichtkörper befinden sich hinter dieser reich gekurvten Wand, die wie eine endlose Schleife in den orthogonalen Raum hineingewickelt wurde, als handelte es sich um einen weißen Schleier.

Die Paraventwand ist aus pulverbeschichtetem weißem, matt glänzendem Alublech, welches das indirekte Licht weich zu reflektieren und dank der Krümmungen so zu verteilen vermag, dass man sich in der Mitte der Lichtquelle wähnt, meint, eine Lichtgestalt zu sein. Der Fußboden, ein terrazzoartiger Belag in sattrotem Ton, reflektiert das Licht, glänzt derart, dass man die Klovisite als ein glamouröses Raum-Licht-Ton-Erlebnis auffassen kann. Das frivole Spiel des Architekten mit der Balance zwischen der Intimität des Klobesuches und dem Klobesuch als eine Form der Kommunikation ist gewagt. Und geglückt. Das Klo im Korb ist schön.

Offensichtlich ist es ein Spiel mit der sinnlichen Form- und Farbensymbolik des ursprünglichen Stiegenzugangs. Vermutlich ist diese neu erreichte Einheit zwischen der Toilette und der Treppe eine Anspielung an die Treppenmetapher in der Traumdeutung Freuds.

Keine falsche Deutung erlauben die Türpiktogramme. Sie schließen an die Konkrete Poesie der Wiener Schule an. Aus einem I und zwei Beistrichen wurde ein Penis, aus zwei Klammern eine Vagina. Die beiden Zeichen sind so angebracht, dass man es nicht anders lesen kann, als dass der Penis in die Vagina will.

Wenn man beginnt, aufrichtig darüber nachzudenken, was die Einheit der hübschen Piktogramme wirklich bedeuten könnte, stellt man fest: Eigentlich müssten die Männer hinter das Frauenparavent wollen, die Frauen hingegen in die Männerabteilung. Dort aber befindet sich die Urinalmuschel, das unverkennbare Zeichen der maskulinen Vorgangsweise. Der Architekt ist also nicht konsequent gewesen. Die Spiegel hängt in beiden Coupés ausschließlich über den Waschbecken.

Falter, Mi., 2004.07.21



verknüpfte Bauwerke
Toiletten im Café Korb

30. Juni 2004Jan Tabor
Falter

Gebaute Erinnerung

„Denkwürdiges Wien“, ein neuer Stadtführer von Erich Klein, erinnert an den Architekten Erich Boltenstern - obwohl dessen bekanntestes Bauwerk gar nicht vorkommt: der Ringturm.

„Denkwürdiges Wien“, ein neuer Stadtführer von Erich Klein, erinnert an den Architekten Erich Boltenstern - obwohl dessen bekanntestes Bauwerk gar nicht vorkommt: der Ringturm.

Erich Klein hat eine Unterweisung zum bewussten „Gehen & Sehen“ in Wien verfasst und im Falter Verlag veröffentlicht: „Denkwürdiges Wien. 3 Routen zu Mahnmalen, Gedenkstätten und Orten der Erinnerung der Ersten und Zweiten Republik“. Die Lektüre fordert zum kritischen Nachgehen auf. Und zum Erinnern an Erich Boltenstern.

Obwohl der Ringturm ein „Ort der Erinnerung“ ist, ein immanent politischer sogar, kommt er bei Klein nicht vor. In das schmale Buch würde das stattliche Hochhaus überaus gut hineinpassen. Der Ringturm und eine Ehrentafel in dessen Foyer erinnern an Norbert Liebermann. Nach dem legendären Generaldirektor der Wiener Städtischen war früher auch der „Norbert-Liebermann-Hof“ am anderen Ufer des Donaukanals benannt, der ebenfalls ein Werk des Architekten Erich Boltenstern ist. Als dieser bedeutende Verwaltungsbau aus den Sechzigerjahren vor wenigen Jahren mit postmoderner Gründlichkeit bis zur Unkenntlichkeit umgebaut wurde, verschwand die ehrende Hausbenennung und eine Aufforderung zum Erinnern.

Erich Boltenstern (1896-1991) wurde von den Nationalsozialisten als „jüdisch versippt“ eingestuft und mit Berufsverbot belegt. In der Nachkriegszeit stieg er zu einem der meistbeschäftigten Aufbauarchitekten auf, unter anderem leitete er den Wiederaufbau der Staatsoper. Norbert Liebermann (1881-1957) war möglicherweise der einzige jüdische Politiker und Experte, der nach der Befreiung von 1945 aus dem Ausland nach Österreich zurückgeholt und in seine Position als Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherung wieder eingesetzt wurde. Der Sozialdemokrat Liebermann war bereits nach dem austrofaschistischen Putsch im Februar 1934 abgesetzt worden; nach dem „Anschluss“ im Frühjahr 1938 wurde er von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Nach seiner Freilassung 1939 gelang ihm über Kuba die Flucht in die Vereinigten Staaten. Seine Rückkehr 1947 ging auf die persönliche Einladung des Wiener Bürgermeisters Theodor Körner zurück.

Liebermann setzte den Bau eines neuen Bürohochhauses an der Stelle eines durch Bomben zerstörten Ringstraßenpalais durch. Der Ringturm, dessen Name in einem Volksplebiszit gefunden worden war, wurde sofort zum Sinnbild des rasanten Wiederaufbaus und des geglückten Wiederanschlusses an die westliche Welt. Liebermann wollte in Wien eine Erinnerung an die Wolkenkratzer von Manhattan haben, die er während seiner Emigration in New York lieb gewonnen habe, erzählte man sich damals. Wenn das kein Ort der Erinnerung ist!

Der Ringturm, Boltensterns Hauptwerk, steht unter Denkmalschutz. Nicht so sehr, weil seine Architektur von überragender Bedeutung wäre. Das Hochhaus erinnert eindringlich und weithin sichtbar an den Aufbauoptimismus nach dem Krieg. Ein anderer Boltenstern-Bau und ebenfalls ein wichtiger Ort der Stadtgeschichte ist das Restaurant auf dem Kahlenberg. Ein Bau, der weithin sichtbar - jedoch unaufdringlich - den Aufbauoptimismus der austrofaschistischen Diktatur verkörpert und daher ein Baudenkmal par excellence abgibt. Würde man meinen. Mitnichten: Das von der Stadt Wien an einen Privaten verkaufte Restaurant soll laut einem kürzlich erlassenen Gemeinderatsbeschluss abgerissen und durch einen Neubau nach einem Entwurf des Büros Neumann/Steiner ersetzt werden.

Nach Erich Bernard, einem der wenigen Kenner der Architektur der Zwischenkriegszeit, ist das Restaurant das architektonisch interessanteste Bauwerk von Boltenstern und auch der beste Bau des austrofaschistischen Wien überhaupt - nicht zuletzt deshalb, weil er bereits 1932 für einen noch in sozialdemokratischen Zeiten ausgelobten Wettbewerb entworfen wurde. Erich Klein hat das Bauwerk in seinen Gedenkstätten-Führer aufgenommen. Völlig richtig weist er auf die Tatsache hin, dass das Restaurant ein Bestandteil der Höhenstraße ist. Ihr Bau begann 1934 und wurde erst in den Fünfzigerjahren beendet.

Der Boltenstern-Bau, der sozusagen als der Höhepunkt der Höhenstraße gedacht und konzipiert war, ist für das austrofaschistische Regime eine so charakteristische Leistung wie etwa der Karl-Marx-Hof für das Rote Wien. Der Bau der eleganten, von Stadtbauamt-Architekten Erich Leischner entworfenen Panoramastraße diente als Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose. Es durften keine schweren Baumaschinen eingesetzt werden.

Die Höhenstraße samt Restaurant am Kahlenberg ist ein Erinnerungsort der Sonderklasse: Sie weist von der sozialdemokratischen Zeit (Ziel: Tourismus für Volksmassen - ein Restaurant mit 4500 Sitzplätzen in der Sommerzeit) über den Austrofaschismus (Ziel: Tourismus für die Oberschicht) und die NS-Zeit mit ihren entsprechenden architektonischen Beigaben (der Kahlenberg wurde nach dem „Anschluss“ zum „Wachtturm der Ostmark“ erklärt) bis in die Nachkriegszeit.

Der damals erfolgte Hotelzubau, ein Werk des stark NS-belasteten Architekten Hermann Kutschera, gilt auch für die Verteidiger des Boltenstern-Restaurants als nicht schützenswert. Also: Boltenstern ja, Kutschera nein? So einfach ist es allerdings nicht. Auch Kutschera, der mit seinem Projekt einer Skisprungschanze bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin - als Tonkunst, Baukunst, Dichtung, Malerei und Bildhauerei noch als vollwertige olympische Disziplinen galten - eine Goldmedaille gewann, ist eine architekturgeschichtlich interessante Figur. (Wäre ein österreichischer Abfahrts-Olympiasieger in dem Hotel einmal abgestiegen, stünde es vermutlich längst unter Denkmalschutz!)

In der gegenwärtigen Bewertung aber haben all diese kulturhistorischen Umstände und Details am Rande offensichtlich keine Bedeutung. Wieder zeigt sich, wie schwach die Position des Denkmalamtes in derartigen Fällen ist; wie sehr Experten fehlen, die sich mit der Architektur der Zwischen- und Nachkriegszeit befassen. Wer zulässt, dass das Restaurant von Boltenstern demoliert wird, der muss auch die Schutzwürdigkeit des Karl-Marx-Hofes infrage stellen. Um es auf die Spitze zu treiben: In der NS-Zeit wurde Boltenstern - nicht zuletzt auch wegen der Modernität seiner Bauten - mit Berufsverbot belegt; in der Jetztzeit werden seine Bauten demoliert.

Die dem Ringturm am nächsten liegenden Lokalitäten, die in Erich Kleins Führer erwähnt werden, sind die beiden Flaktürme im Augarten. Gar keine Frage: Sofern die Naziungetüme noch nicht unter Denkmalschutz stehen, müsste dies schleunigst geschehen. Denn auch um sie herum kreisen längst einfallsreiche Umbauspezialisten. Der Architekt der Flaktürme hieß Friedrich Tamms - nicht Tamm, wie er bei Klein genannt wird.

Der fehlende Buchstabe „s“ ist nicht der einzige kleine Fehler in dem mit interessanten Hinweisen, Fotos und gut lesbaren Texten vollen Gedächtnisauffrischungsführer. Neben viel Lobenswertem gibt es auch ein paar Dinge, über die man sich ärgern muss. Zum Beispiel, dass sich keinerlei Hinweise auf die Quellen und die verwendete Literatur finden - und natürlich, dass der Ringturm fehlt.

Falter, Mi., 2004.06.30



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Denkwürdiges Wien. 3 Routen zu Mahnmalen, Gedenkstätten und Orten der Erinnerung der Ersten und Zweiten Republik.

26. Mai 2004Jan Tabor
Falter

Filme im Forsthaus

In der ruralen Einöde bei Laxenburg wurde das Zentralfilmarchiv um einen gelungenen Neubau erweitert. Auch dem Bedürfnis der Filmbewahrer nach einer zeitgemäßen Symbolik ihres Tuns wurde Rechung getragen.

In der ruralen Einöde bei Laxenburg wurde das Zentralfilmarchiv um einen gelungenen Neubau erweitert. Auch dem Bedürfnis der Filmbewahrer nach einer zeitgemäßen Symbolik ihres Tuns wurde Rechung getragen.

Etwa zwei Kilometer hinter Laxenburg steht an der Umfahrungsstraße nach Münchendorf ein Haus, das früher ein Gasthof gewesen sein dürfte. Im Dach des erdgeschossigen Gebäudes steckt das Wrack eines abgestürzten einmotorigen Flugzeugs. Man soll sich von dem Cinecittà-Aussehen nicht täuschen lassen: Es ist nicht das Zentralfilmarchiv Laxenburg. Es ist das Restaurant Flieger&Flieger.

Ein paar hundert Meter weiter mündet ein Feldweg in die Bundesstraße; dort ragt aus der Erde eine große Stahlplatte heraus, die an den Rändern so durchlöchert ist, dass man das hier befremdlich wirkende Objekt für ein Monument des verschollenen Films halten könnte. Verschollen im Sinne von Peter Bogdanovich („The Last Picture Show“): „Es gibt keine alten Filme, sondern nur solche, die man sehen kann oder eben nicht mehr sehen kann“. Der Feldweg führt zu einem Weiler, der so nah am Rand eines dichten Haines liegt, dass man das Gehöft für einen Forstbetrieb halten könnte, wären nur im Schild des stattlichen barocken Hauses Hirschgeweihe angebracht. Es ist das Zentralfilmarchiv.

Schwer zu sagen, was schwieriger ist: Filme zu sammeln oder zu bewahren. Filme sind ein überaus empfindliches Kulturgut. Kein Vergleich mit Büchern. Wenn man sie in ihrer ursprünglichen Qualität erhalten will, muss man die Bildträger in stabil kühlen (sechs Grad Celsius) und feuchten (35-40 % relative Feuchtigkeit) Räumen lagern. Beginnen Filme einmal zu brennen (Nitratfilme bereits bei einer Temperatur von 120 Grad), dann lassen sie sich nicht mehr löschen. Daher dürfen Filmarchive nur außerhalb bebauter Gebiete errichtet werden.

Gleich neben dem Altbau, der tatsächlich ein kaiserliches Forstamt beim Schloss Laxenburg war und unter Denkmalschutz steht, befindet sich ein neues Gebäude, das man für eine moderne Scheune halten könnte. Für die tollkühne Interpretation eines Schuppens. Die stattliche Größe, die schlichte, zweckmäßige Form des Baukörpers und die rostbraune Farbe seines Fassadengeflechtes lassen darin nicht einen Kühlhaus-Betonbunker vermuten, aber doch einen Speicher: einen bautypologisch und -technologisch banalen Langzeitspeicher und zugleich einen Thesaurus, wie die alten Griechen das Schatzhaus nannten. Ein Wertvollspeicher.

Für das gesamte Bauvorhaben samt der aufwendigen Bauweise (Pfahlgründung wegen des sumpfigen Grundes, eine spezielle wärmedämmende Stahlbeton-Massivbauweise) und Klimatechnik (doppelt ausgeführt) sowie der Mobilregale für 300.000 Filmrollenkassetten standen nur 1,1 Millionen Euro zur Verfügung. Nach einigen Gesprächen der Archivdirektion mit verschiedenen Architekten erhielt das Büro Embacher Wien den Zuschlag. Michael Embacher ist dafür bekannt, dass er derartige Harakiri-Aufträge nicht nur höchst effizient, sondern auch architektonisch höchst anspruchsvoll auszuführen vermag.

Der Langzeitspeicher ist ein Kubus mit zwei Lagerebenen zu je fünfhundert Quadratmetern. Die Maße des Baukörpers entsprechen denen des barocken Forsthauses. Das monolithische Erscheinen des Gebäudes wird am Eck gegenüber dem Altbau durch eine - um eine Hand voll des Konstruktiven zu viel - dramatische architektonische Geste unterbrochen, die aus einem Schlitz für den Eingang, dem versenkten und rot gefärbten Aufzugsturm sowie aus der weit auskragenden freien Fluchtstiege samt brückenartigem Flugdach besteht.

Um eine von der Forsthausumgebung inspirierte Metapher zu verwenden: Den architektonischen Vogel hat der Architekt mit seiner witzigen Fassadenlösung abgeschossen. Um den ganzen Baukörper herum sind unzählige Streifen aus Kupferblech wie ein Geflecht angenagelt. Diese Paravents beschatten die Betonwände, sind unterlüftet und verleihen dem Gebäude ein überaus angenehmes, weiches und naturhaftes Erscheinen. Völlig frei von pseudoökologischen oder gar folkloristischen Attitüden, kann es als ein Muster des zeitgemäßen Bauens in der Landschaft gelten.

Die Breite der Bänder von 35 Millimetern entspricht dem verständlichen Bedürfnis der in der ruralen Einöde des Forstamtes werkenden urbanen Filmbewahrer nach einer zeitgemäßen Symbolik ihres Tuns. 35 Millimeter ist die klassische Filmbreite. Uneinig sind sich die Archivare und ihr Architekt nur in einer Frage: Ob auf die Stahlplatte bei der Straße die Aufschrift „ZENTRALFILMARCHIV LAXENBURG“ angebracht werden soll oder nicht. Die Antwort ist doch klar: Nein.

Falter, Mi., 2004.05.26



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Filmarchiv - Filmdepot Laxenburg

21. April 2004Jan Tabor
Falter

Kardinal und König

Vergangene Woche starb der österreichische Jahrhundertarchitekt. Ihm verdankt Wien es, eine der lebenswertesten Städte Europas geworden zu sein.

Vergangene Woche starb der österreichische Jahrhundertarchitekt. Ihm verdankt Wien es, eine der lebenswertesten Städte Europas geworden zu sein.

Roland Rainer war Kardinal und König der österreichischen Architektur. Er dachte, sprach und baute, als würde er predigen. Er mahnte die Tugendhaftigkeit der Architektur ein. Sie müsse wahrhaftig, aufrichtig, einfach, bescheiden und uneitel sein.

Einer der schönsten Innenräume, die ich in Wien kenne, ist sein Büro im Hinterhof eines mehrgeschoßigen Wohnhauses in Wien-Hietzing. Es ist ein kahler, fensterloser, knapp möblierter Raum: ein Ort zwischen der Sakristei einer einfachen Landkirche und der Eremitage eines taoistischen Denkers. In der Mitte steht ein langer Tisch, der stets leer war, wenn ich bei ihm zum Besuch weilte. Auffallend abgeräumt, Tabula rasa. Der Raum wird durch einen Okulus, ein rundes Fenster in der Decke, beleuchtet - ähnlich wie die Altäre in den von Rainer erbauten Kirchen. Ein Ort höchster Konzentration. Den Blick in den begrünten Hof, die von ihm vehement geforderte Verbindung der Innenräume mit dem Außen, gönnte er seinen Mitarbeitern im Zeichensaal.

Aus Gesprächen mit ihm schließe ich, dass Roland Rainer Atheist war. Sein Zugang zur Architektur hingegen war ausgesprochen religiös. Er sprach wie ein Missionar und dachte wie ein Demiurg. „Es ist Aufgabe des Architekten, den Menschen ein vollständiges, menschliches, humanes Weltbild zu vermitteln. Wir müssen daran denken, dass wir nicht nur Häuser bauen. Wir müssen wissen, dass wir eine Welt bauen.“ Mit diesen Worten schließt Roland Rainer sein letztes Buch, die exzellent gestaltete Monografie „Roland Rainer: Das Werk des Architekten 1927-2003“ (Springer Verlag), die er selbst, nicht ganz uneitel, herausgegeben und gestaltet hat.

Bücher zu schreiben und zu gestalten war seine Leidenschaft. Insgesamt 26 Bücher hat er veröffentlicht. Der 1961 von ihm selbst gestaltete und herausgegebene Bildband „Anonymes Bauen im Nordburgenland“ ist für mich das schönste Architekturbuch, das in Österreich je veröffentlicht wurde. Sein letztes Buch, die Monografie, die nur wenige Wochen vor seinem Ableben am 10. April 2004 erschienen ist, wurde offensichtlich als Vermächtnis konzipiert. Sie trägt den apodiktischen Untertitel „Vom Sessel zum Stadtraum: geplant errichtet verändert vernichtet“ und eine dramatisch wirkende Nachtaufnahme der Stadthalle von Bremen auf dem Umschlag.

Die Lage in Bremen ist tatsächlich dramatisch. Der 1964 fertig gestellten Stadthalle droht die rücksichtslose Erweiterung für Zwecke des zeitgenössischen Events, wodurch die eindrucksvolle Außenerscheinung der auf sechs schräge Pfeiler gehängten Halle mit mehr als hundert Metern Spannweite völlig ruiniert wäre. Als kürzlich die brutalen Umbaupläne bekannt wurden, klagte Rainer, der nie konsultiert worden war, seine Urheberrechte ein. Der Gerichtstermin wurde erst Monate nach dem Beginn der Umbauarbeiten festgelegt. Ob der Prozess nun nach dem Tod des Architekten fortgesetzt wird, ist unklar. Hoffnungsvoll stimmt allerdings, dass die Proteste namhafter Kulturmenschen in Deutschland immer stärker werden.

Auch die Wiener Stadthalle wurde umgebaut. Dabei ist man zwar nicht zerstörerisch, aber leider auch nicht zimperlich vorgegangen. Vernichtet wurde die erste Bauwerk-Predigt von Rainer: das 1952 für die und neben der Wiener Arbeiterkammer errichtete Franz Domes Lehrlingsheim. Trotz Protesten wurde es 1983 abgerissen und durch ein Bürohaus und ein Theater in scheußlichem Funktionärsbarock ersetzt.

Im Wien der Fünfzigerjahre war die moderne Architektur ein attraktives Wahlthema. „Damit Wien wieder Weltstadt wird, wählt SPÖ“, hieß es auf einem Plakat für die Kommunalwahlen 1954. Die auf dem Plakat abgebildete moderne Weltstadt existierte noch nicht. Der Ringturm befand sich noch im Rohbau und die Stadthalle gar noch am Planpapier als Entwurf für einen internationalen Wettbewerb im Sommer 1954. Der erste Preis wurde zwischen Alvar Aalto und Roland Rainer aufgeteilt, Rainer - wir sind in Wien - bekam den Bauauftrag. Dennoch ist diese Mehrzweckhalle ein Spitzenbauwerk der Architekturgeschichte.

Zwei deutsche Städte, Bremen und Ludwigshafen, beschlossen daraufhin, ähnliche Stadthallen errichten zu lassen. Von Roland Rainer. Nach den von ihm gewonnenen Wettbewerben. Die Stadthallen wurden zu den jeweiligen Wahrzeichen aller drei Städte und zu Zeichen der Zeit, des wunderbaren Aufstiegs des kriegszerstörten Deutschland und Österreichs zu vorbildlich modernen, demokratischen und wirtschaftlich prosperierenden Staaten.

Was die neue Baukultur betrifft, hat Roland Rainer viel dazu beigetragen. In Österreich war er jahrzehntelang die bestimmende Majestät des Bauens. Er war einer, der die Zeit prägte, in der er tätig war, und zu deren Zeichen er letztlich selbst werden sollte. Er war eine Autorität - und das wusste er, das setzte er ein, das nutzte er aus. Was nicht seinen Vorstellungen entsprach, lehnte er ab. Wann und wo er konnte, versuchte er nach seinen Maßstäben und Dogmen zu wirken.

Konnte er nicht, zog er sich erzürnt zurück. So 1963 nach fünfjähriger Amtszeit als Stadtplaner von Wien. 1957 hatte Rainer vor dem Wiener Senat einen Vortrag gehalten, in dem er seine Auffassung von der Arbeit des Stadtplaners darlegte. Er sprach, als würde er aus dem Koran zitieren, und verglich seine Arbeit mit der eines Teppichwebers: „Andere haben vor ihm gewebt, und andere werden nach ihm weiter weben. Der Wiener Stadtplaner webt an einem sehr kostbaren Teppich, der in der Geschichte aus der Landschaft und den Werken der Menschen entstanden ist.“

Den Stadtratsabgeordneten gefiel der Vortrag sehr, und sie ernannten Rainer zum Wiener Stadtplaner. Gott sei Dank. Die Basis dafür, dass Wien eine der lebenswertesten Städte in Nachkriegseuropa geworden ist, ist der Autorität des Roland Rainer, dem Jahrhundertarchitekten der zweiten Hälfte des österreichischen 20. Jahrhunderts, zu verdanken.

Falter, Mi., 2004.04.21



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Rainer Roland

18. Februar 2004Jan Tabor
Falter

Die Freude am Golfspielen

Diesmal: eine schlampige Slowakei-Schau, ein wohlfeiles Firmenlogo und der schnellste Architekturführer der Welt.

Diesmal: eine schlampige Slowakei-Schau, ein wohlfeiles Firmenlogo und der schnellste Architekturführer der Welt.

Vladimir Dedecek ist ein Genie. Er lebt in Bratislava, wo er nicht gemocht wird - weil er für die Kommunisten baute. Im Westen ist er unbekannt. In Bratislava sind in der kommunistischen Zeit mindestens vier Bauwerke entstanden, denen man internationales Niveau bescheinigen kann. Bei zwei von ihnen konnte ihre erhebliche architektonische Qualität bereits von Österreich aus, also international, erkannt werden, als der Eiserne Vorhang noch zugezogen war: die Brücke über die Donau und der Fernsehturm in den Hügeln der Kleinen Karpaten. So nah liegt Bratislava.

Die Brücke mit ihren zwei schrägen Pfeilern, die in der luftigen Höhe eine große linsenförmige Kapsel mit einem Aussichtsrestaurant tragen, ist ein Wahrzeichen der Stadt. Von Wien über die Hängebrücke kommend sieht man den obeliskartigen TV-Turm und rechts unten gleich am Donaukai einen zwischen den Seitenflügeln eines schlossähnlichen Gebäudes gespannten Baukörper, der wie eine umgekehrte riesige Treppe aussieht und mit rot lackiertem Blech bedeckt ist. Es handelt sich dabei um den Ausstellungstrakt der Nationalgalerie, Dedeceks drittes Spitzenbauwerk europäischer Architektur aus kommunistischer Zeit. Das sieht auch Wolf D. Prix von Coop Himmelb(l)au so. Die meisten slowakischen Experten sehen es anders, und das merkt man wiederum der Ausstellung „Architektur Slowakei. Impulse und Reflexionen“ im Ringturm an: Abgesehen von einer miserablen, in einem Eck versteckten Schautafel ohne Text kommt das geniale Bauwerk nicht vor. Manche Experten plädieren für Abriss.

Das vierte sehenswerte Bauwerk ist das Gebäude des slowakischen Rundfunks in der Form einer riesigen, auf die Spitze gestellten Pyramide. Von der Brücke aus sieht man es nicht. Vom Brückencafé aus würde man es erblicken, aber dieses ist wegen seines schlechten baulichen Zustands geschlossen. Das ist leider charakteristisch: So gut die Bauten in der Slowakei auch sein mögen, die Ausführungen und die Gestaltungen im Detail sind meist miserabel.

Um die Rundfunk-Pyramide zu besichtigen, muss man durch die Stadt Richtung Freiheitsplatz gehen. Unterwegs fällt auf, wie oft versucht wurde, aus dieser osteuropäischen Provinzkleinstadt eine moderne europäische Großstadt zu machen. Modern im Sinne der jeweils geltenden Regierungsformen und Architekturauffassungen - von der k.u.k. Gründerzeit über den tschechoslowakischen Funktionalismus bis zur realsozialistischen, an den aktuellen westeuropäischen Vorbildern orientierten Architektur. Es fällt auf, dass in der Zwischenkriegszeit in der noch immer klein gebliebenen Großstadt Bratislava mehr Bauten der klassischen Moderne errichtet wurden als in ganz Österreich. Zum Beispiel wurde die curtain wall, die vorgehängte Fassade, dort bereits 1932 angewandt, kurz nachdem sie in den USA entwickelt worden war und 28 Jahre, bevor sie in Wien verwendet wurde.

Man soll also aufhören, die slowakische Architektur zu unterschätzen. Die Ausstellung macht es einem allerdings schwer. Die ganze Slowakei und die lange Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart sind zu groß für den kleinen Ausstellungsraum. Das slowakische Bildmaterial ist schlecht, die österreichische Gestaltung noch schlechter.

Vor einiger Zeit erschien im profil ein bemerkenswertes Interview mit dem Bauunternehmer Erwin Soravia über Hans Holleins merkwürdiges Ding auf der Albertinabastei, genannt Soravia Wing. Die Frage: „Werden Sie wieder als Architektursponsor in Erscheinung treten?“ bejahte Soravia und begründete seine Drohung wie folgt: „Wir leben in Wien sehr gut, wir verdienen gutes Geld hier. Ich kann es mir aber auch nicht leisten, Förderungen still und leise zu vergeben. Architektur passt zu uns besser als ein Sponsoring der Barmherzigen Brüder. Ende März bringen wir eine neue Firma auf den Markt, eine Immobilien-Beteiligungsgesellschaft. Das Firmenlogo wird der Wing' sein. Andere Unternehmer zahlen ein Vermögen, um derart in der Öffentlichkeit präsent sein zu können.“ Ein gutes Geschäft, das Wing-Ding, keine Frage. Die Frage ist: Ist der Albertina-Direktor Schröder befugt, den Namen Albertina an eine Immobilienfirma derart billig zu verschleudern?

Profil fragt außerdem: „Was wird in fünf Jahren in Wien-Reiseführern über das Flugdach zu lesen sein?“ So lange brauchen wir nicht zu warten. Ein derartiger Führer ist bereits kurz vor dem Jahreswechsel erschienen: „Wien 1975-2005 - Neue Architektur“. Dort heißt es unter dem Stichwort „Albertina, Totalsanierung 1998“: „Für die Ausgestaltung des Eingangsbereiches - eine späte Entscheidung - gewann Hans Hollein einen separaten, geladenen Wettbewerb mit einer stark kontrastierenden Architektur. Denkmalschutzbehörde und neue Architektur vertreten hier zwei verschiedene Meinungen.“

Das Urteil hat August Sarnitz, der Herausgeber des eiligsten Architekturführers der Welt, im September 2003 gefällt, und es muss bis 2005 reichen. Wie schon Sarnitz' alter Guide von 1997 dürfte sich diese Publikation ausschließlich an exzellente Kenner der Wiener Architektur wenden. Denn nur solche sind in der Lage, all die falschen, ungenauen, ungenügenden, schlecht bebilderten und offensichtlich weder fachlich noch sprachlich lektorierten Angaben zu den 300 Bauten von denjenigen zu unterscheiden, die - auch das kommt vor - richtig und brauchbar sind. Dass auf dem Buchrücken von „Architeketur“ die Rede ist, passt nur allzu gut ins Bild.

Der von der Stadt Wien (Stadtplanung) engagierte Architekt August Sarnitz zeichnet für Auswahl, Werktexte, grafische Gestaltung verantwortlich. Verständlich, dass er seine wenigen eigenen Bauten reichlich berücksichtigt hat. Viele wichtige hingegen fehlen. Obwohl der Führer eine Vorausaktualität bis 2005 behauptet, dominieren wohlbekannte Oldtimer. Der Golfclub Ebreichsdorf von Hans Hollein (1987-1989) zum Beispiel. Der entsprechende Eintrag beginnt mit: „Ein Golfclub ist ein Golfclub ist ein Golfclub. Frei nach Gertrude Stein zelebriert Hans Hollein das Clubleben in seiner besten Art und erreicht dabei heitere Atmosphäre, die zum Verweilen einlädt.“ Und er endet mit: „Der schöne Blick auf die Greens macht Freude auf die nächste Golfrunde.“

August Sarnitz: Wien 1975-2005 - Neue Architektur. Wien 2003 (Springer). 256 S., E 30,60

Architektur Slowakei: Impulse und Reflexion, Ausstellungszentrum im Ringturm (nur noch bis 29.2.).

Falter, Mi., 2004.02.18

04. Februar 2004Jan Tabor
Falter

Zimmer mit Aussicht

Die Wienerberg City ist keineswegs perfekt - der dort errichtete Wohnturm von Albert Wimmer schon.

Die Wienerberg City ist keineswegs perfekt - der dort errichtete Wohnturm von Albert Wimmer schon.

Albert Wimmer hat einen vortrefflichen Wohnturm errichtet. Er heißt Monte Verde und befindet sich nicht, wie der fremdartige Name nahe legen würde, am Monte Laa, sondern am Wiener Berg. Bloß durch eine enge Straße getrennt, steht der Monte Verde gleich neben jenen Twin Towers, die, 2001 von Masimilliano Fuksas vollendet, mit ihren weithin sichtbaren transparenten, grünlich schimmernden Fassaden den Maßstab für all das setzten, was in Wien unter dem Etikett Hochhaus, Turm oder Tower gebaut wird.

Um diese maßgebende Nähe war Albert Wimmer als Architekt also kaum zu beneiden. Um die Lage für das Projekt eines achtzig Meter hohen Wohnturmes mit 183 Wohnungen hingegen schon: hier, auf der hohen Südkante Wiens, wo die Landschaft in die ebenen Weiten des Wiener Beckens beziehungsweise - nach Norden - in die Häuserwellen der Stadt abfällt. Die Aussicht vom Monte Verde sei „grandios“ (Prospekt der Errichtungsgesellschaft Wien Süd), „unvergleichlich“ (der soeben erschienene Architekturführer von August Sarnitz) beziehungsweise „atemberaubend“ (News).

Absolut zutreffend. Man läßt den Blick schweifen und erblickt: die Rax und den Kahlenberg, den Stephansdom und, hinter ihm, den Screen des News-Turms am Donaukanal, das Leithagebirge und die Hügel bei Hainburg. Nur den Monte Laa (einst Laaer Berg) sieht man nicht, wo man den Monte Verde eigentlich vermutet hätte - nicht so sehr wegen der Namensähnlichkeit, sondern weil Albert Wimmer den Masterplan für die dort gelegene Developer City entworfen hat.

Für den Masterplan der Wienerberg City, wie das vor der Stadt Wien und der Wienerberger Ziegelindustrie auf ihren einstigen Betriebsgründen gemeinsam abgewickelte Projekt eines neuen Stadtteils mit rund 1200 Wohnungen genannt wird, zeichnet Masimilliano Fuksas verantwortlich. Dem Plan nach wird das seicht nach Süden abfallende Baugelände in drei Streifen bebaut. An der Kante mit den Twin Towers wurden die vier Hochhäuser von Coop Himmelb(l)au, delugan- meissl und Albert Wimmer situiert, die von den langen, parallel zum Hang gestellten Zeilenhäusern von Cuno Brullmann, atelier 4 architects und delugan-meissl durch einen breiten „Boulevard“ getrennt sind. Den Rand des Baugeländes bilden die Terrassenhäuser von Helmut Wimmer und die originelle Wohnhausanlage „Hängende Gärten“ von Günter Lautner.

Die unmittelbare Nachbarschaft der unübertrefflichen Twin Towers macht sich bemerkbar. Die typologische Vielfalt der Wohnhausanlagen und die Auswahl der Architekten (die über einen Bauträgerwettbewerb, bei dem sich Baugesellschaften mit den von ihnen ausgewählten Architekten beteiligten) sind genauso anerkennenswert wie die beachtliche Qualität des Wohnens und die angestrebte Qualität der Architektur selbst, die allerdings oft in den Anstrengungen stecken bleibt. Die Wienerberg-City hat viele Merkmale einer musterhaften Wohnstadt.

Obwohl der Städtebau hier unvergleichlich besser ist als etwa die atemberaubend dumme Hochhausbebauung an der Wagramer Straße, kann der Masterplan von Fuksas nicht als Beispiel für grandiose stadtgestalterische Intelligenz gelten. Die Situierung der Baukörper ist topografisch derart plump, dass ein wesentlicher Teil der Wohnungen von den in der Tat grandiosen Aussichtsmöglichkeiten hier ausgeschlossen werden. Dass die Zeilenhäuser nicht so zum Hang orientiert sind, dass sich die Zahl der Wohnungen ohne Fernblick auf ein Minimum reduziert, ist unbegreiflich. An der Donauuferbebauung in Wien-Kaisermühlen hat Harry Seidler exemplarisch vorgeführt, wie einfach das ist und wie gut es funktionieren kann. Der Treppenwitz der Baugeschichte am Wienerberg ist, dass Albert Wimmer in seinem Wettbewerbsentwurf eine ähnlich brauchbare Lösung vorgeschlagen hat, die aber abgelehnt wurde, weil man am Wienerberg keine Hochhäuser errichten wollte. Das war noch in der Zeit vor Fuksas, der dann - Gott sei Dank! - seine Twin Towers aufstellen durfte, die sich dann als unübertrefflich erweisen sollten. Sie sind 127 beziehungsweise 138 Meter hoch.

Mit seinen achtzig Meter ist der vortreffliche Wohnturm von Albert Wimmer keine Konkurrenz für den noblen Nachbar. Genehmigt wurde ohnehin nur siebzig Meter plus die Ausnahme zehn Prozent. Sonst hat Albert Wimmer die Herausforderung der prominenten Nachbarschaft angenommen und ein paar richtige Entscheidungen getroffen, die mit der Architektur Fuksas' einen formalen Zusammenhang aufweisen oder dieser entgegengesetzt sind. Wimmer wählte eine ihr ähnliche längliche Viereckform, setzte an den schmalen, nach Süden beziehungsweise Norden orientierten Seiten doppelt verglaste Loggien, die eine einheitliche, dem Fuksas-Bau ähnelnde Fassade ergeben. Die Längsseiten sind weitgehend geschlossen, mit grünen Keramikplatten verkleideten (das bis dahin unbekannte Grün hat sich der Architekt unter der Schutzmarke „Monte Verde“ patentieren lassen) und mit kleinen Fenstern versehen (der Wohnturm entspricht Parametern für Niederenergiehäuser).

Um der aus der Menge der Fensterlöcher notwendigerweise entstehenden Langeweile entgegenzuwirken, wurde die einheitliche Fassade durch verglaste oder offen Schlitze (bei Fluchtstiegen) aufgelockert. Der Baukörper wurde mit großen, weit auskragenden Wohnerkern bestückt, die seitlich die gleichen verglasten Loggien wie die Süd- und Nordfassade aufweisen. Dadurch wurde die Anzahl der Wohnungen mit Fernblick wesentlich erhöht.

Das Vortreffliche am Wohnturm Monte Verde: Die Ausblicksmöglichkeiten wurden optimal genutzt, und die Zahl der Wohnungen mit optimaler Aussicht maximalisiert - dieses Optimalaussichtsmaximum wurde dann in perfekte Architektur umgesetzt.

Falter, Mi., 2004.02.04

17. Dezember 2003Jan Tabor
Falter

Albertina: das Ding mit dem Wing

Plötzlich war es da, das Wing-Ding, das „Soravia Wing“ heißt und aussieht, als wäre es unter aller Anstrengung in das so luftige Ambiente über der Albertinabastei mit hineingestopft worden. Dabei bedeutet Wing „Flügel“. Aber „Soravia-Flügel“ klingt nicht so gut wie „Soravia Wing“.

Plötzlich war es da, das Wing-Ding, das „Soravia Wing“ heißt und aussieht, als wäre es unter aller Anstrengung in das so luftige Ambiente über der Albertinabastei mit hineingestopft worden. Dabei bedeutet Wing „Flügel“. Aber „Soravia-Flügel“ klingt nicht so gut wie „Soravia Wing“.

Mit dem durch einen Namen ergänzten Wort „Wing“ werden in Museen oder auf Universitäten in Amerika und Großbritannien jene Gebäude bezeichnet, deren Errichtung von einem freigibigen Sponsor finanziert wurde. Es entsteht also der Eindruck, die Bauunternehmer Erwin und Hanno Soravia hätten den Umbau (mit)bezahlt, wenn nicht gar die ganze Albertina errichtet. Die überaus kostspieligen Bauarbeiten aber wurden zur Gänze vom Staat getragen. „Steuerzahler Wing“ wäre also treffender gewesen. Die Brüder Soravia haben lediglich das Wing-Ding bezahlt; angeblich hat es zwei Millionen Euro gekostet. Jetzt verdeckt es die triste Tatsache, dass all die wunderbaren neuen technischen und wissenschaftlichen Räume in der Albertina leer stehen, weil für ihren Betrieb das Geld fehlt.

Das Wing-Ding sieht aus, als hätte es ein minderbegabter Statiker ohne einen Architekten oder ein minderbegabter Architekt ohne einen Statiker gebastelt. Versprochen war ein überaus dünnes Ding aus Titan, das feinfühlig im empfindlichen Stadtbild zwischen Staatsoper und der Albertina schweben sollte. Die etwas naiv agierende Jury unter der Leitung von Carl Pruscha hatte den hübschen Computerbildern aus dem Atelier Hollein nicht widerstehen können. Versagt aber haben die ex-sowjetischen Raumfahrtingenieure, denen es, so wird erzählt, nicht gelungen sei, die hübschen Hollein-Images in die konstruktive Wirklichkeit eines eleganten Flugdaches umzusetzen. Wie auch immer. Das Ding ist da, unübersehbar. Und steht für den tragischen Fall eines hochbegabten Wiener Architekten.

Bei der Eröffnung des Wing-Dings zitierte Klaus Albrecht Schröder Hans Hollein, der irgendwann in den Achtzigerjahren gemeint hatte, er dürfe zwar viel zum Ansehen Wiens beitragen, aber nichts zum Aussehen. Der Ausspruch müsste heute genau andersrum lauten. Nach der Demolierung des Michaelerplatzes durch das archäologische Ruinenloch hat Hollein nun den Albertinaplatz endgültig ruiniert. Davor war an dieser Stelle der Bildhauer Alfred Hrdlicka tätig geworden. Hrdlickas Denkmal und das Schröder-Gehrer-Soravia-Hollein-Mahnmal passen, obwohl formal gegensätzlich, gut zusammen: Der Albertinaplatz ist zu einer Deponie für Staatskitsch geworden.

Man kann den Fall natürlich auch positiv sehen: Erstens symbolisiert der Soravia Wing überaus anschaulich, welcher Art die Beiträge der durch die Regierung Schüssel durchgesetzten Sponsoring-Kultur sein werden; und zweitens symbolisiert das Ding die gänzliche Entmachtung des Bundesdenkmalamtes, das nun von der sparsamen Regierung vernünftigerweise gleich aufgelöst werden müsste. Drittens erinnert das Ding eindringlich daran, dass Hans Hollein als Vorsitzender des Gestaltungsbeirats - der ebenfalls aufgelöst gehörte - gänzlich versagt hat. Hätte er seine Funktion ernst genommen, hätte er sein ganzes Renommee einsetzen müssen, um die Aufstellung der Rolltreppenüberdachung von Hollein zu verhindern.

Falter, Mi., 2003.12.17



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Albertina - Rampe

10. Dezember 2003Jan Tabor
Falter

Ein Mann sieht rot

Die Neugestaltung des Schwarzenbergplatzes ist noch gar nicht fertig und schon ein Skandal. Jedenfalls, wenn man sie mit den Augen der „Presse“ betrachtet.

Die Neugestaltung des Schwarzenbergplatzes ist noch gar nicht fertig und schon ein Skandal. Jedenfalls, wenn man sie mit den Augen der „Presse“ betrachtet.

Wenn zwei oder drei (zum Beispiel Zeitungen oder Pressefotografen) dasselbe darstellen, dann ist es nie dasselbe, ja nicht einmal das Gleiche. Kürzlich wurden in zwei Wiener Zeitungen illustrierte Berichte über die Neugestaltung des Schwarzenbergplatzes veröffentlicht. Anlass war bloß der Abschluss der Arbeiten an den Verkehrsanlagen und den Fahrbahnen, nicht die Fertigstellung der Platzgestaltung, die erst im Sommer 2004 erfolgen soll.

Der Fotograf der Wiener Zeitung, Smutny, hat den Platz vom Hochstrahlbrunnen aus Richtung Ringstraße abgebildet, wobei seine Aufmerksamkeit offensichtlich der gesamträumlichen Wirkung und der Oberfläche galt. In seinem Bericht „Grauer Schwarzenbergplatz“ (7.11.03) stellt Florian Smutny (vermutlich identisch mit dem Fotografen Smutny) genauso lapidar, wie sein Foto ist, fest, dass die Neugestaltung die Längsausrichtung des Platzes betonen soll und dass auf die Pflanzung von Bäumen verzichtet wurde, weil es dem historischen Charakter des Platzes entspricht. Ein tadelloser Bericht. Informativ und der Wirklichkeit, also der Wahrheit, nah. Der Platz wirkt wirklich grau. Das ist angenehm.

Der Schwarzenbergplatz ist noch nicht fertig - und wird bereits von der Presse, dem Kampfblatt des österreichischen Spießbürgertums, fertiggemacht. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Hans Haider die Presse-Fotografin Michaela Seidler instruiert hat, wie sie den Schwarzenbergplatz Presse-gerecht und in Farbe aufnehmen soll - so ganz von unten gegen den Himmel, in jener Kurve und auf jener Kreuzung, in/auf der sich die Lichtmaste, die Straßenbahn-Oberleitungsseile und sonstige Verkehrszeichen zu dem gewünschten Eindruck verdichten, der in dem Bildtext folgendermaßen zusammengefasst ist: „Wiens Schwarzenbergplatz gleicht einem Bahnhof“. Alle Ampeln - neun auf einmal - sind auf Rot geschaltet, im Hintergrund - im Zentrum der Bildkomposition, das Foto ist ein Meisterstück der Manipulation - steht das ungeliebte Russenmahnmal. Hans Haider sieht rot.

„Plumpe Lichtmasten, die meisten auch zur Verspannung von Straßenbahn-Oberleitungen eingesetzt, erzürnen seit Wochen auf dem neu gestalteten Wiener Schwarzenbergplatz die Passanten.“ Haider, der bewährte Kultur-Allrounder des bürgerlichen Blattes, hat am 18. November wieder einmal als Architekturkenner zugeschlagen. Unter der Schlagzeile „Design-Desaster am Schwarzenbergplatz: Architekt nennt Wien Bananenrepublik'“ verfasste er keinen Bericht, sondern eine Mischung aus Lokalreportage vom Tatort, Adabei-Kolummne und Architekturkritik mit einem kurzen Exkurs in die Geschichte des Städtebaus sowie einem Interview mit dem spanischen Architekten Alfredo Arrabas.

Thomas Chorherr, Doyen des originären Presse-Journalismus, schildert in seiner Kolumne „Merk's Wien“ unter dem Titel „Die Verschandelung der Stadt“ am 24. November seine Wahrnehmungen vom Schwarzenbergplatz. „Nein, hier soll nicht von dem Schmutz die Rede sein, in den wir allzu oft hineintreten. Auch nicht jener ist gemeint, den die gefiederten Ratten hinterlassen. Es gibt auch Schmutz, der nur optisch wahrnehmbar ist. Es gibt eine Verschandelung, die wir nur mit den Augen erfassen können - weder Hunden noch Tauben ist da Schuld zuzumessen.“ Chorherr lobt Hans Haider für all den Blödsinn, den er über den Schwarzenbergplatz geschrieben hat (er dürfte der einzige erzürnte Passant sein, den Haider kennt) und bezeichnet Holleins Flugdach vor der Albertina als „optisches Verbrechen“. Was er appetitlich begonnen hat, schließt er poetisch ab: „Es schmerzt alles dies ein Kind der Stadt'“, ruft er Anton Wildgans herbei. „Weil man glaubt, dass ein Stadtkind keine Heimat hat'. Falsch!“

In der Tat. Im Standard, der sich des Falles am 26. November unter einem Foto von Heribert Corn annimmt, dementiert Architekt Arribas „alle ihm in einer österreichischen Zeitung zugeordneten Zitate (...) Insbesondere den Satz, Wien sei eine Bananenrepublik'“. Corn lässt den Sieger in der Völkerschlacht bei Leipzig, Karl von Schwarzenberg, durch die Mastenreihen ruhig defilieren, das Russendenkmal wird in den Nebel des Hintergrundes verschoben, keine einzige auf Rot geschaltete Ampel stört die fast idyllische Gelassenheit des verdrahteten Himmels über den neu abgesteckten Platz in Corns Momentaufnahme.

Man soll nicht vergessen: Die Ringstraße ist kein Ring, sondern ein Polygon, dessen meisten Brüche dort entstanden sind, wo es galt, die wichtigen Radialstraßen mit dem Ring zu verbinden. Die Planer damals rechneten weder mit dem Straßenbahn- noch mit dem Autoverkehr. Das heißt: Diese Plätze sind zugleich die wichtigsten Kreuzungen. Sie als Plätze gelten zu lassen und dabei die Verkehrsbedingungen zu erfüllen, ist überaus schwierig. Das Draht-Firmament über derartigen Plätzen ist unvermeidbar, um nicht zu sagen: unverzichtbar - denn Straßenbahnoberleitungen gehören zum Stadtbild jeder normalen Großstadt.

Der Schwarzenbergplatz ist noch nicht fertig. Das, was bereits feststeht - die Aufteilung der Oberfläche in die einzelnen Verkehrsbereiche, Fahrbahnen, Straßenbahngleisanlagen und -stationen samt Oberleitungen sowie Gehsteige und Radwege und vor allem die Lichtmaste und die Scheinwerfer samt der Nachtbeleuchtung -, das alles lässt die Erwartung zu, dass der Umbau des Schwarzenbergplatzes zu einem seltenen Fall einer überaus gelungenen Platzgestaltung werden kann. Sowohl die Verkehrslösung - einschließlich der Verlängerung der Parkfläche vor dem Hochstrahlbrunnen - als auch die Reihung und Linienführung der Lichtmaste sind tadellose, der schwierigen Form des Platzes adäquate Lösungen.

Die dadurch entstehende Raumbildung befreit und betont die Mittelachse und die beiden Fassadenseiten. Der Platz wurde entrümpelt, vereinfacht, übersichtlich und damit für seine Benutzer begreiflich gemacht. Die Architektur des Platzes - die Form wurde vom Reiterdenkmal abgeleitet - kommt wieder zur Geltung.

Falter, Mi., 2003.12.10



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Schwarzenbergplatz Wien - Neugestaltung

22. Oktober 2003Jan Tabor
Falter

Besser gehts nicht

Ihre Bauwerke fallen aus dem Rahmen, irritieren dadurch, dass sie einfach erscheinen und doch etwas Besonderes haben. Ihre Arbeit lässt keinen Kritiker kalt: Die Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck vollendeten jetzt den Kaipalast und gewannen den Wettbewerb für die Neugestaltung von Wien-Mitte.

Ihre Bauwerke fallen aus dem Rahmen, irritieren dadurch, dass sie einfach erscheinen und doch etwas Besonderes haben. Ihre Arbeit lässt keinen Kritiker kalt: Die Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck vollendeten jetzt den Kaipalast und gewannen den Wettbewerb für die Neugestaltung von Wien-Mitte.

Seit dem 10.10., 10 Uhr sind Henke und Schreieck auch im Stadtbild der Innenstadt von Wien nicht mehr wegzudenken. Am 10.10. um 10 Uhr wurde der Neubau des Kaipalastes offiziell und feierlich für vollendet erklärt und von Architekturexperten als vollkommen befunden. Bei den Feierlichkeiten lobten Dieter Henke und Marta Schreieck ihre Mitarbeiter, vor allem die Konstrukteure Manfred Gmeiner und Martin Haferl, mit denen sie oft zusammenarbeiten. Sie lobten den Bauherrn, Generaldirektor Rudolf Kraft, der ihnen erlaubt habe, genauso zu bauen, wie sie es sich vorgestellt hatten, und ihnen so ermöglicht habe, nicht von ihrem Architekturgrundsatz, „der Maximierung des Raumes, nicht der Maximierung der Nutzflächen“, abweichen zu müssen - obwohl es sich hier, am Franz-Josephs-Kai, um einen besonders teuren Baugrund handelt.

Der Generaldirektor seinerseits lobte Henke und Schreieck für deren Fähigkeit, die „perfekte Symbiose aus Funktionalität und Ästhetik zu schaffen“. Und er lobte sich selbst, weil seine Firma, die Züricher Versicherung, ihnen ermöglicht habe, ohne wesentliche Einschränkungen so zu arbeiten, dass ein Bauwerk entstehen konnte, auf das sie, die Firma, die Innenstadt, ganz Wien und so weiter stolz sein können. In der Tat. Der nächste prestigeträchtige Bauherrenpreis, das kann bereits als sicher angenommen werden, ist ihnen für den K47, so der Werbekurzname des neuen Kaibüropalastes, sicher. Es wäre der fünfte, den Henke und Schreieck bekommen würden. Sie haben, das muss man sagen, wenn man sie für ihre außerordentlich guten Bauwerke lobt, auch enormes Glück mit ihren Bauherrschaften gehabt. Und mit ihren Architekturkritikern. Kaum ein Bau von ihnen, der nicht hymnisch rezensiert wäre.

Wieder einmal ging an diesem 10.10. ein Seufzen der Begeisterung durch die Architekturszene und ein Seufzen der Erleichterung durch die Amtsstuben der Wiener Stadtplaner und Denkmalschützer: That's it! Der K47-Schriftzug, der in großen roten Buchstaben an den Glaswänden der bis weit in die Landschaft des Donaukanal-Tals sichtbaren Skybox auf dem Dach zu lesen ist, sei der Beweis, dass in der Wiener Innenstadt auch unter dem Kuratel des schrecklich schönen Verdikts vom Weltkulturerbe zeitgenössische Architektur möglich sei, gar die aller zeitgenössischste, für die Henke und Schreieck bereits lange stehen. Ein Architekturkritiker, nämlich ich selbst, sagte an diesem denkwürdigen 10.10. dem ORF gegenüber: „Besser gehts nicht.“ Außerdem sagte ich, dass der neue Kaipalast besser sei als der alte von 1912 von Ignaz Nathan Reiser, der abgebrochen werden musste, weil er bauphysikalisch in ruinösem Zustand war.

Jetzt ist also der neue Kaipalast da und da muss man mit Adolf Loos begeistert festhalten: Eine Veränderung, die keine Verbesserung ist, ist eine Verschlechterung. Der K47, das Kürzel steht für die Adresse Franz-Josephs-Kai 47, bedeutet eine enorme Verbesserung und Aufwertung der architektonischen Situation an der städtebaulichen Kante der Innenstadt. Er ist nach dem genialen, aber in seiner einzigartigen architektonischen Qualität weit gehend verkannten, zwischen 1968 und 1984 von Ernst Hiesmayr errichteten Juridicum, erst das zweite Bauwerk, das in der Innenstadt samt ihrem unmittelbaren Umkreis nach 1945 entstanden ist, dem man internationales Niveau bescheinigen kann. Und mit der streng geometrischen und völlig transparenten Skybox auf dem Dach des sonst geschlossen wirkenden Hauptkörpers stellen Henke und Schreieck - gerade rechtzeitig - einen beinahe manifesthaft eindeutig formulierten Diskussionsbeitrag zum Thema zeitgenössisches Bauen in der vergaubten Wiener Dachlandschaft auf.

Auch das Juridicum weist eine originelle Dachlösung und eine Menge formaler und ethischer Ähnlichkeiten mit dem K47 auf. Unter anderen fällt die Entschiedenheit auf, mit einem Gebäude den städtischen Raum, den Straßenraum im Speziellen, im Sinne der vorgefundenen Situation genau zu definieren und fortzusetzen. Dabei handelt es sich nicht um ein respektvolles Reagieren auf eine vorgefundene Situation, also um einen so genannten architektonischen Dialog mit der Umgebung, wie in den Architekturkritiken der Henke-Schreieck-Bauten immer wieder betont wird. Ganz im Gegenteil. Henke und Schreieck vermeiden die Anpassung, sie reagieren nicht dialogisch, sondern dialektisch. Ihre Lösungen können als Antithesen zu der vorgefundenen Lage, der Situation oder Nachbarschaft verstanden werden. Ihre Bauwerke fallen aus dem (orts)üblichen Rahmen heraus, fallen auf, irritieren dadurch, dass sie ungemein einfach erscheinen und doch etwas haben, was der offenbaren Architektur zu einem nicht definierbaren Mehrwert verhilft.

Eines der Prinzipien von Dieter Henke und Marta Schreieck ist die Schaffung von gleitenden Übergängen zwischen dem gänzlich öffentlichen und dem gänzlich privaten Raum, die Führung des Raumes in das Gebäude hinein und umgekehrt aus dem Gebäude heraus - so wie es auch für das Juridicum charakteristisch ist. Bis auf die Transparenz blieb allerdings beim K47 im Sockelbereich kein Platz übrig, der Straßenraum wird daher durch zwei großzügig bemessene Einschnitte in das Gebäude geführt, wo er sich mit dem überdachten, großzügig dimensionierten Atrium verbindet. Die Dialektik ihrer architektonischen Vorgangsweise, die konkrete Formulierung des Entwurfes, setzt die genaue Kenntnis und Erkenntnis der Bausituation - einschließlich Aufgabe und Rahmenbedingungen - voraus. Dies ist sozusagen die These, auf die sie dann mit einer Antithese - mit ihren Entwürfen - reagieren.

Der Antithesecharakter dürfte einer der Gründe dafür sein, warum ihre Architektur so spannend ist. So kann auch die auffällige K47-Skybox verstanden werden: als die Antithese zum eigenen Gebäude darunter. Jetzt und wahrscheinlich noch eine Zeit lang mag der K47 befremdlich wirken, dann wird man aber feststellen, dass diese Lösung (Welt) - mit dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz gesprochen - von den unendlich vielen vorstellbaren Lösungen (Welten) die beste ist. Oder, wie die Architekturpublizistin Liesbeth Waechter-Böhm ihre Presse-Rezension des von Henke und Schreick erweiterten, umgebauten und rekonstruierten Parkhotel Hall von Lois Welzenbacher (1930) stark begeistert, leicht resignierend beendet hat: „So ist es, und anders soll es gar nicht sein.“ Ein wenig abseits von dem turmartigen, strahlend hellen und denkmalgeschützten Welzenbacher-Hotel stellten Henke und Schreieck dort einen zweiten Hotelbau auf, der zylindrisch und fast schwarz ist.

Dem glücklicher Seufzer vom 10.10. ging zwei Tage zuvor ein noch glücklicherer voraus. Die Jury des städtischen Planungswettbewerbs für den Bahnhof Wien-Mitte unterschrieb das Juryprotokoll, demnach Henke und Schreieck mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurden - bei sieben Prostimmen und zwei Enthaltungen. Das Prädikat des UNESCO-Weltkulturerbes für Wien, durch die Türme der vorher geplanten Hochhäuser gefährdet, wurde gerettet. Es war ein denkwürdiger Tag. Denn, und das ist wirklich neu, „ein Wesensmerkmal des Verfahrens war die Einbeziehung von Vertretern aller politischer Parteien“. SPÖ, ÖVP, FPÖ, Grüne. So der offizielle Text. Die De-facto-Einstimmigkeit veranlasst zu der Überlegung, ob es sich nicht um einen Fall der „sozialpartnerschaftlichen Ästhetik“ handelt, wie es Robert Menasse einmal formuliert hat.

Aber Achtung! In dem Juryprotokoll tauchen verdächtige Formulierungen auf. „Für die Jury war die Einfachheit und Klarheit des städtebaulichen Vorschlags, das Prinzip des gedeckten, großzügigen Hofes sowie die Abstraktion von der architektonischen Handschrift maßgeblich. Die Jury schätzte im Besonderen die Fähigkeit des Projektes, in unabhängigen Abschnitten realisiert zu werden, wie auch die Möglichkeit, künftige, unterschiedliche architektonische Sprachen zu integrieren.“

Das könnte bedeuten, dass mehrere Architekten an der Verwirklichung, und dies über längere Zeitspannen, man spricht von 15 Jahren, beteiligt werden sollen. Dass sogar - durchaus denkbar - Henke und Schreieck gar nicht an dem soeben gewonnenen Projekt mit konkreten Bauten beteiligt sein müssen. Es gibt Verträge, die den bisher hier planenden Architekten die Ausführung gänzlich oder teilweise sichern. Der siegreiche Entwurf ist tatsächlich hervorragend. Hervorragend im Sinn der Architekturauffassung von Henke und Schreieck. Also Achtung!

Falter, Mi., 2003.10.22



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Büro- und Geschäftshaus k47

08. Oktober 2003Jan Tabor
Falter

Paint It Black

Die Neugestaltung des nach wie vor in der Albertina untergebrachten Filmmuseums ist ein bisschen ambitionslos. Und sie ist perfekt.

Die Neugestaltung des nach wie vor in der Albertina untergebrachten Filmmuseums ist ein bisschen ambitionslos. Und sie ist perfekt.

Mit der Neugestaltung des Filmmuseums ist der Umbau der Albertina vollendet. Lediglich ein paar Ergänzungen am äußeren Erscheinungsbild fehlen noch, vor allem das doofe Aluflugdach oben auf der Terrasse und die fade wellige Fassade am Sockel unten (dort, wo sich der Eingang ins Filmmuseum befindet) - beides nach einem Entwurf von Hans Hollein. Könnten nur der Bauherr Klaus Albrecht Schröder und sein Imageknecht Hollein auf die beiden ergänzenden Belanglosigkeiten verzichten, die - wie es Elisabeth Gehrer, die Oberbauherrin der Albertina, so vortrefflich auszudrücken pflegt - „nicht hilfreich“ sind.

An der Albertina wurde bereits genug herumgepfuscht - womit nicht die Arbeit der eigentlichen Umbauarchitekten Erich G. Steinmayr und Friedrich H. Mascher gemeint ist, die für die wesentlichen Veränderungen im Rahmen der strapaziösen Umgestaltung des alten Palastes in ein modernes Ausstellungshaus zuständig waren. Zehn Jahre lang haben sich Steinmayr und Mascher abgeplagt, das umfangreiche Raumprogramm so unterzubringen, ohne dass das Erscheinungsbild des Palastes vom Umbau berührt wird. Wen wunderts, wenn die beiden nun am Ende erschöpft sind; dass es ihnen für das Finale, für die Neugestaltung des Filmmuseums, offensichtlich an Elan gefehlt hat.

Das neue Filmmuseum ist keine furiose Vollendung des strapaziösen Erneuerungswerks der Albertina. Im Kontrast zu der fulminant sachlichen Architektur der unterirdischen, größtenteils öffentlich nicht zugänglichen, also faktisch unsichtbaren neuen Räume der Graphischen Sammlung Albertina wirkt die Gestaltung des Filmmuseums zu gediegen, zu kostbar, zu perfekt und zeitlos elegant. Also langweilig, ambitionslos, müde. Es ist keine wahre Kinoarchitektur, kein Ort der Sinnlichkeit und der genussvollen Erwartung.

Es ist so, wie es heißt: ein Museum. Obwohl es kein Museum ist, sondern ein Filmvorführungssaal und ein Foyer. Ein Museum ohne Exponate - sieht man von zwei Plakatfaksimile ab. Institutionsarchitektur. Wenn man ein böses, also treffendes Wort der Futuristen verwenden soll: eine Gruft der Kunst. Mit einer Bar, die nichts von den alten Kinotheken hat, sondern viel vom Schalter in einer Bawag-Filiale. Das hängt mit dem Baumaterial Eichenholz und der Farbe Schwarz zusammen. Sie wird „Unsicht-Bar“ genannt, obwohl sie das einzig neu Gestaltete ist, was gleich und deutlich zu sehen ist. In einem Kino kann man sich schnell täuschen.

Das Filmmuseum besteht aus einem Foyer, einer Bar, einem Kinosaal und aus den Büro- und Bibliotheksräumen im ersten Stock. Diese Institution hat mit der Albertina außer des - bildlich gesprochen - gemeinsamen Dachs und des gemeinsamen Eingangs nichts zu tun; somit kann, falls jemanden das neue Filmmuseum nicht gefallen sollte (was wenig wahrscheinlich ist), dafür nicht Klaus Albrecht Schröder, sondern muss Alexander Horwath, seit 2002 Direktor des Österreichischen Filmmuseums, verantwortlich gemacht werden.

Aber Achtung! Keine Ungerechtigkeiten! Wie die Architekten selbst dürfte auch Horwath entsetzlich erschöpft sein, denn noch vor einigen wenigen Monaten stand es um die unerlässliche Umgestaltung des Filmmuseums nicht zum Besten. Der Kinosaal samt seiner aus den Fünfzigerjahren stammenden Technik war unbrauchbar. Die alten, gebrauchten Holzsessel klapperten unerträglich laut, die Ärsche schmerzten und die Knie taten weh. Irgendwie ist es Direktor Horwath gelungen, den Bund und die Stadt Wien, also die beiden miteinander verfeindeten Kunstbürokraten Franz Morak und Andreas Mailath-Pokorny, dazu zu bringen, gemeinsam das Renovierungsgeld von zwei Millionen Euro herauszurücken.

Das Filmmuseum ist also gerettet. Von Außen betrachtet, merkt man das kaum. Das aber stört nicht, weil das neue Programm traditionell hervorragend ist, die Nachfrage sicher groß bleibt und die Zahl der Sitzplätze im Zuge der Renovierung noch reduziert wurde. Das Eingangstor ist das alte aus dem Umbau in der Nachkriegszeit, das berühmte Gewerkschaftsbarock, das übrigens ganz ausgezeichnet mit dem Schröder'schen Wenderegierungsbarock harmoniert. Auch die Kalksteinplatten, mit denen der Fußboden und die Pfeiler im Foyer belegt wurden, sind erhalten geblieben.

Die Portiersloge - das Foyer dient weiterhin als Betriebseingang der Graphischen Sammlung Albertina - ist neu, aus Eichenholz. Die Doppelfunktion des Foyers drückt ein wenig auf die Stimmung: Hintereingang bleibt Hintereingang, auch wenn es das Hauptfoyer eines eleganten Filmmuseums ist. Andererseits aber ist dadurch von der einstigen Atmosphäre eines armen, aber bedeutenden Kellertheaters ein wenig erhalten geblieben. Doch das alles sind Nebensächlichkeiten. Die Hauptsache ist der Vorführungssaal. Das eigentliche Filmmuseum, das Kino, das größte Wunder des 20. Jahrhunderts.

Die Pionierzeiten sind vorbei. Wie in jedem Megaplex verlangt der mobil gewordene Kunde heutzutage auch vom Filmmuseum die höchste Kommodität. War er früher besonders für die S/M-Filme geeignet, so ist er jetzt auf Liebesfilme eingestimmt, die sich in Jumbojets abspielen. Seinen einstigen Foltercharakter hat er gänzlich verloren. Die hölzernen Sitzapparate, die bei der kleinsten Körperregung, die selbst durch leichteste Regung des Gemüts verursacht wurden, mitknarren konnten, als würden sie das Drama auf der Leinwand mitleiden, wurden durch neue, weich gepolsterte und am Filmgeschehen gänzlich teilnahmslose italienische Designersitze ersetzt: 165 - davon zwei für Behinderte - statt 213. Schwer zu sagen, was man nun mehr genießen soll - die Weichheit und Lautlosigkeit der Sessel, die Schönheit des Desings oder die Freiheit der Beine.

Und das alles in der elegantesten Farbe Wiens, im funebren Schwarz. Aber Achtung, keine falsche Interpretation! Der Kinosaal heißt jetzt „Black Cube“ oder auch „das Unsichtbare Kino 3“. Neben seiner Eleganz hat das Schwarz einen großen symbolischen Wert. Das Schwarze ist eine Hommage an den Mitbegründer des Filmmuseums Peter Kubelka, der hier in den Fünfzigerjahren in Anlehnung an das „Invisible Cinema“ in New York - daher wohl die Nummer 3 - eine Stelle für Avantgardefilme etabliert hat.

Das Unsichtbare Kino war eine Vorstellung, derzufolge die Beziehung zwischen Film und Zuschauer durch die Versenkung in vollkommene Dunkelheit besonders innig gestaltet werden könnte. Darüber hinaus hat die Nichtfarbe Schwarz einen praktischen Wert: Es beeinträchtigt die Wahrnehmung der Farbtöne bei Farb- und des Schwarz bei Schwarz-Weiß-Filmen am allerwenigsten. Das Filmmuseum ist perfekt.

Falter, Mi., 2003.10.08



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Filmmuseum

24. September 2003Jan Tabor
Falter

Die Toscanità-Fraktion

Diesmal: Der modernen Architektur wegen fährt man nicht nach Italien. Die Ausstellung „Toskana: Architektur der Moderne“ zeigt, warum das ein Fehler ist.

Diesmal: Der modernen Architektur wegen fährt man nicht nach Italien. Die Ausstellung „Toskana: Architektur der Moderne“ zeigt, warum das ein Fehler ist.

Das neue Utopia der Sozialdemokratie heißt Toskana. Jene modernen sozialdemokratischen Politiker aus Österreich und Deutschland, die ihre Urlaubstage in der Toskana zu verbringen pflegen und dies für die zeitgemäße Form des Internationalismus halten, werden Toskana-Fraktion genannt. Hübsch.

Dort, in sanft hügeliger Landschaft und bekömmlichem Klima, sind sie Liebhaber toskanischer Küche und Kenner toskanischer Weine geworden. Da sie über diese ihre neuen Leiden- und Kennerschaften gern öffentlich plaudern, sind wir über den dortigen Lifestyle, die Toskanità, vortrefflich unterrichtet.

Über die moderne Architektur in der Toskana wissen wir fast nichts. Diejenigen Reisenden, die in Florenz mit der Eisenbahn ankommen, werden sich möglicherweise an den eleganten Bahnhof Santa Maria Novella erinnern. Das hellbraune, niedrige, mauerartig geschlossene und aerodynamisch abgerundete Gebäude schließt unmittelbar an die Altstadt an, steht gleich hinter der dunkelbraunen gotischen Apsis der Chiesa Santa Maria Novella mit dem berühmten Trinitätsfresko von Massacio. Wer mit dem Auto nach Florenz fährt, dem ist vielleicht die pittoresk geformte Chiesa dell'autostrada del sole aufgefallen. Die aus großen, grob behauenen Steinen gemauerte Kirche befindet sich bei Campi Bisenzio gleich neben der Autobahn.

Doch für Florenz und die Toskana gilt, was für Italien überhaupt gilt: Der modernen Architektur wegen fährt man nicht hin. Es zahlt sich nicht aus. Aber Achtung! In der Ausstellung „Toskana: Architektur der Moderne“ im Wiener Ringturm wird man eines Besseren belehrt. In Fiesole bei Florenz befindet sich die reich dotierte Fondazione Michelucci, die an einer Dokumentation der toskanischen Architektur des 20. Jahrhunderts arbeitet. Von den 350 bisher erfassten und auf Farbfotos exzellent abgebildeten Bauwerken hat Ezio Godoli einen Teil ausgewählt, chronologisch geordnet und mit langen, aber lehrreichen Erklärungstexten zum Thema versehen.

Wenn man in einem der Texte den Begriff Gruppo Toscano erblickt, so könnte man meinen, es handle sich um eine kämpferische Untergruppe der Toskana-Fraktion. Mitnichten. Gruppo Toscano waren jene jungen Architekten, die Giovanni Michelucci 1931 um sich geschart hatte, um gemeinsam in der konservativen und selbstverliebten Toskana jene neue italienische Architektur durchzusetzen, die Rationalismo genannt wurde.

Rationalismo war eine faschistische, spezifisch italienische Abart des westeuropäischen Funktionalismus, beziehungsweise des sowjetischen Konstruktivismus - international verbreitete Richtungen, die als links galten. Daher wurden sie Internationaler Stil genannt bzw. beschimpft. Das spezifisch Italienische wurde als Italinità bezeichnet. Wiewohl konkret kaum fassbar, war es als Leitbild und Maßstab für ganz Italien gültig. Das passte der Gruppe um Michelucci nicht. Sie strebte Toskanità an.

Gruppo Toscano war ein programmatischer Name. Eine Architektur-Schule. Wie die Wagnerschule in Österreich-Ungarn. Oder die Grazer Schule in der Steiermark. Die Protagonisten der Gruppo Toscano wollten Architektur durchsetzen, die nicht nur radikal neu, sondern auch der Tradition verpflichtet war. Derartige Vorhaben, das lehrt die allgemeine Architekturgeschichte, waren zahlreich und kurzlebig, die Resultate fragwürdig.

Auch in der Toskana war das nicht anders, wie man in der Ausstellung sieht. Heutzutage nennt man es Regionalismus. Michelucci, der - falls überhaupt - kein glühender Faschist war, ging es ausschließlich um die toskanische Tradition. Er nannte sie Toskanità und meinte damit nicht nur Bau-, sondern auch Lebensformen. Toskana als Weltanschauung. Seine Toskanità war mehr als eine regionale Abart der Italianità, die vor allem ein politisches Programm darstellte. Sie war deren Gegensatz.

Unter dem Namen Gruppo Toscano gewann Michelucci zusammen mit Baroni, Berardi, Camberini, Guarnieri und Lusanna 1933 den Wettbewerb für den Bau eines neuen Hauptbahnhofs in Florenz. Der nominierte Entwurf wurde zum Anlass, den meist latent geführten Machtkampf zwischen den beiden Hauptfraktionen der italienischen faschistischen Architektur, den Modernisten und den Klassizisten, öffentlich auszutragen. Nachdem die Auseinandersetzung in eine ausweglose Pattsituation geraten war, rief man den Duce als oberste Geschmacksinstanz des faschistischen Staates zu Hilfe. Der intellektuell veranlagte Diktator entschied für die Gruppo Toscano. In einer Rekordbauzeit von nur zwei Jahren war der Bahnhof samt den ungemein komplizierten bahntechnischen Anlagen fertig gestellt.

Seine außerordentliche Bedeutung erlangte der Bau aber nicht wegen des historischen Stadtbildes und auch nicht wegen der Eitelkeiten der Avantgarde. Was für Hitler die Autobahnen und für Stalin die Schifffahrtskanäle, das waren für Mussolini die Eisenbahnen. Die schnell und pünktlich zwischen den modernen Bahnhöfen fahrenden Züge stellten das sichtbare und für die Italiener ummittelbar fassliche Sinnbild des erfolgreichen Faschismus dar. Mehr hatte er ohnehin nicht zu bieten.

Die Direttissima, die neue, direkte Verbindung zwischen Bologna und Florenz durch die neuen Tunnel des Apennins, verkürzte die Fahrtzeit von mehr als vier auf nur zwei Stunden. Sie benötigte einen entsprechenden, auf die Zukunftsbezogenheit des Faschismus hinweisenden architektonischen Ausdruck. Diese kulturpolitischen Aspekte sind längst vergessen. Heutzutage gilt der Bahnhof von Florenz als ein seltenes Beispiel für die restlos gelungene Synthese der alten und neuen Architektur. Darüber hinaus zählt er zu den bedeutendsten Bauten der Weltarchitektur im 20. Jahrhundert. Vielleicht deswegen kann man sein Foto in der Ausstellung so schwer finden.

Obwohl die Ausstellung eine Hommage an Michelucci ist. Giovanni Michelucci (1891-1990) hat lange gelebt - nur zwei Tage fehlten ihm, um am 2. Jänner 1990 seinen hundertsten Geburtstag feiern zu können - und baute bis ins hohe Alter. Die Toskana konnte auf seine einzigartige anregende Begabung nicht verzichten: Die Ponte alle Grazie (1957, mit Edoardo Detti), die Neugestaltung der Uffizien (1970, mit Carlo Scarpa und Ignazio Gardella), die Chiesa dell´autostrada del sole (1973-83) und viele andere Bauten bezeugen dies.

Dem aufmerksamen Ausstellungsbesucher fällt auf: So wie zuvor das Liberty, der italienische Jugendstil, hatte später auch der Rationalismo in der Toskana keine nennenswerten Auswirkungen gehabt. Die wahre Toskanità, auch Schule von Toskana genannt, waren Michelucci und einige seiner Schüler und Jünger, vor allem Edoardo Detti (1913-1984), Leonardo Ricci (1918-1994) und Leonardo Savioli (1917-1982). Diese Schule ist erst in den Fünfzigerjahren entstanden. Den besonders aufmerksamen Besuchern fallen die Ähnlichkeiten mit der frühen Grazer Schule und deren Vorlieben für pittoresk expressionistische Formen auf.

Also Achtung: Die Ausstellung regt nicht nur zu einer neuen Reise in die Toskana an, sondern auch zum Nachdenken über die Grazer Schule, die Architektur-Schulen insgesamt, die Regionalismen, den Internationalismus der Regionalismen, die Sozialdemokraten, die Globalisierung ...

Toskana: Architektur der Moderne: bis 3.10. im Ausstellungszentrum im Ringturm (1., Schottenring).

Falter, Mi., 2003.09.24

10. September 2003Jan Tabor
Falter

Terra incognita

Über den Dächern von Wien herrscht Goldgräberstimmung und Chaos. Denn die Dachlandschaft ist ein beliebtes Bauland - manche dürfen hier alles machen, was anderen wieder verwehrt wird. Das Ergebnis: eine Stadt voller schrecklicher historistischer Dachgauben.

Über den Dächern von Wien herrscht Goldgräberstimmung und Chaos. Denn die Dachlandschaft ist ein beliebtes Bauland - manche dürfen hier alles machen, was anderen wieder verwehrt wird. Das Ergebnis: eine Stadt voller schrecklicher historistischer Dachgauben.

Dachlandschaft ist ein schönes Wort. Die Dachlandschaft ist eine Kulturlandschaft, die auch von der natürlichen Topographie geprägt wird. Da Dächer und all das, was sie tragen, Werke der Architektur sind, ist die Dachlandschaft als Summe aller Dächer, Gebäudeteile und Türme Architektur. Daher bedarf sie der Pflege und der Baukultur. Von dem einen bekommt sie zu viel, von dem anderen fast gar nichts. Die Wiener Mischung aus Überversorgung und Unterversorgung ist verheerend.

Vor allem diese schrecklichen altneuen Dachgauben! Sie gehören sofort verboten. Wer es nicht glaubt, der soll sich die Marchettigasse im sechsten Bezirk anschauen. Eine Zeile von gut erhaltenen Biedermeierhäusern wurde hier denkmalpflegerisch mustergültig behandelt, die Dachgeschoße wurden ausgebaut und, damit die Einwohner zu ein wenig Tageslicht kommen, mit Dachgauben versehen. Die Zerstörung ist schlimmer, als es eine Demolierung gewesen wäre. Ähnliches spielt sich auf vielen Dächern ab.

An der gegenwärtigen architektonischen Kalamität in der Wiener Dachlandschaft sind Canaletto und dessen Blick auf die Stadt gänzlich unschuldig. Sein Blick auf Wien vom Belvedere aus gehört zu einer Serie von 13 Ansichten Wiens und kaiserlicher Schlösser, die der Künstler im 18. Jahrhundert im Auftrag Maria Theresias schuf. Würde man die Gemälde Canalettos genau studieren, das mit der Freyung oder das berühmte Panoramabild von Wien, dann würde man feststellen, wie klein und selten Dachgauben einst waren. Meist bloß kleine Öffnungen für minimalen Luftzug und Lichteinfall, keines von diesen unförmigen und unwohnlichen Dachungetümen, die sich auf den Dächern fast überall dort verbreiten, wo Dachböden in Wohn- oder Büroräume umgebaut und Häuser aufgestockt werden. Das ist in Wien mittlerweile fast überall, aber vor allem dort, wo die Dächer das letzte verfügbare Bauland sind, im ersten Bezirk und den dicht bebauten Bezirken innerhalb des Gürtels. Nach den alten Gebäuden sind nun die aus dem 20. Jahrhundert an der Reihe, die Häuser am Stephansplatz, die Hotels Ambassador und Hilton. Zuletzt sorgten die Ausbaupläne rund um das Hotel Sacher für Aufregung in der Stadt: Das Traditionshaus wird mit zwei Dachetagen um etwa 2550 Quadratmeter vergrößert. Etwa dreißig Suiten, ein Fitnessraum und Büroflächen sollen in dem neuen Dachausbau untergebracht werden.

Und mit all den neuen Ausbauten wird Canaletto wieder gefragt. Damals, als der Canaletto-Blick erfunden wurde, stellte der von Maria Theresia aus Dresden nach Wien geholte sächsische Hofmaler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, in einem der nordöstlichen Gemächer des Oberen Belvederes seine kleine tragbare Camera obscura, eine Art Protofotokamera, auf. In schnellen und sicheren Bleistiftstrichen nahm er auf mehreren Blättern die wichtigsten Konturen des wunderschönen Stadtpanoramas von Wien auf. Die im Oberen Belvedere gezeichneten Entwurfskizzen klebte Canaletto dann später in seinem Atelier zu einer Vorlage zusammen, nach der er dann das 136 Zentimeter hohe und 214 Zentimeter lange Gemälde malte, das „Wien, vom Belvedere aus gesehen“ heißt und heute im Kunsthistorischen Museum der Stadt hängt.

Die Camera obscura ermöglichte jene minutiöse Übertragung der städtischen Wirklichkeiten, für die Canaletto noch heute bewundert wird. Allerdings war er kein Protofotograf, er war Künstler, und so weisen seine fotorealistisch wirkenden Gemälde zahlreiche kleine, aber erhebliche Abweichungen von der Wirklichkeit auf. Um Wien schöner zu machen, verringerte er etwa die Distanz zwischen den beiden Kuppelkirchen beträchtlich. So entstand der Canaletto-Blick, das obskure Instrument der modernen Stadtpanoramapflege in Wien.

Eingesetzt wurde dieses ungenaue Instrument - natürlich fehlt alles, was Wien seit damals zugefügt wurde, auch solche Kleinigkeiten wie die Ringstraße - zum ersten Mal im Kampf um die Aufstockung des Theaters Ronacher in der Seilerstätte. Das war Ende der Achtzigerjahre. Coop Himmelb(l)au gewannen den Wettbewerb für den Umbau des legendären Revuetheaters mit einem Entwurf, der vorsah, das neubarock-schwülstige Gründerzeitgebäude mit einem multifunktionellen mehrgeschoßigen Kulturzentrum für Jugendliche aufzustocken. Die Idee und ihre Umsetzung in dekonstruktivistische Architektur war genial, das Projekt zählt zu den besten von Coop Himmelb(l)au überhaupt.

Helmut Swiczinski erzählte damals, wie der für die Stadtbildpflege zuständige Magistratsbeamte die Auswirkung der Ronacher-Aufstockung auf das Panorama untersucht hatte: mit einer Reproduktion des Canaletto-Gemäldes in der Hand. So entstand der berüchtigte Canaletto-Blick. Wäre dieses Projekt verwirklicht worden, dann hätte man heute hier eine architektonische Sensation, vergleichbar mit dem Kunstmuseum von Gehry in Bilbao. Und Wien hätte eine gewaltige Anregung und einen ästhetischen Maßstab, wie mutig man mit der Bebauung der Dachlandschaft umgehen soll. Tatsächlich realisiert wurde dann 1983 der Dachbodenausbau für die Rechtsanwaltskanzlei in der Falkengasse - obwohl das Coop-Himmelb(l)auwerk wohl das einzige Stück Architektur in Wien nach 1945 ist, das als weltbedeutend gelten kann, ist es von der Straße aus kaum sichtbar.

Dass das revolutionäre Umbauprojekt fürs Ronacher nicht verwirklicht werden durfte und stattdessen eine so genannte sanfte, in Wirklichkeit mozartkugelsüße Renovierung vorgezogen wurde, ist ausschließlich der ästhetischen und kulturellen Feigheit der damaligen Stadtverwaltung zu verdanken. Wien wurde damals, in den Achtzigerjahren, als der Neohistorismus namens Postmoderne verpflichtend war, die Strategie der tourismusgerechten Rehistorisierung Wiens verordnet, die bis heute mit dem Unesco-Prädikat Weltkulturerbe sogar in verschärfter Form praktiziert wird: die Zersiedelung der Wiener Dachlandschaft.

Die Dachlandschaft und ihre neue Architektur samt den Regeln, unter denen sie entsteht, ist eine Terra incognita. Gleich neben der Albertina und der Staatsoper werden gegenwärtig zwei überaus prägnante Gebäude aufgestockt. Während das eine Gebäude, der Hanuschhof, mit einem riesigen Transparent versehen ist, auf dem stolz und selbstbewusst gezeigt wird, wie und von wem das Dach umgestaltet beziehungsweise verunstaltet wird und wie viel das Ganze kostet, handelte es sich bei der geplanten Aufstockung des Hotel Sacher lange Zeit eher um eine Geheimaktion. Obwohl das Sacher hinter der Oper liegt und viel weniger exponiert ist als der Hanuschhof, der auch von der Ringstraße zu sehen ist und die städtebauliche Kante zur Neuen Burg und dem Burggarten bildet, findet das Bauvorhaben mit den scheußlichen pseudohistorischen Eckaufbauten keinen stadtbildschützerischen Widerhall. Den verhältnismäßig moderaten Entwurf von Architekt Sepp Frank (dessen Name besonders lang geheim gehalten wurde) trifft jetzt die volle Wut der Öffentlichkeit, des Denkmalschutzes und der Stadtplanung. Der ursprüngliche Plan musste bereits reduziert werden - unverständlicherweise.

Die Wiener Dachlandschaft ist ein Bauland, das einige Besonderheiten aufweist. Die auffälligste ist die, dass manche machen dürfen, was anderen verwehrt wird. Warum das so ist, ist nicht zu ergründen. Die Dachlandschaft ist auch ein Zauberland. Sie ist, trotz einiger öffentlicher Aussichtspunkte wie dem Stephansturm, dem Oberen Belvedere oder dem Kahlenberg, schwer erreichbar, das heißt schwer zu sehen. Verglichen mit den Dächern von Paris, Rom oder Prag ist die Wiener Dachlandschaft keine dramatische, keine einzigartige. Sie ist sanft hügelig, mehr Prärie als Gebirge. Obwohl auch hier alles extrem reglementiert ist, herrschen in der Dachlandschaft andere Gesetze als in der Stadt unterhalb der Hauptgesimse. Hier herrschen Verhältnisse, die vergleichbar sind mit dem Wilden Westen zur Zeit des Goldrausches. Jeder ausbaubare Dachboden, jedes aufstockbare Haus eine Goldgrube.

Von Ausnahmen abgesehen, sind die meisten hier tätigen Architekten Nobodies, die lauter Nichtarchitektur produzieren. Sie reden sich gerne auf die Behörde aus, die ihnen die Nichtarchitektur im Namen des historischen Stadtbildes verordne. Unter den Namenlosen gibt es etliche Desperados, denen für Dächer, vor allem was die Interpretation der Bauordnung und Ausnützung der Möglichkeiten zur Bauordnung-Übertretung betrifft, atemberaubende Lösungen einfallen. Die haben zwar mit guter Architektur nichts zu tun, sind aber auf jeden Fall ehrlicher als die abscheulichen Gauben und anderen historistischen Kopien.

Wer immer mit dem Bauen in der Wiener Dachlandschaft befasst ist, das Denkmalamt, die Stadtverwaltung und die Architekten selbst, ist überfordert. Das meist machtlose Denkmalamt versucht zwar, die Desperados in Schach zu halten, aber jeder weiß, dass es nur mit Platzpatronen schießen kann. Wenn sie aber wirklich Macht haben, fällt den Denkmalschützern nichts anderes als Gauben ein. Meist einzeln, neuerdings aber in einer Form, in der das ganze Dach zu einer einzigen Gaube wird. Der Stadtplanung fehlt mittlerweile jede Übersicht, wie viele und welche Häuser aufgestockt und welche Dächer ausgebaut wurden.

Von Ausnahmen abgesehen fehlen vor allem Beispiele dafür, wie man mit den Dächern architektonisch richtig umgehen kann. Während das so genannte Bauen in alter Umgebung mit unzähligen hervorragenden Beispielen von namhaften Architekten aufwarten kann, wurde die Dachlandschaft den Nichtkennern überlassen. Beziehungsweise werden die Kenner derart unter Druck gesetzt, dass sie resignieren. Es finden keine architektonischen Wettbewerbe statt, die helfen könnten, die Fragen der Dachlandschaft-Architektur zu klären und neue Kriterien für den Umgang für die gewünschten Qualitäten aufzustellen. Es fehlen Diskussionen, die weiter gehen müssen, als nur dem medialen Ruf nach Verschärfung der bestehenden Bestimmungen und zusätzlichen Verboten zu entsprechen.

In Wirklichkeit muss nur eines geregelt werden: Die Geheimniskrämerei muss beendet und der Zugang von guten Architekten ermöglicht werden. Konkret heißt das: Auf exponierten Stellen und bei wichtigen Gebäuden sollen nur jene Aufstockungen bewilligt werden, die aus einem Wettbewerb hervorgegangen sind. Die bestehenden Bestimmungen müssten liberalisiert werden, damit auch wirklich fantasiereiche und mutige Lösungen möglich sind.

Verglichen mit anderen Großstädten, vor allem mit Paris, war eine intensive Nutzung des Dachgeschoßes in der traditionellen Nutzungsschichtung der Wiener Häuser nicht vorgesehen. Erst in der späten Gründerzeit und im Jugendstil wurden dort verstärkt Künstlerateliers errichtet, aber auch sie waren verhältnismäßig selten. Das Dachgeschoß galt traditionell als das schlechteste unter den guten Wohnungsgeschoßen (die Kellergeschoße ausgenommen). Selbst die Einführung der Aufzüge änderte daran nichts. Der Ausblick, die Dachterrasse und andere Annehmlichkeiten der Dachgeschoßwohnungen zählten bis in die Sechzigerjahre nur wenig.

1960 setzte dann die Abwanderung der Stadtbevölkerung aus der Innenstadt ein. Um dem entgegenzuwirken, startete die Gemeinde Wien 1976 die „Wiener Dachbodenaktion“, die rasch sehr erfolgreich wurde. Neben den finanziellen Anreizen durch die Förderung der Dachausbauten wirkte sich die Trendumkehr aus - die Großstadt wurde wieder entdeckt. Die bis dahin ruhige, beschauliche Wiener Dachlandschaft ist seither in Bewegung. Die Aufstockungen, zu denen faktisch auch die Dachbodenausbauten gezählt werden müssen, wurden von den Stadtplanern als „innere Stadterweiterung“ bezeichnet. In ihrer 2002 erstellten Studie „Die Zukunft des gründerzeitlichen Wien“ bezeichnen die Stadtforscher Gottfried Pirhofer und Rudolf Kohoutek diesen Begriff als paradox und irreführend. „Die urbane Ästhetik von Wien ist in der Dachzone von großer Zurückhaltung bis Langeweile geprägt, die möglicherweise vor allem der Bauordnung nach den großen Bränden geschuldet ist, die jegliche Nutzung der Dachzonen (mit Mansarden etc.) untersagte“, schreiben sie. Und die beliebten Dachgauben nennen sie „antiurbane und Wien-fremde Elemente“.

Falter, Mi., 2003.09.10

13. August 2003Jan Tabor
Falter

Schluss mit dem Blumendorf

Diesmal: Die neue Gartenbauschule in Kagran als Anlass für eine optimistische Prognose über die floristische Zukunft des öffentlichen Raums in Wien.

Diesmal: Die neue Gartenbauschule in Kagran als Anlass für eine optimistische Prognose über die floristische Zukunft des öffentlichen Raums in Wien.

Unsere Gärten. Das Schmetterlingsfach unter den vielen nützlichen kommunalen Ämtern. Damit Wien, unsere Stadt, schöner und blumiger wird, sind die grün gewandeten Frauen und Männer des Gartenamtes ununterbrochen im Einsatz. Die Orte ihres Wirkens, ihre Geräte und Fahrzeuge sowie sie selbst sind mit dem hübschen, von einem lyrisch veranlagten Designer entworfenen „Unsere Gärten“-Emblem geschmückt, das die Metamorphose einer Blume zu einem Schmetterling darstellt.

Diese Schmetterlingsmenschen, so der Eindruck mancherorts, haben die Aufgabe, für Wien endlich einmal den ersten Preis im Wettbewerb um das schönste Blumendorf Niederösterreichs zu gewinnen. Manchmal übertreiben sie es mit all dem Blumenschmuck überall, mit den rustikalen Blumentrögen aus Beton, den mediterranen Palmen und mit ihren eigenen gartenkünstlerischen Kreationen.

Am Floridsdorfer Spitz haben sie einen ausrangierten Traktoranhänger abgestellt und zu einem Blumenbeet verwandelt. An der Kreuzung Praterstraße/Praterstern haben sie ein mannshohes Riesenrad aufgestellt, dessen Kabinen mit Blumentöpfen voll weißer Petunien nachgebildet sind. Unsere Gärtner sind die Zuckerbäcker unter den Wiener Umweltmachern. Bald wird es mit dem „Unsere Gärten“-Kitsch vorbei sein.

Diese Zuversicht fußt auf dem empirisch belegten Phänomen der prägenden Wirkung von Architektur auf das ästhetische Empfinden der Menschen. Besonders starke Wirkung haben die Forscher bei Kindern und jungen Menschen im Fall von Schulen und Ausbildungsstätten nachgewiesen.

Das vermutete der Fabrikant Arthur Krupp bereits um 1910. In Berndorf ließ er zwei Volksschulen errichten, in denen jede Klasse in einem anderen historischen Stil eingerichtet wurde, von ägyptisch über griechisch, romanisch und gotisch bis zum Rokoko. Krupp war überzeugt, mit dieser Kunst am Bau seine künftigen Arbeiter und Arbeiterinnen zum künstlerischen Empfinden erziehen zu können und so jene Fertigkeit entstehen zu lassen, die bei der Produktion von hübschen Bestecken und Gefäßen aus Alpaka von Nutzen sei, mit denen die Firma Krupp viele Grandhotels und Ozeandampfer auf der ganzen Welt belieferte.

In Wien-Kagran wurde ein neues Schulgebäude für Gärtner eröffnet. Die Architekten Peter Erblich, Zachari Vesselinov, Manfred Hirschler und Peter Scheufler, bekannt als „Atelier 4“, gewannen 1999 den europaweit ausgeschriebenen Wettbewerb und erhielten den Auftrag, das Gebäude am Donizettiweg, inmitten der bestehenden Lehrgärten und am Rand eines dendrologischen Schulparks, zu errichten.

Dass der Neubau, der aus dem Kagraner Vorstadtgrün höhenmäßig und aus der Vorstadtzersiedelung qualitätsmäßig herausragt, eine Schule ist, kann bereits aus der vorbeifahrenden U-Bahn deutlich erkannt werden. „SCHULE DER STADT WIEN“ ist in großen weißen und „FÜR GARTENBAU UND FLORISTIK“ in etwas kleineren roten Buchstaben zu lesen, die an dem Glasgeländer der Loggia über dem Eingang angebracht sind. Die Architektur ist gut, stellenweise sehr gut. Das Gute an ihr ist ebenfalls bereits von der U-Bahn-Station Kagran aus zu erkennen.

Um festzustellen, dass die Schule stellenweise sehr gut gebaut ist, muss man hinein. Es lohnt sich und geht einfach: An jedem ersten Donnerstag im Monat gibt es den so genannten Erlebnisgarten-Tag. Die Menschen dort sind freundlich. Das Foyer ist ohnehin als öffentlich zugänglicher Schauraum konzipiert, in dem die Früchte der Lehrarbeit präsentiert werden, vor allem kunstvolle Blumenarrangements. Sie dämpfen ein wenig die optimistische Geschmacksprognose.

Der Eingang ist eine Art Blumengeschäft mit einem zur Straße hin ausgerichteten Schaufenster. Die angehenden Floristen und Floristinnen sollen hier en passant lernen, wie man Blumen darbietet. Diese Funktion der Eingangsgestaltung ist eher zu erahnen als zu erkennen.

Die Innenräume sind es ausschließlich, die dazu veranlassen, die Architektur der Gärtnerschule als teilweise sehr gut zu taxieren. Das geräumige Foyer, das Stiegenhaus mit den galerieartigen Gängen, die Klassen und Werkstätten, Büros und Gemeinschaftsräume sowie ein Turnsaal: alles hell, freundlich und übersichtlich. Einfallsreiche Details, perfekte Ausführung. Beachtenswerte Kunst am Bau: „Pflücken Sie“ von Susanne Gamauf, „Der Iris Bogen“ von Josef Kern und „Selected scenery“ von Doris Krüger. Ausblicke und Durchblicke - vertikal, horizontal und diagonal. Wechsel zwischen offen und verschlossen, wohin man schaut. Oft weiß man nicht genau, ob man noch drinnen ist oder bereits draußen.

Diese Qualität wurde hauptsächlich dadurch erreicht, dass die Architekten ein Atrium im ersten Stock in den Mittelpunkt des Entwurfs setzten. Das Atrium ist seitlich offen, über einen Steg auch aus dem Park direkt erreichbar und setzt sich in eine Loggia über dem Eingang fort. Diese ist auf drei Seiten offen und vom Körper des dritten Geschoßes überdacht. Die Erfahrung der Logik der inneren Raum- und Funktionsorganisation macht die äußere Erscheinung verständlich.

Das Gebäude hat vier Seiten und drei verschiedene Fassaden, fast so, als wären es drei verschiedene Gebäude(teile), die da ineinander gesteckt sind. Alle Seiten sind irgendwie tadellos. Aber rundherum betrachtet ist es jeweils um eine Handvoll des Tadellosen zu viel. Zwei Fassaden bilden die öffentliche, repräsentative, von der U-Bahn aus sichtbare Seite. Jede dieser beiden Mischfassaden besteht aus drei oder vier verschiedenen Teilen, aus dem Wechsel zwischen Verputz- und Glasflächen, Öffnungen, Fensterschlitzen und Sonnenblenden. Die beiden anderen Fassaden bilden die abgewandte, betriebliche Seite des Gebäudes, die zu den Gewächshäusern und den Beeten der Lehrgärtnerei hin orientiert ist. Sie sind einheitlich, ausschließlich aus Glas, sachlich, ein wenig zu banal oder ein wenig zu sehr um Eleganz bemüht.

Zum Lehr- und Versuchsgarten zählt auch die fünfte Seite, die „obere Fassade“, wie der russische Revolutionsarchitekt Alexander Rodschenko das (Flach-)Dach genannt hat. Um die Eignung bestimmter Pflanzen für die Begrünung von Dächern zu demonstrieren und zu prüfen, ist es begehbar und mit verschiedenen Moosen und Kräutern so bepflanzt, dass eine farblich strukturierte, sehr ansehnliche Fläche entsteht. Leider ist das von der hoch gelegenen U-Bahn-Station aus nicht zu sehen, sie ist dafür um etwa einen halben Meter zu niedrig.

Falter, Mi., 2003.08.13



verknüpfte Bauwerke
Berufsschule für Gartenbau und Floristik

06. August 2003Jan Tabor
Falter

Sanft radikal erneuert

Die Urania ist wieder da, frisch renoviert und umgebaut. Ein Überblick über die Geschichte des neubarocken Gebäudes an Donaukanal und Wienfluss. Aktuelle Architekturkritik inklusive.

Die Urania ist wieder da, frisch renoviert und umgebaut. Ein Überblick über die Geschichte des neubarocken Gebäudes an Donaukanal und Wienfluss. Aktuelle Architekturkritik inklusive.

Das Geheimnis der weißen Kugel ist gelöst. Es ist kein Logo und auch sonst kein Werbeträger. Auch kein raffiniert dreidimensional verschlüsseltes Freimaurersymbol, das der Umbauarchitekt heimlich auf das Dach hat aufbringen lassen, wie Johannes Voggenhuber en passant vermutete. Zufällig hatte ich ihn angetroffen, wie er kopfschüttelnd vor der runderneuerten Urania stand. Eine Weile grübelten wir gemeinsam über das Mysterium des aufgesetzten Gebildes und gingen dann ergebnislos von dannen, jeder an seine Statt. Ich beharrte auf der Meinung, es handle sich um ein Denkzeichen des Opus Dei.

Einig waren wir uns in der Einschätzung, dass die Renovierung der Urania überaus gelungen ist, vor allem der Umbau des Zubaues ist sehr überzeugend in der Art, wie er von dem neubarocken Bau von Fabiani nun abgesetzt wird, um den eindrucksvollen, turmartig schlanken und rundlichen Baukörper zu befreien und diesen wieder erleben zu lassen.

Einig waren wir uns außerdem darin, dass das Ding auf dem Dach plump und gemein gegenüber der Attika mit Balustraden ist, in der man nun, da die fehlenden Obelisken wieder aufgesetzt worden sind, wieder, so Voggenhuber, die Anspielung an vatikanische Gärten in Rom erkennen kann.

Früher war über der mit Relieffiguren geschmückten Schrifttafel mit der Huldigung an Kaiser Franz Joseph II. eine von Atlanten getragene Weltkugel angebracht. Die Weltkugel sowie die Obelisken und Steinblumenvasen, welche die Kanten des barock konkav und konvex geschwungenen Baukörpers oben auf der Attika effektvoll markierten, verschwanden während eines kunstgeschichtlich nicht registrierten republikanischen Bildersturms irgendwann zwischen 1920 und 1930. Vermutlich gleich 1920 im Zusammenhang mit der Umgestaltung des großen Theatersaales in ein Kino und der damit verbundenen Modernisierung des Erscheinungsbildes. Die Ersatzkugel ist ein Kunstwerk, das Resultat eines Kunst-am-Bau-Wettbewerbes, den der Bildhauer Stephan Fillitz gewonnen hat. Es stellt den Kosmos mit den drei Elementen Erde, Wasser und Luft dar.

Urania neu 2003. Jetzt hat sie ein Erscheinungsbild bekommen, das dem ursprünglichen annähernd entspricht. Neue Obelisken wurden angeschafft, aus Beton gegossen. Statt auf Elefanten (wie im Entwurf Fabianis zu sehen ist) stehen sie auf Wiener Stadtwappen, was schade ist, weil die Elefanten eine witzige Anspielung an Bernini waren. Und an den Umstand, wie sehr Fabiani bemüht war, auf seine Zuneigung für das römische Barock aufmerksam zu machen.

Obwohl er kein Wagnerschüler war, war Max Fabiani (1865-1962) wohl der beste Schüler Wagners. Er arbeitete in seinem Atelier an der Stadtbahn und saß, längst mit seinem Studium bei König fertig, in Wagners Vorlesungen und schrieb eifrig mit. Seine Mitschrift hatte epochale Bedeutung - sie diente als Basis für „Moderne Architektur“, Wagners folgenreiche Publikation.

Das Architekturrätsel Urania. Erstens ist es die aerodynamische Form, die sowohl der Lage an der Mündung des Donaukanals und des Wienflusses entspricht. Die Turmform rezipiert die Forderung nach einer architecture parlante - das Planetarium soll als solches erkennbar sein - und nimmt die Formen des expressionistischen Bauens vorweg: zum berühmten Einsteinturm in Potsdam von Erich Mendelsohn (1917/21) ist es nur ein Steinwurf weit. Aber, und das sieht man kaum auf den ersten Blick: Fabiani gelang es, in den zylindrischen Baukörper eine Unmenge von verschiedenen Funktionen und der dafür benötigten Räume so hineinzustopfen, dass trotz der schwierigen Form keine unnützen Winkel entstanden sind. Zum berühmten Raumplan von Loos, in dem es um Verschachtelung von unterschiedlich großen Räumen geht, ist der Weg noch kürzer als zum Einsteinturm. Ineinander verschränkte und dann gleichsam homogen und unsichtbar verpackte Räume sind ein Thema, das erst in den Neunzigerjahren wieder aktuell werden sollte. Mit dem 1900 entworfenen und 1901 fertig gestellten Artariahaus am Kohlmarkt gelang Fabiani ein architektonischer Jahrhundertwurf - hier findet man einige Prinzipien des neuen Bauens vorweg verwirklicht, die auch von Adolf Loos aufgegriffen wurden.

1910 dann die Urania. Ein Schock für die kleine Gemeinschaft der ersten Wiener Modernisten. Und dennoch: ein außerordentlicher Bau, das erkannte sie an, trotz aller Polemik. Zur Verfügung stand ein äußerst knappes Grundstück auf einer Restparzelle dort, wo sich die Ringstraße mit dem Kai kreuzt und der Donaukanal sich so schön weitläufig biegt, sodass das merkwürdige Bauwerk weit und aus vielen Winkeln sichtbar wurde und auch von allen Seiten fast gleich aussieht. Eine urbanistische Großtat.

Eine Traumlage für ein Aussichtsrestaurant am Strom. Fabianis Entwurf sah ein Café vor, errichtet wurde es nicht. Erst Architekt Dimitris Manikas, der sich die Pläne Fabianis genau angeschaut hat, hat es nun verwirklicht. So grundrissmäßig fast auf Zentimeter genauso geformt wie von Fabiani vorgesehen.

Die bedauernswerte Urania. In ihrer nicht ganz hundertjährigen Existenz musste sie etwa so viele verschiedene ästhetische Umformungen und Renovierungen ertragen wie Österreich politische Regime. 1936 fügten die Architekten Otto Schottenberger und Adolf Kautzki dem prägnanten Bau einen niedrigen, ebenfalls elliptischen Vorbau zu, mit dem die Urania, die damals mehr als Kino denn als Bildungsstätte im Vordergrund des Publikumsinteresses stand, das fehlende Hauptfoyer mit Kassen bekam.

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Haus zu einem Bombenschutzraum umgebaut und außerdem schwer beschädigt. Nach einer provisorischen Assanierung am Ende der Vierzigerjahre folgte 1960/61 der gründliche Umbau und die radikale Modernisierung im Stil der Fünfzigerjahre durch Otto Niedermoser. Der Kassenvorbau wurde innen und außen verändert, die Räume des Hauptgebäudes völlig neu eingerichtet.

In der Aufbauzeit hatte der Josef-Hoffmann-Schüler und Bühnenbildprofessor an der Angewandten, Otto Niedermoser (1903-1976), den Ruf eines Fünfzigerjahre-Top-Baukünstlers (unter anderen renovierte er 1954 das Theater in der Josefstadt und 1962 das Theater an der Wien). Sein Umgang mit der einzigartigen architektonischen Substanz der Urania war aber durch Uneinsichtigkeit, um nicht zu sagen Rücksichtslosigkeit gegenüber Fabianis Genie, gekennzeichnet. Zum Beispiel wurden die ungewöhnlichen räumlichen Qualitäten des Inneren, die in den häufigen und oft überraschenden Ausblicken und Durchblicken auf beiden Seiten des verhältnismäßig schmalen Gebäudes bestanden - der elliptische Grundriss ist bloß 23,6 Meter breit und 53,7 Meter lang -, völlig weggebaut oder verstellt. Möglicherweise wirkte sich da noch die Erfahrung aus den Schutzräumen aus - der amerikanische Kulturphilosoph Lewis Mumford bezeichnete diese damalige Sehnsucht nach geschlossenen, nur künstlich beleuchteten Räumen als „Pyramidensyndrom“.

Mit der überaus ehrenvollen und schwierigen Aufgabe, eines der wichtigsten und schwierigsten und auch am schwersten lädierten Bauwerke des 20. Jahrhunderts in Wien zu modernisieren und aufzustocken, wurde Dimitris Manikas betraut. Nach dem gründlichen Studium der Baugeschichte dieses Bauwerkes hat er sich für eine sanfte und zugleich radikale Renovierung entschlossen. Sanft, was den Einsatz seiner eigenen architektonischen Ambitionen betraf, radikal, wenn es um die Befreiung der räumlichen Substanz von Max Fabiani ging. Wo es möglich war, hat er versucht, auch die Architektur von Niedermoser zu erhalten.

Die Durchblicke drinnen und nach außen wurden wieder eröffnet, die zugemauerten Fenster frei gemacht. Während der einstige Anbau von Niedermoser an der Stromseite der Urania wie eine Hinterhofbude wirkte und auch unbewusst die traditionelle und leicht belegbare Abneigung der Wiener gegenüber den Gewässern der Stadt und den Stadtteilen hinter dem Donaukanal ausdrückte, nützt Manikas mit der Cafeteria die Lage am Strom rest- und tadellos aus. Zelebriert die Lage, grüßt mit der neuen Architektur das vorbeifließende Wasser, den weiten Ausblick nach links und rechts und zum anderen Ufer des Donaukanals hin, zur Leopoldstadt.

Natürlich werden jetzt Menschen wie Voggenhuber oder ich kommen und sagen, dies und jenes sei falsch, der Terrazzoboden zum Beispiel, der so billig und banal wirkt. (Was mir gut gefällt.) Oder die scheußliche weiße Luzerne oben auf der Balustrade. Die schrecklichen Betonobelisken, die in den Himmel stechen wie Zahnstocher Gottes. Dennoch: glückliche Urania. Das hat Mimis - so der Szenenname von Dimitris Manikas - gut gemacht. Sehr, sehr gut.

Falter, Mi., 2003.08.06



verknüpfte Bauwerke
Urania - Sanierung

30. Juli 2003Jan Tabor
Falter

Um zwei Pyramiden mehr

Diesmal: Wiener Großbaukunst einst und jetzt. Wien wächst. Das Bauglück boomt. Wiens neue Großarchitekten schwelgen im Großglück. Wenn alles gut geht, wird Wien demnächst um 5.000.000 Kubikmeter größer.

Diesmal: Wiener Großbaukunst einst und jetzt. Wien wächst. Das Bauglück boomt. Wiens neue Großarchitekten schwelgen im Großglück. Wenn alles gut geht, wird Wien demnächst um 5.000.000 Kubikmeter größer.

Fünf Millionen! Das entspricht, damit wir uns den großartigen Wienzuwachs vorstellen können, dem Volumen von 2,15 Cheopspyramiden. (Lediglich zwei und etwas Pyramiden! Hoffentlich habe ich mich da nicht verrechnet.)

Das neue Bauvolumen für Wien haben die Fachleute des Architektur Zentrums Wien berechnet, indem sie alle städtebaulich wichtigen Vorhaben und Projekte zusammengetragen haben, um sie in einer informativen Rundschau über die aktuelle Stadtentwicklung Wiens zu vereinigen: „5.000.000 m³ Wien. Die neuen Großprojekte“.

Vorgestellt werden insgesamt 16 reale und virtuelle Baustellen. Manche Entwürfe sind längst nicht mehr neu, das „Eurogate“ zum Beispiel, ein neues Stadtviertel, das nach einem städtebaulichen Plan des britischen Star- und Großarchitekten Norman Foster auf den Aspanggründen enstehen soll, ist mittlerweile fast wieder vergessen. Manche stehen vor der Fertigstellung, die „Messe Wien Neu“ etwa, ein gründlicher Neu- und Umbau des alten Messegeländes im Prater durch Peichl & Partner. Das neue Wahrzeichen der Messe, ein gläserner Zylinder, wurde kürzlich durch einen Kegelturm auf 96 Meter erhöht und ist bereits weithin sichtbar. Wer sich über das Vorbild informieren will, der schlage in „Pioniere der sowjetischen Architektur“ von Selim O. Chan-Magomedow (Löcker Verlag, 1983) auf der Seite 190 nach. Dort ist der in Moskau 1922 von W. Schuchow errichtete Sendeturm abgebildet. Der Zeitgeist der Achtzigerjahre ist, so der Eindruck nach Besuch der Ausstellung, zurückgekehrt.

Die bereits stattfindende Erweiterung der Wiener Stadthalle nach dem Entwurf von Dietrich/Untertrifaller Architekten hat wegen des brutalen Umgangs mit dem Innenraum der Stadthalle, deren Möblierung und mit der Kunst-am-Bau draußen, die alle zum integralen Bestandteil von Roland Rainers Meisterwerk gehörten, bereits für einige Aufregung gesorgt. Außerdem kann es kaum als Großprojekt bezeichnet werden. Das Büro- und Geschäftszentrum St. Marx der Architektur Consult ZT GmbH Domenig-Peyker-Eisenköck befindet sich im Rohbau, und der Rohbau des kunstvoll gebogenen und gebrochenen Baukörpers ist eine wahre Sehenswürdigkeit. Von der Baustelle haben sich die Gestalter der Ausstellung, die Jungarchitektengruppe SPAN, eine mächtige, 14 Meter lange Eisentraverse geborgt. Sie wird als Podest für Architekturmodelle und als Maßstab für die Dimensionen des Bauens verwendet. SPAN hat die Schau exzellent gestaltet - als räumlich spannenden und graphisch ruhigen Gegenpol zum Größenrausch der neuen Wienerbauer.

Aber Achtung: Die meisten Bilder fallen aus dem Bereich der üblichen beschönigenden Anschaulichkeit von Architekturdarstellungen heraus und in die kämpferische Verlogenheit der Werbegrafik hinein, welche die Fähigkeit, zwischen Wunschvorstellung und grafisch vorweggenommener Wirklichkeit zu unterscheiden, stark beeinträchtigt. Denn nicht überall läuft es optimal. Die Bauwerke, aus denen sich die Donaucity zusammensetzt, sind allesamt nicht schlecht und zum Teil von hervorragender Qualität, wirken in ihrer Anhäufung aber wie ratlos zusammengewürfelte dunkelgraue Häusermassen. Obwohl es bereits einige Masterplans gegeben hat, wartet nun Dominique Perrault mit einem neuen auf. Der ViennaDC-Plan des französischen Stararchitekten enthält, soll heißen: wiederholt die Idee, den Brückenkopf mit ordentlich hohen Hochhäusern dicht zu bestücken, und ist genauso belanglos wie seine Vorgänger. Allerdings hat Perrault erkannt, was Harry Seidler mit seinem weißen Wohnturm längst praktiziert hat: Es muss mehr farbliche Abwechslung in das synthetische Grau der ViennaDC, früher Donau City, zuerst Donauplatte, oder - schlicht und schön - Platte genannt.

Manche Projekte werden einfach Wien West, Forum Schönbrunn oder Rinderhalle St. Marx genannt, andere bekommen Developer-Fantasy-Namen wie Euro Gate, Gate 2, Monte Laa (einst Laaer Berg), Saturn Tower oder Town Town, auch TownTown geschrieben. Dieses Projekt, eine Art an gestalterischem Vitaminmangel leidende Beriberi-City, ist ein Gemeinschaftswerk der U-Bahn AGU Holzbauer-Marschalek-Ladstätter-Ganter, Coop Himmelb(l)au und Peichl&Partner - eine wahre Retortenstadt, die erneuerte Vision jenes megalomanischen und uncharmanten, um nicht zu sagen: unerotischen Städtebaues, der in den Siebziger- und Achtzigerjahren vorherrschte.

Damals ist der spezifisch wienerische Begriff „Großarchitekt“ erfunden worden (meines Wissens von Friedrich Kurrent), um die Denkweisen und Architekturauffassungen von erfolgreich in den Netzwerken staatlicher und semistaatlicher Institutionen und Bauträgern agierenden Architekten in einem Kürzel zusammenzufassen. Die Zeiten aber ändern sich, damit auch die großen Namen. Damals hießen sie Czernin, Hlawenicka, Lippert, Lintl, Glück, Neumann und Frank oder Holzbauer; heute heißen sie Holzbauer, Hollein, Peichl&Partner, Neumann und Partner, Hollein und Neumann, Ortner & Ortner, Coop Himmelb(l)au und Wehdorn. Vor allem Wehdorn, der Experte für die Herstellung des Neualten, die nach wie vor die wichtigste architektonische Fertigkeit in Wien darstellt.

Es gibt allerdings einige kleine Unterschiede zu damals. Den Kleinarchitekten, von denen es in Wien besonders viele besonders hervorragende gibt, geht es momentan schlecht. Auf jeden Fall schlechter als früher. Hermann Czech zum Beispiel hatte im Auftrag der IBM Pläne für einen Büroturm auf der Platte ausgearbeitet, als er erfahren musste, dass der Bau, Saturn genannt, auf die auf Großerfolge abonnierte Arbeitsgemeinschaft Hollein und Neumann umgeleitet wurde. Czechs Entwurf kann in der AzW-Schau nicht begutachtet werden. In der hervorragenden Architekturzeitschrift UmBau (Heft 20/2003) kann man den erledigten genialen Entwurf von Czech bewundern.

Die staatlichen Netzwerke sind nicht verschwunden, lediglich kleiner geworden; noch mehr semi-, mehr quasi-privat, komplizierter und unübersichtlicher. Viele Architekten waren zuerst Stararchitekten, nun sind sie beides, Star-und Großarchitekten in einem, was der allgemeinen Akzeptanz ihrer beeindruckenden Architekturproduktion und den Developern, die es wirklich nicht leicht haben, gehörig entgegenkommt - und zwar deswegen, weil Stararchitekten wie Holzbauer oder Hollein verschiedene öffentliche Funktionen bekleidet haben oder bekleiden, die ihnen das Berufsleben als großbauende Architekten erleichtern. Der substanzielle Unterschied besteht darin, dass ein Großarchitekt als Mitglied des mächtigen Gestaltungsbeirates oder einer wichtigen Wettbewerbsjury damals nicht denkbar gewesen wäre. Heute ist das üblich, und niemand regt sich noch auf.

Bei der Diskussion anlässlich der Ausstellungseröffnung im AzW machte der Developer Ariel Muzicant, auf dessen Initiative die wichtige und richtige Initialbebauung an der Wagramer Straße zurückgeht, auf den aus der Statistik bekannten „Schweinezyklus“ aufmerksam: Muzicant fürchtet, dass der in der Ausstellung dokumentierte Aufschwung zur städtebaulichen Modernisierung Wiens wieder genauso plötzlich verschwindet, wie er entstanden ist, wodurch für die Stadt und ihre Bedeutung im internationalen Kontext schwere Nachteile entstünden.

Die AzW-Schau enthält sich zwar jeglicher Kritik an den einzelnen Bauten und dem Städtebau insgesamt, vermittelt aber, dass die Stadt aus dem zyklischen Tief der Stagnation herausgeführt wurde. Und die modische Eintönigkeit fällt ohnedies von selbst auf: vor allem die grauen Glaskisten. Glas ist das einzige, was die präsentierten Großprojekte von denjenigen der Achtzigerjahre unterscheidet. Wir haben zwei Möglichkeiten, mit dieser Erkenntnis umzugehen. Wir können uns von den heutigen Großprojekten deprimieren lassen; oder wir müssen damit beginnen, die Architektur des Aufschwungs vor dreißig Jahren neu zu bewerten.

[ Die Ausstellung „5.000.000 m³ Wien“ ist bis 1.9.2003 im Architekturzentrum Wien (1., Museumsplatz 1, im MQ) zu sehen. ]

Falter, Mi., 2003.07.30

23. Juli 2003Jan Tabor
Falter

Die drei Türme

Diesmal: Das Wiener Hochhausdilemma auf einen Blick

Diesmal: Das Wiener Hochhausdilemma auf einen Blick

Auf der Ringstraße, in unmittelbarer Nähe zur Angewandten, gibt es einen einzigartigen Aussichtspunkt. Ich nenne ihn „The Three Towers Point of View“. Er befindet sich genau auf der Fahrbahnmitte der Ringstraße, dort, wo sich die Rosenbursenstraße und der Kokoschkaplatz (der eigentlich eine Straße ist) kreuzen und die Ampelphasen für die Fußgänger bedrohlich kurz bemessen sind. Von hier aus wird - für einen kurzen Moment - die ganze Misere der gegenwärtigen Stadtplanung in Wien sichtbar.

Zunächst erblickt man - in Richtung Donaukanal schauend - zwei Türme, die miteinander zu streiten scheinen, wer die prestigeträchtige Stelle an der Blickachse der Ringstraße besetzt hält. Bis vor kurzem hat das alte Galaxie-Haus allein einen der beiden wichtigsten points de vue des Wiener Prachtboulevards beherrschen können, jetzt drängt sich der Neubau des Uniqua-Bürohauses derart penetrant in den Vordergrund, dass das Galaxie beinahe verschämt wirkt.

Das Galaxie war lange Zeit das einzige Hochhaus im näheren Blickumfeld der Innenstadt. Es tauchte Anfang der Achtzigerjahre plötzlich genau an jener Stelle auf der Praterstraße auf, an der die NS-Planer den Schnittpunkt zwischen der weiter geführten Ringstraße und der anstelle der demolierten Leopoldstadt vorgesehenen Gauanlage geplant hatten. Da das Bürohaus in einer Zeit des strengen Hochhausverbots von einem kaum bekannte Architekten (Josef Becvar) im Auftrag einer ominösen ausländischen Finanzgruppe errichtet wurde, auffallend, um nicht zu sagen unanständig, hässlich war und lange leer stand, galt es als Inbegriff der dunklen Machenschaften der damaligen Stadtplanung. Kürzlich hat das Galaxie-Haus eine gänzlich neue, im Ganzen wenig aufregende, aber sozusagen anständige Gestalt bekommen. Martin Kohlbauer hat den kantigen Baukörper neu - weiß und leicht technoid - verkleidet und ihn als Sockel für die Aufstockung durch einen zylindrischen Bau verwendet, dessen lapidare und doch pathetische Form im deutlichen Gegensatz zum ganzen Vorbau steht. Die Umgestaltung ist formal so eigenwillig und urbanistisch so richtig, dass der Umbau als Neubau erscheint, der trotz erheblicher Aufstockung als Bereicherung für das Stadtbild gelten muss. Dass er aus allen Blickwinkeln hübsch anzuschauen ist, verdankt der Bau einem einfachen, aber wirksamen barocken Trick: Er ist kein Zylinder, sondern ein Ellipsoid.

Während der Bau des Ur-Galaxie-Hauses am Nestroyplatz als dubios gilt, ist dem Entstehen des Uniqa-Turmes am Donaukanal eine makellos demokratische Vorgangsweise zu bescheinigen. Im Jahr 2000 wurde ein Gutachterverfahren ausgeschrieben, zu dem namhafte Architekten wie Peichl, Holzbauer, Piva, Beneder/Fischer, Nouvel, Grimshaw und Feichtinger geladen wurden. Das Problem der Wettbewerbe liegt meist weniger in der Qualität der Einreichungen als in derjenigen der Juroren. So auch hier. Als Gedächnisstütze ist das Architekturjournal wettbewerbe unüberbietbar. Nimmt man das Heft vom Mai 2000 in die Hand, dann kann man über das ausgewählte und nun im Rohbau fertig gestellte Projekt von Heinz Neumann und Partner im Juryprotokoll nachlesen: „Der Grundriss des Hochhauses ist von einem Oval abgeleitet, das auf der Westseite aufgeklappt ist. Hierdurch entsteht eine expressive Gebäudefigur, die durch eine Neigung nach außen in ihrer Wirkung noch erheblich gesteigert wird. Diese Geste - unterstützt durch schräge Außenstützen in den unteren Geschoßen - wie auch die Rundform insgesamt machen das Hochhaus zu einem Solitärgebäude, das im Kontext schwer integrierbar ist.“ In der Tat. Schwerstens integrierbar. Außerdem weist die Zeichnung sehr dünne, um nicht zu sagen graziöse Außenstützen auf, die sich in der gebauten Wirklichkeit des Rohbaus als ungemein plumpe Stelzen erweisen.

Obwohl die Jury zuerst richtig erkannt hat, was wir jetzt von allen Blickwinkeln, hauptsächlich aber vom „Three Towers Point of View“ aus sehen: nämlich wie penetrant sich Neumanns Bürobau in den Vordergrund drängt, machte dieser schließlich das Rennen. Wohl wegen der anbiedernden Ähnlichkeit mit dem News-Generali-Turm am Eingang der Taborstraße von Hans Hollein, einem der Jurymitglieder. Damals, im Jahr 2000, befand sich die Wiener Turmneurose und der Second-Hand-Dekonstruktivismus auf dem Höhepunkt. Heute würde man sich vermutlich für einen architektonisch und städtebaulich so feinsinnigen Entwurf wie jenen von Helmut Richter entscheiden, dessen Qualität vor allem in der passagenartigen, großzügig bemessenen und öffentlich zugänglichen Halle gelegen hätte. Aber warten wir ab. Der Neumann-Turm ist ein Rohbau, und noch immer besteht eine gewisse Hoffnung, dass eine feine Fassade dessen Hässlichkeit gnädig verhüllen wird.

Unverständlich, dass auf einem der wichtigsten Blickpunkte der Weltkulturerbe-Innenstadt Wien ein derart monströses Bauwerk errichtet wird, ohne dass sich jemand aufregt. Stattdessen echauffierte man sich über die vier Hochhäuser, die Neumann und Partner mit Ortner & Ortner auf dem ÖBB-Gelände der Landstraßer Hauptstraße errichten sollten. Das Vorhaben wurde kürzlich gestoppt, weil die Drohung des Internationalen Denkmalrates (ICOMOS), das im Dezember 2001 erteilte UNESCO-Prädikat „Weltkulturerbe“ für die Wiener Innenstadt wieder abzuerkennen, ernst gemeint war. Das Bauvorhaben soll noch einmal ausgeschrieben werden. Warten wir ab.

Wie man vom „Three Towers Point of View“ aus sehen kann, haben Ortner & Ortner einen Turm in Wien-Mitte doch verwirklichen können, den dritten der hier erwähnten Türme: City Tower heißt er. Ob die anderen, mittlerweile verhinderten Wien-Mitte-Hochhäuser auch derart belanglos geworden wären wie der CT, ist schwer zu sagen, weil die präsentierten Modelle davon nichts verrieten. Der weitgehend fertig gestellte City Turm sieht jedenfalls aus wie ein später Gruß aus den Achtzigerjahren. Ortner & Ortner haben aus der Schublade das Projekt für ein Wohn- und Geschäftshaus in der Uhlandstraße in Berlin geholt, es entstaubt, vergrößert und durch vielfältig verdrehte und verschnittene Baumassen aufgestockt. Auch die Verkleidung mit braunroten Sandsteinplatten wurde übernommen. Von der Ringstraße aus betrachtet, steht der Turm städtebaulich perfekt, gar keine Frage. Die Kante des Straßenraumes ist wie geschnitten. Von der anderen Seite, der Invalidenstraße, aus gesehen, geraten die verschachtelten Baumassen zu einem räumlichen Durcheinander, das in deutlichem Widerspruch zu der Gelassenheit der Ringstraßenansicht steht. Außerdem merkt man von hier, dass der City Turm mit seinen 87 Metern niedrig ist. Eine größere Höhe, selbst nur zwei, drei Geschoße mehr, hätte dem Bauwerk gut getan. Diesbezüglich haben Ortner & Ortner Pech. In Wien gerät ihnen alles zu kurz.

Falter, Mi., 2003.07.23

16. Juli 2003Jan Tabor
Falter

Der Sommer ist super!

Diesmal: Wie in das MuseumsQuartier doch noch der Sommer einzog, und wie er fast so super wurde wie vor 27 Jahren

Diesmal: Wie in das MuseumsQuartier doch noch der Sommer einzog, und wie er fast so super wurde wie vor 27 Jahren

Ob in der Frühe oder am Abend, ob an den Winter oder den Sommer denkend: Wolfgang Waldner ist nicht zu beneiden. Als Direktor des MuseumsQuartiers Wien muss er dafür sorgen, dass endlich etwas los ist in den geräumigen Höfen seiner Domäne. Neuerdings unternimmt er den Versuch, die Architekturmumie MQ mit regem urbanem Sommerleben zu füllen. In dem Magazin MQ Site wird darüber berichtet. Als ich es kürzlich aufschlug, erschrak ich. Ein junger Mann war vom Flachdach des Museums Leopold gesprungen und drohte jeden Augenblick auf der Monumentalstiege zu zerschellen.

Zum Glück täuscht der erste Eindruck oft. Der junge Mann auf dem Bild, einer Annonce der Wiener Stadtwerke, fiel nicht runter, er sprang hoch; so hoch, dass es schien, er würde fallen. Er sprang vor lauter Freude über die „60.000 m² Freiheit“, die ihm - und uns - im MQ zur Verfügung stehen. „MuseumsQuartier ist eine Bastion künstlerischer Freiheit. Und zwar gleich eine der größten Europas.“ Offensichtlich hatte der Werbetexter das MQ zum letzten Mal besucht, als es noch Baustelle war. Sonst würde er wissen, dass hinter den denkmalgeschützten Mauern nicht Freiheit, sondern peinliche Ordnung und die metaphysische Reglosigkeit einer plötzlich entleerten Kaserne herrscht. Doch der Eindruck trügt. In Wirklichkeit werden hier harte Direktorenkämpfe ausgefochten. Die Subdirektoren gegen den Supradirektor. Und umgekehrt. Kämpfe um Befugnisse, Territorien, Informationen, Leistungen, Entgelte, Werbeflächen, Außenmöbel und Publikum. AzW-Direktor Dietmar Steiner und MQ-Direktor Wolfgang Waldner etwa streiten darüber, ob Bewilligungs- und Entgeltpflicht besteht, wenn das Architekturzentrum Wien anlässlich einer Ausstellungseröffnung draußen vorm Tor etwas veranstalten will; und ob Waldner den AzW-Hof mit blauen Iglusegmenten möblieren darf, auch wenn sie dem AzW-Direktor nicht gefallen.

Die ästhetischen Kriege sind die schönsten, ich aber bleibe neutral. Ich lache darüber, aber nur heimlich und um dem Sprichwort vom lachenden Dritten zu entsprechen. Unvoreingenommen also, dennoch mit großer Freude, stelle ich fest, dass beide Hofbelebungsmaßnahmen, die Waldner neuerdings gesetzt hat, zu wirken beginnen: Die neuen Boccia-Bahnen werden intensiv bespielt, und die alten, zu Sitz- oder Liegemöbeln umfunktionierten Iglu-Segmente werden überaus gern besetzt. Das ist kein Wunder, denn die festen Steinbänke von Ortner & Ortner eignen sich nicht zum Sitzen. Ein Wunder hingegen ist, was die einfachen und robusten, um nicht zu sagen plumpen Iglusegmente von PPAG (Anna Popelka und Georg Poduschka) alles zu bewirken vermögen, obwohl sie nur in Werbeprospekthimmelblau umgemalt und im MuseumsQuartier verteilt wurden. Aber sie beleben, ergänzen und verändern das Areal derart vorteilhaft, dass man feststellen kann: Die Waldner-Offensive „MuseumsQuartier-Sommer“ hat super begonnen.

Für einen „Supersommer“ wie jenen legendären Supersommer von 1976 reicht es allerdings nicht aus. Damals stellte Coop Himmelb(l)au (damals noch Himmelblau) am Naschmarkt vier 13 Meter hohe Gerüsttürme auf und spannte darin die 17 mal 17 Meter „Große Wolkenkulisse“ auf - ein architektonischer Beitrag zum Festival „Supersommer“, ein Stadterlebnis sondergleichen. Damals gab es allerdings in Wien noch keine Bastion künstlerischer Freiheit, für die geworben werden musste. Es gab eine Avantgarde, die sich die Freiheit nahm, in der Stadt radikal zu agieren. Ihr Schlachtruf „Architektur muss brennen“, 1980 von Coop Himmelblau formuliert, ist zum beflügelten Wort der Weltarchitektur geworden. Heutzutage muss nur Weihnachtspunsch heiß sein. Die Architektur bleibt kühl.

Vor zwei Jahren, als an der Ecke Mariahilfer Straße und MQ-Vorplatz die Baucontainer standen, machten Eichinger oder Knechtl die Festwochendirektion auf die urbane Brisanz dieses kleinen, aber exponierten Stück Niemandslandes aufmerksam. Ihr Vorschlag: Okkupieren! Heuer haben die Festwochen zugegriffen. Eichinger oder Knechtl wurden beauftragt, das umkämpfte Eck mit temporärer Architektur zu bestücken. Ein Ensemble aus einer Freilichtbühne, einer Gerüstbühne und einem Zelthangar mit Kassen, Informationsschaltern und einem Meinl-Café entstand. Zwischen der Rahlstiege und dem MQ-Eck wurde über die Mariahilfer Straße mit Gerüst ein Festwochentor errichtet - was für ein sommerliches Super-Déjà-vu! Das Ganze erinnert an die ephemere Coop-Himmelblau-Stadtarchitektur von 1976. Und daran, dass radikale Ideen in der Architektur einen Zeitabstand von mindestens zwei Generationen benötigen, damit sie theoretisch begriffen und praktisch angewandt werden. Wie es sich für die temporäre Architektur gehört, wurde das Festwochenlager wieder abgebrochen, nur das Déjà-vu-Tor steht noch, sodass wir beides haben, was gute ephemere Architektur ausmacht: bleibende Erinnerungen und ein Architektursegment, das länger bestehen bleibt.

Diese vortreffliche Bespielung des MQ-Eckes war die beste Antwort auf die Frage, wie es mit dem prominenten Stück des von vielen Architekten als ihre potenzielle Baustelle hart umkämpften öffentlichen Niemandsraumes städtebaulich weitergehen sollte: ohne Dauerverbauung. Freihalten für Architekturexperimente junger Architekten am Rande der Festwochen. Jeden Sommer andere. Jeder Sommer ein neuer „Supersommer“.

Wie damals, an der Wende der Sechzigerjahre, als Wien mit Architekturrebellen namens Coop Himmelblau, Haus Rucker Co (wie Ortner & Ortner früher geheißen haben), Missing Link oder Zünd-up geradezu gesegnet war. Über Zünd-up ist vor einiger Zeit ein Buch erschienen.1 Auf Seite 69 ist „The Great Vienna Auto-Expander“ abgebildet. Die Collage aus einem zum riesigen Bauwerk vergrößerten Automotor und einem Gerüst hoch über den Karlsplatz ist 1969 entstanden. Auch sie kann als eine Vorläuferidee für die jetzige Festwochen-Brücke gesehen werden.

Auf Seite 272, der allerletzten des lesenswerten Buches, befindet sich eine rührende Liebesbekundung der Liebestreue der 68er-Veteranen: „Himmelblau liebt Zünd-up noch immer, noch immer schade um die Architektur.“ An der Tür des dicht beschrifteten und bemalten Herrenklos auf der Universität für angewandte Kunst (1., Oskar-Kokoschka-Platz 2, Neubau, 1. Stock rechts vom Aufzug) ist dieser Ausspruch zu lesen: „Hätte Wolf Prix Architektur im Arsch, würde er dann immer noch sagen, sie müsse brennen?“ Ein Protest der 03er-Generation.

[ Martina Kandeler-Fritsch (Hrsg.): Zünd-up. Acme Hot Tar and Level. Dokumentation eines Architekturexperiments an der Wende der Sechzigerjahre. Wien, New York 2001 (Springer). 272 S., m. zahlr. Abb, E 35,- ]

Falter, Mi., 2003.07.16

07. Juni 2003Jan Tabor
Der Standard

Wohnen auf Rädern

Die laufende Architekturbiennale in Rotterdam greift ein umstrittenes Thema auf: wie man die Mobilität ins 21. Jahrhundert rettet. Die Städte sollen noch autogerechter werden. Die Aussteller setzen auf eine Symbiose zwischen Architektur und Autobahn. Kann das funktionieren? Die neue Generation der Planer glaubt: ja.

Die laufende Architekturbiennale in Rotterdam greift ein umstrittenes Thema auf: wie man die Mobilität ins 21. Jahrhundert rettet. Die Städte sollen noch autogerechter werden. Die Aussteller setzen auf eine Symbiose zwischen Architektur und Autobahn. Kann das funktionieren? Die neue Generation der Planer glaubt: ja.

Rotterdam hat seit 1995 ein neues Wahrzeichen: die Erasmusbrug. Die von Ben van Berkel in verfeinerter Calatrava-Manier entworfene Brücke hängt wie ein riesiges Zupfinstrument über den Nieuwe Maas und verbindet das Stadtzentrum mit Kop van Zuid, dem neuen Viertel für die aufstrebenden Menschen des 21. Jahrhunderts. Die Erasmusbrücke kann als eine Apotheose des Autoverkehrs gedeutet werden: eine Gesellschaft, die sich derart edel aussehende Verkehrsbauwerke errichten lässt, mag das Auto sehr.

Unweit der Erasmusbrücke, zwischen uwei neuen Türmen von Renzo Piano und von Norman Foster befindet sich Las Palmas, ein altes Hafenlagerhaus, das zum Ausstellungszentrum für die Avantgarde umgewidmet wurde. Dort steht ein Motorad BMW F650 GS. Es ist eines der Exponate der Architekturbiennale „Mobility. A room with a view“.

Autofahren macht Spaß. Wer immobil wird im Automobil, der befindet sich im Stau. Der Stau ist ein Zustand, ist Spaß in statu nascendi. In der Spaßgesellschaft ist Langeweile eine Notlage. Wo Not bedrückt, dort rücken Helfer vor. In den lang andauernden Staus, die sich alltäglich in und um Rotterdam herum bilden und manchmal bis nach Amsterdam reichen, waren im Frühjahr 2003 vier Männer auf zwei BMW F650 GS flott unterwegs. In ihren weißen Overalls sahen sie wie Engel aus. Sie tauchten auf, halfen und verschwanden wieder. An die genervten, apathisch oder aggressiv gewordenen Autofahrer verteilten sie kleine Notstandspakete mit der Aufschrift FILEkit©. File ist das holländische Wort für Stau. Je nach dem Typus des Im-Auto-Gestauten enthielten die weißen Kunststoffsäckchen verschiedene nützliche Gegenstände wie Kunststoffblume, Kondom, Markierungsstift, Esperanto-Luftballons, Aspirin, Wörterbuch, Kompass, Wasserpistole (für die Aggressiven), Kommunikations- oder Aktionsparfum und, für die meditativen Typen je nach der Religion, Bibel, Koran oder Zen. Die eigentliche inhaltliche Zusammenstellung einer der drei Varianten des FILEkits hing vom Zweck der Fahrt und der psychischen beziehungsweise charakterlichen Verfassung der angestauten Autofahrer ab.

Der Stau sei ein Sozialraum, und das Wesen des Sozialen sei Kommunikation. Das ist die konzeptuelle Basis für die Aktion "FILEkit©", zu der sich drei Gruppen - „Artgineerung“ aus Holland, „D+NL“ aus Deutschland und „feld72“ aus Österreich - zusammengefunden haben, um einen von rund 130 Projektbeiträgen für die 1. Architekturbiennale in Rotterdam zu realisieren. In Las Palmas, einem der beiden Ausstellungsorte, zeigen sie in Form eines Informationsstandes die Produkte ihrer Anstrengung, den Stauraum zum Kommunikationsraum zu machen. Das Projekt ist für die Denkrichtung der Biennale charakteristisch, wie diese wiederum für die Spaßgesellschaft symptomatisch ist.

Wann immer Städte in Not geraten, rücken rasch Retter aus. Architekten, Landschaftsplaner, Künstler, Ingenieure, Stadt- und Freizeitdesigner, Kulturtheoretiker etc. Was die klassischen Verkehrsplaner längst aufgegeben haben, nämlich die Bemühungen, Städte autogerecht gleichsam hoch zu frisieren, versuchen nun Architekten und andere, die man unter dem Attribut „jung und aufstrebend“ zusammenfassen könnte, noch einmal. Ihr Festival heißt „International Achitecture Biennale Rotterdam 2003“ und findet zum ersten Mal statt.

Die Autogerechtigkeit ist das Motto und das Ziel, jetzt wird sie allerdings Mobility genannt. Der Untertitel „A room with a view“ - eine Paraphrase des berühmten Zitates „Automobiles are like part-time dwellings on wheels“ von Richard Buckminster Fuller - ist die normative Metapher fürs Auto, für das neue Verständnis des Autos. Normativ in dem Sinn, dass damit der unbegrenzte Raum über Autobahnen und Autobahnkreuzungen angesprochen wird, der neuerdings in den politischen Stadtvorstellungen als Bauland für attraktive Stadterweiterungen mit Wohnbau für die neue mobile Mittelschicht populär geworden ist. Was mit den Bahnhöfen längst passiert, soll auf die Autobahnen übertragen werden. Den künftigen Nutzern der Autobahnüberbauungen wird mit dem Untertitel jene Wohnqualität versprochen, die sich alle wünschen: Zimmer mit Ausblick. Ins Grüne. Ruhig und sonnig.

Was heißt überbaut? Verflochten! Den Biennale-MacherInnen (auf dem Gruppenfoto des Biennaleteams sind 20 Frauen und ein Mann abgebildet) unter der Leitung von Francine Houben, Gründerin der erfolgreichen Gruppe Mecanoo Architects und Architekturdozentin an der TU Delft, geht es keineswegs um Darstellung oder gar weitere Propagierung der in den Niederlanden aufgrund des Baulandmangels ohnehin bereits intensiv praktizierten Überbauung von Autobahnen.

Ihnen geht es um viel mehr als um das, was im legendären, 1959 erschienen Buch des einstigen NS-Planers Hans Bernhard Reichow „Die autogerechte Stadt - ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos“ derart suggestiv empfohlen wurde, dass es zu der städtebaulichen Doktrin für den Wiederaufbau der deutschen Städte wurde und mehr Einfluss auf die Stadtgestaltung hatte als alle Le Corbusiers, Mies van der Rohes oder Walter Gropiuse zusammen.

Die Ideologie der autogerechten Stadt basierte auf der Trennung von Autofahrenden und nicht Autofahrenden mit Vorrang für die in den Wagen. Was die künftige Autotauglichkeit der Städte betrifft, sind die Apologeten der New Mobility radikaler und realistischer zugleich: Sie streben eine vollkommene Synthese der Stadt mit dem Verkehr an, die an der ohnehin längst offensichtlich phylogenetisch fixierten Symbiose von Mensch und seinem liebsten Vehikel, dem Auto, anknüpft. Denn so, wie die beiden Hauptausstellung geplant beziehungsweise geworden sind, wird unter „Mobility“ ausschließlich der Autoverkehr und die mit ihm zusammenhängenden technischen und - vor allem - mentalen Strukturen verstanden.

Dabei konzentriert man sich hauptsächlich auf die kommenden Städte und Stadterweiterungen, der Altbestand wird ideenmäßig gleichsam umgefahren. Die Biennale ist zum Forum für jene Fantasien geworden, in denen es um die Vereinigung des klassischen Autofahrens und Autobesitzens mit dem gegenwärtig-zukünftigen Lifestyle zu einer Megapolis des Megaspaßes geht. Auffallend an fast allen Beiträgen, selbst den fantastischsten, ist, dass mit einer konservativen Konstante gearbeitet wird: Was das Auto betrifft, bleibt alles fix wie ein Dogma: Motor, Form, Straßen, Geschwindigkeit, Lärm, Abgase und der Stau.

Diese beinahe andächtige Fixierung fällt in der zweiten Hauptausstellung im NAI, dem 1993 von J. Coenen im postmodernen Collagestil errichteten Nederlands Architectuurinstituut, auf. Außen und innen wird das Gebäude von etwa zwei Dutzend Autos so voll gestopft, dass man den Eindruck bekommt, die ganze Mobility-Biennale sei ausschließlich vom Verband der Niederländischen Gebrauchswagenhändler gesponsert worden. In einer Prater-artigen Schau werden Oldtimer auf sich drehende Scheiben gesetzt. Der Besucher kann sich hinein setzen und auf einer Projektionswand aus der Fahrerperspektive eine der Hauptrouten in einer der Metropolen wie Mexico City, Beirut, Budapest oder Peking nachfahren und sich dabei die Länder üblichen Autofahrer-unterwegs-Radiosendungen anhören.

In einem anderen Saal kann man sich historische Aufnahmen mit Aussagen zum Autoverkehr - zum Beispiel Adolf Hitler, den Förderer des Massenprodukts VW - anschauen. Als Projektionsflächen dienen in auf der Luft hängende vordere Autofensterscheiben. Wo Auto vorkommt, ist es mit dem Kitsch wie mit dem Lärm: unvermeidlich.

Aber Achtung! Ganz oben ist ein wenig Ausstellungsplatz übrig geblieben. Wenige Wochen vor der Eröffnung gingen noch Einladungen an elf Universitätsinstitute in verschiedenen Ländern, darunter das Studio Zaha Hadid von der Angewandten in Wien, mit Studentenprojekten zum Thema „Holland Avenue“ aufzuwarten. Es galt, ein 15 Kilometer langes Autobahnstück zwischen Rotterdam und Delft zu einer Stadt der Zukunft zu verwandeln. Die Zeit aber war knapp, das Budget fast null und die zur Verfügung gestellten Kojen minimal. Die Resultate der studentischen Anstrengungen sehen entsprechend aus: viel Computerarbeitsaufwand und wenig Ideen- und Darstellungsklarheit.

Im NAI wird vor allem Wert auf Spaß gelegt, in Las Palmas hingegen auf Informationen. Hier werden zahlreiche bereits vorhandene und zum Teil auch bereits verwirklichte Projekte aus namhaften Büros vorgestellt. Da oder dort Stars oder Studenten: Im Bewusstsein der Planer und Architekten hat sich offenbar die Ansicht von Buckminster Fuller (er ist der Architekt, der New York mit einer riesigen geodätischen Sphäre überdecken wollte) vollkommen durchgesetzt: Automobil ist ein Lebensraum, ist ein Teil der Lebensqualität.

Die letzte Architektur-Biennale „Next“ in Venedig war star-lastig, gesetzt und steril. Sie glich einer riesigen Mode-Boutique. Die Biennale in Rotterdam gleicht einem riesigen Workshop für Jungarchitekten, die Autos überaus mögen, aber noch immer Rad fahren (müssen), obwohl sie es sehr eilig haben.

Der Standard, Sa., 2003.06.07



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30. April 2003Jan Tabor
Falter

Wie ein fliegender Schwan

Diesmal: Ausstellungen über den tschechischen Otto-Wagner-Schüler Jan Kotera und den spanischen Architekten Santiago Calatrava.

Diesmal: Ausstellungen über den tschechischen Otto-Wagner-Schüler Jan Kotera und den spanischen Architekten Santiago Calatrava.

Die Moderne in Böhmen und Mähren brach im Sommer 1910 aus. In diesem Jahr erschien die programmatische Schrift „Moderne Architektur“ von Otto Wagner in tschechischer Übersetzung, und an der Akademie der bildenden Künste in Prag wurde nach dem Wiener Vorbild eine Spezialschule für Architektur gegründet. Mit Jan Kotera wurde einer der vortrefflichsten Absolventen von „Otto Wagners Spezialschule für Architektur“ an der Akademie der bildenden Künste in Wien zum Professor berufen: ein Tscheche und ein Wagnerschüler an der Akademie in Prag - ein Wunder!

Doch es geschah. In einem auf Tschechisch verfassten Brief setzte der Rektor den Architekten Kotera von dessen Berufung in Kenntnis. Den Originalbrief kann man nun in der Ausstellung „Jan Kotera 1871-1923“ im Wiener Architekturzentrum lesen. Es lohnt sich, denn die k. k. Amtssprache war so k. und k. köstlich umständlich. Kotera glaubte, dass er seine unerwartete Berufung Tomas G. Masaryk zu verdanken hätte, und bedankte sich bei dem Reichtagsabgeordneten. Masaryks Antwort war knapp und eindeutig. Masaryk teilte „Mistr Kotera“ mit, er habe bloß den „ewigen Standpunkt (...) den Deutschen so viel wie uns“ vertreten und dabei im Einvernehmen mit dem deutschen Kollegen gehandelt.

Der wundersame „Aufbruch in die tschechische Moderne“, wie die von Vaclav Havel initiierte und aus Tschechien übernommene Schau im Untertitel heißt, wird in einer eigenen Vitrine angedeutet. Allerdings muss man Tschechisch können, deutsche Übersetzungen liegen nicht bei. Zu sehen sind unter anderem ein Exemplar der tschechische Ausgabe von „Moderne Architektur“ oder ein kleiner Stich mit der persönlichen, kaum lesbaren Widmung an den vortrefflichen Schüler Kotera von 1897: Er stellt den am Zeichentisch sitzenden Otto Wagner dar und zitiert dessen berühmten Spruch ARTIS SOLA DOMINA NECESSITAS. Das Bild ist so klein, dass man nicht erkennen kann, ob Wagner in seiner Hand einen Bleistift oder eine Zigarette hält.

Über Koteras Berufung dürfte er sich gefreut haben. Seine Strategie, die Wirkung seiner Schule abzusichern und damit den Aufbruch in die Moderne zu unterstützen und über die Grenzen von Wien zu verbreiten, war aufgegangen. Aus diesem Grund nahm Wagner möglichst viele Studenten aus den Provinzen auf. Von insgesamt 191 Absolventen der Wagnerschule stammten 36 aus Böhmen und Mähren. Sehr viele. Zum Vergleich: Nur je ein Student kam aus Oberösterreich beziehungsweise Tirol. Der hohe Anteil an böhmisch-mährischen Studenten ist allerdings nicht unbedingt auf eine Vorliebe Wagners für diese Länder zurückzuführen, sondern eher auf die hohe Qualität der dortigen Fachschulen, die damals fast ausschließlich deutsch waren. Kotera selbst, der in Brünn geboren wurde, absolvierte 1890 die Deutsche Gewerbefachschule in Pilsen, bevor er 1894 sein Studium bei Wagner in Wien begann. 1898 wurde er Professor an der Prager Kunstgewerbeschule. Durch seinen Wechsel 1910 an die Akademie wurde sein Professorenposten frei und Kotera setzte seinen engen Freund Joze Plecnik als Nachfolger durch. Otto Wagner hielt Plecnik für seinen besten Schüler und wünschte ihn sich als Nachfolger an der Wiener Akademie. Und obwohl die Professoren dreimal primo et unico loco Plecnik nominierten, wurde dessen Berufung vom k. k. Kultusministerium wiederholt verhindert - wegen seiner slawischen Abstammung.

Jan Kotera, das sieht man an den präsentierten Zeichnungen und Fotos seiner Bauten, war ein Wagnerschüler par excellance. In der Ausstellung fällt auf: Ein Wagnerschüler zu sein war mit der Verpflichtung auf eine Wagnerschuledoktrin verbunden. Wie groß die Tendenz zur ästhetischen Stagnation war, wird am Werk von Kotera offensichtlich. Über den „Aufbruch in die tschechische Moderne“ selbst ist in der Ausstellung nichts zu erfahren. Was man auch nicht sieht: Die Bedeutung Koteras für die tschechische Moderne lag in dessen immenser kultur-organisatorischer Tätigkeit, nicht in dessen Bauten. Außerdem war Kotera Lehrer von vielen bedeutenden Architekten, die dazu beitrugen, dass der tschechische Funktionalismus in den 1930er-Jahren Weltniveau erreichen konnte. Die Bauten der Schüler von Kotera waren viel bedeutender als die des Wagnerschülers Kotera. Bei Otto Wagner war es genau umgekehrt: Seine Bauten waren bedeutender als die seiner Schüler.

Bemerkenswert ist, dass Masaryk, der Philosoph und ein kosmopolitischer Nationalist war, offensichtlich erkannt hatte, dass Koteras Fähigkeiten als Architekt doch nur von beschränkter Bedeutung waren. Als er zum Staatspräsidenten der neu gegründeten tschechoslowakischen Republik gewählt worden war und den Hradschin zu seinem Sitz bestimmt hatte, betraute Masaryk den Slowenen Joze Plecnik mit der Aufgabe, die Prager Burg zu einer „slawischen Akropolis“ umzugestalten. Die tschechische Moderne war schockiert, die Antimoderne noch mehr. Aber die Architekturhistoriker wissen es längst: Es war eine weise Entscheidung gewesen.

Die fantasielos übernommene und ordentlich installierte Kotera-Ausstellung bietet viel Wagnerschüler-Nostalgie und Genuss am Antiquarischen, kaum aber neue Einblicke und Erkenntnisse. Im Architekturzentrum herrscht gediegene Langeweile.

Überbordende Fantasie und Frühlingsstimmung hingegen herrschen im Kunsthistorischen Museum. Ein Archäologe (Wilfried Seipel, im Hause), ein Ornithologe (Ernst Bauernfeind, Naturhistorisches Museum) und eine Kunsthistorikerin (Liane Lefaivre, Universität für angewandte Kunst) haben sich im Bassano-Saal zusammengefunden, um einem lebenden Architekten so zu huldigen, als ginge es um die Epiphanie einer Vogelgottheit: Santiago Calatrava. Entstanden ist die erste Architekturausstellung in der Geschichte des Kunsthistorischen Museums. Sie heißt „Wie ein Vogel“. Es ist ein Fest der Skelette. Es ist surreal.

Vögel zwitschern, singen und schreien hier. Ein riesiger Kolibri flirtet mit einer Blume. Unterhalb des Screens mit den Kolibri-Großaufnahmen befinden sich Vitrinen mit Vogelskeletten: das Becken eines Straußes etwa; ein Steinadler aus dem Nachlass von Kronprinz Rudolf und allerlei Knochenvögel im Augenblick des Anflugs - „Meisterwerke der Natur und Taxidermie“, wie Kuratorin Lefaivre schreibt. Erstaunliche Apparate. Unübertreffliche Konstruktionen. Wie ein Calatrava.

Das Skelett eines Schwans schwebt, aufgehängt an dünnen Fäden, dahin, als wäre es unterwegs zu Leda. Präpariert wurde der fliegende Schwan speziell für die Calatrava-Ausstellung. Geil. Hoffentlich hat man nicht Zeus erwischt. Darunter, unter dem imaginären Flug des Knochenschwans, befinden sich, versenkt im Dämmerlicht einer Reliquienkammer, mehr als dreißig Modelle von ausgeführten oder projektierten Bauten des spanischen Architekten. Aufwendige Modelle, die weiß und fragil sind wie die Unschuld der Leda und so wirken, als handelte es sich tatsächlich um Lebendigkeit vortäuschende Meisterwerke der Taxidermie.

Beflügelt vom Besuch einer Calatrava-Schau in Athen, hatte der KHM-Direktor beschlossen, diese Ausstellung nach Wien zu bringen. Das Architekturzentrum lehnte ab. Also machte Seipel den Bassano-Saal frei für die fantasievoll adaptierte Calatrava-Schau. Das Gerücht, er sei Seipels Wunscharchitekt für die geplante unterirdische Erweiterung des Museums unter dem Maria-Theresia-Platz, wirkt dadurch verdächtig überzeugend.

Calatrava wird nicht vorgestellt, er wird zelebriert. Als einer, dessen Architektur auch zu den zoologischen Sammlungen des benachbarten Naturhistorischen Museums vortrefflich passen würde - vor allem in eine beide Museen vereinigende Seipel AG. Denn es erscheint tatsächlich als ökonomisch außerordentlich vorteilhaft, den unterirdischen Ausbau für beide Museen gemeinsam durchzuführen. Gleichsam mit einem Flügelschlag.

[ „Jan Kotera. Aufbruch in die tschechische Moderne 1871-1923“
bis 7.7. im Architekturzentrum Wien

„Santiago Calatrava. Wie ein Vogel“
bis 25.5. im Kunsthistorischen Museum ]

Falter, Mi., 2003.04.30

16. April 2003Jan Tabor
Falter

Abzüglich Stempelgebühren

Diesmal: späte Genugtuung für den 80-jährigen Architekten Joern Utzon und zwei Ausstellungen über den österreichischen Architekten Ernst A. Plischke (1903-1992).

Diesmal: späte Genugtuung für den 80-jährigen Architekten Joern Utzon und zwei Ausstellungen über den österreichischen Architekten Ernst A. Plischke (1903-1992).

Neunzehnhundertachtundneunzig war ein denkwürdiges Jahr für die Weltarchitektur. In Wien wurde ein bedeutender internationaler Architekturpreis erfunden, und in Kopenhagen feierte der wohl unterschätzteste Architekt des 20. Jahrhunderts seinen achtzigsten Geburtstag: Joern Utzon. Jetzt, endlich, wurde er mit dem Pritzker Price, der als der Nobelpreis für Architektur apostrophiert wird, ausgezeichnet.

Gäbe es einen Preis für Einfallslosigkeit der Preisrichter, dann hätten ihn 1998 die Juroren des österreichischen Friedrich-Kiesler-Preises verdient. Dafür, dass sie den mit Preisen aller Art bereits überhäuften Frank O. Gehry ausgezeichnet haben. Gehry im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Spektakel um das gerade fertig gestellte Guggenheim-Museum in Bilbao auszuwählen, war bloß eine fantasielose PR-Aktion für den österreichischen Neupreis. Utzon hat mit der Oper von Sydney eines der markantesten Bauwerke des 20. Jahrhunderts errichtet. Ohne seine Pionierleistung ist die ausgefallene Form und damit auch der riesige Erfolg des Museums in Bilbao nicht vorstellbar.

Die Oper von Sydney vollzog einen der wichtigsten Paradigmenwechsel in der Architekturgeschichte. Noch nicht ganz fertig, wurde die Oper von Sydney bereits zum Wahrzeichen eines ganzen Kontinents, des ganzen 20. Jahrhunderts. Schon bald nach Baubeginn 1957 wurde das Gebäude zum Gegenstand eines heftigen Kulturkampfes zwischen den linken Politikern, die den Bau initiiert hatten, und den rechten, die inzwischen in Australien an die Macht gekommen waren und ihn um jeden Preis verhindern wollten. Diese Auseinandersetzungen verursachten erhebliche Termin- und Finanzierungsschwierigkeiten und führten dazu, dass die Oper von Sydney zu dem wohl kompliziertesten Bauvorhaben des 20. Jahrhunderts werden sollte. Erzürnt verließ Utzon 1965 Australien für immer, de facto wurde er vertrieben. Seither hat er Australien nicht mehr betreten. Obwohl er auch andere bemerkenswerte Bauten errichten konnte - etwa das Parlamentsgebäude in Kuwait (1983) - wurde er kaum noch beachtet. Bis jetzt ist er eine Persona non grata der Architekturrezeption gewesen.

Die australische Politfarce hat eine austriakische Provinz-Reprise erfahren. 1998 gewann Otto Häuselmayer den internationalen Wettbewerb für ein Musiktheater in Linz. Nachdem im Sommer 2000 die Baubewilligung erteilt wurde, initiierte die FPÖ eine Volksabstimmung gegen den Bau. Sie endete mit einem Happy End für die Kulturbanausen: Das Volk stimmte gegen das Musiktheater. Wie einst in Australien. Bald gibt es Landtagswahlen in Oberösterreich. Die blauen Demagogen sind mittlerweile weg vom Fenster. Man sollte von Las Vegas, Sydney und St. Pölten lernen. Mit dem Musiktheater in Linz könnte es diesmal klappen. Bitte noch einmal probieren.

Neunzehnhundertfünfunddreißig wurde der Große Österreichische Kunststaatspreis gegründet. Der klerikal-faschistische Staat schuf sich damit ein wirksames Lenkungsinstrument für seine Kulturpolitik. Eine heute noch unbegreifliche kulturpolitische Weitsicht und Offenheit zeichnete jene Preisjuroren aus, die den ersten Großen Staatspreis an den Architekten Ernst A. Plischke verliehen hatten. Ausgerechnet Plischke.

Ernst A. Plischke, damals 32 Jahre alt, wurde international bekannt mit dem Bau des Arbeitsamtes in Wien-Liesing. Er galt als der einzige Architekt in Österreich, der sich konsequent zu den Prinzipien des Funktionalismus bekannte. In ihrer legendären Ausstellung „The International Style“ im Museum of Modern Art in New York 1932 nahmen Philip Johnson und Henry-Russell Hitchcock nur zwei Österreicher auf: Lois Welzenbacher und Plischke.

Die österreichische Regierung war bestrebt, international auch in den demokratischen Ländern anerkannt zu werden und als modern zu gelten. Dies dürfte der wichtigste Grund dafür sein, warum die Wahl auf Plischke fiel, obwohl er bis dahin keine Kirche gebaut hatte - in der Malerei und Bildhauerei gingen die Großen Staatspreise ausschließlich an religiöse Werke - und obwohl er zum Kreis der linken bzw. sozialdemokratischen Architekten um Josef Frank gehörte.

Die Staatspreis-Urkunde ist eines der Dokumente, die in der Ausstellung „E. A. Plischke. Das Neue Bauen und die Neue Welt, das Gesamtwerk“ zur Einsicht vorliegen, und beweist, dass der österreichische Staat auch in Anwandlung von Großzügigkeit kleinlich agierte: Dem Preisträger wurde gleich mitgeteilt, dass vom Preisgeld (2.000 Schilling) die Stempelgebühren abgezogen werden.

Im Frühjahr 1948 bat der damalige kommunistische Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka Plischke in einem Brief, nach Österreich zurückzukehren. Wenig später wurde Matejka abgesetzt und durch einen Bürokraten ersetzt, der die offizielle Emigrantenpolitik (Motto: „In die Länge ziehen“) wunschgemäß umsetzte. Plischke, der 1939 mit seiner jüdischen Frau Anna nach Neuseeland emigriert war, kehrte erst 1963 nach Wien zurück. Er folgte als Professor an der Akademie der bildenden Künste Clemens Holzmeister nach, der emeritiert wurde.

Die außerordentlich informative Plischke-Schau (Kurator: August Sarnitz) findet anlässlich des 100. Geburtstags von Ernst A. Plischke (1903-1992) statt. Sie wird durch die Ausstellung „Ernst Plischke als Möbeldesigner“ im Kaiserlichen Hofmobiliendepot ergänzt. Kuratiert wurde sie von Eva B. Ottillinger, die zusammen mit Sarnitz die hervorragende Plischke-Monographie bei Prestel herausgegeben hat. Die Plischke-Ausstellung ist schon deshalb interessant, weil das Hofmobiliendepot in der Andreasgasse eines der sehenswertesten Museen in Wien ist und weil der vortreffliche Umbau von 1998 von Alessandro Alvera, einem Plischke-Schüler, stammt.

Das Prunkstück der kleinen Plischke-Schau kommt aus den Sammlungen Ihrer Majestät der Königin von England. Es ist jener Schreibtisch, den Plischke für die Kronprinzessin Elizabeth 1947 entworfen hat. Es war das Staatsgeschenk der neuseeländischen Regierung zur Hochzeit der künftigen Regentin. Verarbeitet wurden die neuseeländischen Totara-, Puriri-, Mangeao-, Kauri-, Kohekohe-, Pukatea- und Rata-Hölzer.

Welch eine Holzpoesie! Wen wundert es da noch, dass Plischke sich nur mäßig begeistert auf den Weg zurück nach Wien machte, wo er seine Architektenbefugnis mühevoll erneuern lassen musste. Außer einem kleinen Zubau für eine Volksschule in Wien-Favoriten gab es für ihn keinen einzigen öffentlichen Bauauftrag.

Die Ausstellung „Ernst Plischke. Das Neue Bauen und die Neue Welt, das Gesamtwerk“ ist nur noch bis 20.4. in der Akademie der bildenden Künste (1., Schillerplatz 3) zu sehen.

Die Schau „Ernst Plischke als Möbeldesigner“ läuft bis 29.6. im Kaiserlichen Hofmobiliendepot (7., Andreasgasse 7).

Falter, Mi., 2003.04.16

19. März 2003Jan Tabor
Falter

Besuch in der alten Dame

Viele Veränderungen, einige Verbesserungen und keine nennenswerten Verschlechterungen: Der zweite Um- und Neubau der Albertina innerhalb von fünfzig Jahren ist gelungen, aber noch unvollendet.

Viele Veränderungen, einige Verbesserungen und keine nennenswerten Verschlechterungen: Der zweite Um- und Neubau der Albertina innerhalb von fünfzig Jahren ist gelungen, aber noch unvollendet.

Noch ähnelt die Albertina Lady Godiva: halb enthüllt, halb verhüllt. Noch sind die Rekonstruktionsarbeiten an den Fassaden nicht beendet. Die bereits enthüllte Hälfte der neu-alten Nobelherberge für feine Kunst ist die Seite zum Albertinaplatz hin. Hier fallen einige Veränderungen auf: Die ursprüngliche Fassade, die im Zuge des Umbaues von 1954 modernisiert - das heißt: teils abgeschlagen und teils neu gestaltet - wurde, wurde nun teils rekonstruiert und teils neu gestaltet. Rekonstruiert wurde, so tief es geht: bis zum Sockel, der ein Werk der Architekten des ersten Umbaues, Otto Nobis und Alfred Dreier, ist.

Der Umbau, der ein Wiederaufbau nach schweren Kriegsschäden von März 1945 war, kann als eine Aufstockung des Kellers bezeichnet werden. Ursprünglich steckten die beiden Kellergeschoße hinter einer langen Rampe, die zur Basteiterrasse führte, wo sich der Eingang befand. Um einem neuen Eingang direkt von der Straße aus Platz zu machen, wurde die Rampe abgetragen und durch eine kurze, steile Stiege ersetzt. Die beiden Kellergeschoße wurden freigelegt und zum Sockel gemacht: Aus dem drei Etagen zählenden Palais war ein „fünfgeschossiges Zinshaus“ geworden, wie Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder treffend bemerkt hat. Der neue Eingang wurde mit einem monumentalen Balkon aus Stein markiert, dessen Brüstung den Staatswappenadler darstellte: Damit sollte vermutlich symbolisiert werden, was Bert Brecht von der Kulturpolitik verlangte: Nicht die Kunst, der Zugang zur Kunst muss demokratisiert werden.

Nach dem Brand der Redoutensäle 1992 hatte die Republik 1993 einen Wettbewerb ausgeschrieben: In dem verwinkelten engen Gebäude sollte ein geräumiger Hochsicherheitstrakt samt Depot, Restaurierwerkstätten und Studienräumen untergebracht werden. Den schwierigen Wettbewerb gewannen die Architekten Erich G. Steinmayr und Friedrich H. Mascher mit einer kühnen Idee: Die Raumvolumina sollten unsichtbar in die Bastei auf der Burggartenseite verlegt werden.

1999 - die unterirdische Erweiterung war weitgehend fertig - wurde der Direktor gewechselt. In einem fünfstöckigen Zinshaus pflegt ein Mann wie Klaus Albrecht Schröder nicht zu residieren. Er proklamierte: Was rekonstruiert werden kann, wird rekonstruiert; was renoviert werden kann, wird renoviert; alles, was neu gemacht werden muss, darf, wenn es nicht anders geht, neu aussehen. Allerdings nur so weit neu, dass das Alte nicht gestört wird - das ist wohl ein Grund, weshalb mit der Neugestaltung der äußeren Erscheinung der Altmeister der österreichischen Postmoderne, Hans Hollein, beauftragt wurde. Der andere Grund ist die Befindlichkeit der edlen Förderer: Mit einem Stararchitekten lassen sich Sponsorengelder leichter auftreiben.

Nachdem sich Schröders Wunsch, die Rampe zu rekonstruieren, als unfinanzierbar erwiesen hatte, hat Hollein den Sockel postmodern barockisiert: Die rekonstruierte obere Altfassade samt einem alt-neuen Beletagebalkon wird von der Kellersockelfassade unten durch 14 mit Steinmanschetten umrahmte Okuli (Rundfenster) getrennt. Die horizontale Anschwellung in der Form eines abgerundeten Gesimses - ein alter barocker Trick - simuliert den Druck der Baumasse und versinnbildlicht so das Gewicht der Kunstinstitution Albertina. Vorläufig sieht alles vortrefflich gemacht aus, der Umbau ist aber noch nicht vollendet. Es fehle Geld, erklärt Hans Hollein, ein Sponsor habe abgesagt. Die monumentalen, aber zwecklosen Fenster aus den Fünfzigerjahren sollen unter einer homogenen Sandsteinverkleidung verschwinden, die durch schräg nach unten verlaufende Wellen geformt ist.

Die wichtigste Verbesserung für die Öffentlichkeit ist die Verlegung des Haupteinganges auf die Terrasse. Auch hier ist noch viel zu tun: Das Flugdach aus Titan fliegt noch nicht. Es gebe keine Schwierigkeiten mit der Konstruktion, sondern lediglich „offene Fragen bezüglich der Kosten- bzw. Herstellungsvarianten“, erklärt Hollein die Verzögerung. Das als Wahrzeichen der neuen Umstände vorgesehene Dachobjekt ist zwar völlig überflüssig, aber unverzichtbar: als Ersatz für den demolierten Staatsbalkon.

Die Albertina ist eine Architekturcollage. Der Umbau von 1954 war eine bemerkenswert qualitätsvolle Lösung. Dies wird nicht nur dadurch anerkannt, dass wesentliche Bestandteile erhalten geblieben sind. Die Architektur des neuen Foyers (Steinmayr/Mascher), zu dem der nun verglaste Innenhof gehört, sowie die des Restaurants (Arkan Zoytinnoglu) und des Museumsshops (Callum Lumsden) schließen bewusst an die Ästhetik der Fünfzigerjahre an.

Eine Veränderung, die keine Verbesserung ist, ist eine Verschlechterung, meinte einst Adolf Loos. Die Architekten des zweiten Umbaues, Schröder inbegriffen, haben in und an der Albertina zahlreiche kleine und fundamentale Veränderungen vorgenommen. Keine nennenswerte Verschlechterung, nirgends. Lauter Verbesserungen. Ein neuer, brauchbarer und durch die beinahe labyrinthische Gliederung der vielen mittelgroßen Räume ungemein spannender Ausstellungssaal im historischen Gebäude. Der Basteisaal ist mit Abstand der beste unter den zahlreichen Ausstellungsräumen, die in Wien in letzter Zeit neu errichtet wurden.

Das Einzige an und in der neuen Albertina, worüber man fast so vortrefflich wie über den Geschmack streiten könnte, sind die Farben. Das neumodische Dunkelbraun der Eichenholz-Parkettböden in den Ausstellungssälen. Das altmodische Damenunterwäsche-Rosarot der Innenhoffassade. Das Jugendstilmuster der Marmorbodenbeläge. Die synthetische Buntheit der seidenen Wandbespannungen. Ästhetik für jedermann, strapazierbare Eleganz: ein Ausstellungshaus für den Massenandrang. Ab jetzt sollen, Schröders Ehrgeiz folgend, jährlich 800.000 Füße durch die Albertina trampeln.

Man könnte meinen, aus der vornehm verstaubten Graphischen Sammlung sei ein Disneyland der Kunst geworden. Man kann aber auch mit Brecht vermuten: Klaus Albrecht Schröder ist in Wirklichkeit ein heimlicher 68er, der nicht anders kann, als die Massen und die Kunst zusammenzuführen. In Wirklichkeit hat er die Albertina demokratisiert. Der neue Eingang ist über das Massenverkehrsmittel Rolltreppe bequem erreichbar.

Falter, Mi., 2003.03.19



verknüpfte Bauwerke
Albertina

19. Februar 2003Jan Tabor
Falter

Scheunen im Nebel

Diesmal: von anonymen Bauten und anonymisierten Baumeistern

Diesmal: von anonymen Bauten und anonymisierten Baumeistern

Ach, Namen - Schall und Rauch. Steinmayr und Mascher. Zeytinoglu, Abraham und Hadid. Pritzker und Hollein. Do & Co. Im Eröffnungswerbeprospekt der Albertina, die am 14. März eröffnet werden wird, lesen wir alte und lernen wir neue Architektennamen kennen. Unter dem Motto „Open for art“ erfahren wir Wissenswertes über das KunstMuseumPalais, wie die Graphische Sammlung Albertina jetzt heißt. Dass der Museumsshop von dem britischen Designer Callum Lumsden gestaltet wird, das Restaurant von Arkan Zeytinoglu, einem „Schüler von Raimund Abraham und Zaha Hadid“, und der Eingangsbereich mit „seinem spektakulären Flugdach aus Titan“ vom „großen österreichischen Architekten und Pritzker-Preisträger“ Hans Hollein.

Das war zu befürchten. Anlässlich des Wettbewerbs für die Eingangsgestaltung im Frühjahr 2001 äußerte ich im Falter Bedenken, mit dieser Aufgabe jemanden anderen als die Umbauarchitekten zu beauftragen: „Wer immer den Eingangsbereich gestaltet, der setzt sein Logo, seinen Namen vor die ganze, ungemein intensive, von außen aber nicht sichtbare Arbeit von anderen. Das aber gehört sich nicht.“

Es gehört sich nicht, aber es geschieht. Mit einer Verschlagenheit, die in der Architekturgeschichte ohne Beispiel ist. Die beiden Architekten, die mit ihrem genialen Entwurf 1993 den Architekturwettbewerb gewannen und das Gros der Umbauarbeiten zu verantworten haben, werden nun nicht einmal namentlich erwähnt. Vielleicht deshalb nicht, weil sie keine Stararchitekten sind, womöglich nicht einmal Schüler von Stararchitekten. Der Text im Prospekt ist so formuliert, dass man annehmen muss, Hollein sei auch der Umbauarchitekt.

Wir sind in Wien. Diese Perfidie hat Methode. In der PR-Lobhudelei auf Klaus Albrecht Schröder, den „Mann mit Visionen“ (profil), erfahren wir, dass Arkan Zeytinoglu, der das „weitläufige Restaurant mit Schanigarten“ entworfen hat, „Schüler der Stararchitekten Raimund Abraham und Zaha Hadid“ sei. Wer die Albertina aber tatsächlich umgebaut hat, bleibt ungesagt. Schröder ist es nicht. Er und seine Stars haben die Schlussverschönerungen vorgenommen. Für die architektonische Substanz waren Erich G. Steinmayr und Friedrich H. Mascher zuständig.

Vom „AAA“, einer Abteilung des Architekturzentrums Wien (Az W), wurde ebenfalls unter dem Titel „AAA“ die Kunstpostkartenedition „Archicard Edition 01“ herausgegeben. Das erste „AAA“ bedeutet „Architektur Archiv Austria“, das andere steht für „Anonyme Architektur Austria“. Die Edition Nummer eins enthält 16 Aufnahmen von je einem meist professionellen Architekturfotografen. AAA also: von Mischa Erben die eingerüstete Peterskirche in Wien, von Rupert Steiner Scheunen im Herbstnebel, von Margherita Spiluttini Getreidelagerhäuser in der Morgenröte, von Pez Hejduk Veitschi überwuchertes Bauwerk, von Gerold Tagwerker und A.R. Neubau eine beinahe surreale Aufnahme eines Schulspeisesaals aus den Fünfzigerjahren. Et cetera.

Was ist anonym?, lautete eine der Fragen, die man sich in einer Diskussion anlässlich der Veröffentlichung gestellt hat. Hauptsächlich stritt man über die Bedeutung der Architekturfotografie für die Rezeption der Architektur. Diese sei enorm und nicht unbedingt positiv, weil das, was auf den Fotos abgebildet ist, keine Architektur sei. Das Betrachten der Abbilder von Bauwerken in Zeitschriften habe längst die Auseinandersetzung mit den tatsächlich gebauten Bauwerken ersetzt.

„Ist das Gebäude wirklich fertig? Sind Müllcontainer, Baufahrzeuge, Zäune, Schutt etc. entfernt? Sind Bautafeln und Zu-vermieten-/Zu-verkaufen'-Schilder entfernt? Ist das Objekt (vor allem die Fenster!) gereinigt? Ist der Rasen grün und die übrige Bepflanzung in Ordnung? Stehen Blumen bei Bedarf zur Verfügung?“ Georg Schöllhammer, der die Diskussion moderierte, las eröffnend und anonym die Checkliste für Architekten vor, die ein Architekturauftragsfotograf auf seiner Website veröffentlicht hat. Man kann sich also vorstellen, welche Hürden überwunden werden müssen, um zeitschriftentaugliche Fotos liefern zu können. Ohne diese Fotos in den Hochglanzzeitschriften blühe dem Architekten ein Dasein am Rande der Anonymität.

An der oben erwähnten AAA-Diskussion nahm übrigens auch Gerold Tagwerker teil. Auch er fotografiert Architektur, aber völlig anders als professionelle Architekturfotografen. Er ist bildender Künstler. Er muss sich nicht darum sorgen, ob die Fenster gewaschen sind. Ihn bewegt das Erstarrte in architektonischen Strukturen, nicht die Architektur als solche. Unter dem Titel „Urban studies - Chicago“ sind jetzt seine fotografischen Strukturerkundungen erschienen: Hochhausfassaden ohne Adressen, ohne Baujahr, ohne Namen, kommentarlos. Strukturen von Formen, nicht Formen per se. Anonymitäten per Anhäufungen. Die Fotos sind derart präzise, so gnadenlos wirklich, dass sie kaum die Chance haben, in einer wichtigen Architekturfachzeitschrift veröffentlicht zu werden. Das kann man von den AAA-Cards nicht behaupten. Mindestens die Hälfte davon sind Kitsch der A-Klasse.

Falter, Mi., 2003.02.19



verknüpfte Publikationen
Urban studies - Chicago

29. Januar 2003Jan Tabor
Falter

Das kleine Haus

Diesmal: Wie es Österreich fast unter die Top Ten geschafft hätte, und was man von Japan lernen kann

Diesmal: Wie es Österreich fast unter die Top Ten geschafft hätte, und was man von Japan lernen kann

Kürzlich wurde von der deutschen Internetpublikation BauNetz die „Rankingliste der 100 international wichtigsten Architekten“ für das Jahr 2002 veröffentlicht. Die Neureihung bringt dem Büro Ortner und Ortner eine schöne Bescherung: das Vorrücken von Rang 15 auf Rang 11. Nur um eine einzige Stufe verfehlen diesmal die Wiener Architekten einen der Ehrenplätze unter den Top Ten of the World's Best, zu denen solche Titanen des zeitgenössischen Bauens wie Herzog/de Meuron (Platz 1), Jean Nouvel (2), Norman Foster (3), Frank Gehry (4) oder Rem Koolhaas (9) gehören. Immerhin verdunkeln Ortner und Ortner den Glanz von Superstars wie Van Berkel und Bos (12), Zaha Hadid (13), Coop Himmelb(l)au (29), Richard Rogers (46), Hans Hollein (50), Massimiliano Fuksas (63) oder Daniel Libeskind (70).

Libeskind erst der siebzigste, Ortners hingegen bereits elfte! Wie kommt so etwas zustande? Einfach: BauNetz sortiert die Bedeutung nach „dem Umfang der Veröffentlichungen in den wichtigsten Fachzeitschriften“. Ein derart obskures Ranking, das nicht einmal News zustande bringen würde, könnte so gedeutet werden: Entweder sind die wichtigsten Zeitschriften schlecht oder die einen Architekten haben gute, die anderen schlechte PR-Mitarbeiter, die entweder gute oder schlechte Architekturfotografen zu beauftragen pflegen. Denn ohne gute - das heißt: fachzeitschriftengerecht arrangierte und digital bearbeitete - Fotos kommt heutzutage kein gutes Bauwerk in eine wichtige Fachzeitschrift hinein. Allerdings ist es nicht einfach und vor allem nicht billig, die digitalen Metamorphosen der Qualität durchzuführen. Erkenntnis: Bei der Liste handelt es sich um einen Rankingmix aus Public Relations und Farbfotos.

Mittlerweile ist auch News mit seinem neuesten Ranking der „1000 wichtigsten Österreicher“ herausgerückt, sodass wir die Frage stellen können, wie es um die österreichischen Architekten und ihre gesellschaftliche Bedeutung in Österreich selbst steht. Nicht besonders gut. Lediglich sechs haben es unter die tausend Wichtigsten geschafft. Der Erste unter ihnen ist Architektur-Grandseigneur Hans Hollein. Er baut und baut und baut, und dennoch verschlechtert er sich - wenn auch nur geringfügig: von Platz 149 auf Platz 152. Zweiter ist Gustav Peichl (News-Epithaph: „Architektur als Lebenswerk“), der sich eindrucksvoll von Platz 403 auf Rang 377 verbessern konnte. Detto Roland Rainer („Architektur-Doyen“): von 547 auf 506. Detto der „Architektur-Star“ Wolf D. Prix: von 664 auf 590. Neu aufgenommen und gleich um einen Platz vor Prix gereiht wird der „Stonehaus-Bauer“ Günther Domenig: auf den Platz 589. Last and least unter den sechs: Wilhelm Holzbauer, „Herr der Architektur“. Er wird heuer um vierzig Punkte besser dastehen als 2002, als er Platz 764 belegte. Obwohl die Auswahl der News-Darlinge des Bauens die Schlussfolgerung geradezu aufzwingt, diese basiere auf dem Informationsstand von 1972, trifft das Gegenteil zu. Anders als NetzBau bewertet News nicht rück-, sondern vorwärts gewandt. Das Auswahlprinzip heißt: „Wer 2003 wichtig ist, über wen wir sprechen werden.“

Als es noch keine Architekturmagazine mit auf Hochglanz computermanipulierten Fotos gegeben hat, ist Architektur anders rezipiert worden. Im Jahr 1930 hielt Adolf Loos einem Vortrag zum Thema „Moderne Architektur“. Er hielt ein postkartengroßes Schwarz-Weiß-Foto seines gerade fertig gestellten Landhauses Khuner am Semmering hoch und rief leidenschaftlich aus: „Die Häuser der Zukunft werden nicht aus Eisenbeton sein, die man, um sie fortzuschaffen, mit Ekrasit sprengen muss. Das Haus der Zukunft ist aus Holz. Wie die kleinen japanischen Häuser. Es hat verschiebbare Wände! Moderne Architektur ist: japanische Kultur plus europäische Tradition.“ Wer das luxuriöse, tirolerisch aussehende Blockhaus mit flachem Satteldach kennt, der muss sich wundern, dass Loos es in Beziehung zur japanischen Architektur setzte.

Die japanische Architektur der Gegenwart erfreut sich derzeit überaus großer Beliebtheit. Von der denkträgen Postmoderne und dem ausgelassenen Dekonstruktivismus weitgehend unberührt, wird sie von der Bestrebung geprägt, europäischen Individualismus und japanische Selbstbeherrschung zur Synthese zu bringen. Auf diese Weise entstehen Bauwerke, mit denen präzise und einfühlsam auf ihre Umgebung reagiert wird, die sich aber durch den gänzlichen Verzicht auf historische Mimikry und örtliche Anpassungen auszeichnet. Traditionsgemäß wird die Materialität von Baustoffen sowie der Dualismus von Offenheit und Geschlossenheit zelebriert, wobei ein gelassener Umgang mit Formen und Symbolismen (einschließlich des allseits beliebten Hightech) gepflogen wird.

Es kann kaum eine bessere Illustration für das Festhalten der japanischen Architekten am Zen-Buddhismus geben als die kleine Ausstellung im Wiener Zumtobel Lichtforum in Wien mit den „recent works“ von Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa. Drei Bauvorhaben werden hier vorgestellt: ein Kunstmuseum in Kanazawa, ein Theater in Almare und das Glas Centre in Toledo. Die Modelle und die Fotos, durch die die Projekte vorgestellt werden, sind aufs Minimale reduziert - Weiß in Weiß. Es fehlte nicht viel, und es wäre überhaupt nichts mehr zu erkennen.

Die Grundideen sind immer die gleichen und gleich einfach, obwohl die Aufgaben komplex sind. Für den Grundriss wird eine geometrische Grundfigur wie Kreis oder Viereck gewählt, ihre Fläche wird durch Raster aufgeteilt, und in das Raster werden jene Räume als voneinander getrennte viereckige Schachteln gesetzt, die man braucht. Um die Grundrissfigur wird eine transparente Wand gezogen, aus der dann die Innenräume unterschiedlich hoch herausragen.

Kazuyo Sejima hat 2002 an der Sommerakademie in Salzburg unterrichtet und wurde mit dem Salzburger Scamozzi-Architekturpreis ausgezeichnet. Wenn man sich beeilt, kann man in der Ausstellung „45 unter 45 - Junge Architektur aus Japan“ ein anderes Bauwerk von Kazuyo Sejima kennen lernen: Ihr „Kleines Haus“ in Tokio zählt zu den besten der hervorragend ausgewählten 45 Arbeiten. Symptomatisch - auch im Sinn der Definition von Adolf Loos - ist, dass viele der in der Ausstellung vorgestellten Architekten und Architektinnen (immerhin 12 aus 45) zumindest zeitweise auch in Amerika oder in Europa studiert beziehungsweise gearbeitet haben.

Falter, Mi., 2003.01.29

08. Januar 2003Jan Tabor
Falter

Hart wie Hadersdorf

Neun Architekten sollen eine Mustersiedlung bei Wien errichten. Die Vorgaben sind grausam einfach: Es darf nur Beton verwendet werden.

Neun Architekten sollen eine Mustersiedlung bei Wien errichten. Die Vorgaben sind grausam einfach: Es darf nur Beton verwendet werden.

Adolf Krischanitz hat eine Obsession: das Mustergültige. Neuerdings arbeitet er am „Projekt Mustersiedlung Wien“. Darunter ist eine Gruppe von zwölf Häusern zu verstehen, die „weder Einfamilienhaus noch Geschoßwohnungsbau sind, ohne jedoch eine Reihenbebauung zu sein“ - also Häuser, die etwas dazwischen oder beides zusammen sind. Krischanitz nennt die kompakt aneinander gedrängte Doppelreihe von Häusern altmodisch „Villenkolonie“. Die „stille Sehnsucht nach dem Einzelhaus“ soll mit dem sparsamen Umgang mit der Baulandschaft vereint werden - und das auf höchstem architektonischem Niveau. Vorzeigbar und vorbildlich von allerbesten Architekten erdacht, entworfen und erbaut. Die neue Mustersiedlung in Hadersdorf bei Wien ist als temporäre Bauausstellung konzipiert: Nach deren Fertigstellung sollen die Häuser mehrere Monate lang zu besichtigen sein, erst nachher können sie gekauft werden. Hoffentlich geht es Krischanitz dabei nicht wie seinem Vorbild Josef Frank vor siebzig Jahren.

Adolf Krischanitz' Leidenschaft dürfte 1984/1985 entstanden sein. Damals renovierten er und Otto Kapfinger - mustergültig für den Umgang mit der klassischen Moderne - eine der bedeutendsten Vorzeigesiedlungen der Architekturgeschichte: die Werkbundsiedlung in Wien. Von Josef Frank initiiert und geplant, wurde sie zusammen mit weltberühmten Architekten wie Rietveld, Loos, Hoffmann, Schütte-Lihotzky, Neutra, Häring oder den Brüdern Luçart 1932 errichtet. Die siebzig eingerichteten Häuser konnten besichtigt und erworben werden. Verkauft wurde ein einziges Haus - das des damals noch kaum bekannten Wiener Architekten Oskar Haerdtl.

1988 hat Krischanitz die Architekten Jaqcues Herzog/Pierre de Meuron aus Basel und Otto Steidle aus München eingeladen, gemeinsam in Wien-Aspern die Siedlung Pilotengasse zu bauen. Sie zählt zu den anspruchsvollsten in Wien, in Österreich, in Europa. Bei dem neuen Experiment ist Steidle wieder dabei. Mit dem Haus Nummer 4 legt er einen ungemein ausgeklügelten Entwurf von Wohnungen vor, die von „unterschiedlicher Mentalität der Räume“ ausgehen und über drei Geschoße reichen. Im Video-Interview nennt Steidle den anderen Schwerpunkt bei diesem Krischanitz-Projekt: die allgemeine Sehnsucht nach Leben im Eigenheim und ihre Folgen - was in Deutschland rund zwei Millionen Einfamilienhäuser ergeben würde. Aneinander gereiht würden diese die Strecke von München nach Hamburg und zurück säumen.

Krischanitz' neue Mustersiedlung wird nun unter dem rätselhaften Titel „9=12. Neues Wohnen in Wien“ im Architektur Zentrum Wien vorgestellt. Die Ausstellung ist klein, spröde und wirkt grausam, weil das gänzlich aus Beton gegossene Architekturmodell, das im Mittelpunkt der Schau steht, wie die archäologische Rekonstruktion einer antiken Nekropolis wirkt. Nicht zuletzt wegen des Hauses Nummer 3 von Hans Kollhoff (Berlin), das wie ein antiker Kleintempel oder ein antikes, tempelartiges Grabmal aussieht. Der Modell-Hang ist aus Beton, ebenso wie die zwölf prototypischen Einzelhäuser, die demnächst in einem Zersiedlungsgebiet im Weichbild Wiens von neun ehrgeizigen Architekten - ebenfalls zur Gänze aus Beton - errichtet werden sollen. Daher die ehrgeizig von den Mathematikregeln abweichende Gleichung 9=12 im Titel. Sie ist dennoch falsch, weil die mitarbeitende Grüngestalterin Anna Detzlhofer zur erlesenen Männerrunde nicht hinzugezählt wird, obwohl sie ein überaus interessantes Konzept vorgelegt hat. Sie darf aber mitreden - in einem der zehn Interviewvideos. Für die Gestaltung der Freiräume auf dem 4100 Quadratmeter großen Baugrundstück am südexponierten Hang in der Nähe der Westbahn hat sie sich am Camouflage-Design orientiert: Auf dem Grünraum-Plan sieht das dann so aus, als wären aus einer Tarnplane zwölf viereckige Löcher ausgeschnitten.

Die Ausstellung im Architektur Zentrum besteht aus drei Teilen: aus dem grauenvollen Großmodell; aus Schautafeln mit Schnitten, Grundrissen und Kleinmodellen; und aus einer Doppelreihe von Monitoren. Die Videos, die da zu sehen sind, geben Auskunft darüber, wie die Architektenmänner die harte Nuss knacken wollen: Es gilt, das unbehagliche Baumaterial Beton bekömmlich zu machen für die Romantiker des gediegenen Wohnens im Grünen. Das harte Experiment wird von der Zementindustrie finanziert. „Das Projekt ist grausam“, gesteht der Zürcher Architekt Roger Diener in seinem Videoauftritt, meint damit aber nicht den vorgeschrieben Baustoff Beton, sondern die grausam einfachen Bedingungen, die so wenig komplex sind, dass man sich alles ausdenken kann, ohne auf irgendwelche technischen Hilfsmittel zurückgreifen zu müssen. Den Baustoff Beton lobt Diener über alles, er schätzt dessen „Eindeutigkeit, die Direktheit seiner Erscheinung“.

Das Projekt mag grausam einfach sein und seine Präsentation grausam erscheinen. Sobald man sich die Zeit nimmt - viel Zeit übrigens, um sich in die meist ungemein originellen Wohnungskonzepte einzudenken und sich die gescheiten Aussagen der teilnehmenden Architekten in den vortrefflichen Videoaufnahmen von Othmar Schmiderer anzuhören -, wird eines klar: „9=12“ ist die interessanteste Ausstellung, die bisher im Architektur Zentrum Wien zu sehen gewesen ist. Und die lehrreichste: Sie stellt Krischanitz' bisher härtestes Architekturexperiment vor. Daher sollte man die Werkvorträge der neun beteiligten Architekten nicht versäumen.

Falter, Mi., 2003.01.08



verknüpfte Bauwerke
Mustersiedlung 9=12

23. Oktober 2002Jan Tabor
Falter

No ethics, only aesthetics

Noch nie war die Architekturbiennale in Venedig so langweilig und reaktionär wie heuer. Im Josef-Hoffmann-Pavillon aber erlebt man die wahre Qualität des Österreichischen.

Noch nie war die Architekturbiennale in Venedig so langweilig und reaktionär wie heuer. Im Josef-Hoffmann-Pavillon aber erlebt man die wahre Qualität des Österreichischen.

Es empfiehlt sich, sich dem österreichischen Beitrag für die Architekturbiennale in Venedig von hinten zu nähern. Man geht über die Viale Trento durch die Giardini pubblici, biegt ins Arbeiterviertel S. Giuseppe ab und überquert die Brücke vom Rio dei Giardini. Von hier aus sieht man hinter der hohen Parkmauer üppiges Gebüsch, aus dem ein verglastes Eck des österreichischen Pavillons herausragt. Ist man einmal drinnen, hat man von dort aus - dank Heidulf Gerngross, der hier auf drei Ebenen seine Privatgemächer eingerichtet hat - einen herrlichen Ausblick auf diese entlegene Gegend, in die sich kaum ein Tourist verirrt.

Doch zuvor steht eine Entscheidung. Wenn man umsonst in die Biennale-Giardini gelangen will, kann man jene hölzerne Leiter benützen, die als Zugang zu einem an der Kaimauer festgemachten Boot dient. Über die Sträucher sind rhythmisch-kunstvoll gelbe Holzstangen gestreut. Architekt Rainer Köberl wollte die Mauer hier öffnen (insofern wäre ein illegaler Eintritt durchaus im Sinne Köberls) und die dem österreichischen Pavillon beigefügten Zubauten beseitigen. Die Denkmalschutzbehörde von Venedig hat dies untersagt, sodass Köberl eine Ersatzstrategie entwickeln musste. Die Stangeninstallation draußen ist ein räumliches Abbild seiner unerfüllbaren Absicht.

Wer die Biennale legal betreten will, löst beim Haupteingang eine Eintrittskarte für zwölf Euro. Auch in diesem Fall empfiehlt es sich, gleich in den österreichischen Pavillon zu gehen, hier den Rundgang zu beginnen und zu beenden. Denn die wahre Qualität des Österreichischen erschließt sich erst am Ende des anstrengenden Weges durch die Weltausstellung des wahren Bauens. Dies ist die Architektur-Biennale der Superlative: NEXT, l'8a. Mostra Internazionale di Architettura, Venezia, Direttore Deyan Sjudnic. Schlicht NEXT. Eine Superschau: ordentlich, klar, üppig und unverschämt eindeutig. No ethics, only aesthetics. Sonst nichts.

Noch draußen vor dem Tor ins Arsenal, wo sich die exklusive Hauptschau befindet, kommen mir zahlreiche österreichische Baukunstbummler entgegen, die bereits drinnen gewesen sind. Ihre Augen strahlen. Sie sagen: Dies sei die beste, schönste, ordentlichste, verständlichste Architekturbiennale seit langem. Nichts sei übrig geblieben vom Chaos von vor zwei Jahren in der Biennale mit dem 68er-Titel „Città: less aesthetics, more ethics“. Manche sagen: super. Einige sagen: Wir Österreicher sind super vertreten: Hollein, Coop Himmelb(l)au, Podrecca, Piva, Baumschlager und Eberle sowie Delugan und Meissl.

Draußen noch, vorm Arsenal-Tor, trefe ich Elke Meissl-Delugan und Roman Delugan. Jene zwei jungen Wiener Architekten, die souverän das schwer erreichbare Gleichgewicht von architektonischer Qualität und kostengünstiger Massenhaftigkeit im sozialen Wohnbau herzustellen wissen. Ich gratuliere. Trösten soll ich sie, sagen sie. Sie wissen nicht, was sie hier zu suchen haben. Außerdem sind sie die Einzigen ohne Modell.

Drinnen: Man versteht Delugan-Meissl sehr rasch sehr gut. Direttore Sjudic hat seine Staransammlung in elf typologische Bereiche aufgeteilt. Die Reihe beginnt mit „Wohnen“, wobei die Wohnbauprojekte für den Wienerberg von Delugan-Meissl die ersten Exponate sind. Und die einzigen, die sozial relevante Architektur repräsentieren. Keine Kindergärten, Schulen, Altersheime, Krankenhäuser. In diesem Festival der Großkapitalknechte sind Delugan-Meissl tatsächlich fehl am Platz.

„Wohnen“: neben Küstenvillen, Villen für chinesische Neureiche neben der Großen Mauer oder einem Penthaus auf einem Manhattan-Wolkenkratzer auch die kleinstadtartige Villa eines Ölscheichs, die durch zwei Aspekte auffällt: durch einen Tiergartengraben mit Giraffen, Löwen, Pferden und Hirschen im Modell. Und durch eines der vielen Schlafzimmer - wohl nur, weil es von John Pawson entworfen wurde. Man begreift: Dieses Bauwerk wird nur gezeigt, weil Pawson sonst nichts zu zeigen hätte außer seinen Entwürfen für Calvin Klein.

Dieses Globalkapitalarchitekturnirwana ist, was die Macht und die Vorstellungen der Developer und ihrer Architekten betrifft, die wahrhaftigste Biennale aller Zeiten. Sie ist die verlogenste und reaktionärste, wenn man sich die Wirklichkeit in der Welt, auch in der Welt des wirklichen Bauens, anschaut. Sie ist auch die bisher langweiligste, weil hier keine jungen Architekten zugelassen wurden. Es ist eine Antiquitätenmesse für Architekturmodelle.

Zum Glück gibt es die nationalen Pavillons mit ihren nationalen Kommissären. Die meisten dürften an The next world of Sjudic nicht so recht glauben. Überraschenderweise zählt auch Dietmar Steiner zu ihnen. Mit seiner verrückten Nominierungsmischung aus drei lebenden Architekten und einem toten Architekturtheoretiker, Jan Turnovsky, und dem verrückten Titel „Integrazione. Denn Wahnsinn braucht Methode“ hat Steiner Glück. Gratulation. Der österreichische Pavillon ist der erfolgreichste (beste, schönste, körperlichste).

Die Besucher kehren hier gern ein und verweilen lang. Sie ruhen sich in unserem nationalen, von Nelo Auer üppig bepolsterten und von Gerngross und Köberl mit weichen Sitzgelegenheiten reichlich bestückten Pavillon ausgiebig aus. Er ist der heimeligste. Man spürt es hier am eigenen Körper, wie tief die Fremdenverkehrsmentalität ins Unterbewusstsein des Österreichischen vorgedrungen ist.

Falter, Mi., 2002.10.23

11. September 2002Jan Tabor
Falter

„Biedermeier-Jugendstil“

Das Jüdische Museum erinnert an Ernst Epstein, der als Baumeister das Looshaus errichtete und als Architekt viel zu wenig bekannt ist.

Das Jüdische Museum erinnert an Ernst Epstein, der als Baumeister das Looshaus errichtete und als Architekt viel zu wenig bekannt ist.

Der Wiener Baukünstler Loos ist weltberühmt, den Wiener Baumeister Epstein kennen nur Spezialisten. Ich kennen ihn seit dem 17. Oktober 1968, dem dritten Tag meines Aufenthalts in Wien. Für Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei wie mich hatte die hilfsbereite amerikanische Church of Christ in ihrer Wiener Dependance in der Schleifmühlgasse eine Herberge errichtet. Gegenüber, auf der Schleifmühlgasse 3 und 5, fielen mir sogleich zwei Jugendstilhäuser auf, die - verglichen mit dem Prager Jugendstil, der an Frankreich orientiert war und daher auch zu einer blumenhaften Ausgelassenheit tendierte - von eigenartig gelassener Eleganz waren. Als wären sie statt dem Barock dem Klassizismus verpflichtet, einer Abart der Moderne, die man „Biedermeier-Jugendstil“ nennen und der man auch das Frühwerk von Loos, das Haus am Michaelerplatz etwa, zuschlagen könnte.

Es waren nicht nur die Bay Windows, die ersten wirklichen Bay Windows, die ich je sah. Ich bewunderte vor allem die schräg gestellten Innenfenster, die in der engen Gasse den bestmöglichen Ausblick und die bestmögliche Beleuchtung der Wohnzimmer gewährleisten. Als ich die Häuser betrat, staunte ich - Eleganz und Gediegenheit sondergleichen: das Dekor fast abstrakt und stark auf Materialwirkung bedacht, Gänge mit Oberlicht, die Wände mit Marmorplatten getäfelt. Kürzlich ließ Georg Kargl, der sich im mittlerweile unwirtlich und schmuddelig wirkenden Epstein-Haus in der Schleifmühlgasse Nummer 5 mit seiner Kunstgalerie niedergelassen hat, die Marmorplattenumrahmung der Erdgeschoßlokale reinigen. Jetzt strahlt das Portal wieder honigbraun und lässt erahnen, wie schön die Häuser früher waren; und bezeugt, wie stark der Einfluss von Loos auf Epstein war.

Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und verwandtschaftlichen Verflechtungen in Wien um 1909/10 waren furchtbar kompliziert, aber ungemein fruchtbar. Karl Kraus, dessen wohl engster Freund Adolf Loos war, hatte einen Cousin, der Ernst Epstein hieß und Baumeister war. Obgleich nicht akademisch ausgebildet, entwarf er auch rund hundert, allesamt gediegene Häuser, von denen etwa ein Dutzend auch architekturgeschichtlich bemerkenswert, aber leider wenig bekannt sind.

Loos und Epstein errichteten gemeinsam eines der wichtigsten Bauwerke der Wiener Moderne, das so genannte „Looshaus“ am Michaelerplatz, vormals Goldman & Salatsch, später, nach der Arisierung im Jahr 1938, Opel & Beyschlag. Nach 1945 befand sich dort ein Sportartikelgeschäft, später stand das Haus, das inzwischen mehrmals umgebaut und ziemlich lädiert ist, lange Zeit leer.

Mittlerweile gehört das berühmte Bauwerk der Raiffeisen Bank, die es von dem vortrefflichen Loos-Biografen Burkhardt Rukschcio hat rekonstruieren lassen - originalgetreu und penibel bis ins letzte Detail. Bis auf eine Kleinigkeit: die Aufschrift GOLDMAN & SALATSCH an der Fassade. Stattdessen ließ die Bank in originalgetreuen eleganten Blechbuchstaben ihren eigenen Firmennamen anbringen und beansprucht so für sich das Verdienst der beiden mährisch-jüdischen Schneider, die den Mut hatten, dieses revolutionäre Bauwerk errichten zu lassen.

1938, kurz nach dem Anschluss, nahm sich Ernst Epstein das Leben.

[ Die Ausstellung „Ernst Epstein (1881-1938).
Der Bauleiter des Looshauses als Architekt“ ist bis 27.10. im Jüdischen Museum (1., Dorotheergasse 11) zu sehen. ]

Falter, Mi., 2002.09.11

21. August 2002Jan Tabor
Falter

Alpenschauen am Kanal

Das umgestaltete IBM-Gebäude bescherte dem Donaukanal und dem Schwedenplatz nicht nur eine großstädtische Note, sondern auch einen Blick auf die Alpen. Dort oben wird derweil immer noch viel zu viel gebaut.

Das umgestaltete IBM-Gebäude bescherte dem Donaukanal und dem Schwedenplatz nicht nur eine großstädtische Note, sondern auch einen Blick auf die Alpen. Dort oben wird derweil immer noch viel zu viel gebaut.

Obwohl er für ihn nichts entworfen hat, ist der Schriftsteller Franz Schuh dem Architekten Rudolf Prohazka dankbar. Schuhs Dankbarkeit ist gemeinnützig. Es ist die Dankbarkeit eines weltoffenen Innenstadtbürgers, der das Zeitgemäße nicht verachtet und das Überlieferte schätzt. Es ist die Verbundenheit eines urbanen Anrainers. Schuh wohnt am Franz-Josephs-Kai und sitzt gern im Schanigarten des Restaurants Salzgries. Von da und von dort aus und unterwegs dazwischen hat er die wundervolle Verwandlung des wohl hässlichsten ins wohl interessanteste zeitgenössischen Gebäude am Donaukanal beobachtet: die Generalsanierung des IBM-Gebäudes, Redesign Diana genannt.

Der Architekt des Umbaus, meint der dankbare Schriftsteller, habe „auf das Eingebürgerte des Hauses“ geachtet; das ursprüngliche Erscheinungsbild des Bürohauses habe er, Schuh, „durch tausendfachen Augenschein“ in Besitz genommen und auf diese Weise derart eingemeindet, dass es zu seiner Realität gehörte. Daher sei er Prohazka dankbar, dass der durch den Umbau diese seine Umgebungsrealität nicht zerstörte; dass der Architekt jene Wechselwirkung zwischen Erneuerung und Tradition angestrebt und erreicht hat, die es ihm nun ermögliche, das Haus weiterhin so zu sehen, wie es einmal war. Dabei aber gefallen Schuh die Bürohäuser - ein „etwas rohes, rigides Ensemble“, das in der Dianagegend wie „Zähne ohne Gebiss“ steht - nicht. Zu lesen ist Schuhs Text „Desk-sharing am Donaukanal. Beobachtungen eines Anrainers“ in der Informationsbroschüre „redesign Diana“. Sie ist anlässlich der Wiedereröffnung der umgebauten IBM-Österreich-Zentrale im Winter 2001 erschienen.

Die Generalsanierung des IBM-Gebäudes, das sich im Immobilienbesitz der Wiener Städtischen befindet, diese geniale Leistung des Architekten Rudolf Prohazka, wurde neulich mit dem „Wiener Stadterneuerungspreis 2002“ ausgezeichnet. Das ist insofern bemerkenswert, als man unter dem Begriff Stadterneuerung in Wien üblicherweise mehr oder weniger gelungene Instandsetzungen von Gebäuden versteht, deren jüngste aus der Jugendstilzeit stammen. Die Auszeichnung für einen exemplarisch einfühlsamen Umgang mit einem Gebäude aus den Siebzigerjahren, dessen architektonischer Wert höchstens in seiner Anschaulichkeit für die dieser Bauperiode eigene Präpotenz bestehen könnte, ist einzigartig und hocherfreulich.

Durch die Art, in der Rudolf Prohazka die Skelettkonstruktion des Baus von Georg Lippert aus dem Jahr 1970 mit einer Glashaut umhüllt und dem plumpen Bauwerk das Erscheinen von ephemerer Architektur verliehen hat, konnte er nicht nur das unmittelbare Erscheinungsbild des Gebäudes, sondern auch dessen städtebauliche Wirkung wesentlich korrigieren. Der Donaukanal und der Schwedenplatz, der markante Vorposten der in die Innenstadt vordrängenden Peripherie, haben die dringend erforderliche großstädtische Note erhalten. In diesem Sinn stimmt die Bezeichnung „Stadterneuerungspreis“ mit der Wirklichkeit der Auszeichnung für diesmal überein: Mit dem Umbau eines einzigen Gebäudes wurde tatsächlich ein ganzer Stadtabschnitt erneuert.

Bemerkenswert ist außerdem, dass in der Presseaussendung über die feierliche Preisverleihung die beiden involvierten Generaldirektoren genannt werden, der Architekt aber unerwähnt bleibt. Dafür erwähne ich den Namen jenes Architekten nicht, der vor nicht allzu langer Zeit den Norbert-Liebermann-Hof umgebaut hat. Dieses 1964 errichtete eigene Bürogebäude der Wiener Städtischen befindet sich unweit des IBM-Hauses, gegenüber dem zehn Jahre früher entstandenen Ringturm. Beide Gebäude wurden von Erich Boltenstern entworfen und bildeten ein architektonisches Ensemble.

Da der Ringturm unter Denkmalschutz steht, wurde er beim Umbau nach außen hin nur wenig verändert. Der einst sachlich und elegant wirkende Liebermann-Hof hingegen wurde einer postmodernistischen, offenbar durch das benachbarte Wehrhaus von Otto Wagner inspirierten Gesamtumgestaltung unterzogen; diese kann als Musterbeispiel dafür gelten, wie brutal und plump man mit wichtigen Bauten beziehungsweise mit Bauten von wichtigen Architekten der Nachkriegszeit umzugehen fähig ist. Boltenstern, der unter anderem die Staatsoper wiederaufgebaut hatte, war der Architekt des Wiederaufbaues schlechthin.

Aufschlussreich ist ebenfalls, dass in diesen beiden Fällen des paradigmatisch unterschiedlichen Umgangs mit Bauten, die erst dreißig bis fünfzig Jahre alt sind und gemeinhin als vogelfrei gelten, ein und derselbe Bauherr verantwortlich war: die Wiener Städtische.

Übrigens: Der Ausblick von der Terrasse des aufgestockten IBM-Hauses ist herrlich. Bei klarem Wetter, schwärmt der Architekt Prohazka, kann man sogar die Alpen sehen. Man kann auch den Schriftsteller Schuh sehen, der gegenüber im „Salzgries“ sitzt. Es wird viel zu viel gebaut. Überall. Auch in den Alpen.

In der Gesamtmasse betrachtet: Das neue Bauen in den Alpen unterscheidet sich vom neuen Bauen in den Nichtalpen oft nur dadurch, dass im ersten Fall im Hintergrund der ansprechend aufgenommenen Architekturfotos ein majestätischer Berg oder eine ganze Bergkette oder zumindest ein steiler Hang zu sehen ist.

In der Ausstellung „Neues Bauen in den Alpen: Großer Preis für alpine Architektur 1999“ im Ausstellungszentrum im Ringturm hängt an der Stirnwand ein dreizehneinhalb Schritte langes, schwarz-weißes Foto einer Hochgebirgskette, auf dem weit und breit kein Bau zu sehen ist. Die baulose Leere dieses überaus eindrucksvollen Panoramabildes lässt im Zusammenhang mit den Fotos der zahlreichen prämierten Bauten (29) zwei völlig entgegengesetzte Deutungen zu: Entweder - Auszeichnung hin oder her - sind die Alpen doch dann am schönsten, wenn dort nichts gebaut wurde. Oder, so die Gegendeutung, es kann weiter wie um die Wette gebaut werden, denn noch ist nicht alles verbaut.

Für den nach 1992 nun zum zweiten Mal vergebenen Preis wurden insgesamt 153 Bauwerke eingereicht. Sie alle werden auf einer Bildtafel gezeigt, die an der Rückseite einer Stellwand so versteckt ist, dass man sie leicht übersehen kann. Denn die Wahrheit über den wirklichen Zustand der Architektur erfährt man nicht von den ausgezeichneten, sondern von den abgelehnten Bauten. Man sieht: Es wird viel zu viel gebaut. Und viel zu unterschiedlich. Jeder Architekt hat eigene Ambitionen und, wenn er es schafft, eine eigene Handschrift. Es erscheint unmöglich, eine alpine Architektur - die dem Attribut alpin gemäß einen eigenständigen Stil bedeuten würde - aus den Einreichungen herauszufiltern. Die mittlerweile berühmte Therme, die Peter Zumthor 1991 in Vals in der Schweiz errichtete und für die er den Großen Preis für alpine Architektur erhielt, würde genauso gut ins Burgenland passen. Oder nach Wien, statt des schrecklichen Dianabades etwa. So wie sie ist. Und keinem würde einfallen, dass dies ein Paradefall guter alpiner Architektur ist. Gute Architektur passt überall gleich gut.

[ Die Ausstellung „Neues Bauen in den Alpen“ ist bis 27.9. im Ringturm zu sehen. ]

Falter, Mi., 2002.08.21



verknüpfte Bauwerke
IBM redesign DIANA

31. Juli 2002Jan Tabor
Falter

Verkauft die Kunsthalle!

Ihre Übersiedlung vom MQ unter den Karlsplatz könnte das Wiener Dilemma der Präsentation moderner Kunst lösen.

Ihre Übersiedlung vom MQ unter den Karlsplatz könnte das Wiener Dilemma der Präsentation moderner Kunst lösen.

Dem Wiener Konzept des Museums des 19. Jahrhunderts liegt die schöne und nicht ganz falsche Annahme zugrunde, dass es bereits genug Kunst auf der Welt gäbe. Aus diesem Grund baut man Museen, das Museum moderner Kunst etwa, grundsätzlich ohne Räume für Wechselausstellungen. Allerdings will die Kunstgeschichte kein Ende nehmen. In einst ungeahnten Dimensionen wird Kunst geschaffen, angeschafft und umhergeschoben. Dadurch sind die Museumsleute von heute, selbst jene, die mental noch im 19. Jahrhundert stecken (was in Wien die meisten sind), in eine geradezu moderne Verlegenheit geraten: Wenn sie Ausstellungen machen wollen, müssen sie wagemutig improvisieren, was das Zeug (Räume, Kunstwerke, Besucher) hält.

Zum Beispiel Wilfried Seipel, Generaldirektor des Kunsthistorischen Museums: Wenn er mit Ausstellungen wie „Weißes Gold der Eskimos“ (Generalsponsor Iglu GmbH) oder mit Retrospektiven für Ernst Fuchs und Kumpf um „seine Publikumsrekorde ohne eigene Sonderausstellungshalle ringt“ (Presse vom 19. Juli), muss er auf das ungeeignet renovierte Palais Harrach zurückgreifen oder sich beim Künstlerhaus einmieten. Dennoch seufzte Seipel, den man für die graue Eminenz der schwarzen Kulturpolitik halten darf, staatsmännisch besorgt auf, als er gefragt wurde, was er von dem roten Plan halte, das Künstlerhaus unterirdisch aufzustocken: "Wie und womit alle diese Flächen einmal bespielt und damit auch finanziert werden können ... Also: „Gigantomanie“.

Obwohl seine Angabe, die geplante Künstlerhaus-Erweiterung rechne mit 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche, unrichtig ist, liegt Seipel mit seiner Einschätzung der allgemeinen Lage nicht ganz falsch. Allerdings sind alle (bis auf eine) in den letzten Jahren hinzugebauten oder adaptierten Ausstellungsflächen in Wien für den zeitgemäßen Ausstellungsbetrieb bestenfalls beschränkt geeignet. Man muss also weniger von Gigantomanie als von einem gigantischen kulturpolitischen und architektonischen Dauerpfusch sprechen. Denn was soll gigantomanisch daran sein, dass das 2001 fertig gestellte Museum moderner Kunst über weniger Ausstellungs- und Depotflächen verfügt als in seiner Zeit davor?

In seinem Presse-Aufsatz vom 19. Juli, mit dem Hans Haider wieder einmal eine Kampagne gegen die rote Kulturpolitik startet und als Vorwand dafür das Projekt „Kunstplatz Karlsplatz“ verwendet, wird behauptet, dass es in Wien 80.000Quadratmeter an neuen Ausstellungsflächen geben soll. Ob die Zahl stimmt oder so falsch ist wie die 4000Quadratmeter fürs Künstlerhaus, tut eigentlich nichts zur Sache. Wichtig ist das, was in der Presse nicht steht: dass es in Wien keine Räume gibt, die groß und flexibel genug wären, um für Präsentationen zeitgenössischer Kunst geeignet zu sein.

Und noch eines ist zu der Vermehrung von Kunsträumen in Wien anzumerken: Sie sind allesamt architektonisch uninteressant. Sieht man von Heinz Tesars Essl-Museum in Klosterneuburg ab, gibt es eine einzige Ausnahme: die Generali Foundation von Christian Jabornegg und András Pálffy. Die Qualität dieser Galerie ist derart hoch, dass ihre Architekten 1997 mit der Gestaltung der documenta 10 in Kassel beauftragt wurden. 1998 gewannen sie den Wettbewerb für die Neugestaltung des Künstlerhaus-Umfelds. Es galt die Möglichkeiten zu nützen, die der Bau der neuen unterirdischen U-Bahn-Wendeanlage in unmittelbarer Nähe des Künstlerhauses mit sich bringt.

Jabornegg und Pálffy warteten mit einer ebenso genialen wie verblüffend einfachen Lösung auf: Seitlich vom Künstlerhaus sollen neue Räume entstehen, die sowohl mit den Gängen, Passagen und Rampen der U-Bahn als auch mit den unter- und oberirdischen Räumen des Künstlerhauses verbunden sind. Verteilt auf zwei Ebenen, werden hier in drei großen Sälen etwa 2000 Quadratmeter an neuen Ausstellungsflächen entstehen. Diese zusätzlichen Räumlichkeiten sind etwa zu einem Drittel bereits im Zuge der U-Bahn-Erweiterung entstanden; der Rest könnte außerordentlich billig errichtet werden, weil manche Baumaßnahmen, wie etwa Stützmauern, ebenfalls bereits durchgeführt werden mussten.

Ganz abgesehen davon, dass mit einem derart ausgestatteten Künstlerhaus in Wien endlich ein voll taugliches und ungemein flexibles Ausstellungshaus zur Verfügung stehen würde und im Zuge dieses Umbaus auch einige der stadtplanerischen Sünden am Karlsplatz korrigiert werden könnten, spricht schon allein die außerordentliche Qualität der Architektur für die Verwirklichung des Projektes von Jabornegg und Pálffy. Zudem bietet es eine einmalige Chance, das Doppeldesaster der städtischen Kunsthalle und des staatlichen Museums moderner Kunst im MQ elegant zu beenden. Die Stadt Wien müsste sich nur dazu entschließen, die funktionsuntüchtige Kunsthalle an den Bund zu verkaufen, der sie Direktor Edelbert Köb zur Verfügung stellen sollte, damit das von ihm geleitete Museum moderner Kunst überhaupt einen Sinn bekäme.

Mit dem auf diese Weise lukrierten Geld könnte die Stadt dann die unterirdischen Räume beim Künstlerhaus finanzieren und diese Gerald Matt als „Kunsthalle“ zur Verfügung stellen. Zusammen mit dem Historischen Museum der Stadt Wien, das ebenfalls keine Räume für Wechselpräsentationen hat, könnten im Künstlerhaus wieder Ausstellungen stattfinden, um die uns die halbe Welt beneiden würde, und nicht solche, die die ganze Welt bereits kennt (und wie sie bislang in der Kunsthalle, im MAK et cetera) zu sehen waren.

Falter, Mi., 2002.07.31

17. Juli 2002Jan Tabor
Falter

Learning from Hrensko

Die Werbung drängt auf die Gehsteige und okkupiert schonungslos den öffentlichen Raum. Die Leidtragenden sind nicht zuletzt die Geschäftsleute. Einer von ihnen wehrt sich nun.

Die Werbung drängt auf die Gehsteige und okkupiert schonungslos den öffentlichen Raum. Die Leidtragenden sind nicht zuletzt die Geschäftsleute. Einer von ihnen wehrt sich nun.

Die Wiederherstellung der kapitalistischen Ordnung in Böhmen nach dem Umsturz von 1989 fand in dem kleinen Grenzdorf Hrensko folgendermaßen statt: Der Bürgermeister kaufte der Gemeinde die Bürgersteige ab. Der Erlös war zwar gering, aber die Gemeinde hoffte, sich durch die Privatisierung langfristig einen Haufen Geld für Instandhaltung, Reparaturen, Schneeräumung et cetera zu ersparen. Die Gehsteige in Hrensko, einem kleinen nordböhmischen Ort an der Elbe unweit von Dresden, sind kilometerlang.

Der Bürgermeister ließ seine Bürgersteige parzellieren (zwei mal zwei Meter, mit gelbem Lack markiert) und vermietet sie nun für viel Geld an vietnamesische Kleinhändler, die einst als Gastarbeiter in die sozialistische Tschechoslowakei geholt worden waren. Auf ihren gepachteten Vierecken haben sie provisorische Buden aus Sperrholz und Plastikfolien errichtet, in denen sie den Deutschen, den einstigen DDR-Bürgern, jene Dinge verkaufen, die, in den so genannten Tigerstaaten Ostasiens hergestellt, nach Tschechien in Massen importiert werden. Obwohl spottbillig, vermögen sie doch in das karge Leben der Plattenwohnbauten aus der DDR-Zeit ein wenig vom Flair der weiten Welt und dem Vorgefühl des urkapitalistischen Überflusses zu bringen. Der Budenmarkt der Vietnamesen auf den Gehsteigen von Hrensko ist schmal und mehrere Kilometer lang. Von den deutschen Kunden wird er Ho-Chi-Minh-Pfad genannt. Die kommunalen Kosten für die Beseitigung des ansteigenden Mülls sind ebenfalls gewachsen. Jemand muss die Zeche immer bezahlen.

Learning from Hrensko. Das Flair der weiten Welt und das Fluidum der globalkapitalistischen Opulenz breiten sich längst auch auf den Straßen Wiens aus. Auch der Wiener Bürgermeister ist im Begriff, die Bürgersteige Wiens zu veräußern. Er duldet, dass jene Flächen, die mehr oder weniger unbenutzt und für jeden Menschen frei zugänglich gewesen sind und die man dafür mit einiger Berechtigung als öffentlichen Raum bezeichnet hat, ungehemmt okkupiert, privatisiert und kommerzialisiert werden. Jemand muss draufzahlen. Zum Beispiel Florian Wagner, ein Schmuckmacher (die Bezeichnung „Juwelier“ lehnt er ab). Er ist der Michael Kohlhaas vom Kohlmarkt. Er kämpft auch für uns.

Seit vier Jahren führt Wagner einen Privatkrieg um das Recht auf freien Blick auf sein Lokal, in dem er seine eigenen künstlerischen Schmuckkreationen feilbietet. Von jenen Passanten, die in seinem Schaufenster etwas Erwerbenswertes erblicken und en passant zu Kunden werden, ist der Schmuckdesigner existenziell abhängig. Er ist abhängig vom freien Blick auf und in sein Lokal, das sich rund fünf Meter vom Kohlmarkt in der Wallnerstraße befindet. Vom Graben Richtung Michaelerplatz gehend, sieht man besonders gut, dass man von dem Lokal Flo fast nichts sieht. Es befindet sich an einer Stelle, wo alle möglichen modernen städtischen Wiener City-Accessoires abgestellt werden. Man sieht zwei Telefonzellen von hinten, eine Citylight-Standvitrine und einen Elektroschaltkasten, vor dem ein schwarzer Plastikkübel der kommunalen Mülltrennung gestellt wurde, die eine geschlossene Barrikade bilden. Es sieht aus, als wäre hinter der Werbemauer etwas Anrüchiges versteckt. Mitnichten: Im demnächst erscheinenden „Dehio“, dem fast amtlichen Verzeichnis von Bau- und Kunstdenkmälern, Band Wien Innere Stadt, ist das Gründerzeithaus an der Ecke Kohlmarkt und Wallnerstraße eingeführt und das Geschäft Flo als bemerkenswert erwähnt: „Portal des Juweliers Flo von Alfred Weber, Christian Reischauer und Florian Wagner, 1998, mit blau leuchtendem Glas und vergoldeten Flächen“.

Als Wagner sich hier vor vier Jahren eingemietet hat, standen bereits zwei Telefonhütten vor dem Geschäft und noch Fahrradständer dazu. Es waren noch nicht die neuen Alutelefonzellen, sondern die alten hölzernen im Mixdesign von Almhütte und Jugendstil des Josef Hoffmann. Als Wagner ihre Beseitigung forderte, wurde er vertröstet. Die Rustikalzellen würden ohnedies durch die luftigen und elegant-urbanen von Luigi Blau ersetzt. Das geschah tatsächlich. Allerdings ist deren Rückseite als Plakatwand konzipiert, sodass sie - anders als die Tele-Almhütten, die immerhin durchsichtig waren - den Blick aufs Geschäftslokal nun gänzlich verhindern.

Für Wagner war es ein klassischer Pyrrhussieg. Dass seine Beschwerde berechtigt war, bezeugt das Angebot der Telekom, die Reklame für das eigene Geschäft kostenlos an der Werbefläche der Telefonhütte anbringen zu dürfen. Mittlerweile wurde dieses Angebot wieder außer Kraft gesetzt: Auch Wagner muss für die Werbefläche zahlen. Für die Erringung eines Teilsieges, die Verlegung der Radständer, musste Wagner 7000 Schilling (zirka 510 Euro) bezahlen.

Die Privatisierer des öffentlichen Raums haben ebenfalls einen Teilsieg zu verzeichnen: Zu den beiden Telekom-Telefonzellen wurde von der Gewista eine von jenen beleuchteten Werbetafeln aus Nirostastahl hinzugestellt, die in den letzten zwei, drei Jahren die Gehsteige der Wiener Innenstadt eroberten und entscheidend zur fortschreitenden Überfüllung des öffentlichen Raums mit allerlei Kommerzklumpert beitragen.

Der Profit des einen (der Werbewirtschaft) ist der Verlust des anderen (in diesem Fall des Schmuckmachers). Die Werbung in Wien hat sich allmählich von ihren angestammten Standorten, von Dächern und Fassaden der Häuser, losgelöst. Sie breitet sich auch in der Ebene aggressiv aus, in dem so genannten öffentlichen Raum, der einst uns Fußgängern gehörte. Die Zeche für diese Entwicklung bezahlen die Geschäftsleute: Ihre Schaufenster werden zunehmend verstellt. Der Konflikt Schaufenster kontra Werbung auf dem Gehsteig wird in Wien zuungunsten der ortsgebundenen Geschäftslokale gelöst - mit katastrophalen Folgen für Geschäftsleute und für das Stadtbild. So betrachtet kämpft Florian Wagner auch für uns, die gewöhnlichen Passanten, die wahren Eigentümer der öffentlichen Räume.

Falter, Mi., 2002.07.17

12. Februar 2002Jan Tabor
Falter

Alte Villen, neue Hallen

Wie die Tschechen wieder einmal alles kaputtgemacht haben und der Direktor eine neue Kunsthalle gekriegt hat.

Wie die Tschechen wieder einmal alles kaputtgemacht haben und der Direktor eine neue Kunsthalle gekriegt hat.

Ein Dorf, irgendwo in Russland. Man schreibt das Jahr 1965. Die in die Erde gegrabenen, mit Stroh und Reisig gedeckten Blockhäuser werden „Zemljanky“, also „Erdhäuser“ genannt. Zwei schwarz gekleidete Babuschky in Gummistiefeln treffen im tiefen Morast auf dem weiten Dorfanger aufeinander. „Haben Sie es schon gehört, Jewgenija Iwanowna?!? Le Corbusier ist gestorben!“

Ein Museum, irgendwo in Wien. Man schreibt den 5. Februar 2002. Hinter dem Podium hängt ein riesiges Transparent mit der Vergrößerung jener Plakate, die in ganz Wien affichiert wurden, um zu der Pressekonferenz einzuladen, in der ich nun, völlig fasziniert, sitze. An den alten antirussischen Witz, den ich 1965 in Brno gehört habe, erinnere ich mich, als einer der Experten auf dem Podium beginnt, die obligate Geschichte von den Pferden der Roten Armee zu erzählen, die im Frühjahr 1945 in Mies van der Rohes Villa Tugendhat untergebracht waren. Die Geschichte ist so schön, als hätte sie der Dichter der „Reiterarmee“, Isaak Babel, selbst erfunden. Noch in Brno bin ich, ein maßloser Verehrer des in einem sowjetischen Lager ermordeten Schriftstellers, der Sache in der Hoffnung nachgegangen, dass die Geschichte von der fürsorglichen Liebe der russischen Soldaten zu ihren Pferden wahr sei. Leider ohne Erfolg. Bis jetzt. Nun schöpfe ich wieder Hoffnung.

Es liegt das Pressefoto eines Details mit haardicken Rissen und abgeblätterter Dispersionsfarbe vor, die laut Aufschrift an der „Flanke der Außentreppe“ zu sehen sind. Der Museumsdirektor, der in seinem weißen, also zum Bild der modernen weißen Villa passenden modernen Anzug (sonst bevorzugt er Schwarz) aussieht wie einst der Generalissimus Stalin auf dem Lenin-Mausoleum, begleitet die Ausführungen des Pferdeerzählers mit zustimmendem Nicken. Dann nimmt er, vorsichtig jedes Wort abwägend, das zurück, was in seinem Pressetext behauptet wird - nämlich dass die „Statik des Baus gefährdet“ sei. Ein weiterer Experte, der Brünner Architekt und ausgewiesene Villa-Tugendhat-Experte Jan Sapák, zeigt auf die Überschrift „VILLA TUGENDHAT WELTKULTURERBE IN GEFAHR“ und erklärt immerhin, dass die Behauptung nicht stimme.

Als sich dann herausstellt, dass für die Renovierung 120 Millionen Kronen vorgesehen sind, wird die MAKtionistische Pressekonferenz vollends obskur. Die Experten werden sich schnell darüber einig, dass diese Summe, die etwa der Kaufkraft von 14,5 bis 21,8 Millionen Euro (200 bis 300 Millionen Schilling) entspricht, viel zu hoch ist; ja dass eigentlich gerade diese riesige Summe die eigentliche Gefahr für die große Villa bedeute - die „Gefahr, dass dieses Haus von unschätzbarem architektonischem und kulturellem Wert zu einem kommerziellen Mausoleum verkommt“ (wie es denn im Pressetext auch zu lesen steht). Als Orientierung bezüglich des Finanzbedarfs diene die kürzlich abgeschlossene Renovierung von Adolf Loos' Villa Müller in Prag. Ein weiterer Experte, diesmal aus dem Publikum, behauptet, dass der für die Renovierung der Loos-Villa verantwortliche tschechische Architekt die Frage, ob er die Schriften von Adolf Loos gelesen habe, mit dem Hinweis verneinte, dass er kein Deutsch spreche.

Ha, da hamma's! Kein Deutsch können, aber die Villa Müller (deren Besitzer ein Tscheche war) von Loos (der die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft besaß und eine tschechoslowakische Staatspension bekam, damit er nicht in Österreich krepieren musste) reparieren wollen! Das geht nicht! An der Restaurierung der Villa Tugendhat müsse, verlangen die Podiumsexperten - dem vorbildhaften Verhalten der österreichischen Politik gegenüber den Temelín-Tschechen folgend -, ein internationales Expertenkomitee beteiligt werden.

In angesehenen deutschen Wochenzeitungen - man schreibt den 7. Februar 2002 - ist unter der Überschrift „Spaxen mer mal“ (was immer das bedeuten mag) folgender Untertitel zu lesen: „Vandalismus in Wien. Das Haus, das Ludwig Wittgenstein für seine Schwester entwarf, wird systematisch ruiniert.“ Ich wage zu behaupten, dass das Haus Wittgenstein architektonisch bedeutender ist als die Villa Tugendhat. Dass im Museum für angewandte Kunst in Prag am 5. März 2002 eine Pressekonferenz mit dem Titel „HAUS WITTGENSTEIN WELTKULTURERBE IN GEFAHR“ stattfindet, erfinde ich nun deshalb, um darauf hinzuweisen, dass die Tschechen keine richtige Baukultur kennen und damit auch kein Verantwortungsgefühl für das Weltkulturerbe entwickeln können.

Ein weitläufiger Anger in Wien. Man schreibt das Frühjahr 2002. Jetzt hat Gerald Matt wieder eine neue Kunsthalle. Sie steht ihm sehr gut. Sie ist elegant, vornehm zurückhaltend im urbanen Kontext, perfekt in ihrem Zuschnitt, sentimental in ihrer offensichtlichen Modernität und rätselhaft, was ihren Typus betrifft.Vom Naschmarkt kommend, das heißt fahrend, sieht der flache Glaswürfel aus wie ein Informationspavillon der Stadt Wien für die auf der Westautobahn anreisenden Touristen. Von der Wiedner Hauptstraße herkommend, sieht man zuerst fast nichts. Dort, wo vor kurzem noch die gelbe, verschlossene Blechschachtel so selbstbewusst aus der öden Gstätten herausragte, reicht die neue Kunsthalle nun kaum mehr übers Gebüsch. Näher gekommen, glaubt man zuerst den gläsernen Vorbau der alten Container-Kunsthalle zu erblicken. Vor dem Café unter den Platanen befindet sich ein Schanigarten, eine große Plattform aus rostartig gelegten Holzlatten, die dem Café und dem Ort das Flair einer Bar in einem mondän-modernen italienischen Seestrandbad verleihen, die von einem ungemein begabten Schüler von Ludwig Mies van der Rohe entworfen wurde.

Der Mies-Kenner erkennt eine Art Meta-Hommage: Die Hommage an das Haus Johnson in New Canaan von Philip Johnson (1949), das eine Hommage an das Haus Farnworth in Plano von Mies van der Rohe (1945) war. Eine Art Messepavillon im Stil der Fünfzigerjahre - der eleganteste und zugleich schlechteste und sinnloseste Bau von Adolf Krischanitz. Sentimentale Moderne. Ein Sinnbild der Wiener Kulturpolitik der Neunziger. Antithese zu der abgerissenen Kunsthalle, die eine geniale Antithese zu dem durch die verschiedenen Stadtplanungen schwer lädierten Karlsplatz war. Ein Parkcafé bloß, dem ein riesiges Schaufenster nur deshalb zugefügt wurde, um Werbung für die hinter den Gemäuern des MuseumsQuartiers doppelt unsichtbare neue Kunsthalle zu machen.

Als Präsentationsort der zeitgenössischen Kunst ist die neue Kunsthalle nur bedingt funktionsfähig. Als Auftrittsort für Gerald Matt aber ist der Bau hervorragend geeignet. Kürzlich bin ich in der Dunkelheit um den Pavillon geschlichen. Den doppelt glücklichen Direktor der beiden neuen Kunsthallen konnte ich von allen Seiten erblicken. Er trug einen schwarz-weiß gestreiften Einreiher, der ihm gut stand. Das sagte ich ihm auch. Nur 120 Schilling, antwortete er erfreut, am Flohmarkt gekauft. Auch seine neue Kunsthalle gefalle ihm ausgesprochen gut.

Falter, Di., 2002.02.12

06. Februar 2002Jan Tabor
Falter

„Mies ist unser Gewissen“

Der erstmals verliehene Mies van der Rohe Pavillon Preis belohnt die schönsten Bauten Europas mit der scheußlichsten Trophäe der Welt.

Der erstmals verliehene Mies van der Rohe Pavillon Preis belohnt die schönsten Bauten Europas mit der scheußlichsten Trophäe der Welt.

Der Architekturkritiker Harry Weese schrieb 1966: „Mies ist weiterhin unser Gewissen. Aber wer hört heutzutage schon auf sein Gewissen?“ Den folgenden Satz schreibe ich ungern, aber im Sinne von Weese müsste man sagen: Wäre Mies van der Rohe mit dem Mies van der Rohe Pavillon Preis ausgezeichnet worden, dann hätte er nicht gewusst, ob er sich über diese Ehrung freuen oder ärgern soll.

Eine so scheußliche und zugleich skurrile Auszeichnung wie diese habe ich schon lange nicht gesehen. Das Ehrending sieht aus wie ein Kruckenkreuz in Eisen aus der Dollfuß-Zeit. Das Kunstwerk besteht aus einem Traverse-Stück, an dessen Schaft vier Winkeleisen seitlich angeschweißt sind. Diese „Mies-van-der-Rohe-Pavillon-Skulptur“, entworfen von Xavier Corberó, ist befestigt auf dem Deckel einer Schatulle aus einem Edelholz - vermutlich Makassar-Ebenholz, die gleiche Holzsorte, die der Materialfetischist Mies im deutschen Pavillon in Barcelona (1928/29) und in der Villa Tugendhat in Brno (1928/30) verwendete. Zuerst habe ich gedacht, es handelte sich um einen zur Reliquie erhobenen Abschnitt einer Eisenbahnschiene samt Schwelle. Der Deckel liegt an zwei Holzstäben, welche die Wände des Edelholzkästchens durchstoßen. Die Stäbe können herausgezogen, der Deckel kann dann umgedreht in die Schatulle gelegt und mit den beiden Stäben fixiert werden.

Der Mies-Kenner kapiert: Form follows function - angeblich das Architekturcredo von Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969). Der Mies-Kenner erkennt außerdem: Die zusammengeschweißten Eisenstücke symbolisieren jene revolutionäre Tragwerk-Erfindung, die Mies zuerst im Barcelona-Pavillon und gleich anschließend in der Villa Tugendhat eingesetzt hat: Vier Winkeleisenstangen wurden kreuzförmig zusammengenietet, um als ungemein dünne und doch tragfähigen Stützen verwendet zu werden. Die Bündel wurden mit Chromblech ummantelt. Die Eisenstücke der Auszeichnungsskulptur nicht: Sie steht auf einem Sockel aus edelgerostetem Stahlblech.

Es ist unklar, ob es die Reste des bereits 1929 demolierten Originalpavillons oder ob es sich um abgesägte Konstruktionsteile der 1986 hergestellten Replik handelt. Diese architekturhistorisch spektakuläre Rekonstruktion dürfte den Anstoß für die Schaffung der ersten EU-eigenen Architekturauszeichnung bewirkt haben. Mit vollem Titel heißt sie „Preis der Europäischen Union für zeitgenössische Architektur - Mies van der Rohe Pavillon Preis“, wird seit 2001 alle zwei Jahre verliehen und ist mit 50.000 Euro ziemlich knausrig dotiert. Dies ist auch das Letzte, was man an dem Mies-Preis bemängeln kann.

Die Wanderschau mit dem leicht übertriebenen Titel „Europas beste Bauten“ - auf Englisch heißt sie „European Architecture“ - ist für das Programm im Ausstellungszentrum im Ringturm der Wiener Städtischen charakteristisch: Die meistens unspektakulären, dafür ungemein informativen und gediegen gestalteten Ausstellungen sind für Wien längst die wichtigsten Informationsquellen über Architekten und Baukultur im Ausland geworden. Für das Programm ist der Architekturtheoretiker Adolph Stiller zuständig.

Es bewegt sich doch etwas in Europa. In der Auswahl der überwiegend spanisch besetzten Jury - die selbstredend im Barcelona-Pavillon II tagte - herrschen zwar Spanier vor. Aber was früher fast unmöglich oder rare und gönnerhafte Ausnahme war, ist nun ganz selbstverständlich geworden: Es werden auch Bauwerke aus dem ehemaligen Osten vorgestellt. Die Handelskammer in Ljubljana von Jurij Sadar, BosÇtjan Vuga und Sadar Vuga oder das Bürohaus Muzo Zentrum in Praha von Stanislav Fiala und D3A.

An der Ausstellung stört allerdings, dass bei keinem der 37 vorgestellten Bauwerke das Baujahr genannt wird. Als wäre alles der Zeit - und damit dem Einfluss der allmächtigen Moden - enthoben. Ist es aber nicht, wie man sieht. Man sieht sogar etliche altbekannte Oldies, etwa die Kuppel des Berliner Reichstags von Norman Foster. Der gezeigten Auswahl, allesamt preiswürdige Bauten, liegen 200 Nominierungen zugrunde, die von den Ländern vorgenommen wurden. Für Österreich hat sich Otto Kapfinger vom ArchitekturZentrum Wien durch die Menge qualitätsvoller Kandidaten gequält. In der Ausstellung werden die Botschaften der nordischen Länder in Berlin von den Wiener Architekten Alfred Berger und Tiina Parkkinen sowie die Wohnhausanlage Wohnen am Lohbach in Innsbruck von Carlo Baumschlager und Dietmar Eberle präsentiert.

Völlig zu Recht, weil gänzlich Mies-gerecht, wurde mit dem Mies-Preis der Palacio-Kursaal in San Sebastián, Spanien, von Rafael Moneo ausgezeichnet: ein transluzides Raumgedicht, ein urbanes Wunder. Mit einer „besonderen Anerkennung für viel versprechende junge Architektur“ ehrte die Jury das Holzlagerhaus Kaufmann in Bobingen, Deutschland, Baujahr unbekannt, von Florian Nagler, Jahrgang 1967. Auch wunderschön lichtdurchlässig. Auffällig die vielen neuen Museen und Kulturhäuser in unserem schönen EU-Europa: die herrlichen Innenräume, die schlichte Eleganz des Erscheinens, die Präzision, mit der die Formen den Funktionen folgen, die Souveränität in der Materialverwendung, die Vielfalt der Lösungen. Wenn man das Roger Raveelmuseum in Machelen aan de Leie, Belgien, von Stéphane Beel, das Museum Het Valkhof in Nijmegen, Niederlande, von Ben van Berkel oder das Altamira-Museum in Cantabria, Spanien, von Juan Navarro Baldweg sieht, dann muss man sich freuen und ärgern zugleich. Das MuQua in Wien will einem nicht aus dem Sinn kommen.

Wenn es in Tschechien so weiter geht, zeichnet sich die Gefahr ab, dass neben dem Schrottkraftwerk Temelín auch ein berühmtes Gebäude in Brno zum Schrottbauwerk wird: das Haus Tugendhat von Mies van der Rohe. Soeben - im Dezember 2001, gleichzeitig mit der Innenstadt von Wien - wurde die Villa zum Weltkulturerbe erklärt. MAK-Direktor Peter Noever befürchtet, dass dieses Haus von unschätzbarem architektonischem und kulturellem Wert zu einem „kommerziellen Mausoleum verkommt“. Damit es nicht das gleiche Schicksal erleidet wie der Messepalast in Wien, lud das MAK unter dem Titel „Villa Tugendhat - Weltkulturerbe in Gefahr“ zu einem rettenden Pressegespräch ein. Was die unbelehrbaren Tschechen wieder anrichten wollen, darüber werden wir berichten.

Falter, Mi., 2002.02.06

14. November 2001Jan Tabor
Falter

Ares macht Andromeda an

Wien braucht Hochhäuser, Türme, Wolkenkratzer. Der Umgang mit ihnen ist aber nur teilweise geglückt.

Wien braucht Hochhäuser, Türme, Wolkenkratzer. Der Umgang mit ihnen ist aber nur teilweise geglückt.

Am 21. Mai 2001, einen Tag nach dem Wien-Marathon (an dem ich selbstredend nicht teilgenommen habe), ist mir endgültig aufgefallen, wie sehr sich Wien in den letzten zehn Jahren verändert hat. Auf dem Titelfoto des Standard war eine von Menschenmassen bedeckte Brücke zu sehen. Den vertikalen Gegensatz zu dieser kollektiven horizontalen Anstrengung bildeten die im Hintergrund gen Himmel strebenden neuen Hochhäuser, die man heutzutage bei uns „Tower“ nennt.

Wien braucht Menschen, die gern Marathon laufen. Solche Menschen streben nämlich auch Marathonlebensläufe an, und das ist gut für eine Metropole. Die Marathon-Menschen wiederum brauchen für ihre Leistungen eine richtige Kulisse. Im ersten Augenblick hatte ich allerdings gedacht, es handle sich bei dem Standard-Foto um eine Aufnahme aus einer größeren australischen Provinzstadt. Dieser Eindruck kam nicht von ungefähr, denn im Vordergrund der neuen Kulisse auf dem linken Donauufer steht der Kaisermühlen-Tower des austroaustralischen Architekten Harry Seidler, der für seine australische Botschaft in Paris berühmt geworden ist und in Australien viele einprägsame Towers errichtet hat.

Als alter Fuchs unter den Wiener Tower-Erbauern hat Seidler allen Skyline-Konkurrenten die Show gestohlen. Seine städtebauliche Gesamtlösung für die völlig verfahrene Situation in der Gegend an der Reichsbrücke ist ebenso altmodisch wie genial. Er wusste: Wer den Brückenkopf besetzt, gewinnt den Kampf um die Skyline. Und: Wer hier eindrucksvoll bauen will, der darf sich nicht um die UNO-City kümmern.

Im Unterschied zu den anderen Tower-Architekten, die sich mit ihren möglichst glatten stereometrischen Baukörpern an der Wolkenkratzer-Formdoktrin der Sechziger- und Siebzigerjahre orientiert haben, geht Seidler mit der zu bewältigenden Wohnungsmasse offensiv um: Statt die immer gleichen Balkone, Loggien und Fensterbänder zu verstecken oder zu kaschieren, zelebriert er sie in einem expressiven Spiel zwischen scharf geschnittenen horizontalen Linien und dem vertikal gefalteten Baukörper, dessen weiße Wandflächen in starkem Kontrast zu den dunklen Fenster- und Loggieneinschnitten stehen. Von jedem Blickwinkel aus weist der barock bewegte Baukörper mit der expressionistisch neogotischen Spitze eine andere Gestalt auf.

Seidler, der sein Handwerk souverän beherrscht, ist kein Fehler unterlaufen. Nicht zuletzt, weil er die Bibel kennt und weiß: Der Erste wird der Letzte sein. Das ist Wilhelm Holzbauer passiert, der zwar ebenfalls ein alter Baufuchs, aber auch ein grundlegender Freund des Horizontalen ist. Mit dem Turmbau hatte er keine Erfahrung, und Städtebau zählt nicht zu seinen Stärken. Den Kampf um den ersten Bau auf der so genannten Expo-Platte, der zugleich der Kampf um den ersten Turm nach dem zu Beginn der Neunzigerjahre gelockerten Hochhausverbot war, hat er gewonnen. Die Platte war noch wüst, und die UNO-City beherrschte die Gegend uneingeschränkt. Holzbauer legte seinem Tower, der den hübschen Namen Andromeda trägt, die anmutige (also weibliche) Form einer Ellipse zugrunde, zog diese auf 115 Meter hoch (was der damals als ultimativ geltenden Höhe der UNO-City entspricht) und platzierte das Bauwerk so in die konkaven Flächen der UNO-City, als würde er es in den schützenden Schoß einer dicken Matrone legen. Ein verhängnisvoller Fehler: Der an sich eindrucksvolle Turm ist mittlerweile in den um die UNO-City angehäuften Baumassen verschwunden. Neuerdings wird das Mauerblümchentürmchen Andromeda von einem Tower-Kerl namens Ares (Architekt: Heinz Neumann) nachbarlich bedrängt. In der neuen Silhouette auf der Platte spielt die kantige Glaskiste keine hervorragende Rolle mehr. Die beansprucht noch immer der Mischek-Tower von Delugan Meissl.

Über Hochhäuser zu reden ist in Wien schon rein sprachlich ein Problem. Man weiß nämlich nicht so recht, ab welcher Höhe ein Hochhaus zum Turm oder gar zum Wolkenkratzer wird. Die nach wie vor gültige Wiener Bauordnung erklärt alle Häuser über 26 Metern zu Hochhäusern. Hätten Boris Podrecca und Gustav Peichl nicht einen „Millennium-Tower“ gebaut, sondern bloß ein „Jahrtausendwende-Hochhaus“, dann hätten sie mit derselben Form, derselben Höhe von 212 Meter und auf derselben Stelle mit ärgsten Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Im Wettlauf um den ersten Turm nach dem Turmverbot haben sie den zweiten Platz belegt und sind doch Erste geworden: auf der rechten, städtebaulich wichtigeren Donauseite.

Für den Millennium-Tower gilt das Gleiche wie für Seidlers Turm: Er steht städtebaulich absolut präzis. Formal keineswegs untadelig - der kantige Aufsatz sieht von manchen Blickwinkeln plump aus -, hat er doch die richtige Höhe, sodass er eine wirkliche Bereicherung des ansonsten extrem langweiligen Donauufers darstellt. Lobenswert sind darüber hinaus auch noch folgende Vorzüge: Der Turm steht gleich neben einem wichtigen Knotenpunkt der öffentlichen Massenverkehrsmittel (U- und Schnell-Bahn), sein unmittelbares Umfeld wird kommerziell und baulich intensiv genutzt und aufgewertet. Der Bezirk Brigittenau, der bisher keinerlei Höhepunkte aufzuweisen hatte und schon leicht zu verslumen drohte, bekommt plötzlich ein eindrucksvolles Wahrzeichen und ein eindeutiges Zentrum.

Damit erfüllt der Millennium-Tower exakt jene Forderungen, die Coop Himmelb(l)au in ihrer „Wiener Hochhausstudie“ aufgestellt haben, die im August 1991 erschienen ist, also zu einer Zeit, als die Towers noch Hochhäuser hießen. Ein ähnliches Meisterstück an städtebaulicher Präzision ist den Wiener Stadtplanern und den Architekten Nehrer & Medek in Ottakring gelungen. Man nützte die normative Kraft der neuen U6-Linie beziehungsweise ihrer Endstation, um dem Bezirk ein Zentrum zu geben, ein Assanierungsgebiet erfolgreich zu sanieren und auch gleich ein weithin sichtbares Zeichen zu setzen: ein Wohn-Hochhaus für die Krankenschwestern des AKH.

Aber Achtung! Unweit des Millennium-Tower ist auf dem sowohl für das Stadtbild im Donautal als auch für die unmittelbare Umgebung nicht wirklich wohltuenden Platz zwischen der Floridsdorfer Brücke und Floridsdorf der so genannte Florida-Tower errichtet worden. Architektonisch uninteressant - ein Verschnitt zwischen dem Andromeda- und dem Millennium-Tower, dem er offensichtlich Konkurrenz machen will -, steht er an einer falschen Stelle: weit entfernt von einer U- oder S-Bahn-Station, in einem gemischten und verkehrsmäßig bereits geplagten Gebiet, das man lieber in Ruhe hätte lassen sollen.

Angesichts dieser Fehlplanung beginnt man zu fürchten, Brigittenau und Ottakring könnten Ausnahmen, ja Zufälle sein. Denn von diesen zwei Bezirken abgesehen haben die Wiener Stadtplaner die so genannte Hochhausfrage genauso wenig im Griff wie vor zehn Jahren, als der Hochhausbau zugelassen wurde. Neben den prinzipiell richtigen, städtebaulich aber desperaten Bebauungen mit Hochhäusern, Türmen und Towers an der Wagramer Straße und auf der Platte wird das auch auf dem Wienerberg deutlich. Dort wurde das mit Abstand beste Bauwerk, das in den Neunzigerjahren in Wien entstanden ist, nämlich der Twin Tower des römischen Architekten Massimiliano Fuksas, zwar unübertrefflich richtig ins Stadtbild einer schlecht bestückten Stadtkante hineingesetzt. Allerdings steht er am falschen Ort und wird demnächst in einem Haufen von hochgezogenen Mittelmäßigkeiten verschwinden, die ebenfalls Tower genannt werden. Was für ein hoher Architektur-Maßstab der Twin Tower ist, sieht man, wenn man ihn an das benachbarte Businesscenter anlegt. Erst jetzt fällt dessen miserable Architektur von Atelier 4 so richtig unangenehm auf.

Die Frage ist, ob Wien Hochhäuser braucht. Die Architekten Pichler & Traupmann beantworten diese Frage radikal eindeutig: Wien brauche Türme, schon um überhaupt zu überleben - und zwar dort, wo sie städtebaulich benötigt werden. Den Gürtel etwa könne man nur dann sanieren und weiterentwickeln, wenn man dort Türme, etliche Türme, verschiedene Türme errichte. Die Rechnung ist einfach und wird am Beispiel eines besonderen Wiener Baumythos vorgeführt, des Karl-Marx-Hofes (der übrigens als eine Art horizontaler Wolkenkratzer betrachtet werden kann). Als der größte zusammenhängende Wohnhof 1927 eröffnet wurde, wohnten in den 1325 Wohnungen rund sechstausend Menschen. Inzwischen wurden viele der Kleinwohnungen zusammengelegt und auch die Belegziffer pro Wohnung ist drastisch zurückgegangen. Die riesigen Innenhöfe werden kaum genützt, die Infrastruktur ist verschwunden. Das Fazit der Architekten: Will man den Karl-Marx-Hof retten, so muss man mehr Menschen hineinbringen, muss man also verdichten. Und verdichten kann man nur, indem man Türme hineinbaut. Wegen der ideologischen Anschaulichkeit und um zu zeigen, wie unterschiedlich Architekturkonzepte für die gleiche Funktion und verwandte Ideologie sein können, setzten Pichler & Traupmann dem Karl-Marx-Hof die so genannten Wolkenbügel ein, die El Lissitzkij für Moskau zur gleichen Zeit entworfen hat. So wie es um den Karl-Marx-Hof stehe, so stehe es um ganz Wien. Und gleich sieht man: Die nie verwirklichten Wolkenbügel würden sich an manchem Ort in Wien ganz hervorragend ausnehmen. Für den Gürtel sind sie wie geschaffen.

Falter, Mi., 2001.11.14

18. Juli 2001Jan Tabor
Falter

Schlagobers on the Roof

Vom Flugdach zum Ausflug: Wie Architekturstudenten - im Unterschied zu Hans Hollein - ein kompromisslos zeitgemäßes Werk geschaffen haben.

Vom Flugdach zum Ausflug: Wie Architekturstudenten - im Unterschied zu Hans Hollein - ein kompromisslos zeitgemäßes Werk geschaffen haben.

Trauriger Nachtrag: Dem News/Generali-Turm von Hans Hollein wurden neulich zwei weitere Bestandteile hinzugefügt, das Meisterbauwerk damit vollendet. Die beiden Hinzufügungen beeinträchtigen den architektonischen Eindruck dieses ansonst vortrefflichen Bauwerkes beträchlich. Auf den seitlichen Pylon wurde ein Alu-Markuslöwe als Generali-Firmenzeichen derart kunstwollend gesetzt, dass man das für Werbezwecke entwendete Wahrzeichen Venedigs für ein Stück missratener Kunst am Bau halten könnte. Nicht so schlimm. Wirklich arg ist der rokokohaft geformte Dachpavillon mit seinem zoomorph gekrümmten Flugdach. Diese Krönung ist derart überflüssig, dass man wieder einmal feststellen muss: Selbst die allerbeste Moderne von Hollein gerät im allerletzten Augenblick zur Moderne mit Schlagobers.

Schornsteine, riesige Fabrikhallen, hohe Kühltürme, lange Brücken und Bürohochhäuser fliegen in die Luft, gelegentlich auch Wohnhäuser und jede Baumassenmengen von Kriegsruinen, unter anderen auch jene des Stadtschlosses in Berlin, das man heute wieder aufbauen will. Sprengungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Fortsetzung des Krieges mit gleichen Mitteln. Diesem Thema hat Heinrich Böll einen der Schlüsselromane der deutschen Nachkriegszeit gewidmet: „Billard um halb zehn“. Vereinfacht dargelegt, läuft die spannende Geschichte so ab: Ein Architekt stellt jene Bauwerke wieder her, die sein Großvater errichtet hatte und die sein Vater im Auftrag der Wehrmacht in die Luft jagen musste.

Was heißt in die Luft jagen? Die wirtschaftlich oder ideologisch ausgedienten Bauwerke fallen stets geordnet in sich zusammen und genau dorthin, wohin sie die deutschen Sprengungsmeister hinlegen wollen. Manchmal laufen die verschiedenen, aus Archiven der Nachkriegszeit entnommenen Aufnahmen der Sprengungen still, meist aber kommt es zu einer lauten Detonation - je nachdem, wie es die deutschen Videokünstler Julian Rosefeldt und Piero Steinle wollten. „Detonation Deutschland“ sei nicht die erste Ausstellung im neuen Architektur Zentrum Wien, meint der AzW-Direktor Dietmar Steiner, der das bereits reichlich verstaubte Kunstwerk nach Wien geholt hat. Es sei die letzte im alten Architektur Zentrum Wien, das nun, nach dem Vorbild von MuQua, Mumok und LeMu, AzW genannt wird. Das MuQua wurde eröffnet und die Besucher, meint Steiner, sollen nicht überall auf geschlossene Türen stoßen. Dass diese langweilige und verstaubte Detonationsinstallation aus München ausgerechnet jetzt nach Wien geholt wurde, dürfte nicht ganz ohne wohl überlegte Hinterhältigkeit geschehen sein. Der deutsche Edel-Kulturkritiker Claudius Seidl (immerhin der künftige Kulturchef der FAZ), den das profil eingeladen hat, das profil-Urteil über das MuQua zu verfassen, beendet seine satirische Auftragsbetrachtung in dem feige gewordenen Wiener Magazin mit der Empfehlung an die zeitgenössischen Künstler, zum Sprengstoff zu greifen. Das Sprengen dürfte eine deutsche Leidenschaft sein.

Während rundherum in Wien architektonische Probleme - Towersinvasion, MuQuamalheur, Gasometerdesaster - gleichsam detonieren, wird im profil die Neuauflage von Tom Wolfes „Mit dem Bauhaus leben“ mit einer Rezension gefeiert. Wolfes satirische Abrechnung mit dem Einfluss der Bauhausarchitekten Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius auf die amerikanische Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg ist eines der dümmsten Bücher über Architektur, die je erschienen sind. DasBuch ist vor zwanzig Jahren unter dem Titel „From Bauhaus to Our House“ erschienen.

Das schräge Bauwerk, das neuerdings einen Teil des Robert-Stolz-Platzes erheblich ausfüllt und das auf den ersten Blick wie ein Bauwrack aussieht, heißt „Ausflug“. Wobei das „s“ auf der Einladung aus dem Layout-Lot verschoben wurde - so, als sei es im Begriff, gänzlich auszufallen, um aus dem „Ausflug“ den „Au flug“ zu bilden. Die typographische S-Verschiebung ist eine dekonstruktivistische Geste.

Das extrem konzipierte Bauwerk weist viele Schrägen auf. Auf der Einladung zur Ausstellungseröffnung wird darauf hingewiesen, wo sich der sonst kaum bekannte Robert-Stolz-Platz befindet, nämlich „zwischen Schillerplatz und Burggarten“. Oder „zwischen Schiller und Goethe“, wo Einzi und Robert Stolz voller Stolz die Wohnung in ihren gemeinsam verfassten Memoiren situiert haben. Über das Ehepaar Stolz und dessen Wohnung kann man viel Interessantes in einem Videofilm von Christian Mayer erfahren. Seine Video-Kunstrecherche über Robert Stolz ist als Endlosprojektion in einer schrankartigen Nische zu sehen, man muss nur hineinkriechen.

Christian Mayer ist einer der 21 Kunststudenten der Akademie am Schillerplatz, die zusammen mit den Architekturstudenten Andrea Börner, Tom Gombotz, Eva Prevlosek und Robert Schmitz-Michels das Bauwerk errichtet haben, das wie das Wrack einer dekonstruktivistischen Arche Noah aus Alurahmen und Bauholzplatten aussieht. Kiosk, Ausstellungspavillon, Bar, Podium, Plattform, Bude, Urhütte, Würstelstand, Altar, Gartenlaube, Robinsonspielplatz, Skulptur, Installation, Raumstudie, architektonische Stadtintervention, Architekturexperiment, ephemere Architektur, Crossover-Kunst, Kunst im öffentlichen Raum - was auch immer. Von all dem etwas.

Die Aufgabe, die den Studenten der Akademie-Architekturklassen Rüdiger Lainer und Nasrine Seraji gestellt wurde, war der Entwurf eines Ausstellungspavillons, für den präfabrizierte Aluminiumprofile verwendet werden sollten. Das Indoor-Projekt unter der Leitung von Sandrine von Klot hat eine eigene Dynamik entwickelt. Es wurde um die Zusammenarbeit mit Kunststudenten der Akademie erweitert, ist dem Planungspapier und den Zeichensälen in die zu bauende Wirklichkeit entwichen und schließlich auf dem Robert-Stolz-Platz gelandet, diesem hässlichen Niemandsland zwischen Goethe- und Schillerdenkmal.

Ein seltener Fall: Kunst und Architektur haben gemeinsam die Akademie verlassen, um draußen frische Luft zu schnappen. Der Titel „Ausflug“ kann daher als Kritik verstanden werden. Kritik an jenen Ausbildungsusancen, die eine solche Zusammenarbeit, wie sie bei dem Projekt „Ausflug“ praktiziert wurde, zu einer raren Ausnahme machen: Kritik am kulturpolitischen Selbstverständnis Wiens, das zwar die hemmungslose Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes erlaubt, die zeitgenössische Kulturäußerungen aber nicht wünscht und nicht duldet.

Das Projekt „Ausflug“ ist eine singuläre Erscheinung. Nach vielen Jahren erscheint im Wiener Stadtbild wieder ein kompromisslos zeitgemäßes, radikal konzipiertes und zudem auch perfekt ausgeführtes Bauwerk/Kunstwerk. Hervorragend. Gratulation! Aber leider doch kein Anlass für Hoffnungen, die öffentlichen Räume Wiens könnten für öffentliche Gegenwartskunst wieder geöffnet werden. Der bemerkenswerte Ausflug findet nur bis Ende August statt. An dieser prominenten Stelle nur als Lückenfüller. Danach soll mit einem weiteren Akt der brutalsten aller Kommerzialisierungen des städtischen Raumes begonnen werden: mit dem Bau einer weiteren Tiefgarage.

Falter, Mi., 2001.07.18

04. Juli 2001Jan Tabor
Falter

Zeitgeist und Provinz

Diese Ausstellung ist eine Sensation: „Mythos Großstadt“ zeigt die unterschiedlichen Wege von zehn zentraleuropäischen Städten in die Zukunft nach dem Zerfall der österreichischen Monarchie.

Diese Ausstellung ist eine Sensation: „Mythos Großstadt“ zeigt die unterschiedlichen Wege von zehn zentraleuropäischen Städten in die Zukunft nach dem Zerfall der österreichischen Monarchie.

Der Zeitgeist erreicht die Provinz manchmal früher als die Metropole. Die leger-elegant gewandeten Herren, die im Juli 1933 in Marseille an Bord des Luxusdampfers Patris II gingen, waren - man erkannte es an den schwarzen, dicken, runden Fassungen ihrer Brillen - die Creme de la Creme der europäischen Architekturavantgarde. Mit Le Corbusier als Anführer. Sie reisten nach Athen und zurück. Diese Reise war der dritte Kongress des CIAM, einer internationalen Vereinigung moderner Architekten.

Als die Herren Ende August in Marseille wieder an Land gingen, wussten sie, wie die urbanistischen Probleme gelöst werden könnten: durch die „funktionelle Stadt“. Mit beeindruckendem Arbeitsaufwand legten sie, ausgehend von der Analyse aktueller Städte, auf hoher See die Grundzüge einer verbindlichen idealen Stadt der Zukunft fest. Später, 1942, als die Bomber des Zweiten Weltkriegs bereits dabei waren, etliche Städte in Trümmerhaufen zu verwandeln, veröffentlichte Le Corbusier das Resümee der denkwürdigen Architektenkreuzfahrt als „Charta von Athen“. Sie wurde, allerdings reichlich missverstanden, zum Leitbild des Wiederaufbaues nach 1945.

Was die meisten sonnengebräunten Demiurgen von 1933 nicht gewusst hatten: Eine solche funktionalistische Stadt stand bereits vor der Vollendung. Und sie sollte, anders als die späteren Stadtexperimente nach der Charta von Athen, vorzüglich funktionieren. Abseits der zeitgenössischen Welt, zwischen den sanften Hügeln Mährens, entstand im Weichbild eines lieblichen Landstädtchens die Stadt für Menschen mit modernen Nerven und mit Körpern zäh wie Leder und flink wie Maschinen.

Zlin, die Musterstadt des tschechischen Schuhkönigs Tomas Bata, ist die einzige ideale Industriestadt der Welt, die je verwirklicht wurde. Eine Industrie-Gartenstadt, in der die Menschen in Fabriken arbeiteten und in zwar kleinen, aber mit allen Errungenschaften des modernen Haushalts ausgestatteten Einfamilienhäusern lebten, umgeben von sehr viel Grün. Die würfelförmigen Häuser wurden nach dem gleichen architektonischen Prinzip errichtet wie die riesigen Fabrikshallen.

Das Bata-Experiment, dieser Versuch, den brutalsten Leistungskapitalismus a la Ford und Taylor mit den netten Vorstellungen eines paternalistischen Sozialismus zu verbinden und diese merkwürdige Synthese in Architektur und Urbanistik umzusetzen, zählt zu den wenigen erfolgreich verwirklichten Programmen in der Geschichte der modernen Architektur-utopie.

Zlin ist eine von zehn Städten, die in der Ausstellung „Mythos Großstadt. Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890-1937“ vorgestellt werden. Die Kunsthistoriker Eve Blau aus Montreal sowie Monika Platzer und Dieter Bogner aus Wien zeigen, wie eher bedeutungslose Provinzstädte wie Zagreb, Laibach oder Lemberg oder die durch Wiens imperiale Dominanz bedeutungslos gewordenen alten Residenzstädte Prag, Budapest und Krakau nach großstädtischer Bedeutung gestrebt haben, wie sie sich nach dem Zerfall der Monarchie wieder zu Hauptstädten neuer Staaten oder zu wichtigen regionalen Zentren entwickelt haben und wie sie sich - rasant und zugleich ähnlich und unterschiedlich - verändert haben.

1890 legte Otto Wagner seinen sachlichen, gleichsam protofunktionellen Regulierungsplan für das Stubenviertel in Wien vor: Das war der Beginn des modernen, international Geltung erlangenden Städtebaus. 1937 gründeten die aus Osteuropa stammenden Architekten den CIAM-Ost. Sie mussten erkennen, dass die Probleme der osteuropäischen, zum größten Teil kaum industrialisierten Städte anders angegangen werden mussten als jene der westeuropäischen Großstädte, der die Vorliebe der Avantgarde galt.

Genau dieses Problem, nämlich die erstaunlichen Unterschiede, die verschiedenen Intensitäten und Intentionen in der Entwicklung der Städte, stellt die Ausstellung erkenntnisreich und spannend dar. Die Kuratoren haben Glück gehabt. Die politische Wende von 1989 hat die Stadtarchive geöffnet, und so finden sich in der Ausstellung ausschließlich - meist kaum bekannte - Originalexponate, die von einer fantastischen Qualität und Vielfalt sind.

Die Architektur der Wanderausstellung von sputnic (Martin Huber, Norbert Steiner), in Zusammenarbeit mit Coop Himmelb(l)au, ist genial. Es handelt sich um eine Rahmenstruktur aus Eisenprofilen, die, je nach Beschaffenheit der Ausstellungsräume, zusammenmontiert werden kann und die die Bildung von offenen und zugleich separaten, kojenartigen Räumen ermöglicht. Diese selbstständige, ortsunabhängige Grundstruktur erlaubt es, die große Vielfalt an Exponaten - Zeichnungen, Skizzen, Pausen, Modelle, Fotos, Bilder, Bücher sowie TV-Monitore - problemlos zu gliedern und so zu vereinen, dass die Ausstellung die mannigfaltigen Querverbindungen wiedergibt, die den Prozess der Verwandlung der traditionellen in die moderne Architektur kennzeichnen. Inspiration holten sie sich von der „Raumstadt“, einer Ausstellungsinstallation von Friedrich Kiesler (1925), die man in der Schau in Originalfotos kennen lernen kann.

Die Ausstellung „Mythos Großstadt“ ist eine Sensation. Obwohl die Themen „Wien um 1900“ und „Wien in der Zwischenkriegszeit“ in unzähligenAusstellungen ausführlich behandelt wurden, wartet die Ausstellung doch mit neuen, keineswegs abgedroschenen Exponaten auf. Zum Beispiel mit dem Baukasten-Spielzeug von Josef Hoffmann, das eine Fabrik mit Wolkenkratzern darstellt. Abgesehen von Wien, das eher zurücktritt, wurde allen Städten gleich viel Raum gegeben. Der Zeitgeist liebt die Provinz.

In einer der Kojen kann man im Original jene Pläne studieren, die von Prag, Budapest und Zagreb für den dritten CIAM-Kongress zum Thema „Funktionelle Stadt“ angefertigt wurden. Sie dienten als anschauliche Arbeitsunterlagen für die auf dem Weg nach Athen stattfindenden Arbeitssitzungen. Um dabei die Städte effizient miteinander vergleichen zu können, wurden alle CIAM-Pläne standardisiert. Man sieht die drei bunten und modern gestalteten Pläne, wahre kartographische Kunstwerke, in Schwarz-Weiß noch einmal in dem TV-Monitor daneben: in einem Dokumentarfilm über die Arbeit auf der Patris. Le Corbusier, den Spiritus Rector, erblickt man ganz kurz, man erkennt ihn an der schwarzen, dicken, runden Brillenfassung.

In einem anderen Film sieht man „Mojster Plecnik“, wie die Slowenen ihren Architekturhelden Joze Plecnik nannten. Er schreitet durch Ljubljana, die Hauptstadt Sloweniens, die er mit seinen Bauwerken so stark geprägt hat wie einst sein Lehrer Otto Wagner Wien. Man sieht zwei Originalmodelle aus Holz von Projekten einer palladianischen Brücke und einer Säulenhalle in der Säulenhalle, die Plecnik nicht verwirklichen konnte.

Ein paar Schritte weiter lernt man Zlin um 1935 kennen, noch immer die modernste unter den neuen Städten des 20. Jahrhunderts - unter anderem in einem Film, der von einem Flugzeug aus aufgenommen wurde. Irgendwo in dem Meer der kleinen würfelförmigen Arbeiterhäuschen befindet sich jene Bauparzelle, die man bis in die Siebzigerjahre für Le Corbusier freigehalten hat. Um 1935 war er nach Zlin gereist. Über die Gediegenheit dieser funktionalistischen Stadt war er derart erfreut, dass er dem Fabrikanten Bata den Entwurf eines besonders gediegenen Arbeitermusterhauses versprach. Zur Ausführung kam er nicht.

[ Die Ausstellung „Mythos Großstadt. Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890-1937“ ist bis 26.8. im Kunstforum Bank Austria (1., Freyung 8) zu sehen. ]

Falter, Mi., 2001.07.04

20. Juni 2001Jan Tabor
Falter

Nekropolis statt Akropolis

Das MuseumsQuartier erweist sich als Ganzes und in seinen Hauptbauten als architektonisches Desaster. Die entscheidenden Fehler liegen Jahrzehnte zurück.

Das MuseumsQuartier erweist sich als Ganzes und in seinen Hauptbauten als architektonisches Desaster. Die entscheidenden Fehler liegen Jahrzehnte zurück.

Das MuseumsQuartier - das gemeinsame Werk von Aurelius (Hans Dichand), Günther Bischof (Geschäftsführer), Dieter Bogner (Museumsexperte), Gertrude Brinek (Politikerin), Erhard Busek (Minister), Peter Czernin (Architekt), Hans Dichand (Zeitungsbesitzer), Günther Domenig (Juror), Wolf Dieter Dube (Juror), Martin Eder (Anwalt), Brigitte Ederer (Finanzstadträtin), Rudolf Edlinger (Minister), Karlheinz Essl (Kunstsammler), Hermann Fillitz (Kunsthistoriker), Elisabeth Gehrer (Ministerin), Ernst Gisel (Juror), Bernhard Görg (Planungsstadtrat), Eberhard Graf (Juror), Michael Häupl (Bürgermeister), Lorand Hegyi (Museumsdirektor), Werner Hofmann (Juror), Wilhelm Holzbauer (Architekt), Arnold Klotz (Stadtplanungsdirektor), Wolfgang Kos (Journalist), Ferdinand Lacina (Minister), Rudolf Leopold (Kunstsammler), Bernd Lötsch (Biologe), Ferdinand Maier (Politiker), Peter Marboe (Kulturstadtrat), Boris Marte (Politiker), Johann Marte (Juror), Gerald Matt (Kunsthallendirektor), Hans Mayr (Finanzstadtrat), Günther Nenning (Journalist), Walter Nettig (Wirtschaftskammerdirektor), Laurids Ortner (Architekt), Manfred Ortner (Architekt), Ursula Pasterk (Kulturstadträtin), Rainer Pawkowitz (Politiker), Gustav Peichl (Architekt), Peter Pilz (Politiker), Roland Rainer (Juror), Sepp Rieder (Finanzstadtrat), Georg Rizzi (Bundesdenkmalamtspräsident), Karlheinz Roschitz (Journalist), Arthur Rosenauer (Kunsthistoriker), Gerhard Sailer (Bundesdenkmalamtspräsident), Klaus Albrecht Schröder (Geschäftsführer), Richard Schmitz (Politiker), Wolfgang Schüssel (Minister), Dietmar Steiner (Architekturkritiker), Martin Stelzl (Fiaker), James Stirling (Juror), Hannes Swoboda (Planungsstadtrat), Herbert Tachmina (Bezirksvorsteher), Gexi Trostmann (Trachtenhändlerin), Klaus Vatter (Juror), Franz Vranitzky (Bundeskanzler), Wolfgang Waldner (Geschäftsführer), Peter Weibel (Kunstpolitiker), Manfred Wehdorn (Architekt), Helmut Zilk (Bürgermeister), Walter Zschokke (Architekturkritiker) sowie vielen anderen - ist ein Desaster.

Was hat man uns nicht alles versprochen, aus dieser einmaligen Jahrhundertchance zu machen? Eine Akropolis der Gegenwartskultur! Ein weit sichtbares Exempel demokratischer Architektur im konservierten Stadtbild der imperialen Ringstraße! Ein Laboratorium für die Kunst des 21. Jahrhunderts! Das Wiener Centre Pompidou oder gar das „beste Kulturzentrum der Welt“!

Kein Versprechen wurde erfüllt. Statt Akropolis eine Nekropolis, statt eines weltoffenen Laboratoriums des Neuen eine Reservation des österreichischen Provinzialismus, statt einer demokratischen Architektur-Antithese zum imperialen Gehabe des Kaiserforums dessen Fortsetzung, statt Centre Pompidou in Wien seine Wiener Antithese: das MuseumsQuartier.

Gehen wir es von hinten an und von dem Versprechen aus, das MuQua würde sich zum 7. Bezirk hin öffnen und das großstädtische Leben zwischen derCity und dem Spittelberg zum Strömen bringen. Für den einzigen Durchgang vom 7. Bezirk steht eine schmale Baulücke in der Breiten Gasse zur Verfügung. Dort befindet sich ein Steg, der, obwohl seine geringe Neigung eine Rampe problemlos zugelassen hätte, als achtstufige Stiege ausgebildet ist. Damit ist der Zugang zu einem der beiden Aufzüge für die Rollstuhlfahrer versperrt. Selbstredend muss man jetzt die Brücke umbauen. So wie man nachträglich den Monumentalstiegen zu den zwei Museen die scheußlichen Glasbrüstungen und Zinkeisenhandläufe aufsetzen hat müssen.

Der unerfreuliche Weg führt über eine Dachterrasse an einem Bärengraben vorbei, der früher der Garten des berühmten Glacisbeisls war. Angeblich soll das einst wegen seines Verstecktseins beliebte Gartenrestaurant wieder zurückkehren, wer aber wird da noch speisen wollen, wenn von oben die Passanten direkt in die Teller schauen können? Dieser ins Dach hineingeschnittene Weg ist auf die einfallsloseste Dachaufstockungsart gestaltet, die man sich nur vorstellen kann.

Der gänzlich mit Klinkerziegelattrappen verkleidete Bunker ist die bestversteckte kommunale Kunsthalle für die zeitgenössische Kunst auf der Welt. Natürlich ist darunter alles aus Stahlbeton - so wie bei den beiden Museen auch. Eine völlig banale Stahlbetonkiste, verkleidet mit roten Ziegeln. Wohl deshalb, weil rote Klinker einst beliebtes Dekorelement der kommunalen Wohnhäuser des Roten Wien waren. Auch der komische Bogen, der der verputzten Winterreithalle hinzugefügt wurde, damit die Menschen den Eingang zur Kunsthalle überhaupt finden, ist aus roten Ziegeln. Diese Form ist allerdings ein für die faschistische Architektur der Mussolini-Zeit charakteristisches Element.

Durch einen Tunnel im Satteldach des einstigen Lagergebäudes erreicht man einen mit einer Stiege verbunden Steg. Der dunkle Bunker mit den schmalen Schießscharten statt der Fenster ist der sichtbare architektonische Höhepunkt des MuQua: das MUMOK SLW, wie das Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien nun heißt. „Dieser Begriff ist einprägsam und weltweit unverwechselbar“, berichtet die erste Nummer des MUMOK SLW Newsletter. MUMOK kommt nur im Wörterbuch der Zine-Sprache in Tschad vor und ist ein Synonym für „bak-bak“, was „fest und lang“ bedeutet. Die MUMOK SLW Newsletters berichten darüber, wie Journalisten aus aller Welt auf unterschiedlichste Weise inspiriert wurden. Als „ernstes Symbol der Unbestechlichkeit“ liege das MUMOK neben der „barocken Leichtigkeit“ der Kunsthalle, urteilt der Mann von der Neuen Zürcher. Fraglich bleibt, ob er die barocke Leichtigkeit an der plumpen alten Winterreithalle oder an der noch plumperen neuen Kunsthalle entdeckt hat. Er ist aber nicht der Einzige, der diesen Blödsinn schreibt. Während die Neue Passauer Zeitung feststellt, dass der „gewaltige gewölbte Bau trotz seiner Ausmaße durch die unregelmäßige Oberfläche aus anthrazitfarbenem Lavagestein leicht und einladend wirkt“, kommt das MUMOK SLW-Blatt zu anderen Assoziationen: „Schlachtschiff, U-Boot, Space-Shuttle. Tatsächlich wirkt der Neubau von außen wie (...) ein dunkler, geschlossener Block, der unmittelbar aus der Tiefe aufzutauchen scheint“. Man kann es freilich auch umgekehrt betrachten: Er versinkt in der Tiefe.

Wohin auch immer. Der kleine, unauffällige Einschnitt in diesem „Lava-Fels in Kultur-Brandung“ (die Presse) ist der Eingang und symptomatisch für die ausgeklügelte Symbolik im ganzen MuQua: Der Zugang zur Kunst soll erheblich erschwert werden. Der Eingang in das gegenüber liegende Cafe ist unvergleichbar größer und einladender als der ins MUMOK SLW. Die Gastronomie funktioniert.

Es gibt viele Absurditäten in diesem MuQua; die größten sind wohl die beiden Monumentalstiegen, über die man den Kunstgenuss ersteigen muss. Für Rollstuhlfahrer stehen Lifte zur Verfügung, die allerdings nicht leicht zu finden sind. Während im Centre Pompidou (eröffnet 1977) oder in Tate Modern (2000) der Platz draußen gleichsam hineinfließt, wird in Wien das Gegenteil angestrebt: verbauen. Weshalb die Eingänge nicht ebenerdig situiert sind, bleibt rätselhaft.

Drinnen im MUMOK SLW merkt man, dass - erstens - der nach außen so kompakt wirkende Block aus zwei voneinander getrennten Teilen besteht, die durch Brücken in jeder Etage miteinander verbunden sind; und dass - zweitens - das Museum tief in der Erde vergraben ist. Es gibt kein Foyer. Man steht gleich vor einem tiefen Loch. Der Schacht mit den drei Personenaufzügen, auf den Laurids Ortner besonders stolz ist, soll den Bergbau symbolisieren. „Dieses Haus wirkt wie ein Bergwerk der Künste, in das man einfahren kann zu Minimal, Pop-Art oder Arte povera und in dem etwas von den vulkanischen Aus- und Umbrüchen, auch vom Schwarz und Weiß des 20. Jahrhunderts, fortzuleben scheint“: Der Zeit-Kunstknappe Hanno Rauterberg hat eine der zahlreichen Metaphern, mit denen Laurids Ortner die Journalisten laufend versorgt, dankbar aufgenommen.

Doch das alles sind bloß Urteile, und die sind beweglich. Fest hingegen steht die Aufteilung der Ausstellungsflächen auf die Geschoße und der Geschoße auf die beiden Trakte:Die Ausstellungssäle sind jeweils um einen halben Stock versetzt, sodass der Besucher nach der Besichtigung eines der verhältnismäßig kleinen Säle entscheiden muss, ob er mit dem Aufzug um eine Etage weiterfährt oder über die Stiege geht.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Säle auf der linken Seite viel kleiner sind, sodass die Ausstellungsmacher (jetzt Lorand Hegyi, dann Engelbert Köb) ihre Konzepte nach der Größe der Werke durchdenken müssen: eine - sagen wir es sehr wohlwollend - völlig unorthodoxe Lösung für ein Museum der Gegenwartskunst. Hinzu kommt, dass die wichtigsten Wände von Fluchtwegtüren oder mit Infrastrukturkasten besetzt sind.

Die wahre Katastrophe des MuQua aber ist die kommunale Kunsthalle. Die Kombination mit den in die Winterreithalle äußerst mühevoll hineingestopften Tanz- und Theatersälen erweist sich als überaus ungünstig. Man geht hinein, zahlt an der Kassa und weiß nicht, wo es weitergeht. Mehrere Eingangslöcher stehen zur Verfügung. Drinnen setzt sich die Irritation fort. In der umgebauten Restreithalle sieht es aus wie in einem renovierten Vorstadtkino, das früher einmal ein Tanzsaal war. Allerdings ist das Durcheinander an Materialien und Formen samt der entsetzlichen neubarocken Stukkatur derart stark, dass es erforderlich geworden ist, viele Teile hinter textilen Vorhängen zu verstecken: die Spiegel, die unangenehm grell leuchtenden Milchglaswände, den gläsernen Aussichtsaufzug.

Das „Ziegelfoyer“ erinnert an ein evangelisches Kirchenzentrum aus den früher Siebzigerjahren irgendwo bei Hamburg. Dort waren Klinkerwände wegen der großen Ziegelbautradition gleichsam obligatorisch - allerdings echt gemauert und nicht bloß aufgeklebt wie hier. Laut der MuQua-Metaphorik soll es eine Fabrik symbolisieren: sozusagen die Werkhalle, in der die neue, heiße Kunst geschmiedet wird, während im Basalt-Museum jene Kunst untergebracht ist, die den Vulkan bereits verlassen hat und nun einen verdienten Platz für die Auskühlung in der Kunstgeschichte bekommt. Das außen wie innen mit weißem Muschelkalkstein verkleidete Leopold Museum hingegen soll „die konsolidierte Geschichtlichkeit der Sammlung Leopold symbolisieren“ (MuQua-Presseinformation).

Der Hauptsaal der Kunst- und Werkhalle ist eine Art Hommage a Fischer von Erlach. Er weist eine Gewölbedecke auf, die durch prägnante Streifen mit Ausstellungstechnik und Licht zusätzlich sakralisiert wird. Weil die Schächte mit den Aufzügen und Stiegen in den Saal hineingestellt wurden, wirkt der Raum klein, bedrängt und unbestimmt. Wie mühsam es sein wird, unter der verhältnismäßig niedrigen Gewölbedecke gute Ausstellungsarchitektur zu schaffen, lässt bereits die Gestaltung der „barocken Party“ ahnen, mit der auch so gute Architekten wie Berger + Parkkinen gescheitert sind.

Das Leopold Museum ist farblich mit dem hellen Kalksteinbelag des geräumigen kahlen Innenhofes verbunden und beherrscht dadurch visuell das ganze MuQua-Hauptfeld, das mit der imperialen Loggia der Winterreithalle den Charme eines Kasernenplatzes verströmt - allerdings in einer mediterranen Stadt. Rudolf Leopold muss man gratulieren. Er ist der klare Sieger der MuQua-Wettlaufes. Der kluge, neureiche Mann aus Grinzing hat von dem neureichen, klugen Mann aus Aachen, Peter Ludwig, gelernt, wie man es am besten macht, wenn man Kunst stiftet. Wahrscheinlich als Einziger hat Leopold genau das bekommen, was er sich gewünscht hat: ein prachtvolles Mausoleum zur Lebzeiten. Drinnen maßgeschneidert für seine Sammlung, draußen blendend aufpoliert für das Selbstgefühl.

Dass die Stadt Wien zugestimmt hat, ihre Prestigeinstitution der Kunst unsichtbar im Hinterhof des toten Reithauses verstauen zu lassen, macht den Triumph Leopolds noch strahlender. Unwahrscheinlich, dass sich die Rathaussozialisten von der roten Farbe der Klinkerverkleidung allein blenden haben lassen. Vielmehr haben sie der Verfügung von Aurelius fast wortwörtlich Folge geleistet, wie sie dieser bereits im Herbst 1992 in der Kronen Zeitung bekannt gab: „Verkleinert man das Museum moderner Kunst und die Ausstellungshalle um etwa ein Drittel, fände die letztgenannte leicht Platz anstelle der unwichtigen Veranstaltungshalle und das Leopold Museum auf dem früheren Platz der Ausstellungshalle.“ Das ist der Grundstein des Desasters: Die Freundschaft der zwei neureichen, klugen Männer aus Grinzing. Dazu kamen einige Verfahrensfehler.

Der erste Kardinalfehler passierte 1990 der Jury unter dem Vorsitz Ernst Gisels. Ortner & Ortner reichten für die zweite Runde ein völlig anderes Projekt ein. Eines, von dem Hans Hollein behauptete, es sei von seinem Entwurf abgekupfert. Wie auch immer: Ortner & Ortner übernahmen Holleins Strategie einer städtebaulichen Collage. Die weitgehend unverbindliche Verteilung und Ausformung der Bauten im Entwurf ermöglichte Rochaden, Verkleinerungen, Auslassungen und den Austausch von Bautypen (Stahlbetonbau statt Glas-Eisen-Bau). Durch die Veränderungen und Abweichungen vom tatsächlich prämierten Entwurf lassen sich viele unverständliche Aspekte der nun vollendeten Neugestaltung erklären. Zum Beispiel, weshalb der Weg so obskur über die Dachböden geführt wird: weil die Altbauten nicht durch Neubauten ersetzt wurden. Oder weshalb das MUMOK von der rechteckigen Ausrichtung der barocken Anlage abweicht: weil die Achse des MUMOK auf einen der letztendlich doch nicht gebauten Neubauten ausgerichtet war und als Residuum der ursprünglichen, durchaus sinnvollen Komposition übernommen wurde - nun völlig sinnlos und falsch. Eine Abweichung übrigens, die den Eindruck hervorruft, dass die Winterreithalle die beiden Museumsblöcke fast gewaltsam auseinander hält. Ganz im Sinn der katholischen Ikonographie übrigens, die Ortner & Ortner der gesamten Komposition - bewusst oder unbewusst - zugrunde gelegt haben: Das Helle ist das Gute, das Dunkle ist das Böse, und das Böse wird zurückgehalten.

Der zweite Kardinalfehler bestand darin, mit einer derart riesigen Aufgabe nur ein einziges Architektenteam zu beauftragen. Ortner & Ortner waren hoffnungslos überfordert - genauso wie Politiker, Museumsexperten, Denkmalschützer ... Es wäre ratsam gewesen, die einzelnen Kunsthäuser von verschiedenen Architekten ausführen zu lassen. Die Konkurrenz der Architekten untereinander hätte dem Gesamtprojekt gut getan; hätte die federführenden Architekten gegen die widrigen Umstände gestärkt. Ein starker, unter Umständen ausländischer Architekt hätte es sich nicht gefallen lassen, mit der Kunsthalle in den Hinterhof abgeschoben zu werden. Ortner & Ortner konnte es egal sein, immerhin haben sie noch zwei andere prächtige Platzhirsche im Areal vorzuweisen.

Der dritte Kardinalfehler war der staatliche Ankauf der Schiele-Klimt-Ozeanien-et-cetera-Sammlung von Rudolf Leopold. Durch sie hat die Idee des MuseumsQuartiers eine neue Bestimmung bekommen, die im fundamentalen Widerspruch zur ursprünglichen Intention eines ausschließlich gegenwartsbezogenen Kulturzentrums steht. Symptomatisch: Das MuQua wirbt nun nicht mit Architektur, sondern mit Gastronomie. Und so wird es wohl bleiben.

Der vierte Kardinalfehler schließlich bestand darin, dass Ortner & Ortner die Gestaltung des Vorplatzes vor dem Fischer-von-Erlach-Bau nicht entzogen wurde. Offensichtlich haben sich die Architekten vom Zentralfriedhof inspirieren lassen: Die heckenumrahmten Rasenflächen erinnern an die Ehrengräber der Stadt Wien. So wie die Steinsitzbänke vor der Winterreithalle wie Grabsteine aussehen und genauso bequem sind.

Falter, Mi., 2001.06.20



verknüpfte Bauwerke
MuseumsQuartier Wien - MQ

13. Juni 2001Elena Stolicna
Jan Tabor
Falter

Geschichte eines Platzes

In Bratislava liegt einer der größten Plätze Europas. Wie es dazu kam, dass er Freiheitsplatz heißt, welche Wiener Architekten dort Geld verdient haben, was er mit Godards Film „Le Mepris“ zu tun hat und woher sein italienisches Flair stammt, erzählen

In Bratislava liegt einer der größten Plätze Europas. Wie es dazu kam, dass er Freiheitsplatz heißt, welche Wiener Architekten dort Geld verdient haben, was er mit Godards Film „Le Mepris“ zu tun hat und woher sein italienisches Flair stammt, erzählen

Die Art, wie das nationalsozialistische Deutschland mit Kunst und Architektur des faschistischen Italien umging, war einer der besten Treppenwitze der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Man könnte sagen, die Nazis sind vor der italienischen Kultur verlegen geworden, aber eigentlich fühlten sie Abscheu. Außerdem fürchteten sie, die italienische Kunst könnte ihren nach der Machtergreifung im Jänner 1933 mit Brachialgewalt eingeleiteten „Gesundungsprozess“ der deutschen Kunst beeinträchtigen. Zu Beginn der Naziherrschaft hatten einflussreiche NS-Bonzen wie Propagandaminister Joseph Goebbels oder Luftwaffenmarschall Hermann Göring versucht, einige Künstler und Teile der deutschen Moderne, vor allem den Expressionismus und die Neue Sachlichkeit, doch irgendwie der mit ideologischem Kitsch vollgestopften NS-Kunstdoktrin einzupassen. Auch manche Vertreter der Architekturavantgarde, wie Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, hegten zunächst die Hoffnung, die revolutionären Auffassungen ihres Bauhaus-Stils könnten für die Zwecke des Nationalsozialismus adaptiert und dem Geschmack der Nazibonzen angepasst werden. Selig blickte man südwärts. Denn Mussolinis Italien nährte die Hoffnungen mancher Avantgarde-Narren, der Nationalsozialismus könnte auch so fesch sein wie der Faschismus.

In Italien hatte sich die radikale Moderne mit dem Faschismus verbündet - ja mehr noch, diese Moderne hatte den Faschismus miterfunden und so die Position einer groß geförderten und gehätschelten Staatskunst und -architektur errungen. Auch jene Künstler, die nicht zu den Bevorzugten des Regimes gehörten - schließlich gab es Radikale und Konservative der Moderne, die einander nicht mochten - konnten zumindest auf die Duldung durch die faschistischen Machthaber bauen. Davon waren die Modernen in Nazideutschland weit entfernt - und ihre Hoffnung auf italienische Verhältnisse blieb Illusion. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, fand hier keine Rezeption der italienischen Kunst und Architektur statt. Es gab kaum Ausstellungen, und jene zwei, die veranstaltet werden durften, endeten mit einem politischen Eklat.

Zum ersten Skandal kam es im Frühjahr 1934. Am 28. Februar wurde im Hamburger Kunstverein eine Ausstellung des italienischen Futurismus, in seiner Spätphase Aeropittura (Flugmalerei) genannt, eröffnet. Im März kam die kleine Schau nach Berlin, in die ehemalige Avantgarde-Galerie Flechtheim am Lützowufer. Sie stand unter dem Ehrenschutz von Goebbels, Göring und Erziehungsminister Rust sowie Vittorio Cerruti, dem italienischen Botschafter in Berlin. Aus Italien war Fillippo Tommaso Marinetti angereist, der „Hersteller und Direktor des Futurismus“, wie der Dichter Gottfried Benn ihn nannte. Marinetti erschien in der Funktion des Präsidenten der italienischen Akademie der Wissenschaften. Nach der Eröffnung lud die „Union Nationaler Schriftsteller“ zum Empfang in den Festsaal des Hauses der Deutschen Presse. Diesem blieben allerdings, wie zuvor schon der Vernissage, alle wichtigen offiziellen Persönlichkeiten des NS-Regimes fern. Hingegen kamen einige Proponenten der deutschen Moderne, unter anderen der Dadaist Kurt Schwitters und der Bauhaus-Künstler Laszlo Moholy-Nagy mit Gattin Sibyl.

In der Festrede feierte Gottfried Benn Fillippo Tommaso Marinetti als den Vorboten einer der Moderne freundlichen NS-Kunstpolitik. Zum Entsetzen seiner Freunde gab er seine Zustimmung zur Nazipropaganda von „Form und Zucht“ als „Grundlage des imperialen Weltbildes“ im neuen Deutschland: „Form: in ihrem Namen wurde alles erkämpft, was Sie im neuen Deutschland um sich sehen; Form und Zucht: die beiden Symbole der neuen Reiche; Zucht und Stil im Staat und in der Kunst“. Zum Glück verstand Marinetti kein Deutsch. Statt sich Benns Rede zu Herzen zu nehmen, sprach er mit Kurt Schwitters dem süßen Rheinwein zu. Dann rezitierte er, um die trübe Stimmung zu heben, die „parole in liberta“ (Worte in Freiheit) aus seinem alten onomatopoetischen Text „Adrianopoli Assedio Orchestra“. Der bereits betrunkene Schwitters sprang auf und fiel in Marinettis Vortrag ein. Er deklamierte sein legendäres Dada-Gedicht „Anna Blume“. Hinterher stellte er sich, wie Sibyl Moholy-Nagy in ihren 1950 erschienenen Erinnerungen „Ein Totalexperiment“ schreibt, einem Kraft-durch-Freude-Funktionär als „arischer Künstler“ vor.

Der Völkische Beobachter, Hauptorgan der NSdAP, veröffentlichte einen polemischen Aufsatz gegen die Futuristen-Ausstellung, der sich gegen Marinetti richtete. Er hatte als italienischer Abgesandter die Stellung eines Staatsgasts, trotzdem wurde er als Anarchist bezeichnet. Die „avantgardistische Walpurgisnacht“, wie es der Germanist Peter Demetz in seinem Buch „Worte der Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912-1934“ nennt, hatte Folgen. In seiner Rede am Nürnberger Reichsparteitag im September 1934 erklärte Hitler unmissverständlich: Der deutschen Kunst drohe Gefahr von „Kubisten, Futuristen, Dadaisten“; er wolle gesunde deutsche Kunst. Die zweite Ausstellung der italienischen Moderne fand im November 1937 in Berlin statt. Sie war nur kurze Zeit zu sehen. Berichte gab es ausschließlich in der ausländischen Presse, und dort wertete man sie als Sensation. Der christliche Ständestaat, das Organ des austrofaschistischen Regimes, spottete über die Inkonsequenz der Nazis, einerseits mit der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München gegen die eigene „Verfallskunst“ zu kämpfen und andererseits die italienische Verfallskunst in einer anderen Ausstellung als akzeptabel zu präsentieren.

Die gleichgeschalteten deutschen Medien - einschließlich der Fachpresse - vermieden seit 1934 jegliche Berichterstattung über die italienische Kunst. Italien war der engste Verbündete Nazideutschlands, Benito Mussolini galt bis zur Machtergreifung der Nazis als nachahmenswertes Vorbild für Adolf Hitler. Daher konnte man nicht veröffentlichen, was man vom Großteil der faschistischen Kunst- und Architekturproduktion hielt (und auch gern geschrieben hätte): „entartet, krankhaft und judobolschewistisch“. Freilich war nicht die gesamte Kunst- und Architekturproduktion in Italien so avantgardistisch, dass sie den Augen der strengen deutschen Betrachter in ihrer Gesamtheit als entartet erscheinen musste. Dies stellte die nazideutschen Kunst- und Architekturbetrachter - Kritik war verboten - vor ein Problem: Sie konnten nicht eindeutig definieren, was entartet war und was nicht. Als weitere Schwierigkeit kam hinzu, dass viele bedeutende italienische Künstler Juden waren - in Mussolinis Reich anfangs kein großes Thema. So hatte etwa der jüdische Künstler Corregio Cagli den italienischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung von 1937 mit monumentalen Bildern einer Apotheose des Faschismus ausgestattet. Alles in allem war es für die Zeitungen in Nazideutschland ratsamer, auf Berichte über italienische Kunst und Architektur völlig zu verzichten, als womöglich einen Fauxpas zu begehen.

1938 begann sich die Situation in Italien im Sinne Nazideutschlands zu klären. Die faschistische Regierung übernahm die Nürnberger Rassengesetze und begann Juden zu verfolgen. Marinetti fertigte eine Liste an, die auswies, wer von den italienischen Avantgardisten Jude war. Daraufhin musste Cagli aus Italien flüchten. Die rechte Fraktion der Faschisten um den Parteisekretär Roberto Farinacci eröffnete den Kampf gegen die Moderne und für die Durchsetzung der deutschen Stildoktrinen in Kunst und Architektur. Die Avantgarde wurde als „judobolschewistische Entartung“ diffamiert. Viele wollten nicht weiter mitmachen, auch viele Faschisten nicht. Das Regime begann zu zerfallen. Am 10. Juli 1943 begann die Invasion der Alliierten auf Sizilien. Fünfzehn Tage später setzte der Gran Consiglio del Fascismo (Großer Faschismusrat) Mussolini als Duce ab und arretierte ihn in einem Berghotel in Gran Sasso. Am 13. Oktober 1943 erklärte Italien Deutschland den Krieg.

Im Dezember 1943 erschien in Berlin eines der letzten Hefte der von Albert Speer herausgegebenen, luxuriös ausgestatteten Zeitschrift Die Kunst im Deutschen Reich. Nicht nur Druckpapier war knapp, auch an guten Nachrichten von der Kunst- und Baukunstfront mangelte es zunehmend. Das dürfte der Grund gewesen sein, weshalb in dieser ideologisch stets einwandfrei gehaltenen Zeitschrift ein Aufsatz stand, der noch wenige Monate zuvor als unpublizierbar erachtet worden wäre. Eine Reihe von Fotos zeigte bemerkenswerte Beispiele des tschechischen Funktionalismus und des italienischen Rationalismus. Sie wurden analytisch kommentiert und nur schwach mit Hohn überzogen. Der Artikel handelte von den Aufbauplänen in Bratislava, einer Provinzstadt, die sich anschickte, eine Hauptstadt zu werden. Bratislava wurde dabei von einer anderen Provinzstadt des Großdeutschen Reiches, nämlich Wien, im Interesse der nationalsozialistischen Politik schwesterlich betreut. So stand es freilich in Speers Zeitschrift nicht zu lesen.

Sondern so: „Es ist ein Vorrecht junger und lebenskräftiger Staaten, dass sie durch bauliche Monumente ihren Daseinswillen für die Zukunft verankern. Wie es eine der ersten Lebensregungen des neuen Deutschlands unter der Führung Adolf Hitlers gewesen ist, im Bild einer aus dem neuen Geist heraus umgestalteten Hauptstadt dem Volk für Gegenwart und Zukunft den sicheren Mittelpunkt des Reiches zu verkörpern, so hat nunmehr auch der verbündete slowakische Staat mitten im Kriege einen ähnlichen Weg beschritten. In einem Regierungsviertel, das die Zentralpunkte des politischen Lebens der Nation in einheitlicher Gestaltung symbolhaft zusammenfassen wird, und in einer Hochschulstadt als sichtbarem Ausdruck der geistigen Kräfte des Volkes sollen die Grundlagen des jungen Staates dargestellt werden.“ Der Autor des mit „Die Formung einer Hauptstadt“ überschriebenen Aufsatzes hieß Hans Stephan.

Was war das für ein junger Staat? Am 29. September 1938 hatten Hitler, Mussolini, der britische Ministerpräsident Chamberlain und sein französischer Kollege Daladier in München beschlossen, dass die mit Frankreich und Großbritannien durch Verträge verbundene Tschechoslowakei die sudetendeutschen Gebiete an Nazideutschland abtreten müsse. Am 21. November 1938 erließ Hitler den Geheimbefehl zur „Erledigung der Rest-Tschechei“; am 15. März 1939 besetzten die deutschen Truppen die Reste der Tschechoslowakei; am 16. März 1939 proklamierte Hitler in Prag die Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“. Doch zwei Tage zuvor schon war „der junge Staat“ geboren worden: Am 14. März 1939 hatte man den selbstständigen slowakischen Staat ausgerufen. Seine politische Form war die klerikalfaschistische und nationalistische Diktatur nach deutschem Vorbild - vor allem, was die Verfolgung von Juden und Zigeunern betraf. Es herrschte jedoch auch eine Vorliebe für das Italienische. Denn viele der Kleriker, die den Kern der slowakischen Elite bildeten und damit den Ton im ersten selbstständigen Staat in der Geschichte der Slowaken angaben, hatten sich in Rom als Seminaristen oder Pilgerreisende aufgehalten. In Berlin war kaum einer von ihnen je gewesen.

Die Architekturgeschichte besteht aus zwei Geschichten: aus einer Geschichte der gebauten und einer der ungebauten Architektur. Außerdem zerfällt sie, wie jede Geschichte - selbst die Weltgeschichte - in eine geschriebene (beachtete, erforschte) und ungeschriebene (unbeachtete). Der slowakische Staat, dieser bedeutungslose und machtlose Vasall am Rand des Großdeutschen Reiches, trug zur Weltgeschichte der gebauten Architektur nicht nennenswert bei. Doch lieferte er einen einzigartigen Beitrag zur Geschichte der ungebauten europäischen Architektur.

Ausgangspunkt waren zwei internationale Wettbewerbe, an denen Architekten aus Nazideutschland, der Ostmark, Italien, dem Protektorat Böhmen und Mähren sowie der Slowakei teilnahmen. Das Einzigartige daran war, dass es zu einer einmaligen direkten Konfrontation zweier entgegengesetzter Architekturauffassungen kam: NS-Klassizismus versus italienischer Rationalismus. Obwohl mittlerweile eine umfangreiche Literatur zum Thema totalitäre Architektur existiert, sind die beiden Wettbewerbe in Bratislava von den Architekturhistorikern bisher unbeachtet geblieben. Die Umstände, unter denen dieses Stück Architekturgeschichte stattfand, waren für das Dritte Reich der Anfang vom Ende. Am 18. November 1942 kam die deutsche Sommeroffensive in Russland zum Erliegen. Tags darauf eröffnete die Rote Armee ihre Wintergegenoffensive und schloss drei Tage später den Ring um Stalingrad. Hitler verbot der deutschen Armee den Ausbruch aus dem Kessel.

Im Dezember 1942 fasste die Regierung des slowakischen Staates den Beschluss, in der Hauptstadt Bratislava ein repräsentatives Regierungsviertel zu errichten. Das Ministerium für Verkehr und öffentliche Arbeiten schrieb einen „internationalen, nicht anonymen, engeren“ - heute würde man sagen „geladenen“ - Wettbewerb aus. Eingeladen wurden vier slowakische und drei ausländische Architekten- (gruppen). Die Aufgabe umfasste die Planung einer Reihe von Gebäuden: von vier Ministerien, einem Zentralpostamt, zwei weiteren Verwaltungsgebäuden, einem Haus der Hlinka-Partei und einem Haus der Deutschen Partei sowie einem Hlinka-Denkmal und einem Grabmal des unbekannten Soldaten. Die Bauten sollten um einen etwa fünf Hektar großen Platz gruppiert werden, der für Militäraufmärsche Massenkundgebungen und Veranstaltungen der Partei zu dienen hatte. Die beiden monumentalen Parteihäuser sollten dafür eine geeignete Kulisse bilden. Zu berücksichtigen war dabei das barocke erzbischöfliche Palais, jetzt Sitz des Außenministeriums.

Es stand ein wenig abseits, am Rand einer riesigen Brache, dem „Marsfeld“ von Bratislava. Hier fanden Jahrmärkte, Militärübungen und -paraden, Zirkusvorstellungen, Massenkundgebungen und dergleichen statt, und hier war Jan Bahyl 1897 als Erster mit einem von ihm konstruierten Hubschrauber aufgestiegen. Dieses Feld würde der Mittelpunkt des neuen Regierungsviertels bilden. Einst Fürstenplatz genannt, gab ihm der junge slowakische Staat den Namen „Freiheitsplatz“. Im Volksmund hieß er wegen des wüsten Zustandes Sahara. Fristgerecht zum 1. Mai 1943 wurden vier Projekte eingereicht. Den ersten Preis teilte die Jury Josef Gocar zu - eine überraschende Entscheidung. Es war ja schon erstaunlich, dass der Tscheche Gocar überhaupt eingeladen worden war. Die Slowaken mochten Tschechen nicht besonders. Sie hielten sie für gönnerhafte Besserwisser. Allerdings sagte man Gocar eine slowakische Großmutter nach.

Der Architekt aus Prag war durch originelle kubistische Bauten bekannt geworden. Er entwickelte sich zum führenden Architekten des tschechischen Funktionalismus, dem nicht deklarierten Staatsstil der demokratischen tschechoslowakischen Republik.

Für Bratislava wartete er mit einem Entwurf auf, der aussah, als hätte die demokratische Tschechoslowakei nie zu existieren aufgehört. Gocar verzichtete nicht nur auf die hierarchische Abstufung der Gebäude, sondern auch auf die repräsentative Gestaltung der Amtsbauten. Außerdem hielt er sich nicht an die Forderung nach einem großen Platz für Massenaufmärsche. Im Gegenteil: Er verkleinerte die Platzfläche erheblich und teilte sie auf zwei miteinander verbundene, doch selbstständige Plätze auf. Gocar war ein erfahrener Praktiker. Er kannte seine Pappenheimer und die Pappenheimer kannten ihn. Wahrscheinlich waren die meisten Architekten der rein slowakischen Jury Anhänger des Funktionalismus und ebenso wahrscheinlich auch Absolventen einer Prager Architekturschule. Sie erkannten die hohe städtebauliche Qualität und vor allem den Realismus in der Abwicklungstechnik in Gocars Entwurf.

Den zweiten Preis teilten sich zwei Arbeitsgemeinschaften: Adalberto Libera und Ernesto La Padula aus Rom sowie Siegfried Theiss, Hans Jaksch und Werner Theiss aus Wien. Dies war eine politische Entscheidung. Vor dem Krieg hatten Theiss/Jaksch zu den bedeutendsten gemäßigt modernen Architekten Österreichs gehört. In Wien errichteten sie unter anderem 1930 das Hochhaus in der Herrengasse und 1936 die Reichsbrücke - sie sollte 40 Jahre später einstürzen. Auch heute noch sind sie in der Stadt fast allgegenwärtig: Die Palmers-Lokale stammen von ihnen. Sie wurden in den Dreißigerjahren entworfen und weisen tatsächlich zeitlose Designqualität auf. Nach dem „Anschluss“ schlossen sie sich sofort begeistert und bedingungslos dem Nationalsozialismus und dessen Architekturdoktrin an. Diese war von Albert Speer und Hitler festgelegt worden und wurde in den von Speer herausgegebenen Publikationen allgemein bekannt gemacht. Der Entwurf von Theiss/Jaksch für Bratislava war kaum mehr als eine Variante der häufig geplanten Gauanlagen, mit denen die deutschen Städte bestückt werden sollten: ein riesiger, maßstabsloser Aufmarschplatz, umrahmt von gewaltigen neoklassizistischen Baumassen, hierarchisch geordnet, funktional gleichgültig und hauptsächlich eine übermächtige Kulisse. Dominierend war eine Monumentalsäule a la Trajan für den Säulenheiligen des slowakischen Faschismus, Pater Andrej Hlinka. Die Jury sprach ein leichtes Lob für die künstlerische Qualität der Gesamtanlage aus, kritisierte aber ungewöhnlich deutlich die Einzelteile des Entwurfes.

Die Einladung an das Büro Theiss/Jaksch - mit einem beachtlichen Teilnahmegeld - erfolgte wohl, weil Theiss in Bratislava geboren worden war. Trotzdem zeigte er sich ungemein stolz auf seinen Bratislava-Wurf. Er ließ sich mit dem Modell des Regierungsviertels in Hintergrund für das vom Wiener Gauleiter Baldur von Schirach geplante Walhalla für Wiener porträtieren. Von Schirach beabsichtigte, den Theseustempel aus dem Volksgarten auf den Heldenplatz zu versetzten und dort die Wiener Ruhmeshalle einzurichten. Dafür wurden bei Wiener NS-Malern zahlreiche Porträts bestellt, auch eines von Theiss. Das Gemälde befindet sich heute im Depot des Historischen Museums. Adalberto Libera hatte man vermutlich eingeladen, weil er 1941 Juror beim internationalen - ausdrücklich nur für „arische Fachleute“ offenen - Wettbewerb für den Aufbau der Universitätsstadt in Bratislava gewesen war. Damals wurden 24 Entwürfe eingereicht. 16 aus dem Deutschen Reich und der Ostmark, fünf aus der ehemaligen Tschechoslowakei und drei aus Italien. Keiner erfüllte die Erwartungen, es wurde kein erster Preis vergeben. Den zweiten Preis erhielten ex aequo Hans Wolfgang Draesel / Willi Kreuer aus Berlin für Doktrintreue und die Brüder Ernesto und Attilio La Padula aus Rom für einen rationalistischen Entwurf.

Kulturpolitisch bemerkenswert war die Teilnahme der Brüder Ernst und Wassili Luckhardt aus Berlin. Sie waren Mitglieder linker Künstlervereinigungen wie des „Arbeitsrates für Kunst“ und der „Novembergruppe“ und wurden später als besonders konsequente Vertreter der rationalistischen Architektur in Deutschland international geschätzt. Während der NS-Zeit hatte man sie mit Berufsverbot belegt, doch tauchten sie plötzlich beim Wettbewerb in Bratislava auf. Es wäre interessant herauszufinden, unter welchen Umständen sie daran teilnehmen durften - hatte sich ihre Auffassung inzwischen verändert? Schon 1933 war von ihnen ein bemerkenswerter Wettbewerbsentwurf für die medizinische Universität auf dem Burgberg in Bratislava abgegeben worden. Ernesto La Padula, mit dem Adalberto Libera zum Wettbewerb ums Regierungsviertel von Bratislava antrat, war der Architekt jenes monumentalen Palazzo della Civilta Italiana, der am Rand des neuen Stadtteils EUR 42 von Rom für die Weltausstellung 1942 errichtet wurde. Wegen seiner formalen Ausgefallenheit sollte er nach dem Krieg zu einem der am häufigsten abgebildeten Bauwerke des Faschismus werden. Die Römer nennen das Baumonument, das nur aus Arkaden zu bestehen scheint, ein „quadratisches Kolosseum“.

Libera selbst gilt als der erfolgreichste Architekt Italiens im 20. Jahrhundert. Seine Fähigkeit, die faschistische Ideologie in die Formen radikaler Avantgarde umzusetzen, war einzigartig - unter anderem errichtete er die italienischen Pavillons bei den Weltausstellungen in Brüssel 1935 und New York 1939. In Bratislava engagierte er sich mit einem Entwurf aus kriegsbedingter Unterbeschäftigung - zumindest steht das in seiner Monographie. Außerdem dürfte er von der Professionalität und Objektivität beeindruckt gewesen sein, mit dem die Slowaken den Universitätswettbewerb, bei dem er Juror gewesen war, vorbereitet und durchgeführt hatten. All die Avantgardisten, die am Wettbewerb für das Regierungsviertel in Bratislava beteiligt waren, waren brutale Opportunisten - Libera, La Padulas, Gocar und die Luckhardts. Sie wussten, dass jüdische Architekten ausgeschlossen waren, dass Juden deportiert wurden und billigten es oder nahmen es hin.

La Padula und Libera lieferten einen Entwurf in bester Qualität: eine italienische Synthese von faschistischer Monumentalität und internationaler Modernität. Sie beließen den Platz, der zu den größten Europas zählt, in seinen unbewältigbaren Maßen und umgaben ihn mit einem städtebaulichen Rahmen aus eher niedrigen Gebäuden. Dominiert wird er von einer schmalen, hohen Scheibe, dem Haus der Hlinka-Partei. Ein riesiges Vordach, das als Balkon und Tribüne dienen kann, vervollständigte diese eindrucksvolle Inszenierung faschistischer Macht. Die Inszenierung war das Metier von Libera. Das zeigt sich auch am Haus, das er für den Schriftsteller Curzio Malaparte 1939 auf Capri errichtet hat. Es ist eine der Ikonen der Moderne und durch den 1963 gedrehten Film „Die Verachtung“ von Jean-Luc Godard weltberühmt geworden. Neben dem Haus Malaparte spielen Brigitte Bardot, Michel Piccoli und Fritz Lang (als Fritz Lang) Hauptrollen.

Eine andere Inszenierung, sein Entwurf eines 100 Meter hohen dünnen Stahlbogens, der über der EUR 42 aufgespannt werden sollte, wurde zum Signet der baulich weit fortgeschrittenen, dann aber verschobenen Weltausstellung. Nach dem Krieg wurde der Libera-Bogen von dem finnisch-amerikanischen Architekten Eero Saarinen als „Denkmal für Thomas Jefferson und die Eroberung des Westens in St. Louis, Missouri“ errichtet. Begleitet wurde der Bau von langwierigen Prozessen, die Libera wegen Verletzung seiner Autorenrechte führte. Der Platz der Freiheit in Bratislava wurde nach der Befreiung und der Wiederherstellung der Tschechoslowakei erneut umbenannt. Nun trug er den Namen des ersten kommunistischen Staatspräsidenten Klement Gottwald und eine riesige Skulptur des Politikers. 1989 wurde sie abgetragen. Der Platz heißt nun wieder Freiheitsplatz.

1946 errichteten die slowakischen Architekten Eugen Kramar und Stefan Lukacovic an der Stelle, an der Libera das Haus der Hlinka-Partei geplant hatte, das Gebäude der Zentralpost. Es kann in vieler Hinsicht als die Verwirklichung des Libera-/La-Padula-Entwurfes gelten. Die beiden waren das einzige slowakische Architektenteam, das am Wettbewerb fürs Regierungsviertel 1943 teilgenommen hatte. Ihr Entwurf war - zu Recht - abgelehnt worden. Auf der anderen Seite des Platzes errichtete 1947 Emil Bellus das Gebäude der Architekturfakultät der TU. 1955 fand ein weiterer Wettbewerb statt. Diesmal war Monumentalität im Stil des sozialistischen Realismus verlangt. Doch noch im selben Jahr wurde die Doktrin des sozialistischen Realismus von Sergej N. Chruschtschow als unproduktiv abgesetzt - wieder musste die Vervollständigung vertagt werden. Erneut brach die Diskussion über den Libera-/La-Padula-Entwurf aus, von dem die Architektengemeinde in Bratislava nach wie vor fasziniert war. Im Sinn dieses Entwurfes wurde 1961 die untere Kante des Platzes mit einem mächtigen Komplex der Maschinenbaufakultät der TU abgeschlossen. Auch der Architekt M. Kusy' lehnte sich deutlich an den Libera-Entwurf an. Der Freiheitsplatz besitzt also durchaus einen Hauch des eleganten italienischen Rationalismo.

Auch die Wiener Theiss/Jaksch/ Theiss gingen bei der Geschichte des Platzes nicht leer aus. Die deutschstämmigen Nazis aus Pressburg fühlten sich durch den Sieg eines Tschechen beleidigt und beauftragten noch 1942 Theiss, den großen Sohn ihrer Stadt, mit dem Bau eines repräsentativen Parteihauses abseits des Freiheitsplatzes. Beendet wurde die Bauscheußlichkeit 1948, just in jenem Jahr, in dem die Kommunisten siegten, Klement Gottwald zum ersten „Arbeiterpräsidenten“ machten, und der wieder hergestellte gemeinsame Staat der Tschechen und Slowaken ein Vasall am Rande des Stalin-Reiches wurde. Mittlerweile ist der Freiheitsplatz ein schöner großer Park geworden.

Falter, Mi., 2001.06.13

16. Mai 2001Jan Tabor
Falter

Befreit den Rathausplatz!

Stadtessay. Der öffentliche Raum in Wien ist ver- und zugestellt oder in Reservate verbannt. Die neue Stadtregierung sollte die Chance nützen, die Sozialdemokratie vom Odeur der Kunstspießbürgerlichkeit zu befreien.

Stadtessay. Der öffentliche Raum in Wien ist ver- und zugestellt oder in Reservate verbannt. Die neue Stadtregierung sollte die Chance nützen, die Sozialdemokratie vom Odeur der Kunstspießbürgerlichkeit zu befreien.

Rudi, räum auf! Das Leiden der Wiener öffentlichen Räume am Horror-vacui-Syndrom ist kaum noch zu ertragen. Jetzt kann es nur besser werden. Der Frühling ist da und mit ihm das atavistische Putzbedürfnis, und auch eine zart getönte Morgenröte zeichnet sich am politischen Horizont Wiens ab.

Die beiden neuen Stadträte, Andreas Mailath-Pokorny für die Kultur und Rudolf Schicker für Stadtplanung, beide, wie man hört, aufrechte Sozialdemokraten, werden wohl die Gunst der Jahreszeit zu nutzen wissen und ihrer Partei einen unerlässlichen Dienst erweisen: Sie könnten es schaffen, die Sozialdemokraten von ihrem unverwüstlichen Kunstspießbürger-Image zu befreien. Sie sollen den kulturpolitischen Dienst an ihrer Partei damit beginnen, dass sie die öffentlichen Räume radikal befreien, indem sie diese wirklich öffentlich machen. Ungeheure Abwehrkräfte wären gegen eine mutige Entkitschung des öffentlichen Raumes in Wien mobilisierbar. Man soll dabei radikal denken und alles in Frage stellen, womit die Plätze (die in Wien ohnehin nicht besonders großzügig bemessen sind) in den letzten Jahren bestückt wurden. Alles, auch die notwendigen, aber leider künstlerisch misslungenen Denkmäler auf dem Albertina- und dem Judenplatz.

Zunächst aber soll man demonstrativ im Inneren des Rathauses beginnen. Dort im Innenhof befindet sich seit einigen Jahren eine mit vielen Muhr-Skulpturen bestückte synthetische Alpenalm, eine Art Extrem-Schrebergarten als Ökozelle. Sofort und demonstrativ aufräumen soll man auch unmittelbar vor dem Rathaus. Durch die unsagbar banalen Dauerinszenierungen auf dem Rathausplatz wird nicht nur der Platz auf Dauer devastiert und damit das Gesamtkunstwerk Ringstraße lädiert. Das Rathaus als Machtzentrum gibt auf diese Weise auch sein Kulturverständnis preis und das allgemeine Niveau im Umgang mit öffentlichem Raum vor. Der Rathausplatz ruft dauerhaft, und die ganze Stadt folgt wie verrückt. Alles ist möglich, bloß gute, zeitgenössische, kontroversielle Kunst nicht. Sie wurde aus der Stadt in abgesteckte, abgeschirmte und verwaltete Reservate verdrängt. Ins Museumsquartier etwa. Hier ist eine Gestaltung des Streifens vor den Stallungen im Gang, deren Desaster sich bereits jetzt abzeichnet.

Das unsagbare Ruinenloch am Michaelerplatz, gestaltet von Hans Hollein, soll rückgebaut werden. Die Mahlerstraße soll von Wilhelm Holzbauers seltsamer Überdachung befreit werden, und auch für die beiden kitschigen Schmuckpfeiler vor Gustav Peichls Eingang zum Kunstforum ließe sich ein besserer Platz finden: Man könnte sie als Jugendstilkarikaturen vor Peichls Karikaturmuseum in Krems aufstellen. Nach diesen demonstrativen Befreiungsakten könnte man allmählich mit behutsamer Zurückdrängung der überhand nehmenden Schanigärten, Verkaufsbuden und Eventeinrichtungen beginnen. Es muss eine Neubewertung des öffentlichen Raumes vorgenommen werden.

Der Schriftsteller Franz Schuh glaubt, dass das Wort Raum unvermeidlich sei. In seinem „topophilen Feuilleton“, das er unter dem Titel „Der Raum im All“ für das von dem Architekten Peter Hanousek mit der Hand geschriebene Buch „Raumdeutsch“ von Frantisek Lesak verfasst hat, meint Schuh außerdem, dass das Wort Raum derart vielfältige Ausdrucksqualitäten besitzt, um sowohl in der Alltagssprache als auch terminologisch einsetzbar zu sein. Der bekannte Wiener Topophile (etwa: raumliebender Mensch) Schuh beklagt die Anwendungsbeliebigkeit dieses Wortes nicht, auf das manche Menschen überaus allergisch (topophob) reagieren. Zum Beispiel der Architekturtheoretiker Dietmar M. Steiner, der kürzlich in seinem Falter-Leserbrief die jubilierenden Raumplaner (30 Jahre Raumplanungsstudium an der Technischen Universität Wien) als Vertreter eines „unsäglichen Bastards“ von Disziplin bezeichnet hat. Viele Architekten, vermutlich die meisten, leiden an Topophobie. Die Wiener Stadtplaner an Horror vacui. Ich vermute, dass es ein nur scheinbar gefügiges, in Wirklichkeit aber ein hinterhältig aggressives Wort ist.

Der Raumtheoretiker und Raumkünstler Frantisek Lesak, Professor für Plastische Gestaltung an der TU Wien, hat es kürzlich aufgegeben, die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten des Wortes Raum weiter zu erfassen. Fünf Jahre lang sammelte er dieses merkwürdige deutsche Wort in all seinen Verknüpfungsvarianten in Zeitungen, Gedichten, Fachbüchern, Gesprächen etc. Als seine Sammlung, die er „Raumdeutsch“ nennt, den Umfang von 1.300 Einträgen erreichte, brach er ab. Er habe genug, sagt er, er sehe keinen Sinn mehr darin, weiter zu sammeln. Nun stellt er zwei Drittel seiner Sammlung - zusammen mit seinen anderen, höchst anregendenRaumexperimenten - im Künstlerhaus aus.

Lesak hat über 800 von einem Zufallsgenerator ausgewählte und gereihte Raumwörter an die Stirnwand des Stiftersaales anbringen lassen. Die monumentale dunkelblaue Schrifttafel beginnt militant mit „Raum des Kampfes“ und endet weitherzig mit „Raum des Geschehens“. Lesak will Postkarten drucken lassen, die jeweils eine der Raum-Wendungen und freien Raum für eine Zeichnung enthält. Verschiedene Menschen sollten von der vorgedruckten Raum-Wendung ihre jeweiligen Vorstellungen von Raum hineinzeichnen. Lesak meint, dass jeder Mensch seine eigenen, individuell unterschiedlichen Vorstellungen hat. Das dürfte stimmen. Ich vermute, Lesak ahnt längst, dass „Raum“ in Wirklichkeit einer der unzähligen Namen Gottes ist. Da hat er Angst bekommen und aufgehört zu sammeln. Deshalb erinnert seine Wand im Künstlerhaus auch an einen Altar - an eine abstrakte Version von Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle.

Schade, dass Frantisek Lesak keine verbalen Räume mehr sammelt. Gerade habe ich eine Wendung gefunden, die er garantiert noch nicht hat und die meine These vom göttlichen Ursprung des Wortes erhärtet: „Raum des Schicksals“. Im Katalog zur Ausstellung „Anna-Lülja Praun. Möbel in Balance“ wird aus dem 1922 veröffentlichten Aufsatz „Neue Wege in der Wohnungseinrichtung“ des Wiener Architekten Oskar Strnad zitiert: „Zunächst: die Begriffe Raum und Möbel klar auseinander halten! Raum ist Schicksal. Sich vom Schicksal befreien ist: Weg schaffen, Raum begrenzen. Das Möbel vom Raum unabhängig empfinden.“ Anna-Lülja Praun feiert ihren 95. Geburtstag. Das Strnad-Zitat illustriert kongenial ihre Arbeitsauffassung: Wiener Raumkunst der Zwischenkriegszeit. In den monumental kahlen Räumen des Wittgensteinhauses haben Lisa Fischer und Judith Eiblmayr zu Ehren der „Grande Dame der Innenarchitektur“ eine sehenswerte Ausstellung zusammengestellt. Sie ist eine Mischung aus Biografie und Werkschau, aus Entwürfen und Originalmöbelstücken - darunter die berühmte Sitzbank vor Kamin (1959) für Herbert von Karajan oder den viel bewunderten Arbeitspult (1980) für György Ligeti.

Statistik: Franz Schuh hat Recht. Dieses Wort ist nicht zu vermeiden. Unter den 972 Wörtern dieses Essays kommt „Raum“ 36-mal vor. Undenkbar, dass darunter nicht auch solche Exemplare zu finden sind, die in Frantisek Lesaks Sammlung fehlen. Vielleicht schreibt er uns ja einen Leserbrief.

Die Ausstellung „Raumdeutsch. Skizzen zur Architektur“ von Frantisek Lesak ist noch bis zum 20.5. im Künstlerhaus (1., Karlsplatz 5) zu sehen.

Die Ausstellung „Anna-Lülja Praun. Möbel in Balance“ läuft noch bis zum 24.5. im Haus Wittgenstein (3., Parkg. 18). Der von Lisa Fischer und Judith Eiblmayr herausgegebene Katalog (88 S., 150 Abb., öS 290,-) ist beim Salzburger Verlag Anton Pustet erschienen.

Falter, Mi., 2001.05.16

11. April 2001Jan Tabor
Falter

Wien mitten in London

Ein Rundgang durch die in jeder Hinsicht beeindruckende Tate Modern Galerie in London und die Ausstellung „Century City“, in der leider auch Wien ein Kapitel gewidmet ist.

Ein Rundgang durch die in jeder Hinsicht beeindruckende Tate Modern Galerie in London und die Ausstellung „Century City“, in der leider auch Wien ein Kapitel gewidmet ist.

Wien wurde zwischen New York und Tokio gelegt, in die Mitte des vierten Stockes, die auch die Mitte der weitläufigen Ausstellung „Century City“ ist. Ein Ehrenplatz, meint man, steht man vor der Orientierungstafel. Mit der Tate Modern wurde im Mai 2000 das größte Museum moderner Kunst der Welt eröffnet. Vermutlich ist es auch das Museum mit dem größten Foyer überhaupt. Eine Orientierungstafel braucht man dennoch kaum: Man tritt ein und kennt sich aus. Es ist ein Museum ohne Schwellen, weder wirklichen noch mentalen. Sogar eine neue Fußgängerbrücke wurde errichtet, um das neue Museum mit St. Paul's Cathedral am anderen Ufer der Themse zu verbinden.

Die Tate Modern hat zwei Entrees. Das eine befindet sich gegenüber dieser unübertrefflich filigran-elegant konstruierten Themse-Fußgängerbrücke. Das andere, seitliche, ist der Haupteingang. So breit wie die ganze Westwand und so beschaffen, als würde die Straße in das Haus geführt - über eine riesige, flach abfallende, also rollstuhlgerechte Rampe. (Im Wiener Museum moderner Kunst - kurz Mumok - im Muqua gibt es eine vier Meter hohe Treppe, der Eingang für Rollstuhlfahrer ist irgendwo hinter ihr versteckt.) Das Tate-Foyer ist groß wie ein Flugzeughangar. Die einstige Turbinenhalle wurde leer geräumt und frei belassen. In Massen strömen die Menschen hinein und hinaus. Schüler aller Altersstufen, unzählige. (In Wiener Museen sieht man sie kaum, die Eintrittskarten sind zu teuer.) Über sechs Millionen Besucher erwartet die Tate im ersten Jahr. (Im Mumok rechnet manmit 150.000 Besucher jährlich, im ganzen Muqua mit 1,1 Millionen.)

Ein Arbeitstag in der Tate Modern, und man spürt einen Hauch von Fritz Langs „Metropolis“. Kaum Gedränge, nicht einmal im Eingangsbereich. Nur in den beiden Cafes (200 und 240 Sitzplätze) und in der Buchhandlung, obwohl sie groß ist wie ein Turnsaal. Der Eintritt ist frei, ausgenommen die Wechselausstellung, die aber trotzdem voll ist. Alles ist so geräumig hier, so großzügig bemessen! (Im Mumok ist die Decke vor der Garderobe nur 2,20 Meter hoch. Niedriger hat es die Bauordnung nicht erlaubt.)

Gleich am Eingang beginnt die Jahrhundertwende-Rückschau „Century City - Art and Culture in the modern Metropolis“. Es ist die erste Wechselausstellung nach der Eröffnung. Exemplarisch für die ganze urbane Welt des 20. Jahrhunderts werden neun Städte in „einem für sie charakteristischen Zeitabschnitt“ vorgestellt. Jedes der Städteporträts hat einen anderen - oder mehrere - Kurator, sodass sowohl die Interpretationen als auch die Gestaltungen der Ausschnitte unterschiedlich bis konträr sind - von einem schöngeistig-romantisch verschleierten Blick bis zur beinharten sozialkritischen Analyse der urbanen Lagen.

London selbst ist die Jetztzeit, 1990-2001, und der Eingangsbereich - und damit der Anfang und das Ende der Ausstellung - vorbehalten. Das wäre nicht unbedingt ein Vorteil, wäre das Konzept „City as found object“ nicht so genial: Künstler agieren in den Straßen von London; der London-Teil der Schau ist eine Fortsetzung des Draußen. Im Hineingehen wird die Wirklichkeit der Stadt zu Kunst. Beim Hinausgehen ist es umgekehrt: Die Kunst wird zur Stadt. Nach London kommt, ebenfalls in der Halle, Mumbai/Bombay („Transforming the City. 1992-2001“). Mumbai ist die am schnellsten wachsende Stadt der Welt; 1993 lebten hier zwölf Millionen Einwohner, 2005 werden es 27,5 Millionen sein. In einer Filmreportage über eine gemeinsame Demonstration von Moslem- und Hindufrauen gegen den religiös motivierten Terror hört man eine Rednerin rufen: „Our religion is humanism!“

Die Schausammlungen der zeitgenössischen Kunst sind auf zwei der sechs Besucherebenen verteilt, auf die dritte und die fünfte - zusammen 6000 Quadratmeter für permanente Ausstellungen. Dazu kommen 2400 Quadratmeter für Wechselausstellungen auf Ebene vier sowie mindestens 3000 Quadratmeter im Foyer. (Mumoks Ausstellungsfläche beträgt 5400 Quadratmeter.) Die Tate Modern geht von der üblichen Gruppierung der Exponate nach Chronologie und Ismen ab und stellt die Kunst in sachlich-inhaltlichen, kausalen beziehungsweise formalen Zusammenhängen wie „Nacktheit/Action/Körper“ oder „Geschichte/Gedächtnis/Gesellschaft“ aus. Die Öffnungen nach außen, Fenster und Loggien mit Sitzmöbeln, stellen einen unerlässlichen Zusammenhang zwischen der Großstadt und moderner Kunst her. „Die Kunst der Moderne ist die Kunst der Metropolen“, meinte Documenta-Leiter Okwui Enwezor kürzlich in einem Interview. (Im Mumok gibt es keine Ausblicke. Dort gibt es bloß kleine fensterartige Scharten - als würde sich die moderne Kunst in Wien noch immer in einem Belagerungszustand befinden. Das einzige Fenster, aus dem man hinausschauen kann, bis etwa zum Ballhausplatz hin, befindet sich im Obergeschoß, das wie ein groß geratener Dachboden zum Wäschetrocken aussieht.)

Die vierte Ebene ist denWechselausstellungen vorbehalten; sie liegen also zwischen den permanenten Schausammlungen und werden auf diese Weise integriert. Es fängt mit „Moscow 1916-1930. Revolutionary City“ an: leider nur Wohlbekanntes. „Lagos 1955-1970. Highlife in the City“, von Enwezor kuratiert, zeigt hingegen eine unbekannte Großstadtkultur zwischen Kolonialismus und Befreiung. Über „New York 1969-1974. City as Stage“, „Tokyo 1967-1973. Provoking the City“ und „Paris 1905-1915. City as Modernity“ führt die Städtereise nach „Rio 1950-1964. Rhythmic City“, wo die willkürlich aneinander gereihte und im Ganzen ungemein spannende Neun-Metropolen-Synopsis mit den „very hot Rhythms of Bossa nova“ bekömmlich und zukunftsfroh abschließt. Diese Musik ist 1950 entstanden, genau inmitten des kakophonischen Jahrhunderts. Manchmal dringen aus dem Wiener Cafe Karl Kraus' authentische Antikriegsschreie bis hierher durch.

In „Vienna 1908-1918. City in Analysis“ singt die „Lulu“ um die Wette mit Karl Kraus, der die Klagelieder aus seiner musiklosen Zeitungszitatenoper „Die letzten Tage der Menschheit“ in die Welt hinausdeklamiert. Wien liegt zwischen New York und Tokio und hängt dort wie ein zum Leben erweckter Todespatient zwischen zwei mit ihrer rebellischen Vitalität protzenden Kerlen. Weshalb, ist nicht gleich durchzuschauen, jedoch bereits in New York zu riechen. Frischer Wiener Kaffee! Der Duft der Heimat hier, in der Power Station Tate Modern! Klar: Wien, Gugelhupf, viele Zeitungen, „demolirte Literatur“, jede Menge von Dichtern und Denkern aller Art, Freud, Psychoanalyse, Libido, Lulu, Altenberg, kleine süße Mädchen, Karl Kraus, „Versuchsstation Weltuntergang“, Todessucht, Wiener Cafe um 1900.

Neben den Toiletten und neben einer großen Loggia befindet sich eine kleine Cafeteria. Sie dürfte Richard Calvocoressi und Keith Hartley, die schottischen Wien-Kuratoren, dazu inspiriert haben, in London wieder einmal ein echtes Wiener Cafe aus der Zeit nachzuempfinden - als exponat trouve sozusagen. Entsetzlich! Die Repliken des Thonet-Bugholzmöbels sind plump und unbequem. Der Kaffee ist miserabel. Keine Mehlspeisen. Keine Zeitungen.

Es ist nicht die einzige lebensnahe Rekonstruktion des Wiener Geisteslebens. Auch die legendäre, mit einem Perserteppich überworfene Couch des Professors Freud wurde aus dem Londoner Freud-Museum geholt, um eine Ecke seiner Wiener Wohnung wirklichkeitsnah nachzubilden. Die Wände rundherum sind mit Schiele-Grafiken, meist Leihgaben des Museums Leopold, regelrecht tapeziert. Sie sind so ausgewählt, dass das Wien-Bild von einer Metropole der lustvollen Nekrophilie eindrucksvoll bestätigt wird. Das Klischee der liebenswürdigen Pädophilie erhärtet die Sammlung mit Bildern kleiner süßer Mädel, die einst Peter Altenberg an der Wand seines Dauerdomizils im Hotel am Graben erfreute. Die seltsame Kollektion beeindruckt, wo immer sie als Exponat auftaucht, verlässlich. „Deine Seele, Albina, ist vollkommen wie dein geliebter Leib!“, zitiert Jörg von Uthmann genussvoll, was Altenberg unter der Aktaufnahme eines vierzehnjährigen Mädchen dichtete, und beendet seinen Bericht für Die Zeit mit dem Seufzer: „Ein Beitrag zur Sexualgeschichte: Was einem Dichter zu Beginn des Jahrhunderts nachgesehen wurde, hätte ihn, als es zu Ende ging, ins Gefängnis gebracht.“ Von Wien in London war der Mann aus Hamburg restlos begeistert. Alles andere: unverständlich.

Das masochistische Wien-Bild ist eine kulturelle Katastrophe. 1985 in Wien, in der Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“ hergestellt, wird es seither, zerstückelt und modifiziert wie eine mumifizierte Erbsünde, herumgereicht. Die österreichische Regierung sollte ihren Kunstinstitutionen sofort untersagen, Exponate zum Thema Wien um 1900 ans Ausland zu verleihen.

Der Aufenthalt im unwirtlichen Viennese Coffee House ist dennoch ein metropolitanes Erlebnis sondergleichen. Durch das Panoramafenster blickt man auf die unwirklich erscheinende Skyline der coolsten Stadt der Welt und auf die graziös gespannte Konstruktion der Millennium Bridge. Die kongeniale Gemeinschaftsarbeit des Architekten Norman Foster, des Bildhauers Sir Anthony Caro und des Statikers Ove Arup ist allerdings ein Werk des Bausurrealismus: Die fantastische Brücke ist gesperrt, weil sie so filigran dimensioniert ist, dass sie - von Menschen oder dem Wind bewegt - lebensgefährlich zu schaukeln beginnt.

Die Schweizer Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron hingegen haben die Aufgabe, die funktionslos gewordene Power-Station für Elektrizität in eine Power-Station für moderne Kunst zu transformieren, vorbildlich bewältigt. Das Power Station Bankside ist ein Spätwerk von Sir Giles Gilbert Scott (1880-1960), einem der berühmtesten unter den unbekannten Architekten (er ist der Schöpfer der legendären roten Londoner Telefonhütten). Das aus dunkelroten Ziegeln gemauerte Kraftwerk war als bewusst kraftvoll gestaltete Stadtdominante gegenüber der Wren-Kathedrale überaus populär, sodass sein Umbau am Anfang ähnlich umstritten war wie die Umgestaltung der Hofstallungen in Wien.

Vorige Woche wurden Herzog & de Meuteron für Tate Modern mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet. Beide sind 51 Jahre alt und damit die bisher jüngsten Träger dieser Ehrung, die man als den Nobelpreis für Architektur zu bezeichnen pflegt. In Wien hat man die außerordentliche Qualität der beiden Architekten aus Basel früh erkannt. Bereits 1989 errichteten sie in Wien-Aspern, zusammen mit Adolf Krischanitz und Otto Steindle aus München, die 200 Wohnungen umfassende Reihenhaussiedlung Pilotenweg.

Wien, die Stadt in der Psychoanalyse. Beim Wiener „Jahrhundertprojekt“ Museumsquartier (Muqua) setzten die Politiker auf die bewährte Qualitätsarbeit heimischer Baukünstler und den überall beliebten alten Genius loci Wiens. Das neue Museum Leopold ist ein im Muschelkalkstein petrifizierter Ausdruck dieser Obsession. Das in dunklen Basalt gekleidete Museum moderner Kunst (Mumok) sieht so toll aus, dass sogar Lenins Mumie sich alle zehn Finger abschlecken würde.

Die Ausstellung „Century City“ läuft noch bis 29.4. in der Tate Modern, London.

Falter, Mi., 2001.04.11



verknüpfte Bauwerke
Tate Gallery of Modern Art

07. Februar 2001Jan Tabor
Falter

Schöne Aussichten

Hans Holleins „News“-Tower in der Taborstraße ist das bessere Haas-Haus und ein wichtiger Impuls für das städtebauliche Krisengebiet am Donaukanal. Eine Begehung.

Hans Holleins „News“-Tower in der Taborstraße ist das bessere Haas-Haus und ein wichtiger Impuls für das städtebauliche Krisengebiet am Donaukanal. Eine Begehung.

Ohne es zu wissen, nehmen wir, die aufmerksamen Leser der beiden besten österreichischen Nachrichtenmagazine, an einem in der Geschichte der komparativen Architekturpsychologie einzigartigen Experiment teil. Zahlreich sind die wissenschaftlichen Studien und praktischen Erfahrungen, die eindeutig belegen, dass die Qualität der architektonischen Gestaltung am Herstellungsort (Schulen, Büros, Betriebe, Redaktionen) die Qualität des Hergestellten (Produkte, Leistungen, Artikel) überaus positiv beeinflussen können. Freilich gilt es auch umgekehrt für die schlechte Architektur. Dies sogar viel stärker.

Wahrscheinlich ist die Zeit noch zu kurz gewesen, um bei News und Format bereits nennenswerte Verbesserungen feststellen zu können. Erst vor zwei Wochen zogen die Brüder Fellner mit ihren 500 Mitarbeitern aus einem der plumpsten Bürohäuser in Wien in eines der elegantesten um: vom Galaxie-Turm auf der Praterstraße in den Hollein-Tower am Donaukanal, für den ich die Bezeichnung Philemon-Baucis-Tower vorschlage.

Einerseits ist es zeitgemäß, Hochhäuser mit sagenhaften Namen zu veredeln, siehe Galaxie oder Andromeda, andererseits stehen die beiden selbstständigen Türme aneinander angelehnt wie ein altes verliebtes Paar, wachsen sie ineinander wie einst Philemon und Baucis, Lieblinge der Götter. Natürlich ginge auch Pyramus und Thisbe, deren Elternhäuser dicht aneinander gedrängt in Babylon standen, aber die sind zu wenig bekannt. Don Quichote und Sancho Pansa wären formal-metaphorisch irreführend, Hellmuth und Wolfgang zu sarkastisch. Romeo und Julia würden schon wegen des auffälligen Balkons gut passen, sind aber bereits zu oft verwendet worden.

Das neue Meisterbauwerk von Hans Hollein hat einen möglicherweise weitreichenden politischen Defekt, für den der Architekt aber nichts kann: Auf dem schlanken, dem höheren der beiden verschiedenartigen Türme - nennen wir ihn Baucis - befindet sich eine Neuheit: „Die Wiener können sich über eine weitere Attraktion freuen: Am Dach des Hauses prangt der in der Innenstadt sichtbare NEWS-Infoscreen, der Wien schon bald mit den besten Nachrichten versorgt“, jubelt das News-Editorial (Nr. 2/01). Sobald das Wunderding der Medienwelt, mit 60 Quadratmeter Bildfläche angeblich Europas größte und modernste elektronische Infowand, softwaremäßig voll beherrscht wird, werden den Innenstadtpassanten die attraktiven Magazincovers - und mit ihnen auch der ewige Coverfeschak Haider - nicht erspart bleiben, wo auch immer sie in der City gerade flanieren.

Rein architektonisch betrachtet, ist der auf dem Dach aufgesetzte, in seiner wolkenkratzenden Dominanz leicht befremdlich wirkende Screen kein Fehler. Ganz im Gegenteil: Er sieht nicht nur aus wie der sprichwörtliche Punkt auf dem i, formal ist er das auch - dem schlanken Turm verleiht das Bildboard einen attraktiven, zeitgemäß-metropolitanen Akzent, den die gerade im Bereich der City städtebaulich entsetzlich verhunzte Donaukanalzone dringend gebraucht hat. Dass das moderne Stadtbild ohne verschiedenartige Lichtobjekte als Informationsträger und Reklamen unvollständig bleibt, wussten bereits die Erbauer des Ringturms (Arch. Erich Boltenstern, 1955) und setzten auf das erste wirkliche Hochhaus in Wien den legendären leuchtenden Wettervorhersagemast: ein symbolischer Leuchtturm auf dem Weg in die neue, schöne westliche Welt.

Mit seinem Neubau setzt Hans Hollein jenen richtigen Städtebau am Donaukanal fort, der mit dem Bau des Ringturms begonnen und zugleich für fast ein halbes Jahrhundert wieder aufgehört hat. Es ist keine Übertreibung, wenn man die städtebauliche Situierung und die ihr kongenial angepasste Gebäudeform, die Hollein für den Anfang der Taborstraße gefunden hat, als ähnlich genial bezeichnet wie die Situierung und die Formung der Urania von Max Fabiani (1910) auf einer städtebaulich ähnlich bedeutenden Stelle. Obwohl die Bauten nicht auf derselben Uferseite gelegen sind, ist es den Architekten in beiden Fällen gelungen, einen städtebaulichen Brückenschlag zwischen dem Kai und dem zweiten Bezirk zu bilden. Gleichartig ist nicht nur die prägnante Situation, gleichartig ist auch die vielfältige und vielseitige Turmform, die in den vielen Blickwinkeln steht und vortrefflich besteht. Es sind Gebäude, die von allen Seiten schön anzusehen sind.

Der Bau der Urania war von den jüdischen Bewohnern der Leopoldstadt, im Volksmund antisemitisch „Mazzesinsel“ genannt, begrüßt worden - nicht nur als eindrucksvolles Bausymbol des Bildungsbürgertums, das die Urania tatsächlich war, sondern als eine städtebauliche Geste gegenüber dem jüdischen Bezirk. Falls sie das wirklich war und keine schöne Illusion, so blieb es bei dieser einen Geste. Bereits in der Zeit des Ringstraßenbaus galt die Leopoldstadt als ein Innenstadt-Erweiterungsgebiet, in dem die im städtebaulichen Nichts endende Ringstraße später einmal fortgesetzt würde. Unmittelbar nach dem „Anschluss“, das heißt tatsächlich bereits im Frühjahr 1938, wetteiferten die ostmärkischen Architekten mit Entwürfen für riesige Gauanlagen mit Parteiforen und Aufmarschachsen anstelle der demolierten Leopoldstadt - „Wien an die Donau“ lautete die NS-Stadtentwicklungsparole. All diese megalomanischen NS-Fantasien setzten die gänzliche Demolierung der Leopoldstadt voraus; die Deportation der jüdischen Einwohner (deren Anteil in der Leopoldstadt damals über 40 Prozent lag) galt ebenfalls längst als ausgemacht, wie die Anschriften an jüdischen Geschäften bezeugen. Zum Glück für die Leopoldstadt hegte Hitler andere Absichten: Er verbot jegliche Erweiterungspläne in Wien und ordnete die Schrumpfung Groß-Wiens (mit eingemeindetem Umland samt Klosterneuburg, Schwechat oder Korneuburg) auf 1,3 Millionen Einwohner an.

Als vollständige oder weitgehende Demolierungen tauchten diese Fantasien in den ersten Jahren nach dem Kriegsende wieder auf. Nachdem es letztlich doch nicht gelungen war, den unliebsamen Bezirk mittels Stadtplanung wegzuradieren, wurde er durch Neubauten, hauptsächlich jene von Georg Lippert, regelrecht abgeriegelt, dahinter versteckt wie hinter einer riesigen Gettomauer. Die städtebaulich unsinnige Anordnung der großen Bürohausscheiben auf den vom früheren NS-Architekten Lippert geplanten Bundesländer-, IBM- und Raiffeisen-Verwaltungsgebäuden lässt sich nur als Trotzreaktion deuten.

Von oben, vom Philemon-Tower aus, sieht man die mächtige Barrierewirkung der Lippert'schen Bauten besonders deutlich. Hans Hollein hat eine Bresche in diese verdammte städtebauliche Mauer am Donaukanal geschlagen. Den Baucis-Tower kann man auch als umgekehrtes Imperativzeichen lesen, als Architektur gewordenen Aufruf und Maßstab dafür, wie man ab nun am Donaukanal städtebaulich fortfahren soll. Vergleicht man rückblickend den Entwurf eines geradezu zärtlich abgerundeten, ephemer wirkenden Glashauses von Jean Nouvel (den ich bei dem Wettbewerb vor vier Jahren bevorzugt hätte) mit den scharf geschnittenen, aneinander gestellten und ineinander verflochtenen, unterschiedlich großen und gestalteten Bauvolumina, so zeigt sich, dass die Entscheidung der Jury für den Wettbewerbsentwurf von Hans Hollein richtig war.

Das fulminante Spiel mit den Volumina, den harten Kanten und brechenden Linien könnte für manieriert gehalten werden. Es ist aber ein überaus sinnvolles Spiel, weil dadurch am Beginn der Taborstraße eine Art Trichtersituation entstanden ist, die den wichtigsten Eingang mit der City visuell verknüpft. Jetzt erst erkennen auch Nichtwiener, dass hier die City weitergeht und nicht bereits die Peripherie beginnt. Verglichen mit der gegenüberliegenden Seite am Schwedenplatz, entsteht gar die schöne Illusion, die eigentliche City beginne erst hier. Bemerkenswert ist außerdem, wie Hollein die Oberflächenästhetik des auf der anderen Seite der Taborstraße stehenden Bundesländer-Bürohauses (jetzt Uniqua) übernommen hat, diese Fassadenstruktur verändert und beide Gebäude zu einem einheitlich wirkenden Ensemble zusammengefasst hat. Der Neubau wertet den Altbau erheblich auf, behebt weitgehend dessen städtebaulich falsche Situierung und hebt dessen große architektonische Qualität hervor.

Das 1959/61 gebaute Bundesländer-Haus steht unter Denkmalschutz und zählt zu den interessantesten Bauwerken aus dem Wien der Sechziger. Für den Stahlbetonskelettbau wurde zum ersten Mal in Wien die so genannte curtain wall, die Vorhangwand, verwendet (eine Fassadentechnik, die 1911 von Walter Gropius für die Fagus-Werke in Afeld/Lein erfunden wurde). Dank dem Vorplatz beim Philemon-Baucis-Tower entsteht zusammen mit dem Vorplatz vorm Lippert-Haus ein kleiner, aber deutlich formulierter städtischer Platz. Das Verblüffende ist, dass hier kein monumental wirkendes so genanntes Stadttor entstanden ist, sondern ein in jeder Hinsicht passabler Stadteingang.

Lapidar gesagt: Hans Hollein ist es diesmal eindeutig gelungen, in der Wiener Innenstadt ein architektonisch eindeutiges Zeichen zeitgenössischer Stadtauffassung zu verwirklichen. Wenn man sich an all die Varianten für das Haas-Haus am Stephansplatz erinnert, so fällt auf, dass darunter auch einige waren, die starke konzeptuelle Ähnlichkeiten mit seinem Neubau am Donaukanal aufweisen. Ungestört von Kiebitzen aller Art, die das Entstehen des Haas-Hauses mit Unmengen von guten Vorschlägen begleiteten, konnte Hollein hier das bessere, das vollkommene Haas-Haus verwirklichen.

Im News-Editorial wird begeistert von jenem weit auskragenden Balkon berichtet, der dem niedrigen, eher untersetzten Turm an der Außenfassade zugehängt wurde - als wäre die eisenbahnwaggongroße Glaskabine ein riesiger Panoramalift. Es sei ein „toller Arbeitsplatz“ und der „wahrscheinlich spektakulärste Konferenzraum Wiens“, freuen sich die News-Leute. Der auffallende balkonartige Seitenanbau am Philemon ist eine von vielen gestalterischen Kleinigkeiten, die der ungemein fragil wirkenden und vielfältigen Komposition jene außerordentliche architektonische Qualität verleihen. Der Anbau ist visuell notwendig, er gleicht die abweichenden Senkrechtachsen beider Türme und die Schräge des ebenfalls hervorkragenden Unterbaus am Eck aus.

Ursprünglich hatte ich den „über Wien schwebenden Konferenzraum“ tatsächlich für einen Aufzug gehalten, für ein delikates architekturgeschichtliches Zitat, eine ironische Referenz auf den berühmten Direktionsaufzug, den sich der böhmische Schuhkönig Bata 1937 an seinem neuen, streng funktionalistischen Bürohochhaus in Zlin hatte anbringen lassen. Er wollte mit seinem fahrenden Büro dort stehen bleiben, wo er seine in den Großraumbüros arbeitenden Angestellen durch plötzliches Erscheinen erschrecken wollte. Gott sei Dank stimmt es nicht. Herausgeber Wolfgang Fellner regiert in einem festen Büro im Baucis-Tower, im letzten, 18. Stock gleich unter dem sechzig Quadratmeter großen Bildboard, dem größten und modernsten in Europa.

Hinauf mit einem der vier Aufzüge. In der Liftkabine lese ich das Wandgedicht „Süße, leck meine Füße, wenn du es nicht kannst, dann“ - was dann, das teilt uns der poetisch sublimierende Mann (vermutlich ein Kulturredakteur) leider nicht mit. Das Büro des Herausgebers ist verhältnismäßig klein, nüchtern und gediegen eingerichtet. Der Rundblick ist nach allen Seiten offen und wird durch die leichte Neigung des Turmes noch verstärkt: völlig neuartig, ein Genuss sondergleichen. Die Beengtheit am Gipfel des schmalen Turmes bewirkt, dass man der Aussicht, dem Fernblick, dem Überblick, dem Höhenfluggefühl nicht entkommen kann, wo immer man auch steht. Unter allen Bauwerken gelten Türme als die eindrucksvollsten Machtsymbole. Und obwohl sich Hans Hollein redlich bemüht hat, Symbolik zu vermeiden, ist sie unübersehbar. „Das neue Wahrzeichen der Wiener City“ (News-Editorial) ist das Wahrzeichen einer neuen Macht.

Höhenrausch ist Machtrausch. Wer es erreicht hat, so hoch zu kommen, der kann nicht mehr herunterfallen, höchstens noch höher hinaufsteigen. Soeben, rechtzeitig zum Umzug, hat ein Gericht die Übernahme des profil durch die Herren im neuen Geschlechterturm am Donaukanal bewilligt. Man sieht von weit und breit: Dort oben, im Baucis-Tower, sitzt der zweite, der zweifache Citizen Kane of Austria, der neue Hans Dichand. Der alte Dichand hat mit seinem Pressehochhaus in der Muthgasse (Architekten J. Wickenburg und H. Kompolschek, 1963) ja vorgezeigt, wie vortrefflich Zeitungsmacht mit dem klassischen Machtsymbol Turm zusammenspielt.

Falter, Mi., 2001.02.07



verknüpfte Bauwerke
Generali Media Tower

17. Januar 2001Jan Tabor
Falter

Dekor galore!

Der Wissenschaftler und Künstler Thomas Gronegger bemüht sich um die Rehabilitation des Baudekors.

Der Wissenschaftler und Künstler Thomas Gronegger bemüht sich um die Rehabilitation des Baudekors.

Die Beziehung der modernen Wiener zum Ornament ist zwiespältig, geheimnisvoll erregt, unergründbar - und vermutlich dennoch überaus innig. Die Wiener Seele ist ein Ornament.

Eines der größten ästhetischen und psychologischen Mysterien der europäischen Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert ist jenes reinigende Gewitter, das nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 über die Wiener Hausfassaden niederging. Mit einer geradezu revolutionären Wut wurde von zahlreichen Gründerzeit- bzw. Jugendstilhäusern der einst mit verschwenderischer Lust angebrachte Fassadenschmuck bis zum letzten Dekorrest heruntergeschlagen. Die Häuser wurden dann glatt und schlecht neu verputzt. Es sei ökonomisch unerlässlich gewesen, die kriegsbeschädigten Fassaden auf diese Weise zu renovieren, lautet die gängige Erklärung für diesen in ganz Europa und selbst im übrigen Österreich einzigartigen Feldzug gegen das Dekor am Bau. Das wirtschaftliche Argument trifft aber allenfalls in einzelnen Fällen zu, wurde die radikale Befreiung der Fassaden doch straßenweise auch dort vorgenommen, wo gar keine oder nur geringe Kriegsschäden vorhanden waren.

Die andere, semirationale Erklärung für die Wiener Antidekornachkriegswut besagt, dass die Beseitigung des Baudekors eine Maßnahme der längst fälligen Gesamtmodernisierung der Stadt war. Modernisierung im Sinn von Adolf Loos, der das Ornament in die Nähe des Verbrechens stellte („Ornament und Verbrechen“, 1908), für vergeudete Arbeit hielt und als des modernen Menschen unwürdig einstufte. Seither gilt Loos als einer der Hauptverantwortlichen für die Dekorlosigkeit der Moderne.

Die modernisierten Wiener hörten freilich keineswegs auf, das Dekor weiterhin, zeitweise geheim, zu lieben. Ihre abgöttische Liebe zu Friedensreich Hundertwasser, dem selbst ernannten „Architekturdoktor“ und Befreier von der modernen Ornamentlosigkeit („Los von Loos“, 1968) bezeugt es.

Den Wiener Künstler Thomas Gronegger, der mit dem für einen Bildhauer ungewöhnlichen Titel Doktoringenieur (Dr.-Ing.) dekoriert ist, verbindet mit Hundertwasser die Auffassung, dass das Baudekor rehabilitiert werden müsse. Man kann diese Einstellung auch als obsessive Liebe bezeichnen, die allerdings derart ist, dass dies die Verwendung des Pleonasmus obsessive Leidenschaft rechtfertigen würde. Diese Leidenschaftlichkeit ist aber auch schon alles, was die beiden Dekordoktoren verbindet.

Thomas Gronegger, 1965 in München geboren, an der Wiener Angewandten ausgebildet und an der Hamburger Hochschule für bildende Künste promoviert, ist Wissenschaftskünstler und Kunstwissenschaftler in einem. Seine künstlerische Vorgangsweise kann der Sparte „Spurensicherung“ zugeordnet, seine wissenschaftliche Arbeitsweise als komparative Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Formforschung bezeichnet werden. 1994/1995 hielt sich Gronegger in Florenz auf, wo er sieben Monate lang täglich zwei Stunden vor deren Öffnung in der Biblioteca Laurenziana verbrachte, um das Geheimnis einer der bedeutendsten Stiegen der Architekturgeschichte zu lüften. Ein 1:1-Nachbau der Stiege des Michelangelo, die man als den Beginn der barocken Architektur bezeichnen kann, schwebt schräg am Ende der Ausstellung. Die dreiläufige Stiege, die im Original der Inbegriff einer noch nie gewesenen raffinierten Plastizität und eines fulminanten Spiels zwischen Form und Funktionalität ist, wird von Gronegger - absichtlich und im wahrsten Sinne des Wortes - verflacht.

Vor diesem Sperrholzmodell stehen Vitrinen mit langen Reihen von Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen Details von einigen antiken und barocken Bauwerken festgehalten werden: das „Roma Decorum“ des Thomas Gronegger, das als gleichnamiges opulentes Kassettenwerk kürzlich erschienen ist. Vor dem endlosen Zeugnis dieses beeindruckenden Forschungsdrangs stehen einige eigene bildhauerische Werke von Gronegger wie etwa die durch Verflachung und Streckung verformten Gesimse und Säulenbasisformen aus Gips oder kleine schwarze Modelle von Skulpturen und Menschen in Außenräumen - zu wenige und zu unbestimmte Exponate, um feststellen zu können, wie weit sich die ungeheure analytische Anstrengung an all dem alten berühmten Dekor für die eigene künstlerische Arbeit gelohnt hat. Gelohnt im Sinn von Loos.

Die Ausstellung „Groneggers Werkstatt“ ist noch bis 22. 1. im Architektur Zentrum Wien (1., Museumsplatz 1) zu sehen. Der vom Architektur Zentrum Wien herausgegebene Band „Roma Decorum“ (828 S., 194 Skizzen, 250 S/W- und 200 Farbabbildungen; öS 1250,-) ist im Salzburger Anton Pustet Verlag erschienen.

Falter, Mi., 2001.01.17

10. Januar 2001Jan Tabor
Falter

Wien hat den Durchblick

Die gute alte Auslage hat ausgedient. Die Schaufenster werden zu Schaubühnen, auf denen der Konsum selbst inszeniert wird. Der neue Transparenz-Trend hat aber mitunter architektonisch bedenkliche Folgen.

Die gute alte Auslage hat ausgedient. Die Schaufenster werden zu Schaubühnen, auf denen der Konsum selbst inszeniert wird. Der neue Transparenz-Trend hat aber mitunter architektonisch bedenkliche Folgen.

Was nach 1919 für die Wiener Austromarxisten der Margaretengürtel war, das war nach 1934 für die Wiener Austrofaschisten die Operngasse: das ideologische Schaufenster des neuen Wohnens, der neuen Wohnbaupolitik, der neuen, autogerechten Stadt, der neuen politischen Machtverhältnisse, des neuen Lebensgefühls insgesamt - die Via triumphalis des Schwarzen Wien. Dazu aber später.

Cartier, Chanel & Co.

Im Frühjahr des vergangenen Jahres habe ich mir bei Bundy Bundy das Haar und den Bart schön blau einfärben lassen, in einer Filiale, die sich im Hof eines Barockhauses in der Ballgasse befindet. Lediglich eine kleine, blau lackierte Blechtafel über dem Straßentor verrät, dass sich dort das Lokal eines der begehrtesten Frisöre der Wiener Society befindet. Davor, in den Achtzigerjahren, beheimatete der umgebaute Lagerraum im Hof eine der allerbesten Adressen moderner Kunst in Wien: die Galerie Peter Pakesch. Auch sie war sehr schwer zu finden.

Längst ist alles anders. Mittlerweile fallen alle Schwellen. Der Luxus versteckt sich nicht mehr. Wohin man in Wien hinkommt und hinschaut: Die Wiener Schaufensterszenerie ist in Umbruch geraten. Aus dem Cafe Arabia am Kohlmarkt wurde kürzlich eine Filiale von Chanel. Das architekturgeschichtlich unersetzliche Cafe wurde 1950 von Oswald Haerdtl eingerichtet. Im einstigen Thonet-Verkaufslokal gleich gegenüber, von Eva und Karl Mang 1971 vortrefflich gestaltet, nistet sich die Filiale einer anderen internationalen Boutiquenkette, Luis Vuitton, ein und trägt damit zur beschleunigten Globalisierung der Sockelzonen in den Straßen der Wiener City bei. Aus der in den Siebzigerjahren von Anton Schweighofer ebenfalls vortrefflich gestalteten, legendären Kunstgalerie Würthle ist eine Prada-Filiale geworden. Das traditionsreiche, 1886 gegründete Herrenausstattungshaus E. Braun & Co an der Ecke Kohlmarkt/Graben ist wegen Umbaues eingezäunt - die Zaunwerbetapete kündigt die baldige Eröffnung einer Cartier-Filiale an.

Und so weiter. In den Zentren der Metropolen wird das Window-Shopping allmählich standardisiert: In von denselben Firmendesignern umgebauten und gleich gestalteten Filialen wird überall die gleiche exklusive Massenluxusware feilgeboten.

Bemerkenswert ist, dass die Gestalter der sich weltweit rasch verbreitenden Weltmarkenketten dem alten konservativen Prinzip der klassischen Schaufenster-Schwellenarchitektur nur zögernd abschwören und dem neuen Trend der avantgardistischen Transparenzschaufenster-Architektur nur zögernd folgen. In den voll verglasten Weltmarken-Schaufenstern verstellen meist Paravents den schnellen Einblick in das Innere des Geschäftes, in dem - wie man stets durch schmale Schlitze sehen kann - nur wenige, offensichtlich ungemein wertvolle Verkaufsartikel zelebriert werden, als wären es Reliquien würdiger Weihestätten. Dieses Weltmarken-Getue ist seit mindestens zwei Jahren passe. Das Flair, das die Filialen in den Straßen der Wiener City verbreiten, wirkt mehr abgestanden als mondän.

Die neue Transparenz

Auch das traditionelle Wiener Schaufenster, die so genannte „Auslage“, ist passe. Die psychologisch, um nicht zu sagen psychoanalytisch raffiniert verfeinerte architektonische Gestaltung, die dafür sorgen soll, dass nur derjenige das Geschäftslokal zu betreten wagt, dem dies zusteht, ist out. „Schwellenarchitektur“ nannte Günter Feuerstein dieses Portal- und Lokaldesign. Der Herrenausstatter Knize von Adolf Loos oder der Juwelier Schullin von Hans Hollein, beide am Graben, sind Beispiele für jene Ästhetik der Lokale für Ausgewählte und Eingeweihte, die bei allen anderen Menschen sofort und verlässlich das unangenehme Gefühl hervorzurufen vermögen, das man Schwellenangst nennt. Alles passe.

In den neuen Schaufenstern ist unvergleichlich mehr zu sehen, als man gewohnt war: beinahe alles, was drinnen ist und sich dort abspielt. Die neuen Schaufenster sind keine Schaufenster mehr, es sind Glashäuser. Die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, wie der Kulturtheoretiker Georg Franck die bewegende und prägende Kraft der Gegenwartskultur nennt, prägt auch den gegenwärtigen Schaufenstertrend. Kaufen allein macht nicht mehr glücklich. Allein das Wahrgenommenwerden vermag die neue Glückseligkeit zu stiften.

Die Angehörigen der Zweidrittelgesellschaft, besonders die jungen, halten es mit Oscar Wilde: Auch sie können auf alles verzichten - außer auf den Luxus. Sie lieben den preiswerten Luxus und genießen die erschwingliche Erotik des Konsums. Sie wollen, dass ihre frische Konsumverliebtheit und ihre hedonistische Genussfähigkeit sowie ihre offensichtliche monetäre Potenz öffentlich sichtbar werden. Und in den Geschäften werden nicht mehr Waren oder Dienstleistungen, sondern der Kunde und der Akt des Konsums selbst ausgestellt. Der Kunde im Augenblick des Konsumierens.

Wurde beim klassischen Frisör „Der Nächste, bitte“ aufgerufen, so könnte man in den transparenten Hairstudios die wartenden Kunden mit „Ihr Auftritt, bitte“ zum Styling bitten. Das Schaufenster ist im Begriff, endlich das zu werden, was es eigentlich immer schon sein wollte: eine Schaubühne. Wir, die unbekannten Passanten, sind das manchmal dankbare, manchmal gleichgültige Publikum - von Haarwäsche, Telefongesprächen oder Mahlzeiten, die uns völlig fremde Menschen in den völlig transparent gewordenen Szenelokalen einnehmen. Aber so wie die vollständige Transparenz der Schaufenster die Straße zum Mittelpunkt des urbanen Lebens aufwertet, so findet - zugleich mit der Demokratisierung des Luxus - die Entprivatisierung des Intimen statt. Die neue Schaufensterkultur holt bloß nach, was längst im Gang ist.

Dass Transparenz per se demokratisch sei, ist einer der zahlreichen Irrtümer der 68er. Vielmehr liegt der Transparenz etwas Rücksichtsloses zugrunde, vielleicht gar Faschistoides oder Faschistisches, auf jeden Fall etwas immanent Unfeines, Fragwürdiges, Unheimliches. „Il Fascismo e una casa di vetro.“ Der Faschismus, meinte sein Erfinder Benito Mussolini, sei ein Glashaus. Die FPÖ, ahmte Jörg Haider ihn nach, sei eine gläserne Partei. Dies nur nebenbei.

Schauplatz Operngasse

Stellenweise ist Wien eine einzigartige, um nicht zu sagen absurde Großstadt. In keiner europäischen Großstadt geht das Zentrum derart abrupt und ohne Vorwarnung in die Peripherie über wie in Wien. Es ist so, als würde die Peripherie das Zentrum belagern wie einst die Türken; als würde die Peripherie wieder in die Innenstadt einzudringen versuchen, wo sie sich bis zu ihrer Erschließung mit der U-Bahn in den Siebzigerjahren bereits befunden hat. Stellenweise kann man sich auch über die entgegengesetzte Entwicklung freuen. Punktuell und in Ansätzen könnte es der Wiener City gelingen, in die sie umringende Peripherie einzudringen. Neuerdings ist dieses in europäischen Großstädten übliche, in Wien höchstens seltene Phänomen der Stadtentwicklung in der Operngasse zu beobachten. Nicht direkt neben der Oper, erst an ihrem Ende hinter dem Karlsplatz, nahe der die Operngasse kreuzenden Schleifmühlgasse, im so genannten Freihausgrätzl.

In diese noch immer recht verschlafene Gegend mit deutlicher Neigung zur Slumbildung zogen vor etwa einem Jahr einige der wichtigsten Galerien zeitgenössischer Kunst aus der City um: Kargl, Senn, König, Engholm, Trabant. Mit ihren transparenten Auslagen ermöglichen sie den Passanten den Galeriebesuch, auch ohne die Galerie betreten zu müssen. Sie verleihen dem so genannten Freihausviertel ein wenig vom Flair einer modernen Weltstadt. Davor waren einige Szenegastronomen da, nun folgen die Szenefrisöre - mitlerweile vier, fast nebeneinander.

Sollte die gegenwärtige Entwicklung anhalten, dann wird ein altes stadtpolitisches und urbanistisches Kalkül doch endlich aufgehen und die Operngasse zu einem Boulevard werden, der die City mit dem durch den Karlsplatz getrennten Margaretenviertel verbindet. Nach mehr als sechzig Jahren. Allerdings würde durch den Umbau der ursprünglich einheitlich gestalteten Schaufensterzone der zwischen 1936 und 1938 errichteten Wohn- und Geschäftshäuser ein einzigartiges, sowohl von der Öffentlichkeit als auch von Architekturexperten und Stadtgestaltern kaum beachtetes Denkmal der Wiener Baukulturgeschichte bis zur stilistischen Unkenntlichkeit und architekturgeschichtlichen Bedeutungslosigkeit lädiert werden: die Operngasse als die urbanistische Antithese des Austrofaschismus zu den kommunalen Wohnbauten der im Februar 1934 besiegten und entmachteten Sozialdemokraten.

Rotes und Schwarzes Wien

Der Margaretengürtel wurde als „die Ringstraße des Proletariats“ bezeichnet, neue riesige Wohnhausanlagen säumten die künftige breite Via triumphalis des Roten Wiens. Das Vorhaben des sozialistischen Stadtumbaues wurde Anfang der Zwanzigerjahre mit der Errichtung des Metzleinstaler- und des Reumann-Hofes begonnen, mit denen der Architekt Hubert Gessner, ein Wagner-Schüler und bekennender Sozialdemokrat, den „Volkswohnpalast“ erfand, der für den kommunalen Wohnbau des Roten Wiens als mustergültig gelten sollte.

Am Ende der Operngasse, an der Kreuzung mit der Schleifmühlgasse, steht ein staatliches Wohnhaus, das durch seine auf die so genannte „Stadttorwirkung“ zielende städtebauliche Platzierung und turmartige Gestaltung den Anfang der Operngasse markiert. Es ist das wichtigste Bauwerk des Wagnerschülers Franz Gessner in Wien und wohl auch das wichtigste von den wenigen Wohnbauten, die während des Ständestaates in Wien errichtet wurden. Ein wenig Tratsch: Franz Gessner (1879-1975) war der jüngere Bruder von Hubert Gessner (1871-1943) und ebenfalls Sozialdemokrat. Zuerst arbeiteten die beiden aus Mähren stammenden Architekten zusammen, zerstritten sich aber wegen einer Frau und blieben für den Rest des Lebens Feinde.

Der erwähnte Bau von Franz Gessner ist aus mehreren Gründen interessant. Der für die Wohnhäuser in der Operngasse mehr oder weniger maßgebliche Einfluss der italienischenArchitektur aus der Mussolini-Zeit ist hier am stärksten ausgeprägt. Und die für die Großstadtarchitektur der Dreißigerjahre charakteristische, der Ästhetik des Ozeandampfers entliehene Modernitätsgeste ist Gessner hier besser gelungen als beim Bärenhof der beiden Wagner-Schüler Hermann Aichinger (1885-1962) und Heinrich Schmid (1885-1949).

Tiefste Peripherie

Die Operngasse ist zwar eine Schutzzone, die Wohnhäuser aber stehen leider nicht unter Denkmalschutz. Vor etwa zwei Jahren wurde das beinahe im Original erhaltene, von Aichinger und Schmid gestaltete Bärenhofcafe (Cafe Janele) geschlossen und durch den Umbau zu einem der entsetzlichen Wettbüros („Sportwetten Admiral“) völlig zerstört. Für die Architektur der qualitätsvollen klassischen Moderne, zu denen die Bauten in der Operngasse unbedingt zu zählen sind, gilt: Oft selbst geringfügige unsensible Eingriffe können das labile Gleichgewicht ihrer Ästhetik erheblich beeinträchtigen oder gar zerstören. Als am anderen Ende der Operngasse der Teppichhändler aus dem Lokal auszog, wartete der für einen Szenefrisör tätige Architekt Klaus Ludwig mit einem Umbauentwurf auf, der die heikle Eckgestaltung zu beschädigen drohte. Dem Schutzzonen-Beauftragten der Stadt Wien, Dr. Milos Kruml, ist es jedoch gelungen, mit dem Umbauherren und Umbauarchitekten eine akzeptable Lösung zu finden. Das „Hair Concept Patricia Grecht“ in der Operngasse 25 ist nicht nur supertransparent geworden, sondern auch ein vortreffliches Beispiel dafür, dass man modernisieren kann, ohne die vorgefundene architektonische Qualität zu beeinträchtigen. Da werde ich mir demnächst mein Haar blau einfärben lassen.

Ende gut, alles gut? Leider nicht. Gleich gegenüber nämlich wurde ein wenig früher ein für das Stadtbild ebenfalls außerordentlich wichtiges Ecklokal ins Transparente umgebaut: Das von Architekt Wolfgang Rausch gestaltete Lokal „Point of Sale“ (Schleifmühlgasse 12-14) wurde an das rustikale, gänzlich untransparente „Johnnys Pub“ vis-a-vis stilistisch angepasst und das Eisenportal durch weinrot lackierte Holzstangen ersetzt, wodurch sich nun eine absurde Mischung aus Transparenztrend und nachempfundener Irish-Pub-Folklore ergibt. Ermöglicht durch den Auslegungsspielraum des Paragraphen 85/1997 der Schutzzonenvorschriften der Wiener Bauordnung wurde ein Stück Stadt in unmittelbarer Zentrumsnähe in tiefste Peripherie verwandelt. Entsetzlich.

Falter, Mi., 2001.01.10

15. November 2000Jan Tabor
Falter

Augen auf, Zaha ist da!

Zaha Hadid gilt als die berühmteste und beste Architektin der Welt. Ihre Projekte finden selten den Weg vom Zeichentisch und Computer in die gebaute Wirklichkeit. Die Stadtbahn-Überbauung Spittelau wird also ein echtes Privileg sein. Ein Privileg genießt Wien aber heute schon: Zaha Hadid unterrichtet als Gastprofessorin an der Universität für angewandte Kunst.

Zaha Hadid gilt als die berühmteste und beste Architektin der Welt. Ihre Projekte finden selten den Weg vom Zeichentisch und Computer in die gebaute Wirklichkeit. Die Stadtbahn-Überbauung Spittelau wird also ein echtes Privileg sein. Ein Privileg genießt Wien aber heute schon: Zaha Hadid unterrichtet als Gastprofessorin an der Universität für angewandte Kunst.

Am 5.11.2000 um 22.15 Uhr betritt Zaha Hadid die leicht verlotterten Räumlichkeiten des Institutes für Architektur/Architekturentwerfen I an der Universität für angewandte Kunst in Wien zum zweiten Mal. Langsam, fast zögernd, als erwäge sie, noch umzudrehen, schreitet sie durch den langen Korridor der ehemaligen Meisterklasse von Wilhelm Holzbauer. Wie immer ist sie schwarz und extravagant, mit ausgewählter Eleganz gekleidet. In der linken Hand trägt sie eine kleine aparte Damentasche und in der rechten eine 0,3-Liter-Plastikflasche mit Mineralwasser so, als wären es Insignien einer Weltmachtstellung oder gar Embleme ihrer programmatischen Vorurteilslosigkeit dem Banalen und dem Erhabenen in der Baukultur gegenüber. Gemächlich betritt sie, einer Autokratin der Zeiten und Räume gleich, den überfüllten Zeichensaal. Durch bloßes Erscheinen ihrer Person verwandelt sie den öden Raum in einen spannungsgeladenen Arbiter-elegantiarum-Hof. Im Geist ist sie bereits seit drei Wochen anwesend gewesen: „Zaha Hadid ist einer dieser großen und eindrucksvollen Persönlichkeiten, die in einem Raum ankommen, noch bevor sie dort sind“, schrieb Rohit Khare im Economist.

Über sechzig Studenten haben auf dieses Erscheinen gewartet wie auf eine wahrhaftige Epiphanie. Mit einem raschen, fast diskreten Blick überfliegt Hadid die mit Zeichnungen und Computerausdrucken bedeckten Stellwände und die zahlreichen aufgestellten Modelle und Objekte. Ihre Studenten, denen die Anstrengung der letzten Tage und die bange Frage, ob sie wirklich kommen und, angesichts der Arbeiten, auch bleiben würde, tief in die Gesichter geschrieben sind, erlöst sie durch ein kurzes ermutigendes Lächeln. Dann sagt sie britisch knapp und doch ungemein liebenswürdig: „So I'm here again. Let's get down to work.“ Die erste Korrektur mit Zaha Hadid wird bis halb drei in der Früh dauern. Fortsetzung am darauf folgenden Abend.

Zaha Hadid bleibt also. Vorerst. Ein Wunder. Vielleicht ein Weltwunder. Denn viel mehr als großes und aufrichtiges Interesse an ihrer Lehrtätigkeit hat man in Wien der „berühmtesten Architektin auf der Welt“ (Süddeutsche Zeitung), der „weltbesten Architektin“ (New York Times), der „weltweit bedeutendsten Vertreterin ihres Fachs“ (www.beton-info.de), „architecture's new diva“ (Architectural Digest, 1996) der „Architekturdiva“ (Standard, 2000) et cetera nicht anzubieten.

Es sei denn, Wien hat tatsächlich etwas, was der Rest der Welt nicht hat. Bloß was? Von der Londoner Architectural Association bis zur Harvard University - mehr als ein Dutzend der erlesensten Architekturschulen der Welt, an denen sie bereits unterrichtet hat, sind in Zaha Hadids langer Biografie aufgelistet.

Hadid wurde 1950 in Bagdad in einer aristokratischen, weltoffenen Familie geboren. Ihr Vater, Absolvent der Londoner School of Economics, war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der demokratischen Bewegung im Irak. Die Revolution von 1958 beendete seine politische Karriere. In die Schule ging Zaha unter anderem in England und der Schweiz. Von 1968 bis 1972 studierte sie an der American University of Beirut Mathematik, anschließend Architektur an der Architectural Association in London. Ihre Diplomarbeit wurde 1977 mit dem Diploma Prize ausgezeichnet. Das Thema: „Malewitschs Tektonik“. Es ging um die Überbauung der Hungerford Bridge in London mit einem Hotel. Als Ausgangsposition für die Formfindung dienten ihr Bilder und Collagen bzw. die Theorie des russischen Revolutionskünstlers und Suprematisten Kasimir Malewitsch. An dem Projekt entwickelte sie ihre Entwurfsmethode, die so genannte Tick-tack-Method.

Wenn alles gut geht, werden wir diese mittlerweile weiterentwickelte Methode auch bald in Wien kennen lernen können, und zwar an einem überaus spannenden Bau, der die Überbauung des funktionslos gewordenen Stadtbahn-Viaduktes von Otto Wagner in Wien-Spittelau durch einen dreiteiligen multifunktionellen Gebäudekomplex vorsieht. Nach Auskunft des Bauträgers, der SEG-Baugesellschaft, steht der Baubeginn mit Frühjahr 2001 bereits fest. Der Entwurf selbst entstand 1994. Der Grünplaner Bruno Domani, damals kommunaler Beauftragter für die Neugestaltung des Donaukanals, brachte Zaha Hadid nach Wien, um sie für ein Projekt der urbanen Belebung durch außerordentliche Architekturintervention zu gewinnen. Die Einladung an den amerikanischen Konzeptkünstler Vito Acconci übrigens, der demnächst mit der Neugestaltung des Bereiches bei der Urania beginnt, geht ebenfalls auf Domani zurück.

1993 nahm Hadid an dem Wettbewerb für den Kulturpark Carnuntum bei Hainburg teil, den Coop Himmelb(l)au gewann. Im selben Jahr wurden die ersten zwei Bauten von Zaha Hadid fertiggestellt: die mittlerweile zum Ausstellungshaus umgewidmete Feuerwehrwache für die Möbelfirma Vitra in Weil am Rhein und ein Wohnbau für die IBA (Internationale Bauausstellung) in Berlin, entworfen 1986. Überaus eindrucksvoll wurde damit widerlegt, die Entwürfe von Zaha Hadid wären nicht baubar. Heinrich Klotz, der kürzlich verstorbene Architekturtheoretiker, hatte den Berliner Stadtbaupolitikern im Jahr 1994 in einem Spiegel-Interview vorgeworfen, „bestimmte moderne Architekten“ aus der Stadt rauszuschmeißen, um ein „Neuteutonia“ a la Albert Speer errichten zu können. Mit den „bestimmten Architekten“ hatte Klotz Leute wie Rem Koolhaas oder Zaha Hadid gemeint. Der Rauswurf aus Berlin könnte ein Glück für Wien sein. Hoffentlich nimmt man wahr, dass Zaha Hadid in Wien ist.

In Innsbruck, auch das scheint festzustehen, wird nach Hadids genialem Entwurf auf dem Berg Isel eine neue, 50 Meter hohe und 90 Meter lange Skisprungschanze errichtet werden, das neue Wahrzeichen der Stadt. In der Verwirklichungsphase befinden sich unter anderem das Zentrum für Moderne Kunst in Cincinnati, das erste von einer Frau entworfene Museum in Amerika, sowie das Zentrum für die Gegenwartskunst in Rom.

Die Architektur von Zaha Hadid inspirierte Journalisten, Fachautoren und Kollegen zu einer Unzahl an Metaphern und Vergleichen: Von „materialisierten Energiestößen“, „gebauten Explosionen“ oder einer „Zirkusnummer der Statik“ war da die Rede, von „expressionistisch gezackter Bauskulptur“ oder „einer komplexen, hybriden Energieskulptur“. „Ihre Balken fliegen, ihre gekrümmten Flächen überschneiden sich, ihre Fassaden kragen aus“, schrieb Philip Johnson, „die Architektur hat ein Erdbeben erlitten“, konstatierte der Architekturtheoretiker Charles Jencks 1990, und ihr Kollege Rem Koolhaas bezeichnete sie als „eine zu einem Planeten gewordene Rakete“. „Randomness vs Arbitrariness“ („Zufälligkeit versus Beliebigkeit“) und „The Eighty-Nine Degrees“ (soll heißen: Den rechten Winkel gibt es nicht) betiteln sich zwei Publikationen von Zaha Hadid aus den frühen Achtzigerjahren.

Ich füge einen wichtigen Aspekt hinzu: das analytische Eingehen auf den Ort des Bauens. Hadid kehrt die subkutanen Strukturen, die latente Logik der Topographie hervor. Sie sucht nicht nach einem mystischen Genius loci, um die Architektur der Umgebung anzupassen, sie findet den spezifischen Algorithmus des Ortes, um daraus die Bauidee abzuleiten wie eine Formel von einem mathematischen Idiom.

Hadid ist nie eine Dekonstruktivistin gewesen, falls es überhaupt eine Architekturauffassung gibt, auf die dieser Begriff der Literaturtheorie passen würde. Sie geht von einem „Ort an sich“ aus, im Sinn vom „Ding an sich“ des Immanuel Kant. Und im Sinn der „phänomenologischen Reduktion“ Edmund Husserls. Die Analyse besteht also zuerst in der „Säuberung“ des untersuchten Phänomens - in unserem Fall des Topos - von allen das Wesen des Phänomens verdeckenden Zufälligkeiten wie Geschichte, Werte, Maßstäbe, Erwartungen ... Hadid: „Weil ich keine Europäerin bin, habe ich ein abweichendes System des Denkens. Ich glaube an eine Tradition, die abweichende Ordnung kennt. Man sagt, dass das stärker emotional, intuitiv sei. Aber intuitiv ist nicht instiktiv. Intuition ist die Ehe von Rationalität und Erlebnis.“

Die ihr bei Vorträgen und Diskussionen so oft gestellte Frage nach den islamischen Wurzeln ihrer Arbeit pflegt Zaha Hadid abzuschmettern. Alle Versuche, ihre Bauformen als Ausdruck des Crashs oder Metapher für den gewaltigen Crash zweier Kulturen zu interpretieren, sind gescheitert. Sie selbst hat erklärt, nie eine traditionelle Erziehung als Muslim genossen zu haben: „In der arabischen Welt sind islamische und arabische Kultur dasselbe. Es ist eine kulturelle Angelegenheit, keine religiöse.“

Wie schon bei ihrer Diplomarbeit geht Hadid von Konzepten, Formen und Methoden der russischen Konstruktivisten und Suprematisten der Zwanziger- und Dreißigerjahre aus. Diese größtenteils nie in gebaute Wirklichkeit umgesetzten Ideen hält sie für „abgebrochene Experimente“, die endlich in Architektur, in Bauwerke, umgesetzt werden müssen. Was Hadid aucht tut. Die Skischanze Berg Isel etwa enthält die Idee des „Wolkenbügels“ von El Lissitzky und Mart Stam (1925). Die Ausstellung über den russischen Konstruktivismus und Suprematismus, die Hadid 1992 für das Guggenheim-Museum in New York gestaltete, hieß „The Great Utopia“. Der Titel ist, so scheint es, Hadids Credo geblieben.

In einem Interview mit Charles Jencks, dem verhängnisvollen Apologeten der Postmoderne, wirft Peter Eisenman den Dekonstruktivisten - namentlich Zaha Hadid, Daniel Libeskind und Morphis - vor, dass deren Architektur über „keinen Tiefgang, keine Ideologie, keine geistige Substanz, keine Theorie“ verfüge. Eisenman, selbst Teilnehmer und Kokurator der New Yorker Dekonstruktivisten-Schau von 1988, sprach sich für den Titel „Zerstörte Perfektion“ aus. Der war der Museumsleitung allerdings zu negativ. Die entgegengesetzte Meinung vertritt Ben van Berkel, Jahrgang 1957 und einer der interessantesten unter den kommenden weltbesten Architekten: „Ich entstamme einer anderen Architektengeneration als Rem Koolhaas oder Zaha Hadid und stehe dieser Generation kritisch gegenüber. Ich wurde von ihnen an der AA (der Architectural Association in London, Red.) ausgebildet, aber ich glaube, dass sie sich zu viel mit der Entwicklung von Theorien beschäftigt haben.“

Allmählich wird es gewiss (besser: wahrscheinlich), dass Zaha Hadid, vorerst im Status der Gastprofessorin, doch bereit ist, die ihr vor zwei Jahren angebotene (besser: aufgedrängte) Professur zu übernehmen. Man verhandelt noch. Und das, obwohl Hadids Hauptbedingung noch nicht erfüllt werden konnte: nämlich dass jedem Studenten ein Computerarbeitsplatz zur Verfügung stehen müsse. Was anderswo längst selbstverständlich ist, ist für die österreichischen Universitäten nach wie vor ein frommer Wunsch. Der neue Rektor der Angewandten, Gerald Bast, weiß, dass seine Universität nur bestehen kann, wenn die Ausbildungsbedingungen und die Lehrkräfte das internationale Niveau erreichen. Seine Zusage: Die Hadid-Klasse, und nicht nur diese, wird rasch gründlich ausgebaut und ausgestattet. Eine schwere Aufgabe unter den derzeit regierenden kultur- und bildungsfeindlichen Umständen. Bast weiß auch, dass Zaha Hadid letztlich nur dann bleiben wird, wenn auch ihre Bedingungen erfüllt werden. „Weakness is not my ultimate ambition“, meinte sie kürzlich während eines Vortrags an der School of Economics in London. Und sie weiß, was sie wert ist.

Soll man Hadids Wiener Studenten nun bedauern, beneiden oder bewundern? Nach der ersten Korrektur, nun „Preview“ genannt, kann Ersteres gänzlich ausgeschlossen werden. Beneiden muss man die Hadid-Studenten. Leicht werden sie es nicht haben: Schwäche ist nicht Ehrgeiz.

Noch vom Flughafen Schwechat hat sie angerufen und gefragt, ob genug Studenten anwesend seien und ob diese tatsächlich genug zu zeigen haben. Sollte dies nicht der Fall sein, würde sie sofort wieder kehrtmachen, ihre Zeit sei überaus kostbar. Sie wiederholt, was sie bereits vor drei Wochen gesagt hat, als sie ihre Antrittsvorlesung gehalten und die erste Semesteraufgabe erläutert hat: Musterbauten des 20. Jahrhunderts sind zu analysieren und die Ergebnisse in Zeichnungen, Modellen oder Computeranimationen umzusetzen. Die geschichtlichen, sozialen oder ästhetischen Aspekte interessieren sie überhaupt nicht. Sich darüber gründlich zu informieren sei selbstverständlich. Sie will mit den Studenten nur über das Formale sprechen. Keineswegs sollen die Studenten die Bauwerke - von Le Corbusiers Villa Savoy über Oscar Niemeyers Three Powers Square in Brasilia bis zu Hadids Contemporary Art Centre in Rom - bloß in Zeichnungen und Modellen nachbauen, sondern diese dem jeweiligen Konzept und dem Medium entsprechend nachempfinden und weiterentwickeln.

Zaha Hadid korrigiert, als würde sie Audienz halten. Sie sitzt auf einem der halb kaputten Stühle (die ihrem Wunsch gemäß demnächst durch neue ersetzt werden), schaut und hört sich an, welche Geheimnisse der Weltarchitektur die Wiener Architekturadepten enträtseln können. Hin und wieder greift sie zu den Insignien der Macht, die neben dem zum Thron gewordenen Stuhl abgelegt sind, zündet sich eine Zigarette an oder trinkt einen Schluck Mineralwasser. Es ist nicht zu erkennen, was sie sich denkt, ob sie alles versteht (über Architektur zu sprechen ist überaus schwer, auf Englisch noch viel schwerer), ob es sie überhaupt interessiert. Sie unterbricht nicht. Sie zeigt keine Regungen. Sie schweigt. Der Eindruck einer Audienz ist falsch. Sie wartet bloß, bis sie am Zug ist.

Zaha Hadid korrigiert, als würde sie Schach spielen. Sie hat zugehört, es interessiert sie - manches weniger, manches sehr. Sie kontert hart. Stellt präzise Fragen. Duldet keine schrägen Argumente. Schätzt den Dialog. Duldet keine Kiebitze, keinen allgemeinen Diskurs. Verhöhnt niemanden. Unterbricht nicht. Lässt keinen verlieren, keinen gewinnen. Liebt das Remis. Ist bestimmt, nicht bestimmend. Fällt kein abschließendes Urteil. Jeder soll sich seine eigene Meinung darüber machen, wie es für ihn ausgegangen ist. Zeigt keinerlei Starallüren. Scheint unbegrenzt viel Zeit zu haben. Wenn sie da ist, ist sie nirgendwo sonst. Formuliert konstruktiv. Spricht dekonstruktiv aus. Lächelt oft. Manchmal lacht sie auch - laut und lang.

Falter, Mi., 2000.11.15



verknüpfte Akteure
Hadid Zaha M.

27. September 2000Jan Tabor
Falter

Schöner Wohnen online

Eine Ausstellung im Architektur Zentrum Wien präsentiert „Kommende Architektur“, überlastet damit die Rechner und unterfordert den Wissensdrang des Publikums.

Eine Ausstellung im Architektur Zentrum Wien präsentiert „Kommende Architektur“, überlastet damit die Rechner und unterfordert den Wissensdrang des Publikums.

Endlich ist der Aufbruch da, dachte ich, während ich den einfühlsamen Pressekonferenzworten von Otto Kapfinger lauschte. Zugleich begutachtete ich jene fantasiereichen Ausstellungsvehikel, auf/in denen die global notwendige kommende Architektur angekommen ist: aus Industriespanplatten gefertigte und auf kleinen Industrierädern stehende Kisten, die mit ihren horizontalen und vertikalen Schautafeln wie Schreib- und Lesepult wirken. Je zwei von diesen Kisten bilden eine mobile Ausstellungseinheit. Insgesamt sind es zehn. Bestückt mit den Schautafeln erinnern sie an die Raumstudie der De-Stijl-Gruppe aus den Zwanzigerjahren. Oben auf den Kisten stehen wie auf Podesten kostbare Reliquien: iMac OS9. Kisten? Kultvehikel sind es. Mobile Gebilde für Transport und Präsentation von Kostbarkeiten. Innovationsaltäre.

Endlich ist wenigstens einem Computerhersteller der Durchbruch zur zeitgemäßen Formschönheit und fortschrittlichen Farbigkeit gelungen, wie wir sie aus der gegenwärtigen computergenerierten Experimentalarchitektur kennen, dachte ich erfreut. Unbegreiflich, dass ausgerechnet Computer, die zum Träger und wenig später auch zum Inbegriff der neuen Globalisierung geworden sind, diese ihre epochale Aufgabe auf so unförmige und unansehnliche Weise abgewickelt haben. Dass ein derart epochemachendes Massenprodukt vom Design, dem Sozialismus der Dinge, völlig unberührt geblieben ist, ist in der Geschichte der Produktgestaltung einmalig. Ein Massengebrauchsgegenstand, dem es, was seine Symbolkraft betrifft, spielend gelungen ist, so formschöne Wunderdinge wie Flugzeuge, Raumschiffe oder Atombomben zu überflügeln und zum unangefochtenen Symbol des 20. Jahrhunderts aufzusteigen. Die Lokomotive hingegen, die zum Vehikel der ersten Globalisierung und zugleich zum Symbol des 19. Jahrhunderts wurde, war von Anfang an das Steckenpferd der Designer gewesen. Bereits 1923 erhob sie Le Corbusier zusammen mit dem Automobil, Aeroplan und Ozeandampfer zu den wichtigsten Inspirationsquellen der kommenden Baukunst. (Der Ausstellungstitel ist übrigens eine Art Leihgabe Le Corbusiers: Ludwig Hildersheimer hat seine deutsche Übersetzung des Manifestes „Vers un architecture“ von Le Corbusier und Amedee Ozenfant 1926 unter dem Titel „Kommende Baukunst“ herausgebracht.)

Jetzt ist sie endlich da, die bereits seit langem mit Spannung erwartete Ausschau mit dem verheißungsvollen Titel „Kommende Architektur (1). emerging architecture (1)“. Langsam bewegt sich die Digitalvideokamera durch, um und über das elegant leere Einfamilienhaus. Wir, die Ausstellungsbesucher, bewegen uns langsam mit ihr, betrachten das Haus aus der Höhe. Es steht auf einem steilen Hang, inmitten echter Tiroler Häuser aus Holz und mit Satteldächern, inmitten jener majestätischen Gebirgslandschaft, die wir vorher durch Kameraausblicke durch die wandgroßen Fenster bereits kennen gelernt haben. Stille. Nur Frühlingsvöglein singen laut. Der Gesang kommt allerdings aus Gleisdorf, vom Nachbarn: lichtblau.wagner stellen ihren Bürohaus-Zubau von 1998 vor. Dann ist die erste digitale Besichtigung vorbei.

Langsam geht es wieder weiter. Das Bild beginnt zu zucken. Der Rechner ist zu schwach für die ungeheuren Datenmengen des langen, langsamen, langweiligen (wie kann derart spannende Architektur so fad präsentiert werden?) und kitschigen (was aber für den Rechner selbst möglicherweise ohne Bedeutung ist) Digitalvideos. Das Bild verschwindet abrupt: Fehlernummer - 9881.

Der Rechner ist abgestürzt. Es ist ein hübsches Gerät - bläulich schimmerndes transparentes Gehäuse, ein wie im Windkanal geformtes Ovoid. Eine Megabyte-Bijouterie unter den Computern. Ein Eisvogel unter grauen Gänsen. Ganz ähnlich jener luzid schimmernden, transparenten, organisch gekrümmten und gekurvten Membranarchitektur, die neuerdings in vielen Varianten und großen Mengen aus den Computern der Architekturbüros kommt und im Begriff ist, jene schlichte, klare, karge, minimalistische, stereometrische, präzise, logische, fuktionalistische ... Beton-Glas-Metall-oder-Holz-Architektur zu ersetzen, die in einer Auswahl von zehn erlesenen verwirklichten Bauwerken im Architektur Zentrum Wien vorgestellt wird.

Es ist eine Wander- und Fortsetzungsausstellung. Es könnte allerdings passieren, dass die emerging architecture abhanden kommt, noch bevor die Kisten mit der frohen Architekturbotschaft anderswo angekommen sind. Computer beschleunigen die ganze Welt, auch die der global notwendigen Architektur aus Österreich, die hier durch zehn österreichische Büros vertreten wird: Bulant & Wailzer, Peter Ebner, Geiswinkler & Geiswinkler, Kaufmann 96 GmbH, Rainer Köberl, lichtblau.wagner, Marte.Marte, Pichler & Traupmann, Riepl Riepl, Splitterwerk. Aus dem Pressetext: „Die in dieser Ausstellung vertretenen Büros wurden nach dem Gesichtspunkt einer global notwendigen kommenden Architektur selektiert. (...) Nicht die Bedienung des Mainstream mit motivischer Äußerlichkeit und kurzschlüssigem Funktionalismus, sondern Nachhaltigkeit, kontextuelles Planen und kompositorische Neuorientierungen stehen im Vordergrund.“

Die Selektion der Verteter ist tadellos (Spitzenarchitekten allesamt, viele kommende Stararchitekten unter ihnen) und beliebig (es stehen viele gute, ja sogar bessere Architekten zur Auswahl). Die verwirklichten und projektierten Bauwerke, die nun vorgestellt werden, sind hervorragend und auch dann interessant, wenn man sie kennt. Einige wurden bereits ausgezeichnet - die Glaserei Ebner in Güssing von Pichler & Traupmann etwa oder auch das Altenwohnheim Feldkirch von Rainer Köberl. Viele wurden bereits in Hochglanz-Architekturmagazinen publiziert, die allerdings meist erheblich informativer sind als diese langweilige Ausstellung nach dem Motto „Schöner Wohnen online“.

Die Schautafeln sehen wie Probedruckfahnen für ein Architekturmagazin aus, das sich nur einen mittelmäßigen Artdirector leisten kann. Die Ausstellung ist eine oberflächliche messeartige Präsentation eines Produktes, wobei unklar bleibt, ob hier das relativ neue Mac-Design oder aber die relativ neue Architektur (im Prinzip ist es seit gut zehn Jahren die vorherrschende Architekturdoktrin mit bereits global verehrten Klassikern) vorgestellt wird. Sämtliche Grundinformationen über Maße, Ausmaße, Grundrisse, Schnitte, Lagepläne, Konstruktions- und Funktionsangaben, Baudetails und Bauherren fehlen. Wenn Zeichnungen vorhanden sind, dann als behübschende Layoutbeigaben. Erklärungstexte sind nur im Katalog zu finden. Der sieht wie der verkleinerte Best-of-Reprint eines farbigen Hochglanz-Architekturmagazins im preiswerten Schwarz-Weiß-Druck aus. Der Preis der Broschüre ist bereits schwarz-blau sozialtreffsicher: 546 Schillinge.

[ Bis 30. Oktober im Architektur Zentrum Wien ]

Falter, Mi., 2000.09.27

30. August 2000Jan Tabor
Falter

Eine Torte im Staatsstil

Architektur. Oswald Haerdtl versorgte das Wien der Nachkriegszeit mit eleganten, modernen Cafes und mit Reminiszenzen an Austrofaschismus und Nationalsozialismus.

Architektur. Oswald Haerdtl versorgte das Wien der Nachkriegszeit mit eleganten, modernen Cafes und mit Reminiszenzen an Austrofaschismus und Nationalsozialismus.

So ist das Leben bedeutender Wiener Architekten nach dem Tode: Während die Hagiographen bereits emsig an einer ausstellungsmäßigen Untermauerung der architekturgeschichtlichen Bedeutung arbeiten, werden zugleich die Werke dieser Architekten gnadenlos demoliert.

So ist es kürzlich Oswald Haerdtl (1889 bis 1959) ergangen, dem langjährigen Mitarbeiter Josef Hoffmanns, Professor an der Wiener Kunstgewerbeschule und Staatsausstatter des Austrofaschismus und dessen Adaption für die Nachkriegszeit. Im Winter 1999/2000, während Adolph Stiller, Leiter der Veranstaltungsreihe der Wiener Städtischen „Architektur im Ringturm“, das umfangreiche Haerdtl-Nachlassarchiv intensiv bearbeitet und die Haerdtl-Ausstellung vorbereitet hat, wurde das Arabia Espresso am Kohlmarkt ausgeräumt, um einer Wiener Chanel-Filiale Platz zu machen. Hickhackzack ... und weg war das kleine strahlende Weltstadtwunder des trüben Nachkriegswiens.

Jammerschade um dieses 1951 fertig gestellte, bis zu seiner jetzigen Demolierung hervorragend erhalten gebliebene und stets mit prallem Großstadtleben und weltlicher Genusslust (Mehlspeisen) gefüllte Cafe. Es war ein höchst angenehmes Kaffeehaus und darüber hinaus ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument. Haerdtl brachte damals aus Mailand, der Metropole des neuen europäischen Designs und Lebensgefühls, die junge Kultur des italienischen Espressos nach Wien und damit auch den Hauch der weiten, offenen und optimistischen Welt in die Trostlosigkeit der Postnazizeit - und das Fernweh, das Grundgefühl der Fünfzigerjahre.

Mehr Glück hat der viel beschäftigte Wiener Cafe-Architekt Haerdtl mit dem Prückel, das er 1955 umgestaltete, wobei er das vorher existente Jugenstilcafe zerstörte. Als 1989 eine gründliche Renovierung fällig war, beauftragte man mit Johannes Spalt einen Feindenker unter den Wiener Architekten, der die Renovierung ungemein einfühlsam und ganz im Sinne Haerdtls durchführte.

Das Hauptwerk Haerdtls ist das Historische Museum der Stadt Wien auf dem Karlsplatz. Hauptwerk im Sinne von: sein größter Bau, keineswegs sein bester. Im Ausstellungskatalog bezeichnet Adolph Stiller das Museum als „weitgehend unterschätzten Bau“, ohne dass es ihm gelungen wäre, der Unterschätzung eine überzeugende Qualitätsneueinschätzung entgegensetzen zu können. Weder städtebaulich noch formal und schon überhaupt nicht funktionell oder konstruktiv ist der erste Prachtneubau in Wien der Aufbauzeit gut oder auch nur in den Details interessant gelöst. 1954 erhielt Haerdtl den Bauauftrag, obwohl er im Wettbewerb für den Museumsneubau bloß mit einem Ankauf bedacht wurde und obwohl unter den Einreichungen einige viel bessere und den zeitgenössischen Vorstellungen entsprechendere Entwürfe wie jene von Lois Welzenbacher, Ernst Hiesmayr, Karl Mang, Karl Schwanzer oder der Gruppe 4 (Holzbauer, Kurrent, Spalt) waren.

Haerdtls Bau ist ein Amalgam aus Formen und Auffassungen, die während des Berufslebens Haerdtls eine doktrinäre Bedeutung hatten: das an der Kunstgewerbeschule gepflegte Neobiedermeier der Zwanzigerjahre, der alpenländische Vorsichtsmodernismus der austrofaschistischen Ära, der NS-Neoklassizismus und - als Resultat - jene pseudomodernen Pathos- und Luxusmimikry, die man gemeinhin „Gewerkschaftsbarock“ zu nennen pflegt, obwohl der Stil weder echte Barockmerkmale aufweist noch von den Gewerkschaften erfunden oder bevorzugt worden wäre.

Einmal Tischler, immer Tischler. Bevor Oswald Haerdtl 1916 an der Kunstgewerbeschule zu studieren begann, hatte er eine Tischlerlehre absolviert. Als Innenausstatter, Möbel- und Glasdesigner war er ein perfekter Professionalist. Und die Architekturprobleme ging er an, als würde es sich um Möbelbau handeln. Seine Bauten sehen - am Historischen Museum wird es besonders deutlich - wie zu Gebäuden vergrößerte Schränke, Glasvitrinen oder Kredenzen aus. Das Material, die Oberfläche, die edle Oberflächenbearbeitung waren ihm wichtiger als der architektonische Raum oder die äußere Form.

Das Historische Museum ist ein Riesenschmuckkästchen für kostbare Überbleibsel der patriotischen Geschichte. Es war außerdem ein Staatsgeschenk zum 80. Geburtstag von Theodor Körner, dem damaligen Bundespräsidenten. Das Museum ist eine Geburtstagstorte im österreichischen Staatsstil, zu dessen Erfindern Haerdtl zählt. Er war der Innenarchitekt des Bundeskanzleramtes, wo er 1948 unter anderen die Repräsentationsräume und das Arbeitszimmer für den (schwarzen) Bundeskanzler gestaltete.Später fühlten sich dort auch die roten Bundeskanzler sichtlich wohl: Kristallluster von Lobmeyr (Haerdtl liebte Kristallluster), Edelholzwandtäfelungen, große Spiegel und jede Menge Staatswappen und andere Embleme, angebracht sogar in ionischen Kapitellen. Es ist jener Staatskitsch der Aufbauzeit, der den Gewerkschaften unterschoben wurde, obwohl er ganz eindeutig aus der austrofaschistischen und nationalsozialistischen Zeit stammte. Hoffentlich kommt Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, ein Freund des modernen, aber schlechten Designs, nicht auf die Idee, einem seiner Designerfreunde zu einem Umgestaltungsauftrag zu verhelfen. Es wäre jammerschade um dieses wichtige kulturpolitische Denkmal.

Die Haerdtl-Ausstellung hat einige Vorzüge und einige Mängel. Zu den Vorzügen gehört die Fülle des Materials und die einfallsreiche Gestaltung. Dass die Retrospektive in die Ringturmgalerie hineingestopft wurde, anstatt sie im wesentlich geeigneteren Architektur Zentrum zu zeigen, ist der Grundmangel, der einen anderen Mangel bedingt - wegen Platznot werden nur wenige Originalfotos gezeigt. Dafür aber schöne Zeichnungen. Wie etwa die Entwürfe für den österreichischen Pavillon zur Pariser Weltausstellung von 1937.

Auf einer dieser kolorierten Entwurfszeichnungen habe ich auf einem Mast 23 österreichische Fahnen gezählt. Sonst aber war Haerdtls Österreich-Pavillon 1937 in Paris einer der wenigen, die man als wirklich modern bezeichnen konnte: eine riesige Glasvitrine, die ein Panoramafoto der soeben fertig gestellten Großglocknerstraße enthält. Der Staat Österreich wurde damals neu und bis heute gültig definiert: Österreich ist die österreichische Landschaft. Sonst rundherum furchtbarer Staatskitsch, damals in Paris 1937. Krieg der Architekturen als Vorkrieg. Darunter Österreich, drinnen wunderschön, draußen fragil.

Der austrofaschistische bzw. aufbauaustriakische Staatskitsch kam bei Haerdtl erst später an, erst nach der ethischen und ästhetischen Katastrophe der NS-Zeit. Das neue Arbeitszimmer des Bundeskanzlers in Wien von 1948 sieht dem Arbeitszimmer des Führers in Berlin von 1943 zum Verwechseln ähnlich. Ich würde meinen, Oswald Haerdtls Kitsch ist viel dichter als jener von Albert Speer. Haerdtl hatte entschieden weniger Platz am Ballhausplatz, er musste die staatsmännische Bedeutsamkeit stärker zusammenballen.

[ Die Ausstellung „Oswald Haerdtl, Architekt und Designer“ ist noch bis 15. September im Ringturm zu sehen. ]

Falter, Mi., 2000.08.30

16. August 2000Jan Tabor
Falter

Viel Spaß mit Ausländern

Auf der 7. Architekturbiennale wird eine neue Ethik des Bauens gefordert. Die Welt wird durch den Computer gerettet, die Ausstellung durch die sparsamen, aber spaßigen Schweizer, die sich nicht nur über Österreich lustig machen. Und auch Österreich macht mit den internationalen Beiträgen, die Hans Hollein eingeholt hat, eine schlanke Silhouette.

Auf der 7. Architekturbiennale wird eine neue Ethik des Bauens gefordert. Die Welt wird durch den Computer gerettet, die Ausstellung durch die sparsamen, aber spaßigen Schweizer, die sich nicht nur über Österreich lustig machen. Und auch Österreich macht mit den internationalen Beiträgen, die Hans Hollein eingeholt hat, eine schlanke Silhouette.

Massimiliano Fuksas errichtet auf dem Wienerberg in Wien zwei Bürotürme, den Twin Tower. Das Bauwerk, bereits beinahe fertig, scheint ästhetisch in bester Ordnung zu sein. Und damit auch ethisch, könnte man behaupten, wenn man das dominante gläserne Bürohaus unter dem Gesichtspunkt eines Ethik-Postulats beurteilen müsste. Der Twin Tower ist einer der im österreichischen Pavillon vorgestellten Bauten ausländischer Architekten in Österreich. Einem architektonischen Modell werden hier einige skulpturartige Formstudien gegenübergestellt - ein architekturästhetischer Genuss sondergleichen, wirklich schön und eindrucksvoll ausgestellt.

Architekt Massimiliano Fuksas, 1944 in Rom geboren, ist einer der Superstars der 7. Architekturbiennale von Venedig. Er kommt - wie Jean Nouvel, Zaha Hadid, Greg Lynn und ein wenig auch Hans Hollein - mehrmals und in mehreren Funktionen vor. Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zu den Kunstbiennalen, bei denen die Trennung zwischen Nominierenden (Direktoren, Kuratoren, Kommissare etc.) und Nominierten (Künstler, Architekten etc.) die Regel ist. Das entspricht dem Unterschied der Professionen: Die Berufsethik der Architekten ist - traditionell - eine andere als die der Künstler.

Massimiliano Fuksas ist eine Art Biennale-Selfstar, der vieles und viele überstrahlt. In der Corderie, der etwa 300 Meter langen Schiffstau-Manufaktur im Arsenal, wartet er mit einem 280 Meter langen Screen auf, auf dem in Form von rasch wechselnden und lauten Videocollagen Bilder aus einigen unheimlich rasant wachsenden Megastädten wie Kalkutta, Kairo, Hongkong, Tokio, Manila oder Mexico City eine Horrorvision der allgemeinen Weltzukunft vermitteln. Mit ein wenig bösem Willen könnte man es als eine klassische kolonialistisch-rassistische Sicht des Globus sehen: Unsere kulturell gesittete urbane Welt ist von der unreglementierbaren Bevölkerungsflut aus einigen stadtplanungs- und architekturmäßig ungebändigten Ländern bedroht.

Aber das ist nur eine mögliche Interpretation und unter Umständen eine Unterstellung. Die Superleinwand (Guinness-rekordverdächtig) ist vor allem ein riesiges ausstellungstechnisches Problem für etwa ein Viertel der Biennale-Teilnehmer: Damit man die in jeder Hinsicht blasse Projektion sieht, die die halbe Korridorhalle beansprucht, muss auch die andere Hälfte in beinahe mystischer Verdunkelung gehalten werden, die die dort in Kojen ausgestellten Einzelpräsentationen von etwa 45 Teilnehmern (rund die Hälfte der eingeladenen Architekten bzw. Künstler) wie rätselhafte und kostbare Reliquien präsentiert, obwohl es sich meist um ziemlich banale Leistungsschauen von mehr oder weniger eitlen und selbstdarstellungsgeilen Architekten handelt. Viele Pläne und Bilder sind zu sehen, ohne deren elendslange Begleittexte man nicht verstehen kann, worum es geht und welchen Zweck die vorgestellten Bauwerke eigentlich zu erfüllen haben. Man kann hier kaum etwas sehen und schon gar nichts lesen, außer fünf Minuten vor der Sperrstunde, wenn das Screenmonstrum ab- und die Zentralbeleuchtung eingeschaltet wird.

So sind die Architekten: Kommen sie an die Macht, so sind sie nicht zu halten und wollen alle in den Schatten stellen. Mit 138 Meter ist der Twin Tower der höchste der neuen Wiener Hochhäuser. Im Hauptpavillon in den Giardini ist Fuksas auch gebührend vertreten: Mit einer ebenfalls monumentalen und in mythischer Dämmerung versenkten Multivideoschau, einer gleichsam neoutopischen Antwort auf den in seiner Megalongscreenprojektion festgehaltenen Megapolis-Befund: „Citta Internazionale Terzo Millennio“.

Wenn sich eine gemeinsame ethische Aussage aus den jüngsten Biennale-Beiträgen herausfiltern lässt, dann ebendiese: Die urbane Welt kann gerettet werden, die Rettung kommt aus dem Computer. Der Retter kommt mit dem Computer. Der Retter ist ... Richtig geraten: der Architekt. Der global denkende Architekt freilich. Und wenn es einen in Venedig erkennbaren ästhetisch-formalen Trend für die Gegenwartsarchitektur gibt, dann ist es die Wiederentdeckung von Formen und formalen Experimenten aus den Sechzigerjahren. Es ist der Trend einer Computerisierung der Sechziger und Siebziger, die Fortsetzung der Postmoderne der Achtzigerjahre mit anderen Mitteln. Keine Revolution, keine Rebellion, kein Protest weit und breit. Der Gegenwartsarchitekt ist - wie fast immer - ungemein fortschrittlich und apolitisch. Merkwürdig, dass ausgerechnet Fuksas keinen der zahlreichen Biennale-Preise erhalten hat.

Der Direktor der 7. Architekturbiennale ist Architekt Massimiliano Fuksas. In der Hauptangelegenheit mühte er sich vergeblich ab. Seiner Biennale-Losung folgten nur wenige. Eine schöne, weil nicht auflösbare Losung, hat er ausgegeben, beinahe ein 68er-Aufruf: „Citta: Less Aesthetics, More Ethics“. Ob von Oberkommissar Fuksas selbst oder von den jeweiligen Nationalkommissaren eingeladen - die meisten Architekten haben hauptsächlich mit einem ästhetischen Problem zu kämpfen gehabt: Wie sollten sie ihre Bauten oder Projekte, Ideen und Ansichten (die gewiss allesamt ethisch makellos sind) darstellen und damit sich selbst als bedeutende Architekten vorstellen. Auch diesbezüglich nichts Neues: Der eine Selbstdarsteller ist zurückhaltend bis spröde, der andere üppig und unübersehbar einfallsreich. Manche stellen Stücke aus ihrem Vorrat so lustlos aus, als hätten sie es bloß hier abgestellt - so etwa Coop Himmelb(l)au , die ihr sechs Jahre altes Havana-Modell „Like Sugar: White on White“ nach Venedig karrten. Es ist kein Computer dabei. Havana ist verloren, das wissen wir längst.

Unter den Architekturnationen sind die Schweizer die größten Spaßmacher. Außerdem sind sie auch die größten Sparmeister. Während die meisten der 38 teilnehmenden Architekturnationen der Biennale in Venedig erhebliche Mittel ausgegeben haben, um der Welt ihre besten Architekten und Bauwerke, gegebenenfalls ihre größten Baumoralisten bzw. moralischsten Bauabsichten vorzustellen, machen sich die Schweizer über Ausländer lustig - und das fast umsonst! Auch auf unsere Kosten. Um über uns Österreicher, ihre nettesten Nachbarn, spotten zu können, adaptieren sie sogar unsere besten Burgenländerwitze. Wie etwa diesen, den man nun in Venedig lesen kann: „Warum hören die Österreicher so laut Musik? Steht ja drauf: VOL UME.“

Außerdem werden die Schweizer überall bevorzugt. Ihr Pavillon steht auf dem Rundweg durch die Giardini als erster gleich neben dem Eingang (der österreichische hingegen ist der entlegenste) und ist - so weit man durch das Gittertor in den versperrten Pavillon hineinsehen kann - leer. Dennoch gehen drinnen Besucher umher, recht viele sogar, viel mehr als im österreichischen. Sie unterhalten sich köstlich. Sie lachen laut. Nie hätte ich gedacht, dass Japaner so hemmungslos laut lachen können.

Das italienische Aufsichtsmädchen vorm Tor schickt die neu hinzukommenden Besucher des Schweizer Pavillons unfreundlich aus den Giardini heraus: Der neue Eingang befinde sich rechts vor dem Biennale-Haupteingang. Alle italienischen Aufsichtsmädchen, meist Studentinnen, für die die Biennale stets ein guter Ferienjob ist, sind diesmal auffallend unfreundlich. Ich schreibe es dem aggressiven Ethik-Überangebot der überfüllten und übergestalteten Biennale zu. Das Abgewiesenwerden macht neugierig und erhöht die Sehnsucht. Später gelange ich zu der Auffassung, dass auch das unfreundliche Mädchen vorm geschlossenen Tor eine politische Metapher ist. Etwa so: In Länder wie die Schweiz werden wir, die Fremden, künftig höchstens hineinklettern, über irgendwelche Hintereingänge gelangen können. Die Boote sind voll in Europa.

Der Schweizer Pavillon ist tatsächlich leer. Nur die Wände sind beschrieben. In verschiedenen Handschriften und Sprachen, hauptsächlich auf Deutsch, Englisch, Französisch, aber auch auf Tschechisch, Polnisch und Japanisch. Das ist alles. Sehr billig, verglichen mit den erheblichen Selbstdarstellungaufwänden der anderen. Der Österreicher etwa. Man kann über die Polen, Juden, Griechen, Jugoslawen, Zigeuner, Tschechen und Österreicher lachen. „Nennen Sie einen kurzen Satz, der aus drei Lügen besteht! Ehrlicher Pole mit eigenem Auto sucht Arbeit. - Warum ist das Kind einer Russin und eines Polen die optimale Mischung? Es ist zu faul zum klauen! - Wer seine Neutralität aufgibt, ist entweder ein Trottel oder ein Österreicher. - Wie nennt man einen Italiener auf der Rolltreppe? Scheiße am laufenden Band.“ Jemand hat hinzugefügt: „Svizzeri! Siete patetici!“ Offensichtlich eine Dame mit feinem venezianischem Humor. „No Austrians, sorry“, antwortet mir einer der lachenden Japaner, als ich ihn frage, ob der in japanischen Schriftzeichen geschriebene Witz von Österreich handle, „only about Koreans“. Ein brutaler antisemitischer KZ-Witz wurde (musste) übermalt (werden). Allerdings so, dass man ihn dennoch lesen kann.

„For fuck's sake! Where is the architecture?“, ärgert sich jemand, wahrscheinlich ein Amerikaner, über seine körperliche Anstrengung, die umsonst war: Man betritt den Schweizer Pavillon mühevoll über das Dach, über ein einfaches, gefährlich wackelnden Baugerüst. „This is the architecture, you American gum chewing shit-head, isn't!?“ Möglicherweise ist die provisorische Hintertreppe eine politische Metapher. "Auf die Frage ,Haben wir zu viele Ausländer in der Schweiz?„ antworten 20 Prozent mit Nein, 30 Prozent mit Ja und 50 Prozent mit ,können du Frage stellen nochmal?“." Man würde meinen, das eigentliche Problem der Schweizer Architekten sei der Ausländerhass. Die Schweizer sind Ausnahme: Sie sind eindeutig.

Ganz anders die Österreicher. Sie erscheinen in Venedig als die größten Xenophilen und Philosemiten unter den modern bauenden Völkern. Und als die größten Pathetiker. Vor ihrem Pavillon, dem einzigen unter allen nationalen, hängt neben der rot-weiß-roten Österreich-Fahne auch der himmelblaue Europa-Sternenbanner. So schön nebeneinander wie am Ballhausplatz in Wien, farblich übereinstimmend, pathetisch, feierlich und auch ein wenig politisch. Ein klares Bekenntnis auch in Venedig. Das müssten die drei Weisen sehen! Drinnen: eine der besten Präsentationen der ganzen riesigen Biennale - lauter erstklassige Architektur, entworfen von den größten Stars der diesjährigen Biennale, ungemein elegant und sorgfältig ausgestellt. Hans Hollein, der österreichische Biennale-Kommissär, hätte den Preis für den besten Nationalpavillon der 11. Biennale verdient. Zusammen mit den Schweizern.

Unter dem Motto „Österreich - Aktionsfeld für internationale Architektinnen und Architekten. Ausländer lehren, entwerfen und bauen in Österreich“ werden geplante Projekte bzw. bereits verwirklichte Bauten präsentiert: Ben van Berkel (Haus für Musik, Graz), Peter Cook / Colin Fourier (Kunsthaus Graz), Norman Foster (Eurogate Vienna - Bebauungsplan), Massimiliano Fuksas (Vienna Twin Tower und Euro-Spar, Salzburg), Zaha Hadid (Überbauung der Stadtbahnbögen in Wien und Skischanze Bergisel in Innsbruck), Greg Lynn (OMV-Pavillon, Schwechat), Thom Mayne (Hypo-Alpe-Adria-Zentrum, Klagenfurt) und Jean Nouvel (Interunfall-Landesdirektion, Bregenz).

Der österreichische Pavillon: ästhetisch tadellos, ethisch neutral, politisch uneindeutig. Abgesehen davon, dass die Aussage, Österreich sei für ausländische Architekten eine Art Bau-Eldorado, nicht stimmt. Man könnte unzählige internationale Wettbewerbe nennen, die von Ausländern gewonnen wurden - die Bauaufträge haben dann aber österreichische Architekten bekommen. Bis zum EU-Beitritt Österreichs war das die Regel. Jetzt kann man die ausländischen Architekten nicht mehr so leicht ausbooten. Man könnte an viele Wettbewerbe erinnern, bei denen hervorragende ausländische Architekten mit hervorragenden Entwürfen leer ausgegangen sind. Die Situation ist allerdings in den letzten zwei, drei Jahren spürbar besser geworden, insofern hat Hans Hollein mit seiner Biennale-These durchaus Recht. Verglichen mit anderen Ländern ist der Anteil bauender ausländischer Architekten in Österreich freilich weiterhin gering.

Hans Hollein wollte, dass der österreichische Beitrag auf der Biennale eine klare Aussage zur aktuellen politischen Situation enthält. Das sagte er deutlich, über seine Absicht besteht kein Zweifel. Kurz vor der Eröffnung dürfte ihm aufgefallen sein, dass das Motto und der Inhalt „Austria - Area of Action for International Architects. Foreigners teach, plan and built in and for Austria“ (die englische Version klingt noch viel pathetischer als die deutsche) wie eine von der Regierung bestellte Unterstützung für ihren propagandistischen Feldzug gegen die EU-Sanktionen erscheinen musste.

So lud Hollein noch rasch einige Architekten ein, unter dem Motto „Area of Tolerance. For Peace, Freedom of Art - Against Racism and Xenophobia“ einen Entwurf für den Ballhausplatz beizusteuern, der zum Symbol des permanenten Widerstandes gegen die Koalition geworden ist. Jean Nouvel schlägt einen Turm vor, Greg Lynn eine Riesenknospe (Lynns computergenerierte Baustrukturen sehen alle wie blumige Blasen aus) und Thom Mayne eine dreidimensionale, in den Boden eingelassene Weltkarte. Hermann Czech entwarf in Anspielung auf den historischen Namen „Ballhaus“ einen haushohen Ballspielplatzkäfig. Adolf Krischanitz stellt (eine politisch höchst ambivalente Idee) die zwei von ihm in Wien errichteten jüdischen Schulen vor. Außerdem stellt er auch einen Computer aus, in dem - falls das frustrierte Dienst habende Aufsichtsmädchen sich dazu bereit findet, das Gerät einzuschalten - die Webseiten mit den Informationen über die regelmäßigen regierungskritischen Demonstrationen abgerufen werden können, die am Ballhausplatz beginnen. Sobald die Webseiten erscheinen, hört die politische Zweideutigkeit auf. Hans Hollein hat eine gute Lösung gefunden. An die Ballhausplatz-Ideen von Ben van Berkel und Zaha Hadid kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern.

Falter, Mi., 2000.08.16

05. Juli 2000Jan Tabor
Falter

Perplex im Multiplex

Architektur zum Riechen: Wiens Multiplex-Kinos durchzieht der unwiderstehliche Duft frischen Popcorns. Und das ist nicht das Einzige, was die Entertainment-Bunker miteinander verbindet.

Architektur zum Riechen: Wiens Multiplex-Kinos durchzieht der unwiderstehliche Duft frischen Popcorns. Und das ist nicht das Einzige, was die Entertainment-Bunker miteinander verbindet.

Überall: der warme Geruch von Popcorn. Besonders rein durchweht er das Apollo in der Gumpendorfer Straße und die Village Cinemas auf der Landstraßer Hauptstraße. Die Unverfälschtheit des Geruches hängt von der räumlichen Konstellation der jeweiligen Kinobaulichkeit ab. Die ist im Apollo-Kino deshalb so günstig, weil dort die Gänge eng, verwinkelt und zu einem einzigen riesigen Stiegenhaus verflochten sind, das das Aufsteigen von Dünsten aller Art begünstigt, die Durchlüftung hingegen beeinträchtigt. Außerdem verfälschen keine anderen Essensgerüche den Popcornduft, weil kein gastronomischer Betrieb mehr - etwa ein Altwiener Beisl oder eine Pizzeria - ins Apollo hineingepresst werden konnte.

Das traditionsreiche Apollo-Haus, das zwar wegen des theatralischen Gehabes seiner Gebäudeform (ursprünglich war es ein Kabaretttheater) und seiner bereits in der Zwischenkriegszeit amerikanisierten Fassade auf der hügeligen Kreuzung rundherum so prachtvoll mächtig und dramatisch erscheint, ist in Wirklichkeit ein verhältnismäßig kleiner Wiener Altbau und daher zu eng für einen echten Plex, wie etwa das Donau Plex in Kagran. Viel zu eng selbst für jene zwölf eher kleinen bis winzigen Kinosäle, die hineinzustopfen dem Architekten Walter Kral gelungen ist. Zwölf, immerhin. Und bereits 1993. Damals war das Apollo in Wien der erste Kinobehälter dieser Art. Eine architektonische Meisterleistung der Verschachtelung; ein wahres Wunder hinter der ausgehöhlten Art-deco-Fassade. Ein Wunder auch, dass diese zeitgenössische Interpretation (Postmoderne plus Memphisdesign) von Piranesis „Carceri“ bei der Baupolizei durchkommen konnte. Die Suche nach den Toiletten zum Beispiel gleicht dem Gang des Orpheus in die Unterwelt.

Der Geruch des Popcorns mischt sich hier im Apollo mit den Stimmen und Geräuschen der gerade laufenden Filmvorführungen, weil hier kein Platz für Kino-Vorzimmer übrig geblieben ist, die in den anderen Plex-Neubauten durchaus üblich sind und dem Betreten des dunklen Kinosaales die Würde eines sakralen Aktes verleihen. Für mich übrigens ist diese Mischung aus Kukuruzgeruch und Kinostimmen eine überaus bekömmliche, weil ich der Meinung bin (Kindheitserlebnisse aus den Fünfzigerjahren), dass vor Türen in Kinos stets die gerade gespielten Filme hörbar zu sein haben. So gesehen ist „Apollo / das kino“ - in der Aufschrift ist „das kino“ unter einem Bruchstrich und auf den Kopf gestellt angebracht - eine Ausnahme. Eine zweifache Ausnahme, genau genommen: Filmstimmen und keine Gastronomie, nur eine kleine Verkaufstheke. Reines Kino also. Sonst das gleiche Programm und der gleiche Plex-Kitsch wie überall.

Die Village Cinemas (Architekt Arthur Duniecki) sind einer jener in den letzten Jahren errichteten Konsum-Kino-Passagen-Bunker, deren Typologie noch im Werden ist und für die geltende Fachbegriffe noch fehlen. Geschickt wird man von den Kinokassen geradeaus und sehr eng an der mit Popcorn-Röstern und Coca-Cola-Zapfhähnen bestückten Theke vorbeigeführt, sodass man auch hier dem typischen Plex-Signal nicht widerstehen kann. Man kann nicht. Es ist ein pawlowscher Reflex. Der Geruch dringt direkt ins Unterbewusstsein ein und steigt als leicht süßliche Sehnsucht in den Kopf, Sehnsucht nach diesem Glücklichsein, dem wahrsten aller Kinobesuchsgefühle. Unterhalb der Cinemas in der Landstraßer Hauptstraße befinden sich außer einem kleinen Cafe keine weiteren gastronomischen Betriebe, dafür eine riesige Literatursupermarktfiliale von Amadeus. Und Bücher, insbesondere druckfrische, stinken kaum.

Auf der Ebene der Kinosäle und mit diesenüber eine geräumige Galerie unmittelbar verbunden befindet sich noch ein geräumiges und trotz einer Selbstbedienungsabteilung fast elegantes Lokal scheinbar gehobener Klasse, aus dem nichts Ordinäres zum Riechen herausdrängt. Von der erwähnten Galerie blickt man in die Buchhandlung wie in eine zerklüftete, verkarstete Landschaft (da übertreibe ich ein wenig). Und allmählich beginnt die Faszination der unüberblickbaren Menge zu wirken, obwohl es sich bloß um Kulturgut handelt. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Menschen gibt, die nach dem Kinobesuch nicht ins Restaurant (mit seiner recht interessanten Speisekarte), sondern lieber hinunter zu den Büchern gehen; denn auch hier kann man sitzen, sogar in echten alten und bequemen Lesefauteuils. Das Büchersortiment ist stellenweise beachtlich (Filmliteratur), stellenweise miserabel (Kunst und Architektur), und das soeben eröffnete Village Center ist die Ausnahme unter den neuen Wiener Kinomultiplexcinemaxcentren.

In den anderen Kinoplexen gibt es zwar ein Übermaß an Lokalen, von einer Buchhandlung, und sei's auch eine ganz winzige, fehlt jedoch jede Spur. Das ist auch richtig so. Buchhandlungen gehören in Museen, nicht aber in Kinos. Der Film schließt das Buch aus und umgekehrt, das war schon immer so. Auch in der heroischen Pionierzeit des Kinos, als der Film noch Lichtspiel und das Kino noch Lichtspieltheater hieß, glich der Kinobesuch einem Theaterbesuch. Nach dem Theater ging man üblicherweise ins Restaurant, um dort zu essen, und nicht in eine Buchhandlung, um dort zu lesen. Auf eine Sinnlichkeit (des Zusehens) folgte eine weitere (des Essens) - und die Sinnhaftigkeit, über das kürzlich Genossene und das gerade zu Genießende gleichzeitig zu reden.

Diese Mischung der Genüsse bildet den eigentlichen psychosozialen Hintergrund des Phänomens namens Plex und ist keine kulturell neue Synergie, sondern bloß die Reanimation alter Erfolgsrezepte: Der Kinopalast aus den Dreißigerjahren wird ebenso verwertet wie das Premierenkino der frühen Sechzigerjahre und die klassische Genusskombination aus den Vorstadt- und Kleinstadtkinobuffets der späten Fünfziger des vergangenen Jahrhunderts: Coca-Cola und Popcorn. Insofern stimmt die Architektur mit dem Inhalt überein: Es ist langweiliger, provinzieller Nutzbau, der nach Außen mehr signalisiert, als er drinnen tatsächlich leistet.

In der Kinopolis (Motto: „Mehr Kino geht nicht“), die sich im dritten Obergeschoß des Donau Plex (Architekt: Otto Häuselmayer) befindet (das äquivalente, etwa gleich große und gleich strukturierte Großgebäude aus den Achtzigerjahren heißt noch altmodisch „Donauzentrum“), werden Kids und Teens mit einem Lockangebot angesprochen, die diese massenhaft zelebrierte Verbindung von Essen- und Kinogehen vortrefflich illustriert: „Feier deinen Geburtstag im Kino! Du kannst dir als Geburtstagskind einen Film gratis anschauen und mit deinen Freunden bei Popcorn, Kuchen, Getränken anschließend feiern!“ Schwer zu sagen, ob man mit dem Film in die Gastronomie gelockt wird oder umgekehrt. Sieht man vom Apollo und den Village Cinemas einmal ab, so scheint der Kinobesuch jedenfalls bloß noch Teil eines gastronomischen Gesamterlebnisses zu sein.

Überall also dieser eigenartig angenehme Popcorngeruch (sogar im Künstlerhauskino, das freilich nicht in die hier betrachtete Kategorie gehört). Meist ist er mit dem Geruch von Pizza, Sushi oder anderen Speisen (falls diese überhaupt nach etwas riechen) und mit lauter Musik vermengt. Diese Mischung - die das Phänomen ergibt, das mit „Plex“ bezeichnet wird - ist in der „Lassalle Kinowelt“ (auch UCI genannt) auf der Lassallestraße besonders stark ausgeprägt. „Ihre Mittag-, Freizeit- und Abendinsel präsentiert sich jetzt neu: als Ess-, Spaß- und Filmtheater“, verkündet die elektronische Laufschrift am Eingang des neuesten Wiener Plexes. Man betritt einen dreischiffigen Konsumdom, in dem das Hauptschiff eine Passage ist und die Seitenkapellen mit kleinen Restaurants aller Art bestückt sind, die an die Jahrmarktbuden erinnern. Das Essen hier gleicht tatsächlich einem Theater: Sobald sie sich in den Restaurants niedergesetzt haben, werden die Besucher zu Akteuren, die von anderen Besuchern angeschaut werden.

Dass die Funktion „Filmtheater“ an letzter Stelle genannt wird, ist verständlich. Selbst unmittelbar vor dem Vorstellungsbeginn in den Kinos trifft man in allen Plexkinos nur wenige Menschen an, die Wochenendtage vielleicht ausgenommen. Dem Besuchin der Kinowelt haftet etwas Abgehobenes, ja Erhabenes an. Es ist die Ästhetik eines Separees für Massen, die hier geboten wird. Die Fußböden und zumeist auch die Wände sind mit weichen Spannteppichen bedeckt, am häufigsten in den erotischen Farbkombinationen Rot mit Dunkelblau beziehungsweise Schwarz. Spiegel. Popcorn- und Cola-Theken wie Bars auf einem Ozeandampfer.

Auf diese Weise wurden einst die Theater, Opernhäuser und Varietes sowie die besseren Stundenhotels ausgestattet. Der Rest der Einrichtung ist den Filmpalästen der Dreißigerjahre nachempfunden - dem Art deco, der Streamline-Ästhetik. Man wird an die Weltausstellung 1933 in Chicago und 1967 in Montreal erinnert. Stark bemüht, großstädtisches Flair zu erzeugen, beherrscht diese Bauten die reinste Nostalgiearchitektur, eine Art amerikanisierter Cinecitta, die beweisen soll, dass die glamouröse Filmwelt nicht untergegangen ist, und suggeriert, dass sie nie untergehen wird.

Der Kinopalast wurde also wiederbelebt. Der „Cineplexx Palace“, den der Architekt Harry Seidler in unmittelbarer Nähe der Reichsbrücke und im Vorfeld der von ihm errichteten Wohnhaussiedlung am Rand von Kaisermühlen gebaut hat, ist eine Ausnahme unter den Wiener Plex-Kinos. Während es sich bei der Kinopolis in Kagran bloß um eine Erweiterung des vorhandenen Shoppingzentrums und beim UCI Lassallestraße um einen Bestandteil der Passage handelt, ist der Cineplexx Palace ausschließlich dem Film gewidmet - in Verbindung mit Gastronomie und Spielautomatenhallen, die erst eingerichtet werden. Sieht man von einer kleinen Schmuckboutique auf dem Korridor vor den Kinoeingängen ab, die der ganzen anonymen Großkinowelt eine geradezu liebliche und persönliche Note verleiht, sind hier keine weiteren Einkaufsmöglichkeiten vorhanden.

Der Gebäudekomplex ist klar und einfach gegliedert. Die zur Reichsstraße hin orientierte Hälfte ist dem Kinobetrieb gewidmet. Der Gastronomietrakt ist als eine Querpassage angelegt und befindet sich auf der anderen Seite des kistenförmigen Gebäudes. Wobei es offensichtlich den Kleingastronomen überlassen wurde, welcher Einrichtungskitsch ihnen zusagt. Zwischen diesen beiden parallel ausgerichteten Bereichen befindet sich eine über alle zwei Obergeschoße gezogene Halle, die die beiden etwa gleichmäßig bedeutenden Bereiche verbindet und zugleich voneinander trennt und die mit einigen offensichtlich gehobenen Restaurants und Cafes bestückt ist.

Dieser gastronomische Teil ist mit gut 25 Meter hohen Filmkulissen bestückt, die den Hollywood- oder Ufa-Filmateliers aus der Anfangszeit des Filmes nachempfunden wurden: eine Kombination aus einem Rokokosalon, einem römischen Palast mit Säulenarkaden und der unterirdischen Fabrik aus Fritz Langs „Metropolis“. Reiner, wunderbar aufrichtiger Kitsch. Kitsch als Manifest. Kulissen als Metakulissen. Die Teilung, die auch eine Art Arbeitsteilung unter einem Dach ist, funktioniert hervorragend. Während die Luft im Foodcourt mit den zahlreichen und recht verschiedenartigen Essensgerüchen übersättigt ist, sind die Kulissenrestaurants von geruchloser Atmosphäre. Im Kinotrakt mit den roten Teppichwänden und blauschwarzen Teppichfußböden riecht man wieder ausschließlich Popcorn, stark und rein. Praktisch ist die Farbkombination allerdings nicht. Nachdem die Besucher ihre Plätze in einem der 14 Kinosäle bezogen haben, muss der elegant uniformierte Cinema-Butler den Staubsauger in Betrieb nehmen. Verstreutes Popcorn sieht hier, in dem eleganten Kinopalast, wirklich scheußlich aus.

Wie spannend diese neuen Wiener Kinobunker sozialpsychologisch auch sein mögen (überall das gleiche), ästhetisch sind sie völlig uninteressant. Der billigen und banalen Bauweise entspricht die langweilige und altmodische Gestaltung, die den Geist einer Metropole vortäuscht, sich aber kaum von der architektonischen Einfältigkeit unterscheidet, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren die mittlere Provinz beherrschte.

Dass es auch anders geht, haben Coop Himmelb(l)au vor fünf Jahren mit einem völlig neuen Multiplex-Typus für Dresden bewiesen, dem Stolz der Stadt. Trotz Popstimmung und Jugendkult wird die neue Wiener Kinonostalgie den Hauch von Nekrophilie nicht los. Vielleicht drücken die Plex-Architekten bloß aus, was man diesen neuen Kinoriesen nachsagt: dass in Wien zu viele zu planlos errichtet werden und dem Kinosterben - das diese Plex-Ungetüme genauso gnadenlos beschleunige, wie einst die Supermärkte die Greißler erledigten - bald ein Plexsterben folgen wird, das auch die Stadtplanung vor große Probleme stellen wird.

Städtebaulich betrachtet ist der Cineplexx Palace eine Katastrophe. Scheinbar eine baulich kaum nutzbare Stelle einnehmend, verhindert der Bau eine städtebaulich ordentliche Lösung am Brückenkopf der Reichsbrücke, gerade dort, wo es für den neuen Stadtteil um die UNO-City besonders wichtig wäre. Nach außen sieht das Bauwerk wie ein Teil der bisher eher desperat als planvoll vorgenommenen Bebauung der Donaucity aus. Drinnen ist er eindeutig der anderen, nicht weniger eindrucksvollen Nachbarschaft zuzuordnen: der Copa Cagrana. Sonst wie überall: das gleiche Programm. Zutreffender wäre: die gleiche Speisekarte.

Falter, Mi., 2000.07.05

17. Mai 2000Klaus Nüchtern
Jan Tabor
Falter

Wien darf Chicago werden

Der Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner feiert seinen 70. Geburtstag. Der „Falter“ sprach mit ihm über sein legendäres Architekturarchiv, über Wiener Architekten, Wiener Gruppen und Wien im Allgemeinen.

Der Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner feiert seinen 70. Geburtstag. Der „Falter“ sprach mit ihm über sein legendäres Architekturarchiv, über Wiener Architekten, Wiener Gruppen und Wien im Allgemeinen.

Seine Architektenkarriere hat der am 23.5.1930 im oberösterreichischen Schalchen geborene Friedrich Achleitner bald wieder aufgegeben. Geblieben ist ihm allein die schwarzrunde Architektenbrille.

Anstatt selber zu bauen, wandte sich der Schüler von Clemens Holzmeister der Literatur und der Architekturkritik zu. In beiden Sparten wurde Achleitner berühmt: In der Literatur für seine Mitgliedschaft in der Wiener Gruppe und ein schmales, aber viel beachtetes Îuvre (u.a. die Dialektgedichte, die er mit H.C. Artmann und Gerhard Rühm für „hosn rosn baa“ verfasste, oder den „Quadratroman“); in der Architekturkritik für seine ausufernde Bestandsaufnahme österreichischer Architektur des 20. Jahrhunderts, an der Achleitner seit 1965 arbeitet.

Falter: Bedeutet die Präsentation Ihres legendären Archivs das Ende oder den Beginn des Mythos Achleitner?

Friedrich Achleitner: Der Mythos ist doch ein biologisches Phänomen: Je älter einer wird, umso mehr wächst er einem zu. In Wirklichkeit besteht dann der Mythos in 25.000 Karteikarten, den entsprechenden Dias und Fotos ...

Haben Sie je nachgerechnet, wie viele Kilometer in dem Archiv stecken?

Wie viele hunderttausend Kilometer das waren, weiß ich nicht. Vier oder fünf Autos halt.

Wann haben Sie begonnen?

1965. Der Plan war, in drei Jahren einen Architekturführer für ganz Österreich zu haben.

Aber Sie sind noch immer in Verzug.

Ja. Inzwischen lebt der erste Verleger nicht mehr, und der zweite ist gekündigt worden.

Was fehlt?

Noch zwei Bände: der dritte Wien-Band und Niederösterreich.

Und für wann sind die zu erwarten?

Optimistisch beantwortet: in zwei Jahren der Wien-Band.

Das sagen Sie immer - seit ich Sie kenne. Mittlerweile sind es 20 geworden.

Na ja, so ist es. Aber ich kann jetzt in der Pension arbeiten wie noch nie.

Sie sind wahrscheinlich der Österreicher, der dieses Land am meisten befahren und begangen hat.

Als Taxler könnte ich schon überall arbeiten.

Sie müssen ja eine nomadische Existenz führen.

Nein. Das ist eben der Mythos. Es hat sich bei mir auf die Wochenenden - Wien und Umgebung - und auf die Ferien konzentriert, in denen ich dann halt wochenlang herumgefahren bin.

Das heißt, dass Sie auch keinen Urlaub gehabt haben.

Nein, Urlaub habe ich das erste Mal mit 50 gemacht, und da ist es mir derartig elendig gegangen - eine Schreckensvorstellung.

Warum haben Sie eigentlich Ihre Architektenkarriere nicht fortgesetzt?

Ich habe gemerkt, dass ich nicht das Zeug für einen guten Architekten habe. Dabei ging es weniger ums Entwerfen als ums Durchstehen. Wenn ein Handwerker einen Blödsinn macht, tut er mir leid, und ich kann ihm nicht sagen: „Mach das noch einmal.“ Das ist keine Koketterie, das kann ich nicht. Dazu kam, dass mich das Schreiben immer mehr interessiert hat. Ab 1953/54 sind die Freunde der Wiener Gruppe aufgetaucht, und ich wollte weg von der Architektur.

Und die Architekturkritik?

War ein reiner Brotberuf. Ich habe damals konkrete Poesie gemacht und vier Jahre lang keinen Schilling damit verdient.

Wovon haben Sie dann gelebt?

Ich habe bei Architekten gezeichnet. Beim Kattus zum Beispiel. Den kennt heute niemand mehr, aber das war ein sehr gebildeter Architekt, der mir immer Honorarschecks von der Postsparkassa ausgestellt hat, damit ich mir beim Einlösen die Postsparkassa von Otto Wagner ansehe. Damals habe ich ja keine Ahnung gehabt.

Wie sind Sie zur Architekturkritik gekommen?

Die (Schriftstellerin, Red.) Dorothea Zeemann hat damals (Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre, Red.) in der Abendzeitung gearbeitet. Das war ein mieses Boulevardblatt, wo alle unter Pseudonym geschrieben haben, die Dora manchmal auch über Architektur. Und da hat sie immer mich konsultiert, bis sie dann einmal gemeint hat: „Geh, schreib doch du des.“ Also hat sie eingefädelt, dass es in der Abendzeitung Architekturkritik gibt. Umgefähr ein Jahr lang habe ich damals über die „Bausünden“ geschrieben. Das letzte Thema war der Abbruch der Renaissance-Häuser in der Sterngasse. Da habe ich auf der Kulturseite gegen den Abbruch geschrieben, und der Lokalredakteur hat auf der Lokalseite dafür geschrieben. Als ich draufgekommen bin, dass der eine Wohnung dort kriegen sollte, habe ich gekündigt. Ein paar Monate drauf habe ich das dann bei der Presse fortgesetzt.

Und was kam danach?

ch habe 1972 ein Stipendium für Berlin bekommen. Das war wirklich meine Lebensrettung: Ich war völlig ausgeschrieben. In Berlin habe ich ein Jahr lang eigentlich nix gemacht, außer mit dem Gerhard Rühm „Fang den Hut“ gespielt.

Im Interview mit dem „Wespennest“* war's noch „Mensch ärgere Dich nicht“.

Nein, ich glaube es war „Fang den Hut“.

Wie war es eigentlich, unter Otto Schulmeister in der „Presse“ zu schreiben?

Jedes Mal, wenn ich mit Architekten einen Wickel gehabt habe, haben die direkt beim Herausgeber Wolf in der Maur interveniert, was dann auf den Schulmeister niedergegangen ist. Er hat das aber ausgehalten, und ich habe mit ihm in den zehn Jahren nur ein Gespräch gehabt - das Vorstellungsgespräch.

Waren die Großarchitekten mächtiger als heute?

Das glaube ich nicht.

Diese Art von Intervention scheint wirklich vergangen zu sein.

Ich möchte nicht wissen, wie das ist, wenn man den Peichl angreift. Das erscheint dann gar nicht.

Warum haben die Architekten so empfindlich reagiert?

Es ist viel Geld im Spiel, und die Architekten waren es einfach nicht gewohnt, dass sie in den Medien kritisiert werden.

Hat sich die Architekturkritik verändert?

In dem Sinne, dass man hart auf etwas losgeht, gibt es sie nur mehr sehr selten. Ich mache es ja auch nicht mehr. Ich war aber immer schon gegen das Abkanzeln. Der begleitende Kommentar wäre eigentlich meine Idealvorstellung.

Braucht die Architektur keinen kritischen Diskurs mehr?

Doch, aber ich denke, dass die Architektur in den letzten Jahren viel schwieriger geworden ist. All dieses technologische Zeug! Es ist ein wahnsinnig hartes Gewerbe geworden, und das macht auch die Kritik so schwierig.

Sind nicht mitunter stadtplanerische Kriterien wichtiger als rein architektonische?

Ja, aber ich habe das eigentlich nie gemacht. Das muss man auch studiert haben.

Wie stehen Sie zu Roland Rainer?

Muss das sein?

Wir gehen einfach sämtliche Jubilare durch. Arnulf Rainer kommt auch noch dran.

Ich bin bei Rainer in einem Zwiespalt. Natürlich schätze ich sein Werk - keine Frage. Was mich immer gestört hat und weswegen wir auch ein etwas gespanntes Verhältnis zueinander haben, ist sein fast doktrinäres Behaupten von Wahrheiten. Das hat sicher mit der Tradition der Moderne zu tun, deren wissenschaftliche und sonstige Ordnungskonzepte zu den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben.

Aber Rainer ist mit dem hybriden Pathos der Moderne ja nun wirklich nicht zu identifizieren.

Darum möchte ich ja eigentlich nichts zu ihm sagen, weil es dann immer falsch wird.

Wie ist es dann mit Arnulf Rainer? Den wollten Sie doch ursprünglich für die von Ihnen und Johann Georg Gsteu umgebaute Rosenkranz-Kirche in Hetzendorf haben.

Ja. Dieser frühe Rainer war für mich schon verdammt stark. Man muss halt auch sagen, dass die Alternative der Ernst Fuchs war.

Ist diese Alternative im Prinzip nicht geblieben?

Insofern nicht, als sich über den Fuchs heute niemand mehr aufregt. Damals aber sind denen die „obszönen“ Christusbilder unglaublich auf den Geist gegangen.

Wie war das damals überhaupt? Sie haben einmal gesagt, dass Sie von Hunderten Revoluzzern umgeben waren, die dann später alle Professoren geworden sind.

Etwas verkürzt. Es waren halt alle irrsinnig ausgehungert nach Informationen und Neuem. Keiner hat ein Geld gehabt, jeder hat etwas gewollt, alle haben gearbeitet ...

Gearbeitet wurde auch?

Schon. Aber natürlich ist auch irrsinnig viel herumgesessen worden, und immer ist irgendwo etwas zum Trinken gestanden, und wenns der billige Usia-Fusel war, der die grauslichsten Rausch-Leichen hervorgebracht hat. Man hat immer gewusst, wo abends was los ist. Die Leute haben sich meistens in Ateliers, in Wohnungen oder in Beisln getroffen.

Zu Hause ist man nicht geblieben?

Die Unterkünfte, die man als zugereister Student gehabt hat, kann man sich heute ja nicht mehr vorstellen. Das waren so genannte möblierte Zimmer - ungeheizt. In meinem Zimmer waren zum Beispiel alle Möbel eingepackt, und das Einzige, was ich benutzen durfte, waren das Bett und das Nachtkastl. Arbeiten konnte man daheim nicht.

Also haben Sie im Cafe gearbeitet.

Nein, an der Akademie. Gsteu und ich haben nur deswegen noch vier Semester Bühnenbild studiert, damit wir die warme Stube nicht verlassen müssen.

Die Cliquen, die es damals gab, waren die nicht sehr hierarchisch aufgebaut? Die Wiener Gruppe hat doch eine ziemliche Ausgrenzungsfreudigkeit an den Tag gelegt.

Das waren Reinigungsrituale. Damals ist ja auch das schreckliche Wort „kompromisslos“ sehr oft gebraucht worden. Uns hat zum Beispiel gestört, dass Konrad Bayer mit einem sagenhaft schlechten Maler befreundet war, von dem er sich malen hat lassen. Für uns war das eine Schändung unserer lauteren Haltung, und wir haben das eine Nacht lang diskutiert. Das muss man sich mal vorstellen!

Aber in der Wiener Gruppe dürften Sie entschieden der Gemütlichste gewesen sein.

Weil ich gespalten war. Architekten müssen ja positiv sein. Diese ganze Phase von Bayer und Ossi Wiener, in der sie sich mit Selbstzerstörung und Selbstmord beschäftigt haben, hat mich nie interessiert. Auch der ganze Existenzialismus ist an mir vorbeigegangen. Ich bin vom Land gekommen, war ein bäuerlicher Mensch und wollte etwas Gscheites studieren, schöne Sachen machen.

Frauen haben es mit Männerbünden wie der Wiener Gruppe wohl auch nicht ganz leicht gehabt?

Das war sehr unterschiedlich. Von Feminismus war tatsächlich keine Rede. Es stimmt allerdings sicher nicht, dass die Frauen, die künstlerisch gearbeitet haben, ausgegrenzt worden wären.

Elfriede Gerstl jedenfalls hat schon gewusst, dass sie respektvoll Abstand zu halten hatte.

Das ist ein Wiener Phänomen, und jeder von uns, der von außen gekommen ist, hat darunter auch gelitten. Deswegen habe ich auch einmal per Hetz gesagt, dass ich nur in die Wiener Gruppe gekommen bin, weil ich einen Roller gehabt habe und den bsoffenen H.C. heimgeführt habe. In Wien gibt es schon diese Zirkel, wo das Hineinkommen und das Zulassen ein Ritual darstellt. Das hats beim P.E.N.-Club aber genauso gegeben. Der alte ... Wie hat der Herrenreiter geheißen?

Lernet-Holenia.

Genau. Der hat über uns immer gesagt: „Nur ned zulassn.“

Harry Glück hat einmal gemeint, dass Sie nur über Ihre Freunde schreiben würden, worauf Sie gesagt haben sollen, Sie könnten nichts dafür, dass Ihre Freunde so gut seien.

Nein, ich habe ihm gesagt, dass es für mich wahnsinnig wäre, mit schlechten Architekten befreundet zu sein. Ich habe ja trotzdem ein paar Freunde, die schlechte Architekten sind, die haben sich halt damit abgefunden, dass sie nicht vorkommen.

Wie würden Sie heute Harry Glück einschätzen?

Er hat insofern seine Verdienste, als er ein typologisches Modell entwickelt und realisiert hat. Aber die so genannte „Wohnzufriedenheit“ ist etwas, womit man überhaupt nicht argumentieren kann. Jeder Mensch, der unter der Brücke geschlafen hat, ist zufrieden, wenn er ein 3-mal-3-Meter-Zimmerl kriegt, und jeder Mensch, der sich verschuldet, ist mit einer Wohnung vom Glück zufrieden, weil er seine Situation nicht mehr verändern kann. Der Krankl (Hans Krankl war eine Zeit lang der berühmteste Bewohner des von Glück errichteten Wohnparks Alterlaa, Red.) kauft sich dann eben die Villa und ist dann wieder zufrieden.

Wie würden Sie die Entwicklung in Wien generell einschätzen?

Es ist ein Gemeinplatz, aber ich halte Wien schon für eine sehr lebensfreundliche Stadt - in jeder Hinsicht.

Und wenn Sie woanders leben müssten?

Da kommen schon noch ein paar Städte in Frage: Berlin, Barcelona - in Italien kann man fast in jeder Stadt wohnen, in Turin zum Beispiel. Es sollte aber eigentlich eine Großstadt sein.

Welche Städte wären mit Wien am ehesten vergleichbar?

Da würde ich komischerweise doch Berlin sagen.

Wird nicht das gemütliche Wien dem hektischen Berlin immer gegenübergestellt?

Das ist ganz falsch! Da halte ich Budapest für viel hektischer. Die Berliner sind langsam, sentimental, schlampig, goschert, tan Schmäh führen ... Das hängt wohl auch damit zusammen, dass es in Berlin seit Generationen Zuzug von Polen und Schlesiern gibt. Obwohl Berlin westlich von Wien liegt, ist Berlin stadträumlich eher eine östliche Stadt.

Was sind denn Ihre Lieblingsplätze in Wien?

Obwohl ich fast jede Ecke kenne, bin ich immer wieder über die Vielfalt erstaunt. Es gibt auch absolute Nicht-Orte, die auch ihren Reiz haben: Das ganze Katastrophenviertel hinter der Angewandten. Da ist man plötzlich in Chicago - im positiven Sinne. Oder gegenüber vom Gänsehäufel - da gibts ein ganz klasses Wirtshaus mit zwei Terrassen runter zum Wasser. Da sitzt man dann und sieht nur Aulandschaft, und dahinter stehen die Hochhäuser von der Kagraner Straße. Es ist wie am Michigan-See.

Also darf Wien ruhig Chicago werden?

Kann man nur hoffen.

* Friedrich Achleitner: Siebzig. Erich Klein im Gespräch mit F.A. In: Wespennest Nr. 118 (Frühjahr 2000).

Falter, Mi., 2000.05.17



verknüpfte Akteure
Achleitner Friedrich

26. April 2000Jan Tabor
Falter

Vernunft und Leidenschaft

Stadthalle, Donauinsel, ORF-Zentrum: Als langjähriger Stadtplaner hat der Architekt Roland Rainer nicht nur das Erscheinungsbild Wiens geprägt. Am 1. Mai wird er 90.

Stadthalle, Donauinsel, ORF-Zentrum: Als langjähriger Stadtplaner hat der Architekt Roland Rainer nicht nur das Erscheinungsbild Wiens geprägt. Am 1. Mai wird er 90.

Vor den Mitgliedern des Wiener Stadtsenats hielt Roland Rainer im November 1957 einen Vortrag, in dem er seine Auffassungen über die künftige Entwicklung Wiens vorstellte. Rainer, damals Professor in Dortmund, war einer jener drei Kandidaten, die eingeladen worden waren, sich für die Stelle eines Stadtplaners zu bewerben. Einen nicht genannten „großen Stadt- und Landesplaner“ zitierend, verglich Rainer die Arbeit des Stadtplaners mit der eines Teppichwebers: „Andere haben vor ihm gewebt, und andere werden nach ihm weiter weben. Der Wiener Stadtplaner webt an einem sehr kostbaren Teppich, der in der Geschichte aus der Landschaft und den Werken der Menschen entstanden ist.“

Den Wiener Stadträten gefiel der Vortrag sehr, und sie ernannten Rainer zum Wiener Stadtplaner. Im Juni 1962 erschien im Verlag für Jugend & Volk unter der Verlagsnummer 2342/7210/2062 eine Publikation, die man längst „den Rainer-Plan“ nennt. Das leinengebundene, quadratische Buch (31 mal 31 Zentimeter) mit 201 Seiten und der schlichten Überschrift „Roland Rainer Planungskonzept“ ist in jeder Hinsicht ein außerordentliches Werk: zeitlos schöne Typografie, gediegenes Layout, in Farbe gedruckte Karten und Pläne in der Qualität einer Map Art, eine ausgewogene Mischung aus Wissenschaftlichkeit und Emotion, gut geschriebene Fachbeiträge und Essays. All das sollte der Wiener Stadtplanung das verleihen, was sie bis dahin nicht kannte: Rationalität und Leidenschaft.

Das Buch, mit bibliophiler Sorgfalt redigiert und hergestellt, ist eine antiquarische Rarität. Nicht antiquiert hingegen ist nicht nur das Layout, sondern auch der Inhalt. Schon beim Durchblättern und Einlesen fallen zwei Aspekte auf: wie wesentlich und wie vorteilhaft Roland Rainer die Entwicklung Wiens beeinflusst hat (so schlug Rainer etwa die Erschaffung der Donauinsel vor) und wie aktuell seine Ideen (selbstredend nicht alle) geblieben sind. Der Rainer-Plan ist jene Vorlage, nach der - unbewusst - am kostbaren Teppich Wien gewebt wird.

Die Bestellung Rainers zum Wiener Stadtplaner und sein Planungskonzept bedeuteten um 1960 die längst fällige Trennung von den NS-Architektur- und Städtebauvorstellungen, die in Wien nach 1945 weiter galten und gepflegt wurden. „Die ersten Jahre nach der Befreiung gehören zu den dunkelsten Epochen der österreichischen Architekturgeschichte“, schrieb 1965 Sokratis Dimitriou, Kunsthistoriker und damals einflussreicher Protege der Moderne, in der von Hans Hollein herausgegebenen Zeitschrift Bau. Über die besonders wichtige Rolle, die Roland Rainer bei der Überwindung der Stagnation gespielt hat, besteht kein Zweifel. „Der wohl einflussreichste Architekt der Nachkriegszeit ist Roland Rainer, der auch als Stadtplaner von Wien, als Pädagoge und Publizist gewirkt hat“, meinte Dimitriou.

In seinem ebenfalls 1965 veröffentlichten Aufsatz über die „Entwicklung und Situation der österreichischen Architektur seit 1945“ schreibt Friedrich Achleitner: „Die Situation von 1945 schien ausweglos: nicht nur die wirtschaftliche, die naturmäßig das Bauen stark bestimmt, sondern auch die politische und kulturelle ... Den größten Beitrag zu der Verwandlung der allgemeinen architektonischen Situation leistete in der Folge zweifellos Roland Rainer. Er ist der einzige Architekt, der von Anfang an ein klares Konzept erarbeitet hat, das zunächst in einigen Schriften, wie die ,Behausungsfrage', 1947, ,Städtebauliche Prosa' und ,Ebenerdige Wohnhäuser', beide 1948, den Niederschlag findet.“

Auf nächtlichem Himmel, hoch über der düsteren neugotischen Rathaussilhouette, schweben wie supermoderne Luftschlösser strahlende Glaspaläste, oben fliegt, von Westen kommend, ein Jumbo die kommende Weltstadt Wien an, unten braust der Großstadtverkehr, als handelte es sich um New York. In den Fünfzigerjahren war in Wien die moderne Architektur noch ein attraktives Wahlverprechen. „Damit Wien wieder Weltstadt werde, wählt SPÖ“, hieß es auf einem Wahlplakat für die Gemeindewahlen 1954.

Obwohl sie noch gar nicht existierten, ließen sich bereits zwei irdische Bauwerke dieser himmlischen Wien-Vision zweifelsfrei identifizieren: der erst 1955 fertig gestellte Ringturm von Erich Boltenstern und die Stadthalle von Roland Rainer, deren Bau erst 1956 begonnen werden sollte. Auf dem Plakat für die Kommunalwahlen im Herbst 1954 wurde als das Bauwerk der Zukunft Rainers Entwurf für den im Sommer 1954 abgehaltenen internationalen Wettbewerb für die Wiener Stadthalle verwendet. Der finnische Architekt Alvar Aalto, der damals neben Le Corbusier als der bedeutendste Proponent der internationalen Moderne galt, und der Wiener Architekt Roland Rainer, damals Professor an der Technischen Hochschule in Hannover und noch wenig bekannt, mussten sich den ersten Preis teilen. Ausgeführt wurde der Entwurf von Rainer.

So bedauerlich es auch ist, dass nicht der konstruktiv interessante Entwurf von Aalto ausgeführt wurde, so unbestreitbar ist doch die außerordentlich hohe architektonische Qualität der Stadthalle von Rainer. Die Mehrzweckhalle (die 1974 nach einem Entwurf von Rainer um eine große Schwimmhalle erweitert wurde) mit einem Fassungsvermögen von bis zu 20.000 Zuschauern ist der größte Veranstaltungsraum in Österreich. Das räumliche und architektonische Konzept einer von der Konstruktion ausgehenden Plastizität sowie die sorgfältige Planung und Ausführung erweisen sich weiterhin als so solid und flexibel, dass die Stadthalle seit ihrer Fertigstellung 1958 bis heute tadellos funktioniert und auch ästhetisch nicht veraltet wirkt.

Aufgrund seiner Wettbewerbserfolge wurde Rainer beauftragt, auch die Stadthalle in Bremen (1964) und die Mehrzweckhalle in Ludwigshafen (1965) zu errichten. Die fantasiereiche, aber unaufdringliche Gestaltung, die die drei Stadthallen auszeichnet, sowie die Selbstverständlichkeit, mit der sie im jeweiligen Stadtgefüge - und in der mittlerweile langen Zeitspanne - bestehen, ist für viele Bauwerke von Rainer charakteristisch. Dies gilt für jedes Einzelne der Reihenhäuser in einer der vielen Siedlungen - die bekannteste ist die 1967 entstandene Gartenstadt Puchenau bei Linz - genauso wie für den riesigen, zwischen 1968 und 1985 entstandenen Komplex des ORF-Zentrums auf dem Küniglberg.

Anders als der Architekt der ORF-Landesstudios, Gustav Peichl, erlag Rainer nicht der Versuchung, der ORF-Zentrale ein technoides Aussehen zu verleihen, das die Modernität und Bedeutung bzw. Macht dieser öffentlichen Kommunikationsinstitution zu symbolisieren hätte. Mit dem ORF-Zentrum hat er ein Bauwerk errichtet, das durch die Bedeutung der Funktionalität für die Gestaltung und der Präfabrikation für die Konstruktion manifestartig herausragt. Das ORF-Zentrum ist ein mächtiges, weit sichtbares Bauwerk, das nicht Macht, sondern seinen Dienstcharakter demonstriert.

Gleichzeitig mit der Wiener Stadthalle wurde 1958 ein Bauwerk von Roland Rainer fertig gestellt, das beinahe Kultcharakter hatte und heute unter Denkmalschutz steht (aber, seit Jahren leer stehend, als Spekulationsobjekt bedroht ist): das Böhlerhaus. Dieses Bürogebäude in einer Baulücke auf dem Friedrich-Schiller-Platz gegenüber der Akademie der bildenden Künste war wegen seiner Glas-Aluminium-Fassade und dem Penthaus mit einem bepflanzten Dachgarten „damals als eines der ersten Lebenszeichen einer jungen österreichischen Architekturszene verstanden worden“, wie der 1997 erschienene „Wiener Architekturführer“ vermerkt. Damals, 1958, war Roland Rainer allerdings bereits 48 Jahre alt und seit zwei Jahren Professor an der Akademie (wo er 1980 emeritierte).

Roland Rainer ist ein Architekt, der unbedingt an die Verbesserung der Welt durch die sozial und kulturell verantwortlich agierende Architektur glaubt. Seine als Habilitationsarbeit an der Technischen Hochschule in Wien eingereichte theoretische Schrift „Behausungsfrage“ wurde mit der Begründung abgelehnt, es handle sich um eine „sozialpolitische Propagandaschrift“. 1958 unterbrach er für mehrere Jahre seine Entwurfsarbeit, um das öffentlich ausgeschriebene Amt des Wiener Stadtplaners zu übernehmen. Es war ein Entschluss, der für Rainer selbst nur durch seine „fast irrationale Leidenschaft für Stadtplanung erklärbar“ ist. 1961 legte Rainer sein „Planungskonzept“ für Wien vor, einen Stadtentwicklungsplan, der zu den genauesten und fortschrittlichsten in Europa zählte und der auch in wichtigen Grundzügen verwirklicht wurde - zum Beispiel mit den neuen Stadtzentren oder der Donauinsel. 1963 legte er sein Amt aus Protest gegen politische Verhinderungen der Stadtplanung zurück. Das bedeutete, wie Rainer 1990 schrieb, „auch das Ende jeder Architektentätigkeit im Auftrage der Stadt Wien für die nächsten 25 Jahre“.

Die wahre Leidenschaft Roland Rainers allerdings ist die so genannte anonyme Architektur und naturnahes Bauen. Im Burgenland oder in China, auf dem Balkan oder in der Türkei, in vielen Gegenden der Welt hat Rainer die volkstümlichen Bauweisen analysiert, fotografiert und beschrieben. Das 1976 erschienene Buch „Die Welt als Garten - China“ ist eines von den vielen Büchern, die Rainer zum Thema humanes und ökologisches Bauen veröffentlicht hat. Alle seine Bauten und städtebauliche Studien betrachtet er als Manifeste dieser seiner Auffassung: die Welt als Garten, die Stadt (des Wohnens) als Gartenstadt.

Falter, Mi., 2000.04.26



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29. März 2000Jan Tabor
Falter

Mausoleen für Yuppies

Die Austro-Variante der Ausstellung „The Un-Private House“ konfrontiert Kika-Konfektion mit Stararchitektur und belegt, dass die Postmoderne nicht tot, sondern untot ist.

Die Austro-Variante der Ausstellung „The Un-Private House“ konfrontiert Kika-Konfektion mit Stararchitektur und belegt, dass die Postmoderne nicht tot, sondern untot ist.

Das Ver-Öffentlichte Haus: Beinahe wäre ich nach New York gereist, so begeistert waren die Zeitungsberichte über die Ausstellung, die im Herbst 1999 im Museum of Modern Art in New York eröffnete; so begeistert (vor allem Die Zeit), als handelte es sich um eine epochale Wiederholung jener legendären MOMA-Schau von 1932, mit der unter dem Titel „International Style“ ein Paradigmenwechsel in der Architektur des 20. Jahrhunderts statuiert wurde: der Internationale Stil. Gewiss, hat man mir nun im MAK versichert, gewiss, „The Un-Private House“ in Wien sei tatsächlich die gleiche Schau wie die im MOMA, bloß geringfügig verändert in Präsentation und Intention, aber mit denselben Exponaten. Mit jenen 26 musterhaften Häusern, die der MOMA-Kurator Terence Riley weltweit gesucht hat (außer in Österreich offenbar, sonst hätte er hier auch etwas Wegweisendes gefunden), um nun, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, „die Transformation des tradierten Begriffs des Privathauses beispielhaft vor Augen zu führen“ und an ausgeführten und noch nicht verwirklichten Wohnhaus-Entwürfen bedeutender zeitgenössischer Architekten zu zeigen, wie die zeitgemäßen Menschen demnächst wohnen werden.

So etwa muss die ursprüngliche amerikanische Intention ausgesehen haben. Die österreichische wurde um einen zusätzlichen Aspekt erweitert; ob tatsächlich kulturkritisch, wie ernst behauptet wird, oder eher ironisch, wie ich vermute, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Bereits die umständlichen kleinbürgerlichen Reinlichkeitsrituale beim Betreten der Ausstellung - die Besucher müssen ihre Schuhe mit Plastikschutzhüllen überziehen, damit sie den Spannteppich nicht verdrecken - sprechen eher für die Ironie. Allerdings, auf guten Geschmack wird - wie immer im MAK - auch diesmal großer Wert gelegt: Die Schuhüberzüge sind himmelblau und passen vortrefflich zum kanarienvogelgelben Teppich.

Die ursprüngliche amerikanische Ausstellung umfasste kaum mehr als eine - im Anspruch äußerst bescheidene - Auswahl teils bereits vielfach publizierter, teils völlig uninteressanter Häuser. Typus: Einfamilienhaus und Freizeithaus für den neureichen Yuppie, der offensichtlich noch nicht verschwunden ist. Sie erinnerte an ein Hochglanzmagazin, dessen reich bebilderte Seiten vergrößert an die Wände gehängt und durch architektonische Modelle ergänzt wurden. In Wien sind diese Bilder gedruckter Bestandteil einer blumengemusterten Tapete geworden. Die metaphorische Gleichsetzung der zeitgenössischen Hochglanz-Architekturfotografie mit einer altmodischen Tapete ist supercool.

Die Architekturmodelle sind naturalistisch und sehr hübsch im Detail angefertigt: wahre Puppenhäuschen einer beständigen Postmoderne. Diese Modelle wurden in Wien auf Möbelstücke (cool!) gestellt; auf Tische, Sessel und - witzigerweise - Betten, die sich der MAK-Gestalter (angeblich MAK-Direktor Peter Noever selbst) aus dem Einrichtungshaus Kika geholt hat. Genommen wurden jene Möbelstücke, die dort am meisten gekauft werden. In so ein schönes unbezogenes Kika-Bett wurden nebeneinander das Haus BV aus Lancashire in England und das Haus Ghirado-Kohen aus Buenos Aires gelegt, und nun scheinen die beiden putzigen Modelle sehnsüchtig jenen Knalleffekt zu erwarten, den sie gemeinsam mit dem Bett hervorzurufen haben: das Aufeinanderprallen zweier Wohnkulturen, der internationalen (sehr gut) mit der österreichischen (eher nicht gut). „Die ungewöhnliche Gegenüberstellung neuer Wohnkonzepte mit Gegenständen alltäglichen österreichischen Wohnens führt zu einem krassen Spannungsverhältnis, das die unterschiedlichen Vorstellungen von Individualität aufeinander prallen lässt“, so der Pressetext.

Wenn etwas in der beinahe surrealistischen Begegnung in den Betten oder auf den Tischen auseinander klafft, dann sind es hauptsächlich die monetären, keineswegs aber die ästhetischen Unterschiede: Die österreichischen Kika-Kunden können sich vermutlich weniger leisten als die Yuppie-Kunden der internationalen Stararchitektenschaft. Und überhaupt: Was ist das für eine internationale Auswahl, in der kein einziger österreichischer Stararchitekt vorkommt, obwohl weltweit bekannt ist, dass Österreich zu den Ländern mit der höchsten Stararchitektendichte pro Einwohner gehört!

In einem Aspekt sind sich die durchschnittlichen Österreicher und dieBewohner der zukunftsweisend erdachten Luxusdomizile als Weltgeschmackselite aber offensichtlich einig: in der Sehnsucht danach, in unberührten Landschaften zu wohnen, das heißt zu bauen. Zum Beispiel ist das BV-Haus, von Homa und Sima Farjadi entworfen, 1999 fertig gestellt, als eine Abfolge von unregelmäßigen Räumen in einen Hang des Ribble Valley hineingebaut. Das Haus verfügt über bewegliche Wände. „So lässt sich die Außenwand des Elternbadezimmers zur Seite schieben, wodurch eine direkte visuelle und physische Verbindung zum Lilienteich entsteht.“

Frischer Wind, weiter Blick. Nur etwa ein Fünftel der vorgestellten Häuser gehört nicht der Kategorie Landschaftszersiedelung an. Das Wohnen in der Stadt kommt in dieser Ausstellung kaum vor. Auch der Ausstellungstitel ist irreführend. Der Auswahl nach müsste die Ausstellung eigentlich „Neue Villen als unikate Lebenskapseln für die verunsicherte Mittelschicht“ heißen; oder „Das Ur-Private Haus“. Denn zwei Tendenzen sind auffallend, die - weil die Auftraggeber der vorgestellten Häuser vermutlich der Kaste der meinungsprägenden Menschen angehören - für den Zustand der Gesellschaft möglicherweise tatsächlich charakteristisch sind. Einerseits werden die Häuser eingegraben oder eingemauert, um von der Umgebung weitgehend separiert zu sein: Häuser als Einfamiliengettos; andererseits werden sie auf topographische Erhöhungen gestellt, als wären sie Hochstände oder Beobachtungsstationen: wehrhafte Gartenlauben oder Mausoleen für junge, gesunde Menschen.

Man kann die Ästhetik dieser Häuser marxistisch oder psychoanalytisch deuten - entweder sind sie Anzeichen eines neuen Klassenkampfes oder Symptome einer neuen Nekrophiliewelle. Natürlich gibt es auch das „digitale Haus“, ein Haus, dessen Wände aus LCD-Bildschirmen bestehen. „In der Küche etwa könnte der Chefkoch aus dem Lieblingsrestaurant virtuell bei der Essenszubereitung helfen.“ Das Haus wurde 1998 von Gisue und Mojgan Hariri für das Magazin House Beautiful entworfen (vergleichbar dem einflussreichen österreichischen Journal Schöner Wohnen) und sieht auch entsprechend aus: eine Art elektronisches Kaleidoskop. Die Lehren aus der Ausstellung sind also zahlreich. Die grässlichste darunter: Die Postmoderne ist nicht tot. Sie wird digital am künstlichen Leben gehalten.

[ The Un-Private House. Bis 24. April im MAK. ]

Falter, Mi., 2000.03.29

26. Januar 2000Jan Tabor
Falter

„Sie waren so elegant“

Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000). Eine der bedeutendsten Architektinnen des 20. Jahrhunderts hat mit Adolf Loos zusammengearbeitet, im Widerstand gegen Hitler gekämpft und ist zeitlebens Kommunistin geblieben.

Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000). Eine der bedeutendsten Architektinnen des 20. Jahrhunderts hat mit Adolf Loos zusammengearbeitet, im Widerstand gegen Hitler gekämpft und ist zeitlebens Kommunistin geblieben.

Eine fensterlose, aus Fichtenbrettern gezimmerte Bude steht im 20er Haus. Die Installation „Oktober 1810 ...“ ist der Beitrag von Christine und Irene Hohenbüchler für die Ausstellung „Aspekte/Positionen“. Drinnen, an den Wänden der rätselhaften Holzhütte, sind beschriftete Blätter angebracht, die an die Bedeutung des Widerstandes gegen den Austrofaschismus und den Nationalsozialismus erinnern. Auf einem der Blätter ist zu lesen: „1941: 22 Jänner. Margarete Schütte-Lihotzky und Erwin Putschmann werden zusammen in einem Wiener Cafe verhaftet. Die Verhaftung löste eine 9 Monate dauernde Welle von Polizeirazzien und Festnahmen aus. 536 Verdächtige werden gefangen.“

Das Kaffeehaus Viktoria am Schwarzenbergplatz, in dem Putschmann und Schütte-Lihotzky verhaftet wurden, gibt es nicht mehr. Der Gestapospitzel, der die Verhaftungswelle auslöste, hieß mit Decknamen „Ossi“. Dass er es war, der die KP-Gruppe verraten hatte, erfuhr Schütte-Lihotzky in der Untersuchungshaft auf eine bemerkenswerte Weise: Die Mitteilung war in die Aluminiumbecher eingeritzt, mit denen die Gefangenen in den Einzelzellen mit Trinkwasser versorgt wurden - eine Nachricht, die bei den Gestapoverhören einen lebensrettenden Vorteil brachte. Vielleicht war es dieser Information zu verdanken, dass Margarete Schütte-Lihotzky, die mit der Todesstrafe rechnete, bloß zu 15 Jahren Kerker verurteilt wurde.

15 Jahre Kerker für 25 Tage im Widerstand - nur so lange hatte sich die Architektin nach ihrer Rückkehr aus dem türkischen Exil im nationalsozialistischen Österreich aufgehalten. In ihrem 1994 erschienenen Buch „Erinnerungen aus dem Widerstand“ beschreibt sie die folgende Szene: Unterwegs im grünen Heinrich fragte sie der Gerichtsaufseher Steiner, wo ihr Prozess stattfinde. „Berliner Volksgericht, zweiter Senat“, antwortete Schütte-Lihotzky. „O je!“, seufzte Steiner und versuchte sie gleich zu trösten, indem er ihr den Hinrichtungsvorgang schilderte: „Das Ganze dauert nur sieben Sekunden. Nach dem Krieg kriegen Sie dann ein Denkmal.“ In der Nacht vor ihrem Prozess, am 22. September 1942, stellte Schütte-Lihotzky aus Papierstücken Lockenwickler her, um ihre Frisur herzurichten und dem Blutrichter auch durch ihr Äußeres zu zeigen, dass es der Gestapo nicht gelungen war, sie zu brechen. Als Margarete Schütte-Lihotzky 1997 von Manfred Nehrer, dem Künstlerhaus-Präsidenten, gefragt wurde, was sie sich zum hundertsten Geburtstag wünsche, antwortete sie: „Ein schönes Kleid.“

Als ich Margarete Schütte-Lihotzky kennen gelernt habe - das war 1978 -, war sie in Österreich noch eine Persona non grata. Der Grund: Sie war Kommunistin geblieben, sogar eine aktive. Wer ihr Buch liest, ihre Erinnerungen an die zahlreichen Mithäftlinge und hingerichteten Freunde, dem wird es kaum schwer fallen, dies zu begreifen. Harald Sterk, Kunstkritiker der Arbeiterzeitung, für die ich damals kleine Ausstellungsberichte zu schreiben begann, fragte mich einmal, ob ich nicht mit ihm Grete Lihotzky besuchen möchte, zu der er gerade gehen wollte. Frau Schütte-Lihotzky war sehr freundlich, mehr an uns als an unseren Fragen interessiert. Es war ein seltsames Gefühl, mit einer Architektin zu sprechen, die Adolf Loos, Josef Frank, Ernst May, Le Corbusier, Bruno Taut und viele andere Heroen der klassischen Moderne persönlich kannte. Nur: Über sie wollte sie nicht sprechen. Sie wollte über Herbert Eichholzer sprechen, den talentierten Architekten aus Graz, der ebenfalls aus der Türkei nach Österreich zurückgekehrt und 1943 hingerichtet worden war. Für ihn wollte sie Anerkennung erreichen.

Gern sprach Schütte-Lihotzky über die Architektur in der Sowjetunion, ungern hingegen über die politische Situation dort. Das Scheitern der radikalen architektonischen Moderne, wie sie die Entscheidung Stalins, den Formalismus zu verbieten und einzig den sozialistischen Realismus zu erlauben, umschrieb, hielt sie für unabdingbar. Für den Erfolg des Konstruktivismus hätten noch viele Voraussetzungen gefehlt, vor allem die bevorzugten Baustoffe Eisen und Glas. Ähnlich wie der aus dem Exil nach Wien zurückgekehrte Architekt Ernst A. Plischke war auch Schütte-Lihotzky darüber verbittert, dass sie, von einigen Ausnahmen abgesehen, von der sozialistischen Wiener Stadtverwaltung keine Bauaufträge erhielt. Ganz im Unterschied zu den ehemaligen NS-Architekten, die - wie etwa Franz Schuster - mit Aufträgen und Ehren überhäuft wurden. Wohl aus diesem Grund sprach sie über ihre Wiener Jahre nicht gern. Man hatte sie boykottiert.

Ich war dabei, als Margarete Schütte-Lihotzky das nach ihrem Entwurf 1932 errichtete Doppelhaus in der Wiener Werkbundsiedlung zum ersten Mal in ihrem Leben sah. Aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen meines böhmisch-kommunistischen Akzents, vielleicht, weil ich Emigrant war, mochte sie mich. Während unseres dritten oder vierten Besuchs in ihrer Wohnung in der Franzensgasse passierte etwas, was Sterk überraschte: Frau Lihotzky stimmte meinem Vorschlag zu, mit uns nach Lainz zu fahren und die Siedlung in der Hermesstraße, die sie gemeinsam mit Adolf Loos 1922 entworfen hatte, zu besichtigen. Ich holte das Auto, und wir fuhren gleich hin. Unterwegs schlug ich vor, wir könnten, weil es am Weg lag, die Werkbundsiedlung besichtigen. Gute Idee, sagte Frau Lihotzky, sie hätte die Siedlung noch nie gesehen. Als ich sie auf ihr Doppelhaus ansprach, erzählte sie, dass sie die Pläne aus Moskau geschickt hatte, wohin sie mit der ganzen Architektengruppe um Ernst May aus Frankfurt am Main 1930 übersiedelt war. Nach dem Krieg, als sie nach der Befreiung aus dem Kerker im bayerischen Aichach zurück nach Wien gekommen war, hatte sie andere Sorgen.

In der Werkbundsiedlung, in der Woinovichgasse 2-4, trafen wir eine Bewohnerin, die uns ihr Haus bereitwillig zeigte. Jetzt würde sie es auch nicht anders machen, sagte Frau Lihotzky nach der Besichtigung. In der Hermessiedlung beim Lainzer Tiergarten, die sie 1922 gemeinsam mit Adolf Loos entworfen hatte, hatten wir wieder Glück. Wir fanden ein Haus, das Einzige übrigens, das noch weitgehend im Originalzustand erhalten geblieben war.

Mit der Frau, die das Haus mit ihrem Mann selbst errichtet hatte, entwickelte sich ein überaus interessantes Gespräch über zwei Fehlgriffe des genialen Architekten Adolf Loos. Die eine betraf die Stiege zum Schlafzimmer im Dachgeschoss. Loos bestand darauf, die Stiege vom Vorzimmer in das Wohnzimmer zu verlegen. Mit dem Resultat, dass die Bewohner die Stiege mit Brettern zunageln mussten, damit die überaus kostbare Wärme des einzigen Ofens im Wohnzimmer nicht ins Schlafzimmer unter dem Dach auswich. Die zweite Fehlplanung war das Doppelfenster aus Eisenprofilrahmen, das bis auf einen kleinen Ausschnitt nicht geöffnet werden konnte und das fest verglast wurde, so dass die mit der Zeit innen schmutzig gewordenen Scheiben bis zum damaligen Tag nicht geputzt werden konnten.

Dann sagte die Siedlerin, die etwa so alt war - um die achtzig - wie die Architektin: „Ich kann mich an Sie gut erinnern, Frau Baumeister. Und an Herrn Loos auch. Sie waren beide so elegant.“ Frau Lihotzky antwortete: „Jetzt sind wir beide elegant.“ Und was das Fenster anlange, bald würde sie Loos wieder treffen und es mit ihm besprechen. Ich war dabei und hatte kein Tonaufnahmegerät mit.

Falter, Mi., 2000.01.26



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19. Januar 2000Klaus Nüchtern
Jan Tabor
Falter

Der Architekt als Mörder

Mit der Schriftstellerin Elfriede Czurda und der Fotografin Margherita Spiluttini sprach der „Falter“ über den Zusammenhang von Wort und Bild, über das Auto fahrende Auge in den Alpen, Goethe in Italien und verbrecherische Architekten in Berlin.

Mit der Schriftstellerin Elfriede Czurda und der Fotografin Margherita Spiluttini sprach der „Falter“ über den Zusammenhang von Wort und Bild, über das Auto fahrende Auge in den Alpen, Goethe in Italien und verbrecherische Architekten in Berlin.

Falter: Frau Czurda, der Titel der von Ihnen konzipierten Veranstaltung lautet „Sprache als Architektur. Architektur als Sprache“. Was verbindet die beiden, was trennt sie?

Elfriede Czurda: Die Grundüberlegung war eigentlich, dass sich sowohl die Architektur als auch die Sprache mit Begriffen wie dem des Raumes auseinander setzen müssen. Wie baut man literarisch einen Raum? Meine Überlegung war dann eine, die sich stark über Begriffsreihen zu entfalten versucht: So steckt etwa das Heim in der Heimat genauso drinnen wie im Unheimlichen. Oder denken Sie an das Haus als Gehäuse. Die Ausstellung von Margherita Spiluttini knüpft da meiner Meinung nach an: Man setzt sich ins Auto, also in ein Gehäuse, das sich durch die Gegend bewegt und eben diese Panoramen von Welt bietet, die man dann im Vorbeifahren wahrnimmt.

Frau Spiluttini, Ihre Fotoausstellung inspiziert Orte und Bauten, die normalerweise gar nicht als Architektur wahrgenommen werden. Dennoch gibt es diese auffällige Zeichenhaftigkeit einer Architektur, die sich eigentlich an rein funktionalistische Kriterien halten könnte, aber das ganz offensichtlich nicht tut.

Margherita Spiluttini: Man fährt mit dem Auto relativ schnell durch eine bestimmte Gegend, durch Tunnels und über Brücken, und die fallen einem nicht besonders auf, weil sie den Zweck haben, dass man die Berge überwindet und von Punkt A auf eine relativ angenehme Art nach Punkt B kommt. Wenn man dann aber aus dem Auto aussteigt, kann man sich mehr mit diesen Einbauten und mit diesen Veränderungen der Natur beschäftigen. Und dann stellt sich heraus, dass es eigentlich gar nicht so schnell zu erkennen ist, worum es geht. Es kann eine Autobahn-Entlüftungsanlage aussehen wie eine Kirche oder wie eine Kapelle. Es handelt sich oft um etwas sehr Pathetisches, das sich zum Pathos der Natur dazugesellt.

Oder auch dagegenhält.

Spiluttini: Genau.

Kann man sagen, dass etwa Lawinenbauten eine Art Sprache darstellen, die in die Landschaft gesetzt wird und die man dann tatsächlich irgendwie lesen kann? Sie als Fotografin müssten die dann lesen können. Sie müssen diese Zeichenhaftigkeit ja auf ein Bild bannen.

Spiluttini: Mir geht es bei dieser Arbeit eher um die Sprache der Fotografie. Eine gewisse Zeichenhaftigkeit drängt sich natürlich auf, aber auf der anderen Seite ist die auch vielfältig interpretierbar. Indem eine normale Tunneleinfahrt großartiger gestaltet wird, als sie eigentlich müsste, legt sich da ein anderes Zeichen darüber.

Frau Czurda, Sie haben vom „literarischen Raum“ gesprochen. Ein substanzieller Unterschied zwischen Architektur und Literatur besteht doch darin, dass Architektur tatsächlich im Raum passiert, wohingegen sich Literatur in der Zeit ereignet.

Czurda: Das ist für das Medium konstitutiv, aber jedes Wort erzeugt auch ein Bild, und damit wird im Kopf des Lesers ein Raum erzeugt. Als Schriftsteller entwirft man nicht nur Personen, die beschrieben werden, sondern auch den Raum, in dem sich diese Personen bewegen.

Für den Leser sind detaillierte Raumbeschreibungen oft das Anstrengendste überhaupt, und jeder überblättert die Landschaftsbeschreibungen bei Karl May. Außerdem ersetzt man diese Beschreibungen im Kopf doch meistens durch Landschaften und Orte, die man kennt, auch wenn die überhaupt nicht passen.

Czurda: Frantisek Lesak, der am 3. Februar auch darüber sprechen wird, hat versucht, den Raum, den Robbe-Grillet in seinem Roman „La jalousie“ beschreibt, zu rekonstruieren. Das Verblüffende daran ist, dass das nicht wirklich möglich ist, und das steht in einem ganz merkwürdigen Kontrast zu der Fähigkeit dieses Textes, Räumliches hervorzubringen.

Ich sehe zwischen Literatur und Architektur eigentlich keine Beziehung; wenn schon, dann ist Literatur eine Deskription der Architektur.

Czurda: Aber umgekehrt gehts ja in Wirklichkeit auch nicht: Architektur kann ja Literatur nicht interpretieren.

Das ist die Frage. Die Postmoderne kennt den Begriff der „literarischen Architektur“, die eben literarische Vorstellungen verwendet. Man kann auch in der Architektur etwas „zitieren“, geht damit also ganz ähnlich um wie mit einem Text und macht daraus halt ein Gebäude.

Czurda: Es gibt auch Literatur, in der Idealgebäude beschrieben wird, in der - so interpretiere ich es jetzt für meinen Zusammenhang - dem Bauen eine literarische Fiktion vorausgeht. Man benutzt sozusagen das andere Medium, um sich einfach einmal Gedanken zu machen, gegen die sich das eigene Medium sonst immer verweigert oder sperrt.

Man nimmt einen Umweg, um wieder beim eigenen Medium zu landen - das ist legitim und hilfreich. Ansonsten würde ich vermuten, dass hier auch ziemlich fragwürdige Sehnsüchte oder Utopien im Spiel sind: Man will etwas erreichen, was einem im Grunde nicht zu Gebote steht. Die Genauigkeit, die in der Architektur aufgrund der Schwerkraft, also der Naturgesetze einfach nötig ist, kann man sich für die Literatur zwar erträumen, aber man wird sie nie erreichen. Ein Buch ist eben nicht auf die Art und Weise überprüfbar, in der ein Haus überprüfbar ist.

Czurda: In manchen Fällen vielleicht doch. Ich denke etwa an die Sonettform, die wir ja aus der Schule kennen und bei der wir uns immer zu Tode gelangweilt haben, weil es ein bisschen geeiert hat - es ist ja keine originär deutsche Literaturform. Dem Franz Josef Czernin gelingt es allerdings, diese Sonettform auf eine Weise zu verwenden, dass man - insbesondere, wenn er sie vorträgt - den Eindruck gewinnt, dass sie der deutschen Sprache entsprungen ist. Es ist so streng gebaut, dass es einem vortäuschen kann, dass es der eigenen Sprachprosodie entspringt. Das ist in gewisser Weise schon nachprüfbar - wenn auch nicht im naturwissenschaftlichen Sinne.

Eine andere Frage: Sie leben seit 1980 in Berlin, wo zur Zeit irrsinnig gebaut wird. Und wenn Städte so schnell wachsen, erzeugen sie auch einen literarischen Druck. Ist davon etwas in Berlin zu beobachten?

Czurda: Die Stadt ist wirklich jeden Tag ein bisschen anders, und es gelingt einem eigentlich überhaupt nicht, eine Art von Vogelperspektive zu gewinnen. Es gibt allerdings die Krimis, in denen der Architekt natürlich auch der Mörder ist. So wie nach dem Mauerfall als Erstes die Mafia nach Berlin gekommen ist, so kommt jetzt beim Bauen als erstes die Kriminalliteratur in Schwung. Martin Muser, den ich auch eingeladen habe, hat in seinem sehr witzigen Krimi „Granitfresse“ zum einen das Bild dieses schicken, zeitgeistigen Architekten gezeichnet, der überall herumkrebst, und gleichzeitig das Lokalkolorit unheimlich gut getroffen - die ganzen Mauscheleien und die Unmengen von Geld, die gerade in Berlin bewegt werden.

Wie wirkt sich das großstädtische Leben in Berlin aus - wenn Sie heute mit der Situation vor 20 Jahren vergleichen?

Czurda: Als ich hingekommen bin, war das eine Stadt voller Nischen - eine Stadt, in der die Reichen genauso wie die Armen halbwegs vernünftig leben konnten. Im Vergleich zu Wien, wo man dieser Historizität nie entweichen kann, ihr auch immer in gewisser Weise standhalten muss, war Berlin für mich wohltuend offen. Überall waren Löcher, in die man gleichsam was hineindenken konnte. Dort, wo gebaut wird und etwas entsteht, ist Berlin auch heute wahnsinnig interessant. Dort aber, wo es fertig ist, sieht es teilweise unheimlich langweilig aus. Es ist im Augenblick im Grunde wie ein Spinnennetz, das sich so um die Stadtmitte spinnt. Es ist, als würde alles auf eine gewisse Weise stillstehen und warten. Ich frage mich manchmal, ob man nicht fortgehen muss, wenn diese Strukturen ausgefüllt sind - weil das dann so festgefügt ist, dass eben nichts mehr übrigbleibt.

Wenn man vom „Spinnennetz“ spricht, dann ist das eine Metapher mit ganz bestimmten Konnotationen. Wie ist das eigentlich mit der Fotografie? Gibt es so etwas wie eine fotografische Metapher oder die Möglichkeit, das Abgebildete gleichsam zu literarisieren?

Spiluttini: Ich bin mittlerweile der Meinung, dass die Fotografie sowieso eine Metapher ist. Ich halte es für einen Irrtum, dass man mit der Fotografie irgendwas beweisen oder eine Geschichte erzählen könnte. Die Fotografie ist eigentlich ein Ornament, das die Wirklichkeit zeichnet. Mehr ist es nicht. Eigentlich ist die Fotografie eine sehr eintönige Sprache. Was mich aber sehr interessiert. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ - das finde ich überhaupt nicht. Ich beneide die Literaten, dass sie so viele Möglichkeiten haben. Wie sollen wir zum Beispiel einfach Musik fotografieren? Oder Gerüche?

Eigentlich kann man nicht einmal Architektur fotografieren. Es gibt die sehr richtige Äußerung von Goethe, dass man Architekturen nur im Gehen erleben kann.

Czurda: In der Literatur hat man auch nicht das Ganze, sondern man hat diesen Satz und den nächsten Satz und den nächsten Satz.

Spiluttini: Ja, und Bewegen im Raum ist durch nichts ersetzbar. Ist durch absolut nichts ersetzbar. Hundertprozentig.

Sie sind mit dem Auto gefahren und haben in den Alpen fotografiert, Winckelmann ist mit der Kutsche nach Venedig und hat die Vorhänge zugezogen, weil er den Anblick dieser schrecklichen Alpen nicht ertragen konnte und er solche Sehnsucht nach der klassischen Architektur hatte.

Czurda: Und Goethe reist nach Italien, und sein Vater hat ihm schon beigebracht, wie die ganze Klassik ausschaut, und wie die Gebäude ausschauen, denen er begegnen wird. Goethes Erwartung, nach Rom zu kommen, ist ganz ungeheuer. Und was notiert er dann in seinem Tagebuch? Bloß: „Ich bin da.“ Es klingt fast enttäuscht, denn das ganze Rom war eine einzige Projektion, und wo er's jetzt sieht, sagt er nur: Ja, genauso schauts aus - wie ich es mir schon immer gedacht habe.

Suburbs Subtexts Subjects: Die Trockenlegung des Mittelmeers

Dass die Veranstaltungsreihe „Suburbs Subtexts Subjects. Architektur der Sprache. Sprache der Architektur“ von einer Schriftstellerin, nämlich Elfriede Czurda (siehe oben stehendes Gespräch) konzipiert wurde, merkt man schon am Logo, das mit zahlreichen Begriffen, Wortspielen und Assoziationsketten aufwartet. Die durch eine Filmreihe im Votivkino (jeweils mittwochs, 22 Uhr) ergänzte Kombination aus Ausstellungen, Lesungen und Vorträgen soll die Analogien und Wechselbeziehungen zwischen Worten und Bauten erörtern. Margherita Spiluttinis Schau „Berge. Transitorische Durchschneidung“ ist derzeit in der Alten Schmiede zu sehen und setzt sich mit der Wahrnehmung alpiner „Zweckarchitektur“ auseinander (siehe Interview); die Wiener Planungswerkstatt zeigt die Ausstellung „The New American Ghetto“ des amerikanischen Architektursoziologen Camilo Jose Vergara, der den langsamen Verfall ehemals prosperierender Stadtzentren seit 20 Jahren fotografisch dokumentiert. Von einer gleichsam architektonischen Exaktheit in der Literatur bis zu sozusagen literarisch fundierten Architektur-Utopien (die zum Beispiel die Trockenlegung des Mittelmeers vorsahen) reicht das breite Spektrum. Zu hören sein werden Lesungen bzw. Vorträge von Friedrich Achleitner, Gerda Ambros, Bogdan Bogdanovic, Inger Christensen, Franz Josef Czernin, Martina Düttmann, Gundi Feyrer, Marie Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs, Sigrid Hauser, Frantisek Lesak, Martin Muser, Oskar Pastior, The Poor Boys Enterprise, Wolfgang Prix, Claudia Schmid, Sabine Scholl, Jochen K. Schütze, Walter Seitter, Tim Staffel, Liesl Ujvary, Margit Ulama und Wolfgang Voigt.

[ „Suburbs Subtexts Subjects“ läuft bis 10. Februar und findet in der Alten Schmiede (1., Schönlaterngasse 9) und in der Wiener Planungswerkstatt (1., Friedrich-Schmidt-Platz 9) statt. Das genaue Programm entnehmen Sie bitte dem Tagesprogramm. Das Programm und weitere Informationen finden sich auch auf der Homepage: www.fotovision.com/sub-urbs-texts-jects ]

Falter, Mi., 2000.01.19

08. September 1999Jan Tabor
Falter

Männliche Draufaufstockung

Architektur Das Palais Herberstein am Michaelerplatz wurde umgebaut und aufgestockt - Stimmen einer öffentlichen Empörung erheben sich bereits. Grundlos.

Architektur Das Palais Herberstein am Michaelerplatz wurde umgebaut und aufgestockt - Stimmen einer öffentlichen Empörung erheben sich bereits. Grundlos.

Bei Friedrich Nietzsche, meinte Kurt Tucholsky, findet man immer ein passendes Zitat. Bei Kurt Tucholsky, Ludwig Wittgenstein und Adolf Loos auch. Zum Fortschritt in der Architektur meinte Loos: „Eine Veränderung, die keine Verbesserung ist, ist eine Verschlechterung.“ Die Verbesserungen im und am Palais Herberstein am Michaelerplatz sind zahlreich und beachtlich, von außen betrachtet aber nicht besonders auffallend.

Die Fassade wurde sorgfältig erneuert, ohne das überreiche Dekor oder die ursprüngliche Qualität und Anordnung der Fenster zu verändern - obwohl drinnen zwei neue Stiegenhäuser eingebaut werden mussten. Am Sockelbereich hat sich auch wenig verändert - leider: Die vor rund zehn Jahren im Tourismusjugendstil errichtete Cafe-Replik Griensteidl blieb unangetastet kitschig. Eine Garage wurde nicht eingebaut. Erfreulicherweise, weil neue Dachausbauten oben ohne Garagen unten heutzutage Ausnahmen und das eigentliche urbanistische Problem des Aufstockungsgewitters sind: Aufbauten verändern die Dachlandschaft und zerstören den urbanen Straßenraum, weil die meisten frei finanzierten Luxuswohnungen mit wertsteigernden Garagenplätzen angeboten werden, die aus einstigen Geschäften oder Wohnungen im Erdgeschoß entstanden.

Manchmal bedeutet Aufstieg Abstieg. Eine derart unangenehme Richtungsverkehrung widerfuhr in den Dreißigerjahren dem Grafen Herberstein. Damals ging es vielen Menschen wirtschaftlich schlecht, sie konnten sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten und zogen in billigere um. Auch Graf Herberstein, wohnhaft im Zinspalais Herberstein auf dem Michaelerplatz, musste 1936 umziehen. Allerdings nicht weit, nur um zwei Geschoße höher - von der prachtvollen Beletage (5,5 Meter Raumhöhe) unten in das bescheidene Dachgeschoß (3,3 Meter Raumhöhe) oben. Das neue schlichte Domizil wurde von Felix Baron Nemecic, einem unbekannten Architekten, recht gekonnt auf den alten prachtvollen Unterbau gesetzt.

Die damaligen Architekturkritiker bescheinigten dem bauenden Baron Begabung und beglückwünschten den Grafen zu seinem Mut, das schreckliche Dach samt der übermächtig geratenen Kuppel, das einem französischen Barockschloss zu entstammen schien und dem Michaelertor der Hofburg unverschämt die Schau stehlen wollte, endlich zu beseitigen.

Heutzutage ist Dachgeschoßwohnung der Inbegriff des Luxuswohnens in der dichten Stadt. Früher aber, 1896, als Josef Graf Herberstein das 1818 entstandene dreigeschoßige Palais Dietrichstein (und mit ihm das dort befindliche berühmte Literatencafe Griensteidl) hatte demolieren lassen (was Karl Kraus zu dem bekannten Sprachseufzer von „demolirter Literatur“ veranlassen sollte) und sich von k. k. Hofrat und Professor an der Wiener Technischen Hochschule Carl König, dem König der neubarocken Baukünstler und entschiedenen Gegner von Otto Wagner, ein prachtvolles Zinspalais erbauen ließ, galt es noch umgekehrt: Je höher das Geschoß gelegen war, desto schlechter und billiger die Wohnung.

Architekturgeschichtlich bedeutete die 1936 erfolgte Beseitigung des ursprünglichen Daches und die Aufstockung mit einem einfachen, dekorlosen Dachgeschoß eine gewisse Pioniertat: Der Dachboden wurde als brachliegendes Bauland entdeckt. Jetzt gehört das Mietbüropalais Herberstein der Raiffeisen Zentralbank. 1998 hat sie es zu einem exquisiten Bürohaus umbauen und aufstocken lassen. Mit dem Umbau wurde der junge, kaum bekannte Architekt Karl Langer beauftragt. Er hat einen geladenen Wettbewerb gewonnen. Davor, sagt er, habe er keinen einzigen Herrn aus der Direktionsetage der Bank gekannt. Er habe bloß das beste Umbaukonzept vorgelegt. Das dürfte stimmen.

Langers Draufaufstockung am Palais Herberstein sieht man von der Herrengasse aus nur als Stückchen einer Feuermauer. Vom Kohlmarkt aus erblickt man bloß ein Stückchen des gesimsartig abgeschrägten, in dieser Richtung spitz auskragenden Daches. Am Michaelerplatz selbst ist das Dach erst beim Portal der Michaelerkirche zu sehen und dann zunehmend besser vom Anfang der Augustinerstraße bis zum Gewölbe der Spanischen Reitschule. Der Aufbau wirkt: eindrucksvoll, widersprüchlich, entschieden und zurückhaltend, in dieser Reihenfolge.

Teils verglast und durchsichtig, teils mit Lamellenblech abgedeckt, erscheint der neue Aufbau von dort aus gesehen wie ein Dachpavillon, der auf das schräge, grün lackierte Blechdach der früheren Aufstockung aufgesetzt wurde. Fast schwebend, eine Art Altan, erinnert er, leicht übertrieben, an die Architektur der präzisen Reduktion von Mies van der Rohe. Von dieser architekturgeschichtlichen Auffassungsecke kommt die Aufstockung auf jeden Fall (Karl Langer hat über Ludwig Wittgenstein dissertiert). Das Dach des Pavillons, eine scharfe und deutliche Kante, stößt im scharfen Winkel, der dem scharfen Winkel des Gebäudes am Eck des Michaelerplatzes und der Herrengasse entspricht, empor, negiert die Rundung der Gebäudeecke und die abgerundete Neigung des Blechdaches der ersten Aufstockung, schafft einen scharfen, beinahe aggressiven Kontrapunkt zu all der neubarocken Bewegtheit und Abgerundetheit in der unmittelbaren Umgebung.

Im Prinzip hat der Architekt die Haltung von Adolf Loos übernommen, als dieser sein Haus am Michaelerplatz konzipiert hatte. Diese Haltung ist nur scheinbar aggressiv. In Wirklichkeit ist es eine defensiv-trotzige, durchaus männliche Haltung, als Antwort auf das Übermaß der neubarocken - also weiblichen - Formen rundherum und die Nemecic-Aufstockung darunter. Karl Langer hat das Palais Herberstein mit viel Gespür für und ohne übertriebene Rücksicht auf das heikle Stadtbild aufgestockt. Seine einzige Inkonsequenz: Er ließ die malerischen Kamine als Stümpfe stehen. Nun sehen sie wegen ihrer länglichen Form wie surreale weiße Särge aus.

Im Aufbau befinden sich Räume für die Haustechnik, Sitzungszimmer und ein Betriebsspeisesaal. Der Ausblick ist einzigartig, in alle Richtungen offen. Man muss es dem Bauherr hoch anrechnen, dass diese Hochlage nicht einem Direktor für dessen privates Penthouse vorbehalten wird - wie etwa im Fall des von Harry Glück für die BAWAG umgebauten Kachelhauses am Fleischmarkt. Auch wenn der Aufbau am Michaelerplatz nicht öffentlich zugänglich ist, so wird sich doch eine Möglichkeit finden, um hinaufsteigen zu können.

Wie architektonisch vortrefflich Karl Langer den Eingangsbereich gelöst hat, lässt bereits der Einblick in dem zum Entree umgebauten und mit Pawlatschengängen versehenen Lichthof erahnen: Von dort aus ist zu sehen, wie das Palais innen verändert wurde. Im Sinn von Loos: eine Verbesserung. Erheblich und vorbildlich.

[ Die Ausstellung „Carl König 1841-1915. Ein neubarocker Großstadtarchitekt in Wien“ ist noch bis zum 12.10. im Jüdischen Museum zu sehen. ]

Falter, Mi., 1999.09.08

14. Juli 1999Jan Tabor
Falter

Kunst der Verläßlichkeit

Die Ausstellung „Amt Macht Stadt“ stellt ein unbekanntes Kapitel der Wiener Architekturgeschichte vor: den beamteten Baukünstler Erich Leischner und das mächtigste Architekturbüro Wiens, das Wiener Stadtbauamt.

Die Ausstellung „Amt Macht Stadt“ stellt ein unbekanntes Kapitel der Wiener Architekturgeschichte vor: den beamteten Baukünstler Erich Leischner und das mächtigste Architekturbüro Wiens, das Wiener Stadtbauamt.

Als die amerikanischen Luftangriffe auf Wien gegen Ende des Zweiten Weltkriegs immer häufiger wurden, waren die Anrainer der Lerchenfelder Straße und der Thalia- und Gallitzinstraße gegenüber den anderen Bewohnern Wiens bevorzugt: Über diese Strecke pflegte der am Ballhausplatz amtierende Gauleiter zu seinem Bunker zu eilen, der sich in der Nähe der Jubiläumswarte befand. Lange bevor die Sirenen öffentlich zu heulen begannen, raste die Kolonne der schwarzen Limousinen mit Baldur von Schirach und seiner Begleitung hinauf zu ihren im Buchenwald auf dem Gallitzinberg versteckten, geräumigen, bequem und elegant eingerichteten Schutz- und Befehlsräumen. So erfuhren die Streckenanrainer en passant früher als andere Normalwiener, wann ein Luftangriff bevorstand. Die Gallitzinstraße wurde damals im Volksmund Heldenstraße genannt, der SchirachBunker Heldenkeller.

Schwer zu sagen, ob man Erich Leischner beneiden soll oder nicht - ein einziges Beamtenleben und so viele Regime und Ideologien, so viele geschichtliche Ereignisse und Architekturauffassungen! Zwei Weltkriege, Zerfall der Monarchie, Erste Republik, Rotes Wien, austrofaschistischer Putsch, Anschluß, Befreiung, Besatzungszeit, Zweite Republik. Ringstraßenstil, Jugendstil, Art deco, Expressionismus, Internationale Moderne, austrofaschistische Sachlichkeit, NS-Neoklassizismus, Pathos des Wiederaufbaues und Sachlichkeit der Aufbauzeit.

Die Prüfungen all der bewegten Zeiten und Ästhetiken, die Erich Leischner (1887-1970) als Bürger und Baukünstler zu durchleben hatte, bestand er derart souverän, daß man über ihn nichts Schlechtes sagen kann. Nicht einmal, daß er wie viele seiner Kollegen im Wiener Stadtbauamt, die Wagner-Schüler Karl Ehn und Gottlieb Michal (ab 1938: Michael) zum Beispiel, ein Nazi war. Leischner „beteiligt sich nicht im politischen Leben, (...) fährt meistens mit Auto, in Gesellschaft bis spät Nachts“, wurde in seinem Gaupersonalakt vermerkt; und daß seine Bereitschaft, für die mannigfaltigen Hilfswerke des NS-Regimes zu spenden, groß gewesen sei.

Ein unverläßlicher Volksgenosse dürfte Leischner nicht gewesen sein. Er wurde mit der architektonischen Gestaltung des strengst geheimen „Führerbunkers“ betraut. Die kleine Entwurfsskizze, die in der Ausstellung „Amt Macht Stadt - Erich Leischner und das Wiener Stadtbauamt“ zu sehen ist, zeigt das Besprechungszimmer des Gauleiters: ein elegantes Interieur, das vermuten läßt, daß Leischner von der Einrichtung der Postsparkasse von Otto Wagner inspiriert wurde. Keine altdeutsche Bauernstube also, das war die Sache Leischners nicht. Aber auch nicht die des Baldur von Schirach - der deutsche Kleinadelige, Parteidichter und Lebemann schätzte die Gediegenheit der Wiener Wohnkultur sehr. Aus diesem Grund wohl beauftragte er keinen der vielen gräßlichen Wiener Nazi-Baukünstler, sondern einen der erprobten und allzeit verläßlichen Beamten der Hauptabteilung G/Bauwesen, Abteilung G15/Stadtregulierung (wie das in der NS-Zeit aufgelöste und zugleich erheblich aufgestockte Stadtbauamt hieß) - auf diese beamteten Baukünstler war immer Verlaß.

Leischner, ein begnadeter Zeichner, fertigte für den Bunker außerdem ein Panoramabild Wiens an, das identisch war mit dem in der Flugzeug-Beobachtungsstelle auf der Jubiläumswarte. So konnten die im Heldenkeller verkrochenen Nazibonzen verfolgen, wohin die Bomben gefallen waren. Während ihrer Pendelfahrten durch die Gallitzinstraße fuhren Schirach und die Seinen an den hübschen Jugendstilgebäuden der städtischen Wasserversorgung von 1911 vorbei - es war das erste verwirklichte Bauwerk von Erich Leischner, einem Architekturstudenten an der Technischen Hochschule, der seine Karriere am Wiener Stadtbauamt als Volontär begonnen hatte. Diese Karriere beendete er als Leiter der Architekturabteilung mit seiner Pensionierung 1949.

Leischner hatte Glück. Er war weder NS-Sympathisant noch NSDAP-Mitglied. Daher konnte er gleich nach der Befreiung mit einer überaus wichtigen Aufgabe betraut werden: dem Wiederaufbau Wiens. Am 22. Juni 1945 hatte „der provisorische Bürgermeister der Stadt Wien“ den „Herrn Dipl.- Ing. Erich Leischner zum provisorischen Leiter der Magistratsabteilung Architektur“ bestellt. Die Ernennungsurkunde, ein maschinengeschriebenes provisorisches Blatt, wurde mit K. signiert, K. für Theodor Körner. Leischner leitete den Wiederaufbau und arbeitete selbst als entwerfender Architekt mit. Unter anderem baute er sein zerstörtes Geburtshaus wieder auf: die Feuerwehrzentrale auf dem Hohen Markt, in der sein Vater eine Dienstwohnung hatte. Neben den Wiederaufbauplänen werden in der Leischner-Retrospektive auch Grafiken gezeigt, die er von seinem Geburtshaus in den dreißiger Jahren angefertigt hat.

Das ist das Lehrreiche an der von Barbara Feller, Erich Bernard und Karl Peyer-Heimstätt klug zusammengestellten und vortrefflich gestalteten Schau: Wie in Schleifen verbinden sich einige Details und Dokumente aus der Lebensgeschichte eines vergessenen Architekten mit den kaum bekannten Aspekten der Wiener Architekturgeschichte zu einem außerordentlich dichten und spannenden Kapitel der Kulturgeschichte Wiens. Mit dem Kongreßbad (1928), der Wiener Höhenstraße (1934-1938), den neuen Aspern-, Rotunden- und Salztorbrücken (1949-1961) sowie dem Laaerbergbad (1959) errichtete Leischner einige exemplarische Wiener Bauten. Die Ausstellung stellt einen wesentlichen Fortschritt der in eine Sackgasse geratenen Architekturforschung dar, die sich bereits lange mit Selbstwiederholungen über die Leistungen einiger weniger Koryphäen und des Roten Wien begnügt.

Das Wiener Stadtbauamt wurde 1835 gegründet, um wichtige Planungsaufgaben der Kommune im Bereich der Infrastruktur zu übernehmen bzw. der Stadtverwaltung zu ermöglichen, das Baugeschehen in Wien effizient zu beeinflussen. Von den 63.000 kommunalen Wohnungen, die zwischen 1919 und 1934 errichtet wurden, planten die Architekten des Wiener Stadtbauamtes rund ein Drittel selbst. Sie prägten die Typologie dieser Bauten nicht nur unmittelbar, sondern auch durch die Auswahl der freien Architekten und den Einfluß auf ihre Entwurfsarbeit.

In dieser Tatsache ist wahrscheinlich auch die Lösung des Rätsels zu suchen, wie weit diese Architektur parteipolitisch determiniert wurde: Das Wiener Bauamt war jene Stelle, wo die von Politikern formulierten Vorstellungen in die typologische und ästhetische Wirklichkeit der Wiener kommunalen Architektur umgesetzt wurden. Diese Aufträge ergehen fast ausschließlich über jene verschlungenen verbalen Amtswege, von denen keine historischen Dokumente zurückbleiben.

Bis 2. August im Architekturzentrum Wien.

Falter, Mi., 1999.07.14

26. Mai 1999Jan Tabor
Falter

Auftritt: Nr. 2456

Mit dem von der Jury ausgezeichneten Entwurf von Jabornegg/Palffy liegt zwar ein brauchbarer architektonischer Vorschlag für die Gestaltung der U2-Wendeanlage vor dem Künstlerhaus vor, die verfahrene Situation des Karlsplatzes wird aber auch er nicht beheben können.

Mit dem von der Jury ausgezeichneten Entwurf von Jabornegg/Palffy liegt zwar ein brauchbarer architektonischer Vorschlag für die Gestaltung der U2-Wendeanlage vor dem Künstlerhaus vor, die verfahrene Situation des Karlsplatzes wird aber auch er nicht beheben können.

Dem Karlsplatz ist nicht mehr zu helfen, keiner wird es schaffen. Auch die vortrefflichen Architekten Christian Jabornegg und Andras Palffy nicht, die nun mit ihrem ausgezeichneten Wettbewerbsentwurf meine opulente Sammlung der nicht verwirklichten Projekte für den Karlsplatz um ein weiteres Beispiel bereichern werden.

Auch Manfred Nehrer wird es nicht schaffen, der tüchtige K/Haus-Präsident und Architekt, dem es in erstaunlich kurzer Zeit gelungen ist, das Künstlerhaus aus seiner Bedeutungslosigkeit herauszuholen. Das Künstlerhaus ist der besondere Pechvogel des von den Gründerzeit-Stadtplanern schwerst mißhandelten Karlsplatzes. Auch Otto Wagner war einer von denen. Die echten Wasserblumen ersetzte er durch Blumenornamente auf seinen wunderschönen Stadtbahn-Pavillons, das Zwitschern der Ufervögel durch das Quietschen der Stadtbahnräder. Aber auch die hört man aus den betonierten Tiefen der U-Bahn längst nicht mehr. Aus dem Fluß wurde ein unsichtbarer Kanal. So wie der Karlsplatz geworden ist, ist er die gerechte Rache der Wiener Flußgötter.

Stolz stand das einstige k.u.k. K/Haus am Ufer des hübschen Wienflusses, gleich gegenüber der prachtvollen Karlskirche, einem der bedeutendsten Bauwerke der Weltarchitektur. Die Genossenschaft der bildenden Künstler konnten sich keine schönere und inspirierendere Lage wünschen. Um die militärstrategisch konzipierte Stadtbahn (im Fall einer Revolution sollte sie rasche Truppenbewegungen ermöglichen) anlegen zu können, wurde der Wienfluß um 1895 beinhart reguliert und überwölbt. Damit wurde bereits damals das unansehnliche Areal, das Otto Wagner verächtlich „Gegend“ nannte, zum bekannt unlösbaren Problem, und auch das Künstlerhaus geriet in jenes urbane Abseits, in dem es sich bis heute befindet. Seit 1970 duckt sich das Haus autoverkehrsverschreckt hinter dem häßlichen Gebüsch, das den schmalen Vorplatz von der sechsspurigen, sechshundert Meter langen Stadtautobahn trennt, die den Karlplatz durchquert und lädiert.

Als Manfred Nehrer im November 1988 so nebenbei davon erfuhr, daß man den Karlsplatz wieder aufmachen würde, um in offener Bauweise eine Wendeanlage der U2 zu errichten, hat er nicht nur die Gefahren einer riesigen, bis an den Eingang des Künstlerhauses reichenden Baugrube, sondern auch die kleine Chance erkannt, die stadttopographische Situation zugunsten des Künstlerhauses zu verändern. Geistesgegenwärtig veranlaßte er die Ausschreibung eines Wettbewerbes, zu dem die K/Haus-Mitglieder Mladen Jadric, Rüdiger Lainer, Bernd Stanzl, Fritz Waclawek, Albert Wimmer und die Nicht-K/Haus-Mitglieder Elsa Prochazka und Jabornegg/Palffy geladen wurden. Die Jury unter dem Vorsitz des K/Haus-Ehrenmitgliedes Gustav Peichl hat die Projekte von Lainer, Wimmer und Jabornegg/Palffy zur Überarbeitung empfohlen. Am 12. Mai wurde das verbesserte Projekt von Jabornegg und Palffy mit dem ersten Preis ausgezeichnet.

Ihr Entwurf ist einfach und gediegen, um nicht zu sagen brav. Oberirdisch wird sich auf dem um 1970 von Johann Staber, dem UNO-City-Architekten, gestalteten Platz um das Künstlerhaus herum nicht viel ändern. Dort, wo sich jetzt das sonderbare und unnütze quadratische Amphitheater, eine Verlegenheitslösung für den U-Bahn-Ausgang, befindet, soll ein neuer Ausstellungssaal enstehen, der von dem Souterraingeschoß des Künstlerhauses durch einen Graben - wie auf der Seite des Künstlerhaus-Theaters - getrennt werden soll. Der Dachbereich des Saals ragt mehr als einen Meter über die Platzoberfläche heraus und ist mit kleinen runden Oberlichten versehen. Sie bilden das von Ecke Bonk entworfene neue K/Haus-Löcherlogo nach. In der Nacht soll das Dachlogo schön leuchten. Ob das Tischdach begehbar sein wird, ist aus dem Entwurf nicht ersichtlich.

Auch der jetzige U-Bahn-Eingang soll neu gestaltet werden. Gemeinsam mit Heimo Zobernig haben die Architekten einen schmalen, gläsernen Kasten als Witterungsschutz für die Passanten vorgeschlagen. Die „Vitrine“ wird als Informationsfläche für die künftig zahlreichen K/Haus-Veranstaltungen dienen. Laut Entwurfsaufschrift steht auch die erste Ausstellung schon fest: Ilya Kabakov.

Der Entwurf sieht für den unterirdischen Bereich vorm Künstlerhaus zusätzliche Ausstellungsräume und Passagen vor, die reichlich bemessen sind und die auch vom künftigen U-Bahn-Passagenwerk erschlossen werden sollen. Eine Spur der vorbeiführenden Straße soll zu einem Vorfahrtstreifen abgezweigt werden, die häßliche Gebüschwand verschwinden und die visuelle Verbindung mit der Karlskirche damit wiederhergestellt werden. Auf der anderen Seite der Straße befindet sich die gemeinsam mit Zobernig entworfene „Solaranlage mit Bänken“. Ich nehme an, man wird hier auf sonnenenergiegeheizten Sitzbänken sitzen und bewundernd zum K/Haus hinüberschauen können.

Auch Rüdiger Lainer wird den Karlsplatz nicht retten. Als einziger hat er sich in seinem nicht ausgezeichneten, aber genialen und trivialen Entwurf mit dem ganzen Karlsplatz von der Akademie bis zum Schwarzenbergplatz auseinandergesetzt. Lainer gliedert den Karlsplatz in drei Teile, die er in ihrer Beschaffenheit und Grundfunktion stärker voneinander unterscheiden will. Er befreit den Bereich vor der Karlskirche von allem, was einem großzügigen städtischen Platz widerspricht und den Blick auf die Kirche verstellt, auch von Bäumen oder dem ovalen Becken. Der mittlere Teil, der Resslpark, wird in einen wirklichen Park verwandelt, der vom dritten, zwischen Wiedner Hauptstraße und der Friedrichsstraße gelegenen Teil durch pavillonartige schmale Gebäude getrennt wird. Diese wohl problematischste Zone „bebaut“ Lainer mit einigen wichtigen Bauwerken, indem er diese hierher versetzt: dem Zwanziger Haus von Karl Schwanzer, das in den Originalzustand der Expo 1959 (also ohne den Unterbau) gebracht werden soll, und dem runden Bücherpavillon, den Adolf Krischanitz für die Buchmesse in Frankfurt/Main entworfen hat. Mit dieser Idee knüpft Lainer kongenial an die Geschichte des Ortes an: Auch die Secession wurde auf einer Restparzelle als provisorisches Ausstellungshaus errichtet.

Als ich kürzlich bei einer Enquete über die Zukunft des Karlsplatzes vorgeschlagen habe, den Karlsplatz den stadtdarwinistischen Urkräften für einige Zeit zu überlassen und den Naschmarkt auf den aufgelassenen Straßenspuren in Richtung des nicht minder verplanten und verfahrenen Schwarzenbergplatzes bis zum Stadtpark wachsen und wuchern zu lassen, bin ich bei den anwesenden Architekten und Stadtplanern auf taube Ohren gestoßen. Sie glauben noch immer, irgendwann mit dem Karlsplatz planerisch fertigzuwerden.

Auch die Jury des jüngsten Karlsplatzwettbewerbs dürfte sich dieser Illusion hingegeben haben, sonst hätten sie Lainers triviales Konzept nicht ausgezeichnet. Wiewohl mit anderen Mitteln, fängt auch Lainer bei der Fortsetzung des Naschmarkts an. Bevor der Karlsplatz von den Stadtplanern heimgesucht wurde, ging der Naschmarkt nahtlos in den Karlsplatz über.

Der Karlsplatz war von Anfang an ein Übungsplatz, auf dem die Kommunalpolitiker, Architekten, Städtebauer und Verkehrsplaner ihre Manöver abgehalten haben und weiterhin abhalten wollen. Die eindeutigen Sieger waren stets die Verkehrsplaner. Mit den sieben neuen Wettbewerbsbeiträgen ist mein Archivverzeichnis für den Karlsplatz auf 2456 nicht verwirklichte Projekte angewachsen. Dabei ist mein Verzeichnis weit davon entfernt, vollständig zu sein.

Falter, Mi., 1999.05.26

05. Mai 1999Jan Tabor
Falter

Gewaltige Verschiebungen

Architektur: Der Architekt Zvi Hecker übernahm im Herbst 1998 die Meisterklasse Wilhelm Holzbauers an der Angewandten. Eine Ausstellung im Foyer der Kunst-Uni stellt den delikaten Tel Aviv-Berliner Architekturdenker den Wienern vor.

Architektur: Der Architekt Zvi Hecker übernahm im Herbst 1998 die Meisterklasse Wilhelm Holzbauers an der Angewandten. Eine Ausstellung im Foyer der Kunst-Uni stellt den delikaten Tel Aviv-Berliner Architekturdenker den Wienern vor.

Zvi Hecker ist in Wien. „Wir freuen uns“, schreibt Hans Hollein im Ausstellungsfolder, „daß er uns seine Sonnenblumen, Spiralen und Explosionen sowohl als Ausstellung präsentiert als auch an unserer Schule persönlich seine Ideen vermittelt. Wir lernen von ihm.“ Und wie!

Die Umwege, über die Zvi Hecker zur Architektur gelangt, sind denkbar einfach. An jedem Ort, wo es zu bauen gilt, lehrt er, sei etwas vorhanden, an das der Architekt anknüpfen soll, um die lokale Geschichte, das heißt die Zeit des Ortes, weiterzuführen. Weiterführen, ohne fortzusetzen oder gar zu wiederholen. Damit meint Hecker nicht den altmodischen und verschwommenen, auch von vielen zeitgenössischen Architekten beschworenen Genius loci und auch nicht die gestaltlose Erinnerung. Er meint etwas als Idee - zeit- oder erdgeschichtlich konkret Vorhandenes -, eine Idee, der es eine architektonische Gestalt zu geben gilt.

Von der Synagoge in der Lindenstraße in Berlin ist nach dem Großen Pogrom im November 1938, nach der sogenannten Reichskristallnacht, nur eine Baulücke übriggeblieben. Büsche und Bäume wachsen hier, Birken vor allem und hohes Gras. Ein Fußgängerweg führt zwischen den Feuermauern der umliegenden Häuser hindurch, über den mittlerweile romantisch gewordenen Ort. Geblieben ist außerdem eine Seite aus einem Gebetbuch, auf der der Grundriß mit den dicht gedrängten Sitzbänken der einstigen Synagoge verzeichnet ist. Ohne einen Baum zu fällen, ohne das Gras zu vernichten und den Verlauf des Weges zu verändern, baute Zvi Hecker gemeinsam mit dem Bildhauer Micha Ullman und dem Architekten Eyal Weizman die zerstörte Synagoge 1997 gleichsam wieder auf. Der Grundriß ist Vergangenheit. Die Baulücke ist Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Die Bäume, das Gras, der Weg und die Menschen, die hier unterwegs sind, sind die Gegenwart. Zvi Hecker ergänzte den Ort durch Sitzbänke aus hellem, beinahe weißem, marmorglatt gegossenem Beton; genau nach der Anordnung der einstigen Holzbänke in der Synagoge - soweit es die 1995 (als Zvi Hecker den Denkmal-Wettbewerb gewann) hier vorgefundene Situation erlaubte. Ist ein Baum im Weg gestanden, so sind die neuen Sitzbänke weggelassen worden oder kürzer ausgefallen. Man kann sie auch als Grabsteine deuten.

Das ist alles gewesen. Wenn Zvi Hecker baut, dann will er, daß sich möglichst wenig verändert, daß alles womöglich so bleibt, wie es gewesen ist. Das Gras wächst weiter über die Geschichte. Die Zeit ist zurückgekehrt. Der Ort ist ein Park geworden und doch auch ein Denkmal - unverkennbar, vor allem. Zvi Hecker zwingt die Erinnerungen niemandem auf. Er macht bloß ein Angebot, das man allerdings kaum ablehnen kann. Ein Mensch, der diesen Ort durchschreitet oder sich auf einer der langen kantigen Sitzbänke niederläßt, um die Schönheit dieses verlassenen Ortes zu genießen, kommt nicht umhin, sich zu fragen, warum der Ort heute so ist, wie er ist, und wie es hier einst war. In der Berliner Lindenstraße hat Zvi Hecker wohl das stillste und eindringlichste aller Denkmäler erdacht und verwirklicht, die zum Thema Judenverfolgung in der letzten Zeit entstanden sind.

„Ich möchte, daß das Werk sich direkt an jedermanns Geist und Herz wendet, als Erinnerung an die Vergangenheit und Warnung für die Zukunft. Ich möchte, daß das Werk von Trauer, Leid und tragischem Schicksal spricht. Gleichzeitig möchte ich, daß das Werk so still ist wie eine Landschaft zeitloser Einsamkeit.“ So beschreibt Zvi Hecker die beabsichtigte Wirkung jenes Denkmals, das er 1996 für den Wettbewerb eines Mahnmals am Judenplatz in Wien entworfen hat. Eine 14 Meter hohe dreieckige Wand lehnt sich, einem gotischen Strebepfeiler gleich, an die Mauer eines Hauses. 16 Meter tief ragt sie in den länglichen Judenplatz hinein. In einer Rille rinnt ein feiner Wasserstrahl die schräge obere Kante hinunter, Symbol des Lebens und des Zeitflusses. Drei flammenförmige Öffnungen in der Wand ermöglichen es den Passanten durchzugehen, schaffen aber dennoch eine Schwellensituation.

Die Wand markiert den Judenplatz an jener Stelle, an der sich die nun freigelegten Fundamente der 1421 zerstörten Synagoge befinden. „Bar aller heroischen Symbole sollte das Werk einen integralen Teil der in der urbanen Situation bestehenden Kunst darstellen, ein gewöhnliches Stück Wand, gebaut aus gewöhnlichem Baumaterial“, beschreibt Zvi Hecker seine Idee, die ein Entwurf geblieben ist, weil die Jury sich für den Bücher-Würfel der britischen Künstlerin Rachel Whiteread entschieden hat. Seinen Entwurf für Wien zeigt Zvi Hecker in der Ausstellung im Foyer der Universität für angewandte Kunst nicht.

Diese Ausstellung ist durch die Initiative von Ulrike Kusztrich, Stephan Szigetvary und Manuel Singer entstanden, drei Architekturstudenten, die das Werk von Zvi Hecker kennenlernen wollten (und die, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, nicht seine Schüler sind).

Zvi Hecker stellt weniger seine Werke als sein architektonisches Denken vor: die Art, wie er über Umwege eine neue Identität für die Orte seines Bauens sucht. Bereits eine Woche vor der Eröffnung war die Ausstellung fertig und sehenswert, obwohl die Exponate noch nicht aufgehängt worden waren. Zwei Wände aus Holz stehen diagonal in dem verglasten, durch Tragpfeiler der Außenwände definierten Raum der Eingangshalle. Eine der Stellwände ragt auf den Vorplatz hinaus; beide weisen torartige Einschnitte auf, die den Rhythmus der Pfeiler angenommen haben und ein völlig neues, spannendes Raumerlebnis aus Einblicken, Durchblicken und Blickversperrungen erzeugen. Sie gleichen den Seiten eines geöffneten Buches und sind nur spärlich mit Entwurfszeichnungen behängt.

Darunter findet sich auch der Entwurf für die 1995 fertiggestellte, viel diskutierte und mit den schönsten Kritikermetaphern umschriebene jüdische Galinski-Schule in Berlin. „Ein kleines Wunderwerk, ein architektonisches Abenteuer von Seltenheitswert“, nennt die Wiener Kritikerin Liesbeth Waechter-Böhm das spiralförmig angelegte Gebäude. Layla Dawson (Konkret) sieht den Grundriß als Wirbelsturm, der Hof ist das Auge des Taifuns. Die Spirale, die Zvi Hecker oft als Ausgangsidee für seine Entwürfe verwendet, nennt er „Turm zu Babel en miniature“.

Obwohl sie intellektuell ungemein komplex erdacht und umgesetzt wurden, wirken Heckers Bauten so, als wären sie von elementaren Naturkräften geformt, von einfachen, aber gewaltigen tektonischen Verschiebungen. Als wären sie geologische Formationen. Als wären sie ein Bestandteil der Landschaft, schon immer an diesem Ort gewesen. Das 1999 fertiggestellte Palmach Museum in Tel Aviv zeigt dies besonders deutlich. Es sind die Kräfte einer metaphorischen Tektonik, die Heckers Bauten formen.

Einst war es eine lobenswerte staatliche Tradition in Österreich, einen neu berufenen, zumal einen aus dem Ausland kommenden Architekturlehrer mit einem öffentlichen Bauauftrag zu ehren. So etwa ist 1930 die Tabakfabrik in Linz von Peter Behrens entstanden, ein besonderes Prachtstück in der österreichischen Geschichte der modernen Architektur.

Zvi Hecker ist in Wien. An das muß erinnert werden.

Die Ausstellung ist noch bis 22.5. im Foyer der Universität für angewandte Kunst zu sehen.

Falter, Mi., 1999.05.05



verknüpfte Akteure
Hecker Zvi

21. April 1999Jan Tabor
Falter

Wo bunte Fahnen wehen

Neugestaltungsfuror am Donaukanal: Wo die Behübschung des Raiffeisen-Hauses nicht wirklich großen Schaden anrichten kann, ist die dekonstruktivistische Überarbeitung des Collegium Hungaricum eine echte Katastrophe.

Neugestaltungsfuror am Donaukanal: Wo die Behübschung des Raiffeisen-Hauses nicht wirklich großen Schaden anrichten kann, ist die dekonstruktivistische Überarbeitung des Collegium Hungaricum eine echte Katastrophe.

Wann immer ich am umgestalteten Raiffeisen-Bürohaus Ecke Obere Donaustraße / Hollandstraße vorbeigehe, komme ich nicht umhin, mir die moralische Frage zu stellen, ob die mißratene Neugestaltung eines alten Architekturmiststückes als architektonische Mißhandlung bezeichnet werden kann. Die jetzt abgeschlossene Umgestaltung des Collegium Hungaricum nebenan hingegen ruft keine Zweifel hervor. Hier ist ein achtbares Bauwerk zweier internationalistischer österreichischer Architekten von zwei patriotischen ungarischen Baukünstlern grauenvoll verunstaltet worden. „Die zurückgenommene Architektur aus noch ablesbaren konstruktiven Elementen, mit einer leichten Betonung der Sockelzone, hat noch das schlichte Pathos eines realistischen Funktionalismus.“ So beschrieb Friedrich Achleitner in seinem 1990 erschienenen Architekturführer für Wien das ungarische Kulturhaus. Schlichtes Pathos, realistischer Funktionalismus - davon ist nichts mehr übriggeblieben. Kukuruz-Gehry ist eine der unzähligen spontanen Assoziationen, die ich angesichts dieser einzigartigen Manifestation eines nationalen Dekonstruktivismus nicht abwehren konnte. Oder Csardas-Dekonstruktivismus.

Der Reihe nach. Zuerst eine erfreuliche Nachricht. „Die Türme am Donaukanal erhalten Nachwuchs“, kündigte am 26.11.1997 der Standard an. Mit Türmen war jenes Gebäudepaar gemeint, das mit seinen gleichen Fassaden aus grob gerasterten Stahlbetonträgern weithin sichtbar die Donaukanalzone in einem der wichtigsten Abschnitte dominiert. Möglicherweise war die in den Zeitungen angekündigte Architekturvermehrung dann eine Frühgeburt. Im Juni 1998, also bereits sieben Monate später, war der Nachwuchs da: ein mächtiger Torrahmen über dem Vorbau, dem eine Glaswand vorgesetzt wurde und ein schmuckes Türmchen in Form eines Glaszylinders, der aussieht, als wäre hier die Anbringung eines Panoramalifts vorgesehen, dem Bauherrn aber das Geld dafür ausgegangen.

Vollbracht wurde diese seltsame Veränderung, die zugleich eine Verbesserung und eine Verschlechterung ist, an dem 17 Stockwerke hohen Raiffeisen-Bürogebäude am Beginn der Hollandstraße, einem wahren Miststück der Wiener Architektur aus den siebziger Jahren, der legendären Baudekade der rücksichtslosen Wiener Großarchitekten. Nach dem 1969 erbauten, frontal zum Schwedenplatz hin orientierten IBM-Hochhaus stellte der Architekt Georg Lippert das zweite Gebäude dieses schrecklichen Hochhaus-Ensembles am Donaukanal, das Raiffeisenhaus, mit der Schmalseite zum Kai. Das Gebäude ist derart unglücklich - oder geschickt, je nachdem, wie man es betrachtet - in der städtebaulich heiklen Situation positioniert, daß das Ungetüm besonders gut sichtbar ist und damit das ohnehin schwer lädierte Donaukanal-Panorama besonders stark stört.

Fritz Weber und Ernst Plojhar, jene zwei österreichischen Architekten, die 1963 im Auftrag der Volksrepublik Ungarn das Collegium Hungaricum errichteten, gingen damals - unüblich für die ganze Wiener Stadtplanung - einfühlsam vor. Sie setzten den neungeschossigen Eckturm mit angeschlossenem niedrigem Seitentrakt tief in die Hollandstraße - als Torbau der Leopoldstadt und nicht als Brückenkopf der Salztorbrücke. Die Wirkung dieser städtebaulich und architektonisch sorgfältig erarbeiteten realsozialistischen Lösung wurde durch den staatskapitalistischen Städtebau eines der leistungsfähigsten Wiener Großarchitekten zerstört. Würde man diese städtebauliche Konstellation zu deuten versuchen, dann könnte man sagen, hier sei bereits um 1970 eine städtebauliche Metapher des kommenden Sieges des Kapitalismus über den Sozialismus entstanden.

Aber auch der Kapitalismus hat seine häßliche Seiten. Diese Erkenntnis dürfte die modernen Raiffeisen-Banker dazu veranlaßt haben, die Behübschung ihres Verwaltungsgebäudes zu beschließen. Lobenswerterweise wurde ein Wettbewerb für Architekturstudenten ausgeschrieben. Das siegreiche Projekt einer Studentin wurde mit Hilfe eines namhaften Wiener Architekten (die Namen sind der Redaktion bekannt) verwirklicht. Der studentische Entwurf war, galant ausgedrückt, noch unausgereift. Warum es dem Architekten Martin Kohlbauer nicht gelungen ist, mehr daraus zu machen, bleibt schleierhaft. Die Verbesserung betrifft die Innenräume der Eingangs- und Bankhalle, die Verschlechterung das äußere Erscheinungsbild. Der Rahmen ist unsinnig und hypertroph, der 23 Meter hohe Glasturm hingegen läppisch: zu dünn, zu kurz.

Mittlerweile herrscht auch in Ungarn der Kapitalismus. Das bedrängte Collegium Hungaricum, durch die Neugestaltung des Raiffeisenhauses zusätzlich aus dem Weichbild der Leopoldstadt abgedrängt, sollte wohl im Wiener Stadtbild nicht weiter wie ein armer Verwandter aus dem Osten erscheinen. Wir müssen für die Ungarn Verständnis aufbringen. Uns geht es in New York mit unserem Kulturinstitut ja genauso.

Das neue Collegium drückt alles aus, was sich eine jede tüchtige Regierung nur wünschen kann: Veränderung, Dynamik, Geltung, Modernität, Reichtum, Weltoffenheit und Patriotismus. Als wäre der einst würfelförmige ruhige Baukörper von ungeheuren Umgestaltungskräften erfaßt, die es hinaufziehen und revolutionär umzudrehen trachten, bekommt das Haus eine eindrucksvolle dekonstruktivistische Drehform, die an das Tanzende Haus erinnert, das Frank O. Gehry vor drei Jahren in Prag am Kai der Moldau errichtet hat und das nun zum beliebtesten Symbol der kapitalistischen Erneuerung von Tschechien geworden ist. Die Seiten werden in die Länge gezogen und mit ihnen auch ein Teil der sonst viereckigen Fenster, die jetzt schräge bis viertelrunde Formen und fensterbrettförmige, rot gestrichene Vorsprünge aufweisen.

Die Putzfassade ist mit geraden und gekrümmten roten Gesimsen beklebt, die in dem Bereich über dem Eingang in die wehende rotweißgrüne ungarische Fahne übergehen. Das ganze Haus ist kreuz und quer mit dünnen Stahlträgern bestückt, die wie Rippen von Flugzeugen oder Reste von leichten Gerüsten aussehen und miteinander durch ein Geflecht von Stahlseilen verbunden sind. Der Neugestaltungsfuror der ungarischen Baukünstler macht nicht an der Fassade halt, er breitet sich auch im Inneren aus, wo er stellenweise - etwa im neu errichteten Cafe Budapest - von surrealistischen und folkloristischen Anwandlungen erfaßt wird. Die Architekten sind von ihrer Leistung so überzeugt, daß sie eine kleine bronzene Tafel mit ihren Namen im Eingang einbringen haben lassen. In Augenhöhe. Sie heißen Laszlo Rajk und Janos Balasz.

Falter, Mi., 1999.04.21

18. November 1998Jan Tabor
Falter

Dort, in Transdanubien

Der Architekturfotograf Rupert Steiner war mit einer Großformatkamera im 21. und 22. Wiener Bezirk unterwegs, um die eigenartige urbane Semiotik dieser weiten und langsamen Gegend zu ergründen.

Der Architekturfotograf Rupert Steiner war mit einer Großformatkamera im 21. und 22. Wiener Bezirk unterwegs, um die eigenartige urbane Semiotik dieser weiten und langsamen Gegend zu ergründen.

Kahle Fassade eines allein stehenden grauen Fertigteilhauses vor einer kahlen grüngrauen Wiese. Kleine braune Jugendstilkirche vor der graublauen konkaven Glasfassade eines riesigen Bürogebäudes. Weinkellerstraße. Rotgelb strahlende Werbesäule einer McDonald's-Drive-in-Filiale. Nackte Sonnenanbeter im grünlichen Schatten von Pappelbäumen. Kleiner hölzerner Würstelstand am Rande einer endlosen Erdäpfelplantage. Im Freien tanzende Pensionisten. Pensionisten, die im Freien Schach spielen. Kleines Ruderboot unter einer hohen, futuristisch-silbernen U-Bahn-Brücke. Ein Schotterteich mit Schotterbaggern und auf dem Schotter liegenden Badenden. Eine grüne Mulde mit mehreren kleinen Straßen und mehreren Ortstafeln mit der rot, diagonal durchgestrichenen Aufschrift „Wien“ nebeneinander. Großbaustelle mit vielen hohen gelben Baukränen. Ein allein stehendes erdgeschossiges Haus mit der großen Aufschrift „Fremdenzimmer“, davor der Schatten eines Kamerastatives und eines Mannes.

Der Schatten sieht wie ein altmodischer Pleinair-Maler mit der Staffelei aus. Es ist das Selbstporträt des Fotografen. Er steht abseits. Er ist fremd hier. Mit der Kamera macht er Aufnahmen, die als 20 mal 25 Zentimeter große Kontaktabzüge vom Farbnegativ ausgearbeitet werden. Diese Arbeitsweise erzwingt langsames, also bedächtiges Vorgehen. Die Bilder zeichnen sich durch besondere Tiefe und Schärfe aus, die durch die zentralperspektivische Komposition verstärkt wird. Er fotografiert, als würde er wie Caspar David Friedrich malen - seine Aufnahmen sind mittig komponiert und durch eine Horizontale meist in der Mitte aufgeteilt. Dadurch verleiht er seinen Bildern künstlerische Qualität und Handschrift und jedem Ort eine besondere, beinahe metaphysische Würde.

Die Ausstellung heißt „Transdanubien“. Leider habe ich dieses sympathische Fremdwort im Fremdwörterbuch-Duden nicht gefunden und im „Großen Groner Wien Lexikon“ auch nicht, sodaß ich nicht genau weiß, wo das ist beziehungsweise was das ist, dieses Transdanubien. Das ist in Ordnung so, es entspricht dem Anlaß. Rupert Steiner, der dort herumfotografiert hat, hat auch nicht genau gewußt, wo er ist und was das ist, was er da mit seiner langsamen Kamera aufgenommen hat, wie es sich an den eindrucksvollen, ebenso stimmigen wie auch stimmenden (das heißt mit dem, wie es dort tatsächlich ist, übereinstimmenden) Bildern, erkennen läßt.

Transdanubien klingt wie Patagonien. Patagonien gibt es wirklich und ist zugleich ein literarischer Begriff für ein mystisches Land, eine spöttisch-poetische Umschreibung eines geografisch-geistigen Zustandes am Ende der Welt.

Natürlich kann man sagen, Rupert Steiner hat an der oder die Stadtperipherie fotografiert, das aber würde nicht zutreffen, denn das dort ist keine wahre Peripherie, also eine spezifische Form der Großstadt, das spezifische Resultat eines besonderen Großstadtmagnetismus. Diese stadtformende Anziehungskraft fehlt hier zwar nicht ganz, sie ist aber zu schwach, um die für Peripherie typische Verbauungsgeschwindigkeit und das daraus resultierende städtebauliche Chaos zu bewirken. Denn dieser als Transdanubien benannten Gegend hat die Hauptvoraussetzung einer jeden Stadtperipherie gefehlt: die kompakte Stadt, die Kernstadt, die Stadtmitte, an der sich die Peripherie ballen kann. Von dort aus, dem 21. und 22. Bezirk, betrachtet, befindet sich diese Stadtmitte (Wien) weit entfernt hinter der Donau, sie hat mit Hirschstetten, Eßling, Kaisermühlen, Stadlau, Stammersdorf, Jedlersdorf, Kagran, Jedlesee, Süßenbrunn, Leopoldau, Floridsdorf, Aspern, Biberhaufen, Copa Cagrana und wie all die hübschen alten Ortsnamen hier heißen mögen, nichts zu tun.

Man muß sich die anderen Stadtteile von Wien vergegenwärtigen, die man als Peripherien bezeichnet, den Süden von Wien vor allem, um die Unterschiede zum im Norden liegenden Transdanubien begreifen und in den rätselhaft einfachen Farbfotos von Steiner auskosten zu können. Im Süden wird die Landschaft von der bodengefräßigen Großstadt rasch und systematisch wie von einer gigantischen Mähmaschine weggemäht und flächendeckend mit Neubauten aller Art bedeckt, sodaß von dem ursprünglichen Land und dem ursprünglichen Gegensatz zwischen Stadt und Land und dem ursprünglichen Weichbild der Stadt nichts übrigbleibt. Dort aber, hinter der Donau, geht alles viel langsamer, weniger brutal, weniger entschlossen und, falls geplant, dann ohne Planungserfolg vor sich. Da wächst eine neue Siedlung, dort entsteht ein neuer Betrieb, und dazwischen bleiben Getreide- und Zuckerrübenfelder bestehen, jede Menge Zwischenbrachland, von dem man nicht genau sagen kann, wo es ist und was es ist und was daraus einmal werden wird.

Obwohl unvergleichbar vielfältiger, scheinen die Zustände hier viel weniger chaotisch zu sein als im Süden von Wien. Dort, im Süden, herrscht zielbewußt der unwirtliche frühkapitalistische Städtebau; im Norden hingegen gedeiht noch die spätfeudalistische Weit- und Beiläufigkeit, die man Gemütlichkeit nennen kann. Es ist weder Stadt noch Land oder ist sowohl Stadt als auch Land - und das, diese beiläufige Art der weitläufigen Stadt dort, macht die Orte so interessant und so angenehm. Es ist ein Dort, was Rupert Steiner jeweils aufgenommen hat, keine Peripherie.

Dort ist ein Ort, der nicht festlegbar ist, weil es hier so geworden ist, wie es ist: undefinierbar, unfaßbar und daher auch unplanbar. Es ist dies hier aber nicht ein Nicht-Ort oder gar ein Un-Ort, weil das, was Rupert Steiner aufgenommen hat, stets eine Identität aufweisen kann, eine weit gestreute Identität allerdings. Jedes Bild ist ein Weichbild und hat jeweils eine andere, weiche Identität.

Das Dort da, verstreut über eine Fläche von 3869,58 Hektar, ist eine andere Welt mit einer anderen Chronologie und einer anderen Zeitgeschwindigkeit als die sonstige Stadt mit ihren wirklichen Peripherien. Diesen Unterschied, diese Einzigartigkeit und Vielfalt der ortsgebundenen urbanen Lebensweisen hat Rupert Steiner aufgespürt. Wenn man sich einige Gebäude oder einige Situationen genauer anschaut, die Freilufttanzenden etwa oder die Weintrinkenden, so sieht man, daß hier die fünfziger Jahre weiterhin dauern, noch immer lebendig sind. Bei vielen Bildern kann man nicht sagen, wann sie aufgenommen wurden, erst heuer oder doch bereits vor 40 Jahren. Außerdem kann man nicht genau sagen, wo man sich befindet, in welcher Zeit und in welchem Land. Ist es erst die Slowakei oder schon Ungarn, oder ist es noch östlicher, in der Ukraine, oder noch südlicher, in Mazedonien. Dabei ist der Blick des Fotografen nicht ein nostalgischer, nicht ein romantisierender, das heißt, er macht die Gegend nicht besser oder schöner, als sie ist. Sie ist furchtbar, aber voll von hübschen und komischen Ecken und kleinen unauffälligen Privatparadiesen, das zeigt er.

Der liebevoll abschätzige Begriff Transdanubien, den es, wie ich vermute, seit Mark Aurel und dem Limes gibt, wird kaum mehr verwendet. Transdanubien ist ein Wort, das verschwindet wie die Orte dort und ihr Flair und ihre Weichbilder. Gleich hinter der Donau ist bereits eine zweite Stadtmitte entstanden, und die Weitläufigkeit und Beiläufigkeit beginnen sich langsam in Peripherien zu verwandeln. Das hat Rupert Steiner aufgenommen.

Die Ausstellung „Transdanubien“ ist bis 2.12. (täglich 16-21 Uhr) in der Kinogalerie des Künstlerhauses zu sehen.

Falter, Mi., 1998.11.18

Profil

1963 – 1968 Studium an der TU Brno
1968 – 1970 Studium der Grünraumgestaltung an der BOKU Wien
1970 – 1973 Studium der Architektur und Raumplanung an der TU Wien
Ausstellungskurator und Autor zahlreicher Publikationen

Lehrtätigkeit

1992 – 2009 Lehrbeauftragter an der Universität für angewandte Kunst in Wien
2000 – 2015 Gastprofessor an der Akademie der bildenden Künste in Bratislava

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