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01. Oktober 2025Hubertus Adam
db

Bürogebäude »HORTUS« in Allschwil (CH)

Das Postulat ökologischen Bauens kam in diesem Fall von der Bauherrschaft. Das Resultat: ein Bürobau, der zeigt, was möglich ist, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen und aus Experimenten ein Modellfall wird.

Das Postulat ökologischen Bauens kam in diesem Fall von der Bauherrschaft. Das Resultat: ein Bürobau, der zeigt, was möglich ist, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen und aus Experimenten ein Modellfall wird.

Eines der größten Entwicklungsgebiete der Region Basel liegt westlich der Metropole am Rheinknie, auf dem Gebiet der Gemeinde Allschwil und unmittelbar an der französischen Grenze.

Ein beliebiges generisches Gewerbegebiet wollte man vermeiden, und so entstand die Idee eines auf Life Sciences ausgerichteten Innovationsparks – Basel ist Pharmastandort par excellence. Der Switzerlands Innovation Park Basel Area (SIP) wird zwar im Sinne des Standort-Marketings öffentlich getragen und promotet; Entwicklung und Vermietung der Grundstücke erfolgen aber nach rein ökonomischen Kriterien. Einen großen Teil der Parzellen erwarb 2017 das Ostschweizer Immobilienunternehmen Senn, das seit dem gemeinsam mit Herzog & de Meuron errichteten Archiv- und Wohngebäude Helsinki auf dem Dreispitz-Areal in Basel (2007–14) intensiv mit dem Büro zusammenarbeitet. Vier der fünf Bauten, die Senn in Allschwil realisiert, wurden ebenfalls von Herzog & de Meuron entworfen. 2023 erfolgte die Eröffnung des gewaltigen, um einen eindrucksvollen bewaldeten Hofgarten gruppierten Main Campus HQ, des größten Gebäudes auf dem Areal. Die fünfgeschossige Betonstruktur, für Labornutzungen konzipiert, wird von in den Ecken situierten Treppenhäusern aus erschlossen und lässt sich bei Bedarf in bis zu acht Mieteinheiten pro Geschoss unterteilen.

Ökologisches Modellprojekt

Im Mai dieses Jahres wurde nun das benachbarte Gebäude »HORTUS« eingeweiht: 64,5 x 52 m, 23 m hoch, 12 500 m² Geschossfläche. Der Name verweist auf den von Piet Oudolf entworfenen Garten im Innenhof, er ist aber auch ein Akronym für House of Research, Technology, Utopia and Sustainability. Seit jeher interessieren sich Herzog & de Meuron für unprätentiöse Baumaterialien wie beim Steinhaus im italienischen Tavole (1988), dem Ricola-Lagerhaus in Laufen (1987) oder dem ebendort errichteten Kräuterzentrum mit seiner Stampflehmkonstruktion (2012); auch das Baumaterial Holz findet immer wieder Verwendung – vom Wohnhaus an der Hebelstrasse in Basel (1988) über das Naturbad in Riehen (2014) bis hin zu den diversen Bauten auf dem Chäserugg (2013–25). Dabei lag der Fokus aber stets eher auf der Einfachheit des Materials im Sinne der Arte povera oder dem Bezug zum Ort als auf den expliziten Kriterien der Nachhaltigkeit. Die Initiative zum ökologischen Bauen ging denn auch in diesem Fall nicht von den Architekten aus, sondern von dem 1965 gegründeten Familienunternehmen Senn; dieses war mit der Forderung angetreten, ein »radikal nachhaltiges Gebäude« zu realisieren.

Nachhaltigkeit bleibt allzu oft Lippenbekenntnis und kaschiert Greenwashing; HORTUS aber ist ein Bauwerk, bei dem das Thema ernst genommen wurde wie selten zuvor. Es ist in jeder Hinsicht ein experimentelles Projekt, aber unter den Rahmenbedingungen der Realität. Will heißen: Hier sind keine Subventionen geflossen, und das Gebäude muss sich als Mietobjekt auf dem Markt behaupten.

Die Vorgaben zu erfüllen bedeutete, auf CO2-intensive sowie hybride, also nicht sortenrein demontierbare Baumaterialien soweit immer möglich zu verzichten. Um den Einsatz von Beton zu minimieren, gibt es keine Unterkellerung: Das Gebäude ist vom Boden gelöst und ruht lediglich auf betonierten Punktfundamenten. Im Sommer zirkuliert damit die Luft unter dem Bauwerk, im Winter wird der Kälteeintrag reduziert; die Treppenläufe bestehen aus Stahl und lassen sich ausbauen oder notfalls ohne Materialverlust einschmelzen. Beton wird wie derzeit üblich auch nicht für aussteifende Kerne oder in den Decken verwendet. Und verleimte Brettschichtholzkonstruktionen kamen nur dort im Inneren zum Einsatz, wo sie aus konstruktiven Gründen unverzichtbar waren.

Um der Idee einer radikalen Nachhaltigkeit gerecht zu werden, arbeiteten Herzog & de Meuron mit den Ingenieuren ZPF, der Holzbaufirma Blumer Lehmann sowie dem Unternehmen Lehm Ton Erde des Vorarlberger Lehmbaupioniers Martin Rauch zusammen, der auch schon die Fassaden für das Ricola-Kräuterzentrum entwickelt hatte.

Lehmgewölbe aus der Feldfabrik

Die eigentliche Erfindung von HORTUS stellen die Deckenelemente dar, die eigens für das Projekt entwickelt wurden. Dabei handelt es sich um Vollholz-Rahmenkonstruktionen mit eingestampften Lehmgewölben von 12 cm Dicke. Sie vereinen verschiedene Vorteile: Sie lassen sich sortenrein zerlegen und recyceln, sie stellen eine thermische Masse dar, welche mit ihrer Trägheit das Binnenklima unterstützt – und sie gewähren überdies den Brandschutz. Dank der Bodenbeschaffenheit vor Ort konnte das Material aus einer Mischung von Lehm sowie lehmigem und sandigem Schotter mit Hilfe einer Feldfabrik auf einer Nachbarparzelle gewonnen und in die Holzrahmen integriert werden. Positiver Nebeneffekt: Das System ist inzwischen perfektioniert und lässt sich in verschiedenen Maßen für welche Bauprojekte auch immer einsetzen.

HORTUS ist fünfgeschossig und umschließt vierseitig den Gartenhof, der selbst nicht betreten werden kann, aber ringsum wie in einem japanischen Haus von einer Art von Engawa umgeben ist, also einer umlaufenden Terrasse. Das Erdgeschoss bietet Bereiche, die allen Mietenden, aber auch Externen offen stehen: ein Café-Restaurant, ein Fitnessstudio und zumietbare Besprechungs- und Konferenzräume in verschiedenen Größen.

Die vier Geschosse darüber lassen sich, ähnlich wie im viel größeren SIP Main Campus, flexibel unterteilen. Mit dem Unterschied, dass es sich hier um ein Büro- und kein Laborgebäude handelt. Das machte einen deutlich engeren Stützenraster möglich und erlaubte überdies einen deutlich geringeren Luftaustausch pro Stunde: Muss die Luft nebenan siebenmal gewechselt werden, reicht hier der Faktor 1,5. Eine mechanische Lüftung wurde eingebaut, die Fenster lassen sich aber auch manuell öffnen. Mächtige Holzstützen, die aufgrund der seismisch prekären Situation in der Region Basel verstrebt werden mussten, prägen die Räume. Je nach Traglast wechseln die Holzarten.

Solarpaneele auf dem Dach und in den Fassadenbändern, insgesamt 5 000 m², erzeugen so viel Energie, dass die Erstellung des Baus sich in 31 Jahren kompensiert hat.

Kein Mieterausbau

Angesprochen als Mieter werden kleine und mittlere Unternehmen, die Büroflächen von 200 bis 2 000 m² benötigen. Senn hat sich dazu entschieden, nicht im Rohbau zu vermieten, sondern den Innenausbau samt Trennwänden selbst durch Herzog & de Meuron realisieren zu lassen. Wer hier einzieht, muss also nur Mobiliar und Equipment mitbringen, alles andere ist vorhanden, auch beispielsweise die Teeküchen, die man sich gegebenenfalls auf Geschossebene mit den Nachbarn teilt. Das trägt zu einer hohen gestalterischen Konsistenz im Inneren bei, verhindert aber auch die am Ende zur umfassenden Entsorgung führende Materialschlacht, die bei mieterspezifischem Innenausbau üblich ist. Die Kosten, die man sich für den individuellen Innenausbau spart, investiert man in den gegenüber Vergleichsobjekten etwas höheren Mietpreis. Für Senn ist HORTUS eine komplizierte Kalkulation: Gegenüber einem konventionellen Massivbau waren die Erstellungskosten mit all ihren Experimenten kostenintensiver. Der Verzicht auf eine Unterkellerung reduzierte die Zahl der nutzbaren Kubikmeter und verhinderte die Auslagerung von Technik- und Lagerräumen in das Untergeschoss. All das war am Ende nur finanziell tragfähig, so Senn, weil man das Grundstück vergleichsweise kostengünstig erwerben konnte. Und weil die Flächen durch Auslagerung von gemeinschaftlich genutzten, und das heißt: nur temporär benötigten Flächen so effizient organisiert sind, dass die Mietenden weniger Fläche benötigen, dafür aber mehr pro Quadratmeter zahlen. Kommt hinzu, dass die Ästhetik überzeugt. Wie Jacques Herzog anlässlich der Eröffnung konstatierte: Entscheidend für die Nachhaltigkeit ist nicht zuletzt, dass man sich gerne in einem Gebäude aufhält und dort arbeitet. Denn nur diese Akzeptanz, vielleicht sogar Liebe garantiert Erfolg und damit dauerhaften Erfolg einer Immobilie.

db, Mi., 2025.10.01



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db 2025|10 Natürlich

13. Mai 2025Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Geisterbahn in die Zukunft: die 19. Architekturbiennale in Venedig

Noch nie war eine Architekturbiennale so überfüllt wie diese. Die willkürliche Auswahl überfordert, wenn man sich denn nicht einfach treiben lassen will.

Noch nie war eine Architekturbiennale so überfüllt wie diese. Die willkürliche Auswahl überfordert, wenn man sich denn nicht einfach treiben lassen will.

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13. März 2025Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Revolutionär und verkannt: Zwei Villen von Georg Lasius im Zürcher Englischviertel sollen abgerissen werden

Er gilt als einer der wichtigsten Zürcher Architekten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Weitestgehend unbeachtet geblieben sind zwei von Georg Lasius entworfene Bauten an der Freiestrasse, die ein Ensemble mit dem Atelier von Arnold Böcklin bilden. Ein geplanter Abriss droht die Zeugnisse des innovativen Bauens vor 150 Jahren zu vernichten.

Er gilt als einer der wichtigsten Zürcher Architekten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Weitestgehend unbeachtet geblieben sind zwei von Georg Lasius entworfene Bauten an der Freiestrasse, die ein Ensemble mit dem Atelier von Arnold Böcklin bilden. Ein geplanter Abriss droht die Zeugnisse des innovativen Bauens vor 150 Jahren zu vernichten.

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05. Dezember 2024Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Heller, luftiger, lichter denn je: Notre-Dame ist aus der Asche auferstanden

Wie gotische Architektur immateriell wird, lässt sich in der wiederaufgebauten Notre-Dame erleben.

Wie gotische Architektur immateriell wird, lässt sich in der wiederaufgebauten Notre-Dame erleben.

Die Bilder des einstürzenden Vierungsturms über dem brennenden Dachstuhl von Notre-Dame in Paris haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Nicht nur in das Bildgedächtnis der französischen Hauptstadt, nicht nur in jenes Frankreichs, sondern in dasjenige der Menschheit.

Es handelte sich bei der Pariser Brandkatastrophe der Nacht des 15. auf den 16. April 2019 nicht – wie zunächst befürchtet – um einen Terroranschlag oder vorsätzliche Brandstiftung. Was genau das Feuer ausgelöst hat, liess sich bislang nicht ermitteln; vielleicht ein Kurzschluss, vielleicht eine achtlos weggeworfene Zigarette. Um 18 Uhr 20 war der erste Feueralarm ausgelöst worden, um 19 Uhr 56 kollabierte der Vierungsturm und zerschlug Teile der Gewölbe.

Auf Basis von Drohnenaufnahmen gelang es der Feuerwehr, den Überschlag des Feuers vom lichterloh brennenden Dachstuhl auf die Westtürme zu verhindern. Als der Rauch am nächsten Tag verzogen war, zeigte sich, dass ausser dem eingestürzten Vierungsbereich sowie zwei ebenfalls durchbrochenen Gewölbejochen im Langhaus und einem im Querschiff die übrige Struktur gehalten hatte. Mobile Kunstschätze wie die Reliquie der Dornenkrone Christi waren noch während des Brands aus dem Gebäude gerettet worden.

Generalstabsmässige Planung

Unmittelbar nach der Katastrophe erklärte Emmanuel Macron, Notre-Dame werde in fünf Jahren wiederaufgebaut sein, schöner als je zuvor. Das war keine Amtsanmassung, denn seit der Trennung von Kirche und Staat im laizistischen Frankreich 1905 sind die bestehenden Kirchen und Synagogen Staatsbesitz und werden den Religionsgemeinschaften lediglich zur Nutzung überlassen.

Um den ehrgeizigen Zeitplan durchzusetzen, der angesichts der seinerzeit nicht übersehbaren Schadenslage bei Denkmalpflegern und Bauhistorikern zunächst auf heftige Kritik stiess, ernannte Macron den General Jean-Louis Georgelin, bis 2010 Generalstabschef der französischen Armee, zum Sonderbeauftragten für den Wiederaufbau. Gelungenes Krisenmanagement eignet sich stets zur Profilierung von Politikern, und französische Staatspräsidenten inszenieren sich überdies gerne – man denke an François Mitterrand – als machtbewusste Bauherren, welche der Nation architektonisch ihren Stempel aufdrücken.

Das ist passiert: Das Feuer in der Kathedrale wurde am 15. April 2019 gegen 18 Uhr 50 entdeckt. Der erste Feueralarm wurde allerdings bereits 18 Uhr 20 ausgelöst. Die Flammen schlugen bald hoch aus dem Dach der Kathedrale. Der Dachstock, bestehend aus rund 1300 Eichenbalken aus dem 13. Jahrhundert, fiel dem Feuer als Erstes zum Opfer. Der Brand brach höchstwahrscheinlich in der Nähe des Spitzturmes aus. Als Grund dafür wird von einem elektrischen Kurzschluss oder einer fallen gelassenen Zigarette eines Bauarbeiters ausgegangen. Gegen 20 Uhr ist der Spitzturm («flèche») weggebrochen. Die fallenden Elemente zerstörten einen Gewölbeabschnitt im Inneren des Mittelschiffs. Die Glockentürme wurden bei den Löscharbeiten priorisiert. Sie konnten weitestgehend erhalten bleiben. Auf einem mit Photogrammetrie aufgenommenen Bild kann man die Zerstörung im Inneren der Kathedrale erkennen. Der heruntergefallene Spitzturm, der Eichenbalken des Dachs sowie Steinbrocken des Gewölbes mit sich riss, hat im Kirchenschiff Mobiliar (Chorgestühl usw.) und einen Teil des Bodens beschädigt.

Auch wenn Macron die Fertigstellung zu den Olympischen Spielen lieber gesehen hätte und die offizielle Wiedereröffnung der Kathedrale nun erst am zweiten Dezemberwochenende gefeiert wird: Das Werk ist vollendet, fast im Zeitplan. Davon können andere Länder, in denen selbst deutlich weniger aufwendige Restaurierungsprojekte zu einem unkalkulierbaren zeitlichen Risiko werden, nur träumen.

Es gab aber auch glückliche Umstände, welche sich positiv auf die Restaurierungsarbeiten auswirkten. Einerseits bedurfte es nur weniger Tage, bis die avisierte Summe an Spendengeldern zusammengekommen war; die Milliardärsfamilien Arnault, Pinault und Bettencourt überschlugen sich nachgerade bei der Zusage von dreistelligen Millionenbeträgen. Fast 850 Millionen Euro wurden gespendet. Anderseits zeigte sich bei der Bauaufnahme, dass das bestehende Tragwerk den Brand überstanden hatte und auch viele Ausstattungsgegenstände wie die historischen Glasfenster weitgehend unversehrt geblieben waren.

Und schliesslich existierte ein im Vorfeld der gerade eingeleiteten Restaurierungskampagne erstelltes detailgenaues 3-D-Modell, sozusagen ein digitaler Zwilling der realen Kathedrale, der es erleichterte, die zerstörten Partien zu rekonstruieren.

Restabilisierung des Alten

Doch was bedeutet eigentlich Rekonstruktion, was Wiederaufbau? Notre-Dame ist über Jahrhunderte entstanden, wie andere Kathedralen auch. Der Ursprungsbau wurde in mehreren Bauetappen zwischen 1160 und 1250 errichtet. Im frühen 18. Jahrhundert erneuerte man die Querschiffgewölbe, und ausser den grossen Rosetten wurden die Buntglasfenster durch farbloses Glas ersetzt, das man in der Epoche des Klassizismus als neutral favorisierte.

Zur Zeit der Französischen Revolution galt Notre-Dame als Inbegriff des Ancien Régime schlechthin, der Skulpturenschmuck wurde zu weiten Teilen zerstört, wenn auch das Gebäude selbst zum Tempel des höchsten Wesens avancierte und damit vor weiteren Zerstörungen bewahrt blieb. Napoleon erneuerte die traditionelle liturgische Nutzung und liess sich in dem geschundenen Bauwerk 1804 zum Kaiser krönen. Victor Hugos Roman «Notre-Dame de Paris. 1482» (deutsch zumeist publiziert unter dem etwas irreführenden Titel «Der Glöckner von Notre-Dame») aus dem Jahr 1831 machte die Kathedrale zum zentralen historischen Schauplatz und trug zu ihrer positiven Neubewertung in der Zeit der Romantik bei.

Ohne das extrem erfolgreiche Buch wäre die 1844 einsetzende Renovierung unter dem damals 30-jährigen Eugène Viollet-le-Duc und seinem Partner Jean-Baptiste-Antoine Lassus nicht zustande gekommen. Restauration, so schrieb Viollet-le-Duc 1866, bedeute nicht, ein Gebäude instand zu halten, zu reparieren oder zu erneuern. «Vielmehr bedeutet es, es in einem vollständigen Zustand wiederherzustellen, den es möglicherweise noch nicht gab.»

Mit anderen Worten: Viollet-le-Duc baute mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts gotischer, als die Gotik es vermochte. Seine wohl markanteste Intervention: der spitz aufragende, aus Holz bestehende und mit Blei verkleidete Vierungsturm aus dem Jahr 1859, der mit 95 Metern über dem Boden sich 20 Meter mehr dem Himmel entgegenreckte als sein 1786 aufgrund von Baufälligkeit demontierter Vorgänger. Gerade dieser Turm wurde zur Ikone der Zerstörung des Jahres 2019.

Woran also anknüpfen beim Wiederaufbau? An den gotischen Bestandsbau? An die Umbauleistungen unter Viollet-le-Duc? Oder sollte man Zeichen des Neuen setzen? Macrons Diktum, Notre-Dame werde schöner entstehen denn je, liess sich vielleicht in Hinsicht auf das Letztgenannte interpretieren. Kam hinzu, dass Premierminister Édouard Philippe am 17. April 2019 einen Architekturwettbewerb für den Wiederaufbau in Aussicht gestellt hatte, bei dem Dach und Vierungsturm zum Thema werden sollten.

Der Wettbewerb kam nie zustande, und doch kursierten wenige Tage später verschiedene Vorschläge im Netz: ein gläsernes Dach aus Baccarat-Kristallen von Massimiliano und Doriana Fuksas; ein Gewächshaus im Dachstuhl samt Imkerstation vom jungen Büro NAB. Auch Lord Norman Foster, der Altmeister des britischen High Tech, phantasierte von einer Glasorgie oberhalb des Mauerkranzes.

Natürlich war die Frage berechtigt, ob es denn nicht eine zeitgenössische Lösung geben könnte. Und doch wirkten die zur Debatte stehenden Entwürfe eher modisch und zeitgeistig, aus dem Augenblick geboren, aber wenig dauerhaft; kein Ruhmesblatt für die Disziplin Architektur. Wie lautete doch das Diktum des Philosophen Hermann Lübbe: Das Alte restabilisiert sich, je rascher das Neue veraltet.

So auch in Paris: Umfragen zeigten, dass die Bevölkerung sich eine Wiederherstellung des Bestands wünschte. Und dem gemäss wurde auch im Juni 2020 entschieden – die Pläne für moderne Interventionen auf Dachebene gerieten zur Makulatur.

Farbe, Licht, Immaterialität

Für das riesige Team aus Historikern, Architekten, Bauarchäologen, Materialforschern und Digitalexperten waren damit Leitplanken gesetzt, innerhalb deren es eine Spur zu finden galt. Grundsätzliche Maxime: zurück zur Gotik, zurück zu Viollet-le-Duc. Die Gewölbe wurden wiederhergestellt mit dem Kalkstein aus dem Département Val-d’Oise, den schon Viollet-le-Duc genutzt hatte, da die ursprünglichen Pariser Vorkommen ausgebeutet waren. Für den Dachstuhl und die Konstruktion des Vierungsturms kamen 2000 Eichenstämme zum Einsatz – Holz von ungefähr 60 Jahre alten Bäumen, so wie man es nach heutiger Erkenntnis schon vor 800 Jahren verwendet hat.

Die Forschung ist ein Nebenprodukt, das ohne die Katastrophe nicht möglich gewesen wäre. Denn seit den Zeiten Viollet-le-Ducs ist niemand mehr so nahe an alle Bauteile in Notre-Dame herangekommen. Vieles hat die Beteiligten überrascht – so die massive Verwendung von Eisenankern zur Stabilisierung, die bislang erst aus dem 13. Jahrhundert bekannt war. Oder die mit 13 Zentimetern extrem dünne Gewölbeschale; in der vorangegangenen, viel niedrigeren Kathedrale von Sens betrug die Stärke noch 30 Zentimeter. Ein nicht zu unterschätzendes Resultat der vergangenen fünf Jahre: Erkenntnisgewinn.

Das Himmelstürmende der Gotik erklärt die Begeisterung, die Bauten dieser Stilepoche auch heute noch auslösen: bautechnische Potenziale ausreizen, immer noch etwas mehr von der Erde sich lösen. Die Kathedrale von Beauvais sollte mit ihrem Schiff 48 Meter Höhe erreichen, sie blieb ebenso Fragment wie der erst im 19. Jahrhundert vollendete Kölner Dom.

Mehr als 12 Millionen Besucher pro Jahr zählte Notre-Dame vor dem Brand. Diese Zahl dürfte nach der Wiedereröffnung steigen. Wer die wiederhergestellte Kathedrale besucht, wird seinen Augen kaum trauen. Verschwunden ist nicht nur der Bleistaub, der sich wie Mehltau nach dem Brand über das gesamte Innere gelegt hatte. Verschwunden sind auch Staub und Russ der vergangenen mehr als 150 Jahre. Die Kalksteinwände leuchten in ihrem hellen Farbton, sämtliche Glasfenster wurden ausgebaut und gereinigt, und auch die Kapellen des Chorumgangs erstrahlen in ihrem bunten Farbenglanz, den ihnen Viollet-le-Duc zugedacht hatte.

Von der Diözese beauftragt wurden der Bildhauer Guillaume Bardet für die Gestaltung des schlichten und würdigen Mobiliars aus dunkler Bronze (Altar, Bischofsstuhl, Lesepult, Tabernakel, Taufbecken) sowie die Designerin Ionna Vautrin für den Entwurf der 1500 Stühle aus Eichenholz. Noch steht die Umgebungsgestaltung aus, die der zurzeit international gefeierte belgische Landschaftsarchitekt Bas Smets verantwortet. Teil davon ist auch der Umbau der unter dem Vorplatz im Westen gelegenen Tiefgarage; sie soll zukünftig als Besucherzentrum dienen und damit den Publikumsfluss kanalisieren.

Pierre Nora, der grosse Historiker und Theoretiker der «lieux de mémoire», sieht in Notre-Dame einen der wichtigen französischen Erinnerungsorte. Von der Seine umflossen, steht die Kathedrale für Zentralität: in geografischer, historischer und kultureller Hinsicht, wie er kurz nach dem Brand dem «Figaro» gegenüber bekundete.

Sie ist aber noch mehr, nämlich neben dem Eiffelturm Symbol und Wahrzeichen von Paris schlechthin. Und Inbegriff des gotischen Bauens. Man muss kein Christ sein, man muss nicht einmal gläubig sein. Wie Architektur immateriell wird, wie das Lastende der steinernen Architektur in Licht und Farbe sich auflöst und auf ebenso wundersame wie kalkulierte Weise von filigranen Baugliedern gehalten und getragen wird, das lässt sich in der restaurierten Kathedrale erfahren, erleben und spüren wie kaum irgendwo sonst.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2024.12.05

28. Mai 2024Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Dresden lässt den Beton schweben – das neue Archiv der Avantgarden

Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben einen weiteren Standort erhalten: das Archiv der Avantgarden (ADA). Der Sammlungsbestand ist ebenso grossartig wie das von Nieto Sobejano umgebaute historische Blockhaus am Ufer der Elbe.

Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben einen weiteren Standort erhalten: das Archiv der Avantgarden (ADA). Der Sammlungsbestand ist ebenso grossartig wie das von Nieto Sobejano umgebaute historische Blockhaus am Ufer der Elbe.

Was für ein Glück für Dresden: 2016 schenkte der Kunstsammler Egidio Marzona sein Archiv der Avantgarden dem Freistaat Sachsen. Der in Bielefeld geborene Italiener, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, begann mit dem Sammeln Ende der sechziger Jahre und trat zunächst als Galerist und Verleger in Erscheinung. Er begann im Umfeld von Arte povera und Konzeptkunst, weitete sein Sammlungsspektrum dann aber auf nahezu sämtliche Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts aus, die sich mit dem Begriff der Avantgarde verbinden lassen.

Das Besondere: Marzona konzentriert sich nicht allein auf die Kunstwerke selber, sondern auch auf den Kontext ihres Entstehens. Die Sammlung mit derzeit ungefähr 1,5 Millionen Positionen – Marzona sammelt unermüdlich weiter – umfasst auch Korrespondenz, Einladungskarten, Gelegenheitszeichnungen, Manuskripte und andere Ephemera. Insofern ist der Titel Archiv berechtigt, auch wenn die Paarung mit dem Begriff der gemeinhin vergangenheitsblinden Avantgarden zunächst als Widerspruch erscheinen mag.

Avantgarde in Dresden

Einen kleineren Kunstbestand überliess Marzona 2002 den Staatlichen Museen in Berlin. Dresden erhielt schliesslich den Zuschlag, weil die Stadt das Angebot machte, das Archiv als Ganzes zu bewahren und nicht in bestehenden Sammlungsinstitutionen aufgehen zu lassen. Zudem ist ein Archiv der Avantgarden für die notorisch barockfixierte Stadt an der Elbe vielleicht auch von grösserer Bedeutung als für Berlin.

Es geht immer wieder vergessen, dass auch Dresden Stadt der Avantgarde war – man denke nur an die Expressionisten der Brücke, das Projekt Hellerau mit dem Schweizer Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze vor dem Ersten Weltkrieg oder das nach dem Mauerfall lancierte, aber leider unrealisierte Kunsthallenprojekt des jüngst verstorbenen Frank Stella.

Und ja, es gibt auch bemerkenswerte zeitgenössische Architektur. Man mag an das Militärhistorische Museum (2011) denken, ein ehemaliges Kasernenareal in der Nordstadt, das durch Daniel Libeskind umgebaut wurde; die szenografische Präsentation stammt massgeblich vom Zürcher Büro Holzer Kobler, das zwei Jahre später auch den Mathematisch-Physikalischen Salon im Zwinger neu gestaltete.

Auch dass Nieto Sobejano den Zuschlag für das Archiv der Avantgarden (ADA) erhielten, ist ein Glücksfall. Das Architekturbüro, 1984 von Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano in Madrid gegründet und inzwischen mit einer Dépendance auch in Berlin ansässig, hat sich auf Museumsbauten spezialisiert. Und ist damit europaweit erfolgreich. Es sind Neubauten, wie das Arvo-Pärt-Zentrum in der Nähe von Tallinn (2018), vor allem aber Umbauten – das Universalmuseum Joanneum in Graz (2012) und das Museum Moritzburg in Halle an der Saale (2008) zählen zu den wichtigsten.

Einen besseren Standort in Dresden als den des ADA könnte man kaum finden. Es handelt sich um das sogenannte Blockhaus an der Nordseite der Augustusbrücke, welche die historische Altstadt im Stadtzentrum mit der Dresdner Neustadt verbindet. Die Distanz zum vergangenheitsschwangeren Stadtkern ist konzeptionell durchaus von Vorteil – man muss das andere Ufer aufsuchen und ist doch von der Semperoper, der Frauenkirche oder dem Zwinger zu Fuss in ein paar Minuten dort.

Der am sächsischen Hof tätige französische Architekt Zacharias Longuelune hatte den Ursprungsbau am nordwestlichen Brückenkopf als Neustädter Wache 1732 errichtet; mehrfach umgebaut, fiel sie dem Bombardement der Stadt im Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Aus der Ruine wurde um 1980 das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, das älteren Dresdnern durch sein exquisit (und auch für DDR-Verhältnisse) ausgestattetes Restaurant in Erinnerung ist. Mit der institutionalisierten Deutsch-Sowjetischen Freundschaft war dann nach der Wende Schluss, und das Elbehochwasser des Jahres 2013 setzte der Nutzung des Gebäudes ein neuerliches Ende.

Keine Änderungen am Äusseren, das mit seiner gesprenkelten Fassade noch die Versehrungen des Kriegs zeigt – und Rekonstruktion der historischen Dachgestalt: Das waren die Forderungen der Denkmalpflege. Nähert man sich dem ADA also vom Stadtzentrum aus über die Augustusbrücke oder aus der Neustadt über den Platz am Goldenen Reiter – mit dem legendären Denkmal August des Starken –, so deutet eigentlich nichts auf den Umbau hin.

Umso überraschender ist es, wenn man in das Gebäude tritt. Nieto Sobejano hatten innerhalb des Volumens freie Hand und haben unterhalb des Dachs in das erhaltene Mauergeviert einen dreigeschossigen Kubus aus Beton gehängt. Er enthält das Archiv: zuoberst die Kunst, in der Mitte die Dokumente, zuunterst dreidimensionale Sammlungsstücke wie Design oder Möbel.

Die Last dieses mächtigen, aber wie schwebend erscheinenden Betonvolumens wird zum Teil über im Obergeschoss sichtbare Kragarme an den Ecken des Gebäudes abgetragen, aber auch horizontal in die Mauerschale eingeleitet. Einerseits ist die Idee, die Archivalien in die Höhe zu stemmen, eine Antwort auf die Hochwassersituation in Dresden. Und anderseits: Was könnte der Avantgarde angemessener sein als der Versuch, das Material Beton von seiner Schwerkraft zu befreien und zum Schweben zu bringen?

Aktivieren des Archivs

Das architektonische Konzept ist eigentlich simpel, es beschränkt sich auf wenige Elemente und Materialien: die Wände – innen gedämmt und weiss verputzt – und den schwebenden Kubus aus perfekt geschaltem Sichtbeton. Auf Unterteilungen wurde so weit wie möglich verzichtet. Der Ausstellungsraum im Erdgeschoss ist nicht geteilt, Entrée, Garderobe, Kasse und Ausstellungsfläche bilden ein Kontinuum. Eine Wendeltreppe hinten ermöglicht den Zugang zur Galerie mit Bibliothek und Räumen, in denen in die Sammlungsbestände Einsicht gewährt wird.

Achim Heine, Möbel- und Produktdesigner aus Berlin, hat die Einrichtung dieses Geschosses realisiert, das als Ausstellungs- und Arbeitsbereich zugleich dient. In einer der Vitrinen liegt das 1925 erschienene Buch «Die Kunstismen» von Hans Arp und El Lissitzky, das durchaus nicht frei von Ironie die Avantgarde in einzelne Richtungen gegliedert hat. Für Marzona bedeutete die Konfrontation mit dieser Publikation ein Schlüsselerlebnis. Und weil das Ordnungsprinzip seiner Sammlung darauf basiert, bildet es gewissermassen den Grundstein des ADA.

Tagsüber ist das ADA Gruppen oder an den Archivbeständen interessierten Nutzern vorbehalten. Erst nachmittags und abends öffnet es für das allgemeine Publikum. Unter dem Ausstellungsraum des Erdgeschosses befindet sich das öffentliche Café Fahrenheit 451. Zur Eröffnung und passend zum Hundert-Jahr-Jubiläum des Surrealismus ist nun die Ausstellung «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls» zu sehen.

Kuratiert von Przemysław Strożek, wurde die Schau von Formafantasma aus Mailand gestaltet. Auf die rohen Betonwände wird der Film «Dreams That Money Can Buy» (1947) projiziert, bei dem unter der Regie von Hans Richter unter anderem Max Ernst, Marcel Duchamp, Fernand Léger, Man Ray, Alexander Calder und – für die Musik – John Cage mitwirkten. Er bildet das Scharnier zwischen dem ersten Ausstellungsteil mit der surrealistischen Ära der Vorkriegszeit und dem zweiten, in dem das Nachwirken nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema wird.

[ «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls», Archiv der Avantgarden, Dresden, bis 1. September, Katalog. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2024.05.28

16. April 2024Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Shoah fand mitten im städtischen Alltag statt. In Amsterdam wurde das Nationaal Holocaustmuseum eröffnet

Die Gebäude beidseits der Plantage Middenlaan waren realer Schauplatz der Shoah in Amsterdam. Das Architekturbüro Office Winhov macht nun diesen historischen Ort sichtbar, verzichtet dabei aber auf spektakuläre Inszenierungen.

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22. Januar 2024Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Drei neue Gotteshäuser in Abu Dhabi testen das friedliche Nebeneinander

Das Abrahamic Family House besteht aus einer Synagoge, einer Moschee und einer Kirche. Die drei vom britisch-ghanaischen Architekten David Adjaye realisierten Gotteshäuser sind ein Plädoyer für religiöse Toleranz.

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27. Dezember 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Eine einmalige Karriere: Zum 100. Todestag von Gustave Eiffel

Diese Laufbahn war nur im 19. Jahrhundert möglich: Gustave Eiffel war der visionäre Unternehmer, dessen Name untrennbar mit dem für die Pariser Weltausstellung 1889 errichteten Turm verbunden ist.

Diese Laufbahn war nur im 19. Jahrhundert möglich: Gustave Eiffel war der visionäre Unternehmer, dessen Name untrennbar mit dem für die Pariser Weltausstellung 1889 errichteten Turm verbunden ist.

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Presseschau 12

01. Oktober 2025Hubertus Adam
db

Bürogebäude »HORTUS« in Allschwil (CH)

Das Postulat ökologischen Bauens kam in diesem Fall von der Bauherrschaft. Das Resultat: ein Bürobau, der zeigt, was möglich ist, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen und aus Experimenten ein Modellfall wird.

Das Postulat ökologischen Bauens kam in diesem Fall von der Bauherrschaft. Das Resultat: ein Bürobau, der zeigt, was möglich ist, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen und aus Experimenten ein Modellfall wird.

Eines der größten Entwicklungsgebiete der Region Basel liegt westlich der Metropole am Rheinknie, auf dem Gebiet der Gemeinde Allschwil und unmittelbar an der französischen Grenze.

Ein beliebiges generisches Gewerbegebiet wollte man vermeiden, und so entstand die Idee eines auf Life Sciences ausgerichteten Innovationsparks – Basel ist Pharmastandort par excellence. Der Switzerlands Innovation Park Basel Area (SIP) wird zwar im Sinne des Standort-Marketings öffentlich getragen und promotet; Entwicklung und Vermietung der Grundstücke erfolgen aber nach rein ökonomischen Kriterien. Einen großen Teil der Parzellen erwarb 2017 das Ostschweizer Immobilienunternehmen Senn, das seit dem gemeinsam mit Herzog & de Meuron errichteten Archiv- und Wohngebäude Helsinki auf dem Dreispitz-Areal in Basel (2007–14) intensiv mit dem Büro zusammenarbeitet. Vier der fünf Bauten, die Senn in Allschwil realisiert, wurden ebenfalls von Herzog & de Meuron entworfen. 2023 erfolgte die Eröffnung des gewaltigen, um einen eindrucksvollen bewaldeten Hofgarten gruppierten Main Campus HQ, des größten Gebäudes auf dem Areal. Die fünfgeschossige Betonstruktur, für Labornutzungen konzipiert, wird von in den Ecken situierten Treppenhäusern aus erschlossen und lässt sich bei Bedarf in bis zu acht Mieteinheiten pro Geschoss unterteilen.

Ökologisches Modellprojekt

Im Mai dieses Jahres wurde nun das benachbarte Gebäude »HORTUS« eingeweiht: 64,5 x 52 m, 23 m hoch, 12 500 m² Geschossfläche. Der Name verweist auf den von Piet Oudolf entworfenen Garten im Innenhof, er ist aber auch ein Akronym für House of Research, Technology, Utopia and Sustainability. Seit jeher interessieren sich Herzog & de Meuron für unprätentiöse Baumaterialien wie beim Steinhaus im italienischen Tavole (1988), dem Ricola-Lagerhaus in Laufen (1987) oder dem ebendort errichteten Kräuterzentrum mit seiner Stampflehmkonstruktion (2012); auch das Baumaterial Holz findet immer wieder Verwendung – vom Wohnhaus an der Hebelstrasse in Basel (1988) über das Naturbad in Riehen (2014) bis hin zu den diversen Bauten auf dem Chäserugg (2013–25). Dabei lag der Fokus aber stets eher auf der Einfachheit des Materials im Sinne der Arte povera oder dem Bezug zum Ort als auf den expliziten Kriterien der Nachhaltigkeit. Die Initiative zum ökologischen Bauen ging denn auch in diesem Fall nicht von den Architekten aus, sondern von dem 1965 gegründeten Familienunternehmen Senn; dieses war mit der Forderung angetreten, ein »radikal nachhaltiges Gebäude« zu realisieren.

Nachhaltigkeit bleibt allzu oft Lippenbekenntnis und kaschiert Greenwashing; HORTUS aber ist ein Bauwerk, bei dem das Thema ernst genommen wurde wie selten zuvor. Es ist in jeder Hinsicht ein experimentelles Projekt, aber unter den Rahmenbedingungen der Realität. Will heißen: Hier sind keine Subventionen geflossen, und das Gebäude muss sich als Mietobjekt auf dem Markt behaupten.

Die Vorgaben zu erfüllen bedeutete, auf CO2-intensive sowie hybride, also nicht sortenrein demontierbare Baumaterialien soweit immer möglich zu verzichten. Um den Einsatz von Beton zu minimieren, gibt es keine Unterkellerung: Das Gebäude ist vom Boden gelöst und ruht lediglich auf betonierten Punktfundamenten. Im Sommer zirkuliert damit die Luft unter dem Bauwerk, im Winter wird der Kälteeintrag reduziert; die Treppenläufe bestehen aus Stahl und lassen sich ausbauen oder notfalls ohne Materialverlust einschmelzen. Beton wird wie derzeit üblich auch nicht für aussteifende Kerne oder in den Decken verwendet. Und verleimte Brettschichtholzkonstruktionen kamen nur dort im Inneren zum Einsatz, wo sie aus konstruktiven Gründen unverzichtbar waren.

Um der Idee einer radikalen Nachhaltigkeit gerecht zu werden, arbeiteten Herzog & de Meuron mit den Ingenieuren ZPF, der Holzbaufirma Blumer Lehmann sowie dem Unternehmen Lehm Ton Erde des Vorarlberger Lehmbaupioniers Martin Rauch zusammen, der auch schon die Fassaden für das Ricola-Kräuterzentrum entwickelt hatte.

Lehmgewölbe aus der Feldfabrik

Die eigentliche Erfindung von HORTUS stellen die Deckenelemente dar, die eigens für das Projekt entwickelt wurden. Dabei handelt es sich um Vollholz-Rahmenkonstruktionen mit eingestampften Lehmgewölben von 12 cm Dicke. Sie vereinen verschiedene Vorteile: Sie lassen sich sortenrein zerlegen und recyceln, sie stellen eine thermische Masse dar, welche mit ihrer Trägheit das Binnenklima unterstützt – und sie gewähren überdies den Brandschutz. Dank der Bodenbeschaffenheit vor Ort konnte das Material aus einer Mischung von Lehm sowie lehmigem und sandigem Schotter mit Hilfe einer Feldfabrik auf einer Nachbarparzelle gewonnen und in die Holzrahmen integriert werden. Positiver Nebeneffekt: Das System ist inzwischen perfektioniert und lässt sich in verschiedenen Maßen für welche Bauprojekte auch immer einsetzen.

HORTUS ist fünfgeschossig und umschließt vierseitig den Gartenhof, der selbst nicht betreten werden kann, aber ringsum wie in einem japanischen Haus von einer Art von Engawa umgeben ist, also einer umlaufenden Terrasse. Das Erdgeschoss bietet Bereiche, die allen Mietenden, aber auch Externen offen stehen: ein Café-Restaurant, ein Fitnessstudio und zumietbare Besprechungs- und Konferenzräume in verschiedenen Größen.

Die vier Geschosse darüber lassen sich, ähnlich wie im viel größeren SIP Main Campus, flexibel unterteilen. Mit dem Unterschied, dass es sich hier um ein Büro- und kein Laborgebäude handelt. Das machte einen deutlich engeren Stützenraster möglich und erlaubte überdies einen deutlich geringeren Luftaustausch pro Stunde: Muss die Luft nebenan siebenmal gewechselt werden, reicht hier der Faktor 1,5. Eine mechanische Lüftung wurde eingebaut, die Fenster lassen sich aber auch manuell öffnen. Mächtige Holzstützen, die aufgrund der seismisch prekären Situation in der Region Basel verstrebt werden mussten, prägen die Räume. Je nach Traglast wechseln die Holzarten.

Solarpaneele auf dem Dach und in den Fassadenbändern, insgesamt 5 000 m², erzeugen so viel Energie, dass die Erstellung des Baus sich in 31 Jahren kompensiert hat.

Kein Mieterausbau

Angesprochen als Mieter werden kleine und mittlere Unternehmen, die Büroflächen von 200 bis 2 000 m² benötigen. Senn hat sich dazu entschieden, nicht im Rohbau zu vermieten, sondern den Innenausbau samt Trennwänden selbst durch Herzog & de Meuron realisieren zu lassen. Wer hier einzieht, muss also nur Mobiliar und Equipment mitbringen, alles andere ist vorhanden, auch beispielsweise die Teeküchen, die man sich gegebenenfalls auf Geschossebene mit den Nachbarn teilt. Das trägt zu einer hohen gestalterischen Konsistenz im Inneren bei, verhindert aber auch die am Ende zur umfassenden Entsorgung führende Materialschlacht, die bei mieterspezifischem Innenausbau üblich ist. Die Kosten, die man sich für den individuellen Innenausbau spart, investiert man in den gegenüber Vergleichsobjekten etwas höheren Mietpreis. Für Senn ist HORTUS eine komplizierte Kalkulation: Gegenüber einem konventionellen Massivbau waren die Erstellungskosten mit all ihren Experimenten kostenintensiver. Der Verzicht auf eine Unterkellerung reduzierte die Zahl der nutzbaren Kubikmeter und verhinderte die Auslagerung von Technik- und Lagerräumen in das Untergeschoss. All das war am Ende nur finanziell tragfähig, so Senn, weil man das Grundstück vergleichsweise kostengünstig erwerben konnte. Und weil die Flächen durch Auslagerung von gemeinschaftlich genutzten, und das heißt: nur temporär benötigten Flächen so effizient organisiert sind, dass die Mietenden weniger Fläche benötigen, dafür aber mehr pro Quadratmeter zahlen. Kommt hinzu, dass die Ästhetik überzeugt. Wie Jacques Herzog anlässlich der Eröffnung konstatierte: Entscheidend für die Nachhaltigkeit ist nicht zuletzt, dass man sich gerne in einem Gebäude aufhält und dort arbeitet. Denn nur diese Akzeptanz, vielleicht sogar Liebe garantiert Erfolg und damit dauerhaften Erfolg einer Immobilie.

db, Mi., 2025.10.01



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13. Mai 2025Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Geisterbahn in die Zukunft: die 19. Architekturbiennale in Venedig

Noch nie war eine Architekturbiennale so überfüllt wie diese. Die willkürliche Auswahl überfordert, wenn man sich denn nicht einfach treiben lassen will.

Noch nie war eine Architekturbiennale so überfüllt wie diese. Die willkürliche Auswahl überfordert, wenn man sich denn nicht einfach treiben lassen will.

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13. März 2025Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Revolutionär und verkannt: Zwei Villen von Georg Lasius im Zürcher Englischviertel sollen abgerissen werden

Er gilt als einer der wichtigsten Zürcher Architekten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Weitestgehend unbeachtet geblieben sind zwei von Georg Lasius entworfene Bauten an der Freiestrasse, die ein Ensemble mit dem Atelier von Arnold Böcklin bilden. Ein geplanter Abriss droht die Zeugnisse des innovativen Bauens vor 150 Jahren zu vernichten.

Er gilt als einer der wichtigsten Zürcher Architekten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Weitestgehend unbeachtet geblieben sind zwei von Georg Lasius entworfene Bauten an der Freiestrasse, die ein Ensemble mit dem Atelier von Arnold Böcklin bilden. Ein geplanter Abriss droht die Zeugnisse des innovativen Bauens vor 150 Jahren zu vernichten.

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05. Dezember 2024Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Heller, luftiger, lichter denn je: Notre-Dame ist aus der Asche auferstanden

Wie gotische Architektur immateriell wird, lässt sich in der wiederaufgebauten Notre-Dame erleben.

Wie gotische Architektur immateriell wird, lässt sich in der wiederaufgebauten Notre-Dame erleben.

Die Bilder des einstürzenden Vierungsturms über dem brennenden Dachstuhl von Notre-Dame in Paris haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Nicht nur in das Bildgedächtnis der französischen Hauptstadt, nicht nur in jenes Frankreichs, sondern in dasjenige der Menschheit.

Es handelte sich bei der Pariser Brandkatastrophe der Nacht des 15. auf den 16. April 2019 nicht – wie zunächst befürchtet – um einen Terroranschlag oder vorsätzliche Brandstiftung. Was genau das Feuer ausgelöst hat, liess sich bislang nicht ermitteln; vielleicht ein Kurzschluss, vielleicht eine achtlos weggeworfene Zigarette. Um 18 Uhr 20 war der erste Feueralarm ausgelöst worden, um 19 Uhr 56 kollabierte der Vierungsturm und zerschlug Teile der Gewölbe.

Auf Basis von Drohnenaufnahmen gelang es der Feuerwehr, den Überschlag des Feuers vom lichterloh brennenden Dachstuhl auf die Westtürme zu verhindern. Als der Rauch am nächsten Tag verzogen war, zeigte sich, dass ausser dem eingestürzten Vierungsbereich sowie zwei ebenfalls durchbrochenen Gewölbejochen im Langhaus und einem im Querschiff die übrige Struktur gehalten hatte. Mobile Kunstschätze wie die Reliquie der Dornenkrone Christi waren noch während des Brands aus dem Gebäude gerettet worden.

Generalstabsmässige Planung

Unmittelbar nach der Katastrophe erklärte Emmanuel Macron, Notre-Dame werde in fünf Jahren wiederaufgebaut sein, schöner als je zuvor. Das war keine Amtsanmassung, denn seit der Trennung von Kirche und Staat im laizistischen Frankreich 1905 sind die bestehenden Kirchen und Synagogen Staatsbesitz und werden den Religionsgemeinschaften lediglich zur Nutzung überlassen.

Um den ehrgeizigen Zeitplan durchzusetzen, der angesichts der seinerzeit nicht übersehbaren Schadenslage bei Denkmalpflegern und Bauhistorikern zunächst auf heftige Kritik stiess, ernannte Macron den General Jean-Louis Georgelin, bis 2010 Generalstabschef der französischen Armee, zum Sonderbeauftragten für den Wiederaufbau. Gelungenes Krisenmanagement eignet sich stets zur Profilierung von Politikern, und französische Staatspräsidenten inszenieren sich überdies gerne – man denke an François Mitterrand – als machtbewusste Bauherren, welche der Nation architektonisch ihren Stempel aufdrücken.

Das ist passiert: Das Feuer in der Kathedrale wurde am 15. April 2019 gegen 18 Uhr 50 entdeckt. Der erste Feueralarm wurde allerdings bereits 18 Uhr 20 ausgelöst. Die Flammen schlugen bald hoch aus dem Dach der Kathedrale. Der Dachstock, bestehend aus rund 1300 Eichenbalken aus dem 13. Jahrhundert, fiel dem Feuer als Erstes zum Opfer. Der Brand brach höchstwahrscheinlich in der Nähe des Spitzturmes aus. Als Grund dafür wird von einem elektrischen Kurzschluss oder einer fallen gelassenen Zigarette eines Bauarbeiters ausgegangen. Gegen 20 Uhr ist der Spitzturm («flèche») weggebrochen. Die fallenden Elemente zerstörten einen Gewölbeabschnitt im Inneren des Mittelschiffs. Die Glockentürme wurden bei den Löscharbeiten priorisiert. Sie konnten weitestgehend erhalten bleiben. Auf einem mit Photogrammetrie aufgenommenen Bild kann man die Zerstörung im Inneren der Kathedrale erkennen. Der heruntergefallene Spitzturm, der Eichenbalken des Dachs sowie Steinbrocken des Gewölbes mit sich riss, hat im Kirchenschiff Mobiliar (Chorgestühl usw.) und einen Teil des Bodens beschädigt.

Auch wenn Macron die Fertigstellung zu den Olympischen Spielen lieber gesehen hätte und die offizielle Wiedereröffnung der Kathedrale nun erst am zweiten Dezemberwochenende gefeiert wird: Das Werk ist vollendet, fast im Zeitplan. Davon können andere Länder, in denen selbst deutlich weniger aufwendige Restaurierungsprojekte zu einem unkalkulierbaren zeitlichen Risiko werden, nur träumen.

Es gab aber auch glückliche Umstände, welche sich positiv auf die Restaurierungsarbeiten auswirkten. Einerseits bedurfte es nur weniger Tage, bis die avisierte Summe an Spendengeldern zusammengekommen war; die Milliardärsfamilien Arnault, Pinault und Bettencourt überschlugen sich nachgerade bei der Zusage von dreistelligen Millionenbeträgen. Fast 850 Millionen Euro wurden gespendet. Anderseits zeigte sich bei der Bauaufnahme, dass das bestehende Tragwerk den Brand überstanden hatte und auch viele Ausstattungsgegenstände wie die historischen Glasfenster weitgehend unversehrt geblieben waren.

Und schliesslich existierte ein im Vorfeld der gerade eingeleiteten Restaurierungskampagne erstelltes detailgenaues 3-D-Modell, sozusagen ein digitaler Zwilling der realen Kathedrale, der es erleichterte, die zerstörten Partien zu rekonstruieren.

Restabilisierung des Alten

Doch was bedeutet eigentlich Rekonstruktion, was Wiederaufbau? Notre-Dame ist über Jahrhunderte entstanden, wie andere Kathedralen auch. Der Ursprungsbau wurde in mehreren Bauetappen zwischen 1160 und 1250 errichtet. Im frühen 18. Jahrhundert erneuerte man die Querschiffgewölbe, und ausser den grossen Rosetten wurden die Buntglasfenster durch farbloses Glas ersetzt, das man in der Epoche des Klassizismus als neutral favorisierte.

Zur Zeit der Französischen Revolution galt Notre-Dame als Inbegriff des Ancien Régime schlechthin, der Skulpturenschmuck wurde zu weiten Teilen zerstört, wenn auch das Gebäude selbst zum Tempel des höchsten Wesens avancierte und damit vor weiteren Zerstörungen bewahrt blieb. Napoleon erneuerte die traditionelle liturgische Nutzung und liess sich in dem geschundenen Bauwerk 1804 zum Kaiser krönen. Victor Hugos Roman «Notre-Dame de Paris. 1482» (deutsch zumeist publiziert unter dem etwas irreführenden Titel «Der Glöckner von Notre-Dame») aus dem Jahr 1831 machte die Kathedrale zum zentralen historischen Schauplatz und trug zu ihrer positiven Neubewertung in der Zeit der Romantik bei.

Ohne das extrem erfolgreiche Buch wäre die 1844 einsetzende Renovierung unter dem damals 30-jährigen Eugène Viollet-le-Duc und seinem Partner Jean-Baptiste-Antoine Lassus nicht zustande gekommen. Restauration, so schrieb Viollet-le-Duc 1866, bedeute nicht, ein Gebäude instand zu halten, zu reparieren oder zu erneuern. «Vielmehr bedeutet es, es in einem vollständigen Zustand wiederherzustellen, den es möglicherweise noch nicht gab.»

Mit anderen Worten: Viollet-le-Duc baute mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts gotischer, als die Gotik es vermochte. Seine wohl markanteste Intervention: der spitz aufragende, aus Holz bestehende und mit Blei verkleidete Vierungsturm aus dem Jahr 1859, der mit 95 Metern über dem Boden sich 20 Meter mehr dem Himmel entgegenreckte als sein 1786 aufgrund von Baufälligkeit demontierter Vorgänger. Gerade dieser Turm wurde zur Ikone der Zerstörung des Jahres 2019.

Woran also anknüpfen beim Wiederaufbau? An den gotischen Bestandsbau? An die Umbauleistungen unter Viollet-le-Duc? Oder sollte man Zeichen des Neuen setzen? Macrons Diktum, Notre-Dame werde schöner entstehen denn je, liess sich vielleicht in Hinsicht auf das Letztgenannte interpretieren. Kam hinzu, dass Premierminister Édouard Philippe am 17. April 2019 einen Architekturwettbewerb für den Wiederaufbau in Aussicht gestellt hatte, bei dem Dach und Vierungsturm zum Thema werden sollten.

Der Wettbewerb kam nie zustande, und doch kursierten wenige Tage später verschiedene Vorschläge im Netz: ein gläsernes Dach aus Baccarat-Kristallen von Massimiliano und Doriana Fuksas; ein Gewächshaus im Dachstuhl samt Imkerstation vom jungen Büro NAB. Auch Lord Norman Foster, der Altmeister des britischen High Tech, phantasierte von einer Glasorgie oberhalb des Mauerkranzes.

Natürlich war die Frage berechtigt, ob es denn nicht eine zeitgenössische Lösung geben könnte. Und doch wirkten die zur Debatte stehenden Entwürfe eher modisch und zeitgeistig, aus dem Augenblick geboren, aber wenig dauerhaft; kein Ruhmesblatt für die Disziplin Architektur. Wie lautete doch das Diktum des Philosophen Hermann Lübbe: Das Alte restabilisiert sich, je rascher das Neue veraltet.

So auch in Paris: Umfragen zeigten, dass die Bevölkerung sich eine Wiederherstellung des Bestands wünschte. Und dem gemäss wurde auch im Juni 2020 entschieden – die Pläne für moderne Interventionen auf Dachebene gerieten zur Makulatur.

Farbe, Licht, Immaterialität

Für das riesige Team aus Historikern, Architekten, Bauarchäologen, Materialforschern und Digitalexperten waren damit Leitplanken gesetzt, innerhalb deren es eine Spur zu finden galt. Grundsätzliche Maxime: zurück zur Gotik, zurück zu Viollet-le-Duc. Die Gewölbe wurden wiederhergestellt mit dem Kalkstein aus dem Département Val-d’Oise, den schon Viollet-le-Duc genutzt hatte, da die ursprünglichen Pariser Vorkommen ausgebeutet waren. Für den Dachstuhl und die Konstruktion des Vierungsturms kamen 2000 Eichenstämme zum Einsatz – Holz von ungefähr 60 Jahre alten Bäumen, so wie man es nach heutiger Erkenntnis schon vor 800 Jahren verwendet hat.

Die Forschung ist ein Nebenprodukt, das ohne die Katastrophe nicht möglich gewesen wäre. Denn seit den Zeiten Viollet-le-Ducs ist niemand mehr so nahe an alle Bauteile in Notre-Dame herangekommen. Vieles hat die Beteiligten überrascht – so die massive Verwendung von Eisenankern zur Stabilisierung, die bislang erst aus dem 13. Jahrhundert bekannt war. Oder die mit 13 Zentimetern extrem dünne Gewölbeschale; in der vorangegangenen, viel niedrigeren Kathedrale von Sens betrug die Stärke noch 30 Zentimeter. Ein nicht zu unterschätzendes Resultat der vergangenen fünf Jahre: Erkenntnisgewinn.

Das Himmelstürmende der Gotik erklärt die Begeisterung, die Bauten dieser Stilepoche auch heute noch auslösen: bautechnische Potenziale ausreizen, immer noch etwas mehr von der Erde sich lösen. Die Kathedrale von Beauvais sollte mit ihrem Schiff 48 Meter Höhe erreichen, sie blieb ebenso Fragment wie der erst im 19. Jahrhundert vollendete Kölner Dom.

Mehr als 12 Millionen Besucher pro Jahr zählte Notre-Dame vor dem Brand. Diese Zahl dürfte nach der Wiedereröffnung steigen. Wer die wiederhergestellte Kathedrale besucht, wird seinen Augen kaum trauen. Verschwunden ist nicht nur der Bleistaub, der sich wie Mehltau nach dem Brand über das gesamte Innere gelegt hatte. Verschwunden sind auch Staub und Russ der vergangenen mehr als 150 Jahre. Die Kalksteinwände leuchten in ihrem hellen Farbton, sämtliche Glasfenster wurden ausgebaut und gereinigt, und auch die Kapellen des Chorumgangs erstrahlen in ihrem bunten Farbenglanz, den ihnen Viollet-le-Duc zugedacht hatte.

Von der Diözese beauftragt wurden der Bildhauer Guillaume Bardet für die Gestaltung des schlichten und würdigen Mobiliars aus dunkler Bronze (Altar, Bischofsstuhl, Lesepult, Tabernakel, Taufbecken) sowie die Designerin Ionna Vautrin für den Entwurf der 1500 Stühle aus Eichenholz. Noch steht die Umgebungsgestaltung aus, die der zurzeit international gefeierte belgische Landschaftsarchitekt Bas Smets verantwortet. Teil davon ist auch der Umbau der unter dem Vorplatz im Westen gelegenen Tiefgarage; sie soll zukünftig als Besucherzentrum dienen und damit den Publikumsfluss kanalisieren.

Pierre Nora, der grosse Historiker und Theoretiker der «lieux de mémoire», sieht in Notre-Dame einen der wichtigen französischen Erinnerungsorte. Von der Seine umflossen, steht die Kathedrale für Zentralität: in geografischer, historischer und kultureller Hinsicht, wie er kurz nach dem Brand dem «Figaro» gegenüber bekundete.

Sie ist aber noch mehr, nämlich neben dem Eiffelturm Symbol und Wahrzeichen von Paris schlechthin. Und Inbegriff des gotischen Bauens. Man muss kein Christ sein, man muss nicht einmal gläubig sein. Wie Architektur immateriell wird, wie das Lastende der steinernen Architektur in Licht und Farbe sich auflöst und auf ebenso wundersame wie kalkulierte Weise von filigranen Baugliedern gehalten und getragen wird, das lässt sich in der restaurierten Kathedrale erfahren, erleben und spüren wie kaum irgendwo sonst.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2024.12.05

28. Mai 2024Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Dresden lässt den Beton schweben – das neue Archiv der Avantgarden

Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben einen weiteren Standort erhalten: das Archiv der Avantgarden (ADA). Der Sammlungsbestand ist ebenso grossartig wie das von Nieto Sobejano umgebaute historische Blockhaus am Ufer der Elbe.

Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben einen weiteren Standort erhalten: das Archiv der Avantgarden (ADA). Der Sammlungsbestand ist ebenso grossartig wie das von Nieto Sobejano umgebaute historische Blockhaus am Ufer der Elbe.

Was für ein Glück für Dresden: 2016 schenkte der Kunstsammler Egidio Marzona sein Archiv der Avantgarden dem Freistaat Sachsen. Der in Bielefeld geborene Italiener, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, begann mit dem Sammeln Ende der sechziger Jahre und trat zunächst als Galerist und Verleger in Erscheinung. Er begann im Umfeld von Arte povera und Konzeptkunst, weitete sein Sammlungsspektrum dann aber auf nahezu sämtliche Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts aus, die sich mit dem Begriff der Avantgarde verbinden lassen.

Das Besondere: Marzona konzentriert sich nicht allein auf die Kunstwerke selber, sondern auch auf den Kontext ihres Entstehens. Die Sammlung mit derzeit ungefähr 1,5 Millionen Positionen – Marzona sammelt unermüdlich weiter – umfasst auch Korrespondenz, Einladungskarten, Gelegenheitszeichnungen, Manuskripte und andere Ephemera. Insofern ist der Titel Archiv berechtigt, auch wenn die Paarung mit dem Begriff der gemeinhin vergangenheitsblinden Avantgarden zunächst als Widerspruch erscheinen mag.

Avantgarde in Dresden

Einen kleineren Kunstbestand überliess Marzona 2002 den Staatlichen Museen in Berlin. Dresden erhielt schliesslich den Zuschlag, weil die Stadt das Angebot machte, das Archiv als Ganzes zu bewahren und nicht in bestehenden Sammlungsinstitutionen aufgehen zu lassen. Zudem ist ein Archiv der Avantgarden für die notorisch barockfixierte Stadt an der Elbe vielleicht auch von grösserer Bedeutung als für Berlin.

Es geht immer wieder vergessen, dass auch Dresden Stadt der Avantgarde war – man denke nur an die Expressionisten der Brücke, das Projekt Hellerau mit dem Schweizer Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze vor dem Ersten Weltkrieg oder das nach dem Mauerfall lancierte, aber leider unrealisierte Kunsthallenprojekt des jüngst verstorbenen Frank Stella.

Und ja, es gibt auch bemerkenswerte zeitgenössische Architektur. Man mag an das Militärhistorische Museum (2011) denken, ein ehemaliges Kasernenareal in der Nordstadt, das durch Daniel Libeskind umgebaut wurde; die szenografische Präsentation stammt massgeblich vom Zürcher Büro Holzer Kobler, das zwei Jahre später auch den Mathematisch-Physikalischen Salon im Zwinger neu gestaltete.

Auch dass Nieto Sobejano den Zuschlag für das Archiv der Avantgarden (ADA) erhielten, ist ein Glücksfall. Das Architekturbüro, 1984 von Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano in Madrid gegründet und inzwischen mit einer Dépendance auch in Berlin ansässig, hat sich auf Museumsbauten spezialisiert. Und ist damit europaweit erfolgreich. Es sind Neubauten, wie das Arvo-Pärt-Zentrum in der Nähe von Tallinn (2018), vor allem aber Umbauten – das Universalmuseum Joanneum in Graz (2012) und das Museum Moritzburg in Halle an der Saale (2008) zählen zu den wichtigsten.

Einen besseren Standort in Dresden als den des ADA könnte man kaum finden. Es handelt sich um das sogenannte Blockhaus an der Nordseite der Augustusbrücke, welche die historische Altstadt im Stadtzentrum mit der Dresdner Neustadt verbindet. Die Distanz zum vergangenheitsschwangeren Stadtkern ist konzeptionell durchaus von Vorteil – man muss das andere Ufer aufsuchen und ist doch von der Semperoper, der Frauenkirche oder dem Zwinger zu Fuss in ein paar Minuten dort.

Der am sächsischen Hof tätige französische Architekt Zacharias Longuelune hatte den Ursprungsbau am nordwestlichen Brückenkopf als Neustädter Wache 1732 errichtet; mehrfach umgebaut, fiel sie dem Bombardement der Stadt im Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Aus der Ruine wurde um 1980 das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, das älteren Dresdnern durch sein exquisit (und auch für DDR-Verhältnisse) ausgestattetes Restaurant in Erinnerung ist. Mit der institutionalisierten Deutsch-Sowjetischen Freundschaft war dann nach der Wende Schluss, und das Elbehochwasser des Jahres 2013 setzte der Nutzung des Gebäudes ein neuerliches Ende.

Keine Änderungen am Äusseren, das mit seiner gesprenkelten Fassade noch die Versehrungen des Kriegs zeigt – und Rekonstruktion der historischen Dachgestalt: Das waren die Forderungen der Denkmalpflege. Nähert man sich dem ADA also vom Stadtzentrum aus über die Augustusbrücke oder aus der Neustadt über den Platz am Goldenen Reiter – mit dem legendären Denkmal August des Starken –, so deutet eigentlich nichts auf den Umbau hin.

Umso überraschender ist es, wenn man in das Gebäude tritt. Nieto Sobejano hatten innerhalb des Volumens freie Hand und haben unterhalb des Dachs in das erhaltene Mauergeviert einen dreigeschossigen Kubus aus Beton gehängt. Er enthält das Archiv: zuoberst die Kunst, in der Mitte die Dokumente, zuunterst dreidimensionale Sammlungsstücke wie Design oder Möbel.

Die Last dieses mächtigen, aber wie schwebend erscheinenden Betonvolumens wird zum Teil über im Obergeschoss sichtbare Kragarme an den Ecken des Gebäudes abgetragen, aber auch horizontal in die Mauerschale eingeleitet. Einerseits ist die Idee, die Archivalien in die Höhe zu stemmen, eine Antwort auf die Hochwassersituation in Dresden. Und anderseits: Was könnte der Avantgarde angemessener sein als der Versuch, das Material Beton von seiner Schwerkraft zu befreien und zum Schweben zu bringen?

Aktivieren des Archivs

Das architektonische Konzept ist eigentlich simpel, es beschränkt sich auf wenige Elemente und Materialien: die Wände – innen gedämmt und weiss verputzt – und den schwebenden Kubus aus perfekt geschaltem Sichtbeton. Auf Unterteilungen wurde so weit wie möglich verzichtet. Der Ausstellungsraum im Erdgeschoss ist nicht geteilt, Entrée, Garderobe, Kasse und Ausstellungsfläche bilden ein Kontinuum. Eine Wendeltreppe hinten ermöglicht den Zugang zur Galerie mit Bibliothek und Räumen, in denen in die Sammlungsbestände Einsicht gewährt wird.

Achim Heine, Möbel- und Produktdesigner aus Berlin, hat die Einrichtung dieses Geschosses realisiert, das als Ausstellungs- und Arbeitsbereich zugleich dient. In einer der Vitrinen liegt das 1925 erschienene Buch «Die Kunstismen» von Hans Arp und El Lissitzky, das durchaus nicht frei von Ironie die Avantgarde in einzelne Richtungen gegliedert hat. Für Marzona bedeutete die Konfrontation mit dieser Publikation ein Schlüsselerlebnis. Und weil das Ordnungsprinzip seiner Sammlung darauf basiert, bildet es gewissermassen den Grundstein des ADA.

Tagsüber ist das ADA Gruppen oder an den Archivbeständen interessierten Nutzern vorbehalten. Erst nachmittags und abends öffnet es für das allgemeine Publikum. Unter dem Ausstellungsraum des Erdgeschosses befindet sich das öffentliche Café Fahrenheit 451. Zur Eröffnung und passend zum Hundert-Jahr-Jubiläum des Surrealismus ist nun die Ausstellung «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls» zu sehen.

Kuratiert von Przemysław Strożek, wurde die Schau von Formafantasma aus Mailand gestaltet. Auf die rohen Betonwände wird der Film «Dreams That Money Can Buy» (1947) projiziert, bei dem unter der Regie von Hans Richter unter anderem Max Ernst, Marcel Duchamp, Fernand Léger, Man Ray, Alexander Calder und – für die Musik – John Cage mitwirkten. Er bildet das Scharnier zwischen dem ersten Ausstellungsteil mit der surrealistischen Ära der Vorkriegszeit und dem zweiten, in dem das Nachwirken nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema wird.

[ «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls», Archiv der Avantgarden, Dresden, bis 1. September, Katalog. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2024.05.28

16. April 2024Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Shoah fand mitten im städtischen Alltag statt. In Amsterdam wurde das Nationaal Holocaustmuseum eröffnet

Die Gebäude beidseits der Plantage Middenlaan waren realer Schauplatz der Shoah in Amsterdam. Das Architekturbüro Office Winhov macht nun diesen historischen Ort sichtbar, verzichtet dabei aber auf spektakuläre Inszenierungen.

Die Gebäude beidseits der Plantage Middenlaan waren realer Schauplatz der Shoah in Amsterdam. Das Architekturbüro Office Winhov macht nun diesen historischen Ort sichtbar, verzichtet dabei aber auf spektakuläre Inszenierungen.

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22. Januar 2024Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Drei neue Gotteshäuser in Abu Dhabi testen das friedliche Nebeneinander

Das Abrahamic Family House besteht aus einer Synagoge, einer Moschee und einer Kirche. Die drei vom britisch-ghanaischen Architekten David Adjaye realisierten Gotteshäuser sind ein Plädoyer für religiöse Toleranz.

Das Abrahamic Family House besteht aus einer Synagoge, einer Moschee und einer Kirche. Die drei vom britisch-ghanaischen Architekten David Adjaye realisierten Gotteshäuser sind ein Plädoyer für religiöse Toleranz.

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27. Dezember 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Eine einmalige Karriere: Zum 100. Todestag von Gustave Eiffel

Diese Laufbahn war nur im 19. Jahrhundert möglich: Gustave Eiffel war der visionäre Unternehmer, dessen Name untrennbar mit dem für die Pariser Weltausstellung 1889 errichteten Turm verbunden ist.

Diese Laufbahn war nur im 19. Jahrhundert möglich: Gustave Eiffel war der visionäre Unternehmer, dessen Name untrennbar mit dem für die Pariser Weltausstellung 1889 errichteten Turm verbunden ist.

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04. November 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Auch die internationale Architekturszene hat ihren #MeToo-Fall und ihre antisemitischen Hamas-Sympathisanten

Neben der Hauptausstellung der ghanaisch-schottischen Kuratorin Lesley Lokko, die auf Afrika blickt, entdeckt die Biennale in Venedig die Architektur ihrer Länderpavillons.

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16. Oktober 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Vincent van Goghs gescheiterte Idee eines Künstlerateliers im Süden Frankreichs entwickelt sich heute zum bedeutenden Kulturzentrum

Die Schweizer Mäzenin Maja Hoffmann hat Arles zu einem Kunst-Hotspot gemacht. Nun ist dort ein neues Zentrum für bioregionales Design entstanden. Es widmet sich Fragen nach verantwortungsbewusstem Umgang mit regionalen Ressourcen.

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28. August 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ein Steinmetz und Autodidakt aus dem Vorarlberg hat die barocke Klosteranlage in Einsiedeln gebaut

Caspar Moosbrugger gilt als Baumeister des Benediktinerklosters. Er kam als Handwerker, wurde nach wenigen Jahren Laienbruder und übernahm alsbald den Neubau.

Caspar Moosbrugger gilt als Baumeister des Benediktinerklosters. Er kam als Handwerker, wurde nach wenigen Jahren Laienbruder und übernahm alsbald den Neubau.

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14. August 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Geheilt vom Höhenrausch – Paris limitiert Hochhäuser auf 37 Meter

Die 1977 eingeführte Höhenbegrenzung von Hochhäusern in der französischen Hauptstadt wurde 2010 aufgehoben. Nun kehrt man zur alten Regel zurück. Argumentiert wird allerdings weniger ästhetisch als ökologisch.

Die 1977 eingeführte Höhenbegrenzung von Hochhäusern in der französischen Hauptstadt wurde 2010 aufgehoben. Nun kehrt man zur alten Regel zurück. Argumentiert wird allerdings weniger ästhetisch als ökologisch.

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22. Mai 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Afrika als Laboratorium der Zukunft – auf der Architekturbiennale in Venedig geht es um den Schwarzen Kontinent

Die Hauptausstellung der schottisch-ghanaischen Architektin und Schriftstellerin Lesley Lokko versucht Negativklischees zu Afrika zu vermeiden und erinnert schon fast an eine Kunstausstellung.

Die Hauptausstellung der schottisch-ghanaischen Architektin und Schriftstellerin Lesley Lokko versucht Negativklischees zu Afrika zu vermeiden und erinnert schon fast an eine Kunstausstellung.

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08. März 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

David Chipperfield ist ein Meister des kraftvollen Minimalismus. Mit dem Pritzker-Preis wird er in den Olymp der Architekten erhoben

Der britische Architekt hat sich mit spektakulär nüchternen Museumsbauten einen Ruf erworben. Exemplarisch steht dafür auch der Kunsthaus-Erweiterungsbau in Zürich.

Der britische Architekt hat sich mit spektakulär nüchternen Museumsbauten einen Ruf erworben. Exemplarisch steht dafür auch der Kunsthaus-Erweiterungsbau in Zürich.

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20. Februar 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Wenn Weinbauern und Architekten zusammenfinden, entstehen die kunstvollsten Zweckbauten

Die Schweizer Winzer erkennen gerade, dass eine künstlerisch ambitionierte Architektur ein gutes Marketinginstrument ist.

Die Schweizer Winzer erkennen gerade, dass eine künstlerisch ambitionierte Architektur ein gutes Marketinginstrument ist.

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29. Januar 2023Hubertus Adam
db

Schutzraum

Durch bauliche Interventionen und einen neuen Platz soll die Identität von Mels im Schweizer Kanton St. Gallen gestärkt werden. Schlüsselprojekt ist das Kultur- und Gemeindezentrum, das v. a. von der überaus aktiven lokalen Vereinsszene genutzt wird.

Durch bauliche Interventionen und einen neuen Platz soll die Identität von Mels im Schweizer Kanton St. Gallen gestärkt werden. Schlüsselprojekt ist das Kultur- und Gemeindezentrum, das v. a. von der überaus aktiven lokalen Vereinsszene genutzt wird.

Die Trasse der Autobahn Zürich – Chur trennt Mels – zu Füßen des bei Wandernden und Skifahrenden gleichermaßen beliebten Pizol gelegen – von der durch den Halt der Fernzüge bekannteren Ortschaft Sargans. Der historische Dorfkern von Mels zählt heute zu den schützenswerten Ortsbildern der Schweiz von nationaler Bedeutung; kommt man mit dem Bus von Sargans, muss man ihn aber erst einmal finden. Anders ausgedrückt: Zuerst passiert man an der Autobahnabfahrt die Shopping- und Gewerbezentren Pizolpark und Pizolcenter, dann ausgedehnte suburbane Siedlungsbereiche der vergangenen Jahrzehnte. Die Expansion von Mels begann zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, als sich auf einer Höhenterrasse oberhalb des Talbodens dank der nutzbaren Wasserkraft eine Spinnerei und Weberei ansiedelte; die mächtigen, weithin sichtbaren Volumina wurden vom Architekturbüro Meier Hug zu Wohnzwecken umgebaut, die Ergänzung durch Anbauten dauert an. Sukzessive vergrößerte sich der Siedlungsbereich im Tal, sodass Mels und Sargans heute wie zusammengewachsen erscheinen. Auch der historische Kern mit dem Dorfplatz an der Schnittstelle zwischen Ober- und Unterdorf wurde über die Jahrzehnte durch Zubauten entstellt.

Stärkung der Identität

Das Gemeinde- und Kongresszentrum Verrucano ist Teil einer umfassenderen Strategie, der schleichenden Nivellierung entgegenzuwirken und den historischen Dorfkern wieder zu stärken – visuell, strukturell, aber auch hinsichtlich seiner Attraktivität für die Bevölkerung. Alles begann 2009, als der Gemeinderat den Entschluss fasste, private Parzellen im Zentrum zu erwerben, um eine Neustrukturierung zu ermöglichen. Nachdem die Landkäufe durch eine Urnenabstimmung bewilligt worden waren, konnte auf Basis einer Machbarkeitsstudie 2013 ein offener Projektwettbewerb ausgeschrieben werden. Dieser umfasste drei Teile: die Erweiterung des Rathauses, ein neues Kulturzentrum und einen neuen, sich zwischen diesen Bauten und dem lang gestreckten Dorfplatz sich aufspannenden zusätzlichen öffentlichen Freiraum. Sieger wurde das 2007 von Beat Loosli in Rapperswil gegründete Büro raumfindung architekten. »Das Projekt pinot noir besticht insgesamt durch eine hervorragende Einpassung beider Baukörper in die vorhandenen Dorfstrukturen mit wohlproportionierten und gut gestalteten Außenräumen und durchwegs attraktivem Erdgeschossbereich«, attestierte die Jury dem Projekt. Ausgeführt wurde das Vorhaben – eine leichte Mehrheit des Stimmvolks hatte die Kosten von 31,5 Mio. CHF im März 2015 bewilligt – in den Jahren 2017 bis 2020, was zur Folge hatte, dass die Eröffnung direkt in die Zeit der Coronapandemie fiel und der Betrieb erst langsam Fahrt aufnehmen konnte.

Einfügung in den Kontext

Kommt man heute nach Mels, so überzeugt zunächst einmal die städtebauliche Lösung. Durch den Abriss eines deplatzierten Mehrfamilienhauses und die Verbannung der Autos in die neue Tiefgarage entstand eine quer zum annähernd nordsüdlich ausgerichteten Dorfplatz orientierte Platzerweiterung. Diese wird auf der Nordseite von historischen Bauten wie dem Restaurant Traube gesäumt, während das Rathaus, ursprünglich ein vom prominenten St. Galler Klassizisten Felix Wilhelm Kubly (1802-72) entworfenes Wohnhaus, und der hinsichtlich der Kubatur ähnliche Erweiterungsbau die südliche Platzkante bilden. Den Abschluss im Osten bildet das Verrucano, mit dessen polygonaler Grundrissfigur raumfindung die zur Verfügung stehende Fläche geschickt ausgenutzt hat. Die Eingangsfront orientiert sich zum neu entstandenen Platz hin, die südliche Fassade des abgeknickten Baukörpers hingegen fügt sich in die Flucht der Wangserstraße ein. Vis-à-vis haben die Architekten vor der Post ein neues Bushaltestellenhäuschen errichtet, das unzweideutig die Gestaltungselemente des Kulturzentrums aufgreift.

Aus dem Pinot noir des Wettbewerbs, der an die Weinbautradition von Mels erinnerte, ist nun Verrucano geworden. Unter diesem Namen ist der vor Ort abgebaute rötliche Schiefer bekannt. Die Architekten haben ihn nicht nur bei der Gestaltung des neuen Platzes eingesetzt, sondern auch für den Terrazzo im Inneren des Kulturzentrums verwendet. Und natürlich kann man die rot gestrichenen Holzfassaden auch als Reverenz an den lokalen Stein verstehen. Anders als der Erweiterungsbau des Rathauses, der sich außen in hohem Maß neutral zeigt, tritt das Verrucano schon aufgrund seiner Farbigkeit zu Recht als exzeptionelles Volumen, als Haus für Feste und Feiern in Erscheinung. Doch es übertrumpft seine Umgebung nicht, dominiert nicht den Platz und gibt sich nicht als aufmerksamkeitsherrschender Meteorit, der ins Dorfzentrum eingeschlagen ist. Über dem Betonsockel als Holzbau errichtet, atmet es ganz bewusst leicht den Hauch des Provisorischen, als handele es sich um eine hölzerne Festhütte inmitten des Gemeinwesens.

Im Kontext des Dorfs wirkt das Verrucano mit seiner die Satteldächer des historischen Kerns visuell paraphrasierenden Dachlandschaft angemessen, denn schließlich ist es keine Eventlocation, für die Besucherinnen und Besucher von weit her anreisen, sondern ein Haus, das primär von den über 80 in Mels ansässigen Vereinen genutzt wird. Dazu zählen Chöre, Turnvereine, die Musikgesellschaft, die Fasnachtsgesellschaft und der Trachtenverein, um nur einige zu nennen. Ein heterogenes Nutzungsspektrum mithin, zu dem sich ab und an auch das Sinfonieorchester St. Gallen mit Auftritten hinzugesellt.

Multifunktional, aber ausdrucksstark

Veranstaltungsort bisher war der in die Jahre gekommene Hallenbau Löwensaal, ein blechverkleidetes Ungetüm. Mit dem neuen großen Saal im Verrucano ist nun endlich ein freundlicher und festlicher Veranstaltungsort für alle Bedürfnisse entstanden – mit großer multifunktionaler und gut ausgestalteter Bühne sowie rückwärtiger Galerie. Mit seinen insgesamt 744 Sitzplätzen bei Konzertbestuhlung, dem umlaufenden Fries von Diffusoren, die auch die Rückwand bestimmen, und den drehbaren, im oberen Bereich der Seitenwände installierten Holzelementen, die schallabsorbierend oder schallreflektierend wirken können, kann der trapezförmige Saal für unterschiedliche Musik- oder Theatervorführungen mit ihren jeweiligen akustischen Anforderungen genutzt werden. Doch darüber hinaus finden hier auch ganz andere Veranstaltungen statt: Bankette, Bälle, Kino, Seminare. Entsprechend variantenreich ist auch die mögliche Lichtstimmung: große Oberlichter lassen den hölzernen Saal hell und freundlich erscheinen, können aber auch verdunkelt werden. Ein ausgeklügeltes Lichtkonzept zieht sich durch das ganze Haus und ermöglicht eine stimmungsvolle Beleuchtung: feierlich, aber unprätentiös.

Das Verrucano, dessen räumliche Erschließung ein z-förmiges Foyer bildet, umfasst noch weitere Veranstaltungsräume. Der größte davon ist der Vereinssaal Runggalina im EG. Backstage mit dem Löwensaal verbunden, kann er auch als Vorbereitungsraum für die Nutzer der großen Bühne fungieren. Darüber ist im OG der Raum Ragnatsch angeordnet, der primär als Übungsraum der Musikgesellschaft Konkordia dient; zum Platz hin schließlich orientiert sich der Saal Gafarra, vom Foyer aus durch das Treppenhaus erschlossen.
Voller Begeisterung erzählt die Schauspielerin und Kulturmanagerin Eva Maron, seit 2019 Geschäftsführerin des Verrucano, von ihrer Tätigkeit und von dem, was das Haus alles vermag. Der Erfolg der Initiative, welche der Gemeinderat vor 13 Jahren angestoßen hat, ist allenthalben spürbar. Maron freut sich insbesondere über die große Flexibilität der Räumlichkeiten und die informell nutzbaren Foyerzonen, die auch, nicht zuletzt dank der Vordächer, in den Außenbereich ausstrahlen und ihrerseits zur Belebung des Dorfkerns beitragen. Ein Café im Foyer einzurichten, für das die Infrastruktur vorhanden ist, hat sich mangels Nachfrage nicht als realistisch erwiesen. Aber dass bei einem derartigen – nicht nur finanziellen – Kraftakt, wie ihn die Realisierung des Verrucano erforderte, auch Widerstände bestehen, ist selbstverständlich. Die Gemeinde subventioniert die Nutzung des Hauses für die Vereine, die Geschäftsführung ist aber überdies auch für die zur Querfinanzierung nötige Vermietung an Externe verantwortlich. Mit zwei Personen lässt sich der aufwändige Betrieb aber kaum stemmen, sodass wohl oder übel in naher Zukunft Schließtage eingeplant werden müssen. Eigentlich schade, denn das Verrucano samt seiner neu gestalteten Umgebung ist wahrlich ein Gewinn.

db, So., 2023.01.29



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db 2023|01-02 Feiern und Zusammenkommen

01. Januar 2023Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Vor dreissig Jahren revolutionierten Bauten von Schweizer Architekturbüros die Museumsarchitektur

Nach den postmodernen expressiven Bauten der achtziger Jahre entstanden 1992 drei wegweisende Museumsneubauten. Sie glänzten durch Nüchternheit und die Schlichtheit der Materialien.

Nach den postmodernen expressiven Bauten der achtziger Jahre entstanden 1992 drei wegweisende Museumsneubauten. Sie glänzten durch Nüchternheit und die Schlichtheit der Materialien.

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30. Dezember 2022Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt, der aus den Ruinen kam: zum Tod von Arata Isozaki

Der japanische Baukünstler Arata Isozaki gehörte zu den bedeutendsten Vertretern seines Fachs. Er hat ein Werk geschaffen, das sich über viele Jahrzehnte hinweg immer neu verwandelt hat. 2019 wurde er für sein Schaffen mit dem Pritzker-Preis geehrt.

Der japanische Baukünstler Arata Isozaki gehörte zu den bedeutendsten Vertretern seines Fachs. Er hat ein Werk geschaffen, das sich über viele Jahrzehnte hinweg immer neu verwandelt hat. 2019 wurde er für sein Schaffen mit dem Pritzker-Preis geehrt.

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Isozaki Arata

16. November 2022Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ein Bündner Dorf erfindet sich neu, indem es das Alte bewahrt

Valendas in der Surselva galt einst als sterbendes Dorf. Durch Initiativen im Bereich von Architektur und Dorferneuerung findet die Gemeinde weit über die Region hinaus Aufmerksamkeit.

Valendas in der Surselva galt einst als sterbendes Dorf. Durch Initiativen im Bereich von Architektur und Dorferneuerung findet die Gemeinde weit über die Region hinaus Aufmerksamkeit.

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02. November 2022Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ein Hochhaus aus Holz und hundert Meter hoch? In Winterthur wird eines gebaut

Von Gottfried Semper stammt das Diktum, Holz, aus der «dekorativen Behandlung der Zimmerkonstruktion entwickelt», könne «niemals Vorbild einer monumentalen...

Von Gottfried Semper stammt das Diktum, Holz, aus der «dekorativen Behandlung der Zimmerkonstruktion entwickelt», könne «niemals Vorbild einer monumentalen...

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03. Oktober 2022Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ein Eldorado der modernen Architektur: In Oslo ist im ehemaligen Hafen ein neuer Stadtteil entstanden

Neue Museen und trendige Wohnhäuser revitalisieren die Industriebrache mit Meeranstoss. Grosszügig bemessener Raum für die Öffentlichkeit sorgt für Durchmischung und Belebung.

Neue Museen und trendige Wohnhäuser revitalisieren die Industriebrache mit Meeranstoss. Grosszügig bemessener Raum für die Öffentlichkeit sorgt für Durchmischung und Belebung.

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01. Oktober 2022Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Bahrain entdeckt gerade sein architektonisches Erbe und baut es mutig in die Zukunft fort

Im Zentrum der einstigen Perlenfischer entstehen gerade wegweisende neue Bauten. Angestossen wurde die Initiative von zwei Frauen des Inselstaats, und Schweizer Architekten sind mit prominenten Werken beteiligt.

Im Zentrum der einstigen Perlenfischer entstehen gerade wegweisende neue Bauten. Angestossen wurde die Initiative von zwei Frauen des Inselstaats, und Schweizer Architekten sind mit prominenten Werken beteiligt.

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12. September 2022Hubertus Adam
db

Koexistenz auf dem Dach

Eine einst ungenutzte Dachfläche eines Zürcher Bürohauses wurde in einen üppig gedeihenden und sinnlich anmutenden Garten verwandelt, den sich Menschen, Pflanzen und Tiere teilen. Eine Erfolgsgeschichte, nicht nur für die Mitarbeitenden des Unternehmens.

Eine einst ungenutzte Dachfläche eines Zürcher Bürohauses wurde in einen üppig gedeihenden und sinnlich anmutenden Garten verwandelt, den sich Menschen, Pflanzen und Tiere teilen. Eine Erfolgsgeschichte, nicht nur für die Mitarbeitenden des Unternehmens.

Dach- und Hausbegrünungen stehen aktuell hoch im Kurs: Kaum ein Bauprojekt der vergangenen Jahre ist auf so eine breitenwirksame Akzeptanz gestoßen wie etwa Stefano Boeris »Bosco Verticale« in Mailand. Das Unisono des Green-Building-Hypes lässt die vereinzelten kritischen Stimmen nur wenig Gehörfinden. Die des Landschaftsarchitekten Günther Vogt etwa, der den ökologischen Sinn von begrünten Hochhäusern und begrünten Fassaden infrage stellt: Es bedarf eines hohen Pflegeaufwands und komplexer Bewässerungssysteme. Aber v. a., und das ist Vogts vielleicht entscheidendstes Argument, werden die Bewohnerinnen und Bewohner von der Sorge um die Pflanzen entkoppelt, da diese in ein gleichsam kybernetisches Bewirtschaftungsmodell eingebunden sind.

Immersive Kontaktzone

Bei einer Dachbegrünung in Zürich wollte man es anders machen. Ein Schweizer Unternehmen ist Hauptmieter des um einen Innenhof gruppierten Gebäudes aus dem Jahr 2003. Im Lauf der Zeit entstand die Idee, auch das bislang ungenutzte, bis auf eine Holzplattform nicht zu betretende und lediglich von schütterem Moos bewachsene Flachdach über dem 3. OG neu zu gestalten, mit anderen Worten: zu begrünen und als Erholungsraum für die Mitarbeitenden zu nutzen. Die Aufgabe übernahm die Architektin Nadja Zürcher mit ihrer Firma Quantaviva, sie holte zur Planung das Architekturbüro Vera Gloor sowie verschiedene andere Fachplaner mit ins Boot. Bewusst wählte man nicht ein ausgewiesenes Landschaftsarchitekturbüro, um eine primär an ästhetischen Kriterien orientierte Gestaltung zu vermeiden. Denn von Anbeginn war klar, dass die Dachlandschaft nicht als ein optisches Gegenüber, sondern gewissermaßen als immersive Kontaktzone von Mensch, Pflanze und Tier dienen sollte. Das funktioniert aber nur, wenn nicht an den Bedürfnissen der zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer vorbeigeplant wird. Nadja Zürcher lancierte einen partizipativen Prozess unter allen Beteiligten, um ein tragfähiges Gesamtkonzept zu entwickeln.

Der nächste Schritt bestand darin, die technische Umsetzbarkeit zu evaluieren. Das betraf zuerst das nicht unerhebliche Gewicht von Substrat, Erde und Pflanzen, die auf das Dach aufgebracht werden mussten. Auch wenn das bestehende Dach an einigen Stellen zu verstärken war, sollte nicht zuletzt aus Kostengründen auf eine weitergehende statische Ertüchtigung des Gebäudes verzichtet werden. Daher bildet der Pflanzplan gewissermaßen das bestehende Tragwerksystem ab: Höher wachsende Pflanzen umgeben die Dachränder, weil hier die hinter der Fassade liegenden Stützen genutzt werden konnten. Der Nebeneffekt: Der Garten schließt nach außen hin ab und lässt in vielen Bereichen den Effekt eines Hortus conclusus entstehen. Die mächtigsten Bäume, vier 7 m hohe Amberbäume, nutzen die innen liegenden Pfeiler zur Lastabtragung. Magerwiese als niedrigster Bewuchs mit geringer Substratschicht umgibt hingegen den zentralen Innenhof.

Koexistenz als Herausforderung

Die umgestaltete Dachfläche umgibt den Innenhof dreiseitig und misst insgesamt 2 500 m². Auf der Südseite findet sich ein bestehender Büroflügel, von dem aus man den Dachgarten betritt. Westlich anschließend ist ein überdeckter und damit pavillonartig wirkender Loungebereich neu entstanden, der sich auch bei schlechterem Wetter nutzen lässt. Ebenfalls weitgehend neu errichtet wurden zwei Dachaufbauten, in denen sich Fluchttreppenhäuser, Toiletten, Technikbereiche und Abstellräume für Gartengeräte verbergen. Rahmenelemente und abgespannte Metalldrähte erlauben den Bewuchs durch Rankpflanzen, sodass die kubischen Körper in naher Zukunft hinter einer grünen Hülle verschwinden. Daneben tragen die Dachaufbauten zur Zonierung des Gartens bei, indem sie stärker von den menschlichen Nutzerinnen und Nutzern frequentierte Bereiche nahe dem Zugang beispielsweise von den etwas abgelegenen Bereich trennen, in dem Vögel nisten. Die Koexistenz von Menschen, Tieren und Pflanzen ergibt sich nicht von selbst; sie bedarf der Steuerung.

Bei der Auswahl der Pflanzen wurde auf das Prinzip der Vergesellschaftung geachtet. Gräser, Blumen, Kräuter und Stauden bedecken den Boden und verhindern das Austrocknen. Kleine Obstpflanzen, Beeren, Büsche, Hecken und Sträucher und Rankpflanzen bilden die mittlere Ebene, die von den Amberbäumen überragt wird. Der Pflanzboden besteht aus Substrat und mit aktivierter Pflanzenkohle versetzter Bionika-Schwarzerde. Je nach Position auf dem Dach unterschiedlich stark aufgebracht, fungiert er als Retentionsfläche für das Regenwasser. Auf ein zuschaltbares Bewässerungssystem ließ sich angesichts der stetig heißer werdenden Sommer allerdings nicht verzichten. Verwendet wird reines Wasser, keine angereicherte Nährlösung, wie man es von begrünten Fassaden kennt. Einige Tiefwurzler wie Rosen oder bedingt winterharte Pflanzen wie Feigen wachsen in Kübeln.

Bei der Auswahl der Pflanzen setzte Nadja Zürcher weitestgehend auf einheimische Arten, also solche, die auch anderswo in der Stadt und ihrer Umgebung vorkommen. Und auf Essbarkeit: Beeren, Trauben, Äpfel, Birnen, Kirschen, Aprikosen und andere Früchte können von den Mitarbeitenden geerntet werden, locken aber auch Vögel an. Darüber hinaus gibt es einen Bereich mit Pflanzkästen für das Urban Gardening. Eine Imkerei, die in Zürich auch andere Dachgärten bewirtschaftet, hat im Südosten des Dachgartens einige Bienenkästen aufgestellt, und daran schließt sich ein großzügiges Gehege samt Stall an, in dem ein Dutzend Appenzeller Spitzhaubenhühner leben. Ihre Pflege obliegt den Auszubildenden des Unternehmens.

Gleichung mit vielen Unbekannten

Dachbegrünung, das hört sich zunächst ebenso wünschenswert wie simpel an. Simpel ist es nicht, im Gegenteil: Für Nadja Zürcher ging es um die Lösung einer komplexen Gleichung mit vielen Unbekannten. Die Herausforderung bestand im Zusammenführen ganz unterschiedlicher Disziplinen: Architektur, Landschaftsplanung, Tragwerksplanung, Dachabdichtung, Humusmanagement, Bauphysik, Haustechnik, Gartenbau, um nur einige zu nennen.

Zur Arbeit mit der Natur gehört auch das Scheitern, wie man schon beim Bestellen eines einzigen Balkonkastens erfahren kann; bis ins Detail lässt sich Landschaft nicht planen. Vereinzelt mussten Pflanzen entfernt und ersetzt werden, wobei insbesondere die Windexposition des Dachs ein Problem darstellt. Grundsätzlich aber ist der Dachgarten ein großer Erfolg – hinsichtlich des Pflanzenwachstums und der Ansiedlung von Insekten und Vögeln. Aber auch bei den etwa 300 Mitarbeitenden des Unternehmens, die das Dach für die Mittagspause, für das zurückgezogene Arbeiten, aber auch für Besprechungen unter freiem Himmel nutzen. Oder einfach nur, um Natur zu erleben. Und wer nicht ohnehin auf dem Weg nach oben ist, erfährt intern über Social Media, welches Obst oder welche Kräuter gerade zu ernten sind.

Einmal in der Woche kommt Nadja Zürcher vorbei und schaut nach dem Rechten. Und einmal im Monat sorgt der Gärtner für das nötige Maß an Pflege. Für Nadja Zürcher ist der Dachgarten nicht zuletzt ein Pionierprojekt für Biodiversität und Verbesserung des Mikroklimas. Ungenutzte Dachflächen, die sich intelligent bepflanzen ließen, gibt es viele. Man muss es eben nur wollen. Und damit die brachliegenden Potenziale erkennen und nutzen.

db, Mo., 2022.09.12



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db 2022|09 Begrünte Gebäude

09. September 2022Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Winterthur hat jetzt ein Schulhaus, das den Vergleich mit dem Pariser Centre Pompidou verdient

Ein Schulhaus ganz ohne Treppenhäuser und Korridore – das ist für ein paar Schulklassen in Oberwinterthur ab sofort tägliche Realität.

Ein Schulhaus ganz ohne Treppenhäuser und Korridore – das ist für ein paar Schulklassen in Oberwinterthur ab sofort tägliche Realität.

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11. August 2022Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Universität St. Gallen hat ein Learning Center in Form einer gläsernen Pyramide erhalten. Doch der Umgang damit muss erst noch gelernt werden

Der japanische Architekt Sou Fujimoto hat mit viel Glas und Stahlbeton eine filigrane Struktur geschaffen, die nach innen wie nach aussen Offenheit signalisieren soll.

Der japanische Architekt Sou Fujimoto hat mit viel Glas und Stahlbeton eine filigrane Struktur geschaffen, die nach innen wie nach aussen Offenheit signalisieren soll.

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04. August 2022Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Das legendäre Umbrella House des japanischen Architekten Kazuo Shinohara hat in Weil am Rhein ein zweites Leben erhalten

In Tokio hätte es abgerissen werden sollen, nun wurde es gerettet. Auf einem sachten Hügel platziert, dem Sonnenstand wie in Japan entsprechend ausgerichtet, steht seit jüngstem auf dem Vitra-Campus ein ikonisches Wohnhaus.

In Tokio hätte es abgerissen werden sollen, nun wurde es gerettet. Auf einem sachten Hügel platziert, dem Sonnenstand wie in Japan entsprechend ausgerichtet, steht seit jüngstem auf dem Vitra-Campus ein ikonisches Wohnhaus.

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22. Juli 2022Hubertus Adam
Bauwelt

Gebettet in Kornkammern

Hinter einer neuen Fassade hat das Studio Harry Gugger auf der Basler Erlenmatt die Betonstruktur eines ehemaligen Korn- und Kakaobohnensilos zur Unterbringung eines Hostels genutzt. Die neuen, runden Fensteröffnungen schnitt ein Diamant in den Beton, die Zimmer jedoch werden zu relativ moderaten Preisen vermietet.

Hinter einer neuen Fassade hat das Studio Harry Gugger auf der Basler Erlenmatt die Betonstruktur eines ehemaligen Korn- und Kakaobohnensilos zur Unterbringung eines Hostels genutzt. Die neuen, runden Fensteröffnungen schnitt ein Diamant in den Beton, die Zimmer jedoch werden zu relativ moderaten Preisen vermietet.

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Bauwelt 2022|15 Korn

14. Juni 2022Hubertus Adam
db

Palazzo aus Holz

Klassisch, fast wie ein Palast, wirkt der neue Hauptsitz der Obwaldner Kantonalbank im schweizerischen Sarnen. Das Besondere daran: Es handelt sich um ein hölzernes Gebäude, nicht um einen Massivbau.

Klassisch, fast wie ein Palast, wirkt der neue Hauptsitz der Obwaldner Kantonalbank im schweizerischen Sarnen. Das Besondere daran: Es handelt sich um ein hölzernes Gebäude, nicht um einen Massivbau.

Gut 20 Minuten benötigt der Zug von Luzern aus in südlicher Richtung nach Sarnen, den Hauptort des kleinen Kantons Obwalden. Das ist eine Pendlerdistanz, und die S-Bahn hält seit 2016 auch am neu angelegten Bahnhof Sarnen-Nord. Hier, zwischen dem historischen Ortskern und dem kleinen Flugplatz Kägiswil, ist in den vergangenen Jahrzehnten ein Gewerbegebiet entstanden, das gemäß dem Quartierplan für das bahnhofsnahe Gebiet namens »Feld« in den kommenden Jahren weiter mit Büro- und Wohngebäuden verdichtet werden soll.

Das erste Gebäude, das auf diesem Areal errichtet wurde, ist der im September 2021 eingeweihte Hauptsitz der Obwaldner Kantonalbank (OKB). Bis 2005 war die öffentlich-rechtliche Bank des Kantons gegenüber vom Bahnhof und damit im historischen Ortskern ansässig. Doch dann zog das Hochwasser der Saaner Aa das Gebäude so in Mitleidenschaft, dass über einen Neubau an gleicher Stelle nachgedacht werden musste. Allerdings verzögerte sich das Bauprojekt, und schließlich entschied sich die OKB, in das neue Quartier nördlich des Ortszentrums umzuziehen, wo eine geräumigere Parzelle zur Verfügung stand. Das aus der Region hervorgegangene, heute vorwiegend in Luzern ansässige Büro Seiler Linhart konnte 2017 den Studienauftrag für sich entscheiden.

Wie repräsentiert sich eine Bank?

In seiner »History of Building Types« (1976) widmet Nikolaus Pevsner Börsen und Banken ein eigenes Kapitel. Doch blickt man auf die historischen Beispiele, so zeigt sich, dass eine wirkliche Typologie des Bankgebäudes nicht existiert. Mal treten Banken eher wie repräsentative Bürobauten in Erscheinung – etwa der ehemalige Hauptsitz der Schweizerischen Kreditanstalt am Zürcher Paradeplatz, das Schweizer Bankgebäude des 19. Jahrhunderts schlechthin –, mal rufen sie die Idee des Schatzhauses in Erinnerung, so die Jewel-Box-Banken von Louis Henry Sullivan im Mittleren Westen des USA. Seiler Linhart standen also vor einer wichtigen Frage: Welcher Ausdruck ist heute für eine Bank adäquat? Und das nicht im urbanen Kontext, sondern im ländlich geprägten Sarnen?

Die Architekten entschieden sich für eine durchaus repräsentative Geste: Der auch Quadrum titulierte Neubau ist ein quadratisches Volumen mit jeweils zwölf Fassadenachsen und fünf Geschossen. Klassisch, fast palastartig, steht er inmitten eines noch weitgehend unbebauten Geländes, was die solitäre Wirkung unterstreicht. Die Gliederung der Fassaden ist an allen Seiten gleich; nur der eingezogene, zwei Achsen übergreifende Haupteingang im Süden zeigt an, dass es sich hier um die Hauptfassade handelt. Stärker tritt die vertikale Differenzierung in Erscheinung: Perforierte metallene Sonnenschutzelemente vor den Fenstern charakterisieren die beiden Publikumsgeschosse, während die jeweils in vier vertikale Streifen gegliederten Fenster der drei internen Bürogeschosse darüber mit textilen Stores verschattet werden können. Zweifelsohne ungewöhnlich ist die Entscheidung, den Palazzo der Bank als Holzkonstruktion ausführen zu lassen. Aus Beton bestehen lediglich das UG und der als Aussteifung fungierende Erschließungskern, das Tragwerk wurde in Skelettbauweise mit Stützen und Unterzügen aus Eschenholz erstellt; Verbundträger aus Esche und Fichte und ein Überzug aus Beton bilden die Decken. Während das Holz im Inneren unbehandelt geblieben ist, wurde die Fassadenschalung aus Fichtenholz dunkel lasiert; die Farbe ist schwer zu beschreiben, sie wirkt gräulich mit einem gewissen Rot-Anteil, die Architekten sprechen von Aubergine. Das nimmt dem Gebäude den rustikalen Ausdruck des Hölzernen, und von der Ferne aus mag man noch nicht einmal an einen Holzbau denken. Nähert man sich indes dem Gebäude, so tritt die differenzierte Fassadengliederung deutlich in Erscheinung: Die vertikalen Elemente sind mit Kanneluren versehen, die Knotenpunkte mit farblich leicht abgesetzten Auflagen, sodass sie wie Kapitelle wirken. Die horizontalen Bretter im Sockelbereich wurden zudem mit gefrästen Mustern dekoriert, die sich aus den Buchstaben OKB zusammensetzen. Hat sich die steinerne griechische Tempelarchitektur aus dem Holzbau entwickelt, so gehen Seiler Linhart gewissermaßen den umgekehrten Weg: Sie übertragen einen steinernen Palazzo in das Baumaterial Holz. Der Neubau der OKB verheißt Urbanität, bleibt aber noch dem Ländlichen verhaftet. Er verspricht Solidität und Sicherheit, Werte also, mit denen Banken sich identifizieren – und ist doch ganz aus dem Holz des Kantons Obwalden erstellt. Wirkt die Fassade allzu retrospektiv? Wäre hier etwas weniger an klassizierender Ornamentik wünschenswert gewesen? Darüber ließe sich diskutieren.

Halle und Lichthof

Vorbei an den Selbstbankingbereichen gelangt man vom Haupteingang aus in die zweigeschossige Kundenhalle. Geschnittene Terrazzoplatten, in welche Flusskiesel aus Obwaldner Gewässern eingelegt wurden, bilden den Bodenbelag; in die Deckenraster integriert sind Felder mit Beleuchtungselementen, welche den Raum entsprechend dem Verlauf des Tageslichts erhellen. Eine geschwungene Treppe führt hinauf zur Galerie im 1. OG, über die verschiedene Besprechungsräume erreichbar sind.

Wie in den zuvor vom Architekturbüro realisierten Arbeiten beeindrucken auch in Sarnen die Präzision der Materialverarbeitung und die Liebe zum Detail. Das zeigt sich etwa an den im Raster von 2,8 m stehenden Stützen, die sich – ähnlich der antiken Entasis – dem Druckmoment entsprechend verjüngen und damit eine subtile, kaum wahrnehmbare Dynamik erzeugen. Seiler Linhart waren darüber hinaus auch für den Entwurf der Theken aus Räuchereiche und anderer Einbauten verantwortlich, sodass eine starke räumlich-gestalterische Kohärenz erzielt werden konnte, die sich auch in der Cafeteria oder im Schließfachbereich fortsetzt. Gelungen und eine wirkliche Bereicherung sind außerdem die insgesamt acht künstlerischen Interventionen mit Obwalden verbundener Kunstschaffender, die sich über die verschiedenen Geschosse verteilen und als integraler Bestandteil der Architektur wirken. Die drei Bürogeschosse über dem öffentlichen Sockel gruppieren sich um einen schmalen Innenhof, der seitlich berankt und am Boden mit einer von einem Bewässerungssystem gesteuerten Hochmoorvegetation en miniature versehen ist.

Die Erstellung des Holzbaus benötigte bis zum Richtfest lediglich neun Tage. Zwei regionale Holzbauunternehmen fertigten die Elemente, die von 50 Arbeitern im Zweischichtbetrieb installiert wurden. Das Gebäude bietet insgesamt Platz für 160 Mitarbeitende; derzeit arbeiten vor Ort 130 Personen, es bestehen also – insbesondere im hinteren Gebäudeteil – noch räumliche Reserven für die Zukunft.

db, Di., 2022.06.14



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db 2022|06 Retrospektiv

17. Januar 2022Hubertus Adam
db

Domestizierung der Infrastruktur

An eine bestehende Busgarage im Nordwesten von Zürich anschließend ist ein Erweiterungsbau entstanden. Durch expressive Akzente, verbunden mit einer sensiblen und diskreten Materialisierung, ist es den Architekten gelungen, das große Bauvolumen quartiersverträglich umzusetzen.

An eine bestehende Busgarage im Nordwesten von Zürich anschließend ist ein Erweiterungsbau entstanden. Durch expressive Akzente, verbunden mit einer sensiblen und diskreten Materialisierung, ist es den Architekten gelungen, das große Bauvolumen quartiersverträglich umzusetzen.

Die Wohnbevölkerung in der Stadt Zürich wächst kontinuierlich: Beträgt die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner derzeit 434 000, so wird sie bis zum Jahr 2030 auf 500 000 klettern. Und wo mehr und mehr Menschen leben, bedarf es steigender Investitionen in die Infrastruktur. Dies ist der Hintergrund für ein städtisches Bauvorhaben, das eine Erweiterung der Busgarage für die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) mit einem Werkhof von Entsorgung & Recycling Zürich (ERZ) vereint.

Infrastruktur als Gestaltungsaufgabe

Busgaragen und Straßenbahndepots, die unweigerlich allein aufgrund ihrer schieren Größe öffentliche Aufmerksamkeit beanspruchen, werden seit jeher in Zürich nicht allein als reine Zweckbauten, sondern auch als gestalterische Herausforderungen verstanden: Der Bogen spannt sich vom zwischen Reform- und Heimatschutzarchitektur oszillierenden Tramdepot Hard (1911) am Escher-Wyss-Platz von Friedrich Fissler über die moderat funktionalistischen Bauten des zwischen 1919 und 1942 amtierenden Stadtbaumeisters Hermann Herter bis zum Großkomplex der VBZ-Werkstätten, einem heute sanierungsbedürftigen brutalistischen Meisterwerk der Architektengemeinschaft Dubois Eschenmoser Schaudt aus dem Jahr 1975.

Zwischen 1965 und 1969 war ganz im Nordwesten des Stadtquartiers Aussersihl, begrenzt von Bullinger- und Bienenstraße, eine für 160 Busse konzipierte VBZ-Garage nach Plänen von Casetti und Rohrer entstanden. Diese liegt gleichsam im Windschatten der 1976-78 realisierten Siedlung Hardau von Max P. Kollbrunner, die mit ihren vier rotbraunen Türmen eine städtebauliche Domiante im Zürcher Westen darstellt. Ohnehin prägen großmaßstäbliche Bauten das von der Ausfallachse der Badenerstraße und vom Gleisfeld mit seinen begleiteten Werkstattgebäuden gerahmte Gebiet zwischen der gründerzeitlichen Stadterweiterung im Züricher Westen und den einstigen dörflichen Vororten Albisrieden und Altstetten – das Letzigrundstadion und der Schlachthof befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft.

Bis 2030, so die Prognosen, werde die Frequenz des öffentlichen Verkehrs in Zürich um 30 % zunehmen. Grund genug für den Ausbau der VBZ-Garage Hardau durch die Erweiterung um zusätzliche Stellplätze für 26 Gelenk- und Doppelgelenk-Trolleybusse. Parallel zur Ertüchtigung und partiellen Erneuerung des Baubestands durch Müller Siegrist wurde 2015 unter zehn eingeladenen Teams ein einstufiger Wettbewerb für eine Erweiterung auf der benachbarten, bisher als Parkplatz genutzten Parzelle zur Herdernstraße durchgeführt, den pool Architekten für sich entscheiden konnten. Es ging aber nicht nur um eine Halle für die Busse, sondern auch um einen neuen Werkhof für die ERZ samt Aufenthaltsräumen für die Mitarbeitenden. Durch diese Kombination zweier Funktionen wurde der bisherige Werkhof vis-à-vis an der Bienenstraße überflüssig, das Grundstück steht zukünftig für eine neue Wohnbebauung zur Verfügung.

Neben Funktionalität, niedrigen Erstellungskosten, kostengünstigem Unterhalt und bauökologischen Kriterien wurden in der Wettbewerbsauslobung explizit auch Ästhetik und soziale Faktoren als Wettbewerbsziele genannt. Gesucht seien Projekte, »die mit ihrem architektonischen Ausdruck und mit ihrer Materialisierung einen Beitrag zur Quartieraufwertung leisten und die eine außenräumlich hochwertige und identitätsstiftende Gestaltung vorweisen«.

Weit gespannt und offen

pool Architekten greifen mit ihrer Buseinstellhalle die Baufluchten der bestehenden Bauten auf, rücken das neue Volumen aber vom Bestand ab und nahe an die Herdernstraße, sodass zwischen beiden Gebäudekomplexen ein breiter Platz entsteht. Hier befindet sich die Rampe zum UG, v. a. aber dient er der Zufahrt der Busse, die nach Betriebsschluss von dieser Seite aus in die Halle fahren und sie morgens über die Ausfahrt zu Herdernstraße hin wieder verlassen. Daher ist die stützenfreie Halle mit ihren 35 x 55 m tagsüber zumeist leer und kann auch – eine zusätzliche Funktion – bei Spielen im gegenüberliegenden Stadion Letzigrund im Notfall als Sanitätsstützpunkt dienen.

Die Architekten haben auf die sonst üblichen und beim Altbau vorhandenen Klapptore verzichtet und stattdessen auf Schiebetore gesetzt, die sich komplett auffahren lassen. Dies lässt die Konstruktion der Halle auf eindrucksvolle Weise zutage treten: Nach außen hin zeigt sie sich als massives Geviert aus Betonscheiben, das nur an den Ecken und an den Längsseiten zusätzlich mittels eines mittigen Pfeilers abgestützt wird. Die Seite zur Bienenstraße hin ist zwar geschlossen ausgeführt, ließe sich aber bei einer Nutzungsänderung ebenfalls öffnen. Lediglich im Nordosten dient die weitgehend geschlossene Hallenwand als auf Dauer angelegter Raumabschluss, da sich hier der vor‧gelagerte Servicetrakt der ERZ anschließt.

Von außen hinter dem Betongeviert verborgen, überspannen Fachwerkträger aus Stahlprofilen die Halle. Die mit beplankten Holzelementen versehenen Sheds sind leicht gebogen, sodass das Regenwasser gesammelt und über die im Halleninneren sichtbar geführten Rohre entlang der Längsseiten in ein unterirdisches Reservoir eingeleitet werden kann. Die Dachflächen sind mit Photovoltaikmodulen bestückt, die Halle selbst wird nur leicht temperiert. Das gilt auch für die darunterliegende Halle gleicher Größe, in deren kleinerer Teil Parkplätze für die Beschäftigten zur Verfügung stehen. Der größere Teil wird als Werkhof der ERZ genutzt: Hier werden die Kehrmaschinen und Streufahrzeuge geparkt, gewaschen und gewartet. Neben den Abstellflächen gibt es also auch Reinigungs- und Werkstattkojen. Vorgespannte Unterzüge und Betonstützen tragen die Flachdecke über dem UG, die Farben Gelb und Grün treten zum Grau des Betons.

Skulptur und Textur

Die übrigen Nutzungen des Werkhofs sind im Kopfbau angeordnet. Zeichenhaft tritt das expressiv mit Beton ummantelte turmartige Salzsilo in Erscheinung, an das sich die abgesenkte Durchfahrt anschließt, in welcher die ERZ-Fahrzeuge den Straßenkehricht in bereitstehende Mulden entsorgen. Im Geschoss darüber befinden sich die Personalräume des Werkhofs: Im Anschluss an das Silo und noch vor der Halle auskragend, liegt das Büro mit seinen beiden großen Bullaugenfenstern, des Weiteren Garderoben, Nasszellen, Technikräume und schließlich der großzügige Aufenthaltsbereich am anderen Ende des Korridors. Nicht nur die Raucher werden sich über den schmalen, bepflanzten Innenhof auf der anderen Seite des Korridors freuen, der durch Betonlamellen vor zu starker Sonneneinstrahlung geschützt wird. Gebrochene Gneisplatten aus dem Calancatal bilden den Bodenbelag; das gleiche Material, nunmehr geschliffen, findet sich auch im Korridor und in den übrigen Bereichen.

Die Rauheit, die für einen Infrastrukturbau typisch ist, wird von pool Architekten wie bei den Treppenhäusern mit ihrer Kombination von Sichtbeton und Metallgittertreppen durchaus in Szene gesetzt, aber durch eine fast liebevolle Materialisierung verbindlich gemacht, man könnte auch sagen: humanisiert. Dementsprechend inszenieren sie im Büro- und Aufenthaltstrakt keine antithetische Wohlfühlwelt, sondern modulieren die Materialpalette mit Naturstein sowie Seekieferplatten für die Wandbekleidungen.

Besonders deutlich zeigt sich die Sorgfalt der Gestaltung: Nicht nur der polygonale Siloturm macht aus dem generischen Hallenbau ein wiedererkennbares Gebäude, das der Forderung des herausragenden architektonischen Ausdrucks entspricht. Bemerkenswert sind überdies die Oberflächen des Betons mit seinem filigranen Schalungsmuster aus in die Schalung eingelegten Tannenbrettern. Andreas Honegger, für das Projekt verantwortlich bei pool, verweist auf den Architekten Otto Glaus, dessen skulpturale Bauten aus den 60er Jahren vergleichbare Sichtbetonoberflächen aufweisen – das Werkschulhaus Hardau befindet sich fast in Sichtweite und kann daher als lokale Referenz verstanden werden. Die Schalungen am Bau von pool wurden vertikal, horizontal, diagonal eingesetzt, unterstreichen damit als grafische Texturen die Geometrie der Flächen und greifen selbst auf die Laibungen der Bullaugenfenster über. Mit dieser feinen Strategie gelingt die Domestizierung des Funktionsbaus, in dessen Umgebung künftig weitere Wohnungen entstehen: Das an der Ecke Bullinger- und Herdernstraße stehende Wohnhaus Zum Eber aus dem Jahr 1904, Fragment einer nie realisierten Blockrandbebauung, wird derzeit beidseitig durch Flügelbauten ergänzt und zu einem Jugendwohnprojekt umgebaut. Auf Instagram ist der Bau mit dem Salzsilo schon zum Star geworden: So viele Likes wie bei diesen Bildern, so Andreas Sonderegger, hätten pool Architekten noch nie erhalten.

db, Mo., 2022.01.17



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05. Oktober 2021Hubertus Adam
db

Der Kniff mit den Ecken

Glück gehabt: Nachdem zunächst ein monströses Sportzentrum samt Mantelbebauung zur Diskussion gestanden hatte, ‧entschied sich die Stadt Lausanne schließlich für ein pures, eigenfinanziertes Fußballstadion. Das architektonische und statische Konzept ist ebenso funktional einleuchtend wie visuell attraktiv. Der FC Lausanne-Sport kann sich über eine Ikone freuen.

Glück gehabt: Nachdem zunächst ein monströses Sportzentrum samt Mantelbebauung zur Diskussion gestanden hatte, ‧entschied sich die Stadt Lausanne schließlich für ein pures, eigenfinanziertes Fußballstadion. Das architektonische und statische Konzept ist ebenso funktional einleuchtend wie visuell attraktiv. Der FC Lausanne-Sport kann sich über eine Ikone freuen.

Für den FC Lausanne-Sport war der 29. November 2020 ein denkwürdiger Tag. Nicht unbedingt in sportlicher Hinsicht, unterlagen die Fußballer aus der Romandie doch in einer Heimniederlage 0:3 den Berner Young Boys. Aber in die Vereinsgeschichte geht das Datum trotzdem ein, weil an diesem Tag das erste Spiel im neuen Stadion stattfand, dem Stade de la Tuilière. Dieses liegt am nördlichen Stadtrand, dort wo die Stadt zerfasert und in eine landschaftlich geprägte Ebene übergeht. Bisher wurde ein Kilometer weiter südlich im Stade Olympique de la Pontaise gespielt, aber wie anderenorts auch entsprach der Bau aus dem Jahr 1954 nicht mehr den strengeren Sicherheitsvorschriften und ließ sich auch nicht mit vertretbarem Aufwand baulich anpassen.

Erfolg im zweiten Anlauf

Hervorgegangen ist der Stadionneubau aus dem Projekt »Métamorphose, das der Stadtrat seit 2006 verfolgt. Es handelt sich um einen Stadtumbau in großem Maßstab, der mehrere neu anzulegende Ökoquartiere zum Wohnen und Arbeiten, öffentliche Einrichtungen und Gewerbegebiete umfassen sollte, aber auch die Erneuerung nicht zuletzt der sportlichen Infrastruktur. Letztere sollte sich in einem Megakomplex mit Fußballstadion, olympischer Schwimmhalle und schier endlosen kommerziell nutzbaren Flächen für Büro und Gewerbe im südlichen Stadtteil Près-de-Vidy konzentrieren. Den Wettbewerb der Jahre 2011/12 konnten gmp für sich entscheiden, allerdings zeigte sich schnell, dass das »überspannte« Projekt auf tönernen Füßen stand: Das Modell der Public-private-Partnership basierte auf falschen Annahmen, wirtschaftlich war das ganze Vorhaben nicht tragfähig. Immerhin reagierte die Stadt schnell: Das gmp-Projekt verschwand in der Versenkung und mit ihm auch der Gedanke eines durch eine aufgeblasene Mantelbebauung sich finanzierenden Riesensportzentrums. Die Programmbestandteile wurden nun separiert und an andere Standorte verschoben: Das Schwimmbad nach Malley im Westen, das Stadion in das Viertel Tuilière im Norden. In einem neuerlichen Wettbewerb des Jahres 2014 setzten sich :mlzd und Sollberger Bögli aus Biel durch, die sich eigens dafür zusammengefunden hatten. Auf die hinteren Ränge verwiesen wurde die internationale Prominenz: OMA, SANAA, Souto de Moura, Cruz y Ortiz.

Nun ging es zügig voran – ganz anders als etwa in Aarau oder Zürich, wo die Stadionneubauten nur schleppend Fahrt aufnehmen. Da das Stadionprojekt schon in den Masterplan des bis 2030 in der Umgebung entstehenden Ökoquartiers Plain-de-Loup integriert war, bedurfte es keiner zusätzlichen Volksabstimmung. Als Bauherrschaft fungierte die Stadt Lausanne, die dem FC Lausanne-Sport den Betrieb übertragen hat und dafür Miete einnimmt. Ausgelegt ist das Stadion bei internationalen Spielen für 12 000 Besucherinnen und Besucher, für die Schweizer Super League (höchste Spielklasse der Schweizer Meisterschaft, entspricht der 1. Bundesliga in Deutschland) sind 12 500 zugelassen. Bei anderen Großveranstaltungen dürfen bis zu 20 000 Personen ins Stadion.

Abgeschnitten oder hochgeklappt

Wenn man sich von der Stadt her nähert, ist das Stadion schon von Weitem sichtbar. Breit gelagert ruht es auf einem leicht geböschten landschaftlichen Sockel und bildet den Auftakt des Centre Sportif de la Tuilière, einem sich in die Ebene über Landschaft und See erstreckenden Areal aus zwei Reihen leicht gegeneinander versetzter Fußballfelder samt Leichtathletikanlage. Ikonisches Zeichen sind die betonierten Ecken des Neubaus, die diesem einen ganz eigenen, unverwechselbaren Ausdruck verleihen und den eigentlichen Coup der Architekten darstellen. Versteht man das Stadion als Baumasse, so wirkt es, als seien die Ecken des orthogonalen Volumens, das durch vier das Spielfeld umgebende Tribünen gebildet wird, schräg abgeschnitten worden. Liest man es als Struktur, so erscheinen die Ecken wie hochgeklappt. Die Vorteile dieser gestalterisch prägnanten Lösung liegen auf der Hand: Durch die Abkantung der Ecken kann der Besucherstrom auf der räumlich begrenzten Parzelle besser um das Stadion herumgeführt werden. Zudem fungieren die perfekt geschalten Wandpartien nicht nur als Signete, sondern ganz praktisch als Vordächer für die an den Ecken angeordneten Zugänge.

Darüber hinaus sind die gekippten Betondreiecke zentrale Bestandteile des statischen Konzepts, das auf einer hybriden Struktur aus Stahl und Beton beruht. Die Eckwände belasten den umlaufenden stählernen Ringträger der Dachkonstruktion auf Zug, während sie unten durch eine Ringmauer aus ‧Beton verbunden sind. Die stählerne Dachkonstruktion selbst ruht auf einer Reihe ebensolcher Stützen, die auf dem oberen Umgang aufsitzen. Zugstangen an der Fassade stabilisieren die weit über das Spiel ausgreifenden Kragarme und fungieren bei Wind als Druckstäbe.

In diese Hülle eingeschrieben ist die Tribünenstruktur, die aus vor Ort betonierten Scheiben und präfabrizierten Tribünenelementen besteht. Mit 35 Grad weisen die Ränge die maximal in der Schweiz zulässige Steilheit auf, um die gewünschte Hexenkessel-Atmosphäre nach englischem Vorbild zu erzeugen; die Architekten verweisen insbesondere auf das Stadion des FC Liverpool an der Anfield Road. Unterstützt wird diese Wirkung noch durch das vergleichsweise niedrige Dach, welches die Wirkung der Fangesänge akustisch unterstützt. Förderlich in dieser Hinsicht war auch das Entfallen eines im Wettbewerb noch vorgesehenen Zwischengeschosses.

Hexenkessel samt Panorama

Hat man erst einmal auf der Tribüne Platz genommen, so lenkt nichts vom Spiel ab. Vor Spielbeginn und in der Pause hingegen locken die Erschließungsbereiche zwischen innerer und äußerer Schale, die veritable Aufenthaltsräume mit eigener architektonischer Qualität darstellen. Geräumig ist der mit gastronomischen Stationen ausgestattete untere Umgang hinter der Ringmauer. Über die mit Stufen und Sitzpodesten ausgestatteten Innenseiten der dreieckigen Eckwände gelangt man direkt hinauf zum oberen Umgang unterhalb des Dachs, der durch die als Windschutz dienende Verglasung hindurch ein faszinierendes 360-Grad-Panorama über Stadt, See und Alpen bietet.

Die klare und logische Tragstruktur des Gebäudes setzt auf die Rohheit des Materials, die unmittelbare Lesbarkeit und maximale Sichtbarkeit. Schon von den Eingängen an den Ecken aus öffnet sich der erste Blick auf das gegenüber der Umgebung 1 m vertiefte Spielfeld, und die Tribünenuntersichten bestimmen dank der Offenheit schon von außen das Bild. Möglich war all dies natürlich nur, weil keine Mantelnutzung einzubeziehen war, die gemeinhin die Kraft und Rauheit der Konstruktion verschleiert. Zusätzliche Nutzungen wie Restaurant oder VIP-Bereiche konzentrieren sich hier auf die mit ihrer Außenseite dem Platz zugewandten Haupttribüne, die von einer vertikal leicht gefalteten und damit an einen Vorhang erinnernden Glasfassade geprägt wird. Sie nimmt dem großmaßstäblichen Volumen etwas von seiner Wucht und vermittelt auf diese Weise zur Bebauung ringsum, während das Stadion auf den anderen Seiten nicht als Gebäude, sondern als reine Struktur erscheint. Als reine Struktur, die – wie Goethe angesichts der Arena von Verona konstatierte – sich eigentlich erst im Moment des Spiels vollendet und damit zur Architektur wird.

Der Kniff mit den Ecken hat Lausanne eine unverwechselbare Sportstätte beschert. :mlzd und Sollberger Bögli sprechen auch vom Bild eines Gefäßes, oder, um beim Sport zu bleiben, von einem Pokal. Der thront nun schon einmal am Stadtrand von Lausanne, auch wenn es für den FC Lausanne-Sport zu Pokal und Meisterschaft noch ein langer Weg sein sollte.

db, Di., 2021.10.05



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db 2021|10 Sport

09. August 2021Hubertus Adam
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Spielhaus unterm Kirchenzelt

Umnutzung ist besser als Abriss, aber nicht immer führt der Umbau von Kirchen zu überzeugenden Lösungen. In Hagen ist die Operation gelungen: Durch ein ‧Haus-in-Haus-Konzept, das mit aller gestalterischen Klarheit umgesetzt wurde, bleibt die Raumwirkung des einstigen Kirchenschiffs weiterhin erfahrbar.

Umnutzung ist besser als Abriss, aber nicht immer führt der Umbau von Kirchen zu überzeugenden Lösungen. In Hagen ist die Operation gelungen: Durch ein ‧Haus-in-Haus-Konzept, das mit aller gestalterischen Klarheit umgesetzt wurde, bleibt die Raumwirkung des einstigen Kirchenschiffs weiterhin erfahrbar.

Der Hamburger Architekt Gerhard Langmaack (1898-1986), der auf Empfehlung von Fritz Schumacher in jungen Jahren 1925/26 das Haus für die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg errichten konnte, zählte zu den prägenden Figuren des evangelischen Kirchenbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Mehr als 60 Sakralbauten weist sein Œuvre auf, wobei es sich zum Teil um Wiederaufbauprojekte, zum Teil um Umbauten handelten.

Im westfälischen Hagen entstand nach seinen Plänen 1960-62 die Martin-Luther-Kirche. In prominenter Lage, unmittelbar östlich des Hauptbahnhofs und direkt am Eingang zur Innenstadt, hatte die Evangelische Gemeinde der Stadt hier 1889 ihr zweites Gotteshaus errichten lassen. Der neogotische Bau des Leipziger Architekten Julius Zeißig wurde im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs nahezu komplett zerstört; erhalten blieben lediglich der Turmstumpf und geringe Reste der Außenmauern. Unter Zuhilfenahme einer Baracke des Reichsarbeitsdienstes konnten nach 1945 wieder Gottesdienste gefeiert werden, bis schließlich Langmaack seinen Kirchenneubau errichtete. Als Zeichen des Neubeginns wurde die Kirche rückwärtig auf dem Grundstück platziert und der mit einem roten Ziegelmantel umhüllte Turmstumpf vermittels eines Flachbaus einer Werktagskapelle von Süden her an das Kirchenschiff angedockt. Zeltartig im Ausdruck, verbreitert und erhöht sich dieses zum Altarraum, der aus einem schwingenden Zusammenspiel dreier konkaver Wände geformt ist. Die Wände des Schiffs bestehen aus einer mit farbigen Bleiglasfenstern ausgefachten Stahlbetonstruktur, während den Altarraum kleine halbrund geformte Fenster von der Seite aus in zurückhaltendes farbiges Licht tauchten.

Umnutzung in mehreren Schritten

Die demografische Situation in Hagen hat sich seit den 60er Jahren stark gewandelt, das Bahnhofsviertel wirkt multikulturell, und unmittelbar nördlich der Martin-Luther-Kirche steht inzwischen eine Moschee. Die in der Boomphase des Sakralbaus nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete Kirche war angesichts der schwindenden Anzahl von Gottesdienstbesuchern viel zu groß, sodass um 2000 durch Tobias Langmaack im Westteil des Kirchenschiffs eine Orchesterempore als Probenraum eingebaut wurde, die mit einer gefalteten Glaswand vom Rest des Innenraums abgetrennt war.

Dauerhaft war aber auch die Hybridnutzung keine Lösung, denn seit 2010 fanden keine Gottesdienste mehr in der Kirche statt. So entschied sich die Gemeinde, das inzwischen denkmalgeschützte Gebäude zu entwidmen; 2016 ging es in den Besitz der Stadt Hagen über. Mit dem Umbau zu einer Kita für ungefähr 100 Kinder war eine für einen ehemaligen Kirchenbau akzeptable Nachnutzung gefunden, und überdies erhoffte sich die Stadt damit eine Aufwertung des als tendenziell problematisch angesehenen Bahnhofsviertels.

Haus im Haus

Kitas in Kirchenbauten der Spätmoderne einzubauen, ist ein Thema, das auch schon anderenorts erprobt wurde, so von Bolles + Wilson 2013 in Münster und von Flos und K 2018 in Saarlouis. Das Projekt in Saarlouis ähnelt konzeptionell auch dem Vorgehen von Ellertmann Schmitz in Hagen, die ein Haus-in-Haus-Prinzip umgesetzt haben. »Arche« nennen sie den zweigeschossigen Einbau mit Satteldach, der mit seinem trapezoiden Wänden der Geometrie des Kirchenschiffs folgt und nur den Altarraum frei lässt. Wie beim Dach des Kirchenschiffs steigt auch hier die Dachlinie nach Osten hin an. Das neue bergende Gebäude steht also frei im Raum und lässt allseitig einen Umgang frei, der zugleich als thermischer Puffer fungiert.

Man betritt die Kita »Kolibri« wie vormals die Kirche über das Vestibül, wo die Eltern ihre Kinder abgeben und Kinderwagen abstellen können. Schon von hieraus wird das Haus-im-Haus-Prinzip sichtbar, und im Umgang überzeugt das Gegenüber der farbig verglasten Kirchenwand mit ihren rhythmisierenden Betonpfeilern und des Holzbaus der Arche. Deren EG umfasst Büros, eine Kindergartengruppe sowie einen Mehrzweckraum. Letzterer, ganz im Osten und damit im breitesten Bereich des Kinderhauses positioniert, lässt sich zum ehemaligen Altarbereich hin öffnen, sodass dieser optional räumlich mitgenutzt werden kann.

Die übrigen Kindergartengruppen nutzen das über Treppen vom Umgang aus zugängliche OG der Arche, für die unter Dreijährigen wurden die Werktagskapelle und das EG des Turms neu gestaltet. Unter der früheren Orgelempore, die in einem nördlichen Annexbau aufgestellt war, haben die Architekten die Küche und die Sanitärbereiche eingerichtet.

Weißer Gesamtklang

Der Einbau, dessen Lattung von der Brüstung der Orgelempore inspiriert ist, tritt als helles Gebäude in Erscheinung. Vom erdenden leichten Graublau des Linoleumbodens und dem Naturstein des früheren Altarbereichs abgesehen ist Weiß der durchgängige Farbton im Innern, auch die ursprünglich holzsichtige Decke wurde nun überstrichen. Denkt man an andere Kitas, die mit schreiender Buntfarbigkeit besonders kindgerecht erscheinen wollen, so ist diese Zurückhaltung wohltuend. Sie ist aber auch ästhetisch konsequent, denn Farbigkeit besteht schon: Sie kommt von den farbigen Bleiglasfenstern. Und schließlich ist die helle Farbfassung des Innern auch eine Notwendigkeit, um eine gute Belichtung der Arche zu ermöglichen. Dazu tragen weitere Maßnahmen bei – einerseits die Oberlichter im Dach, andererseits haben Ellertmann Schmitz vereinzelte Buntglasfelder des Kirchenschiffs entfernt und die farbige Verglasung des Chorbereichs komplett durch Klarglas ersetzt.

Das Transformationsprojekt überzeugt durch architektonische Präzision, gestalterische Klarheit und den Respekt vor dem Baubestand. Dadurch, dass das neue Volumen frei im Raum steht und das Innere nicht komplett verbaut und zergliedert, bleibt die vormalige Raumwirkung der Kirche noch gut erfahrbar. Das Haus-in-Haus-Konzept – von den Architekten liebevoll sogar mit Dachüberständen umgesetzt, als könne es hier regnen – führt überdies zu einem willkommenen Nebeneffekt: Unter dem Kirchendach wirkt die Arche viel kleiner als sie in Wirklichkeit ist. Fast puppenstubenartig, ein veritables Haus zum Spielen.

db, Mo., 2021.08.09



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db 2021|08 Bauen im Bestand

23. Juli 2021Hubertus Adam
Bauwelt

Zodiac in Le Locle

Die großen Zeiten mehrerer Uhrenfabriken in Le Locle und La Chaux-de-Fonds sind vorbei. Die Umnutzung von Leerstand in Wohnraum funktioniert gut, auch bei Zodiac. Der spätere Le Corbusier baute 1912 ganz in der Nähe sein zweites Haus, eine Uhrenfabrikanten-Villa.

Die großen Zeiten mehrerer Uhrenfabriken in Le Locle und La Chaux-de-Fonds sind vorbei. Die Umnutzung von Leerstand in Wohnraum funktioniert gut, auch bei Zodiac. Der spätere Le Corbusier baute 1912 ganz in der Nähe sein zweites Haus, eine Uhrenfabrikanten-Villa.

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Bauwelt 2021|15 Raus mit euch!

06. Juli 2021Hubertus Adam
db

Weniger ist mehr

Ein nicht mehr benötigter Lagerschuppen hat eine neue Nutzung als Wohngebäude für vier Personen erhalten. Ein sich über drei Geschosse erstreckendes Wohnkontinuum lässt die räumliche Beschränkung vergessen. Neben dem geringen Flächenverbrauch basiert das architektonische Konzept auf der Wiederverwendung von Baustoffen und der Verwendung unbehandelter und demontierbarer Materialien.

Ein nicht mehr benötigter Lagerschuppen hat eine neue Nutzung als Wohngebäude für vier Personen erhalten. Ein sich über drei Geschosse erstreckendes Wohnkontinuum lässt die räumliche Beschränkung vergessen. Neben dem geringen Flächenverbrauch basiert das architektonische Konzept auf der Wiederverwendung von Baustoffen und der Verwendung unbehandelter und demontierbarer Materialien.

Bescheiden wirkt das Haus auf einer kleinen Parzelle an einer Straßenecke in Jonschwil, einer Gemeinde mit knapp 4000 Einwohnern im Nordwesten des Kantons St. Gallen. Auffallen würde es im Kontext des Ortszentrums kaum, nur die helle, noch unverwitterte vertikale Holzlattung der Fassaden zeugt davon, dass die Fertigstellung nicht allzu lange zurückliegt. Der minimale Dachüberstand, die präzise gesetzten Fensteröffnungen, die perfekt fassadenbündig sich einfügenden Fensterläden: All das sind untrügliche Zeichen architektonisch-gestalterischer Sorgfalt. Aber mit seinen zwei Vollgeschossen und dem traufständigen Satteldach passt sich das Gebäude in die von Einzelbauten geprägte Kernzone von Jonschwil ein, als hätte es schon immer dort gestanden. Was auch nicht ganz falsch ist, denn es handelt sich nicht um einen Neubau, sondern einen Umbau.

Transformation eines Schuppens

Denn das »Kleine Haus«, wie Architekt Lukas Lenherr es nennt, wurzelt in einer Remise, einem hölzernen Schuppen, in dem früher das Holz für die nahe gelegene Konditorei und das Gasthaus lagerte. 1988 wurden Betonwände und eine Decke zwischen EG und 1. OG eingezogen, um die mittlerweile windschiefe Konstruktion zu stabilisieren und damit vor dem Einsturz zu bewahren.

Schließlich entschieden sich die heutigen Eigentümer – ein Paar mit zwei Kindern –, den nicht mehr benötigten Wirtschaftsbau in ein Wohnhaus umzubauen. Dabei blieb so viel wie möglich von der bestehenden Substanz erhalten: um die Kosten möglichst niedrig zu halten, aber auch, um ein Zeichen zu setzen gegen den Verschleiß von weiter nutzbaren Ressourcen. Das – nun grundsanierte – Volumen entspricht dem des Altbaus; eine Veränderung hätte der Ortsbildschutz ohnehin nicht zugelassen.

Erhalten werden konnte das Tragwerk des nach traditioneller Technik in Fachwerkbauweise erhaltenen Gebäudes samt der als Sprengwerk ausgeführten Dachkonstruktion; die bestehenden Elemente wurden lediglich sandgestrahlt und konnten dann wiederverwendet werden, wobei Teile der einstigen äußeren Holzbekleidung nunmehr als Innenbekleidung eingesetzt sind. Erhalten blieb überdies der gut 20 Jahre alte Betoneinbau, in den allerdings verschiedene Öffnungen geschnitten wurden. Markant ist insbesondere der fünfeckige Deckendurchbruch, der nicht nur Platz für die Treppe lässt, sondern darüber hinaus auch der Belichtung des EGs dient – und den Sichtverbindungen zwischen den Geschossen. Die Größe des Durchbruchs erzwang eine Verstärkung der verbliebenen Deckenplatte, die mittels CFK-Lamellen erfolgte. Diese mit Epoxidkleber gebundenen Kohlefaserbündel erlaubten es, auf Unterzüge oder Stützen zu verzichten. In der Deckenuntersicht treten sie als schwarze Lineaturen in Erscheinung. Ganz bewusst, denn Auftraggeberschaft und Architekt verfolgten das Konzept, die verschiedenen Materialien sichtbar zu lassen, nach Möglichkeit aber auch später wieder trennen und demontieren zu können. Dies implizierte den weitgehenden Verzicht auf hybride Baustoffe: Die verwendeten Elemente sind weitestgehend naturbelassen und im Idealfall nur verschraubt, sodass sie später demontierbar bleiben und anderenorts wiederverwendet werden können. Auch die Biberschwanzziegel des Dachs wurden erneut eingesetzt, mussten angesichts der neuen Doppeldeckung aber durch neues Material ergänzt werden. Die Küchengeräte stammen von der Bauteilbörse und wurden in einen Unterbau aus Birkensperrholz eingesetzt.

Flexibler und offener Wohnparcours

So schlicht das Volumen von außen auch erscheint, die große Qualität des Umbaus manifestiert sich im Innern. Die Wohnräume folgen keiner traditionellen Zimmeraufteilung, sondern zeigen sich wie eine drei Geschosse übergreifende, fließende Raumlandschaft. Um den Platz im Innern möglichst effizient zu nutzen, unterbleibt die klassische Trennung von bedienten und dienenden Räumen, also von Wohnräumen, Korridor oder Erschließungszonen. Letztere existieren hier nicht – wer sich durch die Geschosse bewegt, nutzt den skulptural anmutenden, hinsichtlich seiner funktionalen Determiniertheit flexiblen Wohnparcours, der im Küchen- und Essbereich beginnt, sich auf der Betonplattform im 1. OG fortsetzt und schließlich im partiell eingebauten DG endet. Die vielen Durchbrüche und -blicke zwischen den Geschossen, bei denen Netze als Absturzsicherungen dienen, erzeugen eine trotz der geringen Größe des Hauses erstaunliche Großzügigkeit, angesichts derer Lukas Lenherr nicht zu Unrecht auf die Raumkonzepte japanischer Kleinhäuser verweist. Reizvoll ist die Tatsache, dass die Fachwerkkonstruktion, die von der Geschichte des Gebäudes erzählt, im Innern sichtbar ist und damit zum wirkungsbestimmenden Faktor wird.

Weniger Flächenverbrauch pro Kopf

Für die Fassade wählte Lenherr Lärchenholz, die Dämmung besteht aus Holzfasern und Schafwolle, die Fenster sind in unbehandeltem Föhrenholz ausgeführt. Die Bodenheizung im einfach geschliffenen Estrich – im OG befindet sich ein einfacher Brettschichtboden – ist an einen Holzofen angeschlossen. Die Verwendung einfacher, unbehandelter Materialien folgt dem Gebot baubiologischer Korrektheit, erzeugt aber auch eine angenehme Raumatmosphäre.

Das Projekt überzeugt in nachhaltiger Hinsicht aber nicht nur durch die Wiederverwendung von Baustoffen und den Einsatz unbehandelter und demontierbarer Materialien, sondern v. a. durch seine räumliche Bescheidenheit. Laut dem Bundesamt für Statistik beträgt die Wohnfläche pro Kopf in der Schweiz durchschnittlich 46 m². Hier aber lebt eine vierköpfige Familie auf 99 m², auch wenn die geschickte Raumorganisation nirgends das Gefühl räumlicher Enge entstehen lässt. Gewisse Beschränkungen waren aber in Kauf zu nehmen: Ein Keller beispielsweise existiert aufgrund des hohen Grundwasserspiegels nicht, und auch die Abstände zu den Nachbargrundstücken sind nicht gerade großzügig. Aber immerhin bot die Auflösung des Parkplatzes Raum für einen kleinen Gemüsegarten – und da das Haus klein ist, konnte die gesamte Haustechnik in einem Schrank im Waschraum untergebracht werden.

Die Klarheit der schlichten Fassaden, bei der auf Vorsprünge und Außenräume verzichtet wurde, lässt das nunmehr domestizierte frühere Wirtschaftsgebäude noch anklingen.

db, Di., 2021.07.06



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db 2021|07 Anders Bauen

11. Mai 2021Hubertus Adam
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Künstliche Natürlichkeit

Am Naturmuseum in St. Gallen stellte sich für Robin Winogrond und Studio Vulkan die Herausforderung, einen Park auf einem Autobahndeckel zu gestalten, der sowohl museumsdidaktische Qualitäten aufweist als auch in der heterogenen städtebaulichen Situation verbindend wirkt. Entstanden ist eine anregende künstliche Wildnis, die sich dem ­Widersprüchlichen der vorgefundenen suburbanen Situation annimmt und auf subtile Weise das Wechselspiel von Künstlichkeit und Natürlichkeit thematisiert.

Am Naturmuseum in St. Gallen stellte sich für Robin Winogrond und Studio Vulkan die Herausforderung, einen Park auf einem Autobahndeckel zu gestalten, der sowohl museumsdidaktische Qualitäten aufweist als auch in der heterogenen städtebaulichen Situation verbindend wirkt. Entstanden ist eine anregende künstliche Wildnis, die sich dem ­Widersprüchlichen der vorgefundenen suburbanen Situation annimmt und auf subtile Weise das Wechselspiel von Künstlichkeit und Natürlichkeit thematisiert.

Die Autobahn A1 durchmisst die Schweiz von Osten nach Westen, von der ­österreichischen Grenze bei St. Margrethen bis Genf. Seit der Inbetriebnahme des ersten Abschnitts bei Bern 1962 wurde die Trasse sukzessive ausgebaut. Die Stadtautobahn St. Gallen, eröffnet 1987, zählt zu den späteren Teil­stücken. Gerade in diesem Bereich gilt die Autobahn als Nadelöhr: Weil sie mitten durch den Ostschweizer Kantonshauptort führt, dient sie nicht nur dem Transit, sondern auch dem innerstädtischen Verkehr. Zwei Tunnel reduzieren das Lärmproblem: Der unter dem Rosenberg wurde in bergmännischem Vortrieb erstellt, während der 570 m lange Stephanshorn-Tunnel sich als überdeckelte Trogstrecke zwischen den Stadtteilen Neudorf und St. Finden erstreckt. Am östlichen Tunnelportal, also dort, wo die Rorschacher Straße die Autobahn kreuzt, hat seit Ende 2016 das Naturmuseum St. Gallen sein neues Domizil gefunden. Die mächtige Kirche St. Maria Neudorf, das ­zwischen ­spätem Historismus und Jugendstil oszillierende Hauptwerk des ­Architekten Adolf Gaudy, bildet bis heute die städtebauliche Dominante ­dieser Gegend. Als der Kirchenbau 1917 nach dreijähriger Bauzeit geweiht wurde, war er gleichsam ein Versprechen auf weiteres Wachstum der aufgrund des Stickerei­gewerbes prosperierenden Stadt. Doch lange stand der Bau im Abseits und noch heute steht er etwas verloren da: wenn auch nicht auf weiter Flur, so doch in schütter bebauter Umgebung, die in ihrer heterogenen Struktur alle Merkmale des Suburbanen trägt.

Pendant zur Kirche

Das hat sich nun mit dem Naturmuseum geändert. Die 1846 gegründete Institution war zuvor im innerstädtischen Stadtpark mit dem Kunstmuseum baulich vereinigt. Der Altbau des Museums zeigte sich indes trotz Sanierung 1987 den wachsenden Sammlungen nicht gewachsen. Doch da das Stimmvolk 2003 einen benachbarten Erweiterungsbau des Kunstmuseums ablehnte, musste das Naturmuseum an den Stadtrand umziehen. Im Wettbewerb des Jahres 2009 konnte sich das Gemeinschaftsprojekt der Zürcher Architekturbüros Michael Meier und Marius Hug sowie Armon Semadeni durchsetzen.

Meier Hug und Semadeni haben ein Gebäude realisiert, das sich zunächst der direkten Einordnung entzieht. Kommt man aus Richtung Innenstadt, so steht es – durch eine Freifläche getrennt, unter der hindurch der Autobahntunnel verläuft – hinter der Kirche St. Maria Neudorf, nimmt deren Achse auf – mit anderen Worten: steht parallel zur Straße. Die Grundrissfläche ist ähnlich groß wie jene der Kirche, sodass sich eine gewisse optische Balance ergibt. Fünf parallele Trakte von gleicher Breite mit Satteldächern von ­gleicher Höhe und den First bekrönenden Oberlichtbändern sind zu einem kompakten Volumen vereint. Aussparungen an den Ecken führen dazu, dass man das Gebäude von keiner Perspektive aus in seiner Gesamtheit über­blicken kann.

Die landschaftsarchitektonische Gestaltung der Umgebung war von Anfang an zentraler Bestandteil des Gesamtprojekts. Zum einen, um Kirche und ­Museum gestalterisch zu verbinden, zum anderen, um die Thematik und ­Fragestellungen des Naturmuseums auch im Außenraum fortzuführen. Und schließlich ging es darum, eine suburbane, von der Infrastruktur der Autobahn und der verkehrsreichen und lärmintensiven Rorschacher Straße ­geprägte Situation aufzuwerten, wobei die geringe Überdeckung über dem Autobahntunnel eine besondere Herausforderung darstellte und tiefwur­zelnde Pflanzen unmöglich machte.

Vermeintliche Widersprüche

Unbefangen von Natur zu sprechen, mag im Anthropozän ohnehin verfehlt sein. Aber beim Museumspark in St. Gallen handelt es sich um einen in jeder Hinsicht artifiziellen Park. Robin Winogrond und Studio Vulkan haben diese Ausgangssituation, die für die Schweiz durchaus nicht untypisch ist, zum Thema gemacht: Sie sprechen vom Paradoxon der Schweizer Landschaft, von künstlicher Natürlichkeit und natürlicher Künstlichkeit.

Buchenhecken und Hainbuchen umgeben den Park, dazu treten Stauden und Farne – und Hortensien, mithin einheimische und zugleich exotische Pflanzen. Vor dem Haupteingang des Museums stehen zwei Ginkgos, ursprünglich ostasiatische Bäume, die aufgrund ihrer Eigenschaften eher den Nadel­bäumen zuzuordnen sind, vielmehr jedoch als Spezies jenseits der Nadel- oder Laubbäume zu verstehen sind. An der östlichen Stirnseite wächst eine Lärche, also jener einheimische Nadelbaum, der – einem Laubbaum ­vergleichbar – seine Nadeln abwirft. Die Ambivalenz des Bepflanzungskonzepts findet in den übrigen zur Park­gestaltung verwendeten Elementen ihre Fortsetzung. Der typische Ostschweizer Sandstein mit seiner grünlichen Färbung wurde in Form von Schotter zum bodenbedeckenden Material. Nahe der Kirche ist eine Gruppe von Findlingen angeordnet, die während der letzten Eiszeit von Gletschern bis ins Schweizer Mittelland transportiert wurden.

Die meisten Brocken und Platten des Parks bestehen hingegen aus Nagelfluh, dem für das nördliche Alpenvorland typischen Konglomeratgestein, v. a. aber aus seinem menschengemachten Pendant, dem Beton. Die Betonplatten ­zeigen vielfältige Spuren der Bearbeitungen, aber auch Abdrücke von Drainage­matten und Holzplatten. Und Abgüsse von Fossilien, etwa Ammoniten oder Saurierknochen. Andere Steine sind mit Begriffen versehen, die auf die Erdgeschichte der Region verweisen: »Tropisches Meer«, das sich während der Kreidezeit bis in die Schweiz erstreckte, »Ultrahelveticum«, »Metamorphose«, »Holozän«, »Superkontinent«. Inspirieren und neugierig machen will dieser Park, und schließlich auch zum Nachdenken anregen. »Nichts im Leben ist beständiger als der Wandel«, ein Zitat von Charles Darwin, liest man auf einer Betonscholle, Max Plancks Aussage »Die Naturwissenschaften braucht der Mensch zum Erkennen, den Glauben zum Handeln« auf einer anderen. Und auf der bankartigen Mauer, welche den Bereich hinter der Kirchenapsis vom Park abgrenzt, ist ein Bibelzitat (1 Mose 2,15) eingelassen: »Gott übertrug den Menschen die Aufgabe, den Garten zu pflegen und zu bewahren.« Glaube und Naturwissenschaft, auch diese beiden ­Pole verbindet der Park. Indem ein Wegesystem zwischen Kirche, Museum und dem nördlich gelegenen Botanischen Garten entsteht. Und indem die Blickachse zwischen den beiden Gebäuden aufgrund der niedrigeren ­Bepflanzung in der Mitte frei bleibt. Schließlich spielt auch das Wasser als Grundlage allen Lebens eine wichtige Rolle: Vor der Terrasse des Museums­cafés liegt der »Forscherteich«, der von der Museumspädagogik genutzt wird, nahe der Kirche ein runder Brunnen, der »Ort der Begegnung«, der auch für Taufen dient.

Der Park ist rund um die Uhr zugänglich, man kann die Wege nutzen, aber auch von Stein zu Stein springen und das Schotterdickicht durchqueren. Er ist ein Ort zum Lernen und Entdecken, er verweist aber auch subtil auf die Tradition des historischen Landschaftsgartens mit seinen Fragmenten, künstlichen Ruinen und Sinnsprüchen. Kritisieren könnte man einzig, dass hier auf vergleichsweise engem Raum zu viel gewollt ­wurde. Die Offenheit der angesprochenen Themen wirkt allerdings einer möglichen didaktischen Überfrachtung entgegen. Und das Spiel mit Natürlichkeit und Künstlichkeit ist auf ebenso intelligente wie anregende Art und Weise umgesetzt.

db, Di., 2021.05.11



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db 2021|05 Außenraum

11. Januar 2021Hubertus Adam
db

Dachlandschaft vor Alpenpanorama

Ein hölzernes Abschlussgeschoss mit drei markanten Dachhauben, das Alt- und Neubau überspannt, bildet den Blickfang auf dem Firmengelände eines Innerschweizer Schokoladenherstellers. Die Silhouette des mitten im Talkessel gelegenen Gebäudes beeindruckt nicht zuletzt aus der Ferne.

Ein hölzernes Abschlussgeschoss mit drei markanten Dachhauben, das Alt- und Neubau überspannt, bildet den Blickfang auf dem Firmengelände eines Innerschweizer Schokoladenherstellers. Die Silhouette des mitten im Talkessel gelegenen Gebäudes beeindruckt nicht zuletzt aus der Ferne.

Selbst in der Schweiz ist der Firmenname Felchlin nur wenigen ein Begriff. Dabei stellt das im Kanton Schwyz ansässige Unternehmen Schokolade her, die zum Besten gehört, was dieser Sektor zu bieten hat. Seit 1999 verwendet die Max Felchlin AG das aus dem Weinbau bekannte Qualitätslabel »Grand Cru« auch für die Schokoladenherstellung: Die Kakaobohnen stammen aus nachhaltigem kontrollierten Anbau mit fairen Lieferketten, die qualitätsbewusste Produktion in der Schweiz erfolgt in einem Manufakturbetrieb, der sich von den industriellen Herstellern unterscheidet. Doch die Firma tritt zum einen kaum mit ihrem Namen in Erscheinung, da sie Halbfabrikate, v. a. Kuvertüre, vertreibt zum anderen sind ihre Kunden nicht Endverbraucher, sondern Konditoren, Konfiseure und Chocolatiers. Und zwar weltweit – seit Beginn der 80er Jahre v. a. in den USA und in Japan. Regelmäßig veranstaltet Felchlin Schulungen für seine Geschäftspartner, bisher in Form einwöchiger Kurse in einem »Condirama« genannten Gebäude in Schwyz.

Die Produktion des aus einer 1908 gegründeten lokalen Honighandlung hervorgegangenen Unternehmens war hingegen 1974 in die nahe gelegene Gemeinde Ibach verlagert worden. Weil dort noch Baulandreserven existierten, entschloss sich die Firmenleitung vor einigen Jahren, auch Verwaltung und Schulungszentrum nach Ibach zu verlagern und damit alle Abteilungen und sämtliche 150 Mitarbeitende an einem Standort zu konzentrieren. Im Wettbewerb 2014 konnte sich das Architekturbüro Meili, Peter (seit 2016 Meili, Peter & Partner) durchsetzen, 2018 war das Projekt fertiggestellt.

Verknüpfung und Überlagerung

Das Fabrikgelände befindet sich am Westrand von Ibach in einem typischen ländlichen Gewerbegebiet, bei dem sich Landmaschinenhandlungen, anspruchslose Zweckbauten und Kuhweiden abwechseln. Im Süden grenzt das Areal an die Kantonsstraße, im Norden an den hier kanalisierten und von Dämmen gesäumten Fluss Muota. Zum Bestand gehören die silbergrau bekleideten Produktionshallen, an die sich ein mit anthrazitfarbenen Blechpaneelen umhüllter Gebäudetrakt anschließt. Diesem haben die Architekten mit bewusstem Abstand und im rechten Winkel ein Verwaltungsgebäude zur Seite gestellt. Zu einem Ensemble zusammengefasst werden die beiden Bauteile durch einen lang gestreckten Dachaufbau mit einer expressiven, in drei Hauben sich aufgipfelnden Dachstruktur. Als pavillonähnliche Holzkonstruktion überspannt dieses nach Norden 2 m, nach Süden 3,33 m auskragende fünfte Geschoss die 12 m breite Lücke zwischen den beiden Baukörpern. Meili, Peter integrieren auf diese Weise das Bestandsgebäude; was Bestand, was Neubau ist, wird auf den ersten Blick nicht offensichtlich. Somit ist das Ziel nicht der Kontrast – aber ebenfalls nicht die Homogenisierung. Die Strategien von Addition, Verknüpfung, Überlagerung bestimmten schon eine Reihe früherer Projekte des Architekturbüros, darunter das Centro Helvetia in Mailand (2004-09). Der Bezug zum Werk von Luigi Caccia Dominioni (1913-2016), das die Architekten als Inspirationsquelle für die zeitgenössische Schweizer Architektur entdeckt haben, ist auch beim Felchlin-Projekt augenfällig. Hier drängt sich insbesondere der Vergleich mit dem Gebäude für die Firma Loro Parisini (1951-57) an der Via Savona in Mailand auf, bei dem ein verglaster wolkenbügelartiger Aufbau mit atemberaubender stirnseitiger Auskragung über der bestehenden Struktur positioniert wurde.

Hybride Konstruktion

Das Verwaltungsgebäude, in dessen EG neben der doppelgeschossigen Eingangshalle mit Rezeption auch ein Werksverkauf Platz gefunden hat, besteht konstruktiv aus einer Skelettstruktur, die mit einer Fassade aus dunklem Tannenholz bekleidet ist. Die Skelettbauweise erlaubt es im Zusammenspiel mit den Leichtbauwänden und den offenen Leitungsführungen, die Raumeinteilung im Innern sich verändernden Bedürfnissen anzupassen. Auch hier wird das Prinzip der Addition evident: Zu der Primärstuktur aus Sichtbeton in Form von Erschließungskernen, Rundpfeilern und Trägern treten die weißen Wände, graue Akustikelemente an den Decken, z. T. sind sie auch in die Wände eingelassen, sowie hölzerne Einbaumöbel. Im 3. OG mit der Laborküche wandelt sich das Bild: Auf den Rundpfeilern ruhen die gewaltigen, das Bauvolumen überspannenden Träger aus Brettschichtholz. Die Struktur des lang gestreckten pavillonartigen obersten Geschosses drückt sich sozusagen nach unten durch, beim Blick an die Decke wird der Wechsel von der Massiv- zur Holzbauweise unmittelbar sichtbar.

Die Abfolge der Brettschichtholzträger wird auch im brückenähnlichen Bereich zwischen den beiden Bauteilen beibehalten: drei geschosshohe Holzfachwerke fungieren als Längsträger, an denen die Balken hängen. Eine zusätzliche Herausforderung stellte die Lastabtragung im Bereich des Bestandsgebäudes dar. Weil dieses keine horizontalen Lasten aufnehmen kann, dient ein horizontales Stahlfachwerk als Abfangkonstruktion.

Filigranität und Massivität

Der auskragende Trägerrost bildet die Basis für das grandiose Faltwerksystem des 4. OGs, das aus einem hybriden Zusammenspiel von Elementen aus Massivholz, Leimholz und Holzwerkstoffen besteht. Räumliche Schwerpunkte bilden die beiden Schulungsräume des Condirama, die die Besucher mit dem Lift vom EG aus erreichen, sowie der große, dreiseitig verglaste Gemeinschaftsraum der Felchlin-Mitarbeitenden an der östlichen Gebäudestirn.

Zusammen mit den Holzingenieuren von Pirmin Jung entwickelten Meili, Peter ein komplexes System aus Holzbautechniken, die vom Brückenbau inspiriert sind. Die Dachlast wird von Sprengwerken übernommen, die zwischen geneigte Fachwerke eingespannt sind.

Gewaltig tritt das Stabwerk der Dachkonstruktion in Erscheinung, und doch wirkt es wie schwebend, fast zeltartig. Balken verschiedener Querschnitte und Ausrichtung verbinden sich optisch zu einem ebenso eindrucks- wie ausdrucksvollen Gefüge, das zwischen Filigranität und Massivität oszilliert. Die Perfektion liegt im Detail: An den Decken sind die Dachsparren radial aufgefächert, wie man es von der japanischen Tempelarchitektur kennt.

Nahsicht und Fernwirkung

Die Dachhauben beeindrucken aufgrund ihrer expressiven Gestalt nicht nur im Innern. Sie bestimmen auch die markante Silhouette des Gebäudes. Besonders aus der Ferne, denn wenn man sich dem Gebäude von der Straße aus über den Vorplatz nähert, werden sie unsichtbar. Die Fernwirkung aber ist an diesem Standort von besonderer Bedeutung: Ibach liegt inmitten des Schwyzer Talkessels, einer weitläufigen Ebene, die allseitig von markanten Bergen der Innerschweiz umgeben ist: vom Urmiberg – dem Ausläufer des Rigimassivs – im Norden, von den Mythen im Osten, von Stoos und Fronalpstock im Süden, von der Brandegg mit Seelisberg und Rütli im Westen. Die Dachlandschaft spielt mit dieser Topografie, was besonders eindrucksvoll sichtbar ist, wenn man am anderen Ufer der Muota steht und das Felchlin-Gebäude mit seinen drei Gipfeln vor der Silhouette des Fronalpstocks sieht. Nicht weniger eindrucksvoll aber wirkt das Gebäude, wenn man vom Zürichsee aus die Kantonsstraße über Rothenturm nimmt und aus der Höhe hinunter in den Schwyzer Talkessel fährt. Die Dachlandschaft des Felchlin-Gebäudes ist inmitten der dispersen Bauten ringsum unübersehbar und mutet fast wie ein japanischer Tempelkomplex inmitten alltäglicher Bebauung an.

db, Mo., 2021.01.11



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db 2021|01-02 Dachlandschaften

14. August 2020Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Muss das nun schon wieder weg? In den Schweizer Städten geht eine Abriss-Manie um

Doch Ersatzneubauten sind nicht immer die beste Lösung. Umdenken tut not.

Doch Ersatzneubauten sind nicht immer die beste Lösung. Umdenken tut not.

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07. Februar 2020Hubertus Adam
Bauwelt

Schwimmen und Sonnen

Licht-Luft-Sonne: Das Freibad in Adelboden ist die gebaute Ideologie der Moderne. Akkurat Bauate­lier stellten nicht nur das Original wieder her, sondern passten es an heutige Standards an.

Licht-Luft-Sonne: Das Freibad in Adelboden ist die gebaute Ideologie der Moderne. Akkurat Bauate­lier stellten nicht nur das Original wieder her, sondern passten es an heutige Standards an.

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Bauwelt 2020|03 ... und Sport

21. Januar 2020Hubertus Adam
db

»Neutraler« Farbton für den Kunstkoloss

Als wuchtiges Volumen steht das neue Kunstmuseum von Lausanne neben dem Bahnhof. Um Raum für einen Vorplatz zu schaffen, wurden die historischen Lokremisen weitgehend abgerissen. Die dezente Farbigkeit der Klinkerfassade soll eine gewisse Neutralität erzielen. Das gelingt auch, aber im Innern wirkt die konsistente Farbigkeit in Greige eher steril. Was aber auch mit der problematischen Abfolge der Räume zu tun hat.

Als wuchtiges Volumen steht das neue Kunstmuseum von Lausanne neben dem Bahnhof. Um Raum für einen Vorplatz zu schaffen, wurden die historischen Lokremisen weitgehend abgerissen. Die dezente Farbigkeit der Klinkerfassade soll eine gewisse Neutralität erzielen. Das gelingt auch, aber im Innern wirkt die konsistente Farbigkeit in Greige eher steril. Was aber auch mit der problematischen Abfolge der Räume zu tun hat.

Es gibt immer wieder einmal in der Schweiz tätige ausländische Architekturbüros, die, um es salopp auszudrücken, fast schweizerischer bauen als die Schweizer selbst. Dazu könnte man etwa die Briten Caruso StJohn und Sergison Bates zählen. Und, jüngstes Beispiel, Barozzi Veiga. Gleich drei Projekte konnte das in Barcelona beheimatete Büro in den vergangenen Jahren in der Eidgenossenschaft fertigstellen: die Erweiterung des Bündner Kunstmuseums in Chur, das Tanzhaus in Zürich und den im Oktober 2019 eröffneten Neubau des Musée Cantonal des Beaux-Arts in Lausanne. Bei letzterem war die Planungsspanne am längsten: 2010 fand der Wettbewerb statt, in den Barozzi Veiga auf dem Nachwuchsticket einrückten und der ihnen am Ende den Sieg der fachlich von David Chipperfield präsidierten Jury bescherte – und damit ihr erstes Projekt in der Schweiz. Der Bau neben dem Bahnhof ­polarisiert. Manche halten ihn für monströs. Das ist etwas übertrieben. Aber Barozzi Veiga, als deren bislang wichtigstes Werk wohl die Philharmonie in Stettin gelten kann, machen es den Besuchern generell nicht leicht, ihre Architektur ins Herz zu schließen. Vielleicht muss man aber in Lausanne dankbar sein, dass der Neubau des kantonalen Kunstmuseums zustande gekommen ist, denn der Weg dorthin war für das Musée Cantonal des Beaux-Arts (MCBA) mühsam.

Daher zunächst ein Blick zurück. Die Ursprünge des Museums wurzeln in Kunstsammlungen und Stiftungen von Künstlern aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Kollektion wuchs sukzessive, 1906 konnte die Institution Räumlichkeiten im Palais de Rumine beziehen, einem neu errichteten Gebäude im Stil der Florentiner Renaissance. Der Prachtbau an der Place de la Riponne beherbergte diverse Kulturinstitutionen des Kantons; verschiedene Museen, die Bibliothek und die Universität. Konsequenz: Für das MCBA stand nur ein Geschoss zur Verfügung. Schon 1924 forderte der Direktor ein eigenes Haus, doch es sollte bis 1991 dauern, ehe die politische Entscheidung hierfür fiel. Nach zwei gescheiterten Versuchen, der Sammlung endlich zu einer neuen Heimat – zunächst am Ufer des Genfer Sees und dann am Rande der Altstadt – zu verhelfen, fiel schließlich die Entscheidung für einen Standort nahe dem Bahnhof. Gewissermaßen handelte es sich um einen Kompromiss, denn der Bahnhof liegt nicht oben in der Altstadt und nicht unten am See, sondern auf halbem Weg dazwischen und auf halber Höhe am Hang. Außerdem befanden sich hier ausgedehnte Hallen für das Abstellen und für die Reparatur von Lokmotiven. Die Gebäude wurden nicht mehr benötigt und harrten ohnehin einer neuen Nutzung, sodass die Stadt das Gelände im Austausch mit einer anderen Parzelle von den Schweizer Bundesbahnen erhielt. Auch das nahm, wie man zurecht kalkulierte, möglichen Gegnern den Wind aus den Segeln. Und schließlich wurde der Neubau des MCBA nicht mehr als singuläres Projekt vorangetrieben, sondern zusammen mit Neubauten für das auf Fotografie spezialisierte Musée de l’Elysée und das mudac, das Museum für Design und angewandte Kunst.

Neuanfang statt Umbau

Der Wettbewerb 2010 betraf also nicht nur das Neubauprojekt für das MCBA, sondern umfasste auch einen städtebaulichen Masterplan für die Umwandlung des ehemaligen CFF-Geländes in ein Kulturareal.

Die einstigen Lokomotivhallen befanden sich zwar niveaugleich unmittelbar westlich des Bahnhofs von Lausanne. Dennoch ist das langgestreckte Terrain hinsichtlich seiner Proportion und Lage nicht ohne Probleme. Auf der Süd­seite grenzt es unmittelbar an die vielbefahrenen Bahngleise Richtung Genf, Richtung Westen ist der Durchgang versperrt, und auf der Nordseite wird es durch Stützarkaden und Wohnbauten am steilen Hang begrenzt.

Der älteste Teil der Lokomotivhallen war schon 1911, also zur Bauzeit des 1916 eröffneten Bahnhofsgebäudes, fertiggestellt worden; seine Erhaltung wurde in der Wettbewerbsauslobung empfohlen, war aber für die Teilnehmer nicht verpflichtend.

Barozzi Veiga, die Überraschungssieger des Wettbewerbs, zählten zu den Architekten, die für den weitgehenden Abriss des Bestands optierten. Sie komprimierten das Raumprogramm zu einem 145 m langen, 21 m breiten und 22 m hohen orthogonalen Volumen, das im Süden nahe an die Gleise rückt und damit im Norden Platz für einen weitläufigen Platz lässt. Diese städtebaulich großzügige Lösung, die bei Erhalt der das Gelände weitgehend ausfüllenden historischen Hallen nicht realisierbar gewesen wäre, gab letztlich den Ausschlag für das Votum zugunsten des katalanischen Büros.

Wider den Bilbao-Effekt

Das Museumsprojekt hat sich zwischen Wettbewerbsgewinn und der durch Einsprachen von Anliegern verzögerten Realisierung nur in Details verändert, beispielsweise hinsichtlich der auf Wunsch der Museumsleitung ver­größerten Raumhöhe im obersten Geschoss. Schon im Wettbewerb aber setzten die Architekten auf die Blockhaftigkeit des weitgehend geschlossenen Volumens, die Rhythmisierung durch die geschosshohen lamellenartigen Pfeiler auf der Nordseite und einen Ziegelsteinmantel in einer – so die Wertung der Jury – »relativ neutralen Farbe«. Zur Anwendung kamen schließlich weißgraue Klinker eines deutschen Herstellers. Die Homogenität des Volumens weicht in der Nahsicht zurückhaltender Belebung, da dann die brandbedingt leicht unterschiedlichen Färbungen der Klinker und die Nachbehandlung der Fugen durch Aufrauung mit einem Stäbchen erkennbar werden. Erklärtes Ziel der Architekten war eine zurückhaltende Farbigkeit, die sich sowohl mit der technisch-industriellen Tradition des durch die Bahn bestimmten Orts als auch mit den hellen Natursteinbauten Lausannes vertrüge. In Form von Riemchen umhüllen die Klinker auch die insgesamt 84 Wandpfeiler der Nordseite, die jeweils aus vier vorfabrizierten Elementen bestehen, auf der Baustelle zusammengesetzt und mit dem Stahlbeton-Rohbau des Museums verbunden wurden. Nähert man sich dem Gebäude vom Bahnhof aus, also von der Ostseite, so zeigt sich das Volumen aus der Schrägperspektive zunächst verschlossen. Schritt für Schritt wird dann erkennbar, dass sich hinter den kolossalen Wandpfeilern eine Reihe von Fenstern verbergen. Dies betrifft in hohem Maße das EG mit seinen eher öffentlichen, dem Vorplatz zugewandten Nutzungen wie Eingangsbereich, Bookshop und Café. Die Stirnseite des Gebäudes, an der ein vorgeblendetes Metallprofil an den Schnitt einer der hier vorher bestehenden Hallen erinnert, zeigt sich ­vollkommen verschlossen, und auch die Südseite ist weitestgehend ohne Öffnungen. Hier gab es keine Alternative, denn die Nähe zu den Gleisen erforderte angesichts der Tatsache, dass an dieser Stelle 1994 schon einmal ein Gefahrgutzug ­entgleiste, höchste Sicherheit für die Sammlungsstücke und damit den Verzicht auf Fenster.

Man habe kein Centre Pompidou gewollt, auch kein Guggenheim Bilbao, betonen Architekten und Direktion unisono, sondern Räume ganz im Dienste der Kunst. Und so erklärt sich auch, dass es kein Restaurant im obersten ­Geschoss mit Blick über den Genfer See gibt, wie es im Vorfeld immer wieder gefordert worden war. Denn das hätte die Möglichkeit erschwert, das oberste Geschoss natürlich zu belichten. Den Blick auf den See zu verweigern, das war ein Konzept, das auch Peter Zumthor seinem Kunstmuseum in Bregenz zugrunde legte. Doch eine komplementäre Radikalität bei der Konzeption der Museumsräume, mit der das Museumsgebäude in Vorarlberg bis heute überzeugt und beeindruckt, erzielen Barozzi Veiga nicht. Weiße Wände, helles Parkett, Schattenfugen, viereckig geführte Lichtbänder im 1. OG, eingehängte Deckenraster aus Metall im 2. OG, die Tageslicht gefiltert durchlassen, aber auch für Kunstlicht geeignet sind: Ohne Zweifel haben die Architekten aus Barcelona bei ihrem ersten realisierten Museumsprojekt mit viel Sorgfalt für das Detail Räume geschaffen, die gut funktionieren. Und doch hält sich beim Parcours durch die Säle die Begeisterung in Grenzen. Die Atmosphäre bleibt steril.

Man könnte auch sagen: etwas konventionell. Es fehlt an Schwerpunktsetzung, an Dynamik. Besonders problematisch aber ist die Beziehung zwischen Erschließungszonen, öffentlichen Bereichen und den eher stereotyp gereihten Sälen für Sammlung und Sonderausstellungen. Betritt man das Museum am Haupteingang, so steht man in der gewaltigen Eingangshalle. Eine breite Freitreppe führt hinauf auf ein Podium in einem Gewölberaum mit einem großen halbkreisförmigen Fenster. Es handelt sich bei diesem Annex um das einzige Relikt des Lokomotivschuppens. Doch den zuvor offenen Dachstuhl haben die Architekten mittels eines historisch nicht vorhandenen Gewölbes in einen monumentalen »Thermenraum« verwandelt, der die Eingangshalle sakralisierend auflädt. Das wirkt aber nicht spielerisch-ironisierend, auch der Kontrast zwischen Blick auf Schienensträngen ­sowie Alltagswirklichkeit und ästhetischem Separatraum des Museums, wie man ihn zur Zeit der Postmoderne geliebt hätte, wird hier nicht zum Thema. Manches wirkt letztlich unausgegoren, etwa wenn die Architekten die Stufen als »Bänke« bezeichnen, obwohl die Atmo­sphäre des Raums kaum dazu einlädt sich hier niederzulassen. Auf beiden Seiten der Freitreppe führen nunmehr enge Treppenkatarakte empor zu den Ausstellungsräumen beidseitig der Mittelhalle. Im 1. OG, das – anders als heute praktiziert – ursprünglich der Sammlung vorbehalten sein sollte, sind die beiden Saalfolgen als Enfiladen organisiert, im obersten Geschoss findet sich überdies eine flexible Halle von 700 m², die sich durch verschiebliche Wände temporär unterteilen lässt. Eine weitere gegenläufige Treppenkaskade, diesmal von Stufenpodesten begleitet, verbindet die Geschosse weiter im Westen des Gebäudes.

Die Platzfläche vor dem Museum wird von großen, wie aus dem Boden geschnittenen und angekippten Betonscheiben akzentuiert. Vielleicht sind sie von der versenkten Lok-Drehscheibe inspiriert, die wie einige im Asphalt verlaufende Gleisstränge noch von der ursprünglichen Nutzung des Orts zeugen. »Plateform 10« heißt das neue Museumsquartier – es ist der Bahnsteig der Kultur neben den neun Bahnsteigen des Bahnhofs. 2021 sollen die anderen beiden Museen eröffnen, für die nach Plänen von Aires Mateus ein gemeinsames Gebäude westlich des MCBA entsteht. Erst 2026 werden mit dem Umbau des Bahnhofs samt Trassierung einer neuen Metrolinie die Arbeiten in der Umgebung abgeschlossen sein. Schon jetzt erhofft man sich die Signalwirkung des Museumsbaus unmittelbar an der Einfahrt zum Bahnhof Lausanne. Auffällig mag die mächtige Ziegelwand mit der heraustretenden Spolie der historischen Hallenstirn sein. Auf das Alibi des aus der Gebäudemasse tretenden Stummels hätte sich jedoch auch verzichten lassen.

db, Di., 2020.01.21



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db 2020|01-02 Greige

18. November 2019Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Max Dudler: Eine Baukunst der Kraft, der Klarheit und der Ordnung

Der in Zürich wie auch international präsente Architekt feiert heute seinen 70. Geburtstag.

Der in Zürich wie auch international präsente Architekt feiert heute seinen 70. Geburtstag.

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27. September 2019Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Weder Stadt noch Land. In der Luzerner Agglomeration wird neu geordnet – ein Besuch

Im städtebaulichen Entwicklungsgebiets Luzern Süd setzt der Mattenhof den Auftakt: Entsteht hier die Innerschweizer Stadt der Zukunft?

Im städtebaulichen Entwicklungsgebiets Luzern Süd setzt der Mattenhof den Auftakt: Entsteht hier die Innerschweizer Stadt der Zukunft?

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04. Juli 2019Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Aus Opposition wird Komposition: Die neueste Erweiterung des Staatsarchivs vermittelt zwischen Gegensätzen

Im Irchelpark reihen sich bereits drei Bauetappen für den Kulturgüterschutz in der Landschaft aneinander – sie sind Bunker und Schaufenster zugleich.

Im Irchelpark reihen sich bereits drei Bauetappen für den Kulturgüterschutz in der Landschaft aneinander – sie sind Bunker und Schaufenster zugleich.

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Staatsarchiv des Kantons Zürich, Bau 3

05. März 2019Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Der Pritzker-Preis geht an Arata Isozaki: Der japanische Architekt arbeitete kontinuierlich an einem Wandel, der auch von Brüchen gezeichnet ist

Seit bald einem halben Jahrhundert zählt Arata Isozaki zu den einflussreichsten Architekten Japans. Nun wurde er mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. Der mit 100 000 Dollar dotierte Preis gilt als der höchste seiner Disziplin.

Seit bald einem halben Jahrhundert zählt Arata Isozaki zu den einflussreichsten Architekten Japans. Nun wurde er mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. Der mit 100 000 Dollar dotierte Preis gilt als der höchste seiner Disziplin.

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08. Februar 2019Hubertus Adam
Bauwelt

Licht am Ende des Tunnels

Mit dem Neubau der West Kowloon Station in Hongkong positioniert Andrew Bromberg von Aedas den Bahnhof als prominenten Stadtbaustein. In dem Gebäude, das gleichsam Grenzübergang nach China ist, entfaltet sich eine lichtdurchflutete unterirdische Welt, auf seinem Dach floriert das städtische Alltagsleben.

Mit dem Neubau der West Kowloon Station in Hongkong positioniert Andrew Bromberg von Aedas den Bahnhof als prominenten Stadtbaustein. In dem Gebäude, das gleichsam Grenzübergang nach China ist, entfaltet sich eine lichtdurchflutete unterirdische Welt, auf seinem Dach floriert das städtische Alltagsleben.

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Bauwelt 2019|03 Shqipëria

11. Januar 2019Hubertus Adam
TEC21

Tresor aus Stein

Die norddeutschen Hansestädte sind bekannt für ihre markanten Bauten aus Klinker. Mit dem Neubau für das Stammhaus der Bremer Landesbank gelang Caruso St John Architects eine gestalterisch und technisch herausragende Neuinterpretation.

Die norddeutschen Hansestädte sind bekannt für ihre markanten Bauten aus Klinker. Mit dem Neubau für das Stammhaus der Bremer Landesbank gelang Caruso St John Architects eine gestalterisch und technisch herausragende Neuinterpretation.

Wie soll man heute eine Bank bauen, wenn sich bei der Erwähnung eines Geldinstituts nicht die Assoziation Sicherheit, sondern Krise einstellt? In Bremen haben Caruso St John Architects den Versuch unternommen und nach dem Wettbewerbsgewinn 2011 eines der architektonisch und städtebaulich anregendsten Bankgebäude der letzten Jahre errichtet. Aber, Ironie des Schicksals: Nur wenige Wochen nach der Eröffnung im August 2016 wurde die Bremer Landesbank, aufgrund fauler Schiffskredite in Schieflage geraten, an die Norddeutsche Landesbank in Hannover verkauft. Immerhin, der neue Sitz der Bank hinter dem Dom wird weiter genutzt, und aus Gründen der Kundenbindung bleibt auch der Name Bremer Landesbank weiter bestehen, vorerst zumindest.

Der Neubau beansprucht einen halben Block und ersetzt den 1972 eingeweihten Vorgängerbau von Gerhard Müller-Menckens, einem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Bremen und Umgebung viel beschäftigen Architekten. Einbezogen in den Neubau wurde die historistische Nordwest- und Westfassade samt dem unter Denkmalschutz stehenden Treppenhaus des alten Bankgebäudes von 1896 (Umbauten 1908 und 1921), während es im Südosten an den Neurenaissancebau der Deutschen Bank anzuschliessen galt.

Die zwei Hauptkirchen der Stadt, der Dom und die Kirche Unser Lieben Frauen, bilden zusammen mit dem Alten Rathaus (1405–1410) und der 1404 auf dem Marktplatz errichtete Rolandstatue – seit 2004 Unesco-Welterbe – die unmittelbare Umgebung. Eingebettet sind diese Bauten in eine differenzierte Platzfolge aus Marktplatz, Grasmarkt, Domshof und Liebfrauenkirchhof. Am Domshof, viel grösser als der Marktplatz und ursprünglich dem Dombezirk zuge­hörig, liessen sich die grossen Banken um 1900 ihre Firmensitze errichten.

Das unmittelbare Gegenüber der Bremer Landesbank bildet das Neue Rathaus, ein kurz vor dem Ersten Weltkrieg fertiggestelltes Spätwerk des Münchner Architekten Gabriel von Seidl. Der Backsteinbau mit Werkstein­gliederung knüpft physisch und ­hinsichtlich seiner Materialisierung an das zwischen Spätgotik und Renaissance oszillierende Rathaus an, will und soll die Herkunft seines Entwerfers aus der süddeutschen Reformarchitektur aber nicht verleugnen. Das Neue Rathaus ist nur ein Beispiel dafür, dass um den Marktplatz herum ständig neu gebaut wurde, und zwar mit variierender Bezugnahme auf die Tradition.

Konstruktive Eleganz

In dieser Umgebung, die bei all ihrer Heterogenität ein stimmiges Ensemble bildet, ist die Bremer Landesbank der ambitionierteste Neubau seit einem halben Jahrhundert. Wenn Caruso St John Architects Klinker als Fassadenmaterial wählten, so hat das zunächst mit dem Gegenüber des Neuen Rathauses und anderen Bauten in der Umgebung zu tun, viel mehr aber noch mit ihrer Faszination für die norddeutsche Klinkerarchitektur im Allgemeinen.

Denn Bremen war niemals so stark vom Klinker geprägt wie etwa Lüneburg, Lübeck oder Hamburg, wo er spätestens seit Fritz Schumacher im frühen 20. Jahrhundert zum bevorzugten Baumaterial avancierte. Die Architekten verweisen denn auch gern auf das Chilehaus von Fritz Höger in Hamburg (1922–1924) als eine wichtige Referenz, ein Meisterwerk des norddeutschen Backsteinexpressionismus, das in den vertikalen Streben ihres Gebäudes nachklingt.

Vor allem aber ist es die handwerkliche Perfektion, die beim Bau der Bremer Landesbank beeindruckt; eine Backsteinfassade wie diese hat man seit Langem nicht mehr gesehen. Denn während Backstein sonst als Riemchen auf Platten geklebt oder in Form von schlichten Verbünden oder Filtermauerwerk zum Einsatz gelangt, schufen die Architekten ein Äusseres voller Plastizität und mit allen gestalterischen Finessen. Üblicherweise wird die Fassadenlast bei heutigen ­Backsteinfassaden geschossweise abgefangen; hier ist das Bankgebäude von einer selbsttragenden Klinkerfassade ohne Dehnungsfugen umgeben. Die Rückverankerung mit dem Rohbau aus Beton erfolgt nur, um dem Winddruck standzuhalten.

Sich nach oben hin verjüngende Pfeiler bilden die vertikale Struktur, dazu treten ondulierende Brüstungsfelder, die vor- und zurückschwingen und damit eine horizontale Wellenbewegung erzeugen. Dabei alternieren die Pfeiler mit kleinen Stützen in hellerem Klinker und scheinen sich im Brüstungsbereich mit den horizontalen Brüstungsfriesen zu verweben. Die hellen Klinkerstützen mit ihrer orthogonalen ­Geometrie und die dunklen Verbünde durchdringen einander, zwei Formenwelten werden sichtbar zusammengeführt.

Explizit zeichenhaft

Die Klinker wurden von einem Hersteller aus dem Südwesten Niedersachsens im Wasserstrichverfahren produziert, und zwar in einem speziellen dunkelbraunen Farbton des Scherbens ohne Engobierung (vgl. Glossar), der von den Architekten auf die Farbigkeit der beiden Rathausbauten abgestimmt wurde. Zum Einsatz kamen 65 verschiedene Formsteinformate, die sich aber durch Konfektionierung aus zwölf Sonderformen ge­nerieren liessen.

Der helle Farbton wurde durch Reduktion erzielt, also durch Entzug von Sauerstoff beim Abkühlen der schon gebrannten Klinker nach einer nochmaligen Erhitzung. Die Betonfertig­elemente – etwa die Sohlbänke – sind ebenfalls in einem hellen Farbton gehalten. Das gilt auch für die zwei­geschossige Attikazone mit ihrer Verkleidung aus grossformatigen Keramikplatten. Eine andere, feinere Materialisierung hätte dem Gesamtbild vielleicht besser gedient.

Reise durch Raum und Zeit

Markant und explizit überhöht ist das Hauptportal zum Domshof mit seinem dreizehnfach zurückgestuften Gewände. Die Eingangslösung spätgotischer Backsteinkirchen aus Norddeutschland scheint sich hier mit dem Pathos der Bankbauten von Louis Sullivan (1856–1924) verbunden zu haben. Und doch erweist sich die Massivität als Illusion: Betritt man die Empfangshalle, erkennt man, wie sich das Portal, innen mit weiss glasierten Fliesen verkleidet, teleskopartig in den Raum schiebt. Eine skandinavische Noblesse prägt den Raum mit seinen weissen Wänden und seinem farbigen Steinboden.

Ebenfalls in den höheren Norden verweist die Gestaltung des öffentlich zugänglichen, aber vor allem von den Mitarbeitenden frequentierten Innenhofs. Diesen erreicht man über ein zweites Rundbogenportal und einen anschliessenden Durchgang.

Das Oval des Innenhofs mit seinen 17 × 34 m, aber auch die schlichte siebengeschossige Lochfassade zitieren nahezu eins zu eins die Lösung, die der schwedische Architekt Sigurd Lewerentz (1885–1975) in seinem Gebäude für die Riksförsäkringsanstalten (1930–32) in Stockholm gefunden hatte. So, wie sie das Pathos der Eingangssituation in der Schalterhalle in eine andere Formenwelt überführen und damit zurücknehmen, so kontrastieren die Architekten die repräsentative ­Ziegel- mit der reduzierten Hoffassade. Dass Höfe anders behandelt werden als Aussenfassaden, ist bau­historisch keine Novität.

Das direkte Lewerentz-Zitat, ohne Zweifel Adam Carusos Faszination für den schwedischen Meister geschuldet, hat aber eine sympathische spielerische Komponente. Diese wird besonders evident, wenn man durch das Gebäude geht und bemerkt, wie souverän die Architekten mit den Materialien umgehen, ästhetisch jedoch Haken schlagen und sich der Homogenität verweigern: Da passiert man Treppen­häuser in bester Schweizer Sichtbetonqualität und ­erreicht schliesslich zuoberst ein Betriebsrestaurant mit geschwungenen Einbauten, wie als Hommage an die 1970er-Jahre. So also kann man heute eine Bank auch bauen.

TEC21, Fr., 2019.01.11



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07. Dezember 2018Hubertus Adam
TEC21

Bewegte Geschichte

Das Kongresshaus der Architekten Haefeli Moser Steiger hat seit 1939 kleinere und in den 1980er-Jahren grössere Umbauten erlebt. Sogar der Abriss drohte. Seit 2017 wird das bestehende Ensemble instand gesetzt.

Das Kongresshaus der Architekten Haefeli Moser Steiger hat seit 1939 kleinere und in den 1980er-Jahren grössere Umbauten erlebt. Sogar der Abriss drohte. Seit 2017 wird das bestehende Ensemble instand gesetzt.

Das Kongresshaus in Zürich wurde 1939 zur Landesausstellung eröffnet und gilt heute, da nahezu alle anderen baulichen Zeugnisse der Grossausstellung zerstört sind, als wichtigster Vertreter des «Landistils», also der moderaten Schweizer Moderne jener Zeit. Diese orientierte sich nicht an den radikalen Positionen der architektonischen Avantgarde, wie sie etwa die CIAM verfochten, sondern eher an Haltungen, wie sie in der zeitgenössischen Architektur Skandinaviens zu finden waren. Dabei wird anhand der Ornamente und einer Reihe von Ausstattungsdetails offensichtlich, in welchem Mass die Architekten die organisch-geschwungene Formensprache der 1950er-Jahre antizipierten.

Das Kongresshaus ist aber noch aus anderen Gründen als herausragender Bau einzustufen: weil die Architekten sich dafür entschieden, mit der Tonhalle und dem kleinen Ton­hallesaal Teile des sogenannten Trocadéro der Architekten Fellner & Helmer in ihr Projekt zu integrieren, und weil es das erste Projekt war, mit dem sich die zuvor einzeln oder in wechselnden Konstellationen tätigen Architekten Max Ernst Haefeli, Werner M. Moser und Rudolf Steiger zu einer Bürogemeinschaft for­mierten. Haefeli Moser Steiger: Dieses Label prägte die Schweizer Architektur in den ersten Nachkriegsdekaden.

Am Kongresshaus wurden immer wieder kleinere Umbauten vorgenommen, ein Eingriff mit grösserer Interventionstiefe erfolgte dann in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre mit der Eliminierung des Gartenhofs und der Aufstockung der seeseitigen Flachbauten mit einem Panoramasaal. In diesem Zustand verblieb das Kongresshaus bis in die Nullerjahre. Zürich verstand sich als Boomtown, «Downtown Switzerland» lautete der Slogan, mit dem sich die Stadt vermarktete. Luzern hatte gerade mit dem KKL ein spektakuläres Kongresszentrum in Premiumlage am See­ufer erhalten, und nun wollte Zürich nachziehen: Nicht konkurrenzfähig sei das bestehende Kongresshaus, für grosse internationale Kongresse schlicht zu klein.

So entstand der von politischen und wirtschaftlichen Kreisen sowie Touris­tikern forcierte Plan, das Kongresshaus bis auf die Tonhalle abzureissen und an seiner Stelle ein zeitgemässes Kongresszentrum samt Saal für 2500 Personen und auf dem benachbarten Grundstück der Baur-au-Lac-Erben ein Kongresshotel zu errichten.

Eilig wurde das bestehende Gebäude aus dem Schutz entlassen[1] und ein internationaler Architekturwettbewerb durchgeführt. Das Siegerprojekt für den Neubau stammte von Rafael Moneo. Doch von Begeisterung wie in Luzern war wenig zu spüren. Es waren letztlich weniger die Argumente der Anhänger des Baus von Haefeli ­Moser Steiger als die geringe Strahlkraft des Neuen, das Finanzierungsmodell und die Fragwürdigkeit eines für Zürich übergrossen Kongresszentrums, die dazu führten, dass der Souverän das Moneo-Projekt mit der Volksabstimmung über einen Nebenschauplatz im Juni 2008 mit 57 % Nein-Stimmen an der Urne verwarf.

Ein bescheidener Neuanfang ereignete sich 2011. Während nach alternativen Bauplätzen für ein Kongresszentrum gesucht wurde, konnte sich die Arbeitsgemeinschaft von Elisabeth und Martin Boesch, Diener & Diener sowie Conzett Bronzini Partner in einem Planerwahlverfahren für die Teilinstandsetzung des Altbaus durchsetzen. Der Auftrag erweiterte sich, als 2013 seitens der Stadt die Entscheidung fiel, auf den Neubau eines Kongresszentrums zu verzichten und stattdessen die Kongress­infrastruktur im bestehenden Gebäude zu ertüchtigen und zu modernisieren.

Im Juni 2016 sagte das Stimmvolk schliesslich Ja zu dem mit insgesamt 240 Millionen Franken taxierten Projekt. Eingeschlossen waren die 165 Millionen ­Baukosten sowie die Entschuldung der Tonhalle-Gesell­schaft, ausserdem ein Beitrag für die Errichtung des Provisoriums Tonhalle Maag.


Anmerkung:
[01] Es handelte sich um eine bedingte Entlassung aus dem Inventar, die im Zusammenhang mit der Realisierung des Wettbewerbprojekts vollzogen worden wäre. Heute ist das Gebäude im Inventar enthalten und wird denkmalpflegerisch betreut.

TEC21, Fr., 2018.12.07



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TEC21 2018|49-50 Kongresshaus und Tonhalle Zürich

07. Dezember 2018Hubertus Adam
TEC21

Intelligenter Schachzug

Die Wiedereröffnung von Kongresshaus und Tonhalle ist nach einer dreijährigen Umbauphase für Spätsommer 2020 geplant. Die Architekten Elisabeth und Martin Boesch sowie das Büro Diener & Diener überführen den Bau vom 1980er-Jahre-Groove in die Neuzeit.

Die Wiedereröffnung von Kongresshaus und Tonhalle ist nach einer dreijährigen Umbauphase für Spätsommer 2020 geplant. Die Architekten Elisabeth und Martin Boesch sowie das Büro Diener & Diener überführen den Bau vom 1980er-Jahre-Groove in die Neuzeit.

Seit 2011 plant und arbeitet die Arbeitsgemeinschaft am Kongresshaus. Neun Jahre werden es gewesen sein, wenn das Kongresshaus und die Tonhalle 2020 ihren Betrieb wieder aufnehmen. Das Tonhalle-Orchester hat mit der Tonhalle Maag einen attraktiven Ausweichspielort, der offenbar ein neues Publikum anlockt und daher schon Begehrlichkeiten zur Weiternutzung auslöst, doch die Rückkehr der Kongresse und sonstigen Veranstaltungen duldet keinen weiteren Aufschub.

Die architektonische Lösung wird von zwei ­Architekturbüros gemeinsam entwickelt und umgesetzt, die sich lang kennen und schon verschiedentlich miteinander gearbeitet haben. Federführend bei der Planungsphase waren Elisabeth und Martin Boesch, in der Ausführungsphase ist es das Büro Diener & Diener. Verglichen mit den neun Jahren für die Realisierung des aktuellen Umbauprojekts wirken die zwei Jahre, die Haefeli Moser Steiger bis zur Eröffnung 1939 zur Verfügung standen, schlicht unvorstellbar.

Gewiss, ­Anforderungen hinsichtlich Erdbebensicherheit oder Brandschutz waren damals leichter zu erfüllen. Aber komplex war das Unternehmen auch seinerzeit. Denn die Architekten hatten nicht auf einer Tabula rasa einen Neubau errichtet, sondern in ihr Projekt die beiden wichtigsten Innenräume des Trocadéro von 1895 integriert: die Tonhalle sowie den Kleinen Tonhallesaal. Dabei verfolgten Haefeli Moser Steiger eine überaus spannende Strategie, Alt und Neu zu verschränken und gegenseitig zu aktivieren.

Die Architekten verstanden den Bestand nicht als Spolie; vielmehr wählten sie eine Strategie, die kein Nebeneinander, geschweige denn ein Gegeneinander zur Folge hatte. Mit dem grossen Kongresshausfoyer schufen sie einen Raum parallel zur Tonhalle, durch den der Weg führt, wenn man vom unteren Tonhallevestibül zur Saalebene gehen möchte. Aber die Verschränkung zeigt sich auch in den Eingriffen in den vorhandenen Sälen selbst. Die Architekten purifizierten den Prunk des Historismus nur an wenigen Stellen, aber sie modulierten die Farbigkeit. Über Blattgoldpartien wurde ein Firnis gelegt, der Grauanteil an der Gesamtfarbigkeit verstärkt.

Derzeit gehört der Innenraum der Tonhalle den Restauratoren, die die Ablagerungen aus mittlerweile 80 Jahren entfernen. Grundsätzlich sind kantonale Denkmalpflege und Nutzer übereingekommen, sich im ­Bereich des grossen Tonhallesaals von Fellner & Helmer eher am Ursprungs­­bestand zu orientieren. In der Konsequenz bedeutet das: we­niger Beige, mehr Gold, mehr Prunk des Fin de Siècle. Gewiss eine anfechtbare Entscheidung, doch ein endgültiges Urteil wird man erst fällen können, wenn Gerüste und Arbeitsebene unter der Decke entfernt sind und der Raum mit seiner veränderten Farbfassung gesamthaft zu erleben ist.

Freilegen und befreien

An anderen Stellen hingegen kommen Haefeli Moser Steiger wieder zu ihrem Recht. Das gilt beispielsweise für die Ritzmuster in den Foyers, bei denen sich diagonal kreuzende Strichraster mit ondulierenden Linienführungen überlagern. Ursprünglich in Sgraffitotechnik mit einer gelben Farbschicht über einer grauen Putzschicht realisiert, wurden die Wandflächen später überstrichen. In mühsamer Arbeit werden die späteren Farbschichten derzeit entfernt, wobei aber auch der Putzuntergrund in Mitleidenschaft gerät. Eine neue gelbliche Lasur homogenisiert die etwas versehrte Oberfläche, und den verblassten dunkelgrauen Linien muss durch Farbauftrag nachgeholfen werden.

Eine Trouvaille beim Rundgang über die Baustelle ist der einstige Kammermusiksaal mit seinem geschwungenen Bühnenprospekt, der von entstellenden Verbauungen befreit wird. Beim Kongresshaussaal mit seiner in den 1950er-Jahren transformierten Bühne bleibt die Veränderung bewahrt – nicht zuletzt, weil die Betreiber den Istzustand aus betrieblichen Gründen erhalten wollen.

Blick auf den See

Entfernt hingegen wird die Zeitschicht aus den 1980er-Jahren. Es sind die Umbauten, die noch von Peter Steiger, einem Sohn Rudolf Steigers, in die Wege geleitet und dann von Atelier WW umgesetzt wurden. Markantestes und von aussen wie innen unüberseh­bares Element war der auf der ursprünglichen Terrasse errichtete Panoramasaal, der den Bezug vom grossen doppelgeschossigen Foyer zum See zerstört hatte.

Die Eingriffe gingen jedoch viel tiefer. Wo in den 1980er-Jahren interveniert worden war, wurde die ­Bausubstanz der 1930er-Jahre zerstört. Nach dem ­Abbruch stiess man also nicht mehr auf die frühere Schicht. Doch genau diese Tatsache bietet jetzt im Neubaubereich die Möglichkeit, das Raumprogramm funktional optimiert zu organisieren. Der Panoramasaal auf der Terrasse ist mittlerweile abgebrochen, der Blick zum See wieder frei.

Vom Haefeli-Moser-Steiger-Bestand ist nach dem Rückbau nur das Tragwerk samt der Front des Gartensaals zur Claridenstrasse übrig geblieben. Hier entsteht das neue Gartensaalfoyer, an das sich seitlich zwei Säle anlagern: der eine Richtung See – hier ist der einzige Bereich, mit dem der Neubauteil über den bestehenden Perimeter ausgreift –, der andere Richtung Haefeli-­Moser-Steiger-Foyer. In kleineren Dimensionen findet sich auch der verschwundene Gartenhof wieder. Das Restaurant zieht von seiner etwas versteckten Lage unter dem Kongresssaal auf die Terrasse um, wo es als filigraner verglaster Pavillon ausgebildet ist und auch vom grossen Pausenfoyer sowie von aussen leicht zu erreichen ist. Der frei werdende Platz unter dem Kongresssaal nimmt weitere Konferenzräume ­sowie Bereiche für das Catering auf.

Die Architekten sprechen von einer Rochade, und in der Tat ist die Neustrukturierung ein überaus intel­ligenter Schachzug. Konferenz- und Tonhallenbetrieb lassen sich in Zukunft räumlich gut trennen, unterschiedliche Veranstaltungen nebeneinander abzuhalten ist ohne Einschränkung möglich. Schliesslich konnte auch noch das Problem der Tonhalle-Infrastruktur ­gelöst werden, indem im Bereich der beiden Clubs aus den 1980er-­Jahren Garderoben sowie Räume für die Mu­sikerinnen und Musiker entstehen. Es profitieren also viele – und insbesondere das Gebäude von Haefeli Moser Steiger, das sich in Zukunft wieder Richtung See und Landschaft öffnet.

TEC21, Fr., 2018.12.07



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TEC21 2018|49-50 Kongresshaus und Tonhalle Zürich

05. Juni 2018Hubertus Adam
db

Von erdverbunden bis segelgleich

Die zeitgenössische Architektur in Japan ist um einiges vielgestaltiger als es die Hochglanzbilder scheinbar entmaterialisierter Bauten suggerieren. Auch wenn kommerzielle Großprojekte das Baugeschehen prägen: ­Gerade kulturell und sozial ambitionierte Projekte in vielfach kleinerem und kleinstem Maßstab sind beachtenswert und überaus lohnend, betrachtet zu werden – ob in der Theorie, oder ganz konkret vor Ort bei einer Reise durchs Land.

Die zeitgenössische Architektur in Japan ist um einiges vielgestaltiger als es die Hochglanzbilder scheinbar entmaterialisierter Bauten suggerieren. Auch wenn kommerzielle Großprojekte das Baugeschehen prägen: ­Gerade kulturell und sozial ambitionierte Projekte in vielfach kleinerem und kleinstem Maßstab sind beachtenswert und überaus lohnend, betrachtet zu werden – ob in der Theorie, oder ganz konkret vor Ort bei einer Reise durchs Land.

Das »House NA« von Sou Fujimoto (2012) und das »Garden and House« von Ryue Nishizawa (2013) zählen zu den weltweit gefeierten Ikonen des zeitgenössischen Bauschaffens in Japan. Sie prägen das Bild, das man auch hierzulande von der japanischen Architektur hat: leicht, transparent, offen, entmaterialisiert, fast ätherisch. Ein Besuch lässt die Gebäude viel selbstverständlicher und alltäglicher aussehen als sie auf den bekannten Fotos erscheinen. House NA wirkt nicht wie ein gläserner Setzkasten, der seine Bewohner gleichsam auf einer dreidimensionalen Bühne exponiert. Viele der Scheiben sind mit Vorhängen versehen. Und »Garden & House«, bei dem man von Raum zu Raum, von Stockwerk zu Stockwerk durchs Freie geht, funktioniert nur, weil eine Batterie von Klimaboxen auf der üblicherweise nicht abgebildeten Rückseite angesichts des im Sommer extrem heißen und im Winter sehr kalten Klimas für Bewohnbarkeit sorgt. Dies Wissen tut der Wirkung vor Ort keinen Abbruch, im Gegenteil. Letztlich sind beide Bauten viel stärker vom Kontext geprägt als es die Fotos vermitteln: von den dichten, kleinteilig strukturierten Wohnvierteln Tokios. Die Gebäude von Fujimoto und Nishizawa fügen sich im Grunde gut in ihre Umgebung aus Fertighäusern und Allerweltsarchitektur ein; es gehe ihm darum, etwas zu bauen, das so wie Tokio sei, erklärt Sou Fujimoto dann auch folgerichtig im Gespräch.

Fujimoto ist durch Tokioter Kleinsthäuser, von denen House NA wohl das prominenteste ist, bekannt geworden. Er hat 2013 den Serpentine Pavilion in London errichtet und war auch anderenorts an Projekten im Grenzbereich zwischen Kunst und Architektur beteiligt. 2021 soll sein neues Kultur- und Bürgerzentrum in der stark vom Tsunami 2011 betroffenen Stadt Ishinomaki im Nordosten der japanischen Hauptinsel Honshu eröffnet werden. Daneben sind eine ganze Reihe weiterer großer Projekte in Planung: ein Konzerthaus für Budapest, ein Wohnhochhaus in Marseille, ein »Vertical Village« bei Paris, ein Learning Center auf dem Plateau de Saclay und ein weiteres für die Universität Sankt Gallen. Die meisten seiner Aufträge hat Fujimoto inzwischen in Europa. Das gilt auch für andere japanische Architekten, die zudem in China bauen, in Korea und in den USA. Oder zumindest, wie etwa Go Hasegawa, Gastprofessuren in Übersee annehmen und internationale Netzwerke knüpfen. Denn in Japan an Aufträge zu gelangen, ist schwierig. Hier und da ein Minihaus für private Auftraggeber, vielleicht einmal ein kulturelles Projekt, mehr steht selten zu erwarten. Die meisten Großprojekte werden von den marktbeherrschenden Architekturkonzernen wie Nikken Sekkei übernommen, Wettbewerbe gibt es nur selten. Im Glücksfall wünschen sich politisch Verantwortliche gute Architektur. Dies betrifft z. B. das Langzeitprojekt »Kumamoto Art Polis«, das 1988 von Arata Isozaki und dem damaligen Gouverneur der Präfektur angestoßen wurde und in diesem Mai mit einem Symposium zu seinem 30. Jahrestag geehrt wurde. Arrivierte, v. a. aber auch junge Architekten wurden über die Jahrzehnte mit öffentlichen Bauaufgaben in der ganzen Präfektur Kumamoto betraut: von Toilettenanlagen über Infrastrukturbauten bis hin zu Verwaltungsgebäuden und Museen. Doch Kumamoto Art Polis ist die Ausnahme. Verglichen mit anderen Ländern besitzt der Berufsstand des Architekten in Japan selbst ein eher geringes Renommee in der Bevölkerung.

Ambitionierte Kulturbauten

Wahrscheinlich sind auch Büros wie Shigeru Ban oder SANAA inzwischen im Ausland bekannter, doch können sie zumindest im eigenen Land auf ein Werk verweisen, das nicht nur Kleinstprojekte umfasst. Gerade Kulturbauten bieten immer noch ein Betätigungsfeld, in dem qualitätvolle Architektur gefragt ist. Jüngstes Projekt von SANAA: die City Culture Hall in der 500 km von Tokio entfernt an der Westküste von Honshu gelegenen Stadt Tsuruoka. Die Stadt ist durch Zusammenlegung verschiedener Gemeinden gewachsen und wirkt trotz ihrer knapp 130 000 Einwohner kleinstädtisch. So bestand die Herausforderung darin, das im Zentrum gelegene Kulturzentrum, dessen Kern ein Konzert- und Theatersaal bildet mit der städtischen Textur zu verzahnen. Die Architekten lösten die Aufgabe, indem sie den sechseckigen, nach dem Weinbergprinzip organisierten Saal samt rechteckigem Bühnenturm ringsum mit Foyer- und Korridorbereichen umgaben, an die sich die übrigen Nutzungsbereiche als eigenständige Volumina anlagern. Das erlaubt nicht nur eine hohe Nutzungsflexibilität, sondern auch eine räumliche und optische Differenzierung. Die verschiedenen Raumzonen greifen Zentrum aus in die Umgebung aus und öffnen sich zur Eingangsseite in einem langen gekurvten Glasfoyer. Dieses umarmt gewissermaßen das parkartige Areal des Chidokan, einer historischen Schule für Samuraikinder, die als Denkmal zu besichtigen ist. Die einzelnen Raumbereiche des Kulturzentrums sind mit jeweils eigenen Dächern überfangen, die sich von allen Seiten her zum Bühnenturm emporschwingen. Die konkave Form der Dachflächen ist eine Referenz an historische Architektur, SANAA selbst verweist auf ein traditionelles sayadou, ein Schutzdach über Schreinen.

Die Materialpalette beschränkt sich auf Beton, Stahl und Glas sowie in den Publikumsbereichen – wie dem Saal – auf Holz; je nach Witterung, aber auch je nach Perspektive verändert das Gebäude, das sich zu seiner Umgebung hin abtreppt, seine Erscheinung: Auf der Eingangsseite wirkt es offen und festlich, zur Rückseite hin, wo es an einen kleinen Flusslauf und eine heterogene Bebauungsstruktur stößt, verträgt es sich aufgrund seiner blechbekleideten Körper gut mit dem Bricolagecharakter der Nachbarschaft.

Schon ein Jahr zuvor eröffnete im Tokioter Stadtteil Sumida das Sumida Hokusai Museum, das Kazuyo Sejima mit ihrem eigenen Büro entwarf. Es ist dem in der Gegend des heutigen Sumida tätigen Künstler Katsushika Hokusai (1760-1849) gewidmet, der v. a. durch seine Farbholzschnitte bekannt wurde. Die Präsentation von Farbholzschnitten auf der Weltausstellung in Paris 1867 führte zu einer anhaltenden Faszination im Westen, welche sich im Japonismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts niederschlug. Aber auch ins japanische Bildgedächtnis haben sich die Werke Hokusais bis heute eingebrannt, besonders der Zyklus »36 Ansichten des Fuji« (1829-33) mit seinem berühmtesten Blatt »Die große Welle vor Kanagawa«.

Pläne für ein Museum, das vom Stadtbezirk Sumida getragen wird, bestanden schon seit 1989, wurden aber aus finanziellen Gründen zunächst zurückgestellt. Erst als die Entscheidung für die Errichtung des Tokio Skytree gefallen war, den 634 m hohen Fernsehturm mit Aussichtsterrasse, entschied sich die Bezirksverwaltung für eine zweite Touristenattraktion. Die Farbholzschnittkollektion eines japanischen Sammlers konnte erworben werden, inzwischen besitzt das Museum 1 800 Werke, die in Sonderausstellungen gezeigt werden. In der Dauerausstellung zu Leben und Werk Hokusais werden aufgrund der Lichtempfindlichkeit Kopien gezeigt. Da die Ausstellungsräume kein Tageslicht vertragen, ist das mit Stahlplatten bekleidete viergeschossige Museum nach außen weitgehend verschlossen. Aber Hokusais Schaffen war stark mit dem Ort verbunden und so wurden Kerben in das Volumen geschnitten, die im Bereich der Erschließungen und Ruheräume Ausblicke auf das heutige Sumida ermöglichen. Auf EG-Ebene führen Wege von allen Seiten in und durch das Gebäude, das sich hier in vier Teilräume gliedert, denn das Museum ist mit seinen vielfältigen Veranstaltungen auch ein Angebot an die Nachbarschaft, die nicht zuletzt vom vorgelagerten Park profitiert.

Die Bauten von SANAA oder Fujimoto werden außerhalb des Landes gerne als Inbegriff zeitgenössischer japanischer Architektur wahrgenommen. Dabei gerät aus dem Blick, dass parallel auch ganz andere Tendenzen existieren, das Spektrum also wesentlich vielfältiger ist. Eine wichtige Position nimmt der 1946 geborene Architekt Terunobu Fujimori ein, der erst seit dem Auftritt auf der Architekturbiennale Venedig 2006 und seiner Einzelausstellung in München 2012 in Europa wahrgenommen wurde. Fujimori untersuchte nach dem Studium mit einer Gruppe von Mitstreitern die alltäglichen Stadtlandschaften Japans, ein Vorhaben, das spätere Analysen von Atelier Bow-Wow beeinflusste. Daneben forschte er intensiv zur japanischen Architekturgeschichte; bedauerlich ist, dass seine fundamentalen Forschungen, gerade zur Entwicklung der Architektur im 20. Jahrhunderts, bislang nicht übersetzt worden sind. Erst seit 1991 tritt er als praktizierender Architekt in Erscheinung und überrascht mit bizarren Bauten, in denen Elemente der traditionellen Architektur aufgegriffen und in eine halb archaisch, halb organisch anmutende und mitunter märchenhafte Formenwelt übertragen werden. In Tajimi unweit von Nagoya eröffnete vor zwei Jahren das »Mosaic Tile Museum«, das die dortige Mosaikfliesenproduktion dokumentiert. Fujimori hat die lokale Initiativgruppe über Jahre begleitet und ein rätselhaftes Gebäude errichtet, welches das Bild eines Lehmhügels evoziert. In die Fassade sind Gruppen aus Mosaikfliesen eingelassen, Naturprodukt und Artefakt werden also kombiniert.

Bäume, die Dächer durchstoßen, bepflanzte Dachlandschaften, schindelbekleidete Türme: Ein ganzes Repertoire an typischer Fujimori-Architektur lässt sich in Omi-Hachiman nordöstlich von Kyoto besichtigen. 2015 eröffnete hier der Baumkuchenhersteller Club Harie ein Produktions- und Erlebniszentrum mit dem Namen »La Collina«, das in diesem Jahr durch ein zusätzliches Betriebsgebäude erweitert wurde. Club Harie arbeitet mit lokalen Anbietern zusammen und betreibt in Zusammenarbeit mit einer nahegelegenen Universität auch ökologischen Landbau.

Veränderung eines Landes

Die japanischen Großstädte sind Produkte einer radikalen Modernisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Nebeneinander von alt und neu, groß und klein ist faszinierend und führt jedem Besucher vor Augen, dass es auch andere lebenswerte Modelle von Urbanität gibt als jenes der »europäischen Stadt«. Aber Japan sieht sich mit Problemen konfrontiert. Da ist zum einen die Überalterung der Bevölkerung und zum anderen die Entvölkerung der ländlichen Regionen. Das führt zu verfallenen Dörfern, die einst die Kulturlandschaft Japans prägten. Aber selbst in Städten wie Kyoto mit seinem stadtbildprägenden Bestand an machiya, also den hölzernen Kaufmannshäusern, verändert sich das Stadtbild mit großer Geschwindigkeit. 2016 wurden in Kyoto 40 000 machiya gezählt, sieben Jahre zuvor waren es noch 5 600 mehr. Täglich werden im Durchschnitt 2,2 der historischen Häuser abgebrochen, auch wenn die Stadtverwaltung durch langfristige Meldefristen für Abrisse zu alternativen Lösungen ermutigen möchte. Aber der Denkmalschutz hat in Japan einen schwierigen Stand. Das lässt sich auch in Tokio sehen, wo in starkem Maße das Bauerbe des 20. Jahrhunderts betroffen ist. Jüngstes Beispiel ist die Kuwaitische Botschaft (1970) von Kenzo Tange, eines der absoluten Meisterwerke des Architekten, das kürzlich zum Abriss freigegeben wurde. Mal ist es die mögliche höhere Ausnutzung der astronomisch teuren Grundstücke, mal sind es die verschärften Standards für Erdbebensicherheit, die zur Eliminierung geschützter Bausubstanz führen.

Bemerkenswert ist dennoch, dass in den vergangenen Jahren doch mancherlei über das Land verteilter Projekte zu verzeichnen sind, die auf unterschiedliche Weise von Achtsamkeit zeugen. Von Achtsamkeit gegenüber der Geschichte, von Achtsamkeit gegenüber dem Ort, von Achtsamkeit gegenüber der Gesellschaft. Gewiss, es sind kleine Projekte, nicht staatlich gefördert, getragen von Menschen und Initiativen, die Verantwortung übernehmen und – wenn auch im Kleinen – zur Veränderung beitragen wollen.

Chiryu, südwestlich von Nagoya gelegen, war in der Edo-Zeit der Ort der 39. Post- und Raststation zwischen Edo (heute Tokio) und der damaligen Hauptstadt Kyoto – die 53 Stationen des Tokaido, also der die Zentren verbindenden Poststraße, waren ein beliebtes Sujet für Farbholzschnitte, z. B. von Hokusai. Dort, wo der Tokaido einst verlief, stehen auch heute noch eine Reihe von Schreinen und alten Häusern, auch wenn der Kontext durch rabiat in die urbane Textur einschneidende Verkehrsachsen und unproportionierte Neubauten stark beeinträchtigt ist. Mitten in diesem einstigen historischen Bereich der Stadt hat Mount Fuji Architects Studio aus Tokio die 2016 eröffnete »Chiryu Afterschool« errichtet, die, finanziert durch den ortsansässigen, im Bereich der Robotik aktiven Konzern Fuji Corporation Kinder mit spielerischen Experimenten an die Naturwissenschaften heranführen will. Da das auf Englisch stattfindet, fungiert das Gebäude gleichzeitig als Sprachschule – und überdies, mit einem kleinen Café, als Nachbarschaftstreff. Bei der Anordnung der Innenräume orientierten sich die Architekten an der räumlichen Disposition von Schreinanlagen: Zunächst betritt man den niedrigen Eingangsbereich neben dem Café (Haupttor), durchquert dann eine große Halle (Hof), die flexibel nutzbar ist, und erreicht schließlich die Unterrichtsräume mit einer Lernplattform im OG (Hauptgebäude). Vereint werden die Innenbereiche durch eine ingeniöse Dachstruktur, die aus Stäben von 1,50 m Länge und einem Querschnitt von 10,5 x 10,5 cm aus Brettschichtholz besteht. Die Stäbe sind versetzt angeordnet, perforiert und mithilfe von Stahlrohren zu einem Gewebe zusammengefügt, das durch zwei große Strahlrahmen gehalten wird und dazwischen rein auf Zug belastet in einer Kettenlinie die große Halle überspannt. Die verglaste Seitenfassade zeigt den Schnitt durch die Dachstruktur, die den Gesetzen der Schwerkraft folgt, und erinnert zugleich an die Dachformen der Kultbauten ringsherum. So entsteht ein intelligentes Spiel mit der Tradition, doch wichtiger noch ist die Tatsache, dass die Afterschool dazu beiträgt, das historische Stadtviertel wiederzubeleben und damit als urbaner Aktivator funktioniert.

Nach dem Desaster 2011

Das Tohoku-Erdbeben vom März 2011, der Tsuami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima haben das Land gravierend verändert, physisch wie mental. Wer die Küstenregionen nördlich und südlich von Sendai besucht, sieht die Folgen: verwüstete Landstriche, Barackensiedlungen, Betondeiche, mit denen man zukünftige Überflutungen verhindern will. Gerade unter Architekten hat die Katastrophe eine Welle von Solidarität ausgelöst. So gründeten Toyo Ito, Riken Yamamoto, Hiroshi Naito, Kengo Kuma, Kazuyo Sejima die Initiative »Home for All«, der sich dann auch Akihisa Hirata und Sou Fujimoto anschlossen und die 2012 auf der Architekturbiennale in Venedig vorgestellt wurde. Da die Planung der Notunterkünfte vom Staat organisiert wurde, ein Eingreifen von Architekten weder gewünscht noch möglich war, konzentrierte man sich auf das, wofür staatlicherseits überhaupt nicht Sorge getragen wurde: Räume für die Gemeinschaft. So entstanden nach verschiedenen Entwürfen in den betroffenen Regionen kleine Gemeinschaftszentren zum Spielen, zum informellen Treffen, zum Beieinandersein.

In Kashima, 50 km nördlich vom Unglücksreaktor, haben Toyo Ito und Yun Yanagisawa 2016 einen Indoor-Spielplatz geschaffen. Das kleine Bauwerk mit seinem hölzernen Dach, das wie ein doppeltes Zirkuszelt wirkt, enthält im Innern eine große Sandkasten-Spielfläche, weil Kinder aufgrund der Strahlungsbelastung nicht im Freien spielen sollen.

Momonoura liegt etwa 60 km von Sendai entfernt in einer Bucht auf der Halbinsel Oshika. Das Fischerdorf wurde durch den Tsunami völlig ausgelöscht, die ohnehin bedrohte Lebensgrundlage der Bevölkerung zerstört. Nur langsam kehrt Leben in die Region zurück. »Momonura Village« ist ein kleines Projekt, das gemeinsam von einer lokalen Initiativgruppe und Atelier Bow-Wow entwickelt wurde. Atelier Bow-Wow hat nach 2011 in den zerstörten Gebieten mehrere Projekte entwickelt: das Modell des »Core House« für Ishinomaki, eine Reihe von öffentlichen Wohnungsbauten im weiter nördlich gelegenen Kamaishi – und jetzt das »Momonoura Village«. Es besteht aus einem Haupthaus mit Speiseraum, Küche, zwei Schlafkammern im japanischen Stil für je fünf Personen und zwei »Tiny Houses« aus Holz für je vier Personen. Die Fläche davor kann als Zeltplatz genutzt werden. Momonura Village soll einen sanften Tourismus befördern und Gäste anlocken, die sich für die Geschichte und Problematik der Region interessieren. Verschiedene Programmbausteine können dazu gebucht werden: Vorträge über die Folgen des Erdbebens, Exkursionen mit den Fischern oder ein Besuch der Austernfarmen, die als neue Einkommensquelle dienen.

Die Gebäude sind schlicht gehalten und wurden in Freiwilligenarbeit unter Beteiligung lokaler Handwerker erstellt. Atelier Bow-Wow haben mit Shoji und Engawa Elemente japanischer Häuser aufgegriffen und kombinieren sie mit leichten modernen Materialien wie transparentem Wellplastik, das einige Räume erhellt.

Ein weiteres im sozialen Sektor angesiedeltes Projekt wurde unlängst von Atelier Bow-Wow in ländlicher Umgebung nahe dem Tokioter Flughafen Narita fertiggestellt. Schon 2012 eröffnete das von den Architekten entworfene Koisuru-Buta Laboratory. Von einer gemeinnützigen Einrichtung getragen, die auch Alterswohnungen in der Region unterhält, handelt es sich um einen Betrieb, der Schweinefleisch von Bauern der Umgebung verarbeitet. Behinderte und nichtbehinderte Menschen arbeiten hier zusammen. Die Fleischverarbeitung erfolgt im EG, darüber befinden sich, jeweils unter einem eigenen Satteldach, ein Restaurant mit Shop, die Verwaltung und eine große Halle, die auch als Marktplatz für regionale Produkte Verwendung findet. Nun ist als neuer Teil der Anlage »1K« hinzugekommen. Nahe dem Koisuru-Buta Laboratory steht ein zweigeschossiger turmartiger Pavillon. Unten kann man Süßkartoffel-Snacks kaufen, oben lädt ein kleiner Caféraum zum Blick über das Gelände ein. Der größere Baukomplex ist ein dreigliedriges, als Holzbau errichtetes Werkstattgebäude für die Holzverarbeitung. Hier wird Holz der Umgebung sortiert und zu Feuer- oder Bauholz weiterverarbeitet. Abermals überzeugt die Architektur von Atelier Bow-Wow durch Einfachheit und Schlichtheit, gepaart mit Reverenzen an die Tradition und der hohen Qualität der Materialverarbeitung. Vielleicht ist eine sozial verantwortungsbewusste Architektur wie diese die adäquate Antwort auf die Situation eines Landes, das nach März 2011 zum Umdenken gezwungen ist.

db, Di., 2018.06.05



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05. Juni 2018Hubertus Adam
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Basisstrukturen zum Leben

Der Architekt Akihisa Hirata sucht nach einer Architektur, die das Leben in ihr und die Art der Nutzung nicht starr vorgibt und dominiert, sondern informelle Begegnungen und Nutzungsfreiheit ermöglicht. Ein privates und ein öffentliches Gebäude, beide 2017 fertiggestellt, demonstrieren seine Entwurfs- und Konzept­idee sehr eindrücklich.

Der Architekt Akihisa Hirata sucht nach einer Architektur, die das Leben in ihr und die Art der Nutzung nicht starr vorgibt und dominiert, sondern informelle Begegnungen und Nutzungsfreiheit ermöglicht. Ein privates und ein öffentliches Gebäude, beide 2017 fertiggestellt, demonstrieren seine Entwurfs- und Konzept­idee sehr eindrücklich.

Karamari-shiro ist der Lieblingsbegriff von Akihisa Hirata. Direkt übersetzen lässt sich der japanische Neologismus nicht, Potenzial zur Verbindung oder Vermischung kommt der Bedeutung aber recht nahe. Seetang besitzt beispielsweise karamari-shiro, weil Fische dort Eier ablegen können. Aber das beste Beispiel sind für Hirata Bäume, weil sie Lebenraum für ganz unterschiedliche Lebewesen bieten, vom Moos über Insekten bis hin zu Vögeln. Eigentlich besitzen auch Architektur und Stadt karamari-shiro, nur haben sie dieses Potenzial mittlerweile weitgehend eingebüßt. Das gilt für Hirata insbesondere für das 20. Jahrhundert mit seiner Entwicklung hin zur funktionalen Segregation und der Beschränkung auf klar definierte Raumprogramme.

Mehr Leben in der Stadt

Nach seinem Studienabschluss in Architektur an der Graduate School of Engineering der Kyoto University arbeitete der 1971 in Osaka geborene Hirata, der zunächst Biologie studieren wollte, acht Jahre im Büro von Toyo Ito. Es war die Zeit, als dieser die Mediathek Sendai realisierte, ohne Zweifel eines der herausragendsten und wegweisendsten Gebäude, das in den letzten Jahren in Japan entstanden ist. Auch Hirata unterstreicht den enormen Einfluss, den dieses Bauwerk auf die jüngere japanische Architektenszene habe, insbesondere hinsichtlich der subtilen Differenzierung der Innenräume und der Verbindung von Struktur und Organik. Doch das Leben finde hinter einer Glasscheibe statt, wie in einem Aquarium. So sucht Hirata, der 2005 sein eigenes Büro gründete, nach einer Architektur, welche die Grenze zwischen Innen und Außen aufbricht. Tree-ness heißt eine seiner Ideen, die er in unterschiedlichen Maßstäben und Dimensionen entwickelt hat. Dabei ist es nicht das Ziel, Bäume bildhaft in Architektur zu übersetzen; vielmehr geht es ihm darum, die karamari-shiro-Qualitäten von Bäumen auf die Architektur zu übertragen. Also eine Architektur zu entwickeln, die ein Habitat darstellt. Hiratas Tree-ness-Konzepte basieren auf drei Grundelementen: Boxen mit Öffnungen, gefalteten Flächen und Bepflanzung. Man mag zunächst an die Metabolisten denken, die ebenfalls mit der Baummetaphorik operierten, doch unterscheidet sich Hiratas Konzept klar von den Vorstellungen der 60er Jahre, weil es nicht auf eine hierarchische Organisation der Elemente setzt, sondern auf eine Nutzungsoffenheit und auf Begegnungen, die sich nicht planen lassen und auch nicht geplant werden sollen. Architektur hat seinem Verständnis nach die Aufgabe, Leben zu ermöglichen, und nicht die, Leben zu bestimmen. Nicht ohne Grund fasziniert ihn, wie eine Katze sich in, um und auf einem Gebäude bewegt. Oder wie die in den japanischen Städten omnipräsenten großen Rabenkrähen sich mal hier, mal dort auf Vorsprüngen von Gebäuden niederlassen. Es sind gerade die informellen Räume zwischen den einzelnen Elementen, welche die Qualitäten von Tree-ness ausmachen. Studien von Hirata zeigen mehr als 100 m hohe Konfigurationen, bei denen Haus und Stadt miteinander verschmelzen. Ähnlich wie Sou Fujimoto zielt auch er auf Strukturen, die die Kleinteiligkeit und Dichte der Wohnviertel Tokios mit zeitgenössischen Mitteln neu formulieren.

Tree-ness House

Ein gebautes Tree-ness-Experiment konnte Hirata Ende 2017 im Tokioter Stadtquartier Otsuka unweit von Ikebukuro fertigstellen. Auftraggeber war der in Tokio und New York tätige Galerist Taka Ishii, der es leid war, Kunst in white cubes auszustellen und dann auch noch in white cubes zu wohnen. Bei dem Grundstück handelt es sich um eine der typischen Parzellen der Metropole: schmal zur Straße hin, etwas weiter ausgedehnt in die Tiefe des Grundstücks, beidseitig eingezwängt von bestehender Nachbarbebauung. Der Sockel zur Straße hin zeigt sich weitgehend geschlossen: seitlich des Autostellplatzes wurde ein Lagerraum untergebracht, rückwärtig befindet sich ein Ausstellungssaal. Ein weiterer Galerieraum liegt im 1. OG, das auch eine kleine Einliegerwohnung beinhaltet. Die Hauptwohnung erstreckt sich über die drei darüber liegenden Ebenen, bei denen das Haus – nunmehr nicht mehr von der Nachbarbebauung eingeengt – freier werden kann und Hiratas Tree-ness-Konzept veranschaulicht. Betonboxen bilden die Grundstruktur, in deren Öffnungen die »Falten« als präfabrizierte Elemente eingelassen sind, die Fenster, Außenbereiche und große Pflanztröge umfassen. Und Treppen, die Verbindungen zwischen den einzelnen Ebenen herstellen – wie improvisierte Katzenstiegen, nur dauerhaft, und eben für Menschen. Die gestapelten Boxen seien wie ein Riff am Meeresgrund, die Falten entsprächen dem Seetang, und die üppig gedeihenden Pflanzen in den Trögen vergleicht Hirata mit dem Fischlaich. Ein Modell für karamari-shiro, wenn auch nur vorerst als Privathaus.

Art Museum & Library

Einige Monate vor Tree-ness, im Juni 2017 wurde ein weiteres bemerkenswertes Projekt von Hirata fertiggestellt: Art Museum & Library in Ota. Die Stadt Ota, Präfektur Gunma, liegt etwa 100 km nordwestlich von Tokio. Ihr Entstehen verdankt sie der Flugzeugindustrie, die hier seit 1917 ansässig ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der daraus hervorgegangene, in mehreren Felder tätige Mischkonzern von den Alliierten zerschlagen, bildete sich jedoch als »Fuji Heavy Industries« neu, die jetzt v. a. im zivilen Bereich tätig sind. Nach der Automarke, die hier 1957 zum ersten Mal vom Band lief, heißt das Unternehmen seit jüngstem Subaru Corporation.

Ota ist ein Industrie- und Arbeiterort, der erst 1948 zur Stadt wurde und, durch Eingemeindungen der ländlichen Umgebung 2017 deutlich an Fläche gewonnen hat. Mehr als 220 000 Personen leben hier, Tendenz – wie für Japan typisch – sinkend. Der Bahnhof mit seinen auf mächtigen Betonviadukten durch die Stadt geführten Gleistrassen wirkt verlassen, ja ausgestorben. Der gleiche Eindruck, sobald man versucht, den Stadtkern zu finden: Brachflächen, Parkhäuser und Billigshops in überdimensionierten baulichen Hüllen aus vielleicht besseren Zeiten. Immerhin, das Asia Halal Restaurant beweist, dass hier, für Japan eher untypisch, Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen leben.

Die Verantwortlichen der Stadt entwickelten die Idee eines Ota Station North Entrance Center for Culture and Exchange, wie der etwas sperrige Arbeitstitel zunächst hieß. Menschen zusammenzubringen, das war das Ziel. Für die lokale Gemeinschaft etwas schaffen, nicht ein weiteres Ausstellungshaus, das sich primär an eine mobile auswärtige Klientel richtet, sondern Bibliothek und Kunstmuseum, waren als Programm vorgesehen. Akihisa Hirata erhielt den Auftrag. Insgesamt fünf Workshops mit den Verantwortlichen und der Bevölkerung wurden von dem Architekten im Laufe des Entwurfsprozesses organisiert. Ein Resultat des partizipatorischen Verfahrens: Museum und Bibliothek sind nicht getrennt organisiert, sondern verzahnt. Die Galerieräume bilden keinen separaten Gebäudeteil, sondern befinden sich auf drei Ebenen an unterschiedlichen Stellen im Haus.

Kern der Struktur bilden fünf raumhaltige Betonvolumina, teils aus massiven Wänden gebildet, teils als Stützenkonstruktion. Die Räume dienen als Galeriebereiche, als Nebenräume und Auditorium; wo sie sich in Stützen auflösen, verschmelzen sie mit den Bibliotheksräumen. Das führt dazu, dass das Innere spannungsvoll und vielgestaltig ist, obwohl eigentlich relativ simpel organisiert: Fünf betonierte Türme werden mit einer Stahlstruktur umgeben und dadurch zu einem Volumen zusammengefasst. Die sich anlagernde Stahlstruktur umfasst sämtliche Zirkulationsflächen, also Treppen und Rampen. Flankiert von Bücherregalen auf der einen und Verglasungen auf der anderen Seite schraubt man sich sukzessive um die Kerne herum in die Höhe. Und dann kann man das Innere verlassen und seinen Weg außen fortsetzen, denn die Verdachungen der die Kernvolumina umspielenden Stahlstruktur sind holzbeplankt, mit Geländern versehen und fungieren als spiralförmig angelegte Wege, die es erlauben, vom Café neben dem Eingang des Gebäudes bis zur Spitze des Gebäudes zu gehen. Oben wechseln sich Sitzplattformen mit baumbestandenen Rasenflächen über den betonierten Gebäudekernen ab. Genügend Erde und Substrat sollen dafür sorgen, dass man im heißen sommerlichen Klima in Zukunft tatsächlich unter Bäumen im Schatten sitzen kann. Bereits jetzt wird das Projekt von der Bevölkerung gut angenommen. Ota Art Museum & Library sei seine Antwort auf die Sendai Mediathek, sagt Akihisa Hirata. Und es ist zugleich ein überzeugender Beweis dafür, was karamari-shiro bei einem öffentlichen Gebäude bedeuten kann.

db, Di., 2018.06.05



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05. Juni 2018Hubertus Adam
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Menschlicher Massstab

Im Allgemeinen gilt Kenzo Tange als die überragende Architektenpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts in ­Japan. Doch es gab auch Alternativen zu seiner strukturell geprägten Architektur der Moderne: Togo Murano (1891–1984) war dabei einer der wichtigsten Gegenspieler. Sein überreiches, vielgestaltiges und heterogenes Werk harrte im Ausland bisher noch der Entdeckung. ­Unser Korrespondent und Autor, Hubertus Adam, hat ­für die db ein Stück Pionierarbeit geleistet.

Im Allgemeinen gilt Kenzo Tange als die überragende Architektenpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts in ­Japan. Doch es gab auch Alternativen zu seiner strukturell geprägten Architektur der Moderne: Togo Murano (1891–1984) war dabei einer der wichtigsten Gegenspieler. Sein überreiches, vielgestaltiges und heterogenes Werk harrte im Ausland bisher noch der Entdeckung. ­Unser Korrespondent und Autor, Hubertus Adam, hat ­für die db ein Stück Pionierarbeit geleistet.

Togo Murano war einer der meist beschäftigten und auch prägendsten Architektenpersönlichkeiten der japanischen Architektur des 20. Jahrhunderts; und dennoch ist er außerhalb des Landes nahezu unbekannt. 1891 in der Präfektur Saga geboren, studierte er an der Waseda University in Tokyo, die bis heute eine künstlerische und weniger technisch orientierte Architekturausbildung verfolgt. Anschließend arbeitete mehr als zehn Jahre für den Architekten Setsu Watanabe, bevor er sich 1929 in Osaka selbstständig machte. Bis zu seinem Tod im Alter von 93 Jahren blieb Murano beruflich aktiv; die Liste seiner während mehr als eines halben Jahrhunderts realisierten Projekte umfasst mehr als 300 Positionen: Büro- und Verwaltungsbauten, Stadthallen, Warenhäuser, Hotels, Theater, Universitätsgebäude, aber auch Teehäuser, Kirchen, Museen. Muranos Tätigkeit begann in der Zeit, als junge japanische Architekten den International Style, also die westliche Moderne, für sich entdeckten. Sein Schaffen setzte sich fort, als das Land nach dem Desaster des Zweiten Weltkriegs, den Zerstörungen durch Bombardements und den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki wiederaufgebaut wurde und dabei eine radikale Modernisierung erfuhr. Und es dauerte bis in die Ära der Postmoderne an, die sich in Japan exzentrischer und bizarrer zeigte als anderswo.

Distanz zu den Netzwerken in Tokio

1996 übergaben die Erben den Nachlass Muranos, der mehr als 50 000 Zeichnungen umfasst, an das Kyoto Institute of Technology. Die Inventarisierung ist noch nicht vollständig abgeschlossen; eine Ausstellung 2015/16 in Kyoto, die leider bislang noch nicht in Europa gezeigt werden konnte, gab immerhin einen ersten Einblick in den reichhaltigen Bestand an Archivalien; in fortlaufender Folge werden überdies die Zeichnungen publiziert.

Die geringe Aufmerksamkeit, die Murano jenseits von Japan zuteil wurde, hat verschiedene Gründe. Sein Werk ist vielgestaltig und lässt sich nicht leicht kategorisieren. Das hat einerseits mit den mehr als fünf Jahrzehnten an beruflicher Tätigkeit zu tun, es findet seine Begründung aber auch in der Tatsache, dass Murano keinen architektonischen Dogmata anhing und zur gleichen Zeit zu formal unterschiedlichen Lösungen fand. Zudem etablierte er sich als Architekt in der Kansai Area, also in der Region um Kyoto und Osaka, und nicht in Tokio, das auch seinerzeit schon das Zentrum des architektonischen Diskurses darstellte. Damit begab er sich bewusst in Distanz zu dem tonangebenden Netzwerk von Architekten, die bis heute das Bild des Bauens in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmen: Kunio Maekawa, v. a. aber Kenzo Tange und die Metabolisten. Maekawa hatte bei dem einstigen Wright-Mitarbeiter Antonin Raymond in Tokyo und bei Le Corbusier in Paris gearbeitet und war selbst wiederum Lehrer für Tange, der 1937-41 in seinem Büro angestellt war. Über Maekawa vernetzte sich Tange international, nahm wie dieser an den CIAM-Konferenzen teil und etablierte sich spätestens mit der prominent besetzten »World Design Conference« in Tokio 1960 – während der das metabolistische Manifest veröffentlicht wurde – in der Außenwahrnehmung als der wichtigste Architekt Japans. Die 60er Jahre können als das metabolistische Jahrzehnt angesehen werden: In sie fallen die Hauptwerke ihrer Protagonisten, so die Sportstätten für die Olympischen Spiele 1964 von Tange. Den Abschluss der Dekade markierte die Weltausstellung in Osaka 1970. Der Metabolismus hatte seinen Zenit überschritten, gegenüber den Visionen der Zeit um 1960 wirkten die Bauten auf dem Ausstellungsgelände eher enttäuschend; die ganze Expo sei, wie Arata Isozaki rückblickend vermerkte, von Technokraten geprägt gewesen. Letztlich ereignete sich um 1970 ein gesellschaftlicher und ökonomischer Wandel, der in Japan wie im Westen dazu führte, dass die Nachkriegsmoderne an Verbindlichkeit verlor. Die Studentenunruhen von 1968, die Ölkrise und der Bericht des Club of Rome über »Die Grenzen des Wachstums« entzogen überspannten, großmaßstäblichen Planungen die Grundlage.

Es ist aufschlussreich, Muranos Werk vor dem Hintergrund dieser Folie zu sehen. Waren Frank Llyod Wright und Le Corbusier die prägendsten ausländischen Architekten für das Japan der 30er Jahre, so ist der Bau, den Murano im Bericht über seine Europareise 1930 besonders hervorhebt, Ragnar Östbergs Stockholmer Stadthaus. Dass Murano in seinem ersten realisierten Projekt, dem Geschäftsgebäude für die Tokioter Niederlassung des Kimono-Unternehmens Morigo Shoten, Ziegel als Fassadenmaterial verwendet, mag ein Reflex dieser Faszination gewesen sein; auch Watanabe, der sich selbst an der amerikanischen Beaux-Arts-Architektur orientierte, hatte in seinen Gebäuden dieses für Japan untypische Baumaterial verwendet. Murano übernahm das Stahlbetonskelett des Vorgängerbaus und versah dieses mit einer neuen Fassadenhülle aus salzglasierten Klinker in einem dunklen braun-grauen Farbton. Die fast fassadenbündig eingelassenen Fenster mit ihrem klaren Raster unterstreichen den beinahe textilen Charakter der schmucklosen Außenhaut, der durch die ganz leicht gerundeten Ecken noch verstärkt wird. Subtil zeigt sich auch die Differenzierung der Erdgeschosszone, in der Granit als Laibungsmaterial zum Einsatz kommt. Es sei ein »sehr anständiges« Gebäude vermerkte Bruno Taut in seinem Reisetagebuch, als er im September 1933 durch Tokio streifte.

Elegant geschwungene Ziegelsteinflächen bestimmen auch die Ube Public Hall (1937), einen Veranstaltungsbau, den der im Bereich Kohle, Stahl- und Zementproduktion sowie Chemie tätige, ortsansässige Mischkonzern zur Erinnerung an seinen verstorbenen Gründer der Stadt schenkte. Murano knüpfte an eine stromlinienförmige Moderne an, wie sie in Europa entstanden war; deutlich wird, dass er sich dabei nicht an radikal-funktionalistischen Vorbildern orientierte, sondern eher an Spielarten des Neuen Bauens, wie sie in Skandinavien oder den Niederlanden zu finden waren.

Murano beteiligte sich zwar nicht – wie Maekawa oder Tange – an architektonischen Planungen für die »Große Ostasiatische Wohlstandssphäre«, also die nationalistische Vision eines japanisch dominierten Herrschaftsgebiet im Pazifikraum, die mit der Annektion der Mandschurei 1931 zum realpolitischen Ziel geworden war. Aber insbesondere der Architekt und Architekturhistoriker Terunobu Fujimori hat auf die Faszination für die Ideologie des Nationalsozialismus hingewiesen, mit der Murano allerdings unter seinen Berufskollegen keinen Einzelfall darstellte. Die meisten seiner in den Kriegsjahren projektierten Bauten, darunter viele für die Rüstungsindustrie, blieben unrealisiert.

1948 war Murano Jurymitglied im ersten öffentlichen Architektenwettbewerb nach dem Krieg. Es ging um den Neubau der katholischen Kirche in Hiroshima. Ein erster Preis wurde nicht vergeben, Tange erhielt einen der beiden zweiten, Maekawa einen der vier dritten Preise. Doch die Gemeinde vermisste den christlichen Charakter der ausgewählten Wettbewerbsbeiträge, und daher wechselte Murano die Seiten und schenkte der Gemeinde einen Entwurf, der dann bis 1954 auch umgesetzt wurde. Die Weltfriedenskirche zeigt ein sichtbares Betonskelett – ein Thema, das der Architekt in den kommenden Jahren immer wieder aufgreifen sollte, etwa bei der Bibliothek der Kansai University Osaka oder dem Rathaus von Yokohama (beide 1959). Für die Ausfachung ließ Murano Backsteine anfertigen, denen Asche der zerstörten Stadt beigemischt wurde. Schon durch das Baumaterial bewahrt die Kirche die Erinnerung, durch das Vorspringen von einzelnen Steinen wird die raue Fassade zusätzlich lebendig. Ungewöhnlich sind die Fensteröffnungen, deren Gestalt an die Formen spätromanischer Fenster im Rheinland erinnert. Das ist vielleicht kein Zufall, wurde die Kathedrale samt ihrer Ausstattung doch durch Spenden finanziert. Insbesondere deutsche Städte und Kirchengemeinden beteiligten sich, die Bronzeportale von Ewald Mataré wurden beispielsweise von der Stadt Düsseldorf gestiftet. Initiator und unermüdlicher Kämpfer für das Projekt war der aus Deutschland stammende Generalvikar der Diözese Hiroshima, Hugo Enomiya-Lassalle. Der Jesuit und Zen-Meister hatte den Atombombenabwurf in der Stadt überlebt und setzte sich für den buddhistisch-christlichen Dialog ein. In Murano, der sich nachweislich für die christliche Morallehre ebenso interessierte wie für die Analysen des Kapitalismus von Karl Marx, hatte er einen kongenialen Partner gefunden.

Diskurs um die Tradition

Seit der Öffnung Japans in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zu einer abrupten Modernisierung des Landes unter Hinzuziehung von Beratern aus dem Westen geführt hat, war stets die Frage verhandelt worden, inwieweit die Architektur sich an westlichen Vorbildern oder an japanischen Traditionen orientieren solle. Prestigeträchtige Bauten des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstanden zumeist im Eklektizismus der Neo-Baustile, wie man sie in Europa kannte, bis sich hier ebenfalls eine Art von Reformarchitektur etablieren konnte. Der zunehmende Nationalismus nach der verhältnismäßig liberalen Taisho-Ära (1912-26) warf aber auch in der Architektur die Frage nach dem Anknüpfen an die Tradition auf. Dies führte zur Konstruktion eines neuen und synthetischen nationalen Stils, bei dem zeitgenössische Bauten durch der Tradition entlehnte Elemente, insbesondere Dächer, gleichsam japonisiert wurden. Gegen diesen sogenannten Kaiserkronenstil (teikan-yoshiki) opponierte eine junge Architektengeneration. Als Maekawa 1931 im Wettbewerb um das Imperial Museum in Tokio dem Konkurrenten Jim Watanabe, dessen Entwurf eines der Hauptwerke des Kaiserkronenstils darstellt, unterlag, provozierte das eine heftige Debatte. Sechs Jahre später, 1937, hatten sich die Gewichte verschoben: Der japanische Pavillon stammte von Junzo Sakakura, der zuvor bei Le Corbusier gearbeitet hatte, und war, wie Reyner Banham dargestellt hat, in den Details puristischer ausgebildet als die Bauten Mies van der Rohes. Schützenhilfe hatten die Modernisten dabei von Bruno Taut erhalten, der durch seine auch in nationalistischen Kreisen rezipierten Elogen auf die kaiserliche Villa Katsura eine Legitimierung der modernen Architektur bewirkt hatte.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete einen zweiten radikalen Modernisierungsschub im Zuge des Wiederaufbaus des kriegszerstörten Landes. Und wieder stellte sich die Frage nach der Anknüpfung an die Tradition. In Intellektuellenkreisen wurde über die Vorbildlichkeit zweier früher japanischer Kulturen gestritten, der eher populär-volkstümlichen verstandenen Jomon-Kultur (10 000 bis 300 v. Chr.) und der darauffolgenden Yayoi-Kultur (300 v. bis 300 n. Chr.) mit ihrer verfeinerten und elitären Ästhetik. Als Ferment brachte die polarisierende Jomon-Yayoi-Debatte auch den Architekturdiskurs zum Gären und bewirkte, dass die verfeinerte filigrane Architektur, für welche paradigmatisch das Museum of Modern Art von Sakakura in Kamakura (1951) stehen mag, einer schwereren und gröberen wich. Bauten im Stil des Betonbrutalismus prägten den Wiederaufbau und kulminierten schließlich mit den Sportstätten von Tange für die Olympischen Spiele in Tokio 1964.

Einen ganz eigenen Umgang mit der Tradition zeigte Murano beim unlängst abgerissenen neuen Kabuki-Theater in Osaka (1958). Die Fassade des im Innern eher zurückhaltend ausgestalteten Bauwerks versah er mit vier Galerien aus geschwungenen Giebeln (kara-hafu) und setzte auf deren Spitze jeweils ein dekoratives Element, das an Haarschleifen von Kindern erinnerte. Das Gesamtvolumen wurde von einem Dach mit geschwungenen Dreiecksgiebeln (chiodori-hafu) überfangen. Gewiss hatten sich die Auftraggeber eine Orientierung an traditioneller Architektur gewünscht, doch was Murano schließlich schuf, war eine fast ins Surreale getriebene Kombination traditioneller Motive. Und zudem natürlich auch eine Kritik an den Vertretern der modernen Architektur, die sich Bruno Tauts Credo von der »guten« Architektur der Villa Katsura und dem »Kitsch« der überbordenden Bauten von Nikko zueigen gemacht hatten.

Organische Formen

Provozierend wie das Kabuki-Theater wirkte das 1963, also ein Jahr vor Tanges Olympiabauten, fertiggestellte Nippon Life Insurance Building. Es steht an einem prominenten innerstädtischen Bauplatz unweit von Kaiserpalast und Tokio Station und hatte zur Zeit seiner Entstehung noch das wenige Jahre später abgerissene Imperial Hotel von Frank Lloyd Wright als Gegenüber. Murano versah das Volumen mit einer durch Hohlkehlen und Vorsprünge sowie Fensterpfeiler und Kupferelemente belebten Fassade aus leicht bossiertem rosa-beigem Granit. Es ging dem Architekten hier wie an anderen Bauten nicht um die Kongruenz von Innen und Außen; die Fassade gibt dem Gebäude ein unverkennbares Gesicht, schweigt aber über Konstruktion und Nutzen des Gebäudes. Umso überraschender ist es, dass in die Stahlbetonkonstruktion auch ein Theater eingelagert ist. Der organisch geformte Zuschauerraum ist mit Mosaiken sowie Perlmutt-Muscheln ausgekleidet und entführt die Besucher nachgerade in eine Unterwasser-Zauberwelt. Nicht völlig zu Unrecht sehen manche Rezensenten im Nippon Life Building einen Vorboten der Postmoderne.

Im Spätwerk Muranos sollte sich das freie Spiel organischer Formen noch verstärken. Die Kirche in Takarazuka (1966) besitzt einen dreieckigen Grundriss, wird aber von einem wulstförmig auskragenden Dach überfangen, das in einer großen dynamischen Geste Kirschenschiff und Turm zusammenbindet. Die Lutherische Schule für Theologie (1969) im Westen der Metropole Tokio ist ein vielgliedriges, asymmetrisches Ensemble aus Wandscheiben und skulptural ausgebildeten Körpern. Heller Spritzputz vereinheitlicht die Baugruppe. Der über kleeblattförmigem Grundriss errichtete dreigliedrige Pavillon bei Hakone (1973) scheint – wie viele Bauten Muranos – der Erde zu entwachsen und besitzt mit seinen Strohdächern einen Charakter, der zwischen Naturhaftigkeit und Archaik oszilliert. Eines seiner letzten Werke war das Tanimura Art Museum bei Itoigawa. Auch wenn die umgebenden Wandelgänge des Gartens an japanische Architektur erinnern: Das Museum selbst ist eine plastische frei geformte Komposition, die jegliche Referenzen überwunden hat. Im Innern entstanden höhlenartige Räume, die speziell auf die buddhistischen Plastiken des Künstlers Seiko Sawada abgestimmt wurden.

Mit der Belebung der Fassaden, der reichhaltigen Materialpalette und der organischen Formen reiht sich Murano in eine Tradition skulpturaler Architektur in Japan ein, zu der auch Architekten wie Seiichi Shirai oder Kenji Imai zählen. Tenurobu Fujimori hat darauf hingewiesen, dass Murano mit seinem Werk als der eigentliche Gegenspieler Tanges anzusehen ist. Murano interessierte sich mehr für die Erscheinung des Gebäudes als für seine Struktur. Schon 1919 hatte er in einem Essay eine Architektur jenseits des Stils propagiert. Beeinflusst vom Vitalismus des zu dieser Zeit in Japan stark rezipierten Henri Bergson zielte er auf eine Architektur, die auf die Dynamik des Lebens Bezug nimmt. Körperhaft wird sie zu einem lebendigen Gegenüber; der menschliche Maßstab bleibt gewahrt.

Große Visionen blieben ihm ebenso fremd wie missverstandener Traditionalismus. Zweifelsohne war er mehr Künstlerarchitekt als an Fragen der Struktur interessiert. In einem Vortrag konstatierte Philip Johnson schon 1960, die Moderne habe eines der wesentlichen Themen der Architektur, nämlich jenes der Fassade, sträflich missachtet. Für Murano war das Äußere eines Gebäudes wichtig, da dieses zuerst in das Blickfeld des Menschen gerät. So nahm er in der Tat Themen vorweg, die in der Postmoderne wieder an Bedeutung gewannen.

db, Di., 2018.06.05



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20. April 2018Hubertus Adam
TEC21

Stapeln und verbinden

Mit zwei Bauten der Architekten AWP und HHF sowie der Ingenieure EVP und Schnetzer Puskas hat die Ausgestaltung des Parc du Peuple de l’Herbe in Carrières-sous-Poissy westlich von Paris begonnen. Das Motiv der Urhütte ist der leitende Gedanke, vertikal gestapelt und horizontal verbunden.

Mit zwei Bauten der Architekten AWP und HHF sowie der Ingenieure EVP und Schnetzer Puskas hat die Ausgestaltung des Parc du Peuple de l’Herbe in Carrières-sous-Poissy westlich von Paris begonnen. Das Motiv der Urhütte ist der leitende Gedanke, vertikal gestapelt und horizontal verbunden.

Nähert man sich dem Parc du Peuple de l’Herbe, so fällt schon von Weitem inmitten der Vegetation eine rätselhafte weisse Struktur ins Auge; vor Ort erkennt man, dass es sich gleichsam um vier gestapelte Urhütten handelt: abstrakte Hausformen mit Satteldach, zusammengeschraubt und -geschweisst aus weiss lackierten Doppel-T-Trägern. Die Hütten sind gegeneinander versetzt und wirken aus mancher Perspektive atemberaubend instabil, als würde die Konstruktion gleich auseinanderfallen.

Die unterste und die zweitoberste der Hütten bestehen lediglich aus den offenen Gerüststrukturen, bei den beiden anderen sind einzelne Flächen mit hellen Holzlatten verkleidet. Der bis zur Spitze 15 m hohe «Observatoire» bietet eine Aussicht über den Park; eine Treppen- und Galeriestruktur führt hinauf zur obersten Ebene. Es ist ein veritables «folly» oder, um in der französischen Terminologie zu bleiben, eine «fabrique», eine kleine Parkarchitektur, konstruktiv gelöst und architektonisch formuliert mit den Mitteln der heutigen Zeit.

Dabei spielen die Architekten AWP aus Paris und HHF aus Basel souverän mit der Tradition von Parkbauten und Aussichtsarchitektur. Der Observatoire wirkt wie eine künstliche Ruine, und wenn man hinaufsteigt, merkt man, dass die Struktur sich leicht bewegt und durch die Schritte in Schwingung versetzt wird. Seit Goethe 1770 in die filigrane Turmspitze des Strassburger Münsters kletterte, um mit einer Brachialkur seine Höhenangst zu überwinden, gehört der Schwindeleffekt bei der architektonischen Inszenierung von Aussicht dazu. Da das Gelände recht flach ist, reicht die Höhe von 12 m aus, um einen guten Überblick über den Park und seine Umgebung zu bekommen, die «Boucle de Chanteloup». Man gelangt nach kurzer Wegstrecke zum Park, wenn man vom Endbahnhof des RER in Poissy, 25 km westlich von Paris, nicht den Weg zur Villa Savoye einschlägt, sondern die Seine überquert.

Park auf belastetem Boden

Die von der dritten Seineschleife flussabwärts von Paris umschlossenen Gebiete dienten über Jahrhunderte als Gemüsegarten der Hauptstadt, und als diese wuchs, wurden die Abwässer der sich ausdehnenden Metropole hier als Dünger verwendet. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung gelangten aber immer mehr Schadstoffe auf die Rieselfelder. Die Belastung mit Blei, Cadmium und Zink führte schliesslich dazu, dass der Gemüseanbau in der Chanteloup-Ebene 1999 verboten wurde.

Heute sieht man eine ausgezehrte und versehrte Landschaft, zum Teil sich selbst überlassen, zum Teil industriell überformt. Altlasten mischen sich mit Spontanvegetation und neuen Biotopen. Die Behörden versuchen nun schrittweise, die Probleme der Vergangenheit in den Griff zu bekommen, und in Carrières-sous-Poissy, begünstigt durch die Nähe zur RER-Station, sind inzwischen neue Wohngebiete entstanden. Im Süden und Westen stossen sie an den Parc du Peuple de l’Herbe.

Der vom Landschaftsarchitekturbüro Agence Ter geplante Park umfasst 113 ha und erstreckt sich im Seinebogen über eine Länge von 2.8 km. Auch hier wurde früher Gemüse angebaut, auch hier verseuchten Abwässer den Boden, und schliesslich kam der Kiesabbau, der zwei grosse Seen hinterlassen hat. Kein arkadisches Idyll also, sondern eine raue Landschaft, hybrid geprägt von den Kräften der Natur und den Interventionen des Menschen.

Das Parkprojekt verfolgt zwei Ziele: Zum einen geht es um ökologische Aspekte, um die Verstärkung von Biodiversität und um Phytosanierung, also die Sanierung des Bodens mit biologischen Mitteln; zum anderen um die Anlage eines Naherholungsgebiets für die lokale Bevölkerung, das aber durchaus auch die Bewohnerinnen und Bewohner der nahen Hauptstadt anlocken soll. Das Konzept der Pariser Landschaftsarchitekten teilt die Gesamtfläche in drei unterschiedlich intensiv genutzte Bereiche: die «bande active» mit diversen Freizeitangeboten entlang der Siedlungskante, eine mittlere Zone, in der die Natur weitgehend ungestört bleibt, und schliesslich die Bereiche am Seineufer, die durch teilweise Auslichtung sowie Stege und Terrassen für die Besucher zugänglich gemacht wurden.

Für die Parkbauten wurde ein separater Wettbewerb ausgeschrieben, den HHF und AWP gewinnen konnten; seit ihrem erstmaligen Zusammentreffen auf der Architekturbiennale São Paulo 2007 haben die Büros aus Basel und Paris immer wieder gemeinsam an Projekten gearbeitet. Für Carrières-sous-Poissy konzipierten sie eine Familie von kleinen Parkbauten mit ganz unterschiedlichen Funktionen. Die ursprünglichen Pläne umfassten neben dem Observatoire ein Besucherzentrum und ein Restaurant sowie eine ganze Reihe weiterer Kleinbauten zum Skaten, Klettern und für diverse andere Betätigungen, darunter auch ein Minitheater und einen Kiosk. Das abstrakte Satteldachhaus war das verbindende Motiv; es erlaubte eine unterschiedliche Materialisierung und gewährte zugleich genügend Flexibilität bei zukünftiger Nutzungsänderung. Eine wichtige Inspirationsquelle waren die kleinen Fischerhütten und die Hausboote in der Umgebung, aber natürlich kann man die Urhütten auch als Referenz an die für Suburbia typische generische Bebauung verstehen.

Insekten in der Urhütte

Der zweite Bau von HHF und AWP steht denn auch in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wohnsiedlung. Er markiert den Hauptzugang zum Park und ist aus dem Konzept eines ursprünglich hier geplanten Besucherzentrums hervorgegangen. Dieses wurde im Lauf der Planung vergrössert und zu einem Insektenmuseum umprogrammiert. Auch das Insektenmuseum besteht aus mehreren Urhütten – nur sind diese hier nicht aus Stahl, sondern aus Holz gefertigt und nicht vertikal übereinander, sondern horizontal nebeneinander angeordnet. Fünf Körper unterschiedlicher Grösse und Proportion wurden über einem Betonsockel zu einem Volumen zusammengeschoben, das über unregelmässigem Grundriss in die Landschaft ausgreift.

Die Konstruktion besteht aus biegesteifen Holzrahmen aus Douglasien-Brettschichtholz, die zum Teil an den Schnittstellen als Spider Legs im Raum auftreten. Grosse Fenster öffnen gezielt Blickachsen in die Umgebung, transluzente Polycarbonatplatten lassen Licht ins Innere strömen. Vertikale Latten aus sibirischer Lärche bilden die äussere Haut des Gebäudes und sind auch als Lamellenstruktur über einige Bereiche der Verglasung geführt. In zwei Ausstellungsbereichen werden die Geschichte des Orts und das Thema der Insekten präsentiert. Daneben umfasst das Museum ein Auditorium samt Gruppenraum, Büros und schliesslich ein Labor mit Bruteinrichtungen für Insekten. Als Haus im Haus steht ein Glashaus mit lebenden Schmetterlingen und Insekten, es bildet sozusagen den Nukleus des Museums, in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht. Und inzwischen hat das «Peuple de l’Herbe» dem Park ja auch seinen Namen gegeben.

Klamme Kassen lassen vermuten, dass der Park wohl nicht den im Wettbewerb von 2011 imaginierten Ausbauzustand erreichen wird. Aber zumindest die geplante Guinguette wäre eine wünschenswerte und angesichts des Besucherstroms seit der Eröffnung auch realistische Ergänzung. Guinguettes, das waren die Ausflugsgaststätten, die seit dem 19. Jahrhundert an den Ufern von Seine und Marne im Pariser Umland entstanden – einfache Gartenlokale mit Tanz und Musik. Man kennt sie eigentlich nur noch von den Bildern der Impressionisten. HHF und AWP haben eine zeitgenössische Guinguette entworfen. Sie könnte eine zusätzliche Attraktion des Parks darstellen.

TEC21, Fr., 2018.04.20



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TEC21 2018|16 Konstruktionen aus Stahl und Holz

23. März 2018Hubertus Adam
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Preziose auf Betonfuss

25 Jahre nachdem dort der letzte Renault vom Band rollte, hat die bei Paris in der Seine gelegene Île Seguin eine neue Funktion: Im Frühjahr 2017 wurde nach dem Entwurf von Shigeru Ban und Jean de Gastines das Musikzentrum Seine Musicale eröffnet. Blickfang ist das Auditorium aus Glas und Holz.

25 Jahre nachdem dort der letzte Renault vom Band rollte, hat die bei Paris in der Seine gelegene Île Seguin eine neue Funktion: Im Frühjahr 2017 wurde nach dem Entwurf von Shigeru Ban und Jean de Gastines das Musikzentrum Seine Musicale eröffnet. Blickfang ist das Auditorium aus Glas und Holz.

Nach Museen und Bibliotheken sind es in den letzten Jahren verstärkt neu gebaute oder eingerichtete Konzert­gebäude, die als kulturelle Ikonen und urbane Leuchttürme gelten. Die Hamburger Elbphilharmonie war nur die Spitze des Eisbergs. Ein Blick allein auf Polen und Deutschland: Kattowitz und Stettin, Dresden, Berlin und selbst das Dorf Blaibach im Bayerischen Wald erhielten in den letzten drei Jahren spektakuläre neue Musiksäle, in München konnte sich unlängst das Bregenzer Büro Cukrowicz Nachbaur mit seinem Entwurf für das neue Konzerthaus durchsetzen. Für prognostizierte 360 Mio. Euro wird einer der teuersten zeitgenössischen Kulturbauten der Bundesrepub­lik Deutschland errichtet.

In der Metropolitanregion Paris sind in dichter Folge gleich drei neue Konzertsäle entstanden: 2014 das Auditorium von AS Architecture Studio in der Maison de la Radio, 2015 die Philharmonie von Pritzker-­Preisträger Jean Nouvel am Parc de la Villette und 2017 die Seine Musicale von den Architekten Shigeru Ban und Jean de Gastines auf der Île Seguin. Die in der Seine gelegene Insel gehört zum südwestlichen Vorort Boulogne-Billancourt und beherbergte bis vor einigen Jahren einen der eindrucksvollsten Industriekomplexe Europas.

Volumen mit verschiedenen Funktionen

Von der Metro-Endstation Pont de Sèvres her kommend passiert man zunächst die 1979 fertiggestellte Grossüberbauung Quartier Pont-de-Sèvres, die sich mit ihrem Parkhaussockel wie ein Sperrriegel Richtung Fluss schiebt, und dann das «Trapèze» genannte Areal des ehemaligen Renault-Werks. Hier wurde in den vergangenen Jahren um den zentralen, von Agence TER geplanten Parc de Billancourt ein vollständig neues Wohn- und Geschäftsviertel aus dem Boden gestampft, das in Blockstrukturen gegliedert ist; aus der Schweiz sind auch Meili Peter sowie Diener & Diener mit Bauten vertreten. Jean Nouvels Tour Horizons fungiert als vertikale Dominante an der zentralen Achse, in deren Fortsetzung der Fussgängern vorbehaltene Pont Renault auf die Île Seguin führt.

Während der grösste Teil der 11.5 ha messenden Insel noch der Bebauung harrt, erstreckt sich die Seine Musicale von der Brücke aus Richtung Norden und füllt mit ihrem keilförmigen Grundriss von 280 m Länge die gesamte Inselspitze aus. Wände aus hellem Sichtbeton, in die diverse Öffnungen eingeschnitten sind, umhüllen das komplexe Raumprogramm und vereinheitlichen das Volumen, das auf einer breiteren Terrassensub­struktion aus dunkelgrauem Beton ruht.

Wohlwollend mag man diese Gesamtkonfiguration als Reminiszenz an die steinerne Fabrikinsel verstehen; auf architektonisch überzeugende Weise bewältigt wurden die schieren Baumassen jedoch nicht. Das gilt insbesondere für den eigentlichen Vorplatz an der der Insel zugewandten Schmalseite: Zu den mächtigen Betonmauern treten hier die Glasfronten der Eingangsbereiche; eine Freitreppe pharaonischen Zuschnitts führt hinauf zur Dachlandschaft, die als öffentlicher Park gestaltet wurde, und auf einem Riesenscreen werden die Veranstaltungen angezeigt. Er kann auch dazu genutzt werden, die Events auf den Vorplatz zu übertragen.

Ein riesiges Glas­portal, 12 m breit und 10 m hoch, wird zu den Veranstaltungen aufgeklappt und emporgefahren, sodass die Besucherinnen und Besucher direkt in das Foyer eintreten können. Von hier gelangt man in die verschiedenen Sektoren des grossen Saals «Grande Seine», der primär auf Rock- und Popkonzerte zugeschnitten ist und je nach Verhältnis von Sitz- und Stehplätzen zwischen 4000 und 6000 Besucher aufzunehmen vermag. Der steil ansteigende Zuschauerraum ist fächerförmig dimensioniert, sodass eine grösstmögliche Nähe zur Bühne entsteht. Diese gilt mit 35 m Breite, 40 m Tiefe und 17 m lichter Höhe als die grösste Frankreichs. ­Hydraulische Hubelemente erlauben es im Sinn einer salle modulable, unterschiedliche Bühnenkonfigura­tionen umzusetzen. Helle Stühle bestimmen das Bild des robust anmutenden Zuschauersaals, die Wände sind verkleidet mit einer schwarz-grauen Schachbrettstruktur aus Akustikelementen; der Saal wurde von Nagata Acoustics für die Darbietung elektronisch verstärkter Musik optimiert.

Vom Foyer der Grande Seine aus durchmisst die Grande Galerie auf einer Länge von 230 m das gesamte Gebäude. Diese innere Mall wird von Shops und Restaurants flankiert, erlaubt durch Fenster Einblicke in die tiefer liegenden Proberäume oder Aufnahmestudios und führt schliesslich zu einem weiteren Foyer, von dem man über Rolltreppen nach oben zum Auditorium befördert wird, dem Saal für klassische und zeitgenössische Musik mit 1150 Plätzen.

Dieser Raum ist die eigentliche Preziose der Seine Musicale: Das Volumen des Konzertsaals ist umhüllt von einer Tragwerkstruktur aus sich wabenförmig schneidendem Brettschichtholz, die aussen verglast ist und aus der Ferne wie ein gigantisches Ei erscheint, das auf dem breit gelagerten, sich Richtung Norden abtreppenden Betonsockel ruht. Die segelartig wirkende, mit 800 m² Solarzellen beplankte Metallstruktur, die sich auf Schienen um den Saal her­um bewegt, steigert die Ikonizität.

Meister des kleinen Formats

Die Rohheit des Sockels weicht, sobald man in den ­Wandelgängen zwischen der gläsernen Haut und dem Volumen des Auditoriums steht, der Liebe zum Detail. Irisierende Fliesen schaffen in den organisch fliessenden Aufgängen eine geheimnisvolle Atmosphäre, die Ausblicke auf die Hügel von Meudon oder auf den Trapèze und Paris in der Ferne sind fantastisch. Und dann das Auditorium: Wabenförmige Akustikelemente aus Abachi-Holz und Pappröhren bilden die ondulierend geschwungene Deckenuntersicht, eine geflochtene Textur von Buchenholzstreifen umspielt die Wände, die rot bezogenen Stühle bestehen aus hölzernen Wangen, in die Pappröhren für Sitzmulden und Lehnen eingelassen sind. Die Atmosphäre ist sinnlich, warm, intim; die Anzahl der Zuschauerplätze beträgt nur etwa die Hälfte der gros­sen Säle, wie sie in der Pariser Philharmonie oder in der Elbphilharmonie entstanden sind. Der ebenfalls von Nagata Acoustics perfektionierte Raumklang ist deutlich sanfter und gnädiger als die eher trockene und analytische Akustik in Hamburg.

Harte Schale, weicher Kern: Die gestalterischen Ambitionen Shigeru Bans haben sich ganz auf das Auditorium konzentriert. Das ist einerseits konzeptionell verständlich, denn es bedarf in einem Haus, das für ganz unterschiedliche Konzertformate und heterogene Publika ausgelegt ist, nicht überall des gleichen Grads an Verfeinerung. Und das wäre auch angesichts des begrenzten Gesamtbudgets nicht möglich gewesen.

Andererseits beweist die Seine Musicale nach dem Centre Pompidou Metz aufs Neue, dass Shigeru Ban ein Meister in kleinen Formen ist, Präzision und Poesie im gros­sen Massstab aber deutlich nachlassen. Und der Japaner ist eben kein Architekt, der angesichts von Druck und Beschränkung für Rauheit einen adäquaten Ausdruck findet. Gäbe es das mirakulöse Ei mit dem Auditorium nicht, niemand käme auf den Gedanken, in Shigeru Ban den Autor des Sockelbauwerks zu sehen.

TEC21, Fr., 2018.03.23



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23. Februar 2018Hubertus Adam
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Fragile Pfahlbauten

Von den Gebäuden und Fördereinrichtungen einer ehemaligen Zinkmine in Norwegen waren nur noch wenige Spuren erhalten. Peter Zumthor belebte 2016 den fast vergessenen Ort mit einem Museum neu, das den ehemaligen Grubenweg für die Besucher erlebbar macht. Mehrere Pavillons akzentuieren den Weg durch die Landschaft.

Von den Gebäuden und Fördereinrichtungen einer ehemaligen Zinkmine in Norwegen waren nur noch wenige Spuren erhalten. Peter Zumthor belebte 2016 den fast vergessenen Ort mit einem Museum neu, das den ehemaligen Grubenweg für die Besucher erlebbar macht. Mehrere Pavillons akzentuieren den Weg durch die Landschaft.

Ein Fluss, der sich tief in das enge Tal eingegraben hat, steile Hänge, Nadelwald, Felsen, Geröll: Die Schlucht Allmannajuvet nahe Sauda in Südnorwegen ist eindrucksvoll und unwirtlich zugleich. Oberhalb der Strasse, die durch die Schlucht führt, wurde zwischen 1881 und 1899 Zink abgebaut. Unter härtesten Bedingungen förderten Arbeiter in einem kaum mannshohen Stollensystem Erz zutage. An einer Abwurfstelle gelangte es auf ein unteres Niveau, wo es gewaschen und mit Karren über zehn Kilometer nach Sauda befördert wurde.

Über den Fjord erreichten die Bodenschätze die eigentliche norwegische Küste und traten dann eine weite Schiffsreise an, die im walisischen Swansea endete. 12 000 t Erz wurden über die Jahre ausgebrochen. Dann liess der sinkende Weltmarktpreis für Zink den Abbau unrentabel werden, die Mine wurde für immer geschlossen. Gebäude und Fördereinrichtungen verfielen, bis im unwegsamen Gelände nur noch einige wenige Spuren erhalten blieben.

Ort der Erinnerung

Zwischen 2009 und 2016 ist hier ein Museum ent­standen, besser vielleicht: ein Erinnerungsort, mit dem das Atelier Peter Zumthor 2003 beauftragt worden war. Aufgrund der schwierigen Geländebeschaffenheit erforderten allein die Vorbereitungs- und Fundamentierungsarbeiten vier Jahre. Gebaut werden konnte ohnehin nur während der Sommermonate, schliesslich trugen die Wettereinwirkungen zur weiteren Verzö­gerung bei.

Der Erinnerungsort fügt sich ein in das Konzept der «Nasjonale turistveger» – die Nationalen Touristenrouten zählen zu den überzeugendsten Programmen an der Schnittstelle zwischen Architektur, Kunst und Landschaft, die in der letzten Zeit umgesetzt wurden. Ziel ist nicht zuletzt ein Branding des Landes mittels herausragender Architektur. Das Programm wurde 1994 lanciert und soll dazu beitragen, den Tourismus in den entlegenen ländlichen Regionen Norwegens zu intensivieren. Es geht um die Verbesserung der technischen und kulturellen Infrastruktur, aber auch um eine gemeinsame Vermarktung. Insgesamt 18 Routen wurden ausgewählt; jede der (schon bestehenden) Strassen erhielt gezielte architektonische Inter­ventionen. Dabei kann es sich um Infrastrukturbauten wie Rast- und Parkplätze oder Gastro­nomieeinrichtungen handeln, aber auch um kleine Museen und kulturelle Orte. Und natürlich allem voran um Aussichtspunkte zur Intensi­vierung des Landschaftserlebnisses.

Bei den mal zurückhaltenden und fast minimalistischen, mal aber auch aufwendigen und durchaus kosten­intensiven Eingriffen sind überwiegend jüngere norwegische Architekturbüros beteiligt, wobei insbe­son­dere Reiulf Ramstad Arkitekter durch das Programm der Touristenstrassen international bekannt geworden sind. Immer wieder werden aber auch Aufträge an prominente Künstler und Architekten vergeben, so Snøhetta oder Fischli/Weiss. Peter Zumthor plante und realisierte zwischen 2007 und 2011 die Gedenkstätte Steilneset in Vardø, das «Memorial to the victims of the witch trials» in der Finnmark. Die Ortschaft liegt an der Barentssee und damit im äussersten Nordosten des Landes (vgl. «Eiskalte Linie und Feuerpunkt»).

Der norwegische Bildhauer Knut Wold, der selbst 1997 ein Projekt an der Sognefjellet-Route realisieren konnte, fungierte seit Langem als Berater von Statens vegvesen, der für die Touristenrouten zuständigen staatlichen Strassenbehörde. 2001 hatte er Peter Zumthor für eine architektonische Intervention an der Ryfylke-Route in der Provinz Rogaland, im Süden Norwegens, empfohlen. Diese 183 km lange Touristenroute beginnt in Oanes am Lysefjord und führt durch die Schären- und Fjordlandschaft in nordwestlicher Richtung bis in die Gegend von Røldal. Bei Sauda im letzten Streckenabschnitt verlässt die Strasse die Fjorde und führt durch den Allmannajuvet landeinwärts.

Die knapp 5000 Einwohner zählende Ortschaft Sauda, am Endpunkt des gleichnamigen Fjords gelegen, wird bis heute von einem gewaltigen Industriekoloss beherrscht. Bodenschätze gab es hier in Fülle, zudem ausreichend Energie in Form von Wasserkraft, und so begann ein amerikanisches Konsortium 1910 mit dem Aufbau des seinerzeit grössten Schmelz­werks Europas. Die Zinkförderung im Allmannajuvet bildete gleichsam den abgeschlossenen Prolog dieser industriellen Erfolgsgeschichte.

Neue Präsenz

Zumthors Aufgabe bestand darin, den weitgehend vergessenen Ort in der Schlucht zum Sprechen zum bringen. Von Anbeginn bestand Klarheit darüber, dass es sich nicht um ein übliches Industrie- oder Technikmuseum handeln könne. Der Abbau war seinerzeit mit primitivsten Mitteln erfolgt, sichtbar im Gelände war kaum noch etwas: nichts von den technischen Anlagen, aber dafür der entlang des Hangs zum Mundloch des Stollens führende Karrenweg, die Stollen im Berg und einige Fundamentreste. Gewissermassen war die geringe physische Präsenz aber die Chance für das Projekt: Zumthor sah sich nicht – wie etwa seinerzeit bei der «Topografie des Terrors» in Berlin – mit schon bestehenden denkmal­pflegerischen oder museumsdidaktischen Konzepten konfrontiert. Stattdessen erhielt er von Statens vegvesen die Möglichkeit, eine eigene Lesart des Orts zu entwickeln und diese baulich umzusetzen.

In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern wurden die spärlichen verbliebenen Quellen zusammengetragen – Fotos, archi­valische Zeugnisse, ein paar Gerätschaften – ausserdem erfolgte eine geologische und topografische Untersuchung des Areals. Das Konzept Zumthors bestand darin, den historischen Grubenweg für die Besucher begehbar zu machen und durch vier in der Landschaft stehende Pavillons zu akzentuieren: ein Servicegebäude, ein Café, die «Grubengalerie» sowie einen Pavillon zur Erschliessung der Mine. Die Bündelung der Funktionen in einem grösseren Volumen wäre weder landschaftsverträglich noch angesichts der unwegsamen Topografie plausibel gewesen.

Komplikationen

Aber auch so erwies sich die Suche nach einer Platzierung der bescheiden dimensionierten Gebäude im Gelände als schwierig und langwierig: Die Beschaffenheit des Bodens und die Gefahr von Steinlawinen erzwangen Nachjustierungen der Bauplätze. Insbesondere der ursprünglich avisierte Standort für den vierten Pavillon in der Nähe des Stolleneingangs war zu risikoreich. Stattdessen sollte ein kleiner Schutzbau für das Ausleihen der für die Besichtigung der Mine nötigen Helme und Grubenlampen nahe der Grubengalerie errichtet werden.

Ein Erd­rutsch machte den Weg zur Grube im Winter 2015/16 unpassierbar. Bei der offiziellen Einweihung der Gesamtanlage im September 2016 waren die Räumungsarbeiten noch nicht abgeschlossen, auch der Schutzbau für die Helme stand noch nicht. Als im nachfolgenden Winter eine Steinlawine niederging und der Fluss das Fundament einer Brücke zerstört hatte, waren die staatlichen Behörden zum Handeln gezwungen. Auf Basis geologischer Gutachten wurde eine gefährdete Stelle nahe der Mine mit einer neuen Brücke umgangen, überdies installierte man Schutzvorrichtungen gegen Steinschlag. Zusammen mit der Kommune Sauda arbeitet man derzeit an der Finanzierung der Grubenerschlies­sung, die sich im Rahmen des bisherigen Budgets nicht mehr umsetzen liess. Aber auch in Norwegen ist die Finanzierung kultureller Projekte schwieriger geworden.

Konzept und Erlebnis

Doch wer vor Ort ist, wird den Besuch in der Mine verschmerzen. Die physische Erfahrung des Stollens ist im Rahmen des Gesamtkonzepts von Peter Zumthors Projekt nicht essenziell. Für die Besucher geht es nicht um eine archäologisch präzise Analyse des historischen Orts, auch wenn das Café bewusst neben den spärlichen Relikten des früheren Verwaltungsgebäudes steht und der Blick von den Fenstern der Grubengalerie auf die einstige Abwurfstelle fällt. Vielmehr fokussieren Zumthors Bauten auf das Erlebnis von Natur und Topo­grafie, die die Arbeitswelt der Mine geprägt haben. Die Schlucht mit dem gurgelnden Bach unterhalb der Strasse, schroffe Hänge, Granitfelsen, Moos, Birken Nadelbäume – das sind die Faktoren, die den Ort bestimmen. Und als archi­tektonische Interventionen hat Zumthor einen Typus von Gebäuden entwickelt, die wie Pfahlbauten auf Holzstützen am Hang stehen und bei denen auf massive Eingriffe in den Boden verzichtet werden konnte.

Die Besucher beginnen mit der Visite am Parkplatz an der Strasse, der vermittels einer 15 m hohen Trockenmauer hangseitig erweitert wurde. Das schon aus der Ferne bei der Anfahrt von Sauda aus sichtbare Servicegebäude mit Toiletten kragt über die Mauerkrone aus; die Last wird unten durch die diagonalen Streben in die Mauer abgeleitet. Zumthor führt hier eine Material- und Formenwelt vor, der auch die beiden anderen Gebäude verpflichtet sind: dunkle, fast containerhaft anmutende Holzboxen, die von einer gerüst­artigen Tragstruktur aus Brettschichtholzbalken umgeben und getragen werden.

Die weit auskragenden Wellblechdächer bestehen aus Zink, die Türen aus Chrom- und die Griffe aus Schwarzstahl. Die Materialien verweisen auf die Bodenschätze, denen die Mine ihre Existenz verdankt. Bergseitig führt eine ebenfalls in Trockenbautechnik gemauerte Treppe hinauf zum Grubenweg. Zunächst gelangt man zum Grubencafé, auf der anderen Seite eines Geländeeinschnitts steht die Grubengalerie. Daneben verläuft der Weg weiter in Richtung Mine.

Aus der Ferne betrachtet, verbinden sich die identisch materialisierten Bauten mitunter zum Ensemble; von manchen Standpunkten aus tritt aber lediglich das eine oder andere Gebäude in Erscheinung. Klein und fragil wirken die Bauten am Hang; nähert man sich, so werden die eigentlichen Dimensionen anschaulich. Holzpfosten aus Kiefernbrettschichtholz, zum Teil mehr als 20 m lang und zuunterst kreuzförmig geschlitzt, sind über stählerne Kreuze und Platten direkt mit dem Fels verbunden. Geschraubte Querstreben in unterschiedlichen Winkeln dienen der Aussteifung, sodass die Konstruktionen auch den langen norwegischen Wintern standhalten können. Eine Imprägnierung mit Kreosot schützt das Holz vor eindringendem Wasser.

Die Boxen, in die Gerüststrukturen eingebunden und über Treppen zugänglich, bestehen aus Sperrholz, das mit einem Jutegewebe sowie schwarzem Kunstharz auf PMMA-Basis überzogen wurde. Die gleichen Materialien finden sich auch im Innern von Café und Galerie. Eigentlich handelt es sich um industriell konnotierte Werkstoffe, doch die Atmosphäre zeigt sich durch die textile Struktur des Jutegewebes fast warm und wohnlich. Nicht zuletzt ist dafür auch Zumthors Fähigkeit verantwortlich, die eigentlich bescheiden dimensionierten Räume durch eine ausgeklügelte Blick- und Lichtregie zu modulieren, Geborgenheit und Öffnung zur Natur ins Verhältnis zu setzen. Je drei Tische für zwei, vier und sechs Personen umgeben dreiseitig den Servicekern im Café. Die Bandfenster, die im Winkel die drei Ecken übergreifen, sind auf die Sitzhöhe der Gäste abgestimmt. Warme Lichtakzente setzen die in die Soffiten der über den Sitzbereichen abgehängten Decke eingelassenen Leuchten mit doppelkegelförmigen Glaskolben. Dabei handelt es sich ebenso um Entwürfe von Peter Zumthor wie bei den Tischen und Hockern aus Erlenholz.

Auch die Grubengalerie: ganz in Schwarz. Der Raum ist schmal und hoch, nach oben hin verliert er sich – wie im Café – im mystischen Halbdunkel. Lichtschlitze lenken das Tageslicht auf die Exponate in den pultähnlich eingebauten Vitrinen. Auf der anderen Seite liegen vier Bücher auf, die die norwegische Grafikdesig­nerin Aud Gloppen gestaltet hat. In ihnen ist alles zusammengefasst, was es über die Topografie und die Geografie, die Architektur von Peter Zumthor und die His­torie der Mine zu wissen gibt. Und eines der Bücher stellt eine literarische Anthologie zum Leben im Untergrund dar, von Dantes Inferno über Ibsens Peer Gynt bis hin zu Bob Dylans «Subterranean Homesick Blues».

TEC21, Fr., 2018.02.23



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09. Februar 2018Hubertus Adam
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Auf den zweiten Blick

Im Oktober 2017 wurde am Zürcher Mythenquai der Neubau Swiss Re Next von Diener & Diener eingeweiht. So durchkomponiert wie seine Fassade, so elegant präsentiert sich der Bau im Innern.

Im Oktober 2017 wurde am Zürcher Mythenquai der Neubau Swiss Re Next von Diener & Diener eingeweiht. So durchkomponiert wie seine Fassade, so elegant präsentiert sich der Bau im Innern.

Steht man am Bellevue in Zürich, fällt der Blick auf ein neues Gebäude auf der anderen Seite des Seebeckens. Es fügt sich mit seiner Volumetrie in die Sequenz repräsentativer Bauten am Mythenquai ein, markiert mit seiner gewellten Glasfassade Präsenz und sticht dennoch nicht direkt ins Auge – was für das «Swiss Re Next» titulierte Bauwerk ohne Zweifel eine Qualität und für die Stadt einen Gewinn darstellt.

Am nördlichen Teil des Mythenquais – umgangssprachlich «Versicherungsmeile» genannt – reihen sich die Hauptsitze der grossen Schweizer Versicherungskonzerne aneinander. Von Norden nach Süden sind das – alle Traditionsunternehmen haben ihre Namen inzwischen amerikanisiert – die Swiss Life mit ihrem Bau der Gebrüder Pfister, die im Wettbewerb von 1933/1934 unter anderem Le Corbusier ausstechen konnten; die Zurich, die ihren Gebäudekomplex derzeit von Adolf Krischanitz erweitern lässt; und die Swiss Re.

Ausgehend vom neobarocken Altbau der Architekten Emil Faesch und Alexander von Senger aus den Jahren 1911–1913 nutzt der zweitgrösste Rückversicherer der Welt am Mythenquai drei weitere Liegenschaften: das elegante Clubhaus von Hans Hofmann aus den späten 1950er-Jahren, das hybride Mythenschloss, das ab 2019 durch einen Neubau von Meili, Peter Architekten ersetzt werden soll[1], und schliesslich den im Oktober 2017 eröffneten Neubau «Swiss Re Next». Dazu kommen mit dem Escher- und dem Lavaterhaus zwei Bauten in zweiter Reihe.

Der Neubau von Diener & Diener, die sich im Studienauftrag von 2008/2009 gegen eine prominente Konkurrenz von elf weiteren Architekturbüros durchsetzen konnten, ist an die Stelle des gestaffelten Volumens von Werner Stücheli aus der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre getreten.[2] Ziel war es, das Grundstück des Stücheli-Baus besser auszunutzen: Mit 800 Arbeitsplätzen besitzt der Neubau etwa die doppelte Kapazität des Vorgängers. Dieser entsprach nicht dem derzeit verfolgten flexiblen Arbeitsplatzkonzept, war gebäudetechnisch veraltet und besass einen hohen Energiebedarf. Pro Arbeitsplatz ist der Energieverbrauch jetzt um 80 % gesunken (vgl. «Fortschrittliche Gebäudetechnik»); das neue ­Gebäude erfüllt die Vorgaben von Minergie-P-Eco und dem LEED-Platinum-Label.

Vor allem aber ist das Projekt ein Bekenntnis der Swiss Re zum Traditionsstandort Zürich und zum – wie es konzernintern heisst – «Campus Mythenquai». Obwohl weniger als drei Prozent des Prämienvolumens in der Schweiz erwirtschaftet werden, arbeitet hierzulande mit rund 3500 Personen knapp ein Viertel aller Beschäftigten. Sie sollen zukünftig am Mythenquai konzentriert werden. Die Dependance in Adliswil ist bereits verkauft und wird in den kommenden Jahren geräumt. Die Zeiten, da man sich im Stadtzentrum mit einem repräsentativen Schaufenster begnügte, die Backoffices aber an die Peri­pherie verlagerte, sind auch bei der Swiss Re vorbei. Die Konzentration auf einen Standort stärkt die Effizienz; vor allem aber ist die Lage direkt am See ein wichtiger Faktor bei der Suche nach den besten Mitarbeitenden.

Holokratische Bürolandschaften

Schon beim Studienauftrag 2008 bestand das Ziel, eine vielfältige, kommunikative und räumlich attraktive Arbeitsumgebung zu schaffen. Die Architekten zogen das auf Arbeitsplatzkonzepte spezialisierte Londoner Büro Sevil Peach bei, um die Bürozonen zu entwerfen. In enger Abstimmung mit dem Auftraggeber wurde das Raum- und Arbeitsplatzlayout anschliessend weiter differenziert und an verschiedenen ausländischen Standorten des Unternehmens getestet.

Die Swiss Re hat sich dafür entschieden, auf individualisierte Arbeitsplätze zu verzichten. Weil Erhebungen ergaben, dass ein Arbeitsplatz in der Regel weniger als die Hälfte der Zeit besetzt ist, stehen für insgesamt 1100 Personen lediglich 800 Arbeitsplätze zur Verfügung. Zu Arbeitsbeginn holt man sich die persönlichen Unterlagen aus dem «Personal Locker» und sucht sich einen Platz. Die offenen Bereiche gliedern sich in Teamzonen, doch die Arbeit findet nicht notwendigerweise am Schreibtisch statt. Wahlweise stehen auch Sofas, Lounges oder Kaffeebars zur Verfügung. Wer mehr Diskretion benötigt, kann einen der «Think Tanks» aufsuchen – gemeint sind gläserne Raumzellen mit runden Ecken über fünfeckigem Grundriss.

Eigens entworfene Vorhänge der Künstler Marc Camille Chaimowicz und Mai-Thu Perret gewähren das richtige Mass an Transparenz und Transluzenz für einen Rückzugsort, der doch mit dem Ambiente verbunden bleibt. Auch die klassische Hierarchie der Arbeitswelt ist räumlich nicht mehr greifbar: Eine Chef­etage existiert nicht, alle Beschäftigten nutzen die gleiche Büroinfrastruktur. Für die Ablage stehen allen Mitarbeitenden 2.5 m an Regalfläche zur Verfügung.

Flexibel, funktional, verspielt

Die Architektur schafft die räumliche Grundlage für dieses Konzept, das auf grossen, frei unterteilbaren Flächen basiert. Über drei Untergeschossen aus Beton erheben sich die sechs oberirdischen Etagen, die mit ihren Abmessungen von 72 × 58 m das zur Verfügung stehende Geviert ausfüllen und von Roger Diener als «Decks» bezeichnet werden. Zwei grosse rechteckige Lichthöfe sowie vier Erschliessungskerne gliedern die Ebenen. Es handelt sich um die massiven Teile des Bauwerks, das ansonsten als Stahlkonstruktion mit einem Stützenraster von 13.6 m erstellt wurde. Die Haupttreppe im Zentrum bildet die grosszügige Verbindung von Geschoss zu Geschoss.

Das erste bis vierte Obergeschoss und der rückwärtige Teil des fünften sind gemäss dem Arbeits­platzkonzept von Swiss Re mehr oder minder identisch eingerichtet. Besucher betreten das Gebäude im zurückgesetzten Erdgeschoss vom Mythenquai aus, während die Mitarbeitenden zusätzlich den Personaleingang an der Alfred-Escher-Strasse nutzen können. Die Sicherheitskontrollen mit ihren Vereinzelungsanlagen sind zurückgesetzt, sodass ein grosszügiger öffentlicher Empfangsbereich entsteht, der sich in einen der Lichthöfe fortsetzt.

Auf der Südseite finden sich eine Anzahl unterschiedlich dimensionierter Konferenzräume – sollten Meetings ausserhalb der eigentlichen Büroetagen nötig sein, können hier geeignete Räumlichkeiten reserviert werden. Ein grosses Auditorium steht im zweiten Untergeschoss zur Verfügung, während Durchgänge im ersten Untergeschoss es ermöglichen, trockenen Fusses die anderen Gebäude am Mythenquai sowie die beiden Swiss-Re-Bauten auf der anderen Seite der Alfred-Escher-Strasse zu erreichen.

Speziell dem Empfang von Gästen dient der seeseitige Teil des abschliessenden fünften Obergeschosses, die repräsentativen Räume stehen aber auch den Mitarbeitenden zur Verfügung. Das Zentrum bildet eine abgehängte Edelstahlbar, die ebenso wie die expressiv farbige Faktur der Wände auf dunklem Grund vom Wiener Künstler Heimo Zobernig stammt. Tische und Teppiche sind Werke der US-amerikanischen Künstler Wade Guyton und Kelly Walker. Kunst und Architektur haben zu einer überzeugenden Symbiose gefunden – da mag man über die Tatsache hinwegsehen, dass in dem als «Bibliothek» titulierten Raum keine Bücher stehen. Es gehe nur um die Atmosphäre einer Bibliothek, so die Erklärung.

Ortsgebundene, speziell beauftragte Kunst findet sich auch an anderen Stellen im Gebäude. Etwa die dezenten Wollvorhänge von Willem de Rooij, die hinter der Fassade einen sanften Farbverlauf entstehen lassen. Oder die verformten Stützen und polygonal geschnittenen Steinplatten von Martin Boyce im Erdgeschoss. Dazu kommt eine Reihe von Werken aus der hochkaräti­gen Kunstsammlung der Swiss Re. Neben dem Farbkosmos von Zobernig stellt die fantastische Aussicht über das Seebecken und die Stadt die eigentliche Attraktion des obersten Geschosses dar. In der Mitte der Ebene ist eine Terrasse in das Volumen eingeschnitten, die sich in Form einer verglasten Loggia über die gesamte Gebäudebreite fortsetzt.

Perfekte Wellen

Die gläserne Fassade ist nicht nur als äussere Begrenzung des Gebäudes im Innern omnipräsent, sie ist es auch, die mit ihrem umlaufenden Wellenmotiv den Auftritt von Swiss Re Next im Stadtraum bestimmt. Und die, nachdem die Gerüste gefallen sind, auf ein seltsam kontroverses Medienecho gestossen ist.[3] Im Œuvre der Architekten taucht der Gedanke einer ondulierenden Fassade aus repetitiven Glaselementen erstmals 2005 bei ihrem Beitrag für den Kongresszentrums-Wettbewerb auf. Nun konnten sie die Idee in unmittelbarer Nachbarschaft und ebenfalls am Seeufer umsetzen. Konstruktiv handelt es sich um eine Doppelfassade: ein wellenförmiger Vorhang vor umlaufenden Loggien und eine Dreifachverglasung dahinter, die die thermische Grenze des Gebäudes bildet.

Mithilfe von Mock-ups wurden vor Ort die Materialisierung der Fassade, die Stabilität hinsichtlich Glasbruch, die Durchsicht sowie die Halterung in Varianten erprobt. Die grössten, 4.8 × 2.4 m grossen Gläser sind auf der Ebene des ersten Obergeschosses versetzt, da sie als Glasschürze auch knapp in den Bereich des Erdgeschosses hineinragen. Dieses ist im Bereich der Vorfahrt zum Mythenquai zurückgesetzt und weitgehend frei von Glas. Eine Verkleidung mit Wachenzeller Dolomit artikuliert die Sockelthematik und vermittelt zwischen Glas und Erdboden.

Faszinierend an der Glasfassade, deren Horizontalität die Geschossigkeit des Gebäudes zum Ausdruck bringt, sind die unterschiedlichen optischen Effekte, die sich je nach Standpunkt, Wetter und Jahres­zeit ergeben. Grundsätzlich gilt, dass das Thema der Reflexion sich desto deutlicher zeigt, je näher man dem Gebäude kommt. Das Auf und Ab der Fassade tritt deutlicher hervor, die vertikale Strukturierung wird sichtbarer, Spiegelungen und Reflexionen rhythmisieren das Bild und verändern sich beim Vorbeigehen oder -fahren.

Beim Blick vom gegenüberliegenden Seeufer aus zeigt sich ein anderes Bild: Das markante Volumen wirkt geschlossener, nimmt sich aber auch stärker zurück. Das Wellenmotiv verschwindet mehr und mehr, erkennbar bleibt aber der «Frequenzwechsel» zwischen den vier unteren und den beiden oberen Geschossen, der die Traufkante des Altbaus von 1913 aufgreift. Der Eindruck ist zurückhaltend, die Tönung des Glases ver­bindet sich optisch mit der Landschaft des dahinter liegenden Moränenhügels und des etwas ferneren Uetlibergs. Zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen: Präsenz und Expressivität aus der Nähe, unaufdringliche Gelassenheit aus der Ferne.

Natürlich löst die Fassade Assoziationen aus: Die Superposition der Wellen lässt an Säulen denken, und allein schon das Wort der Welle mag an den See erinnern. Aber all das ist nicht zwingend. Hier wird kein modisches Spektakel inszeniert, hier werden aber auch keine vergangenen Formenwelten wiederbelebt. Immer wieder gelingt es dem Basler Architekturbüro, zeitlose Bauten zu errichten, die sich nicht auf den ersten Blick aufdrängen, die dafür aber um so nachhaltiger faszinieren – auch aufgrund ihrer souveränen Materia­lisierung.


Anmerkungen:
[01] Vgl. Adi Kälin: «Kein Schutz fürs Mythenschloss» in: Neue Zürcher Zeitung, 21. September 2017.
[02] Unter der Überschrift «Dilemma am Mythenquai» setzt sich Michael Hanak in TEC21 39/2013 kritisch mit dem Umgang mit dem Stücheli-Bau auseinander.
[03] Vgl. Roman Hollenstein: «Zürich verschandelt sich selbst» in: Neue Zürcher Zeitung, 11. Mai 2017.

TEC21, Fr., 2018.02.09



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TEC21 2018|06-07 Swiss Re Next – Bauen am See

02. Februar 2018Hubertus Adam
db

Pavillons im Park

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in Luzern ein bis vor einiger Zeit weitgehend in Vergessenheit geratenes Meisterwerk des Schulbaus: die Primarschule Felsberg. Menzi Bürgler Architekten aus Zürich haben den Bestandsbau den heutigen Anforderungen angepasst und durch einen Neubau für Kindergarten und Hort ergänzt. Die Balance gelingt auf Augenhöhe.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in Luzern ein bis vor einiger Zeit weitgehend in Vergessenheit geratenes Meisterwerk des Schulbaus: die Primarschule Felsberg. Menzi Bürgler Architekten aus Zürich haben den Bestandsbau den heutigen Anforderungen angepasst und durch einen Neubau für Kindergarten und Hort ergänzt. Die Balance gelingt auf Augenhöhe.

Das Wesembergquartier, am Hang hoch über der Hofkirche St. Leodegar und der Altstadt gelegen, zählt zu den bevorzugten Wohngegenden Luzerns. Der kontinuierliche Zuzug neuer Bewohner hat seit Längerem auch Auswirkungen auf die Nachfrage nach Kindergärten, Betreuungsangeboten und Schulen. Dies führte Anfang der 2000er Jahre zu der Überlegung, das Schulhaus Felsberg abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen. Das wäre tatsächlich möglich gewesen – das Bauensemble aus dem Jahr 1948 stand seinerzeit noch nicht unter Denkmalschutz. Doch die Verantwortlichen besannen sich eines Besseren und entschieden sich für die denkmalgerechte Sanierung des Altbaus und den Neubau eines Baukörpers, der einen zweigruppigen Kindergarten und einen Hort beinhaltet – eine Investition von gut 16 Mio. Euro. Das auf Basis eines Wettbewerbs 2010 entwickelte Gesamtprojekt musste zunächst eine Volksabstimmung passieren. Dass die Bürger für ein Projekt votierten, das mehr Kosten verursachte als ein reiner Neubau, ist dem ebenso plausiblen wie sensiblen Entwurf der Architekten Menzi Bürgler aus Zürich zu verdanken. Es ist aber auch ein Beweis für die eminenten architektonischen Qualitäten des Bestandsbaus, der sich harmonisch in eine Geländestufe mit wert vollem Baumbestand einfügt. Und letztlich mag man sie auch als eine Verneigung vor Emil Jauch verstehen ‒ dem weitgehend vergessenen Architekten des Primarschulhauses Felsberg.

Skandinavische Einflüsse

Zur Zeit ihres Entstehens wurde die Schule viel beachtet, nicht zuletzt durch ihre Aufnahme in das wegweisende Buch »Das neue Schulhaus« von Alfred Roth, das 1950 erschien und mit internationalen Beispielen den Typus der Pavillonschule ins Zentrum rückte. Emil Jauch, 1921 in Luzern geboren, hatte 1936 an der ETH Zürich diplomiert und nach kurzen Tätigkeiten in schweizerischen Architekturbüros vier Jahre in Stockholm sowie weitere Aufenthalte in Graz und im oberschlesischen Königshütte verbracht, ehe er in die Schweiz zurückkehrte und Anstellung im Berner Stadtbauamt fand. 1944 nahm er am Wettbewerb für das Felsbergschulhaus im heimischen Luzern teil und erhielt den 1. Preis. Für die Ausführung zwischen 1946 und 1948 bestand eine Arbeitsgemeinschaft mit dem zweitplatzierten und baupraktisch erfahreneren Architekten Erwin Bürgi, die auch nach der Fertigstellung des Projekts noch andauerte.

Jauch rückte das Schulhaus nicht an die durch eine grandiose Aussicht über Stadt und Vierwaldstättersee privilegierte Hangkante, sondern platzierte es an der rückwärtigen Seite der Geländestufe, sodass der bestehende Park den vorgelagerten Schulhof bildet. Das langgestreckte Volumen treppt sich dem Gelände entsprechend ab und gliedert sich in drei um je ein Stockwerk versetzte und leicht abgewinkelte Baukörper mit jeweils vier Klassenzimmern im OG sowie gemeinschaftlichen Räumen und überdeckten Vorbereichen im EG. Den oberen Abschluss des dreigliedrigen Schulgebäudes bildet das Volumen des Musiksaals; dieser findet sein Pendant im freistehenden Baukörper der Turnhalle an der Hangkante, wodurch sich eine Art von Torsituation zum öffentlich zugänglichen Schulareal ergibt.

Aktualisiertes Programm

Im Zuge der Renovierung wurde die Raumstruktur im Innern vereinheitlicht und verändert. Der Kindergarten im unteren Pavillon zog aus, an seine Stelle trat ein weiteres Klassenzimmer mit zugehörigem Gruppenraum. Ansonsten dient das EG des unteren Pavillons mittlerweile als Werkraum (vormals ‧Nadelarbeitsraum), das des mittleren als Lehrerzimmer (vormals Sammlungsraum und Hobelwerkstatt) und das des obersten als Bibliothek (vormals Schulküche). In jedem der drei OGs wurde die Reihung von vier gleich großen ‧Klassenzimmern durch eine Abfolge von drei Klassenzimmern mit zwei ‧zwischengeschalteten Gruppenräumen ersetzt. Dies ließ sich durch die Entfernung einer Wand und die Installation zweier neuer relativ leicht bewerkstelligen; hinter den vier Korridortüren verbergen sich jetzt also fünf Räume, wobei die Gruppenräume nur über die benachbarten Klassenzimmer zu betreten sind. Durch diese vergleichsweise geringe Umstrukturierung gelang es, viel von der historischen Substanz zu bewahren. Das gilt insbesondere für die Korridore und die Eingangshallen mit ihren bunten Mosaiken aus gebrochenen Fliesen, ihren polygonalen Bodenplatten und ihren Wasserbecken. Die liebevolle Ausstattung der Entstehungszeit setzt sich in der Außenraumgestaltung fort – die bombierten Granitsäulen der Pausenvorhallen und die Plattenwege lassen sich als für die Schweizer Architektur der 40er Jahre typische Tessiner Referenzen verstehen, während andere Teile des Gebäudes, insbesondere der Musiksaal mit seiner Eingangsüberdachung, deutlich von der zeitgenössischen skandinavischen Architektur beeinflusst sind. Auffällig gestaltet ist auch die östliche Außenwand des Musiksaals – gemauert aus Geröllsteinen referiert sie als architecture parlante über den Namen der Schule, was fast wie eine Vorlage für die Postmoderne wirkt.

Höhle und Panorama

Die Erweiterung des Komplexes mit Kindergarten und Hort haben Menzi Bürgler vom Schulhaus abgerückt und an der Hangkante platziert, sodass sie einen Dialog mit der Turnhalle aufnimmt. Entscheidend für die genaue Positionierung sowie die Ausbildung des Volumens waren die Mammutbäume des Parks. Weil deren Wurzeln weiter ausgreifen als die Kronen, besitzt der Neubau nur einen vergleichsweise geringen Fußabdruck. Die Fassade des EGs, das neben Haupteingang und Treppenhaus lediglich einige Technikräume aufnimmt, zeigt sich mit Sichtmauerwerk; Natursteinbekleidung und steinerner Bodenbelag verknüpfen den Neubau mit dem Bestand. Die beiden OGs, die ebenfalls quadratische Grundrisse aufweisen, kragen aus und sind leicht zueinander verdreht geschichtet, sodass sie sich zwischen die Baumkronen schieben können. Um den grandiosen Ausblick in den Park und über die Stadt zum eigentlichen Thema zu machen, ist die Fassade umlaufend verglast. Zusammen mit dem zentralen Erschließungskern übernehmen vier weitere Betonvolumina in den Eckbereichen die Lastabtragung des Gebäudes. Sie dienen z. T. als Sanitärräume, z. T. aber auch als Spielhöhlen der Kinder. So entstanden kleine Refugien, die zum Klettern, Herumtoben oder Ausruhen einladen und dadurch den Gegenpart zur fließenden, nach außen hin sich öffnenden Raumlandschaft der beiden Geschosse übernehmen.

Pyramidenstumpfförmig das Dach durchstoßende Lichtkanonen sorgen wie auch beim Treppenhaus für die Belichtung. Die zwei Kindergartengruppen nutzen das 1.OG, der Hortbereich befindet sich im weiter auskragenden 2. OG. Die vier Betonvolumen führen im Zusammenspiel mit dem zentralen Kern zu einer vorteilhaften Gliederung der Geschosse, die sich gut bespielen lässt. Die Garderobenbereiche sind nach Norden orientiert und dem Park zugewandt, und drei weitere Aufenthaltsbereiche schließen sich an. Letztere lassen sich flexibel nutzen und können bei Bedarf durch hölzerne Schiebetüren voneinander getrennt werden. Durch die größere Grundrissfläche im 2.OG ergab sich der Platz für zwei Loggien, die nach Westen bzw. nach Osten ausgerichtet sind.

Menzi Bürgler haben einen Erweiterungsbau verwirklicht, der sich perfekt in das parkartige Schulgelände einfügt. Die liebevolle Detaillierung und die feinteilige Differenzierung des Altbaus findet im Neubau ihre zeitgemäße Fortsetzung. Versuchte Emil Jauch durch die versetzte und abgetreppte Anordnung mehrerer Baukörper mit dem Gelände zu versöhnen, so reagieren Menzo Bürgler auf den Ort mit sukzessiver Auskragung, Verdrehung und geschickter innerer Differenzierung der Geschosse. Das bewusst Spielerische wird auf diese Weise zu einem verbindendenden Moment, jedoch ohne jede Anbiederung an vordergründige Kindgerechtigkeit. Eichenholz und Beton garantieren die nötige Robustheit im Neubau, die Spielhöhlen bieten die nötigen Rückzugsräume im kinderkompatiblen Maßstab. Böden, Teppiche und Mobiliar sind farblich kräftiger gehalten als im Altbau. So schafft der Neubau seine eigene Welt, die jedoch mit der vorgefundenen eine perfekte Liaison eingeht.

db, Fr., 2018.02.02



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08. September 2017Hubertus Adam
TEC21

Kontemplation auf Ansage

Wie ein Kloster liegt das «Life House» von John Pawson in den Hügeln von Wales. Helle und dunkle Backsteine prägen Gestalt und Innenräume des Ferienhauses. In ihrer handwerklichen Materialität und Schlichtheit vereinen sie zwei begehrte Aspekte: Natürlichkeit und Eleganz. Damit avancieren sie bei Minimalisten zum Baumaterial der Stunde.

Wie ein Kloster liegt das «Life House» von John Pawson in den Hügeln von Wales. Helle und dunkle Backsteine prägen Gestalt und Innenräume des Ferienhauses. In ihrer handwerklichen Materialität und Schlichtheit vereinen sie zwei begehrte Aspekte: Natürlichkeit und Eleganz. Damit avancieren sie bei Minimalisten zum Baumaterial der Stunde.

Llanbister, idyllisch im Tal des mäandernden River Ithon gelegen, ist eine kleine Siedlung in der walisischen Grafschaft Powys, nah der Grenze zu den englischen Shropshire und ­Herefordshire. Hügel, so weit das Auge reicht, doch die meisten Böden erweisen sich als karg. Das die Landschaft prägende Halten von Schafen oder Kühen ist zumeist zum Nebenerwerb verkommen. Die nächsten Grossstädte sind fern: Birmingham im Osten, Manchester im Norden, Cardiff im Süden. Auch Bahnhöfe finden sich nicht in unmittelbarer Nähe; immerhin 10 Meilen sind es nach Llandrindod Wells, das aufgrund seiner Heilquellen im 18. und 19. Jahrhundert zur Sommerfrische für grossstadtgeplagte Londoner wurde.

Aber diese Zeiten sind lang vorbei. Als «touristisch» ist die Gegend kaum mehr zu bezeichnen, doch immerhin steht hier, umgeben von Viehweiden, etwa zwei Meilen südöstlich von Llanbister seit Jüngstem ein unge­wöhnliches Ferienhaus des britischen Minimalisten John Pawson. Zu erreichen ist das Anwesen über einen Fahrweg, der zunächst einen Hügel erklimmt und dann leicht abschüssig zu den vereinzelten Gehöften und Ställen im Gelände führt. Von aussen erscheint die ­Gruppe von Volumen mit flachgezogenen Satteldächern unscheinbar, nicht auffälliger als die landwirtschaftlichen Nutzbauten in der Umgebung.

Ein Korridor als roter Faden

Was von Weitem wie ein beiläufiges Arrangement von kleinen Baukörpern wirkt, ist in Wirklichkeit eine wohlkalkulierte orthogonale Komposition von Räumen, die über einen langen, rechtwinklig abknickenden Korridor erschlossen werden. Diesem sonst so ungeliebten Raum kommt hier nicht nur die Bedeutung einer Verbindungsachse, sondern auch die des Abstandhalters zwischen den einzelnen Räumen zu. Das Spiel mit Enge und Dunkelheit gegen Weite und Licht wird hier ausgereizt und zum Charakteristikum des Hauses.

Eine Aussenhaut aus kohlegeschwärzten Backsteinen, die leicht ins Bräunliche changieren und in einem helleren Grau verfugt sind, überzieht das Ensemble und verankert es in der kargen Natur. Das fleckige Fassadenbild lässt diverse Nachbearbeitungen erkennen. Der in den Hügel hineingegrabene Teil des Korridors mündet in einer ebenfalls anthrazitfarben ausgekleideten und zenital belichteten «Contemplation Chamber». In ihrem Boden ist genau unter dem Lichtschein eine Platte mit einem Satz aus Pascals «Pensées» in Versalien eingelassen: «All men’s miseries derive from not being able to sit in a quiet room alone.» Zwei Liegen an den Seiten laden die Gäste dazu ein, das ­Gegenteil zu beweisen. Ähnlich einer Grabkammer ist dieser Ort von der Aussenwelt abgewandt und nur durch das Oberlicht erhellt.

Die Innenwände im talseitigen Teil des Korridors sind – wie auch in sämtlichen Wohnräumen – mit hellem weissgrauem Backstein verkleidet. Der sich zur Landschaft öffnende Flur ist von Fenstern durchbrochen und endet an einer Glastür. Eine «Outside Contemplation Zone» als gemauerte Plattform bildet als sein Abschluss das Pendant zur schwarzen Medita­tionskapelle.

Autarke Wohnzellen mit Nachbarn

Zwischen diesen beiden Polen spannen sich die eigentlichen Wohnbereiche als vier separate Volumen auf. Deren grösstes ist die Wohnküche an der Gelenkstelle der beiden Korridorhälften. Des Weiteren existieren drei mit eigenen Bädern versehene Schlafräume, die jeweils ein bestimmtes Thema haben: Im «Library Bedroom» stehen ausgewählte, eigens gebundene Bücher zur Verfügung, deren Lektüre die therapeutische Intention des Hauses unterstützen mag; im «Music Bedroom» übernimmt eine Auswahl von CDs diese Funktion. Der «Bathing Bedroom» hingegen ist mit einem frei im Raum stehenden Badewannenaltar der körperlichen Entspannung gewidmet.

Die Bewohner können sich jeweils ganz für sich in einem der Räume aufhalten. Wenn sie Gesellschaft suchen, bewegen sie sich entlang der Achsen zu dem zentralen gemeinschaftlichen Bereich von Küche, Ess­platz und Wohnraum. Die Komposition aus Wegen und Aufenthaltsräumen erinnert an Kreuzgänge und Klosterzellen, was den Eindruck einer sakralen Architekturidee verstärkt.

Neben dem Ziegelstein der Wände bestimmen zwei weitere Materialien das Innere: geschliffener weis­ser Terrazzo als Bodenbelag sowie helles Douglasienholz für Einbauschränke, Regale und Deckenverkleidungen. Nichts im Innern wurde dem Zufall überlassen, Einrichtungsgegenstände entweder eigens entworfen oder sorgfältig ausgewählt. So ist ein Interieur entstanden, dessen Stimmigkeit zweifelsohne beeindruckt, das aber in seiner Konsequenz auch ein wenig beklemmend wirkt. Durch die direkte Verwendung der ausgewählten Baustoffe wird einem Purismus gehuldigt, der auch dem Gast nicht viel Spielraum lässt. Hier geht es offensichtlich mehr um Konzentration und innere Einkehr als um Entfaltung und Vergnügen.

Ästhetische Übung in den Ferien

Das sogenannte «Life House» gehört der Stiftung «Living Architecture», die für ihr Ziel mit dem Slogan «Holidays in modern architecture» wirbt und von Alain de Botton ins Leben gerufen wurde. Als Essayist hat sich der in London lebende Schriftsteller und Philosoph mit Schweizer Wurzeln einen Namen mit Büchern gemacht, die zwischen kulturkritischer Analyse und niveauvoller Ratgeberliteratur oszillieren. In einem zunehmend hektischen und entfremdeten Leben weist er der Architektur darin eine kompensatorische Rolle als Rückzugsort zu. Doch gerade in England, so führt de Botton gern aus, sei die Vorstellung vom Wohnen traditionalistisch und retrospektiv geprägt, als habe sich seit der Zeit von Jane Austen nichts verändert. Dem Dilemma des Schriftstellers, neue Ideen zwar zu denken, aber nicht umsetzen zu können, wollte er durch die Gründung von «Living Architecture» begegnen. Seit 2010 errichtet die Stiftung Ferienhäuser, die die Mieterinnen und Mieter von der Qualität zeitgenössischer Architektur überzeugen sollen.

So nachvollziehbar de Bottons volkspädagogischer Impuls ist, Breitenwirksamkeit wird seine Stiftung wohl kaum erreichen. Am Ende bedient sie eine designaffine Klientel, die statt in einem Boutiquehotel in der Stadt nun in einem mit Architektenlabel ver­sehenen Haus in der Landschaft Urlaub macht. Eine Hemmschwelle dürften auch die Preise darstellen: Wer das «Life House» in diesem Sommer buchen möchte, zahlt für eine Woche 2550 Pfund. Die Stiftung wird zwar nicht müde zu betonen, dass der Mietpreis sich bei voller Belegung relativiere, doch schlägt das für sechs Personen ausgelegte «Life House» pro Kopf und Nacht dann immer noch mit 60 Pfund zu Buche.

Bei der Idee von «Living Architecture» stand gemäss Alain de Botton der «Landmark Trust» Pate. Die seit 1965 bestehende Stiftung sorgt für den Erhalt historischer Baudenkmäler, indem sie sie in Feriendomizile umwidmet. Auch wenn «Living Architecture» keine künstlichen Ruinen baut: Das Spektrum der beteiligten Architekten ist breit gefächert, die Vorstellungen vom Wohnen sind unterschiedlich und undogmatisch. Sieben Projekte hat «Living Architecture» bislang realisiert.

Es begann im Jahr 2010 mit der «Balancing Barn» von MVRDV in Suffolk, einem wie extrudiert wirkenden Urhaus in Stangenform, das zur Hälfte frei über einem Abhang schwebt. Doch nicht alle teilnehmenden Architekten sind internationale Stars. Die Ironiker von FAT aus London waren zusammen mit dem Künstler Crayson Perry für das «House for Essex» verantwortlich, das junge schottische Büro Nord Architecture errichtete «The Shingle House» in Kent. Und wenn alles gut geht, gelangt in diesem Jahr auch das wohl publizitätsträchtigste Projekt zum Abschluss: «The Secular Retreat» von Peter Zumthor in der Grafschaft Devon.

Ziegel als Symbol des Einfachen

Mit John Pawson fiel für Llanbister die Wahl auf den wohl konsequentesten Verfechter eines ästhetischen Purismus und Minimalismus in der britischen Architektur. 1949 in Yorkshire geboren, hatte er einige prägende Jahre in Japan verbracht, bevor er nach einem abgebrochenen Architekturstudium in den Neunzigerjahren durch radikal reduziertes Shopdesign, etwa für das Label Calvin Klein, in Erscheinung trat. Sein Inter­esse für Askese und sakrale Räume führte zum Auftrag für ein Kloster im tschechischen Novy Dvur (1999–2004), ein Jahrzehnt später zu einer radikal puristischen Neugestaltung der St.-Moritz-Kirche in Augsburg (2008–2013). Dass Pawson aber auch durchaus sensibel mit sperrigen Bestandsgebäuden umzugehen vermag, bewies er unlängst durch den Umbau des früheren Commonwealth Institute in London zum neuen Domizil des Design ­Museum sowie die Umwidmung eines Bunkers zum Sitz der Feuerle Collection in Berlin.

In den 1990er-Jahren suchten eine Reihe von englischen Architekten Alternativen zum kommerziell erfolgreichen britischen Hightech sowie zur Formenopulenz in der Folge der Postmoderne. Florian Beigel und Philip Christou, Adam Caruso und Peter St. John, Jonathan Sergison und Peter Bates, aber auch Tony Fretton, David Adjaye oder Mark Pimlott fanden ihre Inspirationen im Werk der Smithsons sowie im Materialpurismus und in der Handwerklichkeit der Schweizer Architektur. Nicht zuletzt verhalfen sie dem Backstein, der ja lang eines der prägenden Baumaterialien des Landes gewesen war, zu neuer Akzeptanz.

Der Karrierebeginn Pawsons fällt in die gleiche Zeit, und er speist sich aus vergleichbaren Quellen. Doch unterscheidet sich sein Werk insofern, als das Thema des Selbstverständlichen und daher Gewöhn­lichen keine wichtige Rolle spielt. Vielmehr zielen ­Pawsons Bauten auf Perfektion und extrem durch­komponierte Ästhetik, die dazu neigt, eine parasakrale Atmosphäre entstehen zu lassen. Dabei trat das verwendete Baumaterial bisher bewusst in den Hintergrund – meistens erfüllten glatte Wände aus Sichtbeton die Notwendigkeit einer Raumhülle und ermöglichten eine monolithische Gestalt.

Der Einsatz von Ziegelstein, dessen Schönheit aus den Spuren der Herstellung und damit verbundenen Un­regelmässigkeiten entspringt, ist neu in Pawsons Werk und als Referenz an diese Bauaufgabe zu betrachten. Sowohl aussen als auch innen tritt der Ziegel als prägendes Element in Erscheinung. Durch den streng ra­tionalen Einsatz verliert er jedoch seine ursprünglich so bescheidene Konnotation. Ein eigentlich banales Material wird hier auratisiert.

Reduktion um jeden Preis

Bedarf es so viel Aufwands, um abschalten zu können? «Luxese» haben Trendforscher die Legierung von Luxus und Askese genannt, und dafür ist das Life House ein treffliches Beispiel: Nichts wurde gescheut, um Reduktion und Verzicht zu inszenieren. Und weil heimische Ziegeleien den Qualitätsansprüchen nicht genügten, wurden 80 000 handgestrichene Ziegel aus Dänemark importiert. Das Life House stellt sich als eigener Kosmos dar, der erstaunlich wenig mit Standort und Region zu tun hat. Das betrifft nicht nur die Wahl der Materialien, sondern auch den Bezug zur Aussenwelt. Zwar öffnet sich jeder der Wohnräume übereck zur Landschaft, doch bleiben die Ausblicke überraschend unbestimmt. Es gibt in der Umgebung von Llanbister viele Orte, die der Idee des «locus amoenus» durchaus entsprechen; der Ort, an dem das Life House steht, zählt eher nicht dazu. Weder ist die Aussicht beeindruckend, noch lädt die unmittelbare Umgebung zum Wandern ein. Trotz der Fenster bleibt das Interieur seltsam hermetisch und selbstbezogen.

Vielleicht verhält es sich mit dem «Life House» wie mit dem «Lifeboat»: Gerettet ist nur, wer an Bord ist. Für einige Tage kann das Leben in einem minimalistischen Folly des 21. Jahrhunderts eine reizvolle Erfahrung sein. Bis die bereitgestellten Bücher gelesen, die CDs gehört und die Contemplation Chamber ausreichend genutzt worden ist. Und das reale Leben wieder beginnt.

TEC21, Fr., 2017.09.08



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TEC21 2017|36 Backstein – neuer Favorit der Minimalisten

01. September 2017Hubertus Adam
db

Konzentration auf die Kunst

Die Mineralquellen von Scuol-Tarasp im Unterengadin sind seit Jahrhunderten bekannt, schon Paracelsus erwähnte sie im Jahr 1533. Ihre eigentliche Nutzung...

Die Mineralquellen von Scuol-Tarasp im Unterengadin sind seit Jahrhunderten bekannt, schon Paracelsus erwähnte sie im Jahr 1533. Ihre eigentliche Nutzung...

Die Mineralquellen von Scuol-Tarasp im Unterengadin sind seit Jahrhunderten bekannt, schon Paracelsus erwähnte sie im Jahr 1533. Ihre eigentliche Nutzung begann Mitte des 19. Jahrhunderts – zu einer Zeit also, da die Schweiz nicht mehr ausschließlich von touristischen Pionieren, sondern von einer sich stetig vergrößernden Zahl von Besuchern aus dem bürgerlichen Milieu bereist wurde. Der St. Galler Architekt Felix Wilhelm Kubly errichtete auf dem Gelände des früheren Gut Nairs tief im Tal am Ufer des Inns das dreiflügelige Kurhaus (1861-65), eine Dekade später entstand am jenseitigen Ufer die mit einer überkuppelten Rotunde versehene Trinkhalle. 1912-13 folgte nahe der Innbrücke und damit zwischen Kurhaus und Trinkhalle das neue Badehaus mit den Wannenbädern, ein Werk der in St. Moritz ansässigen Architekten Koch und Seiler. Im Badehaus, das zur Flussseite hin dreigeschossig, auf der Landseite zweigeschossig in Erscheinung tritt, befanden sich auf dem Niveau des Hauptgeschosses beidseits des zentralen Vestibüls die Abteilungen mit den Wannenbädern für Männer und Frauen; Ruhe­räume mit konvex zum Park ausschwingenden Fassaden bildeten den seitlichen Abschluss.

Das OG diente spezialisierten Anwendungen wie Hydrotherapie, elektrischen Applikationen sowie Inhalationen. Koch und Seiler verwirklichten einen funktionalen und streng symmetrischen Bau mit giebelbekrönter Mittelpartie und landseitig vorgelagerter Pfeilergalerie im EG, der dem zeittypischen Neoklassizismus folgt.

Neues Leben

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann der langsame Niedergang. Zunächst blieben die zahlungskräftigen Gäste aus, dann wandelte sich das Tourismusverhalten. Der sportliche Aktivurlauber schließlich erging sich nicht mehr in den Tiefen des Inntals. Für das Badehaus brach eine neue Zeit an, als der Züricher Kunstförderer Henry Levy mit seiner Stiftung Binz39 die Liegenschaft erwarb und 1988 damit begann, sie im Sommer Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung zu stellen: Für konzentriertes Arbeiten ist Nairs, das an den öffentlichen Verkehr nicht angeschlossen und vom Endbahnhof ­Scuol-Tarasp in einer guten halben Stunde zu Fuß zu erreichen ist, ein idealer Platz. Ein festeres Fundament erhielt das Kulturzentrum im Jahr 2005: Levy, Christof Rösch – seit 1999 künstlerischer Leiter und Kurator der Institution – und die »Pro Engiadina Bassa« gründeten die Stiftung »Fundaziun Nairs«. Seither fungiert Nairs als »Zentrum für Gegenwartskunst« und dient nicht wie zuvor ausschließlich als temporärer Wohn- und Schaffensort für Künst­lerinnen und Künstler aus der ganzen Welt. Zwei unterschiedliche Funktionen verbinden sich: die des Künstlerhauses, eines Orts der Konzentration mit einem eher intimen Charakter, und die eines öffentlichen Kulturzentrums, das allen Besuchern offensteht und über das Tal hinaus ausstrahlt.

Auch wenn Nairs eine Erfolgsgeschichte darstellt und mit seinen Initiativen das abgelegene Tal belebt, so erwiesen sich doch zwei Faktoren als hinderlich: Zum einen die Tatsache, dass das historische Badehaus keine Heizung besaß und sich daher nur während des Sommers bespielen ließ. Zum anderen das der historischen Nutzung des Gebäudes geschuldete Fehlen von adäquaten Ausstellungs- und Veranstaltungsräumlichkeiten.

Jetzt ist das historische Badehaus, ein Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung, in Abstimmung mit der kantonalen und nationalen Denkmalpflege ­saniert und für einen ganzjährigen Betrieb umgebaut worden. Christof Rösch und Urs Padrun, die Architekten des Umbaus, haben ihr Konzept, das auf ­vordergründiges Spektakel verzichtet, ganz aus dem Bestand heraus entwickelt. Padrun gehört seit Langem dem Stiftungsrat an, Rösch der Geschäftsführung; beide kennen das Haus in allen Details, wissen um die Anforde­rungen der heutigen Nutzung und waren für eine behutsame Sanierung daher die ideale Besetzung. Denkmalpflegerischer Substanzerhalt war eines der Ziele des ­Projekts, sodass die Interventionen am Äußeren kaum in Erscheinung treten. Lediglich der Mittelrisalit musste vollständig neu aufgemauert werden, um dem Haus sein ursprüngliches Gesicht wiederzugeben.

Platz schaffen

Angelpunkt des Umbaus ist das UG des Badehauses, das ursprünglich technischen Zwecken diente: der Westflügel und der Mittelteil als Wäscherei, der Ostflügel als Schlosserwerkstatt und Kesselhaus.

Das UG ist bergseitig über die gesamte Gebäudelänge durch einen etwa 3 m breiten Kaltraum unterhalb des Pfeilervorbaus vom Hang getrennt. Dank der Luftzirkulation hat dieser Zwischenbereich das Gebäude vor Feuchtigkeit bewahrt und damit maßgeblich zu dessen Erhalt beigetragen. Im Zuge der ­Sanierung wurde die einsturzgefährdete Mauer über eine Länge von 48 m entfeuchtet und teilweise durch Betonstützen gesichert, Drainagen unterhalb ­einer Kiesschüttung leiten das Wasser ab.

Vom Foyer im EG führt eine neu geschaffene halbkreisförmige Treppe hinunter in das untere Foyer, das sich über drei Türen, welche die vorher hier vorhandenen Fenster ersetzen, zu einer kleinen Terrasse zum Fluss hin öffnet. Die stählernen Unterzüge der Kappendecke und die Stützen zeigen die historische Tragwerksstruktur. Der Westflügel wurde auf dieser Ebene vollständig entkernt und zu einem multifunktionalen Veranstaltungsraum umgebaut. Drei bestehende Pfeiler gliedern den Saal in einen schmaleren Bereich, der sich zum Fluss hin orientiert, und einen breiteren zum Hang. Je nach Bedarf kann der Saal im Ganzen bespielt werden oder in diverse Kojen und Raumbereiche unterteilt werden; schwarze Vorhänge erlauben je nach Wunsch die Verdunklung. Wie im ganzen Haus bleibt der historische Baubestand sichtbar, die Ergänzungen treten zurückhaltend, aber klar und prägnant in Erscheinung. Im Ostflügel des UG sind Atelierräume entstanden, die auch als Ausstellungsflächen genutzt werden können, die rückwärtigen Bereiche dienen als Lagerflächen. Nutzungen, die nicht in den bestehenden Räumen untergebracht werden konnten, sind in Form einer Schicht hölzerner Einbauten in den bisherigen Kaltluft-Bereich zwischen Nordwand und Hang ausgelagert: Lagerräume, Garderoben, Toiletten und eine kleine Küche.

Im Zuge der energetischen Sanierung wurde das UG mit einer Fußboden­heizung versehen, während in den Geschossen darüber, in denen die historischen Böden zu bewahren waren, Radiatoren zum Einsatz kommen. Eine Wärmedämmung unterhalb des Estrichs, Isolierverglasungen in den erhaltenen Fensterprofilen und die Innendämmung der Außenwände zur Bewahrung der historischen Fassaden waren weitere Bausteine des auf einer Pellets-Heizung basierenden Energiekonzepts.

Privat und öffentlich

Bildet das UG zusammen mit den Foyer- und Treppenhausbereichen das neue Zentrum der öffentlichen Nutzung, so sind die Seitenflügel der oberen Geschosse den Künstlern vorbehalten; öffentliche Bereich und die eher privaten Arbeits- und Rückzugsorte sind nach der Sanierung klar voneinander getrennt. Ateliers und Schlafräume reihen sich entlang der Korridore; die größten Ateliers befinden sich an den beiden Stirnseiten des OG. Neu entstanden sind eine große Küche sowie vier Bäder, die an die Tradition des Hauses anknüpfen, aber zeitgemäß materialisiert sind.

Die Büros der Verwaltung befinden sich im EG des Ostflügels, während eine Küche an der Südwestecke mitsamt dem zum Speisesaal umgenutzten ehemaligen Ruhezimmer als Treffpunkt und kommunikatives Zentrum für die temporären Bewohnerinnen und Bewohner fungiert. Die Böden aus Keramikplatten wurden im ganzen Haus erhalten bzw. ergänzt, die Farbfassungen, so nachgewiesen und vorhanden, bewahrt; ansonsten bestimmt neutrales Weiß die Innenräume. Eine Fassadensanierung samt Rekonstruktion der historischen Farbigkeit bleibt aus Kostengründen der Zukunft vorbehalten.

Christof Rösch und Urs Padrun demonstrieren mit ihrem Umbau, wie sich ein historisches Gebäude unprätentiös neuen Funktionen anpassen lässt. Die Abstimmung mit der Denkmalpflege war nicht immer einfach: Die Entfernung eines Pfeilers, um die Flexibilität des Veranstaltungssaals zu erhöhen, wurde untersagt, dafür aber konnten sich die Architekten mit ihrer Forderung durchsetzen, ein Fenster in der westlichen Stirnseite in eine Tür umzuwandeln, um von der Küche aus einen Ausgang ins Freie zu schaffen. Die Architekten haben so viel an Neutralität und Multifunktionalität geschaffen wie nötig und so viel an Geschichte bewahrt wie möglich. Der informelle Charakter überzeugt, bildet ­eine ideale Arbeitsatmosphäre, und die Stipendiaten sind zufrieden.

Noch ist die Gestaltung der Umgebung nicht abgeschlossen; ein neuer Investor, angeblich aus Griechenland, baut derzeit das benachbarte Kurhaus um. Derweil haben sich Christof Rösch und einige andere Akteure vor Ort einem weiteren Vorhaben verschrieben: der Sanierung der schräg gegenüberliegenden und vom Felsabbruch bedrohten Trinkhalle.

db, Fr., 2017.09.01



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14. Juli 2017Hubertus Adam
Bauwelt

100 Jahre De Stijl

Mondrian, van Doesburg, Rietveld und Co. Der Sommer steht in den Nieder­landen ganz im Zeichen des ­De-Stijl-Jubiläums. Welche Ausstellungen und Orte lohnen den Besuch?

Mondrian, van Doesburg, Rietveld und Co. Der Sommer steht in den Nieder­landen ganz im Zeichen des ­De-Stijl-Jubiläums. Welche Ausstellungen und Orte lohnen den Besuch?

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02. Juni 2017Hubertus Adam
db

Das Potenzial der Restriktion

Die Backstein-Lagerhallen mit auskragenden Vordächern und Laderampe wurden kreativ umgenutzt und umgestaltet: Der Entwurf lebt von Brüchen und Spannungen. So künden die nierenförmigen Balkone, inspiriert vom ­italienischen Barock, selbstbewusst von der Umnutzung zum Wohnen. Das Projekt kann als beispielhafte Umnutzung und Aufstockung von Gewerbebauten gelten, denn im Grunde waren die 24 m Bautiefe und der Stützenraster des Bestands zum Wohnen gänzlich ungeeignet. Wie es dennoch geht, zeigen die Architekten eindrucksvoll.

Die Backstein-Lagerhallen mit auskragenden Vordächern und Laderampe wurden kreativ umgenutzt und umgestaltet: Der Entwurf lebt von Brüchen und Spannungen. So künden die nierenförmigen Balkone, inspiriert vom ­italienischen Barock, selbstbewusst von der Umnutzung zum Wohnen. Das Projekt kann als beispielhafte Umnutzung und Aufstockung von Gewerbebauten gelten, denn im Grunde waren die 24 m Bautiefe und der Stützenraster des Bestands zum Wohnen gänzlich ungeeignet. Wie es dennoch geht, zeigen die Architekten eindrucksvoll.

Um den Handel und Transithandel am Standort Zürich zu fördern, wurde 1923 auf Betreiben der örtlichen Handelskammer die Zürcher Freihandels- AG gegründet. Diese erwarb zwei Jahre später ein ausgedehntes Areal westlich der Stadt in Albisrieden, das 1934 nach Zürich eingemeindet wurde. Inzwischen waren auf dem, über ein Industriegleis mit dem Bahnhof Altstetten verbundenen Freilagerareal diverse Hallenbauten entstanden. Hier eingelagerte Güter – Autos, aber auch andere Handelswaren – befanden sich so zolltechnisch im Ausland. Der Zoll wurde also erst beim Verkauf fällig – oder auch nicht, falls die Waren lediglich zwischengelagert waren und das Land wieder verließen.

Veränderungen im Logistikgewerbe führten Ende des 20. Jahrhunderts zum schrittweisen Niedergang des Freilagers, dessen Betreiber ohnehin seit 1970 in den Ausbau eines verkehrsgünstiger gelegenen Areals in Embrach nördlich von Zürich investiert hatten. Und weil die in Immobilienangelegenheiten erfahrene AXA Winterthur als Mehrheitsaktionärin der ursprünglichen Schweizerischen Kreditanstalt nachgefolgt war, setzte sich die Erkenntnis durch, dass im boomenden Zürich mit der Vermietung von Wohn- und ­Geschäftsflächen mehr Rendite zu erzielen wäre als mit der Einlagerung von Handelsware. Das geschäftliche Kalkül traf sich mit der Intention der Stadt, dem Wohnungsmangel durch Schaffung neuer Angebote innerhalb der Stadtgrenzen zu begegnen; denn das »Letzi« genannte Gebiet zwischen den ehemaligen Ortskernen von Albisrieden und Altstetten sowie der Westkante der gründerzeitlichen Stadterweiterung Zürichs war seit Längerem in den Fokus der städtischen Planung gerückt.

Auf Basis von Workshops im Jahr 2004 erarbeitete das Architekturbüro Meili, Peter eine Testplanung, aus der dann ein städtebauliches Leitbild und ein ­Gestaltungsplan hervorgingen. Ausgangspunkt des Konzepts war der Erhalt des Ursprungsbaus des Freilagers; einer U-förmigen Struktur aus zwei 135 m langen und 24 m breiten Lagerhausbauten, das nördliche drei-, das südliche viergeschossig. Dabei handelt es sich um ein Spätwerk des insbesondere für Geschäfts- und Sanatoriumsbauten bekannten Architekturbüros Pfleghard und Haefeli, die Robert Maillart als Tragwerksplaner hinzuzogen. Das Ge­bäude stand nicht unter Denkmalschutz, aber es handelt sich um einen eindrucksvollen Baubestand. Und die Architekten erkannten, dass hier bereits vorhanden war, was sonst erst mühsam und künstlich geschaffen werden müsste: ein Ort, der dem neu entstehenden Quartier Identität zu verleihen vermag. Damit ist der nunmehr um drei Geschosse aufgestockte Ursprungsbau zum Nukleus des Quartiers geworden, für dessen Realisierung zwei Wettbewerbe ausgeschrieben wurden. Den für die langen Scheiben und die Hochhäuser im Westen – die städtebauliche Figur ist von Fernand Pouillons Siedlung »Le Point-du-Jour« in Boulogne-Billancourt inspiriert – gewann Rolf Mühlethaler, den für die dem Freilager benachbarte Hofstruktur Office Haratori (Zürich) mit Office Winhov (Amsterdam). Meili, Peter selbst waren für die Aufstockung des Freilagers sowie ein Studentenwohnheim mit 200 Zimmern verantwortlich. Wichtige Eckpfeiler ihres Masterplans stellen auch das ambitionierte Freiraumkonzept von Günter Vogt und die Konzentration der Geschäftsflächen auf die Erdgeschosse ausgewählter Gebäude dar, insbesondere auf das alte Freilager, dessen Adresse innerhalb des Gesamtkomplexes nun als »Marktgasse« firmiert.

Während die Laderampen an den Außenseiten erhalten geblieben sind, wurde das Niveau zwischen den beiden Gebäuden aufgefüllt, sodass ein erhöhter Hof entstanden ist, der allseitig von den historischen Vordächern aus Beton gerahmt wird. Auch wenn es etwas gedauert hat, bis die geeigneten Mieter gefunden wurden: Hier ist in der Tat ein funktionierendes Geschäftszentrum entstanden. Mit 800 Wohnungen und den 200 Zimmern für Studierende ist irgendwann auch genug Kundenpotenzial vorhanden, und so haben sich u. a. ein Supermarkt, ein Friseur, eine Tanzschule, ein Yogastudio, Läden für Urban Gardening, Kinderkleidung und Tierfutter sowie eine Kita und eine Brasserie eingemietet. Für letztere haben Meili, Peter, auch für die Einrichtung verantwortlich, einen Pavillon geschaffen, der auf der Südseite an das EG des Freilagers anschließt.

Die eigentliche Herausforderung stellte für die Architekten aber die Frage dar, wie sich die bestehenden Geschosse mit ihrer Bautiefe von 24 m und Maillarts 5 x 5-m-Pilzstützenraster, aber auch die ökonomisch unabdingbare Aufstockung für marktfähige Wohnungen nutzen ließen. Dabei entwickelten die ­Architekten, die ihr Können für das Aufbrechen klassischer Grundrisstypologien schon an anderen Projekten unter Beweis gestellt hatten, eine Vielzahl unterschiedlicher Wohnungsgrundrisse. Das Spektrum reicht von der 2,5-Zimmer-Wohnung mit 72 m² (Nettomiete 1 700 CHF) auf einer Ebene bis hin zur 4,5-Zimmer-Wohnung mit 172 m² (3 600 CHF), die sich als Maisonette über drei Ebnenen erstreckt. Zu den Spezialitäten zählen auch Studiowohnungen mit Ladenräumen im EG und Wohnungen in der Ebene darüber (139 m², 2950 CHF) – da sich der Wohnungsmarkt im überteuren Zürich gerade zu wandeln beginnt, gestaltet sich die Vermietung zu stattlichen Preisen allerdings selbst hier schwierig.

Klug geplante Raumstrukturen

Meili, Peter ist es gelungen, bei diesem Tetris-Spiel im großen Maßstab mit ­jeweils vier querliegend in den Bestand eingestanzten Treppenhäusern auszukommen. Die komfortablen Raumhöhen von 3 m erlaubten es, trotz der nicht unerheblichen Bautiefe Durchschusswohnungen anzubieten. Eine andere Strategie musste in der Aufstockung mit ihren reduzierten Raumhöhen von 2,5 m angewendet werden. Die Lösung bestand hier in gestaffelten Patios, die versetzt in die jeweiligen drei OGs eingeschnitten sind. Die Patios orientieren sich auf der unteren Ebene zur Fassade hin und werden im Geschoss darüber partiell von einer Patiobrücke überdeckt, während sie auf der obersten zurückgesetzt sind und sozusagen einen nach vorne offenen Hof bilden. Diese Konfiguration garantiert nicht nur die Belichtung der Wohnungen, sondern verschafft jeder Einheit auch einen Außenraum. In den Bestandsgeschossen hat jede Wohnung einen präfabrizierten vorgehängten Balkon erhalten. Die in unregelmäßigem Rhythmus über die Fassade verteilten Betonbalkone mit ­ihren gekurvten Geometrien und korbig-bauchigen Metallgeländern ­atmen mit ihren Nierentischformen ein wenig den Geist der 50er, erinnern aber auch an italienische Mietshäuser; letztere Referenz war maßgebend für die Bekleidung der Fassaden, der Aufstockungen mit dunkelroten Keramikplatten. Der orangefarbene Backstein des Bestands findet hier seinen farblich modulierten und materiell variierten Widerhall, aus der tragenden Wand wird ein schützendes Kleid. Der Wechsel von liegender und stehender Versetzung der Keramikplatten erscheint beim genaueren Hinsehen als diskretes Ornament. Demgegenüber sind die Wände der Patios in einem graubläulichen Farbton verputzt – die Architekten thematisierten damit die zunehmende Porosität des sich nach oben auflösenden Volumens. Auch im Innern thematisieren sie das Aufeinander von Alt und Neu: Geschliffener Anhydritboden im Bestand, Parkett in der Aufstockung.

Der sperrige Altbau des Freilagers war für das Projekt ein Glücksfall. Die Restriktionen, die der Bestand zur Folge hatte, zwang zu räumlich anregenden Lösungen, die es sonst nicht gegeben hätte. Natürlich stehen Maillarts Pilzstützen mitunter etwas widerborstig im Raum, und auch nicht jede Wohnung kann räumlich gleichermaßen überzeugen. Doch letztlich entstehen Individualität und Charakter. Meili, Peter haben die Potenziale erkannt und aufgrund einer Analyse des Bestands mit der Aufstockung eine ergänzende ­Ableitung geschaffen, welche die Wuchtigkeit des Sockels auflöst, ausdifferenziert und verfeinert. Es ist ermutigend, dass Investoren diese Wege inzwischen mitzugehen bereit sind, wobei die jahrelange Überzeugungsarbeit der Architekten mit entscheidend war. Meili, Peter hätten es sich einfacher machen können, indem sie den Bau von Pfleghard und Haefeli zur Disposition gestellt hätten. Dass sie einen anderen Weg eingeschlagen haben, verdient höchste Anerkennung. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben, dass das Freilager als neues Quartier wirklich funktioniert.

db, Fr., 2017.06.02



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24. März 2017Hubertus Adam
TEC21

Fuss gefasst und abgehoben

Die im Januar 2017 eröffnete Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron hat eine wechselvolle Entstehungsgeschichte. Das ikonische Werk vereint diverse Bauaufgaben und Nutzungen und aufsehenerregende ­Ingenieurarbeiten – und dies alles mit hanseatischer Eleganz.

Die im Januar 2017 eröffnete Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron hat eine wechselvolle Entstehungsgeschichte. Das ikonische Werk vereint diverse Bauaufgaben und Nutzungen und aufsehenerregende ­Ingenieurarbeiten – und dies alles mit hanseatischer Eleganz.

Soweit es die öffentliche Wahrnehmung betrifft, begann die Planungsgeschichte der Elbphilharmonie im Juni 2003. Damals erschien in den Hamburger Tageszeitungen eine Visualisierung: ein zeltartigkristalliner Konzertsaal auf dem Backsteinsockel des vormaligen Kaispeichers A (1963, Architektur Werner Kallmorgen), an einer der prominentesten Stellen im Hafen, der Kehrwieder­spitze, benachbart und in Sichtweite der Hamburger Innenstadt. Bilder können suggestiv sein, und dieses Bild war dermassen suggestiv, dass es in Hamburg eine Welle der Begeisterung auslöste – nicht nur in musik­interessierten Kreisen, die sich seit Langem eine weiteren Konzertsaal neben der ehrwürdigen Laeiszhalle gewünscht hatten.

Selten hat ein einziges Bild binnen kürzester Zeit in solcher Weise Fakten geschaffen, auch wenn es fast 15 Jahre dauern sollte, bis aus der Vision Wirklichkeit wurde. Der Mann, ohne den es die Elb­philharmonie nicht gäbe, heisst Alexander Gérard. Und alles begann eigentlich in Zürich, genauer an der ETH. Dort studierte Gérard zwischen 1968 und 1973 Architektur, fast zeitgleich mit Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Nach dem Studium war er für den Baukonzern Philipp Holzmann tätig, ehe er sich als Projektentwickler etablierte. Aus der Ferne beobachtete er den Aufstieg von Herzog & de Meuron zu Weltstars, während in Hamburg die Planung der HafenCity voranschritt.

Weil die HafenCity, deren Bau 2001 startete, zwecks Finanzierung des Containerterminals Altenwerder maximalen Profit abwerfen musste[1], plante die Stadt, anstelle des denkmalwerten Kaispeichers A einen sogenannten Media City Port errichten zu lassen, also ein Bürohaus für Medienunternehmen. Diese investorenfreundliche Lösung an einem der markantesten Orte der HafenCity empörte Alexander Gérard und seine Frau, die Kunsthistorikerin Jana Marko, und sie beauftragten in privater Initiative Herzog & de Meuron mit einer Studie für einen Konzertsaal im Kaispeicher: Ort der Kultur und Öffentlichkeit statt Bürogetto. Doch die Architekten votierten für mehr Sichtbarkeit, und so entstand die Idee, das mächtige Backsteinvolumen mit einem gläsernen Aufsatz zu bekrönen.

Die ungewöhnliche Euphorie der als reserviert geltenden Hamburger wird auch vor dem Hintergrund erklärbar, dass das Projekt in einer politisch reaktionären Zeit lanciert wurde. Die Vision Elbphilharmonie torpedierte die Idee eines Aquadome, einer kruden Mischung aus Grossaquarium, Konzertsaal und Beatles­Museum inmitten der HafenCity, und sie stempelte die Pläne des Media City Port zur Makulatur.

Kostensteigerung: fast 300 %

Die Annahme, die Elbphilharmonie liesse sich – von der Überlassung des Grundstücks abgesehen – ohne Mittel aus öffentlichen Haushalten finanzieren, also allein durch Spenden sowie die Rendite der Mantelbebauung, mag rückblickend naiv anmuten. Erst recht angesichts der Schlussbilanz: Gesamtkosten 865.65 Millionen Euro, davon 57.5 Millionen an Spenden und 789 Millionen von der öffentlichen Hand. 2004 kaufte die Stadt das Projekt für geschätzte 3.5 Millionen Euro von Spiritus Rector Alexander Gérard, der damit in die weitere Planung nicht mehr involviert war, und übernahm die Regie. Hätten die finalen Zahlen schon anfangs vorgelegen, wäre die Elbphilharmonie wohl niemals gebaut worden.

Die legendär gewordenen Kostensteigerungen lassen sich nicht monokausal erklären. Zunächst vergrösserte sich das Bauprogramm gegenüber den ersten Plänen markant: Ein zusätzlicher Veranstaltungsaal im Sockel, das «Kaistudio», kam hinzu, auch die Anzahl der für die Querfinanzierung wichtigen Hotelzimmer und Apartments stieg auf 250 bzw. 45 (vgl. «Kafka oder Wagner»). Damit verbunden war die gravierendste und kostentreibendste Veränderung: Hiess es zunächst, man wolle das Tragwerk des Kaispeichers A (das einen integralen Faktor für dessen Denkmalwert darstellte) erhalten, erwies sich das schliesslich als nicht durchführbar. Zwar war es tragfähig genug, doch für die Bauherrschaft war die Raum­struktur ungenügend, da sie ihre Anforderungen nicht erfüllte. In der Konsequenz musste eine völlig neue Beton­struktur in die Mauerwerkshülle des KallmorgenBaus eingepasst werden. Dabei liess sich neben den Fassaden lediglich das durch Halbverdränger verstärkte Fundament in den Bereichen der Kerne weiternutzen.

Aber auch in den Bereichen Akustik, Gebäudetechnik und Fassadenplanung wurden gravierende Veränderungen vorgenommen, die die Kosten in die Höhe trieben. Dass mehr Kubikmeter, Ausstattung und Technik zu Preissteigerungen führen, ist nachvollziehbar. Problematischer bleiben die übrigen Faktoren, die typisch sind für die Umsetzung von derlei Grossprojekten: So werden im Kontext politischen Handelns Kosten oft wider besseres Wissen zu niedrig angesetzt, um möglicher Kritik auszuweichen und das Projekt ins Rollen zu bringen. Ebenfalls politischer Wille war es, entgegen der Warnung der Architekten mit dem Bau zu einem Zeitpunkt zu beginnen, da die Planung nicht abgeschlossen war.
Zugänglich und doch entrückt

Der Grundriss der Elbphilharmonie bildet ein Trapez, das sich einem Dreieck annähert. Die Spitze, über der sich der gläserne Aufsatz bis zu einer Höhe von 110 m auftürmt, ist zu den St. PauliLandungsbrücken hin ausgerichtet. Der Besuchereingang befindet sich der HafenCity zugewandt auf der Ostseite des Kaispeichers. Die Elbphilharmonie liegt zwar exponiert, ist aber nicht einfach zu erreichen. Auf drei Seiten von Wasser umgeben, steht das Bauwerk am westlichsten Ende der HafenCity. Die UBahnhöfe sind einige hundert Meter entfernt, Fussgänger und Autos teilen sich den Vorplatz.

Herzog & de Meuron haben auf Strassenniveau einen Schlitz in die Backsteinhülle geschnitten, in dem nebeneinander die Einfahrt in das Parkhaus im Sockel, der Zugang zum Hotel und der Eingang zur Elbphilharmonie Platz gefunden haben. Die Portale liegen in einer Reihe, jegliche repräsentative Überhöhung unterblieb. Die Architekten referieren hier eher auf die Logik des Lagerhauses als auf die Konventionen einer bürgerlichen Konzertkultur; selbst auf ein Vordach wurde verzichtet. Eine 82 m lange Roll­treppe – konvex geführt, sodass das Ende von unten nicht einsehbar ist (vgl. Abb.) – befördert die Besucher durch den Speicher hinauf ins sechste Geschoss. Ist man oben angekommen, bietet ein Panoramafenster den ersten Ausblick über Stadt und Hafen.

Die markante Öffnung in der Spitze des Sockels ist keine neue Intervention von Herzog & de Meuron, sie fand sich schon im Bau von Werner Kallmorgen. Ursprünglich war hier für die Arbeiter im Speicher A eine Kantine geplant, deren Ausführung indes aus technischen Gründen unterblieb. In gegenläufiger Richtung schliesst sich eine weitere, kürzere Rolltreppe an, es folgt eine weitläufige Treppenrampe, die zur «Plaza» auf 37 m Höhe führt. Sie wirkt als Verteiler: Wie durch einen Gehörgang gelangt man bei Konzerten direkt, also ohne Türen zu öffnen, in den Grossen Saal. Erst bei Konzertbeginn werden die in den Wänden verborgenen und von innen her unsichtbaren Türen geschlossen.

Die Plaza ist aber auch die Attraktion für all jene, die nicht in den Genuss eines Konzerts kommen. Sie befindet sich an der Schnittstelle zwischen der ­Backsteinhülle des früheren Kaispeichers und dem ­kristallinen Aufbau. Nach oben geht der Blick in die Foyerlandschaft des Grossen Saals, trichterförmig sich weitende Wölbungen in der Decke fokussieren die Blicke nach Norden Richtung Stadt und nach Süden Richtung Hafen. Ondulierende Glasscheiben begrenzen den Innenraum – ihre Verformung ist nicht ästhetischer Selbstzweck, sondern reagiert auch auf den extremen Winddruck (vgl. Abb. oben). Kreisförmige Einschnitte in Boden und ­Decke erlauben es an verschiedenen Stellen, einzelne Glas­elemente zu drehen und damit die Plaza bei gutem Wetter zur umlaufenden Terrasse hin zu öffnen.

An der Aussenfassade ist eine Reihe der Glasscheiben durch Aus oder Einbuchtungen blasenartig verformt und zum Teil mit grossen Öffnungen ver­sehen. Die kleineren Ausbuchtungen bieten Platz für ­Lüftungsöffnungen, hinter den grossen Öffnungen verbergen sich Freiluftloggien. Die grösseren Scheiben­formate finden sich in den Foyers der Elbphilharmonie, die kleineren in den Bereichen der Apartments und des Hotels. Aufgedruckte Siebdruckpunkte dienen ­einerseits dem Sonnenschutz, andererseits geben sie dem Auge optisch Halt und sollen Schwindel­gefühle angesichts des Abgrunds hinter den Scheiben vermeiden. Die ­sphärisch gebogenen Dachflächen werden aus ­grossen Metalltellern gebildet und sind aus nächster Nähe von einer kleinen, als VIP­Foyer genutzten Dach­terrassse aus zu erleben.

Hexenkessel für die Musik

Die Stadt hat mit der Elbphilharmonie aber nicht nur ein ikonisches Bauwerk erhalten, das längst zu einem, vielleicht sogar zu dem Wahrzeichen der Stadt geworden ist, sondern auch einen der spektakulärsten Musiksäle der Welt. Schon nach den ersten Testkonzerten im vergangenen Herbst waren Musiker begeistert von dessen Gestalt und Akustik (vgl. «Von Welle und Klang»). Leicht ist der Grosse Saal allerdings nicht zu bespielen, wie sich am Eröffnungskonzert zeigte. Der für das akustische Konzept verantwortliche japanische Spezialist Yasuhisa Toyota setzt auf ein analytisches Klangbild mit einer extremen Transparenz. Das führt dazu, dass man selbst bei komplexen Orchesterwerken die einzelnen Instrumente gut heraushören kann. Aber der Saal verzeiht auch nichts: weder das Falschspiel einzelner Instrumente noch das Räuspern des Publikums.

Beim Grossen Saal der Elbphilharmonie setzte Toyota auf das Prinzip der «Weinbergterrassen», das durch Hans Scharouns Berliner Philharmonie 1963 ­eingeführt wurde: Die Musiker sitzen im Zentrum, das Publikum in ansteigenden Blöcken, die sich rings um das Podium gruppieren. Diese Anordnung ist die Alternative zur rechteckigen «Schuhschachtel», wie sie die klassischen bürgerlichen Konzertsäle des 19. Jahrhunderts verkörpern. Die akustische Optimierung in Hamburg erprobte man anhand eines 1:10Modells (vgl. TEC21 2728/2010).

Im Gegensatz zur Berliner Philharmonie, die mit 2250 Plätzen 150 mehr als der Grosse Saal der Elbphilharmonie besitzt, fällt in Hamburg die Steilheit der Sitzanordnung ins Auge. Praktisch begründet ist diese Disposition durch den kristallinen Aufbau des Gebäudes, das nicht nur die Konzertsäle umfasst, sondern auch das Hotel im Osten und die Apartments im Westen. Daraus ergeben sich Proportionen, die den ­Gros­sen Saal und auch die schluchtartig sich über­lagernden Foyerbereiche bestimmen. Es war aber auch Ziel der Architekten, die Intensität des Konzerterlebnisses durch die räumliche Komprimierung zu steigern. Nicht zu­fällig fühlt man sich hier an ihre Stadionprojekte er­innert, die mit dem Prinzip eines «Hexenkessels» auf die maximale Intensivierung der Atmosphäre und die Minimierung der Distanz zwischen Akteuren und Publikum zielen.

Es ist erstaunlich, wie intim der Konzert­saal trotz seiner mehr als 2000 Sitzplätze wirkt. Die Besucher rücken nicht nur näher an das Orchester heran, sondern auch an die anderen Zuhörer im Saal. Denn ein Konzert ist ein Gemeinschaftserlebnis: Von einem «Krater durch Kunst, so einfach als nur möglich, damit dessen Zierrat das Volk selbst werde» sprach Goethe angesichts der Arena von Verona. Eine Gliederung in unterscheidbare Ränge haben die Architekten in Hamburg stärker vermieden als etwa Jean Nouvel bei der Philharmonie in Paris; alle Sitzbereiche im Saal sind miteinander verbunden, sodass man von einem beliebigen Platz zu jedem anderen gelangen kann, ohne den Umweg über das ­Foyer nehmen zu müssen.

Prägend für den Raumeindruck sind die weiss­grauen Akustikpaneele, mit denen Brüstungen, Wände und Deckenuntersichten verkleidet wurden. Es handelt sich um Verbundelemente aus Gips und 10 % recycelter Wellpappe, die je nach Position im Saal entsprechend Toyotas Forderungen unterschiedlich stark ausgebildet und unterschiedlich tief ausgefräst wurden. Dabei ­blieben die Frässchichten innerhalb der einzelnen Waben sichtbar, wie ein Binnenornament – die Architekten sprechen vom «Microshaping».

Zusammen mit dem grau melierten Wollbezug der ebenfalls von Herzog & de Meuron entworfenen ­ Sitze, dem hellen Eichenparkett des Bodens und der Grundbeleuchtung in Form von mit LED ausgestatteten Schusterkugeln entsteht ein festlicher Raumeindruck, der aber nicht klassischopulent ausfällt. Eine gewisse Neutralität war gewünscht, weil der Saal nicht allein auf klassische Musik zugeschnitten ist. Für experimentellere Musikformate ist der Kleine Saal vorgesehen, der mit seinen rund 550 Plätzen dem traditionellen SchuhschachtelPrinzip folgt. Die Sitzanordung lässt sich durch verschiebbare Podien dem jeweiligen Konzert anpassen. Hier wählten die Architekten eine Holz­verkleidung; eine erneut durch Fräsung erzielte ­Wellen­struktur bildet ein vertikales Muster an allen Wänden. Weil man hier auf die Optimierung anhand eines physischen Modells verzichtete, mussten die Längswände nach ersten Tests durch Aufsägen in einzelne Elemente differenziert und akustisch nachgebessert werden.

Vielseitig auf allen Ebenen

Herzog & de Meuron sprechen angesichts der Funktions­mischung der Elbphilharmonie von einer Stadt im ­Kleinen, und tatsächlich ist die mit Backsteinen ge­pflasterte Plaza zu einem öffentlichen Ort geworden. Dieser ermöglicht nicht nur nie dagewesene Blicke über Stadt und Hafen, er ist auch eine Feier der Architektur: An der Schnittstelle zwischen Alt und Neu, ­zwischen Sockel und Aufsatz, Backstein und Glas lässt er das Konzept der Architekten zum eindrucksvollen Erlebnis werden.

Der Bau spielt mit einer Reihe von maritimen Assoziationen, ohne diese jedoch platt im Sinn einer vordergründigen «architecture parlante» auszuspielen. Von der Wandverkleidung im Innern bis zur Grossform, die an Wellen, an Gischt, an Segel erinnern mag, lässt die Elbphilharmonie vielfältige Interpretationen zu. Werner Kallmorgens Kaispeicher ist zum Sockel eines himmelsstürmenden Bauwerks geworden, das ziemlich genau das versinnbildlicht, was Bruno Taut einmal als Ziel zukünftiger Gemeinschaftsarchitektur gefordert hatte: «reine Festesdinge» zu sein.


Anmerkung:
[01] Gert Kähler hat die hart am Rand der Legalität operierende Vorplanung für die HafenCity in einer Studie dokumentiert, die sich wie ein Krimi liest: «Geheim­projekt HafenCity oder: Wie erfindet man einen neuen Stadtteil», hrsg. v. Volkwin Marg, München/Hamburg: Dölling und Galitz Verlag 2016.

TEC21, Fr., 2017.03.24



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04. November 2016Hubertus Adam
TEC21

Enigma aus Backstein

Der Umbau der Tate Modern in London vom Kraftwerk zum Kunstmuseum machte Herzog & de Meuron im Jahr 2000 berühmt. Die im Mai 2016 eröffnete Erweiterung ist subtiler, aber nicht weniger virtuos.

Der Umbau der Tate Modern in London vom Kraftwerk zum Kunstmuseum machte Herzog & de Meuron im Jahr 2000 berühmt. Die im Mai 2016 eröffnete Erweiterung ist subtiler, aber nicht weniger virtuos.

Am nördlichen Themseufer unweit der Victoria Station eröffnete 1897 die Tate Gallery, die heute zu den ehrwürdigen Kunstinstitutionen der britischen Kapitale zählt. Ursprünglich aus der Kollektion des Zuckermagnaten Henry Tate hervorgegangen, beschränkte sich die nunmehr staatliche Sammlung zunächst auf englische Kunst. Doch der Fokus wurde mehr und mehr geweitet, das Sammlungsspektrum internationalisiert, und in den 1990er-Jahren platzte das Haus schier aus allen Nähten. Da eine umfassende Erweiterung auf dem angestammten Grundstück nicht möglich war, entschloss man sich, die Bankside Power Station, ein altes Ölkraftwerk des Architekten Giles Gilbert Scott, das sich etwas weiter flussabwärts gegenüber der St. Paul’s Cathedral befand, zur neuen Dependance umzubauen.

Verbunden mit dem Projekt waren grosse Erwartungen, auch in städtebaulicher Hinsicht: Die Tate Modern, so hiess es 1994 in einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey, werde 2400 neue Arbeitsplätze schaffen und der Stadt jährliche Mehreinnahmen von bis zu 90 Millionen Pfund verschaffen, wovon ein Drittel dem südlich der Themse gelegenen Borough of Southwark zugute käme.

Win-Win-Win

Tatsächlich begann mit der Eröffnung der Tate Modern im Jahr 2000 eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Der Londoner Stadtteil Southwark, bislang von Brachen und heruntergekommenen Lagerarealen geprägt, geriet ins Blickfeld von Developern und hat nach gut 15 Jahren sein Gesicht völlig gewandelt. Das Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron, das in der Endrunde des Wett­bewerbs 1995 die Konkurrenten David Chipperfield, Rafael Moneo, Rem Koolhaas, Renzo Piano und Tadao Andö ausgestochen hatte, katapultierte sich an die Weltspitze der Architektur.

Und das Museum selbst – Depen­dance des altehrwürdigen, seither als «Tate ­Britain» firmierenden Stammhauses am Standort Milbank – avancierte zur Publikumsattraktion ersten Rangs. Nicht die prognostizierten zweieinhalb Millionen Besucher kamen im ersten Jahr, sondern mehr als die doppelte Anzahl; bei deutlich über fünf Millionen pro Jahr hat sich ihre Zahl inzwischen einge­pendelt. Weder die – nicht über alle Zweifel erhabene – Sammlung ist es, die das grosse Interesse auslöst, noch die von den Architekten in das Kesselhaus eingefügte Struktur orthogonaler Ausstellungssäle, sondern die grandio­se Turbinenhalle.

Der ingeniöse Kunstgriff der Basler bestand darin, den gewaltigen Raum der 1948–1963 errichteten, 1981 stillgelegten und nur noch in ihrer süd­lichen Raumschicht als Umspannwerk genutzten Bankside Power Station freizuspielen. Einmal im Jahr wird er für eine künstlerische Grossinstallation genutzt, aber vor allem ist er zu einem Ort geworden, an den die Menschen strömen, selbst wenn sie die Ausstellungsräume gar nicht betreten. Der Besuch der Turbinenhalle gehört inzwischen zum touristischen Pflichtprogramm.

Verbindung und Abgrenzung

Angesichts des Erfolgs, der jede Erwartung übertroffen hatte, begannen schon 2005 und damit viel früher als prognostiziert Planungen für eine Erweiterung der Tate Modern Richtung Süden. Voraussetzung dafür war ein 2004 durchgeführter Austausch der Transformatoren: Durch die nunmehr kleineren Geräte ergab sich die Möglichkeit, Teile des Umspannwerks von der technischen Nutzung zu befreien, für die Tate Modern zu nutzen und nicht nur einen südlichen Eingang zu schaffen, sondern den Kulturgenerator Tate überdies besser mit dem zum Boomquartier avancierten Stadtteil Southwark zu vernetzen.

Ein neuerlicher Wettbewerb wurde veranstaltet, diesmal unter vier eingeladenen Teilnehmern: Richard Rogers, Herzog & de Meuron, Dominique Perrault und Wilkinson Eyre. Und wiederum fiel die Entscheidung zugunsten des Entwurfs der Architekten aus der Schweiz. Zunächst schlugen Herzog & de Meuron einen Turm aus scheinbar zufällig übereinander gestapelten gläsernen Kuben vor, der typologisch an zeitgleiche Projekte wie das Actelion Business Center in Allschwil oder das VitraHaus in Weil am Rhein erinnerte – und konzeptionell an das kurz zuvor eröffnete Museum of the 21st Century in Kanazwa von SANAA, bei dem jeder Galeriesaal ein eigenes Volumen bildet.

Doch die Finanzkrise setzte der Planung ein vorläufiges Ende, und als der Neustart erfolgte, wurde das architektonische Konzept grundsätzlich revidiert. Der Standort für den Anbau blieb der gleiche, nämlich der Bereich südlich der Turbinenhalle, wo sich einst die unterirdischen Öltanks zur Befeuerung des Kraftwerks befanden. Die Architekten hatten diesen Ort frühzeitig entdeckt und schon 1997 vorgeschlagen, ihn von der Turbinenhalle zugänglich zu machen und für Performances und Installationen zu nutzen. Die Idee musste seinerzeit mangels finanzieller Mittel zurückgestellt werden.

Erst 2012 war es so weit: Die drei stählernen Öltanks wurden demontiert, übrig blieb die grandiose, piranesiartig anmutende unterirdische Betonstruktur mit kleeblattförmigem Grundriss. Als Raum für Performancekunst dem Museum zugeschlagen, fungiert sie nun als Substruktion für die «Switch House» genannte Erweiterung (vgl. «Aus dem Bestand heraus»).

Subtil, aber gekonnt

Der zehngeschossige Anbau mit seiner Höhe von 65 m hat die Form einer geknickten Pyramide. Die Beton­skelettkonstruktion ist aussen mit einem Filtermauerwerk aus Backstein verkleidet. 336 000 Ziegel wurden händisch verbaut und bilden die äus­sere Schale, die, wo gewünscht, von Fensterbändern durchbrochen ist. Setzten die Architekten bei ihrem Entwurf von 2005 mit den gläsernen Räumen noch auf Konfrontation gegenüber dem Bestand, so suchten sie nun mit dem ­Backstein eher das Verbindende.

Das hat auch damit zu tun, dass die Investorenarchitektur, die nicht nur die Londoner City umpflügt, sondern auch in Gestalt von Luxusapartmentkomplexen der Tate und ihrem Anbau inzwischen fast obszön nah kommt, stets Glasfassaden aufweist. Backstein steht in London für Infrastrukturbauten, für die Bahnviadukte des 19. Jahrhunderts ebenso wie für die Kraftwerke, aber auch für den traditionellen Wohnungsbau. Mit der Hülle aus Backstein ist die Erweiterung der Tate Modern selbstverständlicher geworden, weniger ­aufgeregt.

Wie richtig die Entscheidung der Architekten war, erlebt man spätestens, wenn man um das Switch House herumgeht: Die geknickte Pyramide verbindet sich dank der Backsteinfassade mit dem Altbau, wahrt Distanz zur in die Höhe geschossenen Nachbarbebauung, die parasitär vom Kunstort profi­tieren will, und besitzt aufgrund ihrer Geometrie, die sich nicht auf den ersten Blick erschliesst, eine enigmatische Kraft. Eigentlich ist das Switch House ein gewaltiges Monument, doch es inszeniert sich nicht als selbstverliebtes Spektakel und tritt, vom gegenüberliegenden Ufer aus gesehen, hinter der Vertikale des Hochkamins und der Horizontale des Kraftwerks fast bescheiden in die zweite Reihe zurück.

Die Form ist dabei kein Zufallsprodukt und auch nicht expressiv um des expressiven Gestus willen. Vielmehr erklärt sie sich als Resultat von äusseren Bedingungen, die auf den Entwurfsprozess einwirkten: Bestimmte Sichtachsen auf die St. Paul’s Cathedral müssen frei gehalten werden, der Schattenwurf auf die Nachbarbebauung war zu minimieren, und der Standort war durch die Substruktion in Form der betonierten Tanks im Untergrund gegeben. Dabei operierten Herzog & de Meuron beim Switch House viel freier als beim Umbau des Kesselhauses im Jahr 2000, bei dem sie mit einer streng orthogonalen Logik der Ausstellungssäle, Erschlies­sungen und des verglasten Aufbaus der vorhandenen Geometrie folgten.

Auch im Anbau besitzen die auf den Ebenen 2, 3 und 4 konzentrierten und parallel zur Turbinenhalle organisierten Ausstellungssäle einen rechteckigen Zuschnitt. Der grösste befindet sich in Ebene 2, ein Ausstellungsraum von gewaltigen Dimen­sionen mit abgehängten Neonröhren unter der Decke. Die übrigen Säle sind kleiner und unterschiedlich sowohl hinsichtlich der Proportionen als auch bezüglich der Gestaltung: Manche sind mit Lichtdecken ausgestattet, andere durch Betonunterzüge gegliedert, wobei Spots für die Beleuchtung sorgen. Vereinzelte Fenster gewähren Durchblicke zur Turbinenhalle oder Ausblicke in die unmittelbare Nachbarschaft.

Meisterhafte Zwischenräume

Das eigentliche Erlebnis aber sind die ausgedehnten, alle Ebenen verbindenden Erschliessungsbereiche, eine grandiose Abfolge aus Wendeltreppen, Aufenthaltsbereichen und Besucherwegen. In Umfragen hat sich ergeben, dass viele Menschen die Tate Modern nicht vorrangig der Kunst wegen besuchen, sondern weil sie hier andere Menschen treffen. Das erklärt schon den Erfolg der Turbinenhalle, und die Architekten haben bei der jetzigen Erweiterung alle Re­gister gezogen, um die Aufenthaltsqualität der öffent­lichen Bereiche zu diversifizieren. Dank einer geschickten Dramaturgie öffnen sich hier Räume von hallenartigen Dimensionen, während dort intime Zonen zum ruhigen Rückzugsort werden; für die Möblierung wurde, wie schon im Jahr 2000, Jasper Morrison beigezogen.

Das Betonskelett wird sichtbar, das Filtermauerwerk und die Fensteröffnungen erlauben Ausblicke, und Aussparungen in den Decken entlang der Fassaden verbinden die Geschosse optisch miteinander. So entsteht ein Parcours, der die Besucher gleichsam sogartig nach oben zieht – bis zur Ebene 10, die mit einem äus­seren Umgang den panoramatischen 360-Grad-Blick über die Stadt bietet und wie ein Belvedere funktioniert. Gemessen am Gesamtvolumen beanspruchen die eigentlichen Ausstellungszonen nur den kleineren Teil der Erweiterung; die Ebenen 5 und 6 dienen pädagogischen Programmen, die Verwaltung nutzt Ebene 7 sowie die zur Südfassade hin orientierten Zonen auf anderen Geschossen.

Eine Bar und ein Museumsshop teilen sich die Ebene 1 mit dem neuen, zum Quartier Southwark hin orientierten Südeingang, der nun auch die lang ersehnte Nord-Süd-Querung des Museums gewährleistet. Eine zweite Verbindung von Kesselhaus und Switch House bildet eine auf Ebene 4 über die Turbinenhalle gespannte Brücke. Damit wäre ein Rundgang möglich, wenn nicht die Tate Modern bereits bei ihrer Eröffnung im Jahr 2000 eine Grösse aufgewiesen hätte, die bei einem Besuch sämtlicher Ausstellungsräume die Wahrnehmungsfähigkeit heillos überfordert.

Inzwischen sind die Tanks hinzugekommen, und die jetzige Extension vergrössert die Fläche für die Besucher noch einmal um 60 %. Kesselhaus und Switch House, die die Turbinenhalle nunmehr nördlich und südlich flankieren, bilden eigentlich zwei selbstständige Einheiten mit jeweils mehr Kunst, als ein durchschnittlicher Besucher zu rezipieren vermag.

Werk mit Wirkung

Frances Morris, die neue Direktorin der Tate Modern, erarbeitete anlässlich der Eröffnung der Erweiterung eine neue Hängung für alle Bereiche des Hauses. Diese gliedert sich in acht Kapitel, die – wie bei der Einweihung im Jahr 2000 – thematisch angelegt sind und mit einer klassischen chronologischen Präsentation brechen. Neu sind die starke Berücksichtigung der Werke von Künstlerinnen und die Erweiterung des Blicks durch den Einbezug von Werken aus dem nicht westlichen Kontext. So ist die Tate Modern ein globalisiertes Museum: Sie zeigt 800 Werke von 300 Künstlerinnen und Künstlern aus 50 Ländern. Diese Bandbreite war nur durch eine intensive Erwerbungspolitik der letzten Jahre möglich. Seit 2000 ist die Sammlung um 50 % gewachsen. Weil der staatlichen Tate praktisch kein fixer Ankaufsetat zur Verfügung steht, sind Privatpersonen, Firmen und Stiftungen in die Bresche gesprungen.

Als erfolgreicher Marke gelingt der Tate, was kleinere Institutionen immer weniger vermögen: privates Geld und privates Engagement an sich zu binden. So wurden auch von den 260 Millionen Pfund, die der Neubau gekostet hat, nur 60 Millionen durch die öffentliche Hand – den Staat, die Greater London Authority und das Southwark Council – bereitgestellt. 200 Millionen konnten durch Fundraising und Sponsoring erwirtschaftet werden. Stolz versteht sich die Tate Modern als weltweit attraktivstes Museum für moderne Kunst, das hinsichtlich seiner Beliebtheit das MoMA in New York hinter sich gelassen hat.

Ohne Zweifel hat die Institution seit ihrer Eröffnung London verändert. Ihr Einfluss ist nicht nur städtebaulich zu spüren; die Tate Modern hat überdies erheblich dazu beigetragen, dass sich die Kapitale an der Themse als eine Metro­pole zeitgenössischer Kunst etablieren konnte.

TEC21, Fr., 2016.11.04



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04. November 2016Hubertus Adam
TEC21

Ähnlich anders

Mit den Anbauten der beiden Vorzeigemuseen in London und Colmar demonstrieren Herzog & de Meuron ihre entwerferische Spannweite.

Mit den Anbauten der beiden Vorzeigemuseen in London und Colmar demonstrieren Herzog & de Meuron ihre entwerferische Spannweite.

Colmar mit seinen knapp 70 000 und London mit seinen mehr als acht Millionen Einwohnern lassen sich schwerlich vergleichen. Und auch das Museum Unterlinden, dessen eigentliche Attraktion der Isenheimer Altar ist, und die Tate Modern sind im Grunde inkommensura­bel – abgesehen davon, dass beide Ausstellungshäuser unlängst durch Herzog & de Meuron erweitert wurden (vgl. «Enigma aus Backstein» und «Mit Mut und Witz»).

Angesichts mancher Museumsvergrösserung der vergangenen Jahre mag sich Skepsis einstellen: Räumlicher Zuwachs bedeutet auch mehr Betriebskosten. In Zeiten stagnierender Kulturbudgets führt das zu Problemen, weil sich Mäzene oder Sponsoren zwar für prestigeträchtige Bauprojekte, nur selten indes für die Finanzierung von Wach- oder Reinigungspersonal gewinnen lassen. Auch in Colmar und London wurde das Gros der Baukosten für die Erweiterungen nicht von der öffentlichen Hand getragen. Allerdings steht in beiden Fällen die Notwendigkeit des Eingriffs ausser Frage.

Das hat nur vordergründig mit der Argumentation zu tun, die immer zwecks Legitimierung von solchen Projekten vorgebracht wird: dass das jeweilige Museum angesichts der stetig wachsenden Sammlung aus allen Nähten platzt. Eine geschickte Ausstellungsstrategie könnte die Argumente entkräften; in den meisten Museen ist ein Grossteil der Sammlung magaziniert. Auch steigender Raumbedarf für paramuseale Zwecke fungierten als Auslöser für die Bauprojekte. Was die beiden Interventionen aber so überzeugend macht, ist deren städtebauliche und letztlich auch gesellschaftliche Dimension.

Museen sind nicht mehr allein Orte der Selbstvergewisserung bildungsbürgerlicher Milieus, sondern urbane Generatoren ersten Rangs. Trotz einer nicht über jeden Zweifel erhabenen Sammlung hat sich die Tate Modern als das international besucherstärkste Museum für Moderne Kunst etabliert. Sie ist so erfolgreich, dass Herzog & de Meuron entgegen ersten Ent­wür­fen nun mehr Distanz zur radikal kommerzialisierten Umgebung wahren und auf ein introvertiertes Konzept setzen, das mit dem Raum der Turbine Hall schon angelegt war.

Letztere war der Geniestreich des ersten Tate-Konzepts von 2000: Sie ist einerseits ästhetischer Separatraum, andererseits öffentlicher Ort – in Londons Innenstadt ansonsten Mangelware. Am Rand der Altstadt von Colmar stellte sich die Situa­tion anders dar: Hier ist mit der Erweiterung des Museums Unterlinden Stadtreparatur geleistet worden. Ein Hallenbad der Belle Epoque konnte einer neuen Nutzung zugeführt werden, wichtiger noch aber ist die Wiedergewinnung des öffentlichen Raums.

Die Place Unterlinden ist zum Angelpunkt des Gesamtkonzepts geworden: Die Architekten befreiten sie vom Verkehr und legten den Canal de la Sinn frei. Und dann steht auf dem Platz noch ein merkwürdig verformtes Gebäude mit Wänden aus aufgeschlagenen Lochziegeln und einem Kupferdach. Ein wenig mutet es an wie Rotwangs Haus aus Metropolis, und sein surrealer Charakter wird dadurch noch verstärkt, dass man es nicht betreten kann. Das kleine Bauwerk, eine Variation der im Œuvre von Herzog & de Meuron ostinaten Urhüttenthematik, gliedert und rhythmisiert den Platz.

Und es ermöglicht mittels seiner Fenster den Blick in die Tiefe, kann damit also auch als skulpturaler Hinweis auf die unterirdische Galerie verstanden werden. Denn eine zentrale Idee der Basler Architekten bestand darin, dass der Komplex aus Kloster und Kirche auf der anderen Seite des Platzes ein spiegelbildliches Pendant findet, als zeitgenössische Interpretation des einst hier bestehenden, dem Kloster zugeordneten Gutshof. Das neue Ensemble setzt sich zusammen aus dem winkelförmigen Komplex des angrenzenden Schwimmbads sowie einem «Ackerhof» genannten Neubau. Mit seinem hohen Satteldach und den Spitzbogenfenstern spielt das Gebäude mit his­torischen Referenzen in einem Masse, wie es bei Herzog & de Meuron vielleicht überraschen mag.

In London wie in Colmar trennen die Architekten Ausstellungssäle und übrige Publikumszonen. Die Kunst behält ihre eigenen Bereiche. Herzog & de Meuron sind seit jeher – und das zu Recht – nicht die Verfechter eines Kulturzentrums, in dem alles zu gleicher Zeit und im gleichen Raum stattfindet. Backstein ist das Baumaterial, das beide Projekte verbindet. In London vermittelt er zum Infrastrukturbau des vormaligen Kraftwerks, in Colmar entstanden mural geprägte Bauten, die sich volumetrisch in die Kubatur der historisch geprägten Altstadt einfügen, durch den seriellen Charakter des Backsteins jedoch einen abstrakten Ausdruck besitzen.

TEC21, Fr., 2016.11.04



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19. August 2016Hubertus Adam
Bauwelt

Zuviel weiße Pracht

Japanische Architektur, ihre Rezeption von außen, sollte nicht auf die weißen, leicht wirkenden Bauten weltweit erfolgreicher Namen der letzten Zeit reduziert werden. Ein Rückblick gibt Hinweise auf andere wichtige Strömungen.

Japanische Architektur, ihre Rezeption von außen, sollte nicht auf die weißen, leicht wirkenden Bauten weltweit erfolgreicher Namen der letzten Zeit reduziert werden. Ein Rückblick gibt Hinweise auf andere wichtige Strömungen.

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Bauwelt 2016|32 Japan – leicht und schwer

03. Juni 2016Hubertus Adam
db

Farbenfroher Kosmos

Der spielerische und dabei doch klar strukturierte ­und systematische Umgang mit Farbe, Form und Ornament prägt das Werk Alexander Girards und ebenso die Ausstellungsgestaltung des jungen Architekturbüros Raw Edges aus London, das die Ausstellung über Leben und Werk des Designers am Vitra Design Museum in Szene ­gesetzt hat.

Der spielerische und dabei doch klar strukturierte ­und systematische Umgang mit Farbe, Form und Ornament prägt das Werk Alexander Girards und ebenso die Ausstellungsgestaltung des jungen Architekturbüros Raw Edges aus London, das die Ausstellung über Leben und Werk des Designers am Vitra Design Museum in Szene ­gesetzt hat.

Unter den Designern, deren Nachlässe das Vitra Design Museum besitzt und deren Produkte von Vitra vertrieben werden, ist Alexander Girard sicher der unbekannteste geblieben. 1907 in New York geboren, in Florenz aufgewachsen und an der Architectural Association in London ausgebildet, kehrte er 1932 in seine Heimatstadt zurück und gründete dort ein Studio für Innenarchitektur. 1937 übersiedelte er nach New York, wo er Kontakte zu der auf Radiogeräte spezialisierten Firma Detrola aufbaute und zu deren Chefdesigner er 1945 aufstieg. In diesem Zusammenhang lernte Girard Charles and Ray ­Eames kennen, drei Jahre später Eero Saarinen; Saarinen und die Eames ­waren es auch, die ihn an die Möbelfirma Herman Miller vermittelten.

Als Leiter der neugeschaffenen Textilabteilung entwarf Girard für Miller mehr als 300 Textilien, die ganz maßgeblich sein bleibendes Verdienst als Designer ­darstellen.

Anders als seine Kollegen verstand sich Alexander Girard nicht als Objekt- und Produktdesigner. Er besaß niemals ein großes Büro, sondern arbeitete die meiste Zeit als Ein-Mann-Unternehmen, unterstützt von wechselnden Assistenten.

Ausschlaggebend dafür war sein kunsthandwerkliches Verständnis der Profession, das sich besonders in seiner Liebe für Volkskunst manifes­tierte. Diese Leidenschaft hatte schon in der Kindheit begonnen und ließ ihn zu einem nachgerade obsessiven Sammler werden; letztlich war sie auch der Grund für seine Übersiedlung 1953 nach Santa Fe in New Mexico, wo die ­mexikanische Kultur sich als deutlich spürbar erwies.

Seine Sammlung, die mehr als 100 000 Objekte umfasst, wird im Museum of International Folk Art in Santa Fe aufbewahrt, wo Girard 1982 die noch heute bestehende Ausstellung »Multiple Visions: A Common Bond« einrichtete. Der übrige Nachlass gelangte 1996 – Girard war drei Jahre zuvor in Santa Fe ­gestorben – an das Vitra Design Museum nach Weil am Rhein.

Gut 20 Jahre später hat der Chefkurator des Museums, Jochen Eisenbrand, nun die lang erwartete erste große monografische Girard-Ausstellung erarbeitet. Dabei hieß es einmal wieder, mit der speziellen Raumsituation des Frank-Gehry-Baus umzugehen, der zunächst gar nicht für seine heutige Nutzung ­als Haus für Wechselsausstellungen geplant worden war. Als Vitra-CEO ­Rolf Fehlbaum 1986 dem amerikanischen Architekten den Auftrag erteilte, ­bestand die Absicht, hier die eigene Möbelsammlung für Freunde und Geschäftspartner zu präsentieren. Erst durch das Zusammentreffen Fehlbaums mit dem Möbelsammler Alexander von Vegesack, der dann zum Gründungsdirektor avancierte, entstand die Idee eines von der Firma unabhängigen Design Museums, dessen anspruchsvolle Wechselausstellungen nicht zuletzt durch weltweite Tourneen mitfinanziert werden sollten. 1989 eröffnete das Museum als erstes europäisches Werk des Architekten; obwohl nie als klassisches Museumsgebäude konzipiert, kann es doch als Nukleus all jener weit größeren Museumsbauten gelten, mit denen Gehry später reüssieren sollte.

Die Ausstellungsfläche des Vitra Design Museums ist relativ beschränkt und überdies nicht leicht zu bespielen, da drei der Haupträume – die im übrigen, auch wenn die Außenansicht des dekonstruktivistischen Baus anderes vermuten lässt – rechteckige Grundrisse besitzen – miteinander visuell verbunden sind und z. T. extreme Raumhöhen aufweisen. Von der Galerie des vierten Raums blickt man zurück in die Räume darunter, sodass die Exponate stets aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen werden. Es gilt also für Kuratoren und Gestalter einerseits, ortsspezifische Lösungen zu finden, die auf die Eigenarten des Gehry-Baus abgestimmt sind, und andererseits Ausstellungen so zu konzipieren, dass sie als Wanderausstellungen in völlig unterschiedlichen räumlichen Kontexten gezeigt werden können.

Nachdem in den früheren Jahren vornehmlich Dieter Thiel für die Ausstellungsdesigns verantwortlich gewesen war, haben die Kuratoren in der vergangenen Zeit mit wechselnden Gestaltern und Architekten zusammengearbeitet – u. a. mit dem Berliner Büro Kuehn Malvezzi. Für Jochen Eisenbrand kam eine kühle, klassische und etwas trockene Präsentation angesichts des farbenfrohen Œuvres von Girard aber nicht infrage. Daher ging der Auftrag an das Büro Raw Edges, das von den beiden Israelis Shay Alkalay und Yael Mer 2007 in London gegründet wurde, nachdem sie ihren Bachelor an der Bezalel Academy in Jerusamlem und ihren Master am Royal College of Art in der britischen Kapitale absolviert hatten. Mit steigendem internationalen Erfolg sind Raw Edges seither in verschiedenen Bereichen tätig: als ­Textil- und Produktdesigner, aber auch als Gestalter von Showrooms. Das Schneiderhandwerk ist für sie ein wichtiges Referenzfeld, und immer wieder spielt die Auseinandersetzung mit Stoff eine zentrale Rolle für sie. So entwickelten sie etwa eine Stuhlkollektion, deren Sitze aus individuell geformten, kunstharzgehärteten Filzrollen bestehen; und für den Auftritt des dänischen Herstellers Kvadrat auf der Stockholm Furniture & Light Fair Anfang 2013 realisierten sie einen Auftritt, bei dem der Raum durch gestaffelte, hängende Textilbänder gefasst wurde. Dieser Auftrag war es, der den Ausschlag zur Beauftragung durch das Vitra Design Museum gab – und damit zur ersten Realisierung einer Museumsausstellung von Raw Edges führte. In enger Abstimmung entstand ein Konzept, das von Arbeiten Girards inspiriert ist, diesen jedoch nicht allzu direkt folgt. Es handelt sich also weniger um Nachbauten von Raum- oder Ausstellungssituationen als um assoziative Adaptionen. Das wird insbesondere im zweiten Ausstellungssaal deutlich, der den Textilentwürfen gewidmet ist. Von Papprollen abgewickelt, hängen die Stoffmuster an den Wänden und lassen die ­Atmosphäre eines Textil-Verlagskontors anklingen; andere Stoffbahnen sind zeltartig über den Raum gespannt und greifen damit Elemente der Ausstellung »The Design Process at Herman Miller« ­auf, die Girard 1975 im Walker Art Center in Minneapolis eingerichtet hatte. Die Sitzmulde mit den unterschiedlich bezogenen Kisten im folgenden Raum hat ihr Vorbild in Girards Innenraumgestaltung von Eero Saarinens »Miller ­House in Columbus«, Indiana, während die Bestückung der großen, den Wänden folgenden Glasvitrinen an Objektarrangements Girards orientiert ist. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die 60 m lange Wandgestaltung, die er 1964 ­für das Verwaltungszentrum des Landmaschinenherstellers John Deere in Moline, Illinois, realisierte.

Um den Anforderungen der Wanderausstellung gerecht zu werden, lassen sich sämtliche Einbauten zerlegen. Das gilt für die im separaten ersten Raum installierten Sperrholztafeln, die mit Stahlrohren an den Wänden befestigt sind, ebenso wie für die diversen Vitrinen. Deren größte befindet sich im OG und dient der Präsentation der Volkskunst-Objekte. Mit Podesten ist innerhalb der Vitrine eine Stufenlandschaft gestaltet. Rundbogenelemente finden sich sowohl hier als auch in einem kleinen Kabinett im ersten Raum, in dem das spielerische Projekt der »Republic of Fife« vorgestellt wird, dem Entwurf eines fiktiven Staats, der Girard während seiner Jugend- und Studienjahre beschäftigte.

Neben der Materialfarbigkeit des Sperrholzes an verschiedenen Paneelen und den Vitrinen setzten die Ausstellungsgestalter auf vereinzelte Farbakzente, die sie der Palette Girards entlehnt haben. Farben haben den Designer ein Leben lang beschäftigt: bei seinen Interieurs, bei seinen Stoffentwürfen, aber auch bei einem Farbkonzept für das Geschäftszentrum der Washington Street (1964) in Columbus. Mal nutzte er eher pastellfarbene Töne, mal aggressive Farben in ungewöhnlichen Kombinationen. Für die Gestalter galt es eine Balance zu finden, um die Eigenfarbigkeit der Exponate nicht zu konkurrenzieren. Farbakzente werde daher eher zurückhaltend gesetzt, nur in dem kleinen Seitenraum, in dem es um Girards Gestaltungskonzept der Braniff Airline geht, werden seine Streifendekore zu einer farbintensiven, raumbeherrschenden Supergrafik.

Insgesamt ist es Raw Edges gelungen, für das Werk von Alexander Girard eine Szenografie zu finden, die weder unterkühlt ist noch sich gegenüber dem farbigen Kosmos des Designers in den Vordergrund drängt. Die Inszenierung wird also im besten Sinne dem Werk von Girard gerecht.

db, Fr., 2016.06.03



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03. Juni 2016Hubertus Adam
TEC21

«Eine gefundene Raumfigur»

Ein Raum, der anders gedacht und gebaut ist als alles, was wir kennen, und den wir auch anders erleben sollen – der Architekt Christian Kerez erzählt, was es von der ersten Idee bis zur Umsetzung gebraucht hat.

Ein Raum, der anders gedacht und gebaut ist als alles, was wir kennen, und den wir auch anders erleben sollen – der Architekt Christian Kerez erzählt, was es von der ersten Idee bis zur Umsetzung gebraucht hat.

TEC21: Herr Kerez, Ihr Projekt unterscheidet sich in mancherlei Hinsicht von den kuratorischen Strate­gien, die wir in den vergangenen Jahren in Venedig gesehen haben. Es ist keine der üblichen Ausstel­lungen, bei denen Fotos, Zeichnungen oder Modelle als Verweismedien auf eine Realität ausserhalb des Ausstellungsorts referieren. Im Zentrum steht ein rätselhaftes Objekt, das eine extreme Präsenz besitzt, sich aber der Einordnung entzieht. Wie kam es zu diesem Konzept?

Christian Kerez: Angefangen hat es mit der Idee, dass eine Architekturausstellung auch Architektur sein kann. Also kein indirekter Verweis auf Architektur, sondern gebaute reale Architektur selbst. Dafür gibt es zwar schon einige Beispiele – so realisierten etwa Marcel Breuer, Gregory Ain und Junzo Yoshimura nach dem Zweiten Weltkrieg 1 : 1-Häuser im Garten des MoMA in New York. Aber auch diese Bauten waren letztlich Verweise: Breuers Pavillon beispielsweise repräsentierte einen modernen, zeit­gemässen Wohnstil. Uns interessiert der Raum als Ereignis, das an einem bestimmten Zeitpunkt und an einem gewissen Ort stattfindet und genau dort seine Gültigkeit beweist. Wie könnte ein Raum aussehen, wenn man nicht auf eine Epoche, Stilistik oder Auffassung von Architektur Bezug nehmen will? Es ging also darum, einen Raum zu schaffen, der nicht auf einen Raum ausserhalb von sich selbst verweist und weder funktional noch illustrativ ist.

TEC21: Was ist die Absicht dabei?

Christian Kerez: Mich interessiert, aus der Architektur heraus etwas zu entwickeln, das stimmig und schlüssig ist. Der Raum auf der Biennale entsteht nicht von allein und ist auch nicht gefunden, sondern gesucht und erarbeitet. Die Gestalt des Raums ist durch das Verknüpfen von unterschiedlichen Prozessen entstanden und von keiner ästhetischen oder gestalterischen Prämisse bestimmt. Ich möchte eine Form auf eine abstrakte Art vermittels eines Regelwerks generieren. Architektur entsteht also nicht deduktiv – abgeleitet von dem Bild einer finalen Form, das ich im Kopf habe –, sondern induktiv: über die Logik, wie diese Form überhaupt gefunden und entwickelt werden kann.

TEC21: Gegeben war der Schweizer Pavillon in den Giardini als Ausstellungsort. Wie sind Sie konkret vorgegangen?

Christian Kerez: Die Ausgangslage bestand für mich darin, einen Raum zu schaffen, der die grösstmögliche Komplexität in sich trägt und einen nicht sofort entschlüsselbaren visuellen Charakter besitzt. Wir begannen ganz handwerklich. Irgendwelche Dinge – zufällig gefundene Materialien, Abfälle und anderes – wurden in Gips eingegossen und dann wieder herausgetrennt. Wir haben im Büro und mit den Studierenden an der ETH ein Laboratorium zur Suche von Formen gebildet. Ungefähr 300 Versuche waren nötig, um eine Form zu finden, die sich einer eindeutigen Lesart entzieht. Das Atelier glich eher einer Küche oder einem Chemielabor als einer Architekturwerkstatt. Wir haben gewissermassen Räume gezüchtet, nicht entworfen. Diese gefundene Raumfigur wurde dann mit verschiedenen Scanverfahren dreidimensional erfasst. So entstanden riesige Datenmengen, die auch ein optisches Gerät wie eine Kamera nicht erzeugen könnte. Dann erfolgte der Prozess des Skalierens und Vergrösserns. Mithilfe des so entstandenen digitalen Modells wurden anschliessend Schalungsteile 3-D-gedruckt und gefräst, die mit Beton abgegossen wurden, sodass am Ende eine Hülle oder Haut aus Beton entstanden ist, die den Raum umschreibt und als Skulptur im Raum auch von aussen abbildet.

TEC21: Es bestanden also zwei grundsätzliche Herausforderungen: die Findung des Körpers und die technische Umsetzung. Mit der Verwendung von Abfall oder Objets trouvés ging es Ihnen darum, die Rationalität auszuhebeln, um auf Formen zu kommen, die man sonst nicht finden würde. Aber am Ende steht gleichwohl eine individuelle Entscheidung: Ein Studien­modell bietet das Potenzial der Weiterentwicklung, 299 besitzen es nicht. Aufgrund welcher Kriterien war diese Wahl möglich? Was hat die Auswahl des finalen Objekts legitimiert?

Christian Kerez: Das Modell Nr. 180 war das Objekt, bei dem es die grösste Anstrengung brauchte, sich die zukünf­tige Raumwirkung zu vergegenwärtigen. Und damit verbunden war die Hoffnung, dass dieser Raum die grösste Komplexität in sich tragen würde. Letztlich ist die Ganzheitlichkeit und die Widersprüchlichkeit, also die Komplexität, auch bei meinen sonstigen architektonischen Projekten der einzige Legimitierungsgrund für den ungeheuren Aufwand, den wir mit Modellstudien betreiben.

TEC21: Im Prozess verbinden Sie das nahezu archaische Verfahren des Abgiessens mit Hightech-Methoden, was im Widerspruch steht zu sonstigen Vorgehensweisen. Entweder man arbeitet ganz bildhauerisch, oder alles wird am Computer entworfen. Aber alles am Computer zu entwerfen hätte nicht zu dem Ergebnis geführt, wenn ich Sie recht verstehe.

Christian Kerez: Man kann sagen, dass es drei Schritte gibt: den Guss des Modells, das Scannen und Skalieren, schliesslich das 3-D-Drucken, Fräsen und Abgiessen. Es gibt Projekte in der Architektur, die die neuesten Technologien des Fräsens und 3-D-Drucks verwenden, aber meistens sind dann auch die Formen digital hergestellt. Wir aber stellten am Anfang ein primitives, archaisches Gebilde her und versklavten die ­Maschinen dazu, es möglichst genau nachzubilden. Es ist in der Tat eine Kombination von zwei völlig ­widersprüchlichen architektonischen Gestaltungswegen. An der ETH gibt es ja eine ganz starke Forschungsabteilung auf dem Gebiet der Robotik und der digitalen Entwurfsmethodik, aber geringe Rückkopplung zu den Entwurfsstudios, die weiterhin ­tra­ditionell arbeiten. Uns hat der Brückenschlag inter­essiert. Wir wollten die neuen Technologien nutzen, aber ohne deren saubere Ästhetik, der man die Formensprache des Computer-Aided Architectural Design ansieht. Es gibt in unserem Objekt Wechsel zwischen flächigen und texturierten Bereichen zu eher figurativ wirkenden Zonen. Eine derartig reiche, unberechenbare Formenwelt hätte man mit allein computer­gesteuerten Prozessen nicht schaffen können.

TEC21: Eine weitere Entscheidung, die nicht auf Zufälligkeit basiert, ist auch die der Dimension und Grösse. Wie ist hier die Entscheidung gefallen?

Christian Kerez: Wir haben alle Modelle hinsichtlich der Bewegung von Personen analysiert – der Raum soll ja begehbar sein. Aber als wir begannen, etwa die Zugänglichkeit zu optimieren, merkten wir, dass wir den Raum wieder vereinfachen und vorhersehbar gestalten müssten. Das wollten wir nicht, und so haben wir uns entschieden, einen eher kleineren Raum zu bauen, der die grösstmögliche Komplexität erlaubt. Der Körper verhält sich wie ein Objekt im Raum, man kann nicht nur in ihn hineingehen, sondern auch um ihn herumgehen. Dadurch, dass der Raum so viele Verwerfungen hat, reicht eine im Durchschnitt nur 2.5 cm starke Hülle als Tragstruktur. Für viele mag das Objekt auch einen organischen oder anthropomorphen Charakter besitzen.

TEC21: Menschen neigen dazu, Dinge, die sie bislang nicht kennen, mit Bekanntem zu vergleichen. Assoziationen stellen sich ein, bestimmt auch die der Grotte.

Christian Kerez: Das ist durchaus legitim – das Schulhaus Leutschenbach hat ja auch den Übernamen «Leuchtturm» erhalten, obwohl es nicht wirklich so aussieht. Dadurch, dass immer noch genügend Störungen existieren, wird die eindeutige Wahrnehmung als Grotte relativiert, und wir erleben beim Anblick der ersten fertig betonierten Elemente eher Assoziationen an organische Substanzen als an künstliche Strukturen. Und natürlich auch durch die Tatsache, dass man zunächst um das Objekt herumgeht und dieses leicht schwebt. Vielleicht ist es eher ein Raumschiff als eine Grotte … Wir überfordern die Besucher durch Komplexität, und das bedeutet, dass das Objekt nicht klar lesbar ist. Aber natürlich ist die Architektur von Grotten oder Follies durchaus eine mögliche Assoziation; im Park der Giardini besitzt sie aufgrund des Kontexts ohnehin eine ge­wisse Plausibilität.

TEC21: In der Radikalität, mit der es sich der konventionellen Architekturproduktion verweigert, hat Ihr Objekt meinem Empfinden nach auch einen extrem provokativen Charakter. Ist das intendiert?

Christian Kerez: Das Objekt kann eigentlich nur von Interesse sein, wenn es auch Anlass gibt, darüber nachzudenken, wie in unserem Land Architektur geschaffen wird. Vieles, was vor 20 Jahren noch zum Gestaltungsspielraum des Architekten gehörte, ist heute vorbestimmt durch Energieverbrauchsanforderungen, Gestaltungsplanvorgaben und andere Vorschriften. Die Biennale sollte kein Ort sein, den Status quo unreflektiert zu feiern; sie bietet die Möglichkeit, aus der Distanz zurückzublicken auf den Ort, an dem man arbeitet. Das Objekt versucht zu zeigen, was heute machbar ist und dass es auch möglich ist, Architektur anders zu denken, anders zu bauen und anders zu erleben, als es uns die alltägliche Umwelt bietet. Wir leben in einer Zeit, in der technologisch mehr als je zuvor möglich ist. Die Front, von der wir in Venedig berichten oder besser gesagt, die wir nach Venedig bringen, ist die Front der Baubarkeit und Erfahrbarkeit der Architektur, losgelöst von einem anderen, möglicherweise gesellschaftlich begründeten Kontext ausserhalb der Architekturbiennale.

Eigentlich ist unser Objekt auch ein sehr schweizerischer Beitrag, weil es technisch anspruchsvoll und unglaublich präzise ist. Die Ausführungsqualität ist für einen temporären Ausstellungsbau einzigartig. Sie basiert auf einer Kultur der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Kunst, Ingenieurtätigkeit, digitalen Fabrikationsmethoden und Architektur, zwischen Akademie und Büro, wie sie sonst in kaum einem Land vorstellbar ist.

[Christian Kerez ist Architekt ETH und Professor für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich. Internationalen Beifall erhielten kürzlich sein Entwurf für ein Bürohochhaus im chinesischen Zhengzhou und ein grossräumiges Projekt für sozialen Wohnungsbau in Brasilien. Zu seinen wichtigen Schweizer Projekten zählt das Schulhaus Leutschenbach in Zürich (vgl. TEC21 44/2009).]

TEC21, Fr., 2016.06.03



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TEC21 2016|23 «Incidental Space» im Schweizer Pavillon

20. Mai 2016Hubertus Adam
Bauwelt

Pavillon Schweiz Christian Kerez

Als im November letzten Jahres bekannt wurde, dass Christian Kerez den Schweizer Pavillon gestalten würde, begründeten dies die Kommissare so: Kerez verknüpfe „fundamentale Überlegungen zur Architektur mit der Frage, wie ein architektonisches Konzept einen alltäglichen Beitrag leisten kann“. Der Beschäftigung mit den Fundamenten der Raumbildung wird dieser Beitrag vielleicht wie kein anderer gerecht werden – die Alltäglichkeit des gewählten Verfahrens stellt der Autor im Interview kurz vor der Eröffnung selbst in Abrede.

Als im November letzten Jahres bekannt wurde, dass Christian Kerez den Schweizer Pavillon gestalten würde, begründeten dies die Kommissare so: Kerez verknüpfe „fundamentale Überlegungen zur Architektur mit der Frage, wie ein architektonisches Konzept einen alltäglichen Beitrag leisten kann“. Der Beschäftigung mit den Fundamenten der Raumbildung wird dieser Beitrag vielleicht wie kein anderer gerecht werden – die Alltäglichkeit des gewählten Verfahrens stellt der Autor im Interview kurz vor der Eröffnung selbst in Abrede.

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Bauwelt 2016|20 Was wollen die Biennale-Macher?

08. April 2016Hubertus Adam
Bauwelt

Am Isenheimer Altar in Colmar

Mit der Neugestaltung und Ergänzung des Musée Unterlinden in Colmar gelang Herzog & de Meuron auch die Freilegung des Canal de la Sinn und damit eine Aufwertung des gesamten Umfelds.

Mit der Neugestaltung und Ergänzung des Musée Unterlinden in Colmar gelang Herzog & de Meuron auch die Freilegung des Canal de la Sinn und damit eine Aufwertung des gesamten Umfelds.

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Bauwelt 2016|14 Bewahren und Ergänzen

30. Januar 2016Hubertus Adam
TEC21

Kabinett der Abstrakten

Den dritten Bauabschnitt des Sprengel-Museums entwarfen Marcel Meili, Markus Peter Architekten als Erweiterung und Gegenpol des postmodernen Bestandsbaus. Mit ihrem ornamentalen Relief und subtilen Räumen knüpfen sie an ein vielfältiges Repertoire der Schweizer Architektur an.

Den dritten Bauabschnitt des Sprengel-Museums entwarfen Marcel Meili, Markus Peter Architekten als Erweiterung und Gegenpol des postmodernen Bestandsbaus. Mit ihrem ornamentalen Relief und subtilen Räumen knüpfen sie an ein vielfältiges Repertoire der Schweizer Architektur an.

Für den dritten Bauabschnitt des Sprengel-Museums wurde 2009/2010 ein Wettbewerb im selektiven Verfahren ausgelobt. Von den 65 eingeladenen Teams konnte das Büro Marcel Meili, Markus Peter aus Zürich den Zuschlag der Jury unter dem Vorsitz von Adolf Krischanitz für sich verbuchen. Doch so sehr das Zusammenspiel von Alt- und Neubau und die innere Organisation überzeugt hatten: Das Preisgericht äus­serte ästhetische und ­finanzielle Bedenken angesichts der ursprünglich vorgesehenen spiegelnd-facettierten Fassade.

Im Verlauf des Jahres 2012 konkretisierte sich die endgültige Gestalt des Erweiterungsbaus, nunmehr als über einem zurückgesetzten und verglasten Sockelgeschoss auskragende und durch einen Reliefraster strukturierte Box aus Sichtbeton (vgl. «Fest und verschieblich»). Auf überzeugende Weise knüpfen Marcel Meili und Markus Peter – es handelt sich um ihren ersten Museums­bau – an die Tradition der Schweizer Museums­archi­tektur der 1990er-Jahre, die damals nicht zuletzt einen bewussten Kontrapunkt zu den postmodernen Museen in Deutschland darstellte.

Postmoderne Vorgängerbauten

Während 1992 für die neue schweizerische Museumsarchitektur ein Schlüsseljahr darstellt – eröffnet wurden das Kirchner-Museum in Davos von Gigon/Guyer, die Sammlung Goetz von Herzog & de Meuron in München und die Stiftung La Congiunta in Giornico von Peter Märkli –, setzte der Boom der deutschen Museums­architektur eine Dekade früher ein. 1982 wurde Hans Holleins Museum Abteiberg in Mönchengladbach fertig­gestellt, 1984 Oswald Mathias Ungers’ Deutsches Ar­chi­tekturmuseum in Frankfurt sowie James Stirlings Erweiterung der Stuttgarter Staatsgalerie, 1986 das Museum Ludwig von Busmann & Haberer in Köln.

Den Bauten der 1980er-Jahre, die für den Sieges­zug der Postmoderne in Deutschland stehen, gingen vereinzelte Vorläufer voraus, darunter als wichtigster der 1974 eröffnete erste Bauabschnitt des Sprengel-Museums in Hannover. Bernhard Sprengel, Erbe des ortsansässigen Schokoladenkonzerns, hatte der Stadt Hannover seine auf die klassische Moderne konzentrierte Kunstsammlung geschenkt – unter der Bedingung, dass die Stadt ein neues Museum errichte.

Dafür wurde ein exponiertes Grundstück an der Nordost­ecke des Maschsees gewählt, eines im Rahmen von Arbeits­beschaffungsprogrammen 1934/1935 zu Beginn der Nazi-Diktatur angelegten künstlichen Sees, der eine der wichtigsten Freizeitattraktionen den Stadt darstellt. Während heutige Sammler gern auf die auto­nome Präsentation ihrer Kollektionen drängen, gelang es in Hannover, die exquisite Sprengel-Sammlung mit den das 20. Jahrhundert betreffenden Kunstsammlungen der Stadt und des Lands Niedersachsen zu vereinen.

Ein Museum, drei Bauabschnitte

Als Resultat eines internationalen Wettbewerbs im Jahr 1972, an dem sich auch eine Reihe Schweizer Architekten wie Otto Glaus, Theo Hotz oder André Studer beteiligte, erhielt die Arbeitsgemeinschaft von Peter und Ursula Trint und Dieter Quast den Zuschlag. Das «Kunstmuseum Hannover mit Sammlung Sprengel» wurde 1984 anlässlich des 85. Geburtstags des Mäzens in «Sprengel-Museum» umbenannt.

Mit der Verschmelzung von Innen und Aussen ist der Museumsbau eher ein Produkt der 1970er-Jahre als ein Vertreter der Postmoderne: Das Pflaster des Vorplatzes zieht sich den Hügel hinauf bis hin zum Foyer, erstreckt sich in den Skulpturenhof und findet seine Fortsetzung in der tief gelegenen Museumsstrasse, die als eigentliche Erschliessungsachse des Museums fungiert. Sie verbindet die verschiedenen Ausstellungsbereiche und schafft Orientierung in einer labyrinthisch an­mu­tenden Raumstruktur.

Die weitgehend künstlich belichteten Säle und Ka­binette, zum Teil mit Teppichboden ausgelegt, wurden 1989–1992 in einem zweiten Bauabschnitt ergänzt durch eine Sequenz von Oberlichtsälen und ein unter­irdisches Auditorium. Der 2015 fertiggestellte dritte Abschnitt war schon im ursprünglichen Wett­bewerb von 1972 vorgesehen.

Box für die Konstruktivisten

Als die Fassadengerüste des Neubaus wegfielen, stiess die Optik der Erweiterung zunächst auf Ablehnung, wie Leserbriefe in der Lokalzeitung belegen. Sichtbeton hat in Deutschland ein negativeres Image als in der Schweiz, der dunkle Farbton tat ein Übriges dazu, dass das Verdikt vom «Sarkophag» oder «Brikett» aufkam. Dabei erdet ja der dunkle Farbton das Gebäude und lässt die Längsfassade mit ihren 75 m kürzer erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist. Das durch dreierlei Wandstärken erzeugte Fassadenrelief besteht aus sich überlagernden bandartigen Strukturen. Vertikale und horizontale Elemente sind zu einer umlaufenden Textur zusammen­geführt; diese rhythmisiert die Oberfläche, gliedert sie in silbrig schimmernde und verschattete Flächen und öffnet ein vielfältiges Referenzspektrum.

Fassadenreliefs gehören zum klassischen Repertoire der Baugeschichte und finden sich in verschiedener Gestalt über Jahrtausende in diversen Kulturen. Das Relief in Hannover zeichnet sich dadurch aus, dass es weder die Tektonik noch den Kräfteverlauf zum Ausdruck bringt, sondern als freies Spiel orthogonaler Elemente verstanden werden kann. In diesem Sinn handelt es sich um ein Ornament ohne semantische Dimension, im Geist des gleichwohl viel strengeren Reliefs an der Brandwand der Schweizerischen Botschaft in Berlin von Helmut Federle.

Das Relief könnte aber auch als Hommage an den Konstruktivismus der 1920er-Jahre interpretiert werden, der im Sprengel-Museum stark vertreten ist. Eines der grandiosen Werke ist die Rekonstruktion von El Lissitzkys «Kabinett der Abstrakten», einem kon­struktivistischen, durch die Besucher zu verän­dern­den Museumsraum. (Das Originalwerk wurde 1928 im Provinzialmuseum, dem heutigen Niedersächsischen Landesmuseum, eröffnet und 1937 im Rahmen der von den Nationalsozialisten initiierten «Entartete Kunst»-­Aktion zerstört.)

«Das Kunstmuseum, das ich mir erträume»

Der Neubau überzeugt als Endpunkt und intelligent balancierter Gegenpol zum Bestandsbau von Trint/Quast. An diesen anzuschliessen stellte die eigentliche Herausforderung dar. Eine Böschung aus Pflaster­­steinen am Maschseeufer bildet den fortifikatorisch anmutenden Sockel, der für die reliefierte Box nun wie eine Fermate wirkt. Innen verzahnt ein grosser geschossübergreifender Saal, in dem ein Mobile von Calder aufgehängt werden soll, Alt- und Neubau.

Mit zusätzlichen 1400 m² ist die Gesamtausstellungsfläche des Museums auf 7000 m² gewachsen. Während sich Werkstätten und Archive in den beiden Sockelgeschossen befinden, besteht die Hauptebene aus zehn «tanzenden Räumen» – ein seit dem Wettbewerbs­entwurf unverändertes Konzept von Marcel Meili, Markus Peter für die Ausstellungsflächen. Die einzelnen Säle variieren in ihren Proportionen, sie wechseln hinsichtlich ihrer Grundrissfläche, Ausrichtung und Raumhöhe und werden stets über die Diagonale erschlossen.

Die Apparaturen hinter den Lichtdecken erlauben es, natürliches und künstliches Licht zu mischen, wobei die «Störung» durch temporäre Wolken nicht herausgefiltert wird, um den Eindruck steriler ­Artifizialität zu vermeiden. Graue Terrazzoböden, weis­se Wände und Lichtdecken tragen zum räumlichen Kontinuum der Säle bei, die jedoch aufgrund der wechselnden Gestalt jeweils ihre Eigenart besitzen und behalten. All die Unterschiede werden beim flüchtigen Besuch vielleicht gar nicht augenscheinlich und offensichtlich, aber sie beleben die Raumstruktur auf subtile Art.

Bereits mit dem Kirchner-Museum in Davos und später mit dem Museum Liner Appenzell knüpften Gigon/Guyer an die Postulate von Rémi Zaugg an, die er 1987 in «Das Kunstmuseum, das ich mir erträume, oder: Der Ort des Werkes und des Menschen» formulierte. Viele seiner Gedanken haben nun in Hannover Widerhall gefunden: Auch Marcel Meili, Markus Peter setzen auf klare, zur Konzentration einladende Säle mit Lichtdecken und weissen Wänden; auch sie vermeiden Enfiladen und Erschliessungen in der Mitte der Wände; und schliesslich öffnen auch sie das Museum visuell nach aussen, um den Ort der Kunst mit dem alltäglichen Leben zu verbinden.

An drei Stellen unterbrechen Loggien den Rundgang: Die Aussenhaut ist hier taschenartig nach innen gezogen, sodass die mit grossen Scheiben und Sitzgelegenheiten versehenen Räume auch atmosphärisch eher dem Aussenraum als dem Kunstparcours zuzuordnen sind.

Von den Stirnseiten, aber auch von der Mitte der Längsseite aus fällt der Blick auf den Maschsee mit seinen Spaziergängern und Segelbooten. Kunst und Alltag miteinander in Beziehung zu setzen war schon der Wunsch von Trint/Quast; es ist spannend und aufschlussreich festzustellen, zu welcher anderen architektonischen Lösung Marcel Meili und Markus Peter aus heutiger Perspektive gelangt sind.

TEC21, Sa., 2016.01.30



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10. Juli 2015Hubertus Adam
TEC21

Offene Wunden und feine Brüche

Umbauten sind in Warschau heikel. Im Zweiten Weltkrieg haben die deutschen Besatzer die Innenstadt systematisch zerstört; die Rekonstruktion des historischen Erbes und die politische Agenda der UdSSR prägten den Wiederaufbau. Dennoch gelang es Diener & Diener, einen überzeugenden architektonischen Beitrag zum Thema Transformation zu leisten.

Umbauten sind in Warschau heikel. Im Zweiten Weltkrieg haben die deutschen Besatzer die Innenstadt systematisch zerstört; die Rekonstruktion des historischen Erbes und die politische Agenda der UdSSR prägten den Wiederaufbau. Dennoch gelang es Diener & Diener, einen überzeugenden architektonischen Beitrag zum Thema Transformation zu leisten.

Die Galerie Foksal, 1966 gegründet und nach der gleichnamigen Strasse in der Innenstadt von Warschau benannt, galt als die wichtigste Avantgardegalerie im sozialistischen Polen. Von Künstlern und Kunstkritikern ins Leben gerufen, behielt sie ein von staatlichen Doktrinen weitgehend unabhängiges Profil. Sie knüpfte – auch personell – an die konstruktivistische Tradition der Vorkriegszeit an, verstand es aber überdies, renommierte Vertreter der westlichen Kunstszene einzuladen und damit den internationalen Austausch zu befördern. Das Ende des Sozialismus führte zur inhaltlichen wie wirtschaftlichen Neuorientierung; die Gründung der Foksal Gallery Foundation FGF im Jahr 1997 war verbunden mit der Hoffnung, das Unternehmen finanziell abzusichern. Relativ bald indes trennten sich die Wege: Die Galerie Foksal wird als staatliche Institution weitergeführt, während die FGF als private Stiftung ein eigenes Ausstellungsprogramm umsetzt (vgl. «Foksal Gallery Foundation»).

Filigran gegen Stalins Traditionalismus

2001 zog die Stiftung aus den angestammten Räumen der Galerie Foksal im Zentrum von Warschau aus und bezog eine Liegenschaft in der unmittelbaren Nachbarschaft an der ulica Górskiego 1a. Das Gebäude, zuvor Domizil des Kunsthandwerkerverbands, stammt aus dem Jahr 1963 und befindet sich auf der Rückseite der Nowy S´wiat, der Neue-Welt-Strasse. Diese zählt zum Königsweg, der historisch bedeutsamen Nord- Süd-Achse, die das Schloss von Warschau mit den Parkanlagen von Lazienski und Wilanów verbindet. Nach der Zerstörung durch die deutschen Besatzer wurden auch die Häuser des Königswegs zu Beginn der 1950er-Jahre wiederaufgebaut, wobei man sich allerdings – anders als in der Altstadt – auf die Rekonstruktion des Fassadenbilds beschränkte (vgl. «Zerstörung und Wiederaufbau in Warschau», S.22).

Biegt man von der Nowy S´wiat über eine Tordurchfahrt in die ulica Górskiego ein, prägt der Neotraditionalismus der Stalin-Ära das Bild. Die arkadengesäumten Häuser an der Querstrasse Juliana Tuwima sind eine Phantasmagorie Italiens, gesehen durch die sowjetisch gefärbte Brille polnischer Architekten. Sie gehören zur Wohnbebauung Nowy S´wiat West, die von 1949 bis 1956 von Zygmund Ste?pinski errichtet wurde, und repräsentieren den sozrealistischen Wiederaufbau der Innenstadt von Warschau, der im stadtbeherrschenden Kulturpalast von 1955 seinen Höhepunkt fand, dem nach Polen verschlagenen Abkömmling der berühmten Moskauer «Sieben Schwestern».

Wenige Jahre später errichtete der Architekt Leszek Klajnert das Haus für den Kunsthandwerkerverband auf einer Eckparzelle. Programmatisch brach es mit dem Traditionalismus der Stalin-Ära: Zwischen dem rahmenden Betonskelett, das die Ecken betonte, waren die Fassaden als filigrane Metall-Glas-Struktur ausgeführt; ein Laubengang erschloss die Ateliers des ersten Obergeschosses, ein Vitrinenvorbau akzentuierte das Erdgeschoss (Abb. links unten).

Nachdem die Stiftung das Gebäude rund zehn Jahre lang genutzt hatte, sah sie sich wegen der maroden Fassade zum Handeln gezwungen. Eine Sanierung der Curtain Wall schied angesichts des schlechten Zustands aus. So gab es nur zwei Möglichkeiten: eine vollständige Rekonstruktion der bestehenden Fassade – oder die Umhüllung mit einer neuen. Die Eigentümer entschieden sich für letztere Strategie. Einerseits wollten sie ein Zeichen setzen gegen den Rekonstruktionswahn, durch den einige Gebäude der Nachkriegsmoderne zu zeitlosen Ikonen stilisiert werden, während andere hemmungslos dem Abriss zum Opfer fallen; andererseits waren die Galerieräume mit ihren vollflächigen Fassadenverglasungen schwer zu nutzen, sodass eine andere Fassadengestaltung Vorteile bot. Aufgrund der guten Kontakte nach Basel entschied man sich, Roger Diener mit dem Umbau zu betrauen, der mit dem Centre Pasquart in Biel (2000) oder der Erweiterung des Museums für Naturkunde in Berlin (2010) bewiesen hatte, wie in einem schwierigen Kontext eine Balance zwischen zeitgenössischer Intervention und historischer Referenz gefunden werden kann.

Neue Curtain Wall mit Betonelementen

Da sich die Tragstruktur des Hauses als intakt erwies, liess sie sich problemlos für die Installation einer neuen Fassade verwenden. Diese besteht aus geschosshohen Betonelementen (vgl. Abb. links oben und S.?21). Sie übergreift die von der Stiftung genutzten Obergeschosse, während das Erdgeschoss, in dem ein Coiffeur etabliert ist, nicht berührt wurde. Die Abmessungen der einzelnen Elemente reagieren auf die Tragstruktur des Gebäudes: An der Längsseite folgen pro Geschoss auf ein schmales Element vor dem Treppenhaus zwei breite; die Stirnseite weist auf jedem Geschoss lediglich ein breites Element auf. So ergeben sich insgesamt zwölf Elemente: neun breite, die die Galerieräume umgeben, und drei schmale im Bereich des Treppenhauses.

Die Elemente aus grauem ultrahochfestem Beton basieren auf dem Gedanken des Rahmens. In sieben der zwölf Elemente sind Fenster eingelassen: Doppelfenster in den breiten, Einzelfenster in den schmalen. Die übrigen Elemente sind geschlossen, doch wird das Rahmenthema aufgegriffen, wobei die gerahmten Flächen entweder vor- oder zurückspringen. Durch den Wechsel von offenen und geschlossenen Flächen entstehen auf den drei vom Grundriss her identischen Flächen unterschiedlich gerichtete Räume mit unterschiedlicher Belichtung und unterschiedlichen Ausblicken. Die Verwaltungsbereiche im 1. OG werden von Norden her belichtet, die Ausstellungsebene im 2. OG orientiert sich lediglich nach Osten, während die Ausstellungsebene im 3. OG mit Fenstern auf der Nord- und Ostseite maximal geöffnet ist. Darüber ist eine von der abschliessenden Attika eingefasste Dachterrasse entstanden, für die das Treppenhaus aus der Entstehungszeit – samt Terrazzo und Handlauf – bruchlos fortgeführt wurde. Im Innern sind die Räume ertüchtigt worden: Die Heizung ist neu im Anhydritboden verlegt, weisse Wände und Decken samt integrierten, linear angeordneten FL-Röhren wirken unprätentiös und dem Zweck des Gebäudes angemessen.

Individualität, Differenzierung und historisches Bewusstsein

Auch wenn die Eliminierung der historischen Fassade in Warschau kontrovers diskutiert wird: Hier ist ein Umbau entstanden, der einlöst, was Luigi Snozzi in seinem bekannten Diktum gefordert hat: dass, wenn man zerstöre, man es mit Verstand tun solle. In einer städtebaulichen Umgebung, die von Rekonstruktionen historischer Gebäude, vom sozialrealistischen Traditionalismus, von Zeugen des Spätmodernismus der 1960er- und 1970er-Jahre und von neuerer Investorenarchitektur der postsozialistischen Ära bestimmt wird, hat Roger Diener ein kluges Umbauprojekt realisiert.

Es nutzt die Struktur des Ursprungsbaus von 1963 und lässt sie kenntlich werden; überdies erweist es mit seinen präfabrizierten Betonelementen dem Plattenbau vergangener Jahrzehnte seine Reverenz.

Gewiss kann man einwenden, die einstige Leichtigkeit der Fassade sei nun einer gewissen Monumentalität gewichen, die durch die Massivität der Betonplatten evoziert wird. Doch diese Veränderung ist plausibel, weil hier bewusst nicht auf Rekonstruktion oder Nachempfindung gesetzt wird, sondern auf eine Weiterentwicklung. Und der Eindruck des Monumentalen relativiert sich, wenn man genauer hinsieht:

Zielte der herkömmliche Plattenbau auf Modularität und Typisierung, so zeigt er sich hier individualisiert. Nicht nur dadurch, dass die Rahmenfüllungen unterschiedlich ausgebildet sind; es zeigt sich auch, dass die Elemente differierende Formate haben. Nicht zuletzt als Resultat des Grundrisses, der kein Rechteck, sondern ein leichtes Parallelogramm bildet, stossen die Elemente unterschiedlich aneinander: Fugen sind leicht versetzt, und an der Ecke entsteht ein von Geschoss zu Geschoss sich veränderndes Gefüge. Durch diese Irritation wird die Massivität der Platten subtil ihrer Monumentalität beraubt, wird das Statische optisch dynamisiert.

Die Abweichung von der Regel mag man als Intervention in der Stadt programmatisch verstehen. Kaum eine europäische Stadt ist derart von Gegensätzen urbanistischer Strategien der Nachkriegsdekaden geprägt wie Warschau. Die Foksal Gallery Foundation bildet ein städtebauliches Scharnier an einer Strassenachse, die zentral auf den Kulturpalast im Westen zuläuft. Im Bewusstsein von Fragment und Bruch ist ein Umbau entstanden, der die Heterogenität der urbanen Textur auf intelligente Weise sichtbar macht.

TEC21, Fr., 2015.07.10



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TEC21 2015|28-29 Warschauer Kunsträume

10. Juli 2015Hubertus Adam
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Eingepasst, nicht angepasst

Der in Basel tätige Architekt Piotr Brzoza hat für den polnischen Künstler Paweł Althamer ein Atelier entworfen, das im planlos bebauten Warschauer Vorort Wesoła ein qualitätsvolles Raumgefüge schafft. So massgeschneidert der Bau wirkt, so einfach sind die Materialien.

Der in Basel tätige Architekt Piotr Brzoza hat für den polnischen Künstler Paweł Althamer ein Atelier entworfen, das im planlos bebauten Warschauer Vorort Wesoła ein qualitätsvolles Raumgefüge schafft. So massgeschneidert der Bau wirkt, so einfach sind die Materialien.

Wesola, ganz im Osten von Warschau: Die Innenstadt ist eine halbe Stunde entfernt, zuletzt biegt das Taxi auf eine nicht asphaltierte Strasse ein. Verstreute Häuser, über die Jahre erweitert, mehr Hütten als Einfamilienhäuser; Schuppen, Wiesen, Lagerplätze, dazwischen scharren Hühner im Sand. Das Tor an der ulica Slowicza 9 ist abgeschlossen, aber um die Ecke, so gibt man mir aus der Ferne mit Zeichen zu verstehen, findet sich noch ein Seiteneingang. Von dort aus betrete ich das Grundstück, auf dem seit einiger Zeit der Künstler Pawel Althamer arbeitet. Unter einem mit einer Plane bedeckten Gestell, Verschlag eher denn Garage, steht der goldene Tourbus, den Althamer und seine Mitarbeiter für ihre Kunstaktionen nutzen.

Von der Kunststoff- zur Kunstwerkstatt

Althamer, 1967 geboren und an der Akademie der Schönen Künste in Warschau als Bildhauer ausgebildet, ist der zurzeit wohl bekannteste und international erfolgreichste Künstler Polens. Massgeblichen Einfluss auf ihn hatte sein Akademielehrer Grzegorz Kowalski, der sich selbst auf die Theorie der «offenen Form» des visionären Künstlers und Architekten Oskar Hansen beruft. Auch Althamer geht nicht von einem festen Werkbegriff aus, sondern versteht seine Kunst als Prozess, in den die Rezipienten und Nutzer einbezogen werden. So arbeitet er immer wieder mit einer Gruppe geistig und körperlich behinderter Menschen zusammen, die mit ihm Konzepte entwickeln; bekannt wurde er aber insbesondere durch das seit 2008 bestehende Projekt «Common Task», an dem eine Gruppe von Freunden und Anwohnern aus dem Warschauer Arbeiterstadtteil Bródno beteiligt sind, in dem Althamer lebt. In goldfarbener Kleidung, wie Wesen von einem anderen Stern, bildet das Team eine Gruppenskulptur und nutzt den Tourbus oder ein ebenso golden gestrichenes Flugzeug für seine internationalen Auftritte.

Da Althamer also nicht nur mit wenigen Assistenten, sondern zum Teil auch mit vielen weiteren Beteiligten zusammenarbeitet, bedurfte es eines grossen Ateliers. Die Entscheidung für den Vorort Wesola fiel, weil sein Vater hier seit mehreren Jahrzehnten das kleine Unternehmen «Almech» (von «Althamer Mechanics») führt. Der Maschinenbauingenieur begann zu Beginn der 1980er-Jahre auf dem Gelände mit der Produktion von Plastikflaschen, später stellte er Anschlussrohre für den Sanitärbereich her und entwickelte Maschinen für die Produktion von Kunststoffteilen. Altershalber hat er sich inzwischen aus dem Geschäft zurückgezogen, und so ist die Tatsache, dass sein Sohn nun ebenfalls auf dem Gelände arbeitet, nicht zuletzt von dem Wunsch beseelt, einen Ort, der mit dem Vater sterben würde, zu neuem Leben zu erwecken. Zum Teil bezieht Althamer auch die Firma seines Vaters in seine Kunstprojekte ein. So wurden Maschinen und Mitarbeiter anlässlich der Ausstellung «Almech» (2011/12) in der Deutschen Guggenheim Berlin nach Deutschland verfrachtet, wo Besucher und Freunde Polyethylenfiguren anfertigten.

Über Andrzej Przywara von der Foksal Gallery Foundation, in der Althamer immer wieder ausstellt (vgl. «Offene Wunden und feine Brüche», S.?18), gelangte er an den aus Polen stammenden und in Basel tätigen Architekten Piotr Brzoza, der vor einigen Jahren ebenfalls in einem Warschauer Vorort zusammen mit Marcin Kwietowicz ein vielbeachtetes Atelier- und Wohnhaus für die Künstlerin Monika Sosnowska errichtet hat. Auch dort ging es um die Intervention in einem dispersen Gefüge bestehender Bauten, doch die Anforderungen waren aufgrund fast konträrer künstlerischer Haltungen andere: Während Sosnowska als Konzeptkünstlerin weitgehend an Schreibtisch und Computer arbeitet, bedurfte es für den praktisch tätigen und mit wechselnden Teams arbeitenden Althamer eines Gebäudes, das als offene Werkstatt fungieren kann.

Mikrourbanistischer Eingriff

Der Neubau auf dem Gelände schliesst als winkelförmiges Volumen an die bestehende Produktionswerkstatt des Vaters an, sodass sich in der Mitte eine hofartige Situation ergibt. Diese wird zum Nukleus für einen Mikrourbanismus, der innerhalb des heterogenen Baubestands ein Zentrum schafft und auch einen Ansatzpunkt für eine spätere bauliche Erweiterung auf der Ostseite des Grundstücks – Althamer hat eine Parzelle hinzuerworben – darstellen könnte.

Die eigentliche Herausforderung für Brzoza bestand in der Positionierung und Proportionierung des Volumens auf einem eng begrenzten Baufeld. Auf der geschlossenen Westseite stösst es direkt an die Grundstücksgrenze, wobei in der Nordwestecke ein kleiner ummauerter, fast japanisch anmutender Hof für den Vater entstanden ist. Im Süden ist ein Abstand von 3 m zum Nachbargrundstück eingehalten worden; 4 m hätten es baurechtlich sein müssen, wenn Fenster vorhanden wären. Doch da die Fassade vollflächig aus transluzenten Polycarbonatelementen besteht, gilt sie als geschlossene Wand.

Die Polycarbonatplatten dienen primär der Stimmung des Innern. Dieses ist als Stahlkonstruktion erstellt, die mit zwei gegenläufigen Pultdächern versehen ist – Formen, wie sie für die Schuppen der Umgebung typisch sind. Das westliche Pultdach setzt sich im nördlichen Annex fort, der an das Werkstattgebäude anschliesst; das östliche und längere steigt so an, dass im Innern eine Empore integriert werden konnte. Von dieser aus überblickt man den grosszügigen Atelierraum, der sich über ein grosses verglastes Schiebetor zum Hof hin öffnet.

In der zweiten Ebene ist ein privaterer Rückzugsort in der Höhe entstanden, von wo aus man durch ein rahmenlos wirkendes, aufschiebbares Fenster in den Garten blicken kann. Den intimsten Bereich bildet indes die von hier aus betretbare polygonale Kapsel, die als goldener Meteorit an der Hoffassade hängt. Innen textil ausgekleidet und damit trotz der Öffnung zur Empore schallgedämmt, wurde sie von Brzozas polnischem Projektpartner Marcin Garbacki vom Warschauer Büro Projekt Praga entworfen, das sich insbesondere mit Galeriebauten auf dem in Konversion befindlichen Industrieareal Soho einen Namen gemacht hat.

Mit einfachen Materialien – Mauerwerk, Betonboden, Stahl, Polycarbonatplatten –, aber perfekten Details hat Brzoza ein überzeugendes Atelierhaus realisiert, das gleichwohl wie massgeschneidert wirkt: eingepasst in die Situation und zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Künstlers.

TEC21, Fr., 2015.07.10



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01. Juni 2015Hubertus Adam
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Der Charme des Rationalen

Das Gewerbe verlässt die Stadt, weil die Rendite von Gewerbeimmobilien für Investoren unattraktiv ist. Dass es auch anders geht, beweist das Gewerbehaus »Nœrd« in Zürich-Oerlikon. Architekten, Mieter, Totalunternehmer und ein Beratungsunternehmen der Immobilienbranche haben Hand in Hand ein Projekt realisiert, das architektonisch bemerkenswert und dabei kostengünstig ist – und sich zudem dem Suffizienz-Gedanken auf einer komplexen Ebene verpflichtet zeigt.

Das Gewerbe verlässt die Stadt, weil die Rendite von Gewerbeimmobilien für Investoren unattraktiv ist. Dass es auch anders geht, beweist das Gewerbehaus »Nœrd« in Zürich-Oerlikon. Architekten, Mieter, Totalunternehmer und ein Beratungsunternehmen der Immobilienbranche haben Hand in Hand ein Projekt realisiert, das architektonisch bemerkenswert und dabei kostengünstig ist – und sich zudem dem Suffizienz-Gedanken auf einer komplexen Ebene verpflichtet zeigt.

Das positive Image, das Zürich genießt, verdankt die Stadt schwerlich den Banken, Finanzdienstleistern und Versicherungen. Sondern denen, die heute gerne als »Kreativbranche« bezeichnet werden: den Künstlern, Architekten, Werbern, Grafikern, Modedesignern und Musikern. Viele von ihnen arbeiten als Ein-Personen-Betrieb im geteilten Atelier, einigen gelingt der große Durchbruch. Kaum eine Karriere ist bilderbuchreifer als die der Brüder Markus und Daniel Freitag, die in den frühen 90er Jahre einen »Messengerbag« aus gebrauchten Lastwagenplanen, Fahrradreifen und Autogurten erfanden. Das Accessoire, ebenso hip (urban und mobil) wie korrekt (Recycling) avancierte binnen kurzer Zeit zum globalen Trendartikel, der aufgrund der stets unterschiedlichen Planenfarben und -aufschriften dem Individualisierungswunsch entgegenkommt, ohne jedoch die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu ignorieren. 1993 hatten die Freitags ihr Unternehmen gegründet, und bald schon übersiedelten sie in das Quartier Zürich-West.

Gewerbe zurück in die Stadt

Doch die Transformation von Zürich-West forderte ihren Tribut: Für Gewerbe war einige Jahre später kein Platz mehr, und die Suche nach einer alten Industriehalle, die sich hätte umnutzen lassen, erwies sich als ergebnislos. Weil sie aber Zürich nicht verlassen wollten und der Bau einer Gewerbehalle irgendwo an der Peripherie keine Option darstellte, nahmen sie Kontakt zu Martin Hofer vom Immobilienberatungsunternehmen Wüest und Partner auf. Hofer war die treibende Kraft hinter einer Idee, die in boomenden Metropolen gemeinhin nicht als realistisch gilt: eine Gewerbehalle im städtischen Kontext neu zu errichten – und das zu Mietpreisen, welche die eines umgenutzten Altbaus nicht übersteigen.

Dass das Projekt gelang, ist das Verdienst aller Beteiligten – zu nennen sind auch Senn BPM als Totalunternehmer sowie der Architekt Beat Rothen, der in den letzten Jahren gerade im Bereich des Wohnungsbaus bewiesen hat, dass selbst in der Schweiz günstiger gebaut werden kann als gemeinhin angenommen.

Nœrd heißt das an der Binzmühlestraße entstandene »Gewerbegebäude der anderen Art«, wie es seine Erfinder nennen. Der vielleicht ein wenig allzu zeitgeistige Name ist indes nicht Resultat einer teuer bezahlten Brandingkampagne, sondern wurde von den Mietern selbst erfunden: Es handelt sich um eine Anspielung auf den Stadtteil Neu-Oerlikon, den Norden von Zürich und natürlich den Nerd. Und die abends leuchtenden, aus Neonröhren zusammengesetzten Buchstaben sind die einzige weithin sichtbare Schrift an der Fassade. Wer hier einzieht, und das sind neben den Ankermietern, der Freitag lab.ag und der Eventagentur Aroma, eine Reihe von kleinen Unternehmen, muss sich auf die Platzierung eines äußerst diskreten Schriftzugs an der Fassade beschränken. Ziel war ganz bewusst kein ikonisches, sondern ein generisches Bauwerk. Weil Freitag und Aroma bei der Planung von Anfang an dabei waren, ist das Gebäude zwar maßgeschneidert für deren Bedürfnisse – aber zugleich so flexibel, dass es problemlos an die Ansprüche weiterer und anderer Nutzer angepasst werden kann.

Flexibilität und Einfachheit

Das architektonische Konzept, das Beat Rothen entwickelte, basiert auf der Idee eines kompakten Volumens mit einer einfachen Tragstruktur. Eine 7 m hohe Fabrikationshalle mit Oberlichtern wird auf allen Seiten von Büro- und Dienstleistungstrakten umfasst, die oberhalb des Hallendachs, also in den oberen beiden Geschossen, in mäandrierender doppelter U-Form auf die gemeinsame und bepflanzte Dachterrasse ausgreifen. Das statische Konzept ist auf ein Minimum reduziert. Pro Fassade gibt es lediglich einen Erschließungskern. Die vier Kerne, die auch zugleich die Zugänge aufnehmen, dienen der Aussteifung einer modularen Struktur mit einem Stützenraster von 8,1 m. Diese Spannweite erlaubt eine möglichst flexible Bespielung der Räume und zudem die Nutzung von Flachdecken aus Beton; lediglich in bestimmten Bereichen der Halle erforderte eine doppelte Spannweite die Integration von Unterzügen.

Statik, Installation und Fassade sind unabhängig voneinander konzipiert, sodass auf die unterschiedliche Lebensdauer reagiert werden kann. Dabei wurde die Gebäudetechnik als üblicherweise kostentreibender Faktor ebenfalls minimiert. Die Schächte wurden indes so großzügig dimensioniert, dass eine bedarfsorientierte Nachrüstung für einzelne Mieter problemlos möglich ist. Vermietet werden die Flächen im Rohbau, wobei viele der Nutzer sich für die von Beat Rothen vorgesehenen Trennwandsysteme entschieden haben. Insgesamt wurde auf nachhaltige und einfache, nicht hybride und damit recycelbare Baustoffe geachtet: Bei der Struktur kam bis auf die tragenden Stützen Recyclingbeton zum Einsatz, an den als Holzkonstruktion ausgeführten Fassaden Mineralfaserplatten und Holzfenster. Metallarbeiten wurden in gelb chromatiertem Blech ausgeführt, Brüstungen in Maschendraht. Wie alles ineinandergreift, zeigt sich beispielsweise an den umlaufenden Balkonen. Sie fungieren einerseits als Außenräume und Putzbalkone für die Mieter und andererseits als Wetterschutz für die Fassaden. Alle Fenster lassen sich manuell öffnen und sind nicht mit einer Steuerungselektronik versehen. Wer ins Nœrd zieht, sollte ein Mindestmaß an Verantwortlichkeit mitbringen. Logischerweise verzichtete man auch auf eine Minergie-Zertifizierung, die hohe Investitionskosten nach sich zieht und gesellschaftliche, ökonomische und Standortfragen sowie deren Auswirkungen nicht berücksichtigt. Im Sinne des Suffizienzgedankens liegt dem Projekt ein ganzheitliches Denken zugrunde, das verschiedene Faktoren umfasst, so die Begrenzung der benötigten Nutzfläche dank einer effizienten Gebäudeorganisation, die Verwendung einfacher und recycelbarer Baumaterialien, die Minimierung der Haustechnik, nicht zuletzt aber auch die soziale Interaktion zwischen den unterschiedlichen Mietern, in der auch für externe Besucher geöffneten Dachkantine. Geheizt wird mit der Abwärme der nahen Kehrichtverbrennungsanlage, für das Waschen der Lkw-Planen wird das auf dem Dach gesammelte Regenwasser eingesetzt.

Gemeinsam planen

Gewerbebauten gelten für viele Investoren als unattraktiv, da sie aufgrund der geringeren Wertschöpfung pro Quadratmeter auch weniger Rendite abwerfen als Büro- oder Wohnimmobilien. Das führt dazu, dass das Gewerbe aus der Stadt gedrängt wird, was nicht nur zu funktionaler Entmischung führt, sondern auch zu verstärkten Pendlerbewegungen. Nœrd ist ein Glücksfall, weil es beweist, dass es auch anders geht. Neu-Oerlikon, einst als Sitz der Schwerindustrie ein fast unzugänglicher Stadtteil, wurde seit den späten 80er Jahren zu einem im Wesentlichen Wohnquartier transformiert, wobei Grundeigentümer, Stadt und Kanton im Zuge eines für die Schweiz pionierhaften »kooperativen Planungsverfahrens« zusammen agierten. Das wurde im Großen und Ganzen zum Erfolg, wenn auch die monofunktionale Ausrichtung auf das Wohnen nicht die erhoffte urbane Lebendigkeit hat entstehen lassen. Dass mit Nœrd nun auch neues Gewerbe eingezogen ist, darf als positives Zeichen gewertet werden. Entscheidend für das Zustandekommen war allerdings nicht nur das architektonische Konzept, sondern auch die Tatsache, dass die Ankermieter nach einer langfristigen Lösung suchten. Weil damit ständige Mieterwechsel, wie sie für Büroimmobilien typisch sind, nicht zu erwarten standen, wurde die Bruttorendite von 6 % auch für Investoren interessant, zumal für Büroflächen eine Sättigung in der Stadt Zürich erreicht ist. Außerdem waren die Erwerbskosten für das Land niedrig, weil der Totalunternehmer die Altlastensanierung übernahm. Was von Nœrd folglich zu lernen ist: Nichts hier ist Hexerei, es handelt sich auch nicht um revolutionäre Konzepte, die noch nirgends angewendet worden wären, sondern um intelligente Ideen, die dann zusammenfinden, wenn verschiedene Partner guten Willens sind und ein gemeinsames Ziel verfolgen.

db, Mo., 2015.06.01



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18. Januar 2015Hubertus Adam
db

Stadt in der Stadt

Der Koloss der früheren Toni-Molkerei im Züricher Industriequartier ist zu einem hybriden Gebilde umgebaut worden, das neben 100 Mietwohnungen auch eine der größten Kunsthochschulen Europas sowie Fachbereiche der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften beherbergt. Gibt sich der Bau nach außen eher hermetisch, so besteht das Konzept einer »inneren« Stadt den Praxistest und überzeugt in hohem Maße.

Der Koloss der früheren Toni-Molkerei im Züricher Industriequartier ist zu einem hybriden Gebilde umgebaut worden, das neben 100 Mietwohnungen auch eine der größten Kunsthochschulen Europas sowie Fachbereiche der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften beherbergt. Gibt sich der Bau nach außen eher hermetisch, so besteht das Konzept einer »inneren« Stadt den Praxistest und überzeugt in hohem Maße.

1977 eröffnete im Westen Zürichs die größte Molkerei Europas. Unter dem Namen »Toni« verarbeitete die Milchwirtschaft des Schweizer Mittellands hier ihren Rohstoff zu Milchpulver, Joghurt und Käse. Die Dimensionen des mit Trapezblech bekleideten Kolosses waren enorm: 1 Mio. Liter Milch pro Tag wurden verarbeitet, und auf einer spiralförmigen Rampenspindel konnten Autos bis auf das Dach fahren. Überproduktion und Zusammenlegungen mit anderen Molkereien führten allerdings sukzessive in die Krise: Zunächst wurde die Produktion nach Ostermundigen bei Bern ausgelagert, dann ging Swiss Dairy Food, wie Toni inzwischen firmierte, in Konkurs. Aus der Toni-Molkerei wurde damit das Toni-Areal – eine Industriebrache, die der neuen Entwicklung harrte. 12000 t Stahl und 75 000 m³ Beton waren in den 70er Jahren in die Struktur verbaut worden. Ein Abriss kam aus Kostengründen nicht infrage, und weil niemand zunächst eine zündende Idee hatte, was mit der quartiersbeherrschenden Hinterlassenschaft anzufangen wäre, setzte zunächst eine informelle Zwischennutzung ein: Die in der Ruine eingenisteten Clubs, Rohstofflager, Toni-Molkerei und Dachkantine zählten in den Nullerjahren zu den Fixpunkten des Züricher Partylebens. Aus der Konkursmasse von Swiss Dairy Food war die Milchkathedrale inzwischen in den Besitz der Zürcher Kantonalbank übergegangen. Der zunächst in Erwägung gezogene Umbau zu Büroflächen blieb wegen der sinkenden Nachfrage nach Büros und der dadurch fallenden Mietpreise unrealisiert. Hinzu kam, dass weitere Büroflächen im Entwicklungsgebiet Zürich-West – zumindest aus städtischer Sicht – kaum zur dringend ersehnten Belebung beigetragen hätten.

Zwei Hochschulen, ein Standort

Eine Machbarkeitsstudie ebnete den Weg zum Umbau des Toni-Kolosses in einen Hochschulstandort. Hintergrund war die zur Anpassung an den Bologna-Prozess eingeleitete Neuordnung der Züricher Fachhochschullandschaft. So entschloss man sich, die aus dem Zusammenschluss der Hochschule für Musik und Theater sowie der Hochschule für Gestaltung und Kunst hervorgegangene Züricher Hochschule der Künste (ZHdK), die bislang auf 37 Standorte verteilt war, im Toni-Areal zu konzentrieren; als Satelliten erhalten blieben lediglich das Museum für Gestaltung, das Museum Bellerive und das Theater der Künste an der Gessnerallee. Und weil Raumbedarfsanlaysen ergaben, dass im Toni-Areal noch etwas Platz blieb, kamen zwei Studiengänge der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hinzu: der für Soziale Arbeit und der für Angewandte Psychologie. Die Berührungspunkte zwischen ZHdK und ZHAW dürften nicht allzu vielgestaltig sein, aber die Stichworte Konzentration und Synergie genügten zu dieser Zeit schon, um neue Investitionen zu legitimieren, mit denen andere Investitionen zu reduzieren seien. 2005 beschloss der Züricher Regierungsrat die Hochschullösung für das Toni-Areal, und noch im gleichen Jahr wurde ein Studienauftrag unter sieben Architekturbüros lanciert. Das 2006 zur Ausführung bestimmte Projekt stammte vom ortsansässigen Büro EM2N.

Acht Jahre später, zum Wintersemester 2014, wurde der neue Kunstcampus in Betrieb genommen, was für Schweizer Verhältnisse und angesichts der Dimensionen des Projekts durchaus akzeptabel anmutet. Aber die Fertigstellung verzögerte sich trotz Baubeginn 2008 mehrfach – zunächst weil die Clubbetreiber eine längere Dauer der Zwischennutzung erwirken konnten, und später weil die Komplexität des Gesamtprojekts alle Beteiligten an ihre Grenzen brachte. Spricht man über die Beteiligten, so ist zunächst das Gesamtfinanzierungsmodell erklärungsbedürftig.

Auch wenn es sich bei der ZHdK und der ZHAW, die den Großteil des Volumens beanspruchen, um staatliche Hochschulen handelt, trat der Kanton Zürich hier nicht als Bauherr auf, sondern als Nutzer. Für die Finanzierung und Umsetzung des Projekts zeichnete die, zudem als Generalunternehmer fungierende Allreal verantwortlich, die das Toni-Areal Ende 2007 von der Züricher Kantonalbank erwarb und damit zur Eigentümerin der Liegenschaft wurde. 547 Mio. CHF will die Allreal als Baukosten investiert haben, 228 Mio. steuerte der Kanton einmalig für Innenausbau und Ausstattung bei. Zudem wurde ein Vertrag über 20 Jahre geschlossen, demzufolge der Kanton jährlich 15,2 Mio. Nettomiete an Allreal zahlt. Um das Ganze noch attraktiver zu machen, umfasste das Bauprogramm auch 100 Mietwohnungen, für die der zur Pfingstweidstrasse hin orientierte zwölfgeschossige Hochbauteil des Bestands um weitere zehn Geschosse aufgestockt wurde und nun eine Höhe von 75 m erreicht.

Von suburbanem Geist geprägtes Umfeld

Mit Mietpreisen zwischen etwa 3 000 und 7 000 CHF pro Monat wird jene Zielgruppe anvisiert, die auch die in den letzten Jahren ringsum aus dem Boden geschossenen Hochhäuser besiedeln soll: Menschen, die sich problemlos auch ein Domizil am gediegenen Zürichberg leisten könnten, aber dennoch das Industriequartier bevorzugen. Dieses besitzt zwar den von Marketingstrategen ohne Unterlass beschworenen Nimbus des Trendquartiers, doch die wirklich trendigen Clubs muss man mittlerweile suchen, die angesagten Orte finden sich in anderen Teilen der Stadt. Hochhäusern und Bauboom zum Trotz: der Westen Zürichs entlang der Ausfallachse Pfingstweidstraße ist eine öde Gegend und – trotz zum Teil herausragender Architektur wie dem Zölly-Hochhaus von Meili, Peter Architekten – ein Desaster, ja eine Bankrotterklärung der Stadtplanung. Die einzelnen Bauten wirken wie abgestellt, weil eine konsistente Freiraumplanung nicht existiert. Baulich wird mit einer Phalanx von Hochhäusern Dichte suggeriert, doch wer sich auf Bodenniveau bewegt, durchquert eine Pseudo-Parklandschaft von suburbanem Geist: Abstandsgrün allerorten, bemüht gestaltet – jeder Schrebergarten, der am Rand des Gleisfelds einst bestand, trug mehr zur Belebung des Quartiers bei als die heutige Mischung aus Teermeer und Begrünungskrampf.

Dass seit jüngstem 3 600 Studierende und 1 650 Lehrende und Mitarbeitende das Quartier bevölkern, ist gleichsam ein Geschenk für das Entwicklungsgebiet im Zürcher Westen. Doch die tatsächliche Verzahnung mit dem Umfeld lässt Fragen offen. Auf der Seite der Pfingstweidstraße führt eine Rampe hinauf zum Haupteingang und zur zentralen Halle der Hochschulen. Von der Tramhaltestelle aus kann man in das Gebäude hineinschlüpfen, doch allein mit dem Taxi vorzufahren ist unmöglich. Nicht besser ist es auf der Nordseite: Die weit ausgreifenden Rampenspindeln, die früher den Lkw dienten, wirken zwar als große Geste, sind aber durch Poller abgesperrt und harren einer Nutzung. Vielleicht gilt es, bis zum Frühjahr zu warten ...

Offen für alle(s)

Man mag über die gewellte und perforierte Streckmetallhaut, die das gesamte Gebäude umhüllt, streiten: sie soll an die industrielle Vergangenheit der Toni-Molkerei erinnern und wirkt doch mit ihrem gräulich-generischen Charakter zumindest aus der Ferne wenig anziehend, erst recht nicht nach Kunstschule und visionärem Inkubator.

Doch die Struktur des inneren Aufbaus, die EM2N schon im Wettbewerb vorgeschlagen hatten, überzeugt. Die Rampe von der Pfingstweidstraße führt hinauf zur zentralen Halle, die sich an der Schnittstelle zwischen Hoch- und Flachbau befindet und mit einer Länge von 90 m das Volumen in seiner Breite durchsticht. Es ist der zentrale Verteilerraum des Gebäudes, und, bestückt mit Holzmöbeln, auch sein informelles Foyer. Café und Mensa schließen sich an, rechts – im Sockel des Hochbaus – gelangt man zum Ausstellungsbereich des Museums für Gestaltung und zum Schaudepot, links schließen sich zwei große Auditorien an. Unterhalb der Betondecke sind die Leitungen offen geführt; der experimentelle Charakter wird hier sichtbar wie sonst nur an wenigen Stellen. Denn die bis auf jeden Quadratmeter durchgeplante Nutzung des Gebäudes lässt kaum noch erahnen, dass es sich im Grunde um ein bestehendes Tragwerk handelt. Zahlreiche Zwischendecken, die in das Betonskelett gesägten fünf Innenhöfe, die Aufstockungen und die Streckmetallhülle haben jegliche Rauheit abgeschliffen.

EM2N, die ja selbst von der niederländischen Architektur der 90er Jahre inspiriert sind, konnten unter Schweizer Bedingungen in ihrem hybriden Gebilde selbstredend nicht jenes radikale Resultat erzielen, das man sich vielleicht gewünscht hätte: eine parasitäre Eroberung einer bestehenden Struktur.

Von der Halle aus führt die »Kaskade« diagonal durch den Flachbau, in dem die ZHdK untergebracht ist. Eine breite Treppenanlage bildet gleichsam das Rückgrat, das die Ebenen miteinander verbindet und bis zum Konzertsaal hinaufführt, der sich auf dem Niveau des Dachs befindet. Da es EM2N gelungen ist, die Fluchtwege so zu organisieren, dass sie nicht über die Kaskade verlaufen, ist diese weit mehr als nur Erschließung: Sie bietet Orientierung in einem mit seinen ungefähr 1 500 Räumen tendenziell unübersichtlichen Gebäude, und sie kann überdies für Aufführungen oder Ausstellungen genutzt werden. Schließlich handelt es sich um die zum Flanieren einladende Promenade in der inneren »Stadt«, wie die Architekten ihr Gebäude verstehen. Und wie Städte aus repräsentativen Bauten und Alltäglichem bestehen, so differenzieren EM2N zwischen einfachen Räumen wie den Werkstätten und Übungsräumen, die sich unter anderem auch in den Tiefen der Kellergeschosse befinden, und den »Perlen«, also den Sondernutzungen mit öffentlicheren Funktionen: der Konzertsaal, ein mit Orgel ausgestatteter Kammermusiksaal mit schwarzen bubbleartigen Wandverkleidungen, ein Studiokino, ein Jazzclub, aber auch die › › geräumige Bibliothek, die sich im Hochbau befindet. Die ebenfalls in diesem Bauteil angesiedelten Fachbereiche der ZHAW werden durch eine kleinere Kaskade erschlossen, in diesem Fall ein Treppenschacht von piranesiartig anmutenden Charakter.

Die Stadt, die EM2N in die Tragstruktur der Toni-Molkerei integriert haben, besitzt auch Parks. In den Innenhöfen, die zur Belichtung unabdingbar sind, v. a. aber auf dem Dach des Flachbaus. Hier hat das Büro Studio Vulkan eine grandiose, fast dschungelartig wirkende Landschaft aus Pflanzkästen entstehen lassen, die – und das ist das Beste – allen offen steht, den Studierenden, den Lehrenden, aber auch den Besuchern. So wie sich auch jeder frei durch die Hallen, die Korridore und die Kaskaden bewegen kann. Mit 600 Veranstaltungen im Jahr ist irgendwo auch immer etwas los. Hier ist sie wirklich entstanden, die lebendige Stadt, die man in der Umgebung vermisst.

db, So., 2015.01.18



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db 2015|01-02 Bildungsbauten

02. November 2014Hubertus Adam
db

Aus dem Boden gewachsen

Ein maßstabsloses Volumen, gefasst von Wänden aus Stampflehm, erhebt sich am Rand von Laufen südlich von Basel. Der weltgrößte Lehmbau ist das neue Kräuterzentrum der Firma Ricola – und zugleich das siebte Gebäude, das Herzog & de Meuron über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren für das Unternehmen realisiert haben.

Ein maßstabsloses Volumen, gefasst von Wänden aus Stampflehm, erhebt sich am Rand von Laufen südlich von Basel. Der weltgrößte Lehmbau ist das neue Kräuterzentrum der Firma Ricola – und zugleich das siebte Gebäude, das Herzog & de Meuron über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren für das Unternehmen realisiert haben.

Das großformatige Foto des Ricola-Lagerhauses von 1991, das Thomas Ruff von dem vier Jahre zuvor in Laufen errichteten Gebäude von Herzog & de Meuron anfertigte, gilt nicht nur als eine Ikone der Architekturfotografie, es steht auch für den internationalen Durchbruch des Architekturbüros aus Basel. Das, mit einer Struktur aus Eternitplatten bekleidete Lagergebäude ist eines der wichtigsten Frühwerke des Büros. Bildhaft evoziert das Bauwerk das Prinzip des Lagerns, mit alltäglichen, fast banalen Elementen ist die schlichte Box umgeben, und doch überzeugt der Minimalismus durch Präzision der Details.

Zwischen dem Unternehmen Ricola und den Architekten Herzog & de Meuron besteht seit nunmehr gut 35 Jahren eine enge Beziehung, die in der Zeit wurzelt, als Jacques Herzog noch unsicher war, ob er als Künstler oder als Architekt reüssieren würde. Der Basler Galerist Diego Stampa hatte Alfred Richterich, dem Kunstsammler und Sohn des Firmengründers, Ende der 70er Jahre den jungen Herzog für eine Freiluftinstallation auf dem Firmengelände empfohlen. Das Projekt scheiterte zwar, doch 1980 ließ sich Richterich das eigene Wohnhaus von den beiden Architekten umbauen. Auf diesen privaten Bauauftrag folgten über die Jahrzehnte insgesamt sieben realisierte Projekte für die Firma Ricola – das Akronym steht für Richterich & Co. Laufen –, die 1967 aus der von Emil Richterich 1930 in Laufen gegründeten Confiseriefabrik hervorgegangen war. Auf den Umbau des Firmensitzes (1983) folgten der Umbau (1985/86) der als Keimzelle der Firma bedeutsamen Bäckerei im Ortszentrum, das Lagerhaus (1986/87) sowie das diesem benachbarte Reitergebäude (1989-91). Mit der bedruckten Fassade des für die Bedienung des europäischen Markts nötigen Vertriebsgebäudes in Mulhouse (1992/93) sowie den kristallinen Formen des Marketinggebäudes in Laufen (1998/99) konnten Herzog & de Meuron neue Themen setzen, die nicht nur Zäsuren im eigenen Werk bildeten, sondern die jüngste Architekturgeschichte prägten.

Das Gleiche gilt auch für das aktuelle und nunmehr siebte Ricola-Gebäude: das Mitte des Jahres eingeweihte Kräuterzentrum in Laufen gilt als weltgrößtes Bauwerk aus Lehm.

»Chrüterchraft«

Bergkräuter bilden die wichtigsten Ausgangsstoffe für die unterschiedlichen Produkte von Ricola, besonders die 13 Kräuter, die für den legendären, 1940 von Emil Richterich erfundenen Kräuterzucker benötigt werden. 1 400 t frischer Kräuter, für deren biologischen Anbau Vertragslandwirte in den diversen Berggebieten der Schweiz sorgen, werden jährlich in Laufen verarbeitet. Für das Trocknen, Reinigen, Schneiden und Mixen waren bisher Fremdunternehmen verantwortlich, doch im Zuge einer »vertikalen Integration« sollten diese bislang ausgelagerten Arbeitsschritte ebenfalls in die Obhut der Firma gelangen. Das hat nicht nur mit der Optimierung von Logistik und Betriebsabläufen sowie der Wachstumsstrategie des Unternehmens zu tun, sondern auch mit einem veränderten Auftritt von Ricola in der Öffentlichkeit. In einer Zeit, in der ökologische Ausrichtung und regionale Herkunft von Produkten ständig an Bedeutung gewinnen und die Omnipräsenz von künstlichen Aromastoffen in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert wird, setzt Ricola verstärkt auf die natürliche Qualität seiner Ausgangsprodukte und rückt nicht mehr den chemisch-technischen Prozess des Bonbonskochens in den Vordergrund. Folgerichtig wurde auch der überaus erfolgreiche Werbeslogan »Wer hat's erfunden?« zugunsten des für ausländische Ohren ungewöhnlichen Worts »Chrüterchraft« abgelöst, der eine gewisse Eigenartigkeit der Schweizer ebenso zum Ausdruck bringt wie das Potenzial der Bergkräuter.

Vor einigen Jahren entschied sich Ricola, die eigentliche Produktion vom Firmengelände an der Baslerstraße im Norden an die Wahlenstraße im Süden von Laufen zu verlagern. Zuvor hatten sich Pläne von Herzog & de Meuron, die bestehenden Produktionsgebäude mit einer neuen Struktur zu überbauen, als ungeeignet erwiesen. Die 2006 eingeweihte Fabrikationsanlage wurde daraufhin einem Ingenieurbüro übertragen und zeigt sich heute dementsprechend als technoid wirkendes Ensemble.

Getrennt durch eine Hecke, die bis zur Straße hin verlängert wurde, ist auf dem Nachbargrundstück das Kräuterzentrum entstanden, das von einer Magerwiese umgeben und unterirdisch mit dem Produktionsgelände verbunden ist. Gegensätzlicher könnten die beiden Anlagen, welche die zwei Pole des Produktionsprozesses verkörpern, kaum sein: Hier das Primat der architektonischen Form, dort die Dominanz der technischen Installation; hier der Bezug zu Material und Natur, dort die »Ortlosigkeit« des Ingenieurbaus.

Tradition und Trägheit

Zunächst experimentierten die Architekten mit einer partiell offenen hölzernen Struktur, mussten diesen Ansatz jedoch aufgrund von hygienischen Anforderungen aufgeben. Die Alternative war das Bauen mit Lehm, welches das Büro seit Längerem interessiert hatte und auch schon für das Schaulager in Münchenstein bei Basel vorgesehen war, dort aber schließlich verworfen werden musste. Mit dem Lehmbauspezialisten Martin Rauch aus Vorarlberg, der inzwischen als Gastprofessor an der ETH Zürich unterrichtet, fanden die Architekten einen mit dem Material erfahrenen Partner. Ton, Lehm, Mergel und Kies sind Materialien, die in der Umgebung von Laufen mit seiner Tradition der Tonindustrie (»Keramik Laufen«) zur Verfügung stehen. In einer leer stehenden Industriehalle im benachbarten Zwingen produzierte Rauch die insgesamt 666 Blöcke aus Stampflehm, welche die 45 cm dicke Hülle des neuen Kräuterzentrums bilden. Dieses zeigt sich als ein rechtwinkliges Volumen von 111 m Länge, 30 m Breite und 11 m Höhe. Die Lehmschale umfasst dabei das Stahlbetontragwerk der Halle und wird durch das leicht überstehende Dach sowie die Betonplatte am Boden vor eindringender Feuchtigkeit geschützt; Kalkschichten, die an der Fassade als horizontale Fugen sichtbar sind, beugen überdies der Erosion vor.

Die »Trägheit« der Lehmblöcke sorgt im Innern für eine konstante Luftfeuchtigkeit von 50 % – im Bereich der Lagerhalle, die die hintere Hälfte des Gebäudes beansprucht, blieb die Lehmhülle innen unbekleidet. Vorne hingegen, wo eine Beheizung – für diese wird die Abwärme der benachbarten Produktionshalle genutzt – nötig war, wurden Backsteinwände eingezogen. Hier befinden sich die Bereiche der Anlieferung und Trocknung, dahinter die Anlagen für das Schneiden und Mixen der Kräuter. Ein Versammlungsraum im OG, der mit ebenfalls von Herzog & de Meuron entworfenen Holzmöbeln und Hängeleuchten ausgestattet ist (eine Vitrine zeigt römische Tonfunde aus der nahen Umgebung), ermöglicht über einige Fenster Einblicke in die Produktionsbereiche.

Abstraktion in Lehm

Wie auch das Lagerhaus in Laufen und das Vertriebszentrum in Mulhouse bleibt das Kräuterzentrum von außen betrachtet rätselhaft – und überdies maßstablos. Die vier Rundfenster, je eines pro Fassade, stärken mit ihrem Durchmesser von 5,5 m die Abstraktheit der Fassade. Natürlich dienen sie der Belichtung des Innern, doch ist ihre Platzierung eigentlich kompositorisch innerhalb des Gesamtbilds der Fassaden begründet. Die zweigeteilten Fenster sind ohne Stützkonstruktion mit Dornen in den Stampflehmblöcken verankert und aus Gründen der Erdbebensicherheit mittig mit einem Pfeiler im Innern hinterfangen. Zu den Rundfenster treten als zusätzliche Durchbrüche der Außenwände die vereinzelten, aus Lärchenholz bestehenden Tore und Fluchttüren an den Längsseiten.

Mit der Geometrie der einfachen Box knüpfen Herzog & de Meuron an Themen an, die sie schon in ihrem Frühwerk beschäftigt haben, während die Materialisierung in Stampflehm eine seit Längerem verfolgte, nun aber erstmals umgesetzte Idee darstellt. Eine intelligente Verknüpfung von Kontinuität und Innovation zeichnet seit jeher die besten Bauten des Basler Architekturbüros aus.

db, So., 2014.11.02



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Ricola Kräuterzentrum



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db 2014|11 Material wirkt

05. Oktober 2014Hubertus Adam
db

Dauerhaftes Kassenhäuschen

Wer die legendäre Via Mala-Schlucht erleben will, muss rechtzeitig von der bequem ausgebauten Nationalstraße abfahren, welche die berüchtigte Passage unmerklich im Tunnel umfährt. Schon seit 1903 gibt es die Möglichkeit, tief in die Schlucht hinabzusteigen, erst seit Kurzem markiert ein architektonisch ambitioniertes, wenn auch winziges Besucherzentrum die Stelle. Gestalterisch weiß das Gebäude zu überzeugen, inhaltlich trägt es leider wenig dazu bei, die Geschichte des Orts zu vermitteln.

Wer die legendäre Via Mala-Schlucht erleben will, muss rechtzeitig von der bequem ausgebauten Nationalstraße abfahren, welche die berüchtigte Passage unmerklich im Tunnel umfährt. Schon seit 1903 gibt es die Möglichkeit, tief in die Schlucht hinabzusteigen, erst seit Kurzem markiert ein architektonisch ambitioniertes, wenn auch winziges Besucherzentrum die Stelle. Gestalterisch weiß das Gebäude zu überzeugen, inhaltlich trägt es leider wenig dazu bei, die Geschichte des Orts zu vermitteln.

Felszeichnungen belegen, dass schon in vorgeschichtlicher Zeit ein Saumpfad durch die Via Mala führte. Doch auch mit der von den Römern in die schroffen Felswände geschlagenen Galerie, blieb die Passage durch die 8 km lange Schlucht des Hinterrheins zwischen Thusis und Zillis über Jahrhunderte hinweg mühsam und gefährlich, sodass der Begriff vom »bösen Weg« entstand. Dieser wurde zwischen 1729 und 1739 ausgebaut und dabei mit zwei Steinbrücken des Davoser Baumeisters Christian Wildener versehen. Um 1820 erfolgte schließlich der Ausbau der sogenannten Unteren Straße, welche von Chur durch die Via Mala hindurch zum Splügen- und zum San Bernardino-Pass führt, zu einer endlich auch von Fuhrwerken nutzbaren Handelsstraße. Die Gemeinden in Schluchtnähe profitierten zunächst vom steigenden Verkehrsaufkommen Richtung Italien. Mit der Eisenbahn brach allerdings eine neue Ära an: Zwei Jahre nach der Eröffnung des Gotthardtunnels verließ der letzte Fuhrwerkskonvoi Thusis.

Wandel des Tourismus'

Als südlicher Endpunkt der Rhätischen Bahn konnte sich Thusis eine neue wirtschaftliche Basis im verstärkt einsetzenden Alpentourismus schaffen; Hotels boten den Reisenden Übernachtungsmöglichkeiten, bevor diese zur Weiterfahrt ins Engadin aufbrachen. Die kurze Blütezeit endete, als 1903 die Albulastrecke in Betrieb genommen wurde und die Besucher ohne Umsteigen von Chur bis nach St. Moritz reisen konnten. Angesichts dieser absehbaren Entwicklung beschloss der Verkehrsverein Thusis, die einst gefürchtete Schlucht, die verkehrlich kaum noch eine Bedeutung besaß, zur Attraktion zu machen. An der engsten und eindrucksvollsten Stelle, nahe der südlichen Wildener-Brücke, wurde ein Treppenabgang angelegt, der zu einer durch den Felsen getriebenen 110 m langen Halbgalerie führte, von der aus sich die durch die Schlucht tosenden Wassermassen bestaunen ließen. Die im Juni 1903 eröffnete Anlage, die von dem später durch seine Lehrgerüste für Brücken bekannten Ingenieur Richard Coray ausgeführt wurde, war anfangs kein großer Erfolg; die Übernachtungszahlen stiegen nur mäßig, und der Erste Weltkrieg ließ den Schweiz-Tourismus kollabieren.

In Schüben wurde die Via Mala-Route in späteren Jahrzehnten ausgebaut: In den 30er Jahren durch neue Straßenbrücken, in den 60ern durch eine völlig neue Trassenführung im Zuge des Ausbaus der Nationalstraßen. Eilige Reisende umfahren den Kernbereich der Via Mala seither in einem 720 m langen Tunnel.

Da der Abstieg in die Via Mala aber seit den 50er Jahren endlich die erwünschten Besucherströme anzog, musste der dortige Kiosk mehrfach erneuert werden: zunächst 1956, dann 1971. 30 Jahre später – die jährlichen Besucherzahlen hatten inzwischen die Grenze von 90 000 überschritten – sollte die Infrastruktur wieder einmal grundlegend erneuert werden. Im Wettbewerb des Jahres 2001/02 konnten sich Bearth & Deplazes mit ihrem Konzept eines turmartig aus der Schlucht herauswachsenden Gebäudes aus Stampfbeton durchsetzen. Doch die für die Realisierung nötige Summe überforderte den seit Anbeginn für die Schluchterschließung zuständigen Verkehrsverein. Das Projekt wurde verschoben, redimensioniert und am Ende ganz eingestellt. Inzwischen sanken die Eintrittszahlen und erreichten mit 50 000 Besuchern einen Tiefststand.

Haus am Abgrund

Für die lokalen Touristiker waren die alarmierenden Zahlen allemal der Grund, die Schlucht durch ein neues Besucherzentrum aufzuwerten. Mit dem in Thusis ansässigen Architekturbüro Iseppi/Kurath, das schon die nahegelegene Autobahn-Raststätte Viamala entworfen hatte, begann man gleichsam von vorne. Zunächst erarbeiteten die Architekten drei Szenarien: das einer Reduzierung, das einer Optimierung und das eines Ausbaus der bestehenden Infrastruktur. Man entschied sich schließlich für den Mittelweg, da eine Erweiterung (»Via Mala maximal«) die Balance zwischen Naturerlebnis und touristischer Nutzung gefährdet hätte. Außerdem wünschte man sich handhabbare Baukosten. Auch die schließlich nötigen 1,4 Mio. CHF ließen sich aber nur bereitstellen, weil der Verkehrsverein Thusis im Zuge der Bündner Tourismusreform in die regionale Organisation Via Mala Tourismus integriert worden war. Für den Besitz und Betrieb der Infrastrukturen in der Schlucht entstand die Viamala Infra Betriebsgenossenschaft, deren Kapitalbasis auch durch Zuwendungen seitens Institutionen, Organisationen und Privatpersonen vergrößert wurde.

Im Winterhalbjahr 2013/14 – in dieser Zeit ist der Abstieg in die Schlucht nicht möglich – wurde anstelle des unscheinbaren und wenig attraktiven Kiosks auf ungefähr derselben Fläche der Neubau realisiert – eine Art mit Satteldach versehenes Urhaus aus hellem Sichtbeton, das der in der Schweiz seit Jahren beliebten Idee monolithischen Bauens folgt. Die Längsseiten zur Schlucht und zur Straße, wo ein Langfenster Einblick gewährt und neugierig macht, sind geschlossen, die Gebäudestirnen dagegen völlig in Glas aufgelöst. Auf der Südseite schließt sich parallel zur Straße eine kleine Terrasse an, von der aus man bei Kaffee den Blick in die Schlucht genießt. Auch sie wirkt mit ihrem Geländer aus dicht gestellten Stahlstaketen und der in die Rückwand eingelassenen Sitzbank nun gestalterisch ambitionierter als ihre Vorgängerin, man könnte auch sagen: »designter«. Die massive Rückwand aus Beton geht auf eine Vorgabe der kantonalen Behörden zwecks Schutz gegen Steinschlag zurück. ›

Defizite der Vermittlung

Das neue Besucherzentrum ist Dreh- und Angelpunkt für den Schluchtbesuch. Man betritt das kleine Gebäude mit seiner Nutzfläche von etwa 40 m² auf der Nordseite, löst am Tresen ein Ticket, führt dieses in das Drehkreuz ein und verlässt das Gebäude ebenfalls auf der Nordseite durch die dem Eingang benachbarte Tür. Eine Treppe führt hinunter in das halb offene UG, das als »Ausstellungsraum« deklariert ist. Auf der einen Seite werden Zitate historischer Besucher projiziert, auf der anderen Seite ein Blick in die Schlucht – was angesichts der Tatsache, dass man gerade im Begriff ist, diese real zu erleben, überflüssig erscheint. Der Weg mündet in die ausgebesserte und erneuerte Wegführung von 1903, und man gelangt nicht nur zu der Felsengalerie, sondern über eine Erweiterung des Wegs aus den 60er Jahren samt Tunnel auch zu den in dieser Zeit entdeckten Strudeltöpfen. Zurück geht es auf der gleichen Route. Diese trennt sich unterhalb des Besucherzentrums, sodass man dieses zum Abschluss betritt, um sich am Tresen noch mit einem Getränk oder einem Plüschsteinbock als Souvenir zu versorgen, oder um sich kurz aufzuwärmen. Zum Temperieren der Luft genügt eine kleine Luftwärmepumpe, deren Auslass im Einbaumöbel integriert ist, zumal das Besucherzentrum in der wetterabhängig gefährlichen Zeit von November bis März geschlossen ist.

Ausgekleidet mit einheimischem Fichtenholz, besitzt das Gebäude eine durchaus angenehme Atmosphäre; markant sind die zylindrischen, mit rotem Stoff bespannten Hängeleuchten, die im roten Mobiliar auf der Terrasse ihre farbliche Entsprechung finden. Der Innenraum ist nicht groß, wirkt wie ein mit Regalen vollgestelltes Wohnzimmer, erinnert aber auch an die Stuben der Bündner Häuser – kleinteilige, holzbekleidete Zimmer, die mitunter in eine massive Mauerwerkshülle eingelassen sind. Allerdings sei die Frage erlaubt, ob nicht alles etwas zu urban, zu perfekt, zu gewollt wirkt; mit anderen Worten: ob das Gebäude das Erlebnis der Schlucht nicht relativiert. Denn Rauheit und Erhabenheit sehen anders aus. Aber Tourismus, so ist entgegenzuhalten, bedeutet stets Domestizierung, und schon zur Zeit der Eröffnung des Schluchtabstiegs war der Blick auf die gefahrvolle Passage romantisch verklärt. Problematischer aber ist, dass das Besucherzentrum so gut wie keine Informationen über die kulturhistorische Bedeutung der Via Mala vermittelt. »Die Schluchtbesucher werden bewusst nicht mit Informationen überhäuft, sondern subtil aufgefordert, das Szenario mit all ihren Sinnen wahrzunehmen.« Der Fokus der von einer Fachgruppe unter Hinzuziehung von Roland Scheurer, einem Fachmann für »touristische Angebotsentwicklung«, konzipierten Inszenierung, liegt auf der »archaischen Natur als Kernwert der Via Mala«. Neben dem kargen Ausstellungsraum findet man verstreut in der Schlucht einige Tafeln mit anekdotischen Geschichtchen, außerdem wird mithilfe eines Faltblatts und entsprechenden Wegmarkierungen über die Entstehung der Schlucht, die Strudeltöpfe, das Hochwasser und anderes informiert. Kulturhistorische, verkehrswirtschaftliche und touristische Aspekte bleiben weitgehend ausgeblendet. Warum sieht man nirgends die Zeichnung, die Goethe 1788 in der Schlucht angefertigt hat, oder die erste bildliche Darstellung von Jan Hackaert aus dem Jahr 1655? Warum erfährt man nichts über die verschiedenen Straßen und Brücken, die sich heute wie in einem historischen Palimpsest überlagern? Und warum gibt es keinen Hinweis auf den Kulturverein Via Mala, der u. a. zwei ganz in der Nähe befindliche ingeniöse Fußgängerbrücken von Jürg Conzett in Auftrag gegeben hat? Nur das Naturerlebnis in Szene zu setzen, ist zu wenig. Das Besucherzentrum wäre der Ort, auch die komplexeren Zusammenhänge zu erläutern. Oben Information, unten Erlebnis.

db, So., 2014.10.05



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db 2014|10 Besucherzentren

01. September 2014Hubertus Adam
db

Loggien vor Parklandschaft

Wohnen im Park: das ist, kurz gesagt, das Konzept der Reaktivierung eines ehemaligen Industrieareals in Uster, westlich von Zürich. Und so sind auch die Außenräume das entwurfsbestimmende Thema beim Wohn- bau von Morger + Dettli – sämtliche Wohnungen besitzen Loggien zu beiden Seiten. Sie bilden eine ondulierende Schicht, die das gesamte Gebäude umhüllt und es mit der umgebenden Natur verzahnt.

Wohnen im Park: das ist, kurz gesagt, das Konzept der Reaktivierung eines ehemaligen Industrieareals in Uster, westlich von Zürich. Und so sind auch die Außenräume das entwurfsbestimmende Thema beim Wohn- bau von Morger + Dettli – sämtliche Wohnungen besitzen Loggien zu beiden Seiten. Sie bilden eine ondulierende Schicht, die das gesamte Gebäude umhüllt und es mit der umgebenden Natur verzahnt.

Uster, 20 km westlich von Zürich gelegen, erlebte im 19. Jahrhundert einen boomartigen Aufschwung. Das Zürcher Oberland verwandelte sich in eine der am stärksten industrialisierten Regionen Europas. Der schon im Mittelalter genutzte Aabach, der Pfäffiker- und Greifensee verbindet, trieb die Maschinerie der Baumwollspinnereien an und avancierte im Volksmund zum »Millionenbach«. In Niederuster errichtete der Unternehmer Heinrich Kunz 1825 die erste Großspinnerei, die durch ein Kanalsystem und drei Teiche mit Wasserkraft versorgt wurde. Die erste industrielle Phase endete allerdings bereits 1912 mit dem Verkauf des Spinnereiunternehmens. 1925 übernahm die Zellweger AG das historische Werksareal. Textilmaschinen und elektrotechnische Apparaturen, v. a. Telefone, wurden nun in Uster gefertigt, und Roland Rohn, Nachfolger Salvisbergs und der wohl wichtigste Schweizer Industriearchitekt seiner Zeit, errichtete das Verwaltungsgebäude, dem ein eleganter oktogonaler, wie ein Pfahlbau im See stehender Ausstellungspavillon vorgelagert ist. 1993 fusionierte die Zellweger AG mit der auf Lüftungs- und Klimatechnik spezialisierten Zellweger Luwa AG, die zehn Jahre später aufgelöst wurde. Durch ein Management Buyout entstand das Unternehmen Uster Technologies. Dieses ist spezialisiert auf Messtechniken zur Qualitätssicherung in der Textilindustrie, die am alten Standort in Uster produziert werden. Mit der Umstrukturierung 2003 fiel auch die Entscheidung, das dem Produktionsareal benachbarte parkartige Gelände mit seinen Kanälen und Teichen sowie dem Verwaltungsgebäude von Roland Rohn aus dem Produktionsstandort auszugliedern und zu einem Wohnstandort zu entwickeln. Das bislang unzugängliche Areal wurde damit öffentlich; die postindustrielle Transformation begann.

Integration in den Park

Die Sensiblität, mit welcher der landschaftliche und architektonische Bestand bewahrt und durch neue Elemente ergänzt wurde, ist in erster Linie der Unternehmerfamilie Bechtler zu verdanken, den früheren Eigentümern der Luwa. Basis für die Umwandlung des Zellweger Parks bildet ein 2005 von EM2N erarbeiteter Gestaltungsplan. Dieser definiert einzelne Baufelder innerhalb des parkartigen, von den Landschaftsarchitekten Schweingruber Zulauf zurückhaltend ergänzten Ambientes. Die Gebäude von Gigon/Guyer und Morger Dettli konnten schon bezogen werden, während sich ein Haus mit Mietwohnungen von Herzog & de Meuron derzeit noch im Bau befindet.

Ondulierende Gebäudehülle

Das 2013 fertiggestellte Wohngebäude von Morger Dettli hat den prominentesten Standort auf dem Areal, denn es steht direkt an der Westseite des Herterweihers und damit vis-à-vis zum historischen Verwaltungsgebäude von Roland Rohn. Mit diesem hat es nicht nur seine Nord-Süd-Ausrichtung gemein, sondern auch die Idee eines hinter Stützen zurückgesetzten EGs. Weiß gestrichen, bilden die Eingangszonen der Häuser samt Serviceräumen vier polygonale Inseln, sodass die Blickbeziehung zur umgebenden Landschaft gewahrt bleibt. Im Gespräch erklärt Meinrad Morger, dass die Verbindung der gedeckten Zonen im EG mit den daran anschließenden Freiraumflächen am Weiher mit ihren Stegen, Grünraumnischen, Uferzonen und Spielplätzen ihr zentrales Anliegen war. Überhaupt haben die Architekten alles getan, um das aus vier zu einem Riegel verbundenen Häusern bestehende Volumen mit seinen sechs Wohngeschossen über Tiefgarage und Eingangszone möglichst behutsam und landschaftsverträglich in die parkartige Umgebung einzubetten. Anzuführen ist nicht nur der Versprung der einzelnen Wohnungen, der zu der charakteristischen Zackenstruktur im Grundriss führt, sondern auch die Umhüllung des Gesamtvolumens mit Loggien, die mit einem dunklen staketenartigen Stabwerk von Brüstungsgeländern versehen sind. Diese laufen um das gesamte Gebäude herum und bilden seine Hülle.

Besitzt das lang gestreckte Gebäude im Kern eine orthogonale Struktur der Grundrissorganisation, so wird die Kontur durch die umhüllten Außenräume weicher und fließender, ohne sich jedoch dem Mimikri eines organischen, natürliche Formen imitierenden Architekturverständnisses zu befleißigen. Der Rhythmus der Fassade gliedert das horizontal gegliederte Gebäude vertikal und lässt vage Assoziationen zu den Baumgruppen in der unmittelbaren Umgebung entstehen. Über dem offenen EG verleihen die Brüstungsgeländer dem Gebäude einen dunklen Ausdruck, der es mit der Vegetation verbindet und nicht grell herausstechen lässt. Frontal erlauben die schmalen Stäbe der Staketen den Durchblick, in der Schrägsicht verbinden sie sich zu wandartigen Strukturen.

Insgesamt birgt der Bau 51 zweiseitig orientierte Eigentumswohnungen mit 3,5 bis 5,5 Zimmern – von den größeren sind drei als Maisonetten ausgebildet –, wobei die Kernzonen zwischen 109 und 163 m² umfassen. Je 18 Einheiten sind als 3,5-Zimmer-Wohnungen mit 109 m² und 4,5-Zimmer-Wohnungen mit 128 m² ausgebildet. Zusätzlich besitzt jede Wohnung Loggien von unterschiedlichen Geometrien. Die eine misst jeweils 13 m², die andere variiert je nach Lage und Größe der Wohnung zwischen 7 und 12 m². Durch den Versprung der Geometrien werden prinzipiell Ausblicke in alle Richtungen ermöglicht, darüber hinaus dienen die einspringenden Ecken auch dem Windschutz für den gedeckten Außenraum, der als Fortsetzung der Gemeinschaftsbereiche (Kochen, Essen, Wohnen), z. T. auch der individuellen Schlafräume konzipiert ist. So ergeben sich großartige Ausblicke: zur einen Seite hin auf den Herterweiher und den Zellweger Park, zur anderen auf Greifensee, Forch und Pfannenstiel. Die auskragenden Balkone bestehen aus Betonplatten, die ein Gefälle nach außen aufweisen und mit punktuellen Bodenabläufen sowie Notüberläufen versehen sind. Holzroste dienen dem barrierefreien Übergang nach draußen.

In der Peripherie von Zürich

Das Wohnen in einem Park, und das in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum, ist das primäre Qualitätsmerkmal der Wohnbauten. Uster, mit gut 30 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt des Kantons Zürich, hat seine Bewohnerzahl seit 1970 um die Hälfte vergrößern können. Wesentlich dazu beigetragen hat die Einrichtung der Zürcher S-Bahn, durch welche die Vorortgemeinden binnen weniger Minuten vom Stadtzentrum aus erreichbar sind. Der Zellweger Park zählt zu den bemerkenswerten neuen Wohnprojekten – nicht zuletzt wegen seiner gelungenen Verzahnung von Architektur, Natur, Kunst und Relikten der für das Zürcher Oberland prägenden Industriegeschichte.

db, Mo., 2014.09.01



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db 2014|09 Balkone und Loggien

24. Februar 2014Hubertus Adam
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Fast alles unter einem Dach

Komplexe Sichtbezüge und eine komplizierte Leitungsführung im Untergrund erforderten eine außergewöhnliche Lösung. Das weit auskragende Dach über dem Bushof ruht auf einem einzigen Pylon, der als Ticketschalter fungiert. Städtebaulich überzeugt das Projekt, weil es die Platzfläche gliedert und wunschgemäß der Stadt einen zeichenhaften Auftritt verschafft – funktional wäre jedoch auch eine weniger aufwendige Lösung denkbar gewesen.

Komplexe Sichtbezüge und eine komplizierte Leitungsführung im Untergrund erforderten eine außergewöhnliche Lösung. Das weit auskragende Dach über dem Bushof ruht auf einem einzigen Pylon, der als Ticketschalter fungiert. Städtebaulich überzeugt das Projekt, weil es die Platzfläche gliedert und wunschgemäß der Stadt einen zeichenhaften Auftritt verschafft – funktional wäre jedoch auch eine weniger aufwendige Lösung denkbar gewesen.

Seit geraumer Zeit ist Winterthur von der Konkurrenz zum stets reicheren, mächtigeren und nur 25 km entfernten Zürich geprägt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde dies v. a. im Bereich des Eisenbahnwesens sichtbar. Privatwirtschaftliche Kreise aus Zürich trieben den Bau einer Eisenbahnlinie in die Ostschweiz voran, und so erhielt Winterthur 1855 seinen ersten Bahnhof, der die historische Altstadt zum Missfallen der lokalen Entscheidungsträger von dem westlich anschließenden Industriequartier Neuwiesen abtrennte. Die Stadt favorisierte einen Standort im Südosten und investierte in die 1875 gegründete »Nationalbahn«, die als staatliche Bahn – und unter Umgehung von Zürich – eine Schlüsselstellung im internationalen Fernverkehr einnehmen sollte. Drei Jahre später war der Traum ausgeträumt: Die von Züricher Unternehmern finanzierte Nordostbahn erwarb das Streckennetz der Nationalbahn aus der Konkursmasse zu einem Spottpreis, die Stadt Winterthur befand sich am Rande des Bankrotts, der ungeliebte Bahnhof verblieb an Ort und Stelle.

Bis heute bereitet die seinerzeit von den Ingenieuren festgelegte Trassenführung der Stadt Probleme, welche durch den 2009 bewilligten Masterplan für die Neugestaltung des Bahnhofsbereichs zumindest teilweise abgemildert werden sollen. Neben einer besseren Verflechtung der Stadtteile diesseits und jenseits der Bahnstrecke umfasst dieser Plan auch die Neugestaltung des Bahnhofplatzes Süd. Dabei handelt es sich um die zentrale Zone des Bereichs zwischen Bahnhof und Altstadt, der sich in drei Teile gliedert und Richtung Süden trichterförmig weitet: den eigentlichen Bahnhofplatz zwischen Bahnhof und Post im Norden, den Bahnhofplatz Süd sowie den Archplatz entlang der Technikumstraße. Von einer konsistenten Abfolge von Plätzen lässt sich kaum sprechen, vielmehr handelt es sich um fast ungewollte Resultate von Planungen aus verschiedenen Zeiten, welche einen großen Freiraum im Zentrum von Winterthur haben entstehen lassen. Dieser dient als zentrale Verkehrsdrehscheibe für das Stadtbussystem und wird täglich von etwa 90 000 Personen frequentiert.


Bei dem Wettbewerb von 2008, an dem 30 Architekturbüros teilnahmen, ging es primär um Optimierung – nämlich der Aufenthaltsqualität, der Fußgängerströme, des Ein- und Umsteigens in die Busse. Daneben wünschte man sich an diesem Ort aber auch architektonische Markanz oder, um es mit den Worten des Auslobungstexts zu formulieren, eine »Visitenkarte der Stadt Winterthur«.

Starkes Signet

Als ginge es darum, ein möglichst breites Spektrum von Möglichkeiten aufzuzeigen, platzierte die Jury völlig heterogene Konzepte auf den vordersten Rängen. Während atelier ww den Freiraum nahezu vollständig überdeckte, beschränkte sich Jean-Pierre Dürig auf die Errichtung einiger abstrakt anmutender Einzelkörper; die Büros dform und urbaNplus entwickelten das Konzept an Bahnhofsperrons erinnernder, lang gezogener Dächer über den Wartebereichen. Den Zuschlag aber erhielt der Entwurf des ortsansässigen Büros Stutz Bolt Partner, der unter den Preisträgerprojekten dem Wunsch nach Zeichenhaftigkeit am meisten entgegenkam. Es handelt sich dabei um ein der Platzgeometrie folgendes trapezoides Dach, das aus einer exzentrisch positionierten raumhaltigen Stütze hervorwächst und seit der Publikation der Wettbewerbsergebnisse in Winterthur als »Pilz« bekannt ist. Der 7 m hohe Pfeiler steht auf einer Mittelinsel, welche die bahnhofsseitigen von den stadtseitigen Busspuren trennt. Er bietet – gut sichtbar – zu ebener Erde Raum für die Mobilitätszentrale (Ticketverkauf und Information) von »Stadtbus Winterthur«. Von hier aus führt eine Treppe hinab in das nicht öffentlich zugängliche UG mit kleinen Aufenthaltsbereichen für die Busfahrer. Das urbanistische Kalkül der Architekten ist überzeugend: Zur Stadt hin wahrt die Pilzkrempe Abstand, um der historischen Bebauung nicht die Schau zu stehlen, während sie auf der Westseite nahe an die nicht eben als architektonische Preziose erscheinende Fassade eines Warenhauses heranrückt und im Süden der Flucht der Bahnunterführung folgt. Die Disposition wird sich vollends erklären, wenn einst die Bushaltestellen vor der Stadtkante mit ihren temporären Überdachungen aufgehoben sein werden.

Die exzentrische Anordnung des Pfeilers liegt aber auch im Wunsch begründet, die historische Achse der Marktgasse, der Hauptfußgängerzone von Winterthur, nicht zu verstellen. Daraus resultierten Auskragungen der radial angeordneten, die Dachkonstruktion bildenden Stahlträger von bis zu 34 m. Dies führte nicht nur zu dem erheblichen Materialbedarf von 300 t Stahl, sondern erzwang auch eine unterirdische Stabilisierung mit weit ausgreifenden Fundamentfingern. Erst im Verlauf der Planung zeigte sich die Komplexität des Vorhabens, denn die Tiefbauarbeiten waren durch ein dichtes Gewirr aus Leitungsführungen für Kanalisation, Elektrizität, Gas und Wasser hindurchzuführen. Dennoch nahmen sämtliche Arbeiten nur ein Jahr in Anspruch, sodass der Pilz Ende Juni 2013 eingeweiht werden konnte.

Die Oberseite ist mit Glas eingedeckt, die Unterseite, die Dachkanten und der Pfeiler wurden mit einer homogenen Struktur aus gelochtem, silbrig-grau schimmerndem Aluminiumblech umkleidet. Die Löcher verschiedener Größe lassen eine filigrane Textur entstehen, die semantisch neutral ist und keinen Rapport erkennen lässt. Tagsüber fällt Sonnenlicht durch das Dach und nimmt ihm seine lastende Monumentalität; abends sorgen in die Dachuntersicht eingelassene Downlights für eine angenehme Beleuchtung, welche die Verkehrsdrehscheibe aber nicht über Gebühr in Szene setzt. Das Metall verstehen die Architekten als Reverenz an die Schwerindustrie, die Winterthur über lange Jahrzehnte bestimmt hat.

Mit dem Pilz haben sich Architekten und Stadt für einen sinnvollen Mittelweg entschieden: Er ist kräftig genug, um mögliche Verrümpelung durch weitere Stadtmöblierung zu ertragen, verwandelt den südlichen Bahnhofsvorplatz aber nicht in einen Innenraum, wie es mit einer großflächigeren Überdachung geschehen wäre. Gewisse funktionale Einschränkungen – bei ungünstigem Regeneinfall verspricht die Ostseite nur bedingt Schutz – waren zu tolerieren, wollte man die Dachfläche nicht noch weiter vergrößern. Eine geringere Höhe kam aufgrund der Oberleitungsbusse nicht infrage. Natürlich wäre es auch einfacher gegangen, und so muss man sich am Ende fragen, ob eine kleinteilige Lösung mit einzelnen Haltestellenüberdachungen nicht doch eine sinnvolle – und kostengünstigere – Alternative gewesen wäre. Dem Wunsch nach der »Visitenkarte« entspricht der markante Pilz indes mehr.

db, Mo., 2014.02.24



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db 2014|01-02 Ankommen Abfahren

02. September 2013Hubertus Adam
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Schule mit Weitblick

Bereits 2006 hatten Wildrich Hien den Wettbewerb für die Sanierung und Erweiterung des Schulhauses Balainen in Nidau gewonnen. Doch erst im Mai 2013 konnte das Projekt, das insgesamt 12 Mio. CHF an Investitionskosten erforderte, fertiggestellt werden. Trotz diverser Sparrunden und Programmänderungen ist es den Architekten gelungen, die städtebaulichen und architektonischen Grundzüge ihres Entwurfs umzusetzen und zu einer überzeugenden Balance zwischen Alt und Neu zu finden.

Bereits 2006 hatten Wildrich Hien den Wettbewerb für die Sanierung und Erweiterung des Schulhauses Balainen in Nidau gewonnen. Doch erst im Mai 2013 konnte das Projekt, das insgesamt 12 Mio. CHF an Investitionskosten erforderte, fertiggestellt werden. Trotz diverser Sparrunden und Programmänderungen ist es den Architekten gelungen, die städtebaulichen und architektonischen Grundzüge ihres Entwurfs umzusetzen und zu einer überzeugenden Balance zwischen Alt und Neu zu finden.

Im Zentrum der Kleinstadt Nidau im Kanton Bern steht ein 1908 eingeweihtes Denkmal, das an die Väter der ersten Juragewässerkorrektion erinnert: Eine Büste auf einem Postament vor dem Obelisk zeigt den radikal-liberalen Politiker und Initiator des Unternehmens, Johann Rudolf Schneider und ein Porträtmedaillon den aus dem Bündnerland stammenden Ingenieur Richard La Nicca. Zwischen 1868 und 78 wurde La Niccas Meisterwerk umgesetzt: Die Einleitung der Aare über den Hagneckkanal in den Bielersee – und die Ableitung des Seewassers über den Nidau-Büren-Kanal in das alte Bett der Aare. In Kombination mit der Verbindung der drei Schweizer Juraseen durch weitere Kanäle und der Absenkung der Seepegel befreiten die wasserbautechnischen Maßnahmen das Seeland von den periodisch wiederkehrenden Hochwassern und erschlossen weite Flächen von bisherigem Sumpfland für die Landwirtschaft.

Bestandsbau im Heimatstil

Der idyllische Nidau-Büren-Kanal trägt heute maßgeblich zur Attraktivität der Stadt bei, die nahtlos an das nördlich gelegene Biel anschließt und mit diesem auch längst verschmolzen wäre, wenn der Große Rat des Kantons Bern das Zusammenschlussbegehren beider Städte 1920 nicht abgelehnt hätte. Südlich des Zentrums von Nidau war kurz zuvor auf einem unmittelbar an den Kanal angrenzenden Grundstück 1919 das Schulhaus Balainen entstanden. In der zivilisationskritischen Diktion der Zeit wurde der Umzug der Schule aus dem Stadtkern an den Rand in einer Festschrift des Jahres 1937 als »Erlösung« dargestellt: »Dort im Städtchen Kindergeschrei, Wagengerassel, Tramgequieke, Bähnlipfiffe und der Anblick naher Häuserfronten, hier Fernsicht über den stillen Kanal hin auf Kirschbaumgärten und Buchenwald (…).«

Die Bieler Architekten Saager & Frey hatten für ihr Gebäude am Balainenweg, das auf einen Wettbewerb des Jahres 1913/14 zurückgeht, Formen eines purifizierten Heimatstils gewählt: Ein mächtiges Walmdach überdeckt das orthogonale Volumen mit seinen drei Vollgeschossen, der Treppenturm auf der Straßenseite referiert auf den Südwestturm der Stadtbefestigung. Beherbergte das Schulhaus bis in die 60er Jahre hinein alle Schülerinnen und Schüler des Orts, so sind unterdessen zwei weitere Schulgebäude entstanden. Dann stand indes auch für das erste Schulhaus des Orts, das ca. 1960 und 1975 durch Umbauten den Bedürfnissen der Zeit angepasst worden war, eine grundlegende Sanierung und Erneuerung an, welche das seinerzeit in Chur, heute in Zürich ansässige Architekturbüro Wildrich Hien 2006 in einem offenen Wettbewerb für sich entscheiden konnte.

Skulpturaler Neubau

Die jungen Architekten, für die der Wettbewerbssieg den Auslöser für die Gründung eines eigenen Büros bedeutete, hatten vorgeschlagen, die bestehende L-förmige Konfiguration aus Schulhaus und Sporthalle durch ein skulptural wirkendes Neubauvolumen im Osten – als Abschluss des Schulhofs und als Pendant zur Sporthalle – zu einem u-förmigen, sich zum Nidau-Büren-Kanal hin öffnenden Ensemble zu erweitern. Sonderräume in den oberen und unteren Stockwerken von Alt- und Neubau sollten zu den in der Mitte angeordneten Klassenzimmern treten; die neue Sporthalle war unterirdisch unter dem Pausenhof geplant, aus der Sporthalle sollte die Aula werden. Die Jury lobte das maßstäbliche Weiterbauen der bestehenden Situation, den sorgfältigen Umgang mit dem denkmalgeschützten Ensemble und das Schaffen einer überzeugenden Gesamtanlage – und auch die »hohe Flexibilität, welche für zukünftige Nutzungsverschiebungen von Belang sein könnte«.

Diese Bemerkung war durchaus prophetisch, denn den Architekten, die ab dem Bauprojekt eine Arbeitsgemeinschaft mit Frei + Saarinen aus Zürich bildeten, oblag es in den kommenden Jahren, angesichts von Sparrunden ihr Projekt zu redimensionieren und dennoch dessen Qualitäten zu bewahren, die ja schließlich auch den Ausschlag für den Wettbewerbssieg gegeben hatten. Zu den wesentlichen Änderungen zählte zum einen der Verzicht auf die unterirdische Sporthalle. Stattdessen wurde die – nicht wettkampfkonforme – bestehende Turnhalle sanft renoviert, während die Aula als multifunktionaler Mehrzwecksaal im DG des Neubaus Unterbringung fand. Zum anderen revidierte man die Raumaufteilung grundlegend: Die Klassenzimmer verblieben im Altbau, der Neubau ist allein den Sondernutzungen vorbehalten: Handarbeitsraum und Lehrküche im EG, Musik, Naturwissenschaften und Informatik im 1. OG, Bibliothek und Multifunktionsraum unter dem Dach. Die Räume werden von in der Mitte liegenden Korridoren aus erschlossen; je zwei Sonderräume teilen sich einen dazwischen liegenden Vorbereitungsraum. Schiebetüren entlang der Außenwand erlauben es, alle Räume intern miteinander zu verbinden, und schaffen so kurze und informelle Wege.

Mit diesen Ideen konnten die Architekten wichtige Akzente hinsichtlich einer flexibleren Raumanordnung setzen; in diesem Zusammenhang ist auch der große multifunktionale Veranstaltungssaal zu sehen, der gleichermaßen für Kino-, Theater- oder Konzertveranstaltungen genutzt werden kann, aber auch durch seine Panoramascheiben beeindruckende Ausblicke auf den Baubestand und den Kanal bietet. Ein zentrales Anliegen der Architekten ist darüber hinaus die großzügige Treppenhalle, die das Volumen in seiner gesamten Ausdehnung erlebbar macht. Im Innern setzen Wildrich Hien auf helle Farben – sowie Grüntöne für die Einbaumöbel und den durchgefärbten Hartbetonboden in den öffentlichen Zonen. Der Neubau entspricht dem Minergie-Standard; die Technikzentrale im UG des Altbaus ist über den Kriechkeller unterhalb des Pausenhofs mit der Erweiterung verbunden.

Vom Eingang aus führen Treppe oder Lift empor zum Pausenbereich, welcher niveaugleich an das Hauptgeschoss (Hochparterre) des Altbaus anschließt. Das bestehende Schulhaus blieb in seiner Raumstruktur weitgehend unverändert; lediglich ein Gruppenraum pro Geschoss ist anstelle früherer Toiletten getreten. Innovative Unterrichtskonzepte, wie sie in anderen Kantonen erprobt werden, waren hier kein Thema, und so dienen die Gruppenräume auch lediglich als optionale Raumreserven, die vom Lehrpersonal bei Bedarf benutzt werden können.

Sanfte Renovierung

Mit der Reinigung der Terrazzo- und Gussasphaltböden, der Freilegung des Parketts und einer partiellen Wiederherstellung der historischen Farbigkeit inklusive der Zierleisten aus Schablonenmalerei erweisen die Architekten dem Ursprungsbau ihre Reverenz.

Ein experimentelles Raumprogramm zu realisieren, war bei der Erweiterung des Schulhauses in Nidau weder gefordert noch gewünscht. Die Qualität der architektonischen Intervention besteht daher primär im sensiblen Reagieren auf den Altbau – sowie in der städtebaulichen Lösung. So wurde der bei einem früheren Umbau geschlossene Arkadendurchgang zwischen Hauptbau und Sporthalle wieder geöffnet, um eine öffentliche Wegverbindung zwischen Stadt und Kanal zu schaffen. V. a. aber überzeugt der trotz der Planänderungen in seiner Grundvolumetrie, Maßstäblichkeit und skulpturalen Gestalt bewahrte Körper des Neubaus. Er vermittelt zwischen der Einzelbebauung des benachbarten Wohnquartiers und der starken Setzung des Schulhauses. Jede Fassade ist anders ausgebildet, das beherrschende Element ist das große Walmdach, dessen Deckung die Architekten gemeinsam mit der Firma Eternit entwickelten. Auch die markante Lukarne des Dachgeschosses lässt sich als Anspielung auf die Formensprache des Baus von 1919 verstehen. Der helle Beton des Neubaus wurde farblich an die Tonalität der Putzfassade des Altbaus angeglichen; durch Sandstrahlung erhielten die Fassaden eine unprätentiöse, aber lebendige Textur, zu der die rahmenartigen Laibungen aus schalungsglattem Beton wirkungsvoll und markant in Kontrast treten. Aus Beton bestehen schließlich auch die präfabrizierten, pilzartigen Dachstrukturen, die, zu Clusterstrukturen vereint, als Wetterdach und Sonnenschutz dienen und ebenfalls ein Element darstellen, das die Architekten über die Sparrunden retten konnten.

db, Mo., 2013.09.02



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db 2013|09 Bauen für Kinder

01. Juli 2013Hubertus Adam
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Intelligente Fortschreibung

An der Schnittstelle zwischen Altstadt und Bahnhofsvorstadt haben die Baseler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider zwei Geschäftshäuser des frühen 20. Jahrhunderts um zwei Neubauten ergänzt. Die vier zusammengeschalteten Häuser bilden nun ein Ensemble, das durch die subtile Balance zwischen Alt und Neu überzeugt. Die Architekten verwendeten Rasterfassaden – aber dies frei von jeglicher Stereotypie, wie man sie heutzutage allerorten findet.

An der Schnittstelle zwischen Altstadt und Bahnhofsvorstadt haben die Baseler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider zwei Geschäftshäuser des frühen 20. Jahrhunderts um zwei Neubauten ergänzt. Die vier zusammengeschalteten Häuser bilden nun ein Ensemble, das durch die subtile Balance zwischen Alt und Neu überzeugt. Die Architekten verwendeten Rasterfassaden – aber dies frei von jeglicher Stereotypie, wie man sie heutzutage allerorten findet.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert veränderte sich die ökonomische Struktur des Kantons Sankt Gallen radikal. War die Handstickerei seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor avanciert, so führte nun die Industrialisierung des Stickereigewerbes zu einem Urbanisierungsschub in der bisher kleinstädtisch geprägten Kantonshauptstadt. Ein neuer Bautypus entstand: das Kontorhaus, in dem die in den Industriebetrieben ringsum produzierten Textilien ausgerüstet, konfektioniert, zur Schau gestellt und zum Versand bereit gemacht wurden. Hauptabsatzmarkt der boomenden St.Galler Textilindustrie waren die Vereinigten Staaten, und so trugen viele der mächtigen Stickereihandelshäuser amerikanische Namen: Washington, Chicago, Pacific, Oceanic.

Vorbilder für die Kontorhäuser gab es in der Schweiz nicht – man orientierte sich stattdessen an den Metropolen der damaligen Welt, an Chicago und Berlin. Im Westen der Stadt, zwischen Bahnhof und dem Altstadtkern, entstand ein neues Stadtviertel, das völlig neue Maßstäbe setzte und auch heute noch – trotz massiven Eingriffen in den 60er und 70er Jahren – durch seine grandiosen, dem Späthistorismus, dem Jugendstil und der Reformarchitektur vor dem Ersten Weltkrieg zuzuweisenden Bauten zu faszinieren vermag.

Zu den wichtigsten Akteuren zählten der aus Nordböhmen stammende, vom Wiener Bauen des Fin de Siècle geprägte Wendelin Heene, die Züricher Architekten Pfleghard & Haefeli sowie die 1887 in Karlsruhe gegründete Bürogemeinschaft der Schweizer Architekten Robert Curjel und Karl Moser, die 1907 angesichts lukrativer Bauaufträge eine Zweigniederlassung in Sankt Gallen installierten. Als Bauleiter für ihre ostschweizer Aufträge fungierte der aus dem Schwarzwald stammende Architekt Anton Aberle, der sich 1909 selbstständig machte und noch im gleichen Jahr ein als Geschäftshaus für eine Buchbinderei und Kartonagefabrik am Oberen Graben errichtete – dort, wo früher der Stadtgraben das westliche Ende der Altstadt markiert hatte. Vier Jahre später vollendete Aberle ein unmittelbar benachbartes Stickereigeschäftshaus. Beide Gebäude sind unzweideutig von Curjel & Moser inspiriert und folgen dem in Sankt Gallen gängigen Typus der mit Sandstein bekleideten, in ihrer Formensprache zwischen Neubarock, Jugendstil und Reformarchitektur oszillierenden Stahlbetonskelettkonstruktionen.

Etwas zeitversetzt bedeutete der Erste Weltkrieg den Niedergang für die örtliche Textilindustrie. 1944 übernahm die kantonale Verwaltung Aberles Bauten am Oberen Graben und nutzte sie fortan für das Justiz- und Sicherheitsdepartement.

Vereinigte Vielfalt

Weil die Bausubstanz nach mehr als einem halben Jahrhundert weder den räumlichen Bedürfnissen noch den sicherheitstechnischen und energetischen Standards genügte, führte der Kanton 2003 einen Wettbewerb im einstufigen Verfahren durch, den das junge Baseler Büro jessenvollenweider für sich entscheiden konnte. Ziel war nicht nur die Sanierung des Bestands, sondern auch dessen Ergänzung durch Neubauten auf beiden Seiten. Planung und Realisierung verzögerten sich durch die Neuorganisation der Kantonalen Verwaltung verantwortlich waren. Am Ende fiel die Entscheidung, das Sicherheits- und Justizdepartement, sowie das Gesundheitsdepartement mit ihren Ämtern und Abteilungen im Gesamtkomplex unterzubringen. Einige Bereiche, so das Straßenverkehrsamt mit Zulassungsstelle, die Meldestelle und das Migrationsamt, weisen eine hohe Besucherfrequenz auf, andere – etwa die Justizbehörde – unterliegen verstärkten Sicherheitsvorkehrungen. Die Aufgabe der Architekten bestand also nicht nur darin, Alt- und Neubauten zueinander in Beziehung zu setzen, sondern auch in einer den Betriebsabläufen entsprechenden räumlichen Optimierung.

Differenziert und geöffnet

jessenvollenweider sind beide Herausforderungen auf kongeniale Weise gelungen. Die beiden ergänzenden Volumina – im Süden entlang des Oberen Grabens, im Nordwesten entlang der Frongartenstraße – ergänzen die beiden Bestandsgebäude zu einem Ensemble aus vier Bauten, die als eigenständige Elemente erkennbar bleiben, sich aber doch zusammenfügen. Gewiss tragen die Neubauten zur Verdichtung bei, klären die bisher disparate städtebauliche Situation und orientieren sich an der Idee der Blockrandbebauung. Die große Qualität der Lösung besteht aber darin, dass es hier nicht um die Verabsolutierung einer heute gerne als Allheilmittel angesehenen städtebaulichen Typologie geht. Wie selbstverständlich gelingt es jessenvollenweider, an der Gartenstraße an ein ehemaliges Bankgebäude der 70er Jahre anzuknüpfen, während sie im Nordwesten, an der Frongartenstraße, die Hofsituation öffnen und den Eingang zum Straßenverkehrsamt auf der Rückseite der Aberle-Bauten anordnen.



Auf subtile Weise, ganz unspektakulär, offenbart sich die Intelligenz der architektonischen Lösung beim genauen Hinsehen. Denn die Rigidität einer Blockrandbebauung wird hier mit verschiedenen Mitteln gemildert, ja infrage gestellt. Zum einen treffen orthogonale und gekurvte Elemente aufeinander – eine Kombination die sich nicht nur am Eckbau Oberer Graben/Frongartenstraße, sondern auch bei anderen Gebäuden aus der Boomzeit der Stickereiwirtschaft in Sankt Gallen findet; zum zweiten tragen zurückspringende Attikazonen sowie Dachterrassen zur volumetrischen Differenzierung des Gesamtensembles und zu seiner Adaptionsfähigkeit bei; zum dritten schließlich lösen die Architekten die klassische Opposition von Innen und Außen, von Repräsentations- und Hoffassade auf, indem sie den Block an der Frongartenstraße öffnen. Sukzessive verschiebt sich hierbei die Rasterstruktur des Anbaus im Hof zu einer Lochfassade.

Weiche Übergänge

Wie subtil jessenvollenweider vorgehen, zeigt sich nicht zuletzt an der differenzierten Gestaltung der Neubaufassaden im Verhältnis zu den Altbauten. Das historische Eckgebäude Oberer Graben 32 ist latent horizontal gegliedert, und so antworten sie mit dem Neubau Frongartenstraße 5 komplementär mit einer vertikal betonten Struktur. An die vertikal bestimmte Fassade Oberer Graben 36 schließt sich hingegen der horizontal gegliederte Bauteil Oberer Graben 38 an, der überdies zum Sichtbetonbau der 70er Jahre an der Gartenstraße vermittelt. Beide Neubauten sind in Mischbauweise erstellt: Die Hauptstruktur als Ortbeton, die zurücktretenden Elemente wurden vorgefertigt und vor Ort vergossen. Durch Behandlung des mit Kalkstein als Zuschlagstoff versehenen Betons mit dem Stockhammer erzielten die Architekten eine fast textile Oberflächenstruktur, welche mit den Werksteinfassaden der Altbauten ebenso harmoniert wie mit der Betonstruktur des Baus aus den 70ern und überdies als Reverenz an die St.Galler Textilindustrie verstanden werden kann. Letzteres gilt auch für die ornamentalen Details der Kastenfenster aus Baubronze, welche der rationalen Fassadenstruktur ein poetisches Element beigesellen. Das gleiche Muster findet sich auch als Serigrafie in der Schalterhalle des Straßenverkehrsamts.

Ziel im Innern war es, die vorhandene Raumdisposition zu klären und möglichst sinnvoll mit den räumlichen Ergänzungen zu verbinden. Die Räumlichkeiten des Straßenverkehrsamts sind im Hofgeschoss angeordnet, die der Ausweis- und Meldestelle im vom Oberen Graben aus zugänglichen EG. Die Besprechungsräume, welche von allen Dienststellen genutzt werden, finden sich im 1. OG. Schwarzer Terrazzo prägt die öffentlichen Bereiche, während in den Büros Linoleum verlegt wurde; Fensterrahmen, Fußleisten und Handläufe bestehen aus Eichenholz.

Das spektakulärste Element – und zugleich die größte Intervention im Rahmen der bestehenden Substanz – stellt der imposante Lichthof dar, welcher die vormals bestehenden Treppenhäuser der Gebäude Oberer Graben 32 und 36 ersetzt und den räumlichen Schwerpunkt des Ensembles bildet. Wie auch das Nebentreppenhaus Oberer Graben 38 wird das Atrium von einem Stabwerk aus gelblich glänzenden und verdrehten Stahlstäben eingefasst. Als Kunst am Bau schweben reflektierende, an Vögel erinnernde Objekte von Adrian Hostettler (Hellraum, St.Gallen) im Lichtraum. Über Reflektoren von oben natürlich belichtet, verleihen sie dem Atrium ein elegantes und poetisches Gepräge. Es avanciert zu einer schillernden Druse innerhalb eines zurückhaltenden und doch selbstbewussten Ganzen.

db, Mo., 2013.07.01



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db 2013|07-08 Dezent

02. Mai 2013Hubertus Adam
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Keine falsche Nostalgie

Von außen ist die Umnutzung einer alten Doppelstallscheune in das Ferienhaus »Casa C« im Schweizer Gebiet Goms im Wallis kaum wahrnehmbar. Innen hingegen hat ein junges Züricher Architekturbüro durch den Einbau eines neuen Holzhauses wahre Raumwunder geschaffen. Die dazu notwendigen Bauteile wurden behutsam durch die fragile Außenhülle eingebracht und bilden nun stimmungsvolle Kontraste.

Von außen ist die Umnutzung einer alten Doppelstallscheune in das Ferienhaus »Casa C« im Schweizer Gebiet Goms im Wallis kaum wahrnehmbar. Innen hingegen hat ein junges Züricher Architekturbüro durch den Einbau eines neuen Holzhauses wahre Raumwunder geschaffen. Die dazu notwendigen Bauteile wurden behutsam durch die fragile Außenhülle eingebracht und bilden nun stimmungsvolle Kontraste.

Das Goms zählt auch heute noch zu den entlegenen Regionen der Schweiz; als Hochtal im Osten des Oberwallis erstreckt es sich vom Furkamassiv bis hin zur Geländestufe von Grengiols bei Brig und wird von der Rhone durchflossen, die hier entspringt. Wird das Walliser Rhonetal von Industrie und Durchgangsverkehr geprägt, so hat das Goms seinen dörflich-abgelegenen Charakter bewahrt: Hier kommt man nicht zufällig vorbei, hierher muss man wollen, und im Winter unterbrechen immer wieder Lawinenabgänge die Verkehrsverbindungen. Dennoch ist der Tourismus für die lokale Wirtschaft inzwischen die wichtigste Einnahmequelle. Davon profitieren nicht nur die Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe, sondern auch die Bauwirtschaft – Siedlungen mit Ferienhäusern umgeben die historischen Dorfkerne, auch wenn sich die Zersiedlung in der Region noch vergleichsweise moderat darstellt.

Dies gilt auch für das 1 300 m über dem Meer liegende Reckingen, das drei Siedlungsbereiche besitzt: das Unterdorf, das weiter am Hang gelegene Oberdorf sowie den jenseits des Flusses gelegenen Dorfteil Überrotten. Beherrscht wird Reckingen von der Pfarrkirche Geburt Mariä, die als wichtigstes Barockgebäude im Oberwallis gilt. Der weiß verputzte Massivbau, der für das doch eher kleine Dorf überdimensioniert wirkt, setzt farblich und materiell einen Gegenakzent zu den das Ortsbild prägenden historischen Holzbauten, die bedingt durch Klima und Sonneneinwirkung nahezu schwarz sind.

Vier Holzhaustypen haben sich im Goms ausgebildet: das Wohnhaus, die Stallscheune, der Speicher und der zur Aufbewahrung der geschnittenen Getreidegarben dienende Stadel. Die hoch aufragenden, aufgeständerten Stadel, die ein Eindringen von Mäusen verhindern sollten, sind eine Besonderheit der Region und erinnern an ähnliche Bauten in Spanien oder Portugal. Ihre Erhaltung stellt eine Herausforderung dar, da sie als Getreidelager überflüssig geworden sind. Das Gleiche gilt für die Stallscheunen, die – urprünglich für Kühe genutzt – heute aus Tierschutzgründen allenfalls noch Ziegen beherbergen können, zumeist aber durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft ohnehin obsolet geworden sind. Die Umwandlung in Ferienhäuser stellt ein übliches Vorgehen dar. Realisiert werden derlei mal mehr, mal weniger überzeugende Umbauten üblicherweise von den ortsansässigen Holzbaufirmen, meist jedoch ohne Architekten.

Erstlingswerk

Im Falle der »Casa C«, zwischen Bahnhof und Kirche im Unterdorf gelegen, wählten die Bauherren einen anderen Weg und beauftragten die in Zürich ansässigen Architekten Marianne Julia Baumgartner und Luca Camponovo, die mit diesem Projekt ihr eigenes Büro camponovo baumgartner architekten gründen konnten. Bei dem bestehenden, z. T. maroden Gebäude, das aus der Zeit um 1890 stammt und dem Ortsbildschutz unterliegt, handelte es sich um ein relativ großes Volumen, das ursprünglich von zwei Eigentümern genutzt wurde und daher durch eine Mittelwand in zwei Hälften getrennt war. Der Aufbau folgte der für das Goms typischen Struktur: Im Sockel die niedrigen Ställe, darüber die hohen, von einem Satteldach überfangenen und innen nicht weiter untergliederten Heukammern. Diverse mit Klappen versehene Öffnungen erlaubten das Einbringen des Heus, über Treppen erreichbare Türen an der Vorderseite dienten der Entnahme. Wie im Goms üblich, fanden bei dem sogenannten Strickbau (Blockbau) nicht Rundhölzer, sondern Kanthölzer Verwendung, die auch im Bereich der Scheune kompakt und nicht – wie etwa im Engadin – auf Lücke gesetzt wurden.

camponovo baumgartner entschieden sich aus gutem Grund, nicht den materiellen Bruch zu inszenieren, sondern den Strickbau mit dem Material Holz fortzuschreiben und möglichst behutsam, aber ohne falsche Nostalgie, der neuen Nutzung anzupassen. Zunächst galt es, die vorhandene Struktur zu ertüchtigen. Unter Verwendung einiger bestehender Elemente musste das Pfettendach fast vollständig neu aufgebaut werden, es erhielt anschließend eine Deckung aus Lärchenschindeln. Überdies war die Struktur des Blockbaus zu stabilisieren. Aus Gründen des Erdbebenschutzes wurden die Fundamente mit Beton verstärkt, die gestrickten Wände im Bereich der Ställe durch Stahlbänder fixiert, die Auflager des Bodens zwischen Stall und Heuboden vergrößert und stählerne U-Profile, die nur im Sockelgeschoss sichtbar sind, in das Tragwerk integriert.

Von dem Raum für die Haustechnik abgesehen – für die Heizung sorgt eine Wärmepumpe samt zwei Erdsonden – wurde die Stallebene nicht zuletzt aus Kostengründen im Rohbau belassen und kann später nach Bedarf ausgebaut werden.

Behutsame Fortführung

Die Wohnräume befinden sich im Bereich der früheren Heuböden. Hier wurde eine zweite Ebene eingezogen und die bestehende Mittelwand an zwei Stellen durchbrochen, um eine kontinuierliche Raumabwicklung zu ermöglichen. Decken und Wände des mit Zelluloseflocken gedämmten Einbaus bestehen ausschließlich aus Birkensperrholz, wobei die Architekten Regale und Schränke an verschiedenen Orten als Einbauten integrierten; Heizkörper sind hinter mit Lochrastern versehenen Platten versteckt. Lärchenholz wurde für den Boden und die Fenster verwendet.

Eine der wichtigsten Entwurfsideen war die hinsichtlich ihrer räumlichen Wirkung überzeugende Entscheidung, den beheizten Bereich des Einbaus nicht überall an die Außenwand des Bestandsgebäudes zu führen. In beiden Haushälften springt die Wand des Einbaus an einer Stelle zurück, sodass sich im Eingangsbereich, aber auch auf der Rückseite unbeheizte, loggienartige Zwischenzonen ergeben. Diese lassen Dimension und Materialität des Bestands anschaulich werden, vergrößern aber auch optisch die zu den Zwischenzonen sich öffnenden Wohnräume.

Der spannungsreiche Wechsel zwischen Räumen unterschiedlicher Proportionen macht den besonderen Reiz des Hauses aus. Der Eingangskorridor, an den sich Gästezimmer und -bad anlagern, führt in den beide Geschosse übergreifenden Bibliotheks- und Kaminraum. Eine Stufe hinauf gelangt man über den Durchbruch in der Mittelwand in den anderen Hausteil, wo sich ein winkelförmiger Wohn- und Essraum mit vorgelagerter Loggia und die Küche anschließen. Von hier führt eine Treppe in das OG mit einem großen Flur und zwei Schlafräumen. Sie werden z. T. über Fenster zu den Innenzonen (Bibliotheksraum, Loggia) belichtet.

Die Zwischenzonen und doppelgeschossigen Räume verringern zwar die Nutzfläche des Hauses, schaffen aber eine faszinierende räumliche Qualität – durch den Wechsel von hohen und niedrigen, offenen und eher geschlossenen, kleinen und großen Raumzonen. Nicht zuletzt wird in ihnen der Kontrast zwischen dem alten Holzbestand und dem neuen Einbau erlebbar, ein Kontrast, den man auch als konsequente Fortführung des Holzbaus mit zeitgenössischen Mitteln verstehen kann.

db, Do., 2013.05.02



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db 2013|05 Vorsprung Holz

28. Februar 2013Hubertus Adam
db

Baden auf dem Berg

Mario Bottas Mineralbad soll zukünftig als wichtiger Anziehungspunkt auf dem wohl berühmtesten Aussichtsberg der Schweiz dienen. Der Anlage ist es aber nur bedingt gelungen, dem Ort atmosphärisch gerecht zu werden – ganz abgesehen davon, dass die Ausblicke aus dem Innern des Bads eher enttäuschen.

Mario Bottas Mineralbad soll zukünftig als wichtiger Anziehungspunkt auf dem wohl berühmtesten Aussichtsberg der Schweiz dienen. Der Anlage ist es aber nur bedingt gelungen, dem Ort atmosphärisch gerecht zu werden – ganz abgesehen davon, dass die Ausblicke aus dem Innern des Bads eher enttäuschen.

Seit dem 19. Jahrhundert zählt der Ausflug auf den Rigi zum klassischen Programm eines jeden Schweiz-Touristen. Zwischen Vierwaldstätter- und Zugersee gelegen, ist das Bergmassiv gut zu erreichen; zwei Zahnradbahnen sowie Luftseilbahnen garantieren die bequeme Erschließung. Der höchste Gipfel, Rigi-Kulm, ist lediglich 1 797,5 m hoch – doch dank der »Insellage«vor den eigentlichen Alpen eröffnet sich den Besuchern ein fantastisches Panorama, das die Alpen mit ihren Viertausendern ebenso einschließt wie die Voralpenregion. Kein Wunder, dass das Bergmassiv des Rigi, das in Teilen je dem Kanton Schwyz und dem Kanton Luzern zugehört, zum Inbegriff des Aussichtsbergs und nachgerade zu einem nationalen Mythos geworden ist.

Wandel des Tourismus'

Kaum irgendwo so deutlich wie hier indes offenbart sich der stete Wandel der touristischen Bedürfnisse. Heute besuchen den Rigi 600 000 Besucher jährlich, eine zunächst imponierende Zahl. Der Großteil davon sind allerdings Tagestouristen, und so gibt es lediglich 300 Gästebetten hier oben – im Gegensatz zu mehr als 2 000, welche für die Zeit um 1900 belegt sind, als die Besucher noch länger auf dem Berg weilten. Begünstigt durch die Dampfschiffverbindung über den Vierwaldstätter See nach Luzern hatte im 19. Jahrhundert der Besucherverkehr begonnen, der nach der Eröffnung der Zahnradbahnen von Vitznau (1871) und Arth-Goldau (1875) in die Höhe schnellte. Die einst bescheidenen Herbergen auf dem Rigi wurden entweder großzügig erweitert oder durch luxuriöse Grand Hotels ersetzt. Der Boom des Rigi-Tourismus' endete mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs schlagartig, und aufgrund der unsicheren Wirtschaftslage gelang es in den Folgejahrzehnten nicht, an die goldenen Vorkriegsjahre anzuknüpfen. So hatte der Schweizer Heimatschutz, dem die Luxushotels als deplatzierte, städtische Importarchitektur seit jeher ein Dorn im Auge waren, nach dem Zweiten Weltkrieg Erfolg mit seiner Initiative, den Rigi zu »bereinigen«; einzig das seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehrfach erweiterte Hotel Bellevue auf dem 1 450 m hohen Bergsattel in Rigi-Kaltbad blieb von der Abrisswelle verschont, fiel jedoch 1961 einer Brandstiftung zum Opfer. In der Hochkonjunkturphase der 60er Jahre begann in Kaltbad, das inzwischen zu einer bevorzugten Ferienhausdestination avanciert war, nach Plänen des Architekten Justus Dahinden der Neubau einer Anlage, die man heute als Resort bezeichnen würde: ein um eine Platzanlage gruppierter Hotelkomplex mit Hallenbad, Sportbereichen und Ferienwohnungen, realisiert als Sichtbetonkonstruktion unter expressiv geschichteten dunklen Eternitdächern. Die sogenannte Hostellerie auf dem Rigi kam jedoch nicht in Schwung und wurde zum dauerhaften Problemfall.

Nach weiteren vergeblichen Anläufen entwickelte schließlich 2004 der Bauunternehmer Peter Wüest in Absprache mit den Besitzern des schwächelnden Resorts ein ehrgeiziges Konzept, Rigi-Kaltbad wieder zu einem touristischen Hotspot auf dem Rigi werden zu lassen. Dieses basierte auf drei Bausteinen: der Sanierung der nunmehr als »Hotel Rigi-Kaltbad« firmierenden Resorts, einem Neubau mit Ferienwohnungen am früheren Standort des Bellevue – und einem der Öffentlichkeit zugänglichen Bergbad unter dem »Dorfplatz« der Anlage. Der Auftrag zu dem Bad wurde Mario Botta erteilt, der zu dieser Zeit gerade das Grand Hotel Tschuggen in Arosa durch die »Bergoase«, das mit 30 Mio. CHF (ca. 24 Mio.Euro) teuerste Spa der Schweiz, erweiterte.

Die Gemeinde Weggis, die den Dorfplatz erworben hatte, stellte zwar Mittel für dessen Neuanlage auf dem Botta-Bau zur Verfügung, doch durch den Rückzug des Generalunternehmers drohte auch dem neuen Projekt das Scheitern. Erst nach einer Redimensionierung sowie des Hinzuziehens der Badbetreiber von »Aqua-Spa-Resorts« und der MLG Generalunternehmung aus Bern sowie des Unternehmers Rolf Kasper bog das Vorhaben auf die Zielgerade ein.

Vom Kaltbad zum Warmbad

Baden auf Rigi-Kaltbad hat, worauf der Ortsname hindeutet, eine lange Tradition. Seit dem 16. Jahrhundert war die hinter dem Resortgebäude entspringende Quelle als heilkräftig bekannt; die erste Kapelle entstand zwischen den Felsen, die um 1800 durch einen heute noch bestehenden Neubau ersetzt wurde. Tauchten die frühen Pilger in freier Natur im kalten Wasser unter, so integrierte man im Hotelbau des frühen 19. Jahrhunderts Badezellen. An diese Tradition will das »Mineralbad & Spa Rigi-Kaltbad« anknüpfen, wobei das Quellwasser im Wellness-Zeitalter auf angenehme 35 °C erwärmt wird. Im Kern handelt es sich bei Bottas Projekt um eine boxartige, in den Hang eingelassene Stahlbeton-Struktur, die entweder vom Dorfplatz auf dem Dach über einen zylindrischen Treppenturm oder direkt vom UG des Hotels aus erschlossen wird. Von der Kasse mit Café aus gelangt man über die Garderobe und die Duschen in den Hauptraum des Bads mit einem 30 m langen Becken, das sich bergseitig in vier halbkreisförmigen Becken mit diversen Sprudelanwendungen fortsetzt. Ähnliche Raumnischen flankieren auch die östliche Stirnseite des Bads, an der das Becken knickt und sich in einem Freibereich fortsetzt. Licht erhält das Innere durch die als »Kristalle« den Dorfplatz rhythmisierenden Oberlichter sowie die vollständig verglaste und mit horizontalen Steinlamellen über einer Stahlunterkonstruktion versehene Südfassade. Eine zweite Treppenspindel führt hinunter zum Kräuterdampfbad mit Ruheraum, der – um den »Ort der Ruhe und Entspannnung« nicht zu stören – erst ab dem Alter von 16 Jahren zugänglich ist. Während sich in der Sauna der gestalterische Anspruch eher bescheiden zeigt, beeindruckt das grottenartige Kristallbad mit seinem Deckenhimmel aus blauem Stucco Lucido und dem hohen zentralen Lichtschacht.

Für Mineralbäder gibt es in der Schweiz eine unschlagbare Referenz: die Therme Vals von Peter Zumthor. Obwohl konzeptionelle Ähnlichkeiten bestehen (entlegener Ort in den Bergen, Einbettung in den Hang, Revitalisierung eines Hotekomplexes) gelingt es Botta nicht annähernd, eine vergleichbare atmosphärische Dichte zu erzielen. So wird der transitorische Bereich der Umkleiden nicht zu einem spannungsvollen Prolog, an dem man das tägliche Leben hinter sich lässt und in eine andere Welt eintaucht, sondern offenbart die Atmosphäre eines Hallenbads der 70er Jahre – wenn auch mit perfekt schweizerisch verarbeiteten Materialien. Auch die aus akustischen Gründen installierte Decke aus Ahornlamellen im Hauptgeschoss des Bads will schlicht nicht zur Monumentalität des Steins passen.

Aber auch die Verwendung des Steins selbst ist problematisch. Das neue Bad auf dem Rigi will den Stein inszenieren, so wurde das Äußere mit gespaltenen, das Innere mit polierten oder sandgestrahlten Platten bekleidet. Der Stein hat aber mit dem Ort nichts zu tun: Weil der Rigi aus dem Konglomeratgestein Nagelfluh besteht, das als Baumaterial völlig ungeeignet ist, wählte Botta einen hellgrauen Granit, der aus der Nähe von Domodossola auf der Südseite des Simplon stammt; 500 t davon wurden über die Zahnradbahn nach Rigi-Kaltbad gebracht. Das ist für ein »Felsenbad« auf dem Rigi, welches die archaische Kraft des Bergs inszenieren will, zumindest fragwürdig.

Immerhin stammt das Wasser aus der historischen Quelle – und für die Stückholzheizung wird das Holz des Bergmassivs genutzt; bei Spitzenbedarf können überdies Pellets zugeführt werden.

Und noch ein weiterer Faktor mindert den Genuss: der mangelnde Ausblick. Beeindruckende Blicke auf die Umgebung bieten sich nur vom Außenschwimmbecken oder vom Dorfplatz aus. Nach Süden wird der Ausblick ansonsten von der Rückseite des zusammen mit dem Resort entstandenen Terrassenwohnriegels verstellt, sodass man aus den Ruheräumen in einen wenig inspirierenden Zwischenbereich blickt und das Alpenpanorama mehr ahnt denn sieht.

So hinterlässt der Neubau des Bades einen ambivalenten Eindruck. Damit das Bad die Gewinnzone erreicht, werden 100 000 Besucher pro Jahr bei einem Eintrittspreis von 35 CFH (ohne Zeitbegrenzung) benötigt. Ob das gelingt, wird die Zukunft zeigen; ambitioniert ist es allemal.

db, Do., 2013.02.28



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db 2013|03 Im Bade

07. September 2012Hubertus Adam
Bauwelt

Kunst im Kreis 5

Für eine neue Tramlinie, die seit jüngstem den Zürcher Hauptbahnhof über den Escher-Wyss-Platz mit dem Bahnhof Altstetten verbindet, werben die Verkehrsbetriebe Zürich mit einem Bild des Prime Tower, der den Glassturz einer Schneekugel durchbricht.

Für eine neue Tramlinie, die seit jüngstem den Zürcher Hauptbahnhof über den Escher-Wyss-Platz mit dem Bahnhof Altstetten verbindet, werben die Verkehrsbetriebe Zürich mit einem Bild des Prime Tower, der den Glassturz einer Schneekugel durchbricht.

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Bauwelt 2012|35 Studentendörfer

04. Mai 2012Hubertus Adam
Bauwelt

Ein Visavis für die Villa Planta

Betonstrukturelemente und ein leicht turmartiges Volumen charakterisieren den siegreichen Entwurf im Wettbewerb um die Erweiterung des Bündner Kunstmuseums in Chur. Ob er gebaut werden kann, hängt auch von einer Klage des Drittplatzierten ab.

Betonstrukturelemente und ein leicht turmartiges Volumen charakterisieren den siegreichen Entwurf im Wettbewerb um die Erweiterung des Bündner Kunstmuseums in Chur. Ob er gebaut werden kann, hängt auch von einer Klage des Drittplatzierten ab.

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Bauwelt 2012|18 Verlängern und sanieren

03. April 2012Hubertus Adam
db

Angeschliffene Felsen

In einem Dorf im Züricher Unterland sind auf einem Grundstück, das für ein Haus zu groß, für zwei Häuser aber zu klein war, zwei »getrennte Doppelhälften« entstanden, wie die Architekten es nennen. Ringsum mit verzinkten und durch Ätzung modifizierten Stahlblechplatten bekleidet, ruhen die nach dem Split-Level-Prinzip organisierten Häuser als zwei autonome Volumina am Hang. Dabei ist es gelungen, die Deformation der Gebäudegestalt auch im Innern fruchtbar zu machen.

In einem Dorf im Züricher Unterland sind auf einem Grundstück, das für ein Haus zu groß, für zwei Häuser aber zu klein war, zwei »getrennte Doppelhälften« entstanden, wie die Architekten es nennen. Ringsum mit verzinkten und durch Ätzung modifizierten Stahlblechplatten bekleidet, ruhen die nach dem Split-Level-Prinzip organisierten Häuser als zwei autonome Volumina am Hang. Dabei ist es gelungen, die Deformation der Gebäudegestalt auch im Innern fruchtbar zu machen.

Eine knappe halbe Stunde benötigt die S-Bahn vom Züricher Hauptbahnhof bis Schöfflisdorf-Oberweningen. Der Zug passiert zunächst das Züricher Industriequartier, dann den Stadtteil Oerlikon und bewegt sich schließlich in westlicher Richtung in die Agglomeration. Am östlichen Rand zu Füssen der Lägern, jenes Bergzugs, der sich bis nach Baden an der Limmat erstreckt, liegt Oberweningen. Der Ort ist in seinem Kern ein von Fachwerkhäusern geprägtes Bauerndorf, das seit langer Zeit durch den suburbanen Druck der nahe gelegenen Metropole sein Gesicht verändert hat und dabei mit dem Nachbardorf Schöfflisdorf untrennbar zusammengewachsen ist.

Knapp außerhalb der Dorfkernzone, und damit nicht den dort gültigen Restriktionen wie Dachüberstand, Holzsichtigkeit etc. unterworfen, war eine Parzelle frei geblieben, die eine problematische Größe besaß. Für ein Einfamilienhaus war sie zu groß, für ein klassisches Doppelhaus indes zu klein. Es hätte zu einem Ungleichgewicht zwischen den beiden Haushälften geführt, gleich ob bei einem nach Norden und Süden oder einem nach Osten und Westen ausgerichteten Gebäude.

Vom Orthogonalen zum Polygonalen

Der Bauunternehmer, dem das Grundstück gehörte, beauftragte daher das im nahen Regensberg ansässige und ihm aufgrund mehrerer gemeinsamer Projekte bekannte Architekturbüro L3P damit, Alternativen zum simplen Konzept eines Doppelhauses zu erarbeiten. Ausgangspunkt für Boris Egli von L3P war ein mehr oder minder quadratisches Gebäude mit West-Ost ausgerichtetem Satteldach. Zunächst teilte er das Volumen in der Mitte und verschob die eine Hälfte leicht nach Norden, die andere nach Süden. Um die Belichtungssituation für die beiden extrem nahe beieinanderstehenden Häuser weiter zu verbessern, wurden die Seiten angeschrägt, sodass sich keilförmige Zwischenräume ergaben. Die letzte Operation stellte die Eliminierung der Dachfirste zugunsten abgeschrägter Flächen dar, die man als geometrisch radikalisierte Variante eines Krüppelwalmdachs verstehen kann.

Zunächst beabsichtigten L3P, die beiden Häuser in Sichtbeton auszuführen. Doch dies hätte eine doppelschalige Konstruktion erzwungen – eine recht kostenintensive Lösung, die angesichts der komplexen Geometrie in Oberweningen den finanziellen Rahmen vollends überstiegen hätte. So fiel die Entscheidung, die Konstruktion des Hauses zwar in Beton zu realisieren, die Hülle aber in Stahl auszubilden. Die Architekten wünschten sich weder braunen Cortenstahl noch gleißend-spiegelnde Platten, sondern eine lebendige, je nach Witterung und Lichtverhältnissen changierende Oberfläche. Daher zogen sie den Künstler Thomas Sonderegger aus Arbon hinzu, der sich seit Langem mit der chemischen Behandlung von Metalloberflächen beschäftigt. Dieser entwickelte ein Ätzverfahren für die stehend eingesetzt, verzinkten Stahlplatten. Die Herausforderung bestand darin, eine homogene Textur zu vermeiden und dennoch ein monolithisches Gesamtbild zu erzeugen. Das ist auf das Überzeugendste gelungen: Blickt man aus der Nähe auf die einzelnen Platten, so zeigt sich ein abstraktes, überaus lebendiges Sfumato aus Blau-, Schwarz-, Weiß- und Rosttönen. Aus der Ferne indes ist der Eindruck homogen, lässt sich die eigentliche Materialität kaum erkennen. Man könnte fast an Beton denken, noch eher an Naturstein. Die eigenliche Machart der Fassaden- und Dachflächen verschwindet optisch. Die Fugen zwischen den Platten an den Fassaden sind extrem schmal, und auch die zwecks Ableitung des Regenwassers schuppenartige Überlappung auf dem Dach tritt aufgrund der minimalen Plattenstärke nicht in Erscheinung.

Als »angeschliffene Felsblöcke« unterscheiden sich die beiden Häuser von der heterogenen Bebauung ringsum, doch wirken sie nicht zuletzt aufgrund der Materialität und ihrer Farbigkeit keineswegs aufdringlich. Mag sein, dass dies wundersamerweise dazu geführt hat, dass es weder mit den örtlichen Behörden noch mit den Nachbarn Auseinandersetzungen gegeben hat. Zumindest sei das in dieser Gegend kaum als Normalfall zu werten, wundert sich selbst Boris Egli.

Treppen, Wege und Durchblicke

Mauern aus Beton trennen das Grundstück in nordsüdlicher Richtung, verhindern Einblicke und gewähren trotz geringem Abstand die gewünschte Privatheit. Im Bereich zwischen den Häusern befinden sich spiegelnde Wasserflächen, deren Reflektionen zusätzlich dazu beitragen, die jeweils gegenüberliegende Fassade zu beleben. Denn nicht zuletzt aus Brandschutzgründen ist die Fassade der Häuser dort, wo das Gegenüber Fensteröffnungen besitzt, geschlossen. Grundsätzlich sind die Häuser mit annähernd gleicher Nutzfläche symmetrisch organisiert, ohne dass dies indes sklavisch befolgt wurde. So lässt sich eher von Gleichwertigkeit als von Gleichheit sprechen.

Das nach Norden ansteigende Gelände legte eine Organisation nach dem Split-Level-Prinzip nahe. Der Hauptzugang der Gebäude erfolgt von den zur Erschließungsstraße hin leider etwas mächtig auftretenden Tiefgaragen aus. Man passiert die Kellerräume und gelangt ein halbes Geschoss höher in einen dem Hang abgerungenen Arbeitsraum, der über ein schachtartig aus dem Gelände ausgestanztes, japanisch anmutendes Atrium belichtet wird. In Gegenrichtung führt der Weg weiter zu der nach Süden orientierten Küche (im westlichen) oder dem Wohnbereich (im östlichen Gebäude). Die Treppe wechselt die Gebäudeseite und leitet empor zum Wohnbereich (im westlichen) und zur Küche (im östlichen Gebäude). Auf der obersten Ebene, unter der gefalteten Dachlandschaft, sind schließlich mit Bad und Schlafzimmern die privaten Wohnräume angeordnet.

Obwohl die einzelnen Räume nicht unbedingt üppig dimensioniert sind, ergibt sich im Innern eine erstaunliche Großzügigkeit. Verantwortlich dafür sind die vielfältigen, aufgrund des Verzichts auf ein durchgehendes Treppenhaus sich ergebenen Durchblicke zwischen den einzelnen Geschossen, aber auch die geschickte Belichtung der Hauptwohnräume über in trichterförmige Deckenausstülpungen integrierte Lichtbänder in den Dachschrägen. Formal und farblich reduziert, ohne in eine Ästhetik von Hochglanzzeitschriften abzugleiten, zeigt sich das Innere: Zum rohen Sichtbeton der Konstruktion und dem Weiß der Einbauten und – zum Teil ebenfalls von den Architekten entworfenen – Möbel und Raumteiler gesellt sich im Bereich der Nasszellen die Farbe Grün. Vertikale, in die Wände und Treppenwangen eingelassene Lichtbänder rhythmisieren darüber hinaus den Weg durch das Haus.

Während sich angesichts des zeitgenössischen Bauens in der Schweiz mitunter der Verdacht aufdrängt, ein Haus müsse partout schräge Flächen aufweisen, ist es L3P wirklich gelungen, aus der Polygonalität des Volumens auch im Innern Kapital zu schlagen und verkrampfte Partien, bei denen die Deformationen des Äußeren im Inneren keinen Widerhall finden, zu vermeiden.

db, Di., 2012.04.03



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db 2012|04 Monolithisch

07. November 2011Hubertus Adam
db

Auffällig aber unprätentiös

Für das Erscheinungsbild des Baukörpers ist die Gliederung der Fassade durch vor- und zurückspringende, unterschiedliche Fensterformate in z.T. leicht tanzenden Achsen sowie die Wahl des groben Rillenputzes und des ausgewogenen grünen Farbtons prägend. Die großformatigen Fenster ergeben lichtdurchflutete Innenräume von hoher Aufenthaltsqualität.

Für das Erscheinungsbild des Baukörpers ist die Gliederung der Fassade durch vor- und zurückspringende, unterschiedliche Fensterformate in z.T. leicht tanzenden Achsen sowie die Wahl des groben Rillenputzes und des ausgewogenen grünen Farbtons prägend. Die großformatigen Fenster ergeben lichtdurchflutete Innenräume von hoher Aufenthaltsqualität.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begann in Zürich die Wohnungsbautätigkeit in großem Stil. Dies betraf auch den bislang noch weitgehend ländlich geprägten Stadtteil Altstetten, ganz im Westen an der Grenze zur Nachbargemeinde Schlieren gelegen. Motor des Siedlungsbaus waren hier wie in anderen Quartieren primär Genossenschaften – so auch die 1944 gegründete und ausschließlich in Altstetten tätige Baugenossenschaft Halde Zürich (BHZ). Besondere Aufmerksamkeit erzielten deren im Jahr 1952 bezogene VII. und VIII. Kolonie, für die ein Terrain in leichter Hanglage oberhalb der Tramendstation Farbhof erworben worden war. Zwei- und dreigeschossige Mehrfamilienhäuser gruppierten sich in lockerer Anordnung um die Glättlistraße, die Haupterschließungsstraße des Quartiers; mit ihrer starken Durchgrünung orientierte sich die Siedlung an seinerzeit viel rezipierten skandinavischen Vorbildern. Unmittelbar westlich dieser Siedlung, die entsprechend dem Standard v. a. Drei- und Vierzimmerwohnungen umfasste und von den Architekten M. Zollinger und J. Strasser entworfen worden war, entstand in den Folgejahren das als Pavillonsystem realisierte Schulhaus Chriesiweg von Fred Cramer, Werner Jaray und Claude Paillard. Dieses war das Resultat eines anlässlich der Ausstellung »Das neue Schulhaus« im Kunstgewerbemuseum veranstalteten Architekturwettbewerbs und gilt mit seinen niedrigen Baukörpern und den Klassenzimmern zugeordneten Gartenhöfen aus heutiger Sicht als Musterbeispiel damaligen kindgerechten Bauens.

Die geringe Ausnutzungsziffer der BHZ-Siedlung führte im Jahr 1985 dazu, dass die Genossenschaft die niedrigeren Gebäude im Zuge einer Gesamtsanierung um ein Geschoss aufstocken ließ. Fensterläden, Fenstereinteilungen, Satteldach – alles blieb erhalten. Weitere 15 Jahre später stellte sich erneut die Frage, wie die Siedlung in die Zukunft zu führen wäre. »Ersatzneubau« lautete das aktuelle Schlagwort: Die Kleinwohnungen der Nachkriegsära genügten zeitgenössischen Ansprüchen nicht mehr, und so begannen viele Genossenschaften, die bescheidenen Siedlungen durch große Bauvolumina mit räumlich opulenten Wohnungen zu ersetzen. Die BHZ entschied sich anders: Man votierte dafür, die bestehende Substanz moderat zu sanieren und die als essentiell für die Qualität der Siedlung angesehene Freiraumgestaltung zu erneuern. Kies- und Asphaltwege sind an die Stelle früherer Steinplattenwege getreten, und so hat die Siedlung etwas vom Charme der 50er Jahre eingebüßt. Gleichwohl muss die neue Außenraumgestaltung mit ihren Aufenthaltsbereichen für Kinder und Erwachsene durchaus als gelungen angesehen werden.

Grosszügiger Ersatzneubau

Nur an einer Stelle kam es zu einem Ersatzneubau: Ganz im Westen des Areals – dort, wo die Siedlung an das Gelände des Schulhauses Chriesiweg angrenzt. Vier bestehende Reihenhäuser und ein nicht mehr benötigter Kindergarten wurden durch einen vor Kurzem fertiggestellten viergeschossigen Wohnblock ersetzt, der von dem in Regensberg ansässigen Architekturbüro L3P entworfen wurde. Abweichend von der Orthogonalität der bestehenden Volumina konzipierten die Architekten ein polygonal geprägtes Gebäude mit einer auf der Ostseite einwärts geknickten Fassade, welcher die Westseite mit verschobenen Proportionen – geringerer Winkel, Knickpunkt aus der Mitte verschoben – folgt. Die einwärts geknickte, überdies durch Loggien aufgelockerte Ostfassade wartet mit einer umarmenden Geste auf und wird gleichsam als Abschluss der Siedlung lesbar, wobei die Viergeschossigkeit keinesfalls als Maßstabssprung ins Auge sticht, sondern sich harmonisch in die locker gestreute Gebäudestruktur einreiht. Die geschlossene, lediglich durch vor- oder rückspringende Fenster akzentuierte Westfassade bildet die Kante zum angrenzenden Schulareal, ohne diesem zu nahe zu rücken oder die niedrige Bebauung in den Schatten zu stellen.

Wirkt die polygonale Form mitunter wie ein Versuch, ein eigentlich banales Gebäude etwas zeitgenössischer aussehen zu lassen, so haben L3P die Grundrisse durchaus konsequent auf die Gesamtform abgestimmt. Rechte Winkel finden sich nur an wenigen Stellen der insgesamt 16 Wohnungen, die zweibündig von zwei Treppenhäusern aus erschlossen werden und annähernd spiegelsymmetrisch seitlich der Erschließungszonen angeordnet sind. Die Geschossgrundrisse zeigen sich identisch.

Ungewöhnlich und durchaus attraktiv ist der großzügige Wohnbereich, der sich mäandrierend durch die Wohnungen zieht und drei unterschiedliche Zonen ausbildet: die Richtung Westen orientierte Küche, eine großzügige Mittelzone und schließlich den Wohnbereich im Westen, die sich mittels einer Glaswand mit der Loggia verbindet. Die eingestellte Box von Bad und WC verstärkt diese Konfiguration, führt aber zu der Konsequenz, dass die innenliegenden Nasszellen auf natürliche Belichtung und Belüftung verzichten müssen. Nicht unproblematisch, zumindest bei konventionellen Möblierungsvorstellungen, sind die z. T. extrem schräg verlaufenden Wände der Schlafzimmerboxen.

Tanzende Fensterachsen

Ein grober, grün gestrichener Putz vereinheitlicht das Äußere des Doppelhauses. Die Farbe mag etwas modisch anmuten – positiv ausgedrückt: zeitgenössisch – und wird durch ein komplementäres Rot-Violett-Braun ergänzt, welches die Fensterlaibungen und Eingangsbereiche prägt. Der Putz in diesen Partien ist feiner, wie auch in den Loggien und in den Wohnungen selbst. Das Grün tritt in abgeschwächter, eher pastellfarbener Anmutung auch an anderen Bauten der BHZ-Siedlung auf, so dass auch die Farbintensität die Bedeutung des Neubaus akzentuiert, ohne ihn indes als Fremdkörper erscheinen zu lassen.

Die unterschiedliche Behandlung der Fassadenöffnungen verleiht dem Wohnblock sein charakteristisches Gepräge. Die der Siedlung zugewandte Westfassade, wiewohl durch die mittleren und seitlichen Loggien aufgelockert, gibt sich ruhig: Nur die von Geschoss zu Geschoss die Seite wechselnden geschlitzten und die Lüftungsflügel verbergenden Aluminiumpanels der Treppenhausfenster durchbrechen die vertikale Abwicklung der Fassade. Eine stärkere Rhythmisierung kennzeichnet die Westseite. Drei Fensteranordnungen finden sich hier: Quergelagerte, innen angeschlagene Einzelfenster mit seitlichem Lüftungspanel, Verbünde aus zwei quergelagerten Einzelfenstern mit Lüftungspanels – und schließlich außen angeschlagene Quadratfenster mit hervortretenden Metallrahmen, welche die Küchenzonen markieren. Bei den Quadratfenstern tanzt jeweils eins aus der vertikalen Reihe, was allerdings – wie auch der Versprung der Lüftungsflügel – gestalterischem Kalkül entspringt und sich nicht aus der Grundrisslogik oder aus Belichtungsanforderungen ableiten lässt. Die Architekten verstehen ihre Fensterformen als Reverenz an den Bestand der Siedlungsbauten ringsum; so sehen sie beispielsweise die Lüftungspanels als zeitgenössische Interpretation der Fensterläden. Diese Rückführung ist durchaus nachvollziehbar, allerdings sind das Spiel mit verschiedenen Fenstertypen sowie das Verspringen von Geschoss zu Geschoss unabhängig davon aus dem Schweizer Bauen der jüngeren Vergangenheit sattsam bekannt.

db, Mo., 2011.11.07



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db 2011|11 Öffnungen

08. Januar 2011Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Räume für die Offenbarung der Wirklichkeit

Das Schröder-Haus in Utrecht gilt als Hauptwerk der De-Stijl-Bewegung in den Niederlanden. Doch der Architekt Gerrit Rietveld (1888–1964) war ein Individualist, der nie ganz in der Gruppe aufging und den Grossteil seines Werks erst nach dem Zweiten Weltkrieg schuf.

Das Schröder-Haus in Utrecht gilt als Hauptwerk der De-Stijl-Bewegung in den Niederlanden. Doch der Architekt Gerrit Rietveld (1888–1964) war ein Individualist, der nie ganz in der Gruppe aufging und den Grossteil seines Werks erst nach dem Zweiten Weltkrieg schuf.

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07. September 2010Hubertus Adam
db

Gesegnetes Provisorium

Origami, die japanische Papierfaltkunst, diente bei der Formfindung des kleinen Behelfsgotteshauses in der Französischen Schweiz als Ideengeber. Dank beispielhafter Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren entstand ein temporäres Gebäude, das schließlich alle in seinen Bann gezogen und von einer dauerhaften Daseinsberechtigung überzeugt hat.

Origami, die japanische Papierfaltkunst, diente bei der Formfindung des kleinen Behelfsgotteshauses in der Französischen Schweiz als Ideengeber. Dank beispielhafter Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren entstand ein temporäres Gebäude, das schließlich alle in seinen Bann gezogen und von einer dauerhaften Daseinsberechtigung überzeugt hat.

Als »milieu du monde«, als Mittelpunkt der Welt, wird die kleine waadtländische Ortschaft Pompaples im Volksmund bezeichnet, denn Pompaples liegt genau auf der Wasserscheide der Einzugsbereiche von Rhein und Rhone, markiert also die Grenze zwischen dem Norden und dem Süden Europas. Architekten dürfte der Name des Nachbarorts La Sarraz vertrauter sein, denn im dortigen Schloss wurde 1928 der CIAM gegründet. Westlich von Pompaples liegt auf einem 525 m hohen Hügel der Spitalkomplex von St-Loup, der 1852 von den waadtländer Diakonissen gegründet wurde. Eine schmale Zufahrtsstrasse windet sich den Hang empor, dann steht man inmitten eines Ensembles von Bauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die eine lockere halbkreisförmige Formation bilden. Nach Westen öffnet sich die Anlage zur umgebenden Wald- und Wiesenlandschaft.

Die Anlage war in die Jahre gekommen, als sich die Communauté des Diaconesses von St-Loup dazu entschied, einen Wettbewerb mit vorgeschaltetem Präqualifikationsverfahren zur Renovierung ihres Mutterhauses auszuloben, das sich im Nordosten des Ensembles befindet. Den ersten Preis erhielt im Jahr 2007 eine Arbeitsgemeinschaft aus zwei Lausanner Architekturbüros: das junge Team LOCALARCHITECTURE und das seit 1979 bestehende Bureau d’ Architecture Danilo Mondada. Aus dem Projekt ergab sich im Jahr darauf ein zweiter, nunmehr direkt vergebener Auftrag an die Architekten. Weil die Renovierung auch die im Mutterhaus untergebrachte Kapelle betraf, wünschten sich die Diakonissen einen für ihre täglichen Gottesdienste zu nutzenden, temporären Ort. LOCALARCHITECTURE und Danilo Mondada konzipierten daraufhin eine Kapelle, die – gleichsam als spirituelles Zentrum – nahe dem Hubschrauberlandeplatz auf der Freifläche der Waldlichtung inmitten des Areals errichtet wurde.

Ein kleines Wunderwerk, trotz und Dank Vieler Beteiligter

Die Partner von LOCALARCHITECTURE – Marco Bieler, Antoine Robert-Granpierre und Laurent Saurer – diplomierten an der EPFL Lausanne; Antoine Robert-Granpierre unterrichtet dort überdies seit 2007 als Assistent von Harry Gugger. Die enge Verbindung zur Architekturfakultät in Lausanne sowie das auch an anderen Projekten des Büros erkennbare Interesse für eine zeitgemäße Verwendung von Holz führte dazu, dass die Architekten angesichts der Bauaufgabe Kontakt mit IBOIS aufnahmen, dem an der EPFL angesiedelten Laboratorium für Holzkonstruktion. 2005 gegründet, widmet es sich der interdisziplinären Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren im Bereich der Holzkonstruktion. Yves Weinand, Leiter von IBOIS, verkörpert mit seiner eigenen Biografie das Zusammengehen beider Disziplinen: Er wurde als Ingenieur an der EPFL und als Architekt am Institut supérieure d’architecture in Saint-Luc ausgebildet. Ziel des Labors ist es, der traditionellen Arbeitsteilung beider Berufsgruppen entgegenzuwirken. Das Wissen der Ingenieure direkt in den gestalterischen Prozess der Architekten einzubinden, sei nicht immer einfach, erklärt Weinand, die »berufsstandsspezifische Selbstbeschränkung infolge einer dogmatischen Verabsolutierung der Berechenbarkeit stehe experimentelleren Ansätzen«, wie er sie postuliere, vielfach noch entgegen.

Aus diesem Grund handelt es sich bei der Kapelle von St-Loup um ein Pilotprojekt, das im doppelten Sinne als modellhaft anzusehen ist: als Beispiel für eine Gemeinschaftsarbeit von Architekten und Ingenieuren zum einen, als Architektur, die durch ihren ephemeren Charakter wie ein Modell im Maßstab 1:1 wirkt, zum anderen. Für die Realisierung des kleinen Gebäudes gründeten Yves Weinand und Hani Buri von IBOIS das Büro SHEL architecture, engineering and production design in Genf. Unterstützt wurde das Vorhaben zusätzlich vom Schweizerischen Bundesamt für Umwelt BAFU. Zu verdanken ist der kleine Experimental- und Sakralbau aber schließlich den Diakonissen von St-Loup als Auftraggeberinnen, die das ungewöhnliche Projekt von Anfang an vorbehaltlos unterstützten.

Überzeugendes Origami

Ausgangsidee des Entwurfs war das Prinzip der japanischen Papierfaltkunst Origami. Diese beruht auf dem Prinzip, das sich das weiche und biegsame Material Papier durch Falten ohne zusätzliche Hilfsmittel versteifen lässt. Dieser Gedanke ist in der Ingenieurbaukunst nicht unbekannt; Beispiel hierfür sind Faltdachkonstruktionen aus Beton. In den Holzbau wurde das Verfahren bislang indes nicht übertragen.

Bei der Kapelle von St-Loup dienten Brettschichtholzplatten als Baumaterial. Ein erstes intuitives Faltungskonzept wurde in ein CAD-Programm übertragen und dann sukzessive optimiert. Aus dem Modellierwerkzeug wurden die Daten als flächig vernetzte Elemente in ein Statikprogramm übertragen. Für die vertikalen Elemente fanden 40 mm dicke, für die horizontalen 60 mm dicke Brettschichtplatten Verwendung. Da sich Holz nicht wirklich falten lässt, legte man an den Kanten Lochbleche ein und verschraubte diese. Die einzelnen Abschnitte der Konstruktion steifen sich aber aufgrund der Verkantung gegenseitig aus. Die Platten wurden dann mit einer Dichtungsbahn abgedeckt und schließlich mit 19 mm imprägnierten Dreischichtplatten bekleidet. Dass Tragwerk und Ummantelung aus verschiedenen Materialen bestehen, mag die Konsequenz der Idee beeinträchtigen, ließ sich aber nicht vermeiden und ist fast nicht erkennbar. Die Formfindung basierte auf der Entscheidung, dass eine breite und niedrige trapezförmige Öffnung den Eingang markieren sollte, eine schmale und hohe trapezförmige die Altarwand. Die gekrümmten Linien, die sich durch die Verbindung dieser Außenpunkte ergaben, wurden in eine Abfolge von Faltungen aufgegliedert. Faktoren, die die Formfindung im Detail beeinflussten, waren der Ablauf des Dachwassers, die akustische Optimierung des Innenraums – und der architektonische Ausdruck. Die Architekten verstehen ihren Bau als zeitgenössische Hommage an romanische Kirchen, wie sie sich in der Umgebung finden, wobei die vertikalen Faltungen des Innenraums die Rolle der Säulen übernehmen. Durch die Faltungen rhythmisiert, ist ein überaus stimmungsvoller kleiner Sakralraum entstanden. Aufgrund der leicht »gebauchten« Form der seitlichen Wandbegrenzungen ergibt sich eine Zentralisierung, die die reine Längsorientierung mildert. Transparentes Polykarbonat, vor dem außen kaum sichtbar ein bräunliches Textil als Windschutz angebracht ist, schließt die Eingangs- und Altarwand. Von außen gesehen, wirken diese Wände geschlossen; von innen öffnet sich der Blick hinter dem Altar in die Landschaft – und in gegenläufiger Richtung auf das Gebäudeensemble des Diakonissenhauses. Wenn die Diakonissen am Mittag ihren Gottesdienst feiern und singen, tönt der leichte Holzbau wie ein klingendes Instrument.

Die Kapelle, deren Baukosten lediglich 290 000 Schweizer Franken betrug, war als temporäres Gebäude gedacht. Ein möglicher Verkauf und Wiederaufbau an anderer Stelle sollte die Kosten reduzieren, außerdem bestand für die Wiese inmitten des Hospitalkomplexes nur eine Baubewilligung für ein nicht-dauerhaftes Gebäude. Doch die Diakonissen begannen ihren temporären liturgischen Ort zu lieben, und überdies zieht der Bau seit seiner Eröffnung viele Besucher an. Daher überzeugten die Architekten ihre Auftraggeber, das Gebäude stehen zu lassen; die dafür nötige Baubewilligung wurde inzwischen erteilt. Nichts ist dauerhafter als ein Provisorium.

db, Di., 2010.09.07



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db 2010|09 Temporär

03. September 2010Hubertus Adam
Bauwelt

„Überraschende Momente entstehen nur, wenn man auf Repetition verzichtet.“

Christoph Gantenbein und Emanuel Christ haben an der ETH Zürich studiert und sich gleich nach ihrem Diplom bei Hans Kollhoff 1998 selbständig gemacht. Seit diesem Jahr sind die beiden Assistenzprofessoren für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich.

Christoph Gantenbein und Emanuel Christ haben an der ETH Zürich studiert und sich gleich nach ihrem Diplom bei Hans Kollhoff 1998 selbständig gemacht. Seit diesem Jahr sind die beiden Assistenzprofessoren für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich.

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Christ & Gantenbein



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Bauwelt 2010|34 Wohnlage Stadt

28. August 2010Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Anatomie der Architektur

Die Japanerin Kazuyo Sejima ist die Leiterin der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig. Ihre Ausstellung ist ein Parcours, der sich der Analyse des Phänomens Architektur im Spannungsfeld von Sinnlichkeit und Idee widmet.

Die Japanerin Kazuyo Sejima ist die Leiterin der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig. Ihre Ausstellung ist ein Parcours, der sich der Analyse des Phänomens Architektur im Spannungsfeld von Sinnlichkeit und Idee widmet.

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07. August 2010Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Baukünstlerisch überhöhte Landschaften

In den sechziger Jahren konnte der seit 1925 in Kalifornien tätige Wiener Architekt Richard Neutra vier Bauprojekte in der Schweiz realisieren. Sie erlaubten es ihm, ein in beruflicher und persönlicher Hinsicht wichtiges Bezugsfeld aufzubauen.

In den sechziger Jahren konnte der seit 1925 in Kalifornien tätige Wiener Architekt Richard Neutra vier Bauprojekte in der Schweiz realisieren. Sie erlaubten es ihm, ein in beruflicher und persönlicher Hinsicht wichtiges Bezugsfeld aufzubauen.

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07. Juni 2010Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Schuppentier und Schleife

Die Expo in Schanghai dient als Generator für die urbane Entwicklung der Stadt. Die bemerkenswertesten Architekturen finden sich wie fast immer an Weltausstellungen unter den Länderpavillons.

Die Expo in Schanghai dient als Generator für die urbane Entwicklung der Stadt. Die bemerkenswertesten Architekturen finden sich wie fast immer an Weltausstellungen unter den Länderpavillons.

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08. Mai 2010Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Welt präsentiert sich China

Laut Prognosen werden 95 Prozent der Menschen, welche die Expo in Schanghai besuchen, Chinesen sein. Für die Veranstalter verbindet sich damit die Hoffnung, die Idee der Weltausstellung neu beleben zu können.

Laut Prognosen werden 95 Prozent der Menschen, welche die Expo in Schanghai besuchen, Chinesen sein. Für die Veranstalter verbindet sich damit die Hoffnung, die Idee der Weltausstellung neu beleben zu können.

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Expo 2010 Shanghai

05. Februar 2010Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Sinuskurven am Spreeufer

Street-Fashion statt Haute Couture prägt das modische Selbstverständnis Berlins. Am Friedrichshainer Spreeufer hat das Büro HHF Architekten aus Basel ein Modezentrum errichtet, das im rauen Ambiente des Osthafens einen markanten, aber unprätentiösen Akzent setzt.

Street-Fashion statt Haute Couture prägt das modische Selbstverständnis Berlins. Am Friedrichshainer Spreeufer hat das Büro HHF Architekten aus Basel ein Modezentrum errichtet, das im rauen Ambiente des Osthafens einen markanten, aber unprätentiösen Akzent setzt.

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08. Januar 2010Hubertus Adam
Bauwelt

Erweiterung Kunstmuseum Basel

Selten haben derart viele Pritzker-Preisträger in einem Wettbewerbsverfahren konkurriert. Die Jury für die Erweiterung des Kunstmuseums Basel jedoch ließ sich davon nicht beeindrucken.

Selten haben derart viele Pritzker-Preisträger in einem Wettbewerbsverfahren konkurriert. Die Jury für die Erweiterung des Kunstmuseums Basel jedoch ließ sich davon nicht beeindrucken.

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Bauwelt 2010|01-02 Das Bild des Architekten

03. November 2009Hubertus Adam
db

Gedrungener Kristall

Der »St. Jakob-Turm«, eine Art neues Stadttor für Basel, ist nur eines der vielen Steinchen, aus denen sich die »Begegnungsstätte St. Jakob« zusammensetzt – einem eigentümlichen Konglomerat aus Stadion, Altenheim, Veranstaltungshalle, Einkaufszentrum und Autohaus an der Schmalseite eines Sportareals. Doch der Hochhaus-Kristall ist mit Abstand der außergewöhnlichste dieser Steine: ein in Anlehnung an die Urhüttenform gestalteter Turm, der sein Äußeres je nach Blickrichtung den Gegebenheiten des Ortes »anpasst«.

Der »St. Jakob-Turm«, eine Art neues Stadttor für Basel, ist nur eines der vielen Steinchen, aus denen sich die »Begegnungsstätte St. Jakob« zusammensetzt – einem eigentümlichen Konglomerat aus Stadion, Altenheim, Veranstaltungshalle, Einkaufszentrum und Autohaus an der Schmalseite eines Sportareals. Doch der Hochhaus-Kristall ist mit Abstand der außergewöhnlichste dieser Steine: ein in Anlehnung an die Urhüttenform gestalteter Turm, der sein Äußeres je nach Blickrichtung den Gegebenheiten des Ortes »anpasst«.

Als 2001 in Basel das von Herzog & de Meuron errichtete Stadion St. Jakob-Park eröffnet wurde, war längst nicht sicher, ob sich die ungewöhnliche Kombination von Sportarena, Shopping Center und Seniorenresidenz bewähren würde. Denn das Areal befindet sich städtebaulich in einer problematischen Situation. Im Norden grenzt es an Eisenbahntrasse und Autobahn, im Süden an die vielbefahrene St. Jakob-Straße; im Osten definiert das Flüsschen Birs die Grenze zwischen den Halbkantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Sportanlagen und Gewerbeflächen prägen die nähere Umgebung. Tatsächlich aber ist der St. Jakob-Park zum Erfolgsprojekt avanciert. Nicht nur für den FC Basel, der im neuen Stadion einige Triumphe feiern konnte und in der Stadt Kultstatus besitzt. Auch das Einkaufszentrum boomt, und für das Altenwohnheim besteht eine lange Warteliste. Die Strategie, eine städtische Randlage in einen dezidiert urbanen Ort umzuwandeln, hat sich als richtig erwiesen. Die Nachteile der Lage werden durch die Vorteile guter verkehrstechnischer Anbindung und der Nähe zu Grünflächen wie dem Botanischen Garten kompensiert; auch der kanalisierte Lauf der Birs wurde inzwischen renaturiert und fungiert als Naherholungsgebiet.

2004 begann die Planung für eine weitere Verdichtung des St. Jakob-Parks. Ausgangspunkt war der Streifen zwischen der Ostseite des Stadions und der die Birs flankierenden, exakt nord-südlich verlaufenden Birsstraße – ein Gelände, das bislang lediglich von einem Autohaus genutzt wurde. Zur Entwicklung und Bebauung des Gebiets fanden drei Partner zusammen: die Kestenholz AG als bisheriger Eigentümer des Grundstücks, die Miteigentümergesellschaft des Stadions und – als Hauptinvestor – der von der UBS aufgelegte Immobilienfonds »Sima«. Zu realisieren war ein komplexes Programm, nämlich der Neubau des Autohauses samt Werkstatt und Präsentationsflächen, die unterirdische Erweiterung des Einkaufszentrums sowie Erschließungs- und Eventflächen für das Stadion. Vor allem aber ein Hochhaus, das auf dem nördlichen Teil des zur Verfügung stehenden Areals entstehen sollte.

Zuschnitt nach Schattenwurf

Form, Proportion und Höhe dieses Bauwerks waren Gegenstand langwieriger Untersuchungen. Da an dieser Stelle keine Höhenbeschränkungen bestehen, entwickelten Herzog & de Meuron Konzepte für Höhen von bis zu 160 m. Auf Wunsch des Investors beschränkte man sich indes am Ende auf 71 m. Dies hat zur Folge, dass sich der St. Jakob-Turm trotz seiner markanten, kristallinen Gestalt in das Gefüge von Hochhäusern der 60er- und 70er Jahre einschreibt, die sich als ein Ring von Fixpunkten rings um das traditionsreiche Zentrum der Stadt aufspannen: der Turm der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich am Bahnhof SBB, das nahe gelegene Bürohaus Lonza der Architekturfirma Suter & Suter oder – entworfen vom selben Büro – das heutige Novartis-Hochhaus am Unteren Rheinweg. Dank der Lage direkt an den Verkehrsmagistralen, welche Basel mit Zürich und der übrigen Schweiz verbinden, kommt dem St. Jakob-Turm überdies die Funktion eines zeitgenössischen Stadttors zu.

Die Form des Turms, die ihm je nach Perspektive eine andere Gestalt verleiht, erklärt sich aus dem Interesse an polygonalen Baustrukturen, das Herzog & de Meuron zur Zeit der Planung hegten und dessen prominentestes Beispiel Prada Aoyama in Tokio darstellt. Darüber hinaus ist die Form aber auch das Resultat von Optimierungen der Nutzflächen – und von Auflagen, die sich aus der unmittelbaren Nachbarschaft zum Stadion ergaben. Zum einen sollte der Schattenwurf des Turms zu keiner Zeit Teile des Spielfelds tangieren, zum anderen durfte laut Uefa-Richtlinien von keinem Standort aus das Spielfeld als Ganzes einsehbar sein. Wo auch immer man im Hochhaus steht: Der Strafraum der Muttenzer Seite lässt sich nicht überblicken.

Die polygonale Form lässt das Gebäude mal nadelartig, mal eher gedrungen erscheinen; außerdem wechselt es seine Erscheinung mit dem sich verändernden Licht, wirkt also mal gleißend und hell, dann wieder stumpf. Tritt man nahe an den Turm heran, so gerät der zurückfliehende obere Teil aus dem Gesichtsfeld – der Turm wirkt niedriger als er eigentlich ist. Etwas mehr Höhe hätte ihm sicherlich gut getan und seine Selbstständigkeit gegenüber dem Stadion verstärkt. Ein konsequentes Zusammenspiel von Innen und Außen, wie es Prada Aoyama aufweist, ließ sich hier nicht erzielen.

Der Turm umfasst 22 Geschosse – davon zwei Untergeschosse –, die teils Büro-, teils Wohnnutzungen aufweisen. Die Aufteilung erfolgte indes nicht durch einen horizontalen, sondern durch einen vertikalen Schnitt. Die Nähe zur Autobahn und zur Eisenbahntrasse, auf der auch Gefahrgütertransporte verkehren, erlaubte keine Öffnungen zur Nordseite. Daher beanspruchen in den Obergeschossen 5 bis 13 frei einteilbare Bürozonen diesen Teil des Gebäudes, während sich die Wohnungen Richtung Süden orientieren. Nur die Geschosse in der Spitze bleiben rein dem Wohnen vorbehalten.

Die großzügigen und gut geschnittenen Wohnungen variieren zwischen zweieinhalb und sechs Zimmern und sind sämtlich mit Loggien oder Freisitzen versehen. Abgestimmt auf das avisierte Mietersegment ist der Ausbaustandard hoch: versiegeltes Eichenparkett, Chromstahl-Küche, Glasmosaik in hellblau und weiß in den Bädern. Beeindruckend sind die großzügigen, sich aus einem fließenden Raumkontinuum aufbauenden Maisonettewohnungen in den Geschossen 16 und 17, die dank kreuzweiser Verschränkung Ausblicke in sämtliche Richtungen zulassen und somit ein fantastisches Panorama über das zwischen Jura und Schwarzwald sich erstreckende, das Rheinknie umfassende Siedlungsgebiet von Basel bieten.

Separate Eingänge (von der Birsstraße sowie vom Podium aus) und separate Liftanlagen erlauben es, Büro- und Wohnbereiche zu erschließen, ohne deren Publikumsverkehr zu vermischen. Sozusagen als Haus im Haus funktioniert ein autonomer Bereich im Südteil der unteren Geschosse. Ursprünglich als Klinik oder kleines Hotel geplant, wird dieser heute vom FC Basel genutzt.

Von der Spitze aus sich verbreiternd, zieht sich der Turm zum Sockel hin wieder zusammen; die Kräfte werden über Stützen hinter der Fassade zum Kern hin gebündelt und abgetragen. Ein spezieller Aufbau wurde für die Geschossdecken gewählt: Über der unteren Schicht mit der Armierung befindet sich eine zweite, in welche zwecks Gewichtsreduktion kugelförmige Lufteinschlüsse (Cobiax-Hohlkörpersystem) integriert sind. Eine Hülle aus 1 360 in Aluminiumrahmen eingefassten Glaselementen bildet die äußere Fassade des Gebäudes, das wie ein geschliffener Kristall erscheinen will. In den der Sonne ausgesetzten Bereichen sind die Scheiben mit einer Sonnen-/Wärmeschutzbeschichtung versehen, die Decken der Loggien fungieren als Schattenspender. Bei den Wohnungsfassaden kamen geschosshohe Holzfenster zum Einsatz. Unterflurkonvektoren dienen zur Heizung der Räume. Die Energie wird vom Fernwärmenetz Industrielle Werke Basel bezogen, außerdem gibt es eine Wärmerückgewinnungsanlage der Haustechnikinstallationen.

Der Turm wächst aus einem Sockel heraus, der zweierlei Funktionen übernimmt. Zum einen ist er das Dach für die Erweiterung des Shopping Centers im UG. Zum anderen dient er als östlicher Vorplatz für das Stadion – vor und nach dem Spiel kann er als Event- und Partylocation verwendet werden. Große Freitreppen verbinden die Platzfläche mit der St. Jakob- und der Birsstraße. Die Ecke zwischen beiden Straßen schließlich besetzt der Neubau des Autohauses. Das Gebäude entwickelt sich aus einer dreiteiligen, um eine zentrale Stütze gewickelten Rampe und knüpft mit der Faltung seiner Dachlandschaft an den Sockelbereich des bestehenden Stadions an. An der Schnittstelle befinden sich ein Fanshop für den FC Basel – und auch endlich ein attraktiver Abgang in die Unterwelt des um die Hälfte der bestehenden Fläche erweiterten Shopping Centers.

db, Di., 2009.11.03



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St.-Jakob-Park



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db 2009|11 Hochhäuser

03. Oktober 2009Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Keine Angst vor starken Formen

Jürgen Mayer H. ist mit seinen Arbeiten, die zwischen Architektur, Plastik und Design oszillieren, einer der eigenwilligsten und eigenständigsten Architekten Deutschlands. Von der Ästhetik der siebziger Jahre fasziniert, rehabilitiert er Ornament und Plastizität.

Jürgen Mayer H. ist mit seinen Arbeiten, die zwischen Architektur, Plastik und Design oszillieren, einer der eigenwilligsten und eigenständigsten Architekten Deutschlands. Von der Ästhetik der siebziger Jahre fasziniert, rehabilitiert er Ornament und Plastizität.

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Mayer H. Jürgen

01. Oktober 2009Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Homo ludens an der Maas

«Open City» lautet das Thema der diesjährigen Rotterdamer Architekturbiennale. Die Veranstalter setzen auf einen Urbanismus der kleinen Schritte, um ein lebenswertes Stadtgefüge zu erzielen. Die Stadt der Zukunft soll für verschiedene Nutzergruppen zugänglich werden.

«Open City» lautet das Thema der diesjährigen Rotterdamer Architekturbiennale. Die Veranstalter setzen auf einen Urbanismus der kleinen Schritte, um ein lebenswertes Stadtgefüge zu erzielen. Die Stadt der Zukunft soll für verschiedene Nutzergruppen zugänglich werden.

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23. September 2009Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Alpine Architektur heute

Am Samstag wird hoch über Zermatt die neue Monte-Rosa-Hütte des Schweizerischen Alpenclubs eröffnet. Das spektakuläre Gebäude dient als Experimentierlabor für nachhaltiges Bauen in den Alpen und knüpft an die Tradition expressiven Bauens im Hochgebirge an.

Am Samstag wird hoch über Zermatt die neue Monte-Rosa-Hütte des Schweizerischen Alpenclubs eröffnet. Das spektakuläre Gebäude dient als Experimentierlabor für nachhaltiges Bauen in den Alpen und knüpft an die Tradition expressiven Bauens im Hochgebirge an.

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Neue Monte Rosa-Hütte

10. September 2009Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Elefant und Ameise

Die Landshuter Stadtresidenz gilt als erster Palast im italienischen Renaissancestil nördlich der Alpen. Eine materialreiche Ausstellung in Landshut widmet sich nun der Entstehungsgeschichte des Gebäudes und seinem ausgefeilten, vom Humanismus der Zeit geprägten Bildprogramm.

Die Landshuter Stadtresidenz gilt als erster Palast im italienischen Renaissancestil nördlich der Alpen. Eine materialreiche Ausstellung in Landshut widmet sich nun der Entstehungsgeschichte des Gebäudes und seinem ausgefeilten, vom Humanismus der Zeit geprägten Bildprogramm.

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22. August 2009Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Erfindung einer kalifornischen Baukunst

Einen eigenen Stil der Westküste zu schaffen, war das Ziel von Charles und Henry Greene. Die vom Arts and Crafts Movement und von Japan beeinflussten Brüder revolutionierten die Architektur und das Design Kaliforniens. Nun ist ihr Werk in einer umfangreichen Retrospektive im Museum of Fine Arts in Boston zu sehen.

Einen eigenen Stil der Westküste zu schaffen, war das Ziel von Charles und Henry Greene. Die vom Arts and Crafts Movement und von Japan beeinflussten Brüder revolutionierten die Architektur und das Design Kaliforniens. Nun ist ihr Werk in einer umfangreichen Retrospektive im Museum of Fine Arts in Boston zu sehen.

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09. Juli 2009Hubertus Adam
Bauwelt

Zlín – Stein gewordene Utopie der Moderne?

Den besten Überblick über Zlín bietet die Dachterrasse des Gebäudes 21 von Vladímir Karfík. Das Erdgeschoss beherbergt eine Ausstellung über das Gebäude und seinen Architekten. Von hier aus ist auch das berühmte Direktionszimmer zugänglich, das es Jan Antonín Bat'a ermöglichte, sein Arbeitszimmer an jeder beliebigen Etage anzudocken.

Den besten Überblick über Zlín bietet die Dachterrasse des Gebäudes 21 von Vladímir Karfík. Das Erdgeschoss beherbergt eine Ausstellung über das Gebäude und seinen Architekten. Von hier aus ist auch das berühmte Direktionszimmer zugänglich, das es Jan Antonín Bat'a ermöglichte, sein Arbeitszimmer an jeder beliebigen Etage anzudocken.

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verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2009|26 Versunken

04. April 2009Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Roter Ziegel, blauer Diamant

Als Daniel Libeskind 1998 den Auftrag für das Contemporary Jewish Museum in San Francisco erhielt, war das Gebäude, das dem Architekten weltweite Bekanntheit verschaffen sollte, noch im Bau: das Jüdische Museum in Berlin. Nach zehn Jahren konnte nun auch sein Museum in Downtown San Francisco eröffnet werden.

Als Daniel Libeskind 1998 den Auftrag für das Contemporary Jewish Museum in San Francisco erhielt, war das Gebäude, das dem Architekten weltweite Bekanntheit verschaffen sollte, noch im Bau: das Jüdische Museum in Berlin. Nach zehn Jahren konnte nun auch sein Museum in Downtown San Francisco eröffnet werden.

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verknüpfte Bauwerke
Contemporary Jewish Museum

06. März 2009Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Auf der Insel der Toten

Vor zehn Jahren gewann David Chipperfield aus London den Wettbewerb für die Erweiterung des venezianischen Friedhofs San Michele. Unlängst wurde sein «Corte dei quattro Evangelisti» fertiggestellt.

Vor zehn Jahren gewann David Chipperfield aus London den Wettbewerb für die Erweiterung des venezianischen Friedhofs San Michele. Unlängst wurde sein «Corte dei quattro Evangelisti» fertiggestellt.

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Cimitero San Michele

28. Februar 2009Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Zeitgenossenschaft statt Tradition

Die Princeton University besitzt eine neue Bibliothek: die Lewis Library von Frank O. Gehry, der heute seinen 80. Geburtstag feiern kann. Bis zum Jahr 2016 soll der Campus weiter verdichtet werden.

Die Princeton University besitzt eine neue Bibliothek: die Lewis Library von Frank O. Gehry, der heute seinen 80. Geburtstag feiern kann. Bis zum Jahr 2016 soll der Campus weiter verdichtet werden.

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12. Februar 2009Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Faszination Las Vegas

Bilder aus dem Archiv von Robert Venturi und Denise Scott Brown im Museum Bellpark in Kriens

Bilder aus dem Archiv von Robert Venturi und Denise Scott Brown im Museum Bellpark in Kriens

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verknüpfte Publikationen
Las Vegas Studio

30. Januar 2009Hubertus Adam
Bauwelt

Las Vegas Studio.

Die aktuelle Ausstellung im Museum Bellpark Kriens (ab Ende März im DAM in Frankfurt zu sehen) zeigt einen Ausschnitt aus dem umfangreichen Dokumentationsmaterial, das zwischen 1965 und 1972 entstand und im Büro Venturi, Scott Brown and Associates in Philadelphia aufbewahrt wird. Im Untergeschoss des Museums sind Filme zu sehen, die den Strip von Las Vegas mit seinen Leuchtreklamen und Billboards aus der Perspektive des Automobils zeigen, außerdem Dias der Präsentation in Yale von 1969.
In den oberen Geschossen sind neue Abzüge des Bildmaterials ausgestellt. Die von Peter Fischli ausgewählten Dokumente – häufig beiläufige Schnappschüsse – werden, um mit Foucault zu sprechen, durch ästhetische Aufwertung zu „Monumenten“.

Die aktuelle Ausstellung im Museum Bellpark Kriens (ab Ende März im DAM in Frankfurt zu sehen) zeigt einen Ausschnitt aus dem umfangreichen Dokumentationsmaterial, das zwischen 1965 und 1972 entstand und im Büro Venturi, Scott Brown and Associates in Philadelphia aufbewahrt wird. Im Untergeschoss des Museums sind Filme zu sehen, die den Strip von Las Vegas mit seinen Leuchtreklamen und Billboards aus der Perspektive des Automobils zeigen, außerdem Dias der Präsentation in Yale von 1969.
In den oberen Geschossen sind neue Abzüge des Bildmaterials ausgestellt. Die von Peter Fischli ausgewählten Dokumente – häufig beiläufige Schnappschüsse – werden, um mit Foucault zu sprechen, durch ästhetische Aufwertung zu „Monumenten“.

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verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2009|05 Die rote Mediathek

19. Dezember 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ignoranz und Sorglosigkeit

Dem Hauptbahnhof von Stuttgart droht der Teilabriss

Dem Hauptbahnhof von Stuttgart droht der Teilabriss

Der Stuttgarter Hauptbahnhof markiert eine architekturgeschichtliche Schwellensituation, den Übergang vom Bahnhofspalast des Historismus, wie man ihn in Paris, Frankfurt oder Zürich findet, zum funktionalen Verkehrsbauwerk der Moderne. 1911 hatte Paul Bonatz gemeinsam mit Friedrich Eugen Scholer den Wettbewerb gewonnen; der erste Entwurf des Kopfbahnhofs zeigte deutliche Anklänge an die Reformarchitektur der Zeit und war von Eliel Saarinens Bahnhofsprojekt für Helsinki inspiriert. Im Verlauf der Planung gewann der Bau an Klarheit, die stereometrische Körperhaftigkeit wurde radikalisiert, und der ursprünglich in die Front eingebundene Turm rückte als vertikale Dominante an die Ostseite. Mit seinem Kalksteinmauerwerk, den Pfeilerarkaden und den in gigantischen Tormotiven sich zur Stadt hin öffnenden Schalterhallen ist das Bauwerk ein wichtiges Zeugnis für die Monumentalarchitektur der Zeit um 1914. Fertiggestellt wurde es seltsam verspätet erst 1928 – ein Jahr nach der Weissenhofsiedlung, einer der wichtigsten Manifestationen der modernen Architektur.

Bonatz selbst konnte die Schäden des Zweiten Weltkriegs beheben, doch die eigentliche Zerstörung des Baudenkmals droht erst jetzt. Mit der Bewilligung für die Neutrassierung der ICE-Strecke Stuttgart–Ulm soll der von Christoph Ingenhoven geplante unterirdische Durchgangsbahnhof realisiert werden. Damit stehen nicht nur massive Eingriffe in die grandiosen Schalterhallen bevor, sondern auch der Abriss der für den Rhythmus und die Wirkung des Gebäudes wichtigen Seitenflügel im Westen und Osten. Ebenfalls der Zerstörung ausgeliefert wird das nördlich dem Bahnhof vorgelagerte ingenieurtechnische Meisterwerk des «Tunnelgebirges», einer grandiosen Betonkonstruktion.

Einem weltweit unterstützten Protest von Planern und Denkmalschützern haben sich prominente Architekten wie David Chipperfield, Richard Meier oder Denise Scott Brown angeschlossen. Im Schulterschluss mit der Stuttgarter Stadtregierung aber hält die Bahn AG an dem Konzept des auf mehr als vier Milliarden taxierten unterirdischen Durchgangsbahnhofs fest. Und das, obwohl eine Optimierung des Kopfbahnhofs, wie alternative Studien beweisen, effizient und deutlich kostengünstiger wäre. Städte wie Frankfurt am Main oder München haben die Idee einer Untertunnelung ihrer bestehenden Bahnhöfe ohnehin längst beerdigt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.12.19



verknüpfte Bauwerke
Hauptbahnhof Stuttgart

05. Dezember 2008Hubertus Adam
Bauwelt

Stiftungskonzept

Die Kultur des Dorflebens ist bedroht. Jahrhundertealte Produktionsmethoden sind obsolet geworden; Orte in Stadtnähe versinken in den unablässig sich ausbreitenden Siedlungs- und Gewerbegebieten, Orte fern der Zentren werden verlassen. Drei Neuanfänge lassen hoffen.

Die Kultur des Dorflebens ist bedroht. Jahrhundertealte Produktionsmethoden sind obsolet geworden; Orte in Stadtnähe versinken in den unablässig sich ausbreitenden Siedlungs- und Gewerbegebieten, Orte fern der Zentren werden verlassen. Drei Neuanfänge lassen hoffen.

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verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2008|46 3 Dörfer

13. September 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Experimente im Garten der Baukunst

Eine Architektur jenseits des Bauens verspricht die diesjährige Architekturbiennale von Venedig. Die Schau konzentriert sich auf das Experimentelle und wartet manchmal mit ungewohnter Poesie auf.

Eine Architektur jenseits des Bauens verspricht die diesjährige Architekturbiennale von Venedig. Die Schau konzentriert sich auf das Experimentelle und wartet manchmal mit ungewohnter Poesie auf.

Pavillons gehören zu den reizvollsten Bauaufgaben überhaupt. Es sind Architekturen «en miniature», die mitunter nur temporär bestehen. Deshalb gelten für sie andere Rahmenbedingungen als für Zweckbauten. Pavillons lassen das Experiment zu – sie sind im besten Fall Vorboten einer anderen Welt: Spielräume und Inkubatoren des Utopischen. Womit wir beim Thema der diesjährigen – elften – Architekturbiennale in Venedig sind, deren Titel «Out There: Architecture Beyond Building» lautet. Kuratiert wurde die auf die Corderie dell'Arsenale und den Padiglione d'Italia in den Giardini verteilte Hauptschau dieses Mal von Aaron Betsky, ehemals Leiter des Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam und heute Direktor des Cincinnati Art Museum. Architektur, so seine Kernthese, lasse sich nicht auf konkrete Projekte reduzieren. Vielmehr gehe es darum, wie über Architektur gedacht und gesprochen, wie mit Architektur experimentiert werde. Indem er die Pragmatik des Bauens ausblendet, stellt Betsky Architektur als einen Möglichkeitsraum von latent utopischen Dimensionen dar. Ein Tour d'Horizon durch das gegenwärtige Architekturgeschehen ist diese Architekturbiennale somit nicht: Hier sieht man keine Erfolgsbilanz zeitgenössischen Bauens, keine Megaprojekte aus China, keine Superstädte aus der Golfregion. So präsentieren Herzog & de Meuron gemeinsam mit Ai Weiwei im italienischen Pavillon nicht etwa das Nationalstadion in Peking, sondern eine den spezifischen Raum auslotende Arbeit, in der Stühle und Stangen aus Bambus zu einer filigranen Installation verbunden sind.

Architektur als Installation

Mit einer soziologisch orientierten Ausstellung in den Corderie, die sich den Problemen der Verstädterung in den Boomregionen der Welt widmete, hatte Richard Burdett vor zwei Jahren beeindrucken können; Betsky verzichtet jetzt am gleichen Ort weitgehend auf Statistiken und Texte und gliedert die mehr als 300 Meter lange Halle in eine Sequenz von Pavillons. Den Auftakt macht die dunkle «Hall of Fragments»: Auf zwei gebogene Wände mit einer Projektion des Sternenhimmels bauen sich fraktale Geometrien als sich selbst generierendes Muster auf und zerfallen wieder im Nichts. Seitlich sind auf Monitoren architektonische Utopien aus der Filmgeschichte zu sehen. Im Licht wechselnder Farben zeigt Asymptote anschliessend drei Kunststoffobjekte. Sie sind das Resultat digitaler Formfindung, doch ob es sich um Architektur, Design oder Kunst handelt, bleibt ebenso offen wie die Assoziationen, welche sie auslösen: Als zeitgenössische Fetische zielen sie auf das Unbewusste.

Eine der eindrucksvollsten Arbeiten der Ausstellung befindet sich gleich im nächsten Raum: «Feed Back Space» ist eine Installation von Coop Himmelb(l)au, die aus einem Gerüst und einem riesigen transparenten Ballon besteht. Stellt man sich unter diesen und greift an die mit Sensoren ausgestatteten Griffe, so wird der Herzschlag zu einem Ton- und Licht-Spektakel, der individuelle Körper transformiert sich in den Raum. Die Idee für die Arbeit stammt aus den Jahren 1969/1971, doch konnte sie damals nicht realisiert werden. Dass sie nun doch noch Wirklichkeit werden konnte, ist Indikator vielleicht weniger für den technischen Fortschritt als für das heutige Interesse an den Utopien der siebziger Jahre.

Weitere pavillonähnliche Strukturen schliessen sich an. UN Studio zeigt ein in drei Richtungen vorstossendes, schleifenartiges Hausgebilde, welches das Konzept des vor zehn Jahren entstandenen Möbiushauses radikalisiert. Die kroatischen Architekten Penezic + Rogina haben ein Wohngebäude errichtet, das völlig auf die sonst verborgenen Infrastruktursysteme reduziert ist, und Philipp Rahm – der einzige Schweizer Teilnehmer in diesem Teil der Biennale – zeigt einen «Digestible Gulf Stream». Zaha Hadid ist mit einer ihrer fluiden, in den Raum ausgreifenden Wohnlandschaften vertreten, Droog Design und KesselsKramer aus Amsterdam mit einer ironischen «S1ngletown». Natürlich gibt es auch misslungene Arbeiten: etwa die für die Projektion kleiner Filme formal überinstrumentierten Container von Massimiliano Fuksas oder die Möbel aus Fragmenten von Plasticspielzeug, die Greg Lynn vorstellt. Andere Installationen indes werden mit ihrer Poesie lange im Gedächtnis bleiben: etwa die Landschaft aus ondulierend ausgeschnittenen Stahlrohren von Barkow Leibinger, die sich dank Interventionen der Besucher ständig verändert, vor allem aber «The Evening Line» von Matthew Ritchie und Aranda/Lasch: ein bald zwei-, bald dreidimensionales fraktales Muster, das als raumbildende Struktur konzipiert ist.

Die Stringenz, die seine Schau in den Corderie aufweist, erzielt Betsky im Padiglione d'Italia nicht. Ankerpunkte bilden Säle, die den «Masters of Experiment» gewidmet sind. Dabei handelt es sich um arrivierte Stars des Architekturbetriebs wie Frank Gehry und Zaha Hadid, die mit schönen Arbeiten aus ihren frühen Jahren vertreten sind; wunderbar ist vor allem der Saal mit den surrealistischen Architekturzeichnungen von Madelon Vriesendorp zu Rem Koolhaas' frühem Geniestreich «Delirious New York». Die übrigen Säle werden unter dem Schlagwort «Experimental Architecture» von jüngeren Gestaltern bespielt – die Spannweite reicht vom erfolgreichen dänischen Büro von Julien de Smedt bis hin zu dem aktionistischen Künstlerkollektiv Fantastic Norway. Aufmerksamkeit zu erhaschen, gelingt nicht immer, und es stellt sich die Frage, ob die Architekturbiennale, die ja durch diverse, über die ganze Stadt verteilte Veranstaltungen ergänzt wird, nicht längst zu gross geworden ist.

Wie gewohnt ergibt sich bei dem Gang durch die Länderpavillons ein heterogenes Bild, zumal ihre Themen vielfach schon vor Bekanntgabe des Biennale-Themas bestimmt wurden. England zeigt mit Architekten wie Tony Fretton oder Sergions Bates Wohnarchitektur jenseits der modernistischen Hightech-Tradition, China bemerkenswert experimentelle Baukonzepte für den Wiederaufbau des Erdbebengebiets von Sichuan, Frankreich und Spanien bieten ein Panorama zeitgenössischen Bauens, Norwegen präsentiert eine Wanderausstellung über Sverre Fehn. Im Schweizer Pavillon fasziniert die von Gramazio & Kohler entworfene und durch einen Roboter vor Ort erstellte Backsteinmauer, die sich ondulierend durch den Raum zieht und Ausstellungskojen entstehen lässt. In diesen präsentiert sich die architektonische Forschung an vier Lehrstühlen von ETH und EPFL.

Ein neues Verhältnis zur Natur

Sehenswert ist auch der deutsche Beitrag «Updating Germany». Er stellt ökologisch motivierte, zum Nachdenken anregende Projekte vor, die zwischen Alternativ-Touch und Hightech oszillieren, wobei architektonische Form eine untergeordnete Rolle spielt. Die stimmungsvollste Arbeit zeigt Japan. Gemeinsam mit dem Botaniker Hideaki Ohba hat der Architekt Junya Ishigami über die Hügellandschaft, auf der sich der Pavillon erhebt, kleine minimale Gewächshäuser mit Pflanzen installiert. Filigrane Bleistiftzeichnungen an den Wänden variieren das Thema einer Balance zwischen Architektur und Natur. Das Verhältnis zur Natur neu zu bestimmen, ist das latente Postulat dieser Architekturbiennale, und es mag im Titel «Out There» anklingen. Nicht ohne Grund schliesst die Sequenz der Ausstellungen auf dem Gelände des Arsenale ganz am Ende, hinter den Öllagern, mit einem Garten, der sich unerwartet auftut. «Towards Paradise Garden» nennt Kathryn Gustafson ihre Anlage. Und sie verweist, was auch ein Motto der diesjährigen Architekturbiennale sein könnte, auf Voltaires Candide: «Il faut cultiver notre jardin.»

[ Bis 23. September. Katalog: 5 Bde.; Marsilio Editore, Venedig 2008, € 80.–. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.09.13

05. September 2008Hubertus Adam
Bauwelt

Manifesta 7 in Südtirol und Trentino

Anders als die anderen großen Kunstbiennalen, die stets am selben Ort stattfinden, wandert die Manifesta durch Europa. Auf Rotterdam im Jahr 1996 folg­ten Luxemburg, Ljubljana, Frankfurt am Main und San Sebastián als Veranstaltungsorte. Die für Nikosia auf Zypern 2006 angekündigte Manifesta 6 musste ausfallen, weil die Finanzierung gescheitert war. Aber die Manifesta 7 in diesem Jahr findet statt, erstmals allerdings nicht an einem Ort, sondern in einer gan­zen Region. Die Brenner-Autobahn und eine der meist­frequentierten Nord-Süd-Eisenbahnstrecken Europas verbinden die vier Ausstellungsstationen in Franzensfeste, Bozen, Trient und Rovereto in den norditalie­ni­schen Provinzen Südtirol/Alto Adige und Trentino. Die Ausstellungsorte wurden nicht von den Kurato­ren ausgewählt, sondern von politischen Vertretern der Regionen; bei allen Lokalitäten handelt es sich um Gebäude, die einer neuen Nutzung bedürfen. Das Kal­kül dabei ist klar: Kunst kann zur Nobilitierung der Liegenschaften beitragen, auch erhofft man sich von der zeitgenössischen Kunst, dass sie sich günstig auf die weitere Diversifizierung des Tourismus auswirke. Längst strömen ja nicht nur Wanderer, sondern auch Weinliebhaber und Architekturinteressierte in die Ge­gend zwischen dem Brenner und Verona.

Anders als die anderen großen Kunstbiennalen, die stets am selben Ort stattfinden, wandert die Manifesta durch Europa. Auf Rotterdam im Jahr 1996 folg­ten Luxemburg, Ljubljana, Frankfurt am Main und San Sebastián als Veranstaltungsorte. Die für Nikosia auf Zypern 2006 angekündigte Manifesta 6 musste ausfallen, weil die Finanzierung gescheitert war. Aber die Manifesta 7 in diesem Jahr findet statt, erstmals allerdings nicht an einem Ort, sondern in einer gan­zen Region. Die Brenner-Autobahn und eine der meist­frequentierten Nord-Süd-Eisenbahnstrecken Europas verbinden die vier Ausstellungsstationen in Franzensfeste, Bozen, Trient und Rovereto in den norditalie­ni­schen Provinzen Südtirol/Alto Adige und Trentino. Die Ausstellungsorte wurden nicht von den Kurato­ren ausgewählt, sondern von politischen Vertretern der Regionen; bei allen Lokalitäten handelt es sich um Gebäude, die einer neuen Nutzung bedürfen. Das Kal­kül dabei ist klar: Kunst kann zur Nobilitierung der Liegenschaften beitragen, auch erhofft man sich von der zeitgenössischen Kunst, dass sie sich günstig auf die weitere Diversifizierung des Tourismus auswirke. Längst strömen ja nicht nur Wanderer, sondern auch Weinliebhaber und Architekturinteressierte in die Ge­gend zwischen dem Brenner und Verona.

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Bauwelt 2008|34 Sensible Orte

02. September 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Vergangenheit als (Re-)Konstruktion

Das römische Xanten wurde als eine der wenigen antiken Ruinenstädte später nicht überbaut. Nun konnte der seit 1977 bestehende Archäologische Park um ein neues Römermuseum ergänzt werden.

Das römische Xanten wurde als eine der wenigen antiken Ruinenstädte später nicht überbaut. Nun konnte der seit 1977 bestehende Archäologische Park um ein neues Römermuseum ergänzt werden.

Im Zuge der Germanenfeldzüge unter Kaiser Augustus wurde 13/12 v. Chr. ein Legionslager auf dem Fürstenberg südlich des heutigen Xanten angelegt. Die Zivilsiedlung, die zwei Kilometer weiter nördlich am Hafen entstand, avancierte zu einer prosperierenden Stadt, die in den Jahren 98/99 unter Trajan den Titel einer «Colonia» erhielt. Das zweite Jahrhundert, während dessen die grossen repräsentativen Bauten entstanden, gilt als die Blütezeit der «Colonia Ulpia Traiana»; Ende des 3. Jahrhunderts wurde sie von fränkischen Truppen überrannt. Zwar versuchte man anschliessend, das städtische Leben auf verkleinertem Stadtgrundriss zu reaktivieren, doch im Laufe des 4. Jahrhunderts fiel die einstige Colonia endgültig in Trümmer.

Anschauliche Nachschöpfungen

Dadurch, dass sich die mittelalterliche Ansiedlung über der antiken Nekropole entwickelte und Xanten selbst nie mehr die Bedeutung wie seine antike Vorgängerin erlangte, blieb das Gelände der römischen Stadt weitgehend unbebaut. Diesem Sonderfall verdankt der 1977 gegründete Archäologische Park Xanten seine Entstehung: Auf Basis von Grabungsbefunden wurden wichtige Gebäude der Stadt im Massstab 1:1 über den Grundmauern rekonstruiert oder teilrekonstruiert – der Hafentempel, das Amphitheater, eine Herberge samt Thermenannex und die Stadtmauer mit Toren und Türmen. Wie weit man bei derartigen Nachschöpfungen gehen darf, die natürlich stets nur Annäherungen darstellen und vielleicht mehr vom Jetzt als vom Damals erzählen, ist auch unter Archäologen umstritten. Zu bestreiten ist aber nicht, dass die experimentelle Archäologie – also der Versuch, das antike Leben physisch nachzuvollziehen – der Wissenschaft einige Impulse gegeben hat. Und der Archäologische Park Xanten vermag trotz mancher Fragwürdigkeit im Detail ohne Zweifel ein anschaulicheres Bild von den Dimensionen einer römischen Kolonialstadt zu vermitteln, als es Modelle oder Computeranimationen vermöchten, geschweige denn konservierte Grundmauern.

Ausserhalb des Archäologischen Parks, aber noch auf dem Gebiet der antiken Stadt ist jetzt das von dem Kölner Architekturbüro Gatermann & Schossig entworfene Römermuseum eingeweiht worden. Es bildet mit dem 1999 eröffneten Schutzbau über den Ausgrabungen der Stadtthermen, welchen das Kölner Ingenieurbüro Polonyi realisiert hat, ein bauliches Ensemble – mit 24 Metern Firsthöhe, 20 Metern Breite und 70 Metern Länge entspricht der mit einem roten Satteldach aus Blech versehene Bau den Proportionen der Basilika, die als Eingangshalle des Thermenkomplexes fungierte. Als Tragwerk der Halle dienen 14 mächtige Stahlrahmen, die mit Stahlpaneelen verkleidet sind. Glas, auf das ein Pixelraster gedruckt wurde, bildet die Aussenhaut. Diese adaptiert die Struktur der Glashülle über den Thermen.

Die Halle des Museums bleibt als Hohlraum erkennbar; die einzelnen Ebenen der Ausstellung sind als mit Rampen und Treppen verbundene Plattformen von der Stahlkonstruktion abgehängt. Der Rundgang beginnt im Erdgeschoss, wo die germanische Urbesiedlung und die Zeit der ersten römischen Intervention thematisiert werden; dann steigen die Besucher langsam in die Höhe, erleben die Colonia Ulpia Traiana mit ihren wichtigsten Bauten, den Wandmalereien und den zum Teil opulenten Ausstattungen und erfahren viel über die Berufe der Bewohner und das alltägliche Leben. Auf dem obersten Ausstellungsgeschoss beendet ein Ausblick auf die fränkische Ebene den Parcours – durch ein grosses Fenster fällt der Blick auf den doppeltürmigen Dom St. Viktor, der noch heute die Stadt Xanten beherrscht.

Frage nach der römischen Identität

Gemeinsam mit dem Team um den Museumsleiter Hans-Joachim Schalles hat das Atelier Brückner aus Stuttgart eine abwechslungsreiche Szenografie erarbeitet, welche die Exponate auf vielfältige Art zum Sprechen bringt. Gelbliche «Schleusen» rhythmisieren den Rundgang und verweisen auf die Zäsuren in der Siedlungsgeschichte – den Einmarsch der Legionen, den Bataveraufstand der Jahre 69/70 und die Zerstörung in der Zeit der Völkerwanderung.

Lichtjahre entfernt scheinen hier die Zeiten, da sich provinzialrömische Museen eher wie Schaumagazine ausnahmen. In Xanten dienen die Exponate dazu, Geschichten zu erzählen und Geschichte lebendig zu machen – was eigentlich römische Identität gewesen sei, ist eine der Fragen, auf welche die Ausstellung Antworten geben möchte. Dabei bleibt der Abstand zum historischen Geschehen gewahrt. Vergangenheit, so vermittelt es die Schau, ist stets (Re-)Konstruktion und bleibt damit fragwürdig. Die Verantwortlichen nutzen die Finessen heutiger Inszenierungstechniken, vermeiden aber jene «immersiven» Strategien, welche die Distanz zwischen Betrachter und Objekt auflösen wollen. Vertiefende Informationen für interessierte Besucher könnten allerdings an manchen Orten zusätzlich integriert werden.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2008.09.02



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RömerMuseum im Archäologischen Park Xanten

25. August 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Grünräume zwischen Tradition und Zukunft

Mit sieben Ausstellungen zum Thema Landschaftsarchitektur wartet die Internationale Triennale Apeldoorn 2008 auf. Die Ausstellungsorte verteilen sich auf die Stadt und ihre reizvolle Umgebung.

Mit sieben Ausstellungen zum Thema Landschaftsarchitektur wartet die Internationale Triennale Apeldoorn 2008 auf. Die Ausstellungsorte verteilen sich auf die Stadt und ihre reizvolle Umgebung.

Die Natürlichkeit der Landschaft ist meist eine Illusion. Landschaft wurde und wird durch direktes oder indirektes menschliches Einwirken geformt. Das gilt besonders für die Niederlande. Mit der Trockenlegung des Beemster-Polders in Nordholland Anfang des 17. Jahrhunderts begann ein Prozess, der mit der Trockenlegung der Zuidersee und dem Deltawerk im 20. Jahrhundert kulminierte: der Kampf des Menschen gegen das Wasser sowie die Sicherung und Vergrösserung des Territoriums. Die Frage von Künstlichkeit und Natürlichkeit ist daher ein wichtiges Thema in der zeitgenössischen niederländischen Architektur und Landschaftsarchitektur: Man mag an die bühnenartige Platzgestaltung des Schouwburgplein von West 8 in Rotterdam denken oder an den von MVRDV als Stapelung prototypischer Landschaften konzipierten niederländischen Pavillon der Expo 2000 in Hannover.

Dichter Veranstaltungsreigen

In diesem Sommer wird mit der Internationalen Triennale Apeldoorn 2008 der Versuch unternommen, Landschaftsarchitektur und Landschaftsgestaltung breitenwirksam in den Niederlanden zum Thema zu machen. Mehrere Kulturinstitutionen, unterstützt von der Stadt Apeldoorn, der Provinz Gelderland, verschiedenen Ministerien und privaten Sponsoren haben ein reichhaltiges Programm arrangiert: Nicht weniger als sieben Ausstellungen bilden das Kernprogramm der Triennale, die durch Kongresse, Vorträge und partizipatorische Privatgartenprojekte ergänzt wird; im Park Berg en Bos wurde die Blumenpromenade «The Royal Mile» angelegt. Man fragt sich, ob weniger nicht mehr gewesen wäre. Im CODA-Museum Apeldoorn beispielsweise, einem der jüngsten Bauten von Herman Hertzberger, ist «The Discovery of the Netherlands» zu sehen, ein Panorama der niederländischen Landschaftsmalerei vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Den attraktiven Leihgaben zum Trotz hätte man eine derartige Schau auch in anderen Museen zeigen können.

In der Nettenfabriek, einem nicht mehr genutzten historischen Industriekomplex neben dem Bahnhof Apeldoorn, sind drei Ausstellungen untergebracht. «Power of Place» sucht etwas bemüht die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Landschaft. Überzeugender ist der «Canon of the Dutch Landscape»: Aufgezogen auf 60 Banner, werden im Hofraum des Industriebaus Grossfotos niederländischer Landschaften gezeigt – fünf aus jeder der zwölf Provinzen. Daneben ist in einer 1000 Meter langen Halle der früheren Netzfabrik die monografische Ausstellung «Invisible Work» des 1948 geborenen Landschaftsarchitekten Michael van Gessel zu sehen, der zu den erfolgreichsten Vertretern seines Berufsstands in den Niederlanden zählt und Projekte seines jungen, ursprünglich aus Irland stammenden Kollegen Patrick McCabe in die Präsentation integriert.

Van Gessel arbeitet in verschiedenen Massstäben bis hin zu grossräumigen Landschaftsplanungen, wobei sich die sensiblen, niemals spektakulären Projekte bewusst von der Herangehensweise der «Superdutch»-Architekten absetzen. Sein besonderes Interesse gilt historischen Kulturlandschaften; eines der besten Projekte konnte er 2005 auf dem Grebbeberg realisieren, der seit je strategisch wichtigen Anhöhe über dem Niederrhein zwischen Arnhem und Utrecht. Mit zurückhaltenden Interventionen aus Stahl gelang es van Gessel, eine merowingische Wallanlage in ihrem Bezug zur Umgebung für die Besucher lesbar und begehbar zu machen, ohne die historische Substanz zu beeinträchtigen. Als Berater befasst er sich überdies mit der Nieuwe Hollandse Waterlinie, einer Befestigungsanlage, die nach 1815 als Kette von Forts, Schleusen und Deichen angelegt wurde, um bei Gefahr einen Landstreifen zwischen dem IJsselmeer im Norden und dem Biesbosch im Süden fluten und feindliches Eindringen verhindern zu können.

Der Befestigungsgürtel, der seit einigen Jahren erforscht wird und den Status des Unesco-Weltkulturerbes erlangt hat, ist auch in der Ausstellung «A Wider View» in der ehemaligen Funkstation von Radio Kootwijk zu sehen. Das grandiose, gartenkünstlerisch inszenierte Betongebäude, das Julius Luthman 1923 in der Wald- und Heidelandschaft der Veluwe südwestlich von Apeldoorn realisierte, diente ursprünglich der Funkverbindung mit Bandung auf Java; seit mehreren Jahren steht es leer und wartet auf eine neue Nutzung. In der Maschinenhalle wird nun eine instruktive Übersicht über die Herausforderungen im Umgang mit europäischen Kulturlandschaften gegeben. Dabei geht es um Grenzlandschaften wie den römischen Limes, den Atlantikwall oder den «Ypernbogen» des Ersten Weltkriegs, um Fluss- und Wasserregionen, um die Wiederherstellung und den Erhalt traditioneller Landschaftsformen wie der Terrassen der Cinque Terre oder um den Umgang mit industriellen Territorien – von den Minen in Cornwall über die Braunkohlengebiete in der Lausitz bis hin zur «Green Metropolis», die Henri Bava für die Rhein-Ruhr-Region konzipiert hat.

Die schönste Ausstellung der Triennale befindet sich im Barockschloss Het Loo bei Apeldoorn, das Ende des 17. Jahrhunderts als Jagdsitz errichtet und von Mitgliedern der königlichen Familie bis 1975 bewohnt wurde. «Landscapes of the Imagination» ist ein opulent mit Skizzen, Entwürfen und Perspektiven bestückter Überblick über vier Jahrhunderte europäischer Landschaftsarchitektur und deren Darstellungsweisen. Vom perspektivischen Stich eines Renaissancegartens führt der Weg bis zur computergenerierten Perspektive des englischen Büros Gross.Max.

William Kents Zeichnung für Claremont und Capability Browns Plan von Wimpole dokumentieren den englischen Landschaftsgarten, das 19. Jahrhundert ist mit Sckell, Lenné, Repton und Alphand vertreten. Zu den Höhepunkten der Schau zählen die Gouachen des Waldfriedhofs in Stockholm von Gunnar Asplund und Sigurd Lewerentz (1932–35) sowie die fünf Meter lange Bleistiftzeichnung des Seeuferwegs am Zürichhorn von Willi Neukom aus dem Jahr 1963, die nachgerade obsessiv jeden Kiesel und jede Steinplatte wiedergibt.

Rekonstruktionen

Abschliessend lohnt ein Gang durch den Schlosspark: Die zweiteilige Barockanlage, Anfang des 19. Jahrhunderts durch eine Gestaltung im englischen Stil ersetzt, war zwischen 1977 und 1984 trotz kritischen Stimmen anhand von historischen Stichen und Ausgrabungsbefunden rekonstruiert worden. 1990 tauchte unverhofft ein authentischerer Gartenplan aus dem Jahr 1706 auf, der nun die Grundlage für die Revision der Rekonstruktion darstellte. Rechtzeitig zur Triennale haben nun die Parterres im unteren Gartenbereich eine Form erhalten, die dem ursprünglichen Zustand näherkommen mag. Ob eine Rekonstruktion, welche die Gestaltung des 19. Jahrhunderts eliminierte, die richtige Strategie darstellt, bleibt aber fraglich.

[ Bis 28. September 2008. Kataloge: 100 Days of Culture, Gardens and Landscapes. International Triennial Apeldoorn; 176 S., € 29.50. – Landscapes of the Imagination. Designing the European Tradition of Garden and Landscape Architecture 1600–2000; 160 S., € 27.95 (beide 2008 bei NAI Publishers Rotterdam erschienen). ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2008.08.25



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europa1 Niederlande

13. August 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Streit um den Wiederaufbau

Düsseldorfs Stadtkern war 1945 zu weiten Teilen zerstört. Die für Deutschland paradigmatische Kontroverse um den Wiederaufbau wird in einer materialreichen Ausstellung des Stadtmuseums dokumentiert.

Düsseldorfs Stadtkern war 1945 zu weiten Teilen zerstört. Die für Deutschland paradigmatische Kontroverse um den Wiederaufbau wird in einer materialreichen Ausstellung des Stadtmuseums dokumentiert.

Mit Helmut Hentrichs Dreischeiben-Hochhaus für Thyssen (1957-1960), Bernhard Pfaus Schauspielhaus (1959-1970) und den drei den Rhein querenden Schrägseilbrücken von Friedrich Tamms (1957-1976) besitzt Düsseldorf hervorragende Zeugnisse der Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts solcher Bauten, die zu den Inkunabeln der deutschen Nachkriegsmoderne zählen, erstaunt es, dass man sich einst darüber stritt, wie das weitgehend zerstörte Düsseldorf wiederaufgebaut und wer daran beteiligt werden sollte. Eine materialreiche Ausstellung im Düsseldorfer Stadtmuseum thematisiert derzeit den «Architektenstreit» des Jahres 1952. Ausgelöst wurde die Kontroverse durch die Berufung von Julius Schulte-Frohlinde zum Leiter des städtischen Hochbauamts. Dieser hatte einst als williger Entwerfer im Dienst des NS-Regimes fungiert; nun legte er mit dem südlichen Rathausflügel einen traditionalistischen Entwurf vor, der auch eine Dekade zuvor hätte realisiert werden können.

Moralische und ästhetische Fragen

Empört reagierten einige ortsansässige Architekten, die nach Neuerung und nach einem wirklichen Bruch mit der Vergangenheit strebten, darunter Bernhard Pfau, Paul Schneider-Esleben und Josef Lehmbrock. Filigrane und elegante Architekturen wie das «Haus der Glasindustrie» von Pfau (1951) und die Haniel-Grossgarage (1952) von Schneider-Esleben waren gleichsam die gebaute Antithese zu der in Naturstein gekleideten Raster-Monumentalität, mit der beispielsweise Helmut Hentrich 1949 den Firmensitz der Trinkaus-Bank an der Königsallee in Szene gesetzt hatte. Die Protestierenden, die sich im «Architektenring» zusammenschlossen und auf die Unterstützung prominenter Berufskollegen wie Hans Scharoun zählen konnten, hatten einen wunden Punkt berührt: Tatsächlich war das Bauen in Düsseldorf seinerzeit von Architekten geprägt, deren Karriere in der NS-Zeit begonnen hatte; das wichtige Netzwerk stellte der auf Geheiss Hitlers von Albert Speer 1943 installierte «Arbeitsstab Wiederaufbauplanung zerstörter Städte» dar.

Friedrich Tamms, Vertrauter Speers und Architekt der stadtbeherrschenden Flaktürme in Berlin, Hamburg und Wien, avancierte 1948 zum Leiter des Stadtplanungsamts und versorgte seine einstigen Kollegen mit Aufträgen. Vergleichbare Kontinuitäten gab es auch anderenorts: In Düsseldorf aber wurden sie thematisiert. Damit besitzt die Kontroverse des Jahres 1952 eine paradigmatische Bedeutung, die weit über die Landeshauptstadt des neu gegründeten Bundeslands Nordrhein-Westfalen hinausweist. Es ging um personelle, moralische und ästhetische Fragen zugleich: Nach welchen Kriterien sollte der Wiederaufbau erfolgen? Und welche Architekten sollten die Leitlinien bestimmen? Die Interventionen des Arbeitsrings fruchteten allerdings wenig: Schulte-Frohlinde blieb bis zu seiner Pensionierung 1959 im Amt, und auch seine Kollegen litten keineswegs unter Auftragsmangel. Ändern sollte sich lediglich ihr Stil: Im Zuge der Westintegration der Bundesrepublik orientierten auch sie sich bald schon international-modern an amerikanischen Vorbildern, wie Hentrichs Dreischeiben-Hochhaus beweist.

Schau ohne Katalog

Die materialreiche, mit einer grossen Zahl von Archivalien bestückte Ausstellung dokumentiert den Architekturstreit des Jahres 1952 und stellt seine Protagonisten vor. Als Rahmen wird das Baugeschehen von den zwanziger Jahren, als Düsseldorf zur Industrie- und Verwaltungsmetropole im Westen Deutschlands aufstieg, über die Kriegszerstörung - 85 Prozent der Gebäude im Stadtkern lagen 1945 in Trümmern - bis hin zum Generalverkehrsplan von 1961 bilanziert. Bedauerlich nur, dass kein Katalog die Forschungsergebnisse auf Dauer festhält.

[ Bis 31. August; kein Katalog ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2008.08.13

02. August 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Im Glashaus leben

Nach langen Jahren der Stagnation erlebt Manhattan einen Bauboom. Bekannte Architekten realisieren neuartige Wohnhäuser, deren Luxusapartments völlig transparent sind.

Nach langen Jahren der Stagnation erlebt Manhattan einen Bauboom. Bekannte Architekten realisieren neuartige Wohnhäuser, deren Luxusapartments völlig transparent sind.

Das Zauberwort in Manhattan lautet seit einiger Zeit «condo». Von der Hypothekenkrise weitgehend unberührt, erzielen «condominiums», also Eigentumswohnungen, Höchstpreise. Und die «luxury condos» werden zunehmend von prominenten Architekten entworfen: von internationalen Architekturstars, aber auch von Architekten, die bisher primär durch ausgefallene Entwürfe bekannt geworden sind. Das überrascht, denn New York galt über mehrere Dekaden in architektonischer Hinsicht eher als konservativ und medioker; bemerkenswerte Baukunst fand sich lediglich in Nischen. Grosse Architekturfirmen beherrschten mit gestalterischem Mittelmass den Markt, junge experimentierfreudige Architekten konnten sich glücklich schätzen, ein Loft umzubauen oder eine Zahnarztpraxis einzurichten. Und es war symptomatisch, dass sich sogar das Museum of Modern Art (MoMA), nach seiner Gründung 1929 zur treibenden Kraft eines modernen Kunst- und Architekturverständnisses avanciert, einen funktionalen, aber wenig inspirierten Erweiterungsbau vom Japaner Yoshio Taniguchi errichten liess, während das im Nachbarhaus residierende kleine American Folk Art Museum mit einer architektonischen Preziose von Todd Williams und Billie Tsien aus dem Jahr 2001 brillieren konnte. Immerhin setzten aber in den vergangenen Jahren einige kulturelle Institutionen Zeichen, ob die Columbia University mit einem Bau von Steven Holl oder 2002 das Austrian Cultural Forum mit einem kataraktartigen Gebäude von Raimund Abraham.

Einblicke und Ausblicke

Die beiden Wohntürme, von Richard Meier 1999 an der Perry Street mit Blick auf den Hudson errichtet, gelten als Marksteine des heutigen Condo-Booms. Es waren die ersten Gebäude des weltweit tätigen Architekten in New York, wo er seit 1963 ein Büro führt, und diese Tatsache wurde zur Vermarktung des Projekts eingesetzt. Die Öffentlichkeit erfuhr aber auch, dass Prominente wie Nicole Kidman, Calvin Klein oder Martha Stewart Apartments erworben hätten. Schliesslich fielen die Gebäude durch eine vollständige Verglasung der Fassaden auf, wie man sie bisher nur von Bürohäusern kannte.

Sieht man von vereinzelten Vorläufern wie dem Hallidie Building in San Francisco (1918) ab, dessen Fensterfront als erste Curtain-Wall gilt, so setzte sich die verglaste Fassade in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Das Uno-Hochhaus in New York, Gordon Bunshafts Lever-Building und Mies van der Rohes Seagram-Turm stehen am Beginn der Karriere spätmoderner Stahl-Glas-Bürobauten, die erst mit den natursteinverkleideten Lochfassaden der Postmoderne in den achtziger Jahren einen Einbruch erlebten, heute jedoch in veränderter und klimatechnisch optimierter Manier den Markt beherrschen – jüngste Beispiele sind der Hearst-Tower von Norman Foster oder der neue Sitz der «New York Times» von Renzo Piano.

Keines der neuen Wohnhausprojekte versucht expliziter an Konzepte der klassischen Moderne anzuknüpfen als das «Urban Glass House», welches als letztes Werk des 2005 gestorbenen Philip Johnson gilt. Für das Aussehen des zwölfgeschossigen Gebäudes an der Spring Street, das der Meister – nachdem ein früheres Konzept für das Grundstück an der Höhenreglementierung gescheitert war – noch kurz vor seinem Tod skizziert hatte, sind allerdings eher Johnsons Partner Alan Ritchie sowie die Innenarchitektin Annabelle Selldorf verantwortlich. Obwohl der Name des Hauses Bezug nimmt auf Johnsons legendäres Glashaus in New Canaan, ist den beiden Bauten nicht viel mehr als die Tatsache gemeinsam, dass bei beiden Glas als vorherrschendes Fassadenmaterial eingesetzt wurde.

Voll verglaste Fronten, die zunächst an Bürohäuser denken lassen, und minimalistische Einrichtungen zählen zu den Insignien fast aller neuen Condominium-Projekte in New York. Ein cooler, zwischen Minimalismus und räumlicher Opulenz changierender Einrichtungsstil, für den sich das Kunstwort «luxese» eingebürgert hat, etablierte sich in den neunziger Jahren zunächst im Kontext von Galerien, Klubs und Lofts, bevor er auch auf Neubauwohnungen übergriff. Letztlich geht es um eine prestigeträchtige Nobilitierung, um eine mit der Öffentlichkeit kokettierende Inszenierung des Privaten – «The Un-Private House» hiess 1999 eine Ausstellung im MoMA, in welcher Beispiele für die Vermischung von Öffentlichkeit und Intimität in der zeitgenössischen Villenarchitektur präsentiert wurden.

Die grossen Fenster der Condominiums bieten nicht nur Aus-, sondern auch Einblicke. Deshalb ist es nur konsequent, dass viele Anbieter gleich auch die adäquate Innenausstattung offerieren, um die künftigen Bewohner vor der Peinlichkeit zu bewahren, ihren möglicherweise inadäquaten Hausstand wie im Schaufenster zu präsentieren. Wer allerdings nachts Komplexe wie die Perry Street besucht, stösst häufig auf dunkle Wohnungen. Ungefähr ein Drittel der Luxusapartments sind «second» oder «third homes», die nur temporär bewohnt werden – je höher der Preis, desto häufiger handelt es sich um eine Zweitwohnung. Das erklärt auch, warum viele der Anbieter auf ein breites Spektrum von Dienstleistungen setzen, die vom Dog-Walker über den Catering-Service bis hin zum persönlichen Fitness-Coach reichen und teilweise von benachbarten Hotels angeboten werden (und dann gleich zu deren Auslastung beitragen).

Luxus und Markennamen

In Zeiten der Nivellierung, in denen es darum geht, Individualität zu demonstrieren, kann der Distinktionsgewinn, der sich mit einem Luxusapartment erzielen lässt, durch architektonisches Branding noch erhöht werden. Deshalb können Wohnungen in Gebäuden, die von bekannten Architekten entworfen wurden, erheblich teurer verkauft werden. Als Co-Branding wird der Trend bezeichnet, in einem Produkt mehrere Markenidentitäten zusammenzuführen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Gebäude «40 Bond», bei dem Ian Schrager mit Herzog & de Meuron zusammenarbeitete. Schrager, als Mitbegründer des legendären Nightclubs Studio 54 in New York bekannt geworden, lancierte 1984 mit dem von Andrée Putman gestalteten «Morgans» an der Madison Avenue den Trend des Designhotels. 2005 verliess Schrager die Hotelgruppe und begann mit einer neuen Geschäftsidee, dem «carefree living». Im boomenden Markt der Luxusapartments sieht er ein Potenzial; dann nämlich, wenn noch mehr Luxus und Qualität geboten werden. Zunächst entstand das Gramercy Park Hotel, dem ein Apartmentgebäude angeschlossen ist. Das neueste Projekt ist nun das bereits erwähnte Wohnhaus «40 Bond» in NoHo, in dem Serviceleistungen ebenfalls über «Gramercy Park» angeboten werden; Schrager selbst hat das Penthouse auf dem Dach bezogen.

Die Bond Street, die sich zwischen Lafayette Street und Bowery erstreckt, zählte bis vor wenigen Jahren nicht zu den prestigeträchtigen Adressen. Doch das hat sich vollständig gewandelt, und Galerien stehen heute neben Kreativdienstleistern. Herzog & de Meuron ging es um eine Alternative zu den derzeit gängigen Apartment-Typologien in Manhattan. Den stereotypen Vollglasfronten der Luxus-Condos setzte das Basler Büro ein Konzept entgegen, das auf subtile Weise die für diesen Teil Manhattans typische Bautradition aufgreift und mit eigenen Mitteln fortspinnt. Die unteren beiden Geschosse bestehen aus vier zweistöckigen Townhouses, die gleichsam durch das Volumen hindurch gesteckt sind. Einwärts geknickte Fronten hinter aus Graffiti-Elementen generierten Zäunen lassen kleine Vorplätze entstehen, auf der Rückseite ist jeder dieser Wohnungen ein kleiner Hof zugeordnet. Noch grosszügiger wirken die jeweils zwei Wohnungen im durch das Setback bedingten schmaleren Dachaufsatz. Den eigentlichen Luxus von «40 Bond» stellen die opulenten Raumhöhen von drei Metern dar; und von den oberen Etagen aus sind die Ausblicke über die Dachlandschaft von New York schlicht atemberaubend.

Prägend für die Wirkung des Gebäudes ist die Fassade der Apartmentgeschosse. Sie besteht aus einem Raster von Stahlbetonstützen, die in schmalerem oder weiterem Abstand zueinander stehen. Kaschiert wird diese Konstruktion mit polierten Stahlblechen, die wiederum mit einer im Schnitt parabelförmigen Struktur aus grünlich laminiertem Glas abgedeckt sind. Im wechselnden Licht beginnt die Fassade mitunter beinahe surreal zu leuchten – und kann doch als eine zeitgemässe Transformation klassischer Hausfronten im Cast Iron District verstanden werden.

Ein weiteres Projekt von Herzog & de Meuron entsteht demnächst – in Zusammenarbeit mit dem Künstler Anish Kapoor – in Tribeca. Die Alexico Group, in deren Portfolio sich schon ein Gebäude von Richard Meier in der Charles Street befindet, will dort einen «tower of true global character» errichten. Die Pläne dafür sollen im Herbst der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Rund um die Highline

Eines der attraktivsten Quartiere ist derzeit West Chelsea. Nachdem SoHo viel zu touristisch geworden ist, gelten der Meatpacking District und die nördlich angrenzenden Quartiere entlang dem Hudson als Hotspot. In einem umgebauten alten Lagerhaus findet man beispielsweise die New Yorker Filiale der Möbelfirma Vitra, und schräg gegenüber hat das junge Architekturbüro Shop einen boxartigen Aufsatz mit Condos auf ein bestehendes Volumen gestemmt. Einige Blocks flussaufwärts ist 2007 der neue Hauptsitz von Interactive Corp entstanden, einem Konglomerat aus Firmen, die Abrechnungssysteme für das Internet anbieten. Es handelt sich dabei um den ersten realisierten eigenständigen Bau von Frank O. Gehry in New York, und auf entsprechend grosse Aufmerksamkeit ist das Gebäude gestossen. Es als Sensation zu bewerten, wäre übertrieben – mit seiner expressiv zerklüfteten Gestalt, die je nach Perspektive andere Formen entstehen lässt, gehorcht es jener Sprache, die man von dem Altmeister des Dekonstruktivismus erwartet, während sich das Innere – abgesehen von den Foyers – vergleichsweise konventionell gibt. Ungewöhnlich ist allerdings das Fassadenmaterial: Nicht Blech, wie häufig bei Gehry, auch nicht Backstein oder Putz bildet die Haut des Gebäudes, sondern Glas. Durch ein spezielles Siebdruck- und Schmelzverfahren wurde dieses so behandelt, dass das breit gelagerte, nachts von innen heraus magisch leuchtende Volumen am Ufer des Hudson bald wie ein Felsmassiv, bald wie ein riesiger Eisberg wirkt.

Das nächste aufsehenerregende Bauwerk entsteht gerade gegenüber, an der Kreuzung von Eleventh Avenue und Nineteenth Street – Jean Nouvel errichtet einen 23-geschossigen Wohnturm mit 72 Apartments, dessen Äusseres von einem an Bilder Mondrians erinnernden Muster aus bunten Glasscheiben überzogen wird. Die Beziehung des Pariser Architekten zu New York ist charakteristisch für die jüngste Entwicklung: In den neunziger Jahren konzipierte er mehrere Bauten für die Stadt, die aber nicht verwirklicht wurden. Zur Ausführung kam schliesslich 2004, nach zähen Jahren des Ringens, der Apartmentkomplex «40 Mercer» in SoHo, dessen strenges Fassadenraster aus Stahl auf die historischen Gusseisenbauten ringsum Bezug nimmt. Es folgte der Auftrag für West Chelsea, und Ende letzten Jahres wurde bekannt, dass Nouvel eine der prominentesten Baulücken der Stadt schliessen wird, das bisher unbebaute MoMA-Grundstück neben dem American Folk Art Museum. 75 Geschosse hoch, wirkt das Gebäude mit seinem hinter der Glasfassade erkennbaren Stahltragwerk wie eine extrem ausgedünnte, nadelartig in den Himmel stechende Pyramide. Die unteren drei Geschosse werden vom Museum genutzt, während sich darüber ein Hotel sowie die obligatorischen Eigentumswohnungen befinden, mit deren Verkauf das gesamte Projekt finanziert wird.

Nur wenige Schritte östlich der Gebäude von Gehry und Nouvel am Hudson verläuft die «Highline», ein 1929 eröffnetes und 1980 stillgelegtes Hochbahntrassee. Einer privaten Initiative, den 1999 gegründeten «Friends of the Highline», ist es zu verdanken, dass dieses Zeugnis der industriellen Vergangenheit erhalten bleibt und die frühere Gleisebene zwischen West 14th und 30th Street nach Entwürfen von Diller, Scofidio und Renfro sowie Field Operations zu einem öffentlichen Park umgestaltet wird. Wo in den siebziger Jahren eine den Fluss säumende Stadtautobahn geplant war, herrscht Goldgräberstimmung: Grundstücke an der Highline gelten als Filetstücke des heutigen Stadtorganismus.

Computergenerierte Visionen

Einer der interessantesten Neubauten ist an der West 23rd Street geplant: Auf einer Parzelle von nur 12 Metern Breite soll sich eine sukzessive über das alte Bahntrassee auskragende Baustruktur mit elf Wohnungen erheben. Für die Inneneinrichtung der minimalistisch-coolen, loftähnlich konzipierten Wohnungen ist der junge New Yorker Architekt Thomas Juul-Hansen verantwortlich, der schon an den Meier-Bauten in der Perry Street beteiligt war. Die Architektur selbst stammt von Neil Denari, der als früherer Direktor des Southern California Institute of Architecture zu den führenden Theoretikern des Landes und als Protagonist des digitalen Entwerfens gilt, bisher aber so gut wie nichts gebaut hat.

Der Auftrag für Denari ist kein Einzelfall. Investoren scheuen sich nicht mehr, Architekten zu engagieren, die vornehmlich durch computergenerierte Visionen, nicht aber durch klassische Gebäude bekannt geworden sind. Dazu zählt etwa die aus den Niederlanden stammende Winka Dubbeldam mit ihrem Büro Archi-Tectonics, das 2004 in der Greenwich Street in SoHo ein Warenhaus zu einem Apartmentkomplex umgebaut hat. Markant ist die kaskadenartig zur Strasse hin ausgebildete gläserne Vorhangfassade. Und neben dem Perry-Street-Haus von Richard Meier baut nun – entwickelt vom gleichen Developer – Asymptote ein achtgeschossiges Condo-Building. Hani Rashid und Lisa Anna Couture, die Asymptote 1989 gründeten, haben bisher wenig mehr als experimentelle Pavillons errichten können. Verglichen mit manchen anderen Apartmenthäusern bietet 166 Perry Street so Ungewöhnliches wie die Möglichkeit, die Transparenz der Fensterscheiben in Transluzenz zu verwandeln. Glas dient auch im Inneren als Raumteiler, und die Vermarktungsbroschüre hebt insbesondere das «signature Asymptote-designed white kitchen island» hervor.

Dass in New York wieder sehenswerte Architektur entsteht, ist zu begrüssen. Allerdings ist Manhattan für Menschen mit niedrigeren Einkommen unerschwinglich geworden. Kostengünstige Wohnungen entstehen hier nicht mehr. Aber das ist kaum den Architekten anzulasten, die Raum für das Wohnen der Reichen, Sehr-Reichen und Superreichen schaffen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.08.02

22. Juli 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Polygonale Dachlandschaft

In Köln wird um das Projekt eines jüdischen Museums gestritten

In Köln wird um das Projekt eines jüdischen Museums gestritten

Urkundlich erstmals erwähnt in einem Dekret Kaiser Konstantins aus dem Jahr 321, gilt Kölns jüdische Gemeinde als die älteste nördlich der Alpen. 1424 brach die Traditionslinie abrupt ab: Die Juden wurden per Ratsbeschluss vertrieben, und die Synagoge diente nunmehr als Ratskapelle. Erst das liberale Regime während der französischen Besetzung ermöglichte 1798 die Gründung einer neuen Gemeinde.

Das spätantike und das mittelalterliche jüdische Köln lag im Herzen der heutigen Innenstadt – dort, wo sich derzeit eine Freifläche zwischen Rathaus und Wallraf-Richartz-Museum erstreckt. Unter einer gläsernen Pyramide ist die wohlerhaltene Mikwe zugänglich, im Bereich der Synagoge wird derzeit gegraben. Die freigelegten historischen Relikte unter dem gesamten Rathausvorplatz sollen erhalten bleiben und mit den unter dem Spanischen Bau, der Rathauserweiterung aus den Jahren 1951 bis 1953, zugänglichen Grundmauern des römischen Praetoriums zu einer ausgedehnten archäologischen Zone vereint werden.

Dafür, dass an dieser Stelle auch ein jüdisches Museum entstehen kann, tritt seit gut zehn Jahren die «Gesellschaft zur Förderung eines Hauses und Museums der Jüdischen Kultur in Nordrhein-Westfalen» ein, und am 18. Mai 2006 stimmte der Rat dieser Platzwahl zu. Tatsächlich gibt es auch keinen anderen Ort in Köln, der sinnfälliger wäre als derjenige des alten jüdischen Viertels. Und die Kölner Sammlung an Judaica, bisher grösstenteils im Kölner Stadtmuseum untergebracht, zählt zu den bedeutendsten und umfangreichsten Deutschlands.

In einem Wettbewerb, der jüngst entschieden wurde, konnte sich das Büro Wandel Hoefer Lorch + Hirsch mit seinem Konzept durchsetzen. Die Architekten, die schon die Synagoge in Dresden und (allerdings ohne Nikolaus Hirsch) das Jüdische Kulturzentrum in München errichteten, überzeugten die Jury mit der fast schon genial zu nennenden Idee einer Verzahnung und Überlagerung von Ausgrabungsstätte und jüdischem Museum. Über weiten Teilen der bisherigen Freifläche wollen sie eine hallenartige Stahlkonstruktion errichten, deren verschiebbare Stützen die archäologischen Befunde nur minimal tangieren. Die Räume des jüdischen Museums werden in diese Struktur gleichsam eingehängt und lassen das Erdgeschoss zum Luftraum über der Ausgrabungszone werden. Über der Mikwe und den Grundmauern der Synagoge bleibt die Raumstruktur der Obergeschosse ausgespart, so dass man von den Ausstellungsräumen aus auf die Relikte hinuntersehen kann.

Der Entwurf von Wandel Hoefer Lorch + Hirsch besticht durch verschiedene Qualitäten. Er lässt sich dank der Arbeit mit Fertigteilen rasch und ohne weitreichende Eingriffe in die archäologische Zone realisieren – damit könnte das jüdische Museum gleichsam als Schutzdach fungieren, unter dem sich die Ausgrabungen ohne Zeitdruck fortsetzen liessen. Er holt die Bodenfunde, die sonst häufig in einem tiefgaragenähnlichen Ambiente präsentiert werden, ans Tageslicht, verbindet jüdisches Museum und Ausgrabungszone und macht die 2000-jährige Geschichte der Stadt Köln auch visuell erlebbar. Und schliesslich leistet der Entwurf im besten Sinne Stadtreparatur: Mit seiner polygonalen Dachlandschaft reagiert der Neubau auf die ehemals kleinteilige Struktur der Altstadt und mit den Fassaden aus Naturstein und Glas auf die Umgebung. Darüber hinaus entsteht vor dem Rathaus statt einer ungefassten Freifläche ein wirklicher Platz.

Die Tatsache, dass die erst durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs entstandene Freifläche, die eine Lücke in der Stadt darstellt und keinerlei Aufenthaltsqualität besitzt, bebaut werden soll, wird jetzt aber von Kölns Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) gegen das Projekt ausgespielt. Und dies, obwohl die Bebauung durch Ratsbeschluss bewilligt worden ist und Schramma selbst das Siegerprojekt zunächst begrüsst hatte. Unter dem Vorwand, das jüdische Museum störe den Blick auf die (nicht eben inspirierte) Fassade des Wallraf-Richartz-Museums von Oswald Mathias Ungers und die Renaissance-Laube des Rathauses – die in Wahrheit erst jetzt eine sinnvolle Fassung erhielte –, wird derzeit in Köln Stimmung gemacht gegen einen herausragenden Entwurf. Das ist nicht nur peinlich, sondern skandalös und reiht sich in Köln ein in eine Sequenz nachlässigen städtischen Handelns im Bereich von Bauen und Kultur.

[ Die Ergebnisse des Wettbewerbs sind bis zum 15. August im Spanischen Bau des Rathauses ausgestellt. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2008.07.22

17. Juli 2008Hubertus Adam
Bauwelt

Zwischen Malerei und Objekt

Zeit seines Lebens hat sich der Künstler und Designer Andreas Christen (1936–2006) dem Starkult widersetzt, die Serie als Ziel des Design postuliert und auf der Trennung von freier und angewandter Kunst bestanden. Angesichts seiner überaus erfolgreichen Design-Entwürfe mutet Christens diskrete Zurückhaltung im Boom des Autoren-Design fast anachronistisch an. Ohne Zweifel gebührt Andreas Christen ein zentraler Platz innerhalb der sich vornehmlich in Zürich kristallisierenden Strömung der Konkreten Kunst. Und so ist die Retrospektive, welche ihm das Haus Konstruktiv ausrichtet, am richtigen Ort.

Zeit seines Lebens hat sich der Künstler und Designer Andreas Christen (1936–2006) dem Starkult widersetzt, die Serie als Ziel des Design postuliert und auf der Trennung von freier und angewandter Kunst bestanden. Angesichts seiner überaus erfolgreichen Design-Entwürfe mutet Christens diskrete Zurückhaltung im Boom des Autoren-Design fast anachronistisch an. Ohne Zweifel gebührt Andreas Christen ein zentraler Platz innerhalb der sich vornehmlich in Zürich kristallisierenden Strömung der Konkreten Kunst. Und so ist die Retrospektive, welche ihm das Haus Konstruktiv ausrichtet, am richtigen Ort.

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Bauwelt 2008|27 Die kleine Expo

05. Juli 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Lob der Linie

Alvar Aalto schuf eine Vielzahl von Meisterwerken. Nun unternimmt das Architekturmuseum München den Versuch, den prominenten Architekten anhand unausgeführter Projekte vorzustellen.

Alvar Aalto schuf eine Vielzahl von Meisterwerken. Nun unternimmt das Architekturmuseum München den Versuch, den prominenten Architekten anhand unausgeführter Projekte vorzustellen.

Realisierte Projekte sind nur Teil eines architektonischen Œuvres. Ihnen stehen jene Entwürfe gegenüber, die nicht ausgeführt worden sind: weil sie im Wettbewerb nicht prämiert wurden, weil die Umsetzung nicht stattfinden konnte oder weil sie von vornherein utopisch gedacht waren. Der Finne Alvar Aalto (1898–1976), als Pionier organischen Bauens in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zweifellos einer der weltweit einflussreichsten Architekten, ist schwerlich als Visionär und Phantast einzustufen, der das Bauen als Kompromittierung des Ideals geringgeschätzt hätte: «Keine Philosophie – ein Kilometer Linien am Tag», soll Aalto einmal gesagt haben. Doch auch in seinem Schaffen übersteigt die Zahl der unverwirklichten Projekte diejenige der Realisierungen: Neben rund 200 ausgeführten Bauten zählt sein Werk ungefähr 300 weitere Entwürfe.

Problematische Präsentation

«In Sand gezeichnet» heisst eine von der Alvar Aalto Academy Helsinki und dem Alvar Aalto Museum Jyväskylä für das Finnische Architekturmuseum konzipierte Ausstellung, die jetzt vom Architekturmuseum der Technischen Universität in der Münchner Pinakothek der Moderne gezeigt wird. Dabei beschränkt sich die Präsentation auf 19 Projekte, die ausführlich dokumentiert werden, während weitere 80 in Form eines knappen Zeitstrahls an der Wand zu sehen sind. Dass Schwerpunkte auch anders gesetzt werden könnten, liegt in der Natur eines derartigen Konzepts.

Die Handzeichnungen Aaltos, ergänzt durch Pläne seiner Mitarbeiter, stehen im Zentrum der Schau, und doch dürfte es für Besucher, die mit dem Werk des finnischen Meisterarchitekten weniger vertraut sind, nicht unbedingt einfach sein, einen Zugang zu finden. Gewiss, die Veranstalter versuchen, mit Modellen und Detailfotos bestehender Bauten einen sinnlichen Eindruck von Aaltos Architektur zu vermitteln. Darüber hinaus erklären kurze Erläuterungstexte die ausgestellten Originalpläne, und mit kleinen Referenz-Abbildungen wird auf die wiederkehrenden Themen im Schaffen des Architekten hingewiesen (etwa «Abgestufte Aussenräume», «Anpassung an die Umgebung», «Fächerförmige Bauten»). Doch die Ausstellung der horizontal ausgebreiteten, vielfach sehr feinen Zeichnungen unter Glas ist problematisch. Mag sein, dass die Installation aus Gestellen und Glasscheiben an Zeichentische in Büros erinnern soll: Aufgrund der Spiegelungen wirkt die Art der Präsentation alles andere als vorteilhaft.

Kultur und Gesellschaft im Zentrum

Dabei ist der Reigen der Projekte sehenswert, weil er Aaltos Entwicklung anhand von eher unbekanntem Material dokumentiert. Die Schau beginnt mit dem Projekt einer Kirche für das finnische Jämsä (1925), das mit seinem klassizierenden Gestus noch ganz von den Eindrücken der Italienreise des Jahres 1924 geprägt ist. Es folgt die «endlose Spirale» des Kolumbus-Denkmals für Santo Domingo (1928/29). Von überragender Bedeutung ist der zwischen 1934 und 1938 entstandene Entwurf für die Wohnanlage der Firma Stenius in Munkkiniemi: Aalto, der zuvor ganz auf den Funktionalismus eingeschwenkt war, zeigt hier, wie ein Ensemble von vier Wohnscheiben sich in die Landschaft einfügen kann. Zu den städtebaulichen Projekten zählt auch die Neukonzeption für das Zentrum des schwedischen Avesta (1944) mit seiner Idee leicht schräg zur orthogonalen Struktur der umgebenden Bebauung stehender Volumina – oder der zwei Jahrzehnte später entwickelte Plan für das Zentrum von Montreal. Inmitten einer Phalanx von Wolkenkratzern imaginierte Aalto eine Piazza mit niedrigen Bauten, die den menschlichen Massstab wahrten.

Alvar Aalto vermochte es, eine grosse Anzahl unterschiedlicher Bauten auszuführen: Fabriken, Sanatorien oder Wohngebäude. Doch ist der rote Faden seines Œuvres aus Bauten für Kultur und Gesellschaft geknüpft. Vom Kunstmuseum in Tallinn (1937) führt der Weg der Ausstellung über das Sport- und Kongresszentrum Vogelweidplatz in Wien (1952–56), bei dem Aalto Roland Rainer unterlag, bis hin zum neuen Stadtzentrum von Castrop-Rauxel – hier trug 1966 Arne Jacobsen den Sieg davon. Der fächerförmige Konzertsaal aus weissem Marmor, den der Architekt inmitten des Ziegelsteinvolumens der Fortezza von Siena erstrahlen lassen wollte (1966), und das wie eine Zikkurat über einem Hügel aufragende Kunstmuseum im iranischen Shiraz (1969–73) beschliessen die Münchner Schau.

[ Bis 5. Oktober. Katalog: In Sand gezeichnet. Entwürfe von Alvar Aalto. Hrsg. Architekturmuseum der Technischen Universität München. Edition Minerva, München 2008. 160 S., € 26.–. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2008.07.05

16. Juni 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Konstruktivistische Collage

Eine Luftseilbahn verbindet die Universitätsklinik von Portland mit der Stadt im Tal. Das Zürcher Architekturbüro «agps» hat eine Infrastrukturaufgabe zu einer atemberaubenden Lösung geführt.

Eine Luftseilbahn verbindet die Universitätsklinik von Portland mit der Stadt im Tal. Das Zürcher Architekturbüro «agps» hat eine Infrastrukturaufgabe zu einer atemberaubenden Lösung geführt.

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Portland Aerial Tram

13. Juni 2008Hubertus Adam
Bauwelt

Strafkolonie, Gefängnis, Museum

Die Provinz Drenthe gehört zu den abgelegenen Gebieten der Niederlande. Eine Mülldeponie stellt mit 40 Metern die höchste Erhebung dar, Wälder und Heideflächen prägen weite Teile der Landschaft, der Westen der Provinz ist durchzogen von ei­nem dichten System aus Gräben und Kanälen, viele von ihnen aus der Zeit des früheren Torfabbaus.

Die Provinz Drenthe gehört zu den abgelegenen Gebieten der Niederlande. Eine Mülldeponie stellt mit 40 Metern die höchste Erhebung dar, Wälder und Heideflächen prägen weite Teile der Landschaft, der Westen der Provinz ist durchzogen von ei­nem dichten System aus Gräben und Kanälen, viele von ihnen aus der Zeit des früheren Torfabbaus.

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Umbau Handwerkshof



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Bauwelt 2008|23 Museen als Entwicklungshelfer

27. Mai 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Von der Katastrophe zur neuen Identität

Das Areal einer ehemaligen Textilfabrik in Enschede wurde vom Amsterdamer Architekturbüro SeARCH in einen «Cultuurcluster» verwandelt. Dieser fungiert als Kristallisationspunkt für den nach dem Explosionsunglück des Jahres 2000 neu erstandenen Stadtteil Roombeek.

Das Areal einer ehemaligen Textilfabrik in Enschede wurde vom Amsterdamer Architekturbüro SeARCH in einen «Cultuurcluster» verwandelt. Dieser fungiert als Kristallisationspunkt für den nach dem Explosionsunglück des Jahres 2000 neu erstandenen Stadtteil Roombeek.

Mehrfach ereilte das Unglück Enschede. Im Jahre 1862 zerstörte ein Grossbrand das historische Zentrum der niederländischen Stadt, die damals für ihre blühende Textilindustrie bekannt war. Im Zweiten Weltkrieg bombardierten alliierte Flieger irrtümlich die an der Grenze zu Deutschland gelegene Stadt; und die jüngste Katastrophe ereignete sich am 13. Mai 2000: Die Explosion der Feuerwerkfabrik S. E. Fireworks forderte 23 Tote und gegen 1000 Verletzte. Gut 600 Wohnungen wurden zerstört, und ein ganzes Stadtquartier lag in Trümmern.

Wer nun in diesen Tagen die mehr als 150 000 Einwohner zählende Stadt besucht, liest überall den Slogan «Enschede lebt auf». Kurz nach der verheerenden Zerstörung hatte die Stadt in der Region Twente mit dem Wiederaufbau begonnen. Das Entwicklungsgebiet im Stadtteil Roombeek, der sich nördlich des Hauptbahnhofs und damit auf der von der Innenstadt abgewandten Seite befindet, umfasst eine Fläche von 65 Hektaren, von der zwei Drittel von der Explosion betroffen waren.

Postindustrieller Strukturwandel

Bei der Bebauung des Roombeek-Quartiers ging es allerdings nicht allein darum, die Folgen der Katastrophe zu beseitigen, sondern zugleich um die Schaffung eines neuen Images für die Stadt. Mit der Unabhängigkeit der früheren Kolonien, von woher man die Rohstoffe bezogen hatte, war die Textilindustrie in die Krise geraten; das Sterben der Fabriken beschleunigte sich in den sechziger Jahren, weil einheimische Produkte auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig waren. Die ambitionierte Gestaltung des neuen Viertels ist mithin auch Indikator für den Willen, das Bild einer grauen, vom postindustriellen Transformationsprozess gebeutelten und überdies weit von der prosperierenden «Randstad» zwischen Amsterdam und Rotterdam entfernt gelegenen Stadt hinter sich zu lassen.

Für Roombeek entwarf Pi de Bruijn vom Amsterdamer Büro de Architecten Cie. einen Masterplan, der auf Heterogenität und eine Differenzierung des Angebots setzt. Insgesamt 1350 Wohnungen sind neu entstanden oder im Entstehen begriffen, ein Drittel davon als Mietwohnungen. Daneben weist das neue Quartier all das auf, was man sich für eine funktionierende Stadterweiterung wünscht: kulturelle Angebote, Geschäfte und soziale Einrichtungen. Als ein Wahrzeichen von Roombeek fungiert der «Zorgcluster» der Amsterdamer Architekten Claus en Kaan, ein mit umlaufenden Balkonen versehenes und entfernt an Gestaltungsprinzipien von Erich Mendelsohn erinnerndes Hochhaus, das im Erdgeschoss Arztpraxen und Gesundheitseinrichtungen, in den Ebenen darüber Wohnungen für geistig Behinderte birgt.

Ausgangspunkt für die Stadterweiterung aber ist das Rijksmuseum Twenthe, dessen erstaunliche Kunstsammlungen vor allem der Textilfabrikantenfamilie van Heek zu verdanken sind. 1930 wurde der mehrfach erweiterte Ursprungsbau eröffnet; die letzte Ergänzung realisierte Ben van Berkel gemeinsam mit dem Landschaftsarchitekten Lodewijk Balion zwischen 1994 und 1996. Die als Fussgängerpromenade Richtung Nordwesten verlaufende Museumslaan, an der prominente Architekten wie Benthem Crouwel, Erick van Egeraat und Bolles + Wilson luxuriöse Villen errichtet haben, verbindet das Rijksmuseum Twenthe mit dem Rozendaal-Komplex, der als «Cultuurcluster» den eigentlichen Angelpunkt des neuen Quartiers darstellt.

Die Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete Textilfabrik I. I. Rozendaal bezog 1907 ihren neuen Produktionsstandort im Stadtviertel Roombeek. 1995 schloss sie als eine der letzten ihrer Art in Enschede die Pforten; von der Explosionskatastrophe wurden die Baulichkeiten vergleichsweise wenig betroffen. Der Wiederaufbau des Quartiers eröffnete allerdings die Möglichkeit, die ausgedehnten Hallen umzunutzen. Twentse Welle heisst das Museum, das seit der Eröffnung Ende April die neue Attraktion von Enschede darstellt. Dabei handelt es sich um den Zusammenschluss dreier bisher über die Stadt verstreuter Institutionen: des Naturkundemuseums, des auf die Textilgeschichte konzentrierten Museums Jannink und des Van-Deinse-Instituts mit seinen heimatkundlichen Sammlungen.

Twentse Welle

Bjarne Mastenbroek, Leiter des in Amsterdam ansässigen Büros SeARCH und einer der wichtigsten Vertreter der jüngeren niederländischen Architektengeneration, hat die Hallen auf der Ostseite des Areals in ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild erhalten, während die keilartige Formation der Gebäude im Westen bis auf die äussere Umfassungsmauer abgerissen wurde. An ihrer Stelle sind eine Reihe neuer, skulptural geprägter Bauten entstanden, darunter einige expressive Apartmenthäuser und ein bandförmiges, mit Backstein verkleidetes Gebilde mit Ateliers, in dessen Erdgeschoss sich die Sonderausstellungsräume der Twentse Welle befinden.

Die vertikale Dominante des Gesamtkomplexes bildet ein mit Metallnetzen umhüllter Turm für die Verwaltung, der zugleich den Haupteingang des Museums markiert. Die Besucher gelangen zunächst in ein mit sichelförmigen Elementen überdachtes Foyer und von dort unterirdisch in die grosse Halle des Museums. Das für die Ausstellungsgestaltung verantwortliche Amsterdamer Team Opera hat über die gesamte Länge von mehr als 110 Metern eine 6 Meter hohe gläserne Regalvitrine installiert, in der die Sammlungen gleichsam wie in einem Schaudepot ausgestellt sind.

Von der urzeitlichen Tierwelt spannt sich der Bogen über die Wohnkultur des Mittelalters und die Industriegeschichte der Region bis hin zur Gegenwart. Auf Screens können Informationen zu den Exponaten abgerufen werden, installative Objektarrangements in der zentralen Achse führen in die einzelnen Themenbereiche ein. Regionalgeschichtliche Sammlungen in einer neuen, frischen Form zu präsentieren, das ist hier durchaus gelungen. Über einen signalroten Stahlsteg, der die Halle quert, und über eine Brücke gelangt man zurück ins Foyer und zum Ausgang; in einem benachbarten, ebenfalls von SeARCH umgebauten Altbau hat die lokale Kulturinstitution Concordia unter dem Titel «21 Rozendaal» neue Flächen für die Präsentation zeitgenössischer Kunst bezogen.

Eine kleine Broschüre des Architekturzentrums Twente lädt zu einer gut vier Kilometer langen Tour zu allen wichtigen Bauten in Roombeek ein. Doch auch eine Reihe älterer Bauten in Enschede lohnen den Besuch. Dazu zählt vor allem der Campus der TU am nordwestlichen Stadtrand, der zu Beginn der sechziger Jahre als Manifestation eines strukturalistischen Bauens realisiert wurde. Und in der Innenstadt befindet sich die unlängst restaurierte Synagoge, ein Meisterwerk des Architekten K. P. C. de Bazel aus dem Jahr 1928.

[ Ausstellungen: «De Kracht van de Quilt» in den Sonderausstellungsräumen der Twentse Welle dauert bis 1. September; «Pjotr Müller» in 21 Rozendaal bis 29. Juni. Der Führer zur Architektur in Roombeek steht als Download im Internet bereit: http://www.architectuurcentrumtwente.nl/publicaties/index. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2008.05.27

04. April 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Reverenz an die dänische Landschaft

Der Londoner Tony Fretton zählt derzeit zu den interessantesten Architekten Grossbritanniens. Unbeeindruckt vom englischen Hightech, baute er in Dänemark ein formal überzeugendes Kunstmuseum.

Der Londoner Tony Fretton zählt derzeit zu den interessantesten Architekten Grossbritanniens. Unbeeindruckt vom englischen Hightech, baute er in Dänemark ein formal überzeugendes Kunstmuseum.

Nach der Überfahrt über den Fehmarnbelt erreicht die Fähre den dänischen Hafen Rødby. Danach durchquert der Zug Lolland und hält nach 20 Minuten in Nykøbing, dem Brückenkopf auf der Insel Falster. Die 25 000 Einwohner zählende Stadt an der «Vogelfluglinie» genannten ICE-Strecke Hamburg–Kopenhagen besitzt ein historisches Zentrum mit einer Klosterkirche und zahlreichen Fischer- und Bürgerhäusern aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Die Touristen, die hierherkommen, fahren aber gleich weiter zu den weissen Klippen auf der Insel Møn. Doch seit neustem kann Nykøbing mit einer Attraktion aufwarten: dem Fuglsang-Kunstmuseum, das in einsamer Landschaft acht Kilometer südwestlich der Stadt jenseits des Guldborgsunds liegt.

Entstehung einer Sammlung

Obwohl das nach dem Gutshof Fuglsang benannte Museum sein neues Domizil eben erst bezogen hat, reicht seine Geschichte bis ins 19. Jahrhundert zurück. Im Zusammenhang mit der Entdeckung der Kulturlandschaften und der historischen Traditionen des Landes wurde 1887 in Maribo auf Lolland ein Museum gegründet, dem auch eine Kunstsammlung angeschlossen werden sollte. Enge Kontakte, die zur Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen bestanden, führten zum Aufbau einer Kollektion von Gipsen. Darüber hinaus konzentrierte sich die Sammlungstätigkeit und Ankaufspolitik auf die Kunst der Region. Erst in den 1940er Jahren erhielt die Kunst eigenständige Ausstellungsräume in Maribo, die seit 1966 zunächst als Lolland-Falsters-Kunstmuseum und dann als Storstrøms-Kunstmuseum selbständig geführt wurden. Durch eine grosszügige Schenkung konnten 1984 die Lücken im Bereich der dänischen Nachkriegsavantgarde geschlossen werden.

Im Jahre 2004 entschied man sich, der seit der Gründung andauernden Platznot zu begegnen und endlich geeignete Räumlichkeiten zu schaffen. Mit dem idyllisch situierten Gut Fuglsang, das sich durch die seit Mitte des 19. Jahrhunderts veranstalteten Kammerkonzerte einen Namen in der dänischen Musikszene gemacht hat, war ein geeigneter Standort gefunden. Die heutigen Eigentümer, an kultureller Synergie interessiert, stellten das Bauland unentgeltlich zur Verfügung. Die für den Bau erforderlichen 7,2 Millionen Euro wurden durch kommunale Beiträge, EU-Fördermittel sowie den Kulturfonds Realdania aufgebracht. In einem eingeladenen Wettbewerb des Jahres 2005 konnte sich der Londoner Architekt Tony Fretton gegen Gigon/Guyer aus Zürich und drei dänische Konkurrenten durchsetzen.

Wege und Blicke

Tony Frettons genialer Schachzug bestand darin, das weitläufige Ensemble der bestehenden Bauten – anders als von den Mitbewerbern vorgesehen – nicht durch einen Riegel auf der Ostseite zu einem Geviert zu schliessen. Vielmehr ordnete er den Neubau in west-östlicher Ausrichtung an, indem er die Achse eines bestehenden Gebäudes fortsetzte. Der Blick der von Westen her sich nähernden Besucher schweift, vom Neubau kaum tangiert, in die Ferne: über die von einzelnen Baumgruppen akzentuierten Viehweiden bis zum nahen Guldborgsund und über diesen hinweg zur Küste von Falster. Denn nicht nur der Gutshof mit seinem englisch inspirierten Park macht den Reiz der Lage aus, sondern ebenso die Einbettung in die Weite der tellerflachen dänischen Landschaft und der Bezug zum Wasser. Diese Öffnung zur Umgebung passt bestens zu einem Museum, dessen Kunstwerke sich eben der Entdeckung dieser Landschaft verdanken.

Die subtile Lenkung des Blicks, dank der Fretton in seinem Bau auf alle Architekteneitelkeiten verzichten kann, bestimmt auch die räumliche Organisation des Inneren. Durch den Rücksprung des vorderen Gebäudeteils ist ein kleiner Vorplatz entstanden. Hier betritt man unter einem wie ein minimalistischer Baldachin ausgebildeten Vordach das Museumsfoyer: Links befindet sich ein Café, geradeaus ein kleiner Veranstaltungssaal. Nach rechts hin – und wieder auf die West-Ost-Achse einschwenkend – gelangt man in die Ausstellungsbereiche. Ein Gang durchmisst die gesamte Länge des Gebäudes, trennt die Kabinette von den grossen Oberlichtsälen im Norden und kulminiert ganz im Westen in einem über die Gebäudebegrenzung hinweg vorstossenden, dreiseitig verglasten, quadratischen Raum, in dem Sitzgelegenheiten zum Blick über die Felder und Wiesen einladen. Dieser Saal fungiert gleichsam als visuelle Fermate im Takt der Ausstellungssäle, und man kann ihn zugleich als Reverenz an einen Pavillon verstehen, wie man ihn im benachbarten Landschaftsgarten findet. Der lange Gang selbst ist breit genug, um nicht als Korridor zu wirken, und wird ebenfalls zur Hängung von Kunstwerken genutzt.

Der eigentliche Rundgang beginnt im Süden mit den kleinen Ausstellungskabinetten, in denen das «goldene Zeitalter» der dänischen Malerei Revue passiert – vom Klassizismus über die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts bis zum Symbolismus. Diagonal gesetzte Oberlichter, die als Dachaufsätze am Äusseren markant in Erscheinung treten, sorgen für Tageshelle, während die Decken mit ihren geometrischen Bändern diskret historische Stuckornamente anklingen lassen, wie man sie auch im benachbarten Gutshaus findet. Die grossen, flexibel unterteilbaren Säle sind reduzierter gestaltet; hier wird anlässlich der Eröffnungsschau die Kunst des 20. Jahrhunderts präsentiert, darunter eine Anzahl von exquisiten Werken aus dem Cobra-Umfeld.

Bauen für die Kunst

Der 1945 geborene Tony Fretton zählt heute zu den interessantesten Architekten in London. Mit dem Hightech, der unter Tony Blair gleichsam zum Mainstream geworden ist, hat er wenig zu tun, und auch zu einer Ästhetik des Minimalismus, wie sie David Chipperfield vertritt, wahrt er Abstand. Mehr Nähe besteht zum sensualistischen, an der Schweizer Architektur geschulten Purismus von Caruso St John oder Sergison Bates. Den Durchbruch erzielte Fretton 1992 mit der Lisson Gallery in Paddington; vor vier Jahren konnte er das Camden Arts Centre in London umbauen. Auch wenn sich das Büro derzeit intensiv mit Wohn- und Geschäftshäusern beschäftigt – etwa in Amsterdam und Kopenhagen –, stellen Bauten für die Kunst weiterhin den eigentlichen Schwerpunkt des Schaffens dar. Davon zeugen das unlängst fertiggestellte Atelierhaus für Anish Kapoor in Chelsea sowie das Fuglsang-Kunstmuseum. In seinem bescheidenen und doch kalkulierten Gestus sowie mit seinen weiss geschlämmten Fassaden mag es an das grandios in die Küstenlandschaft nördlich von Kopenhagen eingebettete Louisiana-Museum erinnern. Man kann auch an Bauten von Alvaro Siza denken, der sich bekanntlich selbst an Aalto orientiert, mithin einem skandinavischen Architekten.

[ Katalog: Our Best Pieces. Hrsg. Tine Nielsen Fabienke. Fuglsang-Kunstmuseum, Toreby 2008. 140 S., 248 dKr ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.04.04



verknüpfte Bauwerke
Fuglsang-Kunstmuseum

10. März 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Phantasmagorien des Vergangenen

Viele Architekten haben sich schon am Römerberg in Frankfurt den Kopf zerbrochen. Nun sollen die Neubauten der siebziger Jahre eliminiert werden. Doch die Alternativen können nicht überzeugen.

Viele Architekten haben sich schon am Römerberg in Frankfurt den Kopf zerbrochen. Nun sollen die Neubauten der siebziger Jahre eliminiert werden. Doch die Alternativen können nicht überzeugen.

Ein Modell im Historischen Museum zeigt Frankfurts Innenstadt nach den verheerenden Luftangriffen vom 22. März 1944 als endloses Trümmerfeld zwischen Dom und Römerberg, zwischen Paulskirche und Main: Vereinzelte Fassaden früherer Steinbauten erinnern noch an die Messe- und Kaiserstadt, und als einziges Fachwerkgebäude hat das Haus Wertheym zwischen Römer und Fluss wie ein Wunder das Inferno überstanden. Inzwischen weiss man, dass dieses Modell die Wirklichkeit nur bedingt wiedergibt. Deutlich mehr Relikte hatten nämlich den Feuersturm überlebt und fielen erst 1950 dem Abriss zum Opfer, der den Wiederaufbau vorbereitete.

Gleich daneben dokumentiert ein seit 1926 erarbeitetes und 1955 erstmals ausgestelltes Modell der Brüder Treuner den gleichen Bereich vor der Zerstörung. Dicht gedrängt umgeben die Fachwerkhäuser exponierte Bauten und Plätze – den Dom, den Römer oder den Saalhof. Doch was retrospektiv zum pittoresken Stadtbild stilisiert wird, stand schon um 1900 zur Disposition. Im Zuge der gründerzeitlichen Modernisierung der Stadt war die Braubachstrasse als Ost-West-Achse durch den historischen Baubestand zwischen Paulskirche und Römer geschlagen worden. Der Neubau des Rathauses folgte dem Geist eines nationalromantischen Historismus, während entlang dem neuen Strassenzug Bauten entstanden, welche alte Frankfurter Bautraditionen zitierten, hinsichtlich Proportion und Volumetrie indes einem anderen Massstab folgten.

Kontinuität der Transformation

Mochte vordergründig auch das Bild der altertümlichen Handwerkerstadt beschworen werden, so galt das historische Zentrum mit seinen engen Gassen und schmalen Häusern keineswegs als attraktiv. Wie in anderen deutschen Städten führt auch in Frankfurt eine Linie von der Zeit der urbanistischen Erneuerung um 1900 über das Neue Bauen bis hin zum Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht überall avancierte die Ideologie der verkehrsgerechten Stadt, welche Historizität nur noch in Form versprengter baulicher Traditionsinseln zuliess, zum alleinigen Dogma. Doch erst das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 markierte ein Umdenken. Es führte zu einem breiten Interesse an historischen Stadtvierteln oder Gründerzeitquartieren.

Seinen deutlichsten Ausdruck fand der Paradigmenwechsel in Frankfurt mit dem heftig umstrittenen, 1986 fertiggestellten Nachbau von sieben Altstadthäusern am Römerberg. Bereits 1978 hatte sich die Stadtverordnetenversammlung gegen eine bisher vorgesehene moderne Lösung entschieden, dann aber im Dom-Römerberg-Wettbewerb von 1980 – aus dem die Schirn Kunsthalle hervorging – den Architekten noch einmal nahegelegt, Alternativen zur pseudohistorischen Rekonstruktion zu erarbeiten. Ausser Konkurrenz blieb der Vorschlag von Adolfo Natalini und Superstudio, der die sich überlagernden Zeitschichten lesbar gemacht hätte. Das Büro aus Florenz thematisierte ebenso den rigiden Raster der Tiefgarage, die inzwischen das Gelände ausfüllte, wie die historische Gassenstruktur der Altstadt. Der Vorschlag sei «eines der schönsten Architekturgedichte der jüngsten Architekturgeschichte», urteilte seinerzeit Oswald Mathias Ungers. Doch am Ende setzte sich das nach Fotografien nachgeschaffene historische Bild durch.

Die beiden heute am meisten angefeindeten Bauwerke der Frankfurter Innenstadt waren 1975 gerade einmal drei Jahre alt: das aus drei miteinander verbundenen Turmbaukörpern bestehende Technische Rathaus, das sich südlich der Braubachstrasse zwischen Dom und Römer erhebt, sowie das Historische Museum, welches den Komplex der von der staufischen Pfalz übrig gebliebenen Saalhofkapelle, des Rententurms und zweier Palais zum Römerberg hin schliesst. Bei beiden Gebäuden handelt es sich um typische Zeugen ihrer Zeit. Abgesandte des Architekturolymps sind sie nicht, und dennoch befremdet die Entschiedenheit, mit der ihr Abriss betrieben wird. Wirklich störend im Stadtbild wirkt weder das eine noch das andere; und doch sind weder das von öffentlichen Durchgängen ohne Aufenthaltsqualität durchzogene Technische Rathaus noch das graue Betongeschiebe des Historischen Museums besonders attraktiv. Wie sich Gebäude präsentieren, hängt aber auch von ihrem Gebrauch ab. So stellt denn nicht das Technische Rathaus selbst das Problem dar, sondern die falsche Nutzung und die damit verbundene Verwahrlosung der öffentlichen Erdgeschosszonen. Wie es auch anders gehen könnte, zeigen das Barbican Centre und die Brunswick Terraces in London, die durch gezielte architektonische Interventionen zu neuem Leben erweckt wurden und nun als hip gelten. Für die Frankfurter Bauten, welche die Kunsthalle Schirn und den im «Steinernen Haus» beheimateten Kunstverein als Nachbarn haben, wären ähnliche Szenarien denkbar gewesen. Doch hat man nun den vermeintlich leichteren Weg des Abrisses gewählt. Doch es kommen Zweifel auf, ob das, was entstehen soll, tatsächlich besser werden wird.

Die Stadtverordnetenversammlung hatte 2005 entschieden, das Jahre zuvor verkaufte Technische Rathaus erneut zu erwerben und das Areal neu zu bebauen. Als das Architekturbüro KSP Engel und Zimmermann 2006 den Wettbewerb mit einer kleinteilig parzellierten, sonst aber modern anmutenden Gebäudestruktur gewonnen hatte, setzte harsche Kritik ein. Eine Planungswerkstatt mit Bevölkerungsbeteiligung wurde durchgeführt, und am Ende legte die Stadtregierung den neuen Kurs fest: Einige bauhistorisch bemerkenswerte Häuser der Altstadt sollen rekonstruiert, die übrigen auf den alten Parzellengrenzen in einer zeitgenössisch-vermittelnden Formensprache errichtet werden. Auf jeden Fall will man in Frankfurt Fehler wie beim Dresdner Neumarkt vermeiden, wo gross dimensionierte Geschäftsflächen mit nachgeahmten Barockfassaden verkleidet werden. Angesichts der Rekonstruktionsmanie, die in Deutschland derzeit ständig neue Kopien zerstörter Gebäude gebiert, während originale Bausubstanz abgerissen wird, bleiben zentrale Fragen unbeantwortet: etwa die, wie eine Rekonstruktion möglich sein soll, wenn detaillierte Bauaufnahmen fehlen.

Neubau oder Sanierung?

Dass sich heutige Nutzungsanforderungen und der Wunsch nach kleinteiliger Parzellierung nur schwer vereinen lassen, beweist der im Februar entschiedene Wettbewerb für den Neubau des Historischen Museums. Viele der Teilnehmer versuchten, das Konglomerat der historischen Bauten zu einem Geviert zu ergänzen, aber durch Vor- und Rücksprünge an den Fassaden oder eine kleinteilige Giebelstruktur zu gliedern. Einige Vorschläge – etwa diejenigen von Christoph Mäckler oder von Max Dudler – waren durchaus bedenkenswert. Zum Sieger gekürt wurde indes das Projekt von Lederer, Ragnarsdóttir, Oei aus Stuttgart. Sie verlegen die Hauptausstellungsräume in einen wuchtigen Riegel mit doppeltem Giebeldach, der durch einen neu angelegten Platz vom alten Teil des Historischen Museums getrennt ist und sich vor die Nikolaikirche schiebt. Ohne Not wird der Baukörper unterirdisch erschlossen, um einen trichterförmigen Platz zwischen beiden Museumsteilen zu schaffen. Dieser Platz aber folgt weder der historischen Stadtstruktur, noch stellt er einen Zugewinn für die Passanten dar. Begeisterung vermag der Entwurf nicht hervorzurufen, und so muss sich Frankfurt fragen, ob nicht doch Sanierung und Umbau der bestehenden Struktur sinnvoller wären.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2008.03.10

07. März 2008Hubertus Adam
Bauwelt

Max Bill zum 100. Geburtstag

Pech hatte Max Bill mit der „konstruktion aus drei gleichen platten“ für die Generaldirektion der Winterthur Versicherung: Das schon bei der ersten Aufstellung 1982 kollabierte Granitmonument zerbrach drei Jahre nach der gelungenen Aufstellung erneut.

Pech hatte Max Bill mit der „konstruktion aus drei gleichen platten“ für die Generaldirektion der Winterthur Versicherung: Das schon bei der ersten Aufstellung 1982 kollabierte Granitmonument zerbrach drei Jahre nach der gelungenen Aufstellung erneut.

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Bauwelt 2008|10 Beton plastisch

02. März 2008Hubertus Adam
db

Monochromer Klangkörper

Ein eher massiv anmutender Baustoff, eine eigenwillige Farbgebung und ein sehr filigranes Schmuckelement sind die herausragenden Gestaltungsmerkmale eines »Hauses« in Scharans, das eigentlich kein Haus ist. Die Replikation von Formen und Ornament führt zu einem eindrücklichen Gebäude, das vielfach les- und nutzbar ist und seine Komplexität aus der Einfachheit erhält.

Ein eher massiv anmutender Baustoff, eine eigenwillige Farbgebung und ein sehr filigranes Schmuckelement sind die herausragenden Gestaltungsmerkmale eines »Hauses« in Scharans, das eigentlich kein Haus ist. Die Replikation von Formen und Ornament führt zu einem eindrücklichen Gebäude, das vielfach les- und nutzbar ist und seine Komplexität aus der Einfachheit erhält.

Architektur ist meist das Resultat einer Vielzahl sehr unterschiedlicher entwerferischer Entscheidungen und Festlegungen auf verschiedenen Ebenen. Ergeben diese eine gewisse Balance, so mag ein leidlich akzeptables Gebäude entstehen. Indes kann es reizvoll, wenn auch ungleich schwieriger sein, die Anzahl der Themen zu verknappen, also ein Bauprojekt mit weniger, dafür umso grundlegenderen Entscheidungen zu realisieren. Valerio Olgiati wählt seit jeher nicht den einfacheren Weg: Seine Gebäude zeigen paradigmatisch, wie sich durch die Konzentration auf wesentliche Themen ein Entwurfsprozess radikalisieren lässt. Ziel dabei ist keineswegs die Ökonomie der Mittel, sondern die Steigerung des Ausdrucks. Das Schulhaus in Paspels, mit dem Olgiati sich als einer der wichtigsten Exponenten der Schweizer Gegenwartsarchitektur etablierte, zeigt sich als strenger Solitär aus Beton, der durch das Nachzeichnen der Hangsituation subtil dynamisiert wird. Beim Gelben Haus in Flims reduzierte der Architekt das spätklassizistische Bauwerk auf sein materielles Substrat – der weiße Farbanstrich lässt das Volumen von Weitem wie eine minimalistische Plastik erscheinen, während er von Nahem die Versehrungen der Gebäudehaut offenbart und die Baustruktur zum Ornament werden lässt. Das Privathaus in Wollerau schließlich stellt sich als ein überdimensionaler Pavillon aus Weißbeton dar, der schwer und leicht zugleich wirkt.

Sein jüngstes Projekt konnte Olgiati in Scharans realisieren, einer Gemeinde im Domleschg. Dieser Abschnitt des Hinterrheins befindet sich südwestlich von Chur – steil aufragende Berghänge begrenzen den Talboden zwischen Domat/Ems im Norden und Thusis im Süden. Östlich und leicht oberhalb des Flusslaufs gelegen ist Scharans mit seinen 800 Einwohnern ¬eine noch weitgehend historisch geprägte Ortschaft. Die alte Bebauungsstruktur mit ihren Stein- und wettergegerbten Holzhäusern gruppiert und verdichtet sich um einige kleine Plätze im Zentrum, während sie an den Rändern des Dorfs in eine Streusiedlung übergeht.

Konzentration auf Restriktionen

Mitten im Ort, an einem dieser kleinen Plätze, wohnt seit zwölf Jahren der prominente Schweizer Liedermacher und Schriftsteller Linard Bardill. In Chur 1956 geboren, wählte er den kleinen, aber aufgrund der Nähe zur Autobahn keinesfalls abgelegenen Ort, um zwischen und nach seinen häufigen Tourneen in Ruhe arbeiten und sich erholen zu können. Scharans ist für Bardill Rückzugsort, zugleich aber auch der Platz, an dem er probt, experimentiert und organisiert. Auf Dauer war dafür das lediglich 14 Quadratmeter messende Arbeitszimmer in seinem alten Wohnhaus zu klein. Der Zufall wollte es, dass auf der anderen Seite des Platzes ein alter hölzerner Stall zum Verkauf stand; der Künstler erwarb ihn, obwohl er zunächst nicht wusste, wie er die neue Liegenschaft nutzen sollte. Anfangs war für ihn vieles denkbar, ein mehrgeschossiger Turmbau, den die Gemeinde ohnehin nicht bewilligt hätte, ebenso wie die Umnutzung der bestehenden Stallstruktur. Doch letztere Idee schloss Valerio Olgiati, mit dem Bardill inzwischen Kontakt aufgenommen hatte, kategorisch aus: Ein klassischer Umbau, bei dem sich die neue Struktur unsichtbar in der alten Hülle verbirgt, hätte den Architekten schlicht nicht interessiert. Olgiatis Strategie der radikalen Konzentration auf wenige Themen ist ein Beweis dafür, wie Restriktionen zu solch einer Reibung führen, dass Funken zu sprühen beginnen. Die für die Kernzone des Ortes bestehenden Bauvorschriften fordern, dass der Ersatzbau für ein bestehendes Gebäude dieses volumetrisch nachbildet. Damit die charakteristische Körnung des vorhandenen Ensembles visuell prägend bleibt, ist weder eine Vergrößerung noch eine Verkleinerung des umbauten Raums zulässig.

Olgiati erfüllte diese Auflage – doch er erfüllte sie so, dass man von einer Strategie der subtilen Ironie sprechen muss. Das Volumen des früheren Stalls exakt nachzeichnend, errichtete er ein Mauergeviert aus rotbraun durchgefärbtem Ortbeton. Die Hangseite und die Fassade zum Dorfplatz sind als Giebelfronten ausgebildet, die Querseiten im Norden und Süden als klare Wandgevierte. Der einstige Stall bestand aus dem leicht trapezoiden Haupthaus sowie einem Anbau im Norden, der die Dachlinie fortsetzte und damit ein Schleppdach entstehen ließ. Olgiati adaptierte auch diese räumliche Konfiguration, doch er verzichtete auf die Ausbildung der Baunaht: Der monolithische Mauerkranz vereinheitlicht nun die gesamte Struktur. Der beinahe monumentale Charakter wird noch verstärkt durch die geringe Anzahl der Öffnungen. Eine kleine Tür, die man von einer über eine Treppe erschlossenen Gartenterrasse aus erreicht, führt von der Südseite aus in das Innere. Die wichtigste Öffnung jedoch ist eine große, rechteckige Aussparung in der Schaufassade zum Dorfplatz. Diese wendet sich nicht nur dem öffentlichen Raum zu, sondern offenbart in umgekehrter Blickrichtung auch die Konzeption des Neubaus. Was von außen aus monolithisch und festgefügt für alle Ewigkeiten wirkt, ist eigentlich kein Haus, sondern ein großer Hohl-, Hof- oder gar Klangraum. Die Giebelfronten ragen funktionslos in die Höhe, das Gebäude hat kein Dach, und wo sich eigentlich die Decke befindet, die das Wohngeschoss vom Dachboden trennt, hat Olgiati eine – natürlich ebenfalls rot durchgefärbte – Betonplatte eingezogen, die mit einem riesigen elliptischen Durchbruch versehen ist. Auf der Nordseite, also an der Stelle des vormaligen Anbaus, schließt sich – durch eine Glasfront vom Atrium getrennt – das von Bardill gewünschte Studio an.

Es ist ein fast rechteckiger Raum von sechzig Quadratmetern mit einem offenen Kamin. Er kann für verschiedene Zwecke genutzt werden, nicht zuletzt, wie die Akustikelemente an der schrägen Decke beweisen, auch als Tonstudio. Durch die Glasfront und die Aussparung in der Fassade kann Bardill auf den Piz Beverin blicken. Benötigt er mehr Zurückgezogenheit, schließt er die Fassadenöffnung. Dann verschwindet das Dorf, und das Atrium mit seiner zentralen Rasenfläche wird zum Hortus Conclusus.

Atelier und Bühne

Für 1,7 Millionen. Schweizer Franken hat Bardill ein Studio mit einer nutzbaren Fläche von gerade einmal sechzig Quadratmetern erhalten – und ein Atrium, das einen demgegenüber überdimensionierten Außenraum darstellt. Das mag zunächst absurd wirken, erklärt sich jedoch durch die Konzeption des Gebäudes, das Bardill »Ateliertheater« nennt. Es ist mithin die Kombination eines eher intimen Ateliers mit der Funktion eines öffentlichen Theaters. Das Atrium stellt den Ort dar, an dem Außen und Innen, öffentlich und privat zusammentreffen, und so mag man sich hier mal vorkommen wie in einer kalifornischen Villa und mal wie in einer archaischen Versammlungsstätte. Hier kann musiziert werden, und je nach Veranstaltung stehen die Besucher im Atrium selbst – oder auf dem Vorplatz im Dorf. Dann funktioniert die Hauptfassade wie ein großes Bühnentor.

Bardills Ateliertheater kann ebenso als intimes Studio verstanden werden wie als öffentlicher Kulturbau. Diese Ambivalenz ist Konzept, und Olgiati hat dafür eine kongeniale architektonische Lösung gefunden. Mit der Härte, Größe und Einfachheit seines Volumens adaptiert er die klassischen Kriterien monumentalen Bauens. Doch die Wucht und Monotonie, welche das monolithische All-over des Betons bedeuten könnte, wird durch drei entwerferische Festlegungen gemildert und differenziert. Die erste Fixierung betrifft das räumliche Konzept des Atriums ohne Haus und der Giebelwände ohne Dach. Die zweite zielt auf eine Milderung der Monumentalität durch die Farbigkeit des Materials: Durch Pigmente und zusätzlich beigegebenes Steinmehl erzielte Olgiati einen kräftigen, erdhaften Farbton, welcher das Volumen in die Farbigkeit der Umgebung zu integrieren vermag.

Entscheidend zur Wirkung des Gebäudes tragen schließlich die relief¬artigen Ornamente bei, welche die Betonoberflächen überziehen. Ein Ornament auf einer Truhe, die Bardill erworben hatte, diente als Inspiration für die Rosetten, die in drei verschiedenen Größen in die Schalung geschnitzt wurden. Bewusst wählte Olgiati ein handwerkliches Verfahren, verzichtete also auf Pixelraster und computergesteuerte Fräsen. Wichtig war ihm dabei vor allem, dass der Rosette keine übertragene Bedeutung innewohnt. Sie ist kein Symbol, sondern reiner Schmuck ohne semantische Dimension. Und sie wurde zudem am Bau so verwendet, dass sie – anders als bei historischer Verwendung von Ornamenten – keine Bauglieder oder tektonische Strukturen auszeichnet. Demgemäß findet sie sich innen gleichermaßen wie außen, an Wänden ebenso wie an Decken und selbst an Kellertreppen oder jenen Wandpartien, die später durch Erdanschüttung abgedeckt wurden. Bei der Schalung achtete man darauf, dass Wiederholungen nicht sichtbar wurden, dass die Rosetten ständig ihre Ausrichtung ändern und sich nicht optisch zu übergreifenden Mustern zusammenfügen. Gleichsam aleatorisch verstreut, unterstützen sie die homogene Konzeption des monochromen und monolithischen Gebäudes und relativieren dabei seinen monumentalen Gestus.

db, So., 2008.03.02



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db 2008|03 Mono ohne -tonie

29. Februar 2008Hubertus Adam
Bauwelt

Tage der offenen Tür in Vaduz

7500 Würste waren für das Wochenende vorgesehen, aber doppelt so viele Besucher kamen – und damit halb Liechtenstein. Der Architekt Hansjörg Göritz aus Hannover hat das neue Landtagsgebäude entworfen und in Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Frick aus Schaan realisiert. Mit gelben Ziegeln in schlichter Geometrie soll das Regierungsviertel aufgewertet werden und ein neues Wahrzeichen entstehen.

7500 Würste waren für das Wochenende vorgesehen, aber doppelt so viele Besucher kamen – und damit halb Liechtenstein. Der Architekt Hansjörg Göritz aus Hannover hat das neue Landtagsgebäude entworfen und in Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Frick aus Schaan realisiert. Mit gelben Ziegeln in schlichter Geometrie soll das Regierungsviertel aufgewertet werden und ein neues Wahrzeichen entstehen.

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Landesforum und Landesparlament des Fürstentums Liechtenstein



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Bauwelt 2008|09 Wohnungen für Streitkräfte

26. Februar 2008Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Visionen von Manhattan

Ausstellung «New York Modern» im Skyscraper Museum New York

Ausstellung «New York Modern» im Skyscraper Museum New York

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts avancierte New York zur ersten Hochhausstadt der Welt. Während in Chicago eine Höhenbeschränkung festgelegt wurde, konnten die Türme in Manhattan nach Belieben in den Himmel wachsen – bis 1916 das «zoning law» eingeführt wurde. Hugh Ferriss war es, der aufgrund dieser Vorgaben die Idee plastischer, sich in der Höhe zurückstaffelnder Baustrukturen entwickelte. Anhand einer berühmten Folge aus vier Zeichnungen visualisierte er schon 1922 das plastische Potenzial der neuen Set-back-Türme. Im Jahre 1929 erschien dann seine einflussreiche Publikation «The Metropolis of Tomorrow».

Den Visionen Manhattans aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmet sich nun die Ausstellung «New York Modern» im seit 2004 in der Battery Park City ansässigen Skyscraper Museum in New York. In Zeitschriften und Magazinen kursierten die Bilder einer ins Gigantische gesteigerten Mega-Metropole aus eklektizistischen Bauten, bevor Architekten wie Hugh Ferriss zu einer von stilistischen Vorbildern freien neuen Architektur fanden. Einen Gegenpol zu Ferriss stellte Raymond Hood dar, der Pläne für nadelförmige Hochhäuser auf Freiflächen vorlegte, um auf diese Weise Platz für breite Verkehrsschneisen zu gewinnen; 1925 entwickelte er das Konzept bebauter Brücken über den Hudson und den East River. Die Frage, wie sich die zunehmende Verdichtung verkehrstechnisch bewältigen lasse, führte bei Harvey Wiley Corbett zu getrennten Ebenen für Fussgänger, Eisenbahn und Strassenverkehr.

Die mit Originalwerken und Reproduktionen bestückte Ausstellung endet mit dem offiziellen «Regional Plan of New York and its Environment» (RPNY), an dessen Erarbeitung der englische Architekt Maxwell Fry mitwirkte, sowie dem Rockefeller Center, das als wichtigstes städtebauliches Projekt der dreissiger Jahre des 20. Jahrhunderts gelten kann.

[ Bis 31. März; kein Katalog. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2008.02.26

18. Dezember 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Glasskulpturen im Gebirge

Nach der Skisprungschanze auf dem Bergisel hat Zaha Hadid mit den Bauten der neu trassierten Hungerburgbahn soeben ihr zweites Projekt in Innsbruck realisiert. Die skulpturalen Glasdächer erinnern an die Gletscherwelt, aber auch an die Dynamik der Verkehrsströme.

Nach der Skisprungschanze auf dem Bergisel hat Zaha Hadid mit den Bauten der neu trassierten Hungerburgbahn soeben ihr zweites Projekt in Innsbruck realisiert. Die skulpturalen Glasdächer erinnern an die Gletscherwelt, aber auch an die Dynamik der Verkehrsströme.

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07. Dezember 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Hoch gestapelt im Dienst der Kunst

Das New Museum in New York hat dreissig Jahre nach seiner Gründung ein neues Haus bezogen. Der kleine, spektakuläre Bau von Sanaa zählt zu den spannendsten Museumsneubauten der jüngsten Zeit.

Das New Museum in New York hat dreissig Jahre nach seiner Gründung ein neues Haus bezogen. Der kleine, spektakuläre Bau von Sanaa zählt zu den spannendsten Museumsneubauten der jüngsten Zeit.

Der Eklat um eine Richard-Tuttle-Ausstellung führte 1977 dazu, dass das Whitney Museum in New York die junge Kuratorin Marcia Tucker entliess. Noch im gleichen Jahr gründete sie das New Museum of Contemporary Art – und bald schon konnte die neue Institution, die ein Gegenmodell zu den behäbigen Kulturinstitutionen darstellte, eigene Räume beziehen: zunächst an der Fifth Avenue, dann am Broadway in SoHo. Die späten siebziger und die achtziger Jahre waren die grosse Zeit des neuen Hauses: Es gab noch keine Dia Art Foundation und auch kein P.S.1. Das New Museum übernahm eine Pionierrolle bei der Vermittlung von Gegenwartskunst in New York. Künstler wie John Baldessari oder Jeff Koons wurden hier vorgestellt, bevor sie zu Weltstars avancierten. Gleichzeitig förderte Tucker den theoretischen Diskurs, widmete sich dem Feminismus und unterstützte den Kampf gegen Aids.

Revitalisierung der Bowery

Vielleicht lag es an der neuen institutionellen Konkurrenz, vielleicht an der geringeren Resonanz kritischer Positionen, dass es um das New Museum allmählich ruhiger wurde. Doch die im vergangenen Jahr verstorbene Marcia Tucker leitete noch die wichtigste Entscheidung für die Zukunft des nunmehr dreissigjährigen New Museum massgeblich in die Wege, nämlich den Umzug in einen auf die eigenen Bedürfnisse abgestimmten Neubau. 2002 fiel die Entscheidung, die Räume am Broadway zu verlassen und neue an der Bowery zu errichten. In einem Architekturwettbewerb unter sechs eingeladenen Büros konnte sich das in Tokio tätige Büro Sanaa gegen Abalos & Hereros, Adjaye Associates, Gigon Guyer und Reiser & Umemoto durchsetzen. Am vergangenen Wochenende konnte nun der Neubau des New Museum eingeweiht werden.

Das alte und das neue Domizil liegen zwar nur fünf Blöcke voneinander entfernt, doch SoHo und die Bowery galten lange als zwei getrennte Welten. Dass die Bowery um 1800 die vornehmste Wohngegend und die Kulturmeile der Stadt war, geriet im späten 19. Jahrhundert in Vergessenheit, als ihr die Fifth Avenue und der Broadway den Rang abliefen. Den Todesstoss versetzte dem Strassenzug ein längst demontiertes, auf Pfeilern geführtes Bahntrassee. So wurde die Bowery zum Inbegriff des Elendsviertels. Die Kehrseite der uramerikanischen Vorstellung, jeder sei seines Glückes Schmied, war hier erlebbar.

Die Nulltoleranz-Politik der Stadtverwaltung führte in jüngster Zeit dazu, dass es mittlerweile an der Bowery nicht mehr Obdachlose gibt als anderswo in New York. Etwas widerspenstig ist das Gebiet gleichwohl geblieben. Doch an der Ecke East Houston Street hat mit einem ersten Block von Luxuseigentumswohnungen das reiche Manhattan Einzug gehalten. Dieser Problemlage muss sich auch das New Museum stellen: Es kämpft mit künstlerischen Mitteln gegen Phänomene wie die Gentrifizierung – und leistet dieser doch durch seine Präsenz und durch sein Publikum Vorschub. Geht man auf der Bowery etwas nach Norden und biegt dann in die Bond Street ein, so steht man vor dem ebenfalls gerade fertig gestellten Neubau «40 Bond», den Herzog & de Meuron für Ian Schrager errichtet haben. Als Sichtschutz für die exquisiten Studiowohnungen im Erdgeschoss dienen gegossene Metallgitter, deren Form und Gestalt von Graffiti abgeleitet wurde. Subkultur ist zum Ornament erstarrt.
Vertikales Museum

Für die Architekten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa vom Büro Sanaa bestand die Herausforderung darin, das Raumprogramm und die New Yorker Bauvorschriften in Einklang zu bringen – und das auf einer Parzelle von nur gut zwanzig Metern Breite, die rechts und links von Nachbarhäusern begrenzt ist. Die Idee eines in die Höhe sich entwickelnden Museums lag nahe, und Sanaa arbeitete mit dem Bild übereinander gestapelter Boxen. Dass der Genfer William Lescaze um 1930 für das MoMA in New York verschiedene Varianten zu einem Turm geschichteter Ausstellungssäle entworfen hatte, dürfte Sanaa kaum verborgen geblieben sein.

Das New Museum umfasst insgesamt neun Ebenen. Vom Eingangsgeschoss aus, das sich mit seiner Glasfront zur Bowery hin öffnet und neben der Kasse auch einen Bookshop, ein Café und einen rückwärtigen Ausstellungsbereich umfasst, gelangt man hinab zum Auditorium oder hinauf in die drei Galeriegeschosse. Es folgen das Education Center im vierten Obergeschoss, die Verwaltungsbereiche, ein Veranstaltungssaal mit vorgelagerten Terrassen, die einen grandiosen Blick über die Stadt bieten, und das Technikgeschoss mit den obligatorischen Wassertanks.

Das Konzept der Stapelung von Boxen mit leicht trapezoidem Grundriss bietet mehrere Vorteile. Zum einen gelingt es, ein Volumen von erheblicher Höhe in die kleinteilige Baustruktur einzupassen, zum anderen werden die unterschiedlichen Raumbereiche auch an der Fassade erkennbar – ganz abgesehen davon, dass die Idee des Setback-Hochhauses, wie sie Hugh Ferriss in den zwanziger Jahren für New York entwickelte, eine zeitgenössische Neuformulierung erfährt. Durch das schrittweise Zurückweichen der Geschosse bleibt zudem Platz für Oberlichter. Diese erhellen die sonst völlig geschlossen und künstlich beleuchteten Säle bald im Süden und im Westen, dann im Süden und im Norden und schliesslich im Osten durch natürliches Oberlicht.

Sejima und Nishizawa haben mit rauen Betonböden und weissen Wänden neutrale Ausstellungsräume geschaffen – lediglich die bunten Glasmosaikfliesen, die grellgrünen Aufzugskabinen und die mäandrierenden Vorhänge im Education Center setzen farbliche Akzente. Es ist aber wohltuend, dass die Architekten gerade nicht dem Ästhetizismus des «White Cube» huldigen, den schon Brian O'Doherty in seinem fulminanten Essay von 1976 als Strategie der Auratisierung entlarvt hatte. Alle Geschosse des Museums, bei dem es sich eigentlich eher um eine Kunsthalle handelt, sind unterschiedlich; und die Konstruktion des Stahlskelettbaus wird nicht wie anderenorts mit Gipsplatten verkleidet, sondern ist an der Decke erkennbar. Mit «Unmonumental» hat Lisa Phillips, die jetzige Kuratorin, ein adäquates Thema für die Eröffnungsausstellung gefunden. Gezeigt werden zeitgenössische Skulpturen und Installationen, die dem klassischen Ideal der Schönheit das Fragment, das Alltägliche oder den Trash entgegensetzen. Das Provisorische und Unfertige, das viele Werke aufweisen, gefällt nicht allen Besuchern, setzt aber den von Marcia Tucker begonnenen Kurs fort, Gegenpositionen zur kommerziellen Kunstmarkt-Kunst zu unterstützen, selbst auf die Gefahr hin, dass der Markt heute auch diese vereinnahmt.

Die Fassaden des New Museum sind ringsum mit einer Haut aus Aluminium-Streckmetall überzogen. Je nach Lichteinfall und nach Entfernung verändert das Gebäude somit seine Erscheinung. In diesen Dezembertagen, da der erste Schnee über der Stadt liegt, wirkt es von weitem beinahe wie eine surreale Fata Morgana; als hätten die Bauarbeiter das mit einer Plane verkleidete Gerüst nicht entfernt. Von nahem dagegen gewinnt das Volumen an Präsenz und Wucht. Kurz: Mit dem im Vorjahr eröffneten Glass Pavilion in Toledo, Ohio, und dem New Museum haben Sanaa zwei der wichtigsten zeitgenössischen Museumsbauten in den USA realisiert.

[ Die Eröffnungsausstellung «Unmonumental» dauert bis zum 23. März 2008; Katalog: $ 69.95. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.12.07



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Museum of Contemporary Art

07. Dezember 2007Hubertus Adam
Bauwelt

Close Up

Unter den Schweizer Architekten der jüngeren Generation zählen Marco Graber und Tom Pulver zu den erfolgreichsten. Beide wurden 1962 in Bern geboren, und beide absolvierten ihr Studium an der ETH Zürich. 1992 eröffneten sie – nach ersten Berufsjahren in Spanien – ihr eigenes Büro in Bern und Zürich. Die frühen Jahre ver­liefen, wie bei vielen anderen Architekten auch und in der Schweiz insbesondere, schlep­pend: Das Schulhaus im bernischen Niederscherli, für das Graber Pulver 1993 den Wettbewerb gewonnen hatten, wurde erst 2005 fertiggestellt. Schneller ging es mit den Lehrwerkstätten Felsenau in Bern: Hier betrug die Phase zwischen Entwurf und Realisie­rung nur fünf Jahre. Das Gebäude einer ehemaligen Spinnerei wurde durch ein riegelartiges Volumen ergänzt, das den Lehrwerkstätten einen markanten Auftritt verschafft.

Unter den Schweizer Architekten der jüngeren Generation zählen Marco Graber und Tom Pulver zu den erfolgreichsten. Beide wurden 1962 in Bern geboren, und beide absolvierten ihr Studium an der ETH Zürich. 1992 eröffneten sie – nach ersten Berufsjahren in Spanien – ihr eigenes Büro in Bern und Zürich. Die frühen Jahre ver­liefen, wie bei vielen anderen Architekten auch und in der Schweiz insbesondere, schlep­pend: Das Schulhaus im bernischen Niederscherli, für das Graber Pulver 1993 den Wettbewerb gewonnen hatten, wurde erst 2005 fertiggestellt. Schneller ging es mit den Lehrwerkstätten Felsenau in Bern: Hier betrug die Phase zwischen Entwurf und Realisie­rung nur fünf Jahre. Das Gebäude einer ehemaligen Spinnerei wurde durch ein riegelartiges Volumen ergänzt, das den Lehrwerkstätten einen markanten Auftritt verschafft.

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Bauwelt 2007|47 Schulreparatur

19. November 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Fuge und Kontrapunkt

Das Bachhaus in Eisenach, Deutschlands meistbesuchtes Musikermuseum, ist erweitert worden. Die markante architektonische Ergänzung schafft Raum für eine gelungene neue Ausstellung.

Das Bachhaus in Eisenach, Deutschlands meistbesuchtes Musikermuseum, ist erweitert worden. Die markante architektonische Ergänzung schafft Raum für eine gelungene neue Ausstellung.

Der heiligen Elisabeth galt die diesjährige Thüringische Landesausstellung in Eisenach. Veranstaltungsorte waren das frühere Dominikanerkloster und die Wartburg. Obwohl diese vielen Besuchern als Inbegriff einer Höhenbefestigungsanlage des Mittelalters gilt, verdankt sie ihre heutige Gestalt weitgehend dem 19. Jahrhundert. Dieses Gesamtkunstwerk aus romantischem Geist ist mit der heiligen Elisabeth ebenso wie mit dem legendären Sängerwettstreit der Minnesänger verknüpft – und mit Martin Luthers Aufenthalt von 1521/22, während dessen er das Neue Testament ins Deutsche übersetzte. Dass Gedenkorte sich oft mehr aus dem Mythos als aus der Realität speisen, beweist auch das Bachhaus in Eisenach. Johann Sebastian Bach wurde hier 1685 als Sohn des Stadtpfeifers Johann Ambrosius geboren, doch das Haus am Frauenplan, das die Neue Bachgesellschaft 1906 erwarb und 1907 als Museum eröffnete, ist nach heutigem Wissensstand nicht sein wirkliches Geburtshaus.

Entstehen eines Gedenkortes

Nach dem Abriss der Thomasschule in Leipzig 1902 hatten sich die Bachfreunde dazu entschieden, wenigstens diesen Ort zu bewahren, der laut mündlicher Überlieferung als Geburtshaus galt. Das stattliche Ensemble aus zwei Bürgerhäusern des ausgehenden 15. Jahrhunderts ist heute mit historischem Mobiliar so eingerichtet, wie es zu Zeiten Bachs ausgesehen haben könnte. Darüber hinaus bewahrt es eine hervorragende Sammlung barocker Musikinstrumente. Ein grosser Teil von ihnen stammt aus dem Nachlass des einst bekannten Schweizer Musikwissenschafters und Kapellmeisters Alois Obrist, des Bruders des Bildhauers und Jugendstil-Künstlers Hermann Obrist. Nach dem Freitod von Alois Obrist im Jahre 1910 ging seine Kollektion von 150 Instrumenten an das Bachhaus.

Eine heroisch-nationale Interpretation des Komponisten, welche die Gründer des Museums beseelte und der auch das pathetische Standbild von 1939 in Bachs Taufkirche St. Georgen folgt, entspricht weder dem heutigen Verständnis der Künstlerpersönlichkeit (über die man biografisch erstaunlich wenig weiss) noch dem gegenwärtigen Stand der musikwissenschaftlichen Debatte. Darauf muss eine Institution reagieren, die als das meistbesuchte Musikmuseum in Deutschland gilt. Angesichts des Hundertjahrjubiläums entschied sich die als Trägerin des Bachhauses fungierende Neue Bachgesellschaft zu einer baulichen Erweiterung. Den 2003 ausgeschriebenen Wettbewerb gewann der in Kassel tätige und in Braunschweig lehrende Berthold Penkhues. Der heute 52-jährige Architekt, der Ende der achtziger Jahre bei Frank O. Gehry in Santa Monica arbeitete, wurde 1997 durch die Erweiterung des Museums im hessischen Korbach bekannt. Inmitten des historischen Ortskerns errichtete Penkhues ein stark plastisches, kalksteinverkleidetes Volumen, das sich hinsichtlich seiner Proportion und Massstäblichkeit an der historischen Bebauung orientiert.

Neue Blicke auf Bach

Einen vergleichbaren Entwurfsansatz zeigt auch das Bachhaus in Eisenach: Der ringsum mit einer rautenförmigen Struktur aus Muschelkalkplatten verkleidete und daher monolithisch wirkende Baukörper, der vermittels einer Glasfuge an den Altbau anschliesst, greift die Dimension des Bachhauses auf, formuliert sie aber mit zeitgenössischen Mitteln und in einer anderen Materialisierung neu. Das Erdgeschoss ist zu einem grossen Teil verglast und erlaubt den Durchgang und Durchblick zum Garten auf der vom Platz abgewandten Seite.

In den historisch eingerichteten Räumen wird anhand einiger weniger authentischer Exponate ein Abriss der Biografie des Komponisten gegeben; im Erdgeschoss stehen einige historische Tasteninstrumente, die zu Beginn des Rundgangs vorgeführt werden und so über den Klang einen sinnvollen akustischen Einstieg vermitteln. Im Obergeschoss des Neubaus schliesslich findet sich eine thematische Ausstellung, welche einen zeitgenössischen Zugang zu Bach ermöglicht. Die Geschichte der Werküberlieferung wird ebenso thematisiert wie die Fragen nach Bachs authentischem Porträt – und die nach der Aufführungspraxis. «Begehbares Musikstück» nennt das für die Ausstellungsinszenierung verantwortliche Atelier Brückner aus Stuttgart eine 180-Grad-Projektion in einer Raumkapsel in der Mitte des Saales, mit der man Bachs Musik akustisch und visuell erfahrbar machen will. Wer es individueller mag, kann sich mit Kopfhörern in einem der ringsum von der Decke abgehängten Kugelsessel von Eero Arnio niederlassen.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2007.11.19



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Bachhaus Eisenach - Erweiterung

08. November 2007Hubertus Adam
Bauwelt

P.J.H.-Cuypers-Retrospektive im NAi

Gemeinhin gilt Hendrik Petrus Berlage, der Schöpfer der Börse in Amsterdam, als Ahnherr der modernen niederländischen Architektur. Berlage selbst aber wertete anders: Er sah in Petrus Josephus Hubertus Cuypers, dem Architekten des Hauptbahnhofs und des Rijksmuseums in Amsterdam, den eigentlichen Vorreiter. Cuypers’ Leben übergriff nahezu ein Jahrhundert: Er lebte von 1827 bis 1921. In der Epoche des Klassizismus geboren, starb er zu einer Zeit, da der Rationalismus von De Stijl und der Expressionismus der Amsterdamer Schule die Architekturszene beherrschten.

Gemeinhin gilt Hendrik Petrus Berlage, der Schöpfer der Börse in Amsterdam, als Ahnherr der modernen niederländischen Architektur. Berlage selbst aber wertete anders: Er sah in Petrus Josephus Hubertus Cuypers, dem Architekten des Hauptbahnhofs und des Rijksmuseums in Amsterdam, den eigentlichen Vorreiter. Cuypers’ Leben übergriff nahezu ein Jahrhundert: Er lebte von 1827 bis 1921. In der Epoche des Klassizismus geboren, starb er zu einer Zeit, da der Rationalismus von De Stijl und der Expressionismus der Amsterdamer Schule die Architekturszene beherrschten.

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Bauwelt 2007|43 Weiße Wände

17. Oktober 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Gotteshaus und Burg

Rijksmuseum und Hauptbahnhof in Amsterdam sind die bekanntesten Werke von P. J. H. Cuypers. Eine grosse Doppelausstellung in Rotterdam und Maastricht gibt Einblick in das Schaffen des Neugotikers.

Rijksmuseum und Hauptbahnhof in Amsterdam sind die bekanntesten Werke von P. J. H. Cuypers. Eine grosse Doppelausstellung in Rotterdam und Maastricht gibt Einblick in das Schaffen des Neugotikers.

Gemeinhin gilt Hendrik Petrus Berlage, der Schöpfer der Börse in Amsterdam, als Ahnherr der modernen niederländischen Architektur. Berlage selbst aber wertete anders: Er sah in Petrus Josephus Hubertus Cuypers, dem Architekten des Hauptbahnhofs und des Rijksmuseum in Amsterdam, den eigentlichen Vorreiter. Das Leben von Cuypers, der als grösster niederländischer Architekt des 19. Jahrhunderts gilt, währte nahezu ein Jahrhundert – von 1827 bis 1921. In der Epoche des Klassizismus geboren, starb er zu einer Zeit, da der Rationalismus von De Stijl und der Expressionismus der Amsterdamer Schule die Architekturszene beherrschten. Cuypers' Nachlass im Archiv des Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam ist in den vergangenen Jahren systematisch aufgearbeitet worden – nicht zuletzt, um das notwendige Material für die derzeitigen Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten am Rijksmuseum und an der Centraal Station sowie dem Kasteel de Haar, Cuypers' grossem Spätwerk, bereitstellen zu können. Mit der jetzigen Ausstellung, «Cuypers – Architecture with a Mission», und einer gewichtigen Publikation findet das Inventarisierungsprojekt seinen Abschluss. Zum ersten Mal präsentiert das NAI eine Ausstellung zweigeteilt, nämlich am Hauptstandort in Rotterdam und in der im vergangenen Jahr bezogenen Dépendance in Maastricht.

Der äusserst umfangreiche Nachlass stellte die eigentliche Herausforderung für die Ausstellungsmacher dar. Sie haben sich dazu entschieden, keinen Gesamtüberblick über das Œuvre des Architekten zu geben. Stattdessen legen sie zwei synchrone Schnitte durch das Werk von Cuypers. Dem Jahr 1877 gilt die Ausstellung in Rotterdam, dem Jahr 1897 diejenige in Maastricht.
Bauen für die Kirche

Als Cuypers 1877 seinen 50. Geburtstag feierte, befand er sich auf dem ersten Höhepunkt seiner Karriere. Ähnlich wie William Morris hatte er mit kunsthandwerklichen Arbeiten begonnen und 1852 die Werkstätten für christliche Kunst in seinem Geburtsort Roermond in der Provinz Limburg gegründet. Im Zuge der Liberalisierung nach 1848 hatten auch Katholiken in den Niederlanden das Recht auf freie Religionsausübung erhalten; 1853 wurden die historischen Bistümer wiederhergestellt. Diese sollten zu Cuypers' wichtigsten Auftraggebern werden. Mit der Restaurierung und Neumöblierung von Kirchen begann seine Tätigkeit, doch bald folgten auch Neubauten. Dass er dabei auf die Neugotik zurückgriff, hat mit dem Interesse an diesem Stil zu tun, der seit Mitte des 18. Jahrhunderts Europa ergriffen hatte. Cuypers' wichtigste Inspirationsquellen waren Augustus Welby Pugin, der die englische Reformbewegung massgeblich beeinflussen sollte, vor allem aber Eugène Viollet-le-Duc.

Der Franzose hatte mit seinen Restaurierungen von Kathedralen und Burgen, mehr noch aber durch seine Schriften die zeitgenössische Sicht der französischen Gotik geprägt. Insbesondere die Vorstellung von einem «ehrlichen», also materialgerechten Baustil und die Betonung des Strukturellen waren erste Anzeichen für eine Überwindung des Eklektizismus. Unverkleidete Ziegelgewölbe, offengelegte Tragstrukturen und eine aus der Eigenfarbigkeit von Baumaterialien resultierende Polychromie kennzeichnen die Bauten Cuypers', der – wie an zahlreichen seiner insgesamt 67 neu errichteten Kirchen ersichtlich – eher als Nachfolger von Viollet-le-Duc denn als grosser Innovator verstanden werden muss.

Auf grossen, staffeleiähnlichen Displays werden Cuypers' riesige, vielfach kolorierte Entwürfe gezeigt; dazu treten Zeichnungen für die Details, die beweisen, dass das Atelier von Cuypers auch die gesamte Innenausstattung bis hin zu den liturgischen Gegenständen konzipierte. Ebenfalls zu sehen sind die Entwürfe für die wichtigsten Profanbauten. Dazu zählen die Stadtvillen, die Cuypers auf dem 1865 von ihm selbst erworbenen Terrain am Amsterdamer Vondelpark errichtet hatte, vor allem aber das Rijksmuseum und die Centraal Station. Gerade das Museum erhitzte die Gemüter. Auch wenn der Architekt Varianten in der Sprache von Gotik und Renaissance vorgelegt hatte, sahen manche Kritiker den katholischen Geist am Werk – und damit etwas für das reformierte Amsterdam völlig Inadäquates.

Burgenromantik

Im Jahre 1897 – das Rijksmuseum war 1885, die Centraal Station 1889 fertig gestellt worden – gehörten die Kontroversen der Vergangenheit an. Cuypers, auch als Rijksbouwmeester zu Einfluss gelangt, befand sich im Zenit seines Ruhmes. Die dem Neuen gegenüber aufgeschlossene Architekturzeitschrift «Architectura et Amicitia» widmete ihm ein Sonderheft, und gerade von einer jüngeren Architektengeneration wurde der Siebzigjährige verehrt, etwa von K. P. C de Bazel oder Lauweriks. Dies weniger seiner Bauten wegen als vielmehr aufgrund einer Haltung, die ihn als Protagonisten der Reformarchitektur erscheinen liess. Mit dem Katholizismus hatten die Jungen, die der Theosophie oder sozialistischen Idealen anhingen, weniger Mühe. Tempelvisionen imaginierte auch Berlage noch um 1920.

Im Zentrum der Maastrichter Schau steht der Wiederaufbau des Kasteel de Haar in Haarzuilens bei Utrecht. Der Auftrag wurde Cuypers durch seinen Freund Victor van de Stuerts vermittelt, den Leiter der Abteilung Kunst und Wissenschaften im niederländischen Innenministerium. 1890 hatte Baron Etienne van Zuylen van Nijevelt, durch die Heirat mit Hélène de Rothschild zu Vermögen gelangt, die ruinöse Burganlage seiner Vorfahren geerbt. Im Jahr darauf beauftragte er Cuypers mit dem Wiederaufbau, der nicht eine Rekonstruktion werden sollte, sondern eine gebaute Phantasmagorie des Mittelalters aus romantischem Geist, als bizarres Gesamtkunstwerk seltsam verspätet und quer in der Zeit stehend, dabei selbstverständlich mit allem Komfort der Zeit ausgestattet. Weil der Baron die umliegenden Häuser nicht von seinem Wohnsitz aus sehen wollte, liess er in neoabsolutistischem Gestus abseits ein ganzes Dorf samt Wirts- und Gemeindehaus neu errichten. Die Pläne dazu stammen von Jos Cuypers, der in das Büro seines Vaters eingetreten war und dieses auch nach dessen Tod weiterführte.

Im 20 Jahre dauernden Projekt in Haarzuilens fand der niederländische Historismus zu einem späten Höhepunkt. Nach Jahren der Vernachlässigung wird das Kasteel bis 2010 restauriert. Schlechter erging es einer Reihe von Cuypers' Kirchen, die vorwiegend in den sechziger Jahren abgerissen wurden. Und die romanische Basilika Sint Servaas in Maastricht, mit deren Restaurierung sich der Architekt ein halbes Jahrhundert auseinandersetzte, zeigt nach den jüngsten Umgestaltungen kaum noch Spuren von Cuypers' Wirken.

[ Bis 6. Januar 2008 im NAI Rotterdam und Maastricht, Katalog: P. J. H. Cuypers (1827–1921). The Complete Works. Hrsg. Hetty Berens. NAI Publishers, Rotterdam 2007. 400 S., € 49,50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2007.10.17



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02. Oktober 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Synthese der Künste

Mittels hervorragender Exponate gibt eine Ausstellung in Weil am Rhein einen mustergültigen Überblick über das vielgestaltige Œuvre Le Corbusiers. Leitidee der Schau ist die Synthese der Künste.

Mittels hervorragender Exponate gibt eine Ausstellung in Weil am Rhein einen mustergültigen Überblick über das vielgestaltige Œuvre Le Corbusiers. Leitidee der Schau ist die Synthese der Künste.

Kein Architekt des 20. Jahrhunderts hat seine Zeit und die Nachwelt so entscheidend geprägt wie Le Corbusier (1887–1965). Sein Werk führt vom Reformstil um 1900 über den Neoklassizismus sowie den Purismus der zwanziger und dreissiger Jahre bis hin zum organischen Betonplastizismus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Le Corbusier war vielfältig begabt: als Architekt, als Urbanist, als Künstler. Und er war ein Genie der Selbstinszenierung und eigenen Vermarktung. Sein achtbändiges Œuvre complète, dessen erster Band 1930 erschien, begründete die neue Buchgattung der mehrbändigen Architektenmonografie. Doch daneben stiess Le Corbusiers Publikationsmaschinerie eine Flut von Texten und Traktaten, Artikeln und Büchern aus, von denen manche zu den einflussreichsten ihrer Zeit zählten – etwa das polemisch-plakative «Vers une architecture» von 1923 oder die «Charta von Athen» (1941) der von Le Corbusier mitbegründeten CIAM mit ihrem Postulat einer funktional in die Bereiche Arbeit, Wohnen, Verkehr und Freizeit gegliederten Stadt. Das Charisma des Architekten überstrahlte Fragen der Moral; wiewohl er auf Reisen immer wieder die kleinteilig-traditionelle Lebenswelt fremder Kulturen festhielt, schlug Le Corbusier im Plan Voisin von 1925 vor, das Zentrum von Paris zu planieren und an seiner Stelle auf einem orthogonalen Raster 20 kreuzförmige Hochhäuser zu errichten. Und während des Zweiten Weltkriegs versuchte er sich – erfolglos – dem Vichy-Regime anzudienen. Vielen wäre ein derartiger Versuch der Kollaboration zum Verhängnis geworden – nicht so Le Corbusier, der unmittelbar nach dem Krieg im Auftrag des Wiederaufbauministers Raoul Dautry das Konzept der Unité d'habitation entwickeln konnte.

Atemberaubend und mustergültig

Werk und Aktionsradius des 1917 von seinem Geburtsort La Chaux-de-Fonds nach Paris übersiedelten Charles-Edouard Jeanneret, der sich erst in den zwanziger Jahren das Pseudonym Le Corbusier zulegte, sind so umfangreich, dass der Versuch, den ganzen Corbusier in einer Ausstellung zeigen zu wollen, zunächst wie ein hilfloses Unterfangen erscheinen muss. Die Ausstellung «Le Corbusier. The Art of Architecture», die nach ihrer Rotterdamer Premiere nun in veränderter Form im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein zu sehen ist, bevor sie nach Liverpool und London weiterwandert, belehrt den Besucher eines Besseren. Denn den Zürcher Gastkuratoren Stanislaus von Moos und Arthur Rüegg ist eine atemberaubende Schau gelungen. Aus der Pariser Fondation Le Corbusier, welche den Nachlass verwaltet, konnte eine Vielzahl grandioser Exponate entliehen werden, handle es sich um Originalmodelle, Gemälde und Plastiken, Zeichnungen, Pläne oder Gegenstände aus der umfangreichen Sammlung des Architekten. Die Masse der Ausstellungsstücke bringt den von Dieter Thiel eingerichteten Gehry-Bau nachgerade zum Bersten. Und doch veranstalten die Kuratoren keine Materialschlacht, sondern haben eine intelligente und präzise choreografierte Ausstellung realisiert. Wer wenig vertraut ist mit dem Werk Le Corbusiers, erhält eine mustergültige Einführung; wer sich auskennt, wird durch ungewöhnliche Blickwinkel überrascht und durch exquisite Ausstellungsstücke in Bann gezogen. Mehr kann eine Architekturausstellung nicht leisten.

Die Basis für die Ausstellung bildete die neuste Forschung über Le Corbusier, die das Bild des Architekten und von Teilaspekten des Werks hat vielgestaltiger werden lassen. So ist – nicht zuletzt dank der Restaurierung der Maison Blanche von 1912 in La Chaux-de-Fonds – das Frühwerk stärker in das Blickfeld geraten; und das künstlerische Schaffen erfuhr ebenso verstärkte Aufmerksamkeit wie die Tätigkeit Le Corbusiers als Buchgestalter und Arbeiter am Text. Die Schau folgt weder einer strikten Chronologie, noch werden die einzelnen Arbeitsbereiche separat abgehandelt. Sie sucht berechtigterweise die Synthese – nicht zuletzt, um einem eindimensionalen Verständnis Le Corbusiers vorzubeugen. Gegliedert ist sie in drei Abteilungen: «Contexts», «Privacy and Publicity» sowie «Built Art».

Im Zentrum des ersten, den Kontexten gewidmeten Teils stehen die Orte, die für Corbusier von zentraler Bedeutung waren. Da ist zunächst La Chaux-de-Fonds, wo der ausgebildete Kunsthandwerker zur Architektur fand. Kathartisch wirkten die Reisen nach Deutschland, Frankreich und in den Orient, die er zwischen 1908 und 1911 unternahm – der junge Jeanneret liess den style sapin, die jurassische Spielart des Art nouveau, hinter sich und fand zu einer neoklassizistisch inspirierten Haltung, die sich an der deutschen Reformarchitektur der Zeit orientierte.

Die Reiseerfahrungen sollten das spätere Werk unmittelbar beeinflussen: An der Kartause von Ema in Galluzzo studierte er das Verhältnis von Individualität und Kollektivität, in Griechenland inspirierten ihn die weissen stereometrischen Wohnhäuser. Das Interesse am Orient spiegelt sich auch in den Planungen für Algier, die 1931 begannen. Schon 1928 hatte sich der junge Architekt mit Entwürfen für Moskau befasst. In die USA, das Mutterland der Hochhäuser, reiste er indes erst 1935. Der Eindruck, den New York hinterliess, blieb ambivalent – zu dicht beieinander und zu wenig hoch seien die Wolkenkratzer. Seine eigene Hochhausvision hatte Le Corbusier erstmals 1922 auf dem Salon d'Automne mit der Ville Contemporaine de trois millions d'habitants präsentiert – das Diorama wurde für die Ausstellung in Weil rekonstruiert.

«Fünf Punkte»

Der Teil Privacy and Publicity widmet sich den berühmten Wohnhäusern der zwanziger Jahre, so dem Doppelhaus für Albert Jeanneret und den Bankier und Kunstsammler Raoul La Roche (1923) und der Villa Savoye (1928–31). Anlässlich der Stuttgarter Weissenhof-Ausstellung publizierte er die «Fünf Punkte», welche als Postulate den freien Grundriss, das Bandfenster, die freie Fassade, die Erdgeschossstützen sowie den Dachgarten umfassten. Hatte Corbusier zunächst eine Auswahl anonymer Möbel für die Einrichtungen verwendet, so begann er 1928 mit Charlotte Perriand jene Stahlrohrmöbel zu entwickeln, die heute zu den Klassikern des Designs zählen.

Abschliessend thematisieren die Kuratoren die Synthese der Künste, die sie letztlich als Kernidee des Schaffens von Le Corbusier verstehen. Die Kontakte zu Künstlern, etwa zu Picasso oder Léger, befruchteten Le Corbusiers eigene künstlerische Tätigkeit. Neben seiner Malerei wandte er sich nach 1945 auch freiplastischen Arbeiten zu. Parallel zu diesen Plastiken lassen von Moos und Rüegg mit einer eindrucksvollen Sequenz von Originaldokumenten die wichtigsten Bauten und Planungen des späteren Le Corbusier Revue passieren: die Unité d'habitation, die Kapelle von Ronchamp sowie die städtebaulichen Projekte und Bauten für Ahmedabad und Chandigarh. Die Dokumentation des Philips-Pavillons auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 beschliesst die Ausstellung: Die zeltartige, mit Betonplatten verkleidete Struktur, die mit der visuellen Komposition «Poème électronique» nach Musik von Edgar Varèse bespielt wurde, steht paradigmatisch für die angestrebte Idee des Gesamtkunstwerks.

[ Bis 10. Februar. Katalog: Le Corbusier. The Art of Architecture. Hrsg. Alexander von Vegesack, Stanislaus von Moos, Arthur Rüegg, Mateo Kries. Vitra-Design-Museum, Weil am Rhein 2007. 398 S., € 79.90. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2007.10.02

22. September 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Reduktion und Sinnlichkeit

Am vergangenen Wochenende wurde das Kunstmuseum Kolumba des Erzbistums Köln eröffnet. Der Schweizer Architekt Peter Zumthor setzt damit seine Auseinandersetzung mit dem Thema Museum fort – und fügt der historischen Stratigrafie der Stadt Köln eine Schicht hinzu.

Am vergangenen Wochenende wurde das Kunstmuseum Kolumba des Erzbistums Köln eröffnet. Der Schweizer Architekt Peter Zumthor setzt damit seine Auseinandersetzung mit dem Thema Museum fort – und fügt der historischen Stratigrafie der Stadt Köln eine Schicht hinzu.

Museumsboom allerorten. Ende März veröffentlichte die «New York Times» eine Übersicht von 46 Museumsprojekten, die bis zum Jahr 2010 in den USA verwirklicht werden sollen. In Abu Dhabi versucht man, die touristische Zukunft des Emirats mit spektakulären Kulturbauten zu sichern; und mit dem Louvre-Ableger in Lens sowie der Centre-Pompidou-Dépendance in Metz gewinnen die prominentesten Ausstellungsinstitutionen Frankreichs demnächst neue Spielstätten. Auch dort setzt man auf prominente Architekten, nämlich von Sanaa und Shigeru Ban. Das Kunstmuseum, das der Churer Peter Zumthor im Auftrag der Erzdiözese Köln errichtet hat und das am vergangenen Wochenende eingeweiht wurde, trägt schlicht den Namen Kolumba. Auch Zumthor ist ein klingender Name im internationalen Architekturbetrieb, über Besucherzahlen wird das Museum nicht klagen müssen. Doch weder der Architekt noch die Auftraggeber wünschten sich ein Museum des Spektakels – Zurückhaltung ist das Prinzip: Man betritt das Vestibül durch eine verglaste Öffnung in der Front, ohne von aussen in das Foyer blicken zu können. Anstelle des Cafés findet sich ein Lesesaal; und die verwendeten Materialien und Oberflächen sind auf den Farbklang Grau-Ocker reduziert.

Alt und Neu

Das Diözesanmuseum, 1853 gegründet und nach dem Zweiten Weltkrieg 1972 am Roncalliplatz südlich des Doms wiedereröffnet, entschied sich in den neunziger Jahren zu einem Neubau. Dafür fand man mit dem Areal von St. Kolumba einen geeigneten Standort. Die 1945 zerstörte Kirche hatte aus einem immer wieder vergrösserten baulichen Konglomerat bestanden. Ein romanischer Ursprungsbau, der auf römischen Relikten wurzelte, war sukzessive zu einer fünfschiffigen gotischen Kirche mit einem ungewöhnlichen trapezoiden Grundriss geworden; am Ende des Zweiten Weltkriegs standen von dem Gotteshaus nur noch einige Umfassungsmauern.

Als ein populäres Hoffnungssymbol des zerstörten Köln galt eine Marienstatue am Choreingang, welche die Katastrophe unversehrt überstanden hatte. Nach einem Entwurf von Gottfried Böhm wurde 1950 in dem Ruinenfeld die Kapelle «Madonna in den Trümmern» errichtet, ein kleiner einschiffiger Bau mit einem lichtdurchfluteten Oktogon. Der mit leuchtenden Glasfenstern von Ludwig Gies ausgestaltete Sakralraum, der 1956 durch eine Sakramentskapelle ergänzt wurde, gilt in seinem zurückhaltenden und doch hoffnungsfrohen Gestus als Inkunabel der Wiederaufbauarchitektur in Deutschland.

Die Architekten, die 1997 am Wettbewerb für das neue Museum teilnahmen, hatten eine anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen: Sie mussten auf dem vergleichsweise begrenzten Terrain einerseits Ausstellungsräume errichten; andererseits galt es, die Kapelle einzubeziehen – sowie die archäologischen Ausgrabungen, die man auf der Ostseite um das Oktogon herum in den siebziger Jahren unternommen hatte. Zumthor vermochte die Jury mit einer Idee zu überzeugen, die auf dem Konzept des Weiterbauens beruhte und die bestehenden Strukturen, also das noch vorhandene Mauerwerk der Kirche, in den Neubau einbezog. Der Grundriss des Neubaus folgt exakt dem Volumen der früheren Kolumbakirche samt ihrem nördlichen Annex. Damit ergibt sich eine winkelförmige Struktur, die sich in einen nach Norden orientierten Flügel entlang der Kolumbastrasse sowie einen breiteren Bauteil entlang der Brückenstrasse gliedert. Im Winkel zwischen beiden Bauteilen liegt ein stiller Hof, der vom Foyer aus betreten werden kann.

Der helle Stein, der im wechselnden Licht unterschiedlich schimmert, setzt sich deutlich vom historischen Mauerwerk ab; Alt und Neu sind – im wahrsten Sinne des Wortes – überlagert. Nach Vorgaben des Architekten entwickelte ein dänischer Hersteller spezielle Backsteine von 54 Zentimetern Länge und lediglich 4 Zentimetern Höhe. Diese wurden verwendet, um die Öffnungen der Ruinen zu füllen und darüber die Mauern in die Höhe zu ziehen. Entlang der Südfront des Gebäudes sind Teile der Seitenschiffmauern von St. Kolumba im Neubau aufgehoben, an der Westseite ist die Stirn der Kapelle «Madonna in den Trümmern» in das Mauerwerk integriert.

Zumthors ingeniöser Umgang mit der historischen Substanz erweist sich auch an der archäologischen Ausgrabungszone hinter dem Oktogon. Die Grundmauern der Vorgängerbauten sind von einem grandiosen Hüllraum umgeben, der gewissermassen die Substruktion des darüber befindlichen Ausstellungsgeschosses darstellt. Die Wände werden hier aus einer gitterartigen Backsteinstruktur gebildet, welche wie ein Schleier fungiert und an arabische Architektur denken lässt – Zumthor spricht von «Filtermauerwerk» –, und selbstverständlich fühlt man sich an den hölzernen Pavillon an der Expo 2000 in Hannover erinnert. Das Mauerwerk lässt durch die Öffnungen Licht und Luft in die grandiose Halle dringen, die von der Kapelle aus gesehen als Aussenraum, von der Stadt aus indes als Binnenraum zu verstehen ist. Hier herrscht ein Dämmerzustand, gleichsam ein schwebendes Dazwischen: zwischen Innen und Aussen, Hell und Dunkel, Vergangenheit und Zukunft. Man betritt den Raum, den grössten des Museums, vom Foyer aus, durchquert ihn auf einem zackig geführten hölzernen Steg und verlässt ihn in der äussersten Südostecke.

Dialog mit Rudolf Schwarz

Stahlbetonstützen, teils unsichtbar in die Wände eingelassen, teils aus der archäologischen Zone emporragend, tragen die Stahlbetonplatte, auf der sich das Hauptausstellungsgeschoss erhebt. Die Konzeption des Gebäudes offenbart sich am deutlichsten beim Blick von Südosten; es ist auch die Seite, auf welche die aus Richtung Dom oder Bahnhof kommenden Besucher als Erstes treffen. Auf die inkorporierten historischen Mauern folgt die Zone des Filtermauerwerks und darüber der Bereich der Ausstellungsräume. Das blockhafte Volumen des Gebäudes, das beinahe fortifikatorisch anmutet, ist entsprechend der Raumstruktur zuoberst kubisch gegliedert; niedrige Partien wechseln mit hohen, welche beinahe wie Türme wirken. Diese Ausbildung des Volumens erinnert an eine 1958 angefertigte Entwurfsperspektive von Rudolf Schwarz für die Kirche Regina Martyrium in Berlin. Zumthor hat sich in der Vergangenheit immer wieder mit Schwarz auseinandergesetzt, etwa bei der Deckenstruktur der Kapelle Sogn Benedetg in Sumvitg (1989). Dass Schwarz auch für Kolumba eine gewisse Rolle spielt, ist naheliegend und letztlich eine Reverenz vor dem grossen Baumeister, der in Köln eine Reihe von Bauten realisiert hat. In unmittelbarer Nachbarschaft des Kolumba-Museums befindet sich das heutige Museum für Angewandte Kunst, das Schwarz 1955 für das Wallraf-Richartz-Museum realisiert hat. Auch hier galt es, eine Kriegsruine, nämlich diejenige des einstigen Minoritenklosters, in den Neubau einzubeziehen.

Die eigentlichen Ausstellungsräume in Kolumba befinden sich auf zwei Ebenen. Ein steiler Treppenschacht, der an Zumthors Treppenlösung für das Kunsthaus Bregenz erinnert, führt vom Foyer aus empor in das erste Obergeschoss, das lediglich den Westflügel einnimmt. Hier befinden sich die Kunstlichträume. Die Hauptsäle liegen im Geschoss darüber und gliedern sich als blockartige Volumina um eine fliessende Kernzone. Die drei Saalblöcke bestehen aus jeweils zwei aneinander anschliessenden Räumen: Der erste ist in normaler Höhe ausgebildet, der zweite überhoch wie das Innere eines Turms. Oberlichter an jeweils einer Seite, von Turm zu Turm anders ausgerichtet, lassen gefiltertes Licht aus der Höhe einfallen. Als einzige natürliche Lichtquellen kommen hierzu Fenster, die von der Kernzone aus Ausblicke auf die Umgebung erlauben.

Bezug zum Schweizer Museumsbau

Das Spiel mit der Modulation des Lichts und die Organisation der Räume sind ohne die Schweizer Museumsbauten der vergangenen 15 Jahre nicht zu erklären. Waren neue Museen im Deutschland der siebziger und achtziger Jahre zur publizitätsträchtigsten Bauaufgabe avanciert, so verhielt es sich in der Schweiz anders. Die Museen, die zu Beginn der neunziger Jahre entstanden – das Kirchner-Museum von Gigon/Guyer in Davos (1992) und die Stiftung La Congiunta von Peter Märkli in Giornico (1992) –, reagierten formal kaum auf die postmodernen Ausstellungsinstitute im nördlichen Nachbarland. Vielmehr knüpften sie an die zurückhaltende Nachkriegsmoderne eines Hans Leuzinger an, wie sie 1952 im Kunsthaus Glarus zum Ausdruck gekommen war. Leuzinger hatte zwei im rechten Winkel zueinander stehende, mit Satteldächern gedeckte Backsteinkuben errichtet, die stereometrische Säle bergen – zwei davon mit Oberlicht versehen, der dritte mit seitlicher Belichtung.

In Antithese zur bildkräftigen Architektur der Postmoderne, welche die Exponate zu übertrumpfen drohte, beruhten die neuen Schweizer Bauten auf dem Postulat klarer Stereometrie und neutraler Räume. Dabei wurde ein Vortrag, den Rémy Zaugg 1986 zum 50. Jahrestag des Basler Kunstmuseums gehalten hatte, zum wichtigen Anknüpfungspunkt für einen Rappel à l'Ordre. «Das Kunstmuseum, das ich mir erträume, oder: Der Ort des Werkes und des Menschen» betitelte der Künstler seine Überlegungen, wie sich ideale Rahmenbedingungen zur Betrachtung von Kunstwerken schaffen liessen. In einer Zeit, da Museen im Ausland sich gegenseitig durch formale Opulenz zu überbieten suchten, postulierte Zaugg die Rückkehr zu einem zurückhaltenden, dienenden Ambiente, das den Ausstellungsstücken den Vortritt lasse. Der körperlichen und geistigen Auseinandersetzung des Menschen mit dem Werk entspreche «der Saal mit flachem Boden und flacher Decke, dessen vier vertikale, ebene und weisse Mauern miteinander rechte Winkel bilden». Wenn Zaugg forderte, das Museum solle weder «an ein Mausoleum noch an einen Tempel, eine Raffinerie oder ein Disneyland erinnern», verwarf er das postmoderne Schatzkästlein ebenso wie die Ausstellungsfabrik und überdies auch den hehren Galerietypus des 19. Jahrhunderts. Entsprechend schroff ist seine Kritik an der Präsentation von Kunstwerken in zu Enfiladen vereinten Räumen. In der chronologischen Raumflucht sei das Werk «Gefangener der historischen Perspektive, zu deren Konstruktion es benutzt worden ist». Die Streuung der Säle in einem umgebenden Raumkontinuum wird zur Alternative; aus Gründen der Übersichtlichkeit könnte eine jeweils kleine Anzahl von Sälen zu einer Einheit akkumuliert werden.

Dass diese programmatische Intervention nicht ungehört verhallte, beweist das Kirchner-Museum in Davos, in dem eine Reihe der Ideen Zauggs umgesetzt wurde: die deutliche Trennung von Ausstellungssälen und Verkehrsflächen; die Erschliessung der Säle mit Durchgängen, die sich weder in der Mitte der Wand noch in der Ecke befinden; und schliesslich die Öffnung der Erschliessungsbereiche zur Umgebung. Das Museum befinde sich in der Alltäglichkeit der Menschen, dort, wo Bäckerei und Metzgerei ihren Platz haben. Rémy Zauggs Forderungen indes erweisen sich keineswegs als voraussetzungslos, sondern knüpfen an Überlegungen an, die bereits von kulturreformerischen Kreisen um 1900 vorgebracht worden waren. In Opposition zum repräsentativen Museumstypus des 19. Jahrhunderts hatte Alfred Lichtwark, Leiter der Hamburger Kunsthalle, für einfache und zweckdienliche Räume plädiert, für Museen also, bei denen die «Fassade nichts», das «Innere alles» sei. Postulate wie diese fanden durchaus ihren Niederschlag – ob in Hermann Billings Kunsthalle in Baden-Baden oder in Karl Mosers Zürcher Kunsthaus.

Abkehr vom White Cube

Es sollte mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, bis derartige Postulate im Gefolge des Siegeszugs der Minimal Art erneut an Aktualität gewannen. Museen seien zu einem «übertriebenen, verzerrten und leeren Ausdruck ihrer Architekten» geworden, konstatierte Donald Judd. Und während Peter Eisenman anlässlich der Fertigstellung des Wexner Center for the Visual Arts in Columbus, Ohio, erklärte, Architektur müsse der Kunst nicht dienen, sondern diese herausfordern, forderten Künstler wie Dan Graham, Richard Serra oder Georg Baselitz seit den siebziger Jahren zurückhaltende und neutrale Ausstellungssäle. Baselitz definierte 1977 das Museum als «Bewahrort von Kunstwerken, in dem die Betrachtung derselben in einfacher, vollständiger, ungehinderter und unprätentiöser Weise möglich sein muss». Seine Konkretisierungen sind mit denen von Zaugg durchaus vergleichbar: «Das beste Licht kommt von oben, der beste Raum für diesen Zweck hat geschlossene hohe Wände, wenig Türen, keine Seitenfenster, Oberlicht, keine Sockel, keine Paneele, keine reflektierenden Fussböden und schliesslich auch keine Farben.»

Peter Zumthor hat mit dem Kunsthaus Bregenz einen der radikalsten Beiträge zur zeitgenössischen Museumsarchitektur geschaffen: Wände wie Böden bestehen aus Beton, mattierte Glasdecken bilden den oberen Abschluss dieser Raumgefässe und lassen natürliches Licht einfallen. Die Farbigkeit des grauen Sichtbetons, aber auch das wechselnde Licht beweisen, dass der Architekt vom Prinzip des «white cube» abgerückt war; entstanden ist in Bregenz ein puristisches Museum, das sich gleichwohl vom Dogma des ästhetischen Neutralraums entfernt hat.

Vergleichbar ist Zumthor nun in Köln vorgegangen, in einem Bau, der sich kleinteiliger organisiert und vielgestaltiger zeigt. Der neutrale rechteckige Raum, wie ihn Zaugg gefordert hatte, bildet auch hier den Ausgangspunkt, doch schafft der Architekt durch den permanenten Wechsel der Proportionen sowie der Beleuchtung und Belichtung räumliche Spannung und Vielfalt. Heller Terrazzo sowie lichtgrauer Lehmputz und der Mörtel der Decken lassen einen vereinheitlichenden Farbklang entstehen, der durch das wechselnde Licht lebendig wird. Ständig verändern die Räume ihren Ausdruck, wirken einmal fahl, einmal feierlich. Anders aber als in Bregenz erlaubt Zumthor in Köln durch Fenster Blicke auf die Stadt. So gerät das benachbarte Dischhaus in den Blick, ein an Mendelssohn orientiertes Gebäude von Bruno Paul aus dem Jahr 1929. Nach Westen sieht man zum Opernhaus von Wilhelm Riphahn, das vor wenigen Jahren noch vom Abriss bedroht war. Und schliesslich blickt man auch auf die Domtürme. Aber vor allem fasziniert all jene Banalität und Alltäglichkeit des Gebauten, aus welcher auch Köln besteht und die das Leben eher spiegelt als die Preziosen der Architektur.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2007.09.22



verknüpfte Bauwerke
Kolumba - Kunstmuseum des Erzbistums Köln

10. September 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Abendsonne über dem Polderland

Das in den siebziger und achtziger Jahren realisierte Zentrum von Lelystad wirkt gesichtslos. Ein spektakulärer Theaterbau von UN Studio ist Teil eines Programms, die Attraktivität der Stadt zu steigern.

Das in den siebziger und achtziger Jahren realisierte Zentrum von Lelystad wirkt gesichtslos. Ein spektakulärer Theaterbau von UN Studio ist Teil eines Programms, die Attraktivität der Stadt zu steigern.

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verknüpfte Bauwerke
Agora Theater

31. Juli 2007Hubertus Adam
db

Intervention erwünscht

Für Menschen, die an zeitgenössischer Landschaftsarchitektur interessiert sind, gilt der Norden Zürichs nachgerade als
Mekka. Wo einst Schlote rauchten und Unbefugten der Zutritt verwehrt war, sind vier große Grünflächen entstanden, um die herum sich der neue Stadtteil gruppiert.

Für Menschen, die an zeitgenössischer Landschaftsarchitektur interessiert sind, gilt der Norden Zürichs nachgerade als
Mekka. Wo einst Schlote rauchten und Unbefugten der Zutritt verwehrt war, sind vier große Grünflächen entstanden, um die herum sich der neue Stadtteil gruppiert.

Anfang Juni ist es auch in Zürich manchmal trübe und regnerisch. Ein Wetter, bei dem Neu-Oerlikon auch heute noch etwas trostlos wirkt – ähnlich wie vor einigen Jahren, als zwischen den Parks (MFO-Park, Louis-Häfliger-Park, Wahlenpark, Oerlikerpark) und den ersten fertigstellten Wohn- und Geschäftsblöcken noch große Lücken klafften. Mit dem Gebäude »Accu« vom Büro Voelki Partner wurde 2006 aber ein wichtiger Schlussstein gesetzt, der den Wahlenpark seither vom Oerlikerpark abgrenzt. Als hier nur ein Bauzaun stand, schienen die Freiflächen endlos; inzwischen wirkt das neue Stadtviertel zwar großformatig, aber nicht mehr maßstabslos.
An diesem ersten Junisamstag bevölkern auffallend viele Menschen den Oerlikerpark. An verschiedenen Stellen stehen sie unter Zelten und diskutieren, manche trotzen dem Wetter, die Kinder erfreuen sich an Ziegen, Schafen, Gänsen und Ponys, die sich in einem Gehege streicheln lassen. Unter dem Motto »Neu-OerlikonerInnen schließen die Park-Lücke!« haben »Grün Stadt Zürich« und die Quartierwerkstatt »Wohnen und Leben in Neu-Oerlikon« – ein Zusammenschluss von Quartierinitiativen und der Reformierten Kirchgemeinde – zu einem Aktionstag eingeladen. Es geht um die »Interventionszone« im Oerlikerpark – einen lang gestreckten Bereich, der von den Planern bewusst nicht detailliert geplant wurde, um auf die Bedürfnisse der Bewohner reagieren zu können. In Workshops wurden verschiedene Szenarien zur Veränderung erarbeitet, die nun zur Diskussion stehen.

Oerlikerpark
Der Oerlikerpark, vom Büro Haerle Hubacher Architekten und den Landschaftsarchitekten Zulauf und Partner geplant, bildet die eigentliche Mitte von Neu-Oerlikon. Er besteht aus großen Rasen- und Kiesflächen, dazu kommen Holzroste. Zusammengefasst werden die verschiedenen Teile des Parks durch im Abstand von 4 mal 4 Metern gepflanzten Bäumen – Eschen vor allem, aber auch Kirschen, Birken und Blauglockenbäume. Vertikale Akzente setzen ein roter Pavillon – sowie ein 35 Meter hoher Turm, den man besteigen kann. Als eine Mischung aus Fischreuse und Aussichtsturm erinnert er an die Hochkamine, die einst die »verbotene Stadt« im Norden Zürichs prägten. Dem Planerteam war es wichtig, gerade hier, am tiefsten Punkt des von Hügeln eingefassten und durch einen Bergsattel von der Kernstadt getrennten Stadtteils Oerlikon, den Ausblick zu ermöglichen. Und man ist in der Tat dem Himmel näher, wenn man die mehr als 200 Stufen emporgestiegen ist – vor allem in der Zukunft, wenn die Kronen der Bäume zu einem Blätterdach zusammengewachsen sein werden.
Wie Christoph Haerle im Gespräch erklärt, mussten aus Kostengründen junge Bäume gepflanzt werden, die in den ersten Jahren eben noch etwas »spillerig« wirken. Durch den engen Pflanzraster schießen diese schnell in die Höhe und werden dann in zwei Etappen ausgelichtet, so dass die regelmäßige Struktur am Ende verschwindet und das Blätterdach von Lichtungen durchsetzt sein wird.

MFO-Park
Ganz in der Nähe des Bahnhofs liegt der MFO-Park. Ein beranktes und begehbares Gerüst aus Stahl: 100 Meter lang, 35 Meter breit, 17 Meter hoch. 1100 Kletterpflanzen wie Knöterich, Clematis und Glyzinien verwandeln die von Burckhardt Partner gemeinsam mit Raderschall Landschaftsarchitekten konzipierte Struktur des Sommers in eine gigantische Pflanzenhalle, deren Proportionen der hier einst stehenden Fabrikhalle der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) ähneln. Über Treppen gelangt man im Gerüst von Ebene zu Ebene bis hinauf zum holzbeplankten Sonnendeck. Immer wieder laden Sitz- und Liegemöbel zur Ruhepause ein – ein Angebot, das gerne wahrgenommen wird.

Louis-Häfliger-Park und Gustav-Ammann-Park
Im Westen des Quartiers liegt neben der Wohnsiedlung Regina-Kägi-Hof der Louis-Häfliger-Park (Kuhn & Truninger Landschaftsarchitekten). Er setzt sich aus zwei Streifen – einer Rasenfläche mit pyramidenförmigen Hügeln und einem mit Bäumen akzentuierten Asphaltplatz – zusammen. Ein dritter, mit Spielgeräten besetzter Streifen trennt die beiden voneinander. Zur Straße schließt der Park mit einem gekiesten Feld, das mit niedrigen Büschen bepflanzt ist, ab.
Unmittelbar in der Nachbarschaft, wiewohl etwas versteckt, befindet sich mit dem Gustav-Ammann-Park die einzige historische Grünanlage. Der berühmte Schweizer Landschaftsarchitekt evozierte im einstigen Wohlfahrtsgarten der Bühle AG mit Pergolen, Treppen und Plattenwegen am Rande von Zürich ganz im Geist der Zeit die romantische Vorstellung einer Tessiner Landschaft.

Wahlenpark
Heutigen Landschaftsarchitekten geht es weniger um lauschige Rückzugsorte und um die Inszenierung des Idylls, Ausgangspunkt sind zumeist geometrische Konzepte, welche die Künstlichkeit der Landschaft zum Thema haben. Das zeigt sich an den beiden größten Parks des Quartiers, dem Wahlenpark und dem Oerlikerpark. Der Wahlenpark (Dipol Landschaftsarchitekten und Christoph T. Hunziker) besteht aus einer langen Rasenfläche, an deren einem Ende sich ein Wasserbecken sowie ein aufgeständertes Schattendach erhebt. Zum anderen Ende wird die spielfeldartige Fläche von einem großen Ballfanggitter begrenzt. Ein nachts beleuchteter Sitzbalken aus blauen Glasbausteinen und Beton fasst die gesamte Ostseite ein, während sich auf der Westseite ein ebenfalls streifenähnliches Wäldchen mit Blutbuchen und Spielgeräten anschließt.

Parkinterventionen
Die Tatsache, dass eine Gartenanlage Zeit benötigt, ist offenkundig schwer zu vermitteln. Von Anfang an konzentrierte sich die Kritik von Bewohnern und Besuchern auf den Oerlikerpark, der, 2001, auch als erste der neuen Anlagen fertiggestellt war und durch seine zentrale Lage die größte Aufmerksamkeit genießt. Von einem »Reißbrett-Park« ist häufig die Rede, wenn man mit den Passanten spricht, steril und langweilig lauten einige der verwendeten Adjektive.
Mit der Interventionszone hatte das Planerteam von Anfang an für einen Teilbereich des Parks eine Partizipationsmöglichkeit vorgesehen. Denn als man mit dem Entwurf begann, war alles andere als klar, wer in die umliegenden Häuser einmal einziehen würde.
Anfang Juni war es also so weit: Die Bevölkerung wurde aufgerufen, Ideen für die Gestaltung der Interventionszone vorzubringen. Und in diesen Ideen äußerte sich natürlich auch die Kritik gegenüber dem Bestehenden. Zwei ernsthafte Probleme betreffen dabei nicht die Gestaltung der Parks selbst: Bemängelt wurde zum einen der vergleichsweise starke Verkehr auf der Birchstraße, die den Park in zwei Hälften zerschneidet, zum anderen das Fehlen von Restaurationsmöglichkeiten. Denn der von einer Quartierinitiative ehrenamtlich betriebene Cafékiosk im roten Pavillon, dessen Verglasung ebenfalls zu den Forderungen zählte, öffnet nur an Sonntagen und das auch nur im Sommer, die benachbarten, auch für die Allgemeinheit zugänglichen Betriebskantinen haben ebenfalls stark eingeschränkte Öffnungszeiten und wirken nur bedingt einladend.
Artikuliert wurden darüber hinaus die Wünsche nach mehr Schattenplätzen und Spielgeräten, nach weiteren Tischtennisplatten und einer Bocciabahn. Jugendliche fänden Gefallen an einem Skaterpark, an Trampolinen oder an einem Schwimmbassin auf dem Turm. Und den Streichelzoo könne man sich auch als dauerhafte Einrichtung vorstellen.
Ohne Zweifel: Der Aktionstag diente nicht nur dazu, Unmut artikulieren zu können, sondern vermittelte auch das Gefühl, etwas bewirken zu können. Letztlich bezwecken die Organisatoren, die Fantasie der Bewohner anzuregen, denn am Ende ist die bewusste Aneignung des Parks für die Nutzung entscheidend. So waren auch im Vorfeld schon einige Aktionen gestartet worden: etwa gemeinsames Laptop-Arbeiten von Angestellten umliegender Firmen im Pavillon oder ein Wettlauf auf den Turm. Als der Stadtrat und Vorsteher des für Grünflächen zuständigen Tiefbaudepartements, Martin Waser, am Nachmittag des 2. Junis die Liste mit den in den Workshops erarbeiteten Vorschlägen überreicht bekam, war sogar das trübe Wetter den Sonnenstrahlen gewichen. Im Herbst will die Stadt, die aus den Wünschen herausdestillierten Szenarien für den Interventionsbereich vorstellen. Alles sei möglich, heißt es, solange es sich in den Park einfügt, robust gebaut ist und den Kostenrahmen von 250.000 Franken nicht sprengt.

db, Di., 2007.07.31



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db 2007|08 Alltagswege

13. Juli 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Leistungsschau und Problembilanz

In den neuen deutschen Bundesländern sind trotz weiterhin bestehenden Problemen bemerkenswerte Bauten entstanden. Eine Ausstellung in Frankfurt a. M. gibt einen Überblick über das Baugeschehen.

In den neuen deutschen Bundesländern sind trotz weiterhin bestehenden Problemen bemerkenswerte Bauten entstanden. Eine Ausstellung in Frankfurt a. M. gibt einen Überblick über das Baugeschehen.

Nach der deutschen Wiedervereinigung sprach man von «blühenden Landschaften». Grosszügige Abschreibungsmodelle führten zu Investitionen; in Leipzig etwa wurden seit den neunziger Jahren drei Viertel des gründerzeitlichen Bestands von 105 000 Wohnungen saniert und 1,6 Millionen Quadratmeter Bürofläche erstellt. Gleichzeitig aber gingen viele alte Arbeitsplätze verloren, ohne dass Ersatz im nötigen Umfang geschaffen worden wäre. Der Erfolg des neu errichteten Messegeländes erwies sich als ebenso illusionär wie das Label «Medienstadt», mit dem man den einstigen Ruf als Stadt des Buchdrucks und der Verlage erneuern wollte. Die Erosion der Bevölkerung dauerte an, obwohl Leipzig aufgrund seiner Lage und seines attraktiven Zentrums gegenüber Städten wie Halle, Cottbus oder Hoyerswerda im Vorteil war. Doch in den letzten Jahren gelang es durch ein geschicktes Standortmarketing (und weitere Subventionen), Konzerne anzulocken: Das BMW-Werk mit seinem Zaha-Hadid-Bau zeugt vom Aufwärtstrend, der von der Stadt durch Investitionen in Infrastruktur und Kultur – etwa den Neubau des Museums der bildenden Künste – flankiert wurde. Ohne Zweifel, Leipzig gilt heute als die attraktivste Stadt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Und Leipzig verzeichnet wieder einen Bevölkerungszuwachs.

Chronologischer Bilderreigen

Städtebau und Architektur sind die Bereiche, in denen sich der Wandel in den jungen Bundesländern mit all seinen Erfolgen und Misserfolgen am deutlichsten ausdrückt. Was sich in diesem Sektor in knapp zwei Jahrzehnten ereignet hat, will die Ausstellung «Neu Bau Land» aufzeigen, die von dem Architekturkritiker Oliver Hamm, dem Kunsthistoriker Ernst Busche und dem Vizedirektor des Deutschen Architekturmuseums, Wolfgang Voigt, erarbeitet wurde und nun in Frankfurt am Main zu sehen ist. Dies nicht ohne Grund, denn nach einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr hat die Hälfte aller Einwohner der alten Bundesländer die neuen nie besucht. Das Ziel der Ausstellung und des sie begleitenden, materialreichen Katalogs besteht also darin, eine Leistungsbilanz zu präsentieren, ohne dabei die virulenten Probleme zu verschweigen.

Der Leistungsbilanz ist das Erdgeschoss des frisch renovierten Museumsbaus vorbehalten. Streng chronologisch präsentieren die Kuratoren in einem langen Bilderfries das Bauen in den neuen Bundesländern, wobei sie berechtigterweise Berlin aussparen, das als Bundeshauptstadt und wiedervereinigte Metropole einer anderen Entwicklungsdynamik und anderen Rahmenbedingungen unterliegt. Der Bogen spannt sich vom Umbau der Alten Nikolaischule in Leipzig durch das Büro Storch Ehlers, mit dem 1990 begonnen wurde, bis hin zum vor wenigen Tagen eröffneten Erlebniszentrum «Arche Nebra» des Zürcher Architekturbüros Holzer Kobler (NZZ 6. 7. 07).

Wie immer bei einer derartigen Auswahl mag man über die Plausibilität diskutieren. Grundsätzlicher ist indes die Frage, ob statt der gewählten chronologischen Aufreihung nicht ein anderes Gliederungsprinzip mehr Erkenntnisgewinn gebracht hätte. Etwa die Ordnung nach Bauaufgaben und Problemfeldern wie Verwaltungs-, Kultur-, Universitäts- und Wohnbauten oder denkmalpflegerischen Projekten und Umnutzungen von Plattenbauten. Denn der Strudel einzelner Objekte, die jeweils nur mit einer Foto und ohne erläuternde Texte präsentiert werden, führt letztlich zu einer visuellen Nivellierung.

Ein wenig Abwechslung schaffen die innerhalb des Bilderreigens ausführlicher vorgestellten 25 Bauten. Sie werden mit Texten, Plänen und Modellen auf riesigen roten Sockeln in Umrissform der fünf neuen Länder raumfüllend präsentiert. Ihre Auswahl ist mehrheitlich überzeugend: Es finden sich Inkunabeln wie die amöbenförmige Bibliothek in Cottbus von Herzog & de Meuron, das geschickt das maritime Bauen thematisierende Technologie- und Forschungszentrum von Jean Nouvel in Wismar, das formal wie ökologisch Massstäbe setzende Umweltbundesamt in Dessau von Sauerbruch & Hutton oder die Preziose der Neuen Synagoge von Wandel Hoefer Lorch & Hirsch in Dresden, aber auch unbekanntere Bauten wie die in der Marienkirche Neubrandenburg eingerichtete Konzerthalle des finnischen Architekten Pekka Salminen oder das Staatsweingut Schloss Wackerbarth in Radebeul bei Dresden (von h.e.iz.Haus Architektur). Gleichsam als Kontrast zu dieser positiven Bilanz ist auf dem Boden des Ausstellungssaals ein Mosaik von Schwarzweissbildern des Fotografen Gerhard Zwickert ausgelegt, das die omnipräsente Alltäglichkeit des Bauens zeigt: geschmacklose Einkaufszentren, aus der Angebotspalette von Baumärkten arrangierte Wohnhäuser oder pseudopostmoderne Bürohäuser.

Zwänge und Potenziale

Im ersten Obergeschoss weicht der auf den Einzelbau konzentrierte Fokus einer urbanistischen Perspektive. Leinefelde, im nordwestlichen Zipfel Thüringens nahe der Grenze zu Niedersachsen gelegen, erkannte früh schon das Problem der sich leerenden Plattenbausiedlungen. Mitte der neunziger Jahre wurden in dem ehemaligen Zentrum der Textilindustrie Strategien zur Umwandlung von Grossblocks in kleinere Einheiten entwickelt. Abgebrochene Grossplattenelemente wurden in Cottbus neu zu kleinen Häusern zusammengefügt, denn die Elementbauweise erlaubt nicht nur den Abriss, sondern auch eine sinnvolle Umnutzung. In Leipzig versucht man, in überzählige Gründerzeit-Viertel Grünzüge zu schlagen und punktuell innerstädtische Einfamilienhausquartiere anzulegen. Aus der Schrumpfung resultiert die perforierte Stadt, die sich wegen der neuen Eigenheimzonen am Stadtrand trotzdem weiter ausdehnt. In Dresden hingegen ist rings um die rekonstruierte Frauenkirche ein kommerziell gesteuerter Themenpark aus pseudohistorischen Bauten im Entstehen, der die noch erhaltenen Geschichtszeugnisse eliminiert. Wirksame Lösungen kann auch «Neu Bau Land» nicht anbieten; doch die Mahnung der Kuratoren, weniger Geschichtsvergessenheit und mehr Phantasie walten zu lassen, ist zweifellos berechtigt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.07.13

21. Juni 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Spätmoderne in Südtirol

Eine Monografie zum Schaffen des Architekten Othmar Barth

Eine Monografie zum Schaffen des Architekten Othmar Barth

Südtirol ist in den letzten Jahren zum neusten Mekka Architekturinteressierter geworden. Während anderswo in Italien bemerkenswerte zeitgenössische Architektur fast nur von ausländischen Entwerfern realisiert wird, konnte sich zwischen Eisacktal und Vinschgau eine lokale Architektenszene etablieren, die ihre Inspirationen vornehmlich aus der Schweiz und Österreich empfängt. Anknüpfungspunkte bietet indes auch die Tradition: In Bad Dreikirchen arbeitete in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Lois Welzenbacher, und nach dem Zweiten Weltkrieg war es Othmar Barth, der einen Kontrapunkt setzte zum Pseudo-Tiroler-Stil der Touristenherbergen. Im Jahre 1927 in Brixen geboren und zunächst in der Tischlerwerkstatt seines Vaters ausgebildet, studierte Barth in Graz und arbeitete daraufhin einige Zeit mit Pierluigi Nervi für die Olympiabauten in Rom, bevor er 1955 ein eigenes Büro in seiner Heimatstadt gründete, das er bis heute führt.

Lokalkolorit ohne Biederkeit

Barth entwickelte eine regional ausgeprägte Variante der Moderne, die nichts mit Biederkeit zu tun hat. Selbst Regionalismus scheint ein wenig treffender Begriff zu sein - wenngleich Barth es immer wieder vermochte, durchaus Traditionen aufzugreifen und seinen Bauten anzuverwandeln. Das grosse Dach, das eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen überdeckt, findet sich schon 1962 in der Nikolaus-Cusanus-Akademie in Brixen, die für Barth den Durchbruch bedeutete: Um eine mehrgeschossige, mit einem Betonraster überdeckte Halle gruppieren sich Zimmer, Unterrichtsräume und eine Kapelle.

Die wohl schönsten Bauten von Barth liegen direkt am kleinen Kalterersee: Zunächst entstand 1971 das Restaurant Gretl am See, durch dessen Areal hindurch Barth einen öffentlichen Weg als Promenade architecturale zog und das als moderne Variante eines Pfahlhauses mit weit auskragendem Dach konzipiert ist. Unweit davon realisierte er 1972/73 das grandios in die Uferlandschaft eingefügte Seehotel Ambach, das ebenso expressiv wie organisch wirkt und als ein (bis heute wohlerhaltenes) Meisterwerk der Tourismusarchitektur gelten kann. Weitere wichtige Bauten schlossen sich an, darunter die grosse, aus Maisonnette-Strukturen zusammengefügte Wohnsiedlung Haslach (1974-1984) in Bozen oder die Ski-Internatsschule Stams im Tiroler Inntal (1977-1982).

Ausstellungen

Im vergangenen Jahr erhielt Barth von «Sexten Kultur» - einer Initiative, die neues Bauen im alpinen Raum auszeichnet - den Ehrenpreis für sein Lebenswerk. Nun, anlässlich des 80. Geburtstags, den Barth am 22. Mai feiern konnte, ehrt das Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck den Jubilar im «Adambräu» mit zwei Ausstellungen: Die eine ist Barth als Architekten und Lehrer, die andere den Schülerinnen und Schülern gewidmet, die Barth zwischen 1975 und 1993 in Innsbruck unterrichtete. Unabhängig von den Ausstellungen liegt nun auch eine Monografie über Barths Œuvre vor. Knappe Essays stammen von Freunden und Wegbegleitern. Der grösste Teil der Publikation besteht aus einer Dokumentation von gut 30 seiner Bauten - deren fotografische Wiedergabe leider nicht wirklich befriedigen kann. Da Gebäude der sechziger und siebziger Jahre derzeit gerade bei jüngeren Architekten verstärkt auf Interesse stossen, kommt das Buch zur rechten Zeit - ermöglicht es doch manche Entdeckung bei der Reise durch das Land am Übergang von Nord nach Süd.

[ Die Ausstellungen des Archivs für Baukunst der Universität Innsbruck im «Adambräu» dauern bis 27. Juli. Publikation: Othmar Barth. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2007. 224 S., Fr. 87.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2007.06.21

07. Mai 2007Hubertus Adam
db

Mythos, Brachen, Branding

Über Jahrhunderte prägte ein rurales Selbstverständnis die Identität der Schweiz; Dörfliche Strukturen finden sich nicht nur in den ländlichen Gemeinden,...

Über Jahrhunderte prägte ein rurales Selbstverständnis die Identität der Schweiz; Dörfliche Strukturen finden sich nicht nur in den ländlichen Gemeinden,...

Über Jahrhunderte prägte ein rurales Selbstverständnis die Identität der Schweiz; Dörfliche Strukturen finden sich nicht nur in den ländlichen Gemeinden, sondern wurden auch auf die Städte übertragen. Sie bestimmten Wohnungsgrößen ebenso wie das Prozedere der politischen Entscheidungsbildung. Auch wenn die Zahl der Bewohner, die ihr Einkommen aus der Landwirtschaft beziehen, seit Langem rückläufig ist, das Selbstbild blieb bis vor einigen Jahren erstaunlich konstant. Wenn es nach der Meinung einiger ginge, sähe die Schweiz vielleicht bald nicht mehr so aus, wie es die Bilder des Artikels zeigen.

Die Schweiz vollzieht seit einiger Zeit einen Imagewandel: weg vom ländlich geprägten Idyll hin zu einem modernisierten Bild des Landes. Dass auch die lokale Tourismusorganisation Zürich nicht mehr als »Little Big City«, sondern als »Downtown Switzerland« vermarktet, ist dabei eher nebensächlich. Als signifikanter muss man das beinahe völlige Fehlen des Sektors Landwirtschaft auf der Schweizerischen Landesausstellung Expo.02 einstufen. Auf allen Landesausstellungen zuvor war der rurale Mythos als ein Kernelement der eigenen Identität inszeniert worden; im Jahr 2002 zeigte er sich völlig marginalisiert.

»Alpine Brachen«

Am deutlichsten in Frage gestellt wird das agrarische Selbstverständnis des Landes durch die Ende 2005 publizierte Studie »Die Schweiz. Ein städtebauliches Porträt« des ETH Studio Basel. In der Veröffentlichung, die Jacques Herzog und Pierre de Meuron gemeinsam mit Studenten sowie mit ihren Kollegen Marcel Meili, Roger Diener und dem Wirtschaftsgeografen Christian Schmid am Studio Basel der ETH Zürich erarbeit haben, geht es um die sachliche Analyse dessen, was die Schweiz heute ausmacht, gewissermaßen um ein neues »Branding«. Attestiert wird dem Land ein hohes Maß an Urbanisierung, welche auch die entlegenen Regionen ergriffen hat. Das Problem sehen die Autoren in einer nicht zuletzt aufgrund der Gemeindeautonomie fortschreitenden Nivellierung – das Postulat, überall gleiche Lebensbedingungen zu schaffen, wird zunehmend zum Problem. Am umstrittensten sind die Aussagen der Verfasser zu den geografischen Bereichen, die sie als »alpine Brachen« bezeichnen. Dabei handelt es sich um alpine Siedlungsräume, deren Ökonomie heute weitgehend auf diverse Transferleistungen angewiesen ist. Bekannt sind Subventionen für die Berglandwirtschaft, doch weitaus größere Kosten entstehen durch die Aufrechterhaltung der Infrastruktur sowie die Sicherung der Siedlungsgebiete und Verkehrswege gegen Naturgefahren wie Lawinen und Hochwasser. Da die »alpinen Brachen« ohnehin seit langem von einer kontinuierlichen Tendenz der Abwanderung und Entvölkerung betroffen sind, schlägt das ETH Studio Basel den kontrollierten Rückzug vor, weil »für diese Gebiete das traditionelle Modell der Bestandswahrung keine Perspektiven mehr eröffnet«. Sie exemplifizieren die Idee der Abwanderung am Beispiel des Calancatals, deren 500 Bewohnerinnen und Bewohner von Bund und Kanton jährlich 4 Mio Franken für Infrastrukturmaßnahmen und 0,9 Mio an Agrarsubventionen erhalten. Aus ökonomischen und ökologischen Überlegungen sei es sinnvoller, Siedlungen im zentralen Alpenraum aufzulösen und den Siedlungsraum der Natur zurückzugeben.

»Alpine Chancen«

Der Architekt Gion A. Caminada ist ein entschiedener Gegner dieser Überlegungen. Er unterrichtet an der ETH Zürich – und arbeitet als Architekt in seinem Heimatdorf Vrin. Zu seiner Ausstellung 2005 in Meran legte er »Neun Thesen für die Stärkung der Peripherie« vor. Caminada hofft auf Impulse, die von der Peripherie ins Zentrum ausstrahlen, und sieht die alpine Kulturlandschaft als größtes ökonomisches Kapital der Alpen: »Landschaft und Kultur sind wichtige Faktoren für den Tourismus. Kultur bedeutet Kultivierung und meint die Veredelung von dem, was auch Natur sein kann. Kultur zu haben bedeutet aber auch, anders zu sein. Globale Normen sind die größten Feinde der Natur. Der Kulturtourist sucht eine Gegenwelt zu seiner eigenen Kultur.« Auch Produktionsprozesse könnten – so postuliert er – wieder in der Peripherie stattfinden.

Das Dorf Vrin

Vrin, wo Caminada lebt und arbeitet, ist ein abgelegener Ort im Lumneziatal, ein Bergbauerndorf, in dem der Asphalt seitlich der Hauptstraße aussetzt. Wer hierhin gelangt, unternimmt eine Zeitreise: Ziegen und Kühe laufen durch das Dorf, die Häuser werden seit alters her aus Holz errichtet – nur Kirche und Schule bestehen aus Stein. Wie viele Dörfer in den Alpen befand sich auch Vrin in einer Krise: Die Bevölkerungszahl nahm ab – 1950 zählte man 441 Einwohner, 2000 nur noch 249. Seit Inkrafttreten des interkantonalen Finanzausgleichs (1958) erhält das Dorf Transferleistungen zur Sicherung seines eigenen Haushalts. Dazu kommen Gelder, die als Kompensationszahlungen für das nicht realisierte Greina-Kraftwerk gezahlt werden; die geplante Anlage hätte den beiden Gemeinden Vals und Sumvitg jährliche Einnahmen von 2,4 Mio Franken gebracht, doch wurde die Realisierung seitens der Betreiberin »Nordostschweizerische Kraftwerke« gestoppt. Für die heutige Struktur des Dorfes entscheidend ist die »Gesamtmelioration«, deren Planung 1982 begann. Aus den früher bestehenden 3500 kleinen bewirtschafteten Parzellen wurden nach Abschluss des Programms, das Forderungen der Landwirtschaft, der Raumplanung und des Umweltschutzes zu vereinen hatte, 600. Zu etablieren waren neue, konkurrenzfähige Formen landwirtschaftlicher Betriebe. Indem Caminada den in Graubünden seit alters her üblichen Strickbau in einen anderen Maßstab übertrug, sorgte er dafür, dass dies nicht in Form der omnipräsenten Banalarchitektur geschah. So entwickelte er für die großen Ställe, die ortsbildschonend am Rande der Siedlung entstanden, ein System präfabrizierter modularer Elemente – aus dem Verständnis der Moderne heraus wurde eine althergebrachte Bauweise neu formuliert. Realisiert wurden neben diversen privaten Bauten auch die Mehrzweckhalle und ein von der Bauern-Genossenschaft betriebenes Schlachthaus mit Direktvermarktung, außerdem, an der Schnittstelle von Friedhof und Dorfplatz, die so genannte Totenstube, in der die Verstorbenen aufgebahrt werden und Kleinstarchitekturen wie beispielsweise eine Telefonzelle in Strickbau- technik. Seit mehr als 15 Jahren ist Caminada der Architekt, der Vrin und seine Umgebung prägt. Eine Baugesetzgebung, die man inzwischen erlassen hat, unterstützt die Anliegen: Eine Bauberatung ist obligatorisch, eine Einzäunung ist nur zum Schutz von Tieren zulässig und die Topografie eines Grundstücks darf nur verändert werden, wenn dadurch Orts- und Landschaftsbild nicht beeinträchtigt werden. Die Leistungen zur Erhaltung des Ortsbilds von Vrin sind inzwischen mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Ohne Zweifel ist hier ein vorbildliches und nachhaltiges Konzept umgesetzt worden, selbst wenn es in Zukunft nicht gelingen sollte, Vrin zu einem sich selbst finanzierenden Dorf zu entwickeln. Eine gewisse Hoffnung ruht auf einem umweltverträglichen Tourismus, für den sich die 1990 installierte Initiative »Pro Val Lumezia« einsetzt. Doch der Tourismus ist eine zweischneidige Angelegenheit: Peter Zumthors Therme Vals im Nachbartal ist so erfolgreich, dass einige Bewohner des Ortes inzwischen über den Zustrom von Besuchern klagen. Nicht ohne Grund wird Vals denn auch von den Autoren des ETH Studio Basel nicht mehr als »alpine Brache«, sondern als »alpines Ressort« klassifiziert.

Dorfbewohner als Kulturpfleger

Welche Probleme der Erhalt von Bergdörfern in der Schweiz gemeinhin bereitet, lässt sich in den meisten Regionen der Schweiz beobachten. Die gewaltigen Engadinerhäuser um St. Moritz werden bei Bewahrung der äußerlichen Hülle zum Beispiel zu Luxusapartments umgebaut, innerhalb des Mauerkranzes von Tessiner Rustici entstehen Ferienwohnungen. Das abgelegene Vrin ist von derlei Entwicklungen verschont geblieben; indem die ökonomische Erwerbsstruktur lediglich leicht modernisiert wurde, ist ein radikaler Strukturwandel ausgeblieben. Natürlich bedarf es dazu kontinuierlicher Transferleistungen – doch sind Subventionen hier zweifelsohne besser eingesetzt als anderswo. Vielleicht kann die Studie des Studio Basel trotz ihrer Zuspitzungen dazu beitragen, Gelder bewusster zu verteilen. Der Dorfbewohner erhielte dann Subventionen für seine Leistungen als Landschafts- und Kulturpfleger.

db, Mo., 2007.05.07



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db 2007|05 Dorf-Strukturen

04. Mai 2007Hubertus Adam
Bauwelt

Un-Aufgeräumt/As found in Basel

„As found“, so hieß vor sechs Jahren eine Ausstellung im Museum für Gestaltung in Zürich, die – laut Un­tertitel – der „Entdeckung des Gewöhnlichen“ galt und die britische Architektur und Kunst der 50er Jahre thematisierte. Nun kehrt der Begriff „As found“, der von Peter und Alison Smithson in die Architek­turdebatte eingeführt worden war, als Ausstellungstitel zurück – dieses Mal in das Schweizerische Ar­chitek­tur­museum in Basel.

„As found“, so hieß vor sechs Jahren eine Ausstellung im Museum für Gestaltung in Zürich, die – laut Un­tertitel – der „Entdeckung des Gewöhnlichen“ galt und die britische Architektur und Kunst der 50er Jahre thematisierte. Nun kehrt der Begriff „As found“, der von Peter und Alison Smithson in die Architek­turdebatte eingeführt worden war, als Ausstellungstitel zurück – dieses Mal in das Schweizerische Ar­chitek­tur­museum in Basel.

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Bauwelt 2007|18 Arbeiten am Baudenkmal

20. April 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektonisches Gipfeltreffen

Nachhaltigkeit und Ökologie gewinnen in der Architektur zusehends an Bedeutung. Damit rückt auch die organische Architektur von Alvar Aalto wieder verstärkt ins Rampenlicht. In der Londoner Barbican Art Gallery zeigt der Japaner Shigeru Ban seine Sicht des Werks von Aalto.

Nachhaltigkeit und Ökologie gewinnen in der Architektur zusehends an Bedeutung. Damit rückt auch die organische Architektur von Alvar Aalto wieder verstärkt ins Rampenlicht. In der Londoner Barbican Art Gallery zeigt der Japaner Shigeru Ban seine Sicht des Werks von Aalto.

Dem Grossvater von Camilla Parker, Philip Morton Shand, kommt das Verdienst zu, das britische Publikum mit dem Œuvre von Alvar Aalto vertraut gemacht zu haben. Shand, der als Kritiker, Wegbegleiter und Inspirator der modernen Architektur in England von erheblicher Bedeutung war, veröffentlichte nicht nur Meisterwerke des finnischen Meisterarchitekten wie das Sanatorium Paimio in der Zeitschrift «Architectural Review»; auf seine Initiative hin fand im Londoner Warenhaus Fortnum & Mason 1933 auch die erste Ausstellung mit Möbeln Aaltos statt. Vom nachhaltigen Erfolg zeugte nicht zuletzt die Tatsache, dass die von Aalto zur Vermarktung seiner Sperrholzmöbel 1935 gegründete Firma Artek im Vereinigten Königreich ihren wichtigsten Auslandmarkt fand - achtzig Prozent des Exports gingen im Jahr 1936 dorthin. Aaltos Möbel fanden sogar ihren Platz in Erich Mendelsohns De la Warr- Pavilion in Bexhill-on-Sea. Mit seiner organischen Architekturauffassung bot Aalto eine Orientierung in Zeiten, da die Orthodoxie des in England ohnehin verspätet eingetroffenen internationalen Stils an Bindungskraft verlor. Eine Reihe britischer Architekten wurden vom Finnen beeinflusst - von Colin St. John Wilson bis hin zum jungen James Stirling.

Aalto als Inspirationsquelle

Gleichwohl ist eine umfassende Präsentation von Aaltos Arbeiten erst jetzt in London zu sehen. Auch wenn mit Juhani Pallasmaa ein finnischer Aalto-Kenner beteiligt wurde, handelt es sich bei der Schau in der Barbican Art Gallery nicht um eine gewöhnliche Retrospektive. Dass der japanische Architekt Shigeru Ban für Auswahl und Konzept verantwortlich ist, soll zusätzliche Attraktivität schaffen. «Alvar Aalto through the eyes of Shigeru Ban» lautet der Titel. Spätestens seit dem Auftrag für die Dépendance des Centre Pompidou in Metz, die im kommenden Frühjahr eröffnet werden soll, gilt Ban als Star der internationalen Architekturszene - wobei ihm in seinem Heimatland bei weitem nicht die gleiche Bedeutung beigemessen wird wie im Westen.

Ban kam mit Aalto erstmals in Berührung, nachdem er 1984 an der Cooper Union in New York sein Studium abgeschlossen und als Assistent des Fotografen und Gründers der Zeitschrift «GA» («Global Architecture»), Yukio Futagawa, in Finnland gearbeitet hatte. Zwei Jahre später richtete Ban eine Aalto-Ausstellung in der Axis Gallery in Tokio ein. Hier verwendete er erstmals «Paper Tubes», feste Röhren aus Karton: als Raumteiler, als Tragelemente und als Deckenverkleidung. Aalto, so erklärt der japanische Architekt, habe ihn inspiriert, sich von seinem Lehrer John Hejduk sowie von den Heroen Mies van der Rohe und Le Corbusier zu emanzipieren und seinen eigenen Weg zu gehen. Mit den Paper Tubes fand er das adäquate Baumaterial, mit dem sich eine organische Architektur in neuer Materialisierung realisieren liess.

Die jetzige Londoner Ausstellung greift gestalterisch auf die Tokioter Präsentation von 1984 zurück. Ondulierende Wände aus grossen Kartonröhren bilden inmitten der zweigeschossigen Halle einen abgetrennten Raum, in welchem einige Projekte von Ban anhand von Modellen und Fotos vorgestellt werden, darunter die aus Paper Tubes, aber auch anderen Materialien konstruierten Einfamilienhäuser, das als Parasit in die Tragwerkstruktur des Centre Pompidou integrierte Temporäre Atelier (2004) oder die aus Kartonröhren konstruierten Notunterkünfte, die Ban in verschiedenen Katastrophengebieten der Welt realisiert hat, zuletzt in den vom Tsunami heimgesuchten Regionen Sri Lankas.

Um diesen Nukleus herum zeigt Ban eine reiche Auswahl von Arbeiten Aaltos. Die Galerieebene bietet einen chronologische Tour d'Horizon durch das architektonische Werk. Er setzt ein mit dem Arbeiterklub von Jyväskylä (1924/25), der für Ban als Werk des Übergangs vom Neoklassizismus zu einer nordischen Spielart der Moderne den Beginn eines eigenständigen Weges des Architekten Aalto verkörpert. Das Sanatorium von Paimio und die Bibliothek von Viipuri stehen für die funktionalistische Phase Aaltos, die Villa Mairea, eines der Meisterwerke des 20. Jahrhunderts, markiert den Übergang zum organisch geprägten Schaffen der Reifezeit. Ziegelstein bestimmte die Werke der «roten Periode», so das Studentenwohnheim des MIT Campus in Cambridge, Massachusetts (1946-49), oder das Rathaus von Säynätsalo (1948-52), nordisches Weiss die späteren Bauten im Stadtzentrum von Seinäjoki oder die Finlandia-Halle in Helsinki. Auf der unteren Ausstellungsebene werden übergreifende Aspekte des Werks thematisiert - etwa die Standardisierung, der sich Aalto in den Jahren des Zweiten Weltkriegs mit zwei Systemen präfabrizierter Holzhäuser widmete, aber auch die Materialisierung. Muster von Hölzern, glasierten Keramiken und Backsteinverbünden tragen ebenso zu sinnlicher Anschaulichkeit bei wie eine Reihe von Beleuchtungskörpern, denen der Architekt stets besondere Aufmerksamkeit widmete, sowie eine Kollektion von Möbeln und weiteren Einrichtungsgegenständen.

Selbststilisierung

Eine grosse Zahl von Leihgaben der Institutionen, die sich in Finnland dem Schaffen Aaltos widmen, macht die Ausstellung zu einem Erlebnis. Präsentiert werden Zeichnungen, Pläne, Fotos und Originalmodelle. Einen Blick auf die Materialität der Bauten vermitteln Detailaufnahmen, die von der amerikanischen Künstlerin Judith Butler speziell für die Ausstellung angefertigt wurden. Die neuen Modelle schliesslich entstanden an Bans Lehrstuhl an der Keio-Universität. Sie offenbaren ein eher formalistisches Herangehen an Aaltos Architekturen; die soziale Dimension der Architektur, die Ban in seinen über die Ausstellung verstreuten Sentenzen stets behauptet, wird weder hier noch anderswo wirklich greifbar. Überhaupt wirkt die ständige Konfrontation von Zitaten Aaltos mit Aussagen Bans etwas allzu penetrant.

Mitunter bleiben die Vergleiche schlicht oberflächlich, vor allem aber zeugen sie - was das glaubhafte Interesse an Aalto allerdings nicht relativiert - von der aufdringlichen Selbststilisierung des Japaners. Erfolgreich ist seine Strategie ohne Zweifel, wie der von ihm anlässlich der soeben eröffneten Möbelmesse im Park vor dem Triennale-Palast in Mailand errichtete Pavillon für die seit 2004 von Tom Dixon neu positionierte Firma Artek beweist.

[ Bis 13. Mai. Katalog: Alvar Aalto through the eyes of Shigeru Ban. Hrsg. Juhani Pallasmaa und Tomoko Sato. Black Dog Publishing, London 2007. 272 S., £ 29.95. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.04.20



verknüpfte Akteure
Ban Shigeru

24. März 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Schöne neue Welten

Architektur im Zeitalter der Digitalisierung

Architektur im Zeitalter der Digitalisierung

Porträts aus den zwanziger oder dreissiger Jahren zeigen Architekten vielfach im weissen Kittel. Die Berufskleidung schützte vor dem Abrieb von Grafit und Kohle, vor Flecken von Tusche und Tinte. Wer heute ein Architekturbüro betritt, fühlt sich hingegen fast wie in einem Apple-Showroom: Entworfen und gezeichnet wird am Computer, Reissschiene und Tusche haben ausgedient. Architekturprojekte entstehen auf der Basis von CAAD (Computer Aided Architectural Design). Allerdings zählten zunächst die Entwicklungs- und Designabteilungen der Automobil-, Luft- und Raumfahrtkonzerne sowie der Militärindustrie zu den Einsatzgebieten des computergestützten Designs, bevor dieses in den achtziger Jahren in den Architekturstudios Einzug hielt. Der hohe Preis und die Tatsache, dass die Entwurfsprogramme einem anderen Kontext entstammten und für den Bereich der Architektur erst adaptiert werden mussten, erklären die zeitliche Verzögerung. Leistungsfähigere Rechner, spezifischere Software und günstigere Anschaffungskosten führten in den neunziger Jahren dazu, dass sich das digitale Entwerfen flächendeckend durchsetzte.

Gehry als Protagonist

Das Potenzial der neuen Technologien wurde erst allmählich erkannt und genutzt. Zunächst verwendeten Architekten den Computer im herkömmlichen Sinne als Entwurfswerkzeug, das die bisher manuell ausgeführten Prozesse schneller und präziser auszuführen imstande war. Gerade komplexe Geometrien, die - wenn überhaupt - nur mit Mühe zu berechnen waren, liessen sich nun realisieren. Frank O. Gehry war einer der Ersten, die sich der neuen Programme bedienten. Seine spektakulären Bauten, vom Guggenheim Museum in Bilbao bis zur Disney Concert Hall in Los Angeles, wären ohne die ursprünglich für den Flugzeugbau entwickelte Software «Catia» nicht umsetzbar gewesen. Dabei geht Gehry wie ein Plastiker vor: Aus Holz, zerknülltem Papier und anderen Materialien entstehen Modelle, die dreidimensional gescannt und somit digitalisiert werden. Die vorab festgelegte Form wird am Computer gleichsam «ausgerüstet» - mit dem gewünschten Raumprogramm und dem nötigen Konstruktionssystem. Die Software erlaubt es, die Daten direkt an computergesteuerte Fräsen oder Stanzapparate zu übermitteln, welche die unterschiedlich geformten Schalungsstücke, Tragwerkstrukturen oder Fassadenelemente erstellen. So entstehen die frei geformten Stahlblechhüllen, die sich wie textile Überwürfe über die Bauten von Gehry ziehen.

Wichtige Voraussetzung für die Umsetzung der ungewohnten Formen, wie sie Gehry und andere Architekten ersinnen, ist die digitale Kette vom Entwurf bis zur Ausführung. Da CNC- Fräsen Werkstücke in jeder beliebigen Form zuschneiden können, wird die einstige Opposition von Unikat und Massenfabrikat tendenziell obsolet. Der Begriff «mass customization» bezeichnet die Massenproduktion von Einzelstücken, welche bisherige Gewissheiten der Architektur in Frage stellt. Der Kampf gegen das Ornament, den die Architekten seit Adolf Loos führten, war stets auch ökonomisch begründet. Ornamente galten als Verschwendung, und ein wesentliches Ziel der Moderne bestand darin, durch Standardisierung nach dem Baukastenprinzip die Ausführung zu vereinfachen und Baukosten zu senken.

«Mass customization» eröffnet neue Möglichkeiten der Individualisierung. Allerdings weisen die Arbeiten auf der Baustelle bis heute einen hohen Grad an handwerklichen Prozessen auf, bei denen die digitale Kette endet. Gegenüber der Montage eines Autos mutet der Guss von Betonwänden wie ein archaisches Ritual an. Frei geformte Gebäude, etwa Zaha Hadids Wissenschaftsmuseum Phæno in Wolfsburg oder das Mercedes-Benz-Museum von UN Studio in Stuttgart, lassen sich heute zwar berechnen und bauen, erfordern jedoch einen hohen Kostenaufwand.

Von den radikaleren Verfechtern eines digitalen Entwerfens wird Gehrys Vorgehen als altmodisch und inkonsequent angesehen. Aus ihrer Perspektive besteht der gravierende Fehler darin, den Formfindungsprozess aus der digitalen Kette auszuklammern. Gehry verkörpert den sich als Künstler verstehenden Demiurgen, der in traditioneller Weise eine Form entwirft, für deren Umsetzung der Computer lediglich das Hilfsmittel darstellt. Demgegenüber postulieren seine Kritiker eine Ausdehnung der digitalen Kette in die Phase des Entwurfs hinein. Damit wandelt sich das Bild des Architekten: vom omnipotenten Formfinder hin zum Auslöser und Steuerer der Formgenerierung. Die Form ist folglich nicht mehr die Setzung des Subjekts («top down»), sondern Resultat der an den Rechner delegierten Optimierungsprozesse («bottom up»). Interessant ist diese Wendung zur Prozesshaftigkeit, weil sie es ermöglicht, verschiedene Disziplinen und Anforderungen von Anfang an zu integrieren. Der Widerspruch zwischen immaterieller Entwurfsidee und der Welt der Tektonik wird zugunsten einer digitalen Tektonik aufgehoben, bei der die Arbeit des Ingenieurs von Anfang an in den Entwurfsprozess einfliesst.

Die Dezentrierung des schaffenden Subjekts bei der von Neil Leach und anderen formulierten Theorie der «Morphogenese» führt allerdings zu einem befremdlichen biologistischen Verständnis von Architektur. War es Protagonisten des Dekonstruktivismus wie Peter Eisenman noch darum gegangen, die Differenz zwischen Idee und gebauter Realität zu thematisieren, so ist die Architektur mit den radikalen Vertretern digitalen Entwerfens, etwa Greg Lynn oder Foreign Office Architects, in ein nach-kritisches Stadium eingetreten. Dem Selektionsprinzip in der Biologie entsprechend, wird der Entwurfsprozess als ein fortgesetzter Prozess der Integration, Homogenisierung und Optimierung verstanden.

Obsessive Bildlichkeit

Diese Haltung verbindet sich mit einem digitalen Technikkult, gemäss dem die Formen gleichsam als naturgegebene und zwingende Resultate automatischer Prozesse gelten. Vordergründig wird eine ästhetische Dimension der Form geleugnet - und doch beeindrucken die heutigen Computerentwürfe durch ihre Bildlichkeit und zeichnerische Perfektion. Dass die neo-organische Blob- Architektur selbstverständlich auch formale Entscheidungen des handelnden Subjekts verlangt, wird gerne verschwiegen. Die Form des D-Tower, den der niederländische Architekt Lars Spuybroek im niederländischen Doetinchem realisierte, lässt sich zwar aus verschiedenen Strategien digitalen Entwerfens erklären, aber eine nachts in verschiedenen Farben leuchtende Architekturplastik könnte auch anders aussehen.

Durchaus wahrscheinlich ist, dass unsere Epoche obsessiver computergenerierter Bildlichkeit, welche die Realität mehr und mehr zu simulieren vermag, in absehbarer Zeit an ihr Ende gelangt. Angesichts globaler Probleme steht die Architektur vor sich wandelnden Herausforderungen, und es ist zu vermuten, dass das digitale Entwerfen in Zukunft seinen auf sich selbst bezogenen Charakter verliert.

[ Der Kunsthistoriker Hubertus Adam ist Redaktor der Zeitschrift «archithese» in Zürich. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2007.03.24

23. März 2007Hubertus Adam
Bauwelt

Monika Sosnowska

BU
Durch die streng orthogonalen Räume im Obergeschoss des Kunstmuseums zieht sich
das Gangsystem der Rauminstallation von
Monika Sosnowska.
Foto: Kunstmuseum Liechtenstein
Kunstmuseum Liechtenstein | 9490 Vaduz
▸ www.kunstmuseum.li | bis 6. Mai, Di–So 10–17, Do 10–20 Uhr. Der Katalog erscheint zum Ende der Ausstellung.


Autor: Hubertus Adam
Foto: http://www.kunstmuseum.li/Inhalt/Basic4_sosnowska.html

BU
Durch die streng orthogonalen Räume im Obergeschoss des Kunstmuseums zieht sich
das Gangsystem der Rauminstallation von
Monika Sosnowska.
Foto: Kunstmuseum Liechtenstein
Kunstmuseum Liechtenstein | 9490 Vaduz
▸ www.kunstmuseum.li | bis 6. Mai, Di–So 10–17, Do 10–20 Uhr. Der Katalog erscheint zum Ende der Ausstellung.


Autor: Hubertus Adam
Foto: http://www.kunstmuseum.li/Inhalt/Basic4_sosnowska.html

Das im Jahr 2000 eröffnete Kunstmuseum von Morger & Degelo und Christian Kerez in Vaduz (Heft 42.00) demonstriert, wie Einfachheit räumliche Vielfalt hervorzubringen vermag. Von zwei gegenläufigen Treppen erschlossen, gliedert sich der recht­eckige Grundriss im Obergeschoss in vier Säle, die windmühlenartig angeordnet zu einem Rundgang zusammengeschlossen sind. Dabei alternieren zwei schmale, lange Räume mit zwei breiteren und größeren. Weil die Säle mit weißen Wänden, Eichenparkett und Glasdecken identisch ausgestattet sind, die Proportionen sich von einem Raum zum nächsten ver­ändern und Blicke nach außen verwehrt bleiben, erscheint die klare Struktur fast labyrinthisch. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Raumkonfiguration über die Diagonalen gespiegelt ist, man also während eines Rundgangs mit Räumen gleicher Proportionen an zwei verschiedenen Stellen konfrontiert ist.

Nun hat die polnische Künstlerin Monika Sosnowska, beraten von Christian Kerez, im Obergeschoss ihre Installation „Loop“ eingerichtet. Steigt man vom Foyer aus die Treppe empor, steht man nicht wie sonst in diesem Museum im ersten Ausstellungssaal, sondern in einem Gang. Wände, Boden und Decke sind weiß gestrichen, Leuchtstoffröhren tauchen ihn in ein gleißendes Licht. Der Gang ist so breit, dass man sich ohne viel Mühe begegnet. Nach einem ersten Knick kreuzt er sich mit einem weiteren, die beiden Gänge münden etwas später wieder ineinander, dann neue Knicke, Verzweigungen, Zusammenführungen und wieder eine lange Wegstrecke geradeaus. Wählt man an einer Kreuzung einen Abzweig und schlägt einen Haken, gelangt man zur Treppe und verlässt den endlosen Kreislauf, der es erlaubt, auf einem parallelogrammförmigen Kurs das Ober­geschoss zu durchqueren.

Monika Sosnowska, Jahrgang 1972, reagiert mit ihrer Installation auf die bestehende Raumstruktur, indem sie die Durchgänge zwischen den Sälen ausnutzt, aber ein kontrastierendes formales Vokabular verwendet: nicht weite Räume, sondern schmale Gänge; nicht rigide Orthogonalität im Grundriss, sondern spitze und stumpfe Winkel. Das geschlossene Korridorsystem als temporäre Installation wird zur scheinbaren Primärstruktur, die zu dem Hüll­raum der Galeriesäle in einem ähnlichen Verhältnis steht wie diese zur Umgebung: Befindet man sich im Gangsystem, sind die Galerieräume ausgeblendet. Nur an zwei Stellen erlaubt die Künstlerin den Übertritt von einem System ins andere. An den Treppen kann man aus dem Gang in einen Ausstellungssaal treten, wo die Künstlerin einige Bilder präsentiert, die sie aus der Sammlung des Museums ausgewählt hat. Wie in einem Filmstudio sieht man die Gänge von der Rückseite: als provisorische Konstruktion aus Metallrahmen und Holzwerkstoffplatten.

So absurd es auch klingt: Gerade indem Monika Sosnowska die Ausstellungsräume verbirgt, werden die Besucher dazu animiert, über deren Konzept nachzudenken. Die über die Diagonale entwickelte Symmetrie gilt auch für die Konfiguration der Gänge. Nicht auf materieller, aber auf konzeptioneller Ebene sind beide Systeme miteinander verbunden. So wird die Intervention zur Partizipation.

Bauwelt, Fr., 2007.03.23



verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2007|12 StadtBauwelt 173: Ware Wohnung

20. März 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Aktualität des Barock

Eine Ausstellung in Graz und eine neue Monographie widmen sich dem österreichischen Barockbaumeister Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723). Die Frage nach seiner heutigen Relevanz steht im Vordergrund.

Eine Ausstellung in Graz und eine neue Monographie widmen sich dem österreichischen Barockbaumeister Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723). Die Frage nach seiner heutigen Relevanz steht im Vordergrund.

Mit Graz ist Johann Bernhard Fischer von Erlach biografisch verbunden. In der steirischen Hauptstadt wurde er 1656 geboren, hier verbrachte er seine Jugend und erhielt bei seinem Vater eine Ausbildung als Bildhauer. Nur ein einziges Projekt zeugt indes in Graz vom Wirken des vielleicht bedeutendsten Architekten des österreichischen Barock: das Mausoleum Ferdinand II., das Fischer 1687 mit Stuckaturen und Ausstattung versah. Nachdem er gerade von einem 16-jährigen Aufenthalt in Italien zurückgekehrt war, lag die Heimatstadt gleichsam auf dem Weg zu den Orten, in denen sich seine eigentliche Karriere ereignen sollte: Wien und Salzburg. 1688 erregte er Aufmerksamkeit mit dem gigantischen Projekt von Schloss Schönbrunn für Leopold I., das sogar Versailles in den Schatten gestellt hätte. Der zweite Entwurf von 1793 zeigte sich deutlich redimensioniert, also realistischer, wurde aber auch nur partiell ausgeführt; Schönbrunn in seiner heutigen Gestalt ist zu weiten Teilen ein Produkt der Ära Maria Theresias. Anderen Vorhaben des 1696 geadelten Fischer von Erlach war noch weniger Glück beschieden: Das Gartenpalais für den Fürsten Liechtenstein blieb unausgeführt, das Winterpalais für den Prinzen Eugen musste er während der Ausführung seinem Erzrivalen Lucas von Hildebrandt übertragen. Auftraggeber fand Fischer von Erlach in den Kreisen des Adels, vor allem in der Person des Salzburger Erzbischofs Johann Ernst Graf von Thun-Hohenstein. Mit einer Reihe von Bauten - darunter dem Priesterseminar, der Kollegienkirche und der Ursulinenkirche - schuf der Architekt das noch heute bestehende barocke Gesicht der Stadt. In Wien war er erst wieder nach dem Tod des Erzbischofs tätig und realisierte mit der von seinem Sohn vollendeten Karlskirche sein Hauptwerk.

Wechsel der Perspektiven

Seit der Neubewertung des zuvor verfemten Barock Ende des 19. Jahrhunderts durch Heinrich Wölfflin und Cornelius Gurlitt haben sich Kunsthistoriker immer wieder mit Fischer von Erlach befasst. Von besonderer Bedeutung sind die Arbeiten Hans Sedlmayrs, dessen strukturanalytische Forschungen trotz der deutschnationalen und modernefeindlichen Gesinnung des Autors heute immer noch als massgeblich gelten. Anders als Sedlmayr, dem die Behauptungen eines Reichs- oder Kaiserstils wichtig waren, sieht der Bremer Kunsthistoriker Andreas Kreul in seiner jüngst zum 350. Geburtstag des Architekten erschienenen, opulent illustrierten Monographie Fischer von Erlach in einer gewissen Distanz zum österreichischen Absolutismus.

Allgemeingültiges

Als Schüler des 1988 verstorbenen Bochumer Kunsthistorikers Max Imdahl sucht der Autor seine Argumentation vor allem aus der Unmittelbarkeit der Anschauung zu gewinnen, aus sinnlicher Evidenz. Traditionelle werkgeschichtliche oder quellenkundliche Zugänge werden marginalisiert, stattdessen will Kreul an Fischer von Erlach das Allgemeingültige herausdestillieren. Anknüpfend an de Saussure, Leibniz und Deleuze sowie mit Querverweisen auf Gordon Matta-Clark, Le Corbusier und Peter Eisenman sieht er Fischer von Erlachs Leistung darin, heterogene Bauelemente, die verschieden interpretierbar sind, auf einer höheren Ebene vereint zu haben. Damit grenzt er ihn ebenso von dem stärker systematisch arbeitenden Konkurrenten Lucas von Hildebrandt ab wie von den postmodernen Interpreten, welche das collageähnliche Nebeneinander verschiedener ästhetischer Konzepte gerade als vorbildlich erachteten. Fischer von Erlachs 1721 veröffentlichtes Stichwerk «Entwurff einer historischen Architektur» zeigt wertneutral Bauten aller Epochen und Kulturen.

Die Ausstellung über Fischer von Erlach im Stadtmuseum Graz wurde von Kreul kuratiert und von der in Graz und Delft ansässigen Architektengruppe Splitterwerk gestaltet. Programmatisch sind im Treppenhaus comicartige Zeichnungen zu sehen, auf denen die Sentenz aus der Vorrede zum «Entwurff» zu lesen ist, Ziel sei es nicht, Gelehrte zu unterrichten, sondern «Liebhaber zu ergötzen und den Künstlern zu Erfindungen Anlass zu geben». Die Aktualität Fischer von Erlachs demonstrieren soll auch die Schau, die in abgedunkelten Räumen mit Licht- und Sound- Installationen Stimmungen vermittelt, auf Originalmaterialien (die gerade bei Fischer von Erlach in reichem Masse vorhanden wären) aber weitgehend verzichtet. In einem der Räume sind Stiche von Fischers Bauten mit Kommentaren versehen - von Leibniz, Deleuze oder Sedlmayr.

In einem anderen Raum hängen ebenfalls Blätter des Stichwerks, jeweils überblendet mit einem Bild einer Inkunabel der Architektur des 20. Jahrhunderts - so werden die ägyptischen Pyramiden mit Adolf Loos' Chicago Tribune Tower, der Entwurf für die Hofstallungen mit der Raum-Stadt von Yona Friedman oder der Tempel Salomons mit dem New-York-Projekt von Superstudio in Beziehung gesetzt. Welche Relationen bestehen, darüber gibt Begleitheft nur bedingt Auskunft. Ratlosigkeit hinterlässt auch der Saal mit grossen Prints, auf denen Fischers Plan des Glacis zwischen Wiener Hofburg und Karlskirche mit bunten Ornamenten aus Kastanienblättern bedruckt ist, auch wenn der Begleittext grossspurig verkündet, Splitterwerks Architektur sei angesichts von Loos' Diktum über das Ornament als Verbrechen ein Anschlag auf die Moderne.

Einen anderen Zugang zu Fischer zu finden als mit den Mitteln der klassischen architekturhistorischen Ausstellung, ist zweifellos legitim und ein interessantes Unterfangen. Gelungen ist der Versuch in Graz allerdings nicht. Wer die Arbeiten des Architekten nicht kennt (und Kreuls Buch nicht gelesen hat), dem bleiben die Bezüge weitgehend verschlossen. Und so richtet sich die Präsentation, ihren Intentionen widersprechend, dann doch wieder an die Gelehrten.

[ Bis 15. April im Stadtmuseum Graz. - Begleitpublikation: Andreas Kreul: Johann Bernhard Fischer von Erlach - Regie der Relation. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2006. 448 S., Fr. 105.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2007.03.20



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Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656-1723)

02. März 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Transformationen in Stadt und Hafen

Innenstadt und Hafenareale stehen im Brennpunkt der urbanistischen Entwicklung Rotterdams. Nun hat sich die boomende Hafenmetropole selbstbewusst zur Architekturstadt 2007 ausgerufen.

Innenstadt und Hafenareale stehen im Brennpunkt der urbanistischen Entwicklung Rotterdams. Nun hat sich die boomende Hafenmetropole selbstbewusst zur Architekturstadt 2007 ausgerufen.

Von der verheerenden Zerstörung durch das Bombardement der deutschen Luftwaffe am 14. Mai 1940 hat sich Rotterdam bis heute nicht vollständig erholt. Mehrere Generationen von Stadtplanern haben die Stadt im Geist der Moderne wiederaufzubauen versucht. Van den Broek & Bakema und Hugh Maaskant begannen 1951 mit dem innerstädtischen Lijnbaan-Viertel, das mit seinen eine Fussgängerzone flankierenden Geschäftspavillons und den dahinter aufragenden Wohnscheiben als urbanistische Inkunabel der fünfziger Jahre weltweit Nachahmung fand. Auch wenn später kleinteiligere Strukturen das urbane Gefüge ergänzten: Der Innenstadt von Rotterdam mangelt es an Aufenthaltsqualität. So ist es seit Jahren ein Ziel, durch Nachverdichtung mehr Leben in das Zentrum zu bringen. Das wichtigste Projekt ist eine grosse Markthalle, die nahe der U-Bahn-Station Blaak bis 2009 entstehen soll.

Die Markthalle als Kathedrale

Die Umgebung der zukünftigen Markthalle wird bestimmt von der gotischen Sint-Laurens-Kerk, die als einziges historisches Relikt davon zeugt, dass sich hier einst die Keimzelle der städtischen Entwicklung befand, und den bizarren, auf die Spitze gestellten Kubushäusern (1978-84) des Strukturalisten Piet Blom. Die lange Freifläche der Binnenrotte, die sich dazwischen aufspannt, dient traditionell als offener Marktplatz. Nicht zuletzt neue Hygienevorschriften, denen zufolge beispielsweise der Verkauf von Fleisch im Freien untersagt ist, haben nun zu der Idee einer überdeckten Markthalle geführt - ein Bautypus, der in den Niederlanden anders als in anderen europäischen Staaten in der Vergangenheit keine Vorbilder hat. Gewiss bleibt abzuwarten, ob am Ende tatsächlich eine lebendige Markthalle oder ein Luxus-Food-Court entsteht, doch die Intentionen, die der Projektentwickler Provast bisher bekanntgegeben hat, stimmen zuversichtlich. In der 100 Meter langen Halle sollen etwa 70 Marktstände eingerichtet werden, wobei man kleine lokale Anbieter bevorzugen und ein Augenmerk auf biologische Produkte legen will.

Das Vorgehen bei der Planung der Markthalle ist typisch für die neue rechtsorientierte Stadtregierung, die eigene Investitionen in den öffentlichen Sektor verweigert und dessen Gestaltung dem freien Spiel wirtschaftlicher Kräfte überlässt. Das Grundstück wurde dem Projektentwickler verkauft, der darauf das Bauprojekt für 120 Millionen Euro realisiert; mit 35 Millionen investiert die Stadt allein in die Infrastruktur der Tiefgarage mit ihren 1100 Plätzen. Dass unter diesen Voraussetzungen doch ein bemerkenswertes Projekt entstehen kann, ist dem Unternehmen Provast zu verdanken, das den Ende 2004 prämierten Wettbewerbsentwurf von MVRDV realisiert.

Finanziert wird das Konzept der Markthalle durch Zusatznutzungen, und so entwarfen die Architekten eine zwölfgeschossige Mantelbebauung, welche sich auf beiden Längsseiten über den Freiraum der an den Stirnen und im Zenitalbereich verglasten Halle mit den Marktständen wölbt. Im Sockel sollen Lebensmittelgeschäfte und Gastronomiebetriebe einziehen, darüber sind knapp 250 Eigentums- und Mietwohnungen geplant. Ohne Zweifel besitzt das spektakuläre, 40 Meter hohe Gebäude das Potenzial, als neuer Attraktor das bisher trotz innerstädtischer Lage eher im Schatten des jetzigen Zentrums gelegene Laurenskwartier zu beleben - die Projektentwickler sprechen von einem Zeichen für die Stadt und einer Kathedrale für Rotterdam. Im Februar 2006 hat die Stadt dem Verkauf der Liegenschaft zugestimmt, so dass einer Realisierung nichts mehr im Wege steht.

Revitalisierung der Maasufer

Neben den innerstädtischen Interventionen konzentriert sich die Stadtplanung in Rotterdam auf die Transformation und Revitalisierung der nicht mehr benötigten Hafenareale am Nord- und Südufer der Maas. Die Umnutzung begann schon in den siebziger Jahren, doch erst das Grossprojekt der Neubebauung von Kop van Zuid, der der Innenstadt gegenüberliegenden, durch die zum Wahrzeichen avancierte Erasmus-Brücke verbundenen Hafenareale, liess eine neue Wasserfront entstehen, in die sich auch seit 2005 eine Wohnbebauung des zum Traditionalisten konvertierten, in den Niederlanden erfolgreichen Hans Kollhoff einfügt. Umgenutzte Lagerhäuser und Terminals verbinden sich auf der Landzunge des Wilhelminapiers mit Hochhäusern von Renzo Piano, Norman Foster und dem 156 Meter hohen Turm «Montevideo» von Mecanoo. Diesem «Maashattan» antworten im südöstlich jenseits des Rijnhaven gelegenen Stadtteil Katendrecht zwei Wohntürme von DKV.

Auf das bedeutendste Projekt der Hafenrevitalisierung stösst man derzeit am Nordufer der Maas. Müller- und Lloydpier heissen die beiden Landzungen zwischen dem Stadtteil Delfshaven und der Innenstadt, die nach städtebaulichen Masterplänen von Kees Christiaanse Architects and Planners (KCAP) bebaut werden. Die Ausgangsidee der Architekten bestand darin, die übliche Nutzungstrennung zu vermeiden und eine weitgehende funktionale Durchmischung zu ermöglichen. Der Müllerpier wird schon seit den siebziger Jahren nicht mehr für den Hafenbetrieb genutzt. Da die Fläche über lange Jahre als Standort einer Kirmes diente, war sie weitgehend planiert, als KCAP mit den Planungen begannen.

Es ist die Grundüberzeugung von Kees Christiaanse, dass nur ein auf sozialer und funktionaler Diversifikation beruhendes Stadtquartier lebenswert, urban und letztlich erfolgreich ist. «The City as Loft» nennt Christiaanse sein Konzept, möglichst undeterminierte Räume zu schaffen, die informell genutzt werden können und eine urbane Klientel anziehen, die nicht unbedingt finanzstark ist, aber durch eigene Aktivität als urbaner Generator wirkt. Das ist insbesondere im Bereich des Lloydpiers gelungen, wo die bestehenden Altbauten für Filmstudios, Ateliers oder Lofts umgenutzt wurden; an der Nordkante des Quartiers findet sich das alternative Theaterhaus «Onafhankelijk Toneel» und jenseits vom Westzeedijk das Rotterdamer Konservatorium. Zur eigentlichen Landmarke aber ist das weithin sichtbare Scheepvaart en Transport College an der Maasfront des Lloydpiers geworden. Das Büro Neutelings Riedijk hat die Ausbildungsstätte für Seefahrt und Hafenlogistik als 70 Meter hohe Skulptur konzipiert, die aus einem Sockelbereich, dem wuchtigen Turm und einem im Querschnitt trapezoiden, 20 Meter auskragenden Auditoriumsvolumen in der Höhe besteht; verkleidet ist das im Inneren durch Rolltreppen erschlossene Gebäude mit silbergrauen und blauen, gewellten Stahlblechplatten in Schachbrettanordnung. Während sich die Seitenfront des unteren Hörsaals zur Maas hin öffnet, wirkt die gerahmte Verglasung des oberen Auditoriums wie ein Periskop Richtung Nordsee.

Von Willem Jan Neutelings stammen auch Entwürfe für die Bebauung des Müllerpiers, an der ausserdem EGM, de Architekten Cie. und KCAP beteiligt sind. Die der Industrialisierung des Bauwesens geschuldete niederländische «Tunnelbauweise» aus raumbildenden Betonelementen überführte Neutelings in ungewohnt plastische, mit Backstein verkleidete Volumina. Der abgetreppte Baukörper des Gebäudes «Aert van Nes» entstand für die Stiftung Humanitas, die ungewohnte Wege im Bereich Alterswohnungen beschreitet. Das Restaurant «De Zingende Zeeleeuw» im Erdgeschoss und das wie eine Schublade aus der Front auskragende Hallenbad im Geschoss darüber stehen auch externen Besuchern offen.

Es sei erstaunlich, in welchem Masse die Angebote der Stiftung Humanitas zur Belebung des Quartiers beitrügen, erklärt Christiaanse im Gespräch. Er konnte bereits zwei Bauten auf dem Müllerpier realisieren. Experimente seien allerdings nach dem politischen Wechsel in Rotterdam auch im Wohnungsbau kaum gefragt. So favorisieren die privatisierten Wohnungsbaugesellschaften und Projektentwickler die konventionelle Familienwohnung - während der Masterplan «Townhouses» eine Mischung aus Wohnen und Arbeiten vorsah.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.03.02



verknüpfte Beiträge
europa1 Niederlande

02. März 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Unter himmelblauen Wellen

Seit einigen Jahren gewinnt der Londoner Stadtteil Southwark an Attraktivität. Dort hat die Architektin Sarah Wigglesworth ein früheres Schulgebäude zu einem Tanzstudio umgebaut.

Seit einigen Jahren gewinnt der Londoner Stadtteil Southwark an Attraktivität. Dort hat die Architektin Sarah Wigglesworth ein früheres Schulgebäude zu einem Tanzstudio umgebaut.

Vielleicht war die Infantin von Kastilien, wenn auch in verballhornter Form, Namensgeberin: Elephant & Castle hiess das Pub, dessen Erinnerung der gleichnamige Verkehrsknoten südlich der Themse in London bewahrt. Der «Elephant», so die übliche Kurzform in der britischen Kapitale, ist eigentlich ein Unort: zwei verkehrsreiche Plätze, verbunden durch eine kurze Strasse; ein von grobschlächtigen Blöcken gefasster Brennpunkt der autogerechten Neudefinition der Metropole nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit jüngstem unterliegt das Gebiet der Transformation: Den Anfang machte das von Ernö Goldfinger 1963 realisierte und zuletzt verwahrloste Büro- Ensemble des Department of Health and Social Security, dessen Stahlbetonstruktur nach seiner Umnutzung zu Wohnzwecken wieder als Preziose der späten Moderne zu wirken vermag. Vor knapp zwei Jahren hat das Southwark Council nun ein Regenerationsprogramm mit dem Ziel lanciert, Elephant & Castle bis zum Jahr 2012 einer grundsätzlichen Transformation zu unterziehen. Die Massnahmen starteten mit der Beseitigung der unwirtlichen Fussgängerunterführungen und sollen in der Errichtung eines neuen Einkaufszentrums und zweier multifunktionaler Hochhäuser gipfeln.
Grosse und kleine Transformationen

Verglichen mit diesen aufwendigen Vorhaben nehmen sich die unlängst eröffneten Siobhan Davies Studios bescheiden aus. Doch dass die 1988 gegründete Tanztruppe von Siobhan (Sue) Davies ein festes Haus erhalten hat, ist nicht nur gut für die freie Londoner Tanzszene, sondern auch für den Borough of Southwark. An der St. George's Road, auf halbem Weg zwischen Elephant und dem Imperial War Museum, ist mit dem Studio ein kultureller Hot Spot entstanden, der zur Aufwertung des Quartiers beitragen kann und damit einen neuerlichen Anziehungspunkt in den lange Zeit vernachlässigten Quartieren südlich der Themse darstellt.

Aufsehen erregt das Dance Centre schon aufgrund seiner Baulichkeit. Die Umgestaltung eines früheren Schulgebäudes unternahm die Londoner Architektin Sarah Wigglesworth, die vor einigen Jahren mit ihrem eigenen Wohn- und Bürohaus in Islington bekannt wurde (NZZ 5. 4. 02). Das bizarre Gebäude, dessen Wände unter anderem aus Sandsäcken und Strohballen bestehen, hat mit Londoner Hightech-Architektur ebenso wenig zu tun wie mit dem komplementären Trend zu einer minimalistischen Materialästhetik. Auch die Siobhan Davies Studios dokumentieren Wigglesworth' pragmatische und zugleich unkonventionelle Haltung. Von dem bestehenden Ziegelbau, dessen älterer Teil aus dem Jahr 1898 stammt, blieb bestehen, was man weiter benötigen konnte: grosse Teile der äusseren Fassaden, einige Räume im Erdgeschoss. Herausgebrochen wurde indes das die neue Nutzung störende Treppenhaus in der Mitte, für das an der Rückseite Ersatz geschaffen wurde; eine mit Drahtgittern verkleidete Fluchttreppe steht überdies als Turm vor der östlichen Gebäudestirn.

Zeichenhafte Dachlandschaft

Wo einst das Treppenhaus das Gebäude teilte, ist jetzt ein offenes, weiträumiges Foyer entstanden, das zwei Ebenen übergreift. Um diese Halle gruppieren sich Büros, Empfang und Lounge im Parterre sowie Garderoben und ein Probesaal in der Etage darüber. Die gesamte Ebene des zweiten Obergeschosses nimmt das grosse Tanzstudio ein, das auch für öffentliche Aufführungen genutzt werden kann. Überdeckt ist der Saal mit fünf schalenartigen Elementen, gleichsam verdrehten Sheds, die es erlauben, dass von Westen und von Osten Licht in das Innere fällt.

Aussen bestehen die gestaffelten Schalen aus himmelblauem, glasfaserverstärktem Kunststoff - die wellig-aufbrandende Dachlandschaft hinter den früheren Giebeln ist zum unübersehbaren Wahrzeichen des Umbaus geworden. Im Inneren wurde die verdrehte Dachstruktur mit hellem Holz verkleidet. Spiegel und Stangen, wie man sie von anderen Tanzstudios kennt, sucht man hier vergeblich, weil Davies diese Form von Training ablehnt.

Während der Dachaufbau sich als Hinzufügung präsentiert, blieben die Spuren der früheren Nutzung in den unteren Ebenen weitgehend erhalten. Architektin und Nutzer haben ganz offensichtlich zu einem harmonischen Miteinander gefunden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.03.02

09. Februar 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Tropische Moderne

Kolonialarchitektur in Indonesien - eine Rotterdamer Ausstellung

Kolonialarchitektur in Indonesien - eine Rotterdamer Ausstellung

Der koloniale Architekturexport nach Übersee ist eines der Themen, mit denen sich die Architekturhistoriographie in den vergangenen Jahren verstärkt beschäftigt hat. So sind exzellente Bildbände erschienen, welche die britische Kolonialarchitektur in Indien dokumentieren, und die jüngste Wiederentdeckung stellt das von den italienischen Faschistischen ausgebaute Asmara in Eritrea dar (NZZ 11. 10. 06). Inzwischen wird ein Antrag vorbereitet, dieses herausragende Ensemble von Bauten der Moderne als Unesco-Weltkulturerbe einstufen zu lassen.

Eine Ausstellung im Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam widmet sich nun unter dem Titel «Moderniteit in de Tropen» den niederländischen Hinterlassenschaften in Indonesien. Niederländisch-Ostindien war unter der Ägide der Vereinigten Ostindischen Kompanie gegen 1600 in den Besitz der einstigen Kolonialmacht geraten; von der Ausbeutung durch das Mutterland zeugt eindrücklich der 1860 erschienene Roman «Max Havelaar» des unter dem Pseudonym Multatuli bekannten Autors Eduard Douwes Dekker. Der das heutige Indonesien bildende Archipel blieb bis 1949 unter niederländischer Herrschaft. - Die Rotterdamer Ausstellung stützt sich weitgehend auf Archivmaterialien des NAI und ist nicht auf einzelne Architekten konzentriert, sondern nach Bauaufgaben gegliedert. Verfolgte man im Verwaltungsbau eher eine klassisch-repräsentative Formensprache, so vereinen manche der von holländischen Architekten errichteten Villen die Bautradition Indonesiens mit den auch in den Niederlanden virulenten Inspirationen durch Frank Lloyd Wright. Dies zeigt sich besonders im Werk des in Batavia und Bandoeng vielbeschäftigten Architekten F. J. L. Ghijsels. Eine Entdeckung ist auch A. F. Aalbers, der Vertreter von Art Déco und Stromlinien-Ästhetik in Niederländisch-Ostindien.

Begleitet wird die Schau von einer Publikation mit lesenswerten Essays, die unter anderem auch den Kulturtransfer in umgekehrter Richtung thematisieren. Denn die vernakuläre Baukunst der Kolonien inspirierte nachweislich die Architekten der «Amsterdamer Schule». Andererseits trafen in Indonesien so viele kulturelle Einflüsse aufeinander, dass nicht klar festzulegen ist, was typisch indonesisch ist. Was auch für die Niederlande gilt: Denn was ist typisch holländisch?

[ Bis 22. April. Begleitpublikation: The Past in the Present. Architecture in Indonesia. Hrsg. Peter H. M. Nas. NAI Publishers, Rotterdam 2007. 288 S., Euro 47.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.02.09

02. Februar 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Das Haus als Dachlandschaft

Seit Jahren verzeichnet die Nidwaldner Ortschaft Buochs einen Bevölkerungszuwachs. Doch nicht in erster Linie diese Tatsache war Grund für den Neubau eines...

Seit Jahren verzeichnet die Nidwaldner Ortschaft Buochs einen Bevölkerungszuwachs. Doch nicht in erster Linie diese Tatsache war Grund für den Neubau eines...

Seit Jahren verzeichnet die Nidwaldner Ortschaft Buochs einen Bevölkerungszuwachs. Doch nicht in erster Linie diese Tatsache war Grund für den Neubau eines Schulhauses, sondern ein verändertes pädagogisches Konzept. «Integrativer Unterricht» lautet das Stichwort. Gemeint ist damit die Abkehr vom Prinzip des Frontalunterrichts, bei dem die Reihen der Schultische auf das Lehrerpult ausgerichtet sind. Zeitgenössische Lehrformen bedürfen informellerer Raumbereiche, und so werden die Klassenzimmer durch flexibel nutzbare Gruppenräume ergänzt.

Es hat lange gedauert, bis derlei Gedanken, die im Reformschulbau der dreissiger bis siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts durchaus schon Anwendung fanden, zu neuem Leben erwachten. So bemerkenswert viele der hierzulande in den letzten zwei Dezennien errichteten Schulen in architektonischer Hinsicht auch sein mögen: Ihre Raumorganisation zeigt selten mehr als Konvention. Erst in jüngster Zeit macht sich ein Umdenken bemerkbar, wie etwa das Volta-Schulhaus von Miller & Maranta in Basel oder das Schulzentrum Im Birch im Zürcher Stadtteil Neu-Oerlikon beweisen.

Dass sich Innovationen nicht allein in Städten ereignen, dafür ist das Schulhaus Baumgarten in Buochs ein guter Beweis. Der über mehr als ein Jahrhundert gewachsene Schulkomplex staffelt sich mit fast einem Dutzend Bauten südlich des Dorfplatzes am Hang empor und bildet einen lockeren, scheinbar planlos gewachsenen Campus. Weil sich einige Gebäude in einem schlechten Zustand befanden und mit Provisorien schon seit längerem der Raumnot begegnet wurde, entschied man sich 2003 - anlässlich der Einführung des integrativen Unterrichts - für einen Neubau. Den Architekturwettbewerb gewannen im Folgejahr Pool Architekten aus Zürich, die unlängst durch die im Wohnungsbau Massstäbe setzende Siedlung Leimbach sowie den Umbau des Locherguts die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit gefunden haben. Das neue Schulhaus überzeugt durch ein intelligentes räumliches Konzept. Während die nach Norden und Süden orientierten Räume des Erdgeschosses - Saal, Administration, Sonderräume - von einem mittigen Korridor aus erschlossen werden, fehlt eben dieser im Obergeschoss. Hier schiebt sich zwischen die jeweils vier zu den Längsseiten hin orientierten Klassenzimmer der Unter- und Mittelstufe eine Zone aus Gruppenräumen, so dass sich eine flexible Clusterstruktur aus Räumen ergibt; quergelagerte, über Treppen erreichbare Erschliessungszonen lassen gleichsam zwei Häuser im Haus entstehen.

An die Stelle der Sichtbetonästhetik heutiger Schweizer Architektur lassen Pool einen Materialmix treten. Der mit sägerohen Brettern geschalte Beton trifft auf Holz und Klinker, auf Putz und Glas. Nach dem Shedprinzip gliedert sich die zweigeteilte, aufgefaltete Dachlandschaft in zwei Zonen und versorgt die Zwischenzone der Gruppenräume mit Tageslicht. Gläserne Türen verbinden die Räume miteinander, bei Bedarf gewähren Vorhänge die nötige Abschirmung. Die expressive Dachformation nimmt dem Richtung Osten in einer zweiten Bauphase zu erweiternden Volumen die Wucht. Nicht zuletzt reagiert es auf die von den Bergen bestimmte Topographie: Jenseits der Bucht des Vierwaldstättersees erhebt sich der Bürgenstock, während im Westen der Gipfel des Pilatus das Panorama dominiert.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.02.02



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Schulhaus Baumgarten

02. Februar 2007Hubertus Adam
Bauwelt

Schweizerisches Architekturmuseum unter neuer Leitung

BU

Oben: Der von Tecta aufgelegte Stuhl Ruegenberg, maßstabslos montiert vor dem Haus Ruegenberg im Berliner Hansaviertel.
Darunter: Nils Holger Moormanns Gartenobjekt „Walden“ soll dazu einladen, das Leben im Freien zu verbringen.
Collage oben: Christine Molis, Berlin; darunter: Stylepark

BU

Oben: Der von Tecta aufgelegte Stuhl Ruegenberg, maßstabslos montiert vor dem Haus Ruegenberg im Berliner Hansaviertel.
Darunter: Nils Holger Moormanns Gartenobjekt „Walden“ soll dazu einladen, das Leben im Freien zu verbringen.
Collage oben: Christine Molis, Berlin; darunter: Stylepark

„Deutschlandschaft“, der deutsche Beitrag zur Architektur-Biennale in Venedig 2004, katapultierte die Journalistin Francesca Ferguson ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Nach vielen missglückten Versuchen in den Jahren zuvor, den deutschen Pavillon zu bespielen, war der Kuratorin eine Ausstellung gelungen, die aufgrund der Auswahl der Objekte ebenso überzeugte wie durch deren Präsentation. Selbst eiligen Besuchern – und das sind angesichts der Überfülle des Angebotenen in Venedig die meisten – lieferte sie einen attraktiven Überblick über die deutsche Gegenwartsarchitektur. Umso mehr enttäuschte die im vergangenen Herbst von Ferguson und ihrem in Berlin ansässigen Produktionsbetrieb „urban drift“ realisierte Schau „Talking Cities“ im Rahmen des auf Zollverein veranstalteten Großprojekts „Entry 2006“. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit, welche die Kuratorin in Venedig so überzeugend benutzt hatte, missachtete sie in der Essener Ausstellung gänzlich. Bedenkenswerte Konzepte verloren sich dort in einem modisch-chaotischen Arrangement, das wie ein mit philosophischen Zitaten garnierter Abenteuerspielplatz wirkte. Natürlich: Eine zeitgenössische Architekturausstellung muss nicht zwangsläufig als klassisch-kunsthistorische Dokumentation daherkommen. Aber inzwischen ist man der vorgeblich hippen Präsentationen überdrüssig, die eigentlich Kunst sein wollen, den Organisatoren viel Spaß gemacht haben, beim Besucher aber Ratlosigkeit hinterlassen.
Nun wirkt Francesca Ferguson in Basel, als neue Leiterin des dortigen Architekturmuseums. Die rührige Institution, die bereits 2005 neue Räume in der Kunsthalle Basel bezog, hat sich unter ihrer langjährigen Leiterin Ursula Jehle-Schulte-Strathaus vornehmlich der Schweizer Architektur gewidmet. Immer wieder fanden hier wichtige Präsentationen statt: frühe Ausstellungen von Herzog & de Meuron, eine Schau mit Modellen von Christian Kerez; vor zwei Jahren startete eine von Monographien begleitete Reihe über die Bauten des Novartis-Campus. Naturgemäß war ein Schwerpunkt das Baugeschehen in Basel selbst.

Doch Ferguson will mehr. Eine Namensänderung hat sie schon erreicht. Das Architekturmuseum Basel heißt nun S AM – Schweizerisches Architekturmuseum. Welch ein Etikettenschwindel! Erstens besitzt die Institution – abgesehen vom Nachlass der Basler Architekten Rasser und Vadi und der Berliner Fehling und Gogel – keine Sammlung. Und zweitens stellt das Adjektiv „schweizerisch“ gelinde gesagt eine Übertreibung dar. Das S AM erhält weder finanzielle Unterstützung durch die Kantone noch durch den Bund. Die bescheidenen Mittel werden durch eine Stiftung bereitgestellt, die weitgehend durch große Basler Architekturbüros gespeist wird.
Dass das S AM aus der regionalen Nische heraus will, ist verständlich. Laut Programm möchte Ferguson nun ihr Augenmerk auf „zeitgenössische Architektur und urbane Gestaltung aus einem transdisziplinären Blickwinkel“ richten und sich nicht mehr wie ihre Vorgängerin auf einzelne Objekte und Preziosen fixieren. Für März ist die Ausstellung „Unaufgeräumt/As found“ angekündigt, eine Schau über „Urbane Reanimationen und die Architektur minimaler Interventionen“ – das klingt wie eine Neuauflage von „Talking Cities“. Und im Sommer soll dann die Schau Instant Urbanism „den Einfluss der situationistischen Avant-Garde auf Architektur und urbane Gestaltungspraxis“ thematisieren, bevor im Herbst ei-ne gemeinsam mit dem Museo Serralves in Porto konzipierte Werkschau des portugiesischen Architekten Pancho Guedes folgt.

Bis dahin findet – zeitlich zwischen Swissbau und Basler Fasnacht – in den Räumen des S AM die Reihe „Freezone“ statt, 25 Veranstaltungen, an denen Schweizer Hochschulen, Architekturforen und Büros beteiligt sind. Laut Programm soll es „eine eklektische Reihe von Diskussionen, Workshops, Screenings und Dialogen“ sein, konzipiert von „zahlreichen Partnern und Institutionen in der Schweiz“. Dabei herrscht ein neuer Stil: Jeder, der in der Schweiz in Architektur und Architekturvermittlung tätig ist, kann mitmachen – vorausgesetzt, er finanziert seine Veranstaltung selbst. Und wer nicht selbst zahlen will, kann eben auch nichts anbieten.

Bauwelt, Fr., 2007.02.02



verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2007|06 Londoner Ziegelbau

19. Januar 2007Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Monument für ephemere Medien

Hilversum gilt als die Radio- und Fernsehstadt der Niederlande. Hier nun konnte kürzlich ein nach den Entwürfen des Architekturbüros Neutelings Riedijk realisierter Bildspeicher für die audiovisuelle Kultur des Landes eröffnet werden.

Hilversum gilt als die Radio- und Fernsehstadt der Niederlande. Hier nun konnte kürzlich ein nach den Entwürfen des Architekturbüros Neutelings Riedijk realisierter Bildspeicher für die audiovisuelle Kultur des Landes eröffnet werden.

Als Radios noch mit Frequenzskalen und Ortsnamen versehen waren, galt Hilversum - wie seinerzeit auch Beromünster - im Ausland als ein Sehnsuchtsort. In der Tat verdankt die Stadt auf halbem Weg zwischen Utrecht und Amsterdam ihre Bekanntheit dem Rundfunk und den Medien. Dank der idyllischen Lage in Wald und Heide des Gooilands hatte Hilversum mitsamt den Nachbarorten Bussum, Laren, Naarden oder Blaricum schon um 1900 einen Aufschwung als Gartenvorstadt von Amsterdam erlebt - Villenquartiere mit ausgedehnten Grünanlagen zeugen auch heute noch von dieser Zeit der Prosperität. Doch zu einer eigentlichen Blüte gelangte die Stadt erst, nachdem das 1916 gegründete Radio Holland sich entschlossen hatte, Produktion und Sendebetrieb nicht in Amsterdam, sondern in Hilversum anzusiedeln.

Unter der Ägide des Architekten Willem Marinus Dudok erhielt die expandierende Stadt ein eigenes Gesicht. Im Stadterweiterungsgebiet jenseits der Bahnlinie nach Amsterdam und Utrecht entstand nach 1918 das ausgedehnte Produktionsgelände der Nederlandse Seintoestellen Fabriek NSF, die später von Philips übernommen wurde. Die Rundfunkanstalten selbst entsprangen gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Initiativen: die unabhängige Algemene Vereniging Radio Omroep (AVRO), das Arbeiterradio VARA, der christliche Rundfunk NCRV sowie die Radioanstalten der Protestanten (VPRO) und Katholiken (KRO). Die grossen Studiokomplexe aus den dreissiger Jahren liegen nördlich der Innenstadt verstreut im Siedlungsgebiet und zeugen mit ihrer eleganten und grosszügigen Architektur in hellem Klinker vom Anspruch, der sich mit dem neuen Medium verband.

Von der Radio-City zum Mediapark

Als die Rundfunkgesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg sich auch mit Fernsehproduktionen befassten und deshalb erhöhten Raumbedarf verzeichneten, kam es zu Erweiterungen der bestehenden Baulichkeiten. Zudem wurde die Radio-City als gemeinschaftlich nutzbares Produktionsgelände nördlich des Bahnhofs angelegt. Hier steht auch das Betriebsgebäude des Auslandradios Wereldomroep (Weltrundfunk), das van den Broek en Bakema 1961 als elegante Kreuzstruktur errichteten.

Neue private Produktionsgesellschaften haben sich inzwischen ebenfalls auf dem Areal niedergelassen, so jene von John de Mol, welche den Talk- und Quizboom der vergangenen Fernsehjahre mit prägenden Formaten gefördert hat. Mit der Neuordnung der Senderlandschaft in den neunziger Jahren sind auch die klassischen Sender in die nunmehr zum «Mediapark» erhobene Radio-City übersiedelt. Als Inkunabel der zeitgenössischen niederländischen Architektur gilt der neue Sitz von VPRO, das Erstlingswerk des erfolgreichen Architekturbüros MVRDV aus dem Jahr 1997. Höfe, Terrassen sowie wellenartig bewegte Böden und Decken bilden eine dem eher unkonventionellen Charakter des Senders entsprechende Arbeitslandschaft. Hinter dem VPRO-Gebäude wurden seither zwei weitere Neubauten realisiert: das als aufgeständerte Box in den Hang eingelassene Sendegebäude RVU, ebenfalls von MVRDV entworfen, sowie der nach Plänen von Koen van Velsen in den Wald integrierte Sitz des Rundfunkkommissariats.

Neues Wahrzeichen des Mediaparks aber ist das vor vier Wochen eröffnete Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid (Niederländisches Institut für Bild und Ton), ein bunt schimmerndes Volumen über quadratischem Grundriss. Es liegt exponiert an der stadtseitigen Zufahrt zum Mediapark, gegenüber der Multatulischool von Dudok. Den Wettbewerb des Jahres 1999 hatte das Büro Neutelings Riedijk gewonnen, das zu den wichtigsten Exponenten der niederländischen Architekturszene der Generation nach Rem Koolhaas zählt. Willem Jan Neutelings und Michiel Riedijk sind bekannt für eine in starkem Masse bildhafte Architektur mit kraftvollen Formen, einer komplexen inneren Organisation sowie grafischen Oberflächentexturen. Zu ihren wichtigen Werken zählen ein Wohnturm im östlichen Hafengebiet von Amsterdam (1998), in dessen kubisches Volumen 16 unterschiedliche Wohnungstypen eingeschachtelt sind, sowie fünf sphinxartig in das Wasser des Gooimeers vorstossende Wohnbauten in Huizen, einer Vorortgemeinde von Hilversum (2003). Ein neuer öffentlicher Bau ist das Schifffahrtskolleg in Rotterdam (2005); das turmartige «Museum aan de Stroom» in Antwerpen soll in den kommenden Jahren realisiert werden.

Die private Stiftung Beeld en Geluid wurde 1997 als Zusammenschluss verschiedener audiovisueller Archive und des Rundfunkmuseums gegründet. Das Institut mit seinen 200 Mitarbeitern sammelt und konserviert die nationalen Ton- und Bildbestände, wobei in der digitalen Ära gerade die Frage des Erhalts historischer Medien die grösste Herausforderung darstellt.

Canyon, Foyer, Blackbox

Das Raumprogramm, mit dem Neutelings Riedijk sich konfrontiert sahen, vereint drei Nutzungen: ausgedehnte Magazine, Büros für die Mitarbeiter und Publikumsbereiche. Zunächst dachten die Architekten an einen Turm, wie sie ihn auch in Antwerpen errichteten, doch liess die für das Areal geltende Baugesetzgebung nur eine Höhe von maximal 26 Metern zu. Daher entschied man sich, den Turm zur Hälfte versinken zu lassen und grosse Teile des Raumprogramms im Untergrund anzusiedeln. Betritt man das Gebäude durch den Haupteingang, so quert man zunächst auf einer Brücke eine Art Canyon. Atemberaubend ist der Blick hinunter in die Tiefe auf fünf terrassiert gestaffelte Geschosse für das Archiv. Die Idee der Abtreppung kehrt im grossen Foyer wieder, das sich quer durch das Gebäude erstreckt und dessen gesamte Höhe einnimmt: Der vertikalen Raumschicht mit den Büros im Westen steht die geschlossene, mit Metallelementen verkleidete Front der Ausstellungsbereiche gegenüber, die von Geschoss zu Geschoss weiter auskragt. Das zur Südfront mit dem Wasserbecken orientierte Selbstbedienungsrestaurant besteht ebenfalls aus einem abgetreppten Katarakt aus Sitzbereichen.

Über der Ebene mit zwei Film- und Vortragsräumen sowie einem grossen Saal für Wechselausstellungen erreicht man die «Media Experience», die als Blackbox in einem nachtblau gestrichenen Raum von 52 Metern Länge, 28 Metern Breite und 12 Metern Höhe eingerichtet ist und durch diverse Emporen und Einbauten gegliedert wird. Nach der Art eines Science-Museums finden sich hier 15 Themenpavillons, die Wissen vermitteln und zugleich unterhalten sollen. Die Besucher können hier den Betrieb eines Fernsehstudios erleben, sollen aber auch zu kritischer Reflexion animiert werden. Ob das funktioniert, bleibt fraglich: Manches wirkt allzu seicht, und die historischen Exponate gehen in der Masse von Hands- on-Displays unter, welche um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen.

Höchst eindrucksvoll indes sind die Fassaden des Baus. Der Videokünstler Jaap Drupsteen hat aus der niederländischen Fernsehgeschichte Hunderte von Bildern ausgewählt, diese durch digitale Modifikation horizontal verwischt und mit Farbpulver auf die Glasscheiben aufgedruckt. In einem durch Matrizen vorbereiteten Sandbett wurden die Scheiben anschliessend erneut gebrannt. Während die Fassade aus der Ferne wie ein unscharfes Testbild erscheint, lassen sich aus der Nähe einzelne Details erkennen. Eine Ausstellung im Museum Hilversum informiert über das Werk von Jaap Drupsteen und den aufwendigen Herstellungsprozess der Fassadenhaut. Ergänzend sind auch beleuchtete Modelle der wichtigsten Projekte von Neutelings Riedijk zu sehen.

[ Die Ausstellung «Over Beeld en Geluid» ist im Museum Hilversum bis zum 6. Mai zu sehen; kein Katalog. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.01.19



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europa1 Niederlande

05. Dezember 2006Hubertus Adam
db

Licht und Klarheit

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts blieb das Gebiet des Tisner Mittelgebirges eine abgelegene Region Südtirols. Obwohl nur jeweils etwa 15 Kilometer von Bozen und Meran entfernt, konnten die Gemeinden hier weder von der Verwaltungshauptstadt noch vom weltberühmten Kurort profitieren. So wurde auch Prissian erst entdeckt, als es die Massenmobilität erlaubte, in ent-legene Gegenden vorzudringen. Mit dem Salus-Center, das sich geschickt in die Struktur des Ortes und die umgebende Landschaft einpasst, gibt es nun – zumindest für Architekturinteressierte – einen weiteren Grund, diese Region aufzusuchen.

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts blieb das Gebiet des Tisner Mittelgebirges eine abgelegene Region Südtirols. Obwohl nur jeweils etwa 15 Kilometer von Bozen und Meran entfernt, konnten die Gemeinden hier weder von der Verwaltungshauptstadt noch vom weltberühmten Kurort profitieren. So wurde auch Prissian erst entdeckt, als es die Massenmobilität erlaubte, in ent-legene Gegenden vorzudringen. Mit dem Salus-Center, das sich geschickt in die Struktur des Ortes und die umgebende Landschaft einpasst, gibt es nun – zumindest für Architekturinteressierte – einen weiteren Grund, diese Region aufzusuchen.

Orte, die nahe an Meran liegen, gerieten bereits gegen 1900 in den wirtschaftlichen Sog des Modebades – so etwa Algund oder Lana, wo Theodor Fischer zwischen 1909 und 1911 ein Schulhaus mit Beetsaal errichtete. Tisens und Prissian liegen unweit von Lana, aber 300 Meter höher in einer Mulde, die durch einen bewaldeten Höhenzug vom traditionell verkehrsreichen Etschtal abgegrenzt ist. Ein Eisenbahnanschluss war unmöglich, und bis zur Einweihung der Straße auf den Gampenpass verbanden einzig Karrenwege die Orte mit dem Tal. Die Stunde für die touristische Entdeckung – und damit den Strukturwandel des Gebietes – schlug im Zusammenhang mit der zweiten touristischen Entdeckung Südtirols nach dem Zweiten Weltkrieg. Es waren vornehmlich Deutsche, die auf dem Weg mit dem Privatwagen in der Region von Etsch und Eisack Zwischenstation machten. Doch der Massentourismus zeigte sich janusköpfig, hier wie anderenorts. Gewiss war er in einer Zeit des sukzessiven Strukturwandels in der Landwirtschaft Quelle neuen Wohlstandes, mehr noch: eines flächendeckenden Wohlstandes überhaupt. Andererseits ging er einher mit einer willfährigen Ausrichtung auf die Südtirol-Klischees der Besucher: Pseudo-Tirolererstil umhüllte die Apartmentkomplexe.

Auch die Orte Prissian und Tisens wurden erst im Zuge der einsetzenden Massenmobilität entdeckt. Trotz der wuchernden Apartmenthäuser und mancher historisierenden Verkitschung haben die Ortsbilder ihren historischen Charakter bewahren können – was besonders ins Auge sticht, wenn man vom zersiedelten Lana aus hinauffährt. Heute ist es die Südtiroler Weinstraße, die hier entlangführt. Rebberge und Apfelplantagen säumen den Weg, der zunächst nach Tisens führt, in den Gemeindehauptort; dann folgt die Straße den sanften Kanten der voralpinen Berge in die benachbarte Fraktion Prissian, gelegen auf gut 600 Metern Höhe. Markant haben sich zwei alte befestigte Wohnsitze in das Weichbild des Ortsteils eingeschrieben: Das Geviert des Schlosses Katzenzungen, exponiert etwas außerhalb des Siedlungsgebiets gelegen, sowie die Fahlburg, die sich an die Dorfstruktur anschließt. Ihnen antwortet seit jüngstem die Rehabilitationsklinik Salus-Center am westlichen Dorfrand.
Christoph Mayr Fingerle, der sein Büro in Bozen betreibt, ist ein Architekt, der sich schon um die Südtiroler Architektur
verdient machte, als der Aufschwung der letzten Jahre noch nicht abzusehen war. Er leitete einen neu gegründeten Kunstverein, engagierte sich für den Sextener Wettbewerb »Neues Bauen in den Alpen« – und konnte nur vergleichsweise wenig bauen.

Auftrag per Zufall

Zu dem Auftrag für die Rehabilitationsklinik – behandelt werden hier orthopädische, kardiologische, onkologische, neurologische und pneumologische Leiden – kam er eher durch einen Zufall: Die Betreiber der neuen Einrichtung, die in ähnlicher Weise schon ein umgebautes Hotel in Prissian nutzen, waren mit dem Konzept eines von ihnen in Auftrag gegebenen Neubaus für eine Rehabilitationsklinik am westlichen Dorfrand unzufrieden und konsultierten daher den Bozener Architekten. Eines der grundlegenden Probleme bestand darin, dass gemäß dem vorliegenden Entwurf die Erschließung von Norden, von der Talmulde aus erfolgte – obwohl bei den historischen Bauten wie dem Schloss Katzenzungen eine genau umgekehrte Strategie verfolgt worden war. Man betritt das Schloss bergseitig, also von Süden, so dass sich Richtung Norden das Panorama Richtung Etschtal ungestört zeigt. Am Ende der Konsultation war das Bauprojekt an Christoph Mayr Fingerle übertragen worden, der sich nun allerdings an einen knappen Terminplan und an ein streng limitiertes Kostenbudget gebunden sah.

Die Aufgabe bestand darin, ein Gebäude für ein Rehabilitationszentrum mit 90 Betten und den nötigen medizinischen und therapeutischen Einrichtungen zu realisieren. Derlei Bauaufgaben werden heutzutage gerne spezialisierten Fachplanern anvertraut. Doch Mayr Fingerle ist es gelungen, bei aller geforderten binnenorganisatorischen Effizienz zwei Grundgedanken in Architektur umzusetzen: Eine klare, fast könnte man sagen simple Organisationsstruktur, die allen Patienten die Orientierung erlaubt sowie die Einbeziehung der umliegenden Landschaft. Aus gutem Grund, weiß man doch, dass das Wohlbefinden der Menschen sowie der Heilungsprozess wesentlich von psychosomatischen Faktoren bestimmt werden.

Grosses Volumen geschickt integriert

Der Architekt bündelte das geforderte Raumprogramm in einem kompakten orthogonalen, durchaus mächtigen Volumen, das sich am Rande des Dorfes auf einem schon für das Vorgängerprojekt fixierten Platz erhebt. Horizontal übereinandergeschichtet und durch Form und Materialisierung voneinander abgesetzt sind drei Raumbereiche: das geschlossene Sockelgeschoss, welches das abfallende Terrain ausgleicht, das zurückgesetzte, großflächig verglaste Erdgeschoss – und schließlich das auskragende zweigeschossige Volumen der Zimmergeschosse. Dieser Bettentrakt ist als Winkel entlang der Nord- und Westseite organisiert, so dass das Rehabilitationszentrum von der Ferne aus kompakt wirkt, während es sich zum Dorf hin öffnet.

Die klare und übersichtliche Organisation findet im Inneren, das sich um einen verglasten Hof gruppiert, ihre Fortsetzung. Das Erdgeschoss umfasst die öffentlichen Bereiche: die Rezeption, eine Bar an der Eingangsseite, das Restaurant an der Nordwestecke mit Blick Richtung Meraner Becken, außerdem Massageräume, Bereiche für die Ärzte und Behandlungszimmer. Im Sockelgeschoss sind Fitnessräume, Therapiebereiche und ein Hallenbad integriert, das erst relativ spät Eingang in das Bauprogramm fand. Die beiden Obergeschosse sind den Patienten vorbehalten: Die Ein- und Zweibettzimmer werden durch mittige Flure erschlossen, und jedem Zimmer ist ein Bereich der Terrasse zugewiesen, so dass man sich an die klassische Sanatoriumsarchitektur des alpinen Raumes erinnert fühlt. Den spekatulärsten Ausblick haben die nach Norden hin orientierten Zimmer; hinter der Talmulde und dem vorgelagerten Höhenrücken ist das Etschtal zu erahnen, und der Blick schweift von der Meran überragenden Texelgruppe bis hin zu den Bergen östlich und südlich von Bozen. Der Blick aus den nach Westen, Osten und Süden ausgerichteten Räumen ist nicht ganz so spektakulär, dafür besitzen diese Zimmer den Vorteil der direkten Sonneneinstrahlung. Trotz eines knappen Budgets etwa 10 Millionen Euro ist es dem Architekten gelungen, ein Maximum an Aufenthaltsflächen zu schaffen. Die Patienten sollen – nicht zuletzt aus therapeutischen Gründen – animiert werden, im Haus umherzugehen und das Haus zu umrunden; daher der wie ein Kreuzgang funktionierende, mit 150 Birken bepflanzte Innenhof und die weite talseitige Auskragung, die es erlaubt, auch bei schlechtem Wetter die Außenbereiche zu nutzen. Großzügigkeit und Helligkeit prägen die Innenbereiche, und man fühlt sich eher an ein Hotel oder Seminarzentrum erinnert als an ein Krankenhaus. Überall kann der Blick in die sich je nach Jahreszeit wandelnde Umgebung schweifen, auf die Obstwiesen und die fernen Gipfel; und wo das nicht möglich ist, orientieren sich die Räume zum Lichthof.

Zusammenspiel der Disziplinen

Zur Anmutung des Baus tragen in erheblichem Maße die Interventionen des Künstlers Manfred Alois Mayr bei, den Mayr Fingerle als künstlerischer Leiter der Arge Kunst in Bozen Mitte der achtziger Jahre kennen gelernt hat und der seither bei den meisten Projekten als Gesprächspartner und Künstler mitwirkt. Aus diesem kreativen Dialog zwischen Architektur und Kunst enstand für Südtirol eine Vorreiterfunktion, die in der Folge zu einer neuen Interpretation des Landesgesetzes und auch zu Aufträgen von anderen Architekten geführt hat. Mayr hat die in leichtem Albicocca-Farbton gestrichenen Zimmer mit jeweils zwei Vorhängen versehen, einem orangefarbenen und einem grünen. Je nach Wunsch können die Patienten den einen, den anderen oder beide nutzen und damit die Raumstimmung verändern. Mayr war außerdem für die Farbgebung des Foyer- und Empfangsbereichs verantwortlich. Die vergleichsweise niedrige Decke, die schon Mayr Fingerle mit runden Öffnungen durchbrochen hat, um den Raum transparenter, lichter und großzügiger erscheinen zu lassen, hat der Künstler in einem leichten Rosa gestrichen. Wenn die Sonne scheint, ist das kaum spürbar, aber in der Dämmerung, wenn sich das Kunstlicht dem Tageslicht beigesellt, entsteht eine Stimmung, welche die Raumgrenzen zu transzendieren scheint.

db, Di., 2006.12.05



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db 2006|12 Südtirol

02. Dezember 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Eine Kommandobrücke für die Kunst

Museumsarchitektur ist in den USA zum wichtigsten Betätigungsfeld innovativer Architekten geworden. Für das Institute of Contemporary Art realisierten Diller & Scofidio im Hafen von Boston ein neues Domizil. Bekannt geworden sind die Architekten durch ihre Expo-Wolke.

Museumsarchitektur ist in den USA zum wichtigsten Betätigungsfeld innovativer Architekten geworden. Für das Institute of Contemporary Art realisierten Diller & Scofidio im Hafen von Boston ein neues Domizil. Bekannt geworden sind die Architekten durch ihre Expo-Wolke.

Vor gut zwanzig Jahren fing Boston an, die historischen Hafenareale zu reaktivieren. Zur touristischen Attraktion wurde das Gebiet von Long Wharf, wo sich heute das New England Aquarium befindet. Ringsum zeugen Neubauten mit luxuriösen Condominiums vom Interesse an wassernahen Wohnlagen, die überdies durch die unmittelbare Nachbarschaft zum Financial District begünstigt sind. Auch die südlich anschliessende Gegend am Fort Point Channel unterliegt der Transformation: Inmitten des als Hafenbecken ausgebildeten Stichkanals entsteht das Museum der «Boston Tea Party» neu, in der Nähe hat unlängst das Children's Museum in einem alten Lagerhaus eröffnet, und weiter östlich liegt das neue Kongresszentrum von Rafael Viñoly. Unweit davon befindet sich das städtebauliche Entwicklungsgebiet des Fan Pier, wo sich seit neustem inmitten von Brachen und Parkplätzen, aber direkt am Quai der Neubau des Institute of Contemporary Art (ICA) erhebt. Dieser führt den internationalen Boom im Bereich der Kulturbauten fort und beweist einmal mehr, dass Museumsarchitektur in den USA zum wichtigsten Betätigungsfeld innovativer Architekten geworden ist.

Maschine der Wahrnehmung

Die 1936 als Boston Museum of Modern Art gegründete und 1948 in ICA umbenannte Institution war die erste in den USA, die das Adjektiv «contemporary» im Titel führte. Lange Jahre nutzte das ICA, das sich mit vielbeachteten Wechselausstellungen zeitgenössischer Kunst sein Renommee erwirkte, einen umgenutzten Altbau im Stadtviertel Back Bay, bis sich mit der Parzelle auf dem Fan Pier die Chance zu einem Neubau ergab. In einem Wettbewerb des Jahres 2001 konnte sich das New Yorker Architekturbüro von Elizabeth Diller und Richard Scofidio gegen die Konkurrenz von Office dA aus Boston, Studio Granda aus Reykjavik und Peter Zumthor durchsetzen. Diller & Scofidio, denen sich 2004 Charles Renfro beigesellte, wurden mit Projekten im Grenzbereich zwischen Kunst und Architektur bekannt, etwa dem als Expo-Wolke bekannten «Blur Building». Obwohl sie sich derzeit mit einer Reihe grosser Projekte wie dem Umbau des Lincoln Center oder der Umnutzung eines S-Bahn- Trassees in New York befassen, ist das ICA ihr erstes eigenständiges Gebäude in den USA.

Der «Harbor Walk», der künftig durch die ausgedehnten Hafenareale von Boston führen soll, bildete den Ausgangspunkt für die Idee des Gebäudes. Eine dem Baukörper seeseitig vorgelagerte, mit Holz beplankte Plattform verwandelt sich in eine grosszügige Freitreppe, die sich im Inneren in den Sitzstufen eines Auditoriums mit 325 Plätzen fortsetzt und schliesslich, in die Horizontale umgelenkt, die darüber befindlichen Ausstellungsbereiche trägt. Auf der Ausstellungsebene erreicht das Gebäude seine maximale Ausdehnung: Während es im Süden, Westen und Osten der Geometrie des dreigeschossigen Sockels folgt, kragt es nach Norden, also seeseitig, weit über den Vorplatz aus und definiert diesen als überdeckten Aussenraum; die Planken des Bodens finden ihren Widerhall in der Holzverkleidung der Untersicht der Auskragung.

Unverkennbar orientierten sich Diller & Scofidio bei der Grundkonzeption ihres Baus an der neusten niederländischen Architektur, und wie bei Rem Koolhaas oder Ben van Berkel entwickeln sich Boden, Wand und Decke als Kontinuum, das in den Seitenansichten ablesbar wird. Konstruktiv arbeiteten sie mit einer Tragstruktur aus Stahlbeton, über der das Stahlfachwerk der oberen Ausstellungsebene lagert. Fassadenelemente aus transparentem und transluzentem Glas umhüllen das gesamte Volumen, das sich zunächst ansteigend im Sockel konzentriert, um dann in einer grossen Geste Richtung Wasser vorzustossen. Es ist eine Maschine der Wahrnehmung: eine Kommandobrücke für die Kunst, die sehnsüchtig die Blicke aufs Meer lenkt und doch die nötigen Räume für die Konzentration bereithält. An diesem heterotopischen Ort mag man an Michel Foucault denken, der einst formulierte, das Schiff sei die Heterotopie schlechthin, und in Zivilisationen ohne Schiffe versiegten die Träume.

Blicke auf das Wasser

Foyer, Shop und Restaurant befinden sich im Erdgeschoss, in den beiden Ebenen darüber das Theater sowie die Verwaltung. Die abschliessende, zenital belichtete Ausstellungsebene gliedert sich in zwei parallele Raumstrukturen, welche durch einen zum Meer hin panoramisch verglasten Gang verbunden sind. Der westliche Bereich ist als gewaltiger stützenfreier Saal grossen Wechselausstellungen vorbehalten, während auf der Ostseite Teile der permanenten Sammlung zu sehen sind. Aus der Mittelzone heraus entwickelt sich das Medienzentrum, das wie ein Schwalbennest unter dem Boden hängt; durch ein Fenster hindurch blickt man auf das Wasser, sieht aber weder Boden noch Himmel oder Horizont.

Nach einer heute beginnenden Serie von privaten Openings empfängt das neue, von Jill Medvedow geleitete ICA vom 10. Dezember an das breite Publikum. «Super Vision» heisst - passend zum Gebäude - die Hauptschau, die 27 künstlerische Positionen zur Frage heutiger Wahrnehmung versammelt. Vertreten sind unter anderem Chantal Akerman, Tony Cragg, Harun Farocki, Anish Kapoor, Tony Oursler und James Turrell. Kleinere Ausstellungen gelten dem argentinischen Künstler Sergio Vega und den Finalisten des diesjährigen ICA-Preises. Schliesslich hat die Japanerin Chicho Aoshima die jährlich neu zu bespielende «Art Wall» im Erdgeschoss gestaltet.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.12.02



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Institute of Contemporary Art

03. November 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Zurück an die Schelde

Obwohl in Antwerpen Rechtsextremisten immer wieder für Schlagzeilen sorgen, ist die Stadt weiterhin weltoffen - auch auf dem Gebiet der Architektur. Davon zeugen die Pläne für die Bebauung der historischen Hafenareale - und der neue Justizpalast von Richard Rogers.

Obwohl in Antwerpen Rechtsextremisten immer wieder für Schlagzeilen sorgen, ist die Stadt weiterhin weltoffen - auch auf dem Gebiet der Architektur. Davon zeugen die Pläne für die Bebauung der historischen Hafenareale - und der neue Justizpalast von Richard Rogers.

Lange galt die Schelde als Lebensader Antwerpens. Dem Handel verdankte die 60 Kilometer vom Meer aus flussaufwärts gelegene Stadt ihren Wohlstand, und der Hafen ist nach Rotterdam der zweitgrösste Europas. Allerdings hat die Stadt den Bezug zum Wasser verloren, seit der Hafen sich flussabwärts in Richtung niederländische Grenze verlagert. Wie in den meisten Häfen der Welt wurden auch hier mit dem Siegeszug des Containerschiffs eine tiefgreifende Veränderung der Verladelogistik und eine Ausweisung neuer Hafenareale nötig - mit der Konsequenz, dass die stadtnahen historischen Quaianlagen nicht mehr benötigt werden.

Stadt am Strom

Während es Hamburg überaus erfolgreich gelungen ist, seinen Hafen als wichtigsten Identitätsfaktor zu positionieren, und auch Rotterdam mit der Bebauung auf Kop van Zuid am Südufer der Maas internationale Aufmerksamkeit erzielen konnte, erfolgt der Transformationsprozess am Ufer der Schelde eher zögerlich. Die meisten Besucher, die vom grandiosen Fin-de-Siècle-Kuppelbau der Centraal Station durch die Einkaufsstrasse Meir in die Altstadt mit ihrer Platzfolge aus Groenplaats, Koornmarkt und Grote Markt gehen, nehmen wohl den Fluss nicht einmal wahr. Ohnehin ist das jüngste Image Antwerpens das der Modemetropole. Vor 25 Jahren graduierten die legendären «Antwerp Six» - Walter van Beirendonck, Ann Demeulemeester, Marina Yee, Dirk van Saene, Dries van Noten und Dirk Bikkembergs - an der Modeabteilung der Kunstakademie und verhalfen der Stadt zu einem neuen Selbstverständnis: Die Ateliers der Modeschöpfer, die Ausstellungen des Modemuseums MoMu und Events wie der «Fashion Walk» ziehen ein junges, trendorientiertes Publikum in die Stadt der flämischen Renaissance.

«Stad aan de Stroom» heisst ein von Stadtverwaltung und Hafenbehörde gemeinsam erarbeitetes Leitbild für die Umnutzung der historischen Hafenareale. Waren die Schiffe zuvor direkt an den Scheldequais vor Anker gegangen, entstanden - nach der durch die französische Besatzung (ab 1792) angeordneten Schleifung der Befestigungsanlagen - von den Gezeiten unabhängige, durch Schleusen abgetrennte Hafenbecken unmittelbar nördlich des Zentrums. Westöstlich ausgerichtet sind Bonaparte- und Willemdok, nach Norden schliesst sich rechtwinklig dazu das Kattendijkdok mit seinem Gefieder aus Trockendocks an, von dem aus eine Reihe weiterer Becken zu erreichen ist. «Eilandje» heisst das Areal mit seinen insgesamt 172 Hektaren Fläche. Die Umnutzung begann Mitte der neunziger Jahre mit einer Studie des spanischen Architekten Mauel de Solà-Morales, die 1998 in einen Masterplan mündete. In einer ersten Phase konzentriert man sich auf die südliche Hälfte des Gebietes, die sich wiederum in drei unterschiedliche Teilbereiche gliedert. «Oude Dokken» ist der Bereich um Bonaparte- und Willemdok, der unmittelbar an das historische Zentrum angrenzt.

Die noch vorhandenen Lagerhäuser des 19. Jahrhunderts - zu den eindrucksvollsten zählt das Stapelhuis Sint-Felix aus dem Jahr 1863 - werden zu Lofts und Büros umgewandelt und durch Bebauungen ergänzt, welche die Blockstruktur ergänzen. Zum Wahrzeichen des Areals soll das auf der Halbinsel zwischen beiden Hafenbecken geplante Museum aan de Stroom (MAS) werden. In dem turmartigen Gebäude über quadratischem Grundriss finden die Sammlungen des Nationalen Schifffahrtsmuseums, des Volkskundemuseums und des Museums Vleeshuis ihr neues Domizil. «Stapelhuis» nennt das Architekturbüro Neutelings Riedijk sein im Jahr 2000 zur Ausführung bestimmtes Konzept für den Hanzesteden Plaats. Schichten, Stapeln und Verbinden sind zentrale Themen der Planer aus Rotterdam, und so besteht das markante Volumen aus übereinander placierten Boxen, die durch spiralförmig entlang der Aussenfassade sich in die Höhe schraubende Treppen erschlossen werden.

Das MAS besitzt künftig eine Reihe von Dépendancen. Dazu zählen ein Seezeichenpark im Stadtteil Linkeroever auf der anderen Seite der Schelde, der historische Hafen im Bonapartedok, vor allem aber das Red Star Line Memorial. Zwischen 1873 und 1935 brachten die Dampfer der Reederei Red Star Line drei Millionen Auswanderer in die USA und nach Kanada; Antwerpen avancierte neben Bremerhaven und Hamburg zum wichtigsten europäischen Auswandererhafen. Nicht zuletzt das zunehmende Interesse der Amerikaner an den Wurzeln in der Alten Welt hat die Emigrationsströme in den letzten Jahren zu einem wichtigen Forschungsgegenstand werden lassen. Davon zeugen das unlängst eröffnete Auswandererhaus in Bremerhaven - und demnächst auch die zu einem Museum umgewidmeten, eher unscheinbaren Ziegelhallen der Red Star Line in Antwerpen.

Das auf den Umgang mit historischen Bauten spezialisierte New Yorker Architekturbüro Beyer Blinder Belle, welches schon das Immigrationsmuseum auf Ellis Island konzipiert hat und auch für die Renovierung des Grand Central Terminal verantwortlich zeichnete, gewann im April 2006 den Wettbewerb für die Antwerpener Gedenkstätte. Die Lagerhäuser ringsum, welche inzwischen eine Reihe kultureller Institutionen beherbergen, prägen das Quartier Montevideo, das sich zwischen Schelde und Kattendijkdok erstreckt. Die Hangars am Scheldeufer mit einer Phalanx alter Kräne haben inzwischen neue Nutzungen gefunden, während die Realisierung von sechs das Westufer des Kattendijkdoks flankierenden Hochhäusern noch auf sich warten lässt. Weit vorangeschritten ist die Planung der beiden Bauten von Diener & Diener, es folgen die Turmpaare von David Chipperfield sowie von Gigon Guyer. Mit Blockrandbebauungen vorrangig dem Wohnen vorbehalten bleibt das Quartier Cadix auf der anderen Seite des Hafenbeckens.

Segel über der Stadt

Antwerpens Stadtentwicklung konzentriert sich neben dem Eilandje auf fünf weitere Gebiete, so die Umgebung der Centraal Station, wo Michael Graves schon 1997 am Koningin-Astrid-Plein ein Hotel realisierte, oder das aufgelassene Gleisareal im Nordwesten der Stadt («Spoor Noord»). Von besonderer Bedeutung ist der «Zuidrand», die südliche Stadtkante zwischen Scheldeufer, Innenstadt und Autobahn. Als markantes Bauwerk und städtebauliches Scharnier ist hier in der Achse der Amerikalei der im vergangenen Frühjahr eingeweihte Justizpalast entstanden, in dem die über verschiedene Standort verteilten Justizbehörden vereint wurden. 1998 hatte der inzwischen zum Spezialisten für Justizgebäude gewordene Richard Rogers den internationalen Wettbewerb für sich entscheiden können.

Die radial auf den Bolivarplaats zustrebenden Strassen haben mit Rogers' Bau ein Gegenüber, ja einen Point de vue gefunden. Dabei bleibt der Londoner Architekt seiner Skepsis gegenüber Pathosformeln treu, auch wenn er mit der Tradition des Repräsentativen spielt. Der Gerichtskomplex mit seinen sechs Trakten ist spiegelsymmetrisch angelegt und wird von einer zentralen Halle aus erschlossen, zu der auch eine Freitreppe hinaufführt. Doch die Treppe, gestützt von schwefelgelben Stahlträgern, besteht aus Holzplanken und führt in eine lichtdurchflutete Foyerhalle. Von hier aus erreicht man die 6 grossen und 26 kleinen Gerichtssäle, welche die oberste Ebene der jeweils drei Trakte zur Rechten und zur Linken einnehmen und die gesamte Justizverwaltung mit den drei Geschossen darunter gleichsam in den Sockel zwingen. Dachelemente aus hyperbolischen Paraboloiden überdecken die Säle. Sie bestehen aus einer Holzfachwerkkonstruktion und sind aussen mit Stahlblech überzogen. In die Höhe gezogen und auf der sonnenabgewandten Seite verglast, dienen sie zugleich der Belichtung. Die sich aufgipfelnde Dachlandschaft mag an Haifischflossen erinnern. Richard Rogers war indes laut eigenem Bekunden von den Segelschiffen auf den Seestücken des niederländischen Barock inspiriert. So kann man auch den neuen Gerichtshof als eine Hommage an die neu zu entdeckende maritime Tradition der Scheldestadt verstehen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.11.03

31. Oktober 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Helvetischer Höhenrausch

Während Jahrzehnten waren Hochhäuser in der Schweiz kein Thema mehr. Nun aber sollen sich wieder Türme in die Skylines unserer Städte einschreiben. Jüngste Beispiele für diese Entwicklung sind die Projekte skulpturaler Hochhäuser in Zürich, Basel, Locarno oder Davos.

Während Jahrzehnten waren Hochhäuser in der Schweiz kein Thema mehr. Nun aber sollen sich wieder Türme in die Skylines unserer Städte einschreiben. Jüngste Beispiele für diese Entwicklung sind die Projekte skulpturaler Hochhäuser in Zürich, Basel, Locarno oder Davos.

Der vor gut drei Jahren eingeweihte Messeturm in Basel, der vom ortsansässigen Büro Morger & Degelo zusammen mit Daniele Marques aus Luzern entworfen wurde, gilt mit seinen 105 Metern als das höchste Haus der Schweiz. Der Höhe zum Trotz übten sich die Architekten in Zurückhaltung: Schon der enge Kostenrahmen erlaubte keine formalen Eskapaden. Klare, kubische Geometrien bestimmen den Bau, der ein unübersehbares Wahrzeichen darstellt und sich doch in die städtebauliche Struktur Kleinbasels einfügt. Aber lange wird der Turm seine Spitzenposition unter den Schweizer Hochhäusern kaum behaupten können: Auf dem Maag-Areal an der Zürcher Hardbrücke planen Gigon/Guyer den 126 Meter hohen «Prime-Tower», und das wohl aussergewöhnlichste Projekt stellt der schlicht «Bau 1» genannte Turm von Herzog & de Meuron dar, der sich im Jahr 2011 auf dem Basler Roche-Areal 160 Meter in den Himmel recken soll.

Renaissance des vertikalen Bauens

Mit einiger Verspätung erlebt die Schweiz derzeit das, was in anderen Ländern längst Tatsache ist: die Renaissance der Hochhäuser. Wolkenkratzer und helvetisches Selbstbewusstsein schienen sich lange kaum zu vertragen: Das lange Zeit eher rural geprägte Selbstverständnis des Landes widersprach dem Drang in die Vertikale. Das änderte sich vorübergehend in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. In Zürich läuteten 1952 die skandinavische Vorbilder adaptierenden Wohnhochhäuser von Heinrich Albert Steiner eine neue Ära ein; sie fand ihre Fortsetzung im Stakkato der Bürotürme am Schanzengraben und kulminierte schliesslich in der Bebauung des Locherguts und in den von Max P. Kollbrunner 1978 realisierten Hardau-Türmen. Mit den bis zu zwanziggeschossigen Wohnkomplexen Tscharnergut, Fellergut und Gäbelbach entstand im Westen Berns seit 1958 die wichtigste Satellitenstadt der Schweiz; dass sich auch kleinere Städte dem Höhenrausch nicht versagten, wird offenbar, wenn man offenen Auges eine Fahrt durch das Mittelland unternimmt.

Gegen Ende der siebziger Jahre hatten die Türme hierzulande eine - im Vergleich mit anderen Ländern - eher moderate Höhe von 70 bis 90 Metern erreicht; danach war erst einmal Schluss. Die Grenzen des Wachstums dämmerten am Horizont auf, bauliches Korrelat war die Stadtreparatur. «Die Stadt ist gebaut», lautete die Devise - keine günstige Zeit also für himmelstürmende Visionen. Zwei Jahrzehnte später hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Die einst inkriminierten Betongebirge der sechziger und siebziger Jahre werden von einer jüngeren Planer- und Architektengeneration zumindest ästhetisch durchaus wieder goutiert; und das Hochhaus als Wohnform könnte Zukunft haben. Man erkennt, dass die Projekte vergangener Dezennien nicht an den Bauten selbst, sondern an einer falschen Mieterpolitik sowie an mangelnder Zielgruppenkompatibilität gescheitert sind.

Cockpit über der Stadtlandschaft

Heutige Wohnhochhaus-Konzepte zielen denn auch nicht auf kinderreiche Familien des unteren Mittelstands, sondern auf einen Lebensstil, der zu einem Cockpit über der Stadtlandschaft passt. Singles, Dinks (double income, no kids) und Angehörige von «Kreativbranchen» gehören zur avisierten Zielgruppe der neuen «Urbaniten». Das im Auftrag der Stadt Zürich von Theo Hotz geplante kleeblattförmige Hochhaus am Escher- Wyss-Platz, dessen Ausführung nun durch Rekurse verhindert werden soll, zählt mit seinen 90 Metern zu den neuen Projekten für das Wohnen in der Höhe. Noch aussergewöhnlicher ist das Neubauprojekt von Herzog & de Meuron für ein zylindrisches Turmhaus hoch über Davos, das neben Hotelräumen vor allem Apartments aufnimmt, die zur Querfinanzierung des altehrwürdigen Schatzalp-Hotels beitragen sollen.

Hochhäuser mit Mietwohnungen, für die es in den städtischen Agglomerationen durchaus Bedarf gäbe, könnten den überhitzten Wohnungsmarkt entlasten - wenn es ein Ausnützungsbonus erlaubte, mehr Bruttogeschossfläche als mit einer niedrigen Bebauung zu realisieren. Die baurechtlichen Regelungen sehen diesen Fall indes nicht vor. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass die Kommunen die Potenziale (und Risiken) des Hochhausbaus noch kaum erkannt haben und den Begehrlichkeiten von Investoren hinterherhinken. Immerhin wurde aber 2001 in Zürich ein Planwerk erlassen, das Areale definiert, innerhalb deren Hochhäuser errichtet werden können. Gleichzeitig fixiert es jene Gebiete, in denen vertikale Dominanten aus Sicht der Planer unerwünscht sind. Erwünscht sind sie dagegen in der Neustadt von Locarno, wo an der Megarotonda ein Palacinema genannter Turm für das Filmfestival mit Kino- und Hotelnutzung entstehen soll.

Unverwechselbarkeit

Bei den meisten der derzeit diskutierten Projekte handelt es sich um Bürohäuser. In Zeiten, da verstärkt von Branding, Identität und Marketing die Rede ist, schaffen Hochhäuser eine unverwechselbare Adresse. Diese mag für die von einer gewissen Gebäudehöhe an unvermeidlich wachsenden Baukosten entschädigen. Während in Städten wie London, Paris oder Frankfurt - ganz zu schweigen von amerikanischen oder asiatischen Metropolen - Hochhäuser nicht einzeln in Erscheinung treten, sondern sich zu Clustern ballen, werden sie in der Schweiz vorerst wohl Solitäre bleiben. Doch die Tendenz zu ungewöhnlichen Formen, die es erlaubt, in einem Rudel den Leitbau zu erkennen (wie Norman Fosters «Gurke» in London), bricht sich auch hierzulande Bahn: Das Potenzgerangel wird nicht mehr anhand des Metermasses ausagiert. Vielmehr gewinnt Zeichenhaftigkeit an Bedeutung.

So besitzt der in Zürich geplante «Prime- Tower» dank seiner Geometrie unterschiedliche Ansichten. Bei dem von Herzog & de Meuron für das Roche-Areal in Basel konzipierten Turm werden kompakte Cluster von jeweils fünf Bürogeschossen Einheiten bilden, die um den Erschliessungskern rotieren und mit anderen Nutzungen - Gastronomie, Lobby, Foyer, Archiv und Auditorium - zu einem Volumen verschmelzen. Als Grundelement für die Geschosse wurde der Kreis gewählt. Seine besondere Gestalt erhält der Turm, in welchem dereinst 2400 Menschen arbeiten sollen, durch zwei gratartig an der Fassade sich abzeichnende Erschliessungssysteme aus Rampen und Treppen. Es handelt sich dabei um eine Walkway genannte flache Spirale mit mehreren Umdrehungen und eine als Broadway bezeichnete steile, gegenläufige Spirale mit nur einer Windung. Der Roche-Turm wird sich als Insigne des Konzerns unübersehbar ins Stadtbild einschreiben - sofern die Öffentlichkeit den Wunsch des Pharmakonzerns nach einem dominanten Markenzeichen akzeptiert.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2006.10.31

07. Oktober 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Patchwork-Urbanismus

Die Metropolen der Welt wachsen, aber es sind auch Schrumpfungsprozesse zu beobachten. Die Zeit allumfassender Visionen und homogener Szenarien ist vorbei. Zu dieser Feststellung gelangt auch die Architekturbiennale, die derzeit in Venedig über die Bühne geht.

Die Metropolen der Welt wachsen, aber es sind auch Schrumpfungsprozesse zu beobachten. Die Zeit allumfassender Visionen und homogener Szenarien ist vorbei. Zu dieser Feststellung gelangt auch die Architekturbiennale, die derzeit in Venedig über die Bühne geht.

Die globale Verstädterung ist das Thema der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig. Rapide wachsende Boomstädte, ob im Fernen Osten oder auf der Südhalbkugel, stellen Urbanisten vor neue Herausforderungen. Die eigentlichen Probleme sind dabei nicht primär urbanistischer oder gar architektonischer Natur, sondern berühren den sozialen Sektor. Richard Burdett als Kurator der Biennale lässt seine Ausstellung daher in Postulate münden; er fordert Architektur, die sich dem Ausschliessen von Bevölkerungsteilen verweigert, ein leistungsfähiges öffentliches Verkehrssystem, nachhaltigen Städtebau, öffentliche Räume für alle - und schliesslich eine verantwortungsvolle Regierung. So begrüssenswert die Postulate auch sind, so wenig konkret bleiben sie, wenn man derart unterschiedliche Städte wie Los Angeles, São Paulo, Berlin oder Schanghai miteinander vergleichen will.

Scrumpfung als Chance?

Natürlich ist die Entwicklung von Städten durch eine spezifische Gemengelage unterschiedlicher Faktoren bestimmt. Ohne Zweifel aber lässt sich London leichter mit Paris oder mit Mailand vergleichen als mit Peking oder Lagos. Der entscheidende Unterschied besteht in der demographischen Entwicklung: Während die Metropolen der hochentwickelten Industriestaaten nur ein geringes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen haben, mitunter auch stagnieren oder gar schrumpfen, erleben die wahren Boomtowns eine Bevölkerungsexplosion. Das rapide Wachstum von Städten wie Mumbai - im Jahr 2050 mit 40 Millionen Einwohnern vermutlich der grösste Agglomerationsraum der Welt - erinnert an Entwicklungen, wie sie die europäischen Metropolen im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlebt haben. Die Londoner Slums, die etwa Charles Dickens beschrieb, haben ihre Nachfahren in den Favelas von Caracas und Mexiko-Stadt gefunden.

Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien haben in der Menschheitsgeschichte immer wieder zur Entvölkerung von Städten und Landstrichen geführt; eines der jüngsten Beispiele hierfür (und überdies für ein Versagen des Katastrophenmanagements auf politischer Ebene) ist die Zerstörung von New Orleans im Sommer 2005 durch den Wirbelsturm «Katrina». Doch hat das Thema des Schrumpfens in den vergangenen Jahren insbesondere vor dem Hintergrund eines ökonomischen Strukturwandels öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Aus dem mehrjährigen Forschungsprojekt «Shrinking Cities», finanziert von der deutschen Kulturstiftung des Bundes, sind zwei von voluminösen Begleitpublikationen flankierte Ausstellungen und unlängst ein informativer «Atlas der schrumpfenden Städte» hervorgegangen. Dass das Projekt von Deutschland ausging, ist kein Wunder: Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung des Landes leiden die ostdeutschen Städte massiv unter Abwanderung. Letztlich verbirgt sich dahinter ein postindustrieller Strukturwandel, wie ihn auch das Ruhrgebiet erlebt und bis heute nicht völlig verwunden hat - mit dem Unterschied, dass durch die Abschottung der DDR eine letztlich nicht wettbewerbsfähige Ökonomie über eine viel längere Zeit künstlich am Leben erhalten wurde als die ebenfalls subventionierte Montanindustrie in Westdeutschland.

Nach der Lektüre der «Shrinking Cities»- Bücher, aber auch nach Gesprächen mit den Protagonisten des Projekts bleibt eine gewisse Ratlosigkeit. Umfangreiche Analysen der heutigen Situation - die Autoren beschränken sich nicht auf Deutschland, sondern thematisieren schrumpfende Regionen weltweit - können nicht darüber hinwegtäuschen, dass eigentlich niemand tragfähige und überzeugende Ideen für schrumpfende Städte und Regionen hat. Immerhin gibt es Ansätze. «Raumpioniere» heisst eine weitere, von dem Berliner Landschaftsarchitekten Klaus Overmeyer erstellte Studie, die demnächst als Buch erscheint. Dokumentiert werden all jene Zwischennutzungen, mit denen urbane Restflächen in Berlin in Beschlag genommen werden. Dabei kann es sich um improvisierte Strandbars am Spreeufer, Golfanlagen in der Innenstadt, Ponyfarmen auf der Stadtbrache oder informelle Partykultur handeln. Undeterminierte Räume besitzen ein grosses Potenzial, und auch wenn manche Zwischennutzungen noch der Aussteigerideologie der siebziger Jahre verhaftet sind, so geschieht inzwischen vieles, was als Ankerpunkt neuer Mikroökonomien taugt.

Nicht wenigen informellen Zwischennutzungsprojekten eignet eine Tendenz zur Institutionalisierung, und so stossen sie verstärkt auf das Interesse lokaler Behörden oder Investoren. Allerdings siedeln sich «Raumpioniere» nur dort an, wo sich ohnehin ein urbanes, zumeist junges Publikum befindet. In Berlin sind trendige innerstädtische Quartiere wie die Stadtteile Mitte, Kreuzberg oder Friedrichshain beliebt, während der Aussenbezirk Marzahn-Hellersdorf wenig Attraktivität besitzt. Ähnlich verhält es sich mit den Städten untereinander: Berlin und im geringeren Masse auch Leipzig sind die Städte Ostdeutschlands, in denen informelle Stadtnutzungen erprobt werden, während in anderen Gebieten schlicht die für das Funktionieren derartiger Strukturen nötige kritische Masse fehlt.

Zukunft der europäiscen Stadt

Schrumpfen bedeutet, ökonomisch betrachtet, das Nachlassen des Verwertungsdrucks auf Immobilien. Ausschlaggebend dafür ist ein Überangebot an Grundfläche oder an Liegenschaften. Das führt mitunter zu der Annahme, das Schrumpfen der Städte erlaube es, urbanistische Verfehlungen vergangener Jahrzehnte zu korrigieren. Insbesondere, so liesse sich vorschnell vermuten, könnte man der funktionalen Segregation der Städte entgegenwirken, die inzwischen zumeist dem Kommerz und allenfalls Freizeitnutzungen vorbehaltenen Innenstädte zu reanimieren und zugleich den Suburbanisierungstendenzen entgegenzusteuern, durch die viele europäische und nordamerikanische Städte seit der automobilen Ära der fünfziger Jahre Bevölkerungs- und natürlich auch Steuerverluste erlitten haben. Ob derlei Strategie aufgeht, ist mehr als fraglich: Denn wo Grundstücke brach fallen, fehlt es an Attraktivität und damit auch am Wunsch, in die Stadt zurückzukehren.

Wo Städte Anziehungskraft besitzen, sinkt der Verwertungsdruck kaum. Immerhin werden mancherorts in Deutschland Szenarien erprobt, die mit den bisherigen Stadtvorstellungen kaum als kompatibel galten. In Leipzig läuft ein erfolgreiches Programm, unbebaute Brachflächen in Gründerzeitquartieren zu parzellieren und als Kleingärten an die Wohnbevölkerung der Nachbarschaft zu verpachten; in Hannover ist auf dem innerstädtischen Gelände einer früheren Brauerei ein Reihenhausquartier entstanden, wie man es sonst nur am Stadtrand findet. Derartige Beispiele belegen, dass eine Zukunft der europäischen Stadt vielleicht jenseits eingefahrener Wege zu finden ist. Zumindest scheinen die antithetischen Droh- und Hoffnungsszenarien der neunziger Jahre ausgedient zu haben: Weder ist es gelungen, urbane Agglomerationen im Sinne einer kompakten «europäischen Stadt» zu verdichten, noch blieb der Trend zur Suburbanisierung unbestritten. Die Zukunft gehört wohl eher einem Patchwork-Urbanismus, bei dem Stadtquartiere unterschiedlicher Dichte und heterogenen ökonomischen Potenzials koexistieren. Schrumpfen und wachsen schliessen einander nicht aus.

Kultur als urbaner Generator

Tatsächlich gibt es parallel zu Schrumpfungsprozessen bestimmte Tendenzen, die auf ein Wiederaufleben von Metropolen deuten. Ein Indikator dafür ist der «Bilbao-Effekt». Seit der Eröffnung des von Frank O. Gehry entworfenen Guggenheim-Museums zählt die zuvor international kaum positionierte baskische Industriestadt zum absoluten Must auf der Agenda globaler Kulturtouristen. Der Boom der Stadt hat sich keineswegs als Strohfeuer erwiesen, der Strom der Besucher dauert an, wenn auch mit verminderter Intensität. Selbstverständlich bedurfte es einer Reihe weiterer flankierender Massnahmen und nicht des Museums allein - Tatsache aber ist, dass die Umwegrentabilität durch Investitionen in den Kultursektor durchaus ein funktionierendes Modell für die Belebung von Städten sein kann.

Bestes Beispiel hierfür ist London, das sich als wichtigste Finanzdrehscheibe Europas etabliert hat. Mit der Umwidmung der früheren Bankside Power Station zur Tate Modern ist auch die Regeneration des der City gegenüberliegenden südlichen Themseufers gelungen. Tatsächlich hat hinsichtlich Besuchergunst die Tate Modern längst allen anderen Museen für zeitgenössische Kunst weltweit den Rang abgelaufen: 4,1 Millionen Kunstliebhaber und Zaungäste besuchten im Vorjahr den von Herzog & de Meuron umgebauten Ziegelsteinkoloss des Architekten Giles Gilbert Scott, lediglich 2,67 Millionen das MoMA in New York und 2,5 Millionen das Centre Pompidou. Damit ist die Rechnung, welche die Berater von McKinsey 1994 der Stadt und dem Borough of Southwark gemacht haben, längst aufgegangen: Die Tate Modern, so liess man seinerzeit verlauten, werde 2400 neue Arbeitsplätze nach sich ziehen und der Stadt jährliche Mehreinnahmen von bis zu 90 Millionen Pfund verschaffen, wovon ein Drittel Southwark zugute käme. Zumindest in seinen themsenahen Bereichen ist Southwark inzwischen ein Boombezirk sondergleichen.

Inzwischen setzen viele Städte auf Kultur als urbanen Generator - nicht zuletzt in den USA. Minneapolis versucht mit dem Walker Art Center von Herzog & de Meuron, dem Guthrie Theater von Jean Nouvel und weiteren Kulturbauten sein Zentrum zu reaktivieren; in Boston soll das kurz vor der Eröffnung stehende Institute of Contemporary Art der New Yorker Architekten Diller & Scofidio zur Wiederbelebung der stadtnahen Hafenbrachen beitragen. Aber auch kleinere Städte haben das Potenzial der Label-Architektur erkannt - etwa Des Moines im Westen von Iowa. Hier wurde unlängst eine Bibliothek von David Chipperfield eröffnet, welche dem von Grossparkplätzen, aseptischen Bürohäusern und einigen verbliebenen historischen Bauten bestimmten Stadtkern neues Leben einhauchen soll.

Wohnen in den Städten

Städte wie Boston, dessen Downtown von einem schier endlosen Gürtel aus Brachflächen umgeben ist, zeigen die verheerenden Auswirkungen jahrzehntelanger Tendenzen zur Suburbanisierung. Wer immer es sich leisten kann, wohnt in einer der reichen Vorortgemeinden. Wenn auch in schwächerem Ausmass, lassen sich vergleichbare Prozesse auch in Europa diagnostizieren. Inwieweit es gelingen kann, die abgewanderte Bevölkerung zurückzugewinnen, darüber wird derzeit noch gestritten. «10 000 Wohnungen in zehn Jahren» heisst beispielsweise das Wohnungsbauprogramm der Stadt Zürich. Ziel ist primär die Schaffung grosszügiger Wohnungen, um die Abwanderung einer urbanen Klientel zu verhindern. Tatsache ist allerdings, dass der Erfolg der Massnahme durch die sukzessive gestiegene Pro-Kopf- Wohnfläche relativiert wird.

Genossenschaften erleben mit unkonventionellen Wohnkonzepten in der Schweiz eine Renaissance, in Deutschland etablierten sich sogenannte Baugruppen oder Baugemeinschaften: Mehrere Interessenten tun sich zusammen, suchen sich einen Architekten und realisieren gemeinsam ein Bauvorhaben. Baugruppen entstehen aus Pragmatismus; zu Visionen kollektiven Wohnens, wie sie die siebziger Jahre prägten, wahren sie Distanz. Und noch etwas ist ermutigend: In vielen europäischen Städten entstehen neue, zumeist hochwertige Wohnquartiere in zentraler Lage, beispielsweise die «Hafen City» in Hamburg. Bedenklich ist dabei der Trend, dass manche Städte allein die Bereiche entwickeln, die sich imagekompatibel vermarkten lassen, während an Interventionen in Problemstadtteilen nur wenig Interesse besteht. Dieser Inselurbanismus befördert Tendenzen zur Segregation, die überall auf der Welt stärker sind als in Europa.

Das eigentliche Erfolgsmodell des Wohnens stellt derzeit die Gated Community dar. In Städten mit hoher Kriminalitätsrate, etwa São Paulo, mögen auf Abschottung beruhende Wohnkonzepte plausibel sein. Der Erfolg von Gated Communities beruht aber nicht auf realer, sondern auf gefühlter Bedrohung - und überdies auf Lifestylekompatibilität. Beinahe sämtliche Wohnungen für den neuen chinesischen Mittelstand werden in Form von zugangskontrollierten Apartmentkomplexen errichtet, deren Zweck es ist, Sozialprestige zu vermitteln. Das gleiche Bild auch in Moskau oder Mumbai: Stadtteile als Konglomerate unverbundener Wohneinheiten. Auch das ist eine Form von Patchwork-Urbanismus.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.10.07

19. September 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kirchen und Hallen

Seit sechzig Jahren prägt der 1920 geborene und in Köln ansässige Architekt Gottfried Böhm das deutsche Baugeschehen. Nun zeigt das DAM in Frankfurt eine Retrospektive seines Schaffens.

Seit sechzig Jahren prägt der 1920 geborene und in Köln ansässige Architekt Gottfried Böhm das deutsche Baugeschehen. Nun zeigt das DAM in Frankfurt eine Retrospektive seines Schaffens.

Im Kontext der deutschen Architekturszene ist Gottfried Böhm in mancherlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Er ist der einzige Architekt des Landes, der (im Jahr 1986) den hochangesehenen Pritzker-Preis erhalten hat. Dennoch beschränkt sich sein umfangreiches Œuvre nahezu ausnahmslos auf Deutschland. Weiter ist Böhm Mitglied einer Architektendynastie: Sein Vater Dominikus gilt als Hauptvertreter des expressionistischen Sakralbaus in der Zeit der Weimarer Republik, und architektonisch tätig sind auch seine Frau Elisabeth sowie die drei Söhne Stephan, Peter und Paul.

Boomjahre des Sakralbaus

Gemeinsam mit dem Nachlass von Dominikus Böhm, dem im vergangenen Jahr eine Schau gewidmet wurde, hat das Deutsche Architektur- Museum auch das Büroarchiv von Gottfried Böhm mit seinen insgesamt 27 000 Objekten erwerben können. Ein kleineres Konvolut, das vor allem die Zeit bis 1970 umfasst, war schon zuvor an das Historische Archiv der Stadt Köln gelangt. Auch wenn somit die Dokumentation der früheren Jahre Lücken aufweist, fallen diese in der jetzigen Retrospektive kaum ins Gewicht. Wolfgang Voigt, der stellvertretende Direktor des DAM und seit Jahren für die historischen Ausstellungen verantwortlich, führt die Besucher in 30 Stationen durch die Schau, die unter dem Titel «Felsen aus Beton und Glas» mehr als sechzig Schaffensjahre widerspiegelt. Gottfried Böhms erster Bau war die Kapelle «Madonna in den Trümmern» in den Ruinen der kriegszerstörten Kirche St. Kolumba in Kölns Innenstadt. Der filigrane achteckige Bau (1947-50) mit dem leichten Betongewölbe über einer Unterkonstruktion aus Eisengewebe ist eine Inkunabel des deutschen Wiederaufbaus und wird derzeit von Peter Zumthor in das neue Kölner Diözesanmuseum integriert.

Die fünfziger Jahre - 1955 übernahm Böhm das Architekturbüro des verstorbenen Vaters - werden in Frankfurt zu Recht als Zeit des Experimentierens dargestellt. Wesentliche Impulse vermittelte 1951 eine halbjährige Studienreise in die USA, während deren Böhm mit Walter Gropius und Mies van der Rohe zusammentraf. Das eigene Wohnhaus, kurz darauf in Köln entstanden, zeigt die Faszination eines modernen Rationalismus. Doch Böhms eigentliche Domäne waren die Kirchen. 39 Sakralbauten konnte der Architekt allein bis 1959 realisieren. Die erdenschwere Monumentalität, welche die Kirchen seines Vaters bestimmte, wich konstruktiver Leichtigkeit. In ständig neuen Varianten widmete sich Gottfried Böhm den Dach- und Tragwerk-Konstruktionen: Schalen und Faltwerke, Hängedächer, Membrandecken und Zeltstrukturen wechseln ab; die Volumina gewinnen an materieller Kraft, nähern sich dann dem Brutalismus.

In den Bauten der sechziger Jahre kulminiert die Recherche des Architekten in der grandiosen Wallfahrtskirche Neviges (1966-68) im Bergischen Land. Über einem polygonalen Grundriss, der von einem Kranz von Kapellen umgeben ist, erhebt sich ein schroff aufgipfelndes Zeltgebirge aus sandgestrahltem Sichtbeton. Die kristallinen Visionen des Expressionismus, welche in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen des technisch Machbaren sprengten, fanden ihren Widerhall - wenn auch im Schoss der katholischen Kirche. Doch auch im profanen Bereich widmete sich Böhm der Vision einer Stadtkrone, am überzeugendsten beim Rathaus von Bensberg (1962-67). In das von einer Ringmauer vorgegebene Oval einer Burgruine integrierte er die neue Baumasse, die von einem skulptural sich aufgipfelnden Treppenturm als Pendant zu den historischen Türmen überragt wird.

Struktur und Glashaus

Die kristallin-neoexpressionistischen Arbeiten der sechziger Jahre mag man als den eigentlichen Höhepunkt ansehen. Doch die Schalungsarbeiten für den Beton erwiesen sich als so aufwendig, dass Böhm neue Konstruktionsweisen erproben musste. Er fand sie in präfabrizierbaren Strukturen, etwa für die als Zeltstadt aus Metall verwirklichte Wallfahrtskirche Wigratzbad (1972-76).

Seit dem Umbau der Godesburg hatte sich Böhm mit profanen Bauaufgaben auseinandergesetzt; sie rückten ins Zentrum seiner Aktivitäten, als die kirchlichen Aufträge um 1970 zu versiegen begannen. Einige Entwürfe folgen dem architektonischen Strukturalismus der Zeit - etwa ein Konzept für die Neuorganisation des Bonner Regierungsviertels oder Wettbewerbsentwürfe für die neu gegründeten Universitäten in Bielefeld und Dortmund. Mit grossen Erschliessungshallen verfolgte Gottfried Böhm ein Konzept, das sich fortan durch sein Werk ziehen sollte und das Voigt als «eingehausten Stadtraum» tituliert. Böhm war einer der Ersten, die den verglasten Innenraum, wie man ihn in den USA schon kannte, nach Deutschland importierten; mal bekam er die Form eines Atriums, mal die einer Passage. Die Hauptverwaltung der Firma Züblin bei Stuttgart (1981-85) wirkt wie ein gigantisches Glashaus mit zwei seitlichen Büroflügeln. Auch wenn die Halle heute ästhetisch befremdlich wirkt, so hatte der Architekt doch das überzeugend geschaffen, was sich die Firma wünschte: ein kostengünstiges, ökologisch vorbildliches Beispiel für eine auf Fertigteilen beruhende Verwendung von Beton.

Qualitätssprünge im Spätwerk

Nicht alle Gebäude der späteren Jahre überzeugen: Der Sitz der Deutschen Bank in Luxemburg wirkt etwas ungeschlacht, die Steintorgalerie in Hannover verblasst neben Fritz Högers Anzeiger- Hochhaus, und die WDR-Arkaden in Köln zeugen von einem eher vordergründigen Flirt mit dem Dekonstruktivismus. Doch es gelingt Böhm immer wieder, auf intelligente, selbstbewusste, aber sensible Weise Alt und Neu zu versöhnen. Jüngere Beispiele hierfür sind der in Glas nachgebildete Mittelrisalit des Schlosses von Saarbrücken (1981-89) oder die Stadtbibliothek neben dem Ulmer Rathaus (1998-2004). Interessant ist die schon 1987/88 im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete Studie für den Umbau des Reichstagsgebäudes von Paul Wallot in Berlin. Böhm legte den Plenarsaal höher, um den Nachkriegs-Wiederaufbau von Paul Baumgarten zu erhalten, und bekrönte das Gebäude mit einer transparenten, für die Öffentlichkeit begehbaren Kuppel - ein Gedanke, der im ausgeführten Projekt von Norman Foster wiederkehren sollte. Die Auseinandersetzung mit Kuppel- und Schalenstrukturen prägt auch Böhms jüngstes Werk, das soeben eingeweihte Hans-Otto-Theater in Potsdam.

Ein Genuss ist die materialreiche Ausstellung schon aufgrund des zeichnerischen Talents, das Gottfried Böhm von seinem Vater geerbt zu haben scheint. Aktualität besitzt Böhms Architektur auch aufgrund ihrer Gefährdungen - nicht in erster Linie wegen des bedenklichen Zustands mancher Betonbauten, sondern wegen der Profanierung von Kirchen in Folge schwindender Mitgliederzahlen. So wurde ein Bau in Hürth-Kalscheuren als Showroom zweckentfremdet. Nächste Kandidatin dürfte St. Gertrud in Köln (1961-65) sein, eine Kirche, die gleichsam als Vorstufe zum Betonmassiv von Neviges zu verstehen ist.

[ Bis 5. November. Katalog: Gottfried Böhm. Hrsg. von Wolfgang Voigt. Jovis-Verlag, Berlin 2006. 272 S., Euro 32.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2006.09.19

09. September 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Weltreise durch die Megastädte von morgen

Der Londoner Architekt und Stadtplaner Richard Burdett ist Kurator der diesjährigen Architekturbiennale von Venedig. Für einmal huldigt der Grossanlass, der an diesem Wochenende eröffnet wird, nicht baulichen Preziosen, sondern beleuchtet die Probleme der Megastädte.

Der Londoner Architekt und Stadtplaner Richard Burdett ist Kurator der diesjährigen Architekturbiennale von Venedig. Für einmal huldigt der Grossanlass, der an diesem Wochenende eröffnet wird, nicht baulichen Preziosen, sondern beleuchtet die Probleme der Megastädte.

Heute lebt die Hälfte der auf 6,5 Milliarden Menschen geschätzten Erdbevölkerung in Städten. Im Jahr 2050 dürften es 75 Prozent der dannzumal 8,5 Milliarden Erdbewohner sein. Dadurch entstehen nicht nur mehr, sondern auch immer grössere Städte. Der Grossraum Tokio, heute mit 35 Millionen Menschen der bedeutendste der Welt, wird 2050 einwohnermässig von Bombay überholt werden. Boomstädte entstehen vor allem in Süd- und Ostasien sowie auf der südlichen Hemisphäre, während die europäischen Grossstädte zwar einen Attraktivitätsgewinn verbuchen können, aber nur mehr geringfügig wachsen. Einen Überblick über die globale Verstädterung zu geben und zur Einflussnahme auf die unvermeidlichen Prozesse aufzurufen, ist das Ziel der 10. Architekturbiennale von Venedig, die unter dem Titel «Città. Architettura e società» an diesem Wochenende ihre Pforten öffnet. Kuratiert und konzipiert wurde sie von dem Londoner Architekten und Stadtplaner Richard Burdett, der an der London School of Economics lehrt und als Berater des Mayor of London tätig ist.

Globale Verstädterung

Der Gegensatz zwischen der jetzigen Schau und der von Kurt Forster in Rauminstallationen von Hani Rashid präsentierten Biennale 2004 könnte kaum grösser sein. Burdett hat die 300 Meter lange Halle der Corderie in lockere Kojen gegliedert, die jeweils einer Stadt gewidmet sind. So begeben sich die Besucher auf eine Weltreise. Sie führt von Süd- nach Nordamerika (São Paulo, Caracas, Bogotá, Los Angeles, New York), dann über Afrika (Kairo, Johannesburg) nach Europa (Berlin, London, das Städtedreieck Mailand - Turin - Genua, Istanbul) und Asien (Bombay, Schanghai, Tokio). Es ist eine Ausstellung über Statistik, über die Entwicklung der Gesellschaft und die Form der Städte. Dank pointiert eingesetzten Informationen und exzellentem Ausstellungsdesign (Cibic & Partners zusammen mit dem Grafikbüro Fragile) gelingt der schwierige Spagat zwischen möglicher Kürze und nötigem Tiefgang. Projektionen, Luftbilder, Karten und Grossfotos zeigen die Strukturen der Städte, Texte und Grafiken verdeutlichen die Probleme, und schliesslich werden kurz einige vorbildliche architektonische Interventionen vorgestellt.

Dabei geht es weniger um Hochglanzarchitektur als vielmehr um oft bescheidene, aber wirkungsvolle urbane Interventionen - etwa ein Programm für öffentliche Toiletten in Bombays Spontansiedlungen oder um jene vom Caracas Urban Think Tank realisierte vertikale Sporthalle an der Grenze zwischen Slum und formaler Stadt, welche die Kriminalität in der Gegend um 45 Prozent gesenkt hat. Aber es finden sich auch Projekte wie die Transformation des New Yorker «High Line»-Eisenbahntrassees durch Diller & Scofidio oder die Visionen von Kees Christiaanses Büro KCAP für Londons Osten. Am Ende der Stadtpräsentationen stellt Burdett die Frage «Can we change the world?». Er nennt fünf Interventionsfelder, die gleichsam das Destillat der Weltreise darstellen. So unterschiedlich die jeweilige Ausgangslage auch sein mag, sind doch die essenziellen Forderungen an die Metropolen des 21. Jahrhunderts gleich: eine Architektur der Inklusion (und nicht der Segregation), ein funktionierendes Transportsystem, nachhaltiger Städtebau, allen zugängliche öffentliche Räume und schliesslich «good governance».

Nach Jahren sich im Formalästhetischen erschöpfender Biennalen - selbst Massimiliano Fuksas hatte im Jahr 2000 sein Motto «Less Aesthetics, more Ethics» nicht einlösen können - veranstaltet Burdett eine Schau, die sich den Problemen der Gegenwart widmet. Da wird man einige Schwächen verzeihen: Das Kapitel Berlin etwa fällt etwas gar kümmerlich aus, und eine postsowjetische Stadt hätte den Reigen durchaus bereichert. Dass Norditalien über Gebühr präsentiert wird und Renzo Piano seinen Masterplan für die Entwicklung des Hafens von Genua in maximalen Dimensionen präsentieren darf, mag dem veranstaltenden Land geschuldet sein. Auf dessen Konto geht auch die von Claudio D'Amato Guerrieri aus Bari kuratierte Ausstellung «Città di Pietra» in den Artiglierie, die unreflektiert faschistisches Bauen mit Wettbewerben für neue Steinarchitekturen im Süden des Landes konfrontiert und ein einziges Ärgernis darstellt.

Im italienischen Pavillon in den Giardini setzt Burdett seine Schau fort. Es dominiert nicht mehr die kuratorische Stringenz; vielmehr dürfen hier ausgewählte Forschungsinstitute ihre Ergebnisse präsentieren. Nicht allen gelingt ein sinnvoller Umgang mit der Ökonomie der ausstellerischen Mittel und damit ein wirkungsvoller Beitrag. Das von der deutschen Kulturstiftung des Bundes finanzierte Projekt «Shrinking Cities», das - ausgehend von der Situation in Ostdeutschland - die Schrumpfung von Städten untersucht hat, zählt ohne Zweifel zu den wichtigsten urbanistischen Forschungsunternehmungen der letzten Jahre. Die Wände mit einigen Fotos maroder Plattenbauten zu tapezieren und die (unbestritten hervorragenden) Publikationen auszulegen, ist jedoch für eine Architekturbiennale zu wenig. Ähnlich uninspiriert wirkt das Gastspiel des ETH-Studios Basel. Das Berlage Institut aus Rotterdam hingegen schafft eine kommunikative Atmosphäre, stellt aber vor allem sich selbst ins Zentrum. Die Präsentation «Gulf City» von OMA/AMO über die Arabischen Emirate wirkt etwas unfertig; hier muss man auf die Publikation warten, die - ebenso wie die Lagos-Studie - im Herbst bei Lars Müller erscheinen wird.

Länderreigen in den Giardini

Wie üblich, hinterlässt ein Rundgang durch die Pavillons gemischte Gefühle. Die Wahl der Schweizer Auswahlkommission fiel auf Bernard Tschumi, der den Entwurf für ein «Elliptic City» genanntes internationales Finanzhandelszentrum in der Dominikanischen Republik präsentiert. Dabei lässt er die Besucher an den Überlegungen teilhaben, die sich einem Stararchitekten stellen, wenn er mit der Aufgabe konfrontiert wird, ein «globalisiertes» Raumprogramm in einem lokalen, von der Natur geprägten Umfeld zu placieren. Wie sich Tschumis strukturelles Denken in der Realität bewähren wird, bleibt angesichts des derzeitigen Bearbeitungsstandes offen.

Für den deutschen Pavillon zeichnen die Berliner Architekten Grüntuch Ernst verantwortlich. In eher unübersichtlichen Tischvitrinen präsentieren sie Konversions- und Umbauprojekte und machen überdies mit einer rot umhüllten Treppe das Dach des 1938 errichteten NS-Baus zugänglich. Mit zwei nachgebauten Modellen historischer Projekte - eines von Hans Hollein in die Landschaft integrierten Flugzeugträgers (1964) und von Friedrich Kieslers Raumstadt von 1925 - brilliert Österreich, während Spanien sich dem weiblichen Blick auf die Stadt widmet. Die USA stellen Projekte für den Wiederaufbau von New Orleans vor, und Israel zeigt die strukturellen Modelle von 16 Gedenkstätten. Zu den attraktivsten Länderbeiträgen zählt der irische, der Bezüge zwischen Bevölkerungswachstum und Umweltproblemen aufzeigt. Den lebendigsten Ort haben die Franzosen geschaffen, die ihren Pavillon durch die anarchische Architektengruppe Collectif Exyzt bespielen lassen. Einbauten machen das Gebäude bewohnbar: Links schlafen die Aktivisten, auf dem Dach duschen sie. In der Mitte stehen Küche und Speisesaal, in welchem sich Besucher und Bewohner vermischen - mit so einfachen Mitteln entsteht Gemeinschaft.

[ Bis 19. November. Doppelkatalog: Cities - Architecture and Society. Marsilio Editori, Venedig 2006. 388 und 200 S., Euro 60.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.09.09

01. September 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kultur als Zukunftsfaktor

Minneapolis, in der Mitte der USA gelegen, sucht sich als kulturelle Metropole zu positionieren. Die Sequenz neuer Bauten kulminiert im Guthrie Theater, mit dem Jean Nouvel das postindustrielle Arkadien der Flusslandschaft am Mississippi ins Blickfeld rückt.

Minneapolis, in der Mitte der USA gelegen, sucht sich als kulturelle Metropole zu positionieren. Die Sequenz neuer Bauten kulminiert im Guthrie Theater, mit dem Jean Nouvel das postindustrielle Arkadien der Flusslandschaft am Mississippi ins Blickfeld rückt.

Als man im 19. Jahrhundert begann, die Wasserkraft zu nutzen und Mühlenbauten am Flussufer zu errichten, avancierte das 1867 zur Stadt erhobene Minneapolis zum wichtigsten Getreideumschlagplatz des Landes. Heute ist Minneapolis - das sich und das benachbarte St. Paul, die Kapitale von Minnesota, gerne als «Twin Cities» bezeichnet - dank wirtschaftlicher Prosperität eine kulturell attraktive Stadt. Gleichwohl zählt sie für Touristen kaum zu den Hot Spots des Landes: In der geographischen Mitte der Vereinigten Staaten gelegen und von den attraktiven Destinationen der West- wie der Ostküste gleichermassen weit entfernt, besass die Stadt bisher wenig Attraktionspotenzial, zumindest für überseeische Besucher. Fragte man einen Durchschnittsamerikaner nach Minneapolis, so käme diesem wohl zuerst das Stichwort Shopping in den Sinn. Mit dem von Victor Gruen geplanten Southdale Shopping Center (1956) steht hier die erste, mit der Mall of America (1992) von Jon Jerde die grösste Mall des Landes, die als touristische Destination ersten Ranges gilt.
Kultureller Kraftakt

Dass die Innenstädte veröden, ist ein Phänomen, mit dem sich Minneapolis wie viele amerikanische Grossstädte konfrontiert sieht. In den achtziger Jahren entstand «downtown» die obligatorische Silhouette, hier mit Hochhäusern unter anderem von SOM, Cesar Pelli und Philip Johnson. Und wie in anderen Städten auch gilt Kultur derzeit als probates Gegenmittel, um das Image der fragmentierten City mit ihrem Patchwork aus spiegelverglasten Wolkenkratzern, historischen Bauten und zu Parkplätzen umgewidmeten Brachen aufzupolieren. In einem gewaltigen Kraftakt haben verschiedene Institutionen zusammengespannt, um ihre Häuser zu erneuern, zu erweitern oder gar neu zu errichten. Den Anfang machte schon im April des vergangenen Jahres die Erweiterung des Walker Art Center durch Herzog & de Meuron (NZZ 23. 5. 05), das sich am westlichen Rande der Innenstadt befindet.

Ein gutes Jahr später, am 20. Mai dieses Jahres, eröffnete die von Cesar Pelli geplante Minneapolis Public Library, die einen ganzen Block der Innenstadt beansprucht und weitgehend durch die öffentliche Hand finanziert wurde. Eine trichterförmige Galerie, von einem über die Front auskragenden Flugdach überdeckt, dient als grosszügige Erschliessungsachse, von der aus die Lesesäle und Auditorien auf vier Ebenen zugänglich sind. Minneapolis hat mit der Bibliothek vielleicht kein Wahrzeichen erhalten, doch ein überaus benutzerfreundliches Gebäude. Die Gesamtlänge der Regalfläche misst 38,5 Meilen, und fast alle Bestände sind als Freihandmagazine unmittelbar zugänglich. Die Lesesäle besitzen dank der umlaufenden Verglasung und dem Raster aus Pilzstützen eine luftige und freundliche Atmosphäre; und wenn es draussen dunkel wird, strahlt die Bibliothek wie ein funkelnder Kristall. Ein wenig skandinavisch mutet das Gebäude an, welches das Licht zum Thema macht - nicht ohne Grund, denn die dunklen und kalten Winter in Minneapolis sind berüchtigt.

Drei Wochen später öffnete das Minneapolis Institute of Art (MIA), das eine der bedeutendsten Kunstsammlungen der Vereinigen Staaten beherbergt, seine Erweiterung. Der Ursprungsbau von McKim, Mead and White aus dem Jahr 1915 zeigt mit Portikus und Freitreppe die seinerzeit für Kulturbauten in den USA typischen neoklassizistischen Formen. Der japanische Architekt Kenzo Tange fügte 1975 seitlich zwei schlichte Flügel an, die abgesetzt sind durch gläserne Verbindungsbereiche. Nun hat Michael Graves Tanges Westflügel erweitert.

Der neue Flügel des MIA besteht aus einer Enfilade von jeweils fünf Sälen in den zwei Hauptgeschossen (parallel zum Tange-Trakt) und einer südlich anschliessenden, quadratischen Erweiterung mit einem kuppelüberwölbten Atrium in der Mitte. Das gesamte Sockelgeschoss dient der Verwaltung, ausserdem sind hier die Grafische Sammlung und die Bibliothek untergebracht. Mit insgesamt 34 neuen Sälen ist die Ausstellungsfläche um 40 Prozent vergrössert worden - wovon moderne Kunst und Designs besonders profitieren. Graves hat sich in den Ausstellungsräumen bewusst zurückgehalten und das Konzept von Tanges Kunstlichtsälen adaptiert, so dass im Inneren kaum auffällt, wo man den neuen Flügel betritt. Klar als von der Hand Graves' erkennbar ist lediglich der für Empfänge genutzte Gewölbesaal im zweiten Obergeschoss. Moderat- klassizierend zeigt sich auch das Äussere: Schlichte Pilaster und Rundstützen gliedern die Kalksteinfassaden, die mit den früheren Bauphasen gut harmonieren.

Kreuzbestäubungen

Ohne Zweifel besitzt das neue Guthrie Theater den attraktivsten Standort unter den neuen Kulturbauten. Es befindet sich am Steilufer des Mississippi im «Milling District», der Keimzelle der Stadt, und reiht sich ein in die noch vorhandene Phalanx von Mühlengebäuden und Getreidesilos aus Stahlbeton. Die Bauten faszinierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Architekten in Europa; erstmals hatte Walter Gropius 1911 Fotos in einer Ausstellung zum Thema Industriebau präsentiert und dann im Jahrbuch des Deutschen Werkbunds 1913 als Werke veröffentlicht, die «in ihrer monumentalen Gewalt des Eindrucks fast einen Vergleich mit den Bauten des alten Ägyptens» aushielten. Dank ihrer stereometrischen Form avancierten sie in Europa zu Katalysatoren für die Suche nach einer neuen Architektur und galten für Erich Mendelsohn oder Le Corbusier als Inbegriff einer neuen Monumentalität.

Seit einiger Zeit wird der «Milling District» als historisches Erbe vor Ort wiederentdeckt. Am Ufer finden Ausgrabungen statt, und über einen stillgelegten Eisenbahnviadukt von 1883 gelangt man im weiten Bogen auf die andere Seite des Flusses. Die landschaftliche Situation diente Jean Nouvel, der den Direktauftrag für den Neubau des renommierten, 1963 von Tyrone Guthrie gegründeten Sprechtheaters europäischer Prägung erhalten hatte, als Ausgangspunkt. Um Aussicht über das Flussgebiet des Mississippi zu ermöglichen, hob er die beiden Theatersäle und das Foyer auf die Ebene des dritten Obergeschosses an. Während die Probenräume in den Ebenen darunter angeordnet sind, wurden Kulissendepot und Malersaal niveaugleich in einem mehrgeschossigen Parkhaus jenseits der Strasse untergebracht. Ein Gang führt hinüber in das Theater - und durch eine schwefelgelbe Glasscheibe hindurch kann man vom Foyer aus die Bühnenarbeiter beobachten.

Kontextuelle Bezüge

Perspektiven sind bei diesem Gebäude alles: Als Verlängerung des Foyers ragt die «Endless Bridge», in einem Aussichtsbalkon kulminierend, rüsselartig hinein in das Mississippi-Tal; Fenster, einmal hoch-, einmal querformatig, rahmen die Perspektiven in das postindustrielle Arkadien. Die «Thrust Stage» mit ihrem halbkreisförmigen Zuschauerrund von 1100 Plätzen lässt die Raumdisposition des alten Guthrie anklingen; die rechteckige «Proscenium Stage» ist für 700 Besucher ausgelegt. Ein wiederum gelb verglaster Raum mit atemberaubenden Ausblicken dient als Foyer für die Studiobühne auf dem Dach.

Aus europäischer Sicht steht Nouvels Guthrie Theater im Schatten des am gleichen Wochenende eingeweihten Pariser Musée Quai Branly. Zu Unrecht. Denn der mit dunkelblauen Metallplatten verkleidete Theaterbau, Nouvels erster Auftrag in den USA, darf als jüngstes Meisterwerk des Architekten bezeichnet werden. Als rätselhaft-technoides Gebilde lagert es über dem Flusstal, und es huldigt der Zukunft ebenso, wie es auf die Vergangenheit reagiert: Durch eine gelbe Scheibe der «endless bridge» gerät genau der Getreidespeicher aus Minneapolis ins Visier, den Gropius 1913 publizierte und der heute das «Mill Museum» beherbergt. In Zeiten politischer Entfremdung thematisiert Nouvel jene Kreuzbestäubungen, die Abendland und Neue Welt auf kultureller Ebene in Faszination verbinden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.09.01



verknüpfte Bauwerke
Guthrie Theater

18. August 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Zwischen Arkadien und Grossstadtwelt

Der Architekt Franz Gustav Forsmann - Ausstellung in Hamburg

Der Architekt Franz Gustav Forsmann - Ausstellung in Hamburg

Als Hauptwerk des Hamburger Architekten Franz Gustav Forsmann (1795-1878) gilt das 1834 fertig gestellte Jenischhaus im - einstmals dänischen - Flottbek. Die westlichen Hamburger Elbvororte waren seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vom wohlhabenden Bürgertum entdeckt worden; Sommerhäuser und Landsitze an den Hängen verwandelten die Gegend in ein hanseatisches Arkadien. Das spätklassizistische Landhaus, mit dessen Bau Forsmann von dem Senator Martin Johann Jenisch d. J. 1828 betraut worden war, dient seit langem als Dépendance des Altonaer Museums. Der Architekt hatte zu Beginn zwei unterschiedliche Entwürfe vorgelegt, die den Auftraggeber offenkundig nicht zufriedenstellten. Daher wurden die Entwürfe an Schinkel zur Begutachtung geschickt, der einen Gegenentwurf vorlegte. In den von Forsmann ausgeführten Bau - dreigeschossig, annähernd quadratisch und mit flachem Dach - sind einige Anregungen aus Berlin eingeflossen, so die abwechselnd hohen Quaderschichten, die nach oben abnehmende Geschosshöhe, das Flachdach und die Vergoldung der Gitter. Vermutlich entspricht das heute vielfach als synonym für den hamburgischen Klassizismus angesehene strahlende Weiss nicht der ursprünglichen Farbfassung, die man sich eher steinfarbig vorzustellen hat.

Für die jetzige Ausstellung im Rahmen des Hamburger Architektursommers wurde die ursprüngliche Raumstruktur, die vor allem im Bereich der Neben- und Personalräume verändert ist, durch Markierungen auf dem Boden wieder erlebbar gemacht. Zu sehen sind überdies die teilweise durch einen Brand in Mitleidenschaft gezogenen Entwurfspläne der verschiedenen Phasen. Anhand von Entwürfen und Fotos werden im obersten Geschoss die übrigen Werke von Forsmann dokumentiert, der nach einer Ausbildung an der Eutiner Zeichenschule von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein eine Zimmermannsausbildung in Hamburg und ein Architekturstudium in München absolviert hatte. An der Elbe reüssierte er zunächst mit freien Aufträgen, so den Stadthäusern für Gottlieb Jenisch (1831-1834) an der Binnenalster oder den zwischen 1836 und 1843 geplanten und realisierten Landhäusern Weber in Othmarschen und in Nienstedten.

Darüber hinaus fungierte Forsmann über Jahrzehnte als Mitglied der städtischen Bauverwaltung. 1828 wurde er Assistent der Stadtbaumeisteradjunkten Hinrich Anton Christian Koch und Carl Ludwig Wimmel, 1845 übernahm er die Geschäfte des verstorbenen Wimmel, 1868 avancierte er schliesslich zum Stadtbaumeister. Mehr als 40 Jahre, bis zu seiner Pensionierung 1871, hat Forsmann als Beamter das Gesicht seiner Stadt geprägt, die sich in dieser Zeit - nicht zuletzt nach dem grossen Brand von 1842 - zur Metropole wandelte. Anfangs waren es Torhäuser und Brücken, später vornehmlich Schulen, die sich mit seinem Namen verbanden. Die wichtigsten Neubauten errichtete Forsmann (gemeinsam mit Wimmel) direkt in der Innenstadt. Es sind das zerstörte Johanneum am Domplatz (1837-1840) sowie die Börse hinter dem Rathaus (1837-1841), mit denen er den besonders von seinem Lehrer Friedrich von Gärtner in München eingeführten Rundbogenstil an der Elbe heimisch machte.

[ Bis 29. Oktober. Katalog: Franz Gustav Forsmann 1795-1878. Hrsg. Julia Berger und Bärbel Hedinger. Wachholtz-Verlag, Neumünster 2006. 176 S., Euro 17.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.08.18

08. August 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Baukünstlerischer Aufbruch

Eine Ausstellungstrilogie in Rotterdam wirft einen kritischen Blick auf die urbanistischen Entwicklungen in China. Ins Blickfeld geraten dabei auch die Arbeiten junger chinesischer Architekturbüros.

Eine Ausstellungstrilogie in Rotterdam wirft einen kritischen Blick auf die urbanistischen Entwicklungen in China. Ins Blickfeld geraten dabei auch die Arbeiten junger chinesischer Architekturbüros.

Wenn hiesige Architekten über China sprechen, so besiegt die Faszination zumeist die Skepsis. Gewiss entspricht das zum Turbokapitalismus konvertierte kommunistische System nicht eben westlichen Vorstellungen von Demokratie. Auch weiss man um die kulturelle Differenz: Aufträge dort zu erhalten und auszuführen, ist selbst bei intensiver Vorarbeit von kaum abzuschätzenden Unwägbarkeiten begleitet. Doch am Ende bleibt der Lockruf eines Landes, in dem Dimensionen und Geschwindigkeit des Bauens jegliches bekannte Mass übersteigen - und kaum ein Architekt vermag es, sich der Verlockung zu widersetzen.
Perspektivwechsel

Gerät aus europäischer Perspektive gemeinhin die bekannte westliche Prominenz ins Blickfeld, die sich gerne damit schmückt, die chinesische Architekturtradition eher zu respektieren als die Landsleute selbst, so präsentiert das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam nun unter dem Titel «China contemporary» eine unabhängige chinesische Architekturszene, die nicht mehr den marktbeherrschenden, von staatlicher Obhut in die partielle Eigenverantwortlichkeit entlassenen Architekturkombinaten entstammt. Erst 1993 konnte Jung Ho Chang das erste private Architekturbüro eröffnen, das als Atelier Feichang Jianzhu erfolgreich ist, und bis heute mag die freie Architektenszene - verglichen mit den gigantischen Bauvolumen - eher eine Marginalie darstellen. Bauaufgaben sind private Villen oder kleinere Kulturbauten; die typischen neuen Wohnquartiere oder Stadtplanungen werden eher an internationale Stararchitekten vergeben.

Insgesamt 40 Projekte von 18 Architekten sind im grossen Ausstellungssaal des NAI zu sehen. Die meisten der Planungen wurden unter dem Stichwort «Chineseness» subsumiert - anders als die grossen Architekturfirmen versuchen einige junge und kleine Büros, auf verschiedene Weise an die Bautradition des Landes anzuknüpfen. Dazu zählt der Campus der Nationalen Kunstakademie in Hangzhou (Amateur Architecture) ebenso wie die Neuinterpretation traditioneller Hofhaustypologien für ein touristisch zu nutzendes Jade-Dorf bei Xi'an, welches vom Büro Mada, das mittlerweile auch in europäischen Fachkreisen bekannt ist, konzipiert wurde. Eine Reihe der in der Ausstellung vertretenen Entwerfer hat im Ausland studiert oder gearbeitet - Quingyun Ma, Prinzipal von Mada, ist nach Jahren bei der amerikanischen Architekturfirma KPF in seine Heimat zurückgekehrt. Längst hat sich auch die Architekturszene globalisiert, Publikationen über die neuesten Trends sind überall auf der Welt erhältlich. In welchem Masse neue Konzepte sich in China durchsetzen können, bleibt unsicher, doch zeigt die Schau zumindest einige Versuche.

«Public Domain» ist ein weiterer Ausstellungssektor betitelt, in dem öffentliche Räume thematisiert werden. Plätze oder öffentliche, nicht religiös konnotierte Parkanlagen sind in der chinesischen Tradition nicht verwurzelt, sieht man von den Aufmarschflächen der kommunistischen Ära ab. Vom Wandel zeugen gestaltete Freiflächen inmitten neu errichteter Wohnkomplexe, vor allem aber der von dem Künstler und Architekten Ai Weiwei in der Stadt Jinhua gestaltete Hochwasserdamm des Flusses Jiwu mit einem dazugehörenden bandartigen Architekturpark. An den architektonischen Follies, die dort errichtet werden, sind neben den mit der Planung des Stadtviertels Jindong betrauten Architekten Herzog & de Meuron auch andere internationale und chinesische Architekten sowie die jungen Basler Büros Bucher Bründler, Christ & Gantenbein sowie Simon Hartmann beteiligt.

Kritisches Potenzial

Die Abteilung «Critical Urban Renewal» dokumentiert die noch zaghaften Versuche, der staatlichen Tabula-rasa-Mentalität entgegenzuwirken. Unter dem Titel «Urbanscape» werden alternative Modelle städtischer Transformation zur Diskussion gestellt. Die fotografische Studie «Informal China» von Jiang Jun widmet sich nichtoffiziellen, informellen privaten Bauvorgängen. Mit «Beijing Record» hat der Journalist Wang Jun 2003 eine als Bestseller gehandelte Untersuchung über die Zerstörung des kulturellen Erbes im Vorfeld der Olympischen Spiele Peking 2008 veröffentlicht. - Die vom niederländischen Architekturbüro Johan de Wachter gestaltete Rotterdamer Schau bietet eine Fülle von Material, das auf Podesten, Sockeln und Wänden präsentiert wird. Von der Decke abgehängte Elemente bilden eine zweite Schicht; zu sehen sind Ausschnitte aus kommerziellen Renderings der 800 Mitarbeiter beschäftigenden Firma Crystal Image, die Architekturprojekte visualisiert. Ein aus aufgeschichteten PVC-Röhren bestehender Lesepavillon wurde von Wang Hui (Neno 2529 Design Group) realisiert.

Die Schau im NAI wird ergänzt durch Ausstellungen im Museum Boijmans van Beuningen und im Nederlands Fotomuseum. Ausgewählt wurden Künstler, die sich weniger mit der kommunistischen Tradition oder dem Desaster der Kulturrevolution auseinandersetzen als vielmehr mit den gegenwärtigen Entwicklungen (die natürlich ohne die jüngere Vergangenheit nicht zu verstehen sind). Gezeigt werden Fotoarbeiten, Videos und Installationen, die den radikalen Wandel der vergangenen Jahre kritisch reflektieren. Als Beispiel erwähnt sei hier nur Shenzhen, das sich seit 1978 von einem 30 000 Einwohner zählenden Fischerdorf zu einer Megastadt mit mehr als 10 Millionen Menschen entwickelte.

[ Die Ausstellungen dauern bis zum 13. August (Boijmans van Beuningen) bzw. 6. September (NAI und Nederlands Fotomuseum). Katalog: China contemporary - Architecture, Art, Visual Culture. NAI Publishers, Rotterdam 2006. 416 S., Euro 29.95. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2006.08.08

29. Juli 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Wie bauen wir morgen?

UN Studio legt eine architektonische und städtebauliche Bilanz vor

UN Studio legt eine architektonische und städtebauliche Bilanz vor

Die digitale Revolution hat binnen weniger Jahre den Prozess architektonischen Entwerfens grundsätzlich verändert. Während sich der heutige Architekt immer mehr in einem hochkomplexen Gefüge sieht, das massgeblich von ökonomischen Kräften gesteuert wird, weiten sich zugleich seine Tätigkeitsfelder aus. Architektur, so heisst es daher in der jüngsten Publikation des Amsterdamer Büros UN Studio, sei «ein multifunktionaler Zwitter aus Infrastruktur und Stadtplanung».

DIGITALE ENTWURFSPRINZIPIEN

Der Architekt Ben van Berkel und die Kunsthistorikerin Caroline Bos gründeten 1989 ihr eigenes Büro, das seither nicht nur eine Reihe wichtiger Bauten realisieren konnte, sondern sich auch den Ruf erwarb, auf eigenständige Weise Praxis und Theorie zu verbinden. Zehn Jahre später unterzogen die Gründer ihr Büro «Van Berkel & Bos» einer grundsätzlichen Neuorganisation - die Funktion des Architekten als Koordinator und Netzwerkexperte habe das vormalige baumeisterliche Selbstverständnis abgelöst, bemerkt van Berkel rückblickend. Aus diesem zu neuer Agilität und Flexibilität führenden Häutungsprozess ging UN (United Network) Studio hervor. Das neue Konzept beruht nicht nur auf einer bewussten Anonymisierung der in ein Team integrierten Autoren, sondern war auch die Reaktion auf eine mehr und mehr global sich ausdehnende Tätigkeit - UN Studio ist in vielen Ländern Europas aktiv, aber auch in den Vereinigten Staaten und in Ostasien.

Gelang van Berkel & Bos 1996 mit der eleganten Erasmus-Brücke in Rotterdam, die alsbald zum Wahrzeichen der Stadt avancierte, der internationale Durchbruch, so kann das jüngst eröffnete Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart-Untertürkheim (NZZ 19. 5. 06) als bisher bedeutendstes Werk von UN Studio gelten. Es ist ein überzeugendes Beispiel dafür, dass digitale Entwurfsverfahren durchaus zu einer neuen Körperlichkeit, ja zeitgenössischen Monumentalität der Architektur führen können. Mitunter ist die von van Berkel proklamierte dynamische Doppelhelix von Kritikern sogar als barock tituliert worden. Das mag zunächst irritieren, wird aber plausibel, wenn man den Barock als Überwinder des Manierismus versteht. Im Gegensatz zu manchen seiner poststrukturalistisch inspirierten Zeitgenossen arrangiert und collagiert van Berkel von jeher nicht Formfragmente und Gedankensplitter der Moderne, sondern sucht nach einer Einheit auf höherer Ebene.

KONZEPTUELLE METHODEN

Soeben hat nun UN Studio eine opulent illustrierte Monographie vorgelegt, die mit «Designmodelle. Architektur Urbanismus Infrastruktur» betitelt ist. Wie schon das 1999 anlässlich des Büro-Relaunchs erschienene dreibändige Werk «Move» ist auch das neue Buch eine Mischung aus Werkmonographie, theoretischen Essays und Statements. Ausführlich präsentiert werden 34 Bauten und Projekte aus nunmehr 17 Jahren beruflicher Tätigkeit.

Gegliedert sind diese weder chronologisch noch typologisch, sondern nach den für ihr Entstehen massgeblichen «Designmodellen». Dabei handelt es sich gleichsam um eine Fortentwicklung der Diagramme, mit denen van Berkel & Bos in früheren Jahren operierten. Designmodelle sind gemäss dem Verständnis von UN Studio konzeptuelle Methoden, welche in Zeiten sich mehrender, den architektonischen Prozess bestimmender Faktoren gleichsam der Selbstvergewisserung dienen. Dank ihrer Abstraktheit erlauben sie Elastizität, ohne die Spezifik in der Konkretisierung zu unterbinden.

Zu diesen Modellen zählt etwa das Inklusivprinzip, also die Verschmelzung von Boden, Decke und Wand zu einer kontinuierlichen Form, wofür das NMR-Labor der Universität Utrecht ein Beispiel ist. Zu nennen sind aber auch mathematische Prinzipien, so das dem Möbius-Haus zugrunde liegende Möbius-Band, die Kleinsche Flasche (Projekt: Living Tomorrow, Amsterdam) oder die Kleeblattstruktur des Mercedes-Benz- Museums. Als «deep planning» bezeichnet UN Studio seit längerem Methoden, dreidimensionale Planung um den Faktor Zeit zu erweitern.

DAS GEBÄUDE ALS VISUELLER EINDRUCK

Ein abschliessender Essay widmet sich dem «Nachbild» (after image), der Vorstellung von einem Gebäude, die als Summe visueller Eindrücke beim Betrachter zurückbleibt. Die «Ikonizität» vordergründiger Label-Architektur könnte, so die Hoffnung der Autoren, einem komplexeren Verständnis von Architektur weichen. In Stuttgart ist das gelungen: Trotz seinem markanten Erscheinungsbild entzieht sich das Museum einer vorschnellen Charakterisierung. Umfassend dokumentiert - vom Digitalmodell über den Bauprozess bis hin zum realisierten Gebäude - wird das Mercedes-Benz-Museum in einer gerade in Barcelona erschienenen Baumonographie, die ebenfalls von UN Studio konzipiert wurde.

[ UN Studio: Designmodelle. Architektur Urbanismus Infrastruktur. Verlag Niggli, Sulgen 2006. 400 S., Fr. 88.-.

UN Studio: Buy me a Mercedes-Benz. Das Buch zum Museum. Actar, Barcelona 2006. 576 S., Euro 76.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.07.29



verknüpfte Akteure
UNS

19. Juli 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architekt der Architekten

Zu den populären Medienstars der Architektur hat Kazuo Shinohara nicht gehört: Dazu sind seine Bauten zu intellektuell, zu tiefgründig. Der 1925 geborene...

Zu den populären Medienstars der Architektur hat Kazuo Shinohara nicht gehört: Dazu sind seine Bauten zu intellektuell, zu tiefgründig. Der 1925 geborene...

Zu den populären Medienstars der Architektur hat Kazuo Shinohara nicht gehört: Dazu sind seine Bauten zu intellektuell, zu tiefgründig. Der 1925 geborene Japaner ist einer jener Architekten geblieben, die vor allem auf andere Architekten gewirkt haben. Entwerfer der mittleren Generation wie Toyo Ito und Kazuo Sejima haben von seinen Ideen gelernt, andere - wie Itsuko Hasegawa - bei ihm studiert. Ab 1970 unterrichtete er am Tokyo Institute of Technology, der Universität, deren markante Century Hall (1987) mit ihrem bekrönenden Halbzylinder als seine wichtigste spätere Arbeit gilt.

Kleine Einfamilienhäuser waren es, die Shinoharas Ruhm begründeten. Zunächst hatte sich der Architekt mit der fernöstlichen Tradition auseinandergesetzt: Das Haus in Kugayama (1954) wurde von Kritikern als eine Synthese aus der Formenwelt des Katsura-Palastes sowie derjenigen Mies van der Rohes verstanden; das «House in White» (1966) wirkt wie die Abstraktion eines japanischen Tempels. Shinohara reiste in den jungen Jahren nicht nach Europa oder in die USA. Er adaptierte die westliche Moderne als ein intellektuelles Konzept. Eine Auseinandersetzung mit den Prinzipien von Form, Geometrie und Raum bestimmte Shinoharas Schaffen; von klaren Strukturen der Anfangsjahre gelangte er zu zunehmend komplexeren Strukturen.

Bedeutung erlangte der Architekt überdies als Theoretiker, wobei er sich auch der «progressiven Anarchie» des Tokioter Urbanismus widmete. In den neunziger Jahre hat Shinohara seine Bewunderer nicht zuletzt unter jungen Schweizer Architekten gefunden. Ein von Christian Kerez herausgegebener Textkorpus soll Ende 2007 erscheinen. Am vergangenen Samstag ist Kazuo Shinohara im Alter von 81 Jahren in Kawasaki gestorben.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2006.07.19



verknüpfte Akteure
Shinohara Kazuo

17. Juli 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Nachtgesicht der Architektur

Die Nachtwirkung von Architektur wurde schon in früheren Jahrhunderten erprobt und fasziniert bis heute. Nun feiert das Kunstmuseum Stuttgart das Phänomen mit einem kulturhistorischen Panorama.

Die Nachtwirkung von Architektur wurde schon in früheren Jahrhunderten erprobt und fasziniert bis heute. Nun feiert das Kunstmuseum Stuttgart das Phänomen mit einem kulturhistorischen Panorama.

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die nächtliche Wirkung von Gebäuden kaum ein Thema für die Architekten, sieht man einmal von durch barocke Feuerwerke illuminierten ephemeren Festarchitekturen und von frühen Experimenten mit Gasbeleuchtungen ab. So nutzte beispielsweise der Fotopionier Nadar eine Gasleuchtschrift als Reklame für sein Pariser Atelier. Erst als die Elektrizität zur Verfügung stand, konnten Glühlampen die gebaute Umwelt des Nachts verwandeln. Zu Experimentierfeldern für die künstliche Beleuchtung wurden die Weltausstellungen. Der Eiffelturm galt als die Hauptattraktion der Pariser Schau von 1889 und war mit Scheinwerfern sowie mit einer Drehlaterne bekrönt, welche den Nachthimmel in den Farben der Trikolore erhellte. Elf Jahre später war - laut Julius Lessing, dem damaligen Leiter des Berliner Kunstgewerbemuseums - das Palais der Elektrizität der «Clou» der neuerlich in Paris veranstalteten Weltausstellung, auch wenn Hermann Muthesius konstatierte, das Gebäude gehöre aufgrund seiner eklektizistischen Formensprache mehr in den Bereich der Zuckerbäckerarchitektur als in jenen der Architektur. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Urteil von Julius Meier-Graefe, der bemerkte, dass der historistische Zierrat im Dunklen verschwinde: «Was bleibt, sind die grossen Umrisse, das ungeheuerlich Massige dieser Schöpfung. Ganz von selbst vollzieht dann die Nacht das, was wir von der neuen Baukunst erwarten: Konzentration und Grösse.»

Aktualität des Themas

«Leuchtende Bauten: Architektur der Nacht» heisst eine mit opulenten Exponaten aufwartende Ausstellung des Kunstmuseums Stuttgart. Ihr Konzept wurde zu grossen Teilen von dem an der Brown University im amerikanischen Providence lehrenden Architekturhistoriker Dietrich Neumann erarbeitet. Mit einem kulturhistorischen Panorama vom Siegeszug des elektrischen Lichts auf den Weltausstellungen bis hin zu aktuellen Beleuchtungskonzepten stützt sich Neumann auf eine eigene Publikation, die 2002 ebenfalls unter dem vom Architekten Raymond Hood 1930 geprägten Titel «Architektur der Nacht» erschienen ist. Für die jetzige Ausstellung gibt es - jenseits der unstrittigen Aktualität und Attraktivität des Themas - zweierlei Anlass: Zum einen ist das neue, mit einem von innen beleuchteten Glasmantel umgebene Kunstmuseum des Architekturbüros Hascher Jehle abends selbst ein leuchtender Bau. Zum anderen hat die Stadt Stuttgart einen Licht-Masterplan erarbeiten lassen, mit dessen Umsetzung gerade begonnen worden ist. Zu ersten Fixpunkten avancierten eine Inkunabel der Architektur der zwanziger Jahre, der unlängst restaurierte Tagblatt-Turm von Ernst Otto Osswald, sowie die Stiftskirche. Derzeit sind Licht-Masterpläne (wie etwa Zürichs «Plan Lumière») en vogue, kommen sie doch den Forderungen des Stadtmarketing ebenso entgegen wie dem Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit.

Die Stuttgarter Ausstellung setzt deshalb nicht im 19. Jahrhundert ein. Vielmehr werden heutige Beispiele der Nachtarchitektur mittels Fotos und Modellen präsentiert. Dazu zählen die Glashülle des Kunsthauses Bregenz von Peter Zumthor, die immer wieder von Künstlern unterschiedlich bespielt wird, aber auch die Installation aus kreisförmigen Neonleuchten von Peter Cooks Kunsthaus in Graz. Die aus Lichtpailletten bestehende Fassade eines Warenhauses in Seoul (UN Studio) und die Allianz Arena in München (Herzog & de Meuron) belegen das zeitgenössische Interesse an farblich wechselndem Licht.

Vorbei an einem riesigen Modell der «Tour Lumière Cybernétique», die der französische Künstler Nicolas Schöffer von 1963 an als 307 Meter hohe interaktive Plastik für die Pariser Défense plante, gelangt man in einen Saal, der das Erlebnis New York thematisiert. Zu den mit Flutlicht illuminierten Set-back-Hochhäusern Manhattans aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat die Leuchtreklame, die schon zu dieser Zeit in den Lichtorgien des Times Square kulminierte. Die Wahrnehmung europäischer Besucher war von Faszination und Skepsis gleichermassen bestimmt: Erich Mendelsohn, der 1924 auf dem gleichen Schiff wie Fritz Lang in die Vereinigten Staaten gereist war, druckte in seinem Bildband «Amerika» eine Foto des Regisseurs ab, die den Times Square zeigt. Die Impressionen aus der Neuen Welt sollte Lang mit dem Film «Metropolis» verarbeiten, während der Architekt mit seinen Warenhäusern eine spezifisch europäische Verwendung des Lichts erprobte. Neben milchig-weissen Lichtbändern ist es zunehmend die innere Beleuchtung, welche dem nächtlichen Baukörper Gestalt verleiht. Mit Mies van der Rohes Seagram Building von 1958 in New York begann sich dieses eher rational bestimmte Lichtkonzept auch gegenüber den amerikanischen Farblichtkaskaden durchzusetzen.

Ein Originalmodell des Eiffelturms aus dem Jahr 1888 verweist auf die Weltausstellungen als Marksteine für moderne Illuminationsstrategien. Wunderbare Gouachen von André Granet zeugen von der nächtlichen Verwandlung des Pariser Wahrzeichens im Jahr 1937, Entwürfe von Jean Labatut sowie Postkarten geben eine anschauliche Vorstellung von den Leuchtfontänen der New Yorker Weltausstellung 1939. Vom märchenhaften Lunapark am Strand von Coney Island lässt sich ein Bogen schlagen bis zu dem nächtlich beleuchteten «Blur Building» von Diller and Scofidio, der «Wolke» für die Schweizer Expo 02 in Yverdon.

Vision und Pragmatismus

Die ephemeren Wurzeln der Lichtarchitektur im Bereich von Spektakel und Vergnügen trugen dazu bei, dass sich europäische Architekten dem Licht als neuem Baumaterial nur langsam zuwandten. Bruno Tauts - wiederum ephemeres - Glashaus auf der Kölner Werkbundausstellung 1914 war gleichsam das Präludium für die Faszination von Kristall, Glas und Licht, welche den parareligiös aufgeladenen architektonischen Expressionismus in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg prägte.

Die ekstatischen Visionen auf dem Papier wichen einem gewissen Pragmatismus, sobald es wieder etwas zu bauen gab. In Berlin entstand ein neuer Typ von Grossstadtarchitektur, bei dem Licht als strukturell gliederndes Element eingesetzt wurde. Auch in Stuttgart fanden die neuen Konzepte ihren Niederschlag: mit Erich Mendelsohns Kaufhaus Schocken, dem konturbeleuchteten Tagblatt-Turm von Osswald oder Richard Döckers Lichthaus Luz; 1928 wurde gar ein offizielles Lichtfest gefeiert. Ein im gleichen Jahr von Mies van der Rohe vorgeschlagenes Büro- und Bankgebäude gegenüber dem Hauptbahnhof mit seiner radikalen Fassade aus mattiertem hinterleuchtetem Spiegelglas blieb leider ebenso unrealisiert wie das diesem vergleichbare Kaufhaus Adam in Berlin.

[ Bis 1. Oktober im Kunstmuseum Stuttgart, anschliessend vom 27. Januar bis 6. Mai 2007 im Nederlands Architectuurinstituut in Rotterdam. Katalog: Leuchtende Bauten. Architektur der Nacht. Hrsg. Dietrich Neumann und Marion Ackermann. Verlag Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2006. 152 S., Euro 39.80. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2006.07.17

07. Juli 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Neue Stadt am Fluss

In Hamburg schliesst die neue «Hafen- City» direkt an die Altstadt an. Die ersten Bauten stehen, der Wettbewerbsentscheid für das zentrale Areal fiel unlängst. Im Rahmen des gegenwärtigen Hamburger Architektursommers wird diesem viel Aufmerksamkeit zuteil.

In Hamburg schliesst die neue «Hafen- City» direkt an die Altstadt an. Die ersten Bauten stehen, der Wettbewerbsentscheid für das zentrale Areal fiel unlängst. Im Rahmen des gegenwärtigen Hamburger Architektursommers wird diesem viel Aufmerksamkeit zuteil.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte der Hamburger Hafen einschneidende Umgestaltungen. Mit dem von Wasserbaudirektor Johannes Dalmann massgeblich betriebenen Konzept eines «offenen Tidehafens» entschied man sich gegen das Londoner Modell des «Dockhafens», bei dem die Hafenanlagen gegenüber der dem Tidehub unterliegenden Themse durch Schleusen abgetrennt waren. Dass die britische Kapitale ihren Hafen längst aufgeben musste, während das gut 100 Kilometer von der Elbmündung entfernte Hamburg seine Umschlagkapazitäten weiterhin erhöht, ist nicht zuletzt der damals weitsichtigen Entscheidung für eine moderne Hafeninfrastruktur zu verdanken. Mit dem künstlich angelegten und seeschifftief ausgehobenen Sandtorhafen auf dem Grasbrook entstand 1862-1866 das modernste Hafenbecken der Welt. Quaischuppen flankierten die Hafenmauern, landseitig erfolgte der Abtransport durch die Eisenbahn. Die Verkürzung der Liegezeit, die ohnehin von Ebbe und Flut unabhängig war, führte zu einer Effizienzsteigerung des Hafens. Mit dem benachbarten Grasbrookhafen, dem rechtwinklig dazu angelegten Magdeburger Hafen und schliesslich dem weiter flussaufwärts gelegenen Baakenhafen fand Dalmanns Konzept seine Fortsetzung.

Hafen im Wandel

Aufgrund eines nach der Reichsgründung 1871 mit der Berliner Regierung ausgehandelten Zollvertrags entstand das grandiose Ensemble der Speicherstadt, das durch den Zollkanal von der gegenüberliegenden Altstadt abgeschnitten war. Mit der Einrichtung des Freihafens trennten sich Stadt und Hafen: Prägte das an den Fleeten gelegene Hamburger Kaufmannshaus mit seiner Verbindung von Kontor, Speicher und Wohnbereich einst die Innenstadt, so ereignete sich nun eine funktionale Entmischung und räumliche Separierung. Die Hafenbereiche blieben unbetretbar für alle, die nicht dort arbeiteten. Mit der Einführung der Containerschiffe - das erste legte 1968 im Hamburger Hafen an - begann ein neuerlicher und sukzessiver Prozess der Restrukturierung der Hafenareale. Wer vom idyllischen Strand Övelgönne am Altonaer Ufer auf die andere Elbseite blickt, sieht das gigantische Containerterminal Waltershof. Indem sich der Schwerpunkt des Hafens von der Innenstadt weg Richtung Westen verlagerte, ergab sich die Chance, die Hafenareale des 19. Jahrhunderts als «Hafen-City» neu zu nutzen.

Wie das nicht nur während des Hamburger Architektursommers gut besuchte, im einstigen Kesselhaus der Speicherstadt eingerichtete Besucherzentrum zeigt, nimmt die Hamburger Bevölkerung regen Anteil an der Entstehung der «Hafen-City». Zwischen Speicherstadt und Elbe wird das die alten Hafenbecken umgebende Areal von 155 Hektaren in den nächsten Jahren neu bebaut; die Fläche der Innenstadt erweitert sich dadurch um 40 Prozent. Nach jahrzehntelanger Trennung findet die Stadt wieder an den Fluss zurück - und das in einem vom Hauptbahnhof schnell zu Fuss erreichbaren Bereich. Ausgelegt ist die Gesamtplanung für 12 000 Einwohner und 40 000 Arbeitsplätze.

Auf Basis einer 1997 veröffentlichten Vorstudie von Volkwin Marg vom Hamburger Architekturbüro von Gerkan, Marg und Partner wurden seitens der Stadt, in deren beinahe ausschliesslichem Besitz sich die Areale befinden, in der Folgezeit wichtige Grundsatzentscheidungen getroffen. Diese betrafen den Nutzungsmix, aber auch die Art des Hochwasserschutzes. Um eine «Einpolderung» durch Hochwassermauern zu vermeiden, gilt ein «Warftenmodell»: Sämtliche Neubauten werden auf hohen Sockeln errichtet, die auch als Evakuierungswege dienenden Haupterschliessungsachsen liegen auf einem relativ hohen Niveau.

Der von der ortsansässigen Planungsgemeinschaft «hamburgplan» gemeinsam mit dem Büro Kees Christiaanse / ASTOC 1999 erarbeitete Masterplan stellt eine plausible Planungsgrundlage dar: Die Teilung der Gesamtfläche beugt der Monotonie vor, schafft eine Abfolge von zwölf Quartieren unterschiedlicher Nutzung und Atmosphäre und ermöglicht überdies eine etappenweise Realisierung. Die Bebauung erfolgt dabei von Westen nach Osten; sie begann mit dem inzwischen fertig gestellten, das Nordufer des Sandtorhafens begleitenden Quartier Sandtorkai unmittelbar südlich der Kehrwiederspitze der Speicherstadt - und wird gegen 2025 mit dem für Hochhäuser vorgesehenen Quartier Elbbrückenzentrum an den Norderelbbrücken ihren Abschluss finden.

Den Schwerpunkt öffentlicher Nutzungen soll der Bereich um den nordsüdlich ausgerichteten Magdeburger Hafen bilden, doch inzwischen ist zumindest von zwei Polen zu sprechen. Denn nachgerade hineingeschmuggelt in den Gesamtplan wurde die einer Privatinitiative erwachsene Idee der Elbphilharmonie am westlichen Ende des Planungsareals. Das visionäre Konzept der Basler Architekten Herzog & de Meuron, den denkmalwürdigen Ziegelsteinkoloss des Kaispeichers A mit einer zeltartigen Konzertsaalkonstruktion zu überbauen, hat nicht nur die lange Zeit mit Kleinmütigkeit der verantwortlichen Politiker konfrontierte Kulturszene begeistert, sondern auch den Segen der Bürgerschaft erhalten. Kein Zweifel, das neue Wahrzeichen beflügelt auch die Planung der übrigen Gebiete und setzt in qualitativer Hinsicht neue Massstäbe.

Stars und Lokalmatadoren

Acht sieben- bis achtgeschossige Bürogebäude, die über den Uferweg am Sandtorkai auskragen und als Solitäre den Blick auf die Speicherstadt frei lassen, sind neben den Platzgestaltungen von Benedetta Tagliabue die ersten realisierten Vorboten der «Hafen-City». Mit Architekten wie Spengler Wiescholek, Böge-Lindner, Jan Störmer und Bothe Richter Teherani sind die wichtigsten Platzhirsche vertreten; die Haltung oszilliert zwischen sauberer Solidität und verhalten-experimentellem Gestus. Gegenüber, auf der Südseite des Sandtorhafens, hat die Bebauung mit einem winkelförmigen Volumen von David Chipperfield begonnen. Eines der interessantesten Projekte entsteht in unmittelbarer Nachbarschaft, am Dalmannkai. Für Luxuswohnungen von Philippe Starck werben inmitten von Kränen Bauschilder mit den Buchstaben «yoo», die für ein Joint Venture des Kölner Immobilienunternehmens Vivacon mit dem französischen Stardesigner stehen. Dabei erstellt und verkauft Vivacon die Immobilien, und im Verkaufsbüro können Kaufinteressenten aus einer Palette von Einrichtungsgegenständen wählen, die der Meister entworfen oder ausgesucht hat. Als grobe Orientierung dienen vier vorgegebene Einrichtungslinien. Glaubt man den Broschüren, mit denen das Konzept vermarktet wird, ist der Wertzuwachs der Wohnungen vorprogrammiert.

Wendet man sich von Chipperfields Bürogebäude in die andere Richtung, so gelangt man zum «Cruise Center», das derzeit inmitten einer Mondlandschaft aus Grossparkplätzen und Abbruchbrachen liegt. Dass Kreuzfahrtschiffe wie die «Queen Mary II» auch zukünftig hier festmachen werden, ist eine strategisch geschickte Entscheidung. Einerseits garantieren die weissen Riesen jene maritime Atmosphäre, welche die «Hafen-City» nach dem Ende des Hafenbetriebs in diesem Bereich benötigt, andererseits hat das Überseequartier damit tatsächlich die Chance, die Landungsbrücken als historisches Tor zur Welt abzulösen. So war der Ende des vergangenen Jahres entschiedene Investoren- und Architekturwettbewerb für eben diesen Teil der «Hafen-City» wohl der wichtigste insgesamt.

Verkauft wird der westliche, Überseequartier genannte Teil des Magdeburger Hafens an ein Bieterkonsortium um die Bank ING. Rem Koolhaas hat die markantesten Bauten entworfen, das Kreuzfahrtterminal und ein «Der 6. Kontinent» tituliertes Volumen, das ein Grossaquarium und ein «Science Center» umfassen soll. Wie zwei gigantische Nussschalen, die eine schiffartig ruhend, die andere in die Höhe gerichtet, rahmen die beiden Solitäre eine dekonstruktiv-verzerrte Bebauungsstruktur, für welche NPS Tchoban Voss, BDP und Erick van Egeraat die Entwürfe geliefert haben. Von van Egeraat stammt auch der Entwurf von «De Waterkant», dem markanten Zweierensemble, das den elbseitigen Auftakt des Überseequartiers bildet. Natürlich handelt es sich zunächst um Vorstudien. Was an der «Hafen- City» indes überzeugt, ist der Versuch, einer Monofunktionalität der Stadt entgegenzuwirken. In Zivilisationen, die keine Schiffe besässen, versiegten die Träume, behauptete Michel Foucault. Darum muss sich Hamburg nicht sorgen. Es muss einzig die Träume lebendig halten.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.07.07

24. Juni 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Meisterwerke unter dem Messer

Nicht zuletzt dank seiner Vielseitigkeit war Frank Lloyd Wright der bedeutendste Architekt des 20. Jahrhunderts in den USA. Von seiner heutigen Wertschätzung zeugen derzeit Restaurierungsprojekte in Buffalo, Minneapolis und Mason City. Diese stellen aber auch widersprüchliche Beispiele für den Umgang mit Baudenkmälern der Moderne dar.

Nicht zuletzt dank seiner Vielseitigkeit war Frank Lloyd Wright der bedeutendste Architekt des 20. Jahrhunderts in den USA. Von seiner heutigen Wertschätzung zeugen derzeit Restaurierungsprojekte in Buffalo, Minneapolis und Mason City. Diese stellen aber auch widersprüchliche Beispiele für den Umgang mit Baudenkmälern der Moderne dar.

Die Berufskarriere von Frank Lloyd Wright begann 1887 und endete 1959. In dieser Zeitspanne konnte er mehr als 430 Bauten realisieren. Gewiss, es sind formale Reprisen darunter. Doch die unbändige Schaffenskraft und Vielseitigkeit des auch als Designer und Urbanist tätigen Architekten nötigt Respekt, ja Bewunderung ab. Bauten wie das Robie House (1910) in Chicago, das Haus Fallingwater (1937) in Mill Run oder das Guggenheim-Museum (1959) in New York zählen zu den grossen architektonischen Meisterwerken des 20. Jahrhunderts, und Wrights Atelier- und Wohnhaus im Villenvorort Oak Park bei Chicago fungiert nachgerade als Pilgerstätte. Leider ist aber auch der Verlust einiger aussergewöhnlicher Bauten zu beklagen; noch 1968 fiel das Imperial Hotel in Tokio, Wrights bedeutendster im Ausland realisierter Bau, dem Abriss zum Opfer. Doch vielerorts in den USA werden inzwischen Anstrengungen unternommen, gefährdete Bauten zu restaurieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das breite Interesse macht derlei Vorhaben auch ökonomisch interessant.

VERLUSTE UND NEUBAUTEN

Als Anfang Januar 2006 das Wilburt Wynant House in Gary, Indiana, niederbrannte, entschloss sich der Eigentümer unverzüglich, das Gebäude wiederaufzubauen. Dabei handelt es sich um eine Totalrekonstruktion, denn das 1916 errichtete Wohnhaus ist eines jener präfabrizierten, aus Holz bestehenden «American System- Built Houses», die der Architekt zwischen 1911 und 1917 für die Richards Company in Milwaukee entwarf. Ziel der Kooperation war es, vergleichsweise preisgünstige, aber räumlich dennoch variable Systembauten für die Mittelschicht anzubieten; viele der Häuser sind erst jüngst als Wright-Entwürfe wieder entdeckt worden.

Ganz anders in Buffalo: Für den dort ansässigen Seifenkonzern Larkin erhielt Frank Lloyd Wright im Jahr 1902 den Auftrag, ein Verwaltungsgebäude zu errichten. Der neue Sitz der Versandabteilung mit seinen offenen Bürozonen, die sich um einen von Pfeilern rhythmisierten Lichthof gruppierten, zählte zu den Inkunabeln der Architektur des 20. Jahrhunderts. Nach dem Konkurs der Firma wurde das Gebäude 1949 durch die Stadt zum Abriss freigegeben. Bis heute ist der Ort des Gebäudes nicht neu bebaut worden. - Besser erging es dem Haus, das der Verwaltungsleiter von Larkin, Darwin D. Martin, für sich im Villenviertel Parkside errichten liess - einem Quartier, dessen städtebauliches Layout auf einen Entwurf von Frederick Olmsted, dem Schöpfer des New Yorker Central Park, zurückgeht. Eigentlich handelt es sich bei der Residenz von Martin nicht um ein Einzelhaus, sondern um ein Konglomerat verschiedener Bauteile. 1903 entstand für Martins Schwester und Schwager das George-Barton-Haus im Nordosten des ausgedehnten Grundstücks, ein typisches Prairie- House in Kreuzform, mit dem Wright um 1900 ein der amerikanischen Landschaft angepasstes Wohnmodell erfunden hatte: Der Eingang liegt im Süden, das Speisezimmer im Westen, der Wohnbereich im Osten, die Küche im Norden, die Schlafzimmer im Geschoss darüber.

Das Haus für Martin selbst, das etwas später im Südwesten des Grundstücks errichtet wurde, folgt - um 90 Grad gedreht - dem gleichen Organisationsprinzip. Allerdings sind die Dimensionen deutlich grösser und die Haupträume von einer Reihe weiterer Zimmer umgeben. Nach Norden liess der Bauherr eine lange Pergola anfügen, die auf der Höhe des Barton House in einer Blumenhalle endete. Daneben plante Wright eine Garage mit Stall und ein Gewächshaus. Ein orthogonaler Raster liegt der Gesamtanlage, zu der auch der Gartenbereich zählt, zugrunde. Es handelte sich um das grösste Präriehaus-Projekt, das der Architekt je realisierte; vom Luxus der Ausstattung, die erst 1907 fertig gestellt war, zeugt nicht zuletzt die Vielzahl dekorativer Glasfenster. Nach einigen Jahren der Verwahrlosung erwarb 1955 ein neuer Eigentümer das Anwesen.

Zwölf Jahre später gelangte es in den Besitz der University of Buffalo, State University of New York. Allerdings waren schon 1960 die Pergola, die Garage und die Gewächshäuser abgerissen worden, um Platz zu schaffen für drei Apartmentbauten. 1992 gründete sich die Martin House Restoration Corporation mit dem Ziel, das Ensemble wieder in den Ursprungszustand zurückzubauen. Das Fundraising war erfolgreich, die benötigten 23 Millionen Dollar für die Restaurierung der bestehenden beiden Häuser, den Neubau der abgerissenen Bauteile sowie ein neues Visitors' Center (nach dem Entwurf des in Harvard lehrenden Toshiko Mori) liegen vor. Im Herbst 2004 konnten die Bauarbeiten im Gartenbereich mit der Niederlegung der Apartmentbauten beginnen. Inzwischen ist die Pergola weitgehend wiederhergestellt, die Fundamente für Garage und Gewächshäuser sind gegossen. Rechtzeitig zum Hundertjahrjubiläum des Darwin D. Martin House im kommenden Jahr soll das Ensemble in neuer Pracht glänzen. Unfreiwillig verräterisch spricht die Restoration Corporation vom «latest Wright», der jährlich 100 000 Besucher anziehe und 20 Millionen Dollar in die regionale Ökonomie fliessen lasse.

PROBLEMATISCHE REKONSTRUKTIONEN

Mag der frühere Ensemble-Charakter das Rekonstruktionsvorhaben auf dem Martin-Grundstück noch legitimieren, so fällt man mit der Realisierung von drei Entwürfen für Buffalo, die der Meister zu seinen Lebzeiten nicht ausführte, hinter die internationalen Standards im Umgang mit einem abgeschlossenen Œuvre zurück. Den Anfang machte 2004 das Blue-Sky-Mausoleum, eine aus einem aufragenden Block und zwölf sich abtreppenden Stufenpaaren bestehende Memorialarchitektur. Zwischen 1925 und 1928 zeichnete Frank Lloyd Wright das Mausoleum als Familiengrabstätte für die Martins; der jetzt nach diesen Plänen an der vorgesehenen Stelle auf dem parkartigen Forest Lawn Cemetery realisierte Bau in weissem Granit wird durch den Verkauf von 24 Gruften finanziert. Diese böten, so die Frank Lloyd Wright Foundation, «the only opportunities in the world where one can choose memorialization in a Frank Lloyd Wright structure». Als Souvenir für zu Hause erhalten die Käufer eine Stele aus Steuben-Kristall, deren oberer Abschluss Treppenanlage und Monument des Blue- Sky-Mausoleums nachbildet.

Nun hat sich ausserdem der ebenfalls in Buffalo ansässige Westside Rowing Club, der bedeutendste Ruderklub des Landes, entschlossen, den viel publizierten Entwurf für ein Rowing Boathouse aus dem Jahr 1905 zu bauen. Dem Projekt wurde unlängst seitens des Staates New York eine Million Dollar zugesprochen - wie auch der Errichtung der ebenfalls von Wright konzipierten Tydol Filling Station auf dem Gelände des Buffalo Transportation Museum. Wie das Darwin D. Martin House sollen auch Ruderklub und Tankstelle im nächsten Jahr fertig gestellt sein.

ERFOLGE IN MASON CITY

Wright reiste 1908 nach Mason City im ländlichen Iowa, das auf halber Strecke zwischen Minneapolis und Des Moines gelegen ist. J. E. E. Markley, Verwaltungsratsmitglied der lokalen City National Bank, hatte Kontakt mit ihm aufgenommen - seine Töchter besuchten die von Tanten des Architekten geführte Hillside Home School in Spring Green, Wisconsin, Wrights später mehrfach erweitertes Erstlingswerk von 1887. Die Bauarbeiten für das neue Bankgebäude und das anschliessende «Park Inn»-Hotel begannen 1909. Da Wright in jenem Jahr mit seiner neuen Lebensgefährtin Hals über Kopf nach Europa aufbrach, wo er seine erste umfassende Publikation für den Berliner Verlag Ernst Wasmuth vorbereitete, wurden die Gebäude unter der Leitung von William Drummond fertig gestellt, einem Mitarbeiter aus dem Oak Park Studio.

Der neue Stil war so erfolgreich, dass Drummond gleich den Auftrag für ein weiteres Gebäude erhielt und zwei weitere frühere Schüler von Wright, Walter Burley Griffin und Francis Barry Byrne, von einem Developer der Abwesenheit des Meisters wegen mit einer ganzen Siedlung von Häusern im Prairie-Style beauftragt wurden. Die in parkartigem Ambiente eines kleinen Flusstals realisierten Bauten sind eine touristische Attraktion in Mason City; in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich das vor einigen Jahren um einige hundert Meter versetzte und heute als Museum geführte Stockman House, das Wright 1908 für einen Nachbarn von Markley errichtet hatte. Grundlage dieses Präriehauses war der vielbeachtete, 1907 im «Ladies Home Journal» veröffentlichte Entwurf eines «Fireproof House of $ 5000» - hier allerdings nicht in Beton, sondern als typisch amerikanische Balloon- Frame-Konstruktion in Holz ausgeführt.

Während das Bankgebäude schon 1926 in ein Ladenlokal umgewandelt wurde, schloss das Hotel erst 1972 seine Pforten. Obwohl seit dieser Zeit unter Denkmalschutz stehend, verfiel das relativ gut erhaltene Gebäude, so dass es 1999 als eines der zehn gefährdetsten Baudenkmäler in Iowa eingestuft wurde. Doch inzwischen hat sich die Situation zum Positiven gewendet: Im Februar 2000 erwarb die Stadt das Haus, und im vergangenen Jahr begannen unter Leitung der gemeinnützigen Organisation «Wright on the Park» die Restaurierungsarbeiten. 2010 soll das Gebäude, dessen Ausstattungsdetails sich in Teilen erhalten haben, als Hotel mit 42 Zimmern wieder zum Leben erweckt werden - Restaurant und Souvenirshop im Erdgeschoss inklusive. Besondere Bedeutung besitzt das «Park Inn», weil es als symmetrischer Ziegelsteinbau mit expressiver Körpergliederung den Vorläufer zweier zerstörter Meisterwerke Wrights darstellt: der Midway Gardens in Chicago (1913) sowie des Imperial Hotel in Tokio (1914-1922). Die Wiederherstellung des Bankgebäudes ist ebenfalls geplant.

EIN SCHLÜSSELWERK IN MINNEAPOLIS

In den dreissiger Jahren wandte sich Frank Lloyd Wright vom Konzept der Prairie-Houses ab und entwickelte einen neuen Typ, der unter dem Namen «Usonian House» bekannt wurde. Typisch für diese Gebäude sind das reduzierte Raumprogramm und die freiere, fliessende Grundrissanordnung: Wohn- und Essbereich sowie Küche bilden ein Kontinuum. Das Malcolm Willey House in Minneapolis von 1933 ist nicht zuletzt deshalb ein wichtiges Werk, weil es den Übergang zum Usonian House markiert: Die Räume sind entlang einer Backsteinmauer aufgereiht und öffnen sich Richtung Süden mit Terrassen zum Garten. Der topographische Kontext des einstmals in idyllischer Lage am westlichen Steilufer des Mississippi in unmittelbarer Nachbarschaft zur Schwesterstadt St. Paul gelegenen Hauses wurde durch den in den sechziger Jahren angelegten Interstate Highway 94 empfindlich gestört. In den neunziger Jahren stand das Gebäude leer und verkam zusehends. Steve und Lynette Sikora, die neuen Eigentümer, begannen im Jahr 2002 als Privatleute eine vorbildliche, denkmalgerechte Sanierung, deren Fortschritte sie mit mehreren ausführlichen Reports pro Jahr im Internet dokumentieren. Neuerdings ist es nach Voranmeldung auch hier möglich, das inzwischen zu grossen Teilen wiederhergestellte Meisterwerk des Architekten zu besichtigen.

Der Umgang mit dem Œuvre des grossen Amerikaners zeigt paradigmatisch, dass sich für die Auseinandersetzung mit Meisterwerken der modernen Architektur dieselben Fragen stellen, wie sie im denkmalpflegerischen Diskurs schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert werden. Spuren späterer Nutzungen gelten als historische Zeugnisse; ob sie jedoch wirklich erhaltenswert sind, hängt vom Grad ihrer Aussagekraft ab. Belanglose Veränderungen in jedem Falle zu bewahren, wäre genauso dogmatisch wie der Rückbau auf einen vermeintlichen Originalzustand. Andererseits kann der Wunsch, eine bedeutende, aber verlorene räumliche Struktur physisch erlebbar werden zu lassen, in Einzelfällen durchaus legitim sein. Beispiele hierfür sind der Nachbau des Barcelona-Pavillons von Mies van der Rohe in Barcelona und der in Barcelona neu erstandene Pavillon de l'Esprit Nouveau, den Le Corbusier 1925 für die Exposition des Arts Décoratifs in Paris errichtet hatte. Wenn jedoch niemals realisierte Entwürfe postum gebaut werden, wie dies jetzt in Buffalo geschieht, ist die Grenze des Vertretbaren deutlich überschritten.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.06.24

21. Juni 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Besser wohnen - schöner leben

Der französische Konstrukteur, Designer und Architekt Jean Prouvé (1901-1984) stösst seit einiger Zeit auf verstärktes Interesse. In Frankfurt ist jetzt eine grossartige Retrospektive seines Werks zu sehen, die anschliessend im Vitra Design Museum in Weil am Rhein gezeigt wird.

Der französische Konstrukteur, Designer und Architekt Jean Prouvé (1901-1984) stösst seit einiger Zeit auf verstärktes Interesse. In Frankfurt ist jetzt eine grossartige Retrospektive seines Werks zu sehen, die anschliessend im Vitra Design Museum in Weil am Rhein gezeigt wird.

Ihren Sieg im Wettbewerb für das Centre Pompidou in Paris hatten Renzo Piano und Richard Rogers 1971 massgeblich einem Mann zu verdanken: Jean Prouvé. Der 70-jährige Jurypräsident verhalf den beiden Architekten zum Durchbruch. In der Folge erlangten Piano und Rogers mehr Aufmerksamkeit, als sie ihrem Mentor je zuteil wurde: Obwohl Jean Prouvé (1901-1984) als der bedeutendste französische Konstrukteur des 20. Jahrhunderts gelten kann, war er zu Lebzeiten fast nur der Fachwelt ein Begriff. Er selbst verstand sich nicht als Architekt oder Ingenieur, sondern wählte «homme d'usine» als adäquate Berufsbezeichnung. Der gelernte Kunstschmied blieb hinsichtlich seines Verhältnisses zur Technik bei allen Neuerungen, die sich mit seinem Namen verbinden sollten, handwerklich geprägt. Als Mart Stam, Marcel Breuer oder Mies van der Rohe in den zwanziger Jahren mit ihren Freischwingern die physische Präsenz des Stuhls zu eliminieren suchten, realisierte Prouvé Mobiliar, welches die Prinzipien von Tragen und Last ebenso anschaulich werden liess wie den technischen Herstellungsprozess. Und während sich manche Ingenieure, beseelt vom Fortschrittsglauben, als Schöpfer utopischer Welten wähnten, befasste er sich mit Fassadenelementen, die einfach aussehen und doch verschiedene Funktionen vereinen.

Fassaden und Möbel

In den vergangenen Jahren ist ein wachsendes Interesse an Prouvé zu verzeichnen. Es hat seinen Niederschlag gefunden in Ausstellungen in Paris anlässlich des 90. (gestaltet von Renzo Piano) und des 100. Geburtstags sowie einer Reihe von Veröffentlichungen, lässt sich aber noch deutlicher belegen anhand der astronomischen Preise, welche Originalarbeiten des Konstrukteurs mittlerweile erzielen. Im Jahr 2000 hat die Firma Vitra die Exklusivrechte an den Entwürfen übernommen und seitdem einige Reeditionen von Möbeln herausgebracht: Stühle, Tische und eine Leuchte. Nun wurde vom Genfer Architekturhistoriker Bruno Reichlin und von seinem Team eine umfangreiche Prouvé-Ausstellung erarbeitet. Erste Station der Schau war die an der Koproduktion beteiligte Design Museum Factory der Keio University in Tokio; nun ist die Retrospektive im Deutschen Architektur-Museum in Frankfurt zu sehen, bevor sie im Herbst ins Vitra Design Museum in Weil am Rhein weiterwandert.

Prouvé, der Sohn eines Protagonisten der Ecole de Nancy, eröffnete 1924 seine Werkstatt und reüssierte zunächst mit Schmiedearbeiten im Stil des Art déco. Über Robert Mallet-Stevens gelangte er in Kontakt mit der Avantgarde des französischen Bauens. Die Maison du Peuple in Clichy (1935-39), entworfen von Marcel Lods und Eugène Beaudouin, gilt als eines der frühen Projekte, an denen er massgeblich beteiligt war: Dach, Wände und Raumaufteilung lassen sich je nach Nutzung verändern; das Gebäude kann als offener Marktplatz, aber auch als geschlossener Veranstaltungssaal dienen. Eine schuppenartige Struktur aus verschiebbaren und aufklappbaren Fenstern und Läden realisierte Prouvé 1953 für Lionel Mirabeaus Haus am Square Mozart in Paris. Er entwickelte die Fassaden für Oscar Niemeyers Sitz der Kommunistischen Partei Frankreichs (1970) und war am Bau der Freien Universität Berlin von Candilis, Josic und Woods (1973) beteiligt. Beratend wirkte er überdies mit an Le Corbusiers Unité d'Habitation in Marseille, wenn sich auch sein Part bei der Ausführung relativ bescheiden ausnahm.

Die Möbel, die seit 1929 entstanden, bestätigen den eigenständigen Rang des Entwerfers Prouvé. Auch in diesem Sektor interessierte ihn nicht so sehr das Ausloten neuer Formen mit Hilfe neuer Werkstoffe, wie es zum Beispiel das Schaffen der Eames charakterisierte, sondern die Suche nach einer Konstruktionsidee, die sich adäquat mit der Maschine herstellen liess. Prouvés Möbel sind Architekturen im Kleinen, bei denen der Fertigungsprozess stets erkennbar bleibt. Die Sprödheit und Rauheit, die manche Arbeiten prägt, setzt sich von einer geschmäcklerischen Verfeinerung ebenso ab wie von der hypertrophen Inszenierung des Technischen. Auch wenn die nach dem Zweiten Weltkrieg industriell etablierten «Ateliers Jean Prouvé» im lothringischen Maxéville der Logik der Maschine entsprachen, blieb Prouvé im Grunde seines Herzens ein Handwerker, der zur Poesie der Technik fand. Es ist aufschlussreich, dass er kein einziges Möbelstück mehr entwarf, nachdem die Kapitalgeber 1953 seine Firma übernommen hatten: Der «homme d'usine» war ohne die unmittelbare praktische Erprobung weder willens noch fähig, neue Entwürfe umzusetzen.

Umfassende Retrospektive

Die Frankfurter Ausstellung, die von einer exzellenten, von Bruno Reichlin und Catherine Dumont d'Ayot betreuten Publikation begleitet wird, gibt einen anschaulichen Überblick über das Lebenswerk des Franzosen; gewürdigt werden anhand zahlreicher Modelle, Zeichnungen, Fotos und Originalexponate sein Schaffen auf den Gebieten von Design und Architektur, aber auch seine Lehrtätigkeit am Pariser Conservatoire des arts et métiers. Ausgehend von seinem Denken in Systemen, in Verfahren, in Analogien, in Synergien und in Kräften, gliedern die Ausstellungsmacher Prouvés technischen Kosmos. Dabei dienen die unterschiedlichen Konstruktionstypen, die Prouvé zum Teil selbst in seinem «Alphabet der Systeme» vorgestellt hatte, als roter Faden der Schau. Bestes Beispiel für die Anwendung der asymmetrischen, auf einem Gelenk aufruhenden und sich in zwei Arme verzweigenden tragenden «Krücken» ist die 1957 vollendete Trinkhalle von Evian am Genfersee.

Zu den in der Schau präsentierten Originalen zählen diverse Fassadenelemente, die Prouvé als Sandwich-Blechpaneele konstruierte, daneben Teile präfabrizierter Häuser, mit denen er sich während des Zweiten Weltkriegs zu beschäftigen begonnen hatte. Sein eigenes Haus in Nancy (1954) stellt die Assemblage von Elementen dar, die zuvor in seiner Firma produziert worden waren. Eine grosse Zahl von Möbeln macht deutlich, wie nahe sich Architektur und Design im Œuvre des Konstrukteurs kamen. Prouvé experimentierte mit verschiedenen Materialien, doch die eigentliche Meisterschaft erzielte er mit abgekantetem, gefalztem und gestanztem Blech. Anders als manche seiner Berufskollegen widmete er sich besonders dem Thema Tisch - «Guéridon», «Granito» oder «Trapèze» zählen zu den Design-Ikonen des 20. Jahrhunderts: desgleichen das aus u-förmigen Metallstützen und Brettern bestehende Regalsystem der Maison de la Tunisie in Paris, an dem Charlotte Perriand und die junge Schweizer Designerin Martha Villiger ebenfalls ihren Anteil hatten. Wie sehr Prouvé die heutige Generation junger Designer inspirieren kann, vermögen nicht zuletzt das modulare Regalsystem der Bouroullec-Brüder und die Metalltische von Konstantin Grcic zu beweisen.

[ Bis 23. Juli im Deutschen Architektur-Museum Frankfurt; vom 23. September bis Ende März 2007 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein. Begleitpublikation: Jean Prouvé. Die Poetik des technischen Objekts. Hrsg. Alexander von Vegesack. Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2006. 392 S., Euro 79.90. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2006.06.21

05. Mai 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kultureller Triangulationspunkt

Ein von Herzog & de Meuron entworfenes Konzerthaus bei Courgenay könnte zu einem kulturellen Kristallisationspunkt im Jura werden. Das Gebäude soll für das «Festival du Jura» genutzt werden, ist aber auch eine Hommage an den verstorbenen Künstler Rémy Zaugg.

Ein von Herzog & de Meuron entworfenes Konzerthaus bei Courgenay könnte zu einem kulturellen Kristallisationspunkt im Jura werden. Das Gebäude soll für das «Festival du Jura» genutzt werden, ist aber auch eine Hommage an den verstorbenen Künstler Rémy Zaugg.

Kurz nach der Gründung des jüngsten Schweizer Kantons etablierte der Dirigent Georges Zaugg 1977 das «Festival du Jura». Nach anfänglichen finanziellen Schwierigkeiten hat sich das Festival der klassischen Musik konsolidiert und findet nun im Turnus von zwei Jahren statt. Dem Renommee, das sich die Veranstaltungen erworben haben, stehen allerdings die problematischen räumlichen Bedingungen entgegen, mit denen sich die Organisatoren seit Beginn konfrontiert sehen. Genutzt werden Säle und Kirchen in verschiedenen Orten, doch keiner der Räume gilt in akustischer Hinsicht als zufriedenstellend. Überdies fehlt es an der Infrastruktur, die ein Musikfestival heute benötigt - ob Künstlergarderoben, Lagerräume oder Gastronomie.

Hommage an Rémy Zaugg

Gemäss den Vorstellungen - oder Visionen - der Festivalmacher könnte sich diese Situation in naher Zukunft ändern. Seit geraumer Zeit verfolgt Georges Zaugg, bis heute der künstlerische Leiter des Festivals, die Idee eines eigenen Konzerthauses. Gemeinsam mit seinem Bruder, dem im vergangenen August verstorbenen Künstler Rémy Zaugg, begab er sich auf die Suche nach einem möglichen Standort. Fündig wurde man südöstlich von Courgenay, dem Geburtsort der beiden Brüder. Der avisierte Bauplatz liegt im Weideland oberhalb der Ortschaft. Nach Süden hin bilden die bewaldeten Jurahöhen, die steil zum Doubs abfallen, die landschaftliche Kulisse; nach Norden schweift der Blick über die nur leicht wellige Ebene bis hinein nach Frankreich.

Durch die Vermittlung von Rémy Zaugg wurden Herzog & de Meuron mit dem Entwurf des Auditorium du Jura betraut. Die Basler Architekten haben immer wieder mit Künstlern zusammengearbeitet, doch mit keinem gab es eine so intensive Kooperation wie mit Rémy Zaugg, dessen Vortrag «Le Musée des Beaux-Arts auquel je rêve» von 1986 zur wichtigsten Inspirationsquelle für die reduktionistische Museumsarchitektur der neunziger Jahre avancierte. Die gemeinschaftliche Tätigkeit von Architekten und Künstler begann 1989, zunächst mit einem Masterplan für die Universität Dijon. Danach war Zaugg an der urbanistischen Studie «Basel, eine Stadt im Werden» beteiligt und gestaltete die Herzog-&-de- Meuron-Ausstellung 1995 im Centre Pompidou. Für das Roche-Laborgebäude in Basel entwickelte er eine Wandgestaltung, ausserdem war er an dem Münchener Projekt der «Fünf Höfe» beteiligt und liess sich sein eigenes Atelier in Mülhausen von den Baslern errichten.

Die Frage nach der Phänomenologie der Wahrnehmung war es, die Herzog & de Meuron mit Rémy Zaugg verband, und so ist das neue Auditorium nicht zuletzt auch eine Hommage an den früh verstorbenen Künstlerfreund. Von Zaugg selbst stammt die Skizze eines virtuellen, die schweizerisch-französische Grenze übergreifenden Dreiecks von Kunstorten: Ronchamp mit der Kapelle von Le Corbusier, Ornans, der Geburtsort von Courbet, und schliesslich Courgenay mit dem zukünftigen Auditorium du Jura. Der Gedanke des Dreiecks prägt nun auch den Entwurf von Herzog & de Meuron: Von Wald hinterfangen, scheint die dreiseitige Pyramide des Auditoriums am Hang oberhalb von Courtemautruy zu schweben. Angesichts der Silhouette kann man an einen kulturellen Triangulationspunkt denken, aber entfernt mag der Solitär im Weideland auch an eine grosse Scheune erinnern.

Komplexe Schichtung

Tritt man näher an das Bauwerk heran, so zeigt sich, dass die Form längst nicht so einfach ist, wie sie sich aus der Ferne darstellt. Das Innere besteht aus drei Teilen: einem schüsselartig in den Erdboden eingetieften Bereich für Orchester und Zuschauerparkett, einer ringsum verglasten Erdgeschosszone und einer grandiosen, sich darüberwölbenden Kuppel. Jacques Herzog verweist im Gespräch auf die hybride Schichtung dreier Typologien, nämlich des antiken Theaters, einer entmaterialisierten Stahl-Glas-Struktur à la Mies van der Rohe und einer expressionistisch-barocken Kuppel, wie sie Hans Poelzig mit der Tropfsteinhöhle des Grossen Schauspielhauses realisierte.

Konnten Herzog & de Meuron bei der amphitheatralischen Anordnung des Sockelbereichs auf Erfahrungen zurückgreifen, die sie bei der Planung der Elbphilharmonie in Hamburg gewonnen haben, so stellt die wie die Hohlform eines Tannzapfens in die dreiseitige Pyramide eingeschriebene und sich aus den Flächen herauswölbende, mit Holz ausgekleidete Kuppel eine Neuerung dar. Der Akustik wegen ist die Kuppel aus ondulierend verschliffenen Sechsecken aufgebaut, die gegeneinander versetzt sind, sich zunächst erweitern, dann nach oben hin verjüngen. In den konvex geführten Bereichen sind ringsum in fünf Ebenen übereinander kleine Zuschauertribünen eingelassen, so dass neben den 350 Besuchern auf Orchesterniveau weitere 350 Personen an den Aufführungen teilnehmen können. Kuppel-Innenraum und Parkett sind mit Holz ausgekleidet, nach dem derzeitigen Entwurfsstand könnte das Äussere, das ja eigentlich nur Dach ist, mit Schindeln gedeckt werden. Die Ecken der Pyramide sind als Foyers und Ausstellungsräume für Arbeiten von Rémy Zaugg konzipiert.

In dem eben erst der Öffentlichkeit vorgestellten Projekt des Auditorium du Jura ist es Herzog & de Meuron gelungen, Einfachheit und Komplexität zu verschmelzen. Aufgrund der verglasten Erdgeschosszone fliesst die Landschaft durch das Volumen hindurch; von einem Freiluftauditorium abgesehen, wird auf weitere bauliche Massnahmen in der Umgebung verzichtet. Zusatzräume, beispielsweise für das Catering, sind im Sockel versteckt, und die Parkplätze werden als Rasenflächen belassen.

Wie die letzte Architekturbiennale in Venedig aufgezeigt hat, zählen Konzertsäle derzeit zu den stark favorisierten Bauaufgaben, wenn es um das Branding von Städten und Regionen geht, und die nachhaltige Begeisterung, welche die von Herzog & de Meuron entworfene Elbphilharmonie in Hamburg ausgelöst hat, ist der beste praktische Beweis dafür. Ohne Zweifel besitzt das Auditorium bei Courgenay als erster neu errichteter öffentlicher Kulturbau seit Gründung des Kantons das Potenzial, die Identität der Region zu stärken. Es wäre das Signal eines kulturellen Aufbruchs in einer nicht eben finanzkräftigen Region. Dass Festspielhäuser nicht permanent genutzt werden müssen, zeigen Beispiele wie Bayreuth oder Glyndebourne. Finden sich bald die erhofften Geldgeber, könnte das Gebäude vielleicht schon in drei Jahren über der Juralandschaft schweben.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.05.05

21. April 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Neue Kathedralen der Kunst

Eine Ausstellung über Museumsarchitektur in Düsseldorf

Eine Ausstellung über Museumsarchitektur in Düsseldorf

Seit Jahrzehnten zählen Museen zu den prestigeträchtigsten Bauaufgaben überhaupt. Im Zeitalter des City-Branding haben politische Entscheidungsträger das Potenzial spektakulärer Kulturbauten entdeckt, und Sponsorengelder lassen sich leichter eintreiben, wenn der Name eines Stararchitekten auf den Plänen steht. So entstehen denn, auch wenn die öffentlichen Ausgaben für Kultur nicht wachsen, weiterhin allerorten neue Ausstellungsbauten - vom Kunstmuseum bis zum Science-Center.

Fragwürdige Auswahl

Von diesem Phänomen zeugt die Ausstellung «Museen im 21. Jahrhundert», die einen Überblick über derzeitige Museumsprojekte in aller Welt geben soll und zunächst in der Kunstsammlung K20 in Düsseldorf zu sehen ist, bevor sie auf Welttournee geschickt wird. Konzipiert und organisiert wurde die Schau vom privat betriebenen Art Centre Basel von Suzanne und Thierry Greub, das vor sechs Jahren bereits die Wanderausstellung «Museen für ein neues Jahrtausend» lanciert hatte. Am Konzept einer Überblicksschau Kritik zu üben, ist vergleichsweise leicht, weil wohl jeder zu einer anderen Auswahl käme. Doch die in Düsseldorf gezeigte Zusammenstellung ist schlicht unbefriedigend. Gewiss, es gibt Trouvaillen wie das sensibel in die Landschaft eingefügte Stonehenge-Besucherzentrum der Australier Denton Corker Marshall oder das kurz vor der Eröffnung stehende Aomori-Kunstmuseum von Jun Aoki. Auch findet man massstabsetzende Projekte der jüngsten Zeit wie das Eyebeam Institute in New York von Diller & Scofidio, das Museum Varusschlacht in Kalkriese von Gigon & Guyer oder das neue Akropolis-Museum in Athen von Bernard Tschumi.

Aber wer einen Querschnitt durch die zeitgenössische Museumsarchitektur anbietet und kein einziges Gebäude von Herzog & de Meuron ausstellt, macht sich schlicht lächerlich. Auch Rem Koolhaas, Peter Eisenman und Sanaa fehlen, während mediokre Bauten wie die Pinakothek der Moderne in München von Stephan Braunfels oder belanglose Projekte wie die Corcoran Gallery of Art in Washington von Frank Gehry berücksichtigt wurden. Mag sein, dass Eitelkeiten von Architekten für die eine oder andere Lücke verantwortlich sind. Doch in diesem Falle wären die Veranstalter besser beraten gewesen, auf die Schau zu verzichten - oder sie anders zu konzipieren. Denn selbstverständlich sind in Düsseldorf nur Pläne, Fotos und Modelle zu sehen, die von den Architekten zur Verfügung gestellt wurden. Eine kritische Reflexion ist nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Warum renommierte Museen - ausgewiesen im informativen Katalog sind elf Stationen - sich eine derart misslungene Schau ins Haus holen, bleibt unerklärlich. Outsourcing ist offenkundig ein Gebot der Stunde, doch sollten die öffentlichen Institutionen dabei die Qualität einfordern, die auch für Eigenproduktionen gilt.

In eigener Sache

Ergänzt wird die Düsseldorfer Ausstellung durch die Präsentation der Entwürfe für die Erweiterung des eigenen Hauses. Der vor zwanzig Jahren am Grabbeplatz in Düsseldorf nach den Plänen der Kopenhagener Architekten Dissing & Weitling realisierte Museumsbau der Kunstsammlung K20 soll in den kommenden Jahren durch das gleiche Team erweitert werden - um einen rückwärtigen Anbau, dessen Fassadenverkleidung aus schwarzem Bornholmer Granit die Ästhetik des bestehenden Gebäudes aufgreift.

[ Bis 25. Juni, anschliessend in Rom, Linz, Lyon, Rovereto, Berlin usw. Katalog: Museen im 21. Jahrhundert. Ideen, Projekte, Bauten. Hrsg. Suzanne und Thierry Greub. Prestel-Verlag, München 2006. 215 S., Fr. 85.50 (Euro 28.- in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.04.21

18. April 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Von der Theorie zur Architektur

Leon Battista Alberti (1404-1472) war Kurienbeamter und Literat, Wissenschafter, Forscher und Archi- tekt. Eine Ausstellung widmet sich nun seiner Beziehung zu Florenz.

Leon Battista Alberti (1404-1472) war Kurienbeamter und Literat, Wissenschafter, Forscher und Archi- tekt. Eine Ausstellung widmet sich nun seiner Beziehung zu Florenz.

Es war Leon Battista Alberti, der als Erster das Renaissance-Ideal des «uomo universale» verkörperte. 1404 als unehelicher Sohn eines wohlhabenden Florentiner Kaufmanns in Genua geboren, studierte er in Venedig, Padua und Bologna, lebte anschliessend in Florenz und trat 1432 in den Dienst der päpstlichen Kurie. Jahre in Rom wechselten mit Aufenthalten in anderen Städten Italiens - Florenz vor allem, aber auch Rimini und später Mantua. Nachdem Alberti 1435 einen Traktat über Malerei verfasst hatte, widmete er sich in Rom dem Antikenstudium und zählte wie auch Andrea Mantegna, Fra Angelico oder Filarete zum Humanistenzirkel um Papst Nikolaus V. In Florenz war er mit Brunelleschi befreundet.

Alberti als Forschungsgegenstand

Seit Mitte des Jahrhunderts begann Alberti mit architektonischen Entwürfen, die in Florenz, Rimini und Mantua realisiert wurden. Auch wenn er sich vielen anderen Bereichen der Kunst, Wissenschaft und Literatur widmete, so entfaltete er doch die grösste Wirkung mit seiner Abhandlung über die Baukunst, dem 1485 postum herausgegebenen Architekturtraktat «De re aedificatoria». Obwohl ein Standardwerk der Architekturtheorie, hat Albertis Schrift gegenüber späteren Texten vergleichsweise wenig Niederschlag gefunden - wohl nicht zuletzt deshalb, weil ihr keine Illustrationen beigegeben waren.

Die Forschung über Alberti hat sich im Vorfeld von dessen 600. Geburtstag intensiviert. Zwischen 2002 und 2004 wurden in Mantua, Genua, Arezzo und Florenz insgesamt sechs Fachtagungen abgehalten; ihnen folgten im vergangenen Jahr zwei Ausstellungen. Diejenige in den Kapitolinischen Museen in Rom widmete sich Alberti und der Antikenrezeption im Rom des Quattrocento, diejenige in der Biblioteca Laurenziana von Florenz dem Thema Literatur und Humanismus. Eine grosse Schau im Florentiner Palazzo Strozzi trägt nun den Titel «Leon Battista Alberti e le arti a Firenze». Mit ihr finden die Alberti-Feiern ihren Abschluss. Das Problem, mit dem die Alberti-Forschung zu kämpfen hat, wird auch zu einem Problem bei der publikumswirksamen Vermittlung: Trotz einem umfangreichen literarischen Œuvre ist die Quellenlage hinsichtlich seiner sonstigen Tätigkeiten eher dürftig. Zwar definierte Alberti die Architektur, die höchste aller menschlichen Betätigungen, als Verbindung von «ratio» und «ars», von «ragione» und «bellezza» und damit als die ideale Verbindung von Theorie und Praxis. Realisieren indes liess er seine Bauten von anderen, und über die Autorschaft am Palazzo Rucellai in Florenz sind wir nur durch Vasaris Künstlerviten unterrichtet; ausgeführt wurde der Bau von Bernardo Rosselino.

Die Ausstellungsmacher müssen sich zwangsläufig mit der Skizzierung eines kulturhistorischen Panoramas begnügen, in dem Alberti bald mehr, bald weniger deutlich Konturen gewinnt. Die Schau gliedert sich in sieben Teile. Der erste ist der Familiengeschichte gewidmet, der zweite thematisiert das Florentiner Konzil von 1439, bei dem Vertreter der West- und der Ostkirche zusammenkamen. Nicht das verfehlte Ziel einer Wiedervereinigung der christlichen Kirche macht die Konferenz aus heutiger Sicht interessant, sondern ein Nebenprodukt des Gipfeltreffens: die neue Wertschätzung von Zeugnissen der altgriechischen Klassik.

Das eigentliche Zentrum der Schau bildet der dritte, um die Rucellai und die Medici kreisende Teil. Neben Sigismondo Malatesta aus Rimini, der Alberti mit dem Umbau einer Kirchenruine zu einem Monument der Familiendynastie betraute, war es der reiche Kaufmann Giovanni Rucellai, welcher den Universalgelehrten gegen Mitte des 15. Jahrhunderts zum entwerfenden Architekten werden liess. Zunächst betraute er ihn mit dem Bau seines Palazzo, der mit der vorgeblendeten Pilastergliederung eine Revolution im Florentiner Palastbau darstellte: Tektonische Strenge und formale Eleganz vereinen sich in einem Bau, der gemäss Albertis Vorstellungen nicht nur als Monument von der Macht des Bauherrn zeugen, sondern sich in eine urbane Struktur einfügen soll. 1470 war laut Inschrift die zweite stadtbildprägende Intervention fertig gestellt: die Fassade von Santa Maria Novella.

Ohne den romanischen Inkrustationsstil von San Miniato al Monte ist Albertis Konzept ebenso wenig zu verstehen wie ohne Brunelleschis luzide Frührenaissance-Bauten mit ihren Kontrasten von weissen Flächen und grauen Gliederungselementen. Und doch gelang Alberti etwas, was ihn von seinem grossen Vorgänger unterscheidet: eine flächig-ornamentale Interpretation antikisierender Motive. Es ist kein Wunder, dass Alberti um 1900 erneut auf Interesse stiess, als man in Wien das Verhältnis von Tektonik und Dekoration der Fassaden diskutierte: Die wunderbaren Aquarelle, die Josef Frank von Santa Maria Novella und anderen Bauten Albertis für seine 1910 vorgelegte Dissertation anfertigte, sind nun erstmals in Italien zu sehen.

Kulturhistorisches Panorama

Auch das intimste Projekt Albertis, das Heilige Grab in der Rucellai-Kapelle von San Pancrazio, wurde von Josef Frank gezeichnet. Wie ein Modell wirkt das kleine Bauwerk, das mit der Hochzeit von Giovanni Rucellais Sohn Bernardo und Nannina, der Nichte von Cosimo de' Medici, in Verbindung gebracht wird (1466). Der Ehevertrag festigte die Verflechtung beider Familien, aber auch die Rolle Albertis. Lorenzo de' Medici sorgte nach dessen Tod 1472 dafür, dass der Architekturtraktat in Druck ging. Aufgrund neuerer Forschungen wird die Medici-Villa in Fiesole, bisher Michelozzo zugeschrieben, näher an Alberti herangerückt. Unbestritten ist, dass dieser mit seiner Konzeption einer Villa suburbana und der sie umgebenden Terrassengärten den Villenbau der Toskana stark beeinflusste. Das gilt besonders für die Villa von Poggio a Caiano, die Giuliano da Sangallo für Lorenzo il Magnifico plante.

Im vierten, der Stadt und dem Territorium gewidmeten Teil der Schau wird mit Hilfe von Projektionen unter anderem die Kuppel der Kirche Santissima Annunziata thematisiert, bei welcher Alberti auf die Konstruktion antiker Zentralbauten zurückgriff. Den Traktaten Albertis und ihrer unmittelbaren Wirkung sind die beiden folgenden Abteilungen gewidmet. Greifbar wird das unter anderem am Sujet der «Verleumdung des Apelles», eines von Lukian beschriebenen Gemäldes, das Alberti in seiner Schrift «De Pictura» den Künstlern zur Nachahmung empfahl. Botticellis «Allegoria della Calumnia» (um 1495) gilt als die bedeutendste Umsetzung des Themas. Das Wort «misura» ist einer der Kernbegriffe von Alberti, er steht für die Schönheit auf Basis harmonischer Proportionen und findet seinen Niederschlag in den zentralperspektivischen Darstellungen von Raumsituationen. - Den Abschluss der Ausstellung bildet die «Città ideale» aus Urbino, die wohl berühmteste Darstellung eines Stadtideals der italienischen Renaissance. Seitlich eines zentralen Rundbaus staffeln sich Palazzi entlang zweier Strassenfluchten in die Tiefe - die Interpretation des Bildinhalts ist umstritten. Gabriele Morolli sieht nach jüngsten Röntgenuntersuchungen seine These bestätigt, dass es sich um eine fiktive Darstellung der unter Papst Nikolaus V. postulierten Wiedererrichtung des antiken Rom handle. Gleichwohl ist es wagemutig, anhand der nunmehr entdeckten Vorzeichnungen eine - zumindest indirekte - Autorschaft Albertis zu reklamieren.

[ Bis zum 23. Juli im Palazzo Strozzi. Katalog: L'uomo del rinascimento. Leon Battista Alberti e le arti a Firenze tra ragione e bellezza. Hrsg. Cristina Acidini und Gabriele Morolli. Mandragora Maschietto Editore, Florenz 2006. 480 S., Euro 35.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2006.04.18

09. April 2006Hubertus Adam
db

Der Herzschlag von Doetinchem

Hohler Zahn oder Hähnchenschenkel? - Der „D-toren“ setzt sich aus schalenförmigen Elementen aus glasfaserverstärktem
Epoxidharz zusammen. Heute rot, dann wieder grün, blau oder gelb leuchtet er vor sich hin und setzt in der kleinen niederländischen Gemeinde Doetinchem ein auffälliges Zeichen.

Hohler Zahn oder Hähnchenschenkel? - Der „D-toren“ setzt sich aus schalenförmigen Elementen aus glasfaserverstärktem
Epoxidharz zusammen. Heute rot, dann wieder grün, blau oder gelb leuchtet er vor sich hin und setzt in der kleinen niederländischen Gemeinde Doetinchem ein auffälliges Zeichen.

Streugut sei die Kunst im öffentlichen Raum, so formulierte man es 1995 in Doetinchem. Doetinchem, das ist eine kleine Stadt in der niederländischen Provinz Gelderland. Nicht weit von der deutschen Grenze entfernt, die längst nur noch dadurch zu bemerken ist, dass nicht mehr gelbe Schilder den Ortsbeginn markieren, sondern blaue. Doetinchem: gut zehn Kilometer nördlich von Emmerich, gut zwanzig Kilometer nordwestlich von Bocholt, ein Ort, der für alle Reisenden einen Umweg bedeutet. Und der selbst kaum etwas zu bieten hat, was Besucher anziehen könnte.

Dass dies nicht mehr zutrifft, hat mit der Initiative von 1995 zu tun. Damals nahm sich die lokale Kommission für bildende Kunst der Kunst im öffentlichen Raum an und empfahl der Stadtregierung einen dringenden Kurswechsel: Anstatt irgendwelche Figuren in irgendwelchen Fußgängerzonen oder auf irgendwelchen Plätzen abzustellen, solle man die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel bündeln und ein prägnantes Konzept für Kunstinstallationen in der Stadt entwickeln. Das Konzept wurde gleich mitgeliefert und heißt „Torenplan“. Dieser „Turmplan“ fixiert fünf Standorte am Innenstadtring, der der einstigen Stadtbefestigung folgt; fünf Standorte, an denen zukünftig markante Kunstwerke errichtet werden, die nicht zuletzt der Imagebildung der Stadt dienen sollen. Dabei handelt es sich nicht um ein kurzfristiges Projekt, sondern um eine langfristige Strategie. Der Zeithorizont beträgt mehrere Jahrzehnte und tatsächlich wurde der erste der „Türme“ auch erst 2004 eingeweiht.

„D-toren“ heißt er, und das D steht nicht, wie man zunächst denken könnte, für Doetinchem, sondern einfach für den Buchstaben D, der auf A, B und C folgt. Auch wenn an vier der projektierten Positionen früher Stadttürme standen und das Projekt sich „torenplan“ nennt, wie ein Turm müssen die „toren“ nicht aussehen, aber sie sollen auffällig sein. Jedem der fünf „toren“ ist ein Motto zugewiesen - die vier Elemente, darüber hinaus die Zeit. Feuer, das war die Vorgabe für den D-toren, mit dessen Konzeption der Rotterdamer Künstler Q.S. Serafijn beauftragt wurde. Serafijn, 1960 im niederländischen Rosendaal geboren, entwickelte die Idee eines interaktiven Kunstwerks, das sich von der üblichen Kunst im öffentlichen Raum unterscheidet. Basierend auf der seit Beuys geläufigen Idee einer Sozialen Plastik besteht seine Idee darin, die Befindlichkeit der Bewohner von Doetinchem zu analysieren. Serafijn entwickelte einen Fragebogen mit 360 Fragen, der um die Empfindungen von Liebe, Glück, Angst und Hass kreist. Fünfzig Freiwillige erhalten alle zwei Tage per E-Mail jeweils vier Fragen, die sie ebenfalls per E-Mail beantworten; nach einem Durchlauf, der mithin ein halbes Jahr dauert, wechseln die Teilnehmer, die Sequenz beginnt aufs Neue.

Das von Serafijn erdachte Konzept ließe sich problemlos im virtuellen Raum abwickeln: Die Umfrageteilnehmer geben ihre Antworten passwortgesichert auf der website www.d-toren.nl ein, die interessierte Öffentlichkeit erfährt die Ergebnisse im frei zugänglichen Bereich. Um die physische Präsenz des Projekts im Stadtraum zu gewährleisten, zog der Künstler Lars Spuybroek vom Rotterdamer Architekturbüro Nox hinzu. Spuybroek entwarf eine bizarre, organisch geformte Plastik, die leuchtend jeweils am Abend über die mehrheitliche emotionale Dispositon der Teilnehmenden informiert. Rot steht für Liebe, Blau für Glück, Gelb für Angst, Grün für Hass.

Das knapp zwölf Meter hohe und gut sechs Meter breite Objekt steht im Nordwesten der Innenstadt, dort, wo die Gruutstraat auf die viel befahrene Tangente N 316 trifft. Drei röhrenartige Stelzen - eine davon spaltet sich in zwei - tragen einen amorphen, hinsichtlich seiner Form kaum plausibel zu beschreibenden Hohlkörper. In Zeiten der Vogelgrippe mag man an eine Mutation aus drei miteinander verschmolzenen Hähnchenschenkeln denken oder an einen Zahn mit Wurzeln. Die biologischen Assoziationen sind zumindest nicht völlig abwegig, denn Lars Spuybroek beruft sich als Vergleich auf den Animationsfilm eines pulsierenden Herzens. An Seilen abgehängt, wie es schon Gaudí praktiziert hatte, wurde eine Kugel partiell bandagiert und fixiert - und dann weiter aufgeblasen und somit deformiert. Resultat der digitalen Umsetzung waren Negativformen, die mit einer CNC-Fräse aus Polystyrolblöcken herausgeschnitten wurden. Die Kombination von Standard- und Nicht-Standard-Geometrien erlaubte es, die insgesamt benötigten 19 Teile des D-toren mit sieben Formen zu erstellen. Auf diese Modelle wurden von Hand ein Laminat aus Glasfaser (zur Stabilisierung) und Epoxidharz aufgetragen; dem Harz war zuvor ein Anteil von vier Prozent weißer Farbe beigegeben worden, um Körperhaftigkeit und Leuchtkraft zu unterstützen. Je nach den physikalisch wirksamen Kräften variiert dabei die Stärke der Wandung.

Stege erlaubten es, die einzelnen Elemente ohne weitere Verbindungen zu verkleben. In zwei Teilen vorgefertigt, wurde der D-toren schließlich Ende Juni 2004 vor Ort montiert. Tagsüber milchig-weiss, leuchtet er, erhellt von LEDs, seit dem Beginn des Kunstprojekts Anfang September 2004, in der jeweiligen Farbe des Tages. Ein Alien im städtischen Raum, der sich aber auch nachts von der Lichtorgie aus Scheinwerfern, Ampeln und Neonreklame abzuheben weiß. Folgt man der bisherigen Statistik, sieht es wie folgt aus: 5 Prozent Gelb, 15 Prozent Grün und jeweils 40 Prozent Blau und Rot. Könnte ein besseres Argument für den Umweg nach Doetinchem geben?

db, So., 2006.04.09



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08. April 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Präriehäuser in Marsch und Geest

Seit 1911 standen niederländische Architekten im Banne Frank Lloyd Wrights. Nirgendwo sonst hatte der amerikanische Baumeister einen so starken Einfluss wie zwischen Rhein und Nordsee. Eine Ausstellung in Hilversum dokumentiert die Rezeption in all ihren Facetten.

Seit 1911 standen niederländische Architekten im Banne Frank Lloyd Wrights. Nirgendwo sonst hatte der amerikanische Baumeister einen so starken Einfluss wie zwischen Rhein und Nordsee. Eine Ausstellung in Hilversum dokumentiert die Rezeption in all ihren Facetten.

Ein grossformatiges Portfolio und eine handliche Publikation der Bauten von Frank Lloyd Wright, die der Berliner Verlag Ernst Wasmuth in den Jahren 1910 und 1911 herausbrachte, lösten in europäischen Architektenkreisen nachhaltige Begeisterung aus. Zwar hatte der Engländer Charles Robert Ashbee seinen amerikanischen Kollegen schon 1901 besucht, doch blieben Wrights Bauten diesseits des Atlantiks vorerst weitgehend unbekannt. Doch seit dem Erscheinen der Wasmuth-Publikation, zu der Ashbee ein Vorwort beigesteuert hatte, galten sie als Offenbarung: in Deutschland, wo sie Peter Behrens, Walter Gropius und Mies van der Rohe faszinierten, vor allem aber in den Niederlanden. Hendrik Petrus Berlage, der Wegbereiter der niederländischen Architektur des 20. Jahrhunderts, reiste damals in die Vereinigten Staaten; er versäumte Wright, der sich gerade in Berlin aufhielt, besuchte aber eine Reihe von seinen Bauten. Frucht seines Aufenthalts waren eine Reihe von Vorträgen und Veröffentlichungen, welche Frank Lloyd Wrights Bekanntheit in den Niederlanden weiter steigerten.

Publikationen und Adaptionen

Schnell wurden die Bauten des Amerikaners in den Niederlanden zitiert, kopiert und adaptiert. Die Breite und Vielfalt der Rezeption wurde nicht zuletzt dadurch begünstigt, dass das Land im Ersten Weltkrieg neutral blieb und das Bauwesen - anders als in den kriegführenden Ländern - eine regelrechte Blüte erlebte. Landhäuser in den Heide- und Dünengebieten entstanden nach dem Vorbild der Präriehäuser, die aufgrund der Verwendung von Backstein, der luxuriösen Innenausstattung und der Verzahnung von Architektur und Landschaft ein favorisiertes Vorbild darstellten. In Berkel-Enschot baute der Architekt F. A. Warners das Robie House nach, und zu den bekanntesten Adaptionen zählen zwei Villen des ebenfalls in die USA gereisten Robert van't Hoff in der Ortschaft Huis ter Heide: das Haus Verloop mit seinen typischen, breit gelagerten Dächern (1915) und die symmetrische, flachgedeckte Villa Nora (1916), die an das Thomas Gale House (1909) in Oak Park und das Bach House in Chicago (1915) erinnert.

«Dromen van Amerika - Nederlandse Architecten en Frank Lloyd Wright» heisst die reich bestückte Ausstellung, mit der im Museum Hilversum die Beziehungen zwischen dem Amerikaner und seinen niederländischen Bewunderern nachgezeichnet wird. Eine Chronologie von Leben und Werk Wrights an den Wänden bildet den Hintergrund, vor dem auf Podesten und in Tischvitrinen Dokumente der Rezeption ausgebreitet sind. Die Kenntnis des Œuvres wurde besonders durch Hendrik Theo Wijdeveld gefördert, der als Herausgeber der Zeitschrift «Wendingen» 1921 Kontakt mit Wright aufnahm. Das Novemberheft 1921 wurde diesem gewidmet, eine Doppelnummer im Jahr 1923 - und schliesslich die berühmte Sequenz von sieben aufeinander folgenden «Wendingen»-Heften im Jahr 1925. Es war wiederum Wijdeveld, der 1931 die erste europäische Ausstellung Wrights an das Stedelijk Museum Amsterdam vermittelte; für eine zweite Schau am gleichen Ort zeichnete 1952 J. J. Oud verantwortlich. Als einziger Entwurf Wrights, der in den Niederlanden umgesetzt wurde, gilt eine grüne Pressglasvase für die Königliche Glasmanufaktur Leerdam - in der Ausstellung sind auch zwei nicht realisierte Prototypen zu sehen.

Zur romantisch grundierten Rezeption des Wright der Präriehäuser trat schon in den ersten Jahren eine eher rationale Aneignung. So übernahm K. P. C. de Bazel die offene, von Pfeilern gegliederte Bürostruktur des auch von Berlage bewunderten Larkin Building für das Gebäude der Nederlandse Heidemaatschappij in Arnheim (1912). Rechtwinklige Volumina, vor- und zurückspringende Flächen sowie die Betonung horizontaler und vertikaler Elemente bestimmten die Entwürfe vieler Architekten in den zehner und zwanziger Jahren, vor allem jene der Stijl-Gruppe. In den Bauten von Jan Wils, etwa in dem Café De Dubbele Sleutel (1918/19) in Woerden, wird die Wright-Nachfolge besonders deutlich; purifizierter zeigen sich neoplastizistische Kompositionen wie die Villa Sevensteijn (1920) von Dudok und Wouda oder der nicht realisierte, an die Midway Gardens in Chicago angelehnte Entwurf für eine Schule in Scheveningen von Jan Duiker (1921-28).

Gescheiterte Visionen

Persönlich kamen Wijdeveld und Wright 1931 in Taliesin in Kontakt. Beide trugen sich mit der Idee einer künstlerischen Werkgemeinschaft, und Wijdeveld war als Direktor der Hillside Home School of Applied Arts and Industries vorgesehen. Doch die Idee einer Zusammenarbeit zerschlug sich; Wright gründet 1932 die Taliesin Fellowship, Wijdeveld plant, sein kulturelles Zentrum gemeinsam mit Mendelsohn und Ozenfant in Südfrankreich zu realisieren. Ein Waldbrand auf dem avisierten Terrain zwingt Wijdeveld zurück in die Niederlande, bevor das Projekt angelaufen ist; ein zweiter Versuch in Elckerlyc bei Hilversum scheitert wegen der deutschen Besatzung 1940. Ohne Erfolg bleibt 1950 auch der Versuch, Elckerlyc als Kooperation mit Taliesin durch Unesco-Mittel zu finanzieren.

Mit dem Siegeszug der internationalen Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg liess die Orientierung an Frank Lloyd Wright auch in den Niederlanden nach. Eine gewisse Verbindung bestand hinsichtlich des Umgangs mit Innen- und Aussenräumen bei den Strukturalisten Hertzberger, Blom und van Eyck; und Hugh Maaskant realisierte in Mijdrecht eine Filiale der Firma Johnson Wax, deren berühmter Hauptsitz in Racine (Wisconsin) von Wright stammte. Die Ausstellung klingt aus mit einem Hinweis auf die «Superdutch»-Architektur von OMA, MVRDV oder UN-Studio: Die heutigen Architekten, so die These, bezögen sich hinsichtlich ihrer internationalen Wirkung und ihres Star-Status auf den Amerikaner, der schon mit dem durch King Vidor verfilmten Roman «The Fountainhead» zum Rollenmodell des modernen Architekten avanciert war.

Wright in Amsterdams Arkadien

Anschliessend an einen Besuch der Ausstellung empfiehlt sich eine Fahrradfahrt durch das inmitten von Heidelandschaften gelegene Hilversum. Mit weitläufigen Villengebieten wurde das einstige Dorf im 19. Jahrhundert zum Arkadien von Amsterdam. Von der Wright-Rezeption vor Ort zeugen Villen von Jan Wils (1929) am Simon-Stevin-Weg, aber auch die bemerkenswerte Emma- Apotheke (1921) von Rueters und Symons. Wie kein anderer Architekt aber hat Dudok das Stadtbild von Hilversum geprägt - vor allem mit dem Rathaus und zahlreichen Schulgebäuden. In vielen seiner Bauten ist der Einfluss Wrights offensichtlich, auch wenn Dudok diesen zeitlebens verneint hat.

[ Bis zum 4. Juni im Museum Hilversum. Begleitbroschüre Euro 7.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.04.08



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01. April 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Architektur übt den Widerstand

Zum 70. Geburtstag von Aurelio Galfetti

Zum 70. Geburtstag von Aurelio Galfetti

Sie wurde zum Fanal der neuen Tessiner Architektur: die Villa Rotalinti, ein Sichtbetonhaus, das Aurelio Galfetti in den Jahren 1960/61 als junger Absolvent der ETH Zürich am Hang oberhalb von Bellinzona errichtete. Das orthogonale Volumen dieses Bauwerks, das durch Öffnungen und Durchbrüche sein Inneres offenbart und wie ausgehöhlt erscheint, war einerseits eine Auseinandersetzung mit den plastischen Entwurfsprinzipien Le Corbusiers, die dem angehenden Architekten durch seinen Zürcher Lehrer Paul Waltenspühl vermittelt worden waren. Andererseits ist es ein frühes Beispiel für eine Architektur des Widerstands im Tessin - also für den Versuch, den die Hänge überziehenden Luxusvillen und Pseudo-Rustici architektonische Qualität entgegenzusetzen. Kurz darauf begannen auch andere Architekten, das Bauen im südlichsten Kanton der Schweiz zu erneuern: die etwas älteren Kollegen Tita Carloni, Luigi Snozzi und Livio Vacchini, dann auch der jüngere Mario Botta. Gemeinsam mit Ivo Trümpy und Flora Ruchat realisierte Galfetti 1967-1970 das überzeugend in die Umgebung eingefügte Freibad in Bellinzona, dessen einzelne Teile von einer brückenartigen, das Tal des Ticino überspannenden Passerelle erschlossen werden.

An die Öffentlichkeit traten die aufbegehrenden Tessiner 1970 mit einem Gemeinschaftsentwurf für die ETH Lausanne. Die legendäre Tendenza-Ausstellung von 1975 in Zürich trug ungewollt dazu bei, den Eindruck zu verstärken, es habe sich eine Gruppe etabliert. Tatsächlich verfolgten die Architekten durchaus unterschiedliche Haltungen. Galfettis Inspirationsquelle ist die klassische Moderne - was sich auch in einem seiner jüngsten Projekte zeigt, der mit ihren mächtigen Stahlträgern an Mies van der Rohe erinnernden Aula Magna der neuen Universität Lugano. (Deren Masterplan entwickelte Galfetti 1998 gemeinsam mit Jachen Könz. Zugleich überzeugte er die Behörden, die einzelnen Bauprojekte jungen Tessiner Büros anzuvertrauen.) Zu Galfettis herausragenden Bauten der achtziger Jahre gehören drei Mehrfamilienhäuser sowie die Hauptpost in Bellinzona, doch das Projekt, das ihm die grösste Bekanntheit eintrug, ist der Umbau des dortigen Castelgrande. Zwischen 1981 und 1991 entstanden ein Erschliessungssystem sowie eine Reihe neu gestalteter Räume innerhalb der Festung. Dabei wahren Galfettis Betonstrukturen auf vorbildliche Weise die Balance zwischen Autonomie und Integration in den Bestand. Seit Beginn der neunziger Jahre hat sich der Architekt verstärkt mit raumplanerischen Projekten auseinander gesetzt; so ist er beispielsweise am Projekt der neuen Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) beteiligt. An diesem Sonntag nun kann Aurelio Galfetti in Lugano seinen siebzigsten Geburtstag feiern.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.04.01

10. März 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Leuchttürme für Graubünden

Eine Architekturausstellung im Gelben Haus Flims

Eine Architekturausstellung im Gelben Haus Flims

Mit Peter Zumthors Therme in Vals ist einer der kulturell, architektonisch und touristisch attraktivsten Orte in Graubünden entstanden. «Werdende Wahrzeichen» heisst jetzt eine Ausstellung im Gelben Haus Flims, die zwanzig aktuelle Bau- und Kunstprojekte im Kanton anhand von Modellen und Plänen präsentiert; Projekte, welche als Leuchttürme Ausstrahlungskraft auch über die Region hinaus besitzen könnten. Das zweifelsohne umstrittenste ist die Porta Alpina bei Sedrun, also die Idee, den 800 Meter tiefen Versorgungsschacht der Neat-Baustelle als Erschliessung eines spektakulären Tunnelbahnhofs für die Surselva nachzunutzen.

Zu Kontroversen haben auch einige der anderen Konzepte Anlass gegeben - so der grandiose Plan von Herzog & de Meuron, das Hotel Schatzalp oberhalb von Davos mit einem 105 Meter hohen Turmhaus zu erweitern. Oder die Vision der österreichischen Künstlerin Brigitte Kowanz, einen Hang am Ortseingang von Flims mit Leuchtdioden und Glasperlen als künstliches «Bergfeuer» zu gestalten; das Projekt, das nur einen minimalen Kostenaufwand bedeutet hätte, wurde gerade erst von der Gemeindeversammlung mehrheitlich abgelehnt. - Andere Vorhaben sind auf besserem Weg. Dazu zählen der Umbau des Zeughauses in Bergün zum Museum für die Albulabahn, aber auch das von Valerio Olgiati entworfene Nationalpark-Zentrum in Zernez, dessen Bau nach einiger Verzögerung im Frühjahr beginnen wird. Neben vorbildlichen Tourismusarchitekturen wie der Erweiterung des Hotels Tschuggen in Arosa durch Mario Botta oder dem Entwurf von Miller und Maranta für ein Bad in Samedan überzeugen in der Ausstellung besonders die Projekte, die sich eher unspektakulär in die bestehenden Strukturen einfügen. Dazu zählen das Konzept eines dezentralen, auf verschiedene Engadinerhäuser verteilten Hotels in Vnà, aber auch die Massnahmen des Vereins Kulturraum Viamala, die berühmte Schlucht für Fussgänger erlebbar zu machen.

[ Bis 23. April. Zur Ausstellung liegt ein Sonderheft der Zeitschrift Hochparterre vor, Fr. 10.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.03.10

17. Februar 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Aufbruch an Etsch und Eisack

In jüngster Zeit ist in Südtirol, der autonomen italienischen Provinz Alto Adige, eine lebendige, baukünstlerisch interessante Architekturszene entstanden. Nun stellt eine attraktive Schau in Meran rund fünfzig in den vergangenen sechs Jahren entstandene Bauten vor.

In jüngster Zeit ist in Südtirol, der autonomen italienischen Provinz Alto Adige, eine lebendige, baukünstlerisch interessante Architekturszene entstanden. Nun stellt eine attraktive Schau in Meran rund fünfzig in den vergangenen sechs Jahren entstandene Bauten vor.

An den historischen Meraner Lauben wandelten die Architekten Thomas Höller und Georg Klotzner vor fünf Jahren ein im Besitz der städtischen Sparkasse befindliches Wohn- und Geschäftshaus in ein Kulturzentrum um, das Veranstaltungssäle, Ausstellungsflächen und ein Café umfasst. «Kunst Meran - Merano Arte» heisst die Organisation, die hier in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Kunst- und Architekturausstellungen veranstaltet hat - im letzten Jahr etwa eine Schau zum Œuvre des in Vrin tätigen Baukünstlers Gion Caminada, die in diesem Frühling im Bündner Kunstmuseum in Chur zu sehen sein wird. Der diesjährigen Architekturschau kommt besondere Bedeutung zu, da mit ihr zehn Jahre Kunst Meran und zugleich sechzig Jahre Südtiroler Künstlerbund gefeiert werden. Aufgrund dieser Anlässe entschied sich die auch schon für die Caminada-Retrospektive verantwortliche Architekturhistorikerin Bettina Schlorhaufer zu einer Bilanz der jüngsten Architekturentwicklung in der Region. «Neue Architektur in Südtirol 2000-2006» heisst die wiederum als Wanderausstellung konzipierte und von einem ebenso attraktiven wie informativen Katalogbuch begleitete Schau, in der anhand von Modellen, Plänen und Fotos rund fünfzig von einer internationalen Jury ausgewählte Bauten vorgestellt werden. Kunst Meran zählt selbst zu den präsentierten Projekten und stellt daher den idealen Ort für die Veranstaltung dar.

Selbstbewusstsein einer Region

Nachdem sich zunächst im Tessin, dann in Graubünden, Vorarlberg und etwas später in Tirol eine regionale, kontextuell geprägte Architektur ohne provinziellen Beigeschmack zu etablieren vermocht hat, macht seit jüngstem auch Südtirol von sich reden (NZZ 2. 12. 05). Das ist um so erstaunlicher, als der Stand der Baukultur sich in Italien seit längerem als problematisch erweist und herausragende Beispiele für zeitgenössische Architektur zumeist von den Happy Few der internationalen Stararchitektur realisiert werden.

Es ist nicht einfach, den Aufschwung der Südtiroler Architektur zu erklären; zumindest taugen monokausale Begründungen wenig. Man mag ein Planungsgesetz aus dem Jahr 1972 anführen, welches Zersiedlung weitgehend verhindert. Darüber hinaus macht sich die Nähe zu Österreich und der Schweiz bemerkbar - neben einheimischen Architekten sind oft auch Kollegen aus den Nachbarländern tätig. Das Zürcher Büro Bischoff Azzola etwa realisierte die Freie Universität Bozen in gut schweizerisch-minimalistischer Formensprache, und Peter Zumthor ist mit einer Erweiterung der Pension Briol oberhalb von Bad Dreikirchen beauftragt.

Hinzu kommt ein Bewusstsein für die regionale Identität dieses italienischen Landesteils, der 1972 den Status der autonomen Provinz Bozen- Südtirol (Alto Adige) erhalten hat. Die früheren Kämpfe um die Sprachhoheit in dem nach dem Ersten Weltkrieg an Italien gelangten Südtirol sind inzwischen einer zweisprachigen Gelassenheit gewichen, und die einstige Grenzregion, die im vereinten Europa vom Rand in die Mitte gerückt ist, sieht sich mit neuen Problemen konfrontiert. Der Ausbau des Brennerpasses war einst ein Segen für die Region - Merans Bedeutung als Kurort um 1900 resultierte aus der neuen Zugsverbindung mit dem Norden. Der heutige Fluch besteht darin, dass sich die Täler von Eisack und Etsch in Transitkorridore für den Schwerverkehr verwandelt haben und Orte wie Meran in einer Zeit des weltumspannenden Flugtourismus lagemässige Vorteile eingebüsst haben.

Die Verkehrsflut betrifft indes nicht nur die Hauptachse, sondern auch den Vinschgau, das Tal, welches Meran mit dem Schweizer Münstertal verbindet. Ein planerisch wie architektonisch gleichermassen bemerkenswertes Vorhaben war die Wiedereröffnung der 1990 stillgelegten Vinschgau-Bahn im vergangenen Jahr. Walter Dietl hat für die reaktivierten Stationen ein architektonisch attraktives Modulsystem entwickelt, das sich an den jeweiligen Orten variieren lässt; Fahrradverleih-Stationen, wie sie Karl Spitaler in Schlanders realisiert hat, sollen Besucher anziehen, die bewusst auf das Auto verzichten.

Stadt und Land

Die Ausstellung in Meran ist nicht typologisch oder chronologisch, sondern nach den einzelnen Landschaftsräumen gegliedert: Vinschgau, Talkessel zwischen Meran und Bozen, unteres Etschtal, Eisacktal und Pustertal. Auffallend viele Projekte setzen sich mit der historischen Substanz auseinander: SOFA-Architekten, PVC-Architects und die Szenographen Steiner Sarnen bauten den vielbesuchten Sisi-Kultort Schloss Trautmannsdorff in abgeschwächt dekonstruktiver Manier zum botanischen Garten mit Tourismus- Museum um, Walter Angonese und Markus Scherer widmeten sich in sensibler Weise Schloss Tirol. Gemeinsam mit Silvia Boday und Rainer Köberl war Angonese auch für einen der überzeugendsten Bauten der neuen Südtiroler Architektur verantwortlich, das fast unsichtbar in die Landschaft eingefügte Weingut Manincor am Kalterersee. Einen Spezialfall der Aneignung historischer Architektur und eine besondere Herausforderung stellen die Monumentalbauten aus den dreissiger Jahren in Bozen dar. Sie waren Teil eines Plans, die ehemals deutschsprachige Stadt in ein faschistisches Bollwerk zu verwandeln: Stanislao Fierro machte die Piazza del Tribunale auf unprätentiöse Weise neu erlebbar, Klaus Kada erweiterte mit einem Glasbau das Gebäude der faschistischen Jugendorganisation GIL, das heute zu Recht als ein Meisterwerk der Paduaner Architekten Mansutti und Miotto gilt.

Die neue Architektur in Südtirol konzentriert sich nicht auf die eher städtischen Räume von Meran und Bozen, sondern findet sich auch in abgelegeneren Ortschaften. Zu den besten neuen Bauten zählen ein polygonales Mehrzweckgebäude von Mutschenlechner & Mahlknecht in St. Jakob im Ahrntal, die zeltartig wirkende Erweiterung der Pfarrkirche von Leifers von Höller & Klotzner sowie ein Wohnhaus von Silvia Boday in Tramin, das sich volumetrisch in das Gefüge der lokalen Satteldachbauten einfügt und doch dank Sichtbeton und grossflächigen Verglasungen auf der Aussichtsseite zeitgenössische Eigenständigkeit beweist.

Obwohl mit dem Hotel «Drei Zinnen» von Clemens Holzmeister in Sexten, dem Hotel «Monte Pana» von Franz Baumann auf der Seiser-Alp und dem Sporthotel «Valmartello» von Gio Ponti in den zwanziger und dreissiger Jahren grossartige Hotelarchitekturen in Südtirol entstanden, gibt es nur wenige überzeugende Beispiele für eine zeitgenössische Tourismusarchitektur. Eines davon ist die «Pergola Residence» des in Mailand tätigen Südtirolers Mateo Thun, die als exquisite terrassierte Hotelsiedlung in die Weinberge zwischen dem Dorf Algund und dem Algunder Waalweg integriert wurde.

[ Bis 17. April; Katalog: Neue Architektur in Südtirol 2000-2006. Hrsg. Bettina Schlorhaufer. Springer-Verlag, Wien 2006. 328 S., viele Farbabbildungen, Fr. 68.- (Euro 39.95 in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.02.17

20. Januar 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Wenn das Leben Kunst wird

Seit kurzem sind einige Inkunabeln der britischen Reformkultur für die Öffentlichkeit zugänglich. Zugleich erweitern neue Forschungsergebnisse das Bild des Arts & Crafts Movement.

Seit kurzem sind einige Inkunabeln der britischen Reformkultur für die Öffentlichkeit zugänglich. Zugleich erweitern neue Forschungsergebnisse das Bild des Arts & Crafts Movement.

Die Arts-and-Crafts-Bewegung ist einer der wichtigsten Beiträge Grossbritanniens zur Kultur der Moderne. Ihren Namen erhielt sie durch die 1887 in London gegründete Arts and Crafts Exhibitions Society. Doch die Ideen reichen weiter zurück - John Ruskin und William Morris waren die eigentlichen Protagonisten. Als Pionierbau der Arts-and-Crafts-Architektur gilt das «Red House», das William Morris sich 1859/60 in Bexleyheath bei London errichten liess. Am Rande der Kapitale entstand inmitten von Obstgärten ein schlichter, aber vielgliedriger Ziegelbau. Der Entwurf stammte vom Architekten Philip Webb, den Morris 1856 im Oxforder Büro des Neugotikers George Edmund Street kennen gelernt hatte. Die Bedeutung des «Red House» resultiert nicht nur aus dessen Architektur, sondern auch aus der Innenausstattung, die sukzessive als Gemeinschaftsarbeit von Morris und seinem präraffaelitischen Umfeld entstand.

Wiedererweckung des Mittelalters

An den Wochenenden luden Morris und seine Frau Jane eine Reihe befreundeter Künstler ein, die gemeinsam an der Ausstattung des Hauses arbeiteten: Edward und Georgiana Burne-Jones, Dante Gabriel Rossetti sowie dessen Frau Elizabeth Siddal und Philip Webb. Es entstand ein Ambiente, das durch künstlerische Originalität ebenso geprägt ist wie durch Anklänge an mittelalterliche Kunst - Morris verehrte Chaucer und imaginierte sein Anwesen am Pilgerweg nach Canterbury. 1865 wurde das Red House mit Verlust veräussert.

Nach mehreren Besitzerwechseln gelangte es nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besitz des Architekten Ted Hollombay, dessen Erben es 2003 dem National Trust verkauften, der nun Führungen veranstaltet. Spezialisten des Victoria & Albert Museum haben damit begonnen, übermalte Wandpartien freizulegen. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Dekorationen wesentlich umfänglicher waren als bisher angenommen; auch die Zuweisung der einzelnen Arbeiten an die beteiligten Künstlerinnen und Künstler bedarf der Revision.

Mit der umfassenden Monographie der Kunsthistorikerin Sheila Kirk hat Philip Webb (1831-1915) nun auch die überfällige wissenschaftliche Würdigung erhalten. Auch wenn Kirk den Schwerpunkt auf die Architektur legt, gilt ihr Interesse doch auch den anderen Betätigungsfeldern Webbs: so seinen Möbeln, seiner Funktion als Mitbegründer der «Society for the Protection of Ancient Buildings» und seinem politischen Engagement für die Ziele der Sozialisten. Die Höhepunkte des architektonischen Werks stellen neun grosse Landhäuser dar, von denen nur drei gut erhalten sind - darunter Standen (1891) in West Sussex, das sich seit längerem im Besitz des National Trust befindet. Mit subtilen Anleihen bei historischer britischer Architektur sowie mit den Postulaten von Handwerklichkeit, Einfachheit und Bezug zum Ort beeinflusste Webb Architekten wie William Lethaby und Edward Prior, Baillie Scott und Charles Voysey, Edwin Lutyens und Charles Rennie Mackintosh.

Mackay Hugh Baillie Scott (1865-1945) wurde früh auch ausserhalb Englands bekannt: 1897 erteilte ihm der hessische Grossherzog Ernst Ludwig den Auftrag, einige Räume im Darmstädter Schloss zu gestalten; und mit dem 1907-1911 realisierten Landhaus Waldbühl bei Uzwil (SG) befindet sich das besterhaltene Bauwerk des Architekten in der Schweiz. Als eines der ersten Projekte von Baillie Scott gilt Blackwell in Bowness-on-Windermere in Cumbria, das zwischen 1898 und 1900 entstand. Der Lake District im Nordwesten Englands avancierte im ausgehenden 19. Jahrhundert zur beliebten Feriendestination.

Blackwell wurde als Ferienwohnsitz des aus Manchester stammenden Brauereibesitzers Edward Holt konzipiert, diente später als Schule und konnte durch den rührigen Lakeland Arts Trust 1999 erworben und damit vor weiteren drohenden Entstellungen bewahrt werden. Mehr als vier Jahre dauerten die von dem Londoner Architekturbüro Allies and Morrison durchgeführten Restaurierungsarbeiten, nun steht Blackwell als einziges Gebäude von Baillie Scott interessierten Besuchern als Museum offen. Von späteren Verbauungen befreit, ist das einstige Interieur mustergültig freigelegt und - wo nötig - ergänzt worden. Wieder zum Vorschein gekommen sind unter anderem von dem bedeutenden Arts-and- Crafts-Keramiker William Morgan entworfene Fliesenarbeiten. Mit seiner grossen und doch wohnlichen Halle, den vielen kleinen Nischen und Erkern, die ein grandioses Panorama über den Lake Windermere bieten, und dem passenden Mobiliar vermittelt Blackwell einen hervorragenden Eindruck von der Raumkunst der Arts- and-Crafts-Bewegung.

Mackintosh und Mockintosh

Der Wandel, dem die Bewertung der Arts-and- Crafts-Bewegung unterlag, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in Glasgow. Charles Rennie Mackintosh, welcher die schottische Industriemetropole zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen Bauten und Interieurs bereicherte, gilt heute, ähnlich wie Gaudí in Barcelona, als touristische Attraktion ersten Ranges. Das war nicht immer so: Nachdem Mackintosh Glasgow 1914 verlassen hatte, fiel er recht bald der Vergessenheit anheim. Das wachsende Interesse der Forschung stiess vor Ort auf wenig Widerhall: 1963 liess die Universität Mackintoshs Wohnhaus abreissen. Immerhin, das Interieur wurde gerettet und 1981 in den Neubau der Hunterian Art Gallery integriert.

Etwa seit dieser Zeit begann die Wiederentdeckung Mackintoshs, deren positive Folge der Erhalt der bestehenden Bauten und deren negative Konsequenz die hemmungslose Vermarktung von «Mockintosh» ist. Die befremdlichste Blüte des Mackintosh-Kults stellt das 2001 im Bellahouston Park eröffnete «Haus eines Kunstfreunds» dar - die Realisierung eines Entwurfs, den der Architekt hundert Jahre zuvor für einen vom Darmstädter Verleger Alexander Koch ausgelobten Wettbewerb eingereicht hatte. Sinnvoller wäre es gewesen, endlich einen geeigneten Aufstellungsort für das Interieur der Ingram Street Tea Rooms zu schaffen. Zwischen 1896 und 1917 hatte Catherine Cranston, die Betreiberin alkoholfreier Gaststätten, Mackintosh mit verschiedenen Projekten betraut.

Von den vier Tea Rooms sind nur noch die Willow Tea Rooms in der Sauchiehall Street am Ort erhalten. Das Interieur der 1901 entworfenen und 1911 zum Teil überarbeiteten Ingram Tea Rooms ist seit dem Abriss des Gebäudes 1971 eingelagert. Anlässlich der grossen Glasgower Mackintosh-Ausstellung konnte einer der Räume, der Ladies Luncheon Room, restauriert werden. Inzwischen sind die Konservierungsarbeiten vorangeschritten. Wann die Restaurierung abgeschlossen sein wird und wo die Ingram Street Tea Rooms dauerhaft öffentlich präsentiert werden können, bleibt indes ungewiss.

[ Sheila Kirk: Philip Webb. Pioneer of Arts & Crafts Architecture. Wiley-Academy, Chichester 2005. 336 S., £ 29.95. - Glasgow's hidden Treasure. Charles Rennie Mackintosh's Ingram Street Tea Rooms. Glasgow Museums 2005. 48 S., £ 5.95. - Blackwell. The Arts & Crafts House. Lakeland Arts Trust 2005. 48 S., £ 5.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.01.20

17. Januar 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Konstruktivismus im Polderland

Die Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam gilt als bedeutender Industriebau des 20. Jahrhunderts. Nach umfassenden Renovationsarbeiten ist der Komplex, der teilweise auch vom Nederlands Architectuur Instituut genutzt wird, zur «Design Factory» geworden.

Die Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam gilt als bedeutender Industriebau des 20. Jahrhunderts. Nach umfassenden Renovationsarbeiten ist der Komplex, der teilweise auch vom Nederlands Architectuur Instituut genutzt wird, zur «Design Factory» geworden.

Die Tabakfabrik Van Nelle in Rotterdam zählt zu den Meisterwerken der niederländischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Der in seinen wesentlichen Bestandteilen zwischen 1925 und 1931 errichtete Komplex krönte den Aufstieg eines Unternehmens, das 150 Jahre zuvor gegründet worden war. 1782 hatte Johannes van Nelle ein Handelsgeschäft für Kaffee, Tee, Tabak und Schnupftabak im Leuvehaven von Rotterdam eröffnet, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts von der Familie van der Leeuw übernommen wurde. Um 1900 konnte sich das Unternehmen mit einer neuen Distributions- und Marketingstrategie profilieren: Einzelverpackungen, für die renommierte Gestalter gewonnen werden konnten, machten die Marke mit ihrer strengen Corporate Identity international zum Erfolg. Aufgrund des Erfolgs der Firma entstand schon 1913 die Idee, einen völlig neuen Produktionsstandort im Spangenschen Polder nordwestlich von Rotterdam zu errichten - eine Vision, deren Realisierung dann nach dem Ersten Weltkrieg Kees van der Leeuw vorantrieb, eine der schillerndsten Unternehmerpersönlichkeiten ihrer Zeit.

Funktional und expressiv

Nach ersten Vorstudien ging der Auftrag für den Neubau an den für das Unternehmen tätigen Ingenieur Michiel Brinkman. Als dieser unerwartet Anfang 1925 starb, rückte sein 22-jähriger Sohn Johannes Andreas nach. Um den Auftrag architektonisch zu meistern, verband dieser sich mit dem acht Jahre älteren Leendert Cornelis van der Vlugt, der schon gemeinsam mit Jan Gerko Wiebenga 1922 den streng sachlichen Bau der Technischen Fachschule in Groningen realisiert hatte. Brinkman und van der Vlugt übernahmen die Planung, Wiebenga wurde für die Statik beigezogen; dazu kam als Entwurfsarchitekt Mart Stam, der nach Hospitanzjahren bei Karl Moser in Zürich und Arnold Itten in Thun gerade in seine niederländische Heimat zurückgekehrt war. In der Schweiz hatte sich Stam mit der Zeitschrift «ABC» als Verfechter eines radikalen Konstruktivismus in den Avantgarde-Zirkeln Gehör verschafft. In Holland setzte Stam seine publizistische Tätigkeit fort und polemisierte 1926 in der Zeitschrift «i10» gegen den Monumentalismus einer repräsentativen Architektur. Der missionarische und selbstherrliche Impetus, den Stam auch bei seiner Entwurfstätigkeit an den Tag legte, führte - wie zuvor schon in Karl Mosers Büro - zum Konflikt: 1928 wurde er von seinen Rotterdamer Auftraggebern entlassen.

Dennoch ist die Grundidee des Baukomplexes wohl massgeblich von Stam bestimmt worden. Dieser besteht aus dem zu einem Riegel zusammengefassten, sich nach Norden abstufenden Ensemble von Tabak-, Kaffee- und Teefabrik, das durch die hervortretenden Treppenhäuser rhythmisiert wird. Pilzstützen aus Beton tragen die Decken der Geschosse, die Längsfronten sind als gläserne Vorhangfassaden ausgebildet. Der Betriebsablauf war nach dem Prinzip der Schwerkraft organisiert - die Rohprodukte wurden auf die obersten Ebenen befördert und durchliefen auf dem Weg nach unten diverse Bearbeitungsstationen. Die verglasten Fachwerkkonstruktionen der Förderbänder, welche Fabrik und Lagerhaus in verschiedenen Winkeln und auf unterschiedlichen Ebenen verbinden, avancierten gleichsam zum Signum des Gebäudes. Stam hatte sie, wie die ihm zugeschriebene Perspektive beweist, noch seinem orthogonal-rationalen Entwurfsschema untergeordnet; Brinkman & van der Vlugt nutzten sie als expressive Elemente. Auch das konkave Verwaltungsgebäude, das in elegantem Schwung zwischen Werktor und Fabrik vermittelt, und die wie eine Kommandobrücke auf dem Dach der siebengeschossigen Tabakfabrik placierte Tee-Probierstube können als Modifikationen der ersten Entwurfsidee gelten.

Design statt Tabak

Nach mehrfachen Veränderungen des Produktspektrums sowie unternehmerischen Takeovers gelangte Van Nelle schliesslich in den Besitz des Konzerns Sara Lee - Douwe Egberts. 1985 fiel der Entschluss, den Betrieb in der historischen, seit 1982 unter Denkmalschutz stehenden Van-Nelle- Fabrik bis 1998 einzustellen. Für 20 Millionen Gulden wechselte der Komplex im März 1998 den Besitzer - neuer Eigentümer ist seitdem ein Konsortium, das sich aus der Baufirma Kondor Wessels, dem Developer POB und dem für das Betriebskonzept verantwortlichen Unternehmen Property Conversion zusammensetzt. Damit war der Weg frei für die Umnutzung des Produktionsstandorts als «Design Factory», in der unterschiedliche Unternehmen der Kreativwirtschaft zusammenfinden - Grafiker, Werber, Filmproduzenten, Architekten. Unter der Leitung des Architekturbüros Wessel de Jonge arbeiteten drei Teams an einer denkmalgerechten Umnutzung der früheren Fabrikhallen. Dank einer Struktur aus Glaskojen gelang es, die Hallen zu unterteilen und gleichzeitig die historische Curtain-Wall zu erhalten.

Nachdem die Restaurierung nun weitgehend abgeschlossen ist, liegt ein umfangreiches, opulent illustriertes Buch vor, das die Entstehungsgeschichte und den Restaurierungsprozess hervorragend dokumentiert. Umfassend aufgearbeitet wurde aber auch die Firmengeschichte, wobei der Person Kees van der Leeuws besondere Aufmerksamkeit gilt. Van der Leeuw war eines der führenden Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft in den Niederlanden; dank seinen Kontakten errichteten Brinkman & van der Vlugt einen theosophischen Tempel in Amsterdam sowie Bauten für das «Star Camp» in Ommen, einen Versammlungsplatz des von der Theosophin Annie Besant 1911 gegründeten und mit Jiddu Krishnamurti als spirituellem Leiter aufgebauten «Order of the Star in the East». Von van der Leeuws Architekturbegeisterung zeugt auch die Tatsache, dass er 1931 zu Richard Neutra nach Los Angeles reiste und es ihm ermöglichte, ein Experimentalhaus zu errichten. Als «VDL Research House» trug es die Namen seines Stifters.

Im Rahmen von Führungen ist die Van-Nelle- Ontwerpfabriek für die Öffentlichkeit zugänglich. In Zukunft soll zudem ein Informations- und Besucherzentrum über die Geschichte des Gebäudes informieren. Doch schon jetzt lohnt der Besuch auch dann, wenn man Brinkman & van der Vlugts Meisterwerk kennt: In einer der Lagerhallen am Ufer hat das Nederlands Architectuur Instituut in diesem Herbst eine Dépendance für die Modellsammlung und ein Restaurierungsatelier eröffnet. Eine Klimabox von 600 Quadratmetern beherbergt 400 Architekturmodelle - darunter die Maquetten für den Noord- Oost-Polder von Aldo van Eyck oder Rem Koolhaas' Wettbewerbsbeitrag für die Bibliotheken des Pariser Universitätscampus Jussieu. Einmal im Monat steht das «Open Maquettedepot» Interessierten offen.

[ Van Nelle. Monument in progress. Hrsg. Anne Mieke Backer, D'Laine Camp und Matthijs Dicke. Uitgeverij de Hef Publishers, Rotterdam 2005. 294 S., Euro 69.90. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2006.01.17



verknüpfte Bauwerke
Renovierung Van-Nelle-Fabrik

11. Januar 2006Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Irritierender Körper

Nahe der Ortschaft Hinzert im Hunsrück wurde in den Jahren 1938 und 1939 ein «Polizeihaft- und Erziehungslager» für die am Bau des Westwalls eingesetzten...

Nahe der Ortschaft Hinzert im Hunsrück wurde in den Jahren 1938 und 1939 ein «Polizeihaft- und Erziehungslager» für die am Bau des Westwalls eingesetzten...

Nahe der Ortschaft Hinzert im Hunsrück wurde in den Jahren 1938 und 1939 ein «Polizeihaft- und Erziehungslager» für die am Bau des Westwalls eingesetzten Arbeiter eingerichtet. Es wurde 1940 als Konzentrationslager der SS unterstellt und in die Vernichtungsmaschinerie des NS- Staats integriert. Mehr als 13 000 Männer, viele von ihnen Widerstandskämpfer aus dem besetzten Luxemburg, waren in Hinzert interniert und wurden als Zwangsarbeiter ausgebeutet.

Nach Kriegsende liess die französische Militärregierung einen Ehrenfriedhof anlegen; 2002 beschloss der Landtag von Rheinland-Pfalz die Errichtung eines Dokumentations- und Begegnungszentrums. Den Architektenwettbewerb im Jahr darauf gewann das in Frankfurt und Saarbrücken ansässige Team Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch, bekannt geworden durch das Mahnmal Börneplatz in Frankfurt, das Mahnmal Deportationsbahnhof Grunewald in Berlin und durch die neue Dresdner Synagoge. Das im vergangenen Dezember eröffnete Gebäude beschränkt sich nicht auf eine dienende Rolle. Mit gedenkstättenspezifischen Pathosformeln aber operiert das Bauwerk ebenfalls nicht. Gleichwohl ist das Dokumentationszentrum in höchstem Masse irritierend - es entzieht sich den üblichen Kategorisierungen. Die Architekten entwarfen eine Hülle aus rostigem, 12 Millimeter starkem Cortenstahl, die aus winklig zueinander versetzten Dreiecken besteht. Dadurch steift sich die Struktur aus, wird tragfähig; sie ist Tragwerk und Fassade zugleich. Die Formgebung des Äusseren zeichnet sich auch im Inneren des Gebäudes ab: Wände und Decken bestehen aus dreieckigen Birkensperrholzplatten, auf welche die Texte und Fotos der Ausstellung unmittelbar aufgedruckt sind.

Mit Hilfe computergesteuerter Fertigungsverfahren ist ein ebenso expressiver wie verstörender Bau entstanden, der wie ein Fremdkörper in der Landschaft liegt und sich doch in diese einfügt; der spröde und starr wirkt, doch zugleich auch geschmeidig, fast organisch.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2006.01.11



verknüpfte Bauwerke
Dokumentationshaus Hinzert

27. Dezember 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Utopie des Gegenwärtigen

Nach dem Ende des CIAM 1959 galt die lockere Gruppierung des Teams 10 über mehr als zwei Jahrzehnte als wichtigstes Forum für Fragen der Architektur. Eine Ausstellung und eine Publikation belegen die Aktualität der damaligen Diskussionen.

Nach dem Ende des CIAM 1959 galt die lockere Gruppierung des Teams 10 über mehr als zwei Jahrzehnte als wichtigstes Forum für Fragen der Architektur. Eine Ausstellung und eine Publikation belegen die Aktualität der damaligen Diskussionen.

Die Idee der «funktionellen Stadt» mit ihrer Trennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr war die wohl folgenreichste programmatische Fixierung des 1928 gegründeten Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM). Als «Charta von Athen» bekannt und massgeblich von Le Corbusier erarbeitet, stiess das 1933 formulierte Dogma einer in einzelne Bereich aufgeteilten Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg auch im CIAM zunehmend auf Widerstand. Es war nicht zuletzt ein Generationskonflikt, der offen auf dem neunten CIAM-Kongress 1953 in Aix- en-Provence ausbrach. Gegenüber der älteren Generation von Teilnehmern formierten sich einige jüngere Architekten, die vor rationalistischer Erstarrung ebenso warnten wie vor Nivellierung. Architektur, so ihre Meinung, solle einem «human habitat» folgen; kulturelle Traditionen, Lebensumfelder und unterschiedliche Lebensstile müssten dabei Berücksichtigung finden.

Sozial verantwortliche Architektur

Eine lockere Gruppe von Reformern fand sich zusammen, darunter die Briten Peter und Alison Smithson, die Niederländer Jaap Bakema und Aldo van Eyck sowie Georges Candilis und Shadrach Woods, frühere Mitarbeiter von Le Corbusier, die gerade mit einer Wohnsiedlung in Casablanca Aufsehen erregt hatten. Weil die Reformer mit der Vorbereitung des zehnten CIAM-Kongresses von 1956 in Dubrovnik betraut wurden, nannten sie sich Team 10. Nachdem Walter Gropius und Le Corbusier zum letzten Mal am Treffen in Aix teilgenommen hatten und auf der Konferenz von 1959 in Otterlo die Auflösung des CIAM deklariert worden war, setzte Team 10 die Zusammenkünfte in einem anderen Stil fort: lockerer, weniger formal und weniger rigide. Mehr als zwei Jahrzehnte agierte Team 10 als supranationales intellektuelles Diskussionsforum, bis der Tod von Bakema 1981 schliesslich zur Auflösung der Organisation führte.

Auf Basis eines Forschungsprojekts an der TU Delft wird Team 10 jetzt in einer materialreichen Ausstellung des Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam präsentiert, welches unlängst Peter Smithsons Team-10-Nachlass ankaufen konnte. Im Groben folgt der Rundgang der Chronologie; er beginnt mit der Abgrenzung der Neuerer vom CIAM und endet mit dem letzten Meeting von Team 10 im Jahre 1977 in Bonnieux. In diese dokumentarische Abfolge integriert sind Ausstellungsbereiche, die sich den von Team 10 diskutierten Themen widmen: vom Massenwohnungsbau über den Kontext und die historische Stadt bis hin zu Mobilität, flexiblen Strukturen und partizipatorischem Bauen.

Diese Ausstellung kommt zweifellos zum rechten Zeitpunkt. Wie beispielsweise die Kasseler Documenta in den Jahren 1997 und 2002 zeigte, besitzt die Architektur der fünfziger bis siebziger Jahre für den zeitgenössischen Diskurs erhebliche Aktualität. Neuerdings liegt zudem ein - ebenfalls an der TU Delft erarbeitetes - Kompendium unter dem Titel «Exit Utopia - Architectural Provocations 1956-1976» vor. Dass Architektur etwas mit sozialer Verantwortlichkeit zu tun haben könnte, ist ein Gedanke, der in einer Zeit auf neues Interesse stösst, da das Bauen massgeblich durch das Renditedenken von Investoren oder das Standortmarketing bestimmt wird.

Als Abstufungen von Öffentlichkeit sahen Peter und Alison Smithson die Bereiche «Home, Street, District, City» und kritisierten mit ihrem Wohnkonzept für die Londoner Golden Lane 1952 Le Corbusiers gerade fertiggestellte Unité d'habitation in Marseille. Erschlossen werden die Gebäude nicht von einer Rue intérieure, sondern von äusseren Gangsystemen; und während die Unité isoliert als Stadt in der Stadt konzipiert ist, suchten die Smithsons nach Ausdehnung, Vernetzung und Struktur - gemäss ihrer Überzeugung, die Möglichkeit der Kommunikation sei die zentrale Voraussetzung für sozialen Zusammenhalt. Dabei bewahrte man sich indes einen gewissen Pragmatismus; nicht durch das Theoretisieren, sondern durch das Bauen schaffe man Veränderung, formulierte Alison Smithson 1962.

Grosse Strukturen organisieren

Der Versuch, grosse Baustrukturen nach einem menschlichen Massstab zu organisieren, war eine der wichtigsten Herausforderungen der Gruppe. In dem Entwurf für den Rotterdamer Alexanderpolder (1956) arbeiteten van den Broek und Bakema mit dem Prinzip klar umrissener Nachbarschaften und optischer Gruppierung der Baumassen, um der Anonymität einer modernen Satellitenstadt entgegenzuwirken. Eine organische Verflechtung unterschiedlicher Funktionen als Gegenmodell zur funktionellen Segregation erprobten Georges Candilis, Alexis Josic und Shadrach Woods mit Grosssiedlungen in Bagnols-sur- Cèze (1956-1962) sowie in Toulouse-Le-Mirail (1961-1977). Trotz besten Absichten verfehlten manche Bauten die hochgesteckten Ziele - das gilt selbst für eines der überzeugendsten Beispiele aus dem Umkreis von Team 10, die Neuplanung des Stadtteils Byker in Newcastle durch Ralph Erskine (1968-1981). Die Siedlung gilt als ein Musterbeispiel für partizipatorisches Bauen mit Beteiligung der Bewohner während der Planung. Gleichwohl konnten Verwahrlosung und Verödung kaum verhindert werden.

Die «Robin Hood Gardens» (1966-1972) im Londoner Osten, mit denen die Smithsons ihr Postulat einer «Street in the air» erstmals verwirklichen konnten, stiessen selbst bei manchen Team-10-Mitgliedern auf Widerstand; Aldo van Eyck beispielsweise bezeichnete das Projekt schlicht als «abstossend». Giancarlo de Carlo wiederum kritisierte 1963 den Wettbewerbsentwurf für den Frankfurter Römerberg von Candilis, Josic und Woods heftig. Im Gegensatz zu den Verfechtern ausgedehnter Megastrukturen vertraten van Eyck und de Carlo ohnehin andere Positionen: Van Eyck optierte für einen organisch- individuellen Strukturalismus, wie er sich besonders im Amsterdamer Waisenhaus artikulierte, de Carlo begründete mit seinen Projekten in Urbino einen kritischen Regionalismus und bewies, dass sich moderne Strukturen hervorragend in historische Kontexte einfügen.

Anachronistisch geworden

Während die Team-10-Treffen in den frühen Jahren von einer grossen Zahl von Teilnehmern besucht wurden, reduzierte sich das Spektrum später auf einen engen Zirkel von etwa zehn Personen. Als mit Bakema 1981 einer der Protagonisten starb, waren die spezifischen Team-10-Debatten zum Anachronismus geworden. Mit der Postmoderne, die sich in Deutschland mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Berlin und den neuen Museumsbauten in Stuttgart, Frankfurt und Mönchengladbach manifestierte, hatte die Kritik an der Moderne eine neue Ausprägung gefunden. Der Überdruss an der Postmoderne, der aufgrund mangelnden zeitlichen Abstands die heutige Architektengeneration prägt, mag den Blick auf die sechziger und siebziger Jahre umso reizvoller machen.

[ Bis 8. Januar 2006. Katalog: Team 10 1953-1981. In search of a Utopia of the present. Hrsg. Max Risselada und Dirk van den Heuvel. NAI Publishers, Rotterdam 2005. 370 S., Euro 69.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2005.12.27

21. Dezember 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Sieben Türme für Stalin

Moskauer Hochhäuser in einer Brüsseler Ausstellung

Moskauer Hochhäuser in einer Brüsseler Ausstellung

Der Ministerrat der UdSSR erliess am 13. Januar 1947 ein Dekret, dem zufolge in Moskau acht «Gebäude mit vielen Geschossen» zu errichten seien. Diese Bauten mit ihren 15, 25 oder 31 Stockwerken sollten sich von ausländischen «Hochhäusern» unterscheiden. Zudem wünschte man, dass sie den Bezug zum historischen Stadtbild Moskaus wahrten und darüber hinaus mit dem in Planung befindlichen Sowjetpalast korrespondierten. Die Planungsgeschichte des Sowjetpalastes hatte bereits 1930 begonnen; die Wahl war damals auf einen Entwurf von Boris Iofan gefallen. Dieser sah ein 416 Meter hohes neoklassizistisches Turmhaus vor, welches von einer Leninstatue bekrönt sein und das Empire State Building deutlich überragen sollte. So sehr Iofans Super-Wolkenkratzer auch das Erscheinungsbild der stalinistischen Architektur prägte: Erfolg war dem Architekten kaum beschieden. Der unmittelbar westlich des Kremls am Ufer der Moskwa geplante Sowjetpalast kam nämlich über die Fundamente nicht hinaus, und Iofans im Rahmen des Acht-Türme-Plans 1947 ausgearbeitetes Projekt für die Universität auf den Lenin-Bergen blieb als Anbiederung an «westlich-dekadente Architektur» unausgeführt. Mit der Realisierung betraut wurde Lew Rudnew, der zeitgleich auch den Warschauer Kulturpalast als stalinistischen Architekturexport ausführen konnte.

Mit knapp 50 grandiosen, zum Teil wandfüllenden Plänen und Perspektiven, die aus dem Bestand des Moskauer Schtschussew-Architekturmuseums stammen und zum grossen Teil erstmals öffentlich zu sehen sind, wird derzeit im Brüsseler Kulturzentrum Botanique das ehrgeizige Projekt dokumentiert, die Idee des turmbestandenen Kremls auf die Millionenstadt zu projizieren. Einige der Türme bekamen im Laufe der Planung andere Funktionen zugewiesen, andere unterlagen endlosen Veränderungen - von Alexei N. Duschkins Turm an der Krasnie Worota etwa sind sechs Entwurfsvarianten ausgestellt. Und das Hochhaus des Innenministeriums östlich des Kremls blieb unrealisiert. Die sieben ausgeführten Türme indes, wiewohl Zeugnisse einer totalitären Ära, bestimmen auch heute noch das Moskauer Stadtbild und vermögen als hybride Bauten, die zwischen nationalromantischem Gestus, neoklassizistischer Formensprache und amerikanischer Art-déco-Ästhetik oszillieren, noch heute zu faszinieren.

[ «Les 7 tours de Moscou», bis 19. Februar 2006; Katalog: Les sept tours de Moscou 1935-1950. Hrsg. David Sarkisyan Europalia, Bruxelles 2005. 98 S., Euro 30.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2005.12.21

17. Dezember 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Wiege des Art nouveau

Mit einer umfangreichen Ausstellung widmen sich die Königlichen Museen in Brüssel dem belgischen Beitrag zur Stilreform im 19. und 20. Jahrhundert. Stadtrundgänge erlauben es darüber hinaus, das architektonische Erbe des Art nouveau zu entdecken.

Mit einer umfangreichen Ausstellung widmen sich die Königlichen Museen in Brüssel dem belgischen Beitrag zur Stilreform im 19. und 20. Jahrhundert. Stadtrundgänge erlauben es darüber hinaus, das architektonische Erbe des Art nouveau zu entdecken.

Das 19. Jahrhundert war die Epoche der europäischen Nationalstaaten. Der katholische Süden der Niederlande, in der Vergangenheit wechselnd unter österreichischer, französischer und niederländischer Herrschaft, erklärte sich am 4. Oktober 1830 für unabhängig - der moderne Staat Belgien war geboren. Die 175. Wiederkehr dieses Datums feiert die Nation mit einer Reihe von Veranstaltungen, von denen die Ausstellung «Art Nouveau & Design 1830-1958» als die wichtigste gelten kann. Die umfangreiche Schau wird in den Musées Royaux d'Art et d'Histoire in Brüssel präsentiert. Ziel des Kuratorenteams ist es, anhand der angewandten Kunst den belgischen Weg in die Moderne nachzuzeichnen. Setzt die Schau mit der Staatsgründung 1830 ein, so bildet die Weltausstellung 1958 den Schlusspunkt. Einen Überblick über den gegenwärtigen Stand des Designs vermittelt die Schau «label.design. be», die im historischen Bergwerkskomplex Le Grand Hornu im Borinage zu sehen ist.

Nationalstil und Reformkultur

Die Brüsseler Ausstellungsmacher gliedern ihren Parcours in drei Abschnitte. Zunächst widmen sie sich den durch die Abkehr vom Klassizismus bestimmten Anfängen der Kunstgewerbebewegung. Prägend für Belgien war die Wiederentdeckung der spezifisch flämischen Wurzeln: Für Möbel und Architektur orientierte man sich an der Formensprache eines Hans Vredeman de Vries, und der Architekt Charle-Albert schuf mit seinem Wohnhaus «Het Vlaams Huis» in Watermaal-Bosvoorde 1869-87 ein Gesamtkunstwerk aus dem Geist der flämischen Renaissance. Daneben etablierte sich, zum Teil durch Auftraggeber aus dem Klerus forciert, eine romantisch- neogotische Strömung, die sich ebenfalls auf die nationale Bautraditionen bezog, daneben aber auch von englischen Reformern wie Augustus Welby Pugin und dem Protokonstruktivismus des französischen Theoretikers Viollet-le-Duc inspiriert wurde.

Ohne Zweifel war der Art nouveau der wichtigste Beitrag Belgiens zur Kultur der Moderne. In keiner anderen europäischen Metropole konnte sich das neue Stilempfinden so frühzeitig und so flächendeckend durchsetzen wie in Brüssel. Als Inkunabeln gelten Victor Hortas Maison Tassel und das eigene Wohnhaus des der historistischen Tradition entwachsenen Architekten Paul Hankar. Beide Gebäude entstanden 1893, nur wenige Schritte voneinander entfernt, im südlichen Stadtteil Ixelles, einem der Stadterweiterungsgebiete des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Dominanz des Art nouveau, dem allein in Brüssel gut 500 Bauwerke zuzurechnen sind, erklärt sich aufgrund der Prosperität, welche das Land bestimmte: Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Belgien der nach Grossbritannien am stärksten industrialisierte europäische Staat; und riesige Bauprogramme transformierten in der zweiten Hälfte das Stadtbild der Hauptstadt.

Horta mit seinen von floralen Lineamenten bestimmten Bauten und Hankar, der eher zu einer an japonistischen Vorbildern orientierten geometrischen Auffassung neigte, waren die Brüsseler Protagonisten; in Liège agierte der vor allem im Bereich des Interior Design aktive Gustave Serrurier-Bovy, dem nicht zuletzt das Verdienst zukommt, den Schotten Charles Rennie Mackintosh 1895 erstmals zu einer Ausstellungsbeteiligung auf dem Kontinent eingeladen zu haben. Die Möbel von Serrurier-Bovy zählen zweifellos zu den Höhepunkten der Brüsseler Ausstellung - ebenso wie die bizarren Elfenbein-Bronze-Arbeiten von Philippe Wolfers. Diese entstanden in Zusammenhang mit dem Kongo-Pavillon auf der Internationalen Ausstellung im östlichen Brüsseler Vorort Tervuren 1897 und sollten den Elfenbeinimport aus Kongo fördern, welches bis 1908 gleichsam als «Privatkolonie» des belgischen Königs fungierte. Der Generalsekretär des Unabhängigen Kongostaats, Baron van Eetvelde, einer der frühen Auftraggeber Hortas, hatte mit der architektonischen Gestaltung des Tervuren-Pavillons Horta, Hankar, Georges Hobé und Henry van de Velde beauftragt.

Der Kunstgewerbler van de Velde, dem 1895 mit seinem Wohnhaus Bloemenwerf in Uccle der Schritt Richtung Architektur gelungen war, reüssierte vor allem in Deutschland und kehrte erst nach dem Ersten Weltkrieg in seine belgische Heimat zurück. Die Jahre von 1914 bis 1918 bedeuteten eine Epochenschwelle und machten den Art nouveau definitiv zu einem Stil der Vergangenheit. Van de Veldes Spätwerke, darunter die Universitätsbibliothek in Gent, zeigen eine an Berlage geschulte ruhigere Formauffassung und oszillieren zwischen Art déco und Moderne. Den Weg des belgischen Designs in der Zwischen- und Nachkriegszeit dokumentiert der letzte Teil der Brüsseler Schau. In Kojen finden sich unter anderem Interieurs der Gestalter Marcel-Louis Baugniet, Huib Hoste und Willy Van der Meeren. Mit dem Philips-Pavillon von Le Corbusier und dem Atomium wurden auf der Weltausstellung 1958 wegweisende Architekturen ihrer Zeit errichtet.

Rundgänge durch Brüssel

Die jetzige Ausstellung, die trotz hervorragenden Exponaten zu stark objektfixiert bleibt und übergeordnete Themen nur kursorisch behandelt, spart die Architektur weitgehend aus. Doch erhalten die Besucher einen Plan, der es ermöglicht, auf fünf Spaziergängen durch die Stadt insgesamt 150 Bauten des Art nouveau zu besuchen. Meist handelt es sich um Privathäuser, doch führen die Wege auch zu wohlerhaltenen Interieurs - etwa der Restaurants «Falstaff» oder «De Ultime Hallucinatie». Einige Gebäude sind ohnehin zugänglich, darunter Hortas Atelier- und Wohnhaus sowie die Maison Cauchie. Der Malerarchitekt Paul Cauchie errichtete sie 1905 für sich und versah sie mit einer Sgraffito-Fassade sowie mit Innenausstattungen, die deutlich von Mackintosh inspiriert sind. Durch einen historischen Zufall steht das eigentliche Hauptwerk des Wiener Sezessionsstils ebenfalls in unmittelbarer Nachbarschaft: Zwischen 1905 und 1911 realisierte Josef Hoffmann das Palais des Eisenbahnmagnaten Adolphe Stoclet an der Avenue de Tervuren. Das unermesslich luxuriös ausgestattete Gebäude mit den berühmten Mosaiken von Gustav Klimt und den Interieurs der Wiener Werkstätte ist seit je unzugänglich. Nach dem Tod der Tochter von Stoclet im Frühjahr steht es zum Verkauf - der Preis, so heisst es, soll bei einer Milliarde Euro liegen.

Am jetzigen Ausstellungsreigen beteiligen sich auch die rührigen Archives d'Architecture Moderne. «La Façade Art Nouveau» heisst die Schau in der zum Architekturmuseum umgewandelten Freimaurerloge an der Rue de l'Ermitage. Exzellentes Planmaterial und diverse Bauteile belegen die Kunstfertigkeit in den Bereichen Steinbildhauerei und Eisenguss, Keramik und Sgraffito, Bleiglasfenster und Tischlerarbeit. Nicht zuletzt aber werden die Verluste an wertvoller Bausubstanz bilanziert, von der Zerstörung von Hortas meisterhafter Maison du Peuple 1965 bis zum Abriss von Hankars Atelier des Malers Albert Ciamberlani im Jahr 1989.

[ Ausstellungen: bis 31. Dezember in den Musées Royaux d'Art et d'Histoire, bis 23. Dezember in den Archives d'Architecture Moderne. ]

[ Begleitpublikationen: Art nouveau & Design. Les arts décoratifs de 1830 à l'Expo 58. Hrsg. Claire Leblanc. Editions Racine, Bruxelles 2005. 200 S., Euro 29.95. - Eric Hennaut: La Façade Art Nouveau à Bruxelles. AAM Editions, Bruxelles 2005. 64 S., Euro 10.20. - La Maison Cauchie. Entre rêve et réalité. Edition Maison Cauchie, Bruxelles 2005. 96 S., Euro 20.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2005.12.17

12. Dezember 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kontinuität der Moderne

Erst im Alter von 54 Jahren erzielte Peter Kulka mit dem Entwurf des Landtags in Dresden den Durchbruch. Heute gilt er als einer der wichtigsten Architekten Deutschlands. Eine grosse Retrospektive im Deutschen Architektur-Museum (DAM) gibt nun einen Überblick über sein Schaffen, das ausgeht von der Tradition der Moderne.

Erst im Alter von 54 Jahren erzielte Peter Kulka mit dem Entwurf des Landtags in Dresden den Durchbruch. Heute gilt er als einer der wichtigsten Architekten Deutschlands. Eine grosse Retrospektive im Deutschen Architektur-Museum (DAM) gibt nun einen Überblick über sein Schaffen, das ausgeht von der Tradition der Moderne.

Zwischen 1991 und 1997 entstand am Elbufer in Dresden der Neubau des Sächsischen Landtags. Der Gebäudekomplex, der flussseitig an das moderat-moderne Landesfinanzamt aus dem Jahre 1931 anschliesst, ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zunächst einmal handelte es sich um den ersten Parlamentsneubau in den jungen deutschen Bundesländern, und ohne die Tradition der informellen «runden Tische» wäre die antihierarchisch-radikale Kreisform der Sitzordnung im Plenarsaal wohl kaum vorstellbar gewesen. Des Weiteren stellt der Bau ein dezidiertes Bekenntnis zur Tradition der architektonischen Moderne dar: Der stählerne Dachraster, der den gläsernen Zylinder des Parlamentssaals überfängt, ist unzweideutig von der Entwurfsauffassung Mies van der Rohes inspiriert. In Dresden, das mit der Schimäre eines revitalisierbaren barocken Elbflorenz gerne das Trauma der Zerstörung von 1945 kompensieren möchte, rahmen nun zwei hervorragende Bauten der jüngsten Zeit die Canaletto-Perspektive aus Frauenkirche, Schloss und Hofkirche - der Sächsische Landtag im Westen und die 2001 geweihte Synagoge von Wandel, Höfer, Lorch und Hirsch im Osten.

Bemerkenswert ist der Komplex des Landtags aber auch, weil er einem Architekten, der zuvor nur wenigen bekannt war, zum Durchbruch verhalf, und das in seiner Heimatstadt. Der in Dresden geborene, mittlerweile in Köln tätige Peter Kulka war 54 Jahre alt, als er 1991 den Landtags- Wettbewerb gewann. Seitdem reiht sich Auftrag an Auftrag, und Kulka zählt zu den Hauptexponenten der deutschen Gegenwartsarchitektur. Die Geschichte kennt einige Beispiele «spät berufener» Architekten, die erst jenseits der 50 zu ihrem eigenen Stil fanden. Das berühmteste Beispiel dafür ist Louis I. Kahn, doch auch Günter Behnisch erlangte erst mit dem Münchner Olympiastadion von 1972 Prominenz.

Eine deutsch-deutsche Biografie

Vielleicht ist es symptomatisch, dass in Dresden ein Architekt zum Zug kam, dessen Biografie mit der deutsch-deutschen (Bau-)Geschichte paradigmatisch verwoben ist. 1937 in Dresden geboren, studierte Peter Kulka nach einer Maurerlehre an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee bei Selman Selmaganic, der als Schüler von Mies van der Rohe die Bauhaus-Tradition in der DDR fortzusetzen suchte. Unter Hermann Henselmann arbeitete der junge Absolvent 1964 an der Deutschen Bauakademie; ein Jahr später trat er nach einer abenteuerlichen Flucht in das Westberliner Büro von Hans Scharoun ein. Im Atelier des Organikers, so sagte Kulka einmal, sei er dann zum Spezialisten für rechte Winkel geworden. Nach der Zeit bei Scharoun war er in den siebziger Jahren an der Planung der Universität Bielefeld beteiligt, einer kompakten Megastruktur im Geist der damaligen Zeit; in den achtziger Jahren tat er sich mit dem Kölner Architekten Hans Schilling zusammen. Mehrere religiöse Bauten entstanden, die auf die rheinische Kirchenbautradition des 20. Jahrhunderts zurückgreifen und mitunter Nähen zur Postmoderne aufweisen.

«Minimalismus und Sinnlichkeit» ist jetzt die grosse Retrospektive im Deutschen Architektur- Museum (DAM) betitelt. Kurator Yorck Förster, gemeinsam mit dem Architekten für das Konzept verantwortlich, hat um den Gartenhof des Erdgeschosses herum eine Box errichtet. Auf deren Aussenseite laufen die Besucher entlang eines Zeitstrahls, der Leben und Werk Kulkas in knapper Form präsentiert. Im Inneren der Box sowie in der Galerie des benachbarten Vortragssaals werden - beginnend mit dem Sächsischen Landtag - einundzwanzig Bauten und Projekte aus den letzten Jahren anhand von Modellen, Fotos, Plänen und kurzen Beschreibungen zu Gruppen vereint vorgestellt - «Freie Form», «Wege», «Der private Raum» und «Verloren und wiederentdeckt» lauten einige der Kategorien. Dabei zeigt die Sequenz der Objekte, dass Kulka keineswegs eine einheitliche stilistische Linie verfolgt. Das offenbart insbesondere die Konfrontation «Masse und Transparenz»: Auf der einen Seite der gläserne Landtag, auf der anderen Seite das «Haus der Stille» (2002) der Abtei Königsmünster in Meschede, ein kompaktes, fast hermetisches Sichtbetonvolumen, dessen Struktur sich erst im Inneren erschliesst.

Bezüge auf die Tradition

Wenn es einen gemeinsamen Nenner sämtlicher neuerer Projekte des Architekten gibt, so ist es der Bezug auf die Tradition moderner Architektur. Mal sind es miesianisch inspirierte Stahl- Glas-Gebäude, dann wolkenbügelähnliche Formationen wie bei dem eleganten, über dem Stuttgarter Talkessel gelegenen Schulungszentrum für Bosch oder der geplanten Feuerwache in Heidelberg. Im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses Berlin (also des früheren Schauspielhauses von Schinkel) erwies Kulka unlängst einer architektonischen Inkunabel Dresdens seine Reverenz: Die höhenverstellbaren Podeste, welche den Raum konstituieren, fanden sich ähnlich einst im grossen Saal des Festspielhauses Hellerau (1910), bei dem Heinrich Tessenow mit dem Bühnenreformer Adolphe Appia und dem Lichtdesigner Alexander von Salzmann zusammengearbeitet hatte.

Auffallend oft hat sich Peter Kulka in den vergangenen Jahren mit historischer Bausubstanz auseinandergesetzt, vor allem in den neuen deutschen Bundesländern. Wenn er nicht, wie jetzt beim Wiederaufbau des Dresdner Stadtschlosses, mit dem Wunsch nach einer Rekonstruktion der historischen Gebäudehülle konfrontiert wird, setzt er auf eine Trennung der Zeitschichten. Das bewusste Bekenntnis zur Gegenwart schliesst Sensibilität und Behutsamkeit keinesfalls aus. Schon beim Umbau der Herfurtschen Villa in Leipzig zur Galerie für zeitgenössische Kunst (1994-98) ergab sich durch klare Eingriffe und Ergänzungen ein fruchtbarer Dialog über die Zeiten hinweg; erst in diesem Jahr wurde der Umbau des zum Teil kriegszerstörten Dresdner Hygiene- Museums von Wilhelm Kreis fertig gestellt. Kulkas vielleicht poetischstes Projekt blieb leider unausgeführt: Für eine durch das Hochwasser des Jahres 2002 in Mitleidenschaft gezogene Fussgängerbrücke in Grimma legte er einen aus sich überschneidenden Bögen bestehenden Entwurf vor - ein fast sakral anmutendes Netzwerk aus Brettschichtholz.

[ Bis 5. Februar 2006. Katalog: Peter Kulka. Minimalismus und Sinnlichkeit. Hrsg. Yorck Förster und Ingeborg Flagge. Edition Axel Menges, Stuttgart 2005. 272 S., Euro 28.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2005.12.12

29. November 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Halle als Brennpunkt

In Wörgl in Tirol realisierte der Wiener Architekt Viktor Hufnagl 1973 das damals revolutionäre Konzept einer Hallenschule. Das in die Jahre gekommene Gebäude wurde nun umgebaut - und im Geist der Entstehungszeit von Peter Märkli erweitert, der jüngst mit einem Schulhausneubau in Zürich Oerlikon für Aufmerksamkeit sorgte.

In Wörgl in Tirol realisierte der Wiener Architekt Viktor Hufnagl 1973 das damals revolutionäre Konzept einer Hallenschule. Das in die Jahre gekommene Gebäude wurde nun umgebaut - und im Geist der Entstehungszeit von Peter Märkli erweitert, der jüngst mit einem Schulhausneubau in Zürich Oerlikon für Aufmerksamkeit sorgte.

Die Ästhetik der sechziger und siebziger Jahre erfreut sich seit einiger Zeit neuer Beliebtheit. Angesagte Lounges und Bars werden im Verner- Panton-Chic ausgestattet, und die Decke des grossen VIP-Bereichs im neuen Münchner Stadion von Herzog & de Meuron ist mit Abschnitten von goldglänzenden Rohren verkleidet, als handle es sich um Kunst am Bau in einem DDR- Kulturhaus. So chic derartige visuelle Referenzen auch sein mögen, mit den realen baulichen Hinterlassenschaften jener Jahre tut man sich schwerer. Die Denkmalpflege benötigt zumeist einen grösseren Zeitabstand, um sich ihrer Objekte annehmen zu können. Und für viele Gemeinden stellen die Wohnsiedlungen und städtebaulichen Zeugnisse von damals eine Bürde dar, deren man sich gerne mit Hilfe von Investoren entledigt.
Baudenkmal der siebziger Jahre

Dass es auch anders geht, hat man nun in Wörgl bewiesen, einer wenige Kilometer südlich von Kufstein gelegenen Stadt im Tiroler Inntal. Eine Hallenschule aus den siebziger Jahren, erbaut von Viktor Hufnagl, musste heutigen Anforderungen angepasst werden. Beim Umbau ist es dem Zürcher Architekten Peter Märkli in Zusammenarbeit mit Gody Kühnis gelungen, die Raum- und Materialqualitäten des Altbaus zu bewahren, ohne sich einer sklavischen Rekonstruktion zu befleissigen: Das Weiterbauen im Geiste der Entstehungszeit, aber mit heutigen Mitteln gelang hier auf vorbildliche Weise.

Inspiriert durch die Erfahrungen der klassischen Moderne sowie die neusten Entwicklungen im Ausland, begann der 1922 geborene und an der Wiener Akademie ausgebildete Architekt Viktor Hufnagl Anfang der fünfziger Jahre mit dem Typus einer Hallenschule zu experimentieren. Sie sollte den monofunktionalen Gangtypus des damaligen Schulhausbaus endgültig ablösen. Dabei fungiert die zentrale Halle, die auch als Pausen- und informeller Kommunikationsbereich dient, als kompakte Erschliessungszone. An diese lagern sich die quadratischen, zweiseitig belichteten Klassenzimmer an. Ziel Hufnagls war es, in Abkehr von den dörflichen Zwergschulen grosse Schulzentren als gesellschaftliche Mikrokosmen zur spielerischen Einübung sozialen Verhaltens zu errichten - und diese, sofern möglich, über die schulischen Funktionen hinaus ausstrahlen zu lassen. So resümierte Hufnagl 1973: «Die Zusammenlegung von Gemeinschafts- und Schuleinrichtungen zu einem Kultur- und Bildungszentrum auf einem gemeinsamen Grundstück würde grösstmögliche Effektivität an Sozialkontakt der Jugend mit den Erwachsenen (. . .) bringen.»

Das Schulzentrum Wörgl entstand zwischen 1970 und 1973 als Kombination von Bundesrealgymnasium, Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule für 1300 Schüler. Gedacht als Experimentalbau für die Präfabrikation von Schulhäusern, wurde der 105 × 99 Meter messende Komplex als dreigeschossiges, um ein Sockelgeschoss ergänztes Ensemble realisiert, das mit modularen Stützenabständen ein Höchstmass an Flexibilität garantierte. Die Nordwestecke des mit seiner kreuzförmigen Grundrissgestalt - deren Zentrum die grosse Halle bildet - wie eine breit gelagerte Stufenpyramide wirkenden Baus nahm ein öffentliches Hallenbad ein. An die zentrale Halle schliessen dreiseitig Unterrichtstrakte mit kleinen Pausenhallen an. Die grosse Halle, mit einem Betonraster von 26 Metern Seitenlänge überdeckt, wird von zwei Freitreppen erschlossen und bietet als öffentlicher Raum, der auch von der Gemeinde genutzt werden kann, Platz für gut 3500 Personen.

Aufgrund bauphysikalischer Probleme zeigte sich in den neunziger Jahren, dass eine Sanierung des Schulzentrums unvermeidlich wurde. Die von Märkli und Kühnis erarbeitete Lösung überzeugt, weil sie das Potenzial von Hufnagls Anlage respektiert und - im wahrsten Sinne des Wortes - konstruktiv mit ihm umgeht, ohne das Gebäude selbst zu historisieren.

Das Architektenteam befreite die rohe Betonstruktur zunächst von den Einbauten und führte sie auf das reine Tragwerk zurück. Nach einer Sanierung wurde die Raumstruktur weitestgehend wiederhergestellt und mit neuen Trennwänden versehen. Da der frühere Aufbau der Leichtbau- Wandkonstruktionen den heutigen Normen hinsichtlich Brandschutz und Schalldämmung nicht mehr entsprach, musste eine neue Lösung gefunden werden. Die gelochten Paneele aus Weisstanne, mit denen die Systemwände beplankt sind, haben eine homogenere Oberfläche als die vormaligen Wände; doch es gelang, die Proportionen von Oberlicht zu Wand annähernd beizubehalten und damit die Transparenz der Raumstruktur zu bewahren. Für die Aussenfronten wurde in Abstimmung mit der Denkmalpflege ein System gefunden, das der Einteilung und der roten Farbigkeit der Ursprungsfassade nahe kommt.
Neue Erschliessung

Zwar stellten Märkli und Kühnis das Konzept von Hufnagl weitgehend wieder her. Sie mussten aber - entsprechend den Vorgaben des Wettbewerbs - auch neue Klassen- und Spezialräume hinzufügen. Dies geschah nicht durch einen separaten Anbau, sondern mit einer Fortführung der bestehenden Struktur. Die dem zweiten Obergeschoss westlich, südlich und östlich der Klassenzimmer vorgelagerten Terrassen wurden überbaut, so dass nun die Nutzfläche auf dieser Ebene derjenigen im ersten Obergeschoss entspricht. Kassettendecken, die in Details von denen im Altbaubereich abweichen, bilden auch hier die Decken, und die mit grundsätzlich weissen Profilen versehenen Fassaden erlauben es, beim genauen Hinsehen zwischen Alt und Neu zu unterscheiden, ohne dass hier ein pädagogischer Hinweis mit dem Zeigefinger inszeniert würde.

Grundsätzlich neu ist die Erschliessung: Die Schülerinnen und Schüler betreten das Schulgebäude nicht mehr über den einstigen Haupteingang im Erdgeschoss neben der Sporthalle, sondern im Sockelgeschoss unterhalb der Verwaltung. Von einem neu angelegten Lichthof erhellt, entstand hier ein grosszügiges Foyer. Die orangefarbene Front des Kiosks und die Wände aus Glasbausteinen sind Hinzufügungen der Architekten zur Material- und Farbpalette von Hufnagl. Die niedrigen Proportionen des Raums lassen - sobald man über eine der beiden Treppen ins Erdgeschoss gelangt - die Dimensionen der zentralen Halle noch deutlicher hervortreten.

In welchem Masse sich Märkli und Kühnis die Ideen von Hufnagl schöpferisch anzuverwandeln vermochten, zeigt nicht zuletzt die zweite Sporthalle, die anstelle des früheren Hallenbades entstanden ist. Die Oberlichtzone ist gegenüber dem benachbarten Altbau reduziert, doch mit den gewaltigen Betonstegen erzielten die Architekten eine suggestive Wirkung, die dem Bestand in keiner Weise nachsteht. Die Auseinandersetzung mit der Architektur von Hufnagl blieb auch für Peter Märkli nicht ohne Folgen. Seinen 2004 fertiggestellten Schulkomplex Im Birch in Zürich Oerlikon, der im zeitgenössischen Schweizer Schulbau neue Massstäbe setzt, kann man als Hommage an Viktor Hufnagl verstehen.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2005.11.29



verknüpfte Bauwerke
Bundesschulzentrum Wörgl - Erweiterung

28. November 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Schlafender Drache

Mit dem «Phæno Science Center» genannten Wissenschaftsmuseum von Zaha Hadid versucht Wolfsburg, das provinzielle Image der Stadt durch extravagante Architektur und eine innovative Ausstellungsinstitution zu verbessern. Ob mit dem grandiosen Bau auch der städtebaulichen Misere abgeholfen werden kann, bleibt abzuwarten.

Mit dem «Phæno Science Center» genannten Wissenschaftsmuseum von Zaha Hadid versucht Wolfsburg, das provinzielle Image der Stadt durch extravagante Architektur und eine innovative Ausstellungsinstitution zu verbessern. Ob mit dem grandiosen Bau auch der städtebaulichen Misere abgeholfen werden kann, bleibt abzuwarten.

Im Jahre 1986 hielt der erste ICE in Wolfsburg. Spätestens als dann Berlin in knapp einer Stunde Fahrzeit erreichbar wurde, ging es darum, die Jahrzehnte im Schatten der innerdeutschen Grenze gelegene Stadt neu zu positionieren. Wolfsburgs provinzielles Image resultierte aber auch aus der Tatsache, dass es der Stadt grundsätzlich an urbanen Qualitäten mangelte. Die 1938 nahe der Ortschaft Fallersleben gegründete und nach Entwürfen des österreichischen Architekten Peter Koller für 100 000 Bewohner projektierte «Stadt des KdF-Wagens» bestand bei Kriegsende aus der riesigen teilzerstörten Autofabrik, einigen versprengten Wohnvierteln sowie endlosen Barackenlagern. Wolfsburg, wie die Stadt seit 1945 heisst, wurde mit dem im Volkswagenwerk vom Band laufenden Käfer der Inbegriff des deutschen Wirtschaftswunders. Städtebaulich orientierte man sich am skandinavischen Modell einer weitläufigen, durch Grünzüge gegliederten Siedlungsstruktur von geringer Dichte. Daneben entstanden an der schon von Koller als Haupterschliessungsachse geplanten Porschestrasse die Bauten mit Zentrumsfunktion, so das integral erhaltene und vorbildlich restaurierte Kulturhaus von Alvar Aalto (1962) und das Stadttheater von Hans Scharoun (1973). Erst zwanzig Jahre später, 1994, wurde das eher grobschlächtige Kunstmuseum des Architekturbüros Schweger in das Ensemble am Südende der Porschestrasse integriert.

Städtebauliche Defizite

Die wesentliche Initiative zur Attraktivitätssteigerung der Stadt ging in den neunziger Jahren vom VW-Konzern aus. Rechtzeitig zur Expo 2000 in Hannover entstand auf der Nordseite des VW- Werk und Stadt trennenden Mittellandkanals die Autostadt, ein Themenpark mit Automuseum, Fünfsternehotel und «Markenpavillons», in welchem sich die Firmen des VW-Imperiums präsentieren. Auch wenn die Autobauer mit dem Architekten Gunter Henn nicht eben einen Visionär beauftragt hatten, erwies sich die architektonisch enttäuschende Inszenierung der Autostadt beim Publikum als so erfolgreich, dass die Stadt ihrerseits in Zugzwang geriet. Wollte man von dem Touristenstrom profitieren, so musste im Bereich des Bahnhofs etwas geschehen. Die von Billigsupermärkten und Imbissbuden flankierte Fussgängerzone der Porschestrasse steht geradezu paradigmatisch für mehrere Dezennien urbaner Fehlentwicklung. In diesem Meer von schlechtem Geschmack wirkt Aaltos Kulturhaus mit seinen bescheidenen Proportionen und einer wunderbaren Materialisierung wie eine Insel der Seligen.

Geradezu verheerend zeigte sich die Situation am «Nordkopf» - also dort, wo die Porschestrasse auf die Bahntrassees und den Mittellandkanal stösst. Nach einem nur zum Teil umgesetzten Plan des Berliner Architekturbüros Léon Wohlhage hat man in den vergangenen Jahren versucht, den ausgefransten Stadtrand im Bereich des Bahnhofsvorplatzes zu konturieren. Gelungen ist das nicht, wie die mediokren Bauten gegenüber dem denkmalgeschützten Hauptbahnhof beweisen. Inmitten architektonischer Banalität und urbanistischer Verfehlungen wirkt das am vergangenen Donnerstag eröffnete Wissenschaftsmuseum «Phæno» von Zaha Hadid wie die Botschaft aus einer anderen Welt. - Phæno ist Wolfsburgs Antwort auf die Autostadt jenseits des Kanals. Um dem VW-Themenpark etwas entgegenzusetzen, propagierte der vormalige Kulturdezernent Wolfgang Guthardt entsprechend dem City-Branding als Wissenschaftsstandort die Idee eines Science-Center. Im Zeitalter verschärfter Städtekonkurrenz und einer seit Jahren kontinuierlich sinkenden Einwohnerzahl, so das Kalkül, könnte eine derartige Institution ein positives Signal setzen. Guthardt gelang es, das Stadtparlament für die durch Sponsoren unterstützte Gesamtinvestition von 79 Millionen Euro zu gewinnen. Im Architekturwettbewerb konnte sich Anfang des Jahres 2000 Zaha Hadid durchsetzen; unter den übrigen 26 zugeladenen Teilnehmern gelangten Barkow Leibinger und Enric Miralles auf die Plätze zwei und drei.

Die in London tätige Irakerin, deren zentrifugal auseinander strebende, dekonstruktivistische Entwurfsvisionen einst als unbaubar galten, konnte in diesem Jahr nach dem BMW-Zentrumsgebäude und der Erweiterung der Ordrupgaard Collection in Kopenhagen mit Wolfsburg bereits ihr drittes Projekt einweihen. Beim Komplex des Phæno handelt es sich um ein massives Sichtbetonvolumen über dreieckigem Grundriss, das von insgesamt zehn kegelförmigen Volumina unterschiedlichen Zuschnitts in die Höhe gestemmt wird. Vom Bahnhof aus gesehen, gipfelt das Gebäude in einer expressiven Spitze, die ein wenig an das Hamburger Chilehaus erinnern mag, zur Stadt hin zeigt es sich eher als breit gelagerter Riegel, wobei die Längsausdehnung entlang der Bahngeleise 150 Meter beträgt. Durch einen der kegelförmigen Füsse gelangt man in die sieben Meter über Bodenniveau gelegene «Experimentierlandschaft», die als fliessender Raum den gesamten Körper durchzieht. - Das Ausstellungskonzept des Phæno wurde von Joe Ansel erarbeitet, der mehrere Jahrzehnte als Vizedirektor des 1969 gegründeten Exploratoriums San Francisco, der Mutter aller Wissenschaftsmuseen, tätig war. Rund 250 Experimentierstationen, die es erlauben, optische und akustische, chemische sowie physikalische Phänomene zu erproben und zu begreifen, sind im Raum verteilt. Die Exponate sind grob nach Themen wie «Energie», «Materie» oder «Mikro + Makro» gegliedert, doch ein Rundgang wird bewusst nicht vorgegeben. Man lernt, gemäss dem Credo von Ansel, am besten spielerisch und freiwillig, und man begreift mit den Händen. Bildschirme, die an allen Orten sonst als unverzichtbar erscheinen, sind aus dem Haus nahezu verbannt.

Höhlenstruktur

Zur Finanzierung seines Betriebs benötigt das Phæno 180 000 zahlende Besucher im Jahr. Ohne Zweifel taugt es auch als Mekka für Architekturinteressierte: Schlicht grandios ist das leicht aufgefächerte Vierendeel-Stahltragwerk, das die Decke zwischen den fünf tragenden Gebäudekernen des Ausstellungsgeschosses stützenfrei überspannt. Realisiert werden konnte die aufwendige Bauskulptur nur dank dem neu im Hochbau verwendeten «selbst verdichtenden Beton». In den Nischen und Kratern zwischen den Ebenen, aber auch bei den Kegelfüssen des höhlenartigen Erdgeschosses ist es gelungen, den Beton in jede denkbare Form zu zwingen, auch wenn Risse bezeugen, dass dabei die Grenzen des heute Machbaren erreicht wurden.

Vielleicht ist die Grotte des Erdgeschosses die eigentliche Herausforderung, welche die Architektin der Stadt mit auf den Weg gegeben hat. Wie sie einst genutzt werden kann, ist in diesen kalten Novembertagen, in denen sich der Schnee über die Stadt gelegt hat, noch fraglich. Ein Café, ein Restaurant, ein Atelier, ein «Ideenforum» und ein Auditorium sind in einigen der Kegelstümpfe vorgesehen; Eingangsbereich, Museumsshop und Materialschleuse werden schon benutzt. Dazwischen spannt sich ein öffentlich zugänglicher kavernenartiger Raum auf, der Ausblicke auf das VW-Kraftwerk mit seinen vier Schornsteinen jenseits des Kanals, aber auch auf den Bahnhof und die Porschestrasse freigibt. Die Höhlenstruktur schafft Perspektiven auf die Stadt - und muss dennoch erobert werden. Archaisch, fast urtümlich lagert das Phæno zwischen Autostadt und Innenstadt, und man weiss nicht so recht, ob es sich in Zukunft als steinernes Herz oder als schlafender Drache erweist, der einmal der Stadt seine feuerspeienden Nüstern entgegenrecken wird. Wer sich durch die Experimentierlandschaft bewegt, wird jedenfalls schon jetzt gelegentlich von einem Feuertornado erschreckt.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2005.11.28



verknüpfte Bauwerke
Science Center Phæno

24. November 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Heimat als bauliches Konstrukt

Mit der Epoche zwischen Historismus und Moderne hat sich die Architekturhistoriographie lange Zeit schwer getan. Eine Perspektive, die im Internationalen Stil das eigentliche Ziel der Architektur sah, musste zwangsläufig dazu führen, dass die Entwicklungen vor 1920 allenfalls in wegbereitendem Sinne akzeptiert wurden. Selbst Julius Posener, über Jahrzehnte im deutschsprachigen Raum der engagierteste Verfechter einer breiteren Optik, stellte seine Studie über das englische Arts and Crafts Movement und den Deutschen Werkbund (1964) unter den Titel «Anfänge des Funktionalismus».
Probleme der Abgrenzung

Mit der Epoche zwischen Historismus und Moderne hat sich die Architekturhistoriographie lange Zeit schwer getan. Eine Perspektive, die im Internationalen Stil das eigentliche Ziel der Architektur sah, musste zwangsläufig dazu führen, dass die Entwicklungen vor 1920 allenfalls in wegbereitendem Sinne akzeptiert wurden. Selbst Julius Posener, über Jahrzehnte im deutschsprachigen Raum der engagierteste Verfechter einer breiteren Optik, stellte seine Studie über das englische Arts and Crafts Movement und den Deutschen Werkbund (1964) unter den Titel «Anfänge des Funktionalismus».
Probleme der Abgrenzung

Wie man die Architektur des beginnenden 20. Jahrhunderts treffend benennen sollte, darüber bestand lange Uneinigkeit. Die Kuratoren einer Ausstellung in Münster 1992 versuchten es noch mit dem Label «Halbzeit der Moderne», doch inzwischen hat sich der passendere Begriff «Reformarchitektur» durchgesetzt. Es handelte sich um eine Architektur, die sich vom Eklektizismus des 19. Jahrhunderts abwandte und die man als Teil einer sämtliche Bereiche des Lebens umfassenden Reformkultur verstehen kann. Das breite Spektrum, das von der Lebensreformbewegung erfasst wurde, ist durch Publikationen und Ausstellungen der letzten Jahre verstärkt ausgeleuchtet worden.

Nun hat die im Bereich der Denkmalpflege tätige Kunsthistorikerin Elisabeth Crettaz-Stürzel eine zweibändige Publikation zum Thema «Heimatstil» vorgelegt, die den Untertitel «Reformarchitektur in der Schweiz 1896-1914» trägt. Auch die Autorin kämpft mit den Begriffen, und sie muss konzedieren, dass ein an regionale Vorbilder sich anlehnender Heimatstil neben dem Jugendstil oder Art nouveau und dem Reduktionsklassizismus nur eine Spielart der Reformarchitektur darstellt. Das eigentliche Problem besteht darin, dass sich die unterschiedlichen Tendenzen vielfach mischten. Das liesse sich etwa am Beispiel des Architekturbüros Curjel & Moser zeigen, dessen reiches, immer noch nicht durch eine fundierte Monographie erschlossenes Œuvre sämtliche möglichen Kombinationen zeigt. Eine weitere grundsätzliche Schwierigkeit ist die Tatsache, dass der «Heimatstil» mit dem Jahr 1914 in der Schweiz nicht etwa verebbte, sondern sich bis in den «Landistil» der dreissiger Jahre halten konnte, wenn nicht darüber hinaus: Heimat wird erst in der Zeit ihrer Bedrohung zum Thema.

Wie problematisch die Eingrenzung des Heimatstils ist, zeigt der zweite Band der Publikation. Crettaz-Stürzeler hatte zuständige Denkmalpfleger und Kunsthistoriker aller Schweizer Kantone gebeten, maximal 20 Bauten des Heimatstils auszuwählen und mit Einleitungsessays zu versehen - Städte wie Bern, Genf, Lausanne und Zürich bekamen separat 20 Objekte zugestanden. Einige Bauten stammen aus den zwanziger Jahren, und viele der übrigen sind unter dem Stichwort «Heimatstil» auch nur bedingt zu erfassen. Ganz abgesehen davon, dass es relativ unsinnig ist, wenn Appenzell Ausserrhoden mit gleich viel Bauten vertreten ist wie die Stadt Zürich. Präzisere Vorgaben der Autorin hätten gut getan - auch hinsichtlich der allzu heterogenen Einleitungstexte.

Tour d'Horizon und Detailanalyse

Gewiss, die städtischen Beispiele sind in den verdienstvollen, von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte edierten Bänden des Inventars der neueren Schweizer Architektur (INSA) erfasst. Dennoch ist - bei aller Kritik - eine Zusammenstellung wie in den vorliegenden Bänden aufschlussreich, weil sie letztlich das Postulat einer Anknüpfung an heimische Bautraditionen vielfach als Illusion entlarvt. Ründendächer im Kanton Bern oder Schweifgiebel im Glarnerland sind Anspielungen auf lokale Traditionen, doch genauso finden sich Elemente englischer Landhausarchitektur oder Nähen zur finnischen Nationalromantik (sofern man nicht auf seinerzeit rezipierte amerikanische Vorbilder von Richardson oder Sullivan verweisen möchte). Insofern ist der Grundthese der Autorin zuzustimmen, dass es sich beim Heimatstil um ein internationales Phänomen handelt.

Die Verflechtungen und Verbindungen, vor allem mit Deutschland, zeichnet sie im ersten Band nach. Viele der Schweizer Protagonisten - Karl Indermühle, Rittmeyer & Furrer, Nicolaus Hartmann - hatten an den führenden süddeutschen Universitäten studiert, und der Schweizer Heimatschutz, der sich zunächst in den Deutschschweizer Kantonen etablierte, wurde 1905 nach deutschem Vorbild gegründet. Einfluss gewann der Heimatschutz durch Lancierung von Wettbewerben, vor allem aber durch eine breite publizistische Tätigkeit. Auch hier ist auf Vorarbeiten zu verweisen, vor allem auf die einflussreichen Veröffentlichungen von Hermann Muthesius und Paul Schultze-Naumburg. Von eminenter Bedeutung war das an Muthesius' Landhausbücher angelehnte, 1909 erschienene und von Crettaz-Stürzel ausgiebig diskutierte Kompendium «Villas et Maisons de Campagne en Suisse» des Genfer Architekten Henry Baudin.

Die Stärke der vorliegenden zwei Bände besteht in detaillierten Analysen, etwa der publizistischen Strategien, und entschädigt für manche Allgemeinplätze beim Beitrag zur Reformkultur, den die Autorin ihrer Publikation voranstellt. Als empfindliches Defizit fällt überdies auf, dass die Autorin die Schattenseiten des «Heimatstils» geflissentlich ignoriert. Hier wäre vor allem der mit keinem Wort erwähnte Alexander von Senger anzuführen, der mit dem Hauptbahnhof St. Gallen und dem Zürcher Hauptsitz der heutigen Swiss Re am Mythenquai zwei herausragende Werke der Reformarchitektur um 1910 realisierte, sich in den zwanziger Jahren indes - wie sein deutscher Kollege Schultze-Naumburg - mit anhaltenden Tiraden gegen die Moderne zu profilieren suchte und dafür 1936 mit einer Professur in München belohnt wurde. Eine Auseinandersetzung mit von Senger steht hierzulande noch aus.

Grundsätzlich füllt das Werk von Crettaz-Stürzel jedoch eine Lücke in der Architekturhistoriographie. Es kann sensibilisieren für eine erst partiell erforschte Epoche des Umbruchs in der Schweizer Baugeschichte. Bedroht werden die Zeugnisse der Zeit heute nicht mehr durch wissenschaftliche Ignoranz, sondern durch den Druck der Ökonomie.

[ Elisabeth Crettaz-Stürzel: Heimatstil. Reformarchitektur in der Schweiz 1896-1914. Verlag Huber, Frauenfeld 2005. 2 Bände, 348 und 416 S., Fr. 248.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2005.11.24

04. November 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Glaskristall am Mississippi

Im Westen von Iowa am Mississippi gelegen, versucht Davenport - wie andere amerikanische Städte auch - sein Zentrum zu reaktivieren. Wichtigster Meilenstein der «River Renaissance» ist das jüngst eröffnete Kunstmuseum von David Chipperfield.

Im Westen von Iowa am Mississippi gelegen, versucht Davenport - wie andere amerikanische Städte auch - sein Zentrum zu reaktivieren. Wichtigster Meilenstein der «River Renaissance» ist das jüngst eröffnete Kunstmuseum von David Chipperfield.

Bisweilen schiebt sich ein schwerer Güterzug am Ufer des Mississippi entlang durch Davenport, als wollte er daran erinnern, dass die Stadt ganz im Westen Iowas einst ein Eisenbahnknotenpunkt von nationaler Bedeutung gewesen war. Im Zuge der Besiedlung des Mittelwestens war der Ort zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Brückenkopf an einer Engstelle des Stromes entstanden, und seit 1856 verband die erste Eisenbahnbrücke Davenport mit dem gegenüberliegenden Rock Island in Illinois. Die Wälder Minnesotas begünstigten den Holzhandel, die deutschen Immigranten betrieben Brauereien; mit der 1932 eingeweihten Schleuse des Mississippi wurden die Rock Island Rapids als Hindernis beseitigt.

River Renaissance

Wie in anderen Städten der Vereinigten Staaten führte der Ausbau des Highway-Netzes nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Davenport zu gravierenden Veränderungen des urbanen Gefüges. Zentrifugale Siedlungstendenzen bedingten eine sukzessive Verwahrlosung und Verödung der Innenstadt, die einst das Ufer des Mississippi säumenden Geleiseareale fanden als grossräumige Parkflächen oder Schuttabladeplätze eine neue Nutzung. Als ein früher Kritiker dieser Entwicklung bleibt der Architekt Stanley Tigerman mit einer Aussage von 1971 in Erinnerung: «A city shouldn't have all that junk at the river's edge. Use the Mississippi as a building site.»

Es sollte noch geraume Zeit dauern, bis die lokalen Behörden Konsequenzen zogen, doch inzwischen gilt dem Stadtzentrum und dem kulturellen Erbe neu erwachtes Interesse. Wer das Informationszentrum in der stillgelegten Union Station von 1924 besucht, wird mit Broschüren versorgt, die zu Spaziergängen durch Quartiere mit einem reichen Bestand von Holzhäusern des 19. Jahrhunderts einladen. Und einige der Freiflächen am Fluss sind als Teil eines geplanten Grünbandes zu öffentlichen Parks umgewandelt worden. Glanzstück der vor Ort als «River Renaissance» propagierten urbanen Regeneration aber ist das im August eröffnete Figge Art Museum, das von dem in London tätigen Architekten David Chipperfield entworfen wurde.

Chipperfield war in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren durch minimalistische Boutiquen in der britischen Hauptstadt sowie durch Bürogebäude in Tokio bekannt geworden; sein sensibler Umbau des Museum of Natural History in London und der Bau des Rudermuseums in Henley-on-Thames liessen ihn zu einem gefragten Museumsarchitekten werden. Zu Chipperfields gegenwärtigen Planungen gehören die Rekonstruktion des kriegszerstörten Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel sowie die Erweiterung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar, dessen Fertigstellung für das nächste Jahr angekündigt ist. In den USA ist Chipperfield inzwischen mit den Erweiterungen des St. Louis Art Museum und des Anchorage Museum of History and Art betraut worden.

Einpassung in die Skyline

Ein weiteres Gebäude von ihm steht 160 Meilen westlich von Davenport in Des Moines, der Hauptstadt von Iowa, kurz vor der Fertigstellung: der Neubau der Public Library. Am Westende der auf das Capitol zuführenden zentralen Achse der Locust Street ist ein zweigeschossiger Flachbau entstanden, der sich an den früheren Masonic Temple von 1912 anschmiegt und mit seiner polygonalen Grundrissfigur in einem weitgehend von Bürotürmen, Hochgaragen und eingezäunten Brachen ausgefüllten Stadtraster öffentliche Räume entstehen lässt. Die Fassaden der Bibliothek bestehen aus Glas, als Lichtfilter dient fein perforiertes Kupferblech.

Gläsern schimmern auch die Fassaden des kubisch konzipierten Figge Art Museum in Davenport - besonders eindrucksvoll, wenn man über die Centennial Bridge mit ihren fünf Bögen hinüber nach Rock Island fährt und sieht, wie sich der strahlende Bau über den Wassermassen des Mississippi in die Silhouette der Stadt einfügt. Das erste Modell, mit dem sich Chipperfield in der Finalrunde des Wettbewerbs 1999 gegenüber den New Yorkern Richard Meier, Rafael Viñoly sowie Gwathmey Siegel, den Finnen Heikkinen & Komonen und dem Madrilenen Carlos Jiménez durchgesetzt hatte, sah noch eine Orientierung der Gebäudemassen quer zum Fluss und eine Verkleidung mit Aluminiumpaneelen vor; Skizzen und Modelle, die nun im Foyer des Figge Art Museum ausgestellt sind, zeigen, wie Chipperfield zunächst mit verschiedenen horizontalen und vertikalen Gruppierungen experimentierte. Als gläserne Box wendet nun das an den vielbefahrenen River Drive herangeschobene Gebäude dem Fluss seine Breitseite zu, die von einem quer gestellten kubischen Aufsatz mit den Sonderausstellungsbereichen überragt wird.

Das neue Gebäude stärkt die flussseitige Ansicht der Stadt, es bildet ein volumetrisches Pendant zu einem benachbarten historischen Geschäftshaus - und ordnet sich doch dem die Skyline prägenden Turm des einstigen American Commercial Bank Building deutlich unter. Im Norden, also auf der Stadtseite, ist ein leicht ansteigender Vorplatz entstanden, auf dem ein «Tower» von Sol LeWitt Aufstellung gefunden hat. Von hier aus wird das Museum betreten, sofern man nicht die Rampe vom River Drive aus benutzt. Um die Lobby gruppieren sich das mit Mobiliar von Harry Bertoia ausgestattete und im Farbklang Weiss, Orange, Schwarz gehaltene «Restaurant 225» und der Museum Store. Die Ausstellungsräume für die ständige Sammlung befinden sich wie auch Bereiche für Sonderausstellungen, Bibliothek, Museumspädagogik und Verwaltung im Niveau darüber, dem oberen Geschoss des Sockels. Räume unterschiedlichen Zuschnitts sind hier auf der Basis eines orthogonalen Grundrissrasters arrangiert; Chipperfield verwendete schlichte weisse Wände, dunkles Stabholzparkett und aus quadratischen Feldern bestehende Oberlichtelemente, mit denen sich natürliches Licht und künstliche Beleuchtung mischen lassen.

Die Bestände des Figge Art Museum umfassen eine kleine Kollektion europäischer Kunst des Mittelalters, der Renaissance und des Barock, europäische und amerikanische Kunst des 18. bis 20. Jahrhunderts sowie eine mexikanisch-koloniale und eine haitianische Kollektion. Die über die Jahrzehnte stetig gewachsene Sammlung war seit 1878 in einem Privathaus zugänglich und erhielt 1925 den Status einer Municipal Art Gallery; 1962 erfolgte der Umzug in einen Neubau im Feyervary Park am Rande der Innenstadt. An den Gesamtkosten des jetzigen Baus von knapp 47 Millionen Dollar beteiligte sich die ortsansässige Figge Foundation mit 12 Millionen.

Die beiden grossen Säle für Sonderausstellungen liegen übereinander im turmartigen Aufsatz und sind flussseitig durch eine grandiose Kaskadentreppe aus drei Läufen verbunden. Von diesem Wintergarten, dem eindringlichsten Raum des Gebäudes, fällt der Blick weit über den Strom nach Rock Island, von woher einst die aus Europa stammenden Siedler nach Davenport übersetzten, um den Westen zu erobern. Passend dazu zeigt das Figge Art Museum eine grandiose Ausstellung, die auf der 1999 vorgelegten Studie «The Great American Thing» der in Stanford lehrenden Kunsthistorikerin Wanda M. Corn beruht. Sie hat die sich verändernde Wahrnehmung nach 1900 zum Thema, als Hochhäuser und industrielle Massenprodukte, aber auch Jazz und die indianischen Kulturen das ästhetische Empfinden zunehmend prägten.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.11.04



verknüpfte Bauwerke
Figge Art Museum

17. Oktober 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Parkpanorama und Stadtblick

Nach dem im Frühjahr eröffneten Walker Art Center in Minneapolis haben Herzog & de Meuron mit dem am Wochenende eingeweihten de Young Museum in San Francisco ihren zweiten, ungleich grösseren Museumsbau in den USA errichtet.

Nach dem im Frühjahr eröffneten Walker Art Center in Minneapolis haben Herzog & de Meuron mit dem am Wochenende eingeweihten de Young Museum in San Francisco ihren zweiten, ungleich grösseren Museumsbau in den USA errichtet.

Unumstritten ist der Neubau des de Young Museum in San Francisco nicht: Zweimal scheiterte die Petition, das Bauprojekt durch die öffentliche Hand zu subventionieren, an fehlender Unterstützung durch die Bevölkerung. Es sei in San Francisco leichter, eine Parkgarage durchzusetzen als ein Museum, erklärte im Vorfeld der Eröffnung Dede Wilsey, die Präsidentin des Board of Trustees. Ohne das Engagement der energischen Dame, die sich seit Jahrzehnten für kulturelle und caritative Belange in der Bay Area einsetzt, gäbe es den Neubau nicht. Denn Wilsey gelang das so wohl nur in den USA vorstellbare Kunststück, das Projekt mit seinen Gesamtkosten von 202 Millionen Dollar rein privat durch Zuwendungen von Donatoren und Sponsoren zu finanzieren. Die Sammlung des de Young Museum befindet sich - wohlgemerkt - im städtischen Besitz und umfasst ein heterogenes Spektrum von amerikanischer Kunst vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, ethnographischen Beständen aus Afrika, den beiden Amerika und Ozeanien sowie eine Kollektion von Textilien und Kostümen. Seit 1972 ist das de Young mit dem auf europäische Kunst spezialisierten Museum of the Legion of Honor zu den «Fine Arts Museums of San Francisco» zusammengeschlossen.

Museum im Park

Der eigentlich strittige Punkt beim Neubau war die Frage des Standorts. Seit seiner Gründung 1895 liegt das Museum im riesigen Golden Gate Park, der sich nicht in der Nähe der gleichnamigen Brücke befindet, sondern einige Meilen südwestlich von Downtown San Francisco. 1870, als der junge Ingenieur William Hall die von Olmsteds Layout für den Central Park New York inspirierten Pläne entwarf, befand sich das zuvor unwirtliche Dünengelände noch weit ausserhalb des Siedlungsgebiets; heute ist das breite grüne Band, das mit seiner westlichen Schmalseite unmittelbar an die Pazifikküste stösst, durchaus noch der Innenstadt zuzurechnen. Die Idee für ein Kunstmuseum in diesem Park stammte von William de Young, dem Mitbegründer des «San Francisco Chronicle». Der Zeitungsverleger hatte sich stark für die nach dem Erfolg der Weltausstellung in Chicago 1894 im Golden Gate Park veranstaltete «California Midwinter International Exposition» eingesetzt, und auf seine Initiative hin wurde das ägyptisierende Fine Arts Building nach Ausstellungsende zum dauerhaften Museumsbau umgewidmet. Über die Jahrzehnte hinweg erfuhr das hinsichtlich seines Sammlungsprofils mehrfach neu programmierte Museum diverse bauliche Veränderungen, bis das Erdbeben des Jahres 1989 das Gebäudekonglomerat in Mitleidenschaft zog. Zwar liessen sich die Räumlichkeiten weiter museal nutzen, Leihgaben konnten aufgrund von nicht erfüllten Sicherheitsanforderungen indes nicht mehr ausgestellt werden. Zu dieser Zeit hätte die Möglichkeit bestanden, mit einem Neubau in die stärker frequentierte Downtown umzuziehen, doch am Ende entschied man sich - trotz der Kritik von Umweltschützern, die Baumassnahmen im Park verhindern wollten - für den angestammten Standort. Eine Findungskommission konzentrierte die Auswahl angefragter Architekten auf sechs Finalisten. Am Ende erhielten Herzog & de Meuron den Zuschlag - einzig sie, so Dede Wilsey, hätten bei ihrer Präsentation die Spezifik der Sammlung und den speziellen Standort berücksichtigt. Im Rennen geblieben waren zuvor noch Tadao Ando, Cesar Pelli, Antoine Predock und Rafael Viñoly.

Transparent und opak

Ohne Zweifel war die Entscheidung ein Glücksgriff, ist doch die Auseinandersetzung mit der Beziehung von Landschaft und Architektur, mit dem Verhältnis von Natürlichkeit und Künstlichkeit eines der Themen, das sich ostinat durch das Œuvre der Basler Architekten zieht. Am ovalen Gartenraum des Concourse, gegenüber der California Academy of Sciences, die derzeit von Renzo Piano weitgehend neu errichtet wird, erhebt sich das langgestreckte Gebäude des neuen de Young. Herzog & de Meuron organisierten das Raumprogramm in drei parallelen Streifen, die wie bei einer Ziehharmonika leicht auseinander gezogen, aber weiterhin miteinander verbunden sind. Bleibt das Äussere auch von der orthogonalen Grundrissgeometrie bestimmt, so entstehen als Keile, Schlitze, Kerben oder Höfe ausgebildete Zwischenräume. Diese reagieren als negative mit den positiven Formen der umschlossenen Räume und führen dazu, dass sich die klar definierten Raumfolgen der Galerien stellenweise völlig auflösen. Durch verglaste Ausschnitte dringt der Park gleichsam in das Volumen ein.

Der längste der Einschnitte begrenzt das Foyer nach Norden und senkt sich entlang der Treppe zum Untergeschoss hin ab; man mag die Wellenform als Verweis auf die Dünenlandschaft verstehen, welche den Untergrund des Parks bildet. Auch für die Aussenhaut wählten die Architekten ein organisches Material: Kupfer. Das gesamte, konstruktiv als Stahlskelettbau errichtete Gebäude ist mit Kupferplatten verkleidet, die durch Perforationen und Prägungen modifiziert wurden. Kreisförmige Perforationen mit vier verschiedenen Lochdurchmessern zum einen, nach innen und nach aussen gewölbte Prägungen zum anderen überlagern sich in verschiedenen Rastern. Die Fassade übernimmt diverse Funktionen: Sie schützt als Filter vor Sonnenlicht, sie ermöglicht Ausblicke, aber natürlich ist sie auch dekorativ und lässt die Aussenhaut des Gebäudes lebendig werden. Hier erscheint sie transparent, dort eher opak. Und sie lässt das Museum trotz seinen Dimensionen wie einen Gartenpavillon wirken, wie ein Gewächshaus für die Kunst.

Auch die Dachlinie zeigt sich organisch. Von Ost nach West wölbt sie sich in einem einzigen grandiosen Schwung über das gesamte Gebäude, um dann in einer gewaltigen Auskragung zu enden, welche die der westlichen Stirnseite vorgelagerte Terrasse überdeckt. Als vertikale Dominante und optisches Gegengewicht zu dem fulminanten Dachüberstand im Westen fungiert ein 30 Meter hoher, tordierter Turm an der Nordostecke des Gebäudes. Seine Stockwerke sind gegeneinander versetzt: Das untere fügt sich in die Axialität des Museums ein, das oberste, um 40 Grad abgewinkelt, ist auf den Strassenraster von San Francisco ausgerichtet. Das Aussichtsgeschoss, ohne Eintritt für alle Besucher zugänglich, bietet ein grandioses Panorama bis hin zu den Hochhäusern der Downtown und zur Golden Gate Bridge - wenn nicht gerade die für San Francisco typischen Nebelschwaden von der Küste her aufziehen. Ohne Zweifel, der Turm ist das eigentliche, die Baumkronen überragende Wahrzeichen des Museums, und er leistet die formale und visuelle Verknüpfung von Park und Stadt.

Nebeneinander und miteinander

Betritt man das Museum über den vom Concourse aus zugänglichen Eingangshof, so steht man in einem opulenten Foyer, von dem aus alle wesentlichen Bereiche zugänglich sind. Über die doppelläufige Treppe hinter dem Empfangstresen erreicht man das Untergeschoss, mit einem dreischiffig organisierten, flexibel einteilbaren und künstlich beleuchteten Sonderausstellungssaal, in dem anlässlich der Eröffnung die Schau «Hatshepsut - From Queen to Pharao» zu sehen ist. Wendet man sich nach rechts, so gelangt man zum versenkten Auditorium oder in den Turm. Links hingegen führt der Weg in die zentrale Halle, welche von der speziell in Auftrag gegebenen Fotoarbeit von Gerhard Richter beherrscht wird. Die seriell repetierten Mikroskopaufnahmen eines Strontium-Moleküls erinnern an Richters von der Op-Art inspiriertes Frühwerk, sie harmonieren aber auch kongenial mit dem Interesse der Architekten für Fragen von Muster, Ornament und Dekoration.

Im Nordwesten des Museums liegen die zum Teil gebäudehohen Säle für amerikanische Gegenwartskunst, doch den interessanteren Raumsituationen begegnet man im Obergeschoss. Herzog & de Meuron konzipierten zwei unterschiedliche Präsentationsstrategien. Die historische amerikanische Kunst ist in eher traditionell inspirierten Räumen mit moderatem Zuschnitt untergebracht - Böden und Decken sind in Eukalyptusholz ausgeführt, die Wände farbig gestrichen, Licht fällt durch grosse zentrale Oberlichter ein. Die künstlich belichteten ethnographischen Sammlungen finden sich in den fliessenden Raumbereichen und sind durch leuchtende raumhohe Vitrinen gegliedert, die mit ihrer Einfassung aus Eukalyptusholz wie grosse Rahmen wirken. Bedingt durch das architektonische Konzept gibt es verschiedene Übergänge zwischen den Raumbereichen, die aber jegliche Hierarchisierung vermeiden. Gezielt wurde hier ein Nebeneinander gesucht, das zuweilen auch zum Miteinander werden kann - San Francisco versteht sich bekanntlich selbst als eine Stadt, in welcher das Zusammenleben heterogener Kulturen besser gelingt als in anderen Städten der Vereinigten Staaten.

Herzog & de Meuron haben ein komplexes, vielschichtiges und intelligentes Museum geschaffen, das sich spektakulär und sensibel zugleich zeigt. Es ist nicht manieriert, lässt aber eine Unzahl architektonischer Themen anklingen. So mag es nicht zuletzt das Nachdenken über Architektur anregen - und das ist in San Francisco besonders wichtig, das keine lebendige Architekturszene besitzt wie Los Angeles. Wie der «San Francisco Chronicle» zu Recht konstatierte, sind die letzten wirklich bedeutenden Bauten in der Bay Area mehr als dreissig Jahre alt: William Pereiras spitze Pyramide des Transamerica Building und der grandios in die Hügel nördlich von San Rafael eingebettete Komplex des Marin County Civic Center von Frank Lloyd Wright. Irgendwann sähen auch die Kritiker ein, dass die Metropole neben Golden Gate Bridge, Cable Car und Transamerica-Pyramide ein viertes Wahrzeichen erhalten habe.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2005.10.17



verknüpfte Bauwerke
De-Young-Museum

15. Oktober 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Schichten

Die Oldenburger Landesausstellung von 1905 gilt als Aufbruch Nordwestdeutschlands in die Moderne. Ihr sind nun die Jubiläumsveranstaltungen in Oldenburg und Delmenhorst gewidmet. Wegweisend waren damals vor allem die ephemeren Bauten von Peter Behrens, die anschliessend durch Monumentalbauten von Paul Bonatz ersetzt wurden.

Die Oldenburger Landesausstellung von 1905 gilt als Aufbruch Nordwestdeutschlands in die Moderne. Ihr sind nun die Jubiläumsveranstaltungen in Oldenburg und Delmenhorst gewidmet. Wegweisend waren damals vor allem die ephemeren Bauten von Peter Behrens, die anschliessend durch Monumentalbauten von Paul Bonatz ersetzt wurden.

Auf kulturpolitischer Ebene werden hohe Besucherzahlen als Gradmesser für die Bedeutung von Veranstaltungen gewertet. In einer Zeit, die sich die «Eventkultur» auf die Fahnen geschrieben hat, verwundert das nicht. Mit exorbitantem Zuspruch konnten Grossereignisse indes schon im 19. Jahrhundert auftrumpfen. Hinsichtlich der Masse der Besucher stellten die frühen Weltausstellungen, deren Sequenz 1851 in London einsetzte, ihre Nachfolgeveranstaltungen in den Schatten. An den Erfolg dieser Universalausstellungen suchten bald auch Städte und Regionen mit Präsentationen kleineren Zuschnitts anzuknüpfen. Ein Beispiel dafür war die Landesausstellung von 1905 in Oldenburg, der damals gut 30 000 Einwohner zählenden Hauptstadt des gleichnamigen Grossherzogtums auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Niedersachsen.

Ausstellungsbauten von Peter Behrens

Nun erinnert Oldenburg mit dem ambitionierten Ausstellungszyklus «Jahrhundertschritt 05», an dem auch die im früheren Grossherzogtum gelegenen Städte Delmenhorst, Lohne und Wilhelmshaven beteiligt sind, an die Schau vor 100 Jahren. Damals wurde dem Publikum neben einer regionalen, unter dem Stichwort «Gewerbeförderung» rubrizierten Leistungsschau von Industrie und Gewerbe - «Standortmarketing» würde man das heute nennen - auch eine Bilanz des zeitgenössischen Kunstschaffens geboten. Dazu kam der obligatorische Vergnügungspark mit Zirkus und Rutschbahn, Panorama und «Illusions- Palast», Restaurants und einem «Somali-Dorf», dessen 65 Bewohner über eine Londoner Agentur gebucht worden waren.

Dass die Oldenburger Landesausstellung heute mehr denn ein signifikanter Gegenstand regionalhistorischer Forschung ist, verdankt sie der Beteiligung von Peter Behrens, dessen Tätigkeit als Ausstellungsarchitekt derzeit eine Schau im Museum der Stadt Delmenhorst würdigt. Behrens, 1869 in Hamburg geboren, war zunächst als Maler in München in Erscheinung getreten, bevor ihm die Berufung an die Künstlerkolonie in Darmstadt den Karrieresprung ermöglichte. Das eigene, als Gesamtkunstwerk konzipierte Wohnhaus galt als das überzeugendste Gebäude der Darmstädter Ausstellung von 1901, und Behrens erhielt eine Reihe von Folgeaufträgen. Auf Vermittlung von Hermann Muthesius avancierte er 1903 zum Direktor der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf. Für den Bau der im Rahmen der Oldenburger Landesausstellung am Zentralplatz für die «Nordwestdeutsche Kunstausstellung» errichteten Kunsthalle konnte Behrens nachgerade als Idealbesetzung gelten: Er war als Maler, Kunstgewerbler und Architekt gleichermassen tätig.

Die durch die Wiener Stadtbahnstationen von Otto Wagner sowie die Architektur von Josef Hoffmann inspirierten Ausstellungsbauten von Behrens dokumentierten die Abkehr von einem eher organischen Verständnis des Jugendstils und die Wende hin zu einer rationalen, auf klaren geometrischen Formen basierenden Entwurfshaltung. Das quadratische Gebäude der Kunstschau mit seinem Zeltdach wurde an den Ecken durch vier würfelförmige Annexbauten ergänzt; dazu kamen zwei separate Pavillons (Teehaus und Verwaltung), der Musikpavillon auf dem Vorplatz sowie zwei Bauten für Firmen aus der Region: ein Pavillon für die Anker-Linoleumwerke Delmenhorst, für die Behrens auch als Gestalter tätig war, und einer für die Zigarrenfabrik Rogge aus Lohne. Die durch weiss gestrichene Pergolen vereinheitlichte Aussenraumgestaltung gilt als ein wichtiges Beispiel der auf geometrische Konzepte zurückgreifenden Gartenreform in Deutschland nach 1900.

Eine Ausstellung im Augusteum des Landesmuseums zeigt viele der seinerzeit auf der «Nordwestdeutschen Kunstausstellung» präsentierten Werke noch einmal im Zusammenhang. Eigentlich hätte es eine Leistungsschau des regionalen Kunstschaffens werden sollen, doch das Spektrum der Beteiligten wurde damals nicht so eingeengt, wie es sich manche Veranstalter wohl gewünscht hätten. Fragwürdig war das Postulat einer regionalen Kunst ohnehin, wollte man es nicht auf die Sujets beschränken: Die meisten der Ausgestellten hatten an einer der prominenten deutschen Akademien studiert und waren mit den zeitgenössischen Kunstströmungen vertraut. So oszillierten ihre Werke zwischen Impressionismus, Naturalismus und Spätjugendstil. Die umfangreichste Werkgruppe stammte von Malern aus Worpswede, der Künstlerkolonie im Teufelsmoor bei Bremen; 1895 hatte die Gruppe in München ihren Durchbruch erlebt. Nach einer Dekade hatten sich die Gründungsmitglieder auseinander gelebt. Heinrich Vogelers Monumentalgemälde «Sommerabend», dessen saalbeherrschender Rahmen jetzt für die Oldenburger Ausstellung rekonstruiert wurde, ist mit seinen gleichsam erstarrten Figuren der elegische Abgesang auf den märchenhaften Traum einer Einheit von Kunst und Leben.

Baumonumente von Paul Bonatz

Die ephemeren Ausstellungsbauten wurden nach dem Ende der Oldenburger Schau abgerissen. Auf einem Teil des Geländes erheben sich heute zwei zwischen 1908 und 1916 realisierte Bauten des Stuttgarter Architekten Paul Bonatz: der Landtag mit seinem ionischen Portikus und - im rechten Winkel dazu - das mit einem mächtigen Walmdach gedeckte Volumen des Staatsministeriums. Beide sind typische Vertreter des Reduktionsklassizismus der Jahre vor 1914, der sich auf eine «Architektur um 1800» zurückbezog. Es ist ein Verdienst der Veranstalter in Oldenburg, auch die Dokumentation von Bonatz' Arbeiten in den Ausstellungsreigen einbezogen zu haben. Die in der Mohrmann-Halle in Oldenburg nur kurz präsentierte, aber durch einen Katalog gut dokumentierte Ausstellung «Paul Bonatz - Bauten und Projekte im Norden» wird im kommenden Jahr in Hannover zu sehen sein, wo der Architekt 1914 mit seiner an das Pantheon gemahnenden Stadthalle eines seiner Hauptwerke vollendete.

[ Die Ausstellung «1905. Einhundert Jahre Nordwestdeutsche Kunstausstellung» im Augusteum in Oldenburg dauert bis zum 30. Oktober. - Die Ausstellung «Peter Behrens - Ausstellungsarchitekt zwischen Kunst und Industrie» wird bis zum 27. November im Museen der Stadt Delmenhorst gezeigt. ]

[ Kataloge: Paul Bonatz 1877-1956. Bauten und Projekte im Norden. Verlag Aschenbeck & Holstein, Delmenhorst 2005. 138 S., Euro 19.80. - Der Aufbruch Oldenburgs in die Moderne. Die Landesausstellung von 1905. Hrsg. Udo Elerd. Isensee-Verlag, Oldenburg 2005. 156 S., Euro 15.-. - Zur Behrens-Ausstellung erscheint eine Begleitpublikation (Verlag Aschenbeck & Holstein, Delmenhorst), Euro 19.80. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2005.10.15



verknüpfte Publikationen
Paul Bonatz 1877-1956. Bauten und Projekte im Norden
Der Aufbruch Oldenburgs in die Moderne. Die Landesausstellung von 1905

11. Oktober 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Fest und flüssig

Ein markanter Betonbau erhebt sich seit jüngstem unweit des Bahnhofs Solothurn. Es handelt sich dabei um die neuapostolische Kirche von Zuchwil des Berner Büros Smarch von Beat Mathys und Ursula Stücheli. Den jungen Architekten ist es gelungen, trotz bescheidenem Budget eine eindrucksvolle Form für einen Sakralraum zu finden.

Ein markanter Betonbau erhebt sich seit jüngstem unweit des Bahnhofs Solothurn. Es handelt sich dabei um die neuapostolische Kirche von Zuchwil des Berner Büros Smarch von Beat Mathys und Ursula Stücheli. Den jungen Architekten ist es gelungen, trotz bescheidenem Budget eine eindrucksvolle Form für einen Sakralraum zu finden.

Nur selten erhalten heute Architekten die Möglichkeit, eine Kirche zu bauen. In früheren Jahrhunderten gab es Baumeister, die fast nur Gotteshäuser bauten. Diese Tradition setzten Architekten wie Dominikus Böhm, Otto Bartning oder Emil Steffann nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Seit den sechziger Jahren entstanden auch in den schnell wachsenden Schweizer Agglomerationen vorbildliche Kirchenbauten nach Entwürfen von Walter M. Förderer, Franz Füegg, Ernst Gisel oder Ernst Studer. Wenn hierzulande heute Gotteshäuser errichtet werden, so zumeist als Ersatz für zerstörte Gebäude (wie die Kapellen von Mario Botta in Mogno und Peter Zumthor in Sumvitg) oder als konfessionell nicht determinierte Bauten wie etwa der «Ort der Besinnung» des Architekturbüros Guignard & Saner an der Gotthardautobahn im Kanton Uri.

Trotz dem Rückgang konfessioneller Bindung, der neuerdings die grossen Amtskirchen in Deutschland zum Verkauf oder sogar zum Abriss ihrer Liegenschaften zwingt, kann man nur bedingt von einer wachsenden Religionsferne sprechen. Vielmehr sucht sich das Bedürfnis nach Spiritualität neue Formen, und sei es ein Massenevent wie der Weltjugendtag in Köln. Folgerichtig sind religiöse Gemeinschaften, die zu den Amtskirchen auf Distanz gegangen sind, von Austritten kaum betroffen. Das gilt auch für die grösste freikirchliche Gemeinschaft in der Schweiz, die Neuapostolische Kirche, die in Zuchwil bei Solothurn gerade ein neues, aufsehenerregendes Kirchengebäude weihen konnte.

Wenn man vom Bahnhof Solothurn in Richtung Südosten geht, erreicht man die Nachbargemeinde Zuchwil und das ungewöhnliche Bauwerk schon nach wenigen Schritten. Die Gegend erweist sich als disparat, alles andere als attraktiv: Bahngeleise und Strassen, Gewerbeflächen, vorstädtische Wohnbauten - eine Situation, die kaum Inspiration vermittelt. Und so suchte das Berner Architekturbüro Smarch von Beat Mathys und Ursula Stücheli auch nicht krampfhaft nach Kontextualität, sondern entwarf eine markante, bildhafte Form aus Beton. Das parallel zur Strasse über einer Geländesenke errichtete Volumen wirkt skulptural und lässt vielfache Assoziationen zu. Vor allem mit einem Wal oder einem Fisch vergleichen die Passanten die Kirche.

«Hand in Hand»

Doch der Ausgangspunkt der Architekten war ein anderer: «Hand in Hand» hiess das Projekt, mit dem das Büro Smarch im Herbst 2002 den Wettbewerb gewann. Erste Entwürfe von Beat Mathys zeigen zwei in schützender Geste zusammengeführte Hände. Dieser Grundgedanke wurde in eine Betonstruktur übersetzt. Die auskragende Plattform des Kirchensaals schwingt hinter dem Altar in die indirekt von oben beleuchtete Rückwand ein - eine Bewegung, die von der geschwungenen Decke aufgegriffen wird. Zum Eingang im Osten hin senkt sich die Decke: Die nach hinten ansteigende Ebene der Sitzreihen, vom Zugang in den Saal durchbrochen, und das Gewölbe nähern sich einander an, so dass sich ein mit schmalen Fenstern versehenes Vordach über dem verglasten Eingangsbereich ergibt. Von aussen kann man durch die Vorhalle hindurch entlang der Mittelachse bis zum Altar sehen.

Der Kirchenraum selbst ist als bergendes Gefäss konzipiert, in das man gleichsam durch den Flaschenhals eintritt. Zum Altar hin weitet sich der Raum - und hier, im liturgischen Zentrum, fällt von oben indirektes Licht in das Innere. Dessen stets sich verändernde Intensität moduliert die hell erstrahlende Betonwand; besonders reizvoll ist die Oberfläche in der Kehle zwischen Boden und Altarwand. Aufsteigende Luftbläschen haben innerhalb der Schalung mit einem unfreiwilligen Muster ihre Spuren im noch feuchten Beton hinterlassen. Dieser «Bauschaden» war den Architekten hochwillkommen, weil die Muster in spröder Schönheit letztlich die dem Beton innewohnenden Kräfte offenbaren. Sie zeigen die Erstarrung einer geschmeidigen Masse, sie zeigen, wie Flüssiges fest, Weiches hart wird. Diese Ambivalenz ist grundlegend für die Form der Kirche, und Mathys und Stücheli variieren das Thema an den Seitenwänden aus Waschbeton. Indem der Beton innen und aussen abgespritzt wurde, tritt die Geröllmasse der Steine deutlich zutage. Gebäudeform und Oberfläche tragen nicht zuletzt zu einer hervorragenden Akustik bei.

Der Entwurf von Smarch überzeugt nicht nur in der Grossform, sondern auch durch die Organisation der einzelnen Räume. Zwischen Foyer und eigentlichem Kirchensaal finden sich Aufenthaltsbereiche, seitlich gelangt man über eine Treppe auf das tiefer gelegte Bodenniveau. Hier im Sockel befinden sich Versorgungsräume und ein Unterrichtszimmer. Durch die Glasscheiben fällt der Blick auf die Autos, die von den Besuchern, welche zum Teil längere Anfahrtswege haben, unterhalb der Kirche parkiert werden. Über den Parkplätzen scheint das Bauvolumen auf einer winkelförmigen Stütze gleichsam zu schweben.

Bewegung und Innehalten

Wie auch in ihren anderen Bauten, dem Regionalbahnhof in Worb und der kurz vor der Fertigstellung stehenden «Welle» der neuen Passerelle des Hauptbahnhofs Bern, operierten hier Mathys und Stücheli mit einer von Dynamik und Bewegung geprägten Architektur, die dem Schweizer Baugeschehen neue Wege weist, die bei der neuen Kirche von Zuchwil den Gläubigen aber auch das Innehalten ermöglicht. Hier zeigen sie nicht zuletzt, wie viel an räumlichen Ideen mit einem bescheidenen Budget von 3,5 Millionen Franken umgesetzt werden kann. Dass dabei manches Detail nicht den sonst üblichen helvetischen Perfektionsgrad erreicht, ist verständlich. Eine gewisse Sprödheit indes mag man in dieser Umgebung durchaus begrüssen. Elaborierte Präzision wäre eher deplaciert.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2005.10.11



verknüpfte Bauwerke
Neuapostolische Kirche

07. Oktober 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Gartenpavillon und Wohngebirge

Der Aufschwung Kopenhagens zur südskandinavischen Metropole findet auch architektonisch seinen Niederschlag: Hafengebiete werden transformiert, Stadtteile entwickelt. Neben jungen Architekten kommen auch etablierte Grössen zum Zuge - etwa Zaha Hadid, deren Erweiterung des Ordrupgaard-Museums gerade eingeweiht wurde.

Der Aufschwung Kopenhagens zur südskandinavischen Metropole findet auch architektonisch seinen Niederschlag: Hafengebiete werden transformiert, Stadtteile entwickelt. Neben jungen Architekten kommen auch etablierte Grössen zum Zuge - etwa Zaha Hadid, deren Erweiterung des Ordrupgaard-Museums gerade eingeweiht wurde.

Kopenhagen boomt. Die Erneuerung der dänischen Kapitale geht vornehmlich von den die Stadt durchziehenden Hafenarealen aus. Die als «schwarzer Diamant» bekannte neue Nationalbibliothek, Daniel Libeskinds Umbau des kleinen Jüdischen Museums, aber auch die gegenüber von Schloss Amalienborg gelegene Oper, ein berechtigterweise kritisiertes Werk des dänischen Altmeisters Henning Larsen, sind Zeichen dafür, dass die lange vernachlässigten Hafenareale zu neuen Brennpunkten metropolitaner Urbanität werden.

Der neue Stadtteil, der sich künftig südlich des Hauptbahnhofs entlang der Ufer erstrecken soll, heisst Havnestad. Eines der dort geplanten Projekte konnte kürzlich eingeweiht werden: «Gemini», zwei vom Rotterdamer Büro MVRDV umgebaute zylindrische Betonsilos. Wo einst Sojabohnen aus der Mandschurei eingelagert waren, wohnt man nun mit Blick auf den Hafen und den Park Amager Fælied. Während sich nach dem Umbau der Simmeringer Gasometer in Wien die neuen Nutzungen auf das Innere konzentrieren, wenden sich die Wohnungen hier nach aussen. Ein Kranz aus 86 Luxusapartments umgibt auf 8 Etagen die 42 Meter hohen und 25 Meter breiten Röhren; die imposanten Innenbereiche, mit Glasdächern überkuppelt, dienen mit umlaufenden Galerien, auskragenden Treppen und Liftschächten vor allem der Erschliessung. Ursprünglich hatte der Investor auch hier die Wohnungen im Inneren stapeln wollen, doch konnten MVRDV nachweisen, dass eine dann nötige Durchfensterung des Betonmantels die Tragstruktur der Silos zu sehr geschwächt hätte.

Transformationen im Hafenbereich

Hinter dem streifenartigen Park, der das östliche Ufer über mehrere Kilometer hinweg säumt, entsteht Kopenhagens neuster Stadtteil: Ørestad. Das Gebiet profitiert von der Lage zwischen der Altstadt und dem Flughafen Kastrup und ist durch die neue, 2002 eröffnete Metro gut erschlossen. Diese hat Kopenhagen zusammen mit der vor fünf Jahren eingeweihten Brücke über den Øresund nach Malmö neue urbanistische Impulse gegeben. Wie einzelne Kristalle lagern sich die ersten Bauten von Ørestad an die Stationen der als Hochbahn geführten Metrolinie M2 an: Universitätsinstitute, überdimensionierte Einkaufszentren oder das von Henning Larsen errichtete Hochhaus des Pharmakonzerns Ferring.

Das interessanteste Projekt steht kurz vor seiner Fertigstellung: die «VM Houses», ein Wohnbaukomplex des jungen ortsansässigen Architektenteams Plot. Julien de Smedt und Bjarke Ingels, beide gerade einmal 30 Jahre alt, gründeten nach gemeinsamer Tätigkeit in Rotterdam bei OMA 2001 ihr eigenes Büro. Seither entwarfen sie einen Strandklub in Kopenhagen, dann einen Superhafen auf einer künstlichen Insel in der Ostsee. Internationale Reputation wurde Plot spätestens mit dem auf der letztjährigen Architekturbiennale ausgezeichneten Entwurf für das Konzerthaus in Stavanger zuteil. Die nach ihren geknickten Grundrissen VM Houses genannten Wohnbauten sind das grösste bisher realisierte Projekt von Plot. Glas, Stahl und Beton sind die Baumaterialien für diese weitgehend mit flexiblen und offenen Maisonettewohnungen bestückten Gebäude, die sich bis zu einer Höhe von zwölf Stockwerken aufgipfeln und durch dreieckige Balkone zusätzlich akzentuiert werden.

Glashaus im Park

Kopenhagen setzt aber auch auf internationale Architektenprominenz: Jean Nouvels Konzertsaal für das von Vilhelm Lauritzen entworfene Gebäude des Dänischen Rundfunks befindet sich in der Ausführungsphase, und eben erst wurde Zaha Hadids Erweiterung für die Kunstsammlung Ordrupgaard ihrer Bestimmung übergeben. Aufgrund der hochkarätigen Kollektion von Gemälden der Impressionisten, Postimpressionisten und Fauves geniesst Ordrupgaard Weltruhm. Beraten von dem Kunstkritiker Théodore Duret, trug Wilhelm Hansen, Gründer der Dänischen Volksversicherungsanstalt, zwischen 1916 und 1918 eine erstaunliche Sammlung französischer Kunst zusammen, die durch dänische Kunst des 19. Jahrhunderts ergänzt wurde. Der Architekt Gotfred Tvede errichtete den Wohnsitz der Hansens in einem Villengebiet im Norden von Kopenhagen, nahe dem königlichen Tiergarten. Im klassizierenden Landhausstil der Zeit entstand ein symmetrischer Hauptbau mit zwei kurzen Seitenflügeln, an den sich östlich eine Galerie anschloss. 1953 gelangte die Sammlung in den Besitz des Staates, aber noch heute lebt Ordrupgaard von dem intimen Ambiente, in dem die Kunstwerke ausgestellt werden - ähnlich wie die Sammlung Reinhart am Römerholz in Winterthur.

Angemessen konnte die Sammlung schon lange nicht mehr präsentiert werden, und so entschied man sich für eine Erweiterung. Im zweistufigen eingeladenen Wettbewerb trug Zaha Hadid 2001 den Sieg davon. Ende August konnte die 500 Quadratmeter grosse Erweiterung, mit der sich die bestehende Ausstellungsfläche ungefähr verdoppelt, eingeweiht werden. Hadid dockte ihren Neubau im Osten an den Galerietrakt an. Der Annex fügt sich erstaunlich zurückhaltend in das Ensemble ein; die Verzahnung von Natur und Architektur ist hervorragend gelungen. Im Norden entsteht der schmale Baukörper aus einer hügelartigen anschwellenden Modellierung des Bodens, im Süden gabelt er sich in zwei wellenartige, über dem leicht abfallenden Terrain schwebende, unterschiedlich grosse Gebäudestirnen.

Für Irritation sorgt Hadid dadurch, dass der mit seinem schwarzen Beton eigentlich erdhaft anmutende Erweiterungsbau vor allem durch seine verglasten Teile ins Auge springt und - von wo auch immer man blickt - als Gartenpavillon erscheint. Im grösseren der Enden befindet sich ein multifunktionaler Vortragssaal, im kleineren das Café - entlang der Glasfront im Osten verbindet eine Rampe diese Zone mit dem in der Gebäudemitte gelegenen Eingang. Ein zweigeteilter, z-förmiger Ausstellungsbereich wird über einen schmalen Gang nördlich des Eingangs erschlossen; die südlichen Säle werden unmittelbar neben dem keilförmig in den Raum vorstossenden Empfangstresen betreten. Fünf dieser als Parallelogramme und Trapeze geformten Kabinette liegen ganz im Inneren des Gebäudes, umschlossen von Café, Verbindungsgang und Rezeption; das sechste dient als brückenartige Verbindung zum bestehenden Galerietrakt.

Dunkle Schatzkammern

Mit ihren dunklen Zellen entschied sich Hadid bewusst für einen Gegensatz zur lichten Stimmung der alten Räume. Ohne Zweifel lehnt sie sich an den Typus der Schatzkammer an, doch wirken ihre Räume keinesfalls preziös. Vielmehr verleihen ihnen - bei aller dunklen Materialität - die ungewöhnlichen Proportionen, die Niveausprünge und der leichte Schwung der Decke räumliche Eleganz. Dazu kommen die verglasten, als Zirkulationsfläche und Aufenthaltsbereiche dienenden Bauteile, die den Park ins Haus holen und damit für die Besucher das erlebbar werden lassen, was die Impressionisten bewegte: das Phänomen der Landschaft im Wechsel des Lichtes und der Jahreszeiten.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.10.07

06. Oktober 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Mährische Wurzeln der Wiener Architektur

Nach zweijähriger Renovierung ist das Geburtshaus des Wiener Architekten Josef Hoffmann in der mährischen Kleinstadt Brtnice wiedereröffnet worden. Die Eröffnungsausstellung zeigt einen Querschnitt durch alle Tätigkeitsfelder des Universalkünstlers.

Nach zweijähriger Renovierung ist das Geburtshaus des Wiener Architekten Josef Hoffmann in der mährischen Kleinstadt Brtnice wiedereröffnet worden. Die Eröffnungsausstellung zeigt einen Querschnitt durch alle Tätigkeitsfelder des Universalkünstlers.

Ob Adolf Loos, Joseph Maria Olbrich oder Josef Hoffmann: Die Protagonisten der Wiener Architektur um 1900 stammten nicht aus der Metropole der Monarchie, sondern aus Böhmen und Mähren. Josef Hoffmann (1870-1956) wurde in Pirnitz, dem heutigen Brtnice, geboren, einer mährischen Kleinstadt, etwa auf halber Strecke zwischen Wien und Prag. Mit der Übersiedlung zwecks Studiums in die Hauptstadt verliess Hoffmann 1892 Mähren; doch die Landschaft seiner Herkunft blieb für ihn von Bedeutung, wie die ausführliche Schilderung der Pirnitzer Jugendjahre in der spät verfassten Autobiografie belegt.

Wiederhergestellte Innendekoration

Immer wieder wurde der Architekt selbst in Mähren tätig: So baute er das Elternhaus in Pirnitz für seine Familie und seine Schwestern um, und der Olmützer Industrielle und Bankier Otto Primavesi wurde zu einem der wichtigsten Auftraggeber. Das als Blockhaus 1913 errichtete Landhaus in Winkelsdorf kann als Beispiel für eine mährische Heimatschutzarchitektur gewertet werden; und nach dem Ersten Weltkrieg entstand neben anderen Projekten eine grosszügige Villa für Sigmund Berl in Freudenthal.

Diese tschechischen Arbeiten rücken seit einigen Jahren verstärkt ins Bewusstsein der dortigen Öffentlichkeit; bestes Beispiel dafür ist der rührige «Freundeskreis Josef Hoffmann», der sich in Brtnice konstituiert hat. Noch steht die Forschungsarbeit am Anfang. Aber das Elternhaus am Hauptplatz des Ortes ist inzwischen restauriert und nun mit der vom Museum für angewandte Kunst Wien (MAK) ausgerichteten Ausstellung «Josef Hoffmann - Ein unaufhörlicher Prozess» eröffnet worden.

Josef Hoffmanns Familie - der Vater war Bürgermeister - ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Pirnitz nachweisbar. Sie zählte zum wohlhabenden deutschsprachigen Patriziat. Das zweigeschossige Doppelhaus stammt in seinen Ursprüngen aus der Zeit um 1500, wurde aber nach einem Brand um 1780 neu aufgebaut. Schlichte, zwischen Spätbarock und Klassizismus oszillierende Formen bestimmen das repräsentative Gebäude mit seinem mächtigen Walmdach. Bis 1945 war es im Besitz der Familie geblieben, dann wurde es vom Staat und später von der Gemeinde übernommen. Nach ersten Sicherungsmassnahmen in den siebziger Jahren erfolgte seit 2003 die Sanierung. Dabei versuchte man die Innenraumdekoration von Hoffmann soweit möglich zu rekonstruieren.

Mit dem Umbau (1908-1911) hatte Hoffmann abgesehen von einer Laube auf der Hofseite nicht in die Aussengestalt des Bauwerks eingegriffen, sondern sich auf die Innenräume konzentriert. Anhand von Restaurierungsbefunden, aber auch aufgrund fotografischer Dokumente aus einer Publikation von 1911 liessen sich das links in der Durchfahrt gelegene Privatzimmer des Architekten, das schlicht-elegante Treppenhaus und die Raumabfolge im Obergeschoss wiederherstellen. Weil das Mobiliar weitgehend verloren ist, konzentrierten sich die Arbeiten auf einzelne Einbauten aus Holz sowie die farbigen geometrischen Schablonenmalereien, welche den Eindruck von Tapeten hervorrufen. Für die Zukunft ist eine umfangreiche Dauerausstellung zum Schaffen von Hoffmann geplant. Genutzt werden die Räume aber auch jetzt schon: Unten werden einige von Hoffmanns Arbeiten in Mähren vorgestellt, im Obergeschoss findet man Designobjekte Hoffmanns, die heute noch oder wieder erhältlich sind. Dazu zählen Gläser von Lobmeyr, Besteck von Alessi oder Möbel von Wittmann.

Zeichnerisches Œuvre

Die Sonderausstellung des MAK zeigt aus dem umfangreichen Hoffmann-Nachlass eine Auswahl von ungefähr 100 Arbeiten, welche anhand des Mediums Zeichnung einen guten Querschnitt durch alle Tätigkeitsfelder des Universalkünstlers geben. Von den noch im Banne Otto Wagners entstandenen späthistoristischen Entwürfen spannt sich der Bogen bis hin zu Zeichnungen, die im Umfeld von Arbeiten für seine wichtigsten Auftraggeber, die Familien Wittgenstein, Stoclet und Primavesi, entstanden. Ein weiteres Originalwerk Hoffmanns findet sich im Übrigen auf dem Friedhof von Brtnice: das Grabmal, das der Künstler 1906 für seine verstorbenen Eltern errichtete.

[ Bis 30. Oktober. Kein Katalog. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2005.10.06

01. Oktober 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Feuer und Blumen

Das Dessauer Gartenreich und die Parkanlagen von Hermann Ludwig Heinrich Graf Pückler in Bad Muskau und Branitz zählen zu den wichtigsten Landschaftsarchitekturen im Osten Deutschlands. Ihre Erforschung und Wiederherstellung macht Fortschritte.

Das Dessauer Gartenreich und die Parkanlagen von Hermann Ludwig Heinrich Graf Pückler in Bad Muskau und Branitz zählen zu den wichtigsten Landschaftsarchitekturen im Osten Deutschlands. Ihre Erforschung und Wiederherstellung macht Fortschritte.

Der Wörlitzer Park bei Dessau, mit dessen Realisierung Fürst Leopold III. von Anhalt-Dessau 1764 begann, gilt als einer der frühesten Landschaftsparks nach englischem Vorbild auf dem Kontinent und ist als Unesco-Weltkulturerbe eingestuft. Mit dem neopalladianischen Schloss, den gut erhaltenen Parkarchitekturen und der reichen künstlerischen Ausstattung stellt er ein einmaliges Gesamtkunstwerk aus der Zeit der Aufklärung dar: Eindrücke der England- und Italienreisen, die der Fürst und sein Architekt Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff gemeinsam unternommen hatten, verbanden sich mit der Vorstellung von einem natürlichen Leben, wie Rousseau es propagierte. Der Park, der einen Altarm der Elbe als Wasserfläche einbezieht, wurde mehrfach erweitert; mit den «Neuen Anlagen» (1788-94) fanden die Arbeiten ihren Abschluss.

Neapolitanisches Pasticcio

Die wohl bizarrste Schöpfung von Erdmannsdorff stellt eine unter dem Namen «Stein» bekannte, mitten im Wasser gelegene künstliche Vulkaninsel im letztgeschaffenen Parkbereich dar. Der Fürst und seine Frau hatten auf ihren Reisen einen Vesuvausbruch erlebt, und der Architekt errichtete für sie gleichsam ein dreidimensionales Erinnerungsbild - einen 17 Meter hohen Steinvulkan, der mit Hilfe von Feuerwerk und rötlich beleuchtetem, Magma vortäuschendem Wasser zum Ausbruch gebracht werden konnte. Doch der Wörlitzer Vulkan war nicht nur die Ausgeburt eines Fürstenspleens, sondern reflektierte den Wissenschaftsdisput seiner Zeit. Mit seiner opulent illustrierten Publikation «Campi Phlegraei» hatte William Hamilton, englischer Gesandter am neapolitanischen Hof und überdies passionierter Antikensammler, 1776 eine vielgelesene vulkanologische Abhandlung verfasst. Unumstritten war Hamiltons These eines vulkanischen Entstehens der Welt nicht - Goethe, der den Vesuv ebenfalls mehrfach bestiegen hatte, folgte im Gegensatz zu den Vulkanisten der Lehrmeinung der Neptunisten, die den Ursprung der Gesteine auf Kristallisation aus dem Urmeer zurückführten.

Erdmannsdorff schuf mit seiner Insel ein neapolitanisches Pasticcio. Auf engstem Raum finden sich ein künstlicher Vulkan, eine nachgebildete Grottenlandschaft, ein verfallenes Amphitheater und eine Kopie von Hamiltons «Villa Emma». Jahrelang war der «Stein» verfallen, nun ist er wieder zugänglich. Dank einer gemeinsamen Initiative von Bund, Land und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz konnte das Ensemble restauriert werden. Zur Wiedereinweihung erlebte der Vulkan seine erste Zündung seit langem - aus Kostengründen dürfte das aufwendige Spektakel auch in Zukunft Seltenheitswert besitzen.

Reise nach England

Neben dem Dessauer Gartenreich zählen die Anlagen des Fürsten Pückler - auch sie haben 2004 den Status des Weltkulturerbes erlangt - zu den wichtigsten Parkanlagen im Osten Deutschlands. Von einer ausgedehnten Englandreise zurückgekehrt, hatte Hermann Ludwig Heinrich Graf Pückler, seit 1811 Standesherr von Muskau in der Oberlausitz, mit der Planung eines Landschaftsparks um seinen Wohnsitz begonnen. Durch Grundstückskäufe konnte die ausgedehnte Besitzung westlich und östlich der Lausitzer Neisse arrondiert werden, die Arbeiten begannen mit der Modellierung des in Terrassen zum Fluss hin abfallenden Terrains und der Anlage des Wegenetzes; für die Entwürfe der Parkbauten und des Schlossumbaus konnte Karl Friedrich Schinkel gewonnen werden. Das nahezu herkulische Vorhaben indes überforderte den 1822 in den Fürstenstand erhobenen Pückler, und auch das 1823 eingerichtete Kurbad und das Alaunbergwerk konnten das finanzielle Desaster nicht aufhalten. Formell liess sich Pückler 1826 von seiner Frau Lucie scheiden und reiste nach Grossbritannien - mit dem Ziel, eine reiche Engländerin zu heiraten. Die dreijährige Reise verfehlte indes den Zweck. Die Reisebriefe jedoch, die der Fürst an Lucie schrieb, wurden - von Karl August Varnhagen redigiert - 1830 und 1832 als «Briefe eines Verstorbenen» publiziert. Sie begründeten den Erfolg Pücklers als Reiseschriftsteller.

Unter dem Titel «Englandsouvenirs» ist nun in Bad Muskau sowie in Branitz, dem zweiten Park Pücklers, eine umfangreiche Ausstellung zu sehen, welche der Englandreise des Fürsten gewidmet ist. Der Ausstellungsteil, der im Marstall und im Neuen Schloss von Muskau gezeigt wird, widmet sich Pücklers Wahrnehmung von England. Nahezu rastlos reiste er durch das Land, besuchte Landschaftsparks und nahm an gesellschaftlichen Ereignissen teil. Dabei verschloss er sein Auge weder vor sozialen Problemen noch vor zeitgenössischen technischen Errungenschaften - begeistert etwa berichtete Pückler von Brunels in Ausführung befindlichem Londoner Themse- Tunnel zwischen Wapping und Rotherhithe.

Für das eigene Vorhaben in Bad Muskau war die Reise mit ihrem «park-hunting» von zentraler Bedeutung. Insbesondere sah sich Pückler in seinem weitgehenden Verzicht auf Staffagearchitekturen bestätigt; mehrfach konsultierte er John Nash - wenn er auch dessen bizarren Royal Pavilion in Brighton als «Werk eines Tollhäuslers» kritisierte. Von Humphry Repton entlehnte er die Idee, die Umgebung des Neuen Schlosses mit ornamentalen Blumenbeeten in Form von Füllhorn, Halbkreis und Rosetten zu schmücken.

Wiederherstellungsarbeiten

Durch Rohre aus Stahl wird die Lage der Blumenbeete seit jüngstem auf den Rasenflächen angedeutet. Rekonstruieren lassen sie sich indes kaum, da das Schloss nach dem Verkauf von Pücklers Muskauer Besitzungen 1845 mehrfach umgebaut wurde. Massgeblich für die 1992 begonnene, inzwischen weit vorangeschrittene Rekonstruktion des 1945 ausgebrannten Gebäudes ist der letzte, baulich erweiterte Zustand.

Die Neisse trennt den kleineren westlichen vom grösseren östlichen Teil des Parks, der sich auf polnischem Territorium befindet. Nach Zerstörung der Brücken waren die beiden Parkhälften zur Zeit der DDR getrennt und nur über einen Umweg von 100 Kilometern zu erreichen. Mit der 2003 eröffneten Doppelbrücke über die Neisse ist die Anlage endlich wieder als Gesamtheit erfahrbar, und nach Jahrzehnten der Verwilderung beschäftigt sich die polnische Denkmalpflege intensiv mit dem östlichen, stärker landschaftlich geprägten Parkteil. Das betrifft insbesondere die Wiederherstellung der Sichtachsen und des historischen Wegsystems.

Nachdem sich Pückler von der hochverschuldeten Standesherrschaft Muskau getrennt hatte, begann er in Branitz bei Cottbus mit der Anlage eines neuen Parks. Im Marstall des Schlosses ist zurzeit der zweite Teil der «Englandsouvenirs» zu sehen. Während man in Muskau auf Inszenierung setzt (etwa mit der Ausstellungsarchitektur des Iren Ruairí O'Brien), zeigt sich die stärker mit Originalen ausgestattete Präsentation in Muskau eher klassisch. Zu den herausragenden Exponaten in Branitz zählen die grossformatigen Alben, in die Pückler seine Englandsouvenirs einklebte. Die originalen Reisebriefe, während des Zweiten Weltkriegs nach Schlesien ausgelagert und später verschollen, wurden vor wenigen Jahren in der Jagellonischen Bibliothek in Krakau wiederentdeckt.

[ Die Ausstellungen in Branitz und Muskau dauern bis zum 30. Oktober; ein Katalog ist in Vorbereitung. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2005.10.01

09. September 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Lebendige Architekturszene

Mit dem roten Klinkerbau des Volkshauses von Eduard Lanz (1930-1932) und dem expressiven Sichtbeton-Ensemble des Volkshauses von Max Schlup (1961-1966),...

Mit dem roten Klinkerbau des Volkshauses von Eduard Lanz (1930-1932) und dem expressiven Sichtbeton-Ensemble des Volkshauses von Max Schlup (1961-1966),...

Mit dem roten Klinkerbau des Volkshauses von Eduard Lanz (1930-1932) und dem expressiven Sichtbeton-Ensemble des Volkshauses von Max Schlup (1961-1966), das unlängst durch Rolf Mühlethaler restauriert wurde, kann Biel zwei Ikonen der Schweizer Architektur des 20. Jahrhunderts vorweisen. 1999 erhielt die Stadt durch die Eröffnung der Holzfachschule von Meili Peter sowie des Centre PasquArt von Diener & Diener neue Aufmerksamkeit. Doch es sind nicht nur Architekten aus Zürich oder Basel, die am Jurasüdfuss tätig werden: In den vergangenen Jahren hat sich in Biel eine lebendige Architekturszene entwickelt, die erstmals im Jahr der Expo 02 von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Wer vom Bahnhof zur Arteplage wollte, passierte zunächst die perspektivisch sich weitende Bahnhofspassage von Kistler & Vogt, dann den neu angelegten Robert-Walser-Platz von Bart & Buchhofer sowie das Medienhaus des mittlerweile aufgelösten Teams Gebert Liechti Schmid. Hier soll «:mlzd», das junge Bieler Büro, welches die Erweiterung des Historischen Museums Bern ausführen wird, in den kommenden Jahren überdies den Neubau der Kaufmännischen Berufsschule realisieren.

Einen Überblick über die Bieler Architekturszene gibt nicht nur ein soeben erschienener Architekturführer, der gut 200 herausragende Bauten seit 1920 dokumentiert, sondern auch die vom Bieler Architekturforum zusammengestellte Ausstellung «Directions» in der Salle Poma des Centre PasquArt. Eine Jury wählte zehn in Biel ansässige Büros aus, die nun jeweils auf einem langgestreckten weissen Sockel ihre Bauten und Projekte präsentieren können. Eine Vielzahl von Kleinbilddias legte «:mlzd» auf einem Leuchttisch aus. Spaceshop füllte seinen Sockel mit Fotos der eigenen Arbeiten und Lifestyle-Utensilien, die zeigen, dass die Urheber von Architektur lebendige Menschen sind. Konzentriert auf wenige Projekte, stellen sich mit Modellen Sollberger Bögli, mit Projektionen Kistler Vogt und mit Fotos Bart Buchhofer vor. Mit Postkarten ihrer Arbeiten operieren Joliat Suter und Laimer Tschanz - die an MVRDV erinnernden Modelle mit Wohntürmen bilden einen Blickfang der Ausstellung.

Vorbilder der prominenten niederländischen oder Schweizer Büros erkennt man an manchen Stellen - etwa beim Haus Truffer in Ipsach von «:mlzd» oder beim Alptransit-Besucherzentrum Pollegio von Bauzeit, dessen Fassaden an die Dominus Winery von Herzog & de Meuron erinnern. Indes: Architektur ist kaum jemals autochthon entstanden, bedarf stets der Inspirationen und ist auch von Moden nicht frei. Der undogmatische Umgang, den die Bieler Büros an den Tag legen, ist erfrischend - hier wird keine neue Schule gegründet, sondern ein Experimentierfeld bespielt. Dass in Biel, einer Stadt von heute 50 000 Einwohnern, so viele qualitätvolle Büros Arbeit finden, bleibt bemerkenswert - und es ist nicht zuletzt Resultat einer vom vormaligen Baudirektor Ulrich Haag betriebenen städtischen Architekturförderung. Grössere Schweizer Städte wie Bern und Zürich könnten von einem derartigen Engagement lernen.

[ Bis 18. September. Katalog: Directions. Neue Architektur aus Biel. Hrsg. Architekturforum Biel, Biel 2005. 86 S., Fr. 20.-. Zum gleichen Preis ist auch der beim Verlag Hochparterre erschienene Architekturführer Biel erhältlich. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.09.09

02. September 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Baukunst im Tulpenland

Führer zur Architektur der Gegenwart sind auf Reisen unverzichtbare Hilfsmittel, allein, sie veralten schnell. So musste der von Paul Groenendijk und Piet...

Führer zur Architektur der Gegenwart sind auf Reisen unverzichtbare Hilfsmittel, allein, sie veralten schnell. So musste der von Paul Groenendijk und Piet...

Führer zur Architektur der Gegenwart sind auf Reisen unverzichtbare Hilfsmittel, allein, sie veralten schnell. So musste der von Paul Groenendijk und Piet Vollaard erarbeitete, 1987 erstmals publizierte «Guide to Modern Architecture in the Netherlands» in der vierten (1992) und fünften Auflage (1998) stark erweitert werden. Nach weiteren sechs Jahren entschieden sich die Autoren nun nicht zu einer neuerlichen Überarbeitung, sondern zu der Publikation eines «Guide to Contemporary Architecture in the Netherlands», der lediglich Bauten der vergangenen 25 Jahre enthält und hinsichtlich der Chronologie nicht Berlages Börse (1903), sondern Rem Koolhaas' Planung für den Amsterdamer Ij-Plein (1982) an den Anfang rückt. Das etwas spröde, mit Schwarzweissfotos von Piet Rook illustrierte, aber weitgehend auf Pläne verzichtende Layout wurde ebenso beibehalten wie das Querformat. Insgesamt ist ein handliches, gut ausgewähltes und knapp kommentiertes Kompendium zeitgenössischen Bauens in einer der wichtigsten Architekturregionen Europas entstanden, das auch die aktuellsten Bauten einschliesst - etwa das Son-O-House von NOX bei Eindhoven oder die Universitätsbibliothek von Wiel Arets in Utrecht.

[ Paul Groenendijk und Piet Vollaard: Guide to Contemporary Architecture in the Netherlands. Niederländisch/englisch. Verlag 010 Publishers, Rotterdam 2004. 152 S., Euro 24.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.09.02



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02. September 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Alles unter einem Dach

Bernard Tschumis Manufaktur für den Genfer Uhrenhersteller Vacheron Constantin

Bernard Tschumis Manufaktur für den Genfer Uhrenhersteller Vacheron Constantin

Plan-les-Ouates, an der südwestlichen Peripherie von Genf gelegen, hat seinen ruralen Charakter längst abgelegt. Auf dem Gebiet der Gemeinde ist in den letzten Jahren ein ausgedehntes Gewerbegebiet entstanden, das von der Nähe zur Metropole ebenso profitiert wie von der - aufgrund der Pendlerströme wichtigen - Nähe zu Frankreich. Ausgezeichnet sind die Verkehrsverbindungen: Die Autobahn tangiert das Areal, und der Flughafen ist nur wenige Minuten entfernt. Gleichwohl, wer hier nicht arbeitete oder Geschäfte machen wollte, hatte bisher keinen Grund, das ästhetisch belanglose Gebiet aufzusuchen. Das ist anders geworden, seitdem mit dem Produktionsgebäude der Uhrenmanufaktur Vacheron Constantin ein vorbildlicher zeitgenössischer Industriebau entstanden ist.
Theorie und Praxis

Die Uhrenmanufaktur, die als älteste der Welt seit einem Vierteljahrtausend kontinuierlich produziert, feiert in diesem Jahr ihr Jubiläum: 1755 hatte Jean-Marc Vacheron seine eigene Werkstatt in Genf begründet; zu seinen Nachfahren gesellte sich später der erfolgreiche Verkäufer François Constantin. Inzwischen wie Cartier, IWC oder Jaeger-Le Coultre der internationalen Richemont- Gruppe zugehörig, stellt Vacheron Constantin jährlich rund 15 000 Uhren des Luxussegments im vier- bis sechsstelligen Frankenbereich her. Neben dem Stammsitz am innerstädtischen Quai de l'Ile, der fortan repräsentativen Zwecken vorbehalten bleibt und auch das firmeneigene Museum beherbergt, verteilten sich die verschiedenen Bereiche des Unternehmens bisher auf das Vallée de Joux im Jura sowie auf diverse Standorte in Genf. Mit dem Neubau in Plan-les-Ouates ergab sich nun die Möglichkeit, die verschiedenen Abteilungen zum Zwecke effizienterer Kommunikation zusammenzuführen. Administration, Marketing und Produktion sind erstmals in einem Gebäude versammelt, auch wenn die Fertigungswerkstätten im Jura erhalten bleiben.

Ausgehend von einem detaillierten Raumprogramm, veranstaltete Vacheron Constantin 2001 einen Wettbewerb für das neue Gebäude. In der zweiten Runde konnte sich Bernard Tschumi gegen die Konkurrenz von Gae Aulenti, Carlos Ferrater, Nicholas Grimshaw und John Pawson durchsetzen. 1944 in Lausanne geboren und an der ETH Zürich ausgebildet, zählt der in Paris und New York tätige Tschumi zu den wichtigsten zeitgenössischen Architekten. Und das in doppelter Hinsicht - als Entwerfer experimenteller Projekte, als deren bisher wichtigstes der Parc de la Villette in Paris (ab 1983) und das Medienzentrum «Le Fresnoy» im nordfranzösischen Tourcoing einzustufen (1997) sind, aber auch als einflussreicher Lehrer und Theoretiker. Bevor Tschumi infolge seines Siegs im Pariser La-Villette-Wettbewerb zur Praxis wechselte, sammelte er als Hochschullehrer Erfahrungen und veröffentlichte Publikationen wie «Manhattan Transcripts» (1981). Danach agierte Tschumi bis 2003 an der New Yorker Columbia University als Dekan der Graduate School of Planning and Preservation, eines der wichtigsten Zentren des internationalen Architekturdiskurses. Bedauerlicherweise war es dem international tätigen Architekten - abgesehen von der nur in Ansätzen realisierten Planung des Flon-Quartiers in Lausanne - bisher nicht vergönnt, in der Schweiz ein Werk zu realisieren, und die Hochschulen des Landes glauben es sich leisten zu können, eine Kapazität wie ihn beharrlich zu ignorieren.

Gewiss zählt der neue Sitz von Vacheron Constantin nicht zu den betont experimentellen Werken des Architekten. Hier handelt es sich aber auch nicht um ein zeitgenössisches Kulturzentrum oder einen postindustriellen Park wie in der Villette, sondern um eine Fabrikanlage, die aufgrund des hohen Grades an handwerklicher Fertigung als «Manufaktur» betitelt ist. Gemeinhin tut sich die im Luxussegment operierende Schweizer Uhrenindustrie schwer mit anspruchsvoller zeitgemässer Architektur. Während andere Branchen längst die Potenziale von Branding-Architektur erkannt haben, tickt der Uhrensektor anders: Solidität und Tradition bestimmen das Selbstverständnis. Dies macht es den Unternehmen schwer, zu einem der Gegenwart entsprechenden Ausdruck zu finden. Jean Nouvels Bauten für Cartier sind die löblichen Ausnahmen. Wer indes die schon bestehenden oder im Bau befindlichen Produktionsstätten in Plan-les-Ouates besucht, seien es die von Patek Philippe, Piaget oder Rolex, sieht sich mit Architektur konfrontiert, wie sie banaler nicht sein könnte.

Vorbildlicher Industriebau

Mit ihrem weithin sichtbaren Neubau ist der Marke mit dem Malteserkreuz-Logo nun ein Schritt nach vorn gelungen. Tschumi, der mit seiner Büropartnerin Véronique Descharrières zusammenarbeitete, entwarf ein elegantes, zeichenhaftes Gebäude, das seine Funktion auf perfekte Weise erfüllt. Als «eine zeitlose und dennoch zeitgenössische Form» bezeichnet er seinen Entwurf - und gibt damit die Antwort auf die Frage seiner Auftraggeber, wie sich Beständigkeit, Kontinuität und Innovation architektonisch umsetzen liessen. Eine Hülle aus Metall, so interpretiert man bei Vacheron Constantin den Neubau, stelle die Dynamik der Zeit dar, während das Tragwerk aus Beton die Beständigkeit verkörpere.

Der streng ostwestlich ausgerichtete Firmensitz besteht aus einem aufragenden Kopfbau, in dem Administration, Direktion und Marketingabteilung untergebracht sind, sowie dem sich westlich anschliessenden Flachbau für die Werkstätten. Beide Funktionsbereiche stehen aber nicht nebeneinander, sondern sind durch eine metallene Haut zu einem Volumen zusammengefasst. Eine Gitterstruktur aus rostfreiem Stahl bildet die Fassadenhaut oberhalb der verglasten Eingangsfront im Osten, zieht sich über das Dach des Verwaltungsbaus und krümmt sich in dessen Ostfassade, um anschliessend das Dach der Werkstätten zu bilden. In einem halbkreisförmigen Schwung wechselt das Band noch einmal seine Laufrichtung, um nach Fassade und Dach nun auch den Boden zu bilden: Der Baukörper schwebt hier über einem offenen Parkplatz. Dieser ist Teil eines rechtwinklig zum Fabrikgebäude geführten Landschaftsstreifens, dessen nördliche Rampe gärtnerisch gestaltet wurde, während die südliche als Zufahrt und Stellfläche dient.

Bringt der stählerne Überwurf, der die Assoziation eines Uhrarmbands erwecken mag, das über einer Grundfläche von 80 × 42 Metern errichtete Gebäude in Form, so sind die Richtung Norden und Süden orientierten Längsseiten vollständig verglast. Gebäude, die von bandartigen Strukturen umgeben werden und deren gläserne Fassaden wie Schnitte durch das Innere wirken, erfreuen sich in der jüngeren Zeit - ausgehend von niederländischen Vorbildern - grosser Beliebtheit; zu erinnern ist hier an das New Yorker Eyebeam-Projekt von Diller & Scofidio, vor allem aber an die Experimentelle Fabrik von Sauerbruch Hutton in Magdeburg, die in ihrer Kombination von Verwaltungstrakt und Halle eine deutliche Verwandtschaft zu Tschumis Genfer Projekt aufweist. Während das deutsch-englische Architektenteam indes auf eine grellbunte Farbigkeit setzt, zeigt sich Tschumi zurückhaltender und nutzt die Farben der Materialien. Zu dem Grau des Betons, dem Silber des Stahls und dem leichten Grün des Glases tritt im Inneren der Ton des Holzes, mit dem die Untersichten der silbrigen Bandstruktur verkleidet wurden. Trotz dem technoiden Charakter, der dem Gebäude zu eignen scheint, entsteht ein beinahe wohnlicher Eindruck. Die Verwaltungsgeschosse gruppieren sich um das quer gelagerte Atrium mit der vertikalen Erschliessung, die Arbeitsplätze im Werkstättentrakt um einen Patio in Längsrichtung des Baus, der auch das Parkdeck belichtet.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.09.02

05. August 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Fahrt ins Hochgebirge

Die Nordkettenbahn, die Franz Baumann 1928 oberhalb von Innsbruck errichtete, zählt zu den eindrucksvollsten Zeugnissen alpinen Bauens. Regionalismus und...

Die Nordkettenbahn, die Franz Baumann 1928 oberhalb von Innsbruck errichtete, zählt zu den eindrucksvollsten Zeugnissen alpinen Bauens. Regionalismus und...

Die Nordkettenbahn, die Franz Baumann 1928 oberhalb von Innsbruck errichtete, zählt zu den eindrucksvollsten Zeugnissen alpinen Bauens. Regionalismus und Moderne sind in den gut erhaltenen Bauten auf grandiose Weise vereint. Baumann inszenierte die Fahrt von der chaletartigen Station Hungerburg über die als weisses Berghotel konzipierte Mittelstation Seegrube bis hin zu der expressiv mit dem Fels verzahnten Bergstation Hafelekar architektonisch als Reise ins Karwendelmassiv. Als Zubringer zur Nordkettenbahn dient die 1906 als Standseilbahn errichtete Hungerburgbahn. Die Strecke soll künftig beim Kongresszentrum am Nordrand der Altstadt beginnen und kurz vor der Station Hungerburg in das bestehende Trassee einmünden. Die vier Stationsgebäude Kongresszentrum, Löwenhaus, Alpenzoo und Hungerburg sollen von Zaha Hadid realisiert werden. Die Entwürfe der Architektin, die in Innsbruck durch den Neubau der Bergisel- Sprungschanze bekannt wurde, zeigen organisch- expressiv geformte Bauten mit Flugdächern. Architektonisch attraktiv ist insbesondere die als 24 Meter hohe Turmkonstruktion ausgebildete Haltestelle Alpenzoo. Von der zunächst geplanten Überformung der Nordkettenbahn-Stationen durch Zaha Hadid hat man inzwischen glücklicherweise abgesehen; nun wurde der ortsansässige Architekt Hanno Schlögl mit der denkmalgerechten Renovierung beauftragt.

Die Entwürfe von Hadid und Schlögl sind bis auf weiteres in der Mittelstation Seegrube ausgestellt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.08.05

15. Juli 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Unspektakuläre Interventionen

Das spätviktorianische Gebäude des Camden Arts Centre im Londoner Stadtteil Hampstead ist nach einem Umbau wiedereröffnet worden. Die Eingriffe des Architekten Tony Fretton geben sich bewusst zurückhaltend, überzeugen aber als Antwort auf die immer wieder aktuelle Frage, was heute ein Ort der Kunst sein kann.

Das spätviktorianische Gebäude des Camden Arts Centre im Londoner Stadtteil Hampstead ist nach einem Umbau wiedereröffnet worden. Die Eingriffe des Architekten Tony Fretton geben sich bewusst zurückhaltend, überzeugen aber als Antwort auf die immer wieder aktuelle Frage, was heute ein Ort der Kunst sein kann.

Auto an Auto quält sich der Verkehr in London vom Swiss Cottage durch die Finchley Road Richtung Autobahn. West Hampstead, am Fusse des Hügels gelegen, auf dem sich das idyllische Hampstead selbst befindet, hat in den vergangenen Jahren an Lebensqualität eingebüsst: Die kleinteilige Geschäftsstruktur ist verschwunden, und dort, wo neben der North London Line der Eisenbahn auch zwei U-Bahn-Linien an der Finchley Road ihre Tunnelstrecken verlassen, manifestiert sich die Unwirtlichkeit in einem überdimensionierten Shopping-Center in banalsten spätpostmodernen Formen. In dessen Sichtweite steht an der Ecke der steil zum Ortskern von Hampstead emporführenden Arkwright Road das Camden Arts Centre, ein pittoresk anmutender Ziegelsteinbau im Neo-Tudor-Stil mit sanften Anklängen an die Formensprache der Arts-and- Crafts-Bewegung.

Errichtet wurde das von einem reichen Philanthropen finanzierte Gebäude 1897 nach Entwürfen des Architekten Arnold S. Taylor als Bibliothek - und 1909 erweitert um einen Vortragssaal, verschiedene Arbeitsräume und eine Kinderbücherei. Die 1926 noch einmal vergrösserte, im Zweiten Weltkrieg aber zum Teil zerstörte Bibliothek übersiedelte in den sechziger Jahren in die neue Hampstead Library, die Basil Spence am Swiss Cottage errichtet hatte.

Architektur und Kunst

Unter dem Namen Camden Arts Centre fand der von einer lokalen Künstlerinitiative gerettete Bau eine neue Bestimmung als Ort, an dem Kunstkurse verschiedener Gattungen angeboten wurden, und erwarb sich nicht zuletzt einen Ruf durch Ausstellungen von überregionaler Bedeutung. Als im Vorfeld der Millenniumsfeierlichkeiten ein Antrag gescheitert war, das Gebäude mit Lotteriemitteln aufwendig zu erweitern, musste das Projekt redimensioniert werden. Den architektonischen Wettbewerb des Jahres 2000 konnte dann Tony Fretton für sich entscheiden - ein Architekt, der sich immer wieder mit der Beziehung von Kunst und Architektur auseinandergesetzt hat.

Eines seiner Hauptwerke ist die 1990 eröffnete Lisson Gallery im Stadtteil Marylebone: In zweigeschossiger Verglasung öffnet sich die Galerie zur Strasse, hinter dem Beton der weitgehend geschlossenen Geschosse darüber befinden sich Wohnungen. Puristisch konzipiert, ist die Lisson Gallery dennoch frei von minimalistischem Edelschick. Vorangegangen waren dem Bau ausgiebige Gespräche mit Künstlern wie Julian Opie, Tony Cragg und Anish Kapoor - für Letzteren baut Fretton derzeit ein Atelierhaus.

Mit Gesprächen begann auch die Arbeit am Camden Arts Centre. Das Architekturbüro MUF wurde beauftragt, Interviews mit allen Beteiligten zu führen - auch und vor allem mit den Besuchern und Nutzern. Es ergab sich, dass man keinen superben Umbau, sondern etwas mehr Annehmlichkeit wünschte. Fretton hat diese Aufgabe überzeugend, aber bewusst unspektakulär gelöst.

Absage an die Label-Architektur

Der eigentliche Eingriff ereignete sich im Sockelgeschoss, in dem zuvor Lager, Verwaltung und ein Keramikstudio untergebracht waren. Fretton schloss den bisherigen, von einer doppelläufigen Treppe erschlossenen Eingang in das Hauptgeschoss und schnitt links davon einen mit einem gläsernen Vestibül versehenen Zugang in den Sockel. Roter Terrazzo schafft eine zurückhaltend-warme Atmosphäre, auf der einen Seite befindet sich der Kassentresen, auf der anderen Seite ein Bookstore. Dem gläsernen Vestibül antwortet auf der Rückseite des Gebäudes ein ebenfalls neu entstandener Cafépavillon; von der vorgelagerten Freifläche aus, die von MUF gestaltet wurde, blickt man in den Garten oder auf die Strasse, die durch eine gläserne Aussparung in der Grundstücksbegrenzung sichtbar geworden ist. Fast unsichtbar zeigen sich die Eingriffe in den Obergeschossen: Die zwei historischen, zur Arkwright Road hin ausgerichteten Säle wurden mit Klimaanlage und Verdunkelungssystem versehen, der grosse Saal auf der Rückseite erhielt neue Oberlichtschächte. Weiss getünchte, schlichte Wände schaffen eine zurückhaltende Atmosphäre, die den Anforderungen an einen heutigen Ausstellungsbetrieb entspricht.

Der Umbau des Camden Arts Centre ist das Gegenteil dessen, was Label-Architektur heute vermag. Neu und Alt sind hier nicht getrennt, sondern beiläufig miteinander verschliffen. Fretton hat den spätviktorianischen Charme des Gebäudes erhalten und sich selbst dezent zurückgehalten, ohne sich formaler Anbiederung zu befleissigen. Ein Ort der Kultur ist wiedererstanden - für die Bewohner des Stadtteils und die Besucher aus der Ferne.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.07.15

04. Juli 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Zweckmässig wie Fabriken

Das Haus Hodel, am Trassee der Wiesentalbahn in Riehen bei Basel gelegen, wirkt mit seinem Satteldach und den Fensterläden auf den ersten Blick konventionell....

Das Haus Hodel, am Trassee der Wiesentalbahn in Riehen bei Basel gelegen, wirkt mit seinem Satteldach und den Fensterläden auf den ersten Blick konventionell....

Das Haus Hodel, am Trassee der Wiesentalbahn in Riehen bei Basel gelegen, wirkt mit seinem Satteldach und den Fensterläden auf den ersten Blick konventionell. Doch der 1918 unter Karl Moser an der ETH Zürich diplomierte Architekt Hans Schmidt wagte 1924 mit seinem ersten eigenen Bauwerk einen Schritt Richtung Industrialisierung des Bauens, indem er vorfabrizierte Betonrahmenprofile für Fenster und Türen verwendete. Nachdem Schmidt 1926 gemeinsam mit seinem Büropartner Paul Artaria bei einem Atelierhaus für den Maler Willi Wenk mit einer Holzkonstruktion experimentiert hatte, entstand mit dem Haus Colnaghi im Jahr darauf das erste Stahlskelett-Wohnhaus der Schweiz.

Bei diesem baugeschichtlichen Meilenstein gaben die Masse der handelsüblichen Bimsbetonplatten die Dimensionen vor, hatte doch Schmidt schon zuvor postuliert: «Wir bauen streng von innen nach aussen, wir kümmern uns nicht um das, was üblich ist oder was gefällig ist, wir bauen rein zweckmässig, so wie man eine Fabrik bauen würde.» Operierten die Architekten beim Haus Colnaghi noch mit einer kubischen Durchdringung verschiedener Volumina, die von De Stijl inspiriert war, so gelang es ihnen mit dem Haus Schaeffer (1927/28), die formale Reduktion weiter voranzutreiben. Über den grosszügigen Wohnbereich des Erdgeschosses ist im rechten Winkel die boxartige Sequenz der Schlafzimmer im Obergeschoss gelegt, die brückenartig auskragt. Artaria und Schmidt realisierten das Gebäude als Prototypen für eine Reihenhaussiedlung und präsentierten es 1929 auf dem Frankfurter CIAM-Kongress «Wohnen für das Existenzminimum».

Die Bauten von Artaria und Schmidt sind herausragende Beispiele für das Neue Bauen in Riehen - und weit darüber hinaus. Eine Ausstellung im KunstRaumRiehen, von der Gemeinde Riehen und dem Basler Heimatschutz gemeinsam konzipiert, stellt anhand von Plänen, Fotos und einigen Möbelstücken zwanzig bemerkenswerte Projekte vor. Die Sequenz beginnt mit dem Haus Schmidt- Schröder von Paul Artaria (1922), und sie endet mit Hans Schmidts Siedlung «Im Höfli» (1954), welche mit heimischen Elementen die zeittypische Abkehr von der Ästhetik des Neuen Bauens dokumentiert. Interessant sind die unterschiedlichen Facetten des Neuen Bauens, die man anschliessend auf einem Rundgang durch Riehen erleben kann: Dem sozialistisch gefärbten Verständnis, wie es sich im Haus Schaeffer von Artaria und Schmidt äusserte, antworteten Otto und Walter Senn mit einer grossbürgerlichen Villa in der Formensprache des Neuen Bauens (1934). Unter den verschiedenen Atelierhäusern sticht besonders das Haus Sandreuter von Rudolf und Flora Steiger-Crawford hervor - ein leicht expressionistisch anmutendes Gebäude mit Pultdach. Die hybride Konstruktion aus Beton, Mauerwerk und Holzriegelwerk galt Sigfried Giedion als das «erste konsequent formulierte Haus des Neuen Bauens auf Schweizer Boden».

[ Bis 31. Juli. Ein Faltblatt, das die 20 Gebäude vorstellt, ist gratis erhältlich (www.heimatschutz.ch). ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2005.07.04

01. Juli 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Hüllen für die Kunst

Ideale Bedingungen für die Präsentation von Kunst sind für Galeriegebäude von zentraler Bedeutung. Dabei müssen sie nicht notwendigerweise mit dem «White Cube» der Moderne aufwarten, wie drei kontextuell geprägte Schweizer Beispiele belegen.

Ideale Bedingungen für die Präsentation von Kunst sind für Galeriegebäude von zentraler Bedeutung. Dabei müssen sie nicht notwendigerweise mit dem «White Cube» der Moderne aufwarten, wie drei kontextuell geprägte Schweizer Beispiele belegen.

Das Basler Büro Diener & Diener ist für seine subtile Auseinandersetzung mit dem Kontext bekannt, und viele seiner Bauten und Projekte reagieren auf bestehende Bausubstanz. Das gilt auch für die Museen und Galeriegebäude von Diener & Diener - handle es sich um das Centre PasquArt in Biel, die Sammlung Rosengart in Luzern oder die in Bau befindliche Galleria Nazionale d'Arte Moderna in Rom. Das neuste vollendete Beispiel ist der Erweiterungsbau des Auktionshauses Stuker in Bern. Dieses residiert hoch über dem Bärengraben am Alten Aargauerstalden. Anders als eine traditionelle Galerie mit ihrem kontinuierlichen Betrieb, bei dem einzig die Vernissagen zu erhöhtem Publikumsaufkommen führen, vereint ein Auktionshaus verschiedene Funktionen und verändert sich ständig hinsichtlich räumlicher Anforderungen: Während der Einlieferungszeit der Kunstwerke ist es ein sich ständig vergrösserndes Magazin und eine Forschungsstätte, während der Vorbesichtigung eine Galerie, während der Auktion ein pulsierender Marktplatz - und im Anschluss an den Nachverkauf beginnt der Zyklus aufs Neue. Der Raum, den Kunstwerke und Publikum beanspruchen, verändert sich dabei ständig: Mal ist das Haus leer, dann wieder zum Bersten gefüllt. Von diesem Wechsel ausgenommen sind nur die Zonen für Verwaltung und wissenschaftliche Recherche.

Im Schatten der Villa

Die zweigeschossige neobarocke Villa, die ebenfalls vom Basler Büro restauriert wurde, hat Roger Diener durch einen Neubau ergänzt, wobei ein leicht zurücktretendes Treppenhaus zwischen beiden Bauteilen vermittelt. Der Neubau erscheint als zweigeschossige Vitrine: Geschosshohe Verglasungen, vor denen braune Kunststoffvorhänge als Sonnenschutz fungieren, prägen die Hauptansicht. Dahinter verbergen sich die Empfangsräume im Erdgeschosse; im Obergeschoss, das durch eine Galerie unterteilt wird, finden sich Bibliothek und Verwaltung. Eingeschossig schliesst sich daran ein langgestreckter Baukörper an, der durch Wände, die sich um 90 Grad schwenken lassen, längs oder quer unterteilt werden kann. Die für die Vorbesichtigung zweckmässige Abfolge von vier Ausstellungskabinetten verwandelt sich zur Auktion in einen grossen weissen Raum mit flankierenden Seitenschiffen; eine ebenso grosse Kellerebene dient als Magazin. Drei schmale hochformatige Fenster gewähren den Ausblick Richtung Südwesten auf den Park und auf die Altstadt von Bern. Gegenüber dem hellen Naturstein der historistischen Villa wählten Diener & Diener für die Aussenverkleidung des Anbaus Kupfer, das an der Saalfront in Form von Wellblech Anwendung fand und damit den Charakter eines Zweckgebäudes unterstreicht.

Kunstschuppen auf dem Dorf

Im ländlichen, zwischen Bern und Thun gelegenen Wichtrach errichteten die Zürcher Architekten Gigon Guyer im vergangenen Jahr ein Galeriedepot für die Galerie Henze & Ketterer. Dieses befindet sich nicht auf dem Grundstück der in einem Wohnquartier untergebrachten Galerie, sondern mitten im Dorf. Dies nicht ohne Grund, denn es handelt sich um einen Zwitter, der zwischen privater und öffentlicher Nutzung oszilliert. Da die bestehende Galerie weiter genutzt wird, fungiert der Neubau einerseits als Galerielager, andererseits können hier Kunstobjekte präsentiert werden. Private Arrangements für interessierte Kunden sind ebenso möglich wie halböffentliche Ausstellungen. Für zeitgenössische Kunst bot die bisherige Galerie weder genügend Raum noch ein geeignetes Ambiente.

Gigon Guyer entwarfen ein Gebäude, das mit seinem Satteldach wie eine grosse Scheune wirkt und damit auf die Nutzbauten der Region verweist. Satteldächer und Dachvorsprünge waren durch die Baugesetzgebung der Ortsbildschutzzone festgelegt, und die Architekten entsprachen den Vorgaben, ohne indes in ein geschmäcklerisch-vernakuläres Bauen abzugleiten. Errichtet wurde eine zweigeschossige Tragkonstruktion aus Beton mit längsgerichtetem Satteldach. Während die Längswände parallel zueinander stehen, sind die Stirnwände unterschiedlich ausgerichtet, so dass sich ein unregelmässiges Parallelogramm ergibt; diese Form erlaubte die optimale Ausnutzung des zur Verfügung stehenden Grundstücks.

Es handelt sich um ein recht massives Bauwerk: Zu der Betonschale tritt noch eine 20 Zentimeter starke Isolationsschicht, um ein gleichmässiges Raumklima im Inneren zu gewährleisten. Die Fassadenverkleidung aus gekantetem perforiertem Blech wird durch eine davor installierte Hülle gleichsam verdoppelt. Diese nicht tragende, je nach Lichtverhältnis irisierend oder opak wirkende Haut, die den Boden nicht berührt, ist thermisch begründet, da sie die Sonneneinstrahlung auf Fenster und Wände reduziert; darüber hinaus aber vereinheitlicht sie das Gebäude zu einem beinahe kristallin anmutenden Volumen. Eine mittige Tragwand, welche auch die Installationen aufnimmt, gliedert die Innenräume. Östlich lagern sich Nebenräume, Nasszellen sowie Erschliessungskerne an, im Übrigen bleibt das Innere mit seinen weiss getünchten Wänden und Decken ohne Unterteilungen. Je zwei Fenster im Erdgeschoss und im Obergeschoss lassen Licht eindringen - und erlauben den Blick aus dem Kunstraum auf das Dorf.

Umnutzung eines Engadinerhauses

Ein attraktives Domizil hat auch die 2002 eröffnete Galerie Tschudi in Zuoz erhalten. Vor einigen Jahren entschieden sich Ruedi Tschudi und Elsbeth Bisig, das Galeriegeschäft während der Winter- und Sommersaison von Glarus, wo die Galerie Tschudi 1985 eröffnet wurde, nach Zuoz ins Oberengadin auszulagern. Wie die Besucherzahlen beweisen, war die Entscheidung für den neuen Standort richtig. St. Moritz, das mit Dépendancen der renommierten Galerien Grewe und Gmurzynska ein kunstinteressiertes Publikum anzulocken vermag, ist nahe, und über Zuoz thront das Hotel Castell, das von seinen Eigentümern mit zeitgenössischer Kunst ausgestattet und unlängst von Ben van Berkel (UN Studio) aus Amsterdam umgebaut und ergänzt wurde (NZZ 7. 1. 05). Der in St. Moritz ansässige Architekt Hans-Jörg Ruch, der mit seinem Erweiterungsbau des Hotels Saratz in Pontresina auf internationale Aufmerksamkeit gestossen ist, baute die Chesa Madalena im historischen Ortskern von Zuoz für die Zwecke der Galerie Tschudi um.

Seit Jahren schon widmet sich Ruch der Umnutzung alter Engadinerhäuser. Diese bestehen aus einem grossen, offenen Stallbereich mit Heustock und einem massiven, beheizbaren Wohnbereich. Die Überhitzung des Immobilienmarkts im Oberengadin führte dazu, dass die Gebäudehüllen neu unterteilt und unter Verlust der bestehenden Raumstruktur mit Eigentumswohnungen ausgefüllt werden. Ruch hat mit privaten Umbauaufträgen in Madulain und La Punt bewiesen, dass sich Engadinerhäuser heutigen Wohnbedürfnissen anpassen lassen, ohne dass die historische Substanz übermässige Verluste erleidet.

Ein Musterbeispiel seines Vorgehens ist die Galerie Tschudi, bei der Viehstall, Heustock und Dachboden als Kalträume erhalten blieben und als eindrucksvolle Ausstellungsräume für witterungsunempfindliche Arbeiten dienen - unter anderem für einen Steinkreis von Richard Long. Die Keimzelle des Hauses bildet ein massiver Wohnturm aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts, der seit dem Umbau durch Ruch wieder deutlich zu erkennen ist. Der Architekt befreite das Gebäude von späteren Einbauten und liess die ursprüngliche Raumsituation erkennbar werden. Bewegt man sich durch die Galerie und die Wohnräume der Galeristen, fasziniert das ständige Wechseln zwischen innen und aussen, zwischen offenen und geschlossenen Bereichen. Nur im obersten Geschoss musste ein grosses Fenster in die Fassade gebrochen werden. Es stellt neben dem Lift die einzige, deutlich sichtbare Intervention von Hans-Jörg Ruch dar.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.07.01



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Ruch Hans-Jörg



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17. Juni 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Alles unter einem Hut

Durch die Hallen eines ehemaligen Weindepots beim Bahnhof Liestal weht ein neuer Geist: Sie wurden von Liechti Graf Zumsteg aus Brugg zur Kantonsbibliothek umgebaut. Das architektonische Konzept überzeugt durch seinen ebenso respektvollen wie selbstbewussten Umgang mit dem Bestand. Heute wird das neue Haus offiziell eröffnet.

Durch die Hallen eines ehemaligen Weindepots beim Bahnhof Liestal weht ein neuer Geist: Sie wurden von Liechti Graf Zumsteg aus Brugg zur Kantonsbibliothek umgebaut. Das architektonische Konzept überzeugt durch seinen ebenso respektvollen wie selbstbewussten Umgang mit dem Bestand. Heute wird das neue Haus offiziell eröffnet.

Es gibt Gebäude, die aufgrund ihrer rätselhaften Gestalt den Blick magisch auf sich lenken. Passiert man im Schnellzug den Bahnhof Liestal, so erblickt man seit neustem kurz ein Haus, das man kaum einordnen kann: Ein niedriger, mit Dachziegeln verkleideter Baukörper wird von einem breit gelagerten, geknickten und in einer gläsernen Laterne mündenden Dach gekrönt. Details und grosse Geste zeugen von Ambition, und ein wenig erinnert der Bau an Arbeiten der «analogen Architektur», wie sie Ende der achtziger Jahre an der ETH Zürich entstanden: Einfache Formen werden nahezu monumental. Vertrautes erscheint fremd, Fremdes vertraut. Aber das Gebäude am Bahnhofsplatz in Liestal ist nicht der im Geiste von Miroslav Šik entworfene Prototyp einer Edelvariante von Pizza Hut, sondern die neue Kantonsbibliothek Baselland, bei der es sich «nur» um einen Umbau handelt.

Erhalt statt Abriss

Die Bibliothek von Liestal wurde 1838 gegründet, wenige Jahre nach der Spaltung der Kantone Basel-Stadt und Baselland. 1921 zog die Institution in das Erdgeschoss eines Gebäudes beim Bahnhof um, doch schon relativ bald waren die Magazine auf sechs Liegenschaften verteilt. Nach langen Diskussionen fiel Ende der neunziger Jahre der Entscheid zur Übersiedlung in ein anderes Gebäude - und zwar jenes der vormaligen Wein- und Kolonialwarenhandlung Louis Roth & Cie. Am Rande des inzwischen aufgelassenen Güterbahnhofs hatte der Architekt Meinrad Mangold 1924/25 ein Lagerhaus errichtet, das mit einer hybriden Konstruktion auf die durch einen starken Niveausprung geprägte Topographie des Terrains reagierte: Auf der Seite des höher gelegenen Bahnareals zeigte sich das Bauwerk als zweigeschossige Holzkonstruktion mit mächtigem Walmdach, zur Stadtseite hin besass es indes aufgrund zweier in den Hang eingelassener, in Stahlbeton errichteter Untergeschosse eine viergeschossige Fassade. 1984 erwarb der Kanton das Haus und die angrenzenden Liegenschaften mit der Option, parallel zum Bahnterrain Verwaltungsbauten zu errichten. Als man von diesem Plan abliess, war der Weg frei für die Neunutzung als Bibliothek. Die Tragwerkstruktur und die Dachform zu erhalten, das waren die Vorgaben des Architekturwettbewerbs im Jahr 1998, den das in Brugg ansässige Architekturbüro von Peggy Liechti, Andreas Graf und Lukas Zumsteg für sich entscheiden konnte.

Die jungen Architekten setzten auf die Strategie des Weiterbauens und auf einen respektvollen, aber auch selbstbewussten Umgang mit der bestehenden Substanz. Eine klare Konfrontation von Alt und Neu, wie man sie durch eine gläserne Haut hätte erzielen können, wäre in dieser Situation wenig überzeugend gewesen, und so entschieden Liechti Graf Zumsteg sich für eine neue, weitgehend geschlossene Hülle. Als grau verputzter Bau mit Lochfenstern präsentiert sich die neue Bibliothek zur Stadt, die roten Biberschwanzziegel des markanten Dachs greifen ringsum auf das Geschoss darunter aus und erinnern an die Fassadengliederung des früheren Lagerhauses. Neu hinzugekommen ist der zum Bahnhofsplatz orientierte Portikus mit Rundstützen, welcher die Eingangssituation akzentuiert und die Bibliothek mit dem Nachbargebäude verbindet. Nur hier öffnet sie sich mit einer Glasfront gegen aussen.

Integration von Alt und Neu

Über den beiden Untergeschossen, in denen sich Räume für die Verwaltung sowie Büchermagazine befinden, erstrecken sich auf insgesamt vier Ebenen die öffentlichen Bereiche. Die hölzerne Tragstruktur wurde von den Architekten geschickt in ihr Konzept integriert, das mit gelben Regalen und Einbauten, gelbem Kunstharzboden und grünlichen Brüstungsgläsern starke Zeichen der heutigen Zeit setzt. Markanteste Intervention ist der das gesamte Gebäude vertikal durchstossende und von der hohen gläsernen Laterne überfangene Lichthof, der den Blick durch alle Geschosse hindurch ermöglicht. Attraktiv für die Benutzer sind zudem eine Leseterrasse - und die wie «Studioli» wirkenden Arbeitsplätze hinter den aus dem Gebäude heraustretenden Kastenfenstern. Worum geht es in einer Bibliothek? «RECHERCHE» liest man im Wasserbassin auf dem Boden des Lichthofs. Zusammen mit dem rätselhaften « LA» auf dem Dach des Gebäudes fügt sich das Wort - als Teil des künstlerischen Konzepts von Stefan Banz - zum Proust-Zitat.

Durch die Arbeit von Liechti Graf Zumsteg hat Liestal eine ideal funktionierende und architektonisch prägnante Bibliothek erhalten. Mit seiner strahlenden Laterne ist der 18-Millionen-Franken-Bau ein Leuchtturm der Kultur in einem Kanton, der zu öffentlichen Investitionen in diesem Sektor nur mit Mühe bereit ist - der Bau eines dringend benötigten Museums für die Römerstadt Augusta Raurica lässt weiter auf sich warten. Vielleicht, so ist zu hoffen, kann das erfolgreiche Bibliotheksprojekt neue Impulse geben. Aber auch städtebaulich ist die Kantonsbibliothek ein Gewinn. Denn sie wertet den verödeten Bahnhofsbereich auf. Noch dient der Vorplatz als Autoabstellfläche, doch das soll sich bald ändern. Im Jahr 2002 gewann das Basler Büro Christ & Gantenbein den Wettbewerb für die Neugestaltung des Bahnhofsareals. Ein gemeinsam mit Vogt Landschaftsarchitekten erarbeiteter Quartierplan für den Bereich vor der Bibliothek liegt inzwischen vor und bedarf nur noch der Zustimmung des Einwohnerrats.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.06.17



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Kantonsbibliothek Baselland

01. Juni 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Technik und Ästhetik

Mehrere Arbeiten von Norman Foster gelten als architektonische Meisterwerke. In jüngster Zeit allerdings realisierte er einen Bau nach dem anderen. Doch entwerferische Qualität und Innovation bewahren diesen erfolgreichsten Architekten Grossbritanniens, der heute seinen 70. Geburtstag feiern kann, vor dem künstlerischen Abstieg.

Mehrere Arbeiten von Norman Foster gelten als architektonische Meisterwerke. In jüngster Zeit allerdings realisierte er einen Bau nach dem anderen. Doch entwerferische Qualität und Innovation bewahren diesen erfolgreichsten Architekten Grossbritanniens, der heute seinen 70. Geburtstag feiern kann, vor dem künstlerischen Abstieg.

In seinem eben erst erschienenen Buch «Iconic Building» widmet sich der Architekturkritiker Charles Jencks, seinerzeit Wegbereiter der baukünstlerischen Postmoderne, der Zeichenhaftigkeit heutiger Bauten. Diese architektonischen Inkunabeln sind laut Jencks Zeichen, die für sich selbst stehen und mehrere Bedeutungen zulassen, rätselhafte Signifikanten ohne wirkliches Signifikat. Nicht ohne Grund zeigt das Umschlagbild Norman Fosters Swiss Re Building als Rakete auf einer Abschussrampe der Nasa. Und Madelon Vriesendorp steuert eine Zeichnungsreihe bei, welche das 2004 in der City of London eingeweihte Gebäude als Bombe und Schraube, als Finger und Penis, als Tannenzapfen und Zigarre interpretiert. In der Tat wirkt das Gebäude, das mit britischem Understatement meist als «Gherkin» interpretiert wird, durch seine unübersehbare Form, der es gleichwohl an einer zwingenden semantischen Dimension mangelt. Foster hat ein neues Wahrzeichen für London geschaffen, das in bauökologischer und energietechnischer Hinsicht neue Massstäbe setzt und den kurz zuvor errichteten Komplex der Greater London Authority, des neu installierten Londoner Stadtparlaments, qualitativ bei weitem übertrifft.

Fosters Karriere ist eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Vor siebzig Jahren, am 1. Juni 1935, in Manchester geboren, gründete er 1965 gemeinsam mit seiner Frau Wendy sowie Sue und Richard Rogers das Architekturbüro Team 4. Die Zusammenarbeit dauerte nur zwei Jahre, doch sie bildete gleichsam den Humus für die Entwicklung einer Architektur, die als Hightech schliesslich zum britischen Exportschlager werden sollte. Das Willis and Faber Head Office in Ipswich (1976) knüpfte mit seiner schwarzen ondulierenden Fassade an die Stromlinienästhetik der Moderne an, das Sainsbury Centre for Visual Arts in Norwich (1978) gilt als Paradigma des Museumshangars. Der internationale Durchbruch kam für das 1967 gegründete Büro Foster Associates, das später in Foster and Partners umbenannt wurde, mit dem Sitz der Hong Kong and Shanghai Bank in Hongkong (1979-86). Indem er Technik und Ästhetik mit einer Stahl-Glas-Architektur verband, setzte Foster Standards, ohne die sein Commerzbank- Hochhaus in Frankfurt (1997) oder der Londoner Swiss Re Tower nicht möglich gewesen wären. Auch bei anderen Bauaufgaben wirkte Foster bahnbrechend: nicht zuletzt bei Flughäfen. In Stansted bei London entwickelte er das Konzept transparenter und modularer Terminals, das er dann mit dem neuen Flughafen in Hongkong in den grossen Massstab übersetzte.

Im Ausland hatte Foster zunächst besonders viele Projekte in Deutschland, und er konnte in Berlin mit dem Umbau des Reichstags einen äusserst markanten Akzent setzen. Inzwischen hat er in 48 Ländern an Projekten jeglicher Grössenordnung gearbeitet; in der Schweiz befasst er sich mit dem Umbau des Hotels Dolder in Zürich und in St. Moritz - wo er schon ein kürbisförmiges Apartmenthaus realisieren konnte - mit dem Projekt «The Murezzan». Foster ist ein Verfechter der Hightech-Architektur geblieben, und selbst wenn manche Bauten der letzten Jahre doch eher als Massenware eines Grossbüros zu werten sind, so gelingen ihm immer wieder herausragende Werke, etwa das subtil auf die römische Maison Carrée Bezug nehmende Kulturzentrum Carré d'Art in Nîmes (1993) oder der Great Court des British Museum in London (2000). Unter Tony Blair avancierte Foster, der 1990 geadelt und 1999 von der Queen zum Lord of Thames Bank erhoben wurde, zum Architekten der englischen Hauptstadt. An jeder zweiten Ecke der City of London hängt ein Bauschild mit seinem Namen, und für die nachwachsende Architektengeneration bleiben einzig Nischen als Betätigungsfelder. 2004 verlor Foster seinen wichtigsten Mitarbeiter: Ken Shuttleworth, «Ken the Pen», von dem Bau in Ipswich bis hin zur «Gurke» der herausragende Entwerfer, verliess das Büro, um unter dem Namen «Make» sein eigenes zu eröffnen.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2005.06.01



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Foster Lord Norman

28. Mai 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Gralsburg und Hexenkessel

Mit Spielen des TSV München und des FC Bayern (gegen das deutsche Nationalteam) wird am kommenden Montag und Dienstag das neue Münchner Fussballstadion eröffnet. Die Basler Architekten Herzog & de Meuron haben das perfekte Gehäuse für den Sport gebaut: nach aussen ausstrahlend und zugleich konzentriert auf das Innere.

Mit Spielen des TSV München und des FC Bayern (gegen das deutsche Nationalteam) wird am kommenden Montag und Dienstag das neue Münchner Fussballstadion eröffnet. Die Basler Architekten Herzog & de Meuron haben das perfekte Gehäuse für den Sport gebaut: nach aussen ausstrahlend und zugleich konzentriert auf das Innere.

Weltoffen und friedlich wollte man sich 1972 in München präsentieren, die Olympischen Spiele sollten Deutschland aus dem Schatten von 1936 treten lassen, als die Nationalsozialisten die „Jugend der Welt“ nach Berlin gerufen hatten. Entsprechend geriet das Stadion, das Günter Behnisch in München realisierte, zur programmatischen Antithese des monumentalen Berliner Olympiastadions. Beschwingt und elegant wird die Arena von einer zeltartigen Struktur aus Stahlseilen und Acrylglasplatten überfangen, die sich organisch mit der Landschaft verbindet. Behnisch und dem Ingenieur Frei Otto war es nicht nur gelungen, die Bauaufgabe Stadion mit ihrer scheinbar schwerelosen Konstruktion neu zu formulieren, sie hatten überdies eine Inkunabel der Architektur des 20. Jahrhunderts geschaffen - es gibt kein anderes Bauwerk, in dem sich die demokratischen Ideale der Bundesrepublik so verkörpert hätten wie im Münchner Olympiastadion.

Neubau statt Umbau

Nun hat die bayrische Hauptstadt ein neues Stadion erhalten, entworfen von dem in Basel ansässigen Architekturbüro Herzog & de Meuron. Gewiss: Wer nach drei Jahrzehnten in eine Idealkonkurrenz zu Behnischs Meisterwerk treten will, für den liegt die Messlatte hoch. Doch ohne Zweifel haben die Basler Architekten Herzog & de Meuron ein Stadion verwirklicht, das unvergleichlich ist, das Massstäbe setzt und dem künftig eine ähnliche Bedeutung beigemessen werden dürfte wie dem Bau von 1972. Seither allerdings haben sich die Rahmenbedingungen für den Sport und damit für den Stadionbau grundlegend geändert. Und ohne diese veränderten Bedingungen fände das Eröffnungsspiel der Fussball-Weltmeisterschaft am 9. Juni 2006 auch nicht in einem neuen Stadion statt.

Ausschlaggebend für den Neubau waren zunächst die von Fifa und Uefa nach dem Unglück im Brüsseler Heysel-Station vor zwanzig Jahren erlassenen Sicherheitsnormen, denen die heutigen Stadien genügen müssen. Dies hat im Vorfeld der WM in deutschen Stadien zu diversen Umbaumassnahmen geführt. Auch in München dachte man zunächst, zumindest seitens der Stadt, an eine Runderneuerung des Baus von 1972 - zumal Behnisch selber sein Einverständnis signalisiert und ein Konzept vorgelegt hatte. Es war dann eine massgeblich von der Architektenschaft unterstützte Bürgerinitiative, welche die Stimmung umschlagen liess und irreversible Eingriffe in den Bau verhinderte. Dem FC Bayern München, der die Diskussion um ein neues Stadion 1997 lanciert hatte, mochte das recht sein; eine neue Superarena war eher nach dem Geschmack der Edelkicker als Stückwerk.

Als der FC Bayern und der TSV 1860 sich im Januar 2001 zu einem Bündnis für einen Stadionneubau zusammentaten, begann die Suche nach einem alternativen Standort. Mehrere Optionen wurden evaluiert - ein relativ innerstädtischer Neubau in der Nähe des Olympiaparks scheiterte am Widerstand der Anwohner. Schliesslich fiel die Wahl auf Fröttmaning, das zwar am nördlichen Stadtrand liegt, aber durch die Linie 4 der U-Bahn und die nahe Autobahn relativ gut erschlossen ist. Im August 2001 wurden aufgrund von Bewerbungen vier deutsche und vier internationale Architektenteams dazu eingeladen, gemeinsam mit Bauträgern Entwürfe vorzulegen. Zunächst konnten sich Herzog & de Meuron sowie das Hamburger Kommerzbüro von Gerkan, Marg und Partner gegen die Konkurrenz von Peter Eisenman, Norman Foster, Helmut Jahn, Auer & Weber, Engel sowie KSP durchsetzen; im Februar 2002 fiel schliesslich der Entscheid zugunsten des Vorschlags der Basler.

Weil das Stadionprojekt inzwischen in einem Bürgerentscheid mit Zweidrittelmehrheit angenommen worden war, konnte Ende Oktober 2002 mit dem Bau des 286 Millionen Euro teuren Projekts begonnen werden. Die Finanzierung des Neubaus, der nun als „Allianz Arena“ firmiert, übernahmen die Vereine und ihre Sponsoren; dabei darf nicht unterschlagen werden, dass Stadt, Land und Bund eine fast so hohe Summe für die infrastrukturelle Erschliessung des Geländes bereitgestellt haben. Auf eine Mantelnutzung, wie sie anderenorts, etwa im Zürcher Hardturm, zur Querfinanzierung vorgesehen ist, wurde ebenso verzichtet wie auf die Möglichkeit, nach Vorbild der Amsterdamer Ajax-Arena, das Dach schliessen zu können. In der Allianz Arena treten keine Popstars auf, wird auch kein Motocross veranstaltet. Hier gibt es nichts als Fussball.

Das ideale Fussballstadion

Es handelt sich bei der Allianz Arena um das ideale Fussballstadion schlechthin. Grösstmögliche Nähe aller 66 000 Sitze zum Spielfeld war die Vorgabe, die sich Herzog & de Meuron gestellt haben. Im St.-Jakob-Stadion in Basel, das in mancherlei Hinsicht als Vorstufe gelten kann, setzten sie erstmals die Idee der steilen Tribünen um. In München nun haben sie auf das Raffinierteste ausgereizt, wie Architektur Emotionen anheizen kann. 24 Grad misst der Steigungswinkel des unteren, 30 Grad der des mittleren, 34 gar der des oberen Rangs. Die Zeiten, in denen man die Spieler mit dem Fernglas verfolgen musste, sind vorbei. Hinzu kommt eine auf den Kontrast setzende Inszenierung der Wegführung innerhalb des Gebäudes: Weit ausschwingende Kaskadentreppen führen vom Eingangsniveau hinauf bis zum obersten Umgang, von wo aus man durch enge Durchgänge auf die oberste Tribüne gelangt.
Wer plötzlich im steilen Rund des Kraters steht, ist überwältigt. Das Spektakel beginnt hier so deutlich wie nirgends vor dem Anpfiff, geht es doch darum, wie Goethe angesichts der Arena von Verona im September 1786 festhielt, „dem Volk mit sich selbst zu imponieren“. Seine Bemerkung, ein Stadion sei „etwas Grosses und doch eigentlich nichts“, haben Herzog & de Meuron kongenial umgesetzt. In der Arena selbst lenkt nichts vom Spiel ab. Die von den Architekten entworfenen, organisch geformten Schalenklappsitze sind grau - grau wie der Sichtbeton, grau wie die Sonnensegel, die unter der ringsum die Tribünen überwölbenden Dachkonstruktion ausgefahren werden können. Farbakzente setzen nur der Rasen, die Spieler und vor allem die Fans.

In einer Zeit inflationärer Bildüberflutung hat das authentische Erlebnis eines Spiels im Fussballstadion an Bedeutung gewonnen, und dafür eignen sich die herkömmlichen Leichtathletikstadien (wie das Olympiastadion) mit ihrer grossen Distanz zum Spielfeld nicht mehr. Nur die Nähe zum Spiel lässt Emotionen kochen - es bedarf eines Hexenkessels wie der Allianz Arena. Zu den Anhängern, die den Krater füllen und Stimmung erzeugen, kommen in München die betuchten Gäste, die in 106 an Firmen vermieteten Logen zwischen mittlerem und oberem Rang oder in der Business-Lounge Platz finden. Ob die Fussballeuphorie der Münchner Gesellschaft ewig anhält, weiss man nicht; doch zurzeit garantieren die Logen- und Lounge-Bereiche den Vereinen satte Einnahmen. Von den Fans völlig getrennt, parken die VIP ihre Autos in den beiden Garagenebenen unter dem Stadion und gelangen über Lifts direkt in die ihnen vorbehaltenen Bereiche.

Leuchtende Landmarke

Das auf das Spiel einstimmende Erlebnis aber verheisst die Prozession der Zuschauer über die sechshundert Meter lange, vom Zürcher Büro Vogt Landschaftsarchitekten gestaltete Rampe, die über einem gigantischen Parkhaus mit 11 000 Plätzen auf das Stadion zuführt. Wie ein grosser Reifen thront die Arena über der Stadtrandlandschaft von Fröttmaning. Rund 2800 rautenförmige, mit Druckluft gefüllte Kissen bilden die äussere Haut der Arena. Sie bestehen aus nur 0,2 Millimeter starker ETFE- Folie (Ethylen-Tetrafluorethylen), einem neuen Werkstoff, der resistent gegenüber Hitze und Kälte, schwer entflammbar, robust und überdies extrem lichtdurchlässig ist. Durch Leuchtstoffröhren hinter der Fassade kann die Hülle weiss für Spiele der Nationalmannschaft, rot für die Bayern und blau für die Löwen beleuchtet werden - eine grandiose Lichtinszenierung, die das Stadion als Gralsburg des Sports zum neuen Wahrzeichen von München macht. Während Behnisch beim Olympiastadion die Verschmelzung von innen und aussen anstrebte, setzen Herzog & de Meuron auf die Trennung: Die leuchtende Haut strahlt als Landmarke in die Umgebung aus und verbirgt die dahinter befindliche Beton- und Stahlkonstruktion. Sitzt man einmal im Krater der Arena, existiert die Aussenwelt nur noch in Form der Öffnung im Dachoval.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2005.05.28



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Allianz-Arena

14. Mai 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Fliessende Kraftströme

Als architektonisches Ereignis angepriesen, konnte soeben im Norden von Leipzig ein neues BMW-Werk eröffnet werden. Den Akzent setzt das zentrale Verbindungsgebäude von Zaha Hadid. Fliessende organische Formen zeichnen den komplexen Bau aus.

Als architektonisches Ereignis angepriesen, konnte soeben im Norden von Leipzig ein neues BMW-Werk eröffnet werden. Den Akzent setzt das zentrale Verbindungsgebäude von Zaha Hadid. Fliessende organische Formen zeichnen den komplexen Bau aus.

Dass die Hersteller von Automobilen auf bildkräftige Architektur setzen, ist kein neues Phänomen - man denke etwa an den von Le Corbusier bewunderten Lingotto-Bau für Fiat in Turin, die Werkshallen und Verwaltungsgebäude, die Albert Kahn und später Eero Saarinen für Ford in Detroit errichteten, oder an das Volkswagenwerk in Wolfsburg, das mit seiner Mischung aus Monumentalität und Funktionalität ein wichtiges Beispiel für den Industriebau der Nazizeit darstellt.

In den letzten Jahren indes scheinen sich die Konzerne - besonders in Deutschland - mit spektakulären Bauprojekten nachgerade übertrumpfen zu wollen. Dabei hat man erkannt, dass für den Kunden nicht allein die technischen und ästhetischen Qualitäten eines Autos zum Kaufentscheid führen, sondern auch das Image, für das eine bestimmte Marke steht. In einer Zeit, da Strategien des «Branding» für Firmen immer wichtiger werden, kommt den für das Publikum zugänglichen Bereichen bei der Autoherstellung verstärkte Bedeutung zu. Die Entwicklung begann mit der «Autostadt» in Wolfsburg, einem gleichsam um die Produktpalette des VW-Konzerns gruppierten Themenpark, und setzte sich mit der «Gläsernen Fabrik» in Dresden fort, bei der es sich um das Endmontagewerk für den «Phaethon» handelt, mit dem VW den Versuch unternimmt, in das Luxussegment vorzustossen.

Setzte VW in Wolfsburg und Dresden mit dem Büro Henn Architekten auf eine seichte Allerweltsmoderne, so entschieden sich die Konkurrenten aus Stuttgart und München für dezidiertere architektonische Haltungen. Ben van Berkel realisiert in Stuttgart-Untertürkheim derzeit das neue Mercedes-Museum, Coop Himmelb(l)au baut in München die «BMW-Welt», und ebenfalls für BMW konnte Zaha Hadid in Leipzig jetzt ein grosses Bauprojekt vollenden. Nach der Evaluierung von fünf Standorten in Deutschland, Frankreich und Tschechien entschied sich der Konzern, die fünfte Generation der 3er-Limousine zukünftig in Leipzig herzustellen; die gute Verkehrsanbindung des in Autobahnnähe am nordwestlichen Stadtrand befindlichen Geländes, aber auch die Lage Leipzigs im Zentrum Deutschlands und seine Qualitäten als kulturelles Zentrum waren ausschlaggebend für diese Wahl.

Drei Funktionsbereiche

Der Neubau eines Automobilwerks ist von Kriterien der Logistik und der betrieblichen Optimierung bestimmt, wobei in Leipzig der individualistischen, vom Käufer gewünschten Ausstattung der Fahrzeuge besonderes Augenmerk zukommt. Grundsätzlich besteht das neue Werk, das von dem Ingenieurbüro WPW aus Saarbrücken für derzeit knapp 2000 Mitarbeiter geplant wurde, aus drei Funktionsbereichen: dem Karosseriebau, der Lackiererei und dem Montagewerk. Neuartig ist die Konzeption der Montagebereiche: Die Montagebänder ziehen sich schlaufenförmig durch fingerartig ausgebildete Bauteile. Wird die Integration weiterer Montagestationen nötig, so lassen sich die Finger verlängern, ohne dass der Produktionsbetrieb ruht. Überhaupt bietet das Gelände mit seinen 200 Hektaren Fläche bauliche Erweiterungsmöglichkeiten zur Genüge.

Die grossen blechverkleideten Hallen der neuen Fabrik sind schlichte bauliche Hüllen, die sich von üblichen Gewerbebauten am Stadtrand ästhetisch nicht unterscheiden. Den eigentlichen Akzent setzt indes das «Zentrumsgebäude», das als Verbindungsbauwerk zwischen den Karosseriebau im Osten, die Lackiererei im Westen und die Montagehallen im Süden geschoben ist und sich zugleich zur Einfahrt und zu den Parkplätzen im Norden hin orientiert. In einem Präqualifikationsverfahren wurden aus Hunderten von Bewerbern 24 Büros zu einem Wettbewerb eingeladen. In der Endrunde konnte sich Zaha Hadid gegen Konkurrenten wie Barkow Leibinger, Peter Kulka, Lab Architecture, Greg Lynn, Reiser Umemoto und Ian Ritchie durchsetzen.

Komplexe Raumstrukturen

Die 1950 in Bagdad geborene Architektin, die mit dem Feuerwehrhaus für Vitra (1989-93) ihr erstes wichtiges Gebäude realisieren konnte, wurde bekannt durch explosiv wirkende Arrangements spitzer Formen und Bauteile. Deutlicher als manche ihrer dekonstruktivistischen Kollegen - etwa Daniel Libeskind - hat sie ihre Formensprache in den vergangenen Jahren verändert: Weniger das collagehafte Aufeinanderprallen bestimmt ihre heutigen Bauten als vielmehr die Idee dynamischen Fliessens. An die Stelle der gleichsam unter Überdruck stehenden Gedankenarchitekturen von einst sind komplexe Raumstrukturen von grosser Suggestivität getreten, die vergleichsweise ausgeglichen wirken. Diese Tendenz zeigt sich nun auch beim multifunktionalen Zentrumsgebäude in Leipzig. Dieses ist zunächst ein Bauwerk, das die verschiedenen Teilbereiche der Fabrik miteinander verknüpft. Als Haupteingang für die Werksangehörigen und als Empfangsgebäude ist es Schnittstelle zwischen Firma und Öffentlichkeit. Mit seinen 640 Arbeitsplätzen für Ingenieure und Werkstudenten ist es zudem der «Kopf» der Firma, umfasst aber auch andere Funktionsbereiche, etwa Restaurant, Konferenzräume und Qualitätsprüfung.

Die Förderbänder, auf denen die Karosserien zur Lackiererei und dann zur Montage schweben, waren für Hadid Ausgangspunkt einer sich verknotenden Raumstruktur, die - Lichthöfe umschliessend und zwischen die Werkshallen eingekeilt - ihre räumliche Wirkung besonders im Inneren entfaltet. Aus der Notwendigkeit, die halbfertigen Autos innerhalb des Werks zu verschieben, wird eine ununterbrochene Inszenierung. Zwischen der von den Förderbändern vorgegebenen Grundstruktur spannt Hadid ein Raumkontinuum auf zwei zum Teil gegeneinander versetzten Ebenen auf, die durch kaskadenartig abgestufte Arbeitsflächen, Rampen und Treppen miteinander verbunden sind. Die sechs riesigen Arbeitsplattformen der grossen Kaskade lassen die gewaltigen Dimensionen des Gebäudes erkennen. Überall ergeben sich Durchblicke, die sich zum Teil zu schwindelerregenden Perspektiven verengen. Alles ist miteinander verbunden, geht ineinander über. Dennoch ist es Hadid gelungen, den Raum in klare Bereiche zu gliedern, so dass sich niemals eine anonyme Atmosphäre einstellt. Beton und Stahl treffen kraftvoll aufeinander, und doch wirkt das Zentrumsgebäude, das Hadid als «Kompressionskammer» versteht, mitunter fast intim.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2005.05.14



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Zentralgebäude der BMW Werke Leipzig

07. Mai 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Reform des Sakralbaus

Zur Zeit der Weimarer Republik war Dominikus Böhm der wichtigste Vertreter des katholischen Kirchenbaus in Deutschland. Ausgehend von der Liturgiereform, bringt er in seinen Bauten Expressionismus, Monumentalität und Moderne in Einklang. Nun widmet ihm das Deutsche Architektur-Museum in Frankfurt eine Ausstellung.

Zur Zeit der Weimarer Republik war Dominikus Böhm der wichtigste Vertreter des katholischen Kirchenbaus in Deutschland. Ausgehend von der Liturgiereform, bringt er in seinen Bauten Expressionismus, Monumentalität und Moderne in Einklang. Nun widmet ihm das Deutsche Architektur-Museum in Frankfurt eine Ausstellung.

Wohnbauten und Siedlungen, aber auch Schulen, Verwaltungsgebäude und Fabriken gelten als charakteristische Bauaufgaben der zwanziger Jahre in Deutschland. Dass daneben auch eine grosse Anzahl von Kirchen entstand, wurde schon von den Protagonisten des Neuen Bauens geflissentlich ignoriert: Blickt man in die Publikationen des Neuen Bauens, so sucht man nach Sakralbauten meist vergeblich. Gewiss wurzelte die architektonische Moderne in der Phase zielloser Spiritualität und Sinnsuche, welche das expressionistische Intermezzo nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs grundierte, und ebenso gewiss traten die Neuerer mit einem nachgerade messianischen Anspruch auf, die Welt zu verändern. Religion in ihrer amtskirchlichen Ausprägung passte indes schlecht zu einem Verständnis von Architektur, das Pragmatismus und Rationalität als Grundvoraussetzung zur Lösung drängender Probleme sah.

Sperrfestung im Tessinertal

Es ist denn auch signifikant, dass Walter Müller-Wulckow in seinem Bestseller «Bauten der Gemeinschaft» (1928) Kirchen an letzter Stelle behandelte - nach Rathäusern und Gewerkschaftsbauten, Stadthallen und Stadien, Kinos und Schulen. Religiöses Leben, so der Herausgeber im Vorwort, sei noch zu sehr von Problematik durchsetzt und in Frage gestellt, «als dass die Baugestaltung auf eindeutiges, klar fassbares Wollen der Gemeinden fundiert werden könne». Die Architekten suchten einerseits im romantisch- mystischen Tasten nach mittelalterlicher Überlieferung, bedienten sich andererseits moderner technischer Errungenschaften. Das Beispiel, in dem beide Stränge zusammenkommen, ist für ihn die katholische Kirche in Mainz-Bischofsheim (1926), ein Hauptwerk des Architekten Dominikus Böhm (1880-1955). In dem traditionslosen Industrieort hatte der Architekt einen kubischen, mit Ziegelstein verkleideten Bau errichtet, der im Inneren durch ein parabelförmiges Tonnengewölbe aus rohem Sichtbeton überraschte.

Dass der zwischen Archaik, Expressivität und Moderne oszillierende Bau auch Anklang bei den offiziellen Vertretern der Kirche fand, belegt der Besuch des Nuntius Eugenio Pacelli, des späteren Papstes Pius XII., im Oktober 1928. Unumstritten war der neue Kirchenbau beim hohen Klerus aber nicht. In der Silvesterpredigt des Jahres 1929 postulierte der Münchner Kardinal Faulhaber explizit eine Rückkehr zum traditionellen Kirchenbau und sprach - in Hinblick auf Bischofsheim - von einer neuen Kirche, die «eine Sperrfestung im Tessinertal sein könnte». Gleichwohl war Dominikus Böhm in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der wichtigste Vertreter des katholischen Kirchenbaus in Deutschland. Sein Œuvre auf den Sakralbau zu reduzieren, ist zwar falsch - Böhm widmete sich auch dem Wohn-, Industrie- und Städtebau -, doch Kirchenprojekte bilden den Schwerpunkt seines nahezu 400 Arbeiten umfassenden Gesamtwerks. Und mit den Sakralbauten setzte Böhm Massstäbe.

Eine dank ihrem reichen Originalmaterial überaus sehenswerte Ausstellung des Deutschen Architektur-Museums (DAM) in Frankfurt würdigt nun im Hinblick auf Böhms 50. Todestag am 6. August das Schaffen des Architekten. Zudem konnte das DAM vor zwei Jahren den persönlichen Nachlass des Architekten von dessen Sohn Gottfried Böhm erwerben. Neben Korrespondenz und Publikationen gelangten 548 Zeichnungen und Pläne in den Besitz des Museums; ein anderes Konvolut war schon in den siebziger Jahren vom Historischen Archiv der Stadt Köln übernommen worden. Die Fülle des Materials, aber auch die beschränkte Ausstellungsfläche machten eine strikte Auswahl nötig. Wolfgang Voigt, der sich am DAM seit Jahren beharrlich und erfolgreich der Aufarbeitung architekturgeschichtlicher Desiderate widmet, konzentriert sich zu Recht auf Böhms wichtigste Schaffensphase - und überdies auf seine Sakralbauten. Ausgeklammert bleiben die frühen Arbeiten, aber auch das Spätwerk; nach 1945 widmete sich Böhm - zum Teil mit seinem Sohn Gottfried - diversen Wiederaufbau- und Neubauprojekten, von denen insbesondere das für die Kirche Maria Königin in Köln-Marienburg zu einer Inkunabel der fünfziger Jahre wurde.

Liturgische Reformen

An der Baugewerkschule Augsburg ausgebildet und von Vorlesungen Theodor Fischers in Stuttgart inspiriert, trat der 1880 im bayrischen Schwaben geborene Dominikus Böhm erst um 1920 ins Rampenlicht der architekturinteressierten Öffentlichkeit. Kirchen hatte er seit langem bauen wollen, wie frühe Entwürfe beweisen; doch erst um 1920 konnte er Bauten realisieren, die ein neues Verständnis des Sakralraums in einer zeitgemässen, expressionistischen Formensprache formulierten: ein Benediktinerkloster im niederländischen Vaals, Kirchen in Offenbach sowie in Dettingen bei Hanau. Schon um 1914 war Böhm mit dem Gedankengut innerkirchlicher Reformer in Berührung gekommen, welche eine Erneuerung der liturgischen Praxis forderten und die Trennung zwischen Priester und Gemeinde aufheben wollten. Was erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbindlich wurde, hatten Reformer wie Romano Guardini und Johannes van Acken schon um 1918 konzipiert - einen Kirchenraum, bei dem sich die Gemeinde um drei Seiten des Altars versammelt. Van Ackens Schrift «Christozentrische Kirchenkunst» (1922) waren zwei Idealentwürfe für eine «Messopferkirche» beigegeben, die Böhm für eine Gemeinde im US-Bundesstaat Missouri gezeichnet hatte.

In Köln, wohin Böhm 1926 übersiedelt war, traf er wieder auf van Acken, der inzwischen Direktor der Caritas geworden war und nun ein Lehrkrankenhaus seiner Organisation in Köln- Hohelind plante. Böhms gewaltiges Krankenhausprojekt blieb unrealisiert, doch konnte er die Kirche ausführen (1930-32). Eine intelligente räumliche Organisation erlaubte es Kranken, Schwestern und Gemeinde, gleichzeitig dem Gottesdienst beizuwohnen. - Viele von Böhms Kirchenprojekten, die er in atmosphärischen, noch ganz dem expressionistischen Duktus verpflichteten Kohlezeichnungen skizzierte, weisen zwei Charakteristika auf: eine eindrucksvolle, bisweilen theatralische Lichtregie im Inneren - und eine monumentale Geste zur Stadt hin, für die Böhm Vorhallen mit hohen Arkadenstellungen nutzte. Seither bilden Arkadenstaffelungen ein Leitmotiv seines ŒOeuvre.

Die von Arkaden zwischen zwei wuchtigen Türmen geprägte Kirche in Hindenburg, dem heute polnischen Zabrze, ist Teil der Planung eines 1928-32 ausgeführten Stadtzentrums. Als ein Höhepunkt im Schaffen von Böhm wird sie im Kern der Frankfurter Ausstellung präsentiert. Noch bedeutender aber ist die Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl (1930-32), ein zeltartiger Zentralbau aus Beton, dessen Äusseres acht puristische parabelförmige Wandscheiben aus Backstein bilden. Die Radikalität des Gebäudes missfiel den Kirchenoberen; bis nach 1945 erhielt Böhm keine Aufträge mehr aus der Kölner Diözese. Den Attacken von Seiten der NS-Kulturpolitik suchte Böhm sich anfangs durch Teilnahme an offiziellen Wettbewerben und den Beitritt in den «Kampfbund für Deutsche Kultur» zu entziehen. Schliesslich waren es vor allem die Diözesen Osnabrück und Münster, die dem Architekten Arbeit verschafften. In den dreissiger Jahren entstanden basilikale Kirchenburgen. Für Böhm waren sie wohl eher Broterwerb als Herzensangelegenheit.

[ Bis 19. Juni. Katalog: Dominikus Böhm 1880-1955. Hrsg. Wolfgang Voigt und Ingeborg Flagge. Ernst-Wasmuth-Verlag, Tübingen 2005. 200 S., Euro 32.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2005.05.07

06. Mai 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Vom Hausboot bis zum Eispalast

Wasser war über Jahrhunderte Segen und Bedrohung zugleich. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlebte das Meer - wie schon zuvor die Bergwelt - eine Neubewertung:...

Wasser war über Jahrhunderte Segen und Bedrohung zugleich. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlebte das Meer - wie schon zuvor die Bergwelt - eine Neubewertung:...

Wasser war über Jahrhunderte Segen und Bedrohung zugleich. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlebte das Meer - wie schon zuvor die Bergwelt - eine Neubewertung: Seebäder entstanden, und Touristen entdeckten die Küsten, wo vorher zumeist nur diejenigen gewohnt hatten, die aus Gründen von Handel und Arbeit dazu gezwungen waren. Im 20. Jahrhundert schien die Natur beherrschbar geworden zu sein. Mit der Eindeichung der Zuidersee und dem Deltaplan gelang es den Niederlanden, dem Meer grosse Landgebiete abzutrotzen. Der Münchner Architekt Hermann Sörgel imaginierte in den späten zwanziger Jahren eine Absenkung des Mittelmeerspiegels um 200 Meter durch ein Sperrwerk bei Gibraltar; und in den sechziger Jahren planten die japanischen Metabolisten gewaltige Wohnkomplexe über der Tokyo Bay.

In welchem Masse die Architekten und Planer auch heute eine Auseinandersetzung mit dem Thema Wasser suchen, zeigt das Buch «Water House», das die wichtigsten Projekte der letzten Jahre in knapper Form präsentiert. Dazu zählen die auf einem Landgewinnungsgelände nahe Schanghai um einen kreisförmigen See entstehende Stadt Luchao des Büros von Gerkan Marg und Partner, aber auch das Konzept der spanischen Architekten Cervera, Piaz und Celaya, vor der chinesischen Küste ein 300-geschossiges Hochhaus für 100 000 Bewohner auf einer künstlichen Insel zu errichten. Palmenförmige Kunstinseln mit Villen und Hotels dienen dem Emirat Dubai dazu, neue Einkünfte zu sichern.

Floating Houses sind schwimmende Ansiedlungen. Was früher als Hausboot mit alternativen Lebensformen assoziiert wurde, heisst heute oft «Loft Boat» und zieht eine urbane Klientel an. Derlei Konzepte werden vor allem in den Niederlanden umgesetzt, doch schwimmende Behausungen sind ebenso in Form von Rettungsinseln im kleinen wie als schwimmende Städte im grossen Massstab denkbar. Eine Erweiterung der Floating Houses in die Unterwasserwelt stellt die Submerging Architecture dar - etwa in Form von «Undersea Islands», wie sie Richard Buckminster Fuller in den sechziger Jahren plante, oder als Touristenattraktion: Die israelischen Architekten Sefi Kiryaty und Ryala Serfaty realisierten das Gourmetrestaurant Red Sea Star in der Bucht von Eilat im Roten Meer.

Schliesslich thematisiert Herausgeber Felix Flesche Wasser als Baumaterial selbst. Das abschliessende Kapitel Frozen Hard stellt Projekte aus Eis vor. Dabei spannt sich der Bogen von den Versuchen des Schweizer Ingenieurs Heinz Isler, schalen- und zeltartige Tragwerke aus wassergetränkten und gefrorenen Textilien zu konstruieren, bis hin zu den Kunstbauten aus Eis, die im Rahmen der «Snow Show» im finnischen Rovaniemi entstehen. An den avantgardistischen Projekten ist die internationale Architekturprominenz beteiligt - darunter Zaha Hadid, Steven Holl oder das New Yorker Büro Asymptote.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.05.06



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Water House

27. April 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Fata Morgana im Flussdelta

Im Jahre 1962 erhielt der amerikanische Architekt Louis I. Kahn (1901-1974) zwei Aufträge, die ihn die letzten zwölf Jahre seines Lebens beschäftigen sollten...

Im Jahre 1962 erhielt der amerikanische Architekt Louis I. Kahn (1901-1974) zwei Aufträge, die ihn die letzten zwölf Jahre seines Lebens beschäftigen sollten...

Im Jahre 1962 erhielt der amerikanische Architekt Louis I. Kahn (1901-1974) zwei Aufträge, die ihn die letzten zwölf Jahre seines Lebens beschäftigen sollten und als Summe seines architektonischen Denkens und Schaffens gelten können. In Ahmedabad, der Kapitale des indischen Bundesstaats Gujarat, errichtete er das Institute of Management; in Dhaka, der Hauptstadt des seinerzeitigen Ostpakistan, plante er das gesamte Regierungsviertel. Beide Projekte wurden erst nach Kahns Tod fertiggestellt - das Parlamentsviertel von Dhaka sogar erst 1983. Ausschlaggebend dafür waren einmal nicht die notorischen Schwierigkeiten Kahns, sich für eine definitive Form zu entscheiden, sondern innenpolitische Schwierigkeiten: Im Bürgerkrieg der Jahre 1971 bis 1973 wurde Ostpakistan von dem rund 2000 Kilometer entfernten Westpakistan unabhängig und bildet seitdem den Staat Bangladesh.

Keine sterile Architekturfotografie

Mit der in einem künstlichen See sich erhebenden Zitadelle des Parlamentsgebäudes, den diagonal dazu ausgerichteten Unterkünften für Minister und Angestellte sowie dem etwas entfernten Krankenhaus konnte Kahn nur einen Teil seiner Gesamtplanung realisieren, die ursprünglich auch einen Kulturbereich als Pendant zu den staatlichen Bauten umfassen sollte. Dennoch glückte ihm - der sich endlich mit dem lang ersehnten Auftrag konfrontiert sah, eine ganze Stadt zu entwerfen - eines der grandiosesten architektonischen Ensembles des 20. Jahrhunderts. In einer Zeit, die auf Stahl-Glas-Architektur eingeschworen schien, verknüpfte Kahn Tradition und Moderne und wagte es, einen Begriff neu zu beleben, der in der damaligen Architekturdebatte nahezu tabuisiert war: Monumentalität.

Das Parlament von Dhaka zählt zu den Inkunabeln der Architektur des 20. Jahrhunderts, und doch kennen nur wenige den Gebäudekomplex aus eigener Anschauung. Um so mehr ist dem Zürcher Verleger Dino Simonett zu danken, dass er eine opulente Bildpublikation über Kahns Chef-d'œuvre in seinen ebenso kleinen wie exquisiten Verlag aufgenommen hat. Wie auch mit seinen anderen Büchern ist Simonett nicht auf der naheliegenden Route vorgegangen, sondern nähert sich dem Thema gleichsam über einen Umweg. Denn anders, als man es erwarten würde, werden der Stahlbetonkoloss des Parlaments und die benachbarten Ziegelbauten nicht von einem Architekturfotografen in Szene gesetzt, sondern von Raymond Meier, dem seit 1986 in New York ansässigen Schweizer Starfotografen, der unter anderem für «Vogue» arbeitet und üblicherweise Fashion-Models ablichtet.

Bibliophile Publikation

In seiner 118 Motive umfassenden Bildstrecke, Resultat eines zweiwöchigen Aufenthalts in Dhaka im Jahr 2002, schildert Meier zunächst das tägliche Leben in der im Sumpfland des Ganges- Brahmaputra-Deltas sich ausdehnenden Hauptstadt. Erst langsam, wie als Fata Morgana, wird hinter den verschiedentlich ins Bild gerückten Bewohnern der Stadt der von Treppen, Rampen und Plätzen umgebene Parlamentskomplex sichtbar. Indem er zunächst vor allem Menschen zeigt, verweigert sich Raymond Meier der sterilen Optik des objektfixierten Architekturfotografen; gleichwohl gleiten seine Bilder auch niemals in pittoresken Exotismus ab.

Allmählich tastet sich Meier mit seiner Kamera an das Zentrum heran. Zunächst zeigt er die Zone der vorgelagerten Substruktionen, dann die grandiosen Hallen und Treppenbereiche, die als Hauptzugang fungierende Moschee und schliesslich das Oktogon des Parlamentssaals. Es schliessen sich Fotos der Amtszimmer und Unterkunftsgebäude an. Am Ende werden einige der eindrucksvollsten Motive wie in einem Schnelldurchlauf zusammengefasst. Gerade wenn es um die expressiven Komponenten des Gebäudes geht, bedient sich Meier ungewohnter Winkel und suggestiver Schrägsichten, um dann aber wieder Totalen in ruhigen Panoramaeinstellungen festzuhalten. Das gegenüber dem klassischen A4-Format leicht gestauchte und in die Breite gezogene Buchformat unterstützt Meiers unterschiedliche Annäherungen, die bald einseitig im Hoch- oder Querformat auf weissem Grund oder randabfallend, bald auf Doppelseiten und sogar auf Ausklappseiten wiedergegeben sind.

Zu dem Buch mit Meiers Fotos tritt ein zweiter Band mit historischen Bildern der Entstehungszeit. Simonett wählte für die hier gezeigten Baustellen- und Atelierfotos ein Papier mit weniger glatter Oberfläche, so dass die Motive fast schemenhaft und flackernd wirken. Eingeleitet wird dieser Band durch einen knappen, lesenswerten Essay von Nathaniel Kahn, dem unehelichen Sohn des Architekten, der unlängst durch den sensiblen Dokumentarfilm «My architect» bekannt wurde - eine filmische Annäherung an seinen Vater. Rostrote Leineneinbände mit dem schematischen Grundriss des Parlamentsgebäudes als Prägemotiv zeugen vom hohen Standard der Ausstattung. Das in einem Schuber gelieferte Werk ist auf 2000 von Raymond Meier nummerierte und signierte Exemplare limitiert. Auch wenn man ein Blatt mit Bildlegenden und einen Grundriss vermisst: Simonett und Meier haben ein Werk vorgelegt, das einen ungewohnten Zugang zu Kahn ermöglicht und dabei der Seele des Bibliophilen schmeichelt.

[ Raymond Meier: Louis Kahn Dhaka. Edition Simonett, Zürich 2005. 2 Bände, 220 S. und 80 S., Fr. 225.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2005.04.27



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Louis Kahn Dhaka

22. April 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Der Traum vom Leben auf dem Lande

Palladio steht im Zentrum einer Ausstellung in Vicenza, die sich mit der Villenarchitektur im Veneto befasst. Die Kuratoren suchten indes nicht einen strengen architekturhistorischen Zugang, sondern konzipierten ihre Schau als kulturhistorisches Panorama.

Palladio steht im Zentrum einer Ausstellung in Vicenza, die sich mit der Villenarchitektur im Veneto befasst. Die Kuratoren suchten indes nicht einen strengen architekturhistorischen Zugang, sondern konzipierten ihre Schau als kulturhistorisches Panorama.

Die Villa Rotonda südlich von Vicenza, welche Andrea Palladio 1567-69 für den Kanoniker Paolo Almerico errichtete, gilt als Inbegriff der Villa schlechthin. Die klare, um einen zentralen Kuppelsaal angeordnete Raumfolge, die stereometrische Komposition des Volumens sowie die vier identischen Fassaden mit ihren tempelartigen Portikusfronten, nicht zuletzt aber auch die Verzahnung des Baus mit der lieblichen Landschaft der Umgebung haben seit je fasziniert, so dass die Rotonda in späteren Jahrhunderten immer wieder kopiert und imitiert wurde - etwa durch Lord Burlington im Chiswick House bei London. Und Goethe konzedierte, dass die Baukunst vielleicht niemals einen solchen Grad an Prächtigkeit erreicht habe wie in Palladios berühmtester Schöpfung.

Neuerfindung der Villa

Eine materialreiche Ausstellung in Palladios Palazzo Barbaran da Porto in Vicenza widmet sich nun dem Phänomen der Villen im Veneto. Natürlich steht Palladio als der prominenteste Architekt, dem ausgehend von der Villa Godi (um 1537) etwa vierzig weitere Projekte zugeschrieben werden können, im Zentrum der Ausstellung; doch die Kuratoren Guido Beltrami und Howard Burns suchen weder einen werkbezogenen noch einen stilanalytischen Zugang zum Thema. Ihr Ziel ist vielmehr eine kulturhistorische Schau im weitestdenkbaren Sinne, und so spannt sich der Bogen von der Zeit Petrarcas, der den antiken Topos vom Leben auf dem Lande mit neuer Aktualität versah, bis hin zu Carlo Scarpa, der sich zwischen 1971 und 1978 mit Interventionen in der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Villa «Il Palazetto» in Monselice beschäftigte.

Die Ausstellung setzt ein mit den spärlichen, aus der Antike stammenden Darstellungen von Villen, um dann die Wiederentdeckung der antiken Schriften über das Landleben zu thematisieren - etwa von Plinius dem Jüngeren, Virgil, Cato und Varro. Gerade Plinius' Beschreibung seiner Villen inspirierte die Architekten der Renaissance. Petrarca, eigentlicher Protagonist des wiedererwachten Interesses an der Natur, hatte schon 1369, kurz vor seinem Tod, ein Haus in Arquà bezogen, das zwar gotische Formen aufwies, aber von antikem Geist beseelt war. Die eigentlichen Versuche, den Bautyp der Villa neu zu definieren, stammen aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert - die Kuratoren stellen exemplarisch die Villa Medici von Poggio a Ciano bei Florenz vor, mit deren Realisierung Giuliano da Sangallo 1485 begann. Neben einem Plan der Medici-Villa sind auch eigenhändige Zeichnungen des Architekten für einen Palast des Königs von Neapel sowie einen gewaltigen Palazzo an der Florentiner Via Laura zu sehen.

Raffaels nur zum Teil realisierte Villa Madama für Papst Leo X. in Rom wurde schliesslich zur eigentlichen Inspirationsquelle der Architekten des Cinquecento, seien es Jacopo Sansovino, Sebastiano Serlio, Andrea Palladio oder Giulio Romano, der mit dem Palazzo Te für Federico Gonzaga in Mantua 1525-35 den Prototyp einer Villa suburbana und zugleich ein Hauptwerk des Manierismus schuf. Die Grundlage für die Villegiatur des Veneto bildete indessen weniger die Ideenwelt des Humanismus als vielmehr ein ökonomisches Kalkül. In dem Masse, in dem die Serenissima die Dominanz im Seehandel verlor, ging man daran, die Ländereien auf dem Festland rationeller zu nutzen. Das Sumpfland wurde kanalisiert und fruchtbar gemacht, wozu es einer strikten Organisation bedurfte. - Auch wenn einige berühmte Bauten Palladios wie die Villa Rotonda oder die Villa Malcontenta gleichsam an Petrarcas Haus in Arquà anknüpften und als ländliche Rückzugsorte dienten, waren die Villen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Nuklei einer neuen Feudalisierung und komplexer Wirtschaftsunternehmungen. Klassizierendes Herrschaftshaus und Wirtschaftshof wurden von Palladio zu einem konsistenten Ensemble verschmolzen - etwa in der Villa Badoera in Fratta Polesine (1555) oder der Villa Emo in Fanzolo (1564). Die durch Portiken ausgezeichneten Hauptgebäude werden hier beidseitig von Kolonnaden flankiert, hinter denen sich die Ökonomiegebäude verbergen. Wichtige Ideen empfing Palladio durch seinen Freund und Gönner, den Paduaner Universalgelehrten Alvise Cornaro, doch gelang es ihm mit seinen Bauten überhaupt, diverse Inspirationen, ob von Kollegen oder Vorgängern, zu einer neuen und stringenten Einheit zu verschmelzen. In der Ausstellung sind auch eine Reihe von Palladios Antikenstudien zu sehen - unter anderem eine Grundrisszeichnung des Herkules-Viktor- Tempels von Tivoli, der einst als römischer Palast fehlinterpretiert wurde und mit seinen seitlichen Kolonnaden Palladio als Modell für seine Neukonzeption der Villa diente.

Mangelnde Stringenz

Fällt das Augenmerk gemeinhin allein auf die Hauptgebäude der Villen und ihre oftmals reiche Ausstattung, so versuchen die Kuratoren, den ästhetizistischen Zugang zu konterkarieren, indem sie auch zeitgenössische Bildquellen präsentieren, welche die Funktionsweise der Villen oder das Leben der Landbevölkerung zeigen. Ex-voto-Bilder, auf denen stürzende Dachdecker oder verunglückte Handwerker dargestellt sind, treten neben Freskenfragmente von Paolo Veronese und seiner Werkstatt. Der Wunsch nach programmatischem Kontrast ist allerdings bisweilen stärker als das Quellenmaterial: Viele der Bilder, die das einfache Leben zeigen, stammen aus späteren Jahrhunderten. Überhaupt verliert die Schau in der nachpalladianischen Zeit ihre Präzision; gleichsam im Schnelldurchlauf werden die weiteren Entwicklungen abgehandelt. Von Vicenzo Scamozzis Villa Rocca Pisana gelangt man zu der im 18. Jahrhundert errichteten Villa Pisani in Stra, die durch ein imposantes historisches Holzmodell aus dem venezianischen Museo Correr vertreten ist, und dann weiter über einige Villen- und Parkanlagen des 19. Jahrhunderts bis hin zu Carlo Scarpa. Die Konstruktion einer Kontinuitätslinie lässt die Auswahl beliebig werden und reduziert sie auf die Aneinanderreihung einiger Schlaglichter.

Ergänzt wird die Ausstellung durch 17 Aussenstationen, die mit der Eintrittskarte ebenfalls besichtigt werden können. Diese Satelliten umfassen die Casa del Petrarca in Arquà ebenso wie Palladios Villen Emo, Badoer und Poiana - aber auch Carlo Scarpas Grabkomplex Brion in Altivole wird zur Besichtigung empfohlen. Die Resultate der Forschungsarbeit, welche der Ausstellung in Vicenza zugrunde liegen, sollen die Basis für das zukünftige Museo della Civiltà della Villa Veneta bilden, das in der Palladio zugeschriebenen Villa Contarini in Piazzola entsteht.

[ Bis 3. Juli im Palazzo Barbaran da Porto in Vicenza. Katalog: Andrea Palladio e la Villa Veneta da Petrarca a Carlo Scarpa. Hrsg. Centro Internazionale di studi di architettura Andrea Palladio. Marsilio Editori, Venedig 2005. 488 S., Euro 45.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.04.22

14. April 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Klangkristall aus Beton

Mit einem Konzert von Lou Reed wird heute Abend die Casa da Música in Porto eröffnet. Der Rotterdamer Architekt Rem Koolhaas hat zusammen mit seinem Office for Metropolitan Architecture (OMA) ein kompaktes, polygonales Volumen entworfen, das in seinem Herzen zwei grosse Konzertsäle birgt.

Mit einem Konzert von Lou Reed wird heute Abend die Casa da Música in Porto eröffnet. Der Rotterdamer Architekt Rem Koolhaas hat zusammen mit seinem Office for Metropolitan Architecture (OMA) ein kompaktes, polygonales Volumen entworfen, das in seinem Herzen zwei grosse Konzertsäle birgt.

Neben die Museen sind in den vergangenen Jahren die Konzertsäle, Opernhäuser und Theater als Leitgattung der Architektur getreten. Bauten wie Jean Nouvels Kultur- und Kongresszentrum in Luzern und Rafael Moneos Kursaal in San Sebastián, Renzo Pianos Auditorium in Rom, Norman Fosters Musikzentrum in Gateshead oder Frank O. Gehrys Walt Disney Hall in Los Angeles erlangten weithin Beachtung. Konzerthäuser haben derzeit Konjunktur; nicht ohne Grund widmete Kurt Forster, der Leiter der letztjährigen Architekturbiennale, den wichtigsten zeitgenössischen Bauten und Projekten für Musikveranstaltungen eine Sonderschau in Venedig.

Städtebauliche Transformation

Nun ist auch das Konzerthaus in Porto vollendet, das sich wie ein Meteorit an der Rotunda da Boavista nordwestlich der Altstadt in den Boden gebohrt hat. Casa da Música heisst das Gebäude offiziell, und der recht allgemein klingende Name deutet auf eine flexible Nutzbarkeit, die mit dem Raumprogramm intendiert wurde. So wird die Casa da Música zwar vom Orquestre Nacional do Porto als dessen Hauptspielstätte genutzt, ist aber kein ausschliesslich der klassischen Musik vorbehaltenes Haus. Rock- und Pop-Veranstaltungen finden hier genauso statt wie Jazz Sessions oder experimentelle Konzerte mit elektronischer Musik.

In einem Wettbewerb unter fünf Architektenteams konnten sich Rem Koolhaas und sein Rotterdamer Office for Metropolitan Architecture (OMA) mit dem Vorschlag durchsetzen, die unterschiedlichen Nutzungsbereiche nicht nebeneinander zu stellen, sondern in einem kompakten Volumen zu bündeln. Ein gewaltiger polygonaler Kristall aus weissem Beton erhebt sich an der Rotunda da Boavista, die nach der Revolution von 1974 als Ort eines neuen Geschäftszentrums vorgesehen war. Daraus wurde indes nichts, und so startete die Stadt 1999 mit dem Architekturwettbewerb für die Casa da Música den neuerlichen Versuch, einen bisher wenig repräsentativen Teil der Stadt aufzuwerten. Inzwischen ist die Transformation des Quartiers im Gange, doch der hemmungslose Umgang der vor wenigen Jahren installierten konservativen Stadtregierung mit der alten Bausubstanz ringsum stimmt bedenklich: Wo einst einfache vorstädtische Wohnquartiere standen, wachsen in Zukunft ungeschlachte Investorenbauten aus dem Boden. Und trotz seiner exponierten Lage am Park der Rotunda da Boavista wird der Solitär der Casa da Música zukünftig von Norden und Westen durch spiegelglasverkleidete Bankpaläste in die Zange genommen. Dies ist umso betrüblicher, als Rem Koolhaas mit seinem Konzept die Öffnung des Konzerthauses zur Stadt anstrebt.

Kern und Hülle

Schon zu Beginn der Planung stand fest, dass der grosse Konzertsaal mit 1300 Plätzen dem Prinzip der Schuhschachtel folgen sollte, das in klassischer Form im Wiener Musikvereinssaal, im Concertgebouw Amsterdam oder in der Boston Symphony Hall ausgeprägt ist. Nahezu im rechten Winkel dazu stellte Koolhaas auf eine höhere Ebene das kleinere Auditorium und umgab diese beiden Grundelemente mit einer Hülle aus weissem Beton, die seitlich sowie über und unter den beiden Sälen unterschiedlich zugeschnittene Raumbereiche entstehen lässt, welche die übrigen Funktionen aufnehmen. Ursprünglich sei die Grundidee des Gebäudes für ein Einfamilienhaus in Holland entwickelt worden, behauptet der sich gern eines ultrapragmatischen Gestus befleissigende Architekt - «Copy and Paste. How to turn a Dutch house into a Portuguese concert hall in under 2 weeks» heisst das entsprechende Kapitel in Koolhaas' vor zwei Jahren erschienenem Bestseller «Content».

Angesichts früherer Projekte des Niederländers mag die Konzerthalle von Porto zunächst überraschen. Der nicht realisierte Entwurf für das Zentrum für Kunst- und Medientechnologie in Karlsruhe bestand aus einer Stapelung verschiedener Raumbereiche in einem gläsernen Turm. In Porto nun wendete Koolhaas der Hüllform selbst eine Aufmerksamkeit zu, wie man sie von ihm bisher nicht erwartet hat. Die eigentlich orthogonalen Boxen der Konzertsäle sind mit einer kristallinen Schale umgeben, welche dem Volumen jene einprägsame Gestalt verleihen, die für ein «Landmark Building» erwünscht ist. Man mag an die kristallinen Visionen der expressionistischen Architekten denken, und natürlich erinnert der Bau mit seinen facettierten Flächen auch entfernt an Hans Scharouns Berliner Philharmonie - auch wenn er im Inneren gerade das antithetische Organisationsprinzip verfolgt.

Besteht also zunächst ein gewisser Widerspruch zwischen der boxartigen Form der Säle und dem polygonalen Körper, so ist es dem Architekten gelungen, aus dieser Disposition räumlich Kapital zu schlagen. Über eine breite Freitreppe betritt man die Casa da Música von der Südseite aus und gelangt in eine ausgedehnte Foyer-Zone. Über Treppenkaskaden und Podeste wird der Blick in die Höhe gerissen, nach links führen die Stufen hinauf zum oberen Eingang des Konzertsaals. Dieser ist gleichsam in westöstlicher Richtung durch das Gebäude hindurchgesteckt und bestimmt somit dessen Längsausdehnung. Anders als in den klassischen Sälen entschied man sich hier für eine leicht ansteigende Anordnung der Sitzreihen, mit der jenseits des Podiums die erhöhten Sitzplätze für den Chor korrespondieren. Noch ungewöhnlicher aber sind die riesigen Glasfronten, mit denen sich der Saal auf den Stirnseiten Richtung Stadt hin öffnet. Sitzt man im Konzertsaal, so fällt der Blick durch die - aus akustischen Gründen - gewellte Glasfläche im Osten auf die Rotunda da Boavista. Die schmalen Räume zwischen den Glasfronten des Konzertsaals und der äusseren Verglasung zur Stadt hin dienen zudem als attraktive Foyers; auf der Rückseite wurde überdies auf halber Höhe des Fensters eine attraktive Bar eingerichtet, die Blicke in den Konzertsaal und auf die Umgebung bis hin zum Atlantik gleichermassen ermöglicht.

Klangliche Transparenz

Auf eine wartungs- und kostenintensive Lösung, wie sie von dem amerikanischen Büro Artek mit den Echokammern für Luzern entwickelt wurde, haben die Akustiker von TNO Eindhoven in Porto verzichtet. Ziel war ein Klangbild, wie man es von den orthogonalen Sälen des 19. Jahrhunderts gewohnt ist, das aber etwas mehr an klanglicher Transparenz ermöglicht. Modifikationen lassen sich durch ein verstellbares, mit Gas gefülltes Element erzielen, das wie ein Baldachin über dem Orchester hängt - und durch jeweils drei Vorhänge, die vor den Glasfronten abgehängt werden können. Die Designerin Petra Blaisse vom Amsterdamer Atelier Inside Outside entwarf Textilien ganz unterschiedlicher Qualität und Materialität: geknüpfte Tücher, die auf einem Netz aufgezogen wurden, aber auch schwere Stoffe, die partiell perforiert sind. Die Seitenwände und Decken des Grossen Saals wurden mit Holzplatten versehen, auf welche ein grossflächig verpixeltes Maserungsmuster in Gold aufgetragen ist. Formschön und funktional sind die klaren orthogonalen, beige-ocker bezogenen Stühle mit ihren nach vorne ausfahrbaren Sitzflächen; sie wurden von dem erst vor wenigen Wochen verstorbenen Designer Maarten van Severen speziell für das Konzerthaus entworfen.

Neben dem kleinen, rot ausgekleideten Konzertsaal, dessen eine Glasfront sich zur Seite des Grossen Saals hin öffnet, birgt die spannungsvoll- labyrinthisch organisierte Hülle der Casa da Música noch andere Räume. Zum Beispiel einen mit Podesten versehenen Saal für experimentelle Konzerte oder für Vorträge oder diverse Foyers, die mit Fliesen ausgekleidet sind und damit portugiesische Traditionen zitieren. Für die VIP- Lounge wählte Koolhaas sogar figürliche Azulejos. Schliesslich befindet sich über dem Grossen Saal ein opulentes Restaurant, das mit einer in die Dachfläche eingeschnittenen Terrasse aufwartet. Die Garderoben und Probenräume für die Musiker, aber auch die Tonstudios und die technischen Bereiche sind hingegen im Sockel angeordnet. Kurz: Porto hat ein vielfältig nutzbares Haus für die Musik erhalten. Seine Qualität besteht nicht zuletzt darin, dass sämtliche Konzertsäle und Musikbereiche voneinander und von den Foyers akustisch abgeschirmt sind, so dass sie gleichzeitig bespielt werden können.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2005.04.14



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Casa da Musica

19. März 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Vom Brauen zum Bauen

Weithin sichtbar erhebt sich das einstige Sudhaus des «Adambräu» von Lois Welzenbacher nahe dem Innsbrucker Hauptbahnhof. In dieser Inkunabel des Neuen Bauens befindet sich nun ein Architekturzentrum für den Westen Österreichs.

Weithin sichtbar erhebt sich das einstige Sudhaus des «Adambräu» von Lois Welzenbacher nahe dem Innsbrucker Hauptbahnhof. In dieser Inkunabel des Neuen Bauens befindet sich nun ein Architekturzentrum für den Westen Österreichs.

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Adambräu – Umbau Sudhaus



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reprint - Ein Lesebuch zu Architektur und Tirol

14. März 2005Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ein anderer Blick auf das Neue Bauen

Nur wenige weibliche Namen sind mit der Architekturgeschichte der Moderne verknüpft. Eine Ausstellung im Kestner Museum und am Sitz der Architektenkammer in Hannover, die aus einem umfangreichen Forschungsprojekt hervorgegangen ist, wirft Schlaglichter auf den weithin vergessenen Anteil, den Frauen am Neuen Bauen hatten.

Nur wenige weibliche Namen sind mit der Architekturgeschichte der Moderne verknüpft. Eine Ausstellung im Kestner Museum und am Sitz der Architektenkammer in Hannover, die aus einem umfangreichen Forschungsprojekt hervorgegangen ist, wirft Schlaglichter auf den weithin vergessenen Anteil, den Frauen am Neuen Bauen hatten.

An den Architekturfakultäten im deutschsprachigen Raum studieren heute etwa gleich viele Frauen wie Männer. Doch das Bild verändert sich, wenn man auf deren spätere Tätigkeiten blickt. Der Erfolg singulärer Persönlichkeiten wie Zaha Hadid kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Bereich der Architektur noch immer weitgehend eine männliche Domäne ist. Das reicht vom Geschehen auf der Baustelle bis zum Lehrbetrieb der Universität, wo für Frauen die Karriereleiter oft mit der Assistenzstelle endet. Und wenn sie ein eigenes Büro eröffnen, dann meist zusammen mit einem männlichen Partner.

Erst vor gut hundert Jahren erhielten Frauen die Möglichkeit, ein Architekturstudium aufzunehmen. Emilie Winkelmann, die in Hannover studierte, gilt als eine der Protagonistinnen. Doch als sie 1906 ihr Diplom machen wollte, wurde ihr dies verweigert; erst 1908 führte Preussen das Architekturdiplom für Frauen in den Technischen Hochschulen ein. Nun ist im Kestner Museum Hannover und im früheren Wohnhaus des Klassizisten Georg Ludwig Friedrich Laves, heute Sitz der Architektenkammer Niedersachsen, eine Ausstellung zu sehen, die sich unter dem Titel «Die Neuen kommen!» mit Architektinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Im Rahmen eines mehrjährigen, breit angelegten Forschungsprojektes an der TU Braunschweig haben die Architekturhistorikerinnen Ute Maasberg und Regine Prinz Grundlagenforschung betrieben. Denn nur die Namen weniger Architektinnen verbinden sich rückblickend mit der Baukunst der zwanziger Jahre - in Deutschland mag man an Lilly Reich oder an die Erfinderin der Frankfurter Küche, die Österreicherin Margarete Schütte-Lihotzky, denken, in der Schweiz an Lux Guyer und Flora Crawford-Steiger, in Frankreich an Charlotte Perriand oder Eileen Gray.

Grundlagenforschung

Dass dieser Blick auf einige wenige Prominente einer dringenden Revision bedarf, ist das Resultat der vorbildlichen Arbeit von Maasberg und Prinz. In einer weitgehend auf den deutschsprachigen Raum konzentrierten Datenbank, die sukzessive aktualisiert und demnächst auch im Internet zugänglich sein soll, konnten sie gut 1300 Frauen erfassen, die vor 1933 eine Ausbildung im Bereich der Architektur oder verwandter Disziplinen erhielten. Das Gros der Studentinnen gehörte den Geburtsjahrgängen 1890 bis 1910 an, und für die meisten bedeutete der Beginn der Nazi-Diktatur einen entscheidenden Knick in der Karriere. Teils war es das Verbot der Doppelverdienerschaft für Ehepaare, teils waren es die Wirren des Krieges, welche eine weitere Berufstätigkeit verhinderten. Viele Frauen mussten zudem emigrieren; nicht wenige der Studentinnen, so zeigen die Untersuchungen, waren Töchter aus jüdischen Familien. Als attraktivste Studienorte galten München, Berlin und das Bauhaus. Obwohl Walter Gropius die gleichwertige Behandlung der Geschlechter in seiner Weimarer Begrüssungsansprache vom April 1919 gefordert hatte, sah die Realität anders aus: Mit sanftem Druck drängte das Lehrpersonal die meisten Studentinnen in die Weberei ab. Erschwerend kam hinzu, dass in der Weimarer und Dessauer Zeit keine geregelte Architekturausbildung am Bauhaus existierte.

Die Materialfülle machte eine kluge Auswahl nötig. So stellt die aus der Untersuchung hervorgegangene Begleitpublikation - anschliessend an einige thematische Kapitel - die Lebensläufe von ungefähr 30 Architektinnen exemplarisch vor, und die Ausstellung mischt Dokumente verschiedener Art. Zu sehen sind Zeichnungen, Publikationen, Modelle, Fotos, aber auch Objekte wie die Metallarbeiten der Bauhaus-Schülerin Marianne Brandt oder eine komplette «Frankfurter Küche», die von Margarete Schütte-Lihotzky für Ernst Mays Wohnungsbauprogramm des «Neuen Frankfurt» entwickelt und in einer Stückzahl von rund 10 000 produziert wurde.

Frauenschicksale

Die eindrucksvollsten Exponate aber sind die häufig erst im Verlaufe der Recherchen entdeckten Objekte, welche Schlaglichter auf bis heute von der Architekturhistoriographie weitgehend ignorierte Karrieren werfen. Beispielsweise auf jene von Paula Marie Canthal, die mit ihrem Kommilitonen und Mann Dirk Gascard Ende der zwanziger Jahre in Berlin als Shootingstar der Architekturszene galt und sogar in den Illustrierten gefeiert wurde. Wettbewerbserfolg reihte sich an Wettbewerbserfolg; nach 1933 ermöglichte der Auftrag des Maharadschas von Indore für einen Luxuszug Canthal die Emigration nach England. Immer noch wenig bekannt ist auch die 1898 geborene Friedl Dicker, die nach ihrem Studium am Bauhaus mit ihrem Lebensgefährten Franz Singer ein Büro eröffnete und in Wien einige multifunktional-konstruktivistische Wohnungseinrichtungen kreierte, die sich durch ein grosszügiges Raumverständnis vom Purismus des Bauhauses absetzten. Nach der Besetzung Tschechiens, wohin sie vor den Nazis geflohen war, erfolgte die Internierung im Ghetto Theresienstadt; 1944 wurde Friedl Dicker in Auschwitz ermordet.

Kath Both, die zunächst an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle, dann am Bauhaus in Dessau studiert hatte, begab sich nicht in die Selbständigkeit, sondern arbeitete als Angestellte in Architekturbüros - zunächst bei Luckhardt & Anker in Berlin, dann bei Otto Haesler in Celle. Für Haesler konzipierte sie Innenausstattungen und Minimalwohnungen, entwarf aber auch einige Projekte eigenständig, so die vor wenigen Jahren abgerissene Jugendherberge im norddeutschen Müden an der Oertze. Ausstellung und Katalog widmen sich aber nicht allein den praktisch tätigen Architektinnen der Zeit, sondern richten ihren Fokus auch auf jene Personen, welche das Neue Bauen in anderen Sektoren flankierten. Erinnert wird an die Fotografinnen Marianne Breslauer, Lotte Jacobi und Lucia Moholy sowie an die Filmerin Ella Bergmann-Michel, deren Nachlass das Sprengel-Museum Hannover aufbewahrt. Aufschlussreich für einen anderen Blick auf die Moderne ist, dass Bergmann-Michel nicht die radikalästhetische Programmatik in Szene setzte, sondern die Bauten des «Neuen Frankfurt» im Alltagsgebrauch zeigte.

Schliesslich geraten auch Publizistinnen als Protagonistinnen der Wohnreform ins Blickfeld. Hildegard Schwab-Felisch zählte mit ihrem Mann Alexander Schwab zu den wenigen Wegbegleitern, welche die Moderne wohlwollend, aber durchaus kritisch analysierten. Und die Ökonomin Erna Meyer postulierte mit ihrer Zeitschrift «Neue Hauswirtschaft» die Lebensführung auf rationeller Basis und publizierte eine Reihe von Berichten über vorbildliche Bauten der Moderne. 1933 nach Palästina ausgewandert, setzte sie ihre volkspädagogische Tätigkeit fort und veröffentlichte bald darauf «Wie kocht man in Erez Israel» als Kochbuch für Emigranten.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2005.03.14

14. Dezember 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Art déco in den Niederlanden

Eine Ausstellung über «De Haagse Stijl» in Den Haag

Eine Ausstellung über «De Haagse Stijl» in Den Haag

Architektur und Design in den Niederlanden waren um 1920 von einer Polarisierung geprägt: Die Amsterdamer Schule gab sich individualistisch, träumerisch, utopisch. In Rotterdam hingegen versammelten sich die Protagonisten von De Stijl, die eine klare, geometrisch rigide Ästhetik postulierten. Beide Lager wurzelten weltanschaulich in der Gärungsphase der Jahrhundertwende, bezogen sich aber auf je eigene Weise auf Hendrik Petrus Berlage, den Gründerheros der holländischen Moderne. Schon den distanzierteren Zeitgenossen, etwa dem deutschen Kunstkritiker Adolf Behne, schienen die Gegensätze nahezu unüberwindlich. Dass es gleichwohl eine moderate Mittelposition gab, die sich wahlweise von Amsterdamer Schule oder De Stijl anregen liess, zeigt die materialreiche Schau «De Haagse Stijl» im Gemeentemuseum Den Haag.

Moderne Interieurs

Anders als die durch Industrie und Handelsschifffahrt bestimmten Städte Amsterdam und Rotterdam galt der Regierungssitz Den Haag als favorisiertes Domizil eines wohlhabenden, Neuerungen durchaus aufgeschlossenen Bürgertums, das seine Villen im mondänen Scheveningen oder in den idyllischen Dünenlandschaften von Kijkduin und Wassenaar errichten liess. Daher erstaunt es nicht, dass sich die niederländische Möbelindustrie schon früh in der Hauptstadt etabliert hatte. Pander & Zonen hiess um 1900 der bedeutendste Betrieb, der schon 1895 damit begonnen hatte, Produkte nach dem Vorbild des französischen Art nouveau herzustellen. Als während des Ersten Weltkriegs der Import aus Deutschland und Belgien unterbrochen wurde, baute Pander 1917 eine eigene Entwurfsabteilung für modernes Interieur auf, deren Leitung der Architekt Henk Wouda übernahm. Als ein frühes Meisterwerk des Haagse Stijl kann die Innenausstattung gelten, die Wouda für Willem Dudoks Villa Sevensteijn (1920/21) realisierte: Die fliessende Raumeinteilung, die Betonung von Horizontalen und Vertikalen sowie nicht zuletzt die Stühle mit ihren hochgezogenen Rückenlehnen sind unzweideutig von Frank Lloyd Wright inspiriert; die Bauten und Projekte des Amerikaners waren durch die 1911 im deutschen Verlag Wasmuth erschienene Mappenpublikation bekannt, aber auch durch die Amerikareise, die Berlage im gleichen Jahr unternommen hatte.

Mit einer Musterwohnung, die Wouda 1924 in der von Jan Wils entworfenen Siedlung Papaverhof eingerichtet hatte, wollte Pander einkommensschwächere Schichten als Käufer erschliessen. Weil man indes - ähnlich wie das englische Arts and Crafts Movement - niemals zu einer klaren Entscheidung kam, ob man dem handwerklich hochwertigen Einzelprodukt oder der industriellen Massenproduktion den Vorzug geben wollte, blieb der Versuch folgenlos.

Exzellenter Katalog

Der Haagse Stijl von Henk Wouda, dem eher an De Stijl orientierten Cor Alons und einer Reihe anderer Designer blieb ein auf wohlhabende Kreise beschränktes Phänomen. Im niederländischen Pavillon auf der Art-déco-Ausstellung von 1925 in Paris war Pander gut vertreten. Die Möbel, die Fer Semey in den Folgejahren realisierte, zeigen deutlich den Einfluss der zeitgenössischen französischen Gestalter. Zu Recht gilt der Haagse Stijl heute als niederländische Variante des Art déco, auch wenn er sich aus deutlich anderen Quellen speiste als Parallelphänomene in Frankreich oder den USA. Die Ausstellung in Den Haag, die von einem exzellenten Katalog begleitet wird, schliesst eine Forschungslücke in der Historiographie der niederländischen Moderne.


[Bis 6. März 2005. Katalog: De Haagse Stijl. Art déco in Nederland. Hrsg. Timo de Rijk. 010 Publishers, Rotterdam 2004. 192 S., Euro 39.95.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2004.12.14



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De Haagse Stijl. Art déco in Nederland.

03. Dezember 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kunst und Infrastruktur

Mit dem Umbau des Londoner Bahnhofs St. Pancras für die Eurostar-Züge soll die Gegend um King's Cross zum grössten Verkehrsknoten Europas werden. Pläne für ein neues Stadtquartier auf den Bahnbrachen liegen vor, und von der Transformation zeugt nicht zuletzt die Kunstszene, welche die Gegend zu entdecken beginnt.

Mit dem Umbau des Londoner Bahnhofs St. Pancras für die Eurostar-Züge soll die Gegend um King's Cross zum grössten Verkehrsknoten Europas werden. Pläne für ein neues Stadtquartier auf den Bahnbrachen liegen vor, und von der Transformation zeugt nicht zuletzt die Kunstszene, welche die Gegend zu entdecken beginnt.

Im Jahre 1850 erreichte die Eisenbahn London. Die städtebaulichen Umstrukturierungen, welche die Einführung des neuen Verkehrssystems begleiteten, führten zu Veränderungen, wie sie die britische Kapitale seit dem grossen Brand von 1666 nicht mehr erlebt hatte - auch wenn den expandierenden Eisenbahngesellschaften untersagt wurde, mit ihren Trassierungen in die Kernstadt vorzudringen. Stiegen die ersten Reisenden der Great Northern Railway noch zwischen Güterschuppen aus, so entstand mit Lewis Cubitts King's Cross Station 1852 ein wegweisender Bau, eine Inkunabel der Bahnhofarchitektur: Die beiden Perronhallen zeichnen sich im Triumphbogen-Motiv der stadtseitigen Ziegelfassade ab, Repräsentation und Funktionalität fanden hier auf überzeugende Weise zusammen. Weitere grosse Kopfbahnhöfe und die weltweit erste Untergrundbahn folgten. 100 Jahre später setzte mit dem Boom des Individualverkehrs der Niedergang ein, der in der Vernachlässigung des Eisenbahnwesens in der Thatcher-Ära kulminierte. So endet das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz noch immer, sobald nach dem Kanaltunnel bei Ashford britischer Boden erreicht ist. Die restlichen hundert Kilometer bedeuten eine gemächliche Reise durch die Grafschaften Kent und Surrey, bevor man in Nicholas Grimshaws futuristischer Waterloo Station eintrifft.
Ein neues Stadtviertel entsteht

Derzeit entsteht aufgrund eines Parlamentsbeschlusses von 1996 ein eigenes Eurostar-Trassee zwischen Ashford und London. 5,5 Milliarden Pfund sind für das ambitiöse Projekt «Channel Tunnel Rail Link» vorgesehen, das bis 2007 fertig gestellt sein soll. Endstation der Tunnelzüge ist in Zukunft indes nicht mehr die Waterloo Station, sondern St. Pancras, wo Norman Foster nördlich der denkmalgeschützten Halle eine riesige Stahl-Glas-Konstruktion baut. Verbunden mit diesem Bauvorhaben ist eine grundsätzliche Reorganisation der Schienenwege im Bereich von King's Cross und St. Pancras; nicht zuletzt der bisher abseitig gelegene Haltepunkt der London in Nord-Süd-Richtung querenden Thameslink- Züge soll in den Bereich der Zwillingsbahnhöfe verlegt werden. Die Verantwortlichen sprechen vom grössten Verkehrsknoten Europas.

Die Baumassnahmen beschränken sich aber keineswegs auf die Verkehrsinfrastruktur. Der Entwicklung harrt ein riesiges Areal, das sich über mehr als einen Kilometer nördlich der beiden Bahnhöfe bis nach Camden Town erstreckt und von der Linie der North London Railway begrenzt wird. Vor wenigen Jahren noch konnte man hier die Industriegeschichte des 19. Jahrhunderts studieren: Güterhallen, Bahnviadukte sowie das gusseiserne Stabwerk einer Reihe von Gasometern aus den Jahren 1860-67 bestimmten das Bild. Dazu trat der 1820 eröffnete Regent's Canal, die vor der Einführung der Eisenbahn für den Güterverkehr wichtigste Arterie der Stadt. Über ein System von künstlichen Wasserwegen verband der unter Oberaufsicht von John Nash angelegte Kanal die Londoner Docklands an der Themse mit dem mittelenglischen Industriegebiet.

Ein Grossteil der historischen Bausubstanz auf dem Areal ist inzwischen niedergelegt. Auf knapp 30 Hektaren wird hier bis zum Jahr 2015 ein neues Stadtgebiet entstehen, dessen Entwicklung die Grundeigentümer - die London & Continental Railways (LCR) und das Logistikunternehmen Exel - den Developern Argent St. George übertragen haben. In Abstimmung mit der Londoner Stadtverwaltung und dem lokalen Camden Council wurde ein Rahmenwerk entwickelt, das die Realisierung eines lebendigen Stadtquartiers ermöglichen soll. Der Masterplan ist ein Gemeinschaftswerk von Demetri Porphyrios, der die neuklassischen Ansichten von Prince Charles teilt, und dem der modernen Tradition zuzurechnenden Architekturbüro Allies and Morrison. Während für den keilförmigen Bereich zwischen den Bahnhöfen und dem Regent's Canal vor allem Büronutzungen vorgesehen sind, konzentrieren sich die Wohnbauten eher auf den Norden des Areals. Auf High-Tech-Hochhäuser, wie sie derzeit in der City of London aus dem Boden spriessen, verzichten die Planer, und zumindest einige Industriebauten bleiben als historische Reminiszenzen erhalten. Das metallene Stabwerk einiger Gasometer beispielsweise wartet zerlegt auf den Wiederaufbau. Was sich indes noch atmosphärisch vermittelt, wenn die Gerüste mit neuen Nutzungen gefüllt werden, ist offen. Gestapelte Penthouses, Büroräume oder ein glasumhüllter Jurassic Park sind einige der von vier Architekturbüros entwickelten Szenarien.

Die Kunstszene kommt

Auch jenseits der Grenzen des Entwicklungsgebiets «King's Cross Central» wird die Gegend ihr Gesicht grundsätzlich verändern. Döner- Buden und Billigläden verschwinden. Die bisher auf das edle Mayfair und das hippe Hoxton konzentrierte Kunstszene beginnt das Areal um King's Cross für sich zu entdecken. So eröffnete Larry Gagosian, der mitunter als «Donald Trump der Kunstszene» apostrophierte amerikanische Galerist, nach seiner Niederlassung nahe der Regent's Street vor wenigen Monaten eine grosse Dépendance in der Britannia Street, fast in Sichtweite des Bahnhofs King's Cross. Die Londoner Architekten Adam Caruso und Peter St. John, die neben der vielbeachteten Art Gallery in Walsall (NZZ 6. 11. 00) zeitgleich auch Gagosians erste Londoner Niederlassung realisierten, bauten eine frühere Garage zu der mit 1400 Quadratmetern grössten kommerziellen Galerie der Hauptstadt um. Hinter der diskreten Strassenfassade mit ihren grossen opaken Fensterscheiben und dem Foyer befinden sich drei Säle, deren grösster mit 28 Metern Länge und 13 Metern Breite die Dimensionen herkömmlicher Museumsräume hinter sich lässt. Klare Proportionen, eine überaus zurückhaltende Materialisierung sowie die geschickte Einbeziehung des Tageslichts bestimmen das Interieur, das selbst die Präsentation von Stahlplastiken Richard Serras erlaubt.

Ganz am anderen Ende des Entwicklungsgebiets um King's Cross, an der Strasse Vale Royal, hat David Chipperfield unlängst ein Ateliergebäude für den Plastiker Antony Gormley errichtet. Eine Mauer mit grossem Tor grenzt einen Vorplatz von der Strasse ab, dahinter befindet sich das helle Atelier mit seinem Zackendach aus insgesamt sieben Giebeln. Man kann die Baustruktur als Ensemble von sieben Häusern verstehen, aber auch als Industriehalle - es handelt sich gleichsam um ein hybrides Gebäude, das fabrikartige Produktionsstätte, privates Atelier und Galerie zugleich ist. Unter den drei mittleren Giebeln befindet sich das doppelgeschossige Hauptatelier, die Seitenflügel sind zweigeschossig organisiert und bergen kleinere Räume - in der oberen Ebene unter anderem die Studios von Gormley und der Malerin Vicken Parsons.

Der York Way führt von Gormleys Atelier zurück zu den Bahnhöfen. Nach der Brücke über den Regent's Canal zweigt die kleine Crinan Street ab. Von aussen kaum sichtbar, erstreckt sich zwischen beiden Strassen das opulente Domizil einer jungen Modedesignerin. David Adjaye, der Shootingstar der Londoner Architekturszene (NZZ 14. 1. 04), hat die offene Raumstruktur entworfen, die - von unterschiedlich bepflanzten Lichthöfen gegliedert - auch als Show- Room dienen kann. Die Privaträume wurden über einem höhlenartig inszenierten Swimmingpool in die Nachbarbebauung eingeschachtelt, während die Arbeitsräume zum York Way hin orientiert sind. Vom Fenster im Obergeschoss aus eröffnet sich ein weiter Blick über das Entwicklungsgebiet nördlich von King's Cross. Welche Impulse von hier in Zukunft ausgehen, wird sich erst beantworten lassen, wenn die ersten Architekturwettbewerbe entschieden sind.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.12.03

03. Dezember 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Pavillon im Grünen

Der St. James's Park ist eine grüne Oase im Herzen von Westminster: beliebt als Ort für eine erholsame Arbeitspause bei denjenigen, die ringsum im Regierungsviertel...

Der St. James's Park ist eine grüne Oase im Herzen von Westminster: beliebt als Ort für eine erholsame Arbeitspause bei denjenigen, die ringsum im Regierungsviertel...

Der St. James's Park ist eine grüne Oase im Herzen von Westminster: beliebt als Ort für eine erholsame Arbeitspause bei denjenigen, die ringsum im Regierungsviertel arbeiten, gern besucht aber auch von Touristen, da zwischen Buckingham Palace und Westminster Abbey, Trafalgar Square und Houses of Parliament gelegen. Seine heutige Form erhielt der aus einem königlichen Wildpark hervorgegangene und später französisch umgestaltete Park 1828 durch John Nash, der ursprünglich plante, ihn - wie den Regent's Park - mit rahmenden Bauten zu umgeben. Komplementär dazu blieb der Park selbst mit seinen organisch geschwungenen Wegen und dem künstlich angelegten See von Bebauung frei.

Auf diese ursprüngliche Konzeption besann sich Michael Hopkins, als er von der Verwaltung der königlichen Parks den Auftrag erhielt, ein «Cakehouse» aus den sechziger Jahren durch einen Neubau zu ersetzen. Gelungen ist ihm das vortrefflich: Das im Juli eingeweihte, durch seine Holzverkleidung geprägte Gebäude, mit leicht ironischer Doppeldeutigkeit «Inn the Park» genannt, sucht nicht wie sein Vorgänger den Kontrast zur umgebenden Natur, sondern geht in ihr auf. Entstanden ist ein tropfenförmiges Bauwerk, das mit einer geschwungenen Terrasse und Kolonnade nach Süden geöffnet ist, während es nach Norden hin - in einem Erdhügel verborgen - unsichtbar bleibt. Während es hier wie eingegraben wirkt, eröffnet die von einer Brüstung begrenzte Ebene über der Kolonnade Ausblicke über den See hinweg in Richtung Whitehall.

Michael Hopkins, 1935 geboren und Anfang der siebziger Jahre Partner von Norman Foster, hat im vergangenen Jahrzehnt Abstand vom britischen Hightech genommen und eine Position gefunden, die sich stärker um das Spezifische des Ortes bemüht. Zu erwähnen sind die Erweiterung des Opernhauses von Glyndebourne, die Ergänzung des Bracken House in London oder der elegante, mit Naturstein verkleidete Bau des Emmanuel College in Cambridge. Zu den neueren Arbeiten zählen die faszinierende Westminster- Station der Jubilee-Line in London, deren massiges Tragwerk wie eine zeitgenössische Paraphrase von Piranesis «Carceri» wirkt, aber auch die Erweiterung der City Art Gallery in Manchester: Hier bezog sich Hopkins mit seinen vorfabrizierten Betonelementen auf Louis I. Kahn.

Das «Inn the Park» genannte Bauwerk hingegen stellt Hopkins in die Tradition des englischen Landschaftsparks: Wie er selbst betont, hat er sich beim Entwurf vom «Praeneste»-Pavillon im Park Rousham bei Oxford, der von William Kent um 1730 umgestaltet wurde, inspirieren lassen. Kents kleines Gebäude besteht aus einer mit sieben Gewölben als Aussichtspunkt raumhaltig ausgebildeten Futtermauer, die ein oberes und ein unteres Geländeniveau voneinander trennt und den gebildeten Parkbesucher an die Substruktionen des Fortunatempels von Palestrina, dem antiken Praeneste, ebenso erinnerte wie an die Loggien der italienischen Renaissancegärten. Sitzt man im neuen Café zwischen den Säulen, so mag sich beim gerahmten Blick über den See ein ähnliches Gefühl einstellen wie in Rousham. Ähnliches gilt, wenn man vom Ufer in Gegenrichtung auf das Bauwerk blickt, das von Büschen und Bäumen flankiert wird.

Die geschwungenen Wände, aber auch das Holz des Bodens verbindet beim «Inn the Park» innen und aussen. Zum Holz treten hier Raumteiler aus Marmorscheiben und Regale aus Kupferblech. Die gepolsterten Metallstühle sind mit Kunstleder in Kroko-Optik überzogen. Für die gelungene Möblierung war im Übrigen Tom Dixon verantwortlich, der seit einigen Jahren als Chefdesigner für Terence Conrands Habitat-Kette tätig ist, in London als Szenestar gilt und in diesem Jahr die Auswahl für das «International Design Yearbook» getroffen hat.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.12.03



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Inn the Park

06. November 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Neues Bauen am Rhein

Während nahezu 50 Jahren prägte der Architekt Wilhelm Riphahn (1889-1963) das Baugeschehen in Köln. In einer Zeit, da der Abriss des von ihm entworfenen Opernhauses diskutiert wird, ist nun eine grosse Retrospektive seines Werks zu sehen.

Während nahezu 50 Jahren prägte der Architekt Wilhelm Riphahn (1889-1963) das Baugeschehen in Köln. In einer Zeit, da der Abriss des von ihm entworfenen Opernhauses diskutiert wird, ist nun eine grosse Retrospektive seines Werks zu sehen.

Eines der bekanntesten Werke des Kölner Architekten Wilhelm Riphahn wurde auch literarisch verewigt: «Ich wünschte: Es möchte sich die Bastei / Jetzt karussellartig drehen», heisst es in dem Gedicht «Köln von der Bastei aus gesehen». Unwillkürlich hatte Joachim Ringelnatz mit diesen Zeilen die Verwandtschaft des 1924 am Rheinufer errichteten Panoramarestaurants mit expressionistischen Visionen beweglicher Architektur anklingen lassen, beispielsweise mit Bruno Tauts «drehbarem Haus». Die über der «Caponnière» der einstigen preussischen Befestigungslinie errichtete «Bastei», nach Kriegszerstörungen 1958 von Riphahn leicht verändert wieder errichtet, ist ein charakteristisches Gebäude der zwanziger Jahre: Sie manifestiert, indem das Alte als Sockel des Neuen dient, den Aufbruch in die Zukunft; sie zeigt aber zugleich, wie die Formensprache des Expressionismus, bar jedes utopisch- ekstatischen Charakters, nunmehr in den Vergnügungsstätten des Bürgertums ihr Asyl fand. Wilhelm Riphahn, 1889 in Köln geboren, war denn auch nicht eigentlich Expressionist, und erst recht keiner der ersten Stunde. Um 1920, als Taut sich in Magdeburg dem mühsamen Aufbruch verschrieben hatte, konnte er in Köln-Bickendorf eine Siedlung realisieren, die nahezu nahtlos das romantisierende Vorkriegsmodell der Gartenstadt fortschrieb. Und das Haus Offermann im nahen Bensberg vereinte klare Kubatur und lokale Bautradition in einer Weise, die man auch von Paul Schmitthenner oder Paul Bonatz gewohnt war.

Sozialer Wohnungsbau

In den Architekturlexiken des 20. Jahrhunderts wird Wilhelm Riphahn übergangen, und dies, obwohl er in den zeitgenössischen Kompendien stets präsent gewesen ist. Während sich manche seiner prominenteren Berufskollegen lediglich ihren Visionen widmeten, war Riphahn schon in den Jahren des Ersten Weltkriegs im sozialen Wohnungsbau tätig. Dieser sollte eines seiner favorisierten Themen bleiben - Indiz dafür ist seine Teilnahme an der nach einem Masterplan von Gropius angelegten Siedlung Karlsruhe- Dammerstock (1929). Strenger Zeilenbau trat hier als Alternative zur Vielgestaltigkeit der Stuttgarter Weissenhofsiedlung von 1927 auf, und diesem Konzept folgte der Architekt auch mit der «Weissen Stadt» in Köln-Kalkerfeld (1932), die dank behutsamer Sanierung heute noch ein Musterbeispiel des Neuen Bauens darstellt.

Leider war der Umgang mit Riphahns Œuvre nicht immer vorbildlich. Das gilt insbesondere für die Bauten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Köln realisiert wurden. Schon im Mai 1945 war Riphahn mit Wiederaufbauplanungen betraut worden, und die im Südwesten der Altstadt neu durchgebrochene Hahnenstrasse (1945-52) mit ihren flachen, den Strassenzug flankierenden Ladenzeilen und Kulturbauten gilt als eine Inkunabel der Fünfziger-Jahre-Architektur in Deutschland. Durch Verbauungen und unsensible Eingriffe ist das Ensemble heute weitgehend entstellt. Noch prekärer stellt sich zurzeit die Situation des denkmalgeschützten Opernhauses dar. Der mächtige Kulturbau wurde zwischen 1952 und 1957 errichtet und ist Teil des Forums um den Offenbachplatz, zu dem auch das Schauspielhaus, die Opernterrassen und ebenfalls von Riphahn entworfene Geschäftshäuser gehören. Die Oper ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert: Zum einen brach der Architekt in der Nachfolge der Londoner Royal Festival Hall mit dem Rangtheater und entwarf versetzte Logen, die hervorragende Sichtverhältnisse garantieren. Zum anderen schuf er mit den beiden geböschten Hochhäusern, welche den zentralen Bühnenturm flankieren, ein städtebaulich wirksames Zeichen. Angesichts der nötigen Sanierung diskutiert die Stadt nun auch Abriss und Verkauf der innerstädtischen Liegenschaft, um mit dem Gewinn an anderer Stelle einen Neubau zu errichten.

Instruktiver Überblick

Vielleicht kann die jetzige, längst überfällige Ausstellung über Wilhelm Riphahn im Museum für angewandte Kunst die Verantwortlichen zum Umdenken bewegen. Anhand von Fotos, Plänen, Skizzen und Modellen wird ein instruktiver Überblick über das Schaffen jenes Architekten gegeben, der Köln wie kein Zweiter im 20. Jahrhundert geprägt hat. Die Schau ist zweigeteilt: Zunächst wird anhand der verschiedenen Bauaufgaben das vor 1945 entstandene Werk präsentiert; anschliessend steht der Wiederaufbau Kölns im Zentrum. Riphahn nahm zudem bis zu seinem Tod im Jahre 1963 an diversen Wettbewerben - vor allem für Theaterbauten - teil, realisierte aber auch eine Reihe von Privathäusern.

[ Bis 2. Februar. Katalog: Britta Funck: Wilhelm Riphahn. Architekt in Köln. Eine Bestandsaufnahme. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2004. 276 S., Euro 24.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.11.06



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Wilhelm Riphahn. Architekt in Köln. Eine Bestandsaufnahme

01. Oktober 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Bauen an der Peripherie

In den vergangenen Jahren zählte der deutsche Pavillon nicht eben zu den Highlights der Architekturbiennalen in Venedig: Als Massimiliano Fuksas im Jahr...

In den vergangenen Jahren zählte der deutsche Pavillon nicht eben zu den Highlights der Architekturbiennalen in Venedig: Als Massimiliano Fuksas im Jahr...

In den vergangenen Jahren zählte der deutsche Pavillon nicht eben zu den Highlights der Architekturbiennalen in Venedig: Als Massimiliano Fuksas im Jahr 2000 das Motto «Less Aesthetics More Ethics» vorgegeben hatte, zeugten die uninspirierten Schwarzpläne des Planwerks Innenstadt von einem neuen Berliner Formalismus, und als Deyan Sudjic vor zwei Jahren unter dem Motto «Next» nach den Bauten der nahen Zukunft fahndete, war der deutsche Pavillon mit Studentenprojekten gefüllt, die wie Erstsemester- Arbeiten wirkten. Gewiss kann thematische Kontradiktion fruchtbar sein - hier indes wirkte die Bespielung der Räume wie eine Pflichtübung, deren Erfüllung letztlich dem Zufall überlassen blieb. Ganz anders auf der diesjährigen Architekturbiennale (NZZ 11. 9. 04). Keine Spur von einer braven Leistungsschau deutschen Baugeschehens oder von einer Flucht vor der Architektur in den Bereich der bildenden Kunst ist diesmal auszumachen. Unter dem Titel «Deutschlandschaft - Epizentren der Peripherie» hat die Kuratorin Francesca Ferguson den Pavillon mit einem 80 Meter langen Panorama versehen, das sich kontinuierlich durch die Innenräume schlängelt.

Das Panorama, gestaltet von dem Berliner Grafikbüro «cyan», zeigt eine Fotocollage von suburbanen Landschaften und von 37 herausragenden Bauten deutscher Architekturbüros der jungen und mittleren Generation. Die von Primärkörpern aus Backstein geprägte Schule von Lederer Ragnarsdottir Oei sowie das zeichenhafte Stadthaus von Jügen Mayer H., beide in Ostfildern bei Stuttgart, oder die Experimentelle Fabrik von Sauerbruch Hutton in Magdeburg rücken die neue Architektur in einen Kontext, der von gesichtslosen Bauten der fünfziger und sechziger Jahre ebenso geprägt wird wie von Dönerbuden, Tankstellen und Plus-Filialen. Es ist dies die Umgebung, die all jene ablehnen, welche von der Rekonstruktion der «europäischen Stadt» sprechen, und gleichwohl der Lebensraum eines grossen Teils der Bevölkerung. Und gerade in dieser eigenschaftslosen Zone, die bald als Sprawl, bald als Suburbia und bald als «Generic City» apostrophiert wird, sind in Deutschland in den vergangenen Jahren Bauten entstanden, die Massstäbe gesetzt haben und von einer lebendigen, jungen Architekturszene zeugen.

Die Bauten, die nun in Venedig versammelt sind, oszillieren zwischen Ironie und Pragmatismus, zwischen Subversion und Camouflage. Gleichzeitig beweisen sie, dass die baurechtlichen Restriktionen der biederen Einfamilienhausquartiere mitunter qualitätvollere und intelligentere Architektur entstehen lassen, als man sie von den grossen Stadterneuerungsprojekten gewöhnt ist. Der Journalistin, Kuratorin und Initiatorin des Architekturnetzwerks «Urban Drift», Francesca Ferguson, ist es gelungen, ein Panorama von Bauten zusammenzustellen, die von einem Aufbruch in Deutschland zeugen: Es gärt an den Rändern nicht zuletzt aufgrund schrumpfender Städte, und man kann hoffen, dass das Land nach Jahren der Stagnation zum internationalen Architekturdiskurs zurückfindet.


Bis 7. November. Katalog: Deutschlandschaft. Epizentren der Peripherie. Hrsg. Francesca Ferguson. Verlag Hatje Cantz, Ostfildern 2004. 256 S., Euro 25.-.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.10.01

25. September 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Baukünstlerische Gärungsphase im Reich der Mitte

Seit einigen Jahren macht die chinesische Hauptstadt Peking mit gigantischen Architekturprojekten auf sich aufmerksam. Nun führt sie die erste, über sechs Ausstellungsorte verteilte Architekturbiennale durch. Der Gesamteindruck der Veranstaltung überzeugt nicht zuletzt als Kommentar zum zeitgenössischen Baugeschehen in China.

Seit einigen Jahren macht die chinesische Hauptstadt Peking mit gigantischen Architekturprojekten auf sich aufmerksam. Nun führt sie die erste, über sechs Ausstellungsorte verteilte Architekturbiennale durch. Der Gesamteindruck der Veranstaltung überzeugt nicht zuletzt als Kommentar zum zeitgenössischen Baugeschehen in China.

Beim Blick vom Drum Tower im Zentrum Pekings weitet sich als ein faszinierendes Panorama: in der Mitte die Verbotene Stadt, dann die niedrigen Quartiere der traditionellen Hofhäuser und schliesslich im Dunst die Hochhäuser der Büro- und Wohnquartiere. Fährt man hinaus in den Central Business District, der östlich der Innenstadt entsteht, oder in die schier endlosen neuen Wohnviertel im Norden, so wird in einem Meer von Kränen eine atemberaubende Entwicklungsdynamik erkennbar. In den nächsten Jahren soll die Metropole mit ihren 14 Millionen Einwohnern einen neuen Charakter erhalten. Als Resultat eines kaum zu zügelnden Investitionsdrucks wächst die Stadt von der Horizontalen in die Vertikale. «Windsor Avenue», «Star City» oder «Soho Towers» heissen die Ballungen aus bis zu 30-stöckigen Hochhäusern, zumeist postmodern gestylt, die sich in ihrer Massstablosigkeit und ihrer Autonomie nur schlecht ins Stadtgefüge integrieren. In Form von Gated Communities organisiert, bilden sie Inseln, die allein durch Verkehrsachsen verbunden werden.

Projekte für China

In einem Klima hektischer Aktivität, das durch die Vorbereitung der Stadt auf die Olympischen Spiele 2008 geprägt ist, findet nun die erste Architekturbiennale in Peking statt. Zweifellos mangelt es dem Projekt im Vergleich zur etablierten Grossveranstaltung in Venedig noch an Professionalität und Konsistenz, doch in der Gesamtheit ergibt sich ein spannendes Bild, dessen Reiz nicht zuletzt in seiner patchworkartigen Heterogenität liegt. Man spürt die Hoffnungen, welche eine junge chinesische Architektengeneration mit der neuen Freiheit und Offenheit verbindet, man wird aber auch des ökonomischen Drucks gewahr, der Experimenten wenig Raum lässt.

Die Architekturschau besteht aus sechs an verschiedenen Orten durchgeführten Ausstellungen und mehreren Symposien. «Infinite Architecture» heisst die Hauptausstellung im National Art Museum of China, die Entwürfe einheimischer und westlicher Architekten in China sowie eine Reihe von Länderpräsentationen vereint. Der Hauptsaal ist der internationalen Prominenz vorbehalten. Im Zentrum stehen dabei Herzog & de Meuron, unter anderem mit ihrem an ein Vogelnest erinnernden Nationalstadion für die Olympischen Spiele, dessen stählerne Dachkonstruktion allerdings aufgrund von Budgetkürzungen weniger aufwendig ausgeführt werden soll. Als jüngstes chinesisches Projekt des Basler Büros wird ein «Three Partnership Tower» genanntes Geschäftshaus für Peking präsentiert, bei dem das umfangreiche Raumprogramm auf drei skulptural geformte und mit einer Fassadenhaut aus triangulären Glasscheiben versehene Volumina aufgeteilt ist. Mit ihrem Konzept bieten Herzog & de Meuron eine elegante Alternative zu den brachialen Stahl-, Beton- und Glasmonstrositäten, die entlang der Ringstrassen von Peking errichtet werden.
Umgenutzte Industrieanlagen

Einen wegweisenden Wohnkomplex stellt Steven Holl mit dem «Beijing Looped Hybrid» vor: Verschiedene Wohntürme und gestaffelte brückenartige Übergänge bilden ein expressives Ensemble, das auch durch die Vielzahl verschiedener Grundrisse überzeugt. Unter den internationalen Architekten vertreten sind des Weiteren Rem Koolhaas mit seinem (eher bescheidenen) Umbauprojekt für das National Museum of China, Zaha Hadid mit einem als «Fluid City» konzipierten Stadtquartier und Bernard Tschumi mit dem auch in Venedig präsentierten «Factory 798 Housing», einer über umgenutzten Industrieanlagen aufgestelzten Wohnstruktur in Form miteinander verbundener Wolkenbügel. - Im Bereich der Länderpräsentationen zeigt Deutschland das mit dem Bau der neuen Nationalbibliothek in Peking betraute Büro KSP Engel Zimmermann, Frankreich rückt Paul Andreu ins Zentrum, dessen neues Nationaltheater in Peking gerade fertig gestellt wird, und die Niederlande präsentieren Neulings Riedijk und MVRDV. Auf einen bereits im Jahr 2001 in Paris präsentierten, nun allerdings aktualisierten Überblick über das helvetische Baugeschehen griff die Schweiz zurück. Neu hinzugekommen sind dabei vor allem chinesische Projekte - neben denjenigen von Herzog & de Meuron das olympische Wukesong-Stadion von Moser Nussbaumer, ein Kunstmuseum für die Tsing-hua-Universität in Peking von Mario Botta, der Tianyin Campus von Peter Boelsterli und eine aus 28 würfelförmigen Villen bestehende Siedlung von Burkhalter Sumi.

Besonders instruktiv ist der chinesische Teil der Ausstellung. Das Baugeschehen wird beherrscht von Grossfirmen, die einen Businesskomplex nach dem anderen realisieren. Doch es gibt auch eine wachsende Zahl junger, oft im Ausland ausgebildeter Architekten, die durch ambitionierte Projekte auffallen. Einer von ihnen ist Yong Ho Chang, der an der Universität Peking einen Studiengang Architektur aufgebaut hat. Im vergangenen Jahr hat Chang das Gelände einer ehemaligen Brauerei zu einem funktionalen Hybriden umgebaut, der als Ausstellungshalle sowie als Sitz des Immobilienunternehmens Pingol dient. Hinter dem Gebäude, das unter dem Titel «Community Culture» eine kleine Ausstellung der Biennale aufnimmt, entsteht «Pingol City» mit drei Wohn- und Büroriegeln. Für den Parkbereich zwischen zwei Zeilen hat Chang eine niedriggeschossige Bebauung entworfen, welche die Tradition der chinesischen Hofhäuser neu interpretiert. Dass chinesische Developer an einer Zusammenarbeit mit der Architekturbiennale interessiert sind, zeigt sich auch an anderen Orten. Im Showroom der Phoenix City im Nordwesten der Stadt ist die «Infinite Inferior»-Schau zu sehen, die Projekte des flexiblen Wohnens dokumentiert.

In der Nähe von Phoenix City baut die Modern Architecture Group of China das VHN International Village. Auch hier erhofft man sich von der Biennale eine Nobilitierung. Wirken die Wohnscheiben eher monoton, so gibt sich die Gartenanlage ambitioniert. Sieben Pavillons sind hier Austragungsort des «Avantgarde»-Teils der Biennale. Der Architekturtheoretiker Neil Leach bietet gemeinsam mit dem chinesischen Architekten Xu Wei-Guo einen überaus anregenden Blick auf die neuste Architektur: «Hot Spots» vermittelt Einblicke in die Architekturszene von zehn Metropolen. London überrascht mit strukturellen Entwürfen von Ciro Najle, Melbourne stellt die skulpturale, auf mathematischen Berechnungen basierende Fassade des Victoria College of the Arts von Minifie.Nixon vor, und aus Tokio stammt das Projekt von Ryue Nishizawa (dem Partner von Kazuyo Sejima) für zwei Wohnhäuser, die aus einer variablen Anordnung von Kuben bestehen. Arbeiten wie diese hätte man auch gerne in Venedig gesehen.

Neuste Architektur

Der zweite Teil der Schau stellt 13 Architekten vor, welche die Formenwelt in den vergangenen Jahren mit ihren computergenerierten Entwürfen bereichert haben, so Asymptote, Diller & Scofidio, Future Systems, Greg Lynn, Kolatan/McDonald, Nox und UN Studio. Auch wenn nicht jedes Projekt überzeugt, so ist die Auswahl insgesamt doch sehr stringent. Abgeschlossen wird die «Avantgarde»-Schau durch eine Präsentation von Studentenarbeiten prominenter Architekturfakultäten aus aller Welt, bei denen kaum noch grosse Unterschiede hinsichtlich Darstellungsart und Entwurfsqualität zwischen China und dem Westen auszumachen sind. Es bleibt zu hoffen, dass auch China nach dem jüngsten Bauboom zu sensibleren Strategien im Umgang mit der Umwelt findet. Die Architekturbiennale jedenfalls wagt diesbezüglich auch einige kritische Kommentare.

[ Ausstellungen bis zum 2., 6. und 10. Oktober. Katalog zur «Avantgarde»-Schau: Fast Forward. Hrsg. Neil Leach und Xu Wei-Guo. Map Book Publishers, Peking 2004. 168 S., 120 Yen. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.09.25

24. September 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Baukunst als Inszenierung

Im Rahmen einer vom Schweizer Künstler Christian Philipp Müller eingerichteten Ausstellung widmet sich das Architekturmuseum Basel dem Berliner Architekten Hans Poelzig und seiner Frau, der Bildhauerin Marlene Moeschke. Die kulissenhaft inszenierte Schau erinnert an die Leidenschaft des Künstlerpaars für Film und Theater.

Im Rahmen einer vom Schweizer Künstler Christian Philipp Müller eingerichteten Ausstellung widmet sich das Architekturmuseum Basel dem Berliner Architekten Hans Poelzig und seiner Frau, der Bildhauerin Marlene Moeschke. Die kulissenhaft inszenierte Schau erinnert an die Leidenschaft des Künstlerpaars für Film und Theater.

Über kaum ein Œuvre eines Architekten der klassischen Moderne hat das Wissen binnen weniger Jahre derart zugenommen wie über das von Hans Poelzig (1869-1936). Es bedurfte zunächst des unermüdlichen Engagements des Architekturhistorikers Julius Posener, um Poelzig, der zur radikalen Avantgarde des Neuen Bauens stets Distanz bewahrte, als eigenständige Figur der Moderne wahrnehmen zu können.

Das Bild erweiterte sich, als 1986 in dem zuvor unter Verwaltung der DDR-Reichsbahn stehenden Hamburger Bahnhof in Westberlin mehr als 1000 Zeichnungen des Büros Poelzig entdeckt wurden. Die Öffnung Europas ermöglichte daraufhin die Wiederentdeckung von Poelzigs Frühwerk. Dieses entstand zwischen 1900 und 1916 während Poelzigs Zeit als Lehrer und Leiter der Kunst- und Kunstgewerbeschule Breslau. Erwähnenswert ist dabei besonders die chemische Fabrik Luban, die in ihrer Bedeutung den etwa zeitgleichen Fabrikbauten von Peter Behrens und Walter Gropius gleichkommt. Neues Licht auf diese Epoche warf dann die materialreiche Ausstellung «Hans Poelzig in Breslau», die als Resultat umfänglicher Forschungstätigkeit im Jahr 2000 in der heute polnischen Stadt stattfand.

Konservative Moderne

Doch auch in Deutschland ist Poelzig inzwischen neu zu entdecken: Das Verwaltungsgebäude der I. G. Farben in Frankfurt am Main (1928-30), das monumentale Hauptwerk der späten Schaffensphase, wurde vom dänischen Architekturbüro Dissing & Weitling sensibel saniert und zum Institutsgebäude der Johann-Wolfgang- Goethe-Universität umgestaltet, nachdem es - von den USA benutzt - jahrzehntelang nahezu unzugänglich gewesen war. Jüngstes Beispiel für das anhaltende Interesse an Poelzigs Architektur ist die Renovierung des Kinos «Babylon» (1929) am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Es war Teil einer nur partiell ausgeführten Umgestaltung des Scheunenviertels. Poelzig wollte dem Quartier um Oskar Kaufmanns Volksbühne ein neues, grossstädtisches Gesicht verleihen.

Im Kontext der Renovierung des «Babylon» ist unter dem Titel «Im Geschmack der Zeit» eine Poelzig-Ausstellung entstanden, die nun - nach einer Zwischenstation im ehemaligen I.-G.-Farben-Haus in Frankfurt - im Architekturmuseum Basel gezeigt wird. Die Besonderheit der Schau besteht darin, dass ein Künstler für die Konzeption verantwortlich war - der 1957 in Biel geborene und heute in New York lebende Christian Philipp Müller. Wie in früheren Ausstellungen übernimmt Müller dabei nicht nur die Rolle des Historikers, sondern auch die des Reiseführers, der durch die Inszenierung führt. Ein Video zeigt ihn vor verschiedenen Bauten Poelzigs, etwas bemüht aus Architektenmonographien vorlesend. Der filmische Blick auf die Bauten Poelzigs könnte der Ausstellung eine weitere Dimension hinzufügen - doch auf den Cicerone liesse sich verzichten. Auch die Fotos, die Müller von einigen Bauten angefertigt hat, sind kaum als ernsthafte künstlerische Auseinandersetzung mit dem Œuvre des Architekten zu verstehen - ganz im Gegensatz zu den Grossformaten von Candida Höfer (Haus des Rundfunks, Berlin) oder Günther Förg (I.-G.-Farben-Haus), um welche die Basler Veranstalter die Wanderausstellung ergänzt haben. Und schliesslich sind die im ersten Raum aufgestellten Vitrinen mit früheren Büchern Müllers schlicht deplaciert.

Phantastische Skizzenbücher

Hingegen vermag angesichts der Leidenschaft des Architekten für Film und Theater zu überzeugen, dass Müller die Räume des Architekturmuseums durch wie Theaterkulissen aufgezogene und farbig beleuchtete Grossfotos einzelner Arbeiten von Poelzig gliedert. Gleichsam beiläufig ergibt sich dadurch eine räumliche und thematische Strukturierung der Ausstellung. Auf das Breslauer Frühwerk, zu dem auch der Umbau des Rathauses im schlesischen Löwenberg (1903-06) oder die imposante Talsperre im sächsischen Klingenberg (1908) zählen, folgen Poelzigs Entwürfe für Paul Wegeners «Der Golem, wie er in die Welt kam» (1920), einen Klassiker des expressionistischen Stummfilms. Ein zentrales Kapitel der Ausstellung gilt der um 1920 mit Keramiken einsetzenden Zusammenarbeit mit der Bildhauerin Marlene Moeschke, Poelzigs zweiter Frau. Welche Bedeutung die von der Forschung lange marginalisierte Marlene Poelzig besessen hat, ist erst jüngst erkannt worden. Der Untertitel von Müllers Ausstellung heisst denn auch «Das architektonische Werk von Hans und Marlene Poelzig aus heutiger Sicht». Marlene war am Umbau des Zirkus Schumann zur berühmten expressionistischen Tropfsteinhöhle für Max Reinhart (1919) massgeblich beteiligt, das Wohnhaus der Poelzigs in Berlin-Westend (1930) wurde von ihr selbst entworfen. - Der etwas penetranten Selbstinszenierung Müllers zum Trotz ist die Ausstellung überaus sehenswert. Und das nicht allein der historischen Fotos oder Pläne wegen, sondern vor allem aufgrund der reichhaltig präsentierten Skizzenbücher, welche das barock anmutende zeichnerische Talent von Hans und Marlene Poelzig anschaulich werden lassen. Bizarre Phantasmagorie und expressive Vision treffen hier zusammen. Es wäre höchste Zeit, diese faszinierenden Quellen zu erschliessen. Die nicht publizierten Skizzenbücher befinden sich indes immer noch im Besitz der beiden Töchter des Architektenpaars.

Bis 14. November. Katalog: Im Geschmack der Zeit. Das Werk von Hans und Marlene Poelzig aus heutiger Sicht. Hrsg. Christian Philipp Müller. Verein zur Förderung von Kunst und Kultur am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 2003. 126 S., Fr. 28.-.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.09.24



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03. September 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Rund oder vielfältig?

Entgegen verbreiteten Vorbehalten bedeutet kommerzielles Bauen nicht notwendigerweise gestalterische Beliebigkeit. Das beweisen mehrere neue Bauten, welche Ben van Berkel und sein Büro Rotterdamer UN Studio in den Niederlanden errichtet haben.

Entgegen verbreiteten Vorbehalten bedeutet kommerzielles Bauen nicht notwendigerweise gestalterische Beliebigkeit. Das beweisen mehrere neue Bauten, welche Ben van Berkel und sein Büro Rotterdamer UN Studio in den Niederlanden errichtet haben.

Der Südosten von Amsterdam zählt nicht eben zu den städtebaulich geglücktesten Ensembles der niederländischen Metropole: Östlich der vielbefahrenen Bahnstrecke Richtung Utrecht erstrecken sich die zehngeschossigen Wohnblocks der Grosssiedlung Bijlmermeer, die mit ihren endlosen wabenförmigen Strukturen den Endpunkt der niederländischen Spätmoderne markierte und inzwischen in weiten Teilen abgerissen ist. Auf der anderen Seite der Gleise steht die „ArenA“, das überdachte Fussballstadion von Ajax Amsterdam, als Paradigma einer von Investoren gesteuerten Architektur der neunziger Jahre - funktional, ökonomisch optimiert, aber von geringer gestalterischer Qualität. Der Umbau der Bahnstation Bijlmer durch Nicholas Grimshaw ist noch im Gange, aber die weiten Freiflächen, Bürokomplexe und Gewerbebrachen, die rings um das Stadion entstanden sind, vermitteln einen Eindruck der Trostlosigkeit, auch wenn ein Multiplex-Kinocenter regen Besucherverkehr garantiert.

Etwas versteckt hinter protzigen Bürobauten ist nun, gleichsam im Windschatten des Stadions, ein kleines Gebäude entstanden, dessen Form von der Belanglosigkeit ringsum absticht. Einem gedrungenen, lang gestreckten Körper entspriesst ein zweiter, vertikaler; der Doppel-Blob - den man auch als eine kontinuierliche, in sich verdrehte Figur verstehen kann - erinnert etwas an eine träge Rakete, die in der Startrampe ruht. Das seltsame Gebilde ist das niederländische Domizil von „Living Tomorrow“, einer 1991 in Brüssel gegründeten Organisation, die es diversen Wirtschaftsunternehmen ermöglicht, in ihren Räumen zukunftsfähige Produkte zu testen. Hauptakteure in Amsterdam sind Hewlett-Packard, Logica und Unilever, dazu treten eine Reihe weiterer Firmen wie Philips, Bosch und der niederländische Hersteller von Designprodukten Gispen. Während „Living Tomorrow“ in Brüssel in zwei wenig attraktiven Häusern ansässig ist, beauftragte man für den Neubau in Amsterdam das Büro UN Studio, das 1999 von Ben van Berkel und seiner Partnerin Caroline Bos gegründet wurde.

Theorie und Praxis

Unter den niederländischen Architekten der mittleren Generation gelingt Ben van Berkel der Spagat zwischen Theorie und Praxis vielleicht am besten. Während das Möbius-Haus (1999) als gebautes architektonisches Manifest die Fachwelt begeisterte, avancierte die elegante Erasmusbrug (1996), die das nördliche Maasufer Rotterdams mit dem Stadtentwicklungsgebiet Kop van Zuid verbindet, zum architektonischen Wahrzeichen von Rotterdam. Eine kleinere Schwester der Rotterdamer Brücke konnte im vergangenen Sommer in Utrecht eingeweiht werden: Die Prins Claus Brug verbindet das östlich des Zentrums gelegene Quartier Kanaleneiland mit Leidsche Rijn, einem der grössten Neubaugebiete des Landes. Vom internationalen Erfolg des Büros zeugt das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart, das im Jahr 2006 fertig gestellt sein wird. Wie beim Guggenheim Museum in New York werden sich die Besucher auf Rampen von oben nach unten durch das Gebäude schrauben, dessen Grundrissform an einen Wankelmotor erinnert.
Verglichen mit dem Stuttgarter Projekt nimmt sich der „Living Tomorrow“-Pavillon eher bescheiden aus. Aus gebogenen Stahlrippen, Beton und Industrieblech (als Fassadenverkleidung) entstand ein Gebilde, das für die Dauer von fünf Jahren konzipiert wurde und dann wieder demontiert werden soll. Futuristisch wie ein Raumschiff sieht das Gebäude allerdings nur von aussen aus: Über eine blau ausgeleuchtete Treppe im horizontal gelagerten Baukörper gelangt man auf die Hauptebene des ersten Obergeschosses mit Café und Réception - Innenarchitektur und Möblierung waren nicht Aufgabe der Architekten. Auch die im Turm auf mehreren Geschossen untergebrachten Ausstellungsbereiche wie „Wohnung der Zukunft“ und das „Büro der Zukunft“ nehmen sich eher konventionell aus, wenn man davon absieht, dass die Möbel und Geräte mit Digitaltechnik voll gestopft sind. Der Kühlschrank überwacht seinen Inhalt, und der Staubsauger wird von Sensoren gelenkt.

Spektralfarben im Hof

Eine andere Formensprache als die Bubble-oder Blob-Ästhetik kam bei dem Bürokomplex „La Défense“ zur Anwendung. Eine grosse fünfeckige Parzelle in Nachbarschaft des Hauptbahnhofs von Almere, der weitläufigen Stadtlandschaft im IJsselmeerpolder, wurde so bebaut, dass sich eine mäanderförmige Hofstruktur ergab. Die polygonale Form des Umrisses widerspiegelt sich im Ansteigen und Abfallen der Dachflächen: Von drei auf sechs Geschosse wachsen die Volumina, um sich dann wieder zu senken. Mit Rampen und Treppen wird dieses plastische Spiel der Faltungen im Bereich des Hofes nachgezeichnet. Wesentlich zum Reiz des Gebäudes trägt vor allem die Farbigkeit und Materialität der Fassaden bei. Während silbrig-grau schimmernde Metallelemente die Aussenfront des Gebäudekomplexes vereinheitlichen, sind die Hoffassaden aus Glaselementen aufgebaut, in die irisierende Metallfolien integriert wurden. Weil die dicht nebeneinander stehenden Gebäude sich wechselseitig spiegeln, entstehen spannungsreiche optische Effekte, und die Fassaden changieren zwischen Rot, Orange, Gelb, Grün und Blau. „La Défense“, nutzungsneutral konzipiert, ist das Investitionsobjekt eines Immobilienentwicklers; dass auch derlei Bauaufgaben zu architektonischer Qualität führen können, hat UN Studio hier eindrucksvoll bewiesen.

Das komplexeste Bauwerk des Büros aus Amsterdam entsteht allerdings derzeit in Arnhem. Lapidar „Arnhem Central“ heisst das gewaltige Projekt einer „public transportation area“ in Form einer intermodalen Vernetzung von verschiedenen Verkehrssystemen. Der Bahnhof ist hier weder Haltepunkt noch Shopping-Center mit Gleisanschluss, sondern eine räumliche Turbine zur Bewältigung eines hohen Passagieraufkommens. Das Projekt ist ein Musterbeispiel des von Ben van Berkel beschworenen „Deep Planning“, bei welchem der Architekt sich nicht mehr als Gestalter von Oberflächen, sondern als Organisator komplexer Planungsprozesse versteht. Die unterste Ebene, jene der Parkgeschosse, ist schon in Betrieb; bis zum Jahr 2007 soll Arnhem einen Verkehrsknoten erhalten, der durch eine Reihe von Hochhäusern auch als vertikale Dominante in Erscheinung tritt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.09.03



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01. September 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Holzhäuser und Betonkisten

Architektur ist ein positiver Imagefaktor der Schweiz, und das schon über mehrere Jahrzehnte. Seit sich in den siebziger Jahren einige junge Architekten...

Architektur ist ein positiver Imagefaktor der Schweiz, und das schon über mehrere Jahrzehnte. Seit sich in den siebziger Jahren einige junge Architekten...

Architektur ist ein positiver Imagefaktor der Schweiz, und das schon über mehrere Jahrzehnte. Seit sich in den siebziger Jahren einige junge Architekten im Tessin gegen den Bauwirtschaftsfunktionalismus der Spätmoderne zur Wehr setzten und die Kategorien von Raum und Ort neu entdeckten, dauert das Interesse an der eidgenössischen Architektur an. Mit der Zeit ereigneten sich mehrere Perspektivwechsel: In den achtziger Jahren geriet Basel, in den neunziger Jahren Graubünden ins Blickfeld. Nach dem Millennium vermittelt sich ein heterogeneres Bild: Die Ermüdung, welche die stereotypen „Schweizer Kisten“ inzwischen hervorrufen, hat zu Strategien der Diversifikation, Modifikation und Transformation geführt. Die Dominanz des rechten Winkels ist formaler Vielfältigkeit gewichen. Allen voran Valerio Olgiati hat mit dem Schulhaus in Paspels in dieser Hinsicht Massstäbe gesetzt. Daneben wurden spätestens seit der Eröffnung der Tate Modern Herzog & de Meuron zu architektonischen Weltstars, deren Projekte in der Schweiz sich verglichen mit Aufträgen in den USA, in China oder Spanien bescheiden ausnehmen.

Lapidar „Swiss Made“ heisst nun eine neue Publikation, die jeweils anhand von drei bis vier Projekten zwölf zeitgenössische Schweizer Architekturbüros vorstellt. Der Untertitel „Neue Schweizer Architektur“ führt allerdings in die Irre, denn zunächst einmal geht es nicht um Schweizer Architektur im Allgemeinen, sondern um Deutschschweizer Architektur. Der in Edinburg lehrende Architekt Steven Spier, der zusammen mit Martin Tschanz, Redaktor von „Werk, Bauen und Wohnen“, die Auswahl besorgt hat, sieht im Tessin vornehmlich die ältere Generation am Werk und in der Romandie nur wenig Hervorragendes, so dass sich die Auswahl auf Büros aus Basel (Diener & Diener, Miller & Maranta, Morger & Degelo), Zürich (Burkhalter und Sumi, Gigon/Guyer, Meili & Peter, Peter Märkli, Valerio Olgiati) und Graubünden (Bearth & Deplazes, Gion A. Caminada, Peter Zumthor) beschränkt. Dazu tritt der mit seinen Brücken in der Via Mala und in Brügge auch architektonisch tätige Ingenieur Jürg Conzett. Angesichts der Tatsache, dass die architektonischen Impulse in den vergangenen Jahren tatsächlich weniger aus dem Süden oder Westen des Landes gekommen sind, mag die Beschränkung verständlich sein. Seltsam allerdings mutet an, dass Herzog & de Meuron nur in Vor- und Nachwort Erwähnung finden, sonst aber nicht vertreten sind. Dies umso mehr, als es sich bei der vorliegenden Publikation um die deutschsprachige Lizenzausgabe eines ursprünglich bei Thames & Hudson in London erschienenen Werkes handelt und das Basler Büro dort mit Tate Modern und Laban Dance Centre weithin beachtete Werke realisiert hat.

Sonst bietet das Buch, für das der deutsche Fotograf Christian Richters sämtliche Bauten neu fotografierte, einen instruktiven Überblick über das, was in den vergangenen Jahren von den führenden Architekturbüros der mittleren Generation gebaut und geplant wurde - gerade auch für Nicht-Architekten oder Leser, die mit dem helvetischen Baugeschehen weniger vertraut sind. Zeitlich fallen Peter Märklis Museum „La Congiunta“ in Giornico (1992) und Peter Zumthors Kunsthaus in Bregenz (1997) etwas aus dem Rahmen, die meisten übrigen Projekte wurden seit der Jahrtausendwende fertiggestellt. So wird zwar auf die frühen Hauptwerke der Architekten - etwa das Kirchner-Museum von Gigon/Guyer in Davos, die Schule in Vella von Bearth & Deplazes oder die Therme Vals von Peter Zumthor - verzichtet, doch durch die Aktualität ist einiges ins Buch gelangt, was bisher wenig Niederschlag in Publikationen gefunden hat. Dazu zählt das Gemeindezentrum in Reinach von Morger & Degelo (der Messeturm Basel bleibt unberücksichtigt), aber auch der Archäologische Park Kalkriese von Gigon/Guyer oder ein neues Holzhaus von Zumthor im Prättigau.

Mit Plänen, Fotos und beschreibenden Texten vermittelt die Publikation ein anschauliches Bild der vorgestellten Objekte. Insgesamt gibt sich der auf solitäre Bauten konzentrierte, städtebauliche Fragen weitgehend ignorierende Überblick konsistent, aber letztlich auch etwas brav: Dass mit Büros wie „smarch“, „em2n“ oder „pool“ eine Generation herangewachsen ist, die in ihrem OEuvre andere Schwerpunkte setzt, bleibt hier ausgeblendet.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2004.09.01



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Swiss Made

17. August 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Epigonaler Minimalismus

Der Blick vom gerade auf dem Mönchsberg in Salzburg fertiggestellten Museum der Moderne ist atemberaubend. Weniger inspirierend ist hingegen die Architektur des Neubaus, die mit dem Minimalismus flirtet, aber lediglich Mittelmässigkeit erreicht.

Der Blick vom gerade auf dem Mönchsberg in Salzburg fertiggestellten Museum der Moderne ist atemberaubend. Weniger inspirierend ist hingegen die Architektur des Neubaus, die mit dem Minimalismus flirtet, aber lediglich Mittelmässigkeit erreicht.

Es gibt Situationen, da gerät selbst Kleinmut zur Befreiungstat: Im Juli 2001 beschloss der Salzburger Gemeinderat die Realisierung des Museums der Moderne auf dem Mönchsberg und beendete damit eine 15 Jahre währende Diskussion. Begonnen hatte alles in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als die barocke Stadt an der Salzach unter einem engagierten Stadtrat die zeitgenössische Architektur für sich entdeckte. Neben österreichischen Grössen arbeiteten die Schweizer Michael Alder, Diener & Diener oder Bétrix Consolascio am «Salzburg-Projekt», und Alvaro Siza gewann den Studienauftrag für den Mönchsberg: Das Casino und Café Winkler, ein belangloser Flachbau aus den siebziger Jahren, der wegen seiner grandiosen Aussicht über Dom, Festspielhäuser sowie die Festung Hohensalzburg zu den beliebtesten Attraktionen der Stadt zählte, sollte grundlegend umgebaut werden.

Diskussionen ohne Ende

Mehr Aufmerksamkeit als Sizas Projekt erzielte 1988 Hans Holleins Entwurf, die erste Europa- Dépendance der Guggenheim Foundation als gewaltige Kaverne in den Nagelfluh des Mönchsbergs zu sprengen - gleichsam eine Fusion aus dem Negativ von Frank Lloyd Wrights New Yorker Guggenheim-Spirale und Fischer von Erlachs Felsenreitschule. Auch wenn der Landeshauptmann dem Vorhaben 1990 eine Absage erteilte, blieb Holleins Vision in der Diskussion - selbst dann noch, als Guggenheim-Chef Thomas Krens sich für Frank O. Gehry und den Standort Bilbao entschieden hatte. Ende der neunziger Jahre schliesslich rückte der Mönchsberg erneut ins Blickfeld der Öffentlichkeit: Nicht mehr Museum im Berg, sondern Museum auf dem Berg lautete das Gebot der Stunde, und in einem Wettbewerb von 1998 unter Vorsitz von Luigi Snozzi konnten sich die jungen Münchner Architekten Klaus Friedrich, Stefan Hoff und Stefan Zwink durchsetzen. Die Box, welche die Sieger an die Stelle des Cafés Winkler neben der Vertikalen eines historisierenden Wasserturms zu placieren vorschlugen, stiess indes auf verhaltene Resonanz, und letztlich war nicht recht einsichtig, was denn eigentlich auf dem Mönchsberg ausgestellt werden sollte.

Restaurant als Herzstück

Kontakte zu privaten Sammlern wurden geknüpft und zerschlugen sich wieder. Inzwischen hat das Stammhaus Rupertinum eine Kollektion zeitgenössischer Kunst zusammengetragen, die - ergänzt durch Dauerleihgaben - zur Eröffnung des neuen Museums am 23. Oktober unter dem Titel «Vision einer Sammlung» erstmals zu sehen sein wird und, laut Pressemitteilung, «ein Panorama entwirft, das als Zielsetzung der weiteren Sammlungstätigkeit zu verstehen ist». Doch offensichtlich trauten die Verantwortlichen der Zugkraft ihrer Eröffnungsschau nur bedingt und veranstalten nun während der Festspiel-Saison eine Art von Voreröffnung mit der Ausstellung «ein-leuchten». Das Kalkül ist vermutlich richtig: Auffallen in Salzburg, das geht nur während der Festspiele, und der Mönchsberg ist von den Festspielhäusern nur knapp 200 Meter zu Fuss und 60 Höhenmeter im Lift entfernt.

Während Baumaschinen noch lautstark die Umgebung modellieren, ist der Bau fertiggestellt, und endlich hat auch Salzburg sein Museum für moderne Kunst - nach Wien, nach Klagenfurt, nach Linz, nach Graz. Auch das Café-Restaurant hat seinen Betrieb aufgenommen. Der prominente Spitzenkoch und Präsident der österreichischen Hoteliervereinigung, Sepp Schellhorn, sowie das Interior-Design von Matteo Thun garantieren dem Restaurant «Mönchsberg» sein Publikum - zusammen mit der Freiterrasse und ihrem atemberaubenden Blick über die Stadt. Das Restaurant bildet denn auch gewissermassen das Herzstück des neuen Museums: Zur Talseite hin überspannt die mit Platten aus Untersberger Marmor verkleidete Betonstruktur bügelartig den vitrineartigen Gastraum. Wirkt schon diese Kombination etwas schematisch, so nimmt man die 35 Meter lange Fassade mit ihrer simplen Box- Ästhetik von unten kaum als ästhetischen Gewinn für das Stadtbild wahr.

Da hilft es auch wenig, wenn die Architekten Friedrich, Hoff und Zwink durch die unterschiedliche Grösse des Plattenzuschnitts sowie schlitzartige Vertikalfugen - das Vorbild der Bauten von Ortner & Ortner ist überdeutlich - Lebendigkeit der Oberflächen zu erzielen suchten. Das in grauem Sichtbeton realisierte Innere gliedert sich in drei Raumschichten, die durch die beiden als Lichthöfe ausgebildeten Treppenhäuser getrennt sind. Unterirdisch gelangt man vom Mönchsberg- Lift aus direkt in das Foyer mit Auditorium und Museumsshop. Die zweite Ebene beherbergt Kunstlichträume, die dritte - auf der sich auch das Restaurant befindet - öffnet sich mit einem Panoramafenster zum Skulpturengarten auf der Nordseite und lässt den benachbarten Wasserturm über Gebühr ins Blickfeld treten. Die vierte Ebene schliesslich besteht aus Sequenzen von Oberlichtsälen.

Vorpremiere

Die gemeinsam mit «T-B A21» (Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, Wien) organisierte Ausstellung «ein-leuchten» vereint Lichtobjekte und Lichtinstallationen zeitgenössischer Künstler. Der Bogen spannt sich von Jenny Holzer über Pipilotti Rist und Silvie Fleury bis hin zu Olafur Eliasson, der mit einigen neuen Arbeiten vertreten ist. Bald trifft man auf Discokugeln von John Armleder, dann wieder auf Neonarbeiten von Tracy Emin, Tim Noble und Sue Webster. Um die Werke zur Geltung zu bringen, mussten die Innenräume weitgehend verdunkelt werden. Gerade die Räume im obersten Stockwerk können so ihre Wirkung kaum entfalten. Aber auch ohne Abdunklung vermögen die Räume wohl kaum Faszination auszulösen. Gewiss, sie entsprechen den Konventionen, wie heute ein Museum für zeitgenössische Kunst auszusehen hat: reduzierte Materialpalette, orthogonale Anordnung der Säle, unterschiedliche Belichtungssituationen. Also alles richtig gemacht? Man könnte sagen ja, denn das Museum der Moderne ist flexibel und funktioniert gut. Doch woran es ihm fehlt, das ist räumliche Magie, das ist zurückhaltende Eleganz, das ist subtile Spannung. Etwas brav und banal kommt das neue Gebäude daher - Minimalismus auf epigonalem Niveau.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2004.08.17



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Museum der Moderne

10. August 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Machbarkeit des Visionären

Mit einem Experimentalhaus wurde der in Stuttgart tätige Ingenieur Werner Sobek vor vier Jahren weit über Deutschland hinaus bekannt. Eine Ausstellung in München gibt nun einen Überblick über die Bandbreite seines Schaffens, das sich mit Grundlagenforschung ebenso befasst wie mit Design, Tragwerksplanung und Architektur.

Mit einem Experimentalhaus wurde der in Stuttgart tätige Ingenieur Werner Sobek vor vier Jahren weit über Deutschland hinaus bekannt. Eine Ausstellung in München gibt nun einen Überblick über die Bandbreite seines Schaffens, das sich mit Grundlagenforschung ebenso befasst wie mit Design, Tragwerksplanung und Architektur.

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Glashaus «R 128»

30. Juni 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Fünfzehn Räume bilden einen Turm

Die Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer gelten seit dem Kirchner- Museum in Davos als Protagonisten des zeitgenössischen Museumsbaus. Nahe der Côte d'Azur haben sie nun einen faszinierenden Neubau für die von Gottfried Honegger und Sybil Albers zusammengetragene Sammlung konkreter Kunst errichtet.

Die Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer gelten seit dem Kirchner- Museum in Davos als Protagonisten des zeitgenössischen Museumsbaus. Nahe der Côte d'Azur haben sie nun einen faszinierenden Neubau für die von Gottfried Honegger und Sybil Albers zusammengetragene Sammlung konkreter Kunst errichtet.

Am Ende des Rundgangs, der sich als kontinuierlicher Aufstieg durch fünfzehn Ausstellungsräume und über sechs Ebenen erweist, findet sich das einzige Objekt, das nicht eigentlich ein Kunstwerk ist: ein Pyritkristall, versehen mit der Beischrift «L'univers est écrit en langage mathématique». Dass sich in der reinen Form mehr offenbart als die ideale Geometrie, ist das Credo jener Kunstrichtung, für die Theo van Doesburg 1930 den Begriff «Art concret» geprägt hat. Nichts sei konkreter, nichts wirklicher als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche, und basierend auf den heroischen Kunstströmungen des beginnenden 20. Jahrhunderts, dem Suprematismus Malewitschs ebenso wie dem niederländischen Stijl, postulierte van Doesburg eine universelle Sprache als Grundlage einer neuen Kultur. In der Schweiz können Max Bill und Richard Paul Lohse als Hauptvertreter der konkreten Kunst gelten. Doch so sehr diese auch den Humus der Schweizer Kunst nach 1945 bildete, so sehr sollten Differenzen an die Stelle von Gemeinsamkeiten treten. Der Streit um die Interpretationshoheit führte zu Diadochenkämpfen, und die Intention des 1917 geborenen Künstlers Gottfried Honegger, seine eigene Sammlung konkreter Kunst zu einem umfassenden Stiftungsmuseum auszubauen, scheiterte am Widerstand der Berufskollegen oder ihrer Erben.

Architektur und Natur

Daher präsentiert Honegger, der zur zweiten Generation der Schweizer Konkreten zählt, die gemeinsam mit Sybil Albers-Barrier aufgebaute Kollektion seit 1990 in seiner südfranzösischen Wahlheimat. Domizil des Espace de l'Art concret ist das im Kern aus dem beginnenden 16. Jahrhundert stammende Schloss des unweit von Cannes gelegenen Städtchens Mouans-Sartoux. Dieses schien mit seiner ungewöhnlichen Dreiecksform und den runden Ecktürmen wie geschaffen für die geometrischen Werke der Konkreten. Indes erwiesen sich die Räumlichkeiten auf Dauer als zu klein, und nachdem 1998 durch Marc Bariani ein «Atelier pédagogique» errichtet worden war, konnte für die Sammlung am vergangenen Wochenende ein Neubau der Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer eingeweiht werden. Möglich geworden war der aus einem zweistufigen Architekturwettbewerb hervorgegangene Bau, weil Honegger und Albers- Barrier ihre Kollektion als Donation Albers- Honegger im Jahr 2000 an den französischen Staat übertragen hatten und dieser dafür den Neubau finanzierte.

Beim neuen Gebäude handelt es sich um ein vertikales Museum in Form eines Turms, der nordwestlich des Schlosses so am Hang placiert wurde, dass er von weitem gesehen schier unendlich zwischen den Bäumen aufragt, während das Volumen vom Park her villenartig wirkt und die Traufhöhe der Schlosstürme respektiert. Das Gelbgrün des Sichtbetonkörpers harmoniert mit der mediterranen Vegetation, bleibt aber erkennbar artifiziell. Immer wieder haben sich Gigon Guyer mit der Interferenz von Architektur und Natur beschäftigt: Beim Kirchner-Museum in Davos benutzten sie Glas in verschiedener Gestalt, das wie eine Transformation von Eiskristallen wirkt; die Betonkuben der Sammlung Oskar Reinhart in Winterthur wirken durch Beimischung von Pigmenten wie Sedimente; und beim 2003 fertig gestellten Ausbildungszentrum Appisberg oberhalb von Männedorf wählten die Architekten gemeinsam mit dem Künstler Harald Müller ein giftiges Grellgrün, das die Farben von Rasen und Blumen erst ins rechte Licht setzt.

Ausstellung auf sechs Ebenen

Der Grundriss des Museumsneubaus in Mouans-Sartoux ist annähernd quadratisch - doch Ausstülpungen, die sich in alle Richtungen erstrecken, machen aus dem aufragenden Kubus ein plastisches Volumen, das sich mit der Umgebung verzahnt. Von der Basis aus schrauben sich diese Annexe im Uhrzeigersinn empor: Die Zufahrt zu den tief liegenden Depots befindet sich im Norden. Dann folgt im Osten der Eingang zum Auditorium, im Süden das Foyer und schliesslich Richtung Westen eine zweigeschossige Auskragung der Ausstellungsbereiche. Die Idee der das Hauptvolumen erweiternden Formen wird auch auf der Ebene des Dachs verfolgt, aus dem die Oberlichter des überhohen letzten Saales wie ein Belvedere hervortreten.

Man betritt das neue Gebäude vom Park aus ungefähr in mittlerer Höhe durch den Annex des Foyers, der als brückenartiger Körper den Hang überspannt. Hier stehen Kasse und Verkaufstresen, doch mit Joseph Kosuths Lichtinstallation «These are the facts of the case» (1989) dient der Raum auch als Ausstellungsfläche. Um den Gebäudekern sind - jeweils um ein halbes Geschoss versetzt - die Ausstellungsebenen organisiert. Diese Split-Level-Lösung hat zur Folge, dass sich die drei der Sammlungspräsentation vorbehaltenen Etagen in sechs Ebenen gliedern. Vom Foyer aus steigt man rechts ein halbes Geschoss hinab in einen Raum mit Werken Honeggers und der Pariser Künstlerin Aurelie Nemours. Nach links hingegen führt der Weg durch die weiteren Geschosse bis in die hohe Oberlichthalle mit dem «Swiss Alpine Circle» von Richard Long. Der Parcours gibt mit Ausschnitten aus der 500 Werke umfassenden Schenkung Albers-Honegger - weitere Exponate sind im Château zu sehen - einen guten Überblick über die Entwicklung konkreter Kunst, wobei «Vorläufer» fehlen. Reeditionen von Möbeln Rietvelds können Arbeiten aus dem Umkreis des Stijl nicht ersetzen. Werke von Bill, Arp und Lohse stehen für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, Objekte von Carl André, Sol LeWitt und Donald Judd für den amerikanischen Minimalismus, Arbeiten von Olivier Mosset, Adrian Schiess, John Armleder oder Renée Levi für die jüngere Schweizer Kunst. Die Sicht auf das, was konkret ist und was nicht, ist massgeblich von Gottfried Honegger bestimmt; zweifellos wären längst nicht alle der vertretenen Künstler mit dem Etikett einverstanden.

Bauaufgabe Museum

Gigon Guyer haben für ein überaus persönliches Museum einen eindrücklichen Rahmen geschaffen. Die einzelnen Räume zeigen sich reduziert: grauer Boden, weisse Wände und Decken, geschosshohe Durchgänge, Leuchtstoffröhren als künstliche Lichtquellen. Aber die Architekten haben sich bewusst von der parasakralen Aura des «White Cube» ferngehalten. Hinsichtlich ihrer Proportionen sind die Räume bescheiden, aber nicht eng; es handelt sich eher um Zimmer denn um Säle. Dieser Eindruck wird durch die grossen zweigeteilten Fenster noch verstärkt, die Ausblicke in den Park und die Umgebung ermöglichen und deren unterschiedliche Anordnung die Fassade lebendig werden lässt. - Mit dem Kirchner-Museum haben Gigon Guyer 1992 eine Inkunabel der neuen Schweizer Museumsarchitektur geschaffen; das Kunstmuseum und die Erweiterung der Sammlung Oskar Reinhart in Winterthur, das Liner-Museum in Appenzell und das Museum Varusschlacht im niedersächsischen Kalkriese zeugen von ihrer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dieser Bauaufgabe. Bei aller formalen Zurückhaltung ist ihnen mit dem Turm in Mouans-Sartoux erneut ein Gebäude gelungen, das mit repetitiven Elementen eine faszinierende räumliche Vielfalt entstehen lässt.

Publikation: Espace de l'Art concret. Donation Albers- Honegger - Konkrete Kunst. Schenkung Albers-Honegger. Isthme Editions, Paris 2004. 288 S., Euro 40.-.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2004.06.30



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Donation Albers-Honegger

29. Juni 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Geborgenheit und Ordnung

In Architektenkreisen gelten die Niederlande als Vorposten der zeitgenössischen Baukunst. Doch ausgerechnet hier feiert eine spätpostmoderne Architektur neue Triumphe: Wohnanlagen haben die Form von Kastellen, und eine Siedlung bei Helmond entsteht in den Formen einer brabantischen Kleinstadt aus dem 17. Jahrhundert.

In Architektenkreisen gelten die Niederlande als Vorposten der zeitgenössischen Baukunst. Doch ausgerechnet hier feiert eine spätpostmoderne Architektur neue Triumphe: Wohnanlagen haben die Form von Kastellen, und eine Siedlung bei Helmond entsteht in den Formen einer brabantischen Kleinstadt aus dem 17. Jahrhundert.

Gemeinhin gelten die Niederlande als Musterland der zeitgenössischen Architektur. Die Bauten von UN Studio, Mecanoo oder Wiel Arets, die Projekte von MVRDV und NOX finden international Beachtung, viele prominente niederländische Architekturbüros sind inzwischen weltweit tätig, und in Rotterdam konnte Rem Koolhaas, ohne dessen Wirken der Boom des «Superdutch» kaum zu erklären wäre, unlängst im Vorfeld seines sechzigsten Geburtstags mit zwei Ausstellungen einen umfassenden Überblick über sein Gesamtwerk geben (NZZ 15. 4. 04). So wichtig die architektonischen Impulse auch sein mögen: Eine vorbehaltlose Idealisierung der niederländischen Baukunst ist schwerlich angebracht. Die Zersiedelung des Landes schreitet voran, und es sind keineswegs die aus Fachzeitschriften bekannten spektakulären Gebäude, welche das Bild prägen, sondern Bauten ohne jeden gestalterischen Anspruch. Daneben ist zu konstatieren, dass kaum einer der Protagonisten, welche für die Boomphase der niederländischen Architektur stehen, an inländischen Fakultäten unterrichtet. Am meisten aber überrascht eine neotraditionalistische Architektursprache, die sich zurzeit im Land grosser Beliebtheit erfreut.

Neue Burgen

In formaler Hinsicht läutete das innerstädtische Revitalisierungsmodell «De Resident» in Den Haag, mit dessen Planung 1988 begonnen wurde, den Retro-Trend ein. Zwischen dem Zentralbahnhof und dem Stadthaus von Richard Meier ist in den vergangenen Jahren nach einem Masterplan von Rob Krier sowie unter Mitwirkung von Sjoerd Soeters und Michael Graves ein innerstädtisch verdichteter Büro- und Wohnkomplex in bizarren spätpostmodernen Formen entstanden. Gerade in einem Land, das sich als Kunstprodukt zu verstehen schien und dessen architektonische Exponenten die Last des Geschichtlichen überwunden zu haben behaupteten, musste die Vergangenheitsbeschwörung erstaunen. Dies umso mehr, als sich die Postmoderne im internationalen Diskurs diskreditiert hatte, nachdem ihre irrlichternd-ironische Frühphase in der Sackgasse eines radikalen Eklektizismus gescheitert war.

Der zeitgenössische Trend zum Neohistorismus ist zweifellos als Krisenphänomen zu werten. Parallel zu Globalisierung und gesellschaftlichem Wandel restabilisiert sich das vorgeblich Vertraute, auch wenn es lediglich zu synthetischen Bildern gerinnt. Das Phänomen lässt sich in den postkommunistischen Staaten Osteuropas ebenso beobachten wie in den Siedlungen des «New Urbanism» der Vereinigten Staaten; in Deutschland mag man auf das Haus Bastian von Paul und Petra Kahlfeldt oder die Villa Gerl von Hans Kollhoff und Helga Timmermann verweisen, aber auch auf die grassierende Rekonstruktionsmanie.

Wie «De Resident» in Den Haag lehrt, fand der spätpostmoderne Neohistorismus in den Niederlanden sein Betätigungsfeld zunächst bei der Erneuerung der Innenstädte. Adolfo Natalini errichtete in historisierenden Formen nicht nur den Waag-Komplex auf dem kriegszerstörten Marktplatz von Groningen, sondern stampfte in Helmond rund um den Boscotondoplein mit seinen 120 Metern Durchmesser ein kulissenhaftes Plaza-Ensemble aus dem Boden, das aus Kulturzentrum, Bürokomplex, Kinocenter sowie 175 Apartments besteht. Noch erfolgreicher als Natalini ist Rob Krier, der durch seine IBA-Bauten in Berlin bekannt wurde und nach der Wende die Siedlung Kirchsteigfeld in Potsdam realisierte. Der Schwerpunkt des Schaffens von Krier und seinem Partner Christoph Kohl liegt inzwischen in den Niederlanden. Das umfangreichste der zahlreichen vom Berliner Büro aus betreuten Siedlungsprojekte ist Brandevoort bei Helmond, ein vollständig neuer Vorort, in dessen Mitte eine von Wassergräben umgebene «Veste» mit 600 Wohnungen realisiert wird. Tore, Türme und historisierende Ziegelsteinfassaden mit leicht variierenden Traufhöhen sollen das Bild einer mittelalterlichen Kleinstadt Brabants in Erinnerung rufen. Wie in den Niederlanden üblich, wurde der Rohbau in starkem Masse industrialisiert. Individualisierung entsteht durch die unterschiedlichen Fassaden und die - für niederländische Massstäbe - erstaunlich gut ausgeführten Werksteindetails. Brandevoort wirkt nicht billig, sondern steht für Wertbeständigkeit, Tradition und Kontinuität. Mit Geschäften und Schulen wollen die Planer einer monofunktionalen Schlafsiedlung vorbeugen, und in der Mitte der Veste errichten Krier und Kohl eine Markthalle wie aus dem 19. Jahrhundert.

Natürlich ist die autonome dörfliche Stadt eine Illusion, die der Lebenswirklichkeit ihrer Bewohner nicht entspricht. Aber Brandevoort, das auf die obere Mittelschicht zielt, ist äusserst erfolgreich. In Helmond, zu dem die synthetische Siedlung gehört, ist man stolz darauf, vermögendere Schichten in die Gemeinde zurückgeholt zu haben. Die «Veste» in Brandevoort steht nicht allein: In Almere, der geschichtslosen Stadt im Polder des IJsselmeers, lässt ein Projektentwickler eine «echte alte» Burg mit 46 Meter hohem Donjon errichten, die zukünftig als Hotel dient.

Populismus?

Noch bizarrer aber ist das Projekt De Haverleij nördlich von 's-Hertogenbosch: In der Wiesenlandschaft am Maasufer entsteht bis 2008 eine aus neun «Kastellen» und einer «Zitadelle» locker gefügte weitläufige Siedlung mit insgesamt 11 000 Wohneinheiten - gruppiert um einen Golfplatz, dessen Gestaltung ebenso wie das Landschaftslayout von Paul van Beek, einem früheren Partner im Büro «West 8», stammt. Jedes der Kastelle wird von einem anderen Architekturbüro realisiert, darunter Adolfo Natalini, Michael Graves, Claus en Caan und John Outram. Die Planer sehen in ihrem Projekt eine Kampfansage an den Flächenverschleiss der Streusiedlungen; doch nicht zuletzt in ökologischer Hinsicht ist De Haverleij fragwürdig. Eine Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr existiert nicht, und unter den «Burghöfen» befinden sich Tiefgaragen.

Erklären lassen sich die neuen Kastelle vor dem Hintergrund der Deregulierung des Wohnungsmarktes in den Niederlanden - und einer politisch veränderten Situation. Der vollständige Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsbau Mitte der neunziger Jahre, die Zerschlagung der bisherigen Wohnbauträger und die Verwandlung bisheriger Mieter in Eigentümer lassen die Nachfrage steigen nach Häusern und Wohnungen, die Wertbeständigkeit simulieren. Eine Mittelschicht, die sich von der Gefahr des Abstiegs bedroht sieht, favorisiert ein Leben in Sicherheit - das sich baulich in Form von Festungen und präindustriellen Siedlungsstrukturen darstellt. Nicht ohne Grund fand diese Haltung auf der politischen Ebene Niederschlag im Sieg des Rechtspopulisten Pim Fortuyn, der im Kampf gegen die niederländische Liberalität einen überraschenden Sieg über die etablierten Parteien errang. Zwar ist die Bewegung nach dem Tod des charismatischen Protagonisten marginalisiert, doch der neokonservative Roll-back dauert an: Rotterdam wird inzwischen von «Leevbar Rotterdam» («Lebenswertes Rotterdam») regiert, und «Leevbar Almere» hat unlängst das Projekt für ein Kunstmuseum in Almere platzen lassen, um die Gelder stattdessen in Sicherheitseinrichtungen zu investieren. Der Rezensent des renommierten «NRC Handelsblad» zog daraus in architektonischer Hinsicht folgende Bilanz: Nach den «Fuck the Context»-Gebäuden des Supermodernismus folge nun eine neokonservative «Fuck the Zeitgeist»-Architektur.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2004.06.29



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11. Juni 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Dekadenz auf dem Tisch

In einer Zeit, da ein neuer Hang zum Ornamentalen vorherrscht, gewinnt auch der Begriff der Dekadenz neues Interesse. Adolf Loos hatte die Befreiung vom...

In einer Zeit, da ein neuer Hang zum Ornamentalen vorherrscht, gewinnt auch der Begriff der Dekadenz neues Interesse. Adolf Loos hatte die Befreiung vom...

In einer Zeit, da ein neuer Hang zum Ornamentalen vorherrscht, gewinnt auch der Begriff der Dekadenz neues Interesse. Adolf Loos hatte die Befreiung vom Ornament als Kulturleistung gefeiert, aber nun taucht das Plakat für den Vortrag «Ornament und Verbrechen» selbst als Ornament auf einem Speiseteller auf, der im Princessehof Leeuwarden zu sehen ist, dem niederländischen Keramikmuseum. Unter dem Thema «Lekker Decadent» wurden hier Tafelgeschirre versammelt, die mit dem Thema Dekadenz in Verbindung zu bringen sind. Dabei unterscheiden die Kuratoren zwischen verschiedenen Strategien - konzeptuellen, subtilen, kritischen, makabren, unmässigen und extremen Formen der Dekadenz. Für Malewitschs konstruktivistisches Teeservice ist somit ebenso Platz wie für postmoderne Kreationen von Borek Šipek oder Ettore Sottsass, für die ironischen Arbeiten von Droog Design gleichermassen wie für die mit Pornografie oder Obszönität operierenden Werke einiger jüngerer niederländischer Gestalter. Zu den ausgeliehenen oder der eigenen Kollektion entnommenen Arbeiten treten Stücke, die als Auftragsarbeiten anlässlich von «Lekker Decadent» entstanden sind. Präsentiert werden die Exponate auf drei jeweils saalfüllenden Hügellandschaften - die eine geschichtet aus Porzellanscherben, die andere aus zersplittertem Glas, die dritte aus Bruchstücken von Spiegeln.

[ Bis 24. Oktober. Katalog: Lekker Decadent (englisch und niederländisch). Hrsg. Princessehof Leeuwarden. 010 Uitgeverij, Rotterdam 2004. 160 S., Euro 38.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.06.11



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04. Juni 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Archaik und Expressivität

Eduardo Souto de Moura, der wichtigste portugiesische Baukünstler der mittleren Generation, galt lange als Architekt des kleinen Massstabs. In der jüngsten Zeit konnte er eine Reihe grösserer und öffentlicher Bauten fertig stellen: vom skulpturalen Filmhaus in Porto bis hin zum spektakulären Fussballstadion von Braga.

Eduardo Souto de Moura, der wichtigste portugiesische Baukünstler der mittleren Generation, galt lange als Architekt des kleinen Massstabs. In der jüngsten Zeit konnte er eine Reihe grösserer und öffentlicher Bauten fertig stellen: vom skulpturalen Filmhaus in Porto bis hin zum spektakulären Fussballstadion von Braga.

Von Braga aus, der historischen Erzbischofsstadt im Norden Portugals, geht die Fahrt in nordwestlicher Richtung. Mauern und Häuser, gefügt aus massiven Granitblöcken, dem Baumaterial des Landes, säumen die Strasse. Und der wuchernden Vegetation mit ihren Eichen-, Kastanien- und Eukalyptushainen zum Trotz liegt doch ein Schleier in der Luft, der das Grün weniger satt aussehen lässt als anderswo in Europa. Seiner kolonialen Vergangenheit zum Trotz war Portugal immer ein armes Land, und der grosse Schritt nach vorne gelang erst nach dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1986. Kaum eine öffentliche Baustelle, die nicht von der EU mitfinanziert wird; und auch die grossen kulturellen Projekte wären ohne Mittel aus Brüssel nicht realisierbar gewesen. Die Schattenseite dieses Aufschwungs zeigt sich an der Peripherie der Städte, die aufgrund ungezügelten Wachstums binnen weniger Jahre ihre Kontur verloren haben.

Tradition und Moderne

Das ehemalige Kloster Santa Maria do Bouro liegt etwa 25 Kilometer von Braga entfernt, nahe der Grenze des Parque Nacional de Peneda- Gerês, des ältesten und grössten Nationalparks des Landes. Es handelt sich um eine im Kern romanische Anlage, die im Barock grosszügig erweitert wurde, später aber zur Ruine zerfiel. In diesen alten Gemäuern entstand zwischen 1989 und 1997 eine «Pousada», ein staatlich betriebenes Hotel - nach Entwürfen von Eduardo Souto de Moura (NZZ 5. 6. 98), dem bekanntesten Architekten der mittleren Generation in Portugal. 1952 in Porto geboren und dort auch ausgebildet, arbeitete er zunächst im Büro von Alvaro Siza, bevor er sich 1980 selbständig machte. In den Folgejahren wurde er vor allem durch eine Reihe von Einfamilienhäusern bekannt, in welchen sich die Klarheit der Formensprache Mies van der Rohes mit der lokalen Bautradition verbindet. So finden die für Nordportugal typischen Granitmauern zusammen mit gläsernen Fronten, schwebenden Betonplatten und freien Grundrissen.

Eine undogmatische Haltung zeigt sich auch beim Umbau des Klosters. Während Fernando Tavora, der 1923 geborene Vater der modernen portugiesischen Architektur, bei der Pousada Santa Marinha da Costa in Guimarães klar Alt und Neu voneinander differenzierte, wählte Souto de Moura in Santa Maria do Bouro den Weg der Fortschreibung: Archäologische Freilegungen und subtile Ergänzungen, die sich erst beim zweiten Blick als solche zu erkennen geben, führen zu einer archaischen Wirkung des Baus. Indem er auf die Wiederherstellung der Satteldächer verzichtete und das Klostergeviert mit einem Grasdach versah, gelang es dem Architekten, den Ruinencharakter zu bewahren. Moderne Baumaterialien verbinden sich auf geschickte Weise mit dem alten Bestand, etwa wenn das historische steinsichtige Mauerwerk mit einer Kassettendecke aus Stahlträgern und Platten überspannt ist.

In den vergangenen Jahren hat Souto de Moura zunehmend im grossen Massstab gearbeitet. Das imposanteste Bauwerk ist gerade fertiggestellt worden: das Stadion von Braga, die eindrucksvollste und zugleich ungewöhnlichste der sieben Arenen, die für die diesjährige Fussball- Europameisterschaft neu entstanden sind (NZZ 30. 12. 03). Neben dem Konzerthaus von Rem Koolhaas in Porto, das im Herbst eingeweiht werden soll, bildet es ein weiteres architektonisches Highlight des Jahres in Portugal. Das nördlich der Stadt gelegene Stadion bezieht gegenüber den «Hexenkesseln», wie sie Herzog & de Meuron in München und Peking planen, die Gegenposition: Das Spielfeld ist nicht ringsum von Zuschauerrängen umgeben, sondern nur auf den Längsseiten. Die Stirnseiten hingegen bleiben frei und erlauben den Blick in die Landschaft. Damit gelingt es Souto de Moura, die topographische Situation auf der stadtabgewandten Seite des Braga überragenden Monte Castro auszunutzen.

Um den Flächenverbrauch zu minimieren, wurde ein Teil des Bauplatzes in den Granitfelsen gesprengt. So ruht eine der Tribünen am Berg, wie man es von antiken Theatern kennt, während die andere als gewaltige Betonkonstruktion 45 Meter hoch in den Himmel ragt. Die weithin sichtbare Unterkonstruktion besteht aus parallel zueinander angeordneten Wandscheiben aus Sichtbeton, zwischen denen sich die Treppen emporwinden; kreisförmige Durchbrüche sorgen für seitliche Durchblicke. Verbunden sind die beiden Tribünen durch Stahlseile, die über die gesamte Fläche gespannt sind. An ihnen sind beiderseits des Spielfelds Verdachungselemente aus Beton aufgehängt, die mit den beiden Widerlagern zusammen ein statisches System bilden. Das Stadion von Braga ist ein puristisches Gebilde, da es aus der nackten, unverkleideten Konstruktion besteht. Gleichwohl wirkt es wie ein archaisches Monument.

Neue Stadtkanten

Auch am südlichen Ende von Braga ist Souto de Moura unlängst tätig geworden. Dabei handelte es sich um den seltenen Fall, dass ein Architekt zum grundlegenden Umbau seines eigenen Werkes aufgefordert wird. Zwischen 1980 und 1984 hatte Souto de Moura nahe der Hauptstrasse Richtung Porto als sein erstes eigenständiges Werk eine Markthalle errichtet. Doch die Entwicklung der Stadt verlief anders, und die Markthalle mit ihrem langen, von Betonstützen getragenen Dach erwies sich als deplaciert. Aus diesem Grund wurde aus ihr im Jahr 2001 ein Kulturzentrum: Souto de Moura liess das Betondach zum Teil demontieren und schuf entlang der die Halle durchmessenden öffentlichen Wegachse in den Relikten des Baus einzelne Räumlichkeiten für Cafés, Bibliothek und Unterrichtsräume. Hier und da ragen wie elegische Reminiszenzen einzelne Betonpfeiler der früheren Halle in die Höhe - Ruinenromantik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Angesichts der Unterteilung einer grossen Struktur in kleinmassstäbliche Nutzungseinheiten hat sich der Architekt denn auch auf Aldo Rossis Beschreibung der nachantiken Umnutzung des Diokletianspalastes von Split bezogen. Ein weiteres grossmassstäbliches Projekt von Souto de Moura ist die neue, 2002 eröffnete Strandpromenade von Matosinhos, einem an der Atlantikküste gelegenen Vorort von Porto. Auch hier hat sich die Siedlungszone in den vergangenen Jahren relativ unkontrolliert ausgebreitet, und so bestand die vorrangige Aufgabe darin, eine Stadtkante Richtung Ozean zu definieren und andererseits Platz für dringend benötigte Serviceeinrichtungen zu schaffen. Der Architekt bediente sich einer überaus klaren Form: einer granitgepflasterten Terrasse. Unter dem rigiden Rechteck von 740 Metern Länge und 19 Metern Breite befindet sich eine Tiefgarage. Verschiedene Baukörper - Segelschule, Restaurant, Diskothek - sind strandseitig an die Promenade angedockt. Souto de Moura konzipierte ein funktionales Bauwerk, das als Aussichtsbalkon Richtung Meer durch seine Grosszügigkeit überzeugt.

Wie es sich in versehrten städtischen Kontexten bauen lässt, bewies Souto de Moura mit dem 2003 eröffneten, nach dem 96-jährigen Altmeister des portugiesischen Films, Manoel de Oliveira, benannten Filmhaus in Porto. Das Gebäude befindet sich am Westrand der Stadt, oberhalb des an der Douro-Mündung gelegenen Vorortes Foz do Douro und inmitten eines von Spekulationsbauten der letzten Jahre geprägten Quartiers. Die Archivräumlichkeiten verbergen sich in dem mit Aluminiumplatten verkleideten Sockel des an einer Hangkante gelegenen Gebäudes.

Foyer und Auditorium nehmen das kleine Eingangsgeschoss ein. Darüber erhebt sich das bläulich gestrichene, durch seine polygonale Gestalt expressiv anmutende Obergeschoss mit Bibliothek und Besprechungsräumen. Wie die Objektive von Kameras treten die trichterförmigen Besprechungsräume aus der Fassade heraus. Angeordnet sind sie so, dass man von innen die beiden architektonisch missratenen Wohnhochhäuser auf der anderen Strassenseite nicht sehen kann. Stattdessen geht der Blick auf die Wasserflächen von Douro und Atlantik.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.06.04

22. Mai 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ein Monument der Moderne

Vor Jahren noch vom Abriss bedroht, konnte das «Parkhotel» von Hall in Tirol, eines der raren Zeugnisse für die Hotelarchitektur des Neuen Bauens, überzeugend restauriert werden. Erweitert wurde das historisch wertvolle Gebäude durch einen Hotelturm der in Wien tätigen Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck.

Vor Jahren noch vom Abriss bedroht, konnte das «Parkhotel» von Hall in Tirol, eines der raren Zeugnisse für die Hotelarchitektur des Neuen Bauens, überzeugend restauriert werden. Erweitert wurde das historisch wertvolle Gebäude durch einen Hotelturm der in Wien tätigen Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck.

Es war weder Adolf Loos noch Josef Frank oder Ernst Anton Plischke, sondern der weniger bekannte Lois Welzenbacher, der 1932 die zeitgenössische Architekturavantgarde Österreichs im Rahmen der legendären Ausstellung «Modern Architecture» des MoMA repräsentierte - und zwar mit einem Wohnblock in Innsbruck. Tatsächlich zählt der 1889 in München geborene und dort an der Technischen Hochschule unter Theodor Fischer ausgebildete Architekt, welcher seit 1922 in Innsbruck praktizierte, zu den Vertretern seines Berufsstands, die sich am konsequentesten mit dem formalen Repertoire des «Neuen Bauens» auseinandersetzten und doch zu einer unorthodoxen Haltung fanden. Das Haus Heyrovsky, das Welzenbacher 1932 bei Zell am See über einem durch zwei sich schneidende Kurven gebildeten Grundriss errichtete, zählt mit seiner dynamischen Eleganz zu den Meisterleistungen einer organisch verstandenen Moderne.


Moderne Hotels im Alpenraum

Schon ein Jahr zuvor war in Hall in Tirol ein anderes Hauptwerk des Architekten fertig gestellt worden: das «Parkhotel Seeber», eines der wenigen Beispiele zeitgemässer Hotelarchitektur der zwanziger und dreissiger Jahre im Alpenraum. Auch wenn die Ideologie der Moderne mit ihrer Forderung nach Licht, Luft und Sonne, ihrer Verwurzelung im Hygienediskurs und ihrem Leitbild des sportlich aktiven Menschen einer touristischen Neuorientierung nach der Belle Epoque durchaus entsprach, wagten - kaum anders als heute - nur wenige Hotelbetreiber den formalen Bruch mit der zum baulichen Klischee geronnenen Alpenidylle. Zu den Ausnahmen zählten um 1930 Arnold Ittens Doppelhotel «Alpina-Edelweiss» in Mürren, Emil Fahrenkamps Hotel auf dem Monte Verità in Ascona, Gio Pontis «Albergo Sportivo Valmartello» in Südtirol, Franz Baumanns Hotel «Monte Pana» auf der Seiser Alp, das Welzenbacher-Hotel in Hall sowie die gattungsmässig verwandten Bauten des jüngst vorbildlich restaurierten Kurhotels «Bella Lui» in Crans-Montana von Rudolf Steiger und Flora Steiger-Crawford oder des Zürcher Kurhauses von Rudolf Gaberel in Davos Clavadel.

Anders als Ponti oder Baumann indes realisierte Welzenbacher sein Projekt nicht in der Abgelegenheit des Hochgebirges, sondern in einem urbanen Kontext, unmittelbar nördlich des Altstadtkerns der sechs Kilometer flussabwärts von Innsbruck gelegenen Stadt Hall in Tirol. Das Kurhaus, das der Architekt Hans Illmer - auch er ein Schüler Theodor Fischers - 1930 in einer zwischen Neoklassizismus und Moderne oszillierenden Diktion errichtet hatte, stand für den Versuch der Stadt, als Thermalsolebad und Wintersportort neue Besucherschichten zu erschliessen; Welzenbachers direkt hinter dem Kurhaus gelegenes Turmhotel komplettierte ein Jahr später die touristische Infrastruktur.

Nach verschiedenen Umbauten setzte mit der Schliessung der Saline 1967 auch der Niedergang des Hotels ein. Dreissig Jahre später erwarben die Stadtwerke Hall den heruntergewirtschafteten Welzenbacher-Bau. Es ist dem unermüdlichen Engagement der Wiener Architekten Inge Andritz, Feria Gharankhanzadeh und Bruno Sandbichler zu verdanken, dass eines der bedeutendsten baulichen Zeugnisse aus der Zeit der österreichischen Ersten Republik bewahrt werden konnte und dem drohenden Abriss entging. Die Initiative «Lois Welzenbacher - eine Chance für Tirol» fand in Fachkreisen Gehör, aber auch in der Stadt Hall selbst, und so entschlossen sich die Stadtwerke Hall, im Sommer 2001 einen Wettbewerb auszuschreiben. Ziele waren die Sanierung und die Revitalisierung des (seit längerem als Veranstaltungszentrum genutzten) Kurhauses und des Welzenbacher-Hotels sowie die Ergänzung des Ensembles durch Räumlichkeiten, die den Betrieb eines Viersternehotels mit Konferenzzentrum ökonomisch tragfähig machen würden. Zur Ausführung kam indes massgeblich auf Initiative der Betreiber nicht der mit dem ersten Preis bedachte Entwurf von Gerold Wiederin und Andrea Konzett, sondern das zweitrangierte Projekte von Dieter Henke und Marta Schreieck.

Zweifellos hatte Wiederin mit seinem Konzept die architektonisch sensiblere Lösung vorgelegt: Die geforderten zusätzlichen Hotelzimmer und Funktionsräume sollten in einem separaten Baukörper gebündelt werden, der die Abfolge von Kurhaus und Parkhotel als dritter Solitär fortgesetzt hätte und nur unterirdisch mit diesem verbunden worden wäre. Die dadurch entstehenden betriebstechnischen Probleme führten schliesslich zur Entscheidung, den kompakteren Entwurf von Henke & Schreieck umzusetzen. Die Wiener Architekten nutzten eine eingeschossige, pavillonähnliche Struktur, welche Kurhaus und Welzenbacher-Hotel miteinander verbindet und sich nördlich von diesem zum neuen, von Konferenzräumen umgebenen Hotelfoyer weitet. Darüber erheben sich die sieben Geschosse eines leicht konischen, sich von Stockwerk zu Stockwerk weitenden Hotelturms, der mit seinen 25 Metern den Welzenbacher-Bau leicht überragt. Die eigentliche Glasfassade verbirgt sich hinter umlaufenden Lamellenringen; sie dienen als Brisesoleils, verleihen dem Gebäude aber auch eine einheitliche Optik und unterstützen seine geometrische Körperhaftigkeit. Trotz der Nähe zum restaurierten Hotelturm von 1931 erscheint der Ergänzungsbau nicht aufdringlich; vom Stadtkern aus gesehen wirkt er wie eine Folie, vor der sich das neu erstrahlende Weiss des alten Hotels abhebt.


Geschwungene Volumen

Mag die Doppelturmstrategie auch gewöhnungsbedürftig sein, mag die Einbindung des Hotels auf Erdgeschossebene auch den ursprünglichen Intentionen des Architekten widersprechen: Die Wiedergewinnung des Welzenbacher- Hotels in seiner früheren Gestalt ist ein Gewinn. Denn das Äussere war lediglich in verstümmelter Form über die Jahrzehnte gekommen und liess nur noch einen schwachen Abglanz des ursprünglichen Baus erkennen. Jetzt hat man die seitlich bis zu zweieinhalb Meter überstehenden Balkone rekonstruiert, die so versetzt an der West-, Süd- und Ostseite des Turms angeordnet sind, dass eine Spiralbewegung entsteht, welche das ohnehin leicht geschwungene Volumen in virtuelle Bewegung versetzt. Die Drehbewegung kulminiert in der nun ebenfalls rekonstruierten Dachterrasse.

Als ein strahlendes Fanal der Moderne erhebt sich der Turm von Welzenbachers Parkhotel nördlich der wohlerhaltenen Altstadt von Hall, und er wirkt höher, als er mit seinen sechs Geschossen und gut zwanzig Metern in Wahrheit ist. Die Weiternutzung erforderte die unvermeidlichen Eingriffe: So wurden aus jeweils drei Zimmern zwei, um Platz für Bäder zu schaffen. Grundsätzlich haben Henke & Schreieck all dies mit Geschick und Respekt getan. Zu den 24 Zimmern des Altbaus passt das klassisch-moderne Mobiliar, während die 35 Zimmer des neuen Turms auf angenehme Weise zeitgemässen Designer-Chic ausstrahlen. Geschosshohe Verglasung entschädigt hier für die Balkone, die sich nur am Altbau finden. Und die Ringsumorientierung des neuen Turms stört nicht, da sich in alle Richtungen attraktive Ausblicke ergeben: auf den Welzenbacher-Bau, auf die Altstadt von Hall, auf das Inntal und auf das Massiv der Nordkette.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.05.22



verknüpfte Bauwerke
Parkhotel, vormals Turmhotel Seeber

08. April 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Gebaute Symbiosen

Der japanische Architekt Kisho Kurokawa wird siebzig

Der japanische Architekt Kisho Kurokawa wird siebzig

Nicht dass Kisho Kurokawa heutzutage ohne Erfolg wäre - ganz im Gegenteil: Das Büro baut seit längerem weltweit. Und doch sicherte sich der am 8. April 1934 im japanischen Nagoya geborene Architekt seinen Platz in der Geschichte der Disziplin vornehmlich durch seine allerersten Bauten und Projekte. Früh kam er mit den Ideen des Metabolismus in Kontakt, zu deren wichtigsten Vertretern Kurokawa zu zählen ist. Der «Helix City Plan» von 1961 besteht in flexiblen Siedlungsstrukturen, die sich nach dem Vorbild der DNA-Spirale in den Himmel schrauben. Gebaut wurde von derlei Visionen der Metabolisten nichts, und so blieb nur der vergleichsweise bescheidene Abglanz, etwa in den von Kurokawa entworfenen Bauten für die Expo von Osaka 1970. Das berühmteste Werk des Architekten entstand nur zwei Jahre später: der Nakagin Capsule Tower im Tokioter Ginza-Viertel, eine Ikone der Architektur des 20. Jahrhunderts. Jede der 144 kistenartigen Wohnkapseln vereint auf engstem Raum Schlaf- und Arbeitsbereich sowie Kitchenette und Nasszelle.

Wie eine Reihe seiner japanischen Berufskollegen - zu denken wäre an Fumihiko Maki oder Arata Isozaki - hat Kurokawa die Radikalität seiner früheren Entwürfe gegen eine marktkonformere Ausrichtung getauscht, welche mitunter bedenkliche Nähen zu einer globalisierten Investorenarchitektur aufweist. Hierzu können eine Reihe grosser Business-Komplexe gezählt werden. Bedeutender als diese Bauten ist der Flughafen von Kuala Lumpur, der in den kommenden Jahren massiv erweitert werden soll. Das mit einer zeltartigen Schalenkonstruktion überdachte Gebäude interpretiert der Entwerfer als Wald - gemäss seinem Postulat einer Verbindung von Architektur und Natur. «Symbiose» ist ohnehin ein Zentralbegriff von Kurokawa, und er versteht darunter auch die Symbiose von West und Ost, von europäischer und fernöstlicher Tradition. Diese Symbiose zeigt sich am deutlichsten in der dichten Sequenz von Museen, die Kurokawa seit den siebziger Jahren errichten konnte.

Mit Rücksicht auf den umgebenden Wald wurde das Hiroshima Museum of Contemporary Art (1988) als eine niedrige, dorfartige Anlage erbaut, die sich um eine Rotunde gruppiert. Dabei kann man Reverenzen an die Baukunst der Edo- Zeit ebenso feststellen wie Inspirationen durch die abendländische Architekturgeschichte. Noch deutlicher wird Kurokawas Eklektizismus beim Wissenschaftsmuseum der Präfektur Ehime (1994), in dem Formen der Postmoderne mit dekonstruktivistischen Konzepten kombiniert sind. Die Vorliebe des Architekten für klare stereometrische Formen bestimmt auch die 1998 fertiggestellte Erweiterung des Van-Gogh-Museums in Amsterdam, des neben dem Pacific Building in der Pariser Défense wichtigsten Gebäudes von Kurokawa in Europa.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2004.04.08

02. April 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Filigrane Einbauten

Der Münchner Hauptbahnhof soll in den kommenden Jahren grundlegend transformiert werden: Das der Innenstadt zugewandte breit gelagerte Empfangsgebäude,...

Der Münchner Hauptbahnhof soll in den kommenden Jahren grundlegend transformiert werden: Das der Innenstadt zugewandte breit gelagerte Empfangsgebäude,...

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09. Januar 2004Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Mehr Farbe für die Industrie

Das in Berlin ansässige Büro Sauerbruch Hutton steht für eine Architekturauffassung, in der Funktionalität, Intelligenz und spielerische Lebendigkeit zusammenfinden. Den Durchbruch schaffte es mit einem Hochhaus und einem Forschungsgebäude in Berlin. Seine jüngsten Gebäude entstanden nun aber im Süden Deutschlands.

Das in Berlin ansässige Büro Sauerbruch Hutton steht für eine Architekturauffassung, in der Funktionalität, Intelligenz und spielerische Lebendigkeit zusammenfinden. Den Durchbruch schaffte es mit einem Hochhaus und einem Forschungsgebäude in Berlin. Seine jüngsten Gebäude entstanden nun aber im Süden Deutschlands.

Nur wenige in Deutschland ansässige Architekturbüros haben in den vergangenen Jahren auch international Anerkennung gefunden. Nicht, dass die Vertreter des Berufsstands keinen kommerziellen Erfolg hätten: Eine kritikfreie, sich als Leistungsschau gefallende Ausstellung über die chinesischen Aufträge des Büros von Gerkan, Marg und Partner im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe dokumentierte jüngst 18 in Planung befindliche Projekte, vom Business Center bis hin zur Stadt Luchao für 300 000 Einwohner. Die Perspektiven und Modelle aber zeigten Bauten, die man an anderer Stelle und von anderen Verfassern schon besser und überzeugender gesehen hat, und ähnlich verhält es sich vielerorts, wo deutsche Architekten tätig werden. Vertreter eines Neohistorismus, die besonders in Berlin auf eine Auftraggeberschaft neureicher Parvenüs stossen, sind für das Bild kaum repräsentativ, das eher durch eine Fortführung der diversen Spielarten der Moderne gekennzeichnet ist, selten hingegen mehr denn Mittelmass bietet.


Eleganz, Funktion und Spielfreude

Vielleicht ist es kein Wunder, dass die aus Norwich stammende Louisa Hutton und der in Konstanz geborene Matthias Sauerbruch an der Londoner Architectural Association diplomierten und einige Jahre in der britischen Kapitale tätig waren, bevor sie 1993 in Berlin das Büro Sauerbruch Hutton eröffneten. 1999 kamen Jens Ludloff und Juan Lucas Young als weitere Partner hinzu. In den späten neunziger Jahren errichtete das Büro zwei Gebäude, welche sich von der Provinzialität und Mediokrität eines auf Traufkante und Steinfassade fixierten Bauens in der neuen deutschen Hauptstadt abhoben: das amöbenhaft wirkende Photonik-Zentrum in Adlershof sowie die Erweiterung des GSW-Hochhauses in Kreuzberg (NZZ 3. 9. 99). Hier war Spielfreude am Werk und nicht Engstirnigkeit, Eleganz statt Starrsinn, Weltläufigkeit statt Mediokrität. Dabei nehmen die Architekten eine Haltung ein, die sich von der Beliebigkeit einer selbstgefälligen Ästhetik des L'art pour l'art ebenso weit entfernt weiss wie von der repetitiven Stupidität eines absolut gesetzten funktionalistischen Technizismus.

Bunte Farbstreifen sind gleichsam zum Markenzeichen des britisch-deutschen Architektenteams geworden. Als wollten sie Bruno Tauts Vision eines «farbigen Bauens» am Beginn des neuen Jahrtausends aufgreifen, realisierten sie in Magdeburg die «Experimentelle Fabrik», eine von der Universität und jungen Unternehmen genutzte Einrichtung für physikalische Grundlagenforschung (NZZ 21. 10. 03). Verwaltungstrakt und Experimentalhallen sind mit einer Haut aus gewelltem Aluminium überzogen; der wellige Überwurf wirkt mit seiner pastellfarbenen Pulverbeschichtung wie ein gespanntes Tuch in den Farben Pink, Orange und Silbergrau.

Eines der jüngsten Gebäude von Sauerbruch Hutton konnte im letzten Frühjahr im oberschwäbischen Biberach an der Riss, ungefähr vierzig Kilometer südlich von Ulm, übergeben werden. Wieder handelt es sich um ein Forschungsgebäude, in diesem Fall für das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim. Grund für den Neubau war der Wunsch der Firmenleitung, die beiden deutschen Standorte des global agierenden Unternehmensverbandes aus Gründen von Effizienz und Synergie klarer zu profilieren: Der Hauptsitz im rheinischen Ingelheim sollte fortan allein der Produktion dienen, das Zweigwerk in Biberach zum grössten der insgesamt fünf weltweit verteilten Forschungszentren ausgebaut werden. Für die von Ingelheim nach Oberschwaben zu verlegenden Forschungsgruppen «Zentrales Nervensystem» und «Genom» mit 110 Mitarbeitern waren neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Zur Verfügung stand für das neue Gebäude der pharmakologischen Forschung ein Bauplatz inmitten des ausgedehnten, über Jahrzehnte gewachsenen Firmencampus am Nordrand von Biberach. Beim Neubau von Sauerbruch Hutton handelt es sich um eine passgenaue Einfügung: Das neue Volumen erlaubt stufenfreie Übergänge zum Nachbargebäude, setzt die vorhandene Blockstruktur fort und basiert auf der maximalen Ausnutzung der Parzelle. Der strenge kubische Eindruck des sechsgeschossigen Körpers wird durch einen Knick in der Nordfassade leicht konterkariert, der durch die Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Baufluchten der Nachbargebäude bedingt ist.

Für die innere Organisation entwickelten die Architekten ein ebenso flexibles wie auf die Ansprüche der Nutzer zugeschnittenes Konzept, das aus Bürozonen, Laborbereichen und einem dazwischen befindlichen Bereich aus Atrien und Dunkelräumen besteht. Das markanteste Merkmal des Gebäudes stellt indes seine Fassade dar. Zweischichtig aufgebaut und durch Wartungs- und Fluchtgänge aus Gitterrosten getrennt, besteht sie aus Fensterbändern und Brüstungsfeldern sowie aus einer äusseren Glasschicht, die mit ihren vertikalen, automatisch gesteuerten Lamellen als Sonnenschutz fungiert, doch bei geschlossener Verglasung auch die Funktion eines thermischen Puffers übernimmt.

Hochrechteckige Felder verwandeln die Aussenhaut in ein homogenes Gefüge aus Glasplatten, die von Lage zu Lage halb versetzt sind. Die einzelnen Glasplatten wurden in Siebdrucktechnik mit einem zu 75 Prozent deckenden Punktraster bedruckt: Aubergine und Rot, Orange und Grün, Hellblau und Grau. Die unregelmässig über die Flächen verteilten Farben verdichten sich in gewissen Partien, so dass sie wie die verpixelt- unscharfe und damit nicht mehr identifizierbare Vergrösserung einer mikroskopischen Aufnahme wirken. Bei aller Buntheit tendieren die Farben nicht zum Grellen, sondern sind auf jenen Grundton gedeckten Graus abgestimmt, der die vorhandenen Bauten des Werkareals prägt und dennoch je nach Lichtsituation seinen Charakter moduliert; Farben sind Taten und Leiden des Lichts, wie es Goethe einmal formulierte. In einem von unspektakulär-ephemeren Bauten geprägten Ambiente ist eine Preziose entstanden, die gleichwohl nicht die Umgebung überstrahlt.


Gestapelte Farben

Ähnlich frappierend ist der Eindruck, den das neue Gebäude für den in Waldshut an der schweizerisch-deutschen Grenze ansässigen Sitzmöbelhersteller Sedus hinterlässt. Am drei Kilometer westlich des Firmensitzes gelegenen Produktionsstandort Dogern sollten Sauerbruch Hutton ein bestehendes, die Rheintallandschaft beherrschendes Hochregallager erweitern. Alt- und Neubau erhielten eine neue Fassadenhaut aus kleinen, bunt lackierten, längsrechteckigen Blechplatten. Schier endlos schichten sich die farbigen Balken übereinander, lassen das fenster- und massstabslose Volumen bei Sicht aus der Ferne zu einer allein grafisch gegliederten Fläche werden. Der Raster der Fassadenverkleidung evoziert das Bild des Schichtens - so, als handele es sich um einen gewaltigen Stapel aus Schachteln oder kleinen Containern. Doch je weiter man sich entfernt, desto stärker löst sich die Binnengliederung auf: Die einzelnen Farbflächen verlieren ihre Konturen und weichen einem neutralen Farbton, der sich erstaunlich gut in das waldige Grün der Schwarzwaldausläufer einfügt. Das ebenfalls von Sauerbruch Hutton entworfene Gebäude für die Entwurfsabteilung von Sedus soll zukünftig - auch formal - zwischen der kleinmassstäblich gegliederten Ortschaft Dogern und dem massigen Volumen des Hochregallagers vermitteln.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.01.09

05. Dezember 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Zurück zur Elbe

Der eben zu Ende gegangene Hamburger Architektursommer lenkt erneut die Aufmerksamkeit auf die Hansestadt, die sich sukzessive die Hafenareale aneignet. Die «Perlenkette» und die «HafenCity» gelten als die bedeutendsten Projekte.

Der eben zu Ende gegangene Hamburger Architektursommer lenkt erneut die Aufmerksamkeit auf die Hansestadt, die sich sukzessive die Hafenareale aneignet. Die «Perlenkette» und die «HafenCity» gelten als die bedeutendsten Projekte.

Das wichtigste städtebauliche und architektonische Thema in Hamburg stellt seit geraumer Zeit der Umgang mit den Hafenarealen dar, welche die Identität der Stadt über Jahrhunderte geprägt haben. Der systematische Ausbau des Hafens begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als infolge des Staatsvertrags mit Preussen die ersten Elbbrücken gebaut wurden, war der Weg frei für die Umgestaltung der Elbinseln in eine Abfolge von Hafenbecken; Hamburg avancierte zum Welthafen. Der wirtschaftliche Aufschwung blieb nicht ohne Folgen für die Innenstadt: Kontorhäuser, Geschäftsbauten und Hotels traten an die Stelle der noch kleinteilig-barock parzellierten Baustruktur. Allerdings war die Stadt der Kaufleute und Bürger seit je auf die Alster ausgerichtet, den seit dem Mittelalter aufgestauten Binnensee am Nordrand der Altstadt. Der Zollkanal trennte die an der Elbe gelegenen Gebiete des - für Nichtbefugte unzugänglichen - Freihafens von der Wohnstadt. Nach den verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wurde im Zuge des Wiederaufbaus die Trennung von Stadt und Hafen durch die neue Verkehrsschneise der Ost- West-Strasse zementiert.

Die Speicherstadt als Attraktion

Erhob sich der zu 80 Prozent zerstörte Hafen nach 1945 auch noch einmal wie ein Phönix aus der Asche, so unterliegen die gewaltigen Hafenflächen seit Mitte der siebziger Jahre dem Strukturwandel: Der Stückguthandel wurde durch den Container ersetzt, und damit erwies sich die grosse Anzahl vergleichsweise kleiner Hafenbecken als obsolet - der Hafen entwickelte sich in Richtung Westen. Wer vom idyllischen Elbstrand der Övelgönne aus auf das Containerterminal Waltershöft blickt, sieht das wie von Geisterhand getriebene Spiel riesiger Portalkräne, die binnen weniger Stunden Schiffe mit mehreren tausend Containern zu löschen in der Lage sind.

Hamburg sieht sich nun mit Problemen konfrontiert, die auch andere grosse Hafenstädte betreffen, ob Rotterdam oder Hongkong, London oder Boston. Einstige Hafenareale stehen zur Disposition, und die mittlerweile vom tertiären Sektor bestimmte Stadt hat die Chance, durch Umwandlung von Industriebrachen in Richtung Wasser zu wachsen. Zweifellos besteht hier für Hamburg ein grosses Potenzial: Nur wenige hundert Meter vom Hauptbahnhof entfernt befinden sich weitläufige, zur Bebauung freigegebene Flächen inmitten der Elbe und ihrer Seitengewässer. Dabei ist nicht zu übersehen, dass mit der neuen finanzkräftigen Klientel die noch bestehenden alten Nutzungen verdrängt werden. Dies betrifft vor allem die «Speicherstadt», den etwa 1,5 Kilometer langen Warenspeicherkomplex für Kaffee, Tee, Teppiche und Gewürze auf der Brookinsel zwischen Kehrwiederspitze und Sandtorhafen, der zwischen 1893 und 1912 auf dem Terrain eines niedergelegten Altstadtquartiers nach den historisierenden Plänen des Ingenieurs F. A. Meyer entstand.

Das grandiose Ensemble, das die Tradition des Backstein-Historismus der Hannover'schen Bauschule um Conrad Wilhelm Hase fortsetzt, stiess im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder auf Ablehnung; Gustav Adolf Platz, Autor des 1927 erschienenen Ergänzungsbandes zur zeitgenössischen Architektur der «Propyläen-Kunstgeschichte», sprach von einer sich austobenden Pseudogotik, der gegenüber erst der Hamburger Baudirektor Fritz Schumacher und - mit dem nahe gelegenen Chilehaus - der Architekt Fritz Höger den «Weg zur Gesundung» gefunden hätten. Inzwischen gilt die erst 1991 unter Denkmalschutz gestellte Speicherstadt als touristische Attraktion ersten Ranges: In den niedrigen Lageretagen haben sich daher eine Reihe von Museen eingerichtet, ob der «Hamburg Dungeon» oder «Spicy's Gewürzmuseum». Noch ist die Speicherstadt grösster Lagerplatz der Welt für Orientteppiche. Doch dessen Tage sind gezählt: Die (landeseigene) Hafengesellschaft HHLA als Eigentümerin des citynahen Ensembles weiss, dass sich mit der Vermietung der Geschosse als Büroflächen weitaus mehr Einnahmen erzielen lassen als mit Lagerraum; den Teppichhändlern wird die Verlängerung der Mietverträge verweigert. Um Licht in die tiefen Geschosse zu bringen, ist die weitgehende Zerstörung der inneren Tragstruktur bei der Konversion in Zukunft unvermeidlich.

Eine Perlenkette am Fluss

Verglichen mit anderen Städten begann Hamburg spät mit der Revitalisierung der wassernahen Flächen. Das zweite Hamburger Bauforum versammelte im Jahr 1985 eine Reihe internationaler Architekten, um Ideen für die Neugestaltung des sieben Kilometer langen nördlichen Elbufers zwischen den Norderelbbrücken im Osten und dem Kühlhaus Neumühlen am Rande Altonas im Westen zu entwickeln. Beteiligt waren der spanische Postmodernist Manolo Nuñez, aber auch Peter Cook, Will Alsop und Zaha Hadid.

Die Visionen sind inzwischen der Realität gewichen, und die «Perlenkette» neuer Bauten, die sich vom Fischmarkt in Altona bis zum umgebauten Kühlhaus in Neumühlen hinzieht, ist nahezu komplett. Am überzeugendsten wirkt der Bereich um den Holzhafen, also das östliche Ende des Ensembles. Alsop & Störmer haben hier das ehemalige Stadtlagerhaus von 1880 mit einem viergeschossigen Aufsatz aus Ateliers und Lofts ergänzt, gegenüber ist in einer ehemaligen Mälzerei das Design-Kaufhaus «Stilwerk» eingezogen. Westlich anschliessend wurde durch den Rotterdamer Kees Christiaanse und sein Kölner Partnerbüro ASTOC ein mächtiges Ziegelsteinvolumen realisiert, das dank seinen grossformatigen Durchbrüchen und Aussparungen skulpturalen Charakter annimmt. Ein zweites Gebäude dieser Art sowie ein gläserner 16-geschossiger Wohnturm in kristalliner Form sollen folgen.

Ihren Abschluss findet die Perlenkette mit vier U-förmigen Bürobauten, die auf dem Hochwasserdeich vor dem Geesthang in Neumühlen entstanden sind. Vier Architekturbüros lieferten die Entwürfe, die das starre Grundschema modifizieren: BHPL, Antonio Citterio, Grüntuch & Ernst sowie Bothe Richter Teherani (BRT). Die für das vielbeschäftigte Hamburger Team BRT charakteristische Mischung aus technoiden und expressiven Elementen zeigt auch eine wenige hundert Meter flussaufwärts gelegene Siedlung am Hang, die einmal für «Starter der Medienbranche» gedacht war. Die Zielgruppe existiert nicht mehr, und bei den vier hochpreisigen Bürohäusern in Neumühlen stehen die meisten der Etagen leer.

Pläne für die «HafenCity»

Auch beim umfangreichsten städtebaulichen Projekt Hamburgs, der «HafenCity», bedarf es angesichts der derzeitigen Konjunkturlage wohl eines langen Atems. Südlich und östlich der Speicherstadt werden in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs 155 Hektaren einstiger Hafenanlagen neu bebaut: Die Innenstadt soll sich dadurch um 40 Prozent vergrössern. Den städtebaulichen Wettbewerb des Jahres 1999 gewannen Kees Christiaanse und ASTOC, gemeinsam mit der in der Hansestadt ansässigen Architektengruppe Hamburgplan. Den Gewinnern war es gelungen, eine explizit städtische Struktur zu entwickeln, die sich phasenweise - von Westen nach Osten - realisieren lassen könnte. Vergleicht man das Konzept mit demjenigen, welches das niederländische Architekturbüro West 8 für die Inseln Borneo und Sporenburg im östlichen Hafengebiet von Amsterdam entworfen hat, so wirkt es mit seinen Strukturen aus Blockrandbebauungen und Stadtvillen vergleichsweise konventionell und etwas starr. Einer der Vorteile indes besteht darin, dass sich der Entwurf leicht in Teilbereiche zerlegen lässt, für die einzelne Bebauungspläne ausgeschrieben werden. In den vergangenen Jahren hatte die Stadt vor allem auf die Olympischen Spiele 2012 gesetzt - doch mit der Portierung Leipzigs seitens des nationalen olympischen Komitees wurde in diesem Frühjahr den Träumen der Hamburger ein Ende bereitet.

Unsicher ist die Zukunft des Quaispeichers A, eines grossen Ziegelsteinbauwerks über trapezoidem Grundriss, das der Architekt Werner Kallmorgen in den sechziger Jahren errichtete. In einem Wettbewerb für einen «MediaCityPort» hatte sich vor zwei Jahren das Amsterdamer Team Benthem Crouwel gegen Dominique Perrault und Gigon Guyer aus Zürich durchgesetzt. Gemäss ihrem Konzept wird der Quaispeicher fast völlig zerstört und durch eine geknickte Hochhausscheibe akzentuiert. Als Alternative zu diesem Projekt hatte eine private Investorengemeinschaft in diesem Sommer einen Entwurf für eine Philharmonie der Architekten Herzog & de Meuron präsentiert, den Quaispeicher zu erhalten und auf ihm eine gläserne Zeltlandschaft mit Konzertsälen, Hotel und Luxuswohnungen zu errichten (NZZ 4. 7. 03). Leider ist die Stadt bisher nicht auf das Angebot eingegangen, das Hamburg ein exzeptionelles Beispiel zeitgenössischer Architektur bescheren könnte.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.12.05



verknüpfte Bauwerke
HafenCity Hamburg

01. Dezember 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ein brodelnder Hexenkessel des Konsums im Paillettenkostüm

Tausende von schimmernden Aluminiumscheiben bilden die Aussenhaut des Warenhauses Selfridges in Birmingham. Nach kleineren Projekten ist dem Londoner Architektenteam Future Systems mit einem der spektakulärsten zeitgenössischen Bauten in England endlich der wirklich grosse Wurf gelungen.

Tausende von schimmernden Aluminiumscheiben bilden die Aussenhaut des Warenhauses Selfridges in Birmingham. Nach kleineren Projekten ist dem Londoner Architektenteam Future Systems mit einem der spektakulärsten zeitgenössischen Bauten in England endlich der wirklich grosse Wurf gelungen.

Birmingham besitzt ein Problem mit seinem Image: Es gibt für überzeugte Londoner ebenso wie für Englandreisende eigentlich keinen einsichtigen Grund, die zweitgrösste britische Stadt aufzusuchen. Birmingham, die Millionenstadt, einst Zentrum der britischen Schwerindustrie, leidet seit Jahrzehnten unter dem wirtschaftlichen Strukturwandel. Das Stadtbild ist wenig attraktiv: kein Schloss, kein Fluss, kein Hafen - nichts also, was eine unverwechselbare Atmosphäre garantierte. Und die Züge, die Birmingham von London Euston aus in zweistündiger Fahrt ansteuern, sind überteuert und oft verspätet.

Birminghams Hauptbahnhof, die New Street Station, lässt sich als Resultat jener Geringschätzung verstehen, welche Stadtplaner in Grossbritannien lange Jahre gegenüber dem Schienenverkehr an den Tag legten. Denn der Bahnhof ist im Gefüge der Stadt unsichtbar, und der unterirdische Haltepunkt besitzt den Charme einer verwahrlosten U-Bahn-Station. Über die Rolltreppen gelangt man auch nicht in eine Empfangshalle, sondern in ein Shopping Centre, um dann irgendwo einen Ausgang zur Innenstadt zu finden. Allerdings ergiesst sich der grössere Menschenstrom nicht in diese Richtung, sondern nach Osten, wo ein noch grösserer Einkaufszentrum anschliesst, das «Bull Ring Centre». An seinem östlichen Ende ist mit der Birminghamer Filiale des Londoner Warenhauses Selfridges eines der spektakulärsten Werke der zeitgenössischen britischen Architektur entstanden.

Schon an der letztjährigen Architekturbiennale in Venedig hatte das Projekt des in London ansässigen Büros Future Systems Aufsehen erregt. Beinahe massstabslos erhebt sich der geschwungene Baukörper an der Kante des nach Süden hin abfallenden «Bull Ring»-Geländes. Denn die Aussenhaut des Gebäudes ist über und über mit leicht konvexen Aluminiumplatten besetzt - insgesamt sollen es 15 000 Stück sein. Die kreisförmigen, matt schimmernden Elemente vollziehen die Wellen und Krümmungen des Bauvolumens nach, und je nach Lichtsituation beginnt das Gebäude zu gleissen, zu strahlen, zu glühen. Wenige Öffnungen durchbrechen den silbrigen Schuppenpanzer des Reptils: einige blasenartige Fenster an der - selbstverständlich gerundeten - Ostecke, ein rüsselartiger Übergang zum Parkhaus im dritten Obergeschoss und zwei Eingänge auf der Seite der abgetreppten Piazza im Südwesten. Magisch und verheissungsvoll wirkt das Warenhaus. Die Aussenhaut der Stahlkonstruktion besteht aus Spritzbeton, in Yves-Klein-Blau gestrichen, in welchem die Aluminiumpailletten mit ihren 60 Zentimetern Durchmesser verankert wurden. Als Inspiration diente den Architekten Paco Rabannes berühmtes Metallkleid.


Krise der Warenhäuser

Der 1937 geborene tschechische Emigrant Jan Kaplicky gründete Future Systems in London 1979. Mit biomorphen Formen und experimentellen Projekten wurde das Büro bekannt, dem 1989 die Britin Amanda Levete als Partnerin beitrat. Der praktische Erfolg indes stellte sich erst in den vergangenen Jahren ein: In London realisierte Future Systems die muschelartige Pressetribüne auf dem Lord's Cricket Ground und eine filigrane Brücke in den Docklands. Mit Selfridges, dem bisher grössten Projekt, ist dem Team nun ein grandioser Wurf gelungen: Birmingham erhält mit ihm nicht nur ein spektakuläres Wahrzeichen; auch den Typus des Warenhauses hat Future Systems neu definiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg büssten die grossen innerstädtischen Warenhäuser - architektonisch lediglich als hermetische Kisten ausformuliert - allenthalben viel von ihrer früheren Aura ein. Zunächst wurde aus den USA der Typus der an der Peripherie der Städte errichteten Shopping Mall importiert, dann folgte in den achtziger Jahren das Shop-in-Shop-Kaufhaus. Die Grundlage hierfür bildete ein gewandeltes Kaufverhalten: Entsprach die hermetische Box des Warenhauses der sechziger und siebziger Jahre einem Verständnis des Konsums als blosser Bedürfnisbefriedigung, so avancierte mit dem Aufleben eines neuen Hedonismus der Akt des Einkaufens zum Erlebnis.

Dieser mit einer verstärkten Markenorientierung der Kunden verbundene Trend hält bis heute an. Er hat dazu geführt, dass eine architektonische Handschrift beim Shop Design heute wichtiger ist denn je. Die «Epicenter Stores» für Prada, die Rem Koolhaas in New York und Herzog & de Meuron in Tokio eingerichtet haben, sind der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die in den ausgehenden achtziger Jahren mit den minimalistischen Boutiquen von David Chipperfield in London begann. Zu dem Konzept, hochwertige Waren in einem puristischen Ambiente zu inszenieren - der Trendforscher Matthias Horx sprach einmal treffend von «Luxese» -, trat indes bald die Alternative, die verführerische Präsentation der Produkte in Interieurs von einer bisher ungewohnten Formenopulenz. Ohne Zweifel wurde das Büro Future Systems zu einem Vorreiter dieser Entwicklung: Der wie eine Plasticgrotte eingerichtete Blumenladen «Wild at Heart» im Londoner Stadtteil Notting Hill wurde zum Kultgeschäft der neunziger Jahre.


Phantastische Kontraste

Biomorphe Formen sind es auch, welche die Filialen von Rei Kawakubos Label «Comme des Garçons» in Tokio und New York prägen, und seit 2000 ist Future Systems für die Mailänder Firma Marni tätig. Kräftige Farben, nierenförmige Stahltische und baumartig in den Raum geschwungene Kleiderständer sind die Grundelemente des Shopkonzepts, das in Mailand, in der Londoner Sloane Street - und in einem kleinen Marni-Ableger im Selfridges an der Oxford Street realisiert wurde. Mit ambitionierten Bauprojekten will nun Selfridges-Chef Vittorio Radice seiner Firma zur Expansion verhelfen. Das Londoner Stammhaus wird derzeit durch David Adjaye einem Facelifting unterzogen, für Glasgow liegen von Toyo Ito Pläne einer neuen Filiale vor. So ungewohnt Form und Fassade des neuen Warenhauses in Birmingham auch sein mögen: Das neue Selfridges harmoniert in wunderbarem Kontrast mit der benachbarten neogotischen Kirche St. Martin's in the Bull Ring. Und es überstrahlt, glücklicherweise, den Rest des Bull Ring Centre, das in den vergangenen Jahren in der Formensprache einer verspäteten Investoren- Postmoderne aus dem Boden gestampft wurde. Es ist zu bedauern, dass das alte, 1964 eingeweihte Bull Ring Centre - die erste Indoor-Mall nach amerikanischem Vorbild im Königreich - bis auf ein zylindrisches Bürohochhaus dem Abriss zum Opfer gefallen ist. Denn den Weg durch die Kakophonie des neuen Shopping-Komplexes kann man nur als architektonischen Höllentrip einstufen. Umso mehr verdient das neue Selfridges Anerkennung: Es ist der Beweis dafür, dass es auch anders geht. Und dass die architektonische Gestaltung nicht bei der Hülle enden muss.

Im Gebäudeinnern realisierte Future Systems das lichtdurchflutete, nierenförmige Atrium mit seinen sich kreuzenden Rolltreppen, einen zweiten Erschliessungsschacht, den Foodstore mit seinen amöbenartigen Tischen sowie die Kinderabteilung im Erdgeschoss. Für die weiteren drei Geschosse waren andere verantwortlich. Nicht alles überzeugt gleichermassen, doch immer wieder findet man überraschende Einfälle - sei es der klischeehaft rot ausgeleuchtete Dessous-Verkaufsbereich oder die mit schallschluckenden Schaumstoffverkleidungen und grünen Zylinderleuchten ausgestattete Musikabteilung. Nicht die Idee der Transparenz, wie sie Jean Nouvel bei den Galeries Lafayette in Berlin zu realisieren suchte, leitete die Architekten, sondern der Gedanke eines höhlenähnlichen Shopping-Universums. Entstanden ist ein brodelnder Hexenkessel des Konsums im frivolen Paillettenkleid.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2003.12.01



verknüpfte Bauwerke
Warenhaus Selfridges

10. November 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Fiat Flux

Das Hauptinteresse des New Yorker Architekturbüros Asymptote gilt den Wandlungen, welchen das Verständnis von Baukunst im digitalen Zeitalter unterliegt. Idee und Experiment sind für die Entwürfe des Teams wichtiger als die physische Materialisierung, wie eine grosse Ausstellung im Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam zeigt.

Das Hauptinteresse des New Yorker Architekturbüros Asymptote gilt den Wandlungen, welchen das Verständnis von Baukunst im digitalen Zeitalter unterliegt. Idee und Experiment sind für die Entwürfe des Teams wichtiger als die physische Materialisierung, wie eine grosse Ausstellung im Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam zeigt.

In den vergangenen Jahren haben sich die Produktionsbedingungen für die Architektur grundlegend geändert. An die Stelle von Zeichenstift und Reissbrett ist die Bildschirmoberfläche des Computers getreten. Natürlich lassen sich auch beim digitalen Entwerfen Ergebnisse erzielen, die jenen des traditionellen Zeichnens ähneln. Mehr und mehr werden indes die Potenziale erkannt, welche die neuen Arbeitstechniken bieten: Blobartige biomorphe Gebilde, welche heute den architektonischen Trend weltweit bestimmen, wären früher nur schwer zu berechnen und zu konstruieren gewesen. Im Zeitalter neuer Möglichkeiten gilt es zunächst zu experimentieren, und so überschwemmen neo-organische Architekturgebilde die Architekturseminare an den Hochschulen. Dabei stellt sich bei einigen Protagonisten der neuen Entwurfsverfahren - beispielsweise bei Greg Lynn - der Verdacht ein, dass sich die Innovationen letztlich auf das Formale beschränken: Blütenhäuser und Quallenbauten treten an die Stelle von Würfel und Box.


Formen in Bewegung

Das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) in Rotterdam gibt nun dem in New York praktizierenden Team Asymptote die Gelegenheit, sein Werk und sein Denken erstmals in Europa im Rahmen einer grossen monographischen Ausstellung zu präsentieren. Die 1959 geborene Kanadierin Lise Anne Couture und der ein Jahr ältere, aus Kairo stammende Hani Rashid gründeten das Architekturbüro 1988. Bekannt wurde Asymptote allerdings weniger durch realisierte Bauten als durch visionäre Entwürfe - und durch die langjährige Lehrtätigkeit an der für den internationalen Architekturdiskurs massgeblichen Columbia University New York. So gelten Couture und Rashid heutzutage als die führenden Theoretiker und Protagonisten des digitalen Entwerfens.

Welche Wegstrecke das Asymptote-Team in den 15 Jahren seines Bestehens zurückgelegt hat, zeigt sich eindrucksvoll anhand des im Jahr der Bürogründung entstandenen Projektes «Steel Cloud», das gleich zu Beginn der Ausstellung umfassend dokumentiert wird: Der Vorschlag für eine Überbauung des West Hollywood Highway in Los Angeles mit Theatern, Kinos, öffentlichen Plätzen und diversen Wegesystemen zeigt eine gerüstartig-dekonstruktive Struktur, die noch stark an die Formensprache von Daniel Libeskind erinnert, für den Rashid zuvor tätig gewesen war. Das Thema der Bewegung, das in «Steel Cloud» anklang (einem Gebäude, das laut Rashid 8,5 Sekunden bei einer Geschwindigkeit von 65 Meilen pro Stunde existiert), zieht sich wie ein roter Faden durch das Œuvre von Asymptote. Es bestimmt den Entwurf für das BMW-Center in München, der aus den zu umbauten Raumhüllen transformierten Kurven einer Teststrecke generiert zu sein scheint, aber auch die amorphe Gebäudelandschaft des Mercedes-Museums für Stuttgart. Daneben ist es immer wieder die Welt der Flugzeuge, welche die Architekten inspiriert - als eines der Beispiele kann der Pavillon «Hydrapier» gelten, der anlässlich der Gartenbauausstellung «Floriade» vor zwei Jahren in der niederländischen Gemeinde Haarlemmermeer errichtet wurde (NZZ 6. 9. 02). Die aerodynamischen Formen der im Polderland in eine Wasserfläche hineinragenden Stahlstruktur verweisen auf den nahe gelegenen Flughafen Schiphol.

Nach Thom Mayne, Daniel Libeskind und Philip Johnson hat sich nun auch Asymptote die sperrige grosse Halle des NAI mit einer ebenso aufwendigen wie spektakulären Installation nutzbar gemacht. Organisch geformte Rippen, die sich über dem Grundriss eines Quadratrasters schneiden, bilden eine gerüstartige Struktur. Diese wölbt sich über das Zentrum der Ausstellung. Es entstehen Kojen und Galerien für die Präsentation der einzelnen Arbeiten; die Modelle werden auf Sockeln präsentiert, die aus dicht nebeneinander stehenden Blechscheiben konstruiert wurden. Seitlich schliessen sich Kabinette an, in welchen auf Projektionen beruhende Arbeiten zu sehen sind, darunter die auf der letztjährigen Documenta ausgestellte Installation «Flux 3.0». Auf einen länglichen und rotierenden, an einen Knochen erinnernden, aber laut Angaben von Asymptote aus Autoformen entwickelten Körper wird ein endloser Strom von Bilddaten projiziert, welche Ausschnitte aus der Skyline globalisierter Metropolen zeigen. Ohne Zweifel ist die Installation, die sich dank seitlicher Verspiegelung des dunklen Kabinetts endlos fortzusetzen scheint, eindrucksvoll; ob sie hinsichtlich ihrer Aussagekraft mehr bietet als arbiträren digitalen Ästhetizismus, bleibt indes fraglich. Auch eine Reihe anderer Arbeiten transzendieren den engeren Bereich des architektonischen Entwurfs und nähern sich dem Bereich freier Kunst: die «B.Scapes», «I.Scapes» und «M.Scapes», computergenerierte Studien, welche Elemente von Körpern (Body), Bildern (Image) oder Bewegung (Motion) verfremdend aufgreifen und zu neuen Gebilden formen. Diese digitalen Bilder dienen aber zugleich als Reservoir für die architektonische Formgebung, wie der aus einem «M.Scape» unmittelbar abgeleitete Entwurf für den Wiederaufbau des World Trade Center als «Twin Twins» zeigt.


Real und virtuell

Flux, was nicht zufällig an Fluxus erinnert, ist einer der Lieblingsbegriffe von Rashid und Couture und kennzeichnet ein Vorgehen, das Virtualität und Realität zu mischen sucht. Insofern ist es charakteristisch, dass es sich bei vielen realisierten Objekten des Teams um Pavillons handelt, die wahlweise als kleine Architektur oder als grosses Modell zu verstehen sind. Die ersten beiden Versionen von Fluxspace wurden im Jahr 2000 am California College of Arts and Crafts sowie auf der Architekturbiennale Venedig präsentiert; aus den kokonartigen Formen entstand schliesslich ein flexibles Büroarbeitssystem für die Firma Knoll, bei dem gekurvte semitransparente Elemente die eiähnliche Umhüllung des Arbeitsplatzes erlauben. Das Oszillieren im energetisch aufgeladenen Raum zwischen Theorie und Praxis, Realität und Virtualität, Kunst und Architektur macht den Reiz der Arbeiten von Rashid und Couture aus. Die physische Realität der Architektur ist nur eines, aber keineswegs das vorrangige Ziel ihres Schaffens, das verschiedene Medien kombiniert. Ein Entwurf steht für Asymptote im Spannungsfeld von Idee und Experiment und führt nicht notwendigerweise auf die Zielgerade der Materialisierung.


[Bis 18. Januar 2004. Der Führer durch die Ausstellung kostet Euro 2.-. Ausserdem liegen vor: Hani Rashid und Lise Anne Couture: Flux. Phaidon Press, London 2002. 240 S., Euro 59.95. - Greg Lynn und Hani Rashid: Architectural Laboratories. NAI Publishers, Rotterdam 2002; 178 S., Euro 28.50.]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2003.11.10

07. November 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Modular mit runden Ecken

Seit ihrer «Entdeckung» durch Giulio Cappellini 1998 zählen die aus der Bretagne stammenden Brüder Ronan und Erwan Bouroullec zu den Shooting Stars der internationalen Designszene. Nach der Gestaltung des APOC-Shops für Issey Miyake zeigt ihr Bürokonzept «Joyn», wie sich Modularität und Individualität versöhnen lassen.

Seit ihrer «Entdeckung» durch Giulio Cappellini 1998 zählen die aus der Bretagne stammenden Brüder Ronan und Erwan Bouroullec zu den Shooting Stars der internationalen Designszene. Nach der Gestaltung des APOC-Shops für Issey Miyake zeigt ihr Bürokonzept «Joyn», wie sich Modularität und Individualität versöhnen lassen.

Lange Zeit schien die französische Designerszene vollkommen von Philippe Starck dominiert zu sein. Doch in den letzten Jahren gerieten einige jüngere Gestalter ins Rampenlicht, die inzwischen internationale Reputation geniessen: Christophe Pillet gehört dazu, Matali Crasset, deren dreiteilige Badinstallation für Dornbracht auf dem letzten Designer's Saturday in Langenthal zu sehen war, vor allem aber die 1971 und 1975 bei Quimper geborenen Brüder Ronan und Erwan Bouroullec.


Karrieresprung

Ronan Bouroullec studierte zunächst Industriedesign, dann Möbeldesign an der Pariser Ecole nationale supérieure des Arts décoratifs. Durch ein staatliches Stipendium unterstützt, arbeitete er nach dem Abschluss selbständig, bis ihm Giulio Cappellini den internationalen Durchbruch ermöglichte: Der italienische Produzent hatte auf einer Messe 1998 in Paris Ronans «Modular Kitchen» entdeckt: ein Metallgerüst, das mit Aufsätzen, Becken und Ablagen versehen wird und sich somit der jeweiligen Wohnsituation anzupassen vermag. Die für Cappellini entwickelte und auf der Mailänder Möbelmesse des Jahres 2000 präsentierte aufgebockte Raumzelle «Lit Clos sleeping cabin», eine Mischung aus Hochbett, Baumhaus und Hamsterkäfig, ist eine Antwort auf sich verändernde Lebensweisen - die Schlafkoje kann jene fast romantische Intimität gewähren, deren es inmitten einer loftartigen Raumstruktur bedarf.

Die seit 1998 gemeinsam tätigen Brüder Bouroullec gehören zu den ständigen Mitarbeitern der Firma Cappellini, für die sie so unterschiedliche Produkte wie ein Sofa, einen (deutlich an Jasper Morrison erinnernden) Stuhl und ein modulares Präsentationssystem schufen. Inzwischen arbeiten sie aber auch für andere renommierte Firmen wie Habitat, Authentics, Ligne Roset oder Domeaux & Pères. Neben dem Einzelobjekt gilt ihr Interesse zunehmend dem Interior Design. Nach einem Büro für Hedi Slimane, der die Herrenlinie für Christian Dior entwirft, realisierten sie die Inneneinrichtung des Pariser Shops von Issey Miyakes APOC-Label. Die Idee des japanischen Modedesigners, Kleider individuell von der Rolle aus zuschneiden zu lassen, fand mit der Gestaltung durch die Bouroullecs ihren passenden architektonischen Rahmen: Die Boutique im Marais wirkt wie eine Mischung aus Schneideratelier, Galerie und High-Tech-Labor. Kleiderbügel und Haken sucht man vergeblich, stattdessen werden die Kleider von Magneten gehalten - inmitten eines farblich sparsam akzentuierten weissen Displays, das mit organisch in Form gebrachten Bändern und Schienen den gesamten Raum umspannt.


Veränderungen der Arbeitswelt

Das jüngste Projekt von Ronan und Erwan Bouroullec entstand im Auftrag der Firma Vitra und gilt der zeitgenössischen Büroeinrichtung. Technologische Innovationen haben die Lebens- und Arbeitswelt stark verändert. Arbeit, so scheint es, ist in der Gegenwart - und mehr noch in der Zukunft - nicht mehr an feste Orte gebunden. Allerdings mag man bezweifeln, dass der Arbeitsplatz Büro damit an Bedeutung verliert - die Vision nur durch virtuelle Kommunikationsnetzwerke miteinander verbundener, global verstreuter Arbeitsnomaden entspricht kaum menschlichen Bedürfnissen. So wird das Büro als Ort der Arbeit nicht verschwinden, sondern den veränderten Anforderungen Rechnung tragen müssen. Nicht mehr das Zellen- oder das Grossraumbüro gelten als akzeptable Leitbilder, und auch das Kombibüro der neunziger Jahre mit seinen verglasten Arbeitsräumen, die sich um eine zentrale Kommunikationszone gruppieren, ist nur bedingt flexibel. Nach mehreren Anläufen, die Statik der Arbeitswelt im Bereich des Mobiliars aufzubrechen, entwickelte Vitra im Jahr 2000 ein Musterbüro, das in Weil am Rhein aufgebaut wurde und sich als Synthese der bisherigen Konzepte verstehen liess. So konnten die Beschäftigen in einem Archipel unterschiedlich strukturierter Büroformen navigieren. Ein Patchwork aus territorialen und nicht territorialen Arbeitsplätzen wurde entwickelt, in das kommunikative Zonen - Café, Pausenbereiche, Gruppenräume und Besprechungszonen - zwanglos integriert sind.

Mit dem Möbelsystem «Joyn» entwickelten die Bouroullecs für Vitra ein modulares Bürokonzept, das ihre früheren Ideen auf die Arbeitswelt überträgt. Grundelement ist ein beliebig zu vergrössernder oder verkleinernder Tisch, der als Konferenztisch oder Partytable, dann aber auch als Arbeitsfläche für eine Reihe getrennt voneinander tätiger Mitarbeiter verwendet werden kann. Beleuchtungskörper lassen sich ebenso applizieren wie Ablagefächer oder Schreibmatten; die nötige Individualdistanz schaffen stoffbezogene Scheiben, die zur Abgrenzung des Arbeitsplatzes auf die Tischplatte aufgesteckt werden. Ergänzung findet das System in einer Reihe von Miniaturarchitekturen - einer den Relaxbereich überfangenden Hütte aus Holz und Plastic, halbrunden Telefonsäulen oder Einzelkabinen, die mit Stoffvorhängen umgeben sind. Der Vorteil des Konzepts ist zweifellos die einfache Handhabbarkeit, so dass mit wenigen Handgriffen eine Bürolandschaft rekonfiguriert werden kann. Designer wie Konstantin Grcic oder Jasper Morrison sind die Vorbilder für Ronan und Erwan Bouroullec, die auf zeitgemässe Weise das ökonomische Postulat der Modularität mit dem Bedürfnis nach Individualität versöhnen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.11.07

08. Oktober 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Mass, Ordnung, Fügung

Einst respektiert als Mitbegründer der „Stuttgarter Schule“, diskreditierte sich Paul Schmitthenner (1884-1972) in der Optik der Architekturgeschichte durch seine Parteinahme für das Naziregime. Eine Retrospektive im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main zeigt nun den umstrittenen Architekten in allen seinen Facetten.

Einst respektiert als Mitbegründer der „Stuttgarter Schule“, diskreditierte sich Paul Schmitthenner (1884-1972) in der Optik der Architekturgeschichte durch seine Parteinahme für das Naziregime. Eine Retrospektive im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main zeigt nun den umstrittenen Architekten in allen seinen Facetten.

Um die Jahreswende 1918/19 wurde die Architekturabteilung der Technischen Hochschule Stuttgart grundlegend reformiert. An die Stelle einer akademischen, vom Eklektizismus des 19. Jahrhunderts geprägten Lehre trat ein praktisch orientierter Unterricht, welcher das Stuttgarter Institut - neben der TH Berlin-Charlottenburg - zur meistfrequentierten deutschen Ausbildungsstätte für Architekten in der Zeit der Weimarer Republik werden liess. Der neuartige Lehrplan war massgeblich das Werk des Professors für Baukonstruktion und Entwurf, Paul Schmitthenner. Mit Begriffen wie Stoff, Naht, Form, Mass, Ordnung und Fügung umriss der charismatische Lehrer das Konzept einer evolutionären, sich aus handwerklicher Tradition entwickelnden Baukunst. Aus der Sicht der späteren Avantgarde des Neuen Bauens wurde die «Stuttgarter Schule» allerdings zu deren konservativer Antithese.


Zwischen Opportunismus und Distanz

Paul Schmitthenner, 1884 im elsässischen Lauterburg geboren, war nach seinem Studium in Karlsruhe und München als Leiter des Hochbauamts von Colmar tätig, liess sich dann aber 1909 im Büro von Richard Riemerschmid anstellen. In den zwei folgenden Münchner Jahren erfolgte eine entscheidende Weichenstellung: Schmitthenner fand das Thema, das ihn während des nächsten Dezenniums beschäftigen sollte, die Gartenstadt. Im Büro von Riemerschmid an der Realisierung der ersten deutschen Gartenstadt in Hellerau bei Dresden beteiligt, suchte er seine gewonnenen Erfahrungen anschliessend in Carlowitz bei Breslau umzusetzen. Das Projekt scheiterte an der Differenz zwischen Planer und Investor, brachte dem jungen Architekten aber den Kontakt mit Hans Poelzig ein, seinerzeit Leiter der Kunstgewerbeschule in Breslau. Poelzig vermittelte Schmitthenner an das Reichsamt des Inneren nach Berlin, wo ihm die Realisierung von drei dem Gartenstadtkonzept folgenden, genossenschaftlich organisierten, aber reichsfinanzierten Siedlungen übertragen wurde. Da es sich um Wohnungen für Arbeiter von Munitionsfabriken handelte, konnten die Bauarbeiten während des Ersten Weltkriegs andauern. Staaken bei Berlin ist die eindrucksvollste dieser Gartenstädte: Man mag sich an Camillo Sittes Vision eines malerischen Städtebaus ebenso erinnert fühlen wie an Raymond Unwins Konzept einer erneuerten mittelalterlichen Stadt: Die Blendgiebel der Strasse «Zwischen den Giebeln» zitieren das barocke Holländische Viertel in Potsdam. Und dennoch finden sich in der gesamten Siedlung lediglich fünf unterschiedliche Haustypen.

Allerdings sind es weniger die Gartenstädte als die seit Anfang der zwanziger Jahre auf den Höhen über dem Stuttgarter Talkessel realisierten Wohnhäuser, die mit dem Œuvre Schmitthenners gemeinhin assoziiert werden. Die weiss geschlämmten Bauten mit ihren Walmdächern orientieren sich an der Zeit «um 1800», an Goethes Weimarer Gartenhaus, und wirken mit ihren subtilen Asymmetrien doch irritierend. Wenn Schmitthenners Entwürfe intuitiv und organisch erscheinen, so suchte er gleichwohl nach der Rationalisierung im Wohnungsbau und entwickelte ein System des «fabrizierten Fachwerks». Anders als Ernst May oder Walter Gropius verzichtete Schmitthenner auf die schwere Vorfertigung und nutzte ein Low-Tech-System, welches auch kleinere Handwerksbetriebe nicht überfordert hätte. Das Experiment im grossen Massstab, das - wie auch die Projekte in Frankfurt und Dessau - von der «Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen» gefördert werden sollte, unterblieb.

Schmitthenner sah sich als Verlierer gegenüber den Lobbyisten der Moderne. Wüste Attacken auf die Architekturavantgarde erfolgten in der 1932 erschienenen Publikation «Das deutsche Wohnhaus». Schon 1928 hatte Schmitthenner zu den Gründungsmitgliedern der konservativen Architektenvereinigung «Der Block» gehört, die sich - letztlich wenig öffentlichkeitswirksam - gegen den «Ring», in welchem die Protagonisten des Neuen Bauens zusammengeschlossen waren, zu positionieren suchte. 1932 trat Schmitthenner dem «Kampfbund für Deutsche Kultur» bei, 1933 der NSDAP. Doch der erhoffte Erfolg bei den neuen Machthabern stellte sich nicht ein, da diese sich für monumentale Bauaufgaben auf einen Neoklassizismus festlegten, wie ihn Albert Speer vertrat: Schmitthenners Entwurf für den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung Brüssel 1935 stiess seiner wenig repräsentativen Gestalt wegen auf explizite Kritik Hitlers, gegen den Umbau des Stuttgarter Schlosses brachten lokale Parteifunktionäre den konservativen Schweizer Architekten Alexander von Senger in Stellung, der das Projekt in einem Zeitungsartikel abkanzelte.

Seit Ende der dreissiger Jahre wurde Schmitthenner wieder zu diversen Wettbewerben eingeladen, doch wirklich grosse Bauaufgaben blieben ihm versagt. Gilt auch die Schrift «Das sanfte Gesetz in der Baukunst» als eine Absage an den herrschenden Monumentalklassizismus, so blieb Schmitthenners Haltung in der Nazizeit dennoch unentschieden, indem sie zwischen Opportunismus und latenter Distanzierung oszillierte. Zivilcourage zeigte er im Falle von 17 Widerstandskämpfern aus seiner elsässischen Heimat, die er durch beharrliches Insistieren bei den offiziellen Behörden und nicht zuletzt durch einen Brief an Roland Freisler vor dem Tode bewahren konnte. Im Spruchkammerverfahren nach 1945 entlastet, verlor Schmitthenner gleichwohl seine Professur. Die traditionalistischen Bauten, die er in der Folgezeit errichtete, standen konträr zum Mainstream der Zeit, und offizielle Anerkennung fand der Architekt eher in der auf die Reaktivierung einer «nationalen Bautradition» ausgerichteten DDR als in der Bundesrepublik. 1972 verstarb er im württembergischen Kilchberg.


Unvoreingenommene Werkbetrachtung

Eine von Wolfgang Voigt als Resultat langjähriger Forschungen erarbeitete Ausstellung im Deutschen Architektur-Museum (DAM) in Frankfurt am Main nähert sich unvoreingenommen, aber nicht kritiklos diesem Architekten, der zu den einflussreichen des 20. Jahrhunderts in Deutschland zählte. Chronologische und thematische Gliederung verzahnen sich: Von den Gartenstädten des Beginns sowie den Wohnhäusern und öffentlichen Bauten der Weimarer Republik spannt sich der Bogen über die Entwürfe der Nazizeit bis hin zum Spätwerk. Zu historischen Fotos treten die fein detaillierten, sich noch immer in Privatbesitz befindenden Entwürfe des Architekten, die Schmitthenner als unglaublich präzisen Zeichner zeigen. Ergänzt wird die eindrucksvolle Schau durch eine Reihe eigens angefertigter Modelle - und durch einen hervorragenden Katalog, der die widerspruchsvolle Person in all ihren Facetten zeigt.


Bis 9. November im DAM in Frankfurt. Katalog: Paul Schmitthenner 1884-1972. Hrsg. Wolfgang Voigt und Hartmut Frank. Ernst-Wasmuth-Verlag, Tübingen 2003. 236 S., Euro 35.-.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.10.08

03. Oktober 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Wege über die Geleise

Mit der von Sandra Giraudi und Felix Wettstein aus Lugano gemeinsam mit dem Sevillaner Architekturbüro von Antonio Cruz und Antonio Ortiz entworfenen Passerelle hat die Umgestaltung des Bahnhofs SBB in Basel ihren vorläufigen Abschluss gefunden. Über ein ähnliches Projekt in Bern soll noch im Herbst entschieden werden.

Mit der von Sandra Giraudi und Felix Wettstein aus Lugano gemeinsam mit dem Sevillaner Architekturbüro von Antonio Cruz und Antonio Ortiz entworfenen Passerelle hat die Umgestaltung des Bahnhofs SBB in Basel ihren vorläufigen Abschluss gefunden. Über ein ähnliches Projekt in Bern soll noch im Herbst entschieden werden.

Die Bahnhofsanlagen grosser Städte Europas, aber auch Japans und Nordamerikas, unterliegen seit einigen Jahren aufwendigen Umgestaltungen. Zum einen geht es darum, die planerisch zumeist noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Baulichkeiten den zeitgenössischen Anforderungen des Eisenbahnverkehrs anzupassen. Zum anderen lassen sich, und das gilt für Bahnhöfe ebenso wie für Flughäfen oder Stadien, kostenintensive Grossbauvorhaben mit eigenen Mitteln der Betreiber nicht mehr realisieren. Die Lösung besteht darin, die früher primär infrastrukturell ausgerichteten Liegenschaften durch Geschäftsflächen anzureichern, um die Umgestaltungsmassnahmen oder Neubauten zu finanzieren. Nicht immer überzeugt die Allianz von Verkehr und Konsum, doch ist zu konzedieren, dass der Bauaufgabe Bahnhof nach Jahren der Vernachlässigung wieder Bedeutung beigemessen wird. Einige historische Bauten konnten in ihren wesentlichen Teilen denkmalgerecht wiederhergestellt werden, und daneben sind - etwa mit der Waterloo Station von Nicholas Grimshaw in London, dem Bahnhof Atocha in Madrid von Rafael Moneo oder dem Santa-Justa-Bahnhof in Sevilla von Antonio Cruz und Antonio Ortiz - beispielhafte Neubauten entstanden. Trotz den vor einigen Jahren errichteten Neubauten in Zürich Stadelhofen oder in Luzern fehlt bisher in der Schweiz, welche die adäquate Integration in das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz versäumt hat, ein wirklich grosser Wurf. So wird der Hauptbahnhof Zürich seit Jahrzehnten entsprechend den jeweiligen Planungsdirektiven umgebaut, ohne dass das grundsätzliche Dilemma des verkehrshemmenden Sackbahnhofs grundsätzlich gelöst worden wäre. Und der Durchgangsbahnhof Bern wirkt durch grossflächige Überbauung wie eine riesige U-Bahn-Station, in der die Orientierung schwierig werden kann, auch wenn die jetzt durch ausgedehnte Einkaufsbereiche kommerziell verwerteten Anlagen grossspurig zur «RailCity» erhoben wurden.


Ein architektonischer Zwitter

Eine der seltsamsten Konstruktionen stellt seit je der Bahnhof SBB in Basel dar. Er geht zurück auf planerische Festlegungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Seinerzeit konnte sich die Schweizerische Centralbahn-Gesellschaft mit der Idee durchsetzen, anstelle eines von der Stadt favorisierten Kopfbahnhofs nahe dem Altstadtkern einen Durchgangsbahnhof im Süden zu errichten, der die Schweizer Linien mit jener ins Elsass und nach Frankreich verbinden sollte. Mochte diese Option in gewisser Hinsicht weitsichtig sein, so war damit die Abtrennung des Gundeldingerquartiers südlich der Geleise-Trassees von der Stadt Basel im Norden verbunden. Erst die Absenkung des Geleisefelds infolge des Bahnhofsneubaus 1902-07 machte eine kreuzungsfreie Überbrückung der Schienen möglich.

Konzeptionell ist der Bahnhof ein Kuriosum: Zum einen simuliert das zwischen Eklektizismus und Jugendstilanklängen oszillierende Empfangsgebäude mit seiner von einem grossen Fenster durchbrochenen Fassade zum Centralbahnplatz hin einen Kopfbahnhof, obwohl die Gleise quer zur angedeuteten Hauptachse verlaufen. Zum anderen funktioniert die Anlage betriebstechnisch mit ihrer Trennung in einen grossen schweizerischen und einen kleinen französischen Teil bis heute gleichsam als doppelter Kopfbahnhof. Unbefriedigend war seit Beginn die Erschliessung der Gleise: Von der Halle aus wurden die Passagiere in eine Unterführung geschleust, von der aus die Perrons über Rampen zugänglich waren.


Passerelle als Schlussstein

Gemäss einem später «Euroville» titulierten Masterplan unterliegt das Gesamtareal des Bahnhofs SBB seit 1980 der Transformation. Nun ist mit der oberirdischen Passerelle, welche den früheren Zugangstunnel ablöst und eine attraktive Fussgängerverbindung zum Gundeli schafft, der vorläufige Schlussstein in ein langwieriges Umgestaltungsprojekt gesetzt. Einige Bauvorhaben folgen noch, darunter die Fertigstellung des Jacob- Burckhardt-Hauses von Jakob Steib und des Geschäftshauses Elsässertor von Herzog & de Meuron. In Zukunft wäre ausserdem auch die Verlagerung der französischen Gleise in den Passerellenbereich möglich.

Als Resultat eines unter sieben konkurrierenden Teams 1996 veranstalteten Gutachterverfahrens war der Gemeinschaftsentwurf von Sandra Giraudi und Felix Wettstein aus Lugano und Antonio Cruz und Antonio Ortiz aus Sevilla zur Ausführung bestimmt worden. Das Projekt überzeugte die Jury nicht nur wegen seiner Funktionalität, sondern auch aufgrund seiner markanten Form: Die Stahl-Glas-Konstruktion der Passerelle zeigt eine expressiv gefaltete Dachlandschaft, die im Norden an die bestehende erste Perronhalle andockt und im Süden an der Güterstrasse mit Aplomb in einem Kopfbau gipfelt, der zukünftig von Bauten, deren Entwurf ebenfalls von Herzog & de Meuron stammt, flankiert werden soll. Giraudi und Wettstein sowie Cruz & Ortiz ist es mit ihrem in gleichberechtigter Partnerschaft ausgearbeiteten Entwurf gelungen, eine eigenständige Formensprache zu entwickeln, die bildhaft als eine auf die nahe Jurakette verweisende Gebirgslandschaft in Erscheinung tritt und sich doch aufgrund ihrer Materialisierung und Konstruktion auf die Bahnhofshallen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bezieht. Im Norden schneiden die drei bestehenden kürzeren Hallen der Perrondächer in die Ostseite der Passerelle ein, Alt und Neu sind kontrastierend zusammengeführt. Die Hauptabgänge orientieren sich in diesem Bereich Richtung Osten, also zu den vorhandenen Hallen hin, während sie bei den südlichen Perrons nach Westen ausgerichtet sind. Auch wenn die Passerelle als gerade durchlaufende Achse konzipiert ist, ergibt sich durch diesen Orientierungswechsel eine Differenzierung, die sich auch in der Formung der Dachlandschaft abzeichnet: Das Hauptdach der Passerelle wird in seiner Längserstreckung durch niedrigere Verdachungen an den Seiten belebt.

Gemeinsam mit den durch die Santa-Justa-Station im Bahnhofsbau erfahrenen Cruz & Ortiz haben Giraudi und Wettstein, welche durch den filigranen Glasturm des Laboratorio auf dem Luganeser Universitätscampus bekannt wurden, ein einprägsames Zeichen für die Neugestaltung des Bahnhofs SBB geschaffen, das jedoch vor allem aus der Ferne wirkt. Im Inneren werden die räumlichen Qualitäten für die Reisenden nicht recht erfahrbar: Attraktiv ist zweifellos die nunmehr leer geräumte historische Empfangshalle, doch die Maximierung von Geschäftsflächen hat in der über Rolltreppen und Rampen zugänglichen Passerelle dazu geführt, dass der Blick auf die Gleise durch die Glaskuben der Geschäfte beeinträchtigt, wenn nicht gar verhindert wird. Die Abgänge und Rolltreppen dazwischen sind vergleichsweise schmal ausgefallen, führen etwas verschämt in die Tiefe; letztlich schottet sich die Passerelle vom Eisenbahnverkehr ab. Besonders unbefriedigend ist der Südkopf der Anlage: Als Point de vue der Passerellenachse fungiert eine mit Leuchtschriften überbordend ausgestattete Raumkaskade aus Medienmarkt, Schuh- und Sportgeschäft, während der Abgang zum Gundeli seitlich über eine Rampe erfolgt. Optisch wirkt deshalb die Passerelle nicht wie eine durchgehende Passage, sondern wie eine Sackgasse.


Lehren für Bern?

Wie eine Verbindung der Ebenen, aber auch von Bahnhof und städtischem Umraum aussehen kann, zeigt das vom Berner Architektenteam smarch (Beat Mathys und Ursula Stücheli) im Auftrag der SBB erarbeitete Projekt einer Passerelle, die als markante Geste der dunklen Untergrundhalle des Hauptbahnhofs Bern auf der Seite der Schanzenpost vorgelagert werden soll. Den Architekten, die unlängst mit der grandiosen Halle des Regionalbahnhofs Worb ein funktional wie ästhetisch ebenso überzeugendes Gebäude errichten konnten, gelingt es, durch die ondulierend geformten Dächer Stadtebene und Bahnsteigniveau visuell und funktional zu vernetzen und damit einer Trennung entgegenzuwirken; die Form der Bahnsteige und der sie umspielenden Dachlandschaften reagiert auf das endlose Geflecht der Schienen mit dreidimensionaler Präsenz. Somit entsteht eine durch die Bewegung der Reisenden ausgefüllte elegante Struktur, welche als architektonischer Transmissionsriemen die Verknüpfung von Strassen- und Schienenverkehr symbolisch überhöht. Im Herbst steht die Entscheidung an, ob die Auftraggeber für das kommerziell ausgerichtete Konkurrenzprojekt votieren - oder für die architektonisch grosszügige Geste von smarch.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.10.03



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SBB Bahnhof Basel - Passerelle

08. September 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Neuerfindung des Wohnparks

Im Jahre 1996 gewann Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture den Wettbewerb für die Umgestaltung eines am Rand der Innenstadt von Breda gelegenen, zuvor militärisch genutzten Areals. Die ambitiöse Bebauung ist inzwischen weitgehend abgeschlossen: Sie kann in urbanistischer Hinsicht als vorbildlich gelten.

Im Jahre 1996 gewann Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture den Wettbewerb für die Umgestaltung eines am Rand der Innenstadt von Breda gelegenen, zuvor militärisch genutzten Areals. Die ambitiöse Bebauung ist inzwischen weitgehend abgeschlossen: Sie kann in urbanistischer Hinsicht als vorbildlich gelten.

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Chassé-Terrein

08. August 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Gläsern oder steinern?

Ein Neubau von Norman Foster im Zentrum Warschaus

Ein Neubau von Norman Foster im Zentrum Warschaus

Wer das Zentrum Warschaus besucht - die Altstadt, die Neustadt und die «Königliche Route» um die Prachtstrasse Krakowskie Przedmiecie -, vermag kaum zu glauben, dass nahezu alle Gebäude nach der planmässigen Zerstörung durch die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs wieder aufgebaut worden sind. Farbe und Putz blättern bei den älteren Rekonstruktionen, und auf den ersten Blick ist oft kaum zu erkennen, dass es sich bei den «historischen» Bauten um neue Bausubstanz handelt.

Einer der Orte, an denen die Wunden des Zweiten Weltkriegs unmittelbar spürbar werden, ist der heute völlig überdimensionierte Pilsudski- Platz. An seinem nördlichen Rand liegt das im Kern klassizistische Nationaltheater, im Süden ein Hotel aus den siebziger Jahren; im Osten führt eine Strasse zur barock geprägten Krakowskie Przedmiecie. Im Westen hingegen öffnet sich die schier endlose gepflasterte Platzfläche zu den «Sächsischen Gärten». Diese Parkanlage entstand zu Beginn des 18. Jahrhunderts, nachdem August der Starke zum König von Polen gekrönt worden war. Ursprünglich begrenzten der Sächsische Palast (1713-45) und das Palais Brühl (1756/57) die Parkanlage zur Stadt, doch nach Zerstörung und Abriss zeugt nur noch das Fragment einer Kolonnade mit dem Grab des Unbekannten Soldaten von dem barocken Bauensemble. Der Wiederaufbau ist nur noch eine Frage der Zeit und des Geldes.

Dass auch ein Neubau sehr wohl Stadtreparatur leisten kann, beweist den Warschauern nun das «Metropolitan» genannte Gebäude an der Nordseite des Platzes, direkt hinter dem Nationaltheater. Mit Norman Foster fand die in Houston ansässige, seit einigen Jahren verstärkt nach Europa expandierende Developerfirma Hines für das 110 Millionen Dollar teure Prestigeprojekt einen Architekten, welcher der sensiblen städtebaulichen Situation gerecht wurde, indem er die Platzkante wiederherstellte, allerdings in zeitgenössischen Formen. Drittklassige Investorenarchitektur wäre von Seiten der Denkmalpflege für das hier errichtete Bauvolumen mit seinen insgesamt 38 000 Quadratmetern Nutzfläche nicht akzeptiert worden.

Foster entwarf einen sechsgeschossigen Komplex, der sich um einen kreisförmigen Innenhof von 50 Metern Durchmesser gruppiert; das Erdgeschoss ist zu grossen Teilen der Nutzung durch Einzelhandelsunternehmen und Restaurants vorbehalten. Aus vermietungstechnischen Gründen, aber auch, um das Volumen stadtverträglich zu gliedern, teilt sich der Komplex in drei Einzelbauten. In der Mitte jedes Gebäudes sind die Eingänge, zwischen ihnen die Durchgänge angeordnet. Der Gesamtumriss des Hauptbaus, der sich - wie auch die Gebäudehöhe - an der früher hier bestehenden Wohnbebauung orientiert, wird durch Kurven und Krümmungen bestimmt.

Die überzeugende Idee Fosters aber bestand darin, die umlaufende Glasfront durch senkrecht aus der Fassade heraustretende Granittafeln zu gliedern. Diese vertikalen brise-soleil verhindern nicht nur den direkten Lichteinfall der tief stehenden Sonne, sondern lassen das Gebäude zum Chamäleon werden: Blickt man frontal auf die Fassade, so wirkt sie offen und transparent; in der Schrägsicht hingegen schliesst sich das Volumen optisch, wirkt körperhaft und steinern.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.08.08



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Metropolitan

25. Juli 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Tanzende Stahlwellen am Hudson

Vor der Kulisse der Catskill Mountains hat Frank O. Gehry ein Konzert- und Theaterhaus in der arkadischen Flusslandschaft des Hudson nördlich von New York errichtet: Es ist Gartenpavillon, schillernde Skulptur und technisches Gebäude zugleich.

Vor der Kulisse der Catskill Mountains hat Frank O. Gehry ein Konzert- und Theaterhaus in der arkadischen Flusslandschaft des Hudson nördlich von New York errichtet: Es ist Gartenpavillon, schillernde Skulptur und technisches Gebäude zugleich.

Nur eine Stunde fährt man von Manhattan aus Richtung Norden, und schon wähnt man sich in einer anderen Welt. Wälder, Wiesen und Felder bestimmen die Hügellandschaft des Hudson Valley, denn hier wurde dem sonst omnipräsenten suburbanen Flächenfrass Einhalt geboten. In der Tat avancierte das Tal nachgerade zum nationalen Symbol, als die Freiluftmaler der «Hudson River School» die arkadische Gegend als Sujet für sich entdeckt hatten. Seit diesem Frühjahr nun locken zwei neue Ziele die Bewohner und Besucher der nahen Metropole: Zunächst eröffnete in Beacon die eindrucksvolle Dépendance der Dia Foundation, einige Wochen später und eine Autostunde weiter nördlich das Fisher Center for Performing Arts auf dem ausgedehnten Gelände des Bard College bei der kleinen Ortschaft Annandale. Frank O. Gehry ist es gelungen, das multifunktionale Gebäude mit seinen beiden Konzert- und Theatersälen sowie mehreren Studios und Büros wie eine grosse schillernde Skulptur in die Parklandschaft einzubetten.

Das 1860 gegründete Bard College ist auf die Tanz- und Theaterausbildung spezialisiert; sein Direktor Leon Botstein leitet zugleich das American Symphony Orchestra. Überdies zeigt sich Botstein interessiert an Architektur, und so konnten Robert Venturi und Denise Scott Brown vor Jahren schon die Bibliothek erweitern und Polshek Partnership einige Collegebauten errichten. Mit dem durch Spenden finanzierten 62-Millionen-Dollar-Projekt des Fisher Center for Performing Arts ist Gehry und Botstein der grosse Wurf gelungen, denn nun hat die Hochschule Ersatz für ihr Anfang der siebziger Jahre abgebranntes Theater. Und das seit dreizehn Jahren bestehende Sommerfestival endlich ein festes und angemessenes Haus. - Grandios schwingen die Stahlbleche über Eingang und Foyer empor, als würden sie von Schallwellen davongetragen: Architektur ist hier nicht gefrorene, sondern sich emporschwingende Musik. Auch das Foyer beeindruckt durch seine Tendenz in die Vertikale, durch das Aufeinanderstossen von Beton und Stahl. Nachgerade klassisch, wenn auch in Sichtbeton ausgeführt, wirkt der Hauptsaal, der mit seiner Lyraform und seinen 930 Plätzen durchaus die Intimität eines klassischen Opernhauses aus dem 18. Jahrhundert besitzt. Für Konzerte lässt sich eine ebenfalls von Gehry entworfene hölzerne Musikmuschel auf der Bühne installieren; die Handschrift des Architekten wird überdies an den aus akustischen Gründen erforderlichen Holzarabesken an den Wänden erkennbar.

Sachlichkeit prägt die übrigen Bereiche, handle es sich nun um das Black-Box-Theater oder um die Studios. Nach aussen hin sind die technischen Teile des Gebäudes als weiss verputzte Betonkisten ausgeführt. Diese Trennung hat mitunter Kritik hervorgerufen, doch ist diese Kritik gerade hier unberechtigt: Ein Theater ist zum guten Teil auch ein technischer Betrieb, und das muss nicht verborgen werden. Noch vor der für Oktober angekündigten Fertigstellung der ungleich grösseren Walt Disney Concert Hall in Los Angeles ist in Annandale ein architektonisches Juwel entstanden, ein - um von amerikanischen Traditionen zu sprechen - «decorated shed» der Kultur, der sich, als sei er nicht ganz von dieser Welt, als überdimensionaler Gartenpavillon in die von den Catskill Mountains beherrschte Parklandschaft einfügt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.07.25



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Theater für das Bard College

23. Juli 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Hightech und Nachhaltigkeit

Der britische Architekt Richard Rogers wird siebzig

Der britische Architekt Richard Rogers wird siebzig

Die schimmernde Riesenmaschine des Lloyd's Building, 1978 bis 1986 in der City of London errichtet, darf heute mehr denn je als Richard Rogers' Meisterwerk gelten: Dieses wohl eigenwilligste Hochhaus der Themsestadt wurde zum Fanal des britischen Hightech. Die Trennung von bedienten und bedienenden Räumen, wie sie Louis I. Kahn mit dem Richards Medical Research Center in Philadelphia entwickelt hatte, ist hier ins Radikal-Technizistische übertragen. Dabei ging es indes nicht allein um die Optimierung von Funktion und Infrastruktur, sondern zugleich um eine adäquate Ästhetik, die sich vom Futurismus und Konstruktivismus ebenso inspiriert zeigt wie von den utopischen Entwürfen der Architektengruppe Archigram.

War das Lloyd's Building auch das erste wichtige Gebäude, welches das 1977 gegründete Büro Richard Rogers Partnership errichten konnte, so begann die Karriere des am 23. Juli 1933 in Florenz als Sohn britischer Eltern geborenen und an der Architectural Association in London sowie in Yale ausgebildeten Architekten doch viel früher: In den sechziger Jahren war er Mitbegründer des Team 4, dem auch sein späterer Hauptkonkurrent, Norman Foster, angehörte. Gemeinsam mit Renzo Piano schuf Rogers anschliessend mit dem 1976 vollendeten und im Jahr darauf eröffneten Centre Pompidou in Paris eines der Schlüsselwerke der Architektur des 20. Jahrhunderts.

Als einer der Protagonisten des britischen Hightech hat Rogers in den vergangenen 15 Jahren eine Reihe wichtiger Bauten im Grossraum London errichtet. Dazu zählen der innerstädtische Sitz des Senders Channel 4 (1990-94) ebenso wie die Reuters-Zentrale in den Docklands und schliesslich der Millennium Dome, für den immer noch eine Nutzung gesucht wird. Die expressive Übersteigerung des Ingenieurtechnizismus wurde dabei schrittweise zurückgenommen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (1989-95) und ein distinguiert gläsern auftretendes neues Gebäude für Lloyd's in der Fenchurch Street (2000) beweisen.

Inzwischen ist Rogers weltweit tätig: Er plant Teile der «Solarcity» Linz, Hochhauskomplexe in Schanghai oder den Flughafen Madrid. Dabei reduziert sich der Architekt im Gegensatz zu einer Reihe seiner Kollegen nicht auf die Rolle des pragmatischen Global Players, sondern bezieht auch im politischen und urbanistischen Diskurs Position. «Cities for a small planet» von 1997 zählt zu den wenigen ernsthaften, von einem Architekten verfassten Auseinandersetzungen mit Problemen des heutigen Urbanismus. Bedeutend ist überdies die Funktion des mit Tony Blair befreundeten Rogers als Vorsitzender der von Labour eingerichteten «Urban Task Force» in London.

Das Büro von Rogers befindet sich seit 1987 in einem umgebauten Lagerhaus in Hammersmith, unmittelbar an der Themse. Bekannter noch als das Atelier aber dürfte in der britischen Öffentlichkeit das ebenfalls dort angesiedelte «River Café» sein, das Rogers' Frau Ruth betreibt und das als bestes italienisches Restaurant der Stadt gilt. Das «River Café Cook Book», von dem inzwischen drei Bände vorliegen, wurde zum phänomenalen Erfolg in Grossbritannien; es hat - im wahrsten Sinne des Wortes - geschmacksbildend gewirkt. Derart viele Leser fanden die nicht weniger inspirierenden «Städte für einen kleinen Planeten» bisher leider nicht.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.07.23

04. Juli 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Alles unter einem hügelförmigen Blechdach

Mit Bauten von Peter Eisenman und Frank O. Gehry sowie - zuletzt - mit Zaha Hadids Contemporary Arts Center ist Cincinnati zu einem Mekka zeitgenössischer Architektur geworden. Weniger bekannt ist eine Schule am Rande der Stadt, die Michael McInturf errichtet hat, ein Protagonist digitaler Entwurfsverfahren.

Mit Bauten von Peter Eisenman und Frank O. Gehry sowie - zuletzt - mit Zaha Hadids Contemporary Arts Center ist Cincinnati zu einem Mekka zeitgenössischer Architektur geworden. Weniger bekannt ist eine Schule am Rande der Stadt, die Michael McInturf errichtet hat, ein Protagonist digitaler Entwurfsverfahren.

Zumindest in Europa gilt Greg Lynn als der Vorreiter einer neuen, aus computergenerierten Entwurfsverfahren resultierenden architektonischen Ästhetik. Durch seine Teilnahme an den weltweit abgehaltenen «Any»-Konferenzen, welche den Diskurs der neunziger Jahre bestimmten, aufgrund seiner Bespielung des amerikanischen Pavillons auf der Architekturbiennale 2000 in Venedig und nicht zuletzt infolge von Gastprofessuren an der ETH Zürich sowie in Wien hat er sich als «mastermind» eines neuen architektonischen Selbstverständnisses etablieren können. Dabei wird oft ausgeblendet, dass das einzige realisierte dauerhafte Projekt keineswegs von dem in Los Angeles ansässigen Büro Greg Lynn Form allein geplant wurde, sondern als Gemeinschaftsarbeit zusammen mit zwei anderen Partnern.

Kooperationen unter Architekten sind nichts Seltenes, doch bei dieser Gemeinschaftsarbeit galten Kommunikation und Datenaustausch via Internet nicht als notwendiges Übel, sondern als programmatisches Ziel. Aufgabe war der Umbau der früheren Knickerbocker Laundry im New Yorker Stadtteil Queens für die koreanische «New York Presbyterian Church», an dem sich auch das Büro von Michael McInturf aus Cincinnati sowie Douglas Garofalo aus Chicago beteiligten. Auch wenn das Projekt in den Fachmedien auf erstaunliche Resonanz stiess, beweist ein Besuch im weitläufigen Kirchenkomplex, dass die Computergraphiken der «Blobmaster» hier wesentlich suggestiver aussehen als die gebaute Realität. Ungewollt wirken die ständig sich wandelnden Rippen der riesigen Kirchenhalle mit ihren 2500 Sitzplätzen wie ein Verschnitt von Rudolf Steiner und Imre Makovecz; wo es aber wirklich zu einer überzeugenden formalen Lösung gekommen ist - nämlich bei den von winklig-geknickten, beinahe muschelschalenartigen Blechelementen gerahmten Treppen seitlich des grossen Saales -, handelt es sich nur um einen Fluchtweg.

Anders als Lynn konnte der 1962 geborene McInturf einige Zeit nach der 1998 konsekrierten Kirche in Queens einen eigenständigen und ungleich überzeugenderen Bau errichten: die umfangreiche Erweiterung der Cincinnati Country Day School. McInturf, der - wie übrigens auch Lynn - aus Ohio stammt, ging nach seinem Architekturstudium zu Peter Eisenman nach New York, wo er zunächst am Wexner Center für Columbus mitarbeitete, um dann 1994 als Projektleiter für Eisenmans Aronoff Center for Design nach Cincinnati zu übersiedeln. 1995 eröffnete er sein eigenes Büro, und seit einiger Zeit lehrt er an der University of Cincinnati.

Die private Cincinnati Country Day School, 1926 gegründet, liegt etwa 20 Kilometer nordöstlich von downtown Cincinnati in der weitläufigen Hügellandschaft von Indian Hill. Von englischem Rasen umgebene Villen zeugen vom Wohlstand der Bewohner, und irgendwo verstecken sich auch zwei architektonische Preziosen von Richard Neutra und Philip Johnson.

Anlass für den Neubau war eine 1994 erfolgte private Stiftung für den Bau eines Theaters. Der Schulleiter Charles F. Clark machte sich dann aber für eine grundsätzlichere Erweiterung stark: McInturf, zunächst mit dem Theater beauftragt, entwickelte einen Masterplan für die Neugestaltung des gesamten Schulareals. Die bestehenden moderat-modernen Bauten des Architekten Carl Strauss sollten demzufolge durch organisch wirkende Baukörper ergänzt oder ersetzt werden. Die Inspirationsquelle bildete die Landschaft von Indian Hill, deren sanfte Hügel mit digitalen Entwurfstechniken gleichsam in Architektur transformiert scheinen. Der grösste dieser «Hügel» wurde inzwischen fertiggestellt: Unter einem alles vereinenden, seine Form wandelnden Blechdach befinden sich die verschiedenen Teilbereiche der neuen Upper School für 280 Schüler.

Entsprechend dem reformpädagogischen Geist der Cincinnati Country Day School sollte ein Ort der Gemeinschaft entstehen, und das hat der Architekt überzeugend gemeistert. McInturf nutzt die organische Metaphorik, wenn er die Funktionsweise seines Neubaus erläutert: Er bezeichnet die ausgedehnten, zwischen den Niveaus vermittelnden Gemeinschaftszonen als das Herz des Gebäudes, den grossflächig verglasten Speisesaal als den Magen und die Bibliothek als das Hirn. In der Tat ist es gelungen, die verschiedenen Bereiche unter dem grossen gefalteten Dach in eine sinnvolle und spannungsreiche Abfolge zu bringen und sogar ein technisch gut ausgestattetes Theater mit 534 Sitzplätzen zu integrieren. Ziel war ein Zusammenspiel der Teile, nicht die elaborierte Perfektion oder die repräsentative Geste.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.07.04

20. Juni 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Weisses Haus im Jura

Restaurierung von Le Corbusiers Villa Jeanneret-Perret

Restaurierung von Le Corbusiers Villa Jeanneret-Perret

Im November 1911 kehrte Charles-Edouard Jeanneret, der sich 1920 in Paris den Namen Le Corbusier zulegen sollte, in seine Heimatstadt La Chaux-de-Fonds zurück. Die lange Reise hatte ihn nach Berlin, wo er mehrere Monate im Büro von Peter Behrens hospitierte, dann über Osteuropa in die Türkei und schliesslich nach Griechenland und Italien geführt. Eine Villa für seine Eltern war der erste Bau, den der junge Architekt eigenständig realisierte und der von einem gewandelten Formempfinden zeugte.

Die ihres weissen Anstrichs und ihres ursprünglichen Eternitdachs wegen auch «Maison Blanche» genannte Villa Jeanneret-Perret, die er innerhalb des Jahres 1912 errichtete, liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu den drei noch dem jurassischen Jugendstil seines Lehrers L'Eplattenier verpflichteten Erstlingswerken und resultiert aus diversen Inspirationen. Erinnert der Rauputz der Fassade an die Gestaltung englischer Landhäuser, so lässt die reduziert-klassizistische Gesamtform das Vorbild Behrens' erkennen. Die Fensterreihe unterhalb der Traufkante, die kubische Gestalt und das zeltartig wirkende Dach rufen überdies jene alten rumänischen Häuser in Erinnerung, die Jeanneret / Le Corbusier in den Skizzenbüchern seiner Orientreise festgehalten hatte und die schon auf die berühmte Aussage aus «Vers une architecture» (1923) vorausweisen, Architektur sei «le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière».

Vor drei Jahren konnte die in weiten Teilen erhaltene Villa, in deren Obergeschoss der angehende Architekt 1913-1915 sein Büro unterhielt, mit öffentlicher Unterstützung von der «Association Maison Blanche» erworben werden - mit dem Ziel, sie zu restaurieren und einer öffentlichen Nutzung zuzuführen. Nun wurde jüngst eine von dem Architekten Pierre Minder erarbeitete Studie vorgelegt, welche als Grundlage der auszuführenden Arbeiten dient, deren Kosten auf knapp zwei Millionen Franken geschätzt werden. Mit dem Begriff des «laboratoire architectural» wird die Bedeutung des Baus richtig umschrieben: Der junge Architekt experimentierte hier nicht nur mit Materialien und architektonischen Lösungen, sondern nahm Veränderungen auch noch nach Fertigstellung vor. Da sich somit eine «Idealrekonstruktion» verbietet, optiert die Association für eine Rekonstruktion, die sich respektvoll gegenüber der Substanz und dennoch pragmatisch verhält. Die lichte Raumstruktur der in T-Form organisierten Haupträume des Erdgeschosses, die Details der Ausstattung, aber auch die auf die «promenade architecturale» vorausweisende Wegführung im Garten machen das Haus unbedingt besuchenswert.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.06.20



verknüpfte Bauwerke
Villa Jeanneret-Perret

06. Juni 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ideenschmiede

Die Architekturabteilung der Columbia University am Ende der Ära Tschumi

Die Architekturabteilung der Columbia University am Ende der Ära Tschumi

Als Dekan prägte der Schweizer Bernard Tschumi 16 Jahre lang die Architekturfakultät der Columbia University in New York. Orientiert an Lehrkonzepten, wie sie von Alvin Boyarsky für die Architectural Association London und von John Hejduk für die Cooper Union entwickelt worden waren, wurde Columbia weltweit zu einer der angesehensten und eigenwilligsten Ausbildungsstätten für Architekten. Tschumi selbst, 1944 in Lausanne geboren und an der ETH Zürich ausgebildet, zählt zu den theoretisch profiliertesten Architekten der Gegenwart und machte die Graduate School of Architecture, Planning and Preservation während seiner langjährigen Tätigkeit als Dekan zu einem Zentrum des internationalen Architekturdiskurses. Bewusst bezog die Schule eine Gegenposition zu einer praxisorientierten, klassisch-akademischen Ausbildung und optierte im starken Masse für den Umgang mit neuen Medien als Werkzeuge des Entwurfs. Protagonisten des digitalen Entwerfens wie Hani Rashid, Sulan Kolatan und William MacDonald wirken seit Jahren als Professoren an der Columbia, aber auch die mittlere und ältere Generation - darunter Steven Holl und Peter Eisenman.

«The State of Architecture at the Beginning of the 21st Century» lautete der Titel einer Tagung, welche die Protagonisten der Ära Tschumi, ergänzt durch Gäste, jüngst noch einmal versammelte. In insgesamt acht Sektionen trat die internationale Architektenprominenz auf: von Rem Koolhaas über Zaha Hadid, Winy Maas, Peter Eisenman, Ben van Berkel bis hin zu Elizabeth Diller, Alejandro Zaera-Polo und Greg Lynn. Zu ihnen gesellten sich Theoretiker wie Jeffrey Kipnis, Kenneth Frampton, Anthony Vidler, Michael Sorkin und Saskia Sassen. War es auch fragwürdig, Themen wie «Aesthetics and Urbanism» oder «Globalization and Criticism» jeweils innerhalb von 90 Minuten abzuhandeln, so gab die Veranstaltung doch einen Überblick über die Arbeitsweisen der Architekturfakultät und das mit ihr verbundene personelle Netzwerk. «Index Architecture» heisst das anregende, anlässlich der Tagung aufgelegte Kompendium, das in Form eines kommentierten Sachregisters die in den vergangenen fünf Jahren erarbeiteten theoretischen Positionen bilanziert.


[Index Architecture. Hrsg. Bernard Tschumi und Matthew Berman. The MIT Press, Cambridge, Massachusetts, und London 2003. 304 S., $ 29.95.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.06.06

12. Mai 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ethos und Pathos

In den vergangenen Jahren haben expressive Formen in der Architektur neue Aktualität erhalten. Damit kommt eine Ausstellung über expressionistische Architektur in Bremen gerade zur rechten Zeit. Sie lässt anhand von hochkarätigen Exponaten die ausdrucksstarke deutsche Baukunst des frühen 20. Jahrhunderts glanzvoll Revue passieren.

In den vergangenen Jahren haben expressive Formen in der Architektur neue Aktualität erhalten. Damit kommt eine Ausstellung über expressionistische Architektur in Bremen gerade zur rechten Zeit. Sie lässt anhand von hochkarätigen Exponaten die ausdrucksstarke deutsche Baukunst des frühen 20. Jahrhunderts glanzvoll Revue passieren.

Zwischen Marktplatz und Weser hat sich in Bremen - trotz Kriegsbeschädigungen und mancherlei späterem Umbau - eines der eindrücklichsten Ensembles der expressionistischen Architektur erhalten: die Böttcherstrasse, nach 1922 auf Initiative des Bremer Kaufmanns und Kaffee- Hag-Produzenten Ludwig Roselius als Ensemble aus Restaurants und Kulturbauten errichtet. Besonders die Gebäude des Künstlerarchitekten Bernhard Hoetger sind es, die der engen Gasse ihr unverwechselbares Gepräge geben: das Paula- Becker-Modersohn-Haus (1927), eine zwischen orientalisierender Exotik, niederdeutscher Archaik und höhlenähnlicher Formgebung oszillierende Ziegelstein-Phantasie, und das (hinter einer späteren Fassadengestaltung verborgene) Atlantis- Haus (1931). Die parabelförmige Dachkonstruktion des «Himmelssaals», aber auch das Treppenhaus zählen zu den wenigen realisierten Umsetzungen expressionistischer Lichtmystik in der Nachfolge von Bruno Tauts Glashaus auf der Werkbundausstellung Köln 1914. - Widmete sich im letzten Jahr eine umfangreiche Schau der Entstehungsgeschichte der Böttcherstrasse und ihrem schillernden Schöpfer Ludwig Roselius, so lautet der Titel der diesjährigen Ausstellung im Paula- Modersohn-Becker-Museum «Bau einer neuen Welt - Architektonische Visionen des Expressionismus». Entführt wird der Besucher also vornehmlich in die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, in der es für Architekten in Deutschland kaum etwas zu bauen gab.


Kunst und Technik

Der allgemein geteilte Wunsch nach einer Veränderung der Gesellschaft brach sich Bahn in einer Vielzahl utopischer Bauprojekte - handle es sich um Mies van der Rohes berühmten Entwurf für das gläserne Hochhaus am Bahnhof Friedrichstrasse in Berlin oder die weltumspannenden Visionen von Bruno Taut, die in einer Reihe von Buchveröffentlichungen erschienen. Als Publizist, als Gründer des logenartig organisierten Zusammenschlusses «Die gläserne Kette» und als Herausgeber der Zeitschrift «Frühlicht» kam Bruno Taut die Rolle des Impresarios unter den expressionistischen Architekten zu; als er 1921 den Posten des Stadtbaurats in Magdeburg übernahm, sah sich der Visionär mit einer Baupraxis konfrontiert, die kaum Spielraum für Utopien liess.

Einige Kollegen standen dem emphatischen Gestus ohnehin seit Anbeginn mit Skepsis gegenüber: Hans Poelzig etwa, der mit der Tropfsteinhöhle des Grossen Schauspielhauses für Max Reinhardt (1918/19) ein Schlüsselwerk des neuen Formempfindens realisieren konnte, oder Erich Mendelsohn, dessen Potsdamer Einsteinturm vielleicht als die Ikone des Expressionismus schlechthin gelten kann. Das ideale Erlebnis stehe über dem räumlichen, der Geist über der Form selbst, so Mendelsohn über Tauts Phantasmagorien. 1923 endete mit Gropius' Slogan «Kunst und Technik - eine neue Einheit» auch im Bauhaus die expressionistische Frühphase. Gerade in Norddeutschland allerdings blieb das expressive Formvokabular noch längere Zeit virulent.

Von der rationalistisch-funktionalistisch orientierten Hagiographie der Moderne marginalisiert, wurde der architektonische Expressionismus erst verspätet wiederentdeckt. Wolfgang Pehnt legte 1973 mit seiner «Architektur des Expressionismus» das Standardwerk vor, das genau ein Vierteljahrhundert später in einer zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage erschien. Denn in den vergangenen zwei Dekaden hat sich die Kenntnis der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts grundlegend erweitert. Dass keineswegs ein Königsweg in die Moderne führte, dass es Seitenpfade, Irrwege gegeben hat, die es eher erlauben, von einem rhizomatischen Geflecht zu sprechen, dürfte zum Gemeingut geworden sein. So kann die Bremer Ausstellung von den Forschungsarbeiten der vergangenen Jahre profitieren - galten sie nun Bruno Taut oder den Brüdern Luckhardt, Hugo Häring, Hermann Finsterlin oder Fritz Höger. Nach der Schau «Expressionismus und Neue Sachlichkeit» im Deutschen Architektur-Museum 1994 handelt es sich zweifellos um die wichtigste Ausstellung zum Thema. Mit mehr als 120 Modellen, Gemälden und Zeichnungen gibt sie einen hervorragenden Überblick über die eindringlichste Epoche in der deutschen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Als der im Gefolge der Novemberrevolution gegründete «Arbeitsrat für Kunst» im April 1919 in der Berliner Galerie von I. B. Neumann seine «Ausstellung für unbekannte Architekten» veranstaltete, war auch eine Reihe von Projekten des «Tempelkünstlers» und Germanenschwärmers Fidus vertreten. Die Präsentation der pathetischen Kultbau-Entwürfe ist charakteristisch für die parasakrale Grundierung der expressionistischen Bewegung, die ihre weltanschauliche Verankerung bald in christlichen Reformbestrebungen - Otto Bartnings «Sternkirche» beispielsweise, deren Originalmodell von 1922 in der Ausstellung vertreten ist -, bald in der Theosophie oder Anthroposophie, bald im Sozialismus oder Kommunismus, dann aber auch in völkischen, germanisierenden oder nationalistischen Ideologien fand. Diese Spannweite anhand prägnanter Projekte aufzuzeigen, ist ein Verdienst der Bremer Präsentation, die sich in sechs Abteilungen gliedert und mit Themen wie «Vorwärts in die Vergangenheit», «Von Arkadien nach Metropolis» oder «Sozialismus und Nationalsozialismus» gerade auch die ideologische Ambivalenz des architektonischen Expressionismus thematisiert - der als einheitliche Strömung ohnehin nie existiert hat.


Aktualität des Expressionismus

Neben die «Gläserne Kette» mit Arbeiten von Bruno und Max Taut, Wenzel Hablik, Hermann Finsterlin sowie Hans Scharoun und das frühe Bauhaus tritt eine Reihe anderer Positionen: so die grandiose «Kunststätte», welche der aus Zug stammende Schweizer Bildhauer Johann Michael Bossard über mehrere Jahrzehnte im Sinne seiner nietzscheanisch-germanisierenden Privatmythologie im Heidesand als Tempel- und Atelierkomplex errichtete - ein wenig bekanntes Hauptwerk des norddeutschen Expressionismus. Und Hermann Sörgel verfolgte seit 1928 die «Atlantropa» benannte Idee, durch einen gigantischen Damm bei Gibraltar den Pegel des Mittelmeers abzusenken und Europa und Afrika zu einem Superkontinent zu verschmelzen. An der Vision beteiligten sich mit Peter Behrens, Erich Mendelsohn, Cornelis van Eesteren, Hans Poelzig, Fritz Höger und Lois Welzenbacher einige der prominentesten Architekten der Zeit.

Nach der Phase des Minimalismus besitzen expressive Formen heute neue Aktualität - avancierte Software ermöglicht es, dass die Ideen von Frank O. Gehry, Ben van Berkel, Greg Lynn oder Asymptote sich berechnen und schliesslich auch realisieren lassen. Anders als früher, so Wolfgang Pehnt in seiner Einleitung zum Bremer Katalog, ist der zeitgenössische Expressionismus allerdings nicht mehr mit sozialen oder religiösen Glaubensbekenntnissen verbunden. In der Tat zeigt er sich als ein Stil unter anderen, bleibt letztlich ästhetisch motiviert. - In Bremen lohnt ergänzend zu der Schau in der Böttcherstrasse ein Blick auf zwei Meisterwerke des «Nachkriegsexpressionismus»: Direkt am Markt steht das gläserne «Haus der Bürgerschaft» (1959-1966), ein auf das Überzeugendste in den historischen Bestand eingefügtes Spätwerk von Wassili Luckhardt, und hinter dem Bahnhof die durch sechs in den Himmel ragenden Pylonen gegliederte Stadthalle (1955- 1964) von Roland Rainer, die leider durch Umbaupläne gefährdet ist.


[Bis zum 8. Juni im Paula-Modersohn-Becker-Museum in Bremen, anschliessend vom 16. Juli bis zum 15. September im Bauhaus-Archiv Berlin. Katalog: Bau einer neuen Welt. Architektonische Visionen des Expressionismus. Hrsg. Rainer Stamm und Daniel Schreiber. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2003. 192 S., Euro 24.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2003.05.12

28. April 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Wolkenbauer, Aufklärer, Architekten

Das als «Wolke» von Yverdon-les-Bains bekannt gewordene «Blur Building» war eine der Hauptattraktionen der Expo 02. Nun widmet das Whitney Museum seinen Erfindern, dem im Grenzbereich von Kunst und Architektur operierenden New Yorker Architektenduo Diller & Scofidio, eine umfangreiche Werkschau.

Das als «Wolke» von Yverdon-les-Bains bekannt gewordene «Blur Building» war eine der Hauptattraktionen der Expo 02. Nun widmet das Whitney Museum seinen Erfindern, dem im Grenzbereich von Kunst und Architektur operierenden New Yorker Architektenduo Diller & Scofidio, eine umfangreiche Werkschau.

Beweglich aufgehängt an Schienen, gleitet eine Schlagbohrmaschine durch die Ausstellungssäle im vierten Obergeschoss des Whitney Museum in New York. Nach dem Zufallsprinzip bohrt das digital gesteuerte Gerät Löcher in die Wände, die somit zunehmend perforiert erscheinen und sukzessive sogar Durchblicke zwischen den Ausstellungssälen freigeben. Tritt sonst der «white cube» des Museumsraums gemeinhin in den Hintergrund, um der Kunst den Vortritt zu lassen, so erzwingt er hier im Fortschritt seiner gezielten Zerstörung die Aufmerksamkeit der Besucher.

Indem die als «work in progress» konzipierte Installation «Mural» auf eine veränderte Wahrnehmung einer spezifischen Raumsituation zielt und mit den peepshowartigen Wandöffnungen an das voyeuristische Empfinden appelliert, umkreist sie Themen, welchen sich Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio seit Beginn ihrer gemeinsamen Tätigkeit im Jahr 1979 widmen. Es sollte aber zwanzig Jahre dauern, bis die beiden New Yorker Architekten, die an der Princeton University beziehungsweise der Cooper Union lehren, ihr erstes grosses Architekturprojekt realisieren konnten; und es ist bezeichnend, dass dieses nicht in den USA, sondern in Japan geschah. «Slither Building» heisst das experimentelle Gebäude in Gifu, dessen 105 Wohnungen in 15 Stapel zu 7 Einheiten organisiert sind. Jeder Stapel ist gegenüber seinem Nachbarn um 1,5 Grad abgewinkelt und überdies in der Horizontalen sowie der Vertikalen leicht versetzt. Anstelle eines stereotypen orthogonal ausgerichteten Riegels entstand somit ein leicht schwingendes Gebilde; zickzackförmige Laubengänge treten an die Stelle monotoner Erschliessungskorridore und verleihen den einzelnen Wohnungen Spezifik und Individualität.


Facetten der Wahrnehmung

Inzwischen ist den Architekten der lang verdiente Erfolg auch in den Vereinigten Staaten zuteil geworden. Im New Yorker Stadtteil Chelsea entsteht das aufsehenerregende Gebäude für die Non-Profit-Medienorganisation «Eyebeam», das als eine sich bandartig in die Vertikale schraubende Raumstruktur konzipiert wurde, und am Harborwalk in Boston wird das Institute of Contemporary Art als eine spektakulär über das Wasser auskragende zweigeschossige Glasbox errichtet, deren Sockel Freitreppen und ein ebenfalls verglastes Auditorium bilden. Mit beiden Projekten waren Diller & Scofidio auf der letztjährigen Architekturbiennale vertreten.

Zeitgleich mit der Hausschlange im fernen Gifu konnten Diller & Scofidio ein Projekt an einem der prominentesten Orte New Yorks realisieren: «The Brasserie» im Sockel von Mies van der Rohes Seagram Building. Ohne die Initiative von Phyllis Lambert, der Mies van der Rohe seinerzeit den Hochhausauftrag zu verdanken hatte und die bei baulichen Interventionen an diesem Meisterwerk der Moderne weiterhin Entscheidungsbefugnis besitzt, wäre die Wahl kaum auf ein derart unkonventionelles Architektenteam gefallen; so aber ist das wohl bemerkenswerteste Restaurantinterieur entstanden, das die Stadt am Hudson derzeit vorzuweisen hat. Durch eine geschickte Gliederung des Raums, der sich in verschieden materialisierte Bereiche unterteilt, gelang es, das Essen als ein zwischen Privatheit und Öffentlichkeit oszillierendes Ritual zu inszenieren. Eine Videokamera als gleichsam virtueller Portier erfasst die Gäste beim Betreten des kleinen Foyers; die Bilder werden auf den fünfzehn Monitoren über dem Bartresen in einer transitorischen Sequenz zur Schau gestellt.

Sehen und gesehen werden, offenbaren und verschleiern, beobachten und überwachen, das sind Facetten der Wahrnehmung, denen sich Diller & Scofidio auf verschiedene Arten nähern. Immer wieder ist es das technische Auge der Kamera oder des Röntgengerätes, dessen Bilder dem wirklichen Geschehen gegenübergestellt werden. Dabei vermischen sich reale Aufnahmen mit fiktiven, wie beispielsweise bei der zurzeit in Ausführung befindlichen Installation «Facsimile», einem Kunst-am-Bau-Projekt für das von Gensler Associates realisierte Moscone Convention Center West in San Francisco. Ein grosser Videomonitor fährt entlang der verspiegelten Fassade des Gebäudes und zeigt - wie in einem Brennglas - vergrösserte Ausschnitte des Geschehens im Inneren, die durch Überlagerung mit gespielten Szenen verfremdet sind.

In einem Land, das durch ein zunehmend obsessives Sicherheitsbedürfnis charakterisiert ist, in welchem unzählige Videokameras öffentliche Plätze erfassen und die Privatisierung des öffentlichen Raumes fortschreitet, besitzen die subversiven Arbeiten des Architektenteams Brisanz. Dabei setzen Diller & Scofidio nicht auf politische Statements, sondern auf Irritation. «Scanning - the aberrant architectures of Diller & Scofidio» heisst der Titel der grossen, von Kurator K. Michael Hays und Aaron Betsky, dem Leiter des Niederländischen Architekturinstituts Rotterdam, betreuten Retrospektive, in welcher das Whitney Museum of American Art die vielfältigen Arbeiten des Architektenduos dokumentiert - von den frühen Performances über diverse Szenographien und Installationen bis zu den jüngsten Bauten und Projekten. Dabei galt die Auseinandersetzung immer wieder der (amerikanischen) Alltagskultur. «Bad Press - Dissident Housework Series» (1993-98) etwa zeigt Hemden, die entgegen jeglicher Arbeitsökonomie durch Bügeln zu origamiartigen Textilfaltwerken geworden sind.

«The American Lawn: Surface of Everyday Life» (1998) ist eine mit dem ironisierten Gestus der Wissenschaftlichkeit vorgetragene Untersuchung des amerikanischen Abstandsgrüns. Und «Tourisms: Suit Case Studies» (1991) besteht aus 50 aufgeklappten Koffern, in denen Postkarten von Betten oder Schlachtfeldern aller amerikanischen Bundesstaaten zu sehen sind - reduzierte Konzentrate touristischen Interesses. Die aufwendigste Installation schliesslich ist «Master/Slave», die 1998 als Präsentation der Spielzeugrobotersammlung des Chefs der Möbelfirma Vitra, Rolf Fehlbaum, in der Fondation Cartier Paris erstmals gezeigt wurde. Auf einem 90 Meter langen Band in einem grossen Schaukasten drehen die hintereinander gereihten Figuren ihre endlosen Kreise, wobei sie von Überwachungskameras beobachtet und von Röntgengeräten durchleuchtet werden. Unversehens befindet sich der Besucher in der Rolle des Aufsehers. Könnte sich das Verhältnis umkehren, wenn die Kontrolle nicht mehr gelänge?


Körperlichkeit contra Entmaterialisierung

Das «Blur Building», die grandiose Wolke der Expo 02 in Yverdon, machte Diller & Scofidio auch hierzulande einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Als Negation der üblichen szenographischen Ausstellungsinszenierung konfrontierte das feuchte Nebelgebilde die Besucher mit ihrer eigenen Körperlichkeit und ermöglichte neue Perspektiven auf Landschaft und Umgebung: Auf- Klärung in des Wortes eigentlichstem Sinne. Wie in vielen Arbeiten der Architekten diente eine elaborierte Technik letztlich dazu, einer sich entsinnlichenden Welt Sinnlichkeit zurückzugeben. Ständig aufs Neue geht es um eine von visuellen Sedimenten und Rudimenten geprägte Wirklichkeit, um «Scanning» als Wahrnehmungsform der Wirklichkeit. Und doch schimmert in den Arbeiten von Diller & Scofidio die Hoffnung auf, dass die Virtualisierung in letzter Instanz der Körperlichkeit unterliegt.


[Bis 1. Juni; Katalog: Scanning - the aberrant architecture of Diller & Scofidio. Whitney Museum of American Art, New York 2003. 192 S., $ 45.- (ISBN 0-87427-131-2).]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2003.04.28

11. April 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

„Architekturzoo“

Prouvé-Tankstelle in Weil am Rhein

Prouvé-Tankstelle in Weil am Rhein

Der französische Ingenieur Jean Prouvé (1901-1984) gilt als einer der wichtigsten Konstrukteure des 20. Jahrhunderts. Ökonomische Produktionsverfahren, industrielle Vorfertigung von Bauelementen und materialgerechte Verarbeitung wurden zu den Hauptzielen der von Prouvé zwischen 1947 und 1954 geleiteten «Ateliers Jean Prouvé». In dieser Zeit arbeitete er nicht nur an dem inzwischen bei Paris wiederaufgebauten Aluminiumpavillon und seinem eigenen Wohnhaus in Nancy, sondern auch an Kleinbauten - Notunterkünften und Tankstellen. Von den etwa zwanzig Tankstellenprojekten wurde lediglich ein Typus realisiert; einer der drei erhaltenen Bauten von 1951 ist nun in Weil am Rhein auf dem Werksgelände der Firma Vitra errichtet worden, welche die Exklusivrechte der Arbeiten von Jean Prouvé erworben und im vergangenen Jahr eine Reihe seiner Sitzmöbel und Tische reediert hat. Die Tankstelle, die einst im Département Haute-Loire stand und nun den «Architekturzoo» von Vitra bereichert, besteht aus vorfabrizierten Elementen aus Metall, die leichte Demontierbarkeit garantierten. Tragwerk und Wandaufbau sind deutlich voneinander getrennt; ein für Prouvé typisches Vorgehen, das hier durch die weisse, grüne und rote Lackierung der wie in einem Metallbaukasten miteinander verbundenen Teile noch unterstützt wird.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.04.11

09. April 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Formale Zurückhaltung

Renzo Pianos Restrukturierung der Morgan Library in Manhattan

Renzo Pianos Restrukturierung der Morgan Library in Manhattan

Die Morgan Library zählt mit ihrer Kollektion von Zeichnungen, Grafiken und Büchern des 15. bis 19. Jahrhunderts zu den bedeutendsten Sammlungen New Yorks. Die durch J. Pierpont Morgan (1837-1913) und seinen Sohn J. Pierpont Morgan jr. zusammengetragenen Bestände stehen seit 1924 dem Publikum zum Besuch offen. Sehenswert indes sind nicht nur die Wechselausstellungen, sondern auch die historischen Bauten an der Madison Avenue. Das eigentliche Bibliotheksgebäude, 1906 durch Charles McKim vom renommierten Büro McKim Mead & White errichtet, wurde 1928 durch einen Erweiterungsbau ergänzt; zum Ensemble gehört überdies die Villa der Morgans, ein mehrfach umgebautes Brownstone-House aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die ständige Raumnot, welche durch einen die Solitäre verbindenden Wintergarten kaum gelindert werden konnte, bewog die Leitung der Bibliothek im Jahr 2000, das Büro von Renzo Piano mit einem Konzept für die Erweiterung des Ensembles zu betrauen. Kurz bevor die Morgan Library im Mai für drei Jahre vollständig geschlossen wird, sind nun die Pläne und Modelle im Foyer ausgestellt. Dem Genueser Architekten, der in New York auch mit der Planung eines Hochhauses für die New York Times beschäftigt ist, gelingt es, zwischen die bestehenden Körper drei Volumina unterschiedlicher Proportion zu schieben und so die Zusammengehörigkeit des Ensembles zu verstärken. Hier sollen Räume für Sonderausstellungen untergebracht werden, während ein opulenter gläserner Lichthof das neue Zentrum bildet, von dem aus auch das unterirdische Auditorium zugänglich ist. Pianos orthogonale Stahl-Glas-Struktur übt sich in formaler Zurückhaltung und orientiert sich in ihrer Höhe an den bestehenden Bauten. Für deren Renovierung ist das durch denkmalpflegerische Projekte (wie die Erneuerung des Grand Central Terminal) ausgewiesene ortsansässige Büro Beyer Blinder Belle zuständig.


[Bis 4. Mai; kein Katalog.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.04.09

03. April 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Bauen als urbane Intervention

Rechtzeitig zur Eröffnung der Uhren- und Schmuckmesse, einer internationalen Paradeveranstaltung Basels, konnte der Messeturm der Architekten Morger & Degelo und Marques bezogen werden. Das höchste Haus der Schweiz, das mit grandiosen Blicken über das Dreiländereck aufwartet, hat die Topographie der Stadt verändert.

Rechtzeitig zur Eröffnung der Uhren- und Schmuckmesse, einer internationalen Paradeveranstaltung Basels, konnte der Messeturm der Architekten Morger & Degelo und Marques bezogen werden. Das höchste Haus der Schweiz, das mit grandiosen Blicken über das Dreiländereck aufwartet, hat die Topographie der Stadt verändert.

Seit den späten achtziger Jahren betreiben die Basler Architekten Meinrad Morger und Heinrich Degelo eine gezielte baukünstlerische Recherche. Mit dem Wohnungsbau an der Müllheimer Strasse (1993) und dem Schulhaus Klybeck-Dreirosen (1996) führten sie die Tradition der Moderne fort. Es folgte - in Arbeitsgemeinschaft mit Christian Kerez - der irritierende Kubus des Kunstmuseums Vaduz (2000). Der abgeschliffene Beton dieses monolithisch gegossenen Baukörpers brach endgültig mit dem Dogma, die Funktion eines Gebäudes müsse sich am Äusseren abzeichnen. In einer Reihe von Wohnbauten variierten die Architekten dann den Gedanken, eine starke Form durch differenzierte Binnengliederung mit Komplexität anzureichern. Immer wieder setzten sie sich daneben mit suburbanen Situationen auseinander: So oszillieren zwei Doppelhäuser in dem von Bauten der Nachkriegsära geprägten Ortskern von Riehen zwischen Adaption und Verfremdung. In Reinach, einer grossen Basler Agglomerationsgemeinde, entstand Ende letzten Jahres aus vier Baukörpern ein Zentrum, welches der wenig definierten städtebaulichen Situation einen Schwerpunkt und damit Identität verleiht.
Unübersehbares Zeichen

Mitten im Herzen von Kleinbasel ist ihnen nun mit dem Messeturm etwas Ähnliches gelungen. Als ihr Hochhausentwurf 1999 in der zweiten Runde des Studienauftrags für eine Neugestaltung des Messeplatzes den ersten Preis erzielte, konnten Morger & Degelo - zusammen mit ihrem Projektpartner, Daniele Marques aus Luzern - den bisher grössten Erfolg ihrer beruflichen Laufbahn feiern. Die zuvor realisierte gläserne Messehalle von Theo Hotz und der Messeturm stehen dafür, dass die Basler Messe weiterhin auf ihren angestammten Standort setzt. Dank einer guten Verkehrsanbindung konnte Basel auf die heute übliche Verlagerung der Messegelände an die Peripherie verzichten und das besucherfreundlich gelegene innerstädtische Areal beibehalten. Allerdings mangelte es dem stetig gewachsenen Konglomerat von Hallenbauten an architektonischer Einprägsamkeit und klaren städtebaulichen Bezügen. Auf der Achse Badischer Bahnhof - Mittlere Rheinbrücke wirkte das Messegelände wie ein Störfaktor. Die im Zeitalter von Branding und Corporate Identity so wichtige städtebauliche Zeichenhaftigkeit fehlte dem Ensemble, so dass sich selbst das riesige Volumen der Halle von Hotz in der Achse des Riehenrings zu verlieren schien.

Mit dem 31-geschossigen Hochhaus von Morger & Degelo und Marques hat sich diese Situation grundlegend geändert. Der orthogonale Turm mit seiner grünlich schimmernden, von geschosshohen eloxierten Metallrahmen eingefassten Verglasung ist unübersehbar. Wo immer man in Basel einen Blick über die Stadt hat - und das ist dank dem hoch gelegenen Rheinufer und der hügeligen Altstadttopographie an vielen Stellen der Fall -, beherrscht das Messehochhaus die Silhouette. Es setzt nicht nur den Gegenpol zur historischen Stadtkrone des Münsters, sondern überragt auch die anderen vertikalen Dominanten: den Lonza-Turm und den Zylinder der BIZ. Auch wenn sich dieser «Wolkenkratzer» in der Skyline von Frankfurt, London oder amerikanischen Städten vollständig verlöre, so ist der Messeturm mit seinen 105 Metern doch das zurzeit höchste Haus der Schweiz. Einstweilen fungiert es im städtebaulichen Kontext als Solitär, was der Messe Basel nur recht sein kann. Meinrad Morger aber ist der Idee einer Clusterbildung von Hochhäusern nicht abgeneigt, und in der Tat bestehen Überlegungen, die Baumasse auf dem Areal südlich des Messeplatzes stärker zu verdichten. Damit könnten hier weitere Türme in den Himmel wachsen. Verliert demnach Adolf Loos' Diktum, die Ebene verlange eine vertikale Baugliederung, das Gebirge hingegen eine horizontale, auch für die Schweiz seine Gültigkeit? Der Messeturm zwingt jedenfalls dazu, die Frage nach dem Hochhaus hierzulande neu zu stellen. Zumal nicht mehr nur in New York in neuen Hochhäusern sogar gewohnt wird.
Hybrider Funktionsmix

Auch der Messeturm Basel dient zum Teil dem Wohnen, wenn auch nur dem temporären. Denn es handelt sich nicht um ein gewöhnliches Bürohochhaus, sondern um ein funktional hybrides Gebäude, welches das Servicezentrum und die Verwaltung der Messe, ein Hotel sowie fremdvermietete Bürogeschosse gleichermassen umfasst. Konstruktiv offenbart sich hinter der gläsernen Fassade in der ringsum sichtbaren zweiten Ebene ein Stahlbetonskelett, das durch den in Ortbeton ausgeführten Erschliessungskern ausgesteift wird. Entsprechend der Auflast nimmt die Stärke der Stützen nach oben hin sukzessive ab. Während das Hotel - auf dessen Einrichtung die Architekten keinen Einfluss hatten - heute anlässlich der Uhren- und Schmuckmesse eröffnet wird, werden die Büro- und Verwaltungsgeschosse erst unmittelbar vor der Art Basel in Betrieb genommen. Die Gestaltung des Messeplatzes mit der Typographie des österreichischen Künstlers Heimo Zobernig dürfte in den kommenden Monaten und diejenige der «Skybar» im 31. Geschoss erst gegen Ende des Jahres abgeschlossen sein.

Im Erdgeschoss des Gebäudes trennen sich die Wege: Zum Servicezentrum der Messe fährt man über die Rolltreppe hinauf ins erste Obergeschoss, die grosszügige Halle dient als Bar- Lounge und Reception. Spektakulär ist der Raum gewordene Lüster, ein rechteckiger, von hell erleuchteten Lichtbrüstungen umgebener Schacht, der die Geschosse des Vorbaus durchstösst und durch das Glasdach hindurch den Blick auf die Vertikale des Turms freigibt. - Der 8 Meter über der Strassenebene, 12 Meter nach Osten und 24 Meter nach Süden auskragende Bauteil stellt das eigentlich spektakuläre Element des Entwurfs dar. Die untere Ebene beherbergt das Servicecenter, während darüber der Restaurant- und Konferenzbereich angeordnet ist. Eine von aussen sichtbare Stahlfachwerkkonstruktion, deren Diagonalen an dem sonst durch strenge Orthogonalität bestimmten Gebäude einen expressiven Akzent setzen, erlaubt es, das Innere weitgehend stützenfrei zu halten und das Gewicht des Auslegers zu reduzieren. Im Gleichgewicht gehalten wird der augenfällige Bauteil durch den als Auflagermasse fungierenden Turmbau. Nicht nur die Fassaden des Auslegers sind vollständig mit Glas verkleidet, sondern auch dessen Dach und dessen Unterseite.

Die Auskragung will mehr sein als eine ingenieurtechnische Glanzleistung. Sie garantiert die Einbindung der Messe ins Stadtbild. Vom Badischen Bahnhof und vom Zentrum Kleinbasels aus gesehen, schiebt sich dieses auffällige architektonische Element in die Sichtachse und perspektiviert den Blick. Ein bisher zusammenhangsloser Stadtraum erhält seine optische Fassung. Darüber hinaus gelingt es Morger & Degelo und Marques scheinbar beiläufig, dem in allen Varianten vertrauten Typus Hochhaus ironisch eine neue Dimension abzugewinnen: Denn die Architekten folgen mit ihrem abstrakten Glasturm zwar dem seit Gordon Bunshafts New Yorker Lever House geläufigen und von Arne Jacobsen beim SAS- Hotel in Kopenhagen adaptierten Typus des Hochhauses über podiumsähnlichem Sockel, heben die horizontale Zone aber an und bringen sie in irritierender Weise zum Schweben. Internationale Hochhauskonzepte, die sich bald phallisch, bald prismatisch zersplittert geben und dann wieder von der Struktur einer Doppelhelix inspiriert sind, stossen in der Schweiz noch nicht auf Widerhall.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2003.04.03



verknüpfte Bauwerke
Messeturm Basel

26. Februar 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Der Kunst eine Gasse

Durch die Zusammenlegung zweier Sammlungen ist in Rovereto das MART, eines der grössten Museen moderner Kunst in Italien, entstanden. Der Neubau von Mario Botta gruppiert sich um einen Lichthof. Geschickt in die Topographie eingefügt, erweist sich das Museum hinsichtlich der räumlichen Organisation indes als eher problematisch.

Durch die Zusammenlegung zweier Sammlungen ist in Rovereto das MART, eines der grössten Museen moderner Kunst in Italien, entstanden. Der Neubau von Mario Botta gruppiert sich um einen Lichthof. Geschickt in die Topographie eingefügt, erweist sich das Museum hinsichtlich der räumlichen Organisation indes als eher problematisch.

Nähert man sich, die Etsch entlang von Verona aus Richtung Norden fahrend, der Stadt Rovereto, so sticht am Hang oberhalb des Ortes ein gewaltiges zylindrisches Bauwerk ins Auge: Ferdinando Discaccianti errichtete den «Sacrario Militare di Castel Dante» 1936 als monumentales Ossuarium für die mehr als 20 000 Soldaten der österreichischen Monarchie und Italiens, die zwischen 1915 und 1918 im Kampf um Rovereto und den nahe gelegenen, strategisch bedeutsamen Monte Pasubio fielen. Im Ersten Weltkrieg österreichisch, 1919 mit Südtirol an Italien abgetreten, wird das im Kern beschauliche Städtchen Rovereto wenig wahrgenommen; zu nahe sind die eigentlich attraktiven Ziele - der Gardasee im Westen, Verona im Süden, Bozen und Meran im Norden. So dient das nach zehnjähriger, durchaus umstrittener Planung eröffnete Museo di arte moderna e contemporanea di Rovereto e Trento (MART) nicht zuletzt dazu, kulturinteressierte Besucher in die Region zu locken. Zwei eigenständige Sammlungen wurden 1987 zum MART vereinigt: die Abteilung 20. Jahrhundert des Trentiner Landesmuseums und der in der «Casa Museo Depero» aufbewahrte Nachlass des in Rovereto tätigen Futuristen Fortunato Depero (1892-1960). Als «Archivio del '900» ist die Kollektion unter der agilen Leiterin Gabriella Belli ausgebaut und um ein internationales Zentrum für Futurismusforschung ergänzt worden.


Rotunde als Geste

Schon 1987 mit ersten Planungen betraut, entwarf Mario Botta gemeinsam mit Giulio Andreolli 1992/93 sein Ausführungsprojekt, das 1995 seitens der Provinz Trient bewilligt wurde. Dabei entstanden für ungefähr 50 Millionen Euro neben Räumlichkeiten für Museum, Verwaltung und Forschung auch eine Bibliothek, ein Café und ein 450 Plätze umfassender Vortragssaal für die Gemeinde. Spricht man das Akronym MART englisch aus, so lässt sich auch an eine Markthalle denken - eine Markthalle der Kultur.

Botta ist ein Architekt, der seit je den kleinen Massstab besser beherrscht als den grossen. Gleichwohl hat er sich in den vergangenen Jahren immer wieder an Grossprojekten versucht, bei denen die Vorliebe für architektonische Primärformen verschiedentlich zu kulissenartigen Formcollagen geriet. Auch beim Hauptgebäude in Rovereto handelt es sich um ein mächtiges, mit gelblicher Pietra Dorata verkleidetes Volumen; seine Abmessungen betragen 90 mal 75 Meter. Doch ist es innerhalb der Stadt kaum sichtbar, weil es zurückgesetzt hinter dem vom Zentrum aus Richtung Norden führenden Corso Bettini liegt und Richtung Osten in den ansteigenden Hang eingeschnitten ist. Der Corso Bettini wird von repräsentativen Gebäuden des 18. Jahrhunderts gesäumt; eine Gasse zwischen dem Palazzo dell'Annona, in dem sich die Biblioteca Civica befindet, und dem von der Stadtverwaltung genutzten Palazzo Alberti wurde als Zugangsachse ausgebaut. Zwischen den beiden aus Kalkstein gemauerten Palazzi gelangt man entlang an Mauern, hinter denen sich die vorgelagerten Baukörper der Bibliothekserweiterung und des Vortragssaals befinden, in einen kreisförmigen gläsernen Lichthof von 40 Metern Durchmesser. Dieser liegt inmitten des Museumsgevierts, dessen Fassaden nicht in Erscheinung treten, und fungiert mit dem zentralen, von Mimmo Paladinos archaisierender Figurengruppe «Pietre» (1998) umstandenen «Marktbrunnen» als öffentliche Plaza.

Diese versteckte Rotunde der Lebenden bildet als Hohlform die Antithese zu dem über Rovereto thronenden Zylinder des Ossuariums als des Ortes der Toten. 19 Gitterträger - der letzte ist der Erschliessungsachse geopfert - stützen das flach verglaste Zeltdach, dessen mittiger Druckring als Oculus ausgebildet ist und damit das Vorbild des Pantheons in Erinnerung ruft. Zweifellos ist die Einschachtelung einer Rundform in ein orthogonales Volumen eines der im Œuvre Bottas ostinaten Motive - nicht nur im Bereich des Museumsbaus, wie beispielsweise beim San Francisco Museum of Modern Art. Deutlicher als dort klingt indes in Rovereto das klassizistische Vorbild für diese Lösung an: Schinkels Altes Museum auf der Berliner Museumsinsel, auf das schon James Stirling bei seiner Stuttgarter Staatsgalerie rekurrierte. Konnte der Berliner Baumeister indes am Beginn des 19. Jahrhunderts die Kombination einer auratisierten Rotunde als eines ideellen Nukleus mit zweckmässigen Museumssälen im Sinne eines idealistischen Kulturverständnisses legitimieren, so reduziert sie sich bei Botta auf das Formale; die parasakrale Geste nobilitiert eine Raumsituation, die im besten Fall quirligem Kommen und Gehen Platz bietet, zuweilen aber auch nur wie ein überdimensionierter Durchgangsort wirkt.

Schinkel hatte seine Pantheon-Rotunde bewusst nur als Innenraum erlebbar werden lassen - Botta dagegen versucht, den Mauerzylinder begehbar zu machen. Allerdings ist der von aussen zu betretende Umgang auf Höhe des ersten Obergeschosses ebenso zwecklos wie die beidseitig hinter den schlitzähnlichen Wanddurchbrüchen emporsteigenden Treppenrampen: Wer am Ende vor den verschlossenen Stahltüren des obersten Ausstellungsgeschosses steht, merkt, dass es sich einzig um Fluchtwege handelt. Nur die gläserne Brücke über der Eingangsachse als Verbindung der beiden Museumsflügel ermöglicht einen kurzen Einblick in den Lichthof.


Grosszügige Ausstellungsflächen

Der Haupteingang des Museums liegt in der Achse der Erschliessung und führt in eine rechteckige Halle, die von dem rückwärtigen, doppelläufig nach unten (zum Archiv, zur Museumsbibliothek, zum Studienzentrum und zu den Depoträumen) und oben führenden Treppenhaus beherrscht wird. Café und Shop, Kasse, Garderoben und Auditorium haben im Erdgeschoss Platz gefunden, während im ersten Obergeschoss beidseitig der Erschliessungsbereiche Ausstellungsräume zur Verfügung stehen. Weitgehend künstlich belichtet, bieten sich diese zur Präsentation von Grafiken oder Videokunst an. Die in ihren Ausmassen nachgerade gigantische Hauptausstellungsebene befindet sich im zweiten Obergeschoss. Wie auch in der Ebene darunter ist die fliessende Struktur der weissen Ausstellungsräume durch den Quadratraster aus Rundstützen und versetzbaren Wänden gegliedert. Der kräftige Deckenraster wird durch insgesamt 183 Oberlichter natürlich belichtet.

Die sehenswerte Eröffnungsausstellung unter dem Titel «Le Stanze dell'Arte» gibt einen - an den Sammlungsbeständen orientierten - Überblick über die Kunst des 20. Jahrhunderts, ergänzt durch internationale Leihgaben. Die Schau beginnt mit Segantini und Medardo Rosso, setzt ihren ersten Schwerpunkt im Bereich des Futurismus und endet mit minimalistischen Positionen sowie der Sektion «Unrecognized», in der die grosse Arbeit «Work in Progress» (2002) von Magdalena Abakanowicz hervorsticht. Im Geschoss darunter sind unter dem Titel «L'arte del colore» amerikanische Arbeiten der achtziger und neunziger Jahre aus der Sammlung Panza di Biumo sowie Werke unter dem Schlagwort «L'Archivio e la sua immagine» ausgestellt.


[Die Eröffnungsausstellung dauert bis zum 13. April; Katalog: Le Stanze dell'Arte. Figure e Immagini del XXo Secolo. Hrsg. Gabriella Belli. Skira, Mailand 2002. 536 S., Euro 40.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.02.26



verknüpfte Bauwerke
MART - Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto

22. Februar 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Metropolitanes Bauen für Mailand

Der Architekt Luigi Caccia Dominioni in Verona

Der Architekt Luigi Caccia Dominioni in Verona

Der im Jahre 1913 in Mailand geborene Architekt Luigi Caccia Dominioni darf als ein Bindeglied zwischen den Vertretern der Novecento- Baukunst und des Rationalismus der zwanziger und dreissiger Jahre sowie Aldo Rossi oder Vittorio Gregotti gelten, die Mitte der sechziger Jahre mit massgeblichen Publikationen eine neue Ausrichtung des architektonischen Diskurses in Italien in die Wege leiteten. Obwohl Caccia Dominioni im hohen Alter von 90 Jahren noch immer tätig ist und gerade einen mit Strukturelementen verkleideten Supermarkt im Osten von Mailand fertigstellen konnte, fallen seine wichtigsten und einflussreichsten Bauten in die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Sequenz seiner Hauptwerke begann noch in den vierziger Jahren mit dem Wiederaufbau des kriegszerstörten Familiensitzes an der Piazza Sant'Ambrogio: Unter Einbeziehung erhaltener Mauern wurde die klassische Typologie eines Palazzo im neuen Geiste interpretiert. Das sensible Oszillieren zwischen Tradition und Moderne zeigte sich später (1968-70) auch an einem turmartigen Gebäude, das die aus dem Cinquecento stammende Kirche San Fedele mit dem Neubau der Chase Manhattan Bank von BBPR verbindet. Als seine eigentlichen Meisterwerke indes sind die grossen Apartmentbauten anzusehen, mit denen Caccia Dominioni Musterbeispiele für eine metropolitane Architektur schuf. In der Nähe der Fiera di Milano entstand 1956 ein zehngeschossiger Riegel, an der Piazza Carbonari ein durch seine mehrfach geknickte Dachlinie expressiver Baukörper (1961). Die Verkleidung mit schmalen Keramikfliesen, die wechselnden Fensterformate und die Blockhaftigkeit des Volumens weisen auf Gestaltungen voraus, die sich ähnlich auch in der heutigen Architektur der Niederlande oder der Schweiz finden lassen.

Unter dem Titel «Stile di Caccia» präsentiert nun das Museo di Castelvecchio in Verona die erste grosse Retrospektive des Architekten. Neben - eher unübersichtlich arrangierten - Fotos, Plänen und Zeichnungen sind Designobjekte ausgestellt, die der Architekt schon in den dreissiger Jahren zu entwerfen begann. Erst jüngst wurde das zwischen 1938 und 1940 von Caccia Dominioni gezeichnete Besteck von Alessi neu aufgelegt.


[ Bis 9. März im Museo di Castelvecchio in Verona. Katalog: Stile di Caccia. Luigi Caccia Dominioni - Case e Cose da Abitare. Hrsg. Fulvio Irace und Paola Marini. Marsilio Editori, Venedig 2002. 244 S., Euro 35.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2003.02.22

13. Februar 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektur, Kunst, Hygiene

Düsseldorf erinnert an die «GeSoLei»

Düsseldorf erinnert an die «GeSoLei»

Der «Ehrenhof» in Düsseldorf zählt zu den bemerkenswertesten Ensembles der Architektur der zwanziger Jahre in Deutschland. Neoklassizistische Axialität, archaisierend-fortifikatorisches Pathos, Elemente des Neuen Bauens und expressionistische Details sind hier zu einem Ensemble verbunden, welches die Rheinfront nördlich der Altstadt bestimmt und den Hofgarten zum Fluss hin abriegelt. Im Einzelnen handelt es sich bei den von Wilhelm Kreis errichteten Klinkerbauten über Muschelkalksockel um die als Planetarium erbaute Rheinhalle (heute Tonhalle), ein Museumsforum und das Restaurant Rheinterrassen.

Von vornherein als dauerhaft konzipiert, entstanden die Gebäude 1926 anlässlich der Ausstellung für «Gesundheit, Soziale Fürsorge und Leibesübungen», kurz «GeSoLei». Die mit mehr als sieben Millionen Besuchern überaus erfolgreiche Riesenschau stellte sich in die Tradition der von dem Dresdner Odol-Fabrikanten Karl August Lingner um 1900 begründeten Hygienebewegung; als wichtigster Initiator der Ausstellung, an welcher das von Lingner begründete Deutsche Hygienemuseum massgeblich beteiligt war, gilt der aus Dresden stammende Medizinalrat Arthur Schlossmann. Und Kreis, der zuvor schon für den Odol-Fabrikanten tätig gewesen war, erhielt auf Grund seines Düsseldorfer Erfolgs schliesslich den Auftrag, das seit längerem geplante Hygienemuseum in der sächsischen Metropole zu bauen.

Die Ambivalenz des Hygienediskurses in den zwanziger Jahren - er verband mit dem Ideal des Lebens in Luft, Licht, Sonne die Vorstellungen einer kulturellen Moderne und liess sich gerade im besetzten Rheinland unter dem Stichwort «Gesundung des Volkskörpers» auch national ideologisieren - bildete den Ausgangspunkt für eine umfangreiche, an der Heinrich-Heine-Universität erarbeitete Publikation zur GeSoLei unter dem Titel «Kunst, Sport und Körper». Im Zentrum der Aufsatzsammlung steht das von der Ausstellung vermittelte Bild vom Körper, wobei besonderes Augenmerk der hauptsächlich von dem Galeristen Alfred Flechtheim bestückten Ausstellung «Kunst und Sport - Kunst und Leibesübungen» galt, in der unter anderem Arbeiten von Delaunay, Baumeister, Slevogt, Grosz und Juan Gris zu sehen waren.

Allerdings kann das komplexe Phänomen GeSoLei mit diesem Zugriff nur ungenügend erfasst werden. Unterbelichtet bleibt die Gesamtkonzeption der sich weit am Rhein entlang ziehenden Ausstellungen. Von Kreis werden wieder einmal nur die dauerhaften Bauten thematisiert, und dass beispielsweise Peter Behrens in einem Musterdorf das «Haus eines Bildhauers» errichtete, erfährt man nicht. Kein Wort über Max Tauts grossen Pavillon für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, keine Informationen über Ludwig Hilberseimers grandioses Modell einer «Wohlfahrtsstadt». Auch die Präsentationsstrategien und Installationen werden nicht thematisiert - Walter von Wecus' «Ehrensaal rheinischer Naturforscher und Ärzte» etwa kann zu den wichtigen Leistungen expressionistischer Interieurgestaltung gezählt werden.

Rundum entgleist aber ist die begleitende Ausstellung im Stadtmuseum Düsseldorf. Das völlig abgewirtschaftete Haus, in dem offenkundig selbst die Motivation fehlt, Vitrinen vor ihrer Neubestückung der Reinigung zu unterziehen, wartet mit einer dilettantisch arrangierten Präsentation auf. In den zwei für die Sonderausstellung zur Verfügung stehenden Sälen sind eine Reihe geliehener Exponate lieblos und ohne jeglichen Zusammenhang abgestellt. Von den Charakterköpfen Franz Xaver Messerschmidts spannt sich der Bogen bis zu Körperdarstellungen aus der NS-Zeit. Was das alles mit der GeSoLei zu tun haben soll, erfährt man nicht: nirgends eine Erklärung, nirgends Text, selbst das Kürzel GeSoLei wird nicht erklärt.


[ Bis 20. Februar. Katalog: 1926-2002 - GeSoLei. Kunst, Sport und Körper. Hrsg. Hans Körner / Angela Stercken. Hatje-Cantz-Verlag, Ostfildern-Ruit 2002. 408 S., Euro 25.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2003.02.13

12. Februar 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Malerischer Historismus

Das Werk des Münchner Architekten Gabriel von Seidl

Das Werk des Münchner Architekten Gabriel von Seidl

Die lebendigste Schilderung von der Persönlichkeit des Münchner Architekten Gabriel von Seidl (1848-1913) vermitteln auch heute noch die Lebenserinnerungen des späteren Hamburger Stadtbaurats Fritz Schumacher, der am Beginn seiner Karriere in von Seidls Atelier angestellt gewesen war. Von der «Künstlerkegelbahn» im Garten des Familienanwesens berichtet er ebenso wie über von Seidls enge Kontakte zum Malerfürsten Franz von Lenbach oder die Arbeitsweise des Architekten, in dessen Arbeitszimmer sich Kisten voller Photographien befanden, ein «Herbarium seiner künstlerischen Entzückungen». Diese persönliche Vorbildersammlung mag charakteristisch sein für einen Architekten des späten Historismus. Sein Eklektizismus stiess denn auch bei einer jüngeren Architektengeneration auf Widerstand, ob es sich um Theodor Fischer handelte, Adolf Loos oder um Hermann Obrist, der konstatierte, dass «München im eigenen, sehr guten, selbst gemachten Renaissancefett ersticke».

Blieben von Seidl als Vertreter einer älteren Generation auch die Reformbestrebungen der Zeit um 1900 fremd, so steht das malerische Arrangement vieler seiner Bauten doch im Gegensatz zu der bald stereotypen, bald eher plumpen Ausprägung vieler historischer Bauten in Deutschland. Das Stadtbild Münchens wurde um 1900 massgeblich durch von Seidl geprägt: Zu seinen wichtigsten Bauten zählen das italianisierende Lenbachhaus (1891), die neoromanische Pfarrkirche St. Anna im Lehel (1892), das Bayerische Nationalmuseum (1899), das Künstlerhaus (1900), die Rondellbebauung am Stachus (1902) sowie der Kernbau des postum vollendeten Deutschen Museums. Darüber hinaus erhielt der erfolgreiche Architekt zahlreiche Aufträge aus ganz Deutschland, zumeist aus Kreisen, die in der Gründerzeit zu Geld gelangt waren.

Das lange währende Desinteresse der Forschung an den Bauten des Historismus, aber auch die dürftige Quellenlage - von Seidls Archiv wurde im Zweiten Weltkrieg vernichtet - verhinderten eine Beschäftigung mit dem nicht zuletzt auf Grund seiner (ebenfalls ausnahmslos zerstörten) Bierpaläste in München populär gewordenen Architekten. Nun liegt eine von der Kunsthistorikerin Veronika Hofer herausgegebene Publikation vor, die als Aufsatzsammlung konzipiert ist. Zweifellos kann diese Veröffentlichung eine wissenschaftliche Monographie nicht ersetzen: Ein Werkverzeichnis liegt nicht vor, manche Ausführungen fallen allzu kursorisch aus, und überdies bleibt die Einordnung des Œuvre in Architektur und Architekturdiskussion der Zeit defizitär. Gleichwohl werden wichtige Aspekte der Arbeit von Seidls thematisiert, etwa sein Bemühen um den Erhalt des traditionellen Ortsbildes von Bad Tölz oder das Engagement für die durch Kanalisierung und Energiegewinnungsmassnahmen gefährdeten Isar-Auen. «Man darf nie vergessen», so hatte schon Schumacher resümiert, «dass ein bestes Stück von Seidls Wirken ausserhalb seiner eigentlichen Bauten lag.»


[Gabriel von Seidl. Architekt und Naturschützer. Hrsg. Veronika Hofer. Heinrich-Hugendubel-Verlag, München 2002. 224 S., Fr. 36.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.02.12

04. Februar 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kometenschweif in Manhattan

Mit dem Neubau des „Westin Hotel“ in New York gelangt die Umwandlung des Areals rund um den Times Square in ein Unterhaltungsviertel zu ihrem Abschluss. Das in Miami ansässige Architekturbüro Arquitectonica realisierte eine bildkräftige Architektur, die in Midtown Manhattan einen unübersehbaren Akzent setzt.

Mit dem Neubau des „Westin Hotel“ in New York gelangt die Umwandlung des Areals rund um den Times Square in ein Unterhaltungsviertel zu ihrem Abschluss. Das in Miami ansässige Architekturbüro Arquitectonica realisierte eine bildkräftige Architektur, die in Midtown Manhattan einen unübersehbaren Akzent setzt.

Der Times Square mit seinen Leuchtreklamen, überdimensionalen Billboards und dem unablässigen Strom von Verkehr und Passanten gilt vielen Besuchern als Inbegriff New Yorks, als mythischer Ort des metropolitanen Lebensgefühls in Midtown Manhattan. Dabei hat die langgestreckte, sich zwischen West 42nd und West 47th Street aufspannende Kreuzung von Broadway und 7th Avenue in den vergangenen hundert Jahren mehrfach ihr Gesicht gewandelt.

Um 1900 entwickelte sich das einst als «Hell's Kitchen» verschrieene Gebiet zum Theaterdistrikt, in dem die ersten Lichtreklamen installiert wurden. Den Theaterdirektoren folgten in den zwanziger und dreissiger Jahren die grossen Kinobetreiber. Die Krise, in welche die Kinowirtschaft nach den Jahren der Depression und des Zweiten Weltkriegs geriet, forderte auch am Times Square ihren Tribut: Etliche Lichtspielhäuser wurden abgerissen und durch Bürobauten ersetzt. Der einstige Glanz des Areals war verblasst, und das Entertainment konzentrierte sich auf das Sexgewerbe.


Neues Wahrzeichen

In Übereinstimmung mit den stadtbildästhetischen Postulaten des Bürgermeisters Rudolph Giuliani begann die «New York State Urban Development Corporation» in den achtziger Jahren, mit erheblichen finanziellen Mitteln dem Schmuddel-Image den Garaus zu machen. Drogenhandel und Prostitution verschwanden aus dem Strassenbild, Pornoschuppen und Sexkinos wurden geschlossen. An ihre Stelle traten die Exponenten der globalisierten Unterhaltungsindustrie: Disney, Virgin oder MTV mit ihren Megastores und Indoor-Entertainment-Centers. Man muss den früheren Zeiten nicht nachtrauern, und doch wirkt der gentrifizierte und der konfektionierten Unterhaltungsindustrie ausgelieferte Times Square heute steril. Robert A. M. Stern hat gemeinsam mit dem Grafiker Tibor Kalman eine Gestaltungssatzung ausgearbeitet, die Proportionen und Massenentwicklung festlegt - und schliesslich auch den Einsatz der Leuchtreklamen und Billboards, ohne die der Times Square eben nicht der Times Square wäre. Exzeptionell sind die Bauten der jüngsten Zeit indes kaum geraten. Zunächst hatten Philip Johnson und John Burgee den Auftrag erhalten, die Kreuzungen von Broadway und 7th Avenue mit der 42nd Street durch vier Hochhäuser zu markieren. Das Projekt scheiterte, als Nachfolger konnten Fox & Fowle zwei Türme realisieren: das Condé Nast und das Reuters Building (1999/2001). Gerasterte Lochfassaden verbinden sich mit gekurvten gläsernen Bauteilen, doch vermag das auf zeitgemäss getrimmte Pasticcio aus Set-Back-Building und Streamline- Design nicht zu überzeugen.

Ein einziges Gebäude sticht aus dem Einerlei der Investorenarchitektur rund um den Times Square hervor: das von dem in Miami ansässigen Architekturbüro Arquitectonica entworfene Hotel «The Westin at Times Square»; im Wettbewerb 1994 hatte sich das Team gegen die Konkurrenz von Zaha Hadid und Michael Graves durchgesetzt. Genaugenommen befindet sich der Bau nicht am Times Square, sondern etwas weiter westlich, an der Kreuzung von 42nd Street und 8th Avenue. Die Lage schräg gegenüber dem von Pendlern frequentierten Port Authority Bus Terminal lässt das Gebäude zu einem neuen Wahrzeichen von Manhattan avancieren.

Arquitectonica wurde 1977 von dem in Lima geborenen Bernardo Fort-Brescia und seiner Partnerin Laurinda Spear (sowie drei weiteren Partnern, die das Büro inzwischen wieder verlassen haben) gegründet. Um 1980 überraschten die gerade einmal 30-jährigen Architekten mit einer Reihe von Apartmentkomplexen an der Biscayne Bay und am Brickell Boulevard in Miami. Immer wieder ist es die Farbe, ist es die Plastizität der Volumina, mit welcher Arquitectonica Akzente setzt; die Tradition der Moderne verbindet sich collageartig mit der Populärkultur des Südens der USA. Dabei wahren die Architekten Abstand zu geschmäcklerisch-dekorativen Lösungen postmoderner Provenienz. Auch wenn die wichtigsten Projekte des Büros in Florida realisiert wurden, ist Arquitectonica inzwischen weltweit erfolgreich: Im japanischen Fukuoka entstanden ebenso Bauten wie in Peru oder auf den Philippinen. Mit einem Bankgebäude in Luxemburg und dem «Dijon Performing Arts Center» ist das Team auch in Europa vertreten.


Aussen und innen

Entsprechend den von Robert Stern erarbeiteten Vorgaben gliedert sich der Baukomplex in drei Teile: ein «Retail Podium» entlang der 42nd Street, den Hotelturm an der 43rd Street und einen dazwischen befindlichen, blockartigen Körper, den die Architekten «Rock» nennen. Auffälligstes Merkmal ist zweifellos der Turm, der durch einen gekurvten weissen Lichtstreif gleichsam zweigeteilt scheint, als sei ein Meteorit in Midtown Manhattan eingeschlagen. Die beiden in Pultdächer auslaufenden Hälften sind nicht nur unterschiedlich hoch, sondern wurden auch hinsichtlich ihrer Oberflächen gegensätzlich materialisiert: Als Basismaterial der östlichen Hälfte dienen erdig-bronzefarbene Scheiben, die von horizontalen Streifen in anderen Farbtönen durchsetzt sind, während blaugraues Glas mit vertikalen Streifen die westliche Partie prägt. Davor lagert sich der in verschiedenen Brauntönen verkleidete «Rock», dessen Oberflächen durch Origami-ähnliche Faltungen in Bewegung gebracht sind. Den Abschluss bildet der «E Walk» entlang der 42nd Street, ein durch Werbeelemente überfrachtetes Arrangement aus Kinos, Restaurants und Geschäften, das zwar im Masterplan von Arquitectonica angelegt war, dann jedoch von der Firma D'Agostino Izzo & Quirk detailliert und ausgeführt wurde.

Um die einträglichen Shopping-Flächen zu maximieren, wurde der Haupteingang zum Hotel an die Ecke von 8th Avenue und 43rd Street gelegt. Ähnlich wie bei Philippe Starcks Hotel «Hudson» aus dem Jahr 2000 muss man zunächst eine Rolltreppe benutzen, um zur Lobby zu gelangen, die sich über dem Podium befindet. Der Empfangsbereich gibt sich modern und elegant: Die Wandverkleidung hinter der Rezeption zitiert das Origami-Motiv des «Rock», während in den Teppichen, den Deckenleuchten und den Liftschächten das Streifenmotiv des Turms zitiert wird. Variiert erscheinen die Streifen auch in den Aufzugskabinen, in der Bar und schliesslich in den Hotelzimmern, deren geschmackvolle Einrichtung ebenfalls Arquitectonica übertragen wurde. Über der Lobby befinden sich auf mehreren Ebenen Konferenzbereiche, während die meisten der insgesamt 863 Zimmer in den 45 Geschossen des Turms angeordnet sind. Der suggestivste Innenraum liegt etwas versteckt: das Atrium inmitten des «Rock». Auf drei Seiten umgeben Galerien, von denen aus weitere Hotelzimmer und Suiten zu erreichen sind, den Luftraum; die vierte Seite wird durch die Fassade des Turms gebildet, so dass der Lichtbogen des Kometenschweifs den Raum beherrscht.

Mit dem stadtbeherrschenden «Westin Hotel» setzt sich die Sequenz qualitätvoller Architektur fort, die nach einer Ära der Stagnation in Manhattan neue Impulse setzt. Ermutigend ist besonders, dass sich die Gestaltung des Hotels nicht nur auf das Äussere beschränkt, sondern den Architekten auch Gelegenheit gegeben wurde, ihre Gestaltung im Inneren fortzusetzen. Das ist, wie man von vielen Hotelketten weiss, heute keine Selbstverständlichkeit.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2003.02.04



verknüpfte Bauwerke
Westin Hotel

14. Januar 2003Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Neue deutsche Synagogen

Der Architekt Alfred Jacoby in Frankfurt

Der Architekt Alfred Jacoby in Frankfurt

Die meisten deutschen Synagogen der Zeit nach 1945 entstanden in den fünfziger und sechziger Jahren und schufen in bescheidenem Masse Ersatz für die in der Pogromnacht des Jahres 1938, durch den darauf folgenden nationalsozialistischen Terror oder infolge von Kriegseinwirkungen zerstörten jüdischen Gotteshäuser. Seit den späten achtziger Jahren ist eine Reihe weiterer Bauten entstanden; ausschlaggebend dafür war und ist die starke Vergrösserung der Gemeinden durch Immigranten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, daneben aber auch der Wille, in der Bundesrepublik ein Zeichen wiedererwachenden jüdischen Lebens zu setzen. Kann auch von Normalität noch keine Rede sein, so ist doch beispielsweise die 2001 eingeweihte Dresdner Synagoge, deren blockhafter Körper sich durchaus selbstbewusst in die berühmte Elbsilhouette einschreibt wie einst Gottfried Sempers Vorgängerbau, ein Zeichen der Hoffnung.

In ästhetischer wie liturgischer Hinsicht zählt der Dresdner Bau des Architektenteams Wandel Hoefer Lorch & Hirsch zu den bemerkenswertesten der vergangenen Jahre. Die Synagogenbauten von Alfred Jacoby können mit diesem Entwurf schwerlich konkurrieren, und doch gilt der 1950 in Offenbach geborene, an der ETH Zürich bei Alberto Camenzind diplomierte und seit 1980 in Frankfurt am Main tätige Architekt mit insgesamt sieben realisierten Gebäuden als der meistbeschäftigte Synagogenarchitekt in Deutschland. Grund genug also für eine kleine Retrospektive im Deutschen Architektur-Museum Frankfurt am Main. Suchte Jacoby noch mit der 1988 eingeweihten Synagoge in Darmstadt (ohne eigentliches Glück) das orientalisierende Formvokabular des 19. in das 20. Jahrhundert zu übertragen, so fand er sechs Jahre später mit dem Bau in Heidelberg zu seinem eigentlichen Thema: dem hier zylindrischen, bald aber auch elliptischen oder linsenförmigen Zentralraum der Synagoge, der von den niedrigeren Baukörpern des Gemeindezentrums gefasst oder umgeben wird - jüngstes Beispiel hierfür ist die vor wenigen Monaten eröffnete Synagoge in Chemnitz. Die Liebe zum stereometrischen Primärkörper prägt die Bauten Jacobys; allerdings geht ihnen die Prägnanz ab, welche beispielsweise Mario Bottas Synagoge in Tel Aviv kennzeichnet.

Ohne Zweifel: Eine Synagoge ist kein Holocaust-Memorial, sondern ein Versammlungs- und Gebetsort; fragmentierte Davidsterne, wie sie in Wettbewerben mit Regelmässigkeit eingereicht werden, sind hier deplaciert. Doch wirken die Synagogen Jacobys mit ihrer gefälligen Moderne gerade in Deutschland fragwürdig harmonisch. Ein Hang zum Dekorativ-Geschmäcklerischen ist nicht zu verkennen, wiewohl die Bauten zum Teil durchaus stimmungsvolle Innenräume aufweisen. Das ist nicht zuletzt das Verdienst des Glaskünstlers Johannes Schreiter, mit dem Jacoby bei den letzten Bauten zusammenarbeitete.


[ In einem neuen Geist. Synagogen von Alfred Jacoby. Deutsches Architektur-Museum Frankfurt am Main, bis 9. Februar. Katalog Euro 5.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2003.01.14

30. Dezember 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Zukunftsvisionen

Das niederländische Architekturbüro MVRDV vereint in seiner Tätigkeit Pragmatismus und Vision. Während eine im Nederlands Architectuurinstituut in Rotterdam gestartete Wanderausstellung ins Innere der Bauten und Projekte führt, zeigen die Avantgardisten aus Rotterdam in Düsseldorf Szenarien für die künftige Entwicklung des Ruhrgebiets.

Das niederländische Architekturbüro MVRDV vereint in seiner Tätigkeit Pragmatismus und Vision. Während eine im Nederlands Architectuurinstituut in Rotterdam gestartete Wanderausstellung ins Innere der Bauten und Projekte führt, zeigen die Avantgardisten aus Rotterdam in Düsseldorf Szenarien für die künftige Entwicklung des Ruhrgebiets.

Die Idee des Stapelns und Schichtens von Funktionen zieht sich wie ein roter Faden durch das theoretische und praktische Œuvre des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV - angefangen mit dem unrealisierten, im Jahr der Bürogründung vorgelegten Entwurf «Berlin Voids» (1991), einem 27-geschossigen Wohnriegel für den Stadtteil Prenzlauer Berg. Nicht ein stereotypes Hochhaus in der Tradition der Nachkriegsmoderne war das Ziel, sondern ein dreidimensionales, von Löchern, Leerstellen und öffentlichen Räumen durchbrochenes Puzzle aus Wohnungen verschiedenster Typen. Die traditionelle, sich um Höfe gruppierende und in die Tiefe erstreckende Mietskaserne war gleichsam aus den Angeln gehoben und in die Vertikale gekippt worden.


Endlose Interieurs

Der Gedanke vertikaler Verdichtung setzte sich fort, ob im niederländischen Pavillon für die Expo 2000 in Hannover oder im Projekt «Pig City», demzufolge die Schweinezuchtbetriebe der Niederlande in autarken und nach ökologischen Kriterien bewirtschafteten «Pig Towers» konzentriert werden sollten. Jüngster realisierter Bau ist der auf einer Hafenmole errichtete Wohnkomplex «Silodam» nordwestlich des Stadtzentrums von Amsterdam. Mit dem zehngeschossigen, in vier Abschnitte gleicher Länge gegliederten Riegel entwickelten MVRDV ein Gegenmodell zur Unité d'habitation: Während Le Corbusier unterschiedliche Wohnungstypen um nahezu identische innere Strassen organisierte, manipulierten MVRDV das Erschliessungssystem, das - durch unterschiedliche Farbgebung differenziert - bald als Laubengang, Korridor, Brücke oder Passage ausgebildet ist. Jedem dieser Abschnitte ist ein bestimmter Wohnungstyp zugeordnet - eine Struktur, die sich auch an der Fassadenverkleidung des Äusseren abzeichnet: Auf der Mole errichtet, wirkt der Block von der Ferne wie ein mit Containern beladenes Schiff auf Reede.

Die Tatsache, dass bei den Projekten von MVRDV komplexe Raumprogramme in Körpern von zumeist klarer Gestalt Unterbringung finden, führte nun im Nederlands Architectuurinstituut (NAI) zu der Ausstellung «The hungry box: The endless interiors of MVRDV». Anders als sonst richtet sich der Fokus nicht auf den Gedanken des Stapelns, sondern auf die Vielgestaltigkeit innerer Landschaften, die sich in den Gebäuden und Entwürfen der Rotterdamer Architekten ausdehnen. Neben Bauten wie dem Rundfunksender VPRO in Hilversum, dem niederländischen Pavillon und dem Silodam-Komplex werden auch einige weniger bekannte Projekte vorgestellt, darunter der Wettbewerbsbeitrag für das Eyebeam Institute in New York, der Entwurf für das aus containerartigen Raumstrukturen aggregierte ethnographische Museum am Pariser Quai Branly, das einer eurozentrischen Hierarchisierung entgegenwirken soll, sowie das Projekt einer Zentralbibliothek für die niederländische Provinz Brabant: Die radial angeordneten Regale sind entlang einer Wegespirale von insgesamt 17 Kilometern Länge placiert, welche sich um einen Hohlraum herum in die Höhe schraubt und einen schier endlosen zylindrischen Turm entstehen lässt - Bücher-Babel am Beginn des 21. Jahrhunderts. Bei dem HAN-Gebäude der Universität Nijmegen sowie dem Palau de la Biodiversidad für Barcelona werden zentrale Hallen von einer Vielzahl unterschiedlich dimensionierter und multifunktional nutzbarer Raumelemente umfangen. Bestückt mit Modellen und auf Leinwänden aufgezogenen Grossfotos, ist die Schau als erste einer Serie von Wanderausstellungen konzipiert, mit denen das NAI in Europa und den USA zeitgenössische niederländische Architekturbüros vorstellen möchte.


Metropole an Rhein und Ruhr

Die Arbeitsbereiche von MVRDV oszillieren seit der Gründung des Büros zwischen Pragmatismus und Vision. Bücher wie «Farmax» und das aus einer Videoinstallation hervorgegangene «Metacity - Datatown» explizieren das von den Architekten verfolgte Konzept von «Datascapes», also einer computergenerierten Architektur, die auf der Auswertung einer Unzahl von statistischen Daten beruht. Mit trendigen Powerpoint-Präsentationen gelingt es Winy Maas, dem Frontman von MVRDV, dem Thema der Raum- und Landesplanung, das lang als spröde galt und auf Fachkreise beschränkt war, neue Aufmerksamkeit zu verschaffen. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Ausstellung «RheinRuhrCity - die unentdeckte Metropole», welche derzeit im NRW- Forum Kultur und Wirtschaft im Düsseldorfer Ehrenhof präsentiert wird.

Das Ruhrgebiet als grossflächiger Ballungsraum mit knapp 5,5 Millionen Einwohnern befindet sich in einem Prozess des postindustriellen Strukturwandels. Motor dieses Transformationsprozesses war im vergangenen Jahrzehnt die «IBA Emscher-Park». Trotz einigen Erfolgen steht es mit der Entwicklung nicht zum Besten: Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich über bundesrepublikanischem Durchschnitt, das Image der Region hat sich in der Aussenwahrnehmung nur wenig verbessert. Ein Problem stellt nicht zuletzt die durch die Eigenständigkeit der Gemeinden bedingte Städtekonkurrenz dar, die eine übergreifende Planung verhindert. So sind verschiedenenorts Medienzentren, Shopping-Malls oder Musicaltheater entstanden, die sich wirtschaftlich nicht als tragfähig erweisen können. Blockiert durch die auf Besitzstandswahrung bedachten lokalen Entscheidungsträger und die Interessen des Landes Nordrhein-Westfalen, agiert der Kommunalverband Ruhr (KVR) wenig erfolgreich.

«RheinRuhrCity» zeigt Szenarien für eine Entwicklung der Ruhrregion jenseits lokaler Beschränktheit auf. In der Mitte von Europa gelegen, von anderen Ballungsräumen wie der niederländischen Randstad, Hamburg und Frankfurt aus gut zu erreichen und überdies infrastrukturell perfekt erschlossen, bietet die Gegend zwischen Dortmund und Duisburg laut MVRDV beste Voraussetzungen, sich als Metropole zu etablieren. In grossflächigen Projektionen werden auf Basis eines Helikopterflugs über die Region vier «Extremszenarien» simuliert. «Park City» setzt auf Entvölkerung und grossflächige Renaturierung. «Archipel City» postuliert gegenüber der herrschenden Städtekonkurrenz die Ausbildung und Stärkung von spezifischen Funktionen an einzelnen Standorten: Essen als Mega-Business- Center in der Art der Pariser Défense, Oberhausen als Mega-Shopping-Center, Bochum als Mega-Universität, Düsseldorf als Mega-Airport. «Campus City» visualisiert die Verwandlung des Ruhrgebiets in eine gigantische Forschungsstadt. «Netzwerk City» schliesslich zeigt eine durch Kapazitätssteigerung und Ausbau der Infrastrukturachsen bedingte Verdichtung und Vernetzung.

Für die Ausstellung wurde ein als «innovatives Planungs-Tool» bezeichnetes, auf der Auswertung von statistischen Daten beruhendes Computerprogramm entwickelt, das MVRDV «Regionmaker» nennen. Während man am Monitor Häuschen und Bäume verstreut, stellen sich Zweifel hinsichtlich der Ernsthaftigkeit des Vorgehens von MVRDV ein. Aber mitunter bedarf es wohl erst einmal der Provokation, um den Zustand der Lethargie zu überwinden.


[Bis 5. Januar im NAI Rotterdam, anschliessend an verschiedenen Orten in Europa und den USA. Anstelle eines Katalogs liegt der Band 111 von «El Croquis» vor; im Januar erscheint zudem im Verlag des NAI ein von Aaron Betsky herausgegebenes Buch über MVRDV. - Bis 16. Februar im NRW-Forum Kultur und Wirtschaft in Düsseldorf. Begleitpublikation: MVRDV. The Regionmaker - RheinRuhrCity. Hatje-Cantz- Verlag, Ostfildern-Ruit 2002. 352 S., Euro 25.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.12.30



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07. Dezember 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kunst - Natur - Architektur

Im Gegensatz zu Kunstausstellungen, die eine direkte Konfrontation des Betrachters mit den Werken der Kunst erlauben, besitzen Architekturausstellungen...

Im Gegensatz zu Kunstausstellungen, die eine direkte Konfrontation des Betrachters mit den Werken der Kunst erlauben, besitzen Architekturausstellungen...

Im Gegensatz zu Kunstausstellungen, die eine direkte Konfrontation des Betrachters mit den Werken der Kunst erlauben, besitzen Architekturausstellungen lediglich Verweischarakter: Die Exponate fungieren als Stellvertreter von Bauten, die sich ausserhalb des Museumsraums an einem anderen Ort befinden. In asketischer Manier Pläne und Zeichnungen zu präsentieren, ist allein für ein architektonisches Fachpublikum interessant; Modelle oder Computerperspektiven sprechen eine breitere Öffentlichkeit an, besitzen jedoch eine Suggestivität, welche vielfach eine dem räumlichen Erlebnis des realen Gebäudes kaum adäquate Eigendynamik entwickelt. Aufgrund dieser Problemlage misstrauen die Basler Architekten Herzog & de Meuron seit je der musealen Repräsentation ihrer Bauten. Schon ihre erste Ausstellung 1988 - zehn Jahre nach Bürogründung - im Architekturmuseum Basel brach mit den Konventionen: Fotos der eigenen Bauten waren im Siebdruckverfahren auf die Fensterscheiben aufgebracht, so dass die immateriellen Bilder gleichsam wie ein Filter zwischen Museumsraum und Aussenwirklichkeit fungierten. Anlässlich der Architekturbiennale Venedig 1991 wurden mit Balthasar Burkhard, Margherita Spiluttini, Thomas Ruff und Hannah Villiger vier Künstlerinnen und Künstler gebeten, im Schweizer Pavillon ihre Sicht auf Bauten der Basler Architekten zu dokumentieren. Und für die Retrospektive im Centre Pompidou 1995 wählte Rémy Zaugg als Displaystruktur eine strenge Reihung von mit Glasplatten versehenen Tischen, in deren Oberflächen sich die Neonröhren der Decke spiegelten.


Prinzip Wunderkammer

Während die Präsentation von 1995 auf asketische Reduktion setzte, wirkt die «Archaeology of the Mind» betitelte opulente Schau im Centre Canadien d'Architecture (CCA) in Montreal, welche auf einem für die Fondazione Prada in Mailand 2001 entwickelten Ausstellungskonzept basiert, in jeglicher Hinsicht wie eine Gegenposition. Passten in Paris einzig zweidimensionale Arbeiten zwischen Tischplatte und Glasscheibe, so finden sich nun ausschliesslich dreidimensionale Objekte auf Sockeln, die von gebogenem Plexiglas überwölbt werden. Und die rigide chronologische Abfolge wurde durch ein Arrangement ersetzt, das die sechs zentralen Säle des CCA in beliebiger Reihenfolge zu begehen erlaubt. Kurt W. Forster als Initiator des Projekts und Philip Ursprung als Kurator haben sich an der Idee der Wunderkammer orientiert, also an einem vormodernen Sammlungskonzept, bei dem Gegenstände heterogener Provenienz und Qualität zueinander treten.

Der Gedanke einer alchimistischen Metamorphose von Natur- und Kunstform, welcher die Kunstkammern der frühen Neuzeit bestimmte, ist dem Werk von Herzog & de Meuron durchaus adäquat. Neben den Eigenschaften des Materials interessierten die Architekten in den vergangenen Jahren zunehmend auch die formalen und morphologischen Dimension des Natürlichen: Die Linie führt vom Ricola-Lagergebäude in Laufen, dessen Eternitfassade in unmittelbare Korrespondenz zur Kante eines früheren Steinbruchs tritt, zu den biomorphen Projekten der jüngsten Zeit - handele es sich dabei um den aus konkaven und konvexen Formen sich bildenden Baukörper der Bibliothek in Cottbus oder die geplante Hafenanlage von Santa Cruz de Tenerife, bei der eine Struktur aus sich überlagernden Pixelrastern naturähnlich erscheint und somit Interferenzen und Irritationen erzeugt. Abweichend von der Ausstellung trägt der Katalog den Titel «Naturgeschichte», wobei man den Begriff nicht evolutionär verstehen sollte, sondern im Sinne der «naturalis historia» des Plinius: morphologisch und physiognomisch. Dabei steht auch der Gedanke des Sammelns und Stapelns in sinnvoller Beziehung zum Œuvre von Herzog & de Meuron, denkt man an die Ricola-Lagerhäuser in Laufen und Mülhausen, vor allem aber an das Schaulager, das im Frühjahr in Basel eröffnet wird.
Inspiration oder Assoziation

In der Ausstellung tritt eine Vielzahl von Modellen, plastischen Skizzen und Materialproben neben diverse kunst- und naturhistorische Exponate. Das können Fossilien oder Insekten, chinesische Gelehrtensteine oder Daguerreotypien, Farbproben oder Musterbücher sein. Viele dieser Arrangements sind suggestiv, manche erhellend, einige bemüht - je enger der tatsächliche Bezug, desto überzeugender. Dass ein Grossteil der Vergleichsobjekte aus dem Magazin des CCA stammt, ist naheliegend und verräterisch zugleich, entsteht doch zuweilen der Eindruck, alles passe irgendwie zu allem, wenn man denn nur lange genug nach einem Link suche. Kategoriale Differenzierung scheitert bei einem derartigen Vorgehen, und es ist kein Wunder, dass sich die Einteilung des Katalogs in sechs Kapitel (Transformation und Verfremdung, Aneignung und Umbau, Lagern und Komprimieren, Eindruck und Ausdruck, Verschachtelte Räume, Schönheit und Atmosphäre) in der Ausstellung nicht wiederfindet. Zweifellos: Das assoziative, von methodischen Präsentationsrastern freie Konzept entspricht dem Gedanken der Wunderkammer und damit einer Zeit vor der positivistischen Wissensstrukturierung des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Kunstgeschichte als eigene Disziplin ausbildete. Und doch wird mitunter des Guten zu viel getan, wenn etwa ein historischer Spielzeugbaukasten neben Modelle von Herzog & de Meuron tritt, weil - so die Beischrift - viele Modelle der Architekten wie Spielzeug aussähen.

Somit besteht das eigentliche Problem der Ausstellung darin, dass zwischen tatsächlichen Inspirationsquellen der Architekten und Assoziationen des Kurators nur mit Mühe unterschieden werden kann. Besonders deutlich wird das angesichts der Werke bildender Kunst, welche in der Ausstellung ebenfalls zu sehen sind. Die vielfältige Beziehung der Architekten zur Kunst ist bekannt: Jacques Herzog war in seinen frühen Berufsjahren als Künstler tätig - die Einladung von Joseph Beuys zur Basler Fasnacht 1978 bildet nahezu einen Gründungsmythos des Büros. Die Masken der damaligen Aktion «Feuerstätte II» sind somit in Montreal am richtigen Ort. Wenn man jedoch, um in die Ausstellung zu gelangen, einen mit Filz ausgekleideten Korridor passieren muss, der überdies - wie auch die folgenden Ausstellungssäle - mit den «blp» genannten Strichmarkierungen von Richard Artschwager gespickt ist, so schlägt eine zu Recht auf Sinnlichkeit zielende Inszenierung in Auratisierung um. Ähnlich verhält es sich in den Sälen, wo potenzielle bildkünstlerische Anregungen neben Werke treten, die in tatsächlichem Zusammenhang mit Arbeiten von Herzog & de Meuron stehen: Bilder von Rémy Zaugg, Fotos von Thomas Ruff oder, erstmals in Montreal zu sehen, ein grandioser, im Auftrag des CCA entstandener Silbergelatine-Print der Dominus Winery von Jeff Wall. - Weniger wäre folglich auch hier mehr gewesen. Denn die wahre Alchimie des Werks von Herzog & de Meuron zeigt sich anhand der Arbeitsmodelle, die sonst verborgen in den Kellern des Büros an der Basler Rheinschanze lagern. Aus Gips oder Kupfer, Plastic und Holz, Beton und Lochblech geschnitten, gesägt, gegossen oder gefaltet, offenbaren sie, wie unspektakuläre Materialien in einem kontinuierlichen Formfindungsprozess veredelt werden. Dass Experimentierfreude und Phantasie nicht nachlassen, ist bei einer Bürogrösse von beinahe 200 Mitarbeitern ohne Beispiel. Dies zu beweisen, bedarf es keiner prätentiösen Kontexte.


[ Bis 6. April im CCA in Montreal (anschliessend im Heinz Architectural Center in Pittsburgh; weiter sind Präsentationen im Schaulager Basel und im NAI in Rotterdam geplant). Katalog: Herzog & de Meuron. Naturgeschichte. Hrsg. Philip Ursprung. Lars Müller Publishers, Baden 2002. 472 S., Fr. 89.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2002.12.07

05. Dezember 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Schwanengesänge der Moderne

Von Yona Friedman über Archigram bis hin zu Rem Koolhaas reicht die Spannweite architektonischer Zeichnungen, die derzeit im New Yorker Museum of Modern Art in Queens zu sehen sind. Die Visionen aus den sechziger und siebziger Jahren setzten sich kritisch mit dem Funktionalismusverständnis der Spätmoderne auseinander.

Von Yona Friedman über Archigram bis hin zu Rem Koolhaas reicht die Spannweite architektonischer Zeichnungen, die derzeit im New Yorker Museum of Modern Art in Queens zu sehen sind. Die Visionen aus den sechziger und siebziger Jahren setzten sich kritisch mit dem Funktionalismusverständnis der Spätmoderne auseinander.

«Visionary Architecture» hiess eine Ausstellung des New Yorker Museum of Modern Art, die im Jahr 1960 aktuelle Beispiele utopischen Entwerfens versammelte: Buckminster Fullers «Dome over Manhattan» wurde ebenso ausgestellt wie Projekte der japanischen Metabolisten und Paolo Soleris frühe Versuche einer Vereinigung von Architektur und Ökologie zur «Arcology». Mit der nun in der von Michael Maltzan hergerichteten temporären Dépendance MoMA QNS in Queens veranstalteten Schau knüpft Kurator Terence Riley gleichsam zeitlich an die frühere Ausstellung an. Gezeigt wird unter dem Titel «The Changing of the Avant-Garde» mit 173 Architekturzeichnungen fast der Gesamtbestand der Howard Gilman Collection, die vor zwei Jahren in den Besitz des Museums überging.


Flexibilität als Programm

Der Aufbau der Sammlung war das massgebliche Verdienst des belgischen Kurators Pierre Apraxine, dem es 1976 gelang, den Papierfabrikanten Howard Gilman für dieses Gebiet zu interessieren. Stand in jener Zeit die Minimal Art bei Unternehmern hoch im Kurs, so betraten Apraxine und Gilman Neuland: Das Sammeln von Architekturentwürfen durch Privatpersonen war damals noch ungewöhnlich. Diese Situation bedeutete Chance und Nachteil zugleich - mangels Konkurrenz liessen sich mitunter Spitzenwerke erwerben. Gewisse Architekten aber (etwa James Stirling) lehnten Verkäufe prinzipiell ab. Innerhalb von vier Jahren war der Aufbau der Kollektion weitgehend abgeschlossen, nur einige wenige Arbeiten wurden später hinzugefügt. Auch diese indes stammen aus den sechziger und siebziger Jahren. Das Jahr 1980 bildet folglich die zeitliche Obergrenze des Sammlungsbestands.

Als Prolog in Sammlung und Ausstellung fungieren sechs Entwurfsblätter für das «Dymaxion House» von Buckminster Fuller. Die Idee des 1927-29 in verschiedenen Varianten konzipierten Hauses beruhte auf einer flexiblen hexagonalen Struktur, die maximale Effizienz bei minimalem Energieaufwand bieten sollte. Eine genuin amerikanische Traditionslinie bildet mithin die eine historische Wurzel, nicht die Visionen der russischen Konstruktivisten, nicht die Architektur der deutschen Expressionisten, nicht die städtebaulichen Vorstellungen Le Corbusiers. Mit «The Megastructure» ist - zumindest im Katalog - der erste der beiden Hauptteile der Ausstellung überschrieben, der mit hervorragenden Arbeiten die massgeblichen Utopien der Jahre um 1960 dokumentiert: Yona Friedmans «Ville spatiale», das Konzept einer gitterartigen Stadtüberbauung, das für Tunis und Paris näher ausgearbeitet wurde; Arata Isozakis «Joint Core System» für den Tokioter Stadtteil Shinjuku; das von Cedric Price für den Theatermann John Littlewood entwickelte, durch stählerne Türme und Brücken gegliederte Projekt eines als «Fun Palace» apostrophierten Kulturzentrums in London; und schliesslich die berühmten Visionen der Gruppe Archigram wie die «Plug-In-City» von Peter Cook oder die «Walking City» von Ron Herron.

Hatte schon das «Team X» in England einige Jahre zuvor Kritik an einer sich auf ein rein mechanisches Verständnis der Stadt beschränkenden CIAM-Moderne geäussert, so gingen Archigram und die Verfechter der Megastrukturen einen Schritt weiter, indem sie flexible Elemente in die Architektur aufnahmen oder - wie Ron Herron - Gebäude selbst in Bewegung zu setzen versuchten; Fumihiko Maki definierte die Megastruktur als «stable structure containing mobile parts». Festzuhalten bleibt indes, dass die Idee grenzenlosen Fortschritts und die zuweilen naive Technikgläubigkeit von Archigram den kritisierten Positionen stärker ähnelte, als den Protagonisten bewusst war. So wie man den Jugendstil im Rückblick als letzte Transformation des Historismus verstehen kann, stellte Archigram die letzte Verwandlung der Spätmoderne dar.


Kritik an der Spätmoderne

Dies wurde in dem durch gesellschaftliche Umwälzungsprozesse bestimmten Klima der späten sechziger Jahre deutlich, als nicht nur Theoretiker wie der für die Karriere von Archigram bedeutsame Reyner Banham auf Distanz gingen, sondern Architektenkollegen - besonders in Italien - neue Wege einschlugen. Ettore Sottsass' Serie «The Planet as Festival» (1972/73) zeigt eine von den Insignien der kapitalistischen Konsumgesellschaft bereinigte futuristische Landschaft, in der Herrons zerstörte «Walking City» neben eingestürzten Wolkenkratzern und Schiffswracks von einer überwundenen Ära zeugt. Ein ähnlich kritisches Potenzial weist der als negative Utopie zu verstehende «Monumento continuo» der Florentiner Gruppe Superstudio auf, eine gerasterte weisse Struktur, welche die gesamte Erde überziehen sollte. Mal überspannt sie Küstenlandschaften, mal legt sie sich in Kreuzform über den See von Sankt Moritz und führt mit ihrer monolithischen Idealgeometrie den Planungswahn des Strukturalismus ad absurdum.

Eine Gruppe von Zeichnungen für Aldo Rossis Friedhof San Cataldo in Modena bildet einen Schwerpunkt im zweiten Teil der Ausstellung, der mit dem Titel «Postmodern Roots» versehen ist. In der Tat wurzelt der Versuch, durch Auseinandersetzung mit archetypischen Bauformen der Vergangenheit nach Jahren der Planungseuphorie zu neuer Selbstvergewisserung zu gelangen, in einer Schwellensituation der Jahre nach 1968. Aus dieser Warte heraus rücken später divergente Positionen nahe aneinander: Rossis Interesse an elementaren Bauformen, die typologischen Untersuchungen von Raimund Abraham und Léon Krier, John Hejduks «Wall House» (das, ursprünglich für einen Standort in Connecticut geplant, postum 2001 in Groningen realisiert wurde), die ersten Hausentwürfe von Peter Eisenman und schliesslich Rem Koolhaas' Zeichnungen für das grandiose Buch «Delirious New York». In «The City of the Captive Globe» stehen berühmte utopische Architekturen aufgereiht über dem Blockraster von Manhattan, darunter El Lissitzkys Lenintribüne, Le Corbusiers Kreuzhochhäuser des Plan Voisin und Wallace Harrisons «Trylon and Perisphere» der New Yorker Weltausstellung von 1939 - ein Schwanengesang auf die Visionen der Moderne.

Damit bildet die Kritik an der Spätmoderne den gemeinsamen Nenner der in der Howard Gilman Collection versammelten Arbeiten. Der Zeithorizont endet mit der Latenzphase der Postmoderne, also in einer Zeit, in der diese noch kritisches, zumeist individualistisches Suchen bedeutete. Die Erstarrung in Formalismus und Traditionalismus bleibt somit ausgeklammert. Den Abschluss der Ausstellung bildet noch einmal Cedric Price, der als einziger Architekt einen Auftrag von Gilman erhielt. «Generator» lautete das zwischen 1978 und 1980 verfolgte Projekt eines Kulturzentrums auf der White Oak Plantation des Konzerns in Florida. Es blieb unrealisiert, hat aber einen Niederschlag gefunden in etwa 100 Skizzen und Entwürfen.


[Bis 6. Januar. Katalog: The Changing of the Avant-Garde. Visionary Architectural Drawings from the Howard Gilman Collection. Hrsg. MoMA, New York 2002; 192 S., $ 30.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2002.12.05



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14. November 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Markstein in Manhattan

Wie eine Insel steht zurzeit der Neubau des American Folk Art Museum inmitten der Grossbaustelle für die Erweiterung des Museum of Modern Art in New York. Das Gebäude des in Manhattan tätigen Architektenduos Tod Williams & Billie Tsien zählt zu den Marksteinen einer neuen US-Baukultur nach Jahren der Stagnation.

Wie eine Insel steht zurzeit der Neubau des American Folk Art Museum inmitten der Grossbaustelle für die Erweiterung des Museum of Modern Art in New York. Das Gebäude des in Manhattan tätigen Architektenduos Tod Williams & Billie Tsien zählt zu den Marksteinen einer neuen US-Baukultur nach Jahren der Stagnation.

Bauzäune und Kräne bestimmen die Nordseite der West 53rd Street zwischen der Fifth Avenue und der Avenue of the Americas. Inmitten der Baugruben für Yoshio Taniguchis Erweiterung des Museum of Modern Art erhebt sich ein Gebäude, das sich mit seinen sechs Geschossen und einer Fassadenbreite von zwölf Metern im Häusermeer von midtown Manhattan - Eero Saarinens in den Himmel schiessendes Hochhaus Black Rock aus dem Jahr 1965 befindet sich schräg gegenüber - wie eine Miniatur ausnimmt. Doch trotz den bescheidenen Dimensionen wirkt das Gebäude selbstbewusst, fast monumental, wozu vor allem die Fassade beiträgt. Sie besteht aus 63 unterschiedlich breiten, aus der Weissbronze-Legierung Tombasil hergestellten Tafeln, die sich zu drei polygonalen, zur Mitte hin leicht nach innen geneigten Grossformen zusammensetzen - eine Geste, welche die orthogonale Anordnung der Metallplatten überspielt. Ein schmaler vertikaler Schlitz inmitten der Front und zwei seitliche deuten auf das Innenleben hinter der opaken Front. Indem die Geschosseinteilung sich aber vor den Augen der Passanten verbirgt, wirkt das Gebäude massstabslos und monolithisch.


Rückkehr der Expressivität

Die expressive Gestaltung der Volumina ist eine Tendenz, welcher in den letzten Jahren eine Reihe von Architekten in New York gefolgt sind; man setzt sich von der zur Renditearchitektur verkommenen Spätestmoderne ebenso ab wie vom postmodernen Investoren-Art-déco, welches den Wolkenkratzern der achtziger Jahre die Wiedererkennbarkeit im Stadtbild garantieren sollte. Beispiele für den jüngsten Trend sind Raimund Abrahams Austrian Cultural Forum, aber auch der schmale Tower, den Christian de Portzamparc für LVMH errichtete. Entfernt erinnert die facettierte Fassade an der 53. Strasse denn auch an Portzamparcs Turm (und an dessen Erweiterung des Tuschinski-Theaters in Amsterdam), aber hinsichtlich der Materialwahl und der Oberflächenreize beschreitet sie neue Wege, indem das aseptische Hightech-Finish zugunsten einer sinnlichen und lebendigen Struktur suspendiert ist. Dem Tombasil wurde in der Giesserei eine unebene Oberfläche verliehen, deren Schründe und Verletzungen sich nun an der Fassade abzeichnen. Während Bronze sonst hochglanzpoliert wird, wirkt sie hier beinahe wie erstarrte Lava; der Schein des Handwerklichen siegt über die Idee industrieller Vollendung.

Der bewusste Verzicht auf Perfektion entspricht der Zweckbestimmung des Gebäudes, welches das American Folk Art Museum (AFAM) beherbergt. Während vier Dekaden waren die umfangreichen Sammlungen, die sich hauptsächlich auf Werke der amerikanischen Volkskunst zwischen 1776 und 1875 konzentrieren, unzulänglich und meist auch unzugänglich untergebracht. Mit der Namensänderung (früher hiess die Institution Museum of American Folk Art) verlässt das AFAM seit längerem die nationale Perspektive und spürt dem Phänomen der «self-taught artists» in Form von Sonderausstellungen auch ausserhalb des amerikanischen Kontinents nach. Einen bedeutenden Zuwachs erhielt die Kollektion des Museums unlängst durch die Schenkung der wohl bedeutendsten privaten Sammlung amerikanischer Volkskunst, jener von Ralph Esmerian, der über lange Jahre als Präsident und jetzt als Chairman des Board of Trustees wirkte.


Sinnlichkeit des Materials

Entstanden ist der Bau an der West 53rd Street nach Plänen des New Yorker Architekturbüros Tod Williams & Billie Tsien. Williams, der nach seinem Studienabschluss von 1967 in Princeton bei Richard Meier arbeitete, gründete 1986 mit Tsien ein eigenes Büro. Dieses zählt zu den wenigen in den USA, welche abseits rein kommerzieller Aufgaben erfolgreich sind. Durchaus in der Tradition der Moderne wurzelnd, pflegen Williams & Tsien keinen asketischen Reduktionismus, sondern interessieren sich für die Sinnlichkeit des Materials. Neben Privathäusern sind in den Jahren gemeinsamen Schaffens eine Reihe von Universitäts- und Institutsbauten entstanden, zuletzt das Neurosciences Institute im kalifornischen La Jolla (1996) und das Students Art Center der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore.

Das Innere des neuen Museums ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich auch unter beengten Verhältnissen ein vielgestaltiges und faszinierendes Raumerlebnis schaffen lässt, welches überdies den funktionalen Anforderungen eines Museumsbetriebs genügt. Nach dem «Guggenheim-Prinzip» fährt man mit dem Lift zunächst hinauf in das sechste Geschoss, um sich dann über die verschiedenen Ebenen hinabzubewegen. Auch hier gibt es einen zentralen Lichtschacht, der von Ausstellungsflächen umgeben ist. Die Geschosseinteilung indes bleibt gewahrt - drei verschiedene Treppensysteme erlauben Rund-, Um- und Rückwege nach Belieben. Durch das Glasdach strömt das Licht hinunter bis zu der Freitreppe aus Beton, welche über den Luftraum hinweg die dritte und vierte Ebene verbindet und somit eine optische Zäsur des bis in das Erdgeschoss sich verzweigenden Lichtschachts bildet. Rings um den Schacht sind die Ausstellungsräume angeordnet, die vom Szenographen Ralph Appelbaum mit Gespür für die Qualitäten der Architektur eingerichtet wurden. Stahlgerüste und Trennwände fungieren als kräftige Strukturen, welche den zumeist kleinformatigen Kunstwerken den notwendigen Rückhalt verleihen und dennoch immer wieder Ausblicke ermöglichen: hinunter in den Lichtschacht, hinaus auf Saarinens «Black Rock» und das Tishman Building.

Die Lichtschlitze in den Ecken des Gebäudes lassen Seitenlicht als zweite natürliche Lichtquelle in den Raum, vor allem überspielen sie die Begrenzungen des Volumens. Zum grosszügigen Eindruck trägt daneben auch der Verzicht auf Unterteilungen zwischen Ausstellungs- und Erschliessungsbereichen bei. Stahl, Glas, Holz und der wie Terrazzo wirkende Beton finden zu einem faszinierenden Stelldichein: Bald fühlt man sich an die Raumbildungen des frühen Frank Lloyd Wright erinnert, bald an die Betonpraxis eines Louis I. Kahn oder Paul Rudolph. Lastendes und Leichtes sind auf wundersame Weise ins Gleichgewicht gebracht, und wenn ein New Yorker Kritiker anlässlich der Eröffnung behauptete, seit Philip Johnsons AT&T-Building sei kein Bau dieser Bedeutung in New York entstanden, so ist dem rundweg zuzustimmen. Wahrscheinlich wird das AFAM das Juwel inmitten von Taniguchis architektonisch eher zweitrangiger MoMA-Erweiterung bleiben. Trotz verschiedentlichen Versuchen des grossen Nachbarn, dem kleinen, etwas anarchischen Museum ein anderes Grundstück anzubieten, beharrte man auf dem Bauplatz. Welches Glück.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2002.11.14



verknüpfte Bauwerke
American Folk Art Museum

11. November 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Perforation und Porosität

Formale Einheit in Vielfalt zu verwandeln und somit zu bereichern, ist die Strategie des Architekten Steven Holl. Neben Frank O. Gehry zählt der in New York tätige Entwerfer zu den weltweit gefragtesten Baukünstlern der USA. Die diesjährige Herbstausstellung in Vicenza gibt einen knappen Überblick über Werke der letzten fünfzehn Jahre.

Formale Einheit in Vielfalt zu verwandeln und somit zu bereichern, ist die Strategie des Architekten Steven Holl. Neben Frank O. Gehry zählt der in New York tätige Entwerfer zu den weltweit gefragtesten Baukünstlern der USA. Die diesjährige Herbstausstellung in Vicenza gibt einen knappen Überblick über Werke der letzten fünfzehn Jahre.

Seit der Eröffnung des Kunstmuseums Kiasma in Helsinki im Jahre 1998 zählt Steven Holl zu den Stars der internationalen Architekturszene. Doch ein Newcomer war er zu diesem Zeitpunkt kaum mehr: Nach seinem Studienabschluss an der Architectural Association in London eröffnete der heute 55-jährige Architekt 1976 sein eigenes Büro in New York. Zwar konnte Holl einige Apartments einrichten und auch das eine oder andere kleine Einfamilienhaus bauen, doch die eigentliche Karriere begann - wie bei den meisten seiner prominenten amerikanischen Berufskollegen - im Ausland. Einen Markstein stellt zweifellos der 1988 mit dem ersten Preis ausgezeichnete Entwurf für die Erweiterung der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin dar, eine atemberaubende Assemblage aus Türmen, Scheiben und einem den bestehenden Gebäuderiegel überspannenden Wolkenbügel. Leider blieb das Projekt unrealisiert und reiht sich damit ein in die Sequenz grossartiger Visionen, welche in Berlin scheiterten: von Mies van der Rohes Glashochhaus am Bahnhof Friedrichstrasse bis hin zu Daniel Libeskinds Alexanderplatz-Projekt.


Magische Höhlungen

Mehr Erfolg war dem amerikanischen Entwerfer in Japan beschieden, das seit Mitte der achtziger Jahre, begünstigt durch eine prosperierende Ökonomie, auf den Import westlicher Architektur setzte; Philippe Starck und David Chipperfield, Nigel Coates und Peter Eisenman erarbeiteten sich wichtige Teile ihres beruflichen Renommees in Ostasien. Holl errichtete zunächst einen Wohnblock (1989-92) in der nach einem Masterplan von Arata Isozaki unter Beteiligung ausländischer Architekten wie Rem Koolhaas und Christian de Portzamparc entstandenen Siedlung «Nexus World» in Fukuoka, um dann zwischen 1992 und 1996 in Makuhari nahe Tokio selbst ein ganzes Stadtquartier zu gestalten. Das dortige Spannungsverhältnis zwischen der Rationalität von Lochfassaden und einer plastisch-expressiven Ausbildung von Baukörpern zieht sich durch das Œuvre des Architekten. Jüngstes Beispiel dafür ist die nahezu fertiggestellte «Simmons Hall», ein Studentenwohnheim des MIT in Cambridge, Massachusetts, mit 350 Betten.

Ausgangspunkt war eine mehr als 100 Meter lange zehngeschossige Scheibe mit gitterartiger Fassadenstruktur, die zunächst durch orthogonale Ein- und Ausschnitte differenziert wurde. Den eigentlichen Reiz des Gebäudes indes stellen die für Sozialbereiche und Lounges genutzten inneren Hohlräume dar, die wie Frassgänge eines stockwerkverzehrenden Tieres die Klarheit der Struktur von innen her unterwandern - nicht ohne Grund ist «Porosität» einer der Lieblingsbegriffe von Holl. Der mathematische Algorithmus des «Mengerschwamms», gemäss dem es möglich ist, in ein gegebenes Volumen eine unendlich grosse Zahl von Löchern einzuschreiben, bot die Inspiration für die Erweiterung des Bürogebäudes einer Wohnungsbaugesellschaft in Amsterdam. Der U-förmige Ziegelbau wurde zum Singel-Kanal durch ein stereometrisches Volumen ergänzt, das mit einer raumhaltigen Schicht aus grünlich patiniertem Kupferblech verkleidet ist. Die kleinteilige Perforation der Haut, aber auch die verschiedenen Einschnitte geben direkte Einblicke zum Teil in das Innere, zum Teil aber auch auf aleatorisch verteilte Farblichtfelder frei, welche - im Wasser bei Nacht gespiegelt - den Eindruck eines abstrakten Gemäldes entstehen lassen. Holls Formzerstörung ist weder von einem dekonstruktivistischen Furor noch von spielerischer Leichtigkeit, sondern von einer poetisch- romantischen Faszination getrieben, Einheit in Komplexität zu verwandeln.

Auf Strukturen wie diese bezieht sich Steven Holl auch mit seiner derzeitigen Ausstellung in der Basilica Palladiana in Vicenza. Seit einigen Jahren wird die grosse, von Nischen gegliederte und mit einem grandiosen Holzgewölbe überdeckte Halle des Obergeschosses von Palladios Meisterwerk jeweils im Herbst einem prominenten Architekten zur Präsentation seines Werks zur Verfügung gestellt. Hatte Toyo Ito im letzten Jahr mit von der Decke abgehängten schlauchartigen Gebilden die gewaltigen Dimensionen des Raums selbst zum Thema gemacht, so zeigt sich die von Holl unter dem Titel «Dalla Città al Deserto: densità nel paesaggio» eingerichtete Schau zurückhaltend. Fünf mit verschiedenen Durchbrüchen versehene Wände aus Aluminiumgitter wurden auf der einen Schmalseite der Halle installiert und dienen nun als Displaystruktur für ungefähr zwanzig Projekte des Architekten. Von Modellen abgesehen, arbeitete Holl dabei ausschliesslich mit Reproduktionen, die auf Tafeln aufgezogen wurden. Das mag bei Plänen zwar unproblematisch sein, ist aber angesichts der von ihm zur Ideen- und Formfindung stets eingesetzten Aquarelle bedauerlich.


Städtebauliche Projekte

Mit Bauten wie dem Kiasma oder den jüngsten Museumsprojekten für Lyon, Burgos und die Fondation Pinault in Paris stösst man auf Bekanntes, warum aber anderes fehlt - die zur Ausführung bestimmte Erweiterung des Nelson- Atkins-Museums in Kansas City, aber auch gerade vollendete Bauten wie das Bellevue Art Museum oder die Architekturfakultät in Minneapolis -, bleibt fraglich. Erkennbar ist lediglich, dass Holl bei der Dokumentation in Vicenza auf Privathäuser verzichtete und städtische oder stadtplanerische Projekte favorisierte. Von den enigmatisch die Grenzen der Besiedlung markierenden Projekten für die Umgebung von Phoenix oder Fort Worth (1989-90) spannt sich dabei der Bogen bis zu einer als geknickte Bandstadt entworfenen und von fragmentierten erratischen Riesenblöcken rhythmisierten Siedlung für 27 000 Einwohner im chinesischen Nanning (2002). In Zusammenarbeit mit dem Rotterdamer Architekturbüro MVRDV entstand ebenfalls in diesem Jahr ein mit dem ersten Preis ausgezeichneter Bebauungsplan für Toolenburg-Zuid nahe dem Flughafen Schiphol, eine Mustersiedlung des heutigen niederländischen Wohnungsbaus. Kaktusähnliche Wohntürme, Hofbebauungen aus containerartigen Strukturen und schachbrettförmige Flächensiedlungen treffen aufeinander.

Gegenübergestellt wird der Dokumentation der zwanzig Projekte in Vicenza auf der anderen Seite der Halle das im Massstab 1:1 in Originalmaterial errichtete «Turbulence House», das derzeit als Gästehaus des Künstlers Richard Tuttle auf dessen Anwesen in der Wüste von New Mexico entsteht. Der computergenerierte Aluminium-Kleinbau ist ebenfalls durchbrochen, so dass der Wind für die Lüftung sorgt. Die Gegenüberstellung des Wüstenbaus und der städtischen Strukturen bleibt etwas holzschnitthaft, und Steven Holls erklärende These, Architektur verbinde Natur und Gesellschaft, ist wenig mehr denn ein Allgemeinplatz.


[Bis 1. Dezember. Katalog: Steven Holl architetto (Documenti di architettura 143). Hrsg. Kenneth Frampton. Electa, Milano 2002. 420 S., Euro 50.- (Euro 40.- in der Ausstellung). Zu empfehlen sind ausserdem zwei in diesem Jahr bei Lars Müller Publishers in Baden erschienene Publikationen: Steven Holl: «Idee und Phänomen» sowie «Written in Water».]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.11.11

05. November 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Klarheit und Irritation

Besucherzentrum für den Nationalpark

Besucherzentrum für den Nationalpark

Der 1914 gegründete Schweizer Nationalpark im Engadin ist der älteste seiner Art in den Alpen. 1968 wurde in Zernez ein Besucher- und Verwaltungszentrum eröffnet, das den heutigen Erfordernissen nicht mehr genügt. Daher wurde ein Projektwettbewerb für ein neues Zentrum beim Schloss Planta-Wildenberg in Zernez ausgeschrieben. Nachdem 13 Architekturbüros in die engere Wahl gekommen waren, ging der Zuschlag an den aus Flims stammenden, aber in Zürich tätigen Valerio Olgiati, der mit seinem Schulhaus Paspels und dem Umbau des «Gelben Hauses» in Flims zu den meistbeachteten Schweizer Architekten zählt. Olgiati überzeugt durch eigenständige Lösungen, in denen Einfachheit und Komplexität auf faszinierende Weise zusammenfinden.

Das gilt auch für den jetzigen Entwurf, bei dem ein grosser und ein kleiner quadratischer Baukörper diagonal ineinander geschoben zu sein scheinen. Im Innern werden die Klarheit und Neutralität des Konzepts durch gezielte Irritationen in Frage gestellt. Die Fassade des weiss verputzten Baukörpers, der zusammen mit dem Schloss ein Ensemble bilden wird, soll nach Olgiatis Vorstellungen in Sgraffito-Technik ausgeführt werden. Bezug nehmend auf Engadiner Bautraditionen, greift der Architekt damit ein Thema auf, das in der zeitgenössischen Architektur an Bedeutung gewinnt: die Frage nach den Potenzialen einer modernen Dekoration. Das zweitplacierte Projekt des Churer Büros Bearth & Deplazes basiert auf dem Gedanken des Turms, der als volumetrisches Pendant zum Schlossturm möglichst weit von diesem abgerückt ist.

[ Sämtliche Entwürfe sind vom 4. bis zum 10. November im Kulturraum des Bogn Engiadina in Scuol ausgestellt. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.11.05

01. November 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Stählerne Flügelschläge am Lake Michigan

Seit jüngstem wartet auch Milwaukee mit einem Wahrzeichen eines prominenten Architekten auf: Der Trend zu spektakulären Museumsbauten in den USA findet durch Santiago Calatrava am Lake Michigan seine Fortsetzung. Entstanden ist ein spektakuläres Zeichen, das hinsichtlich seiner Nutzung indes nur bedingt überzeugt.

Seit jüngstem wartet auch Milwaukee mit einem Wahrzeichen eines prominenten Architekten auf: Der Trend zu spektakulären Museumsbauten in den USA findet durch Santiago Calatrava am Lake Michigan seine Fortsetzung. Entstanden ist ein spektakuläres Zeichen, das hinsichtlich seiner Nutzung indes nur bedingt überzeugt.

Verglichen mit der Hektik und Betriebsamkeit Chicagos wirkt Milwaukee, in knapp zweistündiger Fahrt zu erreichen, fast schon beschaulich. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liessen sich hier vor allem deutsche Einwanderer nieder. Und so ist es auch kein Wunder, dass das Milwaukee Art Museum mit einer ansehnlichen Sammlung deutscher Kunst aufwarten kann, darunter Naturalisten und Expressionisten, aber auch der industriellen Tradition Entsprechendes: gemütvolle Wirtshausszenen und überdimensionale Steingutkrüge, die - mit Jugendstildekorationen versehen - um 1900 von der Mettlacher Firma Villeroy & Boch speziell für den amerikanischen Markt hergestellt wurden.


Von der Kunstkiste zum Wahrzeichen

Das Museum, das seine Kunstsammlung durch grosse Schenkungen in den vergangenen Jahrzehnten eindrucksvoll erweitern konnte, entstand als Zusammenschluss zweier ursprünglich selbständiger Institutionen - der auf die akademische Tradition des 19. Jahrhundert spezialisierten, 1888 gegründeten Layton Art Gallery sowie des Milwaukee Art Institute, das aus einer lokalen Künstlervereinigung hervorging und vornehmlich durch Ausstellungen Bedeutung erlangte: Ein Jahr nach der «Armory Show» gab hier 1914 «The Modern Spirit» einen Überblick über die neuste Kunstentwicklung in Europa, und 1933 wurde die von Henry-Russel Hitchcock und Philip Johnson kuratierte Schau «Modern Architecture: International Exhibition» vom MoMA aus New York übernommen.

Die Voraussetzung für die Fusion von Sammlung und Ausstellungsinstitut ergab sich im Rahmen der während des Zweiten Weltkriegs lancierten Kampagne für «Living War Memorials». Erinnerungsstätten für die Gefallenen sollten mit kulturellen Organisationen verzahnt werden. Der finnische Architekt Eliel Saarinen, der in den zwanziger Jahren für die Realisierung des Cranbrook Campus bei Detroit in die USA übersiedelt war, erhielt 1944 den Auftrag für die Planung des in der Verlängerung der East Mason Street am Ufer des Lake Michigan zu errichtenden Neubaus, doch verzögerte sich die Realisierung bis zum Tod des Architekten 1955. Ausgeführt wurde die vierseitig auskragende, um einen Innenhof gruppierte und über einem Sockelgeschoss aufgestelzte Betonstruktur daher in den folgenden Jahren von Saarinens Sohn Eero.

Die ständig wachsende Sammlung erzwang indes schon bald eine Vergrösserung der Ausstellungsfläche: 1975 ergänzte der ortsansässige Architekt David Kahler das Museum um einen Erweiterungsbau, welcher sich seeseitig dem Sockel Saarinens vorlagert. Nach knapp zwei weiteren Dekaden stand eine neuerliche Erweiterung zur Debatte. Allerdings hatte sich inzwischen das Konzept geändert: Nicht mehr eine dienende Raumhülle für die Kunst war Ziel der Initiatoren, sondern ein spektakuläres Architekturobjekt, das die Raumbedürfnisse befriedigen, aber selbst auch eine Attraktion darstellen sollte. Es ging also zusätzlich um Standortmarketing für eine Stadt von 1,5 Millionen Einwohnern. Glaubt man den Verantwortlichen, hat das 100-Millionen-Dollar- Projekt seinen Zweck erfüllt; zufrieden spricht der Direktor von der Museumserweiterung als einer «urban landmark» und einem Symbol der Vitalität und Zukunftsorientierung von Milwaukee.

Von den 70 international bekannten Architekten, die zur Präqualifikation eingeladen worden waren, erhielt schliesslich Santiago Calatrava den Zuschlag und konnte sich damit unter anderem gegen Frank O. Gehry, Thom Mayne, Norman Foster, Arata Isozaki und Fumihiko Maki durchsetzen. Mit seinen rund 15 000 Quadratmetern Nutzfläche dient der neue «Quadracci Pavilion» nur zum kleinen Teil für die Präsentation von Kunstwerken: Ziel war es vielmehr, sämtliche Zusatzfunktionen wie Kasse, Museumsshop, Auditorium und Restaurant aus dem Komplex von Saarinen und Kahler auszulagern. Dadurch verkehrt sich die Wahrnehmung des Museums: Mit der Anordnung des Eingangs in der Achse der einen Block südlich der East Mason Street gelegenen Wisconsin Avenue, der historischen Hauptstrasse von Downtown Milwaukee, schafft Calatrava eine städtebaulich sinnvolle Einbindung, rückt aber den bestehenden Museumsbau, der nun allein vom Inneren des neuen Pavillons aus erschlossen wird, beinahe ins Abseits. Diese Tendenz wird noch verstärkt durch das mit dem Grau des in die Jahre gekommenen Betons kontrastierende strahlende Weiss des Calatrava-Ensembles - und durch die spektakuläre formale Gestalt, die sämtliche Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Der Grundriss des Erweiterungsbaus erinnert an eine Kirche mit drei Konchen: Ein dreischiffiges Langhaus schliesst südlich an den Kahler-Bau an, das Querhaus - über eine elegante, an Kabeln von einem schräg in den Himmel ragenden Mast abgehängte Brücke mit der Stadt verbunden - birgt den Eingang sowie ein saalartiges Foyer. Dieses kragt nicht nur mit einem parabelförmigen verglasten Vorbau Richtung See aus, sondern wird überdies von einer kühnen Dachkonstruktion überfangen, die zwischen dem Zugring aus Stahlbeton und einem parallel zum Brückenmast aufragenden zweiten Mast aufgespannt ist. Eine aufwendige Brise-Soleil-Struktur, welche lediglich dazu dient, das Foyer bei Bedarf zu verschatten, ist zum eigentlichen Wahrzeichen des Museums geworden: Ein «Gefieder» aus 72 Stahlrohren unterschiedlicher Länge beidseitig des Mastes lässt sich über das Glasdach senken oder ähnlich den gigantischen Schwingen eines über dem See aufsteigenden Vogels emporklappen, so dass die beiden vordersten Rohre eine Horizontale bilden. Calatrava versucht, die kinetische Plastik der sechziger Jahre in biomorphen Formen neu zu interpretieren und in die Architektur zu übertragen - ein Gedanke, der schon seiner «Shadow Machine» im Garten des MoMA 1992 sowie dem zeitgleichen kuwaitischen Pavillon auf der Expo in Sevilla zugrunde lag.

Maritime Allusionen mit organischer Metaphorik verbindend, hat Calatrava zweifellos jenes Wahrzeichen realisiert, das sich die Organisatoren vor Ort wünschten. Auch städtebaulich weist das Projekt Qualitäten auf - indem es die vielbefahrene Uferstrasse überbrückt und damit zur Anbindung des höher gelegenen Stadtzentrums an den Lake Michigan beiträgt. Verbunden mit dem Bau des Museums ist eine Neugestaltung der Uferbereiche; auf dem bis unter die Brücke reichenden Vorplatz konnte der Landschaftsarchitekt Dan Kiley eine grosse Installation realisieren.


Eindrucksvolle Architekturplastik

Gewiss mag sich Calatravas Architekturplastik vor der Kulisse von Milwaukee eindrucksvoll ausnehmen - funktional indes überzeugt sie nur bedingt. So ist das seeseitig unter dem Foyer gelegene Café-Restaurant nur über einen umständlich geführten Zugangsweg zu erreichen. Und das dreischiffige «Langhaus» des Quadracci Pavilion wird seiner räumlichen Wirkung beraubt, indem das grosszügige Mittelschiff sich in eine Abfolge aus Auditorium, Museumsshop und Sonderausstellungssaal unterteilt. Als Verbindung zwischen dem Foyer und den Ausstellungsbereichen im Altbau fungieren somit die durch das Stakkato aus weissen Stahlbetonrippen rhythmisierten Seitenschiffe, wobei das östliche ebenfalls für Sonderausstellungen Verwendung findet. Gerade die Anbindung aber bleibt unvermittelt: Hinter einer Tür steht man plötzlich in der orthogonalen Raumstruktur des Altbaus. Somit offenbart sich auch Calatravas erster Grossbau in den USA als ein architektonisches Event; die Nutzfunktion ist als nachgeordnet einzustufen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.11.01



verknüpfte Bauwerke
Milwaukee Art Museum - Quadracci Pavilion

23. Oktober 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Montanbaukunst

Die Architekten Schupp und Kremmer in Essen

Die Architekten Schupp und Kremmer in Essen

Kaum eine Publikation über die Industriearchitektur des 20. Jahrhunderts verzichtet auf die Schachtanlage 12 der Zeche Zollverein in Essen- Katernberg. Das formal klare Doppelbock-Fördergerüst, welches die Kuben der Werksbauten mit ihren ausgemauerten Stahlfachwerkfassaden überragt, avancierte zur Ikone der Montanarchitektur. Der Einklang von Funktionalität und Ästhetik liess das zwischen 1927 und 1932 entstandene Hauptwerk der Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer zu einer Inkunabel des Neuen Bauens werden, und zu Recht fand die 1986 stillgelegte und zum Teil umgenutzte Anlage Ende 2001 Aufnahme in die Liste des Unesco- Weltkulturerbes.

Nun konnte auf Initiative der Stiftung Zollverein das Gesamtwerk der Architekten Schupp und Kremmer erstmals umfänglich erforscht werden. Resultat ist eine von einer Buchpublikation begleitete Ausstellung in der Halle 8 der Zechenanlage, die mit neu entdecktem Material aus Archiven und Nachlässen gut bestückt ist. Auch wenn das Werkverzeichnis eher eine Bautenliste darstellt und noch viel Platz für spätere Forschung lässt, wurde hier Pionierarbeit geleistet. 1916 hatten sich der aus Uerdingen stammende Schupp (1896-1974) und der aus Posen gebürtige Kremmer (1895-1945) während des Studiums in Karlsruhe kennen gelernt, 1922 gründeten sie in Essen und Berlin ihre Arbeitsgemeinschaft. Anfangs auch mit dem Siedlungs- und Kirchenbau beschäftigt, konzentrierten sie sich schliesslich auf die Planung von Montananlagen, zunächst im Ruhrgebiet, wo die 1926 durch Fusion entstandenen Vereinigten Stahlwerke AG wichtigster Auftraggeber wurden. Sukzessive lösten sich die Architekten vom Neoklassizismus der Behrens- Nachfolge und fanden zu einer Bauauffassung, welche den puren Funktionalismus um die Fragestellung ergänzt, wie Baukörper einer Gesamtanlage zueinander in Beziehung treten sollten. Das Abwägen der Baumassen gegeneinander unterliege «ewigen Gesetzen», formulierte Schupp 1931. Als zweites Hauptwerk der Sozietät ist die Erzaufbereitungsanlage des Bergwerks Rammelsberg (1936-39) am Harzrand bei Goslar einzustufen, das heute ebenfalls zum Weltkulturerbe gehört. Die am Hang gestaffelten Gebäude beweisen beispielhaft, wie sich landschaftsbezogene Architektur und strenge Funktionalität verbinden lassen, und wirken wie ein Urbild der «analogen Architektur».

Obwohl sie persönlich der nationalsozialistischen Ideologie fremd gegenüberstanden, wurden Schupp und Kremmer zu Profiteuren des NS- Staats. Industriebau durfte sachlich sein, und für projektierte Bauten in Wolfsburg näherten sich die Architekten dem Repräsentationsklassizismus der Zeit. Eine neue Auftragswelle rollte an, als nach dem Angriff auf Polen im Rahmen der wehrwirtschaftlichen Autarkiebestrebungen des Deutschen Reichs Kraftwerke und Schachtanlagen im oberschlesischen Industrierevier geplant wurden. Nach dem Tod Kremmers führte Schupp das Büro weiter. Die letzten seiner Bauten, nunmehr wieder in einer zeitgemäss-funktionalistischen Formensprache, entstanden zu Beginn der siebziger Jahre in Duisburg. Dass viele der Bauten nach dem Ende des Kohlenbergbaus im Ruhrgebiet achtlos abgerissen wurden, das verschweigt die sehenswerte Ausstellung leider.


[Bis zum 3. November. Katalog: Symmetrie und Symbol. Die Industriearchitektur von Fritz Schupp und Martin Kremmer. Hrsg. Wilhelm Busch und Thorsten Scheer. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2002. 286 S., Euro 24.80.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.10.23

01. Oktober 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Von der Installation zum Museumsbau

Lange Zeit vornehmlich im Bereich multimedialer Installationen tätig, zählen Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio erst seit jüngstem zu den Stars der amerikanischen Architekturszene. Nach der «Blur» genannten Wolke in Yverdon entstehen nun zwei wichtige Kulturbauten an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Beide Projekte sind in der Hauptausstellung der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig ausgestellt.

Lange Zeit vornehmlich im Bereich multimedialer Installationen tätig, zählen Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio erst seit jüngstem zu den Stars der amerikanischen Architekturszene. Nach der «Blur» genannten Wolke in Yverdon entstehen nun zwei wichtige Kulturbauten an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Beide Projekte sind in der Hauptausstellung der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig ausgestellt.

Ohne Zweifel: Neben einer Überfahrt zu Jean Nouvels Monolithen in Murten zählt der Besuch der «Wolke» in Yverdon zu den eindrücklichsten Erlebnissen auf der Expo 02. Bald konturlos mit dem Nebel verschmelzend, bald zu einem duftigen Schleier vor blauem Himmel sich formierend, wirkt das «Blur Building» des New Yorker Architektenteams Diller und Scofidio wie ein Katalysator der Wahrnehmung: Der Besucher taucht ein in die dunstige Wolke, hört, riecht und spürt das versprühte, sich wieder zu Tropfen ballende Nass, um schliesslich die Treppen emporzusteigen und in strahlender Sonne über der Wolke zu stehen - mit Blick auf Neuenburgersee und Jura. In den USA, so erzählt Elizabeth Diller in ihrem Büro am Cooper Square in Manhattan, sei ein derartiges Projekt undenkbar: Ins Nichts einzutauchen, die Orientierung zu verlieren, das Ziel des Weges nicht zu erkennen, das widerspreche dem amerikanischen Bedürfnis nach Sicherheit.


Kunst, Natur und Architektur

Hatte Mies van der Rohe eine Architektur aus Haut und Knochen propagiert, so arbeiteten Diller und Scofidio in Yverdon mit dem reinen Skelett und negierten genau jene Schutzfunktion, welche der Architektur traditionell zugeschrieben ist. Denn das Gerüst - von einem «Gebäude» kann man kaum sprechen - konfrontiert den Menschen mit elementaren Phänomenen der Natur, die man gemeinhin an anderen Orten erlebt, etwa bei Wanderungen im Hochgebirge oder an Bord eines Flugzeugs, das die Wolkendecke durchsticht. Die Vision dynamischer Körper, welche die Expressionisten um 1920 bewegte, bei Archigram in den sechziger Jahren wiederkehrte und in der Blob-Ästhetik der computergenerierten Architektur der Gegenwart ihre bisher letzte Transformation erlebte, wird im «Blur Building» durch eine technisch raffinierte Anwendung physikalischer Gesetze sinnlich evident; Natürlichkeit und Künstlichkeit fallen in eins. Gleichzeitig aber knüpfen die Entwerfer mit der Wolke an die Kategorie des Sublimen oder Erhabenen an, welche im 18. Jahrhundert die Wahrnehmung der Natur bestimmte, vor allem in der Schweiz.

Das experimentelle Vorgehen, welches die Beschränkungen der architektonischen Praxis zu überwinden sucht, ist typisch für die Arbeit der 48-jährigen Elizabeth Diller aus Lodz und des 1935 geborenen New Yorkers Ricardo Scofidio, die seit 1979 ein gemeinsames Büro führen. Multimediaarbeiten und Installationen waren es, mit denen das Duo zunächst Aufmerksamkeit fand - ein für die jüngere amerikanische Architekturszene nicht untypisches Phänomen. Denn wo der Architekturmarkt von einigen Grossbüros beherrscht wird und für spektakuläre Kulturbauten die Top 20 der internationalen Baukunst in wechselnder Besetzung eingeflogen werden, bleiben ambitionierten Newcomern einzig die Räume von Galerie und Universität (Diller lehrt in Princeton, Scofidio in Sichtweite des Büros an der Cooper Union) als Versuchslabor. Im Falle von Diller und Scofidio allerdings auch jener des Theaters; mit dem Belgier Frédéric Flamand und seiner Compagnie Charleroi/Danses arbeitete das Team bei insgesamt drei Choreographien zusammen. Auf «Moving Target», mit dem Flamand 1996 seine mit Zaha Hadid und Jean Nouvel fortgesetzte Trilogie «Danse et Architecture» begann, folgten zwei Jahre später «EJM1: Man Walking at Ordinary Speed» und «EJM2: Inertia», bei denen sie sich mit den photographischen Bewegungsstudien von Muybridge auseinandersetzten.

Die Zerlegung von Handlungen in eine Sequenz von Bildern bestimmt auch die Installation «Travelogues» im John F. Kennedy Airport in New York. Die ankommenden Reisenden passieren auf Panels erscheinende Röntgenbilder fiktiver Koffer, deren sukzessiv sich offenbarender Inhalt auf ironische Weise Geschichten von den Besitzern und ihren Reisezielen erzählen. Diese Idee wurde für die künftige Installation «Facsimile» am Erweiterungsbau des Moscone Convention Center San Francisco weiterentwickelt: Ein an einer Schiene aufgehängter Video-Screen umrundet den Bau und erlaubt mit seiner Projektion gleichsam durch die Fassade hindurch Einblicke in das Geschehen im Inneren des für private Veranstaltungen genutzten Gebäudes.


Späte Karriere

Als Architekten wurden Diller und Scofidio einer breiteren Öffentlichkeit allerdings erst durch die Neugestaltung der «Brasserie» im Seagram Building bekannt (NZZ 23. 2. 01). Phyllis Lambert, die ihren Vater Samuel Bronfman seinerzeit dazu überredet hatte, Mies van der Rohe mit dem Hochhausprojekt zu betrauen, votierte für das interdisziplinär arbeitende Architektenpaar. Ort der Intervention war das einem Feuer zum Opfer gefallene, ursprünglich von Philip Johnson eingerichtete Restaurant im Sockelgeschoss. Vom Eingang an der East 53rd Street führt eine gläserne Treppe mitten hinein in den fensterlosen Raum, der durch die Soft-Edge-Ästhetik der Formen, die weichen Materialien Kunstharz und Holz sowie die Pastelltöne des Interieurs eine Gegenposition zur geometrischen Klarheit des darüber befindlichen Gebäudes bezieht. Ausgangspunkt war die kuriose Tatsache, dass es sich bei Mies' Meisterwerk zwar um ein ringsum verglastes Gebäude handelt, Tageslicht in der «Brasserie» aber überhaupt nicht zur Verfügung steht. Wiederum ging es um Transparenz und Verschleierung, um Sichtbarwerden und Verschwinden: Eine unauffällig postierte Kamera photographiert die Eintretenden, die auf Monitoren oberhalb der Bar den bereits Anwesenden präsentiert werden.

Nachdem Diller und Scofidio mit dem die Rigidität des spätmodernen Wohnblocks aufbrechenden «Slither Housing» (2001) im japanischen Gifu ihr erstes grösseres Projekt realisieren konnten, gewannen sie im vergangenen Jahr gegen Peter Zumthor und Studio Granda den Wettbewerb für den Neubau des Institute of Contemporary Art (ICA) in Boston. Als kultureller Magnet soll der spektakulär über die Uferfront auskragende Baukörper aus Glas und Beton zum Herzstück der Revitalisierung des alten Hafens von Boston werden. Das Gebäude umfasst unterhalb der Galerieebene auch ein Auditorium, dessen Sitzreihen sich jenseits der Glaswand als Freitreppe bis hin zur Uferpromenade fortsetzen.

Anschliessend an eine erste Präsentation in den USA wird das ICA jetzt auch auf der Architekturbiennale gezeigt. Dort ist auch das zweite der derzeit in der konkreten Planungsphase befindlichen Projekte ausgestellt, der zur Ausführung bestimmte Entwurf für das als Nonprofitorganisation im Kunst- und Multimediabereich agierende Eyebeam Atelier in Manhattan. In der Finalrunde des Wettbewerbs hatte sich das Duo gegen Leeser Architecture (New York) sowie MVRDV (Rotterdam) durchsetzen können. Gebildet wird der Neubau des Museums- und Ateliergebäudes aus einer quer zur Strasse sich in die Höhe schraubenden Bandstruktur, bei der Boden, Wand und Decke ineinander übergehen. Die Fassade, welche wie ein Schnitt durch das Gebäude wirkt, erinnert an Entwurfsstrategien von OMA, MVRDV oder UN Studio, und doch gelang den Architekten eine überzeugende Weiterführung des Gedankens. Indem das die Stockwerke scheidende Band zweischichtig aufgebaut ist, entstehen von Sichtbeton umgebene Räume für die Präsentation sowie mit modularen Paneelen ausgekleidete Bereiche für die Produktion. Fraglos wird das für den Szene-Stadtteil Chelsea geplante Eyebeam Atelier zu einem Wahrzeichen innerhalb der mit wegweisender zeitgenössischer Architektur nicht gerade gesegneten Stadtlandschaft Manhattans werden. Mit einer Retrospektive im Whitney Museum wird New York dem Büro Diller und Scofidio im kommenden Jahr die lange verweigerte Anerkennung zollen.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.10.01

21. September 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektur am Rhein

Ausstellungen zur Rheinromantik in Koblenz

Ausstellungen zur Rheinromantik in Koblenz

Von einem «furchtbaren Fluss» sprach Georg Forster noch 1790. Gut eine Dekade später bekannte Clemens Brentano, er sei «nie so glücklich» gewesen wie auf einer Rheinreise mit Achim von Arnim im Juni 1802 - die Romantik hatte den Blick auf die Mittelrheinlandschaft zwischen Bingen und Koblenz verändert. Die verfallenen Burgen avancierten zu Zeugnissen eines sagenumwobenen Mittelalters, die schroffen Felsen und sanften Hänge galten den - zunächst englischen - Reisenden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als Musterbeispiel einer Landschaft, in der sich Erhabenheit und Idyll abwechselten. Schon in den 1770er Jahren war auf dem Niederwald bei Rüdesheim nach englischem Vorbild ein Landschaftsgarten entstanden, in dem die Ausblicke über das Binger Loch wirkungsvoll in Szene gesetzt worden waren.
Kulturhistorische Perspektive

Das Zweihundert-Jahr-Jubiläum der Rheinreise von Brentano und von Arnim fällt zusammen mit der Aufnahme der Mittelrheinlandschaft in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes. Insofern kommt die Ausstellung «Gebaute Träume am Mittelrhein. Der Geist der Romantik in der Architektur», die derzeit im Landesmuseum Koblenz auf der Festung Ehrenbreitstein zu sehen ist, zur rechten Zeit. Konzentrierte sich die letztjährige, unter dem Titel «Preussische Facetten: Rheinromantik und Antike» im Mittelrhein-Museum veranstaltete Schau vornehmlich auf die zwischen Denkmalpflege und Herrschaftslegitimation oszillierenden Initiativen Friedrich Wilhelms IV. zur Restaurierung römischer Altertümer und zur rekonstruierenden Wiederherstellung mittelalterlicher Rheinburgen, so sucht die jetzige Präsentation nach einer umfassenderen kulturhistorischen Perspektive. Auch wenn manche Themen in der Ausstellung (anders als im Katalog) eher kursorisch behandelt werden und einige Inszenierungsstrategien wie ein Abklatsch der legendären «Musées sentimentales» von Daniel Spoerri wirken, ist das Panorama in seiner Komplexität doch erhellend und anregend, weil es die vielfältigen Überschneidungen von romantischer, politischer und touristischer Landschaft zum Thema macht.

Karl Friedrich Schinkel zeichnete nicht nur die Pläne für den Wiederaufbau (1836-47) von Schloss Stolzenfels, sondern entwarf auch 1832 den ersten preussischen Strassentunnel im Ahrtal. Brücken- und Strassenbau gehörte zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu den wichtigsten Modernisierungsleistungen im zuvor nur per Schiff passierbaren Mittelrheintal; 1859 wurde die linksrheinische Bahnstrecke vollendet, die ihre Bedeutung als Fernverkehrsmagistrale durch die Fertigstellung der ICE-Strecke Köln-Frankfurt erst in diesem Sommer einbüsste. Von der frühen Industrialisierung zeugt auch die von Carl Ludwig Althans errichtete Giesshalle der Sayner Hütte in Bendorf-Sayn (1828-30), welche als erste gusseiserne Hallenkonstruktion in Europa gilt.

Die Ausstellung in Koblenz thematisiert derartige Zweckbauten ebenso wie den romantisierenden Wiederaufbau der Burgen, der erst sukzessive einem Interesse am Erhalt der Originalsubstanz wich. Dem mondänen Kurort Bad Ems gilt ebenso die Aufmerksamkeit wie Kirchenneubauten oder verschiedenen Tourismusarchitekturen, handele es sich dabei um das «Schweizerhaus» (1842) oberhalb der auf Initiative des Prinzen Ludwig von Preussen wiederaufgebauten Burg Rheinstein, um Aussichtstürme oder auch um Nationaldenkmäler. Der Denkmalkult des Kaiserreichs gipfelte in der Germania auf dem Niederwald (1883) und dem Kaiser-Wilhelm- Denkmal auf dem «Deutschen Eck» am Zusammenfluss von Rhein und Mosel (1897).
Entdeckung der Landschaft

In welchem Masse der Begriff des Sublimen oder Erhabenen die Sicht auf die Natur veränderte, verdeutlicht im Mittelrhein-Museum Koblenz die Ausstellung «Wasser, Wolken, Licht und Steine. Die Entdeckung der Landschaft in der europäischen Malerei um 1800». Nicht mehr allein Italien war Ziel der Reisen, sondern auch einstige Durchgangsländer wie die Schweiz und die Rheinlande. Zu Sujets avancierten weiter die Elbe bei Dresden, die dänische Küste oder die Landschaften Englands und Schottlands. Auch wenn die Schau mit Kunstwerken unterschiedlichen Ranges aufwartet, vermittelt sie doch einen guten Überblick über die Landschaftsmalerei zwischen 1770 und 1830. Evident wird, wie sich eine realistischere Auffassung der Natur langsam Bahn zu brechen sucht.


[ Ausstellungen: Gebaute Träume am Mittelrhein. Der Geist der Romantik in der Architektur. Landesmuseum Koblenz. Bis 17. November. Katalog (Verlag Schnell & Steiner, München 2002, 208 S., Euro 24.90). - Wasser, Wolken, Licht und Steine. Die Entdeckung der Landschaft in der europäischen Malerei um 1800. Mittelrhein-Museum Koblenz. Bis 3. November. Katalog (Edition Braus, Heidelberg 2002, 272 S., Euro 24.-).

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2002.09.21

16. September 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Tiefschläge und Höhenflüge

Das Architektur-Symposium Pontresina

Das Architektur-Symposium Pontresina

Von insgesamt 760 Übernachtungen war die Rede, und so scheint sich das dreitägige Architektur-Symposium in Pontresina inzwischen hinsichtlich der Teilnehmerzahl, die sich auf die Sponsoren und ihren Tross, auf Medienvertreter und Einzelteilnehmer verteilt, stabilisiert zu haben. Zumindest für das Gastgewerbe war die nunmehr zum fünften Mal stattfindende Veranstaltung ein Erfolg. Die Hoffnung, ausserhalb der Saison neben Bergwanderern der älteren Generation ein vom Lebensstil her urban orientiertes Publikum ins Engadin zu locken, hat sich erfüllt. - In den vergangenen Jahren haben Initiatoren und Organisatoren mit der Programmkonzeption und dem Tagungsablauf immer wieder experimentiert. Anfangs übernahm Frank Joss, der «Erfinder» des Symposiums, selbst die Moderation, dann übertrug man sie wie auch die Auswahl der Referenten mit Rem Koolhaas oder Norman Foster jeweils einem prominenten Architekten; mal zeigte sich der Versuch, das Thema eng zu fassen, mal blieb nichts als thematische Beliebigkeit.


Bombay und Johannesburg

Die ersten zwei Tage der diesjährigen Veranstaltung waren enttäuschend. Das lag weniger an der Tatsache, dass die als Kulturkorrespondentin des Südwestrundfunks tätige Moderatorin Maria Ossowski sich den Themenstellungen inhaltlich nicht gewachsen zeigte, als vielmehr an der Entscheidung der Organisatoren, anspruchsvolle Themen nur anreissen zu lassen und damit gleichsam zu verschleudern, zumal die Veranstaltung jeweils am frühen Nachmittag endete. «Neue Konzepte der Architektur für eine soziale Integration von Minoritätsgruppen armer Städte» lautete die Vorgabe für den ersten Tag. Ein zeitgemässes Thema, das - wie wieder einmal die diesjährige Architekturbiennale in Venedig beweist - in der an Architektur interessierten Öffentlichkeit nicht die gebührende Aufmerksamkeit findet. Neben Slums in Bombay galt mit den Referaten des Architekten und Städteplaners Erky Wood und der Universitätslehrerin Lindsay Bremner die Aufmerksamkeit der Situation in Johannesburg nach dem Ende der Apartheid. Gerade Wood machte überzeugend deutlich, dass es nicht um objekthafte Architektur, sondern um Infrastruktur und urbane Systeme geht, wenn es gilt, die zunächst durch den Kolonialismus separierte und dann durch die Rassentrennung segregierte Metropole neu zu vernetzen. Über Details hätte man gerne mehr erfahren - doch dann betrat schon Shigeru Ban das Podium, der einen der üblichen Werkvorträge hielt. Wieder einmal zeigte sich die mangelnde Bereitschaft prominenter Architekten, sich auf ein vorgegebenes Thema einzulassen. Über Bans «Voluntary Architects Network» und seine ephemeren, in Katastrophengebieten eingesetzten Pappröhrenarchitekturen erfuhr man nicht mehr, als aus zahlreichen Publikationen bekannt ist.

Auch das Thema des zweiten Tages, «Kunst und Architektur», hätte Stoff genug für ein ganzes Symposium gegeben. Zwei Vorträge waren als Fallstudien interessant: Jener der niederländischen Künstlerin Jeanne van Heeswijk, der es durch unermüdliches Engagement in der Rotterdamer Vorortgemeinde Westwijk gelungen ist, ein marodes Shopping-Center durch Kunstaktivitäten zu einem identitätsstiftenden Ort zu entwickeln. Und jener des Architekten Sean Griffith (FAT Architects), der mit zwischen Affirmation und Subversion oszillierenden Interventionen im Stadtbild Londons die Strategien der Konsumgesellschaft unterminiert. Zu einem Tiefschlag indes geriet der Auftritt des international gehypten Ausstellungsmachers Hans Ulrich Obrist. Selbst wer die von dem gebürtigen Schweizer in den vergangenen Jahren (mit)kuratierten Ausstellungen zu goutieren bereit war, dürfte angesichts der egomanischen, sich auf das Name-Dropping beschränkenden Präsentation gezwungen sein, die Ernsthaftigkeit und Relevanz von Obrists Arbeit in Frage zu stellen; und nur als grotesk kann man den Versuch des von Paris aus tätigen Kurators einstufen, seine Zusammenarbeit mit dem Architekten Stefano Boeri in Venedig als Neuerfindung der universitären Praxis zu verkaufen.
Ideen für Ground Zero

Versöhnlich stimmte der letzte Tag unter dem Titel «New York ein Jahr nach dem 11. September: Sicherheit versus Freiheit». Im Zentrum stand dabei der fulminante Vortrag des Architekturkritikers und Architekten Michael Sorkin, welcher anhand des Vorgehens der für den Wiederaufbau von Ground Zero zuständigen «Lower Manhattan Development Corporation» den «giant conflict between business and citizenship» zum Thema machte. Mit der für die Bürgerinitiative «Rebuild Downtown our Town» («r.dot») tätigen Architektin Beverly Willis sowie Ross Wimer, der als Mitinhaber der Architekturfirma SOM gerade einen Wiederaufbauvorschlag für das WTC-Areal vorgelegt hat, standen Sorkin adäquate Partner zur Verfügung. Engagiert und doch ohne die Sentimentalität der Betroffenheit leitete Kristin Feireiss, die frühere Leiterin des NAI Rotterdam, die Diskussion. Für das allgemeine Thema «Sicherheit und Freiheit» blieben nur wenige Minuten. Vielleicht wäre das eine Chance für das Architektur-Symposium Pontresina, im nächsten Jahr neu anzusetzen. Vorausgesetzt, man möchte nicht nur die Interessen der Hotellerie befriedigen, sondern eine Stimme werden, die sich im internationalen Architekturdiskurs Gehör zu schaffen vermag.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.09.16

05. September 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Gediegenheit und Extravaganz

Die Terrorattacken vom 11. September versetzten der New Yorker Tourismusindustrie einen schweren Schlag. Dennoch setzt die Hotelkultur am Hudson weiterhin Massstäbe. Neue Projekte von Philippe Starck, Arquitectonica und David Chipperfield zeigen ein breites Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten. Gemeinsam ist den Hotelkonzepten aber eine ambitionierte und konsequente Gestaltung, wenn nicht Inszenierung.

Die Terrorattacken vom 11. September versetzten der New Yorker Tourismusindustrie einen schweren Schlag. Dennoch setzt die Hotelkultur am Hudson weiterhin Massstäbe. Neue Projekte von Philippe Starck, Arquitectonica und David Chipperfield zeigen ein breites Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten. Gemeinsam ist den Hotelkonzepten aber eine ambitionierte und konsequente Gestaltung, wenn nicht Inszenierung.

Zur Hotelkultur des 20. Jahrhunderts hat New York zweifach beigetragen: mit Palästen wie dem Waldorf-Astoria von 1931, in dessen elaboriertem Raumprogramm Rem Koolhaas den Höhepunkt einer von ihm beschworenen «culture of congestion» sah, und mit dem Typus des Boutique- Hotels, das als Reaktion auf die gesichtslosen Kettenhotels der siebziger Jahre entstand. Der frühere Klubbetreiber Ian Schrager initiierte den neuen Trend der Design-Hotels, als er 1984 das von der Pariser Innenarchitektin Andrée Putman gestaltete «Morgans» in der Madison Avenue eröffnete. In der Hektik der Hudson-Metropole ist die kleine Lobby mit ihrem schwarz-weiss-karierten Boden ein Ort der Ruhe, der Diskretion und des Understatement. Die einst bahnbrechenden, auf den Grundton grau abgestimmten Zimmer vermögen mit ihrem zwischen Purismus und Gediegenheit oszillierenden Mobiliar bis heute zu überzeugen. Als innovativ galten damals die verglasten Duschen und die stählernen Halbkugeln der Waschbecken.


Zwerge zwischen Blumenkübeln

Fünf Jahre nach dem «Morgans» entstand das «Royalton», bei dem Schrager zum ersten Mal mit Philippe Starck zusammenarbeitete. Der inzwischen zum Megastar des Designs avancierte Pariser verwandelte das Erdgeschoss in eine Abfolge magischer Räume - von der mit blauem Samt ausgekleideten Champagnerbar bis hin zur Mahagoniwand hinter der Theke. Das nahe gelegene «Paramount» (1992) gibt sich weniger exzentrisch als das kleinere und exklusivere «Royalton». Mit der zweigeschossigen Lobby gelang Starck ein Geniestreich der zeitgenössischen Hotelgestaltung: Der effektvoll beleuchtete Raum, in dem ein Sammelsurium verschiedener Stühle informell versammelt ist, dient gleichzeitig als Bar, Restaurant, Wartehalle und - dank der grossen Freitreppe - als Auftrittsfläche für alle, die im Hotel gesehen werden wollen. Nachdem der französische Designer für Schrager weitere Aufträge in Miami, Los Angeles und London ausgeführt hatte, ist mit dem «Hudson» nun das mit 1000 Zimmern bislang grösste Hotel entstanden.

Bei dem hinter dem Columbus Circle gleichsam im Windschatten des One-Central-Park- Komplexes von David Childs gelegenen «Hudson» handelt es sich wieder um den Umbau eines Ziegelsteinbaus aus den zwanziger Jahren. Ein schwefelgelber Rolltreppenschacht befördert die Besucher unter der gelb schillernden Bar hindurch in die Lobby, welche mit künstlichem Efeu, Hirschgeweihdekorationen und archaisierenden Stühlen wie eine Fusion aus Gartenlaube, Jagdhaus und Buschhütte wirkt. Der zu einer Terrasse umgewandelte, von den Zimmerflügeln in die Zange genommene Innenhof macht den besonderen Reiz des Gebäudes aus und wird abends zum quirligen Treffpunkt. Überdimensionale Blumenkübel, Vasen und eine Giesskanne lassen die Gäste zu Gartenzwergen schrumpfen - ein surrealistischer Effekt, mit dem Starck immer wieder spielt. Mit weissen, die Räume gliedernden Vorhängen und Holzvertäfelung zeigen sich dagegen die Zimmer vergleichsweise zurückhaltend.

Während Starck derzeit das an der Südkante des Central Park gelegene «St. Moritz at the Park» für Schrager umbaut, realisiert das in Miami ansässige Büro Arquitectonica einen «E-Walk» genannten Komplex an der Ecke von 42nd Street und 8th Avenue. Billboards und Reklameelemente überwuchern den Sockel, als gälte es, die Licht- und Farborgie des einen Block weiter östlich befindlichen Times Square in den Schatten zu stellen. Überragt wird das schrille Gebilde vom 60-geschossigen Turm der Westin Hotels; die Eröffnung ist für den Herbst vorgesehen. Wie ein Komet, der in das Gebäude eingeschlagen hat, unterteilt ein kurviger weisser Lichtstreifen den pastellfarbenen Wolkenkratzer - die längst überwunden geglaubte Postmoderne feiert in dem Projekt von Arquitectonica noch einmal einen späten Triumph. Oder sind wir schon in der Zeit des Revivals angelangt?


Purismus mit Parkblick

Demgegenüber setzt eine Reihe der neueren Hotels auf eine klassisch wirkende Gediegenheit - ob das nahe dem Grand Central Terminal gelegene «Dylan» des Architekten Jeffrey Beers oder das von dem Interior Designer Thomas O'Brien konzipierte «60 Thompson», das sich an der namengebenden Adresse inmitten von SoHo befindet. Vielleicht trifft der Trend zur Rückbesinnung auf das Bewährte die Atmosphäre in der Stadt nach dem 11. September eher als die Inszenierung des Exaltierten. Die überzeugendste der neuen Edelherbergen, die ihre Inspirationen weder aus dem spätpostmodernen Geist der achtziger Jahre noch der spätfuturistischen Bubble- Ästhetik der Gegenwart empfangen hat, sondern eher an die Vorkriegszeit erinnert, heisst «The Bryant Park» und liegt hinter dem eindrucksvollen Beaux-Arts-Bauwerk der New York Public Library. Zu Beginn der neunziger Jahre wurde aus der angrenzenden, zuvor als «Needle Park» verschrieenen Parkanlage eine der wenigen Oasen in Midtown New York.

Ausgerechnet Philip Pilevsky, der frühere Partner von Ian Schrager, gab David Chipperfield den Auftrag, das 1924 für die American Radiator Company an der den Park südlich begrenzenden West 40th Street errichtete, heute besser unter dem Namen «American Standard Building» bekannte Hochhaus zu einem Hotel umzubauen; Raymond Hood, als dessen populärstes Werk die Radio City Music Hall im Komplex des Rockefeller Center gelten kann, begann mit diesem Gebäude seine New Yorker Karriere, nachdem er kurz zuvor mit einem gotisierenden Entwurf den Wettbewerb für den Chicago Tribune Tower gewonnen hatte. Verglichen mit diesem zeigt das ebenfalls einer gotisierenden Vertikalität verpflichtete American Standard Building Tendenzen zur formalen Vereinfachung und ist offenkundig vom Konkurrenzentwurf inspiriert, den Eliel Saarinen zum Tribune-Wettbewerb eingereicht hatte. Die schwarzen Steinplatten der Sockelzone, die dunklen Ziegel des Schafts und die vergoldeten Terracotta-Elemente liessen Hoods Gebäude zu einem frühen Meisterwerk des Art déco werden. Nachts angestrahlt, entfaltete es eine nahezu magische Wirkung, die Georgia O'Keeffe 1927 in einem Gemälde festgehalten hat.

Chipperfields Eingriffe geben sich zurückhaltend: Neben dem formal puristischen, ebenfalls vergoldeten Vordach ist es das hinter Türen und Fenstern hervorleuchtende magische Rot der Reception und der Lifthalle, welches von aussen auf die neue Nutzung hinweist. Wird dieser Signalton in einzelnen lackierten Möbelstücken der Hoteletagen aufgegriffen, so sind es vornehmlich neutrale und zurückhaltende Farben, mit denen der Londoner Architekt ansonsten operiert: Für Chipperfield typisches Weiss, rhythmisiert durch vertikale Lichtschlitze, bestimmt die mit bräunlich-grauem Teppich ausgelegten Flure der Zimmer, während die ebenfalls vom Architekten entworfenen schlichten, aber grosszügigen Polstermöbel der Lounge mit erdfarbenen Stoffen bezogen sind. Bar- und Loungebereich sowie Restaurant sind, durch einige Treppenstufen getrennt, in einem grossen, sich zum Park hin öffnenden Saal untergebracht.

Obwohl die Lounge hier auch als Durchgangszone für das Restaurant fungiert und von den räumlichen Dimensionen her eher die Ausmasse eines Wartesaals besitzt, schafft Chipperfield eine intime Atmosphäre. Dazu trägt eine geschickte Placierung des Mobiliars bei, nicht zuletzt aber auch die gedämpfte Beleuchtung durch puristische Leuchter, die aus einem hölzernen Ring mit aufgesetzten transluzenten Lichtzylindern bestehen. Die gleichen Beleuchtungskörper finden sich auch in der Kellerbar; das historische, mit Fliesen ausgekleidete Gewölbe erhält durch die farblich wechselnde Beleuchtung der Barrückwand seinen besonderen Akzent. Chipperfield, der in den achtziger Jahren durch puristisch weisse Ladengestaltungen in London bekannt wurde, hat die Atmosphäre seines Londoner Bar-Restaurants «Circus» hier in den grossen New Yorker Massstab übersetzt. Und sich so der Diskretion des «Morgans» eher angenähert als den Kapriolen Philippe Starcks.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2002.09.05

30. August 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektur aus dem Moor

Heinrich Vogeler als Architekt in Worpswede

Heinrich Vogeler als Architekt in Worpswede

Von den Gründungsmitgliedern der Künstlerkolonie Worpswede vertrat Heinrich Vogeler (1872-1942) den reformerischen Ansatz am umfassendsten: Als Maler und Kunstgewerbler, Illustrator und Architekt zielte er auf eine Ästhetisierung des Lebens, die sich modellhaft in seiner Künstlerexistenz realisieren sollte. Kulisse für diese Inszenierung bildete der «Barkenhoff», ein altes Bauernhaus, das Vogeler seit 1896 sukzessive in einen repräsentativen, von einem üppigen Garten umgebenen Wohnsitz verwandelte. Schon früh bemerkte Rainer Maria Rilke, dass die Suche nach der Schönheit Züge der Obsession trug; die Märchen- und Traumwelt verblasste angesichts der zunehmenden Entfremdung zwischen Heinrich Vogeler und seiner Frau Martha. Der Künstler suchte ein neues Betätigungsfeld - und fand es in der Baukunst. In welchem Umfang Vogeler nach dem Umbau des Barkenhoffs architektonisch tätig war, ist seit der 1980 vorgelegten Dissertation von Karl-Robert Schütze bekannt; die Vogeler-Ausstellungen der vergangenen Jahre marginalisierten indes diese Facette seines Schaffens.

Mit der Schau «In erster Linie Hausbau - Heinrich Vogeler und die Bremer Reformarchitekten» wird das architektonische Œuvre im Barkenhoff erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Nicht mehr die Lineatur des Jugendstils prägt die Bauten, sondern eine bewusst einfache Haltung, die zwischen einem Neo-Biedermeier und der Adaption lokaler Bautraditionen oszilliert. Die meisten der realisierten Bauten entstanden in Worpswede selbst: Wohn- und Atelierhäuser, eine Gastwirtschaft, zwei Arbeiterhäuser. Bedeutendstes Projekt vor Ort ist der Bahnhof, eines der unterschiedlich ausgebildeten Stationsgebäude, die Vogeler um 1911 für die das Teufelsmoor querende Kleinbahnlinie errichtete.

Von grosser Bedeutung wurde 1909 eine Reise mit der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft nach England: Die Besuche in den Slums von Liverpool oder in der Mustersiedlung Port Sunlight sensibilisierten den Künstler für soziale Belange (was sich zunächst in der Planung einer Arbeitersiedlung für Worpswede niederschlug), und überdies brachte die Fahrt eine Reihe wichtiger persönlicher Kontakte ein. Für den aus Hamm stammenden Arzt Emil Löhnberg baute Vogeler ein Ferienhaus im sauerländischen Willingen, für die mit Löhnberg verwandte Familie Bachrach (die Eltern der später in Ascona ansässigen Tänzerin Charlotte Bara) ein Wohnhaus in Brüssel. Viele Projekte blieben allerdings unrealisiert, darunter auch das schlossartige Anwesen eines rheinischen Industriellen (1911), das im Rosenlauital hätte entstehen sollen. - Vogelers architektonische Entwürfe, die in der Ausstellung mit Arbeiten der in Bremen tätigen Reformarchitekten Hugo Wagner, Heinz Stoffregen und Carl Eeg konfrontiert werden, konzentrieren sich auf die Jahre 1908 bis 1912. Nur ein einziges Projekt entstand nach dem Ersten Weltkrieg: ein seltsam archaisch, fast urhüttenartig anmutendes Gebäude in der Oberpfalz für die Witwe des Hagener Mäzens Karl Ernst Osthaus.


[Bis 30. September. Katalog: In erster Linie Hausbau - Heinrich Vogeler und die Bremer Reformarchitekten. Hrsg. Barkenhoff-Stiftung Worpswede. Isensee-Verlag, Oldenburg 2002. 192 S., Euro 19.80.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.08.30

26. August 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Maler und Architekt

Ausstellung Alfons Mucha in Prag

Ausstellung Alfons Mucha in Prag

Die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 bedeutete nicht zuletzt einen Durchbruch für die Kunst des Art Nouveau und seiner deutsch-österreichischen Variante, des Jugendstils. Zu einem wenig bekannten Manifest wurde der Pavillon von Bosnien-Herzegowina, der mit grossartigen Wandbildern des seit 1887 in Paris lebenden tschechischen Malers und Grafikers Alfons Mucha ausgestattet war. Mucha, welcher Motive in mehreren Reisen auf den Balkan gesammelt hatte, gelang eine Erneuerung der Historienmalerei in zeitgemässer Formensprache; die in Aquarell und Tempera auf Leinwand ausgeführten Bilder verbanden Szenen aus der Geschichte des Landes mit bosnischen Legenden und einer in heutiger Zeit nachgerade utopisch anmutenden Darstellung des Nebeneinanders von Katholizismus, orthodoxer Kirche und Islam.

Seit 1900 magaziniert, ist der vom Museum der dekorativen Künste Prag aufbewahrte, jüngst restaurierte Zyklus zum ersten Mal wieder öffentlich zu sehen - zusammen mit Vorstudien und Modellfotos. Die Ausstellung, die im grandiosen Obecní Dum, dem zwischen 1906 und 1911 von den Architekten Antonín Balsanek und Osvald Polívka errichteten Repräsentationshaus der Gemeinde Prag, ein adäquates Domizil gefunden hat, zeigt ausserdem Muchas unrealisierte Entwürfe für den «Pavillon de l'homme». Der phantastisch anmutende Bau verschmilzt Formen von Jugendstil und Historismus, erinnert an die Tempelarchitektur von Fidus, lässt aber auch schon expressionistische Visionen erahnen, wie sie später in den visionären Skizzen Hermann Finsterlins Gestalt fanden. Ergänzt wird die Schau durch Studien, Entwürfe und Tafeln zu der durch eine freimaurerische Symbolwelt geprägten bibliophilen Veröffentlichung des Vaterunser, das Mucha unter dem Titel «Le Pater» 1899 in Paris publizierte.


[Bis 29. September. Kataloge: Alphonse Mucha - Paris 1900. The Pavilion of Bosnia and Herzegovina at the World Exhibition (Tschechisch/Englisch). Hrsg. Obecní Dum, Prag 2000. 100 S., 560 Kronen. - Le Pater. The Lord's Prayer (Tschechisch/Englisch). Hrsg. Obecní Dum, Prag 2000. 132 S., 560 Kronen.]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.08.26

15. August 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Szenarien für die dynamische Gesellschaft

Ben van Berkel zählt zu den weltweit meistbeachteten zeitgenössischen Architekten. Seit 1996 nennt sich das von ihm und Caroline Bos geleitete Büro «UN Studio». Eine konzentrierte Ausstellung - eher gegenwärtige Bilanz denn Retrospektive - gibt im Nederlands Architectuurinstituut Rotterdam einen Überblick über neue Bauten und Projekte.

Ben van Berkel zählt zu den weltweit meistbeachteten zeitgenössischen Architekten. Seit 1996 nennt sich das von ihm und Caroline Bos geleitete Büro «UN Studio». Eine konzentrierte Ausstellung - eher gegenwärtige Bilanz denn Retrospektive - gibt im Nederlands Architectuurinstituut Rotterdam einen Überblick über neue Bauten und Projekte.

Ohne Zweifel, die Erasmus-Brücke zwischen dem Stadterweiterungsgebiet Kop van Zuid und der Innenstadt von Rotterdam katapultierte Ben van Berkel und seine Partnerin, die Kunsthistorikerin Caroline de Bos, in die erste Liga der niederländischen Architekten. Konstruktiv avanciert und formal elegant zugleich, wurde die 1996 eingeweihte Brücke unverzüglich zum neuen Wahrzeichen der Hafenstadt am Maasdelta. Gleichwohl hatten van Berkel & Bos in Fachkreisen schon zuvor Aufmerksamkeit gefunden, auch wenn sich die Bauten und Projekte in den Jahren nach der Bürogründung 1987 vornehmlich auf die Stadt Amersfoort konzentrierten. Seit 1998 - in diesem Jahr erschien die dreibändige Publikation «Move» - nennt sich das Büro «UN Studio». UN steht für «United Network», weil Architektur in heutiger Zeit nicht mehr allein von zwei Personen gesteuert werden kann, weil es der Unterstützung diverser anderer Disziplinen bedarf - und schliesslich auf Grund der Tatsache, dass die Arbeit der Amsterdamer auf dem computergenerierten Entwerfen beruht. Unter dem Titel «UN Studio - UN Fold» präsentieren van Berkel & Bos nun ihre fünfzehnjährige gemeinsame Tätigkeit im Nederlands Architectuurinstituut (NAI) in Rotterdam. Obwohl es sich um die erste Retrospektive handelt, setzt die Ausstellung doch ihren Schwerpunkt auf die in den vergangenen fünf Jahren entstandenen Arbeiten.


Topologie statt Geometrie

Mehr noch als die populäre Erasmus-Brücke zeugt das in einem Wald bei Naarden versteckte «Möbius-Haus» von dem Architekturverständnis des Amsterdamer Büros. Anhand von Bewegungsdiagrammen der das Haus bewohnenden Familie organisierte UN Studio ein Kontinuum von Räumen, das zu einer verdrehten Endlosschleife zusammengefügt ist. Der Name des aus Beton und Glas bestehenden Hauses weist auf die gedankliche Inspiration hin, die dem Konzept zugrunde liegt: das aus der Mathematik bekannte Möbius-Band. Damit bezeugt das Gebäude den Paradigmenwechsel von der euklidischen Geometrie, die noch Le Corbusiers Promenade architecturale und selbst Rem Koolhaas' Entwurf für die Bibliothek des Jussieu-Campus prägte, zu einem topologischen Verständnis: Nicht mehr fixierten Körpern und Koordinaten gilt die Aufmerksamkeit, sondern Relationen wie Nähe und Ähnlichkeit sowie Transformationen. Eine andere topologische Figur, die Klein'sche Flasche, bei welcher der Hals den Flaschenkörper durchdringt und in den Boden einmündet, diente als gedanklicher Ausgangspunkt für den neuen Bahnhof in Arnhem, der als intermodaler Verkehrsknoten im Rahmen des europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes entsteht. Sechs verschiedene Transportsysteme werden an diesem Punkt miteinander vernetzt, überdies sind Geschäfte und Büros in Planung. Die zukünftigen Bewegungsströme zwischen den einzelnen Systemen generieren die spindelartig verschraubte Struktur der zentralen Halle: Ebenen fliessen ondulierend ineinander, Decken, Wände und Böden bilden ein Kontinuum. Ein unlängst fertig gestelltes Laborgebäude der Universität Utrecht (NZZ 3. 5. 02) antizipiert einige dieser Ideen.

Arnhem Centraal ist eines der komplexesten Projekte, mit denen sich UN Studio derzeit befasst. Es illustriert die von van Berkel propagierte Theorie eines «Deep Planning», bei dem der Architekt anhand umfangreicher Analysen Szenarien und Strategien entwickelt, die dann in Zusammenarbeit mit einem interdisziplinären Team ausgearbeitet werden. UN Studio versucht folglich, der Beschränkung der Architektur auf formalästhetische Belange entgegenzuwirken und den Planungsprozess integral zu verstehen und zu beeinflussen. Skepsis indes ist angebracht, wenn eine «development policy» anstelle des «design proposal» zum Ziel erklärt wird, denn ohne Zweifel ist das Amsterdamer Büro auch auf Grund seiner bildkräftigen Formensprache erfolgreich. Und wenn Ben van Berkel und Caroline Bos ihre Rotterdamer Präsentation durch freie Zeichnungen sowie literarisch angehauchte Projektbeschreibungen anreichern, so glaubt man auch darin das Festhalten an einer künstlerischen Dimension der Architektur zu spüren.


Klare Präsentation

Für ein Architekturbüro, das vornehmlich den Computer als Entwurfswerkzeug verwendet, wirkt die Ausstellung ohnehin eher ungewöhnlich. Anstatt die Besucher mit einem Bombardement von Renderings und Videoanimationen zu konfrontieren, gibt sich UN Studio fast schon zurückhaltend. Neun weisse quadratische Kabinette gliedern die Halle des NAI, in denen - neben einem Büroporträt und einem Überblick über neuere Entwürfe - jeweils ein oder zwei der jüngeren Bauten und Projekte dokumentiert werden; gross aufgezogene Fotos fungieren als Blickfang. Von den realisierten Werken werden die Erasmus-Brücke und das Möbius-Haus, das Museum Valkhof in Nijmegen, das Labor in Utrecht und das gerade in Betrieb genommene, monolithisch wirkende Umspannwerk in Innsbruck vorgestellt. Vergleichsbeispiel für Letzteres ist die Transformatorstation in Amersfoort (1989-93), deren aus Basaltlava- und Aluminiumplatten bestehende, auf einem Gitter montierte Verkleidung das Bild zweier miteinander verzahnter Körper entstehen lässt. Bei den Projekten fiel die Auswahl auf Arnhem Centraal sowie auf zwei wichtige Wettbewerbserfolge: den an eine Faltwerkkonstruktion erinnernden Pier in Genua (2002) sowie das Mercedes-Museum in Stuttgart-Untertürkheim (2002), bei dem die Spiralidee des Guggenheim- Museums für die Feier der automobilen Gesellschaft adaptiert und weiterentwickelt wird.


[ Bis 29. September. Katalog: Ben van Berkel & Caroline Bos: UN Studio - UN Fold. NAI Publishers, Rotterdam 2002. 152 S., Euro 33.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2002.08.15

10. August 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Theoretische Durchleuchtung der Architektur

Als Theoretiker und Praktiker zählt der Architekt Peter Eisenman zu den einflussreichsten Vertretern seiner Disziplin. Von seinen ersten experimentellen Studien bis hin zu den neusten Projekten differenzierte er seine auf den Prinzipien der Modifikation, Manipulation und Transformation basierende Entwurfshaltung mit erstaunlicher Konsequenz.

Als Theoretiker und Praktiker zählt der Architekt Peter Eisenman zu den einflussreichsten Vertretern seiner Disziplin. Von seinen ersten experimentellen Studien bis hin zu den neusten Projekten differenzierte er seine auf den Prinzipien der Modifikation, Manipulation und Transformation basierende Entwurfshaltung mit erstaunlicher Konsequenz.

Im Jahr 2000, auf der letzten der für den architekturtheoretischen Diskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts zentralen «Any Conferences», zog Peter Eisenman ein bitteres Résumé. Der Versuch, mit anderen Disziplinen zu einem fruchtbaren interdisziplinären Austausch zu gelangen, sei gescheitert - und zwar auf Grund der Unfähigkeit der Architekten, die eigene Position zu reflektieren: «Es scheint, dass wir die kritische Fähigkeit verloren haben, die Themen, welche auf uns Architekten zukommen, zu diskutieren.» Pars pro toto war diese Kritik an zwei prominente Vertreter der eigenen Profession adressiert, an Greg Lynn und Rem Koolhaas. Bleibe Lynn die Antwort schuldig, welche Prinzipien und Entscheidungen sein computergeneriertes Entwurfsverfahren beeinflussten, so stelle sich bei Rem Koolhaas die Frage nach dem Verhältnis zwischen Research und architektonischer Form.


Architektonische Grundlagen

Kaum ein zeitgenössischer Architekt wäre berufener zu derartigen Überlegungen als der Amerikaner Peter Eisenman, dessen theoretisches und praktisches Œuvre seit Anbeginn einer «re-examination of the formal» gilt. Am 11. August 1932 in Newark (New Jersey) geboren, wurde er gemeinsam mit Richard Meier, John Hejduk, Charles Gwathmey und Michael Graves durch die Ausstellung «New York Five» im Museum of Modern Art in New York 1969 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. In diese Zeit fallen eine Reihe (nur zum Teil realisierter) experimenteller Hausstudien, in denen Eisenman gleichsam wie in einem Labor die Grundlagen der Architektur untersuchte. Ziel dieser Projekte war es, zwischen Form und Bedeutung, Signifikant und Signifikat zu differenzieren, die architektonische Struktur also aus ihren üblichen, durch Funktion oder Ästhetik bestimmten Legitimationskontexten zu befreien. Dabei wurde das Diagramm zum wichtigsten Element einer Analyse der zunehmend komplexer werdenden Entwurfsarbeiten. Überlagerten sich - um konstruktive Eindeutigkeit zu überwinden - in «House 2» (1969) eine gleichwertig behandelte Wand- und Pfeilerstruktur, so stellte Eisenman mit «House VI» (1972-75) und seiner in den Himmel ragenden roten Treppe die Nutzung selbst in Frage; vom Boden abgelöst, kann «House VI» als ein wichtiger und nachhaltig wirksamer Schritt auf dem Weg von einem euklidischen zu einem topologischen Verständnis von Architektur gelten.

Während Richard Meier in einer formalen Repetition erstarrte und Michael Graves den Ausweg in einer populären Postmoderne suchte, setzte Peter Eisenman seine analytischen Untersuchungen fort, um zu immer komplexeren Synthesen zu gelangen. Nicht so sehr der erste grosse Baukomplex, der im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Berlin realisierte Wohnbau an der Friedrichstrasse (1981-86), stellt den ersten Höhepunkt in seinem Werk dar, sondern das Wexner Center for the Visual Arts in Columbus, Ohio (1983-88). Anhand eines aus einem manipulierten Programm entwickelten Raumgitters gelang hier die Zusammenführung verschiedener «dekomponierter» Elemente zu einem neuen Ganzen; Heterogenes wird nicht homogenisiert, sondern als Fragment belassen und dennoch eingebunden. Obwohl am Wexner Center Nähen zur Postmoderne noch zu erkennen sind, avancierte Eisenman zum wohl reflektiertesten Vertreter der «dekonstruktivistischen Architektur», welche durch die gleichnamige Ausstellung des MoMA 1988 kodifiziert wurde. In Artikeln, Vorlesungen und Buchpublikationen setzt der Architekt seine eigene Entwurfshaltung immer wieder in Beziehung zur poststrukturalistischen Philosophie, besonders zu jener von Gilles Deleuze und Jacques Derrida; mit Derrida verband ihn zeitweise eine Freundschaft, die 1988 auch zur gemeinsamen Teilnahme am Wettbewerb für den Parc de La Villette in Paris führte.

Seit 1990 ist Peter Eisenman zunehmend international erfolgreich. Seine Tätigkeit in Japan begann 1990 mit einem Verwaltungsgebäude für eine Beleuchtungsfirma, bei dem er mit dem Japaner Kojiro Kitayama zusammenarbeitete. Statt nach einer gemeinsamen Entwurfshaltung zu suchen, inszenierten die Partner den Zusammenstoss zweier Konzepte: Eisenmans expressive Architekturplastik, ein mehrere Geschosse übergreifender Würfel, der sich in fünf kleinere Würfel differenziert, wird gefasst von dem opak-grauen Gebäude Kitayamas. Dabei bleibt das Miteinander eher ein Nebeneinander, die Integration eher Addition - wie es für japanische Städte überhaupt typisch ist. Eindrucksvoller noch ist der Bau für die Nunotani Company, der sich weit im Osten der Stadt befindet. Das Gebäude wirkt, als habe ein Erdbeben die Struktur zusammensacken lassen: Verschiedene Raster und Elemente überlagern sich, sind übereinander geschoben, aus den Fugen geraten scheint alles.


Berliner Mahnmal

In Amerika entstanden das Columbus Convention Center (1993), vor allem aber das um einen 300 Meter langen Erschliessungsraum organisierte Aronoff Center der University of Cincinnati. Hingegen blieben bedeutende Planungen - vor allem in Deutschland - auf dem Papier: so das Rebstockgelände in Frankfurt am Main, bei dem der Architekt sein Prinzip der Modulation und Modifikation, Transformation, Deformation und Manipulation auf den städtebaulichen Massstab übertrug, aber auch das Max-Reinhardt-Haus (1992), ein vom Prinzip des Möbiusbandes inspiriertes tordiertes Hochhaus, das im konservativ geprägten Bauklima Berlins chancenlos blieb. Mit dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas entsteht südlich des Brandenburger Tors nun das wohl meistdiskutierte Werk des amerikanischen Architekten; das grösste Projekt, die «Ciudad de la Cultura de Galicia», ist nach einem Wettbewerbssieg des Jahres 2000 in Santiago de Compostela in Planung.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2002.08.10

22. Juli 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Nachkriegsarchitektur

Helmut Striffler im Frankfurter DAM

Helmut Striffler im Frankfurter DAM

Der 1927 in Karlsruhe geborene Helmut Striffler, Schüler von Egon Eiermann in Karlsruhe und seit 1956 selbständig in Mannheim tätig, zählt zu den massgeblichen Architekten, welche die junge Bundesrepublik geprägt haben. Die evangelische Versöhnungskirche (1964-67) auf dem Areal des früheren KZ Dachau ist wohl sein eindrucksvollstes Werk. Schon zuvor hatte Striffler mit Sichtbeton operiert: mit seriellen Elementen bei der Trinitatiskirche in Mannheim (1959), expressiv in Form eines Zeltes bei einer Kapelle im Mannheimer Stadtteil Blumenau. Seit Ende der sechziger Jahre hat sich Striffler zunehmend kommunaler Bauaufgaben angenommen, jedoch nicht wieder die Bedeutung der frühen Zeit erlangt. Im vergangenen Jahr schenkte der Architekt dem Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt sein Archiv; nun wirft eine kleine Schau einige Schlaglichter auf sein (zuletzt ein wenig in Vergessenheit geratenes) Werk. Zu sehen sind Schwarzweissaufnahmen von Robert Häusser: suchende Annäherungen eher als jene aseptischen Totalen, mit denen zeitgenössische Architekturzeitschriften aufwarten.

Bis 25. August. Katalog: Helmut Striffler, Architekt. Hrsg. Ingeborg Flagge. Junius-Verlag, Hamburg 2002. 128 S., Euro 22.90.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.07.22

17. Juli 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Aldo van Eycks Spielplätze

Eine Ausstellung in Amsterdam

Eine Ausstellung in Amsterdam

Das Städtische Waisenhaus von Aldo van Eyck in Amsterdam zählt zu den Inkunabeln der Architektur des 20. Jahrhunderts. Weniger bekannt ist hingegen, dass sich van Eyck mehr als 30 Jahre lang - zunächst als Angestellter des von Cor van Eesteren geleiteten Stadtentwicklungsamts, dann freiberuflich - mit der Planung von Spielplätzen befasste. Zwischen 1947 und 1978 entstanden in Amsterdam nach seinen Entwürfen ungefähr 730 Spielplätze. Fast alle sind heute entstellt oder zerstört - nicht zuletzt deshalb, weil sich vor allem die frühen Spielplätze als «situationistische» Interventionen auf Brachflächen der Innenstadt befanden. Folgt man der These von Liane Lefaivre, der Kuratorin der Ausstellung «Spielplätze und die Stadt» im Stedelijk Museum Amsterdam, so bezog van Eyck damit erstmals den Gegenpol zur Idee der funktionellen Stadt, wie sie in CIAM-Tradition von van Eesteren vertreten wurden. Schon der erste Spielplatz zeigt jene zumeist asymmetrisch über die Fläche verstreuten Elemente, die später in vielfältiger Variation immer wieder auftauchen sollten: einen mit einer Betonbrüstung eingefassten Sandkasten, eine Gruppe niedriger zylindrischer Betonelemente zum Springen oder Spielen, einige aus gebogenen Stahlrohren bestehende Gerüste zum Aufstützen oder Abrollen und schliesslich eine Reihe von Bänken. Es handelte sich also um elementare Geräte, die bald darauf durch Klettergerüste in Bogen- oder Igluform ergänzt wurden. Auf intensive Farbigkeit, auf starke Beweglichkeit und auf jegliches Gerät in Tierform verzichtete van Eyck. Zweck der Geräte sei es, so der Architekt, die Phantasie zu stimulieren, nicht jedoch diese zu lenken.


[Bis 8. September. Katalog: Liane Lefaivre / Ingeborg de Roode: Aldo van Eyck. The Playgrounds and the City. NAI Publishers, Rotterdam 2002. 144 S., Euro 24.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.07.17

19. Juni 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Hallen über Schienen

Eine Ausstellung über neue Bahnhofarchitektur in Chicago

Eine Ausstellung über neue Bahnhofarchitektur in Chicago

Während das Getty Museum in Los Angeles gerade mit der Ausstellung «Railroad Vision» in Photographien die Eisenbahnära der Vereinigten Staaten beinahe elegisch Revue passieren liess, beschwört «Modern Trains and Splendid Stations» im Art Institute Chicago das Schienenzeitalter des beginnenden 21. Jahrhunderts. Etwas Bizarres haftet dem Titel an - in einem Land, das durch eine hemmungslos liberalisierte Verkehrspolitik und die Vergötzung der individuellen Mobilität das einzige für mittlere Distanzen praktikable und überdies hinsichtlich seiner Energiebilanz unübertroffene Verkehrsmittel systematisch ins Abseits befördert hat. Doch selbst hier setzt angesichts der notorisch verstopften Innenstädte und der nach dem 11. September vorverlegten Check-in-Zeiten auf den Flughäfen ein Umdenken ein. Hochgeschwindigkeitsstrecken werden in Kalifornien sowie an der Ostküste angelegt, Kristallisationspunkt eines neuen Bewusstseins aber ist das Projekt für die neue Penn Station in Manhattan. Mit der Entscheidung, das von McKim, Mead & White entworfene «Farlay Post Office» in einen Bahnhof umzubauen und durch eine hochragende Stahl-Glas-Konstruktion zu ergänzen, wird der mit 500 000 Passagieren täglich grösste Verkehrsknoten im Herzen Manhattans im Jahr 2005 wieder zur Sichtbarkeit gelangen - also mehr als 40 Jahre nachdem der barbarische Abriss des historischen Stationsgebäudes die Versenkung der Gleise und Abfertigungsbereiche in das unwirtliche und stickige Basement eines Shopping-Centers zur Folge gehabt hatte.

Intermodale Vernetzung
David M. Childs und Marilyn Jordan Taylor, die im Büro Skidmore, Owings & Merrill für die neue Penn Station verantwortlich sind, haben nun auch aus schienenähnlichen Bändern aus Chromstahl und orangefarbenen Platten das Ausstellungsdesign für die Schau in Chicago entworfen. Zeitgenössische europäische Bahnhofprojekte bilden den Schwerpunkt der Präsentation. Wurden die Hochgeschwindigkeitszüge auch zuerst in Japan aufgegleist, so bietet ein Netz schneller Bahnverbindungen doch in Europa zweifellos mehr Entwicklungspotenziale als in dem ostasiatischen Archipel. Nach Frankreich und Deutschland hat der Ausbau des Streckennetzes nun auch die Niederlande erreicht, welche zwischen Eurostar, TGV und ICE ins Abseits zu geraten drohten. Das Projekt für den neuen Bahnhof von Arnhem, einen intermodalen Verkehrsknoten, dessen dynamisch sich verschränkende Verkehrsebenen von Ben van Berkels Büro UN Studio aus Fluktuation und Personenfrequenz errechnet wurden, zählt zu den Höhepunkten der Schau. Hier artikuliert sich ein neues Verständnis, das weder Jan van Belkums eher grobschlächtige, 1997 eröffnete Station von Amersfoort noch Nicholas Grimshaws Hightech-Projekt für Amsterdam-Bijlmermeer aufweisen.

Dass der Bahnhof mit seinen an die Tradition des 19. Jahrhunderts anknüpfenden Hallenstrukturen ein bevorzugtes Betätigungsfeld von Architekten englischer Provenienz ist, belegen die Stationen der neuen Flughafenlinie in Hongkong (Terry Farrell, Norman Foster) oder der Transbay Terminal in San Francisco. Deutsche Hightech- Adepten sind mit dem Lehrter-Bahnhof in Berlin (von Gerkan, Marg und Partner), dem Flughafenbahnhof Frankfurt (Bothe, Richter, Teherani) und dem geplanten unterirdischen Hauptbahnhof Stuttgart (Ingenhoven, Overdiek und Partner) vertreten. Zum Teil monumentalere und massigere Formen weisen die japanischen Bahnhöfe auf, allen voran Hiroshi Haras neues Empfangsgebäude (1997) in Kyoto, das damit den Gegenpol zu Shigeru Bans leichter Struktur für Tazakawo markiert. Spanien ist mit Rafael Moneo (Atocha-Bahnhof, Madrid) sowie Cruz und Ortiz (Santa Justa, Sevilla), Portugal mit dem Lissabonner Oriente-Bahnhof von Santiago Calatrava, der derzeit auch den Bahnhof von Liège-Guillemins plant. Einziges Beispiel aus der Schweiz ist der Interface Flon von Bernard Tschumi in Lausanne. Ergänzt wird die Präsentation durch Modelle, Entwürfe und Fotos aktuellen Zugdesigns, ob es sich um Shinkansen, TGV oder ICE handelt, ob um neue Triebwagen für das amerikanische Unternehmen Amtrak oder das von dem führenden Münchner Designbüro Neumeister erarbeitete Konzept für den deutschen Transrapid.

Kritikfreies Panorama
Flughafenbahnhöfe und Hochgeschwindigkeitsknoten stellen die wichtigsten Bauaufgaben der Gegenwart dar. Allerdings bleibt es in der Schau beim Panorama der Projekte. Fragen unterbleiben. Auf grundsätzliche Überlegungen, ob und wie sich ein zeitgenössischer Bahnhof von einem Flughafen unterscheiden müsste und warum viele Architekten Airports und Bahnstationen gleichermassen entwerfen, wird in Chicago verzichtet. Möglicherweise sind es ohnehin nicht die spektakulären Bahnhofsbauten, welche zukünftig zur Änderung der Reisegewohnheiten führen. 12,5 Millionen Barrel Öl dienen in den USA täglich für die Massenmobilität. Die prognostizierte Verdreifachung des Verkehrsaufkommens bis zum Jahr 2050 wird der in einer Epoche scheinbar unbegrenzter Progression und endloser Energieressourcen vernachlässigten Bahn neue Attraktivität zuwachsen lassen.


[Bis 28. Juli. Katalog: Modern Trains and Splendid Stations. Architecture, Design, and Rail Travel for the 21st Century. Hrsg. Marta Thorne. Merrell Publishers, London 2002 / The Art Institute of Chicago, Chicago 2002. 160 S., $ 29.95.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.06.19

19. Juni 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Poesie der Moderne

Zur Architektur von Berthold Lubetkin

Zur Architektur von Berthold Lubetkin

Die 100. Wiederkehr des Geburtstags von Berthold Lubetkin am 14. Dezember 2001 ist an der britischen Öffentlichkeit ebenso spurlos vorbeigegangen wie die Gründung der Architektengemeinschaft Tecton vor 70 Jahren (NZZ 9. 2. 02) - keine Jubiläumsausstellung rief das Wirken des im georgischen Tiflis geborenen, zeitweise in Wien, Warschau, Berlin und Paris tätigen Architekten in Erinnerung, der mit seinen plastisch- poetischen Bauten im England der dreissiger Jahre der Moderne zum Durchbruch verhalf und auch die Nachkriegsarchitektur Grossbritanniens durch eine Reihe von Wohnkomplexen im kriegszerstörten London entscheidend prägte. Nun hat John Allan, dem schon die massstabsetzende Lubetkin-Monographie von 1992 zu verdanken ist, ein weiteres Buch vorgelegt. Nicht der gewohnt kenntnisreiche, auf den früheren Studien basierende Essay des Autors macht diese Publikation unabdingbar, sondern eine 80-seitige Fotodokumentation aller bestehenden Bauten in ihrem heutigen Zustand, welche durch eine Liste der zerstörten Gebäude und eine aktualisierte Bibliographie ergänzt wird.

Die eindrucksvollen Bilder des Photographen Morley von Sternberg zeigen nicht nur Lubetkins Hauptwerke - die Zoobauten in London, Dudley und Whipsnade, die Highpoint Apartments oder das Finsbury Health Centre -, sondern auch sämtliche weniger bekannten Arbeiten, darunter zwei Bungalows in Whipsnade (1933-36), den Umbau eines georgianischen Hauses im Londoner Stadtteil Mill Hill (1936/37) und Spätwerke wie die St. Andrew's Ambulance Association in Glasgow (1966-70), bei der Lubetkin mit seinem schottischen Partner Douglas Bailey zusammenarbeitete. Auch wenn die meisten Bauten inzwischen unter Denkmalschutz stehen, sind einige weiterhin ernsthaft gefährdet, vor allem die Zoobauten in Dudley, die (den zum Teil geschönten Fotos zum Trotz) ungenutzt dem Verfall entgegensehen.

Während die theatralische, beinahe postmodern anmutende Trompe-l'œil-Skulptur im Garten des Londoner Cranbrook Estate noch 1994 der Zerstörung anheim fiel, begann zeitgleich die Restaurierung des Finsbury Health Centre. Vorbildlich wiederhergestellt wurden inzwischen auch die beiden Highpoint-Blöcke (1931-38) und der um eines der grandiosen Lubetkin-Treppenhäuser sich gruppierende Bevin Court nahe King's Cross (1946-54). Ohne Zweifel, die Bildsequenz beweist es erneut: Lubetkin war nicht nur ein hervorragender Neuerer der britischen Architektur, sondern zudem ein immer noch unterschätzter Protagonist einer unorthodoxen und zukunftsweisenden Moderne.


[John Allan und Morley von Sternberg: Berthold Lubetkin. Merrell Publishers, London 2002. 144 S., Fr. 88.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.06.19

29. Mai 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Vignola - weder Höfling noch Revolutionär

Jacopo Barozzi da Vignola (1507-73) gilt als einer der wichtigsten Architekten des italienischen Cinquecento; die römische Kirche Il Gesù und eine Schrift über die Säulenordnungen waren von grossem Einfluss auf die Nachwelt. Gleichwohl hat Vignola in den vergangenen Jahrzehnten wissenschaftlich nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Eine Ausstellung mit umfangreichem Katalog kompensiert nun dieses Defizit.

Jacopo Barozzi da Vignola (1507-73) gilt als einer der wichtigsten Architekten des italienischen Cinquecento; die römische Kirche Il Gesù und eine Schrift über die Säulenordnungen waren von grossem Einfluss auf die Nachwelt. Gleichwohl hat Vignola in den vergangenen Jahrzehnten wissenschaftlich nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Eine Ausstellung mit umfangreichem Katalog kompensiert nun dieses Defizit.

Die Baukunst des italienischen Cinquecento ist mit einer Reihe bedeutender Namen verbunden: Bramante und Raffael, Giulio Romano und Antonio da Sangallo, Peruzzi und Serlio, Sansovino, Michelangelo und Palladio. Inzwischen gilt das Werk der meisten herausragenden Architekten dieser Zeit als erforscht, und doch zeigen sich immer wieder Lücken. Eine solche wird nun im südöstlich von Modena am Rand des Apennins gelegenen Vignola geschlossen: mit einer Ausstellung über Jacopo Barozzi, der besser bekannt ist unter dem Namen seines Heimatorts Vignola. Schauplatz ist der mitten im Zentrum gelegene, frisch restaurierte Palazzo Contrari Boncompagni, dessen Zuschreibung an Vignola seit jüngerem erwogen wird. Das vergleichsweise geringe Interesse, das Vignola seitens der Forschung zuteil wurde, erstaunt, gelang es dem Architekten doch, sich mit zwei Werken die Aufmerksamkeit der Nachwelt zu sichern: mit der Kirche Il Gesù in Rom und der 1562 in erster Auflage erschienenen «Regola delli cinque ordini d'architettura».


Ambivalenz der Wirkungsgeschichte

Il Gesù, wiewohl mit einer anderen Fassade versehen und später im Inneren hochbarock überformt, revolutionierte die Sakralarchitektur der Neuzeit wie kein zweiter Bau. In den rechteckigen Grundriss mit halbrunder Apsis ist ein breites Kreuz eingeschrieben, an die Stelle von Seitenschiffen treten miteinander verbundene Kapellen. Gewiss, Vignola konnte sich auf Vorbilder (vor allem Albertis Sant'Andrea in Mantua) stützen, und doch gelang ihm mit der Mutterkirche des Jesuitenordens eine vorbildliche Verbindung der mittelalterlichen Langhauskonzeption mit dem Zentralbau der Renaissance. Die Ausbreitung des Ordens im Zuge der Gegenreformation trug massgeblich zur Popularisierung des Gesù-Schemas bei - ohne Vignolas Vorbild wäre die kirchliche Baukunst des Barock nicht denkbar.

Noch nachhaltiger indes war die Wirkung des Architekturtraktats. Die auf Vitruv basierende Diskussion der fünf Säulenordnungen stiess in einer Zeit der Wiederentdeckung der Antike auf breites Interesse und beschäftigte verschiedene Theoretiker. Aber erst Vignola gelang es, mit seiner 32 Seiten umfassenden, zunächst als Mappenwerk publizierten «Regola» die Säulenordnungen praktisch handhabbar zu machen. Das Traktat wartet nicht mit einer avancierten Theorie auf, sondern beschränkt sich auf eine primär visuell argumentierende Abhandlung. Anhand des Säulendurchmessers legte Vignola einen «modulo» fest, mit dessen Hilfe sich sämtliche Masse berechnen lassen: Mit einem für jede Ordnung spezifischen Multiplikator lassen sich die adäquate Gesamthöhe von Sockel, Säulen und Gebälk berechnen oder in umgekehrter Weise aus einer beabsichtigten Gesamthöhe sämtliche Detailmasse ableiten. Diese benutzerfreundliche Methode vereinfachte den Entwurf eines Gebäudes in klassischen Formen - kein Wunder, dass Vignolas «Regola» in der akademischen Ausbildung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Verwendung fand. Damit besass Vignolas Traktat eine Bedeutung, die heute nur noch mit der in Architekturbüros omnipräsenten «Bauentwurfslehre» von Ernst Neufert zu vergleichen ist.

Aus einer Handreichung, die den architektonischen Entwurf vereinfachen sollte, wurde aus der Perspektive der Nachgeborenen indes eine Doktrin. So entstand das Bild eines wenig inspirierten Formalisten, dem das ingeniöse, von funkensprühender Subjektivität geprägte Talent eines Michelangelo abging und der - anders als sein Zeitgenosse Palladio - auch nicht mit einem konsistenten Werk aufwartet. Viele der Bauten, mit denen Vignolas Name verbunden ist, sind Modifikationen oder Erweiterungen vorhandener Entwürfe - dies gilt für die Villa Giulia in Rom ebenso wie für Alessandro Farneses Palazzo in Caprarola: In das wehrhafte Pentagon der Mauerschale integrierte Vignola gekonnt einen runden Innenhof, um den sich die Räume fügen, und vereinte somit Fortifikation und Villa.


Materialreiche Dokumentation

Die sehenswerte Ausstellung ist Resultat eines von namhaften Wissenschaftern geleiteten Forschungsprojekts, das in einem profunden, sämtliche Aspekte seines Œuvres würdigenden Katalogbuch Niederschlag gefunden hat. Die chronologische Ausstellung ist materialreich, sucht aber nicht durch eine überbordende Fülle von Exponaten zu überwältigen. Innerhalb von elf Stationen lässt sich der Schaffensweg von Vignola nachvollziehen, wobei die Organisatoren mitunter Einzelwerke zur Diskussion stellen, um dann wieder im raffenden Verfahren weitere Bauten und Vergleichsbeispiele Revue passieren zu lassen. Wo immer möglich, wird Originalmaterial präsentiert - besonders beeindruckend sind die aquarellierten Federzeichnungen für die im Auftrag des zukünftigen Papstes Marcellus II. bei Montepulciano geplante, aber nicht realisierte Villa Cervini.

Wie viele seiner Zeitgenossen begann auch Vignola als bildender Künstler: Nach einem Studium der Malerei in Bologna arbeitete er im Vatikan als Dekorationsmaler, bevor er zusammen mit Francesco Primaticcio in Fontainebleau tätig wurde: 1541-43 entstanden im Auftrag von François I eine Reihe von Güssen nach den Antiken im Belvedere des Vatikans. Zurück in Italien, wandte sich Vignola der Architektur zu und war sieben Jahre lang an dem nach St. Peter wichtigsten Bauprojekt des Kirchenstaats tätig: San Petronio in Bologna. Der gotisierende und klassizierende Elemente vereinende Entwurf für die Fassade blieb allerdings ebenfalls unausgeführt. Für den nächsten Dienstherrn, Papst Julius III., realisierte er neben der Villa Giulia die römische Kirche Sant'Andrea an der Via Flaminia. Der kleine Bau, der durch das Pantheon ebenso inspiriert ist wie durch römische Mausoleen, gilt als der erste Ovalbau der Sakralarchitektur. Neben der päpstlichen Kurie wurde die Familie Farnese in der Folge zum wichtigsten Auftraggeber: Er beaufsichtigte Ranuccio Farneses Palastprojekt in Rom, entwarf Caprarola und Il Gesù für Alessandro Farnese und für Ottavio Farnese die gewaltige Stadtresidenz in Piacenza.


Nach dem Manierismus

In den früheren Jahren noch von einem zum Exzentrischen tendierenden Manierismus beeinflusst, verlagerte sich Vignola später auf eine sachliche, beinahe spröde Entwurfshaltung. Bombastische Repräsentation findet man in seinen Arbeiten ebenso wenig wie elaborierte ikonographische Programme. So ist Architektur vornehmlich gebaute Struktur, ein Ganzes, das sich aus ins Gleichgewicht gebrachten Einzelteilen zusammensetzt. Gewiss spiegelt sich darin eine neue politische Situation, die durch das Ende des manieristischen Experiments und die Effizienz neuer, konservativ-gegenreformatorischer Machteliten bestimmt ist. Christof Thoenes meldet in einem lesenswerten Katalogbeitrag Skepsis an Manfredo Tafuri an, der Vignolas Entwicklung als einen Regress zum Reaktionären interpretiert hatte. Bezug nehmend auf den von Jan Philipp Reemtsma entwickelten Begriff des «balancierten Individuums» versteht Thoenes den Rappel à l'ordre nach dem Laisser-faire des Manierismus und seiner Genialitätsästhetik als Durchgangsstation Richtung Moderne: Mässigung, Selbstdisziplin und Fähigkeit zur Kooperation gelten ihm als Arbeitsethos eines Mannes, der weder Revolutionär noch Höfling gewesen sei. Habe Goethe an den Bauten Palladios die Mischung aus Wahrheit und Lüge bewundert, so mache die Unfähigkeit zur Lüge die Grösse und Grenze des Genius von Vignola aus.


[Bis 7. Juli im Palazzo Contrari Boncompagni in Vignola. Katalog: Jacopo Barozzi da Vignola. La vita e le opere. Hrsg. Richard J. Tuttle, Bruno Adorni, Christoph Luitpold Frommel, Christof Thoenes. Electa, Milano 2002. 436 S., Euro 70.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.05.29

07. Mai 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Irritation als Konzept

Architektonische Arbeiten von Vito Acconci in Milwaukee

Architektonische Arbeiten von Vito Acconci in Milwaukee

1940 in der Bronx geboren, wurde Vito Acconci mit seinen die Disziplinen - Performance und Installation, Skulptur und Poesie - übergreifenden, zum Teil das Obszöne streifenden Arbeiten als Enfant terrible des Kunstbetriebs bekannt. Seit 1980 widmet er sich dem grösseren Massstab: Zunächst waren es verfremdete Einrichtungsgegenstände, dann zunehmend Platzgestaltungen und Projekte im Grenzbereich zwischen Architektur und Skulptur. Das Milwaukee Museum of Art gibt nun einen ersten Überblick über die von Acconci und dem Acconci Studio konzipierten und zum Teil realisierten «Acts of Architecture»; die Vorbereitungen für die zwei Schaffensjahrzehnte umfassende Retrospektive begann, als Acconci mit den 1998 eingeweihten «Walkways through the Wall» für das Midwest Express Convention Center in Milwaukee beauftragt wurde.

Mit irritierenden Parkgestaltungen, etwa für das Technische Rathaus in München oder das Laakhaven-Quartier in Den Haag, setzte Acconci in den vergangenen Jahren wichtige Akzente; die Werke jüngerer Künstler wie Gregor Schneider oder Rachel Whiteread sind ohne seine Vorgaben kaum denkbar. Besondere Bekanntheit erlangte die gemeinsam mit Steven Holl 1993 in Manhattan realisierte Galerie «Storefront», ein Miniaturraum, dessen Strassenfassade aus beweglich gelagerten und somit zu öffnenden Teilflächen besteht. Viele der Projekte - darunter eine Überbauung des Müllbergs von Tel Aviv mit Betongittern - blieben bisher unausgeführt. Die von Acconci selbst eingerichtete Ausstellung zeigt eine Reihe der innenraumbezogenen Werke, die gemäss dem Willen des Künstlers von Besuchern auch benutzt werden sollen, und anhand von Modellen, Zeichnungen und Texten überdies die wesentlichen architektonischen Arbeiten der letzten Jahre. Die Dokumente werden auf einer Maschendrahtkonstruktion präsentiert, welche sich in die rippenförmige Struktur des neuen Museumsanbaus von Santiago Calatrava einfügt.


[Bis 19. Mai, anschliessend vom 7. Juni bis zum 1. September im Aspen Art Museum, Colorado. Katalog: Vito Acconci. Acconci Studio: Acts of Architecture. Milwaukee Art Museum, 2001. 98 S., $ 25.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.05.07

06. Mai 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ephemer und sublim

Valerio Olgiatis Projekt für ein Restaurant am Caumasee

Valerio Olgiatis Projekt für ein Restaurant am Caumasee

Zeitgenössische Tourismusarchitektur überzeugt selten: Zwischen der Erfüllung funktionaler Erfordernisse und der Inszenierung nostalgischer Kulissen bleibt kein Spielraum für architektonische Qualität. Ein wegweisendes Projekt für ein Restaurant am Caumasee bei Flims zeigt, dass es auch anders geht. Valerio Olgiatis Intervention schärft die Sinne für den Wechsel der Jahreszeiten, für das Verhältnis von Architektur und Natur.

Wie andere Wintersportorte sucht auch Flims nach Strategien, um Besucher ausserhalb der Skisaison anzulocken. Mut und Initiative hat man vor einigen Jahren mit dem Umbau des «Gelben Hauses» durch Valerio Olgiati zu einem Ausstellungsgebäude bewiesen. Das schlohweiss gestrichene, bis auf den Mauerkranz ausgekernte Gebäude erscheint als eine minimalistische Skulptur, welche aus der Nähe betrachtet die Spuren der Vergangenheit wie in einem Palimpsest erkennbar werden lässt, und ist zu einem Wahrzeichen des Ortes geworden. Flims hat mit dem «Gelben Haus» nicht nur ein kulturelles Zentrum erhalten, sondern darüber hinaus auch ein international beachtetes Beispiel zeitgenössischer Architektur. Nun könnte die Gemeinde - den Segen des Souveräns vorausgesetzt - bald einen zweiten spektakulären Bau ihr eigen nennen: ein Restaurantgebäude am Ufer des Caumasees, das nach einem Wettbewerbserfolg ebenfalls von Olgiati ausgearbeitet worden ist.

Der idyllische waldgesäumte See unterhalb des Ortsteils Waldhaus besitzt eine Eigentümlichkeit: Auf Grund des Schmelzwassers weist er im Sommer einen hohen Wasserspiegel auf und wird als Badesee genutzt, während der Pegel im Winter um fünf Meter sinkt, so dass die Felsblöcke des Grundes zwischen den Eisschollen aufragen. Olgiatis Projekt sieht vor, die den heutigen Erfordernissen nicht mehr genügende Uferbebauung zu entfernen, die Garderoben des Bades zwischen den Bäumen zu verstecken und als architektonischen Akzent ein neues Gebäude vor der Seeterrasse zu placieren. Während dieses im Winter auf dem Ufersand steht, wird es im Sommer von Wasser umspült. Wie ein Lackmuspapier lässt der weiss durchgefärbte Beton die Spuren des Pegelstandes an der Fassade erkennen.

Der besondere Reiz des durch die einheitliche Materialität und den Verzicht auf einen Dachüberstand auf die primäre Geometrie reduzierten Pavillons - es handelt sich um einen Kubus mit Zeltdach - besteht in der Differenzierung von Basis und Hauptgeschoss. Riesige, in den warmen Monaten aufschiebbare Panoramascheiben von bis zu elf Metern Länge öffnen das Restaurant zur Umgebung - eine extravertierte Konzeption, welche durch die zur Mitte des Restaurants hin abgesenkte Decke noch verstärkt wird. Die im Untergeschoss angeordnete, eher introvertierte Bar hingegen besitzt nur eine breite Fensterscheibe, die im Sommer überspült ist. Schaut man von hier in der kalten Jahreszeit über die Eislandschaft des Caumasees, so fällt im Sommer der Blick wie in einem Aquarium auf das Unterwasserszenario, welches durch das von oben eindringende Sonnenlicht magisch erhellt wird.

Olgiati, dem mit seinem Schulhaus in Paspels und dem «Gelben Haus» zwei eigenständige Beiträge zur zeitgenössischen Schweizer Architektur gelungen sind, enthält sich bei seinem Caumasee- Projekt aus gutem Grund aller imitativen Anbiederungen, zu dem ein «Bauen in der Natur» bisweilen fähig ist. Es bedarf der Distanz, um vor der Natur bestehen zu können. Dabei gelingt dem Architekten ein intelligentes Vexierspiel zwischen dem Ephemeren und dem Sublimen: Im Sommer wirkt das Gebäude wie ein leichter, beinahe schwimmender Pavillon, im Winter hingegen massig, wie die artifizielle Variante der Felsen auf dem Seegrund. Angesichts der Banalität üblicher Tourismusarchitektur, die sich gemeinhin in klischeehaft-nostalgischen Kulissen erschöpft, setzt das Projekt neue Massstäbe.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.05.06



verknüpfte Bauwerke
Restaurant am Caumasee

03. Mai 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Künstliche Gebäudelandschaft

Ein Laborgebäude von Ben van Berkel in Utrecht

Ein Laborgebäude von Ben van Berkel in Utrecht

Laborgebäude zählen nicht eben zu den Bauaufgaben, die prädestiniert sind für eine ambitionierte Gestaltung. Sicherheitsanforderungen haben Priorität, der Raumbedarf verändert sich entsprechend den jeweils praktizierten experimentellen Verfahren - gegenüber der Laborausstattung gilt Architektur schlicht als quantité négligeable. Die Gebäude sehen denn auch bald wie stereotype Bürobauten, bald wie fensterlose Kisten aus. Dass es auch anders geht, beweist ein Laborgebäude, das Ben van Berkel mit seinem Amsterdamer Büro UN Studio in Utrecht realisiert hat. Hier, auf dem am Ostrand der Stadt gelegenen Universitätscampus «De Uithof», ist der seltene Fall eingetreten, dass ein Forscherteam gemeinsam mit dem Architekten an die Planung ging. Zunächst analysierten die Wissenschafter ihren Raumbedarf, dann liessen sie sich von Architekten Konzepte entwickeln, schliesslich fiel die Wahl auf UN Studio. Die enge Kooperation zwischen Nutzern und Architekt hat sich ausgezahlt: Selten hört man die Nutzer eines Gebäudes so begeistert über ihr neues Domizil sprechen.


Fliessender Beton

Das Utrechter Universitätsgelände ist ein typisches Produkt der sechziger Jahre. Zwei Hochhäuser - eines in Kreuzform, das andere als Scheibe - bilden die vertikalen Dominanten einer Ansammlung von Institutsbauten, die allein durch den Strassenraster etwas zusammengehalten werden. Die einstige Vision einer Campusuniversität nach amerikanischem Modell verlor im Lauf der Realisierung ihre Strahlkraft, so dass Rem Koolhaas mit seinem Office for Metropolitan Architecture (OMA) 1986 den Auftrag erhielt, Konzepte für eine Nachverdichtung und Neustrukturierung des immer noch von Freiflächen durchzogenen Areals zu entwickeln. Der Masterplan bot seitdem die Grundlage für eine Reihe von Neubauprojekten, die den «Uithof» wie ein Freilichtmuseum der zeitgenössischen niederländischen Architektur erscheinen lassen. Die Sequenz der Neubauten begann 1995 mit der um drei Innenhöfe gruppierten Hochschule für Wirtschaft und Management, einem Projekt der Delfter Architektengruppe Mecanoo. Es folgte das «Educatorium» als allen Fakultäten offen stehendes Auditoriums- und Mensagebäude, bei dem OMA die einzelnen Funktionsbereiche in ein Kontinuum von Verkehrsflächen integrierte (NZZ 6. 2. 98), dann das «Minnaertgebouw» von Neutelings Riedijk. Ein weiteres spektakuläres Projekt befindet sich im Bau: die Bibliothek von Wiel Arets.

Verglichen mit diesen Bauvorhaben nimmt sich das neue Labor von van Berkel vom Volumen her bescheiden aus. Gleichwohl besetzt es einen exponierten Standort innerhalb des Areals. Im Westen erhebt sich das kreuzförmige Hochhaus, im Osten jenseits eines schmalen, von Bäumen gesäumten Kanals das «Educatorium»; im Norden stösst der Neubau an eine das Universitätsgelände durchmessende Strasse, im Süden an ein architektonisch belangloses Fakultätsgebäude. Der Hauptzugang erfolgt von dieser Seite über eine gläserne Brücke. Geschwungene Betonbänder, mit Glasflächen alternierend, bestimmen das Laborgebäude aussen und innen. Fast wirkt es, als sei das Volumen mit Beton eingewickelt worden. Doch der Baustoff tritt hier nicht wuchtig auf, er ist zur dünnen Membran geworden, welche die Raumstruktur lediglich umhüllt.

Immer wieder bilden biologische und mathematische, speziell topologische Strukturen und Modelle den Ausgangspunkt für die Arbeit des Niederländers. Mit der rationalistischen Doktrin einer Spät-, Neo- oder Zweitmoderne haben seine Bauten und Projekte nichts gemein, doch ebenso wenig folgen sie einer dekonstruktivistischen Idee des scheinbar zufälligen Arrangierens von Disparatem. Im Gegenteil: Der Amsterdamer Architekt zeigt sich interessiert daran, Vielheit auf einer höheren Ebene in Einheit überzuführen - etwa bei dem «Möbius-Haus» (1998) bei Naarden, dessen schleifenförmige Raumorganisation auf den Tagesrhythmus des Bewohnerpaares abgestimmt ist und Distanz sowie Nähe gleichermassen ermöglicht. Indem van Berkel dynamische Formen einsetzt, welche auf die Bewegung der Benutzer reagieren, ergänzt er Architektur um die vierte Dimension, die der Zeit.

Van Berkel ist mit Projekten in den USA ebenso beschäftigt wie mit dem Bahnhofsneubau in Arnhem oder einem Pier in Genua; in Innsbruck steht ein Umspannwerk kurz vor der Fertigstellung, und unlängst erst legte der Architekt einen neuen Plan für die Erweiterung des Hotels Castell in Zuoz vor (NZZ 7. 9. 01). Das kleine Projekt für Utrecht dokumentiert beispielhaft van Berkels Arbeitsweise. Es handelt sich um ein sogenanntes NMR-Labor (Nuclear Magnetic Resonance), in dem mit Hilfe von starken Elektromagneten molekulare Strukturen untersucht werden. Die entstehenden Spektren können Auskunft geben über den Aufbau der DNA - eine Forschungsmethode, die beispielsweise für den Kampf gegen das HIV von erheblicher Bedeutung ist.

Die wichtigste Aufgabe bestand darin, ideale Bedingungen zu schaffen für die Aufstellung der Elektromagneten, deren Stärke das bis zu Fünfhunderttausendfache des Kraftfelds der Erde beträgt. Jede Störung von aussen würde die Versuchsergebnisse ihrer Prägnanz berauben, und so entschied man sich bei den beiden Laborräumen für eine homogene, also fensterlose Hülle aus Stahlbeton, die überdies stützenfrei organisiert werden musste. Die inneren Abmessungen ergaben sich aus den nötigen Abständen der Magneten zueinander, zu den Wänden und zur Decke. So erforderte der grösste Magnet eine Raumhöhe von neun Metern.


Der Boden wird zur Decke

Mit den grauen, bandähnlich gewundenen Sichtbetonflächen schuf Ben van Berkel eine das Äussere und das Innere bestimmende All-over- Struktur, welche die Laborräume umhüllt - das zugrunde liegende Strukturmodell war eine topologische «Seifert surface», die van Berkel in seiner dreibändigen Publikation «MOVE» als «orientable surface» beschrieb. In diesem Sinne wird bei dem Utrechter Laborgebäude der Boden zur Wand, die Wand zur Decke, die Decke wieder zur Wand, erneut zur Decke, zur Wand und wieder zum Boden. Um den funktionalen Kern, der aus zwei Laborsälen für die Magneten besteht, lagern sich technische Betriebsräume im Erdgeschoss sowie Büros, Aufenthaltsbereiche und chemische Labors im Obergeschoss. Da der Einbau eines Fahrstuhls die elektromagnetischen Felder beeinträchtigt hätte, bildet eine dreiseitig das Gebäude umlaufende Rampe die Verbindung zwischen den Geschossen. - Ben van Berkels künstlichen Gebäudelandschaften wurde bisweilen Beliebigkeit vorgeworfen. Das Utrechter NMR-Labor belegt jedoch, in welchem Masse seine Architektur aus den funktionalen Anforderungen entwickelt ist.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.05.03



verknüpfte Bauwerke
Bijvoet Centre for NMR-facilities

30. April 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Moderne ohne Dogma

Schwedische Architektur und Kunst im Bard Graduate Center in New York

Schwedische Architektur und Kunst im Bard Graduate Center in New York

«Skönhet för alla» - Schönheit für alle - hiess eine 1897 publizierte, in viele Sprachen übersetzte Schrift der schwedischen Reformerin Ellen Key. Der programmatische Titel umreisst das, was die ästhetische Kultur Schwedens im 20. Jahrhundert prägte: ein sozialer Anspruch, der Wunsch nach Breitenwirksamkeit, welcher sich von Carl Larssons Bestseller «Ein Haus an der Sonne» bis hin zum vorbildlichen Wohnungsbauprogramm nach 1945 zieht. Und es ist wohl kein Zufall, dass heutige Labels wie Ikea oder Hennes & Mauritz mit dem Postulat eines egalitären ästhetischen Ideals überaus erfolgreich sind. Vermutlich haben sie - aller Imitation zum Trotz - zur breitenwirksamen Geschmacksbildung mehr beigetragen als viele Protagonisten «guter Form».

Die vom New Yorker Bard Graduate Center for Studies in the Decorative Arts mit Unterstützung des Moderna Museet und des Schwedischen Architekturmuseums in Stockholm organisierte Ausstellung «Utopia & Reality» sucht in einem Tour d'Horizon die Positionen der schwedischen Moderne im 20. Jahrhundert Revue passieren zu lassen. Das ist mit 200 Exponaten ein fast hilfloses Unterfangen, und dennoch ist dem Ausstellungsteam eine sehenswerte, von einem inhaltsreichen Katalog begleitete Präsentation gelungen.

Die Ausstellung umfasst ein weites Spektrum: die Gemälde der Matisse-Schülerin Sigrid Hjertén sind ebenso zu sehen wie der Film «Diagonal Sinfonie» (1923/25) des zeitweilig in Zürich, später in Berlin lebenden Viking Eggeling oder Gunnar Asplunds Stühle für die Art-déco-Ausstellung in Paris 1925. Architektonisch wird der Bogen geschlagen von der zwischen Wiener Jugendstil und Nationalromantik oszillierenden Ausstellung in Norrköping (1906) bis hin zur «Stockholms Utställningen» von 1930, welche der Moderne in Skandinavien mit den von Gunnar Asplund entworfenen Bauten - verspätet - zum Durchbruch verhelfen sollte und einen der Schwerpunkte der Schau in New York bildet. Zu einem dogmatischen Verständnis der Moderne wahrte Schweden allerdings seit je Distanz: Auf der Weltausstellung in New York 1939 reüssierte das Land mit Objekten mit natürlichen Materialien und weichen Formen. Der skandinavische Sonderweg, welcher sich noch einmal in der Ausstellung «H55» in Helsingborg 1955 manifestieren sollte, stiess seinerzeit gerade auf dem europäischen Kontinent auf Interesse - nicht nur das Design, auch das Programm für den sozialen Wohnungsbau galt als vorbildhaft. Dass die Gegenwart nicht mehr an jene Zeiten anzuknüpfen vermag, verschweigt die Ausstellung.


[Bis 16. Juni. Katalog: Utopia & Modernity. Modernity in Sweden 1900-1960. Hrsg. Cecilia Widenheim. The Bard Graduate Center, New York 2002. 328 S., $ 50.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.04.30

24. April 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Elementares Bauen

Architektur und Wasser, das Feste und das Flüssige, erscheinen zunächst als Gegensätze. Doch eine Ausstellung zeitgenössischer Architekturprojekte in Pittsburgh beweist, dass die baukünstlerische Auseinandersetzung mit dem Element Wasser nicht nur inspirierend sein kann, sondern die Architektur selbst zu verändern vermag.

Architektur und Wasser, das Feste und das Flüssige, erscheinen zunächst als Gegensätze. Doch eine Ausstellung zeitgenössischer Architekturprojekte in Pittsburgh beweist, dass die baukünstlerische Auseinandersetzung mit dem Element Wasser nicht nur inspirierend sein kann, sondern die Architektur selbst zu verändern vermag.

Nach allgemeinem Verständnis besitzen Architektur und Wasser antithetische Eigenschaften: Architektur ist statisch und opak, Wasser dynamisch und transparent. Doch Gegensätze ziehen sich an, und so spüren die New Yorker Architekten Paul und David J. Lewis zu Beginn der im Heinz Architectural Center des Carnegie Museum of Art in Pittsburgh präsentierten Ausstellung «Architecture and Water» mit einer visuellen Tour de Force der Kombination von Wasser und Architektur in Baugeschichte und Alltagskultur nach. Von frühen Pfahlbauten und den Impluvien römischer Atriumhäuser spannt sich der Bogen über mittelalterliche Mikwen, Wasserspiele in den Gartenanlagen der Renaissance und Ledoux' Flusswächterhaus in Chaux bis hin zu Flugzeugträgern oder zeitgenössischen Spassbädern. Dabei versuchen die Ausstellungsmacher, jedes der Beispiele auf drei Skalen zu positionieren: «Architektur im Wasser - Wasser in der Architektur» lautet die erste Matrix, «Wasser - Land» die zweite, «Eis - Wasser - Dampf» die dritte.


Kybernetik und Ästhetik

Dieses Panorama dient als Folie zur Präsentation von fünf zwischen 1995 und 2000 entworfenen Architekturprojekten, in welchen das Wasser nicht allein ästhetisch oder funktional eingesetzt werden soll. Kriterium für die Auswahl war eine komplexe Beziehung zum Wasser, wofür das «Blur Building» für die Schweizer Expo 02 in Yverdon das jüngste Beispiel darstellt. Die Architektur des New Yorker Studios von Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio besteht aus einer künstlichen Wolke, die durch ein mit Mikrodüsen versehenes Rohrgestänge erzeugt wird. Diller und Scofidio gelingt es nicht nur, dem für das Bauen zentralen Verhältnis von Tragwerk und Fassade neue Dimensionen abzugewinnen, sondern auch, eine artifizielle Konstruktion zu entwickeln, welche auf die klimatischen Rahmenbedingungen zu reagieren vermag - je nach Wetterlage kann die Wolke ihre Gestalt ändern.

Konfrontiert das Projekt für Yverdon die Besucher der Expo mit der Frage, wo Natur aufhört und Architektur beginnt, so zeigt sich die Gestaltung einer Wasseraufbereitungsanlage in Hamden, Connecticut, durch Steven Holl und den Landschaftsarchitekten Michael van Valkenburgh eher konventionell: Die sechs Stationen der Wasserfiltration werden in der weitläufigen Anlage anhand unterschiedlicher Landschaftslayouts veranschaulicht, deren Formen durch Mikroskopaufnahmen von Wassertropfen inspiriert wurden. An die Stelle eines kybernetischen Modells wie in Yverdon tritt hier eine eher ästhetische Beziehung zwischen Form und Funktion.

Als moderne Variante von Pfahlbauten lassen sich die «Quattrovillen» verstehen, auf zwölf Meter hohen Lift- und Treppenschächten aufgeständerte Miniatur-Wolkenbügel, welche das Büro MVRDV in Ypenburg realisieren möchte. Am Rande der im Polderland zwischen Den Haag und Delft entstehenden, schier endlosen Siedlung placieren die niederländischen Avantgardisten ihre über Holzstege zu erreichenden Häuser mit jeweils vier parallel angeordneten Wohnungen in einem als Naherholungsgebiet dienenden See. Eine exquisite Wohnsituation entsteht, und dennoch bleibt das Seeufer für die Allgemeinheit zugänglich. Überdies ironisiert das Projekt das niederländische Reihenhaus: Die Untersicht wird zur Fassade, der Garten entsteht auf dem Dach.

Über das Wasser spannt auch William Alsop seine Konstruktion. Thameslink heisst programmatisch die Londoner Eisenbahnlinie, die als einzige Regional- und Fernverbindung die Barriere der Themse überwindet und nicht in einem Kopfbahnhof endet. Dank der Verwendung leichter Aluminium-Monocoque-Elemente für die Bedachung kann der Londoner Architekt die bestehende Eisenbahnbrücke zwischen City und Southwark für die neue Blackfriars Station überbauen, wobei die nutzlos aus dem Strom ragenden Pfeiler der «London, Chatham and Dover Railway» in die Konstruktion einbezogen werden. Mit dem neuen Bahnhof, der 2006 eingeweiht werden soll, wird auch die Tate Modern endlich eine attraktive Erschliessung durch den öffentlichen Nahverkehr erhalten.


Dynamik und Statik verkehrt

Ebenfalls um ein Infrastrukturprojekt handelt es sich bei dem Pier, den das von Alejandro Zaera-Polo und Farshid Moussavi geleitete, ebenfalls in London ansässige Büro Foreign Office Architects nach einem Wettbewerbssieg 1995 in Yokohama realisiert hat. Der Fähranleger in der Hafenstadt südlich von Tokio wurde dank computergesteuerten Entwurfsprozessen aus einer Abfolge von Stahlrippen konstruiert, die kontinuierlich ihre Form wandeln. Es gibt keine reinen Horizontalen, keine reinen Vertikalen im Gebäude, und so ist der einzige Fixpunkt, der dem Benutzer bleibt, der Horizont, die Wasseroberfläche. Foreign Office gelingt es mit einem Gebäude, das zu den bemerkenswertesten der zeitgenössischen Architektur gezählt werden darf, das traditionelle Verständnis umzukehren: Die Architektur ist dynamisch geworden, das Wasser verharrt in ewiger Statik. Schliesslich ist der Meeresspiegel auch Grundlage sämtlicher Höhenbestimmung.

Etwas rätselhaft bleiben die Auswahl und die Beschränkung auf fünf Projekte. Um nur bei der Schweiz zu bleiben: Valerio Olgiatis ingeniöses Projekt für ein von den steigenden und sinkenden Wassern des Caumasees zum Teil überspültes Restaurant bei Flims würde sich ebenso in das Spektrum einfügen wie das mit spiegelnden Wasserflächen versehene Kulturzentrum von Herzog & de Meuron in Barcelona.


[Bis 12. Mai; kein Katalog.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.04.24

12. April 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Universitätsbauten für Paris

Eine Ausstellung im Institut Français d'Architecture

Eine Ausstellung im Institut Français d'Architecture

«U3M» nennt sich in trendigen Kürzeln das Konzept für die Neustrukturierung der «Université du Troisième Millénaire» in der Ile-de- France. Ein Ziel der Direktive ist die Sanierung des von Edouard Albert entworfenen, aus den 1960er Jahren stammenden Campus von Jussieu; dafür wird die Université Paris 7 Denis Diderot sukzessive ausgelagert. Statt den Campus irgendwo ausserhalb der Kapitale im suburbanen Ambiente neu anzulegen, integriert man ihn nun in das derzeit wohl wichtigste Stadtentwicklungsgebiet von Paris, das östlich von Dominique Perraults neuer Bibliothèque nationale de France im 13. Arrondissement gelegene Quartier Masséna zwischen Tolbiac und Boulevard Périphérique. Mit «Ilots ouverts» sucht der Masterplan von Christian de Portzamparc hier einen dritten Weg zwischen dem Blockraster von Haussmann und dem offenen Städtebau der Moderne.

Das Institut Français d'Architecture in Paris zeigt nun die Ergebnisse der vier Wettbewerbe für die bis 2006 zu realisierenden Universitätseinrichtungen: Während der Südfranzose Rudy Ricciotti die 1920 errichteten «Grands Moulins de Paris» in Bibliothek und Mensa umwandeln wird, transformieren die Avantgardisten von Labfac (Finn Geipel und Nicolas Michelin) die von einem Perret-Schüler stammende Halle aux farines in ein Hörsaalgebäude. Auf Basis der Vorgaben des Portzamparc-Plans entwarfen François Cochon sowie Chaix & Morel das Biologie- und Physikzentrum und konnten sich damit gegen Konkurrenten wie Pierre-Louis Faloci, Patrick Berger und Sauerbruch & Hutton durchsetzen.


[Bis 26. Mai. Broschüre mit Wettbewerbsergebnissen Euro 5.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.04.12

11. April 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Zukunft für das „Haus der Zukunft“

In Tokio hat man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt: Nachdem mit dem Abriss des Imperial Hotel 1968 eines der Meisterwerke von Frank Lloyd Wright zerstört worden war, konnte jetzt eine 1921/22 errichtete Schule des amerikanischen Architekten erhalten werden. Nach dreijähriger Restaurierung ist der noch weitgehend mit originalem Mobiliar ausgestattete Bau nun der Öffentlichkeit als Museum zugänglich.

In Tokio hat man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt: Nachdem mit dem Abriss des Imperial Hotel 1968 eines der Meisterwerke von Frank Lloyd Wright zerstört worden war, konnte jetzt eine 1921/22 errichtete Schule des amerikanischen Architekten erhalten werden. Nach dreijähriger Restaurierung ist der noch weitgehend mit originalem Mobiliar ausgestattete Bau nun der Öffentlichkeit als Museum zugänglich.

Von den ungefähr 450 Bauten, die Frank Lloyd Wright (1867-1959) im Laufe seiner überaus erfolgreichen und langen Karriere realisieren konnte, wurden nur wenige ausserhalb der Vereinigten Staaten errichtet: drei in Kanada und neun in Japan. Der ostasiatische Archipel war ein Land, dem der Amerikaner zeit seines Lebens Bewunderung zollte; als «the most romantic, artistic country on earth» apostrophierte er es in seiner 1932 erschienenen Autobiographie. Der Kult, der mit der Präsentation Japans auf der Weltausstellung 1862 in London einsetzte, hatte innerhalb der nächsten Jahrzehnte die reformerische Avantgarde auf dem europäischen Kontinent in Bann gezogen; Exponenten des britischen Arts and Crafts Movement wie Christopher Dresser oder Edward William Godwin wurden ebenso von der Klarheit der traditionellen Kunst Japans inspiriert wie Vincent van Gogh, der glaubte, sein individuelles Japan mit der ersehnten Künstlerkolonie im Midi, in der Provence, zu finden.


Faszination Japan

Auch Frank Lloyd Wright, der als junger Architekt in Chicago seine Erfolge dem aus Grossbritannien importierten Aesthetic Movement verdankte, war von der japanischen Kunst fasziniert; während seine erste Frau sich vornehmlich für Einrichtungsgegenstände interessierte, sammelte er selbst japanische Holzschnitte. Dieses Interesse sei das eigentliche Motiv für die erste Japanreise 1905 gewesen, wurde der Architekt später nicht müde zu betonen. Interpreten wie Charles Robert Ashbee oder Hendrik Petrus Berlage, welche schon frühzeitig japanische Einflüsse auch in der Architektur sehen wollten, trat Wright stets vehement entgegen. Die inzwischen publizierten Reisephotographien aus dem Jahr 1905 sprechen eine andere Sprache, und es ist auch auszuschliessen, dass der Architekt von der auf der World's Columbian Exposition 1893 in Chicago nachgebauten Haupthalle des in Uji befindlichen Tempels Byôdô-in, eines der Meisterwerke der japanischen Architektur, nichts erfahren haben sollte. Auf vielfältige Weise bezog er sich schon bei seinen um 1900 im Oak Park bei Chicago entstandenen Bauten auf das japanische Vorbild; deutlicher wird die Anlehnung indes bei der Schule Jiyu Gakuen, die 1922 in Tokio entstand.

Der durch einen befreundeten Bankier und Sammler japanischer Kunst vermittelte Auftrag für das Imperial Hotel in Tokio hatte Wright zu Beginn des Jahres 1913 zu einer neuerlichen Reise nach Ostasien motiviert, welcher - nach der Ausarbeitung des Projektes im amerikanischen Atelierwohnsitz Taliesin - weitere folgen sollten. Von einigen Ausflügen zu Auftraggebern in Kalifornien abgesehen, verbrachte der Architekt die Jahre zwischen 1918 und 1922 in Japan. Neben dem Projekt für das Hotel, das zu einem Meilenstein und Wendepunkt in seiner Karriere werden sollte, übernahm er eine Reihe weiterer Aufträge - private Wohnhäuser zumeist, aber auch ein (unrealisiertes) Kinoprojekt und schliesslich die ursprünglich allein Mädchen vorbehaltene Privatschule im Tokioter Stadtteil Ikebukuro.


Bedeutender Kulturbesitz

Von der von Hochhäusern umgebenen Bahnstation Ikebukuro im Nordwesten der Stadt geht man kaum fünf Minuten, um in das fast dörflich anmutende Viertel zu gelangen, in dem sich der historische Schulkomplex befindet. Stammt das nördlich der schmalen Quartierstrasse gelegene, «Myonichikan» genannte Ensemble von Wright selbst, so errichtete der in Taliesin geschulte und als Wrights Bauleiter massgeblich für die Ausführung des Imperial Hotel verantwortliche Japaner Arata Endo das 1927 fertig gestellte Auditorium vis-à-vis. Ausgelastet durch den Bau des Hotels, hatte Wright den Auftrag nur angenommen, weil die reformpädagogische Ausrichtung von «Jiyu Gakuen» («Schule des freien Geistes») seinen philanthropischen Neigungen entgegenkam. 1934 zog die eigentliche Schule um in den Westen Tokios; der Komplex in Ikebukuro wurde seitdem von den Alumni genutzt. Mangels regelmässiger Instandsetzung verfiel der Bau im Laufe der Jahrzehnte, und angesichts des schlechten Erhaltungszustands sowie der horrenden Bodenpreise in Tokio schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der «Mynoichikan»-Komplex dem 1968 abgerissenen und durch einen gesichtslosen Neubau ersetzten Imperial Hotel folgen würde. Obwohl sonst nicht zimperlich im Umgang mit historischer Bausubstanz, haben die Behörden in diesem Fall aus dem Desaster gelernt: Der Wright-Bau erhielt den Status eines «bedeutenden Kulturbesitzes» und wurde in den vergangenen drei Jahren für 765 Millionen Yen, etwa 10 Millionen Franken, restauriert. Dabei war der Staatszuschuss von drei Vierteln der Gesamtkosten an die Bedingung geknüpft, dass die Hälfte der originalen Bausubstanz erhalten bleiben musste. Das führte zu einer aufwendigen Sanierung, hatte Wright doch neben dem auch beim Hotel genutzten tuffartigen Oya-Stein vor allem Holz verwendet.

Heute erstrahlt der um einen idyllischen Platz gruppierte symmetrische Baukomplex in alter Schönheit. Niedrige Seitenflügel mit Klassen- und Büroräumen flankieren einen zentralen Baukörper, der aus zwei rechtwinklig zueinander stehenden, mit Satteldächern gedeckten Volumina besteht. Über der Küche im Untergeschoss befinden sich hier auf zwei versetzten Ebenen Speisesäle, die Wright als Gemeinschaftsräume besonders aufwendig gestaltete. Zu den orthogonalen Gliederungen der Fenster und Wände tritt als weiteres Element das aus den Schrägen der Deckenuntersichten abgeleitete Hexagon, welches auch an den Rückenlehnen der Stühle wieder aufgegriffen wird.

Nach dem Abriss des Imperial Hotel, dessen Eingangsbereich in einem Freilichtmuseum bei Nagoya wieder aufgebaut wurde, handelt es sich bei der Schule in Ikebukuro um das einzige mitsamt seiner Ausstattung erhaltene Bauwerk Wrights in Japan - die 1924 vollendete Villa Yamamura in Ashiya-shi bei Osaka wurde anlässlich eines Eigentümerwechsels leer geräumt. So ist es zu begrüssen, dass «Myonichikan» - das Wort bedeutet «Haus der Zukunft» - der Öffentlichkeit jetzt als Museum zugänglich ist. Um dem pädagogischen Impetus der Schule gerecht zu werden, soll demnächst ein Bürgerkolleg in die Klassenräume einziehen.


[Die Schule Jiyu Gakuen, 2-31-3 Nishi Ikebukuro, ist täglich ausser Montag von 10 bis 16 Uhr geöffnet.]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2002.04.11

09. April 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Ein Stück Japan am Rande Basels

Das Rehabilitationszentrum von Herzog & de Meuron

Das Rehabilitationszentrum von Herzog & de Meuron

In den USA bietet beinahe nur noch das Bauen für kulturelle Institutionen ein Betätigungsfeld für ambitionierte Architekten. So weit ist es in Europa noch nicht gekommen, doch auch hier lässt sich mehr und mehr beobachten, dass bestimmte Bauaufgaben nur noch an spezialisierte Fachplaner vergeben werden - handle es sich nun um Shopping Malls, Kraftwerke oder Krankenhäuser. Im Bereich des Gesundheitswesens ist diese Tendenz besonders bedenklich. Gewiss geht es zunächst um die Optimierung medizinischer Versorgung, doch oft bleibt ausser acht, dass ein sorgsamer Umgang mit dem Raum, den der Patient vorübergehend bewohnt, für das Wohlbefinden und für den Heilungsprozess nicht unerheblich sein dürfte. Architektonische Qualität aber ist im Verständnis vieler Klinikleitungen immer noch eine Quantité négligeable.

Dass es auch anders geht, zeigt der von Herzog & de Meuron entworfene Neubau des Schweizerischen Paraplegikerzentrums REHAB im Nordwesten der Stadt Basel. Im Bereich des Burgfelderhofs, unmittelbar an der Grenze zu Saint- Louis, war schon 1967 ein Baukomplex entstanden, der indes mit seinen Vier- und Sechsbettzimmern sowie dem beschränkten Raumangebot für therapeutische Anwendungen nicht mehr den heutigen Ansprüchen an eine Rehabilitationseinrichtung entsprach. Eine Hauptforderung der Bauherrschaft bei dem 1998 ausgeschriebenen Wettbewerb lautete daher, der Neubau solle nicht wie ein Spital aussehen. In der Tat sind nicht die im engeren Sinne medizinischen Leistungen Schwerpunkt des REHAB, sondern oft langwierige Therapien, welche die - zumeist durch Unfälle in Mitleidenschaft gezogenen - motorischen und sensitiven Fähigkeiten der Patienten weitestmöglich wiederherstellen sollen.


Abschied von der Typologie

Damit standen die Architekten vor der Aufgabe, die klassische Krankenhaustypologie mit ihrer Trennung von Behandlungstrakt und Bettenhaus sowie der monotonen Reihung von Zimmern entlang zentraler Flure zu verlassen und ein eigenes Organisationsmodell zu entwickeln. An die Stelle des Nebeneinanders trat das Übereinander: Im Erdgeschoss des 120 Meter langen und 90 Meter breiten Komplexes befinden sich die Behandlungsbereiche, darüber die 5 Stationen mit insgesamt 84 Betten; ein mittig aufgesetztes drittes Geschoss umfasst neben Rekreationsbereichen und Mediathek Hotelzimmer für Besucher sowie Räume, in denen vor der Entlassung stehende Patienten das selbständige Wohnen einüben können.

Von weitem erscheint das Rehabilitationszentrum als breit gelagertes Volumen. Schmale Rundstäbe aus Eichenholz bilden die äusserste Schicht der Fassade; sie dienen als Brüstungselemente für die den Patientenzimmern im Obergeschoss vorgelagerten Terrassen, übernehmen im Erdgeschoss aber auch die Funktion von Brises- soleil. Durch leuchtende Plexiglasperlen miteinander verbunden, fügen sie sich - mal dichter zusammentretend, mal weiter auseinander gerückt - zu einer die Horizontalität des Komplexes unterstreichenden, filigranen Allover-Struktur. Obwohl das Stabwerk durchaus die Kubatur des Gesamtvolumens betont, entsteht der Eindruck einer pavillonartigen, fast japanisch anmutenden Leichtigkeit. Die Rundholzstäbe prägen auch die aus dem Gesamtvolumen ausgeschnittenen, aber sich nach aussen öffnenden Höfe. Im Eingangshof wurden die Stangen horizontal verwendet, während sie im unbetretbaren Wasserhof und im holzbeplankten Therapiehof in zwei Schichten im unregelmässigen Rhythmus vertikal versetzt wurden und als Führungsschienen für die Sonnenstoren dienen. Ermöglicht es der vierte Hof den Patienten, über eine Rampe ins Freie zu gelangen, so wird der fünfte vollständig von einer expressiven Betonskulptur ausgefüllt. Das als polygonal verzerrte Pyramide geformte und aussen mit einer schwarzen Plastic-Haut überzogene Therapiebad wirkt wie ein massiger Felsblock inmitten eines räumlichen Kontinuums. Die Betonschale ist dergestalt von runden Öffnungen durchbrochen, dass im Halbdunkel des Baderaums das Bild des Sternenhimmels in Erinnerung gerufen wird.


Ordnung und Abweichung

Die fünf Höfe, die von dem in der Mitte des Komplexes gelegenen, opulent dimensionierten Erschliessungsbereich einsehbar sind, lassen sich nicht nur spezifisch nutzen, sondern trennen auch die einzelnen Funktionsbereiche im Erdgeschoss (Therapien, Physiotherapie, medizinische Station, Tagesklinik, Verwaltung). Obwohl nämlich das REHAB zunächst wie ein faszinierendes, lichtdurchflutetes Labyrinth aus Höfen und Raumfolgen wirkt, ist es streng logisch organisiert. Das wird auch im Obergeschoss deutlich.

Insgesamt fünfzig auf fünf Stationen verteilte Zimmer, denen eine durchgehende Terrasse vorgelagert ist, bilden den äusseren Kranz, während sich Versorgungs- und Personalbereiche zum Inneren hin orientieren. Dabei ist jeder Station ein weiterer Lichthof zugeordnet. Folgen die fünf grossen Höfe ebenso wie die Patientenzimmer der Orthogonalität der Gesamtform, so sind die kleinen Lichthöfe polygonal geschnitten und im Erd- und Obergeschoss unterschiedlich dimensioniert. Es ist gerade die Kombination von Regelmässigkeit und Unregelmässigkeit, welche den Reiz des Gebäudes ausmacht - schon im Foyer weist die nicht durch einen Raster begründete Positionierung der Stahlstützen des Tragwerks darauf hin, dass es den Architekten eher um Abweichung und Individualisierung als um Regelmässigkeit ging.

Ungewöhnlich sind auch die Zimmer, die mit den üblichen sterilen Räumen nichts mehr gemein haben. Bäder in starken Farben, die über eine Lichtkuppel belichtet werden, und geschwungene hölzerne Decken, die sich in die Überdachung der Terrasse fortsetzen, bestimmen das Raumkonzept. Das beeindruckendste Element aber stellen die grossen transparenten Lichtkugeln dar: Auf dem Dach liegend und zum Teil in das Zimmer hineinragend, gewähren sie - gleichsam überdimensionale Augen - den ans Bett gefesselten Patienten den Blick auf das Blau des Himmels. Hier spürt man die Natur und den Wechsel der Jahreszeiten aber auch dank der Freiraumplanung des Landschaftsarchitekten August Künzel. Gartenbereiche sind den Funktionsbereichen im Inneren des Gebäudes zugeordnet, und im Eingangshof werden Nutzpflanzen gezogen. Das Rehabilitationszentrum ist vielgestaltig, eine kleine Stadt mit Häusern und Gärten - introvertiert, aber nicht hermetisch; offen, aber nicht exponiert.

Herzog & de Meuron gelang mit dem massgeblich von Christine Binswanger betreuten REHAB ein Massstäbe setzender Bau, funktional hervorragend gegliedert und von grosser ästhetischer Eindringlichkeit. Fast beiläufig werden einige der von Herzog & de Meuron immer wieder berührten Themen aufgegriffen: Orthogonalität und Abweichung, Repetition und Differenz, Transformation des Materials, Integration der Natur. In der an architektonischen Preziosen nicht armen Basler Kulturlandschaft stellt das REHAB ebenso einen Höhepunkt dar wie im Œuvre des von Erfolg zu Erfolg eilenden Büros Herzog & de Meuron. Dass trotz der architektonischen Qualität durch Verzicht auf teure Materialien die Kosten pro Bett deutlich niedriger ausgefallen sind als in konventionellen Neubauten, sollte anderen Auftraggebern zu denken geben.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.04.09



verknüpfte Bauwerke
REHAB Basel, Zentrum für Querschnittgelähmte und Hirnverletzte

28. März 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Harmloser Bilderreigen

„Fassaden der Macht“ - eine Studie von Barbara Kündiger

„Fassaden der Macht“ - eine Studie von Barbara Kündiger

Der Architekt, so heisst es bei Nietzsche, sei stets unter der «Suggestion der Macht» gewesen: «Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen (. . .)» In der Tat bedarf der Architekt eines Bauherren und verhält sich damit affirmativ gegenüber einer bestehenden Ordnung, während der Künstler die Möglichkeit hat, eben diese Ordnung kritisch zu befragen. In Zeiten, in denen Architektur im Allgemeinen lediglich als ästhetisches, also als formales Problem wahrgenommen wird, könnte die Frage nach dem sich wandelnden Kräfteverhältnis von Auftraggeber und Auftragnehmer durchaus von Interesse sein. Doch die reich bebilderte Studie «Fassaden der Macht - Architektur der Herrschenden» der Berliner Kunsthistorikerin Barbara Kündiger weicht der Aktualität der Fragestellung aus, indem sie sich auf Wohlbekanntes und Selbstverständliches zurückzieht. Der Wettbewerb für die Umgestaltung des Reichstagsgebäudes und Axel Schultes' Kanzleramt-Entwurf bilden die Berlin-lastige Klammer des Buches, welches ein weites Panorama auffächern möchte, aber dabei seinen Schwerpunkt und eine relevante Fragestellung verliert.

Von der Kaiserpfalz in Aachen und dem Veitsdom in Prag springt die Autorin zum Schloss von Versailles und zur fürstbischöflichen Residenz in Würzburg; vom Capitol in Washington geht die Reise im Hauptkapitel «Staatsform und politische Architektur» über die Parlamentsgebäude in Wien und Brasilia bis zum Wettbewerb für den Sowjetpalast in Moskau und zum Palast der Republik in Berlin, um schliesslich unter dem Stichwort «Kultur als staatliche Inszenierung» bei Johann Otto von Spreckelsens «Grande Arche» in Paris zu enden. Es folgen Kapitel über Rathäuser (Florenz, Siena, Lübeck, Augsburg, Berlin, Hannover), «Inszenierungen der Kirche» (Reims, Albi, Petersdom in Rom) und «multinationale Bauaufgaben des 20. Jahrhunderts» (Völkerbundspalast in Genf und Uno-Gebäude in New York). Gerade nach dem 11. September 2001 wäre das Kapitel «Inszenierungen des Kapitals» von besonderem Interesse, doch was Kündiger über das Woolworth, das Chrysler und das AT&T Building, über das World Trade und das World Financial Center in New York schreibt, übersteigt nicht das deskriptive Niveau eines universitären Proseminars, angereichert durch einige vulgärmarxistische Statements. Zu Recht wird das Thema «Kulturimage» ebenfalls in diesem Kapitel abgehandelt, doch mit den drei Seiten über Richard Meiers Getty Center verschenkt die Autorin eine Fragestellung, welcher eine kritische Publikation zu widmen wäre.

Abgesehen von einigen erhellenden Einschätzungen (beispielsweise der «Grande Arche»), die innerhalb des Buches wie Zufallstreffer wirken, ist die Publikation weder inspiriert noch inspirierend, was nicht zuletzt den häufigen, auf Populismus schielenden sprachlichen Entgleisungen zuzuschreiben ist («Die Reichstagsabgeordneten tagen in einem zugigen Provisorium, und sie wollen da raus»). Auf ein sorgfältiges Lektorat glauben offenkundig selbst renommierte Verlage verzichten zu können. Einer in Zeiten grassierender Affirmation mehr denn je nötigen kritischen Architekturgeschichte hat Barbara Kündiger einen Bärendienst erwiesen. Wer mit der Aussage, Architektur sei «Produkt von Machtverhältnissen, die aus bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen resultieren», aufwartet, desavouiert ungewollt seinen Ansatz und verliert sich in intellektueller Banalität.


[Barbara Kündiger: Fassaden der Macht - Architektur der Herrschenden. Verlag E. A. Seemann, Leipzig 2001. 192 S., Fr. 99.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2002.03.28

01. März 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Transparenz und Simulation

«Frohe Zukunft», dieser Schriftzug prangte noch vor wenigen Jahren am Bahnhof der Pioniereisenbahn vor dem Ausstellungsgelände am Fucikplatz im Osten des Dresdner Stadtzentrums. Der Bahnhof der nun «Parkeisenbahn» genannten Kleinbahn wurde inzwischen verlegt, der Platz heisst jetzt Strassburger Platz, und an der Stelle des einstigen Schlachthofs erhebt sich nun die «Gläserne Manufaktur» des VW-Konzerns, ein für 365 Millionen Mark errichtetes Renommierprojekt des Volkswagen-Konzerns. So hatte man sich vor der Wende in der DDR die frohe Zukunft nicht vorstellen können.

«Frohe Zukunft», dieser Schriftzug prangte noch vor wenigen Jahren am Bahnhof der Pioniereisenbahn vor dem Ausstellungsgelände am Fucikplatz im Osten des Dresdner Stadtzentrums. Der Bahnhof der nun «Parkeisenbahn» genannten Kleinbahn wurde inzwischen verlegt, der Platz heisst jetzt Strassburger Platz, und an der Stelle des einstigen Schlachthofs erhebt sich nun die «Gläserne Manufaktur» des VW-Konzerns, ein für 365 Millionen Mark errichtetes Renommierprojekt des Volkswagen-Konzerns. So hatte man sich vor der Wende in der DDR die frohe Zukunft nicht vorstellen können.

Gewissermassen handelt es sich bei dem ringsum verglasten Komplex um die Simulation einer Fabrik im postindustriellen Zeitalter: Auf drei Ebenen soll hier vor den Augen betuchter Kunden und neugieriger Besucher die Herstellung der neuen Luxuslimousine erfolgen, mit der VW in den Topmarkt des Automobilgewerbes einsteigen möchte. Getauft ist die Edelkarosse auf den Namen «Phaeton». Dass es sich bei Phaethon - folgt man dem Mythos - um den Sohn des Helios handelt, der, des Lenkens unfähig, mit dem durchgehenden Sonnenwagen seines Vaters die Erde in Brand steckte, ist den VW-Managern offensichtlich entgangen. - Vorbei scheinen die Zeiten, in denen ölverschmierte Arbeiter an Karosserien herumschraubten. Die Fliessbänder sind hier in Parkettboden eingelassen, Lärm und Gestank gehören der Vergangenheit an. Solchermassen geläutert, darf die Fabrik wieder ins Stadtzentrum zurückkehren, umweltfreundlich beliefert von einem Cargo-Tram. Dass grössere Montageteile nicht in eine Strassenbahn passen und per LKW transportiert werden müssen, wird ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass sich die eigentlichen Herstellungsstätten mit Presswerk und Lackiererei weiterhin am Stadtrand befinden. Letztlich handelt es sich bei der «Gläsernen Manufaktur» um ein Endmontagewerk, bei dem vor den Augen des Publikums Karosserie und Fahrwerk zueinander finden. Kein Wunder also, dass hier nur drei Roboter arbeiten und der Rest der Arbeit von Hand verrichtet wird.

Der Name «Gläserne Manufaktur» erlaubt Assoziationen: Man mag an den «gläsernen Menschen» denken, das hervorragende Exponat des nahebei von Wilhelm Kreis in den monumentalisierten Formen einer Neuen Sachlichkeit errichteten Deutschen Hygiene-Museums, aber auch an die Meissner Porzellanmanufaktur. Bewusst suchte sich Konzernchef Ferdinand Piëch für die Produktion des neuen Edelgefährts nicht die proletarische Kulisse des Hauptstandorts Wolfsburg, sondern eine Stadt, die sich mental immer noch im Barock wähnt. Gunter Henn, Architekt des neuen Komplexes, spricht vom «Zwinger des 21. Jahrhunderts». Stilgemäss wohnen die künftigen Käufer auf VW-Kosten im rekonstruierten und nun von Kempinski betriebenen Taschenberg-Palais, um - sich zerstreuend mit Besuchen in der «Gläsernen Manufaktur» und in der Semperoper - die Übergabe ihres Phaeton abzuwarten.

Wirken die jeweils 150 Meter langen Glasfassaden zur Stübelallee im Norden und zum Anlieferungshof im Osten alles andere als einladend, so zündete das Münchner Büro Henn Architekten an der zur Lennéstrasse und zum historischen Grossen Garten hin orientierten Südwestecke ein formales Feuerwerk. Hier befinden sich der Besuchereingang und das Foyer, das auch Restaurant, VIP-Lounge, Museum, Konferenzräume und Kinosäle umfasst. Vertikale Dominante bildet ein gläserner Autoturm, wie man ihn von der «Autostadt» Wolfsburg kennt (NZZ 28. 7. 00), dazu treten ein in den Boden gerammter Kegel, ein aufgestelztes blasenartiges Gebilde und eine Kugel aus Drahtgeflecht; verbunden wird alles durch ein weit ausgreifendes Dach. Zweifellos besitzt dieses Ensemble einen gewissen Unterhaltungswert, doch wirkt alles wie aus zweiter Hand. Fragmente aus dem Arsenal der Moderne bilden ein munteres Pasticcio - hier ein wenig Nouvel, dort etwas Ito, gewürzt mit einer Prise Archigram und einem Hauch des in den zwanziger Jahren auf dem Terrain errichteten Kugelhauses.

In der überaus erfolgreichen, ebenfalls von Henn Architekten entworfenen «Autostadt» in Wolfsburg mit ihrem Freizeitpark aus spektakulär inszenierten Markenpavillons lässt VW den Akt der Übergabe des Neuwagens zu einem sakralisierten Event werden - ein Konzept, das andere Autohersteller (beispielsweise BMW) inzwischen zu kopieren versuchen. Die «Gläserne Manufaktur» treibt diesen Prozess ein Stück weiter voran, indem die Schranken zwischen Produktion und Verkauf verschoben werden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.03.01



verknüpfte Bauwerke
VW Gläserne Manufaktur

23. Februar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektonisch gestaltete Natur

Eine Ausstellung über die Parkanlagen von Paris

Eine Ausstellung über die Parkanlagen von Paris

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05. Februar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Protagonist des Industrial Design

Die edlen und schlichten Silbergegenstände, die nach Entwürfen Christopher Dressers in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden, faszinieren auf Grund ihrer Modernität bis heute. Eine Ausstellung in Mailand bietet Gelegenheit, das Werk dieses Protagonisten der industriellen Produktgestaltung zu entdecken.

Die edlen und schlichten Silbergegenstände, die nach Entwürfen Christopher Dressers in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden, faszinieren auf Grund ihrer Modernität bis heute. Eine Ausstellung in Mailand bietet Gelegenheit, das Werk dieses Protagonisten der industriellen Produktgestaltung zu entdecken.

Trotz vereinzelten Versuchen - etwa einer monographischen Ausstellung des Kölner Kunstgewerbemuseums 1981 - ist es bislang nicht gelungen, den englischen Gestalter Christopher Dresser (1834-1904) seiner Bedeutung entsprechend auf dem europäischen Kontinent bekannt zu machen. Doch auch in England selbst stand er lange Zeit im Schatten von William Morris und dem Arts and Crafts Movement, mit dem er die Wurzeln teilt, auch wenn er ihm nicht im engeren Sinne zuzurechnen ist. So leistete Nikolaus Pevsner Pionierarbeit, als er den Designer 1937 mit einem ausführlichen Beitrag in der Zeitschrift «Architectural Record» würdigte. Während die Fachpresse bei Dressers Tod noch abschätzig von «Abstraktion und Flächigkeit» seiner Arbeiten gesprochen hatte, kam diesen der sachlich-funktionale Geschmack der dreissiger Jahre entgegen. Pevsners treffender Versuch, Christopher Dresser jenseits des Mainstreams der englischen Kunstgewerbebewegung als Protagonisten der industriellen Produktgestaltung zu verorten, sollte fortan die Rezeption prägen. Konzediert man, dass auch Dressers schlichte und auch heute noch atemberaubend zeitgemässe Silber- und Tonarbeiten weder aus dem Nichts entstanden noch die einzige Facette des Œuvre darstellen, dann kann Pevsners These weiterhin Gültigkeit beanspruchen. Das beweist die von Massimo Valsecchi und Michael Whiteway kuratierte Ausstellung «Christopher Dresser - Un designer alla corte della regina Vittoria» in der Mailänder Triennale. Mit mehr als 250 Katalognummern wird das Werk in einer nie gesehenen Ausführlichkeit vorgestellt. Die Schau besticht weniger durch einen neuen theoretischen Zugang oder einen Perspektivenwechsel als durch die Fülle des Materials, das in den von Mario Bellini entworfenen Ausstellungskojen ansprechend präsentiert wird.


Botanik und Design

Anhand der vor leuchtend gelbem Hintergrund gehängten 55 Farblithographien des 1854 verlegten Mappenwerks «Dickinson's Comprehensive Pictures of the Great Exhibition 1851» werden die Besucher zu Beginn mit der in Paxtons Crystal Palace veranstalteten ersten Weltausstellung konfrontiert, deren geschmacklose Industrieproduktion den wesentlichen Ausgangspunkt für die englische Kunstgewerbereform darstellte. Augustus Welby Pugin, dessen mittelalterlicher Pavillon den Kritikern als einer der wenigen sehenswerten Beiträge der Ausstellung galt, hatte in seinen Publikationen schon einige Jahre zuvor gefordert, keine Elemente an einem Gebäude zu verwenden, die nicht der Funktion oder der Konstruktion dienten; das Ornament habe Berechtigung lediglich als Bereicherung der Konstruktion.

Wichtiger noch als die Schriften von Pugin und Ruskin waren für den jungen Dresser die Kontakte zu dem Architekten und Ornamentiker Owen Jones. Dieser verwarf nicht nur die abbildende Naturnachahmung in der Kunst zugunsten einer Adaption von Strukturprinzipien, sondern widmete sein Interesse vor allem aussereuropäischen Kulturen. Nachdem Dresser zunächst als Botaniker hatte tätig werden wollen - seine ersten beiden Publikationen galten Themen der Pflanzenkunde und verschafften ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Jena -, wechselte er zu Beginn der sechziger Jahre zum Design. Die Keramiken, die nach seinen Entwürfen ab 1862 für die Manufakturen Minton und Wedgwood entstanden, sind von japanischen Vorbildern inspiriert, die im gleichen Jahr erstmals auf der Weltausstellung zu sehen waren. Damit wendet sich der Künstler definitiv von dem Kreis um William Morris ab, der sich formal am englischen Mittelalter orientiert und mit dem Werkstättengedanken auch eine vormoderne Arbeitsform neu zu beleben sucht. Dresser hingegen gründet ein Studio und beliefert mit seinen Entwürfen diverse Manufakturen und Firmen.


Arbeit für die Kunstindustrie

Etwa fünfzig Produktionsstätten aller kunstindustriellen Gewerbe sind es, für die er in seinem gesamten Berufsleben tätig ist - mal zeichnet er Einzelprodukte, mal Serien, mal die ganze Produktpalette. Ägyptische, antike oder südamerikanische Vorbilder interessieren ihn ebenso wie die Morphologie von Pflanzen oder der japanische Reduktionismus. Als Gesandter des South Kensington Museum reist er über die Weltausstellung von Philadelphia (1876) für drei Monate nach Japan, wo er sogar vom Tenno empfangen wird. Zurück in England, reduziert er die Formen, und es entstehen in den siebziger und achtziger Jahren jene Gegenstände, die Dresser zu einer Ausnahmeerscheinung unter den Gestaltern seiner Zeit machen: die silbernen Teekannen, Toasthalter und Tischaccessoires für die Firmen Hukin and Heath, Elkington & Co. (beide Birmingham/ London) sowie Dixon & Sons (Sheffield), ausserdem Produkte für die Töpfereien Linthorpe und Ault und - gegen Ende des Jahrhunderts - deformierte Glasvasen für die in seinem Geburtsort Glasgow ansässige Firma James Couper & Sons.

Nach Materialien und Herstellern gegliedert, werden die nach Entwürfen Dressers angefertigten Objekte grosszügig in Vitrinen präsentiert. Eine Zusammenschau ermöglicht der mittlere Saal der Ausstellung, mit dem die Ausstellungsmacher auf die Art Furniture Alliance Ltd. hinweisen. Als Gemeinschaftsunternehmen unterschiedlicher Hersteller - Aktionäre waren unter anderem Dixon & Sons sowie Arthur Lasenby Liberty - entstand 1880 ein Einrichtungskaufhaus an der Londoner Bond Street, das unter Leitung von Dresser stand. Auch diese Idee kann für ihre Zeit als wegweisend gelten, selbst wenn das Kaufhaus nach drei Jahren schliessen musste.


[ Bis 3. März. Katalog: Michael Whiteway: Christopher Dresser. 1834-1904. Skira Editore, Milano 2001. 208 S., EUR 49.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.02.05

01. Februar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Leichtigkeit des Materiellen

Neue japanische Bauten von Shigeru Ban

Neue japanische Bauten von Shigeru Ban

Der Tokioter Architekt Shigeru Ban hat Pappe als Werkstoff in die zeitgenössische Architektur eingeführt. Mit dem japanischen Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover sorgte er im vergangenen Jahr für Aufsehen. Obwohl Ban in Japan weniger bekannt ist als in Europa, entstanden dort weitere wichtige Werke, darunter ein Kindermuseum.

Innerhalb der japanischen Architektenszene gilt der 1957 geborene Shigeru Ban, der 1985 sein eigenes Büro in Tokio eröffnete und besonders durch die Rehabilitierung des Werkstoffs Pappe bekannt wurde, eher als Aussenseiter, und vielleicht wird ihm in Europa derzeit mehr Aufmerksamkeit zuteil als im ostasiatischen Inselstaat. Nach der Realisierung des japanischen Pavillons für die Expo in Hannover ist Ban derzeit in Frankreich tätig: Ein Bootshaus und ein Museum für das Centre Interpretation Canal de Bourgogne in Pouilly-en-Auxois sollen zu Beginn des kommenden Jahres fertig gestellt sein.

Von seinem Expo-Pavillon und einem in drei Varianten vorliegenden Entwurf für eine temporäre Guggenheim-Dépendance in Tokio abgesehen, ist Ban bislang vor allem als Meister der kleinen Form in Erscheinung getreten. Eine seiner schönsten und überdies öffentlich zugänglichen Bauten entstand im vergangenen Jahr in der Nähe von Kakegawa, einem Shinkansen-Halt auf halbem Weg zwischen Tokio und Osaka. Zwanzig Minuten benötigt das Taxi, dann hält es inmitten üppigster Vegetation vor dem Children's Art Museum von Nemunoki. Fern der städtischen Zivilisation befindet sich hier, umgeben von Teefeldern, dicht bewachsenen Hängen und Blumenwiesen, das Kinderdorf Nemunoki Gakuen. Das einsam auf dem Hügel gelegene Ausstellungsgebäude, in dem Zeichnungen der geistig und körperlich behinderten Dorfbewohner gezeigt werden, ist ein dreieckiger, ringsum verglaster Pavillon, der sich durch Stellwände flexibel unterteilen lässt. 15 runde Stützen tragen die aus einem Dreiecksraster bestehende Dachkonstruktion. Eine helle transluzente Plasticfolie dient als Wetterschutz, ermöglicht aber zugleich die Belichtung des Innenraums, bei dem auf elektrische Beleuchtung verzichtet wurde: Der Ausstellungsraum ist jeweils nur bis zum Anbruch der Dunkelheit geöffnet. Rot und gelb lackierte Metallboxen bergen die nötigen haustechnischen und sanitären Installationen; Eingang und Kassenzone mit einem Tresen aus Papprohren befinden sich an der einen Spitze des gleichseitigen Dreiecks.

Die Deckenkonstruktion wurde speziell für diesen Bau entwickelt, kurz danach aber in vertikaler Anordnung für die Stirnseiten des Japanischen Pavillons in Hannover adaptiert. Ban entwickelte einen Raster aus durch Wabenstrukturen versteiften Karton-Verbundplatten. Wie schon in seinen «Paper Tube Structures» sowie den experimentellen «Case Study Houses» verbinden sich innovative Konstruktion und eine reduktionistische Ästhetik auch beim Kindermuseum auf das Überzeugendste.

Leicht, hell und freundlich, wie für Shigeru Bans Bauten charakteristisch, wirkt auch «Ivy Structure 2» im Stadtviertel Minato-ku in Tokio. Das eigentliche Gebäude wird hier durch eine gerüstartige, efeuberankte Metallstruktur umgeben und ist mit dieser konstruktiv verbunden. Dass das Tragwerk sich nicht auf das Haus selbst beschränkt, sondern Inneres und Äusseres verzahnt, ist ein Gedanke, den Ban schon mehrfach in seinen Projekten thematisierte. Ein weiterer Neubau in der Innenstadt von Osaka knüpft an die Erfahrungen an, die Ban mit den «Ivy Structures» gewonnen hatte: Eine Kaskade von fünf holzbeplankten Plattformen dient dem orthogonalen Volumen als (seitliche) sekundäre Erschliessung, als Fluchttreppe und verschafft den Angestellten auf den verschiedenen Niveaus überdies Aussensitzbereiche, an denen es im dicht bebauten zentralen Bereich der zweitgrössten Stadt Japans sonst mangelt.

Das jüngste Material in Bans Palette ist Sperrholz. Gemeinhin für die Herstellung von Möbeln eingesetzt - erinnert sei hier an Charles Eames und Arne Jacobsen -, nutzt der Japaner den leichten und verformbaren Baustoff nun im grossen Massstab. So besteht die im Mai fertig gestellte Kindertagesstätte des Imai-Hospitals von Odate aus einer tunnelähnlichen, im Querschnitt kreisrunden Konstruktion von LVL (laminated veneer lumber) genannten, streifenförmigen Holzleimbindern. Eine Weiterentwicklung stellt die in diesen Tagen vollendete Sporthalle der gleichen Institution dar: Streifen von LVL wurden zu einem gitterförmigen Netzwerk zusammengefügt, das einen Raum von 20×28 Metern stützenfrei überspannt. Aufs Neue zeigt sich, wie preiswerte herkömmliche Baustoffe Eingang in innovative Konstruktionen finden. Wo andere Architekten mit elaborierten High-Tech-Materialien operieren, verwendet Ban - hierin ganz der japanischen Tradition verhaftet - das Naheliegende, um ihm eine eigene Poesie zu entlocken.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.02.01



verknüpfte Akteure
Shigeru Ban Architects
Ban Shigeru

01. Februar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Glasdach am Seeufer

Renzo Pianos Erweiterungsprojekt für das Art Institute of Chicago

Renzo Pianos Erweiterungsprojekt für das Art Institute of Chicago

Die Revitalisierung der Uferzonen ist ein wesentliches Thema zeitgenössischer urbanistischer Planungen. In Chicago betrifft das den«Grant Park» zwischen Loop und Lake Michigan, wo sich der von der Pritzker Foundation mit 15 Millionen Dollar finanzierte Musikpavillon von Frank O. Gehry, die sogenannte «band shell» im Bereich der Millennium Gardens, erhebt. Nun hat Renzo Piano Pläne für die Erweiterung des in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Art Institute of Chicago vorgelegt. 1879 gegründet, wurde das renommierte Museum, dessen bedeutendster Sammlungsbereich die impressionistische und postimpressionistische Malerei darstellt, mehrfach erweitert. Pianos Baukörper besetzt dieNordostecke des von einem Bahntrassee durchschnittenen Museumsareals und soll dem Art Institute nach Worten seines Direktors eine «21st century architectural identity» verleihen. Der 200-Millionen-Dollar-Neubau ermöglicht eine völlige Neustrukturierung des Museumskomplexes - zukünftig wird sich der Haupteingang ander Monroe Street und nicht mehr an der Michigan Avenue befinden - und die Anbindung an die Millennium Gardens.

Mit seiner partiellen Kalksteinverkleidung sucht der orthogonale Baukörper, der von einem imposanten Dach aus Glaslamellen überspannt wird, den Kontakt zum gegenüberliegenden Altbau. Er birgt neue Galerieräume, museumspädagogische Bereiche und ein Dachcafé, das Ausblicke über die Stadt und den Lake Michigan bietet. Mit der Erweiterung des Art Institute of Chicago setzt der Genueser Architekt die Reihe seiner spektakulären Museumsbauten fort, die mit dem Centre Pompidou in Paris (zusammen mit Richard Rogers) begann. In der Schweiz verbindet sich sein Name mit der Sammlung Beyeler und dem Klee-Museum in Bern; in den USA wurde Piano durch die De Menil Collection (1987) bekannt, die seit 1995 um den Cy-Twombly-Pavillon ergänzt ist.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.02.01



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Art Institute of Chicago, Erweiterung

30. Januar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Superdutch in den USA

Der Siegeszug von Rem Koolhaas und seinem Rotterdamer Büro Office for Metropolitan Architecture in den USA dauert an: Im Herbst eröffneten seine beiden...

Der Siegeszug von Rem Koolhaas und seinem Rotterdamer Büro Office for Metropolitan Architecture in den USA dauert an: Im Herbst eröffneten seine beiden...

Der Siegeszug von Rem Koolhaas und seinem Rotterdamer Büro Office for Metropolitan Architecture in den USA dauert an: Im Herbst eröffneten seine beiden Guggenheim-Dépendancen in Las Vegas, in diesen Tagen wurde in New York der erste von drei Prada Stores fertig gestellt, die Bibliothek von Seattle ist im Bau und soll Ende 2003 eingeweiht werden. Nun hat der niederländische Stararchitekt, Pritzker-Preisträger des vorigen Jahres, Aufträge für zwei weitere kulturelle Projekte erhalten: In Dallas wurde soeben sein Entwurf eines flexiblen und multifunktionellen Theatersaals mit 800 Plätzen für das Dallas Center for the Performing Arts zur Ausführung bestimmt. Mit dem Koolhaas-Projekt und dem grösseren Lyric Theatre, das 2400 Plätze fasst und bei Norman Foster in Auftrag gegeben wurde, soll - so erhoffen sich die Auftraggeber - das Kulturzentrum zum Herzen von Dallas werden.

Spektakulärer aber noch ist das Projekt für das Los Angeles County Museum of Art am Wilshire Boulevard. Hier konnte sich Koolhaas gegen Steven Holl, Daniel Libeskind, Thom Maynes (Morphosis) und schliesslich auch gegen Jean Nouvel durchsetzen. Während sich die Konkurrenten streng an die Auflage hielten, die im Kern aus einem von William Pereira entworfenen Baukomplex aus dem Jahr 1965 bestehende Gebäudesubstanz lediglich zu erneuern und durch Erweiterungen zu ergänzen, setzt das Konzept des Niederländers den Abriss fast des gesamten Baubestands voraus. Erhalten bleiben lediglich der organische Japan-Pavillon, ein postum vollendetes Werk von Bruce Goff, und ein Teil der in der Kellerebene befindlichen Büros. Sämtliche Museumsräume werden in einem mehrgeschossigen Riegel angeordnet, den Koolhaas als «enzyklopädisches Plateau» versteht: Grundsätzlich flexibel unterteilbar, gliedert er sich in eine Reihe von bandartigen Saalfolgen. Unter dem aufgeständerten Gebäude befindet sich auf Erdgeschossebene eine als «Miesian Court» apostrophierte Freifläche. Überfangen wird das Volumen von einer das Stadtbild prägenden, organisch geformten und transluzenten Dachhülle, mit deren Hilfe sich der Lichteinfall regulieren lässt und die zum kleinen, an eine der Stirnseite anstossenden Goff-Pavillon vermittelt.

Dass die Kosten für den Koolhaas-Bau mit 187 Millionen Dollar deutlich niedriger liegen als für Nouvels 230 Millionen Dollar teuren Umbau, dürfte die Entscheidung erleichtert haben. In kulturellen Kreisen der kalifornischen Metropole wurde das Votum mit Begeisterung aufgenommen. Die «Los Angeles Times» sieht die Stadt nach dem Getty Center von Richard Meier und der Disney Hall von Frank O. Gehry am Beginn einer neuen Architekturblüte: «In Koolhaas' hands, that sense of cultural awakening finally reaches its full maturity.»

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.01.30

29. Januar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Im Rollen

Mit dem Slogan «Erstes Kugelhaus der Welt» warb die deutsche MAN AG 1928 für ein im Werk Gustavsburg konstruiertes und ausgeführtes Gebäude für die «Jahresschau...

Mit dem Slogan «Erstes Kugelhaus der Welt» warb die deutsche MAN AG 1928 für ein im Werk Gustavsburg konstruiertes und ausgeführtes Gebäude für die «Jahresschau...

Mit dem Slogan «Erstes Kugelhaus der Welt» warb die deutsche MAN AG 1928 für ein im Werk Gustavsburg konstruiertes und ausgeführtes Gebäude für die «Jahresschau deutscher Arbeit» in Dresden. Anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Technischen Hochschule in der Elbestadt hatte sich der Direktor der Ausstellung «Die technische Stadt» ein spektakuläres Gebäude gewünscht. Auf Grund eines 1927 in der «Münchner Illustrierten Presse» abgedruckten Beitrags mit dem Titel «Warum nicht Kugelhäuser? - Ein neues Städte-Bau-Projekt» war die Wahl auf den Architekten Peter Birkenholz (1876-1961) gefallen, der sich schon seit einigen Jahren mit Projekten von Häusern in Kugelform beschäftigte. Es handele sich, so die Ausstellungsleitung, um einen neuartigen Baustil, «der noch niemals, auch nicht in Amerika, bisher verwirklicht worden ist».

Aufmerksamkeit in der Fachöffentlichkeit hatte der Entwurf des in Elberfeld geborenen und in München tätigen Architekten für ein Kaufhaus nahe dem Rheinufer in Köln (1925) gefunden, ein breiteres Echo der Wettbewerbsbeitrag für den Völkerbundpalast (1926/27) in Genf. Verglichen mit den früheren und auch den späteren Projekten (beispielsweise für ein Kugelhotel in Leipzig) handelte es sich bei der 24 Meter hohen Dresdner Kugel um ein bescheidenes Projekt - doch immerhin wurde es realisiert. Das Stahltragwerk bot Raum für fünf Ebenen, ein weiteres Stockwerk nahm der Sockel ein. Die Verkleidung des grosszügig durchfensterten, auf acht Stützen ruhenden Körpers bestand aus Blech, auf dem Reklameschriften angebracht waren. In Birkenholz' Projekt kamen verschiedene Anregungen zusammen: die stereometrischen Entwurfsideen der sogenannten französischen Revolutionsarchitektur (darunter Boullées Newton-Kenotaph oder Ledoux' Entwurf für das «Haus des Flurwächters»), die expressionistisch-utopischen Visionen des frühen 20. Jahrhunderts und schliesslich Gedanken des russischen Konstruktivismus - nahezu zeitgleich entwarf Iwan Leonidow sein Lenin-Institut in Kugelform. Darüber hinaus reihte sich das Dresdner Kugelhaus in die Tradition architektonischer Follies ein, die grosse Ausstellungen von jeher prägten.

Auch wenn Birkenholz nicht müde wurde, die Vorzüge der Kugelbauweise zu preisen, konnte sich der Gedanke nicht durchsetzen. Mag auch der Winddruck-Koeffizient herabgesetzt sein und die Kugel ein Maximum an Inhalt bei einem Minimum an Oberfläche bieten, so bereitet allein die sich von Geschoss zu Geschoss verändernde Raumtiefe Schwierigkeiten bei der Belichtung. Von aussen unsichtbar, war in vier der fünf Kugelgeschosse nicht ohne Grund ein Lichthof ausgespart worden, in den auch ein Liftschacht integriert war. Von den inneren Umgängen wurden die radial angeordneten Geschäfte und Ausstellungskojen erschlossen; die oberste Ebene diente als Restaurant.

Die Beliebtheit des Ausstellungsrestaurants war neben voraussehbaren technischen Schwierigkeiten bei einem Abriss dafür verantwortlich, dass die ursprünglich auf drei Jahre limitierte Betriebsbewilligung mehrfach verlängert wurde. Als sich kein Käufer fand, liess die Stadt das exzeptionelle Gebilde im Frühjahr 1938 abreissen. Allerdings war das Kugelhaus zuvor von der NS-Presse mehrfach als «Ausgeburt einer entarteten Technik» diffamiert worden. 1939 galt dem Kunsthistoriker Walter Sedlmayr die Kugelidee als Zeichen einer «bodenlos gewordenen Baukunst», welcher er das Berliner Reichssportfeld gegenüber stellte. In Sedlmayrs für das Kulturverständnis der Nachkriegszeit überaus einflussreichem Werk «Verlust der Mitte» wird die Denkfigur erneut manifest: «Wie könnte der ‹Kosmopolit› (. . .), der heimat- und bodenlose Zukunftsmensch anders hausen als in der Bodenlosigkeit des Kugelhauses, dessen Tyrannei er sich (. . .) freiwillig unterwirft. Beide, ‹Kosmopolit› und Kugelhaus, sind Geschöpfe derselben abstrakten Phantasie.» Allerdings wäre es verfehlt, Birkenholz als verfemten Architekten anzusehen - mehrfach unternahm er ohne Erfolg den Versuch, den neuen Machthabern seine Kugelbauten als Monumente anzudienen.

Vergessen war Birkenholz' ingeniöses Werk in Dresden niemals vollständig, und in jüngster Zeit sind es zwei unabhängig voneinander gegründete Vereine, welche nun als «Projektgruppe Dresdner Kugelhaus» auftreten, dessen Geschichte erforschen und sich für eine Rekonstruktion stark machen. «Darf man ein Haus wieder aufbauen, das seit über 60 Jahren nicht mehr existiert?», heisst die Frage in der jüngst vorgelegten Broschüre. Nicht ohne Süffisanz lautet die Antwort: «Die schon legendäre Dresdner Aufgeschlossenheit für Wiederaufbauprojekte macht uns die Antwort leicht: Wir dürfen!» Es müssen schliesslich nicht immer Bauten des Barock sein, die in Dresden neu erstehen.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.01.29



verknüpfte Bauwerke
Kugelhaus

26. Januar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Nachhaltiges Bauen

Der Münchner Architekt Thomas Herzog in Frankfurt

Der Münchner Architekt Thomas Herzog in Frankfurt

Angesichts der globalen Ausbeutung von Ressourcen wäre ein ökologisches Verständnis von Architektur heute nötiger denn je. Vorbei sind die Zeiten, da begrünte Dächer oder Sonnenkollektoren auf Einfamilienhäusern an der Peripherie als Indikatoren eines umweltfreundlichen Bauens galten. Nachhaltiges Bauen, wie es seit der Umweltkonferenz von Rio auf der Agenda steht, bedeutet Denken in Systemen: Minimierung des Energieaufwands für Heizung und Kühlung, Verwendung erneuerbarer Energien und Rezyklierbarkeit der Baumaterialien. Auch wenn mitunter die einfachen Bauten indigener Kulturen zum Vorbild werden, sind es oft gerade Hightech-Entwicklungen, die den Weg weisen. Technik und Natur bilden nicht notwendigerweise Gegensätze.

Zu den Vorkämpfern einer die Belange der Umwelt respektierenden Architektur zählt Thomas Herzog, und das nicht nur als Entwerfer, sondern auch als Erfinder, als Hochschullehrer sowie als Motor transnationaler Initiativen. Die 1994/95 massgeblich von Thomas Herzog erarbeitete «Europäische Charta für Solarenergie in Architektur und Stadtplanung», welche von renommierten Kollegen wie Ralph Erskine, Norman Foster, Nicholas Grimshaw, Herman Hertzberger, Michael Hopkins oder Françoise Jourda unterzeichnet wurde, belegt die internationale Wirksamkeit der Forschungen des Münchner Büros. Sieht man von einigen Planungen in Linz jedoch ab - beispielsweise der «Solar City», an der unter anderem Richard Rogers beteiligt ist -, so beschränkt sich der Raum des praktischen Wirkens von Thomas Herzog auf Deutschland.

Rechtzeitig zu Herzogs 60. Geburtstag stellt nun das Deutsche Architektur-Museum in Frankfurt Bauten, Projekte und Konzepte des Architekten im Rahmen einer umfassenden Präsentation vor, die sämtliche Geschosse nutzt. Die Aufmerksamkeit gilt nicht nur dem gebauten Werk, sondern auch Herzogs Forschungs- und Lehrtätigkeit. Das oberste Geschoss ist einem einzigen Projekt vorbehalten: dem Expo-Dach für die Weltausstellung in Hannover. Die ästhetisch bemerkenswertesten Gebäude realisierte Herzog zu Beginn seiner Karriere: ein Einfamilienhaus in Regensburg (1979), eine prägnante Holz-Skelettkonstruktion mit schrägem, bis zum Boden hinabgeführtem Glasdach. Seit der «Design Center» genannten Kongress- und Ausstellungshalle in Linz (1989-93) arbeitet der Münchner vorwiegend im grösseren Massstab. Jüngstes Beispiel ist ein grosser, aus vier miteinander verbundenen Gebäuderiegeln bestehender Komplex für die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes in Wiesbaden. Zweifellos sind Herzogs Bauten ökologisch korrekt. Dennoch wäre ihnen etwas mehr Verve, ein wenig mehr an Esprit zu wünschen. Mag sein, dass dann auch das internationale Interesse an Herzogs Architektur wüchse.


[Bis 3. März im DAM in Frankfurt. Katalog: Thomas Herzog. Architektur + Technologie. Hrsg. Ingeborg Flagge. Prestel-Verlag, München 2001. 224 S., EUR 49.95. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2002.01.26

14. Januar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektur für Bibliophile

Die Zeitschrift «Wendingen»

Die Zeitschrift «Wendingen»

In jüngerer Zeit gilt die Aufmerksamkeit der architekturhistorischen Forschung verstärkt der Publizistik. Mediale Konstruktion bestimmt die Rezeption von Architektur in entscheidendem Masse. Neben Reprint-Editionen, welche besonders das Profil des Berliner Gebr.-Mann-Verlages prägen, gibt es inzwischen eine Reihe von Veröffentlichungen zu generellen oder speziellen Aspekten der Architekturpublizistik. Eines der jüngsten Beispiele ist der von Martijn F. Le Coultre herausgegebene, opulent illustrierte Band über das niederländische Periodikum «Wendingen», das monatlich (mit einer Reihe von Doppelheften) zwischen 1918 und 1931 erschien.

Lange Zeit stand «Wendingen» im Schatten des ungefähr gleichzeitig erschienenen «De Stijl». Doch obwohl sich «De Stijl» thematisch und gestalterisch konsequenter der Moderne verpflichtete, wäre es falsch, die beiden Organe schlicht als Antipoden wahrzunehmen. «Wendingen» thematisierte keineswegs allein das expressionistische Bauen der Amsterdamer Schule um de Klerk, Kramer und van der Meij, sondern griff auch Themen auf, die sich ebenso bei der Konkurrenz hätten finden können, beispielsweise mit Sonderheften zu Eileen Gray (1924) oder der Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam von Brinkman & van der Vlugt (1930). El Lissitzky gestaltete das Titelblatt zur ersten (von insgesamt sieben) Frank-Lloyd-Wright-Nummern (1921), Vilmos Huszár, der für das Erscheinungsbild des «Stijl» verantwortlich war, jenes der Diego-Rivera-Nummer (1929).

Dieser Offenheit zum Trotz richtete sich das Hauptaugenmerk der Redaktion nicht auf die Tendenzen zum Funktionalismus. Das war massgeblich das Werk von Hendricus Theodorus Wijdeveld (1885-1987), der zwischen 1918 und 1926 als Herausgeber und Spiritus Rector fungierte. Als Architekt im Stil der Amsterdamer Schule eher von nachgeordneter Bedeutung, avancierte er mit «Wendingen» zu ihrem einflussreichsten Propagandisten. Wer die Tendenz zur Abstraktion, Versachlichung und Vereinfachung als Königsweg der Moderne versteht, für den dürften zumindest die späteren Jahrgänge von «Wendingen» wenig ergiebig sein. Wer jedoch an einem Panorama der niederländischen (und internationalen) Baukunst der Zwischenkriegszeit interessiert ist, für den ist das Blatt eine Fundgrube, die nicht nur mit wichtigen Bilddokumenten, sondern auch mit Texten bedeutender Architekten aufwartet. Darüber hinaus können die quadratischen, nach japanischer Art mit Bast oder Kordeln gebundenen und künstlerisch gestalteten Hefte als eine der schönsten Zeitschriften überhaupt gelten. Nicht zuletzt diese eher den Periodika der Jahrhundertwende als jenen der zwanziger Jahre verwandte Ausstattung wird eine Faksimile-Edition der raren Ausgaben leider auch in Zukunft vereiteln.

Aber immerhin - nach einer knappen, von einem kleinen Katalog begleiteten Darmstädter Ausstellung des Jahres 1992 - liegt nun eine Publikation vor, die nicht nur die Geschichte des Periodikums dokumentiert, sondern auch erstmals sämtliche künstlerisch gestalteten Umschlagseiten farbig reproduziert. Inhaltsverzeichnisse, technische Angaben wie Preis und Auflageziffern und ergänzende Beschreibungen erweisen das Buch als unabdingbar für jede künftige Beschäftigung mit der Materie.


[Martijn Le Coultre: Wendingen 1918-1931. Architectuur en vormgeving. V-K Publishing, Blaricum 2001. 272 S., EUR 66.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.01.14

04. Januar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Klarheit in Rotterdam

Der Stadtarchitekt W. N. Rose im NAI

Der Stadtarchitekt W. N. Rose im NAI

Die zunehmende Bedeutung des internationalen Seehandels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte in Rotterdam einen rasanten Bevölkerungszuwachs zur Folge, der in der historischen Stadtstruktur nicht aufgefangen werden konnte. So lebten viele Bewohner unter unzumutbaren Bedingungen im infrastrukturell nicht erschlossenen Polderland ausserhalb der eigentlichen Stadtgrenzen. Mit der Berufung des Militäringenieurs Willem Nicolaas Rose (1801-1877) zum Stadtarchitekten wurde der stagnierenden Stadt Rotterdam 1839 der Weg in die Moderne geebnet. Seine wohl wichtigste Leistung war das «Wasserprojekt», ein ausgedehntes, mit Pumpwerken versehenes Kanalsystem, das es ermöglichte, die Abwässer beschleunigt aus der Stadt zu leiten, und zugleich Überschwemmungen verhinderte. Geschickt verstand es Rose, hygienische Gedanken mit urbanistischen Zielen zu verbinden - die neuen Kanäle dienten zugleich als Achsen der Stadterweiterung, wovon beispielsweise die elegante klassizistische Bebauung am Westersingel noch heute zeugt. Daneben entstanden Pläne für eine Reihe von Stadt- und Hafenerweiterungen: die Strukturierung der Maas-Halbinsel Feijenoord, der rigide gerasterte Coolpolder und die ab 1843 realisierte Bebauung um den Veerhaven am Westrand der Innenstadt. Roses Reputation fand ihren Ausdruck in der Berufung zum Staatsarchitekten (1858). In Formen des Rundbogenstils, den Rose 1840 mit dem Rotterdamer Coolsingelziekenhuis in Holland eingeführt hatte, entstand in Den Haag der Baukomplex aus Kolonialministerium und Oberstem Gerichtshof.

Anlässlich des 200. Geburtstags von Rose dokumentiert nun eine Ausstellung im Niederländischen Architektur-Institut (NAI) in Rotterdam unter dem Titel «Clear & Clean» dessen wichtigste Projekte mit zum Teil unpubliziertem Material. Die fast vollständige Zerstörung Rotterdams 1940 hat den Grossteil seiner Werke vernichtet. Ein wegweisender Architekt und Stadtplaner ist somit wiederzuentdecken. Begleitend ist eine ansprechende Publikation erschienen, die als Stadtführer konzipiert ist und es erlaubt, die - immer noch prägenden - Interventionen von Roses «Wasserprojekt» im Stadtbild zu entdecken.


[Bis 20. Januar. Begleitpublikationen: Hetty E. M. Berens: W. N. Rose 1801-1877. Stedenbouw, civiele techniek en architectuur. NAI Publishers, Rotterdam 2001. 364 S., hfl. 69.50. - The Water Project. A nineteenth-century walk through Rotterdam. NAI Publishers, Rotterdam 2001. 192 S., hfl. 39.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.01.04

04. Januar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Tonlos in die Zukunft?

Ein Neubau auf dem «Arabia»-Gelände in Helsinki

Ein Neubau auf dem «Arabia»-Gelände in Helsinki

Weite Bereiche der Keramikmanufaktur Arabia in Helsinki werden zurzeit umgenutzt. Als jüngster Teil der Art and Design City Helsinki entstand das von dem renommierten Architektenteam Heikkinen & Komonen entworfene Media Centre Lume.

Die in Helsinki ansässige Keramikmanufaktur Arabia, 1873 vom schwedischen Mutterunternehmen Rörstrand gegründet, um den russischen Markt bedienen zu können, erzielte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bekanntheit sondergleichen. Wo zuvor vornehmlich Sanitärartikel, Isolatoren und Ziegel hergestellt worden waren, verliessen nun Haushaltsgeräte in klaren Formen die Brennöfen. Kaj Franck, der neben Alvar Aalto, Tapio Wirkkala und Timo Sarpaneva massgeblich den Ruf des finnischen Designs begründete, war 1945 als künstlerischer Leiter von Arabia berufen worden. 1953 ging der grösste Erfolg der Manufaktur in Serie: das Steingutgeschirr «Kilta», das noch heute hergestellt wird. Doch die fetten Jahre von Arabia sind vorbei. In der Blütezeit arbeiteten hier 4000 Beschäftigte, heute sind es noch 300. Hauptursache war der durch die kostengünstigere ausländische Konkurrenz ausgelöste Strukturwandel im keramischen Gewerbe, der zur Einstellung der Ziegelproduktion führte - und dann zum Verkauf von Arabia an den Haushaltwarenkonzern Hackman, zu dem auch die durch die Produktion von Aaltos Savoy-Vasen bekannte Glashütte Iittala gehört.

Zu einem nicht unerheblichen Teil war die Krise selbst verschuldet: Lange Zeit wähnte man sich mit den Produkten von Kaj Franck unschlagbar, kalkulierte weder einen Geschmackswandel ein noch die Tatsache, dass geschickte Wohnungsausstatter wie Ikea das Image des skandinavischen Designs weitaus preisgünstiger zu vermarkten verstanden. Inzwischen nutzt Arabia nur noch einen kleinen Teilbereich des einstigen Industrieareals, das über mehr als einen Kilometer die vielbefahrene Strasse Hämeentie im Norden von Helsinki säumt. Attraktiv wirkt die Gegend nicht, und doch lag hier einst die Kernzelle des vom Schwedenkönig Gustav I. Wasa 1550 gegründeten Helsinki, das später auf eine wenige Kilometer weiter südlich gelegene Halbinsel verlagert wurde. Dort liess Zar Alexander I. durch seinen aus Berlin stammenden Architekten Carl Ludvig Engel zu Beginn des 19. Jahrhunderts die letzte klassizistische Planstadt errichten.

Der Reiz des Arabia-Terrains besteht in einer ufernahen Lage - der Altstadtfjord, dessen Name allein noch auf das frühere Zentrum verweist, begrenzt das Gelände Richtung Osten. Wie auch in anderen europäischen Hafenstädten - ob Rotterdam, Hamburg oder Genua - wird die Küstenlinie in Helsinki zum Motor der Stadtentwicklung. Wohnungen für 7000 Einwohner und 2000 Arbeitsplätze sollen im einstigen Industriequartier Arabiaranta in den kommenden Jahren entstehen. Die Geburtsstunde des neuen Stadtteils schlug 1995, als private Organisationen und staatliche Behörden ein gemeinsames Entwicklungsprojekt für das Areal mit seinen 85 Hektaren vorlegten. ADC heisst das ambitionierte Projekt - Art and Design City Helsinki. Unternehmen der Telekommunikation und der neuen Medien sowie Hochschul- und Bildungseinrichtungen sollen die alten Werkareale revitalisieren. Inzwischen haben die Universität für Kunst und Design Helsinki, die Schule für Pop und Jazz sowie das Institut für Kunst und Medien des Polytechnikums in den alten Fabrikbauten ihr neues Domizil bezogen. Die jüngste Institution in Arabiaranta ist das der Universität für Kunst und Design angeschlossene Media Centre Lume von Mikko Heikkinen und Markku Komonen, das seine Initiatoren als «Kulturzentrum der Informationsgesellschaft» verstehen. Mit diversen Studios, Media Labs und Veranstaltungssälen dient es der Forschung, Ausbildung und Produktion im audiovisuellen Sektor; die Einrichtungen werden von der Universität genutzt, können aber auch gemietet werden. Zum Teil liessen sich die neuen Räumlichkeiten in die aus den vierziger Jahren stammenden, die Hämeentie flankierenden Arabia-Bauten integrieren. Für die raumintensiveren Funktionen - Film- und Fernsehstudios, Black-Box-Theater sowie Auditorium - entstand ein östlich anschliessender Erweiterungsbau.

Heikkinen & Komonen, die 1987 mit ihrem Wissenschaftsmuseum «Heureka» einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden und nicht zuletzt durch den Bau der finnischen Botschaft in Washington zu den führenden Architekten des Landes zählen, wählten eine Glaspassage als Rückgrat der Erschliessung. Vom Haupteingang an der Hämeentie aus führt der lichte Gang zum Block der Produktions- und Veranstaltungssäle; er dient als Foyer, kann aber auch für Ausstellungen Verwendung finden und soll zukünftig Richtung Altstadtfjord verlängert werden. Denn die klare Rasterstruktur, welche den Grundriss des Media Centre Lume prägt, soll sich bis in das künftige Wohnviertel hinein fortsetzen. Ist dies einmal fertiggestellt, wird die zurzeit nur über eine Baustelle zugängliche Rückfront des Medienzentrums zur Hauptfassade. Heikkinen & Komonen schufen hier ein expressives Bild des Informationszeitalters: Vor die mit silbrig schimmerndem Blech verkleidete und mit dem bunten Schriftzug «lume» versehene Box, die Studios sowie das Theater und das Auditorium umfasst, treten die aufgeständerte Glaspassage und der Zylinder des Fluchttreppenhauses. Es ist wie beim Blick in das Innenleben eines Computers: Ein schillerndes Arrangement metallischer Formen und Strukturen, doch was hier geschieht, entzieht sich dem Betrachter.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.01.04



verknüpfte Bauwerke
Media Centre Lume

04. Januar 2002Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Schwünge und Mäander

Neugestaltung eines Parks in Helsinki

Neugestaltung eines Parks in Helsinki

Der Kaisaniemi-Park gilt als der älteste öffentliche Anlage Helsinkis. Schon im Bebauungsplan angelegt, den Johan Albrecht Ehrenström 1812 im Auftrag Zar Alexander I. für die neue finnische Hauptstadt entwickelte, wird die prominent placierte, nördlich des Stadtzentrums gelegene Grünanlage heute von dem sich in den Hauptbahnhof verzweigenden Gleiskörper im Westen, einer Ausfallstrasse im Osten sowie vom Kaisaniemi-See im Norden begrenzt. Ein knappes Drittel der 17 Hektaren messenden Fläche nimmt der botanische Garten ein, der auf Grund der Verlegung der Universität von Turku nach Helsinki 1829 inmitten des Areals eröffnet wurde. Wer den Park auf dem Weg vom weiter nördlich gelegenen Stadtteil Kallio zum Stadtzentrum hin durchquert, nimmt den botanischen Garten als Enklave in einem wenig definierten Grünraum wahr.

Die unbefriedigende Struktur des übernutzten Areals war nun Gegenstand eines Wettbewerbs unter Landschaftsarchitekten. Dabei galt es die nötige Anbindung an den städtischen Umraum ebenso zu berücksichtigen wie eine neue Organisation der Binnenräume. Die Jury zeichnete den Gemeinschaftsentwurf von Stefan Tischer, Susanne Burger und Francesca Venier mit dem ersten Preis aus. Das Konzept des Teams aus Berlin vermag in weiten Teilen zu überzeugen, wie die Präsentation im Finnischen Architekturmuseum unlängst bewies. Ein mäandrierender Weg überlagert das bisherige stereotype Erschliessungsraster, verbindet die nötigen Parkeingänge und überquert in einer weit geschwungenen Brücke überdies die Bahngleise. Damit gelingt die Anknüpfung an die Uferbereiche des Töölönlahti.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.01.04



verknüpfte Bauwerke
Kaisaniemi-Park Neugestaltung

28. Dezember 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Stilbildende Synagogenarchitektur

Der deutschjüdische Architekt Fritz Landauer in Augsburg

Der deutschjüdische Architekt Fritz Landauer in Augsburg

Der aus Augsburg stammende, 1937 nach London emigrierte Architekt Fritz Landauer wurde durch Synagogen in Augsburg und Plauen bekannt. Das Architekturmuseum Schwaben zeigt nun im Überblick das Œuvre des weitgehend vergessenen Architekten.

«Religion verlangt zeitgemässe Gestaltung, weil sie selbst Leben ist», konstatierte der Leipziger Rabbiner Felix Goldmann 1930 anlässlich der Einweihung der Synagoge im sächsischen Plauen. Zeitgemässer hätte die Gestaltung des Gebäudes nicht ausfallen können: Der Architekt Fritz Landauer (1883-1968) hatte das Raumprogramm, das neben der Hauptsynagoge auch eine Wochensynagoge, einen Gemeindesaal sowie Verwaltungsräume umfasste, in einem hell verputzten Kubus untergebracht, der - teilweise aufgeständert - über einem verklinkerten Sockelgeschoss schwebte. Nur ein in ein Rundfenster integrierter Davidstern zeugte von der eigentlichen Bestimmung des Volumens, dessen Konstruktion auf einem (unsichtbaren) Stahlgerüst beruhte. Entstanden war die erste Synagoge in der Formensprache des Neuen Bauens, und nicht ohne Grund wurde der Bau in der Schau «Kultbauten der Gegenwart» 1930 in Stuttgart ebenso als vorbildlich hervorgehoben wie im Jahr darauf auf der «Deutschen Bauausstellung» in Berlin. Ziel sei es gewesen, so der Architekt, «im Inneren und Äusseren eine Form zu erstreben, die mit unserer neuen Lebensauffassung in Einklang steht». Bewusst ähnelte die Plauener Synagoge einem Zweckbau, wenn auch - wie Landauer schrieb - einem Zweckbau «mit höchstem und idealem Zwecke».


Jüdisches Bauen in der Diaspora

Angesichts der weitgehenden Ablehnung, auf welche das Neue Bauen im Bereich des zeitgenössischen christlichen Sakralbaus stiess, erstaunt ein derart avantgardistisches Gebäude in der deutschen Provinz. Eine erste Erklärung dafür mag die funktionale Differenz bieten, welche die Synagoge von der Kirche unterscheidet: Es handelt sich um einen «Bet Haknesset», einen Versammlungsort der Gemeinde, nicht um einen mystischen Raum, in dem sich im Vollzug der Liturgie das Wunder einer Transsubstantiation ereignet. Darüber hinaus fehlte es dem Synagogenbau auf Grund der jahrhundertelangen Repression weitgehend an einer verbindlichen Typologie. Die Bauten, die in der deutschen Diaspora seit der Emanzipation entstanden waren, bewegten sich gestalterisch in einem Feld, das durch die Adaption lokaler und nationaler Bautraditionen einerseits und die Inszenierung des Fremden andererseits bestimmt war. Häufig mischte sich beides - der Aussenbau von Sempers berühmter Dresdner Synagoge entsprach dem zeittypischen Rundbogenstil, während das Innere in orientalisierenden Formen gehalten war. In den zwanziger Jahren schliesslich war diese Anlehnung an sakrale christliche Bauformen in jüdischen Kreisen zunehmend auf Ablehnung gestossen.

Votierten die Vertreter liberaler Positionen für eine Anlehnung an die künstlerische und architektonische Avantgarde der Zeit, so suchten die orthodox orientierten Theoretiker nach einer Alternative zur christlich inspirierten Formensprache. Daher konnte ein moderner «Zweckbau» wie die Synagoge von Plauen von beiden Richtungen akzeptiert werden; obgleich die räumliche Zusammenbindung von Aron Hakodesch und Bima der liberalen Tradition entsprach, diente das Gebäude auch dem orthodoxen Ritus. Ebenfalls in kubischen Formen entstand wenig später die liberale Synagoge in der Hamburger Oberstrasse (1929-31); Landauer hatte vier Entwürfe eingereicht, doch wurde ein Gemeinschaftsprojekt der ortsansässigen Architekten Ascher und Friedmann zur Ausführung bestimmt.

Nicht erst seit dem Plauener Bau galt Fritz Landauer als Spezialist für Synagogenarchitektur. Einer deutschjüdischen Textilfabrikantenfamilie entstammend, studierte der gebürtige Augsburger in München und Karlsruhe, bevor er in das Büro von Friedrich von Thiersch eintrat und an der Planung der Frankfurter Festhalle mitwirkte. Die dort gewonnenen Erfahrungen und Kontakte flossen in das Projekt ein, das Landauer zum Renommee verhalf: die 1914-17 gemeinsam mit dem Thiersch-Mitarbeiter Heinrich Lömpel realisierte Synagoge in Augsburg. Die über einen vorgelagerten Hof betretbare Synagoge mit ihrer zweischaligen Eisenbetonkuppel wird von zwei symmetrisch angeordneten Gebäuden flankiert. In der Nachfolge von Edmund Körners Essener Bau (1912) wandten sich Landauer und Lömpel vom Eklektizismus ab und suchten nach einer vereinheitlichen Formensprache, die an den späten Jugendstil des in Süddeutschland überaus einflussreichen Theodor Fischer erinnert. Die Synagoge, die durch glückliche Fügung die Pogromnacht des Jahres 1938 weitgehend unbeschädigt überdauerte, besticht auch heute noch durch ihre grandiose Raumwirkung und die dekorative Gestaltung mit einem ausgeklügelten ikonographischen Programm. Ungewöhnlich war dabei eine (heute ersetzte) Davidstatue in der Vorhalle.


Wiederentdeckung eines Lebenswerks

Eine Ausstellung des Architekturmuseums Schwaben in Augsburg gibt nun einen Überblick über das Werk des von der Architekturhistoriographie über Jahrzehnte missachteten Fritz Landauer. Wie bei anderen emigrierten Architekten - etwa Arthur Korn oder Harry Rosenthal - folgte auch bei Landauer der Emigration (1937) das Vergessen in der Heimat. Basis der Ausstellung bildet eine langwierige Forschungsarbeit der Architekturhistorikerin Sabine Klotz, die sich vor allem auf den in Kalifornien entdeckten und zum Teil nach Augsburg übergebenen Nachlass Landauers stützt. Die materialreiche Dokumentation liegt nun als Begleitpublikation vor.

Wegen der beschränkten räumlichen Bedingungen des Museums kann die Ausstellung das Œuvre des Architekten nur ausschnitthaft dokumentieren. Im Zentrum der Präsentation stehen mit den Synagogen von Augsburg und Plauen die beiden Hauptwerke des Architekten. Doch werden darüber hinaus auch die wesentlichen Projekte und Bauten der übrigen Lebensabschnitte dokumentiert: die noch ganz der süddeutschen Tradition einer vom Heimatschutzgedanken geprägten Stilarchitektur folgenden frühen Wettbewerbsentwürfe, aber auch die umfangreichen Arbeiten der zwanziger Jahre - Siedlungsbauten, Privatwohnhäuser, Ladenlokale und Industriearchitektur. Zeigten die meisten Projekte eine eher konservative Formensprache, so können zwei Villen in Augsburg und Fürth (1930/31) zu den Meisterleistungen des Neuen Bauens in Bayern gezählt werden; Lochfenster und traditionelle Konstruktionsweise bedeuten gleichwohl Distanz zur zeitgenössischen Avantgarde.

Anders als manche seiner verfolgten Berufskollegen bereitete Landauer die Emigration nach London langfristig vor. Verschiedentlich reiste er in die britische Kapitale und realisierte in den Vororten zwei bescheidene Synagogen, bevor er - ausgestattet mit einer dauerhaften Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung - 1937 endgültig übersiedelte. Tragisch ist, dass Landauer in der Profession des Architekten nicht mehr zu reüssieren vermochte. Grund dafür war nicht allein die Rezession in England, sondern auch die mangelnde Fähigkeit Landauers, sich auf die britischen Arbeitsbedingungen einzulassen - von Sprachproblemen ganz zu schweigen. Als Broterwerb diente ihm «Monumental Art Ltd.» - Landauer stellte Grabsteine her, vornehmlich für Emigranten. Zum Teil konnte er dabei auf Entwürfe aus der Münchner Zeit zurückgreifen. Als Landauer nach langem Ringen 1955 vom deutschen Staat entschädigt wurde, konnte er die «Ersatz-Tätigkeit» aufgeben. 1968 verstarb er in London. - Ergänzend zur Ausstellung zeigt das Jüdische Kulturmuseum Augsburg eine Dokumentation über die dortige Synagoge. Leider ist es nicht gelungen, die im unlängst in Argentinien entdeckten Nachlass von Heinrich Lömpel befindlichen Entwürfe der Baudetails zumindest leihweise nach Augsburg zu holen.


[Bis 10. Februar. Begleitpublikation: Sabine Klotz: Fritz Landauer. Leben und Werk eines jüdischen Architekten. Dietrich-Reimer-Verlag, Berlin 2001. 334 S., Fr. 87.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.12.28

16. November 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Bauen im historischen Kontext

Ein Hotel von Max Dudler in Weisenau bei Mainz

Ein Hotel von Max Dudler in Weisenau bei Mainz

Das «Schwarze Café», in nächster Nähe des Deutschen Architektur-Museums an der Schweizer Strasse gelegen, gehört zweifellos zu den angenehmsten Orten, um einen Abend in Frankfurt am Main zu verbringen. Dem 1949 im ostschweizerischen Altenrhein geborenen Architekten Max Dudler, der nach seiner Tätigkeit im Büro von Oswald Mathias Ungers (1981-86) einige Zeit in Frankfurt arbeitete, gelang 1986 das Kunststück, auf minimalem Raum eine Bar und ein Restaurant zu kombinieren. Getrennt werden die beiden Bereiche durch einen schwarzen Raumteiler, in dem Funktionsräume wie Toiletten oder Telefon Unterbringung gefunden haben. Inzwischen befindet sich der Hauptsitz des Büros Dudler in Berlin, und der Architekt befasste sich in den vergangenen Jahren vor allem mit Grossprojekten. Dazu zählen ein Gymnasium in Hohenschönhausen, das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen an der Invalidenstrasse, aber auch die Turmhäuser, die den Bahnhofsplatz in Mannheim flankieren. Auch wenn Dudlers Schaffen durchaus der Doktrin des «steinernen Berlin» entspricht, sind seine Bauten dank ihrer rationalistischen Grundhaltung gefeit gegen die zurzeit - gerade in den Villenvororten Berlins - grassierende Tendenz zu einem konservativen Neotraditionalismus.

Dass Dudlers Talent gerade auch im Bereich der kleinen Form liegt, zeigt nun ein Hotel, das im Mainzer Vorort Weisenau realisiert wurde. Durch einen 1997 vom Fernsehsender 3sat ausgestrahlten Film hatte der Bauherr von Dudler erfahren und den Architekten um einen Entwurf gebeten. Von üblichen Massstäben des Beherbergungsgewerbe ausgehend, mochte das Projekt abenteuerlich erscheinen: ein Hotel mit sechs Zimmern und einer Bar - kein Restaurant, kein Schwimmbad, keine Konferenzräume, keine Minibar und auch kein Fernseher auf dem Zimmer. Ein Hotel also für Individualisten, die auf die Standards von Kettenhotels zu verzichten bereit sind und die persönliche Betreuung durch das Hotelierehepaar ebenso zu schätzen wissen wie eine klare, auf das wesentliche reduzierte Ausstattung. Dieser Idee entspricht das Entwurfs- und Ausstattungskonzept von Max Dudler bestens.

Vom Rhein durch die Bundesstrasse und ein Bahntrassee getrennt, reiht sich das «Quartier 65» mit seinem den Auflagen des Ensembleschutzes gehorchenden spitzen Giebel in die zum Teil historische Uferfront von Weisenau ein. Das gerade einmal gut sechs Meter breite Hotel wirkt wie die auf das Äusserste reduzierte Miniatur eines Hauses: Durch den Verzicht auf jegliche ornamentalen Applikationen und die Verkleidung mit portugiesischem Granit wird das Gebäude zur monolithischen Skulptur. Obwohl die schmalen Fensterschlitze der Stirnseite eine Dreigeschossigkeit suggerieren, handelt es sich in Wahrheit um vier Ebenen - im Erdgeschoss eine Bar, darüber in drei Geschossen jeweils zwei Zimmer. Reduzierte Gestaltung auch im Inneren: Schwarze Asphaltplatten bilden den Boden, die Wände sind weiss gestrichen; hinzu tritt ein leicht gräulich getönter hölzerner Raumteiler in Längsrichtung, in den zuunterst Barbereich und Treppe, in den oberen Geschossen Nasszellen und Schränke integriert sind. Tische und Stühle stammen aus Dudlers bewährtem Bistro-Möbelprogramm Black Monday, die Stehlampen in den sechs geräumigen Zimmern von Arne Jacobsen. «Quartier 65» überzeugt durch den Luxus des Verzichts. Und es beweist, dass innovative Ideen im Hotelsektor oft von aussen kommen - in diesem Fall von einem Eigentümer, der nach einer Karriere bei IBM als Quereinsteiger im Gastgewerbe eine neue Tätigkeit gefunden hat.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.11.16



verknüpfte Bauwerke
Quartier 65

09. Oktober 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Tarzan im Mediendschungel

Ausstellung Toyo Ito in Vicenza

Ausstellung Toyo Ito in Vicenza

Die Organisatoren von Architekturausstellungen - ob Kuratoren, ob Architekten selbst - sehen sich mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert: Keine Präsentation kann das körperliche Erleben eines realen Baus vermitteln, geschweige denn ersetzen. Zeichnungen und Pläne sind für ein nicht fachlich gebildetes Publikum oft hermetisch, Modelle erscheinen instruktiv, wo die Wirklichkeit den Überblick nicht erlaubt, und modische Computeranimationen setzen auf eine Suggestionskraft, gegenüber der sich der tatsächliche Bau vielfach blass ausnimmt. So entspricht der Besucher von Architekturausstellungen jenem platonischen Höhleninsassen, der die klare, von der Sonne beschienene Wirklichkeit nur in Form ihrer flackerhaft auf die begrenzenden Wände fallenden Schatten wahrnimmt.

Wenn dieser prinzipiellen Problematik schon nicht zu entkommen ist, so besteht die Möglichkeit, sie zum Thema zu machen - eine Überlegung, welche in den vergangenen Jahren zum Ausgangspunkt einer Reihe von bemerkenswerten Architekturausstellungen wurde; «The Art of Architecture Exhibition» heisst nicht ohne Grund ein unlängst erschienenes Buch, das nicht nur theoretische Essays enthält, sondern auch die Ausstellungsgestaltungen dokumentiert, welche unter dem fünfjährigen Direktorat (1996-2001) von Kristin Feireiss am Niederländischen Architekturinstitut Rotterdam entstanden sind. Marksteine setzte zuvor schon das Basler Büro Herzog & de Meuron: «Architektur Denkform» hiess 1988 die erste Retrospektive, bei der auf die Fenster des Basler Architekturmuseums aufgedruckte Grossfotos der eigenen Arbeiten sich visuell mit dem urbanen Ambiente des Museums überlagerten; sieben Jahre später spiegelte sich der Raster der von Rémy Zaugg installierten Neonröhren in den endlos zu Reihen angeordneten Tischvitrinen des Pariser Centre Pompidou. Elemente, die gemeinhin die Exponate unauffällig ins rechte Licht rücken, traten hier zu diesen in wohlkalkulierte Konkurrenz.

Fragen der Wahrnehmung beschäftigen den 1941 in Tokio geborenen Architekten Toyo Ito seit langem - sein berühmter, letztlich funktionsloser «Turm der Winde» in Yokohama (1986) lässt sich als architektonische Eloge für das Ephemere, Entmaterialisierte und Elektronische verstehen. Mit der Schau «Blurring Architecture», die 1999/2000 in Tokio, Aachen sowie im dänischen Humlebæk zu sehen war, führte der Pionier einer sich multimedial darstellenden Moderne den Besuchern lehrbuchhaft die ausstellungsspezifischen Mittel zur Präsentation von Architektur vor Augen: Zeichnungen, Modelle, Fotos, Texte, Simulationen und schliesslich die begehbare Rekonstruktion seines kurz zuvor abgerissenen Frühwerks, des «White U» genannten hufeisenförmigen Wohnhauses aus Stahlbeton in Tokio.

Nun wurde Toyo Ito in der Basilica Palladiana in Vicenza erneut die Gelegenheit gegeben, einen Rückblick auf sein bisheriges Werk zu inszenieren. Dafür hat der Japaner den gewaltigen, von Palladio mit Loggien umgebenen gotischen Innenraum in einen Dark Room verwandelt. Die einzigen Lichtquellen bilden neunzehn vom Gewölbe abgehängte Schläuche aus transluzenter Gaze, die von oben durch Scheinwerfer beleuchtet sind. In jedem dieser Schläuche, die wie Pfeiler den Raum gliedern, befindet sich ein gläserner Tisch, der als horizontale Projektionsfläche für Videoeinspielungen, Fotos oder Entwürfe jeweils eines Projektes dient; in drei Tischen befinden sich Plexiglasmodelle. Einblick in die Schläuche gewährt wird den Besuchern durch kleine, aus dem Gazematerial ausgeschnittene Gucklöcher, so dass sie die Hauptwerke Itos in chronologischer Reihenfolge abschreiten können - vom «White U» (1976) und von der «Silver Hut» (1984) bis zum jüngsten Bühnenbild, «Cholon», für das Tokioter Cocoon Theatre und zum Projekt eines aus Aluminiumwaben bestehenden Informationspavillons in Brügge. Gleich drei Schläuche sind für Itos jüngstes und vielleicht wichtigstes Projekt reserviert, die zu Beginn des Jahres eröffnete Bibliothek in Sendai, welche auch in einem ellipsenförmigen Kompartiment mit Hilfe von grossflächigen Projektionen der Konstruktionszeichnungen präsentiert wird. Mit ihren leuchtenden Rundpfeiler-Schläuchen verweist nicht zuletzt die gesamte Installation auf dieses Meisterwerk.

Zusätzliche Informationen erhält man durch ein Set von Plastic-Kärtchen. Am Köcher um den Hals getragen wie anderenorts der Audioguide, stellen sie eine ebenso archaische wie manierierte Form der Informationsübermittlung dar. Hat man die auf den Fussboden aufgedruckte Nummer entdeckt und das richtige transluzente Kärtchen gezogen, lassen sich vor dem Hintergrund des erleuchteten Schlauchs Minimalinformationen im Dunkel des Saales lesen. Mehr - natürlich konventionelle - Informationen hält der die Ausstellungs begleitende Band aus der Electa-Reihe, «Documenti di architettura», bereit, für den sich dann allerdings der Abschied von der flimmernden Höhle empfiehlt. «Tarzan nella giungla mediale» heisst ein abgedruckter Text Itos, der angesichts des nächtlich-virtuellen Pfeilerraums neue Bedeutung erhält. Der geordnete Dschungel, den der Architekt gepflanzt hat, ist ein seltsames Biotop: Für ein breites Publikum bleibt er letztlich uninformativ, den Fachleuten hingegen hält er eher karge Kost bereit.


[Bis zum 2. Dezember. Katalog: Toyo Ito. Le opere, i progetti, gli scritti. Hrsg. Andrea Maffei. Electa, Mailand 2001. 366 S., Lit. 120 000 (Lit. 93 000 in der Ausstellung).]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2001.10.09

08. Oktober 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Eine Liegenschaft in Deutschland

Albert Einsteins Sommerhaus in Caputh

Albert Einsteins Sommerhaus in Caputh

In der architekturinteressierten Öffentlichkeit hat der 100. Geburtstag des Architekten und Ingenieurs Konrad Wachsmann (1901-1980) vergleichsweise wenig Resonanz gefunden. So blieb die Neuauflage des von Michael Grüning verfassten und erstmals 1986 in der DDR verlegten «Wachsmann-Reports» (NZZ 25. 7. 01) in diesem Jahr der wichtigste Hinweis auf den Pionier eines präfabrizierten Bauens. Eine eigentlich überfällige Retrospektive wurde von keinem deutschen Museum angekündigt - und der Nachlass liegt unerforscht in den USA, wohin Wachsmann 1941 emigrierte. Dem vor einigen Jahren gegründeten Philo-Verlag ist nun eine Monographie des von Wachsmann entworfenen Einstein-Hauses in Caputh an der Havel zu verdanken. Dabei widmet sich der Autor Dietmar Strauch weniger der architekturhistorischen Bedeutung des Gebäudes als dessen wechselvoller Geschichte, die zunächst mit einer Posse begann, nämlich dem Versuch des Berliner Magistrats, dem berühmten Wissenschafter und Nobelpreisträger in Anerkennung seiner Verdienste zu seinem 50. Geburtstag ein Grundstück zu schenken.

Bürokratische Verschleppung führte schliesslich dazu, dass der Physiker das Gelände auf eigene Kosten erwarb und ein Sommerhaus durch Wachsmann errichten liess, der bis zu diesem Auftrag als Architekt für die auf vorgefertigte Holzhäuser spezialisierte Firma Christoph und Unmack in Niesky gearbeitet hatte. Der Mut des jungen Architekten war erstaunlich: Kaum hatte er aus der Zeitung von Einsteins Bauabsichten erfahren, empfahl er sich als der Entwerfer. Nicht ohne Erfolg, denn noch im gleichen Jahr (1929) konnte er das schlichte, dunkelrot lackierte Holzhaus fertigstellen. Wie schon bei seinem Wohnhaus für einen Direktor von Christoph und Unmack in Niesky hatte Wachsmann bewiesen, dass sich die Methode des Holzhausbaus sowohl mit der Idee der Präfabrikation als auch mit der Ästhetik des Neuen Bauens vertrug.

Einstein bewohnte das Haus zwischen 1930 und 1932, dem Jahr seiner Reise in die USA, von wo er aus politischen Gründen nicht mehr nach Deutschland zurückkehrte. Die eigentlichen Eigentümer der Liegenschaft, nämlich die beiden Töchter aus erster Ehe von Elsa, der zweiten Frau Einsteins, vermieteten das Haus daraufhin an das jüdische Kinderheim der Reformpädagogin Gertrud Feiertag. Obwohl Einsteins Besitz und Vermögen schon 1933 beschlagnahmt worden waren, erfolgte die definitive Enteignung durch den preussischen Staat erst Mitte 1935. Schliesslich gelangte das Gebäude in den Besitz der Gemeinde Caputh, die zunächst eine Nutzung für NS-Jugendorganisationen anvisierte, dann jedoch Kindergärtnerinnen dort ausbilden liess; geplante Umbauten und Erweiterungen bleiben angesichts kriegswirtschaftlicher Beschränkungen unrealisiert. Im Krieg übernahm die Wehrmacht das Haus, nach 1945 diente es als Wohnhaus.

Minuziös schildert Strauch auch die Nutzung des Anwesens nach 1945. Obwohl - zunächst seitens der sowjetischen Besatzungsmacht, dann auch durch Institutionen der DDR - Überlegungen angestellt wurden, die Familie zu entschädigen oder eine Rückübertragung in die Wege zu leiten, profitierte man weiterhin vom Unrecht des Jahres 1935: Die Akademie der Wissenschaften nutzte von 1979 bis 1991 das Gebäude. 1994 gelangte es wieder in den Besitz der Gemeinde, und seitdem war es im Rahmen von Führungen zugänglich. Dieser Zustand galt als interimistisch; 1996 entschied das Amtsgericht Potsdam, Haus und Grundstück den rechtmässigen Erben zurückzugeben, zu denen insgesamt zwölf Personen und Institutionen zählen, darunter eine Augenklinik in Princeton, die Hebrew University in Jerusalem und die Jewish Claims Conference. Der Streit innerhalb dieser heterogenen Erbengemeinschaft zum einen, die Weigerung der Gemeinde Caputh zum anderen, angesichts der «geregelten» Eigentumsfrage in den Erhalt des Hauses zu investieren, führten in den vergangenen Jahren - wie auch bei dem ungenutzten Direktor-Wohnhaus in Niesky (NZZ 13. 7. 99) zu zunehmender Verwahrlosung. Die dringend nötige Substanzerhaltung bleibt aus. Seit diesem Frühjahr ist das Einstein-Haus in Caputh wegen Baufälligkeit für den Besucherverkehr gesperrt.


[Dietmar Stauch: Einstein in Caputh - Die Geschichte eines Sommerhauses. Philo-Verlag, Berlin 2001. 154 S., Fr. 39.80.]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2001.10.08

05. Oktober 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Vom Minimalismus zum formalen Reichtum

Ein spektakulärer Neubau von Toyo Ito in Sendai

Ein spektakulärer Neubau von Toyo Ito in Sendai

Die eher gesichtslose japanische Stadt Sendai hat mit Toyo Itos Mediathek ein kulturelles und architektonisches Wahrzeichen erhalten. Ito gelang es nicht nur, eine überzeugende Lösung für die Bauaufgabe Mediathek zu finden, sondern überdies ein Zeichen im Rahmen des architekturtheoretischen Diskurses der Gegenwart zu setzen.

Die Stadt Sendai, 350 Kilometer nordöstlich von Tokio gelegen, ist mit dem Shinkansen von der Hauptstadt aus in knapp zwei Stunden zu erreichen. Der Besucher Japans dürfte die Millionenstadt bisher jedoch eher als Durchgangshalt auf der Reise in den Norden erlebt haben. Das ist seit wenigen Monaten anders, denn Sendai erregt durch ein Gebäude Aufmerksamkeit, das zu den massstabsetzenden der letzten Jahre in Japan, wenn nicht gar weltweit zu zählen ist: die Mediathek von Toyo Ito. Dem 1941 geborenen Ito, der seit seinem Beton-Wohnhaus in Form eines U (1976) zu den architektonischen Vordenkern des Inselstaats zählt, gelang die beispielhafte Formulierung einer vergleichsweise neuen Bauaufgabe und darüber hinaus ein Werk, das - ohne angestrengt zu wirken - in programmatischer Weise auf den zeitgenössischen architekturtheoretischen Diskurs reagiert, indem es eine Synthese aus Minimalismus und formalem Reichtum darstellt.


Ingenieur und Künstler

Die Mediathek wirkt zunächst wie ein minimalistischer Kubus: Das Gebäude von 50×50 Metern Seitenlänge ist dreiseitig mit Glas verkleidet und wird durch betonierte Geschossplatten in sieben Stockwerke unterschiedlicher Höhe gegliedert - die Bereiche der Kinderbücherei, der Bibliothek, des Ausstellungszentrums und der eigentlichen Mediathek sind etagenweise übereinander gestapelt. Getragen wird das Gebäude nicht wie üblich von einem Stahlbetonskelett, sondern von insgesamt 13 gitterförmigen Röhren unterschiedlichen Durchschnitts, die alle Ebenen durchstossen und Liftschächte oder Versorgungsleitungen aufnehmen - oder auch nur Licht vom Dach aus in die unteren Ebenen vordringen lassen. Die von dem Ingenieur Mutsuro Sasaki berechneten Gittertürme verändern ihre Form von Stockwerk zu Stockwerk und lassen sich als ein expressives Moment verstehen, das zu dem Minimalismus des Volumens in Kontrast tritt. Historisch sind die Röhrenstrukturen auf die berühmten Gittertürme des Russen Wladimir Tschuchow zurückführen, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und bei minimalem Stahlverbrauch eine grosse Tragkraft besassen. Doch während Tschuchow die Einzelteile standardisierte, beruht Itos Tragwerk auf Deformation und Verzerrung. Ohne den Einsatz des Computers wäre das Stahlgerüst in Sendai weder zu berechnen noch zu realisieren gewesen; ging die Tendenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts Richtung Normierung und Vereinheitlichung, so erlauben die heutigen Entwurfs- und Fertigungsverfahren eine neue Freiheit in der formalen Gestaltung. Folgt auf die Epoche des Ingenieurs jene des Künstlers?


Kultureller Stoffwechsel

Die Mediathek befindet sich im Nordwesten der Innenstadt von Sendai, unmittelbar an einer breiten Allee. Ein Vorplatz, wie man ihn in Europa vor einem öffentlichen und zugleich identitätsstiftenden Gebäude erwartete, existiert hier nicht, und so wächst dem Erdgeschoss zugleich der Charakter eines Forums zu. Das überhohe Geschoss dient verschiedenen Funktionen; es ist Foyer und Ausgangspunkt für die vertikale Erschliessung, wird aber auch als Café und Informationszentrum genutzt. Durch verschiebbare Wände kann im Zentrum überdies bei Bedarf ein Vortrags- oder Veranstaltungssaal entstehen. Gegliedert wird die weite Fläche des Raums, dessen Glasfront sich zur Strasse hin öffnen lässt, durch die Gitterstrukturen der «Tubes», die wie künstliche Bäume wirken. Immer wieder hat Ito während des Entwurfsprozesses von Analogien zur Natur gesprochen; zuweilen bezog er sich angesichts der Röhren auf Algen, die sich in einem Aquarium bewegen. Folgt man einem derartigen Gedanken, werden die «Tubes» zu Stämmen und Stengeln, zu vertikalen Leitungssystemen des kulturellen Stoffwechsels. Der Besucher bewegt sich in transparenten Liftschächten durch die einzelnen Stockwerke, in denen Medien verschiedenster Art zur Verfügung stehen. Die Bibliothek hat sich in einen Information Store verwandelt. Dabei gibt es durchaus auch kontemplative Räume, die Stille beim Lesen und bei der Arbeit garantieren; beispielsweise die ruhigen Lesezonen im Mezzaningeschoss der Bibliotheksebene.

Zwischen den Stahlgitterstrukturen entstehen in jedem der Geschosse, in denen hinter den Installationen der Rohbaucharakter erkennbar bleibt, weite Freiflächen; Ito zog eine Reihe von Designern hinzu, welche den Ebenen jeweils ein spezifisches Gepräge gaben. Im Erdgeschoss sowie in zwei oberen Ebenen sind es poppig-bunte Sitzobjekte von Karim Rashid, die einen Kontrast zu der diskreten Farbigkeit des Inneren setzen. Das Mediengeschoss unterhalb der von einem Stahlgitterraster bekrönten Dachebene versah Ross Lovegrove mit Einrichtungselementen, deren biomorphe Gestalt fast schon kitschig wirkt. Am überzeugendsten geriet die Ausstattung der Kinderbibliothek im ersten Obergeschoss durch Kazuyo Sejima. Die ehemalige Schülerin von Ito entwarf formal reduzierte, amöbenhaft wirkende Sitzgelegenheiten und teilte den Raum mit Hilfe von Stoffen (die von Reiko Sudo entworfen wurden) in distinkte Zonen.

Vielfalt prägt auch die Fassaden der zunächst wie eine gewaltige transparente Box wirkenden Mediathek: Während sich hinter vertikalen Metallbändern der geschlossenen Westfassade die Fluchttreppen verbergen und die Hauptfront zur Strasse durch ein als «all-over-pattern» verwendetes Siebdruckmuster geprägt wird, zeigt Ito an der Ostfassade im geschossweisen Wechsel Glas in unterschiedlicher Materialität und Transparenz - vom Klarglas über Lichtschlitze bis hin zur Profilit-Verglasung.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.10.05



verknüpfte Bauwerke
Mediathek

05. Oktober 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Tor in den Lichtspielkosmos

Christian de Portzamparcs Kinofassade in Amsterdam

Christian de Portzamparcs Kinofassade in Amsterdam

Multiplexkinos lassen sich nur schwer in innerstädtische Kontexte integrieren. Doch Christian de Portzamparc beweist mit einem Kino innerhalb des Amsterdamer Grachtengürtels, dass die Fassade mit der Nachbarbebauung zu harmonieren vermag.

Auch wenn mancherorts schon jetzt ein Überangebot besteht: Der Boom der Multiplexkinos hält an. Bevorzugt werden von den Betreibern verkehrsgünstige Standorte mit vergleichsweise geringen Geländekosten, beispielsweise Gewerbegebiete in der Nähe von Autobahnkreuzen. Da die Neustrukturierung und Konzentration der Kinolandschaft sich schwerlich verhindern lässt, versuchen die Verantwortlichen in den Stadtverwaltungen vielerorts, die Betreiber der Multiplexanlagen an innerstädtische Standorte zu locken oder zu zwingen, um einer weiteren Verödung der Stadtzentren zu begegnen. So gestattete die Stadt Amsterdam dem Film- und Kinokonzern Pathé die Errichtung zweier Kinokomplexe lediglich unter der Bedingung, dass einer in der historischen Innenstadt errichtet werde.

Daraufhin liess Pathé Projekte erarbeiten: Frits van Dongen von de Architecten Cie. entwarf einen plastisch geformten Solitär, der an Koen van Velsens Pathé-Kino auf dem Rotterdamer Schouwburgplein erinnert, das Büro G. J. Van Delft bearbeitete das Projekt «De Munt» für einen Standort im Blockinnenraum direkt neben dem (heute ebenfalls von Pathé betriebenen) Tuschinski-Kinotheater. Der exotische Filmpalast mit seinen beiden Türmen, 1921 an der Reguliersbreestraat im Herzen der Stadt eingeweiht (NZZ Nr. 213, 1996), zeigt im Inneren eine phantastische Traumwelt, eine Legierung aus Jugendstil, Amsterdamer Schule und Art déco. Einen anderen Meilenstein der Kinoarchitektur stellt das schräg gegenüber vom Tuschinski gelegene, längst aufgelöste und heute ungenutzte Kino «Cineac» dar, bei dem der Architekt Johannes Duiker sich von der Formensprache des russischen Konstruktivismus inspirieren liess.

Insgesamt 13 Säle mit knapp 2500 Plätzen sind nach dem Willen von Pathé versteckt hinter der historischen Bebauung entstanden. Der Einspruch eines an der Reguliersbreestraat ansässigen Geschäftes führte dazu, dass der Eingang vom Tuschinski weg auf die Westseite des Komplexes, an die weniger begangene Vijzelstraat, verlegt wurde. Der phantasielose und ungeschlachte Fassadenaufriss, mit dem das Kino sich im Stadtbild präsentiert hätte, führte schliesslich zur Intervention der «Welstandscommissie», welcher es obliegt, die architektonische Qualität und Stadtbildverträglichkeit von Neubauten zu begutachten. Die Bewilligung für Ben van Berkels Komplex «De Kolk» im Zentrum von Amsterdam beweist, dass «Welstand» keineswegs als Verhinderer des Neuen auftritt; und auch bei der Kinofassade führte die Intervention zu einer architektonisch bemerkenswerten Lösung.

Christian de Portzamparc, der von Pathé mit dem Neuentwurf beauftragt wurde, ist es gelungen, die nicht unerhebliche Baumasse in das kleinteilige Strassenbild einzufügen, ohne sich an die Anschlussbebauung anzubiedern. Durch abgeschrägte Wandflächen erzielte er eine Reliefstruktur, die durch eine scheinbare Trennung in Dach und Wand plastischer wirkt, als sie in Wahrheit ist. Mit Hilfe silbrig glasierte Steine und Leuchtvierecke in den beigefarbenen Ziegelflächen wird der einwärts fluchtende Charakter verstärkt. Vertikale Einschnitte gliedern die Wände, lassen turmartige Körper entstehen und reagieren somit auf die Proportionen der Nachbarhäuser. Portzamparc, der seine Anleihen bei der Plastizität des späten Corbusier nie ganz zu verleugnen vermag, hat ein Entrée entworfen, das das Motiv des Eingangs kulissenhaft-theatralisch inszeniert, ohne ins Marktschreierische zu verfallen und die Nachbarschaft zu beherrschen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.10.05



verknüpfte Bauwerke
Kinofassade in Amsterdam

18. September 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Blade Runner in the Tropics

4. Architektur-Symposium Pontresina

4. Architektur-Symposium Pontresina

Im vierten Jahr seines Bestehens scheint sich das Architektur-Symposium Pontresina (ASP) mit ungefähr 250 Teilnehmern und Besuchern stabilisiert zu haben. Die Idee der Veranstalter, durch hochrangig besetzte Gesprächsrunden Architekturinteressierte ins Engadin zu locken und somit dem Gastgewerbe willkommene Einnahmen ausserhalb der Hochsaison zu verschaffen, ist erfolgreich. Dabei besitzt die - für fast alle Teilnehmer - weite Anreise Vor- und Nachteile: Einerseits ergeben sich dank der abgeschiedenen Lage eher Gelegenheiten zu informellen Gesprächen als im metropolitanen Umfeld, andererseits sind gerade prominentere Referenten vielfach nicht bereit, länger als nötig am Symposium teilzunehmen.

Die Attentate von New York und Washington warfen ihre Schatten auch auf diese Veranstaltung; sie bildeten nicht nur den latenten Bezugspunkt für viele der Vorträge und Gespräche, sondern erzwangen auch Veränderungen des Programms, da Thom Mayne vom kalifornischen Büro Morphosis und Hani Rashid von Asymptote aus New York die Reise nach Europa verwehrt war. Mayne konnte immerhin per Telefonkonferenz zu einem Statement hinzugeschaltet werden.

Nachdem am ersten Tag die städtebauliche Entwicklung Londons thematisiert worden war, stand der zweite Tag unter dem Titel «Elendsgürtel der Städte». Ins Zentrum rückte der Vortrag von Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner, die mit ihrem «Caracas Urban Think Tank» exemplarisch und engagiert demonstrierten, wie Architekten in Schwellen- und Entwicklungsländern agieren können. Voraussetzung dafür ist ein verändertes Selbstverständnis des Architekten: In den Slums der als «Blade Runner in the Tropics» bezeichneten venezolanischen Hauptstadt geht es nicht um selbstreferenzielle Ästhetik, sondern um Strategien und Interventionen. Der Architekt wird zum Kommunikator, der die Potenziale in einem chaotischen, vom ökonomischen und politischen Diskurs bestimmten Raum analysieren und interpretieren muss. Das erfordert unweigerlich, die gegebene urbane Situation zunächst einmal zu akzeptieren, in ihr eher Chancen als Defizite zu sehen. Der Schweizer Hans Boesch, der einige Passagen aus seinen Publikationen ablas, wurde mit seiner unreflektierten wertkonservativen Beschwörung des organischen Städtebaus vor diesem Hintergrund unfreiwillig zum Fossil. Wer sich über Blümlein am Schulweg den Kopf zerbricht und durch Autos in der sinnlichen Wahrnehmung der Umwelt gestört sieht, hat sich meilenweit von der aktuellen urbanistischen Diskussion der Gegenwart entfernt.

In welcher Weise sich das Verständnis der Stadt verändert hat, demonstrierten am dritten Tag der niederländische Architekturkritiker Bart Lootsma und der Architekt Winy Maas vom Rotterdamer Büro MVRDV - «Movement and Mobility» hiess das Thema. In packender Weise präsentierte Maas seine aus detaillierter Analyse hervorgegangenen Projekte, die Pragmatismus und Vision kombinieren, darunter die Schweinehochhäuser der «Pig City» (NZZ 24. 4. 01), einen «Info City» genannten Bibliotheksturm für s'Hertogenbosch und den Entwurf für das «Eyebeam Institute» in Manhattan, mit dem sich MVRDV derzeit in der Finalrunde des Wettbewerbs befindet. - Wenn die Veranstalter bei der Auswahl der Referenten künftig etwas sorgfältiger verfahren und sich auf tatsächliche Problemlagen konzentrieren, wie sie von Lootsma, Maas oder dem «Caracas Urban Think Tank» angesprochen wurden, könnte das ASP zu einem wichtigen Forum für den architektonischen und urbanistischen Diskurs der Gegenwart werden.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2001.09.18

15. September 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Illusion Sicherheit

Die verheerenden Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon werfen Fragen auf. Es sind nicht nur Fragen nach den Tätern und ihren...

Die verheerenden Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon werfen Fragen auf. Es sind nicht nur Fragen nach den Tätern und ihren...

Die verheerenden Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon werfen Fragen auf. Es sind nicht nur Fragen nach den Tätern und ihren Hintermännern, sondern auch Fragen nach der Sicherheit in amerikanischen Städten. Diese Fragen müssen sich umso deutlicher in einer Gesellschaft stellen, in welcher der Wunsch nach Sicherheit mitunter obsessive Züge trägt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die verglichen mit der Kriminalitätsstatistik hohe Anzahl von Inhaftierten, aber auch an die Grundform der «gated communities»: insulares Wohnen einer weissen Mittelschicht, gesichert durch Zäune oder Videoüberwachung, inmitten einer als bedrohlich empfundenen Welt. Diese Tendenz zur freiwilligen Ausgrenzung, die eine Parallele auch in der kaum zu bremsenden Suburbanisierung findet, hat zur Verödung der amerikanischen Städte beigetragen und eine Entwicklung hin zur tendenziellen Spaltung der Gesellschaft gefördert.

Überwacht mit Kameras werden allerdings nicht nur die Eingänge in die Wohnbezirke der Bessergestellten, sondern auch städtische Problembezirke, Shopping-Malls sowie öffentliche Gebäude oder Plätze, etwa der Times Square in New York. Die Effizienz von derlei Überwachungssystemen ist zu bezweifeln. Sie verhindern ein Verbrechen kaum, sondern lassen es an anderer Stelle geschehen. Eine flächendeckende Überwachung wäre weder wünschenswert noch möglich; wer sollte in der Lage sein, die Unmasse der anfallenden Daten auszuwerten?

Die Crux besteht überdies darin, dass die Gefahr häufig nicht von dort ausgeht, woher man sie erwartet, folglich die Sicherungssysteme schlicht unterläuft. Das hat der 11. September mit erschreckender Deutlichkeit bewiesen. In einer Zeit, da George W. Bush mit höchstem Aufwand an Hightech einen Schutzschirm zur Abwehr von potenziellen Raketenangriffen über den Vereinigten Staaten aufspannen will, kombinierten die Attentäter auf perfideste Weise mit Flugzeugentführung und Sprengstoffanschlag «konventionelle» terroristische Mittel und bewirkten eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmasses. Gegen eine zunächst eigentlich unverdächtige, tief fliegende und von ihrem Kurs abgekommene Verkehrsmaschine lässt sich selbst das Pentagon, eines der bestgeschützten Gebäude der Welt, nicht wirkungsvoll sichern.

Vor Anschlägen wie diesem gibt es keinen wirkungsvollen Schutz. Insofern ist auch die Debatte über die Sicherheit von Hochhäusern müssig. Prinzipiell unterliegen Wolkenkratzer strengsten Sicherheitsauflagen: Das Tragwerk ist brandsicher ummantelt, es gibt Fluchttreppenhäuser, Brandschutzabschnitte und Sprinkleranlagen, und überdies zwingt das Überschreiten einer bestimmten Bauhöhe zu einer hauseigenen Feuerwehr. Bis zu einem gewissen Grade sind diese Schutzmechanismen effektiv: Als im Juli 1945 ein zwölf Tonnen schwerer B-25-Bomber mit dem Empire State Building kollidierte, hinterliess er lediglich ein Loch in der Fassade, und auch die Sprengkraft des Attentats von 1993 vermochte das World Trade Center nicht in seinen Grundfesten zu erschüttern. Wenn jedoch eine Brandlast von 20 oder 30 Tonnen Kerosin in ein Hochhaus eingebracht wird, nützen Brandschutzabschnitte und Fluchttreppenhäuser kaum noch.

So unangenehm, ja bestürzend das Eingeständnis auch sein mag: Wer die Werte der Freiheit und Freizügigkeit, also der Demokratie, nicht aufgeben möchte, kann sich vor potenziellen Terroranschlägen und Katastrophenszenarien nicht wirkungsvoll schützen. Man baut in Los Angeles und in Japan erdbebensicher, doch wenn - was Spezialisten vermuten - irgendwann ein Erdbeben bislang unbekannten Ausmasses sich ereignet, nützen auch diese Massnahmen nichts mehr. Dieser «worst case» kann morgen geschehen, aber auch erst in hundert oder tausend Jahren. Dennoch bleiben die Menschen in Los Angeles oder in Japan, so, wie man beispielsweise in Israel gelernt hat, trotz ständigen Anschlägen und Attentaten sein Leben zu führen.

Die surreale Alternative lautete angesichts des internationalen Terrorismus, Städte in Bunkerlandschaften oder Hochsicherheitstrakte zu verwandeln. Doch auch dies wäre ein Trugschluss, weil es absolute Sicherheit nicht geben kann. Offensichtlich war es nicht das oberste Ziel der Attentäter, möglichst viele Menschen zu töten, sondern symbolische Ziele zu eliminieren, bauliche Icons, die wie keine anderen für das amerikanische Selbstverständnis und die Ordnung der westlichen Welt stehen. Ex negativo beweisen die furchtbaren Bilder vom 11. September, welche identitätsstiftende Kraft Architektur erzeugen kann.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2001.09.15

16. August 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Protagonist und Renegat

Das Werk des Architekten J. J. P. Oud in Rotterdam

Das Werk des Architekten J. J. P. Oud in Rotterdam

Die Oud-Retrospektive zählt zu den Grossereignissen des Rotterdamer Kulturhauptstadt-Sommers. Um den Charakter einer traditionellen Werkschau zu vermeiden, baten die Verantwortlichen den Doyen der US-Architektur, Philip Johnson, seinen Blick auf Oud zu präsentieren. Johnsons Installation trägt leider zur Erhellung wenig bei.

Im Jahre 1932 avancierte Jacobus Johannes Pieter Oud (1890 bis 1963) zu einem der führenden Architekten der Moderne. Die legendäre, von Philip Johnson und Henry-Russell Hitchcock kuratierte Ausstellung «Modern Architecture» des Museum of Modern Art in New York positionierte den Niederländer, der zwischen 1918 und 1933 als Stadtarchitekt im Wohnungsbauamt Rotterdam angestellt war, innerhalb eines illustren Spektrums zeitgenössischer Architekten wie Le Corbusier, Mies van der Rohe oder Walter Gropius. Johnson war schon 1928 durch die Publikation eines der Hauptwerke, der Wohnzeilen in Hoek van Holland (1924-27), auf Oud aufmerksam geworden. Zwei Jahre später, anlässlich einer gemeinsam mit Alfred Hitchcock zur Vorbereitung der MoMA-Ausstellung unternommenen Europareise, kam es zu einem Zusammentreffen des Amerikaners mit seinem 16 Jahre älteren Architekten. Die Freundschaft, die beide verband, fand ihren Niederschlag nicht zuletzt in dem (nicht realisierten) Projekt eines exklusiven Wohnhauses für Johnsons Mutter in Pinehurst, North Carolina, dessen Modell seinerzeit im MoMA ausgestellt war.


Verhinderte Rezeption

Es sollte indes nicht lange dauern, bis Oud sich mit seinen zeitweiligen Gesinnungsgenossen überwarf. Anlass dafür war das 1937-42 errichtete, nach Kriegszerstörungen 1946-48 restaurierte Shell-Gebäude in Den Haag. Die Symmetrie des Baukörpers, die textil anmutenden Dekorationen und der monumentale Ausdruck wurden als Regress in eine Zeit vor dem «Neuen Bauen» verstanden, nachgerade als Verrat an der gemeinsamen Sache. Es sei ein Schritt zurück zur niederländischen Tradition und nicht einer vorwärts in Richtung «internationaler Stil», äusserte Johnson: «Ich weiss nicht, was ich sagen soll.» Aus dem Star des «modern movement» war wieder ein Phänomen geworden, das allein regionales Interesse beanspruchen konnte. Auch wenn Oud mit seinen späten Werken wie dem postum 1969 eröffneten Kongresszentrum in Den Haag sich der architektonischen Moderne wieder näherte, blieb ihm die internationale Aufmerksamkeit fortan verwehrt. Nicht zuletzt diese Tatsache erklärt, dass erst jetzt ein umfassender Werkkatalog vorgelegt werden konnte, von Ed Taverne, Cor Wagenaar und Martien de Vletter in mehrjähriger Arbeit erstellt. Die Publikation begleitet eine Ausstellung des Nederlands Architectuurinstituut (NAI) in Rotterdam, mit der erstmals sämtliche Säle des Hauses bespielt werden - Jo Coenens Haupthalle ebenso wie die Galerie-Ebene.

Folgt die Gliederung des Katalogs der Chronologie des Werks, so sucht die Retrospektive die wissenschaftliche Dokumentation um eine subjektive Perspektive zu ergänzen. Daher lud man den mittlerweile 95-jährigen Johnson ein, seinem Blick auf Oud Gestalt zu verleihen. «J. J. P. Oud - Philip Johnson, ein Dialog» lautet der Titel der Schau. An der Stirnseite der Haupthalle hängen zwei Porträts: das des verschmitzt-ironisch blickenden alten Johnson und das des verunsichert wirkenden jungen Oud. Im Übrigen wird der Raum von einer sich in die Höhe emporschwingenden Architekturplastik beherrscht, die Johnson eigens für die Ausstellung im NAI entworfen hat und als «welcoming arms for Oud» und sogar als «essence of the design today» versteht. Johnson widerstand zwar der Versuchung, eine Form zu entwerfen, die aussieht, als stamme sie von Oud - nur entfernt mag man sich an die runden Stirnen der Siedlungen Kiefhoek und Hoek van Holland erinnert fühlen -, doch letztlich bleiben die Spiralfragmente beliebig, scheinen aus der Notwendigkeit zu resultieren, Jo Coenens überhohe Museumshalle irgendwie zu gliedern. Innerhalb der Installation stehen Monitore, auf denen ein Interview mit Johnson zu sehen ist, der Oud zu einem der wichtigsten Architekten des 20. Jahrhunderts stilisiert («the best thing is to copy Oud, not me»). Dass Johnson als architektonisches Chamäleon sich selbst Jahrzehnte später selbstverständlich die formalen Freiheiten herausnahm, auf Grund deren der Niederländer zum Renegaten gestempelt worden war, bleibt unerwähnt.

Letztlich trägt Johnsons Perspektive wenig zur Erhellung bei. Im Gegenteil, denn zunächst bleibt die Anordnung der Exponate ein Rätsel. Gegenüber der Spiralplastik stehen eine Reihe überdimensionaler Tische, die den «klassischen» Oud vorstellen, also den Protagonisten der Moderne. Zu sehen sind Zeichnungen, Entwürfe und Fotos der vier berühmtesten Siedlungen: die Wohnzeilen in Stuttgart-Weissenhof (1927) und Hoek van Holland sowie die Rotterdamer Ensembles Oud-Mathenesse (1922/23) und Kiefhoek (1925 bis 1929). Die mit ihren schlichten Ziegelbauten noch an Berlage erinnernde Siedlung Spangen (1918-1922), bei deren Planung Oud sich mit seinem Mitarbeiter Theo van Doesburg zerstritt und sich von der Stijl-Bewegung lossagte, stand am Beginn der Arbeit für das Wohnungsbauamt, die - nicht realisierte - Planung von Blijdorp (1931/32) an ihrem Ende. Kolorierte Vogelperspektiven, in denen wirkungsvoll die Tragfläche eines Flugzeugs angeschnitten wird, zeugen von der utopischen Vision des modernen Bauens. Neben dem kommunalen Siedlungsbau beschäftigte sich Oud mit prominenten Einzelbauten, darunter dem Wohnhaus für Johnsons Mutter oder einem unrealisierten Hotel für Brünn (1926).


Kontinuität oder Bruch?

Auf der Galerie-Etage sind all jene Bauten und Projekte versammelt, die das Bild Ouds als eines Vertreters des internationalen Stils relativieren. Zunächst wird der Besucher mit dem Spätwerk konfrontiert, das zeigt, wie der Niederländer zu einer modernen Formensprache zurückfand - beispielsweise mit dem aus einer Reihe von Pavillons bestehenden Kinderdorf bei Arnhem (1952-60) oder mit seinem spätesten Bau, dem Niederländischen Kongresszentrum in Den Haag. Es folgt der Oud der Stijl-Jahre zwischen 1917 und 1920, als der Architekt die Zusammenarbeit mit den Künstlern der Avantgarde suchte, um sich aus der holländischen Bautradition zu befreien. Während das unter Beteiligung von van Doesburg entworfene Ferienhotel De Vonk in Noordwijkerhout von aussen noch vergleichsweise konventionell wirkt, kann der Entwurf für eine Fabrik im Heimatort Purmerend (1919/20) mit seiner abstrakten Komposition aus horizontalen und vertikalen Wandscheiben als das Meisterwerk einer neuen Formauffassung gelten. Mehrfach in zeitgenössischen Periodika publiziert, inspirierte die suggestive Perspektive verschiedene deutsche Architekten zu Beginn der zwanziger Jahre. Daran anschliessend präsentieren die Organisatoren Ouds zwischen einer vernakulären Tradition und dem beginnenden Rationalismus Berlages oszillierendes Frühwerk, um abschliessend den wohl umstrittensten Bau zur Diskussion zu stellen: das Shell-Haus in Den Haag.

Die Rotterdamer Ausstellung besticht durch exquisites Material, das zumeist aus dem Archiv des NAI, zum Teil aber auch vom Centre Canadien de l'Architecture in Montreal und vom Getty Center stammt. Gleichwohl macht man es denjenigen nicht leicht, die in Rotterdam einen ersten Zugang zu einem der prägenden niederländischen Architekten des 20. Jahrhunderts suchen. Die Auflösung der Chronologie lässt Brüche im Werk deutlicher hervortreten als nötig, während die Tatsache, dass Verbindungslinien durchaus bestehen, so etwa das Interesse an sozial engagierter Architektur, vernachlässigt wird.


[Bis 9. September. Begleitpublikation: J. J. P. Oud 1890 bis 1963. Poetic Functionalist. The Complete Works (Englisch oder Niederländisch). Hrsg. Ed Taverne, Cor Wagenaar, Martien de Vletter. NAI Publishers, Rotterdam 2001. 575 S., hfl. 175.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2001.08.16

03. August 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Privat und öffentlich

Der Architekt Fernando Romero

Der Architekt Fernando Romero

Der Star der diesjährigen Architekturtage in Luzern war der auf Wunsch von Herzog & de Meuron eingeladene mexikanische Architekt Fernando Romero. Im Vorjahr stellte er auf der Architekturbiennale in Venedig aus. Nun gilt eine bis zum 12. August dauernde Einzelausstellung der Berliner Architekturgalerie Aedes West dem Schaffen seines Büros LCM (Laboratorio de la Ciudad de México). Der 1971 in der Stadt Mexiko geborene Romero arbeitete zunächst bei Enric Miralles und Jean Nouvel, bevor er in Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture in Rotterdam eintrat, wo er als verantwortlicher Projektarchitekt den siegreichen Entwurf für die Konzerthalle in Porto vorlegte. Das diamantartige Gebilde, an dem zurzeit gebaut wird, erlebt in dem für einen Kunstsammler in Guadalajara entworfenen Wohnhaus seine intelligente Metamorphose: Das Innere des Wohnkristalls wird auf der Ebene des Obergeschosses durch eine schwebende, zu den Fensteröffnungen hin ausgreifende Struktur gegliedert, welche die Privaträume birgt. Die Frage nach dem labilen, ständig neu zu definierenden Gleichgewicht von privat und öffentlich verbindet die in Berlin ausgestellten Projekte. Beim «M House» sind die Raumbereiche in zwei gestaffelten Ebenen angeordnet, deren geneigte Dächer die dogmatische Orthogonalität der Moderne subtil konterkarieren; «Anexo D» ist der schneckenartige, für die Kinder genutzte Anbau an ein Haus aus den fünfziger Jahren.

Auch wenn Romero seine Herkunft weder verleugnen kann noch will, ist die zeitgenössische internationale Architektur für diesen jungen «global player» eine wichtigere Inspiration. Fixpunkte für ihn sind die topologischen Diagramme von Ben van Berkel, die programmatischen Schichtungen von MVRDV, die «culture of congestion» von Koolhaas. Die Casa Ixtapa in Zihuatanejo mit ihrem grottenähnlichen Raum im Erdgeschoss stellt neben dem Haus Suro das wichtigste Projekt von Romero dar. Die eiförmige Grundrissfigur des organischen Gebildes mag ein wenig an Future Systems erinnern, und doch gelingt es dem Architekten, seinem Werk einen spezifischen Ausdruck zu verleihen, der zur modischen «blob»-Attitüde Distanz hält.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.08.03

06. Juli 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Akzent an der Wasserfront

Ein neues Kunstmuseum für Boston

Ein neues Kunstmuseum für Boston

Neuste Erhebungen haben ergeben, dass in den USA nicht weniger als 25 Um- oder Neubauten grosser Kunstmuseen in Planung oder im Bau sind. Fast alle Projekte wurden von international bekannten Büros entworfen: Daniel Libeskind plant für Denver, Tadao Ando für Fort Worth, Zaha Hadid für Cincinnati, Renzo Piano für Chicago, Santiago Calatrava für Milwaukee, Norman Foster für Boston, Herzog & de Meuron für San Francisco und Minneapolis. Das jüngste Museumsprojekt entsteht nun nach dem Entwurf der experimentell ausgerichteten Architekten Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio in Boston. Im Bereich des «Fan Pier Development» im alten Hafen von Boston sollen die Architekten aus New York einen Museumsneubau mit rund 6000 Quadratmetern Nutzfläche für das Institute of Contemporary Art (ICA) errichten. In der Endrundekonnten sich Diller und Scofidio gegen die Konkurrenz von Office dA (Boston), Studio Granda (Reykjavik) und Peter Zumthor durchsetzen.

Das Kunstmuseum, zu dessen Raumprogramm auch ein Studiotheater sowie ein Medienzentrum gehören, entsteht im Rahmen einer als Public-Private-Partnership unter massgeblicher Beteiligung der aus Chicago stammenden Pritzker-Familie organisierten Restrukturierung der Hafenfront von Boston. Markantester Neubau ist das nach Entwürfen von Rafael Viñoly entstehende Boston Convention and Exhibition Center, das grösste Konferenzzentrum der Vereinigten Staaten; eine «Big Dig» genannte unterirdische Führung des Highway-Systems soll die Uferzone attraktiver machen. Das Fan-Pier-Projekt umfasst neben dem ICA auch Wohnbauten, Bürokomplexe sowie zwei Hotels. Die Pritzker-Familie, Eigentümerin der Hyatt-Kette und Stifterin des als «Architekturnobelpreis» gehandelten Pritzker- Preises, stellte das Land, auf dem das ICA bis 2004 realisiert werden soll, der Stadt für eine kulturelle Nutzung unentgeltlich zur Verfügung.

Diller und Scofidio, die ihr Büro 1979 gründeten und in Princeton sowie an der Cooper Union lehren, sind durch eine Reihe innovativer Projekte im Grenzbereich von Architektur, Design und neuen Medien bekannt geworden. In New York richteten sie unlängst die Brasserie in Mies van der Rohes Seagram Building ein (NZZ 23. 2. 01); mit dem wolkenartigen Blur Building für Yverdon sind sie überdies an der Planung für die Arteplages der Schweizer «Expo 02» beteiligt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.07.06

06. Juli 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Blinzeln in die Zukunft

Digitale Architektur im DAM in Frankfurt

Digitale Architektur im DAM in Frankfurt

Die Veränderungen, welche das computerunterstützte Entwerfen hinsichtlich der Profession des Architekten bewirkt, sind im deutschen Sprachraum bisher erst wenig beachtet worden. Eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt widmet sich nun den «Blobs» und dokumentiert deren Weg in die Realisierung.

«Blob - Schrecken ohne Namen» hiess ein 1958 produzierter Science-Fiction-Horrorfilm, als dessen Hauptakteur eine aus dem Weltraum stammende, Menschen verschlingende, amorphe Masse fungierte. Nicht ganz ohne Grund mögen sich manche Verfechter einer traditionellen Architektur an den Streifen aus den Fifties erinnert fühlen, wenn sie sich mit den computergenerierten Entwürfen einiger junger Kollegen konfrontiert sehen. «Blob versus Box» wurde innerhalb des architektonischen Diskurses in den vergangenen Jahren zum polarisierenden Schlagwort:Gegenüber stehen sich die Vertreter eines reduktionistischen Essenzialismus und die Anwälte eines von bisherigen produktionstechnischen Restriktionen befreiten Biomorphismus. In dieser «querelle des anciens et des modernes» wird übersehen, dass die geometrische Rigidität, geistlos repetiert, sich in einer petrifizierten Simplizität erschöpft, während die Fixierung auf von topologischer Geometrie bestimmte Gebilde zu einem neuen Manierismus führen kann.


Veränderungen eines Berufsbilds

Mit der Ausstellung «Digital real, Blobmeister: erste gebaute Projekte» positioniert sich das Deutsche Architektur-Museum (DAM) in Frankfurt nun in einer Debatte, die an Deutschland bisher fast spurlos vorübergegangen ist, obwohl sie fachinterne Belange in erheblichem Masse transzendiert. Denn die fundamentalen und unwiderruflichen Veränderungen, welchen die Profession des Architekten in der digitalen Ära binnen einer Dekade unterliegt, zeigen paradigmatisch die - durchaus ambivalenten - Potenziale neuer Technologien. Studenten vermögen hinsichtlich der Beherrschung der neuen Techniken ihre Lehrer an den Hochschulen zu überflügeln, und selbst wenn man dem modischen «Hype» des Neuen gegenüber skeptisch ist, steht fest, dass die Blase des Blob - um im Bilde zu bleiben - in absehbarer Zeit nicht platzen wird.

Das eigentlich Faszinierende, das zeigt die Frankfurter Schau, ist nicht die neue Formensprache, die häufig zwischen den organischen Plastiken Hermann Finsterlins, den städtebaulichen Utopien von Archigram und den Wohnlandschaften Verner Pantons oszilliert. Die Innovation besteht vielmehr in der Möglichkeit, der euklidischen Geometrie sich verweigernde Visionen nicht nur zu berechnen, sondern auch praktisch umzusetzen - und das mit vergleichbar geringem Kostenaufwand. War Erich Mendelsohn zu Beginn der zwanziger Jahre auf Grund von Schalungsproblemen daran gescheitert, seinen Einsteinturm in Beton auszuführen, so lässt sich der Baustoff inzwischen in jede beliebige Form bringen. Eine Inkunabel dieser Bauweise stellt FrankO. Gehrys Neuer Zollhof in Düsseldorf dar, dessen ondulierende, mit Zinkblech, weissem Putz und Backstein verkleidete Konstruktion aus Tausenden von unterschiedlichen Betonelementen besteht. Die computergesteuerte CNC-Fräse erlaubte es, die nötigen Gussformen vollautomatisch aus Styroporblöcken herzustellen. Der kalifornische Architekt verwendete dafür «Catia», ein CAD-Programm, das vor allem im Flugzeug- und Automobilbau Verwendung findet.

Peter Cachola Schmal, der mit «Blobmeister» als neuer Kurator des DAM seinen Einstand gibt, war gut beraten, nicht die virtuelle Formenopulenz einer jüngeren Architektengeneration in den Mittelpunkt zu stellen, sondern den Prozess, der mit dem Digitalen beginnt und im Realen endet. Nach all den suggestiven Renderings und Animationen, die heute Zeitschriften und trendige Publikationen füllen, geraten endlich auch einmal Umsetzung und Ergebnis ins Blickfeld. Präsentiert werden elf ausgewählte Bauten äusserst anschaulich mit Videofilmen und Computerperspektiven, aber auch mit traditionellen Mitteln wie Modellen und Fotos. Die konkaven, von Königs Architekten aus Köln entworfenen Podeste wirken wie Miniaturbühnen, auf denen sich der Projektablauf vor den Augen der Besucher abspielt. Auch Architekturausstellungen der digitalen Ära, das wurde hier beherzigt, müssen die Sinne ansprechen - andernfalls wäre der Besucher mit einer CD-ROM für den heimischen PC besser bedient.


Bedürfnisse und Wünsche

Ob die Auswahl der Projekte in jeder Hinsicht überzeugt, darüber wäre zu streiten; auffällig zumindest sind einige Lücken. Ben van Berkels UN Studio, das mit einem realisierten Projekt wie dem Möbius-Haus zweifellos zu den Protagonisten einer topologischen Moderne zählt, ist ebensowenig vertreten wie das unlängst durch spektakuläre Shop Designs hervorgetretene amerikanische Team Archi-Tectonics um die gebürtige Niederländerin Winka Dubbeldam. Man vermisst Diller & Scofidio, aber auch die vornehmlich in Japan und Grossbritannien tätigen Ushida/Findlay; Alejandro Zaera-Polo von Foreign Office Architects aus London wurde immerhin zu einem Vortrag über sein zurzeit in Ausführung befindliches Fährenterminal in Yokohama eingeladen.Gleichwohl gibt «Blobmeister» einen guten Einblick in ein Thema, das, von den USA ausgehend,weltweit zur Diskussion gestellt wird - nicht zuletzt in der 1999 gestarteten Ausstellungsreihe «ArchiLab» des FRAC Centre in Orléans -, im deutschen Sprachraum aber bisher kaum Resonanz gefunden hat.

Berechtigterweise ist das Spektrum der präsentierten Arbeiten heterogen: Gehry ist ebenso vertreten wie Zaha Hadid mit ihrer spektakulären «Mind Zone», dem architektonischen Höhepunkt des sonst eher enttäuschenden Millennium Dome in London; Erick van Egeraat mit seinem «Whale» auf einem Versicherungsbau in Budapest ebenso wie Kas Oosterhuis mit einem reptilienhaft anmutenden Müllterminal. Dazu treten der Japaner Makato Sei Watanabe mit einer aus Rohren bestehenden Plastik für eine Metrostation in Tokio, Asymptote mit ihrer virtuellen Architektur für die New York Stock Exchange und das Restaurant von Jakob & MacFarlane auf dem Dach des Centre Pompidou in Paris. Während die New Yorker Ost/Kuttner Apartments von Kolatan/MacDonald nicht zuletzt durch die Ausstellung «The Un-Private House» (MoMA, 1999) bekannt sind und etwas überbewertet erscheinen, kann die Frankfurter Schau mit einer Neuentdeckung aufwarten: einem Pavillon, den die ortsansässigen Architekten ABB und Bernhard Franken derzeit auf der Frankfurter Messe für den Autokonzern BMW realisieren.

Vor allem aber überzeugt die presbyterianische Kirche für koreanische Einwanderer im New Yorker Stadtteil Queens. Diese geniale Transformation einer Wäscherei stammt von Michael McInturf und Garofalo Architects aus Chicago und dem - an der ETH Zürich lehrenden - Greg Lynn aus Venice, Kalifornien. Dem Team ist es nicht nur gelungen, einen der wenigen bemerkenswerten zeitgenössischen Neubauten an der amerikanischen Ostküste zu errichten; ihre Zusammenarbeit kann auch als ein Muster gelten, wie Kooperationen vermittels digitalen Datentransfers in Zukunft zu bewerkstelligen sind.


[Bis 5. August. Katalog: Digital real, Blobmeister: erste gebaute Projekte. Hrsg. Peter Cachola Schmal. Birkhäuser-Verlag, Basel 2001. 272 S., Fr. 88.- (in der Ausstellung DM 68.-).]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.07.06

01. Juni 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Der Raum als Beziehungsgeflecht

Bernard Tschumis Architekturschule in Marne-la-Vallée

Bernard Tschumis Architekturschule in Marne-la-Vallée

Nicht die Verabsolutierung der Ästhetik, sondern die kommunikative Funktion des Gebäudes interessiert den in Paris und New York tätigen Schweizer Architekten Bernard Tschumi. In Marne-la-Vallée bei Paris bildet eine von Treppen und Stegen durchzogene Halle das Herz der neuen Architekturschule des Lausanner Dekonstruktivisten.

Die postmodernen Wohnpaläste von Ricardo Bofill in Noisy-le-Grand markieren das westliche, die gewaltigen Areale von Euro-Disney das östliche Ende von Marne-la-Vallée. Als eine der Villes nouvelles zur Entlastung von Paris gegründet, erstreckt sich das lockere Siedlungsgefüge über dreissig Kilometer im Marnetal östlich der französischen Hauptstadt. Eine knappe halbe Stunde benötigt man mit dem RER, um das «Cité Descartes» genannte Universitätsgelände zu erreichen, auf dem sich einige Teile der 1991 gegründeten Université de Marne-la-Vallée sowie diverse Forschungsinstitute befinden. Weit verstreut stehen die in den vergangenen Jahren entstandenen Bauten auf dem Terrain, das auf Grund seiner grosszügigen Konzeption, der vielen Parkplätze und der gähnenden Leere des monofunktional genutzten Areals ausserhalb der Unterrichts- und Arbeitszeit eher den Charme eines Gewerbegebiets als den eines Universitätscampus ausstrahlt. Nur das historische Geviert der Ferme de la haute maison erinnert noch an das einst ländlich geprägte Marnetal.

Obgleich sich die meisten Institutsbauten eher durch Quantität als durch Qualität bemerkbar machen, sind doch einige interessante Architekturen entstanden: die von einem bis zum Boden herabgeführten Dach überfangene Ingenieurschule für Elektronik und Elektrostatik (1984-88), mit der Dominique Perrault erstmals auf sich aufmerksam machte, die beiden als Glaskubus und expressiv geschwungene Betonplastik komplementär materialisierten Universitätsbauten von Jourda et Perraudin (1996) und schliesslich als jüngste Erweiterung des Quartiers die Architekturschule von Bernard Tschumi. Der 1944 in Lausanne geborene Architekt, der - mit seinem Büro in Paris und New York ansässig - zunächst theoretisch tätig war, bevor er mit dem Konzept und den «Follies» des Pariser Parc de la Villette das Schlüsselwerk des architektonischen Dekonstruktivismus schuf, bezeichnet seinen Bau als «Zero Degree Architecture». In der Tat interessiert sich Tschumi nicht für eine architektonisch vordergründige Ästhetik, und es geht ihm auch nicht um die Fortsetzung eines Bautyps, der mit der Ecole des Beaux-Arts im 19. und dem Bauhaus im 20. Jahrhundert seine spezifischen Ausprägungen gefunden hat.

Häuser sind für Tschumi keine statischen Gebäudehüllen, sondern Generatoren, welche Menschen in Bewegung setzen. Daher widmet er den Freiräumen, also den nicht eindeutig determinierten Flächen, seit je seine besondere Aufmerksamkeit. Waren es im Medienzentrum Le Fresnoy bei Tourcoing abgehängte Stege im künstlichen Himmel unterhalb der Dachzone und im Lerner Student Center der Columbia University New York weit geführte Rampen, so übernimmt in Marne-la-Vallée ein zentraler Lichthof die öffentliche Funktion. Mit üblichen glasgedeckten Atrien, deren Funktion sich auf das Verteilen von Menschen und Licht beschränkt, hat diese mit einem von bullaugenförmigen Lichtöffnungen durchbrochenen Sheddach gedeckte Halle allerdings kaum etwas zu tun. Sie dient der Erschliessung, fungiert aber - je nach Bedarf - auch als Ausstellungshalle, Kommunikationsbereich oder Partyspace. Allerdings wird der Gedanke, den Hallenboden vermittels Treppen und Rampen nach Osten hin um insgesamt sieben Meter ansteigen zu lassen, im derzeitigen Zustand kaum erkennbar. Realisiert wurde bisher nur ungefähr die Hälfte des Projekts; ob die Erweiterung überhaupt erfolgen wird, ist derzeit fraglich.

Der Lichthof trennt und verbindet zugleich zwei Gebäuderiegel. Der südliche, der Forschungslabors und Verwaltung birgt, zeigt sich von der Strasse aus verschlossen; der nördliche, zum Innenhof und nach aussen hin verglast, enthält die Ateliers und Studios der Studenten. Hermetische Räume existieren nicht, Offenheit dominiert. Es sind aber nicht nur Sichtbeziehungen, die Kommunikation ermöglichen, sondern auch eine Reihe von Stegen und Treppen, welche den zentralen Lichthof überbrücken und begleiten. Sie verbinden überdies die Studios und Labors mit dem massigen, metallverkleideten Hörsaalblock, der, auf Stützen gestellt, in der Halle nachgerade zu schweben scheint.

Einen instruktiven Überblick über Tschumis Projekte der vergangenen Jahre gibt der unlängst erschienene zweite Teil der unter dem programmatischen Titel «Event-Cities» publizierten Werkmonographie. Mit einer Fülle von Zeichnungen, Skizzen und Computeranimationen in Schwarzweiss bzw. Rotweiss - auf suggestive Farbbilder und ein trendiges Layout verzichtet der Architekt seit je - wird der Leser zu einer Tour eingeladen, die durch Tschumis Leidenschaft für die Kinematographie inspiriert ist. Nicht ohne Grund findet sich zu Beginn des Buchs der Entwurf eines Hauses, das Tschumi nach einem Gespräch mit Eric Rohmer und Boris Karloff entworfen hatte und das Bewegungslinien der Akteure des Frankenstein-Films von 1932 in ein Raumgefüge übersetzt. Der Schwerpunkt des Bandes liegt in einer umfangreichen Dokumentation des Parc de la Villette, bei dem es Tschumi mit seinem klaren Konzept aus Flächen, Linien und mit roten «Follies» verschiedener Gestalt markierten Punkten gelang, den zeitgenössischen Landschaftspark neu zu definieren. Ausführlich vorgestellt werden überdies die Architekturschule von Marne-la-Vallée, das Lerner Center und einige im Entstehen begriffene Projekte, darunter die mit Marne-la-Vallée verwandte Architekturfakultät für Miami und ein Konzert- und Ausstellungszentrum für Rouen. Leider unrealisiert blieb das 1995 vorgelegte Projekt für ein von einer ondulierend geführten Rampe durchzogenes Shopping-Center an der Zürcher Hohlstrasse: ein neuerlicher Beweis für mangelnden baulichen Wagemut an der Limmat, aber auch ein Zeichen der Ignoranz, auf die Tschumi in seinem Herkunftsland trifft.


[Bernard Tschumi: Event-Cities 2. The MIT Press. Cambridge/Mass. und London 2001. 692 S., £ 23.95.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.06.01

22. Mai 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Von der Lounge zum Museum

Neuer architektonischer Glanz durch Zaha Hadid

Neuer architektonischer Glanz durch Zaha Hadid

Durch den «Autostadt» genannten Themenpark des Volkswagenkonzerns hat Wolfsburg im letzten Jahr weitherum neue Aufmerksamkeit erlangt. Mit einem «Science-Museum» von Zaha Hadid will die Stadt in Zukunft auf diese Vorgabe reagieren und zugleich ihre beträchtlichen urbanistischen Defizite kompensieren.

Nach einer halben Stunde Fahrtzeit stoppt der ICE Hannover-Berlin in Wolfsburg. Durch das Zugfenster geht der Blick nach Norden auf die jenseits des Mittellandkanals gelegenen Hallen der VW-Werke, die durch die vorspringenden Ziegelsteintürme der Treppenhäuser rhythmisiert werden. Im wuchtigen Riegel des Kraftwerks mit seinen vier Schloten findet das Fabrikareal seine grandiose Coda. Jenseits eines Hafenbeckens schliesst sich die vom Büro Henn Architekten aus München geplante und im vergangenen Jahr fertiggestellte «Autostadt» an (NZZ 28. 7. 00), die im Sinne des zeitgenössischen «Infotainments» VW-Kundencenter, Automuseum, Ausstellungspavillons, ein von Andrée Putman eingerichtetes Fünfsternehotel sowie diverse Restaurants und Shops vereint. Ein völlig anderer Eindruck hingegen entsteht, wenn man nach Süden schaut. Der Bahnhof scheint sich irgendwo im städtebaulichen Nirwana zu befinden: Brachflächen, ein architektonisch belangloses Multiplexkino und, etwas entfernt, nichtssagende Bebauungen aus den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren.


Städtebauliche Paradigmata

Wolfsburg gilt, folgt man den Bearbeitern der jüngsten Auflage des Dehio-Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler zu Niedersachsen, als «wirtschaftlich und urbanistisch bedeutendste deutsche Stadtgründung des 20. Jahrhunderts». 1938 entwickelte der österreichische Architekt Peter Koller den ersten Bebauungsplan für die auf dem Boden des einstigen Rittergutes Wolfsburg neu gegründete «Stadt des KdF-Wagens». Grundgedanke war die Trennung von Volkswagenwerk und Stadt; der west-östlich verlaufende Mittellandkanal und das ihn begleitende Bahntrassee schotten das Fabrikareal im Norden noch heute von den Siedlungsbereichen ab.

In dem Masse, wie die Nazipropaganda von der «Volksmotorisierung» jener der «Volksmobilisierung» wich und die Autofabrik auf kriegswirtschaftliche Zwecke umgestellt wurde, stagnierte auch die Stadtplanung; 1945 bestand die Struktur aus dem Werkareal, einigen Wohnquartieren sowie zahllosen Barackenlagern, in denen die zur Arbeit gezwungenen KZ-Häftlinge, Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter untergebracht waren. Viel Platz also, um die Vision einer neuen Stadt zu realisieren. Nach dem Krieg versuchte der Urbanist Hans-Bernhard Reichow, die von Koller in zentrale Blockrandbebauung, periphere Gartenstadtsiedlungen und eine - nicht realisierte - monumentale «Stadtkrone» unterteilte Anlage im Sinne seiner «organischen Stadtbaukunst» zu überformen. Im Jahre 1955 indes wurde Koller erneut in eine leitende Position berufen und als Stadtbaurat installiert. Da die am Ideal einer organischen Kleinstadt orientierte Reichow-Planung mit dem Konjunkturaufschwung der Wirtschaftswunder-Ära nicht korrelierte, griff Koller auf sein Ursprungskonzept zurück, das nun allerdings in entnazifizierter Variante vorgelegt wurde, also ohne Stadtkrone und Aufmarschachsen - und auch ohne die bisher charakteristischen Rückgriffe auf die Tradition vernakulären Bauens. An die Stelle der zentripetalen Organisation trat nun ein zentrifugales Konzept, das die Stadt mit Satellitensiedlungen ins Umland entgrenzte: die offene Stadtlandschaft, wie sie Johannes Göderitz, Roland Rainer und Hubert Hoffmann in ihrer einflussreichen Publikation «Die gegliederte und aufgelockerte Stadt» (1957) postuliert hatten.

Abweichend von Kollers Vorkriegsplanungen entstand das Kultur- und Verwaltungszentrum nicht als «Stadtkrone» auf dem Klievertsberg, sondern in Fortsetzung der das Zentrum in nordsüdlicher Richtung durchmessenden, heute von belanglosen Einkaufsbauten verstellten und zur Fussgängerzone umgestalteten Porschestrasse. Das Rathaus (1955-58) von Titus Taeschner leitete die Sequenz der Bauten ein, ihm folgten das Kulturzentrum von Alvar Aalto (1959-62) - ein Hauptwerk des Finnen -, das Theater von Hans Scharoun (1969-73) und schliesslich das Kunstmuseum der Architekten Schweger und Partner (1991-94). Mit dem bescheiden proportionierten und bewundernswert detaillierten Aalto-Bau verglichen, wirkt der Museumshangar grobschlächtig: Aber vielleicht bedarf es des ruppigen Auftritts, um in der weder durch Intellektualität noch durch Feinsinn geprägten Stadt Wolfsburg zu bestehen. «Let's entertain» heisst die jüngste Ausstellung des ambitionierten Instituts; die Veranstalter sprechen von einer «künstlerischen Auseinandersetzung mit der Eventkultur», die in «einer Stadt, in der Autos nicht nur gebaut, sondern im Themenpark Autostadt auch multimedial inszeniert werden, am rechten Ort» sei.

Angesichts der im Süden der Innenstadt angesiedelten Kulturangebote bleibt die Nordkante - also der Bereich um den Bahnhof - ein urbanistischer Problemfall, und die Verantwortlichen der Stadt mögen befürchten, dass die Besucher zukünftig gar nicht erst das Stadtzentrum aufsuchen, sondern gleich über die neue - leider nicht nach dem Entwurf des Berliner Teams Léon Wohlhage realisierte - Kanalbrücke die «Autostadt» ansteuern. Die vom Wolfsburger Kulturdezernenten lancierte Idee eines «Science-Centers» sucht nun, der VW-City auf der Stadtseite Paroli zu bieten mit dem Konzept eines Wissenschaftsmuseums, das sich in den Nachbarländern, vor allem aber in den USA, als sehr erfolgreich erwiesen hat, in Deutschland aber bisher keine Nachahmer fand. «Erneut Weltklassearchitektur für Wolfsburg», jubelte die «Wolfsburger Allgemeine», als die Entscheidung bekannt geworden war, dass Zaha Hadids Entwurf von der Jury des Architekturwettbewerbs mit dem ersten Preis bedacht worden war. Unter 23 ausgewählten Büros hatte sich die in London tätige Architektin durchsetzen können und Enric Miralles sowie Barkow Leibinger auf die nachfolgenden Ränge verwiesen. Bis Ende 2002 soll der Bau fertiggestellt sein; 67 Millionen Mark sind veranschlagt, mit mindestens 260 000 Besuchern pro Jahr wird gerechnet.

Hadid selbst bezeichnet ihren Entwurf als «alien but simultaneously coherent landscape». Der dreieckige Baukörper, dessen Hypotenuse an den Gleiskörper angrenzt, besetzt den Freiraum zwischen dem Bahnhofsvorplatz im Westen und der verlängerten Achse der Porschestrasse im Osten. Um indes die Blickbeziehungen auf die andere Seite des Kanals zu bewahren und überdies die Durchquerung des Areals zu ermöglichen, stemmt die Architektin die eigentliche Ausstellungsebene in die Höhe. Trichterförmige Betonelemente stützen und durchdringen die Ausstellungsebenen; an die Stelle der pilotis im Sinne Le Corbusiers sind raumhaltige Elemente aus Stahlbeton getreten, die aus der modellierten Bodenlandschaft herauswachsen, sich nach oben erweitern und somit die traditionelle Trennung von Stütze und Last tendenziell aufheben, zumindest visuell und räumlich überspielen.


Konfrontation und Harmonie

Die Trichter übernehmen verschiedene Funktionen - sie umfassen Eingangs- und Treppenbereiche, bergen Werkstätten und Lager, dienen als Räume für Bookshop oder Bistro. Einige von ihnen enden auf der Höhe der Hauptebene, andere hingegen münden in die Dachplatte ein und gliedern als ausgesparte Negativformen die Ausstellungsebene. Zum Teil nach oben geöffnet, lassen sie überdies Licht in die unteren Ebenen gelangen. Obwohl der annähernd dreieckige Grundriss und auch das nach aussen boxartig sich abzeichnende Hauptgeschoss einer klaren geometrischen Bestimmung gehorchen, erscheint das Innere als ein labyrinthisches Kontinuum. Dies umso mehr, als sich durch das Gewirr der Kompartimente zusätzlich die öffentliche Wegachse hindurchwindet, die vom Bahnhofsvorplatz hinauf auf die Brücke zur Autostadt führt.

Die jüngst eröffnete «Zaha Hadid Lounge» fungiert nun gleichsam als Appetizer für das neue Museum. Eine zunächst als Dépendance der im Aalto-Bau beheimateten Musikbibliothek vorgesehene, aber nie benutzte zweigeschossige Galerie des Kunstmuseums hat die Architektin in einen Raum umgewandelt, der Architekturgalerie, Cafeteria und Veranstaltungsort zugleich ist; sogar als Disco soll er zukünftig dienen. Graue, ondulierende Wandelemente, die formal den «cones» des Science-Museums entsprechen, unterteilen den Gebäuderest in eine spannungsvolle Abfolge von Raumsituationen, in denen Hadid Modelle, Zeichnungen und Perspektiven ihrer realisierten und projektierten Arbeiten ausstellt. Neben dem Science-Center für Wolfsburg sind dies die Museen für zeitgenössische Kunst in Rom und Cincinnati, aber auch realisierte Werke wie der Gartenschaupavillon in Weil am Rhein und ein Park-and-ride-Terminal in Strassburg. Dekonstruktivismus, so lehren Hadids jüngste Werke, bedeutet nicht nur Zusammenprall heterogener Formen, sondern kann zu neuen Raumvorstellungen führen: statt einer Konfrontation des Widersprüchlichen nun also der Versuch, mit einer organisch wirkenden Gestaltung Disparates auf höherer Ebene zu versöhnen.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2001.05.22

04. Mai 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Renaissance in Mailand

Ausstellung über Donato Bramante

Ausstellung über Donato Bramante

Von der Frührenaissance, die in Florenz mit Brunelleschi, Alberti und Michelozzo eingesetzt hatte, blieb Mailand unberührt. Das an der Antike geschulte Formempfinden sollte erst Einzug halten, als die Sforza Mitte des 15. Jahrhunderts in der Lombardei an die Macht gekommen waren. Mit Filarete, den die Nachwelt eher als Autor des einflussreichen «Trattato d'Architettura» denn als massstabsetzenden Architekten wahrgenommen hat, übertrug Francesco Sforza bewusst einem Florentiner Künstler die Planung des auch als «Ca' Grande» bekannten Ospedale Maggiore. Von dem Idealentwurf mit mehreren Höfen und einer Kapelle im Zentrum konnte indes nur ein Teil realisiert werden; in seiner Schrift klagt Filarete unverhohlen über die Dominanz des «barbarischen», also gotischen Stils. Knüpfte auch die früher Michelozzo zugeschriebene Portinari-Kapelle (1462-67) an Brunelleschis Sakristei von San Lorenzo in Florenz an, so war es doch Donato Bramante, welcher der Renaissance in Mailand zum Durchbruch verhalf.

Nahe der Tribuna, mit der Bramante 1492-97 Santa Maria delle Grazie ergänzte, widmet sich eine Ausstellung im Refettorio delle Stelline der Galleria Gruppo Credito Valtellinese nun den lombardischen Jahren des 1444 bei Urbino geborenen Architekten. Gegen 1479 kam Bramante erstmals nach Mailand; 1499, nach dem Sturz der Sforza, verliess er es Richtung Rom, wo er mit dem Tempietto von San Pietro in Montorio (1502) die Hochrenaissance einleitete und kurz darauf von Papst Julius II. mit einem Gesamtplan für den Vatikan betraut wurde.

Berechtigterweise erscheint der zunächst als Maler ausgebildete Architekt in der Schau nicht als einsamer Heros, sondern als Teil eines künstlerischen, geistigen und politischen Kraftfeldes, das Mailand unter Ludovico il Moro bestimmte. Berücksichtigt werden die Projekte Leonardos ebenso wie der gewaltige Lazarettkomplex, den Lazzaro Palazzi im Nordosten der Stadt errichtete; mit einzelnen Exponaten suchen die Veranstalter zudem auf die Bildhauerkunst und Malerei der Zeit hinzuweisen. Im Zentrum aber stehen die drei Mailänder Hauptwerke Bramantes: die Erweiterung von Santa Maria delle Grazie, die Kreuzgänge von San Ambrogio und die grandiose Kirche Santa Maria presso San Satiro, bei welcher der lediglich als Relief vorgetäuschte Chorraum die Illusion eines Zentralraums ergibt. Die Struktur der Ausstellung bleibt allerdings - anders als der prägnante Katalog - eher unübersichtlich. Zudem musste man sich bei Bramantes Bauten mit Fotos und neueren Modellen behelfen, da weder Originalzeichnungen noch Modelle existieren.

Bis 20. Mai im Refettorio delle Stelline. Katalog: Bramante e la sua cerchia a Milano e in Lombardia 1480-1500. Hrsg. Luciano Petretta; Skira, Mailand 2001. 240 S., Lire 45 000.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.05.04

04. Mai 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Alles fliesst

Das Projekt Rüdenplatz in Basel

Das Projekt Rüdenplatz in Basel

Wer den Rüdenplatz auf dem Basler Stadtplan finden möchte, sucht vergeblich. Nach einem Konzept des Künstlers Rémy Zaugg und der Architekten Herzog & de Meuron aber wird sich dieser Ort zukünftig markant in das Basler Stadtbild einschreiben - mit Leuchtschriften und einem Brunnen, der symbolisch auf den die Altstadt einst prägenden Birsig verweist. Bis ins 19. Jahrhundert durchquerte der Fluss von Süden her auf der Linie Barfüsserplatz-Marktplatz- Fischmarkt das Zentrum, bevor er sich in den Rhein ergoss. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er überwölbt und somit visuell eliminiert.

Schon der erste Wettbewerb, den Jacques Herzog und Pierre de Meuron gewannen, galt dem Birsig: mit Metallgitterdeckeln auf dem Marktplatz sollte auf das unterirdische Gewässer hingewiesen werden. «Der Rüdenplatz, Ort einer Landschaft» heisst das Projekt von Rémy Zaugg und Herzog & de Meuron, das aus einem 1995 veranstalteten Wettbewerb zum 100-jährigen Bestehen des Baumeisterverbandes Basel-Stadt hervorgegangen ist. Nach der Fusion zum Verband «Bauunternehmer Region Basel» wurde der Entwurf nun wieder aufgegriffen, modifiziert und soll Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres realisiert sein.

Ort der Intervention ist das Zusammentreffen von Falkenstrasse, Rüdengasse und Gerbergasse, also die bisher nicht eigentlich als Platz wahrnehmbare Fläche vor der Hauptpost. Die nierenförmige Verkehrsinsel wird der Standort eines magisch leuchtenden Brunnens aus weissem, transluzentem Kunststoff. Im ewigen Kreislauf fliesst das Wasser über den Beckenrand, um anschliessend wieder zurückgepumpt zu werden; eine Anspielung auf den wenige Meter unter Bodenniveau fliessenden Wasserlauf des Birsig. Diese Assoziation wird noch verstärkt durch die weissen Neonschriftzeichen, die sich auf den Dächern der umliegenden Häuser befinden. Zauggs in Grossbuchstaben geschriebene Wortpaarungen «der Fluss / Wolken, Wälder / Felsen, Bäume / Gras, Regen / Sonne / Schlucht» sind verbale Signifikanten, die auf die Natur im Allgemeinen und die vom Birsig durchflossenen Landschaften im Speziellen verweisen.

Wo üblicherweise Werbebotschaften zum Konsum verführen, bricht ein poetisches Moment in das Alltagsleben der Stadt ein. In einer Installation, die man fast versucht ist, romantisch zu nennen, beschwören Zaugg und Herzog & de Meuron mit dem Birsig-Fluss und der Naturlandschaft das Abwesende in zweierlei Hinsicht. Die Defizite der Urbanisierung indes ins Bewusstsein zu rücken, kann in der Stadt nur mit urbanen Strategien gelingen. Der ihrer vordergründigen Simplizität zum Trotz höchst reflektierten Intervention am neuen Rüdenplatz dürfte dies eindrucksvoll gelingen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.05.04



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Rüdenplatz

25. April 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Zurück zum Ideal

Eine Villa von Alvar Aalto im estnischen Tartu

Eine Villa von Alvar Aalto im estnischen Tartu

Die Weltwirtschaftskrise der frühen dreissiger Jahre blieb auch für das Büro des gerade von Turku nach Helsinki übergesiedelten Architekten Alvar Aalto nicht ohne Auswirkungen. 1932 waren das Sanatorium von Paimio und die Bibliothek für Viborg im Bau, doch verzögerte sich die Fertigstellung beider Projekte. Überdies mangelte es an neuen Aufträgen, und in Wettbewerben vermochte der Architekt damals nicht zu reüssieren. Der Wunsch des als Professor für Geographie an der Universität des estnischen Tartu lehrenden August Tammekann nach einem eigenen Domizil kam mithin im rechten Augenblick. Im «neuen praktischen oder funktionalistischen Stil» wünschte sich der Auftraggeber das Haus. Seine Wahl fiel auf den finnischen Architekten, den er in der Wohnung seines Lehrers und Amtsvorgängers in Turku kennengelernt hatte. Auch die Vorstellungen von Tammekanns Frau Irene über ihren neuen Wohnsitz waren dezidiert: «Wenn ich nicht einen eigenen Raum erhalte, so wie ich ihn möchte, wird das Haus nicht gebaut.»


Rationalismus in Estland

Das Haus, von Aalto 1932 entworfen, wurde gebaut - allerdings mit gravierenden Abweichungen. Die ökonomisch angespannte Situation in Estland hatte verschiedene Vereinfachungen erzwungen. So wurden die Metallrahmen der Fenster durch solche aus Holz ersetzt, eine Pergola und die Garage blieben unausgeführt. Nicht zuletzt diese Modifikationen bewirkten, dass das Haus Tammekann in der Aalto-Literatur kaum Berücksichtigung fand. Trotzdem ist der streng orthogonal organisierte Bau bemerkenswert, da er wie kaum ein zweiter Aaltos Orientierung am mitteleuropäischen, speziell vom Bauhaus vertretenen «Neuen Bauen» belegt. Rationalistischer baute der Finne selten.

Erst mit dem Ende der Sowjetunion und der Neugründung des Staates Estland geriet das Gebäude wieder in das Blickfeld des Interesses. Die nach der Flucht der Bauherrenfamilie 1940 in mehrere Wohnungen aufgeteilte Villa wurde nun den Erben Tammekanns übergeben, die sie an die Turku University Foundation verkauften. Ziel dieser Stiftung ist es, die traditionellen Beziehungen zwischen den Universitäten Turku in Finnland und Tartu in Estland zu erneuern. Dafür hätte sich wohl schwerlich ein geeigneteres Gebäude finden lassen. 1998 begann die Restaurierung, die nun vor kurzem abgeschlossen werden konnte. Eine umfangreiche, von der Stiftung herausgegebene Publikation dokumentiert nicht nur die Sanierungs- und Wiederherstellungsarbeiten, sondern auch die Entstehungsgeschichte des Baus sowie Aaltos übrige (unrealisierte) Projekte in Estland: eine Badeanstalt für Pärnun (1925) und ein Kunstmuseum für Tallinn (1936/37). Ein Beitrag stellt überdies knapp die wenigen Bauten des estnischen Funktionalismus vor, unter denen die Villa Tammekann als radikalstes Beispiel herausragt. Auch wenn dem Leser alle wichtigen Informationen geboten werden, macht die Vielzahl der Autoren mit ihren sich überschneidenden Texten das Buch unübersichtlich - Beschränkung (und Abstimmung) wäre von Vorteil gewesen.


Obsession des Purismus

Instruktiv ist der Bericht des finnischen Architekten Tapani Mustonen, der gemeinsam mit Juha Iivanainen die Wiederherstellungsarbeiten leitete. Mit der Restaurierung der Bibliothek von Viborg sowie des Architektenhauses im Stadtviertel Munkkiniemi von Helsinki hat sich Mustonen als Spezialist für den Umgang mit Bauten Aaltos erwiesen, und doch stimmt der Umgang mit der Villa Tammekann skeptisch. Das Entfernen späterer Verbauungen sowie des 1950 aufgesetzten Walmdachs ist zweifellos berechtigt. Allerdings liess man es bei der Wiederherstellung des Bauzustandes der frühen dreissiger Jahre nicht bewenden, sondern hielt sich an die niemals realisierten ursprünglichen Pläne Aaltos. Mit Pergola, Garage und Metallrahmenfenstern, überdies ausgestattet mit dem von Artek produzierten Aalto-Mobiliar, zeigt die einstige Villa Tammekann nun einen Idealzustand, der niemals existiert hat.

Derlei Vorgehen ist nicht nur in Details wissenschaftlich anfechtbar, sondern eliminiert das historisch Gewordene zugunsten eines fiktiven Seins. Gerade angesichts des Baus in Tartu wäre zu fragen, worin der Denkmalwert eines Gebäudes besteht: im idealen Projekt, das durch Pläne hinreichend dokumentiert ist, oder in dessen Modifikation durch die Unbill der Zeitläufte. Eine historisch verantwortungsbewusste Denkmalpflege hat längst die zutreffende Antwort gefunden: Substanzerhaltung gilt als oberstes Ziel, und dazu zählt auch der spätere Umgang mit einem Bau. Die Wüstenrot-Stiftung hat an Hans Scharouns Haus Schminke in Löbau ein derartiges Konzept mustergültig umgesetzt (NZZ 12. 3. 01). Gewiss: Kompromisse lassen sich nicht vermeiden. In Tartu indes siegte die Obsession des Purismus.


[Alvar Aalto - Vill Tammekann. Hrsg. Henri Terho und Maija Mäkikalli. The Turku University Foundation, Turku 2000. In Englisch, Estnisch und Finnisch. 240 S., FMk. 248.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2001.04.25



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Villa von Alvar Aalto, Restaurierung

17. April 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Augen auf, Augen zu

Der Architekt Massimiliano Fuksas in einer Ausstellung in Bologna

Der Architekt Massimiliano Fuksas in einer Ausstellung in Bologna

Im Jahre 1977 wurde an der Piazza della Costituzione in Bologna, nahe dem Messegelände, der Pavillon de l'Esprit Nouveau rekonstruiert, den Le Corbusier 1925 für die Exposition des Arts Décoratifs in Paris errichtet hatte. Im vergangenen Jahr, als Bologna europäische Kulturhauptstadt war, begann man das Gebäude für Ausstellungen zeitgenössischer Architektur zu nutzen. «Dialoghi con Le Corbusier» nennt sich die Reihe, in der unter anderen Mario Botta und Adolfo Natalini vorgestellt wurden. Ob es dieser Ausstellungsreihe bei aller löblichen Anstrengung gelingen kann, sich dem Pulsschlag der zeitgenössischen Architektur zu nähern, bleibt fraglich - zumal dieser derzeit in Italien nicht besonders laut zu vernehmen ist. Auch die jetzige Ausstellung «Massimiliano Fuksas: occhi chiusi aperti» macht das deutlich.

Die Schau gilt mit dem in Rom und Paris tätigen Leiter der letztjährigen Architekturbiennale von Venedig, der gegenwärtig zu den prominentesten und international erfolgreichsten Architekten Italiens zählt. Die zinkblechverkleidete Wohnanlage im Pariser Bastille-Quartier oder das Universitätsgebäude in Limoges mit seinen blasenförmigen Hörsälen, der strenge Baukörper der Maison des Arts in Bordeaux und die Shopping-Mall Europark bei Salzburg zeugen von Fuksas' Interesse an einer markanten, neoexpressiven Formensprache. Doch glaubt man manches schon anderenorts von anderen Autoren besser und überzeugender gesehen zu haben. Fuksas wirkt bei manchen seiner Arbeiten weniger originär als originell. Das gilt auch für den im Katalog abgedruckten Text «Magma City».

Mit dem in Bologna präsentierten Centro Congressi - einer kokonartigen, organisch geformten Skulptur inmitten einer hangarähnlichen Halle - surft Fuksas irgendwo im Fahrwasser von Frank O. Gehry und Ben van Berkel, während die Wiener Twin Towers allzu investorenfreundlich auf den Plan treten. Deutlich überzeugender zeigt sich das durch seine unregelmässigen Streifen aus Beton und Glas sedimentartig, fast archaisch anmutende Projekt eines Peace Center für Shimon Perez und Yasir Arafat im israelischen Jaffa. Nach dem Vorbild der Präsentationen in den Corderie der Biennale in Venedig soll auch im Le-Corbusier-Pavillon von Bologna die parallele Projektion von Video(clip)s die Aktualität des Architekten belegen. Während sich jedoch die Bedeutung der Projekte durch das atemlose Abflimmern relativiert, wirken die konventionell angefertigten Modelle ebenso unmittelbar wie instruktiv.


[Die Fuksas-Ausstellung im Pavillon de l'Esprit Nouveau an der Piazza della Costituzione 11 in Bologna dauert noch bis zum 21. April. Katalog: Massimiliano Fuksas: Occhi chiusi aperti. Alinea Editrice, Firenze 2001. 84 S., Lit. 25 000.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2001.04.17

06. April 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektur und Mode

Prada Stores von Herzog & de Meuron und Koolhaas

Prada Stores von Herzog & de Meuron und Koolhaas

Im Auftrag der Mailänder Modefirma Prada realisieren die Pritzkerpreisträger dieses und des letzten Jahres, Herzog & de Meuron und Rem Koolhaas, sechs Bauprojekte. Die Entwürfe für die Prada Stores in den USA und in Japan bestechen durch ein souveränes Spiel der architektonischen Formen und eine magisch-trendige Inszenierung.

International agierende Modehäuser zeigen gegenwärtig ein verstärktes Interesse an zeitgenössischer Architektur. Ob Ron Arad das Interior Design für Adidas in Frankreich übernimmt oder Future Systems die Boutiquen von Comme des Garçons in New York und Tokio einrichten: Prominente Architekten und Designer garantieren für nahezu magische, zum Kauf stimulierende Gestaltungen. Dabei scheint das als minimalistisch apostrophierte, mitunter etwas aseptisch wirkende Shop-Design eines David Chipperfield oder John Pawson, das die neunziger Jahre beherrschte, von einer neuen Formenvielfalt, man könnte auch sagen: Opulenz abgelöst zu werden.


Suggestives Spiel der Formen

Nirgends zeigt sich das deutlicher als an den ambitionierten Projekten, die Herzog & de Meuron sowie Rem Koolhaas und sein Office for Metropolitan Architecture für Prada entworfen haben. Das Mailänder Unternehmen will mit spektakulären Stores in New York, Los Angeles, San Francisco und Tokio ein völlig neues Einkaufserlebnis generieren. Als vergleichsweise junges Label, das den Weg zum internationalen Erfolg binnen weniger Jahre zurückgelegt hat, wollen sich die Mailänder mit dem «Prada universe» als Global Player der Modewelt etablieren. Bei den Projekten handelt es nicht nur um Ladeneinrichtungen, sondern um grosse Neu- oder Umbauten. Koolhaas plant ein zehngeschossiges Gebäude für San Francisco, ein langgestrecktes Haus am Rodeo Drive in Beverly Hills sowie «Prada East Coast» als zweigeschossigen Umbau in einem bestehenden Haus am Broadway Ecke Prince Street in New York.

Ebenfalls in New York bauen Herzog & de Meuron eine frühere Pianofabrik zum amerikanischen Headquarter von Prada um. Darüber hinaus entwerfen die Basler den Tokyo Store an der Omote-Sando Avenue im Fashion District Aoyama sowie ein Produktionszentrum mit Grosslager und Outlet in Terranuova bei Arezzo. Schliesslich wurde die Architektin Kazuyo Sejima, die inzwischen weltweite Reputation als Protagonistin einer jüngeren japanischen Architektengeneration geniesst, mit einem Präsentationskonzept für die «Prada Beauty Line» beauftragt, das sich in die verschiedenen neuen Stores integrieren lässt.


Zukunftsweisende Lösungen

Bemerkenswert ist, dass Prada nicht mehr auf eine Corporate Identity im klassischen Sinne setzt. Betrachtet man die Modelle und Entwürfe für die vier im Entstehen begriffenen Stores, sticht ihre Verschiedenartigkeit ins Auge. Auch wenn gewisse Materialien und Elemente in allen drei Projekten von Koolhaas und OMA zur Anwendung kommen, sind doch die Unterschiede grösser als die Gemeinsamkeiten. Ziel ist nicht mehr ein modulares und rationales Konzept, sondern eine suggestive Architektur, die völlig unterschiedliche Raumstimmungen erzeugt.

Der aus zwei übereinander geschichteten, mit gelochten Metallplatten verkleideten Würfeln bestehende Turm für San Francisco gibt sich als markantes Zeichen im Stadtbild, während Einbauten unterschiedlichster Form und ein heterogener Materialmix eine Reichhaltigkeit des Interieurs bewirken, die jedem Geschoss einen spezifischen Charakter verleiht. Mit der herkömmlichen Konzeption von Boutiquen hat die neue Generation von Prada Stores nicht mehr viel gemein; die Flächen für die Präsentation der Produkte bestimmen nur noch einen Teil des Raumprogramms. Ergänzt werden die Häuser durch VIP-Geschosse, Cafés, Backstage-Räume und Bereiche für Modeschauen oder Ausstellungen.

Das räumlich komplexeste Konzept bietet Herzog & de Meurons Neubau für Tokio. Grundelement des Entwurfs ist eine liegende Raute, die sich in drei Dimensionen entwickelt. Ihre Form bestimmt die vertikalen Erschliessungsschächte, die röhrenartig aufgeweiteten horizontalen Tragbalken (in welchen sich intime Ausstellungsflächen befinden) und schliesslich den Raster der mit bombierten Scheiben versehenen Glasfassade, die das polygonale, fünfgeschossige Volumen umhüllt. Wie OMA bei den Häusern in den USA, entwerfen die Basler jedoch nicht nur die eigentliche Architektur, sondern überdies das gesamte Displaysystem. Prototyp ist hier ein transluzenter, von innen beleuchteter Plasticblock mit abgerundeten Ecken und Vertiefungen, der etwas an die Soft-Edge-Ästhetik der siebziger Jahre erinnert. Farbig hinterleuchtete, in die Wände eingelassene Glaskugeln, wie sie Herzog & de Meuron für das New Yorker Headquarter vorschlagen, scheinen dem Geist jener Jahre ebenso verwandt wie Koolhaas' Vitrinen im Farbton Hellrosa oder seine Wandverkleidungen aus ondulierenden Plasticstrukturen.

Die Projekte der beiden Büros zeigen eine ebenso trendige wie faszinierende Vielfalt von Materialien und Formen, die bisherige Shopkonzepte bieder und altbacken erscheinen lässt. Intuitiv hat das Mailänder Modelabel hinsichtlich der Architekten die richtige Wahl getroffen; der Pritzker-Preis, der Koolhaas im vergangenen Jahr und Herzog & de Meuron in diesem verliehen wurde, wird die Verantwortlichen in ihrem Tun bestätigen. Zweifellos erhofft man sich von den beiden Büros, die nicht zuletzt durch Kulturbauten bekannt geworden sind und derzeit gemeinsam das Astor Place Hotel für Ian Schrager in Manhattan realisieren, eine Nobilitierung und zeitgemässe Positionierung der eigenen Produkte. «To fuse consumption and culture», beschreibt Prada die eigene Intention.


Konsum und Kultur

Ohnehin kann Rem Koolhaas, der unlängst das Prinzip Shopping untersucht hat, keine prinzipiellen Unterschiede zwischen einer Shopping Mall und etwa dem Guggenheim Museum in Bilbao ausmachen. In seinem Text, der kürzlich in «Domus» erschien, wird die Shopping Mall zum Paradigma eines hybriden Raums, der diverse Funktionen verschmilzt und so zum Ausdruck der von Koolhaas seit langem beschworenen «culture of congestion» wird. Shopping avanciert in seinen Augen zum eigentlichen Movens der zeitgenössischen Architektur und generiert als «the ultimate revenge of functionalism» ähnlich wie Kasinos oder Themenparks «junk space». Das konsumfeindliche Zeitalter ist unweigerlich an sein Ende geraten. Sich gegen Shopping aufzulehnen sei unsinnig, meint Koolhaas; und im Vorwort zu Noam Chomskys «Profit over people» liest man: «Die neoliberale Demokratie . . . bringt keine Bürger, sondern Konsumenten hervor, keine Gemeinschaften, sondern Einkaufszentren.»

Wenn Koolhaas provokativ John Jerde und Frank O. Gehry auf eine Stufe stellt, so vollzieht er sprachlich nach, was sich gedanklich längst ereignet hat: Konsum und Kultur, in den siebziger Jahren als antithetische Pole verstanden, werden heute weithin nicht mehr als Widerspruch begriffen. Dass dabei - um ein Diktum von Jacques Herzog aufzugreifen - nur ein Stararchitekt die Chance hat, seine Ideen vergleichsweise unbeeinträchtigt in die Praxis umzusetzen, zeigt sich bei Prada bereits mit aller Deutlichkeit.


[Ein Katalog der noch bis zum 8. April bei Prada an der Via Fogazzaro 36 in Mailand ausgestellten Modelle und Projekte ist in Vorbereitung. Ausserdem wird zukünftig www.prada.com über die Planungen informieren. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.04.06

06. April 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Speisen im Grünen

Zwei Parkcafés in Düsseldorf

Zwei Parkcafés in Düsseldorf

In der jüngsten Vergangenheit nutzte man das Instrument Gartenschau in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland, um Industriebrachen in Naherholungsgebiete umzuwandeln. Mit der Landesgartenschau 2002 wird nun Neuland betreten: Sie findet nicht an einem Ort, sondern - nach dem Vorbild der Internationalen Bauausstellung Emscher Park - dezentral statt, und Ziel ist statt der Anlage neuer der Erhalt alter Parkanlagen. Sieben historische Parkanlagen sollen in den kommenden beiden Jahren restauriert werden. Zudem entstehen zwei Museen zur Geschichte der Gartenkunst: eines in Schloss Dyck bei Neuss, das sich den Parks und Gärten der Region widmet, eines in Schloss Benrath, das die europäische Gartenkunst unter künstlerischen und philosophischen Fragestellungen behandeln soll.

Schloss und Garten des 1929 nach Düsseldorf eingemeindeten Benrath entwarf Nicolas de Pigage für Kurfürst Karl Theodor. Während das in der Art einer «maison de plaisance» zwischen 1756 und 1770 errichtete Schloss in den vergangenen Jahrzehnten restauriert wurde, gingen wesentliche Charakteristika der zugehörigen Parkanlage durch mangelnde Pflege verloren. Nun endlich können die Wegführungen wiederhergestellt, die Konturen der Teiche, Kanäle und Weiher rekonstruiert und das Gartenparterre vor dem zum Teil erhaltenen Vorgängerbau neu angelegt werden. Für die mediterranen Kübelpflanzen, die nach historischem Vorbild im Sommer auf der Schlossterrasse vor der Achse des Spiegelweihers Aufstellung finden, entsteht nach Entwürfen des Düsseldorfer Büros Petzinka, Pink + Partner der Neubau einer Orangerie. Das ellipsoide, im Querschnitt parabelförmige Gebäude besteht einzig aus gebogenen gläsernen Röhren und dient nicht allein als gärtnerischer Zweckbau, sondern zugleich als Restaurationsbetrieb.

Weniger überzeugt indes ein weiterer Cafépavillon auf dem sogenannten «Ananasberg» im Düsseldorfer Hofgarten. Als nach dem Frieden von Lunéville 1801 die Schleifung der alten Befestigungsanlagen angeordnet wurde, entstand auf dem Gelände des Glacis ein Park im englischen Stil, der durch die Achse der Königsallee erweitert wurde. Napoleon schenkte 1811 alle Befestigungswerke und vorgelagerten Freizonen der Stadt mit der Auflage, sie zu bepflanzen und mit öffentlichen Spazierwegen zu erschliessen. Die Modellierung des Hofgartens durch den Gärtner Maximilian Friedrich Weyhe ist bis heute erhalten, doch wird der Park inzwischen durch eine Reihe von verkehrsreichen Strassen durchschnitten. Ein Café-Restaurant auf dem in der Achse der Königsallee gelegenen Ananasberg, auf dem sich der preussische Prinz Friedrich in den dreissiger Jahren des 19. Jahrhunderts Ananasbowle servieren liess, soll die Aufenthaltsqualität nun stärken. Schlug Günther Zamp Kelp eine - vielleicht allzu anekdotische - netzförmig strukturierte Glashülle in Form einer halbierten Ananas vor, vermag Peter Kulkas nierenförmiges Belvedere ebenso zu überzeugen wie der transparente, von kegelförmigen Elementen getragene Pavillon des Kölner Büros Gatermann + Schossig. Die Jury entschied sich indes für das ortsansässige, von dem gerade verstorbenen Helmut Hentrich gegründete Büro HPP. Die Architekten wollen einen gläsernen Riegel errichten, der zusammen mit einem quer gelagerten, natursteinverkleideten Baukörper eine Kreuzform ergibt. Auch wenn auf die Axialität der Königsallee Bezug genommen wird, wirkt dieser Entwurf leider wenig inspiriert.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.04.06

22. März 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Neues Bauen als Importprodukt

Ernst May in Afrika - Ausstellung in Frankfurt

Ernst May in Afrika - Ausstellung in Frankfurt

Zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte der vormalige Frankfurter Stadtbaurat Ernst May in Ostafrika. Eine Ausstellung des Deutschen Architektur-Museums widmet sich nun erstmals ausschliesslich dieser Werkphase des Architekten, der als Schöpfer des «Neuen Frankfurt» zu den Protagonisten einer sozial orientierten Moderne zählt.

Zu Beginn des Jahres 1933 steht der einstige Frankfurter Stadtbaurat Ernst May, auf Einladung der sowjetischen Regierung seit drei Jahren sich mit der Konzeption neuer Städte befassend, vor einem Wendepunkt in seinem Leben: Die Hoffnungen, die während der Frankfurter Zeit entwickelten Ideen in den Weiten Russlands in den grösstmöglichen Massstab zu übertragen, haben sich auf Grund logistischer Schwierigkeiten und zunehmender politischer Repression zerschlagen. May muss die Sowjetunion verlassen, kann aber nicht nach Deutschland zurückkehren, wo er den Nazis als einer der meistgehassten Exponenten der Weimarer Republik gilt. Ausserdem hätte seine enge jüdische Verwandtschaft eine Karriere in Deutschland verhindert.


Exil in Afrika

Statt - wie manche Kollegen - nach Palästina, Grossbritannien oder in die Vereinigten Staaten zu emigrieren, wählte May Afrika, um seiner «leidenschaftlichen Liebe und Neigung für gärtnerisch kolonisatorische Arbeit» nachzukommen. Im Februar 1934 traf die Familie im ostafrikanischen Mombasa ein und zog von dort aus weiter auf eine Farm im Landesinneren bei Arusha. Lange indes währte diese vom Postulat der Selbstversorgungswirtschaft inspirierte Lebensphase nicht, denn bei den Landbesitzern der Umgebung sowie der britischen Kolonialverwaltung des Mandatsgebiets Tanganjika und des benachbarten Kenya wurde Mays Beruf bekannt. Da man Architekten dringend benötigte, erhielt May bald Aufträge, die es geraten erscheinen liessen, die Farm zu verkaufen und in die kenyanische Hauptstadt Nairobi zu übersiedeln. Mit einem Unterbruch von zweieinhalb Jahren, die er während des Zweiten Weltkriegs in britischen Internierungslagern in Südafrika verbringen musste, blieb er bis 1953 in Nairobi. Dem früheren Mitarbeiter Werner Hebebrand, nach dem Krieg zum Hamburger Stadtbaurat avanciert, war es massgeblich zu verdanken, dass May die Leitung der Planungsabteilung des gewerkschaftseigenen Siedlungsunternehmens «Neue Heimat» übertragen wurde.

Die zwanzig afrikanischen Jahre waren Mays längste zusammenhängende Schaffens- und Lebensphase. Auch wenn die nur fünf Jahre währende Frankfurter Ära (1925-1930) seinen Ruhm begründete und er später gerade von diesen Erfahrungen zu zehren vermochte, irritiert es, wie wenig die Zeit in Kenya bisher auf Interesse gestossen ist. Der mehrjährigen Forschungsarbeit des Kunsthistorikers Eckhard Herrel ist es zu verdanken, dass diese Jahre umfassend dokumentiert wurden und die erhaltenen Pläne des 1951 in Nairobi gegründeten Büros Dr. Ernst May & Partners, das nach dem Wegzug des Prinzipals von dessen Partnern weitergeführt wurde, 1993 in das Archiv des Deutschen Architektur-Museums (DAM) in Frankfurt eingehen konnten. Hier ergänzen sie den schon vorhandenen Nachlass; kleinere Konvolute besitzen überdies das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg sowie das Architektur-Museum der TU München.

Das DAM präsentiert nun 15 Jahre nach der Ausstellung über Mays Frankfurter Zeit dessen afrikanische Jahre im gerade renovierten Haus am Frankfurter Museumsufer. Ingeborg Flagge, die neue Leiterin, hat das Gebäude durch den Frankfurter Architekten Ingo Schrader auf den von Ungers intendierten Urzustand zurückbauen lassen - mehr Licht gelangt nun in die Räume und vor allem den Gartensaal. Zudem wird das Haus-im-Haus-Konzept deutlicher erkennbar. Der ästhetische Gewinn ist allerdings durch einen Verlust an Ausstellungsfläche erkauft, zumal Flagge auch die seinerzeit von Heinrich Klotz installierte Dauerausstellung «Von der Urhütte bis zum Wolkenkratzer» wieder freilegen lässt. Ob man mit den simplen Dioramen Kindern und Jugendlichen in heutiger Zeit den Zugang zur Architektur eröffnen kann, ist mehr als fraglich, und Klotz' Nachfolger Vittorio Magnago Lampugnani und Wilfried Wang waren gut beraten, die Schaukästen hinter Wänden verschwinden zu lassen und somit Ausstellungsfläche zu gewinnen.

Für wirklich grosse Ausstellungen ist also zukünftig im DAM kaum noch Platz, und Ernst May muss sich jetzt mit dem nicht gerade üppig dimensionierten ersten Obergeschoss bescheiden. Dennoch ermöglicht die Schau anhand der erhaltenen Dokumente - die durch speziell für diese Präsentation an der Universität Darmstadt angefertigte Modelle ergänzt wurden - einen instruktiven Überblick über das Wirken eines deutschen Architekten in Ostafrika. Zunächst versuchte May die Formensprache des sich als Internationaler Stil verstehenden und somit ubiquitär anwendbaren Neuen Bauens zu importieren - das Wohn- und Geschäftshaus Kenwood (1937/38) wirkt mit seiner ondulierenden Fassade und dem zylindrischen Treppenhaus wie ein Pasticcio aus Emil Fahrenkamps Berliner Shell-Haus und Erich Mendelsohns Gebäude für die Metallarbeitergewerkschaft. An das frühere Architektenhaus in Frankfurt-Ginnheim erinnert Mays eigenes Domizil südlich von Nairobi, das auf einem einst von der dänischen Autorin Tania Blixen als Kaffeeplantage bewirtschafteten Gelände entstand.


Modifikationen der Moderne

Doch allein schon das tropische Klima erforderte formale Modifikationen; ähnlich den nach Tel Aviv emigrierten europäischen Kollegen musste May Vorkehrungen gegen die Hitze treffen - Verschattung und Luftzirkulation sind Grundbedingungen für das Bauen in Afrika. Überdies fand der strenge kubische Stil bei den vielfach der englischen Oberschicht angehörenden, hinsichtlich ihres ästhetischen Geschmacks noch dem Arts and Crafts Movement verhafteten Bauherren nur wenige Anhänger, und so errichtete der deutsche Emigrant bis in die fünfziger Jahre opulente Landhäuser, die an Lutyens, und Cottages, die an Baillie Scott erinnern. Fremd war May dieser Stil nicht, hatte er doch vor dem Ersten Weltkrieg im Londoner Büro des renommierten Siedlungsplaners Raymond Unwin gearbeitet.

Aber selbst bei der einheimischen Bevölkerung fanden Mays Konzepte nicht unbedingt die erhoffte Gegenliebe: Die um 1945 entwickelten präfabrizierten Typenhäuser aus Betonfertigteilen wurden abgelehnt, da sie an die traditionellen Grashütten erinnerten, die schwarze Bevölkerung aber längst die ästhetischen Normen ihrer Kolonialherren übernommen hatte. Gleichwohl entstand eine Reihe von Bauten, in denen es May vorbildlich gelang, die Formensprache des Neuen Bauens mit den regionalen Bedürfnissen zu versöhnen. Hier sind in erster Linie die Projekte für die ismaelitische Religionsgemeinschaft des Aga Khan in Kisumu und Dar es Salaam zu nennen, darüber hinaus das Ensemble der vom Stamm der Chagga betriebenen Kaffee-Kooperative am Fuss des Kilimandscharo (ab 1949) und schliesslich das Oceanic Hotel in Mombasa, eine Inkunabel der Tourismus-Architektur im Osten Afrikas. Dass der zwischen 1945 und 1947 im Auftrag der britischen Protektoratsregierung von Uganda erarbeitete Plan für die Stadterweiterung von Kampala noch bei heutigen Bauprojekten als Grundlage dient, ist vielleicht der beste Beweis für Mays Fähigkeit, auf die Gegebenheiten in Afrika adäquat zu reagieren.


[Bis 8. Mai im DAM in Frankfurt. Katalog: Eckhard Herrel: Ernst May - Architekt und Stadtplaner in Afrika 1934-1953. Schriftenreihe zur Plan- und Modellsammlung des Deutschen Architektur-Museums in Frankfurt, Bd. 5. Verlag Ernst Wasmuth, Tübingen 2001. 208 S., DM 58.- (in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2001.03.22

08. März 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Passagen durch München

Herzog & de Meuron bauen in Bayern

Herzog & de Meuron bauen in Bayern

Welche Bedeutung ist architektonischer Qualität bei einer vom ökonomischen Kalkül des Investors bestimmten Bauaufgabe zuzubilligen? Als Herzog & de Meuron 1994 eingeladen wurden, den im Besitz der Hypobank befindlichen Gebäudekomplex westlich der Theatinerstrasse in der Münchner Innenstadt neu zu strukturieren, entschieden sie sich für ein prägnantes städtebauliches Konzept, eine klare Formensprache sowie für einen auf wenige Elemente reduzierten Materialeinsatz. Obwohl der «Fünf Höfe» titulierte Wettbewerbsentwurf der Basler Architekten mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde, blieb er zunächst unrealisiert.

Die Fusion von Hypobank und Bayerischer Vereinsbank schuf 1997 eine veränderte Ausgangslage; der erste Bauabschnitt des revidierten Konzepts von Herzog & de Meuron konnte nun aber vor wenigen Tagen nach zweijähriger Bauzeit eingeweiht werden. Die Idee der an traditionelle Münchner Bautypologien (etwa die Höfe der Residenz) anknüpfenden Hof- und Passagenstruktur blieb bestehen, doch verbergen sich die Einbauten nun hinter den konservierten Putzfassaden, die - anknüpfend an historische Vorbilder - in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden sind. Einzig das Eingangsgebäude an der Theatinerstrasse wurde neu errichtet; vor die gläserne Fassade tritt eine Struktur aus gefalteten Bronzelochblechen, die als Sonnenschutz dienen. Im geschlossenen Zustand erscheint die Front als homogene Fläche, geöffnet rhythmisieren die senkrecht zur Bauflucht stehenden Metallelemente den Baukörper. Herzog & de Meuron variierten hier - wie auch an ihrem nahezu fertiggestellten Wohnkomplex in Paris - den schon an der Basler Schützenmattstrasse formulierten Gedanken einer als Lichtfilter und abstraktes Ornament zugleich fungierenden Metallhaut. Bleche derselben Gestalt wurden auch zur Verkleidung der Höfe im Inneren angewendet.

Mit ihrem System aus Höfen und Passagen schaffen Herzog & de Meuron Wege durch einen einst vornehmlich von den Banken genutzten und somit unzugänglichen Block im Herzen der Münchner City. Gesäumt wird das Erdgeschoss von Geschäften und Restaurants gehobenen Niveaus. Gerade dieses (auch optisch) heterogene Nutzungsspektrum erforderte ein selbstbewusstes architektonisches und künstlerisches Herangehen, das sich gegenüber den kommerziellen Reizen zu behaupten weiss. Den Basler Architekten ist der Spagat erstaunlich gut gelungen. Kernstück bildet die nordsüdlich ausgerichtete, derzeit erst zur Hälfte fertiggestellte Salvatorpassage. Auf der Gitterdecke in der Höhe stehen grosse Kübel, von denen zukünftig tropische Pflanzen in den Luftraum hinunter ranken werden.

Fertiggestellt dagegen ist der zur Theatinerstrasse hin gelegene Peruasahof, der durch einen in das erste Obergeschoss eingeschnittenen Schlitz zum Himmel hin geöffnet ist, sowie die Prannerpassage, welche den Komplex Richtung Westen durchsticht. Inspiriert von dem neobarocken Stadtpalais an der dortigen Kardinal-Faulhaber-Strasse, besticht die Wegführung durch eine organische Formung: In die wie die Innenform eines Handschuhs wirkende Passage, die sich am Ende in vier Schächte verzweigt, sind glitzernde Glaspailletten eingelassen - ein weiterer Beleg für die Abkehr der Basler Architekten von einem orthogonalen Rigorismus. Ergänzt wird die Architektur durch ein künstlerisches Konzept, mit dem Herzog & de Meuron Thomas Ruff und Rémy Zaugg betrauten. Zaugg gestaltet nicht nur fünf Treppenhäuser und die orientierenden Schriftzüge im gesamten Komplex, sondern lässt seine «mentalen Landschaften» auch in Form von in die Bodenplatten eingelassenen Wörtern in den Passagen anklingen. Ruff reproduzierte Fotos von Landschaften und Städten auf die Platten - in einem Verfahren, wie es schon bei der Bibliothek in Eberswalde Verwendung fand.

Von der Landschaft an den Ausgängen bewegt sich der Besucher auf seinem «rite de passage» bis hin zur Metropole - eine Idee, die sich zur Eröffnung allerdings nur erahnen liess, da die Verantwortlichen der Bank es nicht für nötig erachtet hatten, die künstlerischen Arbeiten von der Schmutzschicht der Baustelle zu befreien. Darüber, wer hier das Sagen hat, liess man die Vertreter der Medien ohnehin nicht im Zweifel: «Die Architekten halten sich im Hintergrund, wie es sich gehört», erklärte ein Mitglied der Geschäftsleitung der HypoVereinsbank.

Die Hypo-Kunsthalle wird im Mai wiedereröffnet, die Fertigstellung des gesamten Areals, an dem auch die Lokalmatadoren Hilmer & Sattler sowie der Tessiner Architekt Ivano Gianola beteiligt sind (im ursprünglichen Entwurf waren Rem Koolhaas und Hans Kollhoff vorgesehen), soll 2003 erfolgen.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2001.03.08

02. Februar 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kommunikativer Kosmos

Die Future University Hakodate von Riken Yamamoto

Die Future University Hakodate von Riken Yamamoto

Die Future University Hakodate im Norden Japans versucht der Hermetik des japanischen Bildungssystems mit einem innovativen Lehrangebot zu begegnen. Das durch den Strukturalismus der siebziger Jahre inspirierte Universitätsgebäude des Tokioter Architekten Riken Yamamoto schafft dafür den adäquaten Rahmen.

Ohne Zweifel: Japan ist bis heute hierarchisch gegliedert und weitgehend konservativ verfasst. Doch auch der ostasiatische Inselstaat bleibt nicht unberührt von den gesellschaftlichen Veränderungen, denen die Wohn- und Arbeitswelten in den Industriestaaten unterliegen. Der Architekt Riken Yamamoto, der 1945 in Peking geboren wurde und 1973 in Tokio sein Büro Riken Yamamoto & Field Shop eröffnete, beschäftigt sich mit baulichen Strukturen, die auf diesen Wandel reagieren. Hauptfelder seiner Tätigkeit sind der Bau von Wohnungen und öffentlichen Gebäuden - ob Universität, Feuerwache oder Altersheim. Seit 1997 besteht auch eine Partnerschaft mit dem in Zug tätigen Architekten Beda Faessler.


Baulicher Rahmen für innovative Lehre

Eines der jüngsten Projekte Yamamotos befindet sich in Hakodate an der Südküste von Hokkaido. Charakteristisch für die Stadt mit ihren 300 000 Einwohnern, die sich als eine der ersten 1854 Richtung Westen öffnete, ist ihr ausgedehntes Siedlungsgebiet, das sich von dem ins Meer ragenden Mount Hakodate Richtung Norden und Osten bis zu einer Hügelkette erstreckt, welche eine natürliche Begrenzung bildet. Die neue Universität der Stadt befindet sich in dieser Randlage, mit grossartigem Blick auf den Mount Hakodate, das Stadtgebiet und die Meeresbucht. FUN, Future University Hakodate, nennt sich die Einrichtung; ein Name, der mehr ist als ein modischer Titel. Denn FUN ist nicht nur ein Ort «zukunftsorientierter» Studiengänge, sondern zugleich der Versuch, eine Alternative zu dem petrifizierten Universitätssystem Japans anzubieten. Complex-System-Science und Information-Architecture werden in Hakodate gelehrt. Während Complex-System-Science bis anhin getrennte Fachbereiche wie Mathematik, Biologie und Ökonomie im Sinne eines komplexen Systems zu vernetzen sucht, vereint Information-Architecture Robotik, Network-Systems und Design.

Ungewohnt für japanische Verhältnisse ist nicht nur das Lehrangebot, sondern auch dessen Umsetzung. Die Studierenden besitzen eine grössere Wahlfreiheit und werden in ihrer Selbständigkeit unterstützt. Um die übliche Hermetik zu durchbrechen, können viele der Veranstaltungen auch von der interessierten Öffentlichkeit besucht werden. Ein derart ambitioniertes Konzept verlangte nach einem adäquaten baulichen Rahmen, der die Umsetzung erst ermöglichte. Durch die Konzeption der experimentellen Junior High School von Iwadeyama (1996) mit diesem Metier vertraut, gewannen Riken Yamamoto & Field Shop im Jahre 1997 den Wettbewerb für die vor wenigen Monaten vollendete Future University.

Der planerische Grundgedanke bestand darin, die einzelnen Labors, Forschungseinrichtungen und Unterrichtsräume nicht im Sinne einer Campusuniversität über eine grosse Fläche zu verstreuen, sondern in einem kompakten Volumen zu konzentrieren. Das hatte zwei Vorteile: Zum einen ergab sich die Möglichkeit, den gesamten landschaftlichen Umraum (nach einem Entwurf von Kazuyo Sejima) grosszügig zu gestalten; zum anderen aber liess sich eine Verdichtung von Funktionen erzielen, die überhaupt erst Kommunikation ermöglicht.

Wie eine hangarähnliche Struktur wirkt die gleissende Kiste oberhalb der Stadt, wenn man sich Hakodate nähert. Yamamoto hat eine streng rechteckige, mit 101 mal 113 Metern beinahe quadratische Lernbox in den sanft abfallenden Rasenhang integriert. Seitlich mit verzinkten Stahlplatten verkleidet, öffnet sich das Gebäude mit einer verglasten Front Richtung Süden. Doch das Dogma der Protagonisten gläsernen Bauens, Glas sei transparent und bedeute Offenheit, erweist sich auch hier als Ideologem - es gilt von innen, nicht jedoch von aussen. Was im Gebäude vor sich geht, vermag der Passant nicht zu erraten. Mit dem klaren Raster der Glasfront und den seitlichen Gerüsten der Fluchttreppen bedient sich Yamamoto der Gestaltungsprinzipien der Hightech-Ästhetik eines Norman Foster. Doch der elaborierten Perfektion, die längst zum Markenzeichen des weltweit operierenden Briten geworden ist, weiss der Architekt aus Yokohama wenig abzugewinnen; dass er keineswegs der Ästhetik einer geschmeidigen Eleganz huldigt, beweist die Konzeption des Inneren.

Herzstück ist die grosse Halle auf der Südseite, die ungefähr die Hälfte des gesamten Bauvolumens einnimmt. Durch vier sich zurückstaffelnde Geschossebenen ist ein gewaltiger Raum entstanden, der sich durch die Verglasung vollständig zum Hang hin öffnet und eine grandiose Aussicht ermöglicht. In der Halle tritt das Konstruktionsprinzip deutlich zutage: Präfabrizierte Stahlbetonpfeiler von quadratischem Querschnitt tragen die durch Lichtbänder gegliederte Dachkonstruktion; lamellenähnliche Strukturen in den abgehängten Deckenfeldern fungieren als «brise-soleils». Der durch die Spannweite der Träger vorgegebene Konstruktionsraster bestimmt die räumliche Einteilung ebenso wie die Staffelung der Geschosse. So ist jeder Ebene eine vom Architekten als «Studio» bezeichnete Terrasse vorgelagert, die als Arbeitsfläche dient. Mobiliar und Stellwände können frei bewegt und jeweils neu konfiguriert werden; hier ist für den Einzelnen genauso Platz wie für kleine Arbeitsteams oder für Gruppenpräsentationen. Dabei ergeben sich Blickbeziehungen zwischen den einzelnen Ebenen.


Wiederentdeckung der Struktur

Japanische Architekten, vor allem Tadao Ando, haben die Verwendung von Ortbeton kultiviert und mit diesem Material eine Qualität erzielt, die weltweit ohne Vergleich ist. Wenn Yamamoto nun präfabrizierte Betonelemente einsetzt, so knüpft er an den architektonischen Strukturalismus der sechziger und siebziger Jahre an. Nicht der ausgetüftelten Einzellösung gilt seine Aufmerksamkeit, sondern einem - durchaus spröden - baulichen Rahmen, der Freiheit lässt für die Aktivitäten des Einzelnen. Es ist eine Architektur, die primär Hülle sein will und der Aneignung bedarf; eine Architektur, die aber zugleich ein Angebot zur Kommunikation darstellt. So prägt eine Vielzahl von Wegen die Future University; allen voran die innere Erschliessungsstrasse der Mall, die mit ihren Treppentürmen und den sie verbindenden Brücken und Plattformen als kommunikative Aufenthaltszone, als Laufsteg, Bühne und Belvedere dient. Offene und öffentliche Bereiche sind eine Notwendigkeit, um der autistischen Monotonie der Bildschirmarbeit zu begegnen.

Der Haupteingang befindet sich auf der Höhe des dritten Niveaus auf der Ostseite, an der sich auch die Zufahrt befindet; Studenten und Besucher gelangen zunächst in eine den Komplex in Querrichtung durchmessende interne Erschliessungsstrasse, von der aus man die auf drei Ebenen organisierten Vorlesungssäle, Büros und Computerarbeitssäle erreicht. Die Bibliothek befindet sich nahe dem Eingang in einem entlang der Ostwand organisierten und die grosse Halle begrenzenden Funktionsriegel, der in seinem untersten Geschoss eine Cafeteria und oben das Auditorium maximum enthält.

Die Hoffnungen, Architektur könne Gesellschaft verändern, muten am Ende des 20. Jahrhunderts naiv an. Alle sozialen Ansprüche an das Bauen indes auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern, wäre fatal. Projekte wie die Future University Hakodate beweisen, dass Architektur sehr wohl die Fähigkeit besitzt, Kommunikation zu ermöglichen, die anderenorts nicht stattfände.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.02.02



verknüpfte Bauwerke
Future University Hakodate

26. Januar 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Zurückhaltende Demontage

Der Architekt George Bähr - eine Ausstellung in Dresden

Der Architekt George Bähr - eine Ausstellung in Dresden

Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Dresdner Frauenkirche, die gegenwärtig rekonstruiert wird, war das Hauptwerk des Barockarchitekten George Bähr. Eine Ausstellung im Schlossmuseum der sächsischen Landeshauptstadt widmet sich nun seinem Werk.

Zweifellos zählt die Dresdner Frauenkirche zu den erstaunlichsten Leistungen der protestantischen Kirchenbaukunst des Barocks. Doch längst ist nicht mehr allein der Name des Architekten George Bähr mit diesem Bau verbunden. Jüngere Archivstudien, die die 1990/91 beschlossene Rekonstruktion des stadtbildprägenden Sakralbaus begleiten, lassen die Planungsgeschichte eher als ein Gemeinschaftswerk erscheinen. So beauftragte August Christoph von Wackerbarth, als Gouverneur von Dresden zugleich Leiter des Zivil- und Militärbauwesens, den Landbaumeister Johann Christoph Knöffel 1725 mit einem Gegenentwurf zu den von Bähr vorgelegten Plänen. Knöffels Ideen flossen dann in den Ausführungsentwurf ein, bei dessen Realisierung sich Bähr der Mithilfe des Ratsmaurermeisters Johann Gottfried Fehre und des Steinmetzmeisters Daniel Ebhardt versichern konnte. Wesentlichen Anteil am Gesamtkonzept hatte überdies der vornehmlich für den plastischen Schmuck zuständige Bildhauer Johann Christian Feige: Wie die Quellen nahelegen, war er massgeblich an der Gestaltung des Innenraums beteiligt, weil Bähr dieses Problem nicht adäquat zu lösen vermochte.

Der produktive Aspekt der von den Staatlichen Kunstsammlungen gemeinsam mit dem Landesamt für Denkmalpflege organisierten und nun im Schlossmuseum Dresden präsentierten Ausstellung «George Bähr - Die Frauenkirche und das bürgerliche Bauen in Dresden» besteht darin, die Rolle des seit dem 19. Jahrhundert zum baumeisterlichen Genius emporgestemmten und somit nobilitierten Ratszimmermeisters Bähr zu relativieren. Man muss nicht einmal im Sinne Roland Barthes' vom «Tod des Autors» sprechen, um zu erkennen, dass sich das Forschungsinteresse der Kunst- und Architekturgeschichte in der letzten Zeit von den Personen auf die Strukturen verlagert hat. Eine einseitige, noch dem romantischen Genialitätskult verhaftete Fokussierung auf das schöpferische Subjekt musste derartige Aspekte ausblenden. Inzwischen hat die Analyse von Werkstattstrukturen und historischen Produktionsprozessen nicht nur das Œuvre Rembrandts schrumpfen lassen; sie fordert auch in der Architekturgeschichte berechtigt ihren Tribut.


Die Entstehung eines Platzes

Auch wenn der aufmerksame Katalogleser sich allenthalben mit der Frage konfrontiert sieht, welche Rolle George Bähr beim Kirchenbau und darüber hinaus zuzuweisen ist, zeigt sich die Präsentation der Ausstellung konventionell und wenig inspirierend. Weder wird die spannende Frage einer «multiplen Autorschaft» explizit zum Thema gemacht, noch wagen sich die Veranstalter an ein Epochenpanorama der sächsischen Residenz, welches der Untertitel der Schau verspricht. Die eher zufällig arrangierten Gegenstände täglichen Gebrauchs vermögen dieses Defizit ebenso wenig wettzumachen wie die Dokumentation einiger den Neumarkt prägender Bauten von Bähr, Pöppelmann und anderen. Nach der Niederlegung der mittelalterlichen Stadtmauer angelegt, wurde der Neumarkt zum Brennpunkt einer von bürgerlichen Schichten forcierten barocken Stadterweiterung. Bährs Anteil an dem im Verlauf des 18. Jahrhunderts entstandenen, um drei miteinander verbundene Platzbereiche gruppierten Ensemble, das als eines der bemerkenswertesten Raumkunstwerke seiner Zeit gilt, ist vergleichsweise unbedeutend. Von der Frauenkirche abgesehen, ist die Barockbaukunst in Dresden mit anderen Namen verbunden. Nicht nur mit den höfischen Baumeistern, wie dem Zwinger-Architekten Matthäus Daniel Pöppelmann, sondern auch mit weniger bekannten Personen wie George Haase, Johann Fehre sowie dessen Sohn Johann Gottfried Fehre. Dem älteren Fehre wird denn inzwischen auch massgeblich die bisher als Erstlingswerk Bährs gehandelte (und vor einigen Jahren ebenfalls wiederaufgebaute) Saalkirche im Elbvorort Loschwitz zugeschrieben.

1705 vom Gesellen zum Ratszimmermeister befördert, war der 1666 im erzgebirgischen Fürstenwalde geborene und seit 1689 in Dresden ansässige Bähr gemeinhin in Dresden dafür verantwortlich, die Einhaltung der Bauvorschriften zu begutachten. Details wie Dächer oder Türen wurden von ihm entworfen, doch lässt sich sein Anteil an vielen Projekten nur schwer fassen. Einfacher ist das ausserhalb der Stadt, wo Bähr eigenständiger aufzutreten vermochte. Zu seinen Werken zählt das Schloss Seusslitz nördlich von Meissen, vor allem aber eine Reihe von Sakralbauten. Besonders deutlich zeigt sich das Konzept der Zentralisierung des evangelisch-lutherischen Gottesdienstraums in der Dreifaltigkeitskirche von Schmiedeberg. Den Grundriss bildet ein griechisches Kreuz, das sich dem Quadrat annähert; liturgisches Zentrum bildet der Kanzel-Orgel-Altar mit vorgelagertem Taufbecken.


Vom Kreis zum Quadrat

Die Zentralraumkonzeption wurde mit der zwischen 1722 und 1743 errichteten Frauenkirche und ihren gestaffelten Emporen in die Vertikale gesteigert. Durch die in der Diagonale angeordneten Treppenhäuser entwickelte sich das Kreuz des Grundrisses hier definitiv zum Quadrat, während im Inneren der Kreis bestimmend blieb. Erst 1733 - drei Jahre vor Bährs Tod, zehn Jahre vor Fertigstellung des Baus - entschied man, die Kuppel nach dem Entwurf von Bähr vollständig in Stein auszuführen. Und es ist wohl gerade der monolithische Charakter, der das Faszinosum der Frauenkirche darstellt. Unabhängig von der Schale der Aussenmauern, wurde die Last auf einen Kranz von acht Pfeilern abgetragen. Mit einer etwas lieblos arrangierten Tour de force des europäischen Kuppelbaus - Sankt Peter in Rom, Santa Maria della Salute in Venedig, St. Paul's in London und Invalidendom in Paris - versucht die Schau schon zu Beginn, Bährs ingeniöse Leistung herauszustreichen.

Der einst von Canaletto in die Silhouette der Elbresidenz eingebrannte, zweifellos weniger elegante als markante Bau der Frauenkirche erlebt derzeit seine Wiederauferstehung: Bis zum Kuppelansatz stehen die Mauern. Und selbst wenn man den rauchgeschwärzten Trümmerhaufen, den die Bombardements vom Februar 1945 hinterliessen, als wichtiges historisches Zeugnis erachtete, so vermag doch das durch internationale Spenden finanzierte Wiederaufbauprojekt zu faszinieren. Dass wenige hundert Meter entfernt ein neues jüdisches Gemeindezentrum entsteht, ist ein Zeichen der Hoffnung. Anders als auf dem Neumarkt entschied man sich dort nicht für die Rekonstruktion der epochemachenden Synagoge Gottfried Sempers, sondern setzt mit dem Projekt von Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch bewusst auf zeitgenössische Architektur.


[Bis 4. März. Katalog: George Bähr - Die Frauenkirche und das bürgerliche Bauen in Dresden. Hrsg. Staatliche Kunstsammlungen Dresden / Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. 150 S., DM 30.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.01.26

13. Januar 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kontinuität der britischen Moderne

Zum Tod des Architekten Denys Lasdun

Zum Tod des Architekten Denys Lasdun

«Kombinationen des Vertikalen und des Horizontalen» seien seine Gebäude, definierte Denys Lasdun einmal. Das klingt simpel, trifft aber den Kern seines Verständnisses vom Bauen auf eigentümliche Weise. Denn der 1914 in London geborene und ebendort an der Architectural Association ausgebildete Architekt operierte mit Fensterbändern, Pfeilern und Terrassen, so dass seine Bauten als abstrakte dreidimensionale Kompositionen, zum Teil gar als Raumplastiken wirken.

Wie viele britische Architekten seiner Generation empfing er prägende Einflüsse von den ausländischen Architekten, die zu Beginn der dreissiger Jahre das eher traditionell bestimmte Vereinigte Königreich mit der Formensprache des Internationalen Stils vertraut machten und somit ästhetisch revolutionierten. Unter den Einwanderern waren nicht nur die prominenten deutschen Emigranten Walter Gropius, Erich Mendelsohn und Marcel Breuer, sondern auch der Kanadier Wells Coates sowie der zuvor in Paris tätige Berthold Lubetkin, der mit dem Penguin Pool im Regent's Park Zoo ein Meisterwerk des am russischen Konstruktivismus geschulten Neuen Bauens schuf. Nach zwei Jahren im Büro von Coates wechselte Lasdun 1938 in das von Lubetkin begründete Team «Tecton»; im gleichen Jahr errichtete er, erst 24 Jahre alt, ein Wohnhaus im Londoner Stadtviertel Bayswater, das unschwer das Vorbild von Le Corbusiers Pariser «Maison Cook» erkennen lässt, deren Eleganz und räumliche Komplexität allerdings nicht erreicht. Die gemeinsam mit Lindsay Drake entworfenen Wohnriegel des nahe gelegenen Hallfield Housing Estate (1951-1959), eines der grossen Wiederaufbauensembles in der Hauptstadt, folgen noch dem rationalistischen Fassadenaufbau von Tecton, während die um freistehende Erschliessungstürme gruppierten turmartigen Wohnensembles in Bethnal Green (1952, 1960) als Nukleus einer vertikalen Stadt eher den soziologisch orientierten Cluster-Konzepten von Robert Smithson verwandt scheinen.

Dass die Organisation von Gebäuden auch dem Kommunikationsbedürfnis gerecht werden müsse, wurde ein Gedanke, den Lasdun zeitlebens verfolgte und der sich durch sein gesamtes Œuvre zieht - von den Spielbereichen der Schule im Hallfield Estate bis hin zum Royal National Theatre. Daher nimmt es auch nicht wunder, dass sich die Tätigkeit des Architekten auf Wohn-, Universitäts- und Gemeinschaftsbauten konzentrierte; ein Geschäftshaus am Strand in der City of London (1958) steht in seinem Werk singulär da. Die reifsten - und eigenständigsten - Leistungen Lasduns stellen die in den sechziger Jahren geplanten Werke dar, vor allem aus Betonstrukturen gefügte künstliche Landschaften, die für verschiedene Universitäten entstanden. Die Terrassenbauten für den New Court des Christ's College in Cambridge und die als Wohnhügel ausgebildeten Gebäude der University of East Anglia (fertiggestellt 1970) lassen sich als revolutionäre Megastrukturen verstehen; Lasdun sprach von «architectural hills and valleys in an evocation of the permanent human environment and identification with nature and the primal dwelling».

Etwas später folgte das Londoner Institute of Education and Law, ein durch auskragende Treppen und akzentuierende Türme ins Expressive gewendetes Curtain-Wall-Gebäude. 1977, nahezu zeitgleich, wurde das National Theatre eingeweiht, mit dem das South Bank Centre seinen Abschluss erhielt. Lasduns Vorstellung einer abstrakten Komposition aus vertikalen und horizontalen Baugliedern, die sich gleichwohl nicht im Ästhetizismus erschöpft, fand hier zu ihrem Höhepunkt.

Architekten wie Denys Lasdun wurden in Zeiten der britischen Postmoderne zu Zielscheiben von Angriffen; Prinz Charles beispielsweise gefiel sich darin, gegen das South Bank Centre zu polemisieren. In der jüngsten Zeit zeigt sich ein entspannteres Verhältnis zur britischen Moderne der zweiten Generation; die grosse Lasdun-Retrospektive in der Royal Academy 1997 mochte dafür ein Beleg sein. Und selbst wenn es die Denkmalpflege mancherorts noch nicht zu verstehen vermag: Im Zuge der gegenwärtigen Retro-Bewegung erlangen auch die Megastrukturen der sechziger Jahre neue Aufmerksamkeit. Denys Lasdun mag dieses neue Interesse noch verspürt haben. Wie gestern bekannt wurde, ist er, der wie kaum ein zweiter Architekt die gesamte Tradition der britischen Moderne verkörperte, im Alter von 86 Jahren in London gestorben.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2001.01.13

05. Januar 2001Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Atelier als Mikrokosmos

Libeskinds Atelier für Barbara Weil auf Mallorca

Libeskinds Atelier für Barbara Weil auf Mallorca

Der Bautypus des Künstlerhauses entstand im ausgehenden 20. Jahrhundert und fand in den pompösen Atelierpalästen von Makart oder Stuck seinen Höhepunkt. Auch wenn die Bauhaus-Meisterhäuser, die Gropius für sich und seine Kollegen in Dessau errichtete, oder Le Corbusiers Bau für Amadée Ozenfant vom Geist der Sachlichkeit geprägt sind, blieb das Atelier ein Ort, an dem Privatheit und Öffentlichkeit, Produktion und Rezeption aufeinander treffen. Ein bemerkenswertes Konzept für ein zeitgenössisches Künstlerhaus stellt Daniel Libeskind derzeit in der Berliner Galerie Aedes West vor. Im Auftrag der Amerikanerin Barbara Weil entsteht ein Atelier- und Galeriegebäude in Port d'Andratx auf Mallorca, für das im vergangenen Jahr der Grundstein gelegt wurde. Wie kaum anders zu erwarten, handelt es sich nicht um einen funktionalen Werkstattbau in Form eines white cube, sondern um eine expressive zweigeschossige Bauskulptur, die auf dem Projekt von Libeskinds «virtual house» (1997) basiert. Doch der zylindrische Turm, dessen Schichtung an einen Plattenspeicher erinnert, ist nun zum Fragment geworden. «Mnemonic Cartwheels» nennt der Architekt sein jetziges Konzept für ein Atelier als Mikrokosmos und bezieht sich damit auf den 1232 in Palma geborenen Ramon Llull (d. i. Raimundus Lullus), der ein System konzentrischer Kreise zur Erklärung der Welt verwendet hatte. Wie eine gebogene Schildmauer, in die eine grosse Höhlung gebrochen wurde, wirkt der Galeriebau, der sich über einem niedrigen Sockel erhebt. Anhand von Modellen und Zeichnungen dokumentiert die Ausstellung die Entwurfsstadien; zu sehen sind ausserdem einige der bunt gespritzten Fiberglasreliefs und -plastiken von Barbara Weil.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.01.05



verknüpfte Bauwerke
Studio Weil

01. Dezember 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Angekratzte Geschichte

Das Rathaus von Utrecht ist das Ergebnis baulicher Aktivitäten verschiedener Jahrhunderte. Mit seiner furiosen Umgestaltung hat der jüngst verstorbene spanische Architekt Enric Miralles zusammen mit Benedetta Tagliabue das Konstrukt entlarvt und die vermeintliche Homogenität in die ursprüngliche Heterogenität zurückgeführt.

Das Rathaus von Utrecht ist das Ergebnis baulicher Aktivitäten verschiedener Jahrhunderte. Mit seiner furiosen Umgestaltung hat der jüngst verstorbene spanische Architekt Enric Miralles zusammen mit Benedetta Tagliabue das Konstrukt entlarvt und die vermeintliche Homogenität in die ursprüngliche Heterogenität zurückgeführt.

Allein unser nostalgischer Blick erklärt, warum wir historische Altstädte vielfach wie aus einem Guss gebaut erleben. Tatsächlich ist ihre Gestalt über viele Jahrhunderte gewachsen, und das, was sich heute harmonisch zusammenfügt, mag seinerzeit als Kontrast empfunden worden sein. Geschichte bleibt Fragment, Städte sind das Resultat urbanistischen Stückwerks: Alles ist komplexer und heterogener, als es wirkt.


Architektur als Konglomerat

Hat man in Utrecht die endlosen Passagen des Geschäfts- und Einkaufszentrums «Hoog-Catharijne» durchquert, mit dem in den siebziger Jahren das einstige Bahnhofsquartier überbaut wurde, findet man sich unvermittelt im Stadtkern wieder, der bis heute den mittelalterlichen Zuschnitt bewahrt hat. Seine Lebensader bildet die geschwungene «Oude Gracht». Ihr Verlauf entstand im 12. Jahrhundert. In welchem Masse das einheitlich erscheinende Stadtbild in Wahrheit Flickwerk ist, zeigt ein Blick auf den Rathauskomplex. Denn die neoklassizistische Fassade von 1826, die sich mit ihrem Portikus ohne rechtes Gegenüber der Oude Gracht zuwendet, verschleiert - im wahrsten Sinne des Wortes - die Tatsache, dass sich in der Baustruktur drei mittelalterliche Gebäude verbergen: das Haus Lichtenberg sowie der Kleine und der Grosse Hasenberg. Eine Ahnung vom vorigen Zustand vermittelt noch das als Eckbau zum Gänsemarkt an das neoklassizistisch überformte «Stadhuis» anstossende Haus Kaiserreich aus dem Jahr 1410. Gut hundert Jahre nach der letzten Erweiterung machte wachsender Raumbedarf 1932 einen neuerlichen Anbau nötig: Auf der grachtabgewandten Nordwestseite entstand ein zusätzlicher Flügel in den etwas spröden Formen der damaligen Zeit.

Der vorerst letzte Umbau wurde nun von Enric Miralles und seiner Partnerin Benedetta Tagliabue vorgenommen, die für ihr Projekt 1997 den ersten Preis erhalten hatten. Archivare mögen wissen, ob die den Massstab sprengende klassizistische Prachtfassade einst die Gemüter erregte. Die jetzige Intervention zumindest wird von Teilen der Bevölkerung als Provokation empfunden. Wahrscheinlich deswegen, weil Miralles den umgekehrten Weg wählte als seine Vorgänger vor 175 Jahren: Statt Vielfalt in Einheit überzuführen, zerlegte er Einheit in Vielfalt, überführte er Homogenität in Heterogenität.

Er wolle zurückkehren zu der Idee eines städtischen Gebäudes als eines Konglomerates von Häusern, hatte der Architekt aus Barcelona erklärt. Damit bekannte er sich offen dazu, was neues Bauen seit je im innerstädtischen Zusammenhang bedeutet: Zerstörung des Alten. Niedergelegt wurde zunächst der Flügel von 1932, um die Konturen des Gebäudekomplexes aufzubrechen und einen dreieckigen öffentlichen Platz entstehen zu lassen, der auf der einen Seite von dem klassizistischen Baukomplex und auf der anderen von einem zum Gänsemarkt orientierten Neubauflügel flankiert wird. Allerdings kann man kaum von einem «Flügel» sprechen. Miralles inszeniert einen nachgerade wüsten Material- und Formenmix aus Ziegel und Naturstein, Holz, Glas und Zink, der mehr wie ein Provisorium wirkt denn als fertige Architektur. Mal sind die Wände spitz, mal gebogen, und irgendwie wird das fragile Sammelsurium von Stahlstützen zusammengehalten. Dabei bezogen die Architekten nicht nur die Stirnseite des Baus aus den dreissiger Jahren ein, durch den sich nun der gläserne Erker einer Cafeteria hindurchbohrt, sondern integrierten Bauteile des abgebrochenen Riegels wieder in seine Anbauten. Eine jahrtausendealte, kulturhistorisch legitimierte Praxis: Von Spolien sprach früher, wer heute Recyclingmaterialien meint. Auf dem Platz fungiert schliesslich ein wie aus dem Baustellenchaos überkommenes Arrangement aus Stahlbetonwinkeln und Rohren als Brunnen.


Addition und Subtraktion

Miralles' Auftrag bestand allerdings nicht nur darin, eine Erweiterung des Rathauses zu konzipieren. Er hatte auch die bestehende Raumstruktur zu reorganisieren. Dafür wurde die Erschliessung grundsätzlich geändert: Man betritt nun den Komplex vom rückseitigen Platz aus und nicht mehr wie bisher an der repräsentativen Front zur Gracht. Die Skepsis gegenüber der darin zum Ausdruck kommenden grossen Geste bestimmt auch den Umgang mit den Innenräumen. Kaum etwas blieb so, wie es war: Einen ersten Eindruck erhält, wer das Foyer betritt und auf der freigelegten Wandecke vis-à-vis die historischen Bilder der Ratsherren und Bürgermeister wie zufällig verteilt sieht. Hier wie auch an anderen Stellen wurde der Putz streifenförmig oder flächig entfernt; das Mauerwerk liegt bloss, als habe die Bauforschung gerade mit Untersuchungen begonnen. Im Ratssaal werden solchermassen die Stürze und gemauerten Entlastungsbögen sichtbar, und vor die Mauern sind Stahlträger gestellt, welche die massiven Balken der nunmehr entfernten Zwischendecke stützen. Von den ondulierenden Tischreihen aus schweift der Blick weit durch den lichten Raum, bis hinauf in den offen gelegten Dachstuhl. In seinem Anbau fügte Miralles Altes zu Neuem, arbeitete additiv, synthetisch; hier, im bestehenden Bau, ist sein Vorgehen subtraktiv, analytisch.

Zweifellos wird Miralles' Utrechter Konzept nicht allen gefallen, schon gar nicht jenen, die in der gebauten Umwelt des Menschen vor allem das Postulat der Ordnung verwirklicht sehen möchten. Doch in seiner Radikalität ist der Umgang des Spaniers mit dem bestehenden Bau über Fragen des Geschmacks erhaben. Am Schein einer Harmonie zu kratzen, verborgene Schichten freizulegen, das ist selten mit solcher Obsession und doch so spielerisch versucht worden wie hier. Man kann über den Anteil an Bewusstheit, den Anteil an Zufälligkeit streiten, und doch offenbart das lustvoll-furiose, keineswegs zimperliche Vorgehen durchaus Liebe zum Bestehenden. Nachahmer aber seien gewarnt: Was leicht aussieht, ist schwer zu imitieren.


Produktivität sondergleichen

Miralles hat die Fertigstellung seines Rathausumbaus nicht mehr erleben können. Unerwartet ist er im Frühsommer im Alter von 45 Jahren an einem Gehirntumor gestorben. Von seiner unbändigen Produktivität zeugt nun ein neuer Band der spanischen Monographienserie «El Croquis» - der vierte, den der Verlag dem Enfant terrible der spanischen Architekturszene widmet. Er gilt den Projekten, die Miralles seit 1993 mit der italienischen Architektin Benedetta Tagliabue plante und realisierte. Neben einigen kleineren spanischen Arbeiten sind dies vor allem internationale Aufträge: der Wohnkomplex auf der Halbinsel Borneo im östlichen Hafengebiet von Amsterdam beispielsweise und die Jugendmusikschule in Hamburg. Während diese unlängst vollendeten Projekte mit Fotos der ausgeführten Bauten dokumentiert werden, sind von den in Planung (oder Realisierung) befindlichen Grossprojekten der Architekturfakultät von Venedig sowie des schottischen Parlaments in Edinburg lediglich Modellfotos, Zeichnungen und Konzeptskizzen zu sehen. Zumindest das Rathaus in Utrecht hätte man problemlos einbeziehen können - wenn nicht heute auch im Rahmen der Architekturpublizistik die durch das Wolfsgesetz des Marktes diktierte Unsitte grassierte, das frühzeitige Erscheinen als wichtiger zu erachten als den eigentlichen Inhalt.


[El Croquis 100/101: Enric Miralles / Benedetta Tagliabue. El Croquis Editorial, Madrid 2000. 312 S., Fr. 109.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.12.01



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Rathaus Umbau

18. November 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Neue Architektur in Basel

Mit einer grossen Anzahl von Bauten überragender Qualität gilt die Region Basel - auch im internationalen Massstab - als eines der wichtigsten Zentren...

Mit einer grossen Anzahl von Bauten überragender Qualität gilt die Region Basel - auch im internationalen Massstab - als eines der wichtigsten Zentren...

Mit einer grossen Anzahl von Bauten überragender Qualität gilt die Region Basel - auch im internationalen Massstab - als eines der wichtigsten Zentren der zeitgenössischen Architektur. Für alle, die sich über die wesentlichen Gebäude knapp informieren möchten, hat Lutz Windhöfel einen ebenso handlichen wie übersichtlichen Architekturführer erstellt, der sich, anders als Dorothee Hubers Führer von 1993, auf die letzten beiden Jahrzehnte beschränkt. Insgesamt 101 Bauten werden jeweils auf Doppelseiten mit Plänen, Fotos und mit Erläuterungstexten vorgestellt - von Steib und Steibs Museum für Gegenwartskunst (1980) und Diener & Dieners Wohnüberbauung an der Hammerstrasse (1981) bis hin zu aktuellsten Beispielen wie etwa dem Musikinstrumentenmuseum im Lohnhof von Morger & Degelo. Gegliedert ist der Führer nach Stadtbezirken; berücksichtigt wurde dabei auch die Agglomeration, darunter die deutschen Nachbarstädte Lörrach und Weil am Rhein. Zwangsläufig - und berechtigterweise - ist diese Auswahl auch von Subjektivität bestimmt. Befremdlich bleibt indes, dass Zaha Hadids (ehemaliges) Feuerwehrhaus für Vitra, Calatravas Tabourettli und von Herzog & de Meuron das Gebäude an der Schützenmattstrasse, die SBB-Bauten «Auf dem Wolf» und das Haus Koechlin in Riehen übergangen werden, während der Autor einen Bau wie Stefan Baaders «Zentrallager der industriellen Werke» vorstellt, dessen Fassadenstruktur die Eberswalder Bibliothek von Herzog & de Meuron plump adaptiert.


[Lutz Windhöfel: Architekturführer Basel 1980-2000. Birkhäuser-Verlag, Basel 2000. 256 S., Fr. 28.- (auch auf Englisch oder Französisch erhältlich). ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2000.11.18

11. November 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Eine „Kaaba“ für die Kunst

Das Museum der Arbeitsgemeinschaft Morger & Degelo und Kerez, das heute Samstag in Vaduz eröffnet wird, beherbergt nicht nur Kunstwerke aus fürstlichem Besitz, sondern auch die Staatliche Kunstsammlung Liechtenstein. Der rätselhafte schwarze Bau ist streng orthogonal organisiert, besticht aber trotzdem durch räumliche Vielfalt.

Das Museum der Arbeitsgemeinschaft Morger & Degelo und Kerez, das heute Samstag in Vaduz eröffnet wird, beherbergt nicht nur Kunstwerke aus fürstlichem Besitz, sondern auch die Staatliche Kunstsammlung Liechtenstein. Der rätselhafte schwarze Bau ist streng orthogonal organisiert, besticht aber trotzdem durch räumliche Vielfalt.

Städtische Qualitäten mag man Vaduz kaum attestieren. Wäre da nicht der Boom der Finanzdienstleistungsbranche, müsste man angesichts der 5000 Einwohner eher von einem Dorf sprechen. Doch auf Grund der wirtschaftlichen Prosperität wurde der Ort durch eine Reihe gesichtsloser Büro- und Verwaltungsbauten entstellt. Kulturell internationale Geltung kann einzig die Kunstsammlung des Fürsten von Liechtenstein beanspruchen, bisher kaum adäquat im «Engländerbau» untergebracht, einem Geschäftshaus aus dem Jahr 1933. Zur Zeit Rudolf II. in Prag gegründet, hat die ständig erweiterte Kollektion ihren Schwerpunkt in Arbeiten der italienischen, holländischen und flämischen Malerei - das Inventar umfasst allein 30 Werke von Rubens. Um diese Meisterwerke mehr als nur ausschnitthaft präsentieren zu können, entstand vor gut zwanzig Jahren der Plan für den Neubau eines Kunstmuseums. Doch konnte das 48-Millionen-Franken-Projekt des Münchner Architekten Alexander von Branca die Hürden nicht nehmen.


Orthogonales Labyrinth

Dem zweiten Anlauf für ein Museum war nun mehr Glück beschieden: Eine Reihe von Mäzenen gründete die «Stiftung für die Errichtung eines Kunstmuseums», veranstaltete 1997 einen Wettbewerb und liess den Museumsbau schliesslich im straffen Zeitrahmen von zwei Jahren auf einer Parzelle im Ortskern realisieren. Wurden die Baukosten von 30 Millionen Franken fast ganz durch Spenden finanziert, so kommt nun der Staat für die Betriebskosten auf. Die Anforderungen an das neue Gebäude waren komplex: Neben der Kollektion des Fürsten (der jetzt leider auch nicht mehr Ausstellungsfläche zur Verfügung steht als im «Engländerbau») war Platz zu schaffen für die 1968 gegründete, seit 1996 unter ihrem Leiter Friedemann Malsch mit einem jährlichen Ankaufsetat von 500 000 Franken forciert ausgebaute Staatliche Kunstsammlung.

Der gemeinsame Entwurf von Meinrad Morger und Heinrich Degelo (Basel) sowie Christian Kerez (Zürich), im Wettbewerb 1997 mit dem 2. Platz bedacht, aber zur Ausführung bestimmt, da sich das erstrangierte Projekt des Zürcher Büros Stürm & Wolf nicht mit dem Baurecht vereinbaren liess, überzeugt sowohl durch städtebauliche als auch durch räumliche Qualitäten. Kern des kistenförmigen Volumens, das die west-östlich orientierte Parzelle zwischen Städtle- und Aeulestrasse nahezu vollständig ausfüllt, sind zwei gegenläufige Treppen, welche die beiden Ausstellungsebenen miteinander verbinden. Dadurch ergeben sich zwei Möglichkeiten, die Ebene mit den Oberlichtsälen zu erreichen: Entweder der Besucher nutzt die zentrale Treppe, die vom Foyer aus nach oben führt, oder er durchschreitet erst den an der Nordwestecke gelegenen Seitenlichtsaal und den anschliessenden Kunstlichtraum, um dann zur zweiten Treppe zu gelangen.

Die prinzipielle Struktur des Gebäudes zeigt sich im Obergeschoss besonders deutlich: Der rechteckige Grundriss teilt sich in vier ebenfalls rechteckige Oberlichtsäle, die zu einem Rundgang zusammengeschlossen sind und mit je 300 bis 350 Quadratmetern Fläche unterschiedliche Proportionen, aber ähnliche Raumgrössen aufweisen. Dabei alternieren zwei schmale, lange Räume mit zwei breiteren - eine Konzeption, die trotz der identischen Gestaltung (weisse Wände, Eichenparkett, Glasdecke) eine erstaunliche räumliche Vielfalt aufweist. Durch den für die Präsentation der Gemälde nötigen Einbau von Querwänden erscheint die klare Struktur fast labyrinthisch.


Altmeister und Arte Povera

Die durch Leihgaben aus Museen (Kunsthaus Zürich, Kirchner-Museum Davos) und aus Privatbesitz angereicherte Eröffnungsschau gibt einen Überblick über die bisherigen Erwerbungen der Staatlichen Kunstsammlung. Von den fünfziger Jahren (Giacometti, Bill, Tàpies, Cobra-Gruppe) bewegt man sich im Erdgeschoss zurück bis zu Corot und der Schule von Barbizon. Akzente setzen der italienische Futurismus, der Surrealismus und eine bemerkenswerte Kollektion lettristischer Arbeiten; mit Ferdinand Nigg ist schliesslich ein aus Vaduz stammender Künstler zu entdecken, der im Kontext des Deutschen Werkbunds reüssierte und später an den Kunstgewerbeschulen von Magdeburg und Köln lehrte.

Drei Säle des Obergeschosses gelten vornehmlich der Kunst der sechziger bis achtziger Jahre. Als herausragend erweist sich dabei der Bestand an Arte-Povera-Arbeiten - ein in jüngster Zeit ausgebauter Sammlungsschwerpunkt. Die raumgreifenden Objekte, so Mario Merz' «Spirale di Cera» (1970), sind in einem der langgestreckten Säle überzeugend präsentiert. Auf temporäre Querwände wurde verzichtet, so dass das Raumkonzept hier ohne Modifikationen erlebbar ist. Der vierte Saal ist der Fürstlichen Sammlung vorbehalten; grüngraue Wände grenzen den Bereich aus der gleissenden White-Cube-Ästhetik der übrigen Räume aus und schaffen den Hintergrund für die Präsentation der Altmeister. Anstatt zur Eröffnung des Museums eine neue Auswahl aus den Beständen zu präsentieren, entschied man sich dafür, die 1998 im «Engländerbau» eröffnete Schau «Götter wandelten einst . . .» mit wichtigen Werken unter anderem von Rubens, Jordaens, Rembrandt, Giovanni Francesco Susini und Pierre Courteys zu übernehmen. Rubens' grosse Leinwände «Mars und Rhea Silvia» sowie «Die Auffindung des Erichthoniusknaben» nehmen die Querachse des Saals ein, der durch zwei winkelförmige Wände in drei Bereiche unterteilt wird.


Kontextueller Solitär

Die leise Irritation, die der Parcours durch das Innere auslöst, wird durch die hermetische Gestalt des Äusseren noch potenziert: die räumliche Organisation des Inneren bleibt verborgen. Das Dogma der Moderne, die Nutzung eines Gebäudes müsse sich an der Fassade abzeichnen, suspendieren Morger & Degelo (wie schon bei ihrem Dreirosenschulhaus in Basel) souverän: Wer die schwarze «Kaaba» in Vaduz betritt, die sich lediglich durch die Beschriftung als ein Museum ausweist, wird angesichts der unvermutet lichten Innenräume erstaunt sein. Von wenigen Öffnungen, vor allem den Fensterbändern des Foyers und des Seitenlichtsaals durchbrochen, lassen die fugenlos am Ort gegossenen, schwarz-spiegelnden Betonwände von 40 cm Stärke einen monolithischen Eindruck entstehen. Beigegeben wurden dem schwarz eingefärbten Beton schwarze Basaltbrocken sowie bunter Flusskies. Durch Abschleifen ergab sich ein lebendiges Bild der Fassade, das durch leichte Unregelmässigkeiten verstärkt wird: die Oberfläche nimmt einen beinahe textilen Charakter an. Gerade diese Gestaltung reduziert die monumentale Wucht des Gebäudes und erlaubt ihm, sich in die Baustruktur zu integrieren. Den Architekten ist ein Gebäude geglückt, das man als «kontextuellen Solitär» bezeichnen könnte: Es sprengt den Rahmen, hält aber die Baulinien akkurat ein; es wahrt zu den banalen Nachbarbauten Distanz, erlaubt ihnen aber die Spiegelung in der Fassade.

Obwohl das Staatliche Hochbauamt rechtzeitig zur Museumseröffnung ein voluminöses Buch zum «Bauen für Liechtenstein» vorlegte, ist festzuhalten, dass seit Ernst Gisels Bauten aus den siebziger Jahren keine öffentlichen Gebäude von architektonischem Anspruch mehr realisiert worden sind - und das, obwohl sich Liechtenstein mit seiner Lage zwischen Vorarlberg und Graubünden an der Schnittstelle zweier bedeutender europäischer Architekturregionen befindet. Mit dem schillernd-numinosen Gebilde hat nun Vaduz eine Preziose erhalten, und die Hoffnungen sind nicht unbegründet, dass sich eine neue Besucherschicht erschliessen lässt, die nicht allein zum Shopping in Liechtenstein anhält. Denn mit den neuen Museen von Vaduz, Bregenz und Appenzell hat die österreichisch-schweizerische Grenzregion ein neues Profil erhalten.


[Tag der offenen Tür am Sonntag, 12. November, von 12 bis 18 Uhr. - Literatur: Stiftung zur Errichtung eines Kunsthauses Vaduz. Verlag Lars Müller, Baden 2000. 112 S., Fr. 88.-. - Götter wandelten einst. Benteli-Verlag, Bern 1998. 176 S., Fr. 48.-. - Bauen für Liechtenstein. Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 2000. 348 S., Fr. 70.-. - Zur Eröffnung soll zudem eine Broschüre vorliegen, die die Eröffnungsausstellung der Staatlichen Kunstsammlung dokumentiert.]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2000.11.11



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Kunstmuseum Liechtenstein

03. November 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Landschaft als Grundlage des Bauens

Das Niederländische Architektur-Institut in Rotterdam (NAI) lässt mit seiner Ausstellung «Towards Totalscape» das vergangene Jahrzehnt japanischer Architektur Revue passieren. Der Parcours führt von der Metropole Tokio in die ländlichen Regionen und wirft die Frage nach dem Verhältnis von Architektur und Landschaft auf.

Das Niederländische Architektur-Institut in Rotterdam (NAI) lässt mit seiner Ausstellung «Towards Totalscape» das vergangene Jahrzehnt japanischer Architektur Revue passieren. Der Parcours führt von der Metropole Tokio in die ländlichen Regionen und wirft die Frage nach dem Verhältnis von Architektur und Landschaft auf.

Zeitgenössische japanische Architektur wird in Europa zumeist als Kaleidoskop spektakulärer Preziosen rezipiert. Es sind die expressiven Kulturzentren von Itsuko Hasegawa, die gross dimensionierten Verwaltungskomplexe von Hiroshi Hara oder die zwischen einer reduktionistischen Formensprache und traditionellen Allusionen oszillierenden Betonstrukturen von Tadao Ando, welche unser Bild vom heutigen Bauen des asiatischen Inselstaats bestimmen. Aufmerksamkeit finden auch Einzelgänger: Shigeru Ban etwa, der mit seinen Pappröhrenkonstruktionen in diesem Jahr auf auf der Architekturbiennale in Venedig, der Expo in Hannover sowie im Londoner Millennium Dome reüssierte, und Riken Yamamoto, dessen auf neostrukturalistischen Konstruktionsrastern basierende Universitäts-, Schul- und Wohngebäude der informellen Kommunikation Freiräume schaffen. Als Hauptvertreterin einer minimalistischen Tendenz gilt Kazuyo Sejima, seit Beginn des Wintersemesters Gastdozentin an der ETH Zürich und - wie jüngst vermeldet wurde - Trägerin des Erich-Schelling-Architekturpreises der Stadt Karlsruhe.


Künstliche Natur

Wer durch Japan reist, bemerkt, dass das auf eine Reihe von Persönlichkeiten beschränkte Bild so falsch nicht ist: Architektur bedeutet hier zumeist punktuelle Intervention - stadträumliches Denken, Kontextualität, Raumplanung gar sind kaum entwickelt. Moriko Kira und Mariko Terada suchen nun als Gastkuratorinnen mit ihrer Ausstellung «Toward Totalscape. Contemporary Japanese Architecture, Urban Design and Landscape» im Niederländischen Architektur-Institut in Rotterdam (NAI) nach einer Alternative zur konventionellen Präsentation von Einzelbauten. Während üblicherweise Chronologie, Typologie oder Stil das Gliederungsprinzip darstellen, wird hier die Frage nach dem Verhältnis von Architektur und Landschaft zur Leitlinie. Wer seinen Blick nur auf die dicht bebaute Tokyo Area, also die Kanto-Ebene, richtet, übersieht, dass Hügel, Berge und Waldgebiete die Landesnatur in starkem Masse prägen. Traditionell zeichnete der Bezug zum nichtbebauten Umraum Japans Architektur aus; und auch heute noch lässt sich die Landschaft als mehr oder weniger dicht besiedeltes räumliches Kontinuum auffassen, nachgerade als «Grundlage» des Bauens. Dabei bilden Natur und Kultur keine sich abstossenden Pole, sondern fliessen ineinander, mischen sich und ergeben Legierungen unterschiedlicher Intensität.

Vom Zentrum der Schau im NAI aus durchmisst der Besucher in spiralförmiger Bewegung die vier Bereiche «metropolitan», «urban», «rural» und «natürlich», um dann zur «Artificial Landscape» im Obergeschoss zu gelangen. Gliederungselement ist das aufwendige Ausstellungsdesign: Die metropolitane Situation wird repräsentiert durch repetitive Bilder eines Computer-Game-Highways, das rurale Ambiente durch vergrösserte Aquarelle des Filmsetdesigners Yokei Tanado, die in traditionalistischer Manier die Transformation der suburbanen Regionen veranschaulichen. Eine elliptische Box aus Silberfolie schliesslich bildet den Hintergrund für die künstliche Landschaft - vom artifiziellen holländischen Dorf «Huis ten Bosch» bei Nagasaki über Shin Takamatsus Community Center Minatosakai bis hin zu dem nahezu fertiggestellten multifunktionalen Komplex von Tadao Ando auf der Insel Awaji vor Kobe. Die Zuordnung der einzelnen Bauten bleibt allerdings mitunter fragwürdig: Die Planung einer «Island City» im Meer vor Fukuoka und die Indoor-Skipiste an der Tokyo Bay, von den Ausstellungsmacherinnen als urban bzw. metropolitan rubriziert, liessen sich genauso den künstlichen Landschaften zuordnen.


Tokio als Modell

Als eine der Mega-Metropolen der Welt bildet Tokio den Schwerpunkt der Rotterdamer Ausstellung. Fast 33 Millionen Menschen leben in der Metropolitan Area; die durchschnittliche Fahrt zur Arbeit dauert 90 Minuten. Dies weist hin auf ein Spezifikum der japanischen Hauptstadt: ihre vergleichsweise geringe Verdichtung. Von einigen Hochhausquartieren und Geschäftszentren abgesehen, prägen bis heute niedrige, zumeist frei stehende Häuser das Stadtbild. In aller Deutlichkeit zeigt dies ein fünf mal fünf Meter messendes Stadtmodell, das bei näherem Hinsehen deshalb verwundert, weil es nur einen Ausschnitt aus der polyzentralen innerstädtischen Struktur zeigt; der Distrikt Shinjuku mit dem neuen Rathaus von Kenzo Tange, aber auch das Gebiet um die Tokyo Station sind nicht zu finden.

Funktion des Modells ist es aber auch nicht, einen Gesamtüberblick über die Stadt zu bieten, sondern das Projekt «Roppongi Hills» in den Mittelpunkt zu rücken, das bis 2003 realisiert werden soll. Auf 11 Hektaren bauen internationale Architekten (Kohn Peddersen Fox, John Jerde, Terence Conran, Richard Gluckman, Fumihiko Maki) Büros, Wohnungen, ein Medienzentrum, Hotels, Shopping Malls und ein Museum für die Mori-Kunstsammlung im obersten Stockwerk des Hochhauses. Anderenorts würde ein architektonisch derart wenig inspiriertes Vorhaben kaum auf Interesse stossen. In Japan indes, wo übergreifende Stadtplanung von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht existiert, gilt selbst ein Investorenprojekt als massstabsetzend.


Eine Dekade im Überblick

Die im NAI versammelten knapp 100 Projekte, anschaulich mit Hilfe von Zeichnungen, Fotos, Videoclips und Modellen vorgestellt, geben einen guten Überblick über das vergangene Jahrzehnt der japanischen Architektur in seiner ganzen Vielfalt. Mit jeweils mehreren, hierzulande nur teilweise bekannten Projekten sind Ito, Ando, Hasegawa, Yamamoto, Sejima und Shigeru Ban vertreten, der für die Ausstellung einen kleinen Lesepavillon aus Pappröhren errichtet hat. Daneben geraten einige Bauten von Büros ins Blickfeld, die durchaus als Entdeckungen bezeichnet werden dürfen - beispielsweise das Grass House (1995) und das Leek House (1997), mit denen Terunobu Fujimori jenseits jeglichen ökologischen Bauens nach einer Verschmelzung von architektonischer Struktur und begrünter Hülle suchte. Vom Einfamilienhaus spannt sich der Bogen bis hin zu den wenigen städtebaulichen Gesamtkonzepten, etwa der bemerkenswerten «Artpolis» von Kumamoto, die eines der raren Projekte des kommunalen Siedlungsbaus in Japan darstellt.

Dass neben Projekte hoher architektonischer Qualität auch eine Reihe wichtiger Kommerzbauten tritt (von denen die hybride Kombination von Riesenrad und «urban commercial facility for future generations» der Takenaka Corporation in Osaka zumindest urbane Signifikanz beanspruchen kann), zeugt von einem Ansatz, der sich von dem vielfach grassierenden Ästhetizismus kulinarischer Architekturausstellungen erfreulich weit entfernt. Dass allerdings die Tätigkeit ausländischer Architekten, die das japanische Baugeschehen massgeblich mitbestimmen, vollständig ausgeklammert bleibt, deutet auf eine fragwürdige nationale Verengung des Fokus hin. Seit den Zeiten von Frank Lloyd Wright ist Japan auch ein Land der Architekturimporte; man denke nur an die in jüngster Zeit entstandenen Bauten von Mario Botta, David Chipperfield, Nigel Coates, Peter Eisenman, Future Systems, Steven Holl, Rem Koolhaas oder Aldo Rossi.


[Bis 14. 1. 2001; Katalog: Moriko Kira und Mariko Terada: Japan: Towards Totalscape (in englischer oder niederländischer Sprache). NAI Publishers, Rotterdam 2000. 332 S., hfl. 85.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.11.03

03. Oktober 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Konversionen und Transformationen

Zum ersten Mal findet mit der Expo 2000 eine Weltausstellung nicht nur an einem Ort statt, sondern spannt ein Netz dezentraler Projekte über die Welt. Eine Reise durch Mittel- und Norddeutschland führt zu einigen architektonisch bemerkenswerten Stationen.

Zum ersten Mal findet mit der Expo 2000 eine Weltausstellung nicht nur an einem Ort statt, sondern spannt ein Netz dezentraler Projekte über die Welt. Eine Reise durch Mittel- und Norddeutschland führt zu einigen architektonisch bemerkenswerten Stationen.

Beim Landeanflug auf Leipzig wirkt das Stadtgebiet wie eine Oase inmitten einer Mondlandschaft: Bis auf wenige hundert Meter haben sich die Räder der Schaufelradbagger dem Stadtrand genähert. Dörfer und Siedlungen sind über Jahrzehnte dem sich ständig erweiternden Braunkohleabbau zum Opfer gefallen, übrig blieben Krater und Schutthalten, eine Kunstlandschaft, von der nun die Spontanvegetation Besitz ergreift. Obgleich die Braunkohlewirtschaft durch das Ende der DDR nicht vollends zum Erliegen gekommen ist, wandelt sich der Leipziger Süden seit einem Jahrzehnt: Kokereien, veraltete Kraftwerke und Brikettfabriken wurden stillgelegt, ebenso viele Tagebauareale. Mit Hilfe von Expo-Fördermitteln gelang es, den stadtnahen Tagebau Cospuden zu renaturieren und in eine Freizeitlandschaft zu verwandeln. Rund um einen Badesee entstanden Biotope; die für Leipzig charakteristische Auenlandschaft, die als Grünzug die gesamte Siedlungsfläche durchzieht, konnte um ein wesentliches Element bereichert werden.


Brachen der Industrielandschaft

Doch die Transformation der Industriegesellschaft wird auch in der Stadt selbst anschaulich. Plagwitz, ein westlich der City gelegener Stadtteil, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als Industriequartier angelegt. Wer vor zehn Jahren in den verqualmten Strassen umherging, entdeckte ein Fabrikareal des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an dem die Zeit beinahe spurlos vorbeigegangen war. Mit dem Kollaps der Maschinen- und Textilfabrikation wurde Plagwitz zur Problemregion der Stadt. Zweifellos ist es gelungen, mit attraktiven neuen Wegen an den historischen Kanälen, aber auch durch erfolgreiche Konversionsprojekte das Image des Viertels zu verbessern. Allerdings lässt sich beim besten Willen nicht jede denkmalwerte Industriehalle in ein Businesszentrum, nicht jede Fabriketage in Künstlerateliers umwandeln. Dem aufmerksamen Besucher vermag das Expo-Projekt «Plagwitz auf dem Weg ins 21. Jahrhundert» somit auch die Grenzen aufzuzeigen, die dem Konzept Konversion gesetzt sind. Für Fritz Högers klinkerverkleidete Konsumzentrale (1932) beispielsweise, ein Meisterwerk des Neuen Bauens, wurde noch keine Nutzung gefunden. Im Übrigen verhält es sich angesichts fortschreitender Suburbanisierung und stetig sinkender Bevölkerungszahlen mit den Wohnbauten nicht anders, so dass die Kommune den Abriss von mehreren hundert Gründerzeithäusern erwägt.

Verlässt man Leipzig Richtung Norden, so zeigt sich ein ähnliches Bild: die Reihe der Tagebaue zieht sich bis in die Gegend des Chemiestandortes Bitterfeld. Das Projekt «Ferropolis» macht die industrielle Nutzung der Naturressourcen zum Thema: in einem aufgelassenen Tagebau wurden die gigantischen Schaufelradbagger und Förderstrecken in der Art eines bizarren Freilichtmuseums konserviert. Während die sorgsame Restaurierung der von Rudolf Otto Salvisberg für die «Mitteldeutschen Stickstoffwerke AG» errichteten Siedlung Piesteritz (NZZ 6. 9. 00) zu Recht Aufnahme in die von der Expo 2000 unterstützten Projekte gefunden hat, zeugt der Umbau eines Plattenbau-Schulkomplexes im nahen Wittenberg durch Friedensreich Hundertwasser von einer Verwässerung des Expo-Mottos «Mensch - Natur - Technik». Doch Säulchen und Zwiebelkuppeln sind so beliebt, dass Hundertwasser die zwischen Hannover und Hamburg gelegene Bahnstation Uelzen zu - so das Faltblatt - «einem der schönsten Bahnhöfe der Welt» umbauen durfte.

Etwas vollmundig liebt man es auch im südlichen Niedersachsen. «Expo on the rocks» lautet das Motto in Goslar am Nordrand des Harzes. Mitsamt der historischen Altstadt rangiert das Erz- und Silberbergwerk Rammelsberg seit 1992 als Unesco-Weltkulturerbe und fungiert derzeit ebenfalls als Satellit der Weltausstellung. Begehbar sind nicht nur Teile der Stollensysteme, sondern auch die 1935 bis 1942 entstandenen oberirdischen Anlagen der Erzaufbereitung. Die eindrucksvolle Staffelung der Bauten am Hang folgt streng funktional den Erfordernissen der Erzgewinnung, bezeugt aber mit Satteldächern und Holzverkleidung auch eine für die NS-Zeit typische Romantisierung des Produktionsprozesses. Die vornehmlich im Ruhrgebiet als Bergwerksarchitekten tätigen Fritz Schupp und Martin Kremmer, die mit dem Schacht XII der Zeche Zollverein in Essen ein Meisterwerk der Industriebaukunst des 20. Jahrhunderts schufen, suchten in Goslar vernakuläres Bauen und Moderne zu versöhnen. Den Propagandisten einer vor Jahren ausgerufenen «analogen Architektur» könnte das Ensemble als Musterbeispiel dienen.

Einen anderen Weg als jenen der Musealisierung aufgelassener Industriekomplexe beschreitet man in Steinbergen, einer am Hang des Wesergebirges gelegenen Ortschaft 50 Kilometer westlich von Hannover. Da die landschaftsbeherrschenden Kalksteinbrüche nur noch wenige Jahre effizient ausgebeutet werden können, begann schon jetzt die Transformation der Abbaugebiete in einen Themenpark. Im derzeitigen Ausbauzustand indes verliert sich die Absicht: ein wenig Heimatmuseum (Mineraliensammlung), ein wenig Kunst (Videoinstallation von Marcel Odenbach) und etwas Tourismuswerbung wirken gut gemeint, aber wenig überzeugend. Günter Zamp Kelp, früher Mitglied des Wiener Aktionistenteams «Haus-Rucker-Co.» und inzwischen durch das Neandertal-Museum bei Düsseldorf als praktizierender Architekt zu Renommee gelangt, betraute man mit der künstlerischen Oberleitung. Nur Teile seines Konzepts sind bisher realisiert worden, doch lohnt die als «Jahrtausendblick» bezeichnete Installation auf dem höchsten Punkt der «Erlebniswelt steinzeichen steinbergen» auch heute schon den Besuch. Eine Rampe aus Bruchsteinen, die sich in eine Stahlgitterstruktur auflöst und in einer von gläsernen Rahmen gefassten Plattform kulminiert, stellt sich in die Tradition architektonischer Follies, dient sie doch keinem anderen Zweck, als das Sehen selbst zu thematisieren. Die gestaffelten Rahmen geben Perspektiven vor und enttarnen die vorgebliche Naturlandschaft als artifizielle Inszenierung. Zamp Kelp greift damit - allerdings in verändertem Massstab - ein Thema auf, das mit dem «Aue-Tor» in Kassel schon 1977 in Haus-Rucker-Tagen seine Formulierung gefunden hatte.


Sehen, Hören, Verstehen

Ein Themenpark anderer Art ist nahe der nördlich von Osnabrück gelegenen Ortschaft Kalkriese entstanden. Nachdem Münzfunde 1987 erste Hinweise gegeben hatten, konnte auf Grund archäologischer Ausgrabungen erwiesen werden, dass es sich bei der Kalkrieser Senke um den Ort der Varusschlacht handelt, die im Jahr 9 der Ausdehnung des Römerreiches in Germanien ein Ende setzte. Der nach dem Wettbewerbsentwurf der Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer entstandene Archäologische Park konnte im Mai eingeweiht werden; der Museumsbau selbst wird im kommenden Frühjahr fertiggestellt sein. Gigon und Guyer ist es gemeinsam mit den Landschaftsarchitekten Zulauf und Partner sowie den Grafikern Ruedi Baur und Lars Müller nicht nur gelungen, ein weit zurückliegendes, sich der Darstellbarkeit entziehendes historisches Ereignis intelligent zu veranschaulichen, ohne in oberflächliche Bildlichkeit zu verfallen; sie spannen ihren Bogen auch in die Gegenwart, interpretieren die Varusschlacht als Paradigma des (kriegerischen) Konflikts. Mit abstrakten Mitteln - Holzschnitzelpfaden für die Bewegungen der Germanen, Stahlplatten als Zeichen für den Weg der Römer - ist es gelungen, die hermeneutische Frage nach der Vergegenwärtigung historischer Ereignisse aufzuwerfen. Diesem Zweck dienen auch drei über das Gelände verstreute, ebenfalls mit korrodierten Stahlplatten verkleidete Kuben: Durch die kugelförmige Linse des Pavillons «Sehen» blickt man über das um 180 Grad gekehrte einstige Schlachtfeld, während das Hörrohr des «Hören»-Würfels die zufälligen Geräusche der Umgebung bündelt. Im «Verstehen»-Pavillon schliesslich fällt der Lichtschein von ausserhalb auf eine Monitorwand mit einer endlosen Sequenz von Bildern heutiger und vergangener Kriegsschauplätze.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.10.03

06. September 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kriegswirtschaft und Siedlungsbau


Kriegswirtschaft und Siedlungsbau
Sanierung der Salvisberg-Siedlung in Piesteritz
Mit dem Bleicherhof und dem ETH-Fernheizkraftwerk in Zürich, dem Lory-Spital und dem Suva-Haus in Bern sowie dem Komplex für Hoffmann-La Roche in Basel ist Otto Rudolf Salvisberg der Hauptvertreter einer gemässigten Moderne in der Schweiz. Seine Karriere begann indes mit einer Siedlung im mitteldeutschen Piesteritz.


Kriegswirtschaft und Siedlungsbau
Sanierung der Salvisberg-Siedlung in Piesteritz
Mit dem Bleicherhof und dem ETH-Fernheizkraftwerk in Zürich, dem Lory-Spital und dem Suva-Haus in Bern sowie dem Komplex für Hoffmann-La Roche in Basel ist Otto Rudolf Salvisberg der Hauptvertreter einer gemässigten Moderne in der Schweiz. Seine Karriere begann indes mit einer Siedlung im mitteldeutschen Piesteritz.

Anders als in England, wo die «Garden City Association» seit 1903 in Letchworth die von Ebenezer Howard fünf Jahre zuvor formulierten sozialreformerischen Ziele des «Peaceful Path to Real Reform» nach einem genossenschaftlichen Modell zu realisieren suchte, vermochten es die Protagonisten der Gartenstadtbewegung in Deutschland kaum, sich vom Kalkül des aufgeklärten Unternehmertums zu emanzipieren. Die Siedlung Margarethenhöhe in Essen war eine Krupp-Werkssiedlung in neuer Gestalt; und die 1907 gegründete erste deutsche Gartenstadt in Hellerau bei Dresden, vielfach als Prestigeprojekt des Deutschen Werkbundes und der Deutschen Gartenstadtgesellschaft interpretiert, verdankte ihr Entstehen den expandierenden «Deutschen Werkstätten» des liberalen Industriellen Karl Schmidt, der als Gesellschafter der «Gartenstadt Hellerau GmbH» fungierte; sein Freund, der Werkbundsekretär Wolf Dohrn, sprach vom «Idealismus des echten Geschäftssinns».

Staatliche Initiative führte während des Ersten Weltkriegs zum Bau der von Paul Schmitthenner entworfenen Gartenstadt Staaken, einer Siedlung für die Arbeiter der nahen Spandauer Munitionsfabriken. Der Nationalökonom Franz Oppenheimer, als einer der Vordenker der Bodenreform nicht nur an der Vegetarischen Obstbaukolonie Eden bei Oranienburg beteiligt, sondern auch auf Initiative des Zionistischen Kongresses an der Gründung einer Siedlung in Palästina, feierte 1917 zum Entsetzen seiner pazifistischen Weggefährten im Vorwort zur offiziellen Publikation Staaken als Erfolg des Deutschen Reichs und Mittel zur Volksgesundung. Im Gegensatz zu Hellerau mit seiner Vielfalt von Haustypen zeigte die westlich von Spandau gelegene Siedlung eine Tendenz zur Rationalisierung; lediglich fünf verschiedene Haustypen verbergen sich hinter den Fassaden, die das Bild einer überschaubaren Kleinstadt evozieren und zum Teil die Glockengiebel des «Holländischen Viertels» in Potsdam adaptieren.

Produkt des staatlichen Dirigismus
Ohne das Vorbild Staakens kaum denkbar ist die ebenfalls in staatlicher Regie während des Ersten Weltkriegs ausgeführte Siedlung Piesteritz bei Wittenberg, mit der der 1882 in Köniz bei Bern geborene Architekt Otto Rudolf Salvisberg zum beruflichen Durchbruch gelangte. Nach Ausbildungsjahren in Biel, München und Karlsruhe übersiedelte der junge Architekt 1908 nach Berlin, wo er sechs Jahre später sein eigenes Büro eröffnete. Zwar hatte Salvisberg Schmitthenner schon während des gemeinsamen Studiums in Karlsruhe kennen gelernt, doch beteiligt an der Siedlung Staaken war er - folgt man den neuesten Forschungsergebnissen - nicht. Das Bindeglied stellt vielmehr Otto Brechbühl dar, der 1910 von Salvisberg als Mitarbeiter nach Berlin geholt worden war und nach Schmitthenners Einberufung die (nicht ausgeführte) weitere Planung von Staaken übernahm. Brechbühls Pläne wurden dann, ohne dass der Verfasser namentlich erwähnt worden wäre, in Piesteritz ausgeführt.

Wie auch Staaken ist Piesteritz Produkt des staatlichen Dirigismus und der massgeblich von Walter Rathenau installierten Kriegswirtschaft. Da die englische Blockade den Import überseeischer Rohstoffe für die Stickstoffproduktion verhinderte, mussten binnen kurzer Frist in Deutschland Fabriken für die technische Herstellung von Stickstoffdünger errichtet werden, um die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu garantieren. Die 1916 in Betrieb genommenen Mitteldeutschen Stickstoffwerke AG in Piesteritz bedienten sich allerdings nicht der Luftverflüssigung, sondern eines energieaufwendigen karbochemischen Verfahrens, das zugleich die Produktion von Sprengstoff ermöglichte. Das vor wenigen Jahren abgerissene AEG-Grosskraftwerk im nahe gelegenen Zschornewitz, eines der eindrucksvollsten Ensembles der deutschen Industriebaukunst, lieferte den nötigen Strom.

Die Reihenhaussiedlung mit mehr als vierhundert Häusern für Arbeiter und Angestellte entstand östlich des Werksgeländes, ungefähr vier Kilometer vom Stadtzentrum Wittenbergs entfernt. Salvisberg gelangte zu dem Auftrag durch die Bekanntschaft mit Georg Haberland, dem Direktor der Berlinischen Bodengesellschaft, die nach Staaken auch die Planung für Piesteritz übernahm. Dabei gelang es dem Schweizer Architekten auf Grundlage eines schon bestehenden Bebauungsplans, souverän mit jenen Themen umzugehen, welche deutsche und englische Gartenstädte seit Beginn des Jahrhunderts prägten. Piesteritz zeigt einen axial angeordneten, von orthogonaler Bebauung umrahmten zentralen Bereich ebenso wie die gekurvten Strassenzüge und malerisch sich entwickelnden Plätze in der Tradition Camillo Sittes und Theodor Fischers. Hinzu treten beruhigte, sich zur Strasse öffnende Wohnhöfe, wie man sie aus Raymond Unwins Planungen für Letchworth und die Hampstead Garden Suburb bei London kennt.

Auch der Wechsel von giebel- und traufenständigem Haustyp hat in England seine Vorbilder, wurde dann jedoch schon in Hellerau übernommen. Mit einem Kaufhaus am Markt, einer Schule, einer Kirche, zwei Ledigenheimen sowie dem (erst 1925 fertiggestellten) Rathaus war Piesteritz ein autonomer Siedlungsorganismus; mit Gartenparzellen und Ställen war den Arbeitern überdies die Möglichkeit zur Selbstversorgung gegeben. Obwohl 80 Prozent der Häuser von Arbeitern bewohnt wurden, gibt die lange Reihe der Angestelltenhäuser, welche die Siedlungskante zur Hauptstrasse Wittenberg-Coswig bildet, dem Ensemble ein eher mittelständisches Gepräge. Auch an exponierten Punkten im Inneren des Siedlungsgefüges entstanden Angestelltenhäuser. Diese waren weniger das Resultat urbanistischer Überlegungen als ein Indikator für den Wunsch nach sozialer Kontrolle.

Modellhafte Sanierung
Die Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft, für die Vermarktung von Werk und Siedlung nach dem Ende der DDR zuständig, favorisierte eine Einzelprivatisierung der Häuser, welche die Geschlossenheit des vernachlässigten, aber 1987 unter Denkmalschutz gestellten Ensembles vernichtet hätte. Dass es dazu nicht kam, ist einem gemeinsamen Vorgehen der Stadtverwaltung Wittenberg, der Piesteritzer Werkssiedlungsgesellschaft sowie des Dessauer Bauhauses zu verdanken. Der in München ansässige Energieträger Bayernwerk AG - im Übrigen Rechtsnachfolger der einstigen Mitteldeutschen Reichswerke - erwarb nicht nur das Fabrikareal, sondern auch die Siedlung. Damit war die Voraussetzung gegeben für eine von der Denkmalpflege begleitete Gesamtsanierung, die 1997 begann und derzeit kurz vor dem Abschluss steht.

Oberstes Ziel war es, den historischen Eindruck der Siedlung wiederherzustellen: Farbfassung entsprechend dem Originalbefund, Rekonstruktion der historischen Fenster, Erhalt der Türen und Fensterläden, Deckung der Dächer mit Biberschwanzziegeln. Durch Dämmung des Dachs und der Kellerdecke konnte auf eine die Fassade verunstaltende Wärmedämmung verzichtet werden; im bisher nicht genutzten Dach wurden überdies die Raumreserven gefunden, welche die bescheiden dimensionierten Häuser auch heute attraktiv machen. Wer offenen Auges durch ostdeutsche Städte geht und registriert, wie billige Baumarktprodukte das Antlitz einheitlicher Siedlungen entstellen, wird die Vorbildlichkeit der vom Münchner Architekten Fritz Hubert geleiteten Sanierung von Piesteritz zu schätzen wissen. Dass es zudem gelungen ist, auch den ruhenden Verkehr weitgehend aus der Siedlung zu verbannen und einen Mieterwechsel grösseren Umfangs zu vermeiden, verstärkt den Modellcharakter. Zu Recht ist Piesteritz denn auch einer der Korrespondenzstandorte der Expo 2000.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.09.06

09. April 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Komplexe entwerferische Strategien

Entwerfen bedeutet die Berücksichtigung sämtlicher das Bauen bestimmenden Parameter. Dieses Credo bestimmt die Projekte der 1987 gegründeten Berner Architektengruppe Bauart. Es findet seinen Niederschlag gleichermassen in ihrem unlängst als Prototyp realisierten «smallhouse.ch» oder im Bundesamt für Statistik in Neuenburg.

Entwerfen bedeutet die Berücksichtigung sämtlicher das Bauen bestimmenden Parameter. Dieses Credo bestimmt die Projekte der 1987 gegründeten Berner Architektengruppe Bauart. Es findet seinen Niederschlag gleichermassen in ihrem unlängst als Prototyp realisierten «smallhouse.ch» oder im Bundesamt für Statistik in Neuenburg.

Serienfertigung und Präfabrikation sind Voraussetzungen für kostengünstiges Bauen. Doch viele der historischen Versuche, vorgefertigte Elemente in der Architektur einzusetzen, müssen als gescheitert angesehen werden: Walter Gropius kapitulierte bei einigen seiner Projekte angesichts unzulänglicher technischer Möglichkeiten, Ernst Mays Frankfurter «Häuserfabrik» wurde durch den Widerstand des Handwerkerstands lahmgelegt, der durch die Industrialisierung des Bauens in der Zeit der Wirtschaftskrise seine Existenz bedroht sah. Von derlei Problemen abgesehen ist indes zu konstatieren, dass es lange Zeit nicht gelang, eine der Vorfertigung adäquate Ästhetik zu entwickeln. Erst Konrad Wachsmann entwickelte schliesslich in den USA mit dem Raumtragwerk ein modulares Konstruktionsprinzip, das sich beliebig dreidimensional erweitern liess.


Bauen mit Modulen

Gleichwohl zeitigten die Versuche eines präfabrizierten Bauens weiterhin nur selten überzeugende Ergebnisse: bald wirken die Gebäude provisorisch, banal und barackenhaft, dann wieder suchen die Entwerfer das seriengefertigte Produkt mit dem erborgten Anschein des Unikats zu nobilitieren. Gerade im privaten Hausbau widerspricht der durch Vorfertigung hervorgerufene Charakter des Ephemeren den Interessen vieler Klienten, die ihr Domizil als Ausdruck von Solidität, Stabilität und Dauerhaftigkeit verstehen - selbst wenn die Qualität gemeinhin verwendeter Baumarktprodukte mit der vielgeforderten Nachhaltigkeit nicht das geringste zu tun hat.

Das von der Berner Architektengruppe Bauart unlängst als Prototyp realisierte «smallhouse.ch» stellt einen beachtenswerten Versuch dar, diesem Dilemma zu entkommen. Trotz seiner extrem reduzierten Wohnfläche bietet der zweigeschossige Holzkubus ein Mass an räumlicher Opulenz und Eleganz, das manches herkömmliche, scheinbar grosszügiger geschnittene Einfamilienhaus in den Schatten stellt. Dadurch, dass die Entwerfer auf Flure verzichteten und Erd- sowie Obergeschoss lediglich durch eine offene Küche und die Nasszelle unterteilten, entstehen geradezu beiläufig vier Räume oder vielmehr Nutzungsbereiche, denn auf weitere Unterteilungen wurde im Inneren verzichtet. Nicht zuletzt dank dem offenen Treppenschacht und den grossen Fensterflächen, welche die gesamte Stirnseite einer Etage einnehmen können und den Innenraum nach aussen hin entgrenzen, wird jeder Eindruck von Beengtheit vermieden - das «smallhouse.ch» präsentiert sich nicht als hermetische Kiste, sondern als fliessendes Kontinuum, sozusagen als freigestellte Maisonettewohnung. In zwei Teilen angeliefert, müssen die beiden vollinstallierten Geschossboxen vor Ort nur noch über der gegossenen Bodenplatte placiert werden. Einzusetzen wäre das für gut 100 000 Franken herstellbare «smallhouse.ch», dessen reduzierte Formensprache auf Grund ihrer Neutralität die Verwendung an unterschiedlichen Standorten erlaubt, als (temporäre) Erweiterung eines schon bestehenden Gebäudes, aber auch als Wohnhaus für eine oder auch für zwei Personen.

Die Erforschung und Anwendung der Leichtbauweise zieht sich wie ein roter Faden durch das Œuvre der 1987 gegründeten Architektengruppe Bauart, die heute von Peter C. Jakob, Matthias Rindisbacher, Willi Frei und Marco Ryter geleitet wird. Ein Doppelwohnhaus in Mühlethurnen/BE - von Jakob 1986, also noch vor Gründung der Arbeitsgemeinschaft, realisiert - besteht aus einem modularen Holzskelett und basiert auf einem Würfelraster, das eine flexible Raumaufteilung gewährleistet. Wieder aufgegriffen wurden derartige Gedanken, nachdem Bauart 1990 den Wettbewerb für das Bundesamt für Statistik in Neuenburg gewonnen hatte. Als Provisorium für die Planungsstellen des Bundesamtes und das Zweigbüro der Architekten sollte (nach Abwägung ökologischer, funktionaler und ästhetischer Belange) statt der üblichen stählernen Baucontainer ein hölzerner Bau errichtet werden.

Mit kompakten Zellen von 6 Metern Länge, 3,80 Metern Breite und 3,45 Metern Höhe lassen sich Innenräume beliebiger Grösse erzeugen. Dieses Konzept wurde als «Züri-Modular» weiterentwickelt, um mit Behelfsbauten dem Mangel an Klassenzimmern in Zürcher Schulhäusern zu begegnen; in Thun entstanden verschiedene städtische Einrichtungen - Kindergarten, Jugendtreff, Schulerweiterung nach einem ähnlichen System.


Ästhetik und Ökologie

Das umfangreichste Bauvorhaben konnte Bauart mit dem Bundesamt für Statistik realisieren. Der Neubau befindet sich oberhalb der Altstadt von Neuenburg, unmittelbar östlich des Bahnhofs. Wie auch bei ihrem Projekt für die Neugestaltung des Bahnhofs Aarau operierten die Architekten mit einem langgestreckten, streng horizontalen Gebäude, in dessen Gliederung sich der Rhythmus des benachbarten Geleisefelds zu spiegeln scheint. Die gerade, den Schienen zugewandte, 240 Meter lange Front des Gebäudes ist mit Profilitplatten verkleidet, hinter denen die braunen Holzfaserzementplatten der Fassade hervorschimmern. Demgegenüber wird die der Stadt zugewandte, dem geschwungenen Strassenverlauf folgende elegante Südfassade durch auskragende Geschossplatten bestimmt, hinter denen die gereihten Fenster zurücktreten. Die aus Beton bestehenden Geschossplatten dienen nicht nur als Sonnenschutz, sondern unterstreichen auch die Horizontalität der Gebäudemasse. Indes geht es den Bauart-Architekten nicht vordergründig um ästhetische Belange; Entwerfen und Planen bedeutet für sie, sämtliche das Bauen bestimmenden Parameter miteinander in Einklang zu bringen und somit zu optimieren.

Dies setzt einen intensiven Dialog mit dem Bauherrn voraus - ohne den die Berner Architekten die Idee wohl kaum hätten durchsetzen können, die Erdgeschosszone als öffentlichen Bereich mit Publikumsverkehr zu gestalten. Dies erfordert aber auch die Berücksichtigung ökologischer Aspekte. Das Gebäude des Bundesamtes für Statistik beweist beispielhaft, dass die vielgeforderte Nachhaltigkeit nichts mit einem romantisierenden Verständnis von Ökologie zu tun hat, sondern das Wissen um komplexe Steuerungskreisläufe, Energiebilanzen, Lebenszyklen von Materialien sowie Baustellenlogistik voraussetzt. Derartige Überlegungen begannen schon vor Baubeginn: Das Abbruchmaterial des auf dem Areal befindlichen Güterschuppens wurde vor Ort an Interessenten zur Wiederverwendung abgegeben. Ausserdem legte man fest, den Transport der Baustoffe grösstenteils über die Bahn erfolgen zu lassen und auf Grund der Bahnhofsnähe die Anzahl der Parkplätze zu halbieren.

Ausgestattet ist der Neubau mit allen Finessen, die eine umweltverträgliche Architektur heute aufweisen sollte: einer Sonnenkollektoranlage, die gut 65 Prozent des Energiebedarfs deckt, einem Regenwasserspeicher für die WC-Spülungen und einer weitgehend natürlichen Belüftung. Darüber hinaus achtete man bei der verwendeten, auf ein Minimum reduzierten Produktpalette auf Rezyklierbarkeit: Trennbare Materialien wurden Verbundstoffen vorgezogen. - Entstanden ist nicht nur ein ökologisch überzeugendes und formal ansprechendes, sondern auch ein funktionales Gebäude. Die Divergenz des geraden (nördlichen) und des geschwungenen Bürotraktes lässt in der Mitte Raum für helle Lichthöfe, Erschliessungskerne oder Kopierräume. Im obersten Geschoss, das zum Geleisefeld hinausragt, finden sich Sitzungssäle und das Betriebsrestaurant, dem eine beplankte Dachterrasse über dem aufgeständerten Ostflügel vorgelagert ist. Weiterer Raumbedarf des Bundesamtes für Statistik hat nun dazu geführt, dass in den kommenden Jahren auch der Hochhausturm nach Entwürfen von Bauart realisiert werden wird, der, den Bürokomplex westwärts fortsetzend, am Bahnhofsplatz als vertikale Dominante fungiert und in seinem obersten Geschoss ein öffentliches Bistro beherbergen wird. Ausserdem planen die Berner Architekten eine Wohnsiedlung auf einer dem Bundesamt östlich benachbarten Geländeterrasse.

Neue Zürcher Zeitung, So., 2000.04.09

08. April 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Pittsburgher Bastille

Das Allegheny County Jail in Pittsburgh von Henry Hobson Richardson ist eine der architektonisch bemerkenswertesten Bauten Amerikas. Das von den Historiographen der Moderne hochgeschätzte Gebäude aus dem Jahre 1886 findet nun eine neue Nutzung. Nach den Entwürfen des lokalen Teams IKM wird es in ein Jugend- und Familiengericht umgebaut.

Das Allegheny County Jail in Pittsburgh von Henry Hobson Richardson ist eine der architektonisch bemerkenswertesten Bauten Amerikas. Das von den Historiographen der Moderne hochgeschätzte Gebäude aus dem Jahre 1886 findet nun eine neue Nutzung. Nach den Entwürfen des lokalen Teams IKM wird es in ein Jugend- und Familiengericht umgebaut.

Am östlichen Rande des «Golden Triangle», der von Allegheny und Monongahela River begrenzten Innenstadt Pittsburghs, ragt ein kolossaler Turm aus Granit in die Höhe. Inzwischen von den Hochhäusern ringsum in den Schatten gestellt, war das 1888 fertiggestellte Allegheny County Courthouse mit seiner 100 Meter in den russgeschwängerten Himmel ragenden vertikalen Dominante einst zum Wahrzeichen der Stahlstadt in Pennsylvanien geworden. Als Henry Hobson Richardson sich 1884 in einem geladenen Wettbewerb für den Neubau des 1882 abgebrannten Gerichtsgebäudes gegen vier Konkurrenten durchsetzen konnte, zählte der in Harvard und an der Pariser Ecole des Beaux-Arts ausgebildete und in Boston ansässige Architekt längst zu den renommiertesten Baumeistern der Vereinigten Staaten. Mit seinen neoromanischen Kirchen der frühen siebziger Jahre hatte er den Eklektizismus überwunden und einen kraftvollen Stil entwickelt, der dem Selbstbewusstsein des amerikanischen Staatswesens entsprach und sogar die europäische, vor allem deutsche Architektur zu beeinflussen vermochte: der Monumentalismus der Jahrhundertwende mit seinen aus massivem Bossenmauerwerk gefügten Wänden wäre ohne das Vorbild Richardson kaum denkbar gewesen.


Stereometrische Baukörper

In den USA selbst wirkte der Architekt nicht nur auf seine Schüler McKim und White, sondern beeinflusste - vor allem mit dem 1930 abgebrochenen Marshall Field Wholesale Store in Chicago (1885-87) - die Architektur von Louis Sullivan. Als protomoderner Architekt fand Richardson damit folgerichtig die Aufmerksamkeit der Historiographen des «International Style»: Sigfried Giedion suchte in «Space, Time and Architecture» das Rustikamauerwerk von Richardsons Bauten weniger aus der europäischen Tradition abzuleiten, als dieses vielmehr auf die anonymen granitenen Lagerhäuser der Shaker im Hafen von Boston zu beziehen, und Henry-Russell Hitchcock veröffentlichte vier Jahre nach der legendären «Modern Architecture - International Exhibition» (1932) anlässlich einer ebenfalls im New Yorker MoMA veranstalteten Ausstellung zu Richardsons 50. Todestag eine Monographie. Hitchcock erwies mit seiner Studie nicht nur der frühen Biographie der Architekturkritikerin Marianna van Rensselaer (1888) seine Reverenz, sondern folgte vor allem der jüngsten Wiederentdeckung des Architekten durch Lewis Mumford.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Philip Johnson - als Direktor der Architekturabteilung des MoMA 1932 Mitinitiator der Modern Architecture Exhibition - Richardsons Allegheny County Courthouse zum bedeutendsten Gebäude der Vereinigten Staaten schlechthin erhob. Mit seinem schwarz schillernden Komplex der Pittsburgh Plate Glass Industries, einer ins Riesenhafte überzeichneten Travestie der Londoner Houses of Parliament, errichtete Johnson nahezu hundert Jahre nach Richardson das neue Wahrzeichen von downtown Pittsburgh.

Die Begeisterung Johnsons galt dabei weniger dem um einen rechteckigen Innenhof gruppierten Komplex des Gerichtsgebäudes als vielmehr dem westlich anschliessenden, vermittels einer Art Seufzerbrücke über die Ross Street angebundenen Gefängnis, das 1886 fertiggestellt war. Verzichtete Richardson der verschmutzten Luft in Pittsburgh wegen schon beim Courthouse weitgehend auf Bauplastik, so nähert sich der in einer Zeit des grassierenden Historismus entstandene Gefängnisbau einer abstrakten Architekturauffassung an, welche die Stereometrie der Baukörper unterstreicht. Umfassungsmauern, dreiflügeliger Zellentrakt und der zylindrische Schornstein der Heizzentrale sind aus perfekt gefügten Verbünden aus rustiziertem Milford-Granit gefügt, deren massiver Gestus auch den heutigen Passanten beeindruckt und selbst die turmartigen Aufsätze überspielt, die man als überdeutliche Reminiszenzen an Richardsons Spanien- und Frankreichreise von 1882 verstehen mag. Der imperiale Gestus einer Machtarchitektur, wie ihn sich die französischen Revolutionsarchitekten erträumten, scheint im Allegheny County Jail - mit hundertjähriger Verspätung - Gestalt gewonnen zu haben. Und nirgendwo gelang es Richardson wohl auf vergleichbare Weise, die Funktion des Gebäudes mit der Formensprache in Einklang zu bringen.


Gefängniszellen zu Gerichtssälen

Obwohl schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den ortsansässigen Architekten Frederick J. Osterling im Stil Richardsons erweitert, stand das Untersuchungsgefängnis mehrfach zur Disposition. Glückliche Umstände, zuletzt die Bewertung als «National Historic Landmark» (1976), retteten das Courthouse und vor allem das zeitweilig überbelegte Gefängnis. Auch wenn die Pittsburgh History & Landmarks Foundation (PHLF) sich in den siebziger Jahren - als die Umwandlung des Jailhouse in eine Bibliothek öffentlich diskutiert wurde - für eine Fortsetzung der bisherigen Nutzung einsetzte, wurde das Gefängnis 1995 aufgelöst. Angelockt durch den 1984 mit Diane Keaton und Mel Gibson zum Teil im Jail gedrehten Film «Mrs. Soffel», der eine tragische Liebesgeschichte des Jahres 1902 verarbeitet, konnte die Öffentlichkeit die historischen Zellentrakte dank einer Initiative der PHLF besichtigen, bis im März dieses Jahres die Bauarbeiten begannen.

Die Zellenblöcke, die im Gegensatz zu den meisten Gefängnissen des seit der «Maison de force» bei Gent (1772-75) etablierten Systems der radial um eine Wachrotunde organisierten Trakte nicht an die Aussenmauern grenzen, sondern frei im Inneren stehen, wurden herausgebrochen; derzeit zeigen sich die aufragenden Granitmauern mit ihren Rundbogenöffnungen als hohle Schalen. Nach den Entwürfen des lokalen Teams IKM wird das frühere Jailhouse in Zukunft die Säle des Jugend- und Familiengerichts beherbergen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2000.04.08



verknüpfte Bauwerke
Allegheny County Courthouse

27. März 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Vielfalt und Widerspruch

Die gegenwärtige Retrowelle hat den Blick auf die Vielgestaltigkeit des Designs der sechziger Jahre verengt. Dass nicht nur üppig wuchernde Wohnlandschaften und Kunststoffstühle zu Signaturen der Epoche wurden, beweist eine Ausstellung im Deutschen Klingenmuseum Solingen, deren Exponate aus der kaum bekannten Universitätssammlung Wuppertal stammen.

Die gegenwärtige Retrowelle hat den Blick auf die Vielgestaltigkeit des Designs der sechziger Jahre verengt. Dass nicht nur üppig wuchernde Wohnlandschaften und Kunststoffstühle zu Signaturen der Epoche wurden, beweist eine Ausstellung im Deutschen Klingenmuseum Solingen, deren Exponate aus der kaum bekannten Universitätssammlung Wuppertal stammen.

Spannteppiche und Kunststoffmöbel können als die beiden Innovationen der sechziger Jahre im Wohnbereich gelten. Doch während die «Auslegware» flächendeckend und milieuübergreifend Verwendung fand, stiess das Kunststoffmobiliar auf eine kleine interessierte Klientel. Kurioserweise setzte sich die Idee des 1966 lancierten Bofinger-Stuhls von Helmut Bätzner erst 30 Jahre später mit dem konkurrenzlos billigen und für den Aussenbereich geeigneten Monoblock-Stuhl «Aurora» durch. Man mag darüber räsonieren, ob der Siegeszug von «Aurora» schon als die Morgenröte des Sechziger-Jahre-Revivals zu verstehen ist, das seine Spuren derzeit nicht nur in Bars und Boutiquen, Videoclips und Modekollektionen hinterlässt, sondern auch in Form von Ausstellungen. Seriöse Unternehmungen wie die Panton- Schau in Weil am Rhein stehen neben trendigen Zeitgeistveranstaltungen wie der 1968-Feier vor zwei Jahren im Kunstmuseum Düsseldorf. Die Verklärung durch Zeitzeugen findet dabei ihre komplementäre Ergänzung in der oberflächlichen Verwandlung von (zumeist reedierten) Gegenständen der sechziger Jahre zu modischen Lifestyle-Accessoires. Allerdings ist die gegenwärtige Retrowelle schwerlich dazu angetan, Kulturpessimisten auf den Plan zu rufen. Für ein selektives Aneignungsverhalten vergangener Zeithorizonte gibt es durchaus Vorbilder.


Ära der Matratze

Weit eher irritiert die seltsame Verklärung, mit der das Design der sechziger Jahre in den Augen der Nachgeborenen allein zu einer grellbunten Kunststoffwelt mutiert. Zwar konnten Panton oder Joe Colombo im Rahmen der von der Firma Bayer veranstalteten «Visiona»-Ausstellungen zwischen 1968 und 1970 Interieurgestaltungen im Sinne eines Totaldesigns realisieren, doch blieben derartige Konzepte ohne nennenswerten Einfluss auf der tatsächlichen Anwenderseite. Wer sich für ein Vorhangdesign von Verner Panton entschieden hatte, nutzte korrespondierende Muster nicht auch noch als Teppichböden, Sesselbezüge oder Kleidungsstoff. Das Mira-X-Set, das der Designer gerade für diese Zwecke im Auftrag des gleichnamigen Textilverlags entwickelt hatte, geriet zum wirtschaftlichen Misserfolg.

Zu konzedieren ist ohnehin, dass weder der transluzente aufblasbare Plastiksessel «Blow» (1967) noch Eero Arnios torusförmiger «Pastilli» (1968) oder der mit Polyesterkügelchen gefüllte Sitzsack «Sacco» (1968) die eigentliche Kampfansage an die behäbige Gemütlichkeit der elterlichen Polstergruppen darstellte, sondern ein Wohnutensil, das von gestalterischer Ambition frei ist und daher von keinem Museum als ausstellenswert erachtet wird: die Matratze. Das Thema der Matratze bleibt auch bei der im Deutschen Klingenmuseum Solingen präsentierten Schau «Positionen des Designs: die 60er» dem (hervorragend gestalteten) Katalog vorbehalten. Einer etwas spröden Präsentation zum Trotz ist die Ausstellung aus zweierlei Gründen bemerkenswert. Zunächst einmal, weil sie die weithin unbekannte Designsammlung der Wuppertaler Universität ins Rampenlicht rückt, die - mit einem Sammlungsschwerpunkt in den sechziger Jahren - aus einer privaten Stiftung hervorgegangen und üblicherweise magaziniert ist.

Sodann sucht das Ausstellungsteam unter Leitung von Gerda Breuer aber auch, der üblichen Verengung des Fokus zu begegnen und das Designpanorama einer Epoche zu skizzieren. Der Bogen spannt sich von Deutschland über Italien und Skandinavien bis hin nach Japan. Aus Schweizer Perspektive mag man allerdings das Fehlen des Möbelsystems von USM Haller als gewichtiges Manko empfinden. Eine Rarität stellt zweifellos die Sitzgruppe «Tomotom» dar, von dem Briten Bernard Holdaway 1966 aus lackierten Sperrholzzylindern arrangiert und irgendwo zwischen Häuptlingsthron und Popmöbel anzusiedeln.


Systemdesign und Formenopulenz

Auch wenn das durch Stanley Kubricks «2001, A Space Odyssee» (1968) bekannte, organisch geformte Sofa «Djinn» von Olivier Mourgue die Ausstellung eröffnet, beschränkt man sich in Solingen nicht auf Raumfahrtästhetik (die mit dem skurrilen «Senftenberger Ei» von Peter Ghyczy selbst in der DDR Niederschlag fand) oder bunte Kunststoffwelten, sondern dokumentiert auch den Gegenpol, der sich mit der Arbeit der Ulmer «Hochschule für Gestaltung» herauskristallisiert hatte. Nach dem Rücktritt von Max Bill 1956 unterlag die Lehrinstitution Initiativen zur Verwissenschaftlichung der Gestaltung, die Bill - sprachlich entgleisend - als «technizistische Entartung» brandmarkte. Musterhaft für den neuen Kurs war die Zusammenarbeit von Hans Gugelot mit dem Elektrogerätehersteller Braun; zweifellos zählen die von Gugelot und Dieter Rams entworfenen silbrig-weissen Phonogeräte in ihrer technisch-eleganten Sachform zu den Design-Ikonen des Jahrhunderts. Die kubisch reduzierten Sessel aus glasfaserverstärkten weissen Polyesterschalen mit Polsterbezügen aus hellem Cordstoff, die Rams 1962 entwickelte, gehörten zur Ausstattung von Egon Eiermanns Bonner Abgeordnetenhaus, das - unbemerkt von der Öffentlichkeit - vor zwei Jahren geräumt wurde.

Auch andere Unternehmen nutzten eine avancierte Gestaltung für eine Corporate identity - das bekannteste Beispiel stellt zweifellos Olivetti dar, doch kann die Ausstellung auch mit einer Reihe von Unterhaltungselektronikgeräten der Firma Brionvega aufwarten, die Designer wie Marco Zanuso, Richard Sapper, Mario Bellini oder Achille und Pier Giacomo Castiglioni mit Entwürfen betraute. Dass die sechziger Jahre keineswegs durchgängig eine Zeit gestalterischer Extreme waren, verdeutlichen die «Plia»-Klappstühle von Giancarlo Piretti (1967) ebenso wie die Stapelboxen von Anna Castelli-Ferrieri (1969): Kunststoff als neues Werkmaterial verbindet sich hier auf das überzeugendste mit einem Systemdesign, das durchaus in der Logik der klassischen Moderne wurzelt.


[ Bis zum 24. April in Solingen, anschliessend im Focke-Museum, Bremen. Katalog: Positionen des Designs. Die 60er. Hrsg. Gerda Breuer, Andrea Peters, Kerstin Plüm. Wienand- Verlag, Köln 1999. 196 S., DM 45.- (in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2000.03.27

18. März 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Der Weg ist das Ziel

Auf dem historischen Campus der Columbia University in Manhattan errichtete Bernard Tschumi das Lerner Student Center. Der als spektakuläre Rampenkonstruktion zwischen den beiden Trakten inszenierte Neubau kann nach den Worten des Westschweizer Dekonstruktivisten als «dynamic hub» verstanden werden.

Auf dem historischen Campus der Columbia University in Manhattan errichtete Bernard Tschumi das Lerner Student Center. Der als spektakuläre Rampenkonstruktion zwischen den beiden Trakten inszenierte Neubau kann nach den Worten des Westschweizer Dekonstruktivisten als «dynamic hub» verstanden werden.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Charles Follen McKim - seit 1873 mit zwei Partnern im vielbeschäftigten New Yorker Architekturbüro McKim, Mead and White vereint - den Masterplan für die Columbia University. Statt sich der für College-Bauten häufig verwendeten neogotischen Formensprache zu befleissigen, realisierte McKim seine Bauten in einem neoklassizistisch inspirierten Beaux-arts-Stil; als entferntes Vorbild mag man an Jeffersons University of Virginia denken. Das Zentrum des sich in die benachbarten Quartiere ausdehnenden Universitätsgeländes im Stadtviertel Morningside Heights bildet der zwischen Broadway und Amsterdam Avenue in den Stadtraster von Manhattan eingefügte Campus, in dessen Mitte sich die dem Pantheon nachempfundene Low Memorial Library erhebt. Weite Rasenflächen bestimmen das locker gefügte Ensemble, während die Kanten zu den umgebenden Strassen von repräsentativen Bauten gesäumt werden, die - obwohl mächtige Solitäre - doch eher den Eindruck einer Blockrandbebauung entstehen lassen. In diesem Kontext zu bauen, lässt den Architekten vergleichsweise wenig Spielräume; Robert A. M. Stern, der gegenwärtig wenige Blocks weiter südlich eine Zweigstelle der New York Public Library realisiert, gefällt sich mit seinem der Architektur McKims nacheifernden, 14geschossigen Gebäude, das durch ein Palladio-Motiv noch nobilitiert wird.

Vom Westschweizer Architekten Bernard Tschumi, der sich seit Ende der siebziger Jahre als ein Vordenker des Dekonstruktivismus etablierte, im folgenden Jahrzehnt mit seiner Gestaltung des Pariser Parc de la Villette Aufsehen erregte und derzeit die renommierte Architekturabteilung der Columbia University leitet, war derlei anbiederndes Vorgehen nicht zu erwarten, als er 1994 mit der Realisierung des Lerner Student Center im Südwesten des Campus betraut wurde. Doch die strengen Bauvorschriften zwangen auch Tschumi, den Flügel zum Broadway mit Granit, Ziegel und Kupferdach in einer McKim folgenden Formensprache auszuführen. Dem Masterplan blieb er noch bei einer zweiten Entscheidung verpflichtet: Gemäss der ursprünglichen Idee McKims (die indes nur mit dem Avery Building eingelöst wurde) errichtete Tschumi einen zweiten, niedrigeren und dem Campus zugewandten Riegel parallel zur Strassenfront. Zwischen diesen beiden Trakten installierte er nicht nur ein Auditorium und ein Black-box-Theater, sondern eine spektakuläre abgehängte Rampenkonstruktion, die sich nach Norden hin in einer 30 Meter breiten Glasfront öffnet. Hinter der Stahl-Glas-Konstruktion der vorderen Rampenanlage wird die in Beton ausgeführte, gegenläufige zweite Rampe erkennbar.

Zunächst wirkt diese Konstellation, als sei ein Trakt infolge einer Bodensenkung abgesackt; doch tatsächlich artikuliert Tschumi hier lediglich den vorhandenen Niveauunterschied zwischen Broadway und Campus. Die hinter den rahmenlosen Glasscheiben exponierten Wegverbindungen veranschaulichen die Vorstellung seiner «student city in the city of Columbia in the city of New York». Indem sie die verschiedenen Nutzungsbereiche des Studentenzentrums miteinander in Beziehung setzen - Buchhandlung und Mensa, Computerräume und Art Lounges, Besprechungsräume und Kopierzentrum -, dienen sie nach den Worten des Architekten als «dynamic hub». Eingelassen in die Glashalle sind 6000 Briefkästen für die eingeschriebenen Studenten.

Wer schnell zwischen den Ebenen wechseln möchte, dem stehen im Lerner Student Center auch Treppen zur Verfügung. Doch schon bei seinem Medienzentrum im nordfranzösischen Tourcoing (NZZ 25. 4. 98) hatte Tschumi verdeutlicht, dass mitunter auch der Weg das Ziel darstellt: Treppen, Galerien und Rampen durchziehen ein traumverlorenes Zwischenreich oberhalb der alten Hallen und unterhalb des alles bergenden Daches. Bei seinem Bau für die Columbia zeigt sich der Architekt pragmatischer und weniger verspielt. Besonders abends jedoch werden die Rampen zur vertikalen Bühne, auf welcher die Studenten ihr aleatorisches Schauspiel veranstalten. Die Auseinandersetzung Tschumis mit dem Medium Film, dessen Schnitt- und Montagetechnik, spiegelt sich auch hier.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2000.03.18



verknüpfte Bauwerke
Lerner Student Center

07. März 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

City of Future?

Columbus, die Hauptstadt von Ohio, sucht nach einer neuen Identität. Spektakuläre Architektur soll internationale Aufmerksamkeit garantieren. Kern des städtebaulichen Erneuerungsprogramms bildet das jüngst eingeweihte Wissenschaftsmuseum COSI, das Arata Isozaki entwarf.

Columbus, die Hauptstadt von Ohio, sucht nach einer neuen Identität. Spektakuläre Architektur soll internationale Aufmerksamkeit garantieren. Kern des städtebaulichen Erneuerungsprogramms bildet das jüngst eingeweihte Wissenschaftsmuseum COSI, das Arata Isozaki entwarf.

Das neue Center of Science and Industry, kurz COSI genannt, sei nicht nur eine landmark für Columbus, sondern darüber hinaus ein Modell für eine wissenschaftliche und öffentliche Institution schlechthin, konstatierten die Betreiber nicht ohne Stolz, als Anfang November der Neubau des Technikmuseums eröffnet wurde. Dass sich mit dem 125-Millionen-Dollar-Projekt auch von seiten der Stadt hohe Erwartungen verbinden, brachte Bürgermeister Gregory S. Lashutka zum Ausdruck, indem er vom COSI als dem «centerpiece of our city» sprach: «This institution helps build our future.»

Die Hauptstadt von Ohio leidet unter der Tatsache, dass sie imagemässig nicht mit Cleveland oder Cincinnati, den beiden grossen Zentren des Staates, konkurrieren kann. Als Verwaltungsmetropole und Sitz verschiedener Universitäten gilt Columbus als mittelmässige Stadt im mittleren Westen. Dabei blieb sie von den negativen Folgen des Strukturwandels in den amerikanischen Agglomerationen weitgehend verschont; «Newsweek» zählte Columbus zu den Top ten der lebenswerten US-Städte. Doch mit landschaftlicher Schönheit oder grandioser Lage wie das nicht allzu ferne Pittsburgh kann die Kapitale am Scioto River ebensowenig prunken wie mit einer eindrucksvollen Stadtkulisse. Dort, wo an der Flussbiegung ein Nachbau der «Santa Maria» an den Namensgeber der Stadt erinnert, markieren einige neoklassizistische Gebäude und die dahinter aufragende Phalanx weitgehend belangloser Hochhäuser der letzten zwei Dekaden den Kern von downtown Columbus.

Architektur als Standortfaktor
Architekturliebhaber kennen die Stadt am Scioto vor allem wegen Peter Eisenmans 1989 eröffnetem Wexner Center for the Visual Arts, das sich etwa 15 Autominuten nördlich der Innenstadt auf dem Areal der Ohio State University befindet. Nach einer Reihe von avantgardistischen Einfamilienhäusern konnte der New Yorker Architekt, sieht man von dem verändert ausgeführten Wohnblock für die Internationale Bauausstellung Berlin ab, hier seinen ersten öffentlichen Bau realisieren. In der gerüstartig das Grundstück durchmessenden, perspektivisch verzerrten Gitterstruktur lässt Eisenman eines seiner favorisierten Motive anklingen: die Überlagerung heterogener Grundrisssysteme. Stadt- und Campusraster schneiden sich im Museumskomplex. Daneben integrierte der Architekt zwei vorhandene Altbauten und liess in Form von Backsteintürmen Elemente eines Ende der fünfziger Jahre abgerissenen Arsenals zeichenhaft wiedererstehen. Gerade dieser ironische historische Bezug verdeutlicht, dass sich der Dekonstruktivismus durchaus evolutionär aus den Trümmern der Postmoderne entwickelte. Auch wenn die Ausstellungssäle nicht einfach zu bespielen sind, zählt das Wexner Center zu den bedeutendsten Bauten seiner Zeit.

Eisenman gelangte kurz nach der Fertigstellung des Museums zu einem Folgeauftrag: dem Greater Columbus Convention Center, das an der Strasse liegt, die von der Universität in die Stadt führt. Auf drei Seiten von einem Geflecht aufgeständerter Highways umzingelt, stösst das Messezentrum im Westen an die von niedrigen, kleinteiligen Backsteinbauten geprägte High Street. Indem Eisenman das gewaltige Volumen in eine leicht ondulierende Reihe parallel angeordneter Streifen gliederte - der Architekt verweist als Inspirationen auf Gleise ebenso wie auf die Bänder der Highways und ein Bündel von Glasfaserkabeln - und die Anlieferung auf die Ostseite verlagerte, gelang es ihm, den mächtigen Komplex stadtverträglich zu integrieren. Das Convention Center ist inzwischen so erfolgreich, dass in den kommenden Jahren für 73 Millionen Dollar ein Erweiterungsbau errichtet wird.

Diese Messeerweiterung ist nur Teil eines ambitionierten urbanistischen und ökonomischen Programms, durch das sich Columbus zu einer «City of future» entwickeln soll. Dazu zählt der auf 20 Jahre angelegte Masterplan für die Restrukturierung der vernachlässigten Scioto-Ufer, ein Hochhauskomplex mit dem Namen «Miranova», ein Shopping-Center am Rande der Innenstadt sowie ein neues Stadion als Nukleus für ein städtebauliches Entwicklungsgebiet. Im Rahmen dieser Projekte kommt dem COSI eine zentrale Funktion zu; es ist Brennpunkt und Auftakt dieser Vorhaben zugleich. Das 1964 gegründete «Dynamic center of hands-on science, learning and fun» hat sich von einem populären Wissenschaftsmuseum zu einer international operierenden Institution gewandelt. COSI produziert Wanderausstellungen wie «Mission to Mars» oder «Square Wheels», organisiert mobile Bildungsprojekte und verkauft sie an andere Institutionen - etwa nach Hongkong und Mexiko.

Indem das von der früheren Astronautin Kathryn Sullivan geleitete COSI den Neubau Arata Isozaki anvertraute, votierte man bewusst für ein attraktives architektonisches Markenzeichen. In den USA hatte der japanische Architekt sich schon mehrmals mit dem Thema Museumsbau beschäftigt, so beim Los Angeles Museum of Contemporary Art, dem Guggenheim Soho und der Erweiterung des Brooklyn Museum. Bei dem 300 Meter langen Baukörper, den er direkt gegenüber dem Stadtzentrum am Westufer des Scioto placierte, knüpfte der Architekt formal indes eher an sein «Haus des Menschen» in La Coruña oder sein Convention Center in Nara an. Die charakteristische Ellipsenform wird hier allerdings ins Gigantische gesteigert. Eine endlose Abfolge 19 Meter hoher und 3 Meter breiter hellgrauer Betongusselemente bildet den gegen Westen gerichteten Panzer des Ausstellungskomplexes. Nähert man sich von hier aus der Innenstadt, wirkt das Ensemble wie ein vorgeschobenes Bollwerk, eine eindrucksvolle Wissenschaftszitadelle, hinter der die Hochhäuser des Zentrums aufragen.

Vergangenheit und Zukunft
Der Standort des neuen COSI ist historisches Terrain, auch wenn davon nach dem Hochwasser von 1913 nichts mehr zu merken ist: Franklintown, die einstige Ansiedlung an dieser Stelle, entstand 1797 als Stützpunkt für die westwärts ziehenden Siedler, noch bevor man 1812 entschied, die Hauptstadt des Staates Ohio am gegenüberliegenden Flussufer zu gründen. Der Weg der Pioniere wurde für Isozaki zur Metapher für sein neues Museum: «Sie blickten Richtung Osten, auf ihre Vergangenheit, und Richtung Westen, auf die Zukunft. Daher schien mir, dieses Gebäude müsste eine Seite haben, die von Tradition, Vergangenheit, Erinnerung spricht, und eine Seite der Innovation, der Hoffnung, der Zukunft.» Dieser Gedanke erklärt, warum das COSI sich von der Stadt abwendet und nach Westen orientiert. Ein zylindrischer Eingangsbau ist auf dieser Seite mittig in die monumentale Schildmauer eingelassen. Von hier aus gelangt man über den 25 Meter hohen Würfel des Atriums und einen den Baukörper in nordsüdlicher Richtung durchmessenden Erschliessungsgang in die Ausstellungsbereiche, zum IMAX-Kino oder über Brücken in den U-förmigen Bau einer Highschool von 1924, in dem nun Restaurant (mit Blick über den Fluss auf die City) und Verwaltung untergebracht sind. Schaut man vom Ufer auf das Museum, zeigt es sich weniger rigide, fast fragmentarisch: hinter dem renovierten Schulbau rhythmisieren die mit farbigen Blechen verkleideten Treppentürme die Rückfront; die Ellipse aus Beton ist auf dieser Seite unterbrochen.

COSI ist kein herkömmliches Wissenschaftsmuseum. Die einzelnen Disziplinen werden zu sieben «learning worlds» verdichtet. So nimmt einen «adventure» mit zu einer archäologischen Grabung, während «progress» eine Zeitreise simuliert. Daneben gilt das Interesse digitalen Medien, der «world of gadgets» und dem Weltraum. Interaktivität ist hier alles, und für das Museumskonzept kreierte man auch gleich das passende Wort: «edutainment».

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.03.07

12. Februar 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

System und Sinnlichkeit

Eine vorbildliche Retrospektive des Vitra-Design-Museums rehabilitiert den 1998 verstorbenen dänischen Designer Verner Panton als einen der eigenwilligsten und massgeblichsten Gestalter des 20. Jahrhunderts, inszeniert ihn aber auch als Kultfigur der gegenwärtigen Retrowelle.

Eine vorbildliche Retrospektive des Vitra-Design-Museums rehabilitiert den 1998 verstorbenen dänischen Designer Verner Panton als einen der eigenwilligsten und massgeblichsten Gestalter des 20. Jahrhunderts, inszeniert ihn aber auch als Kultfigur der gegenwärtigen Retrowelle.

Ob in Möbelgeschäften oder Boutiquen: die Farbkombination Orange-Rot-Violett hat neue Aktualität gewonnen. Während sich ein vorwiegend junges Publikum im jüngst eröffneten Londoner Trendlokal «Mash» auf eine Zeitreise in die bunte Plasticwelt der sechziger Jahre begibt, frönt das Architektenteam Future Systems mit Wohnbubbles und Kunststoffinterieurs unverhohlen der Ästhetik der sechziger und frühen siebziger Jahre. Die gegenwärtige Retrowelle gilt dem Sixties- Design und versteht sich als Reaktion auf die Coolness der vergangenen Jahre, als Bars mit dem Charme von Operationssälen chic waren.


Rehabilitation des sechziger Chic

Kein Wunder, dass gerade jetzt jener Designer wiederentdeckt wird, der wie kein zweiter in den sechziger Jahren geschmacksbildend gewesen ist: Verner Panton. Das neu erwachende Interesse an seinem Werk konnte der 1926 auf der dänischen Insel Fünen geborene, 1963 nach Basel übersiedelte Gestalter noch ansatzweise miterleben: Kurz vor seinem Tod im Jahre 1998 entwarf er «Phantom», ein amorphes Polypropylen-Objekt, das sich wahlweise als Hocker, Beistelltisch oder Raumskulptur verwenden lässt, lancierte einige Reeditionen und konzipierte eine Werkschau im dänischen Kolding, die dann unvermutet zur postumen Hommage geriet (NZZ 7. 11. 98). Teile der Ausstellung aus Kolding wurden im vergangenen Jahr in die Panton-Präsentation im Design Museum London integriert. Die dort gezeigten Exponate stammten aus dem Vitra-Design- Museum, das nicht nur eine umfangreiche Sammlung von Werken des Künstlers besitzt, sondern auch dessen Nachlass verwahrt.

Der Firma Vitra war Panton seit den frühen sechziger Jahren verbunden. Auf der Suche nach Herstellern für einen Freischwinger aus Kunststoff war er auf Willi und Rolf Fehlbaum gestossen, die Sitzschalen aus fiberglasverstärktem Polyester für die Stühle von Charles und Ray Eames fabrizierten. Nach langen Jahren der Entwicklung wurde 1967 eine Vorserie des legendären «Panton Chair» produziert, doch erst der neue Werkstoff Polyurethan-Hartschaum erlaubte die Herstellung grösserer Stückzahlen. Da auch dieses Herstellungsverfahren eine aufwendige Nachbearbeitung erforderte, wechselte man 1971 unter leichter Modifikation der Form zum Spritzgussverfahren mit Polystyrol und im vergangenen Jahr zu einer kratzfesten, aber stumpfen Ausführung in Polypropylen. Zu Recht gilt der Panton Chair als eine der Ikonen des modernen Designs. Beine, Sitzfläche, Lehne sind in ondulierendem Schwung vereint: ein Stuhl aus einem Material, aus einem Guss. Binnen kürzester Zeit erlangte der Stuhl eine unglaubliche Popularität. Plastic, so formulierte Roland Barthes, sei «die erste magische Materie, die zur Alltäglichkeit bereit ist».


Vorbildliche Retrospektive

Die Nachwelt verstand Panton vielfach nur noch als Entwerfer des Stuhls, der seinen Namen trägt. Mit der umfassenden Retrospektive, die Mathias Remmele für das Vitra-Design-Museum erarbeitet hat, wird endlich der Blick frei auf das erstaunlich umfangreiche Œuvre des Dänen: In Weil am Rhein ist einer der prägendsten Designer dieses Jahrhunderts wiederzuentdecken. Die nicht allzu üppig dimensionierten Ausstellungsflächen des Gehry-Baus zwangen zu Strukturierung und Akzentsetzung, und da sich lexikalische Vollständigkeit ohnehin verbot, setzte man auf künstlerische Qualität und Werke von designhistorischer Bedeutung. Der missglückte Flirt des Gestalters mit der ihm innerlich fremden Postmoderne in den achtziger Jahren bleibt mit gutem Grund ausgespart; dokumentiert werden vornehmlich die Jahre 1955 bis 1975. Dabei gelingt es Remmele, die wichtigen Werkgruppen und Schaffensstationen exemplarisch und eindrücklich vorzustellen, ohne die Exponate durch didaktische Überfrachtung zu musealen Belegstücken zu degradieren oder eine oberflächlich-publikumsträchtige Zeitgeistshow zu inszenieren.

Auch wenn selten eine Designausstellung die Besucher derart direkt anspricht - die von der Decke abgehängten zitronengelben Sitzschalen der «Flying Chairs» wirken auf die Besucher ebenso verführerisch wie die «Living Tower» genannten Wohnelemente -, widersteht man in Weil der Versuchung, Panton zum modischen Designguru zu stilisieren: Die Ausstellung setzt ein mit grossformatigen Reproduktionen eines Panton- Sonderheftes der dänischen Zeitschrift «mobilia» (1961), mit dem sich der junge Designer in die Nachfolge von Eames, Saarinen oder Bertoia stellte. Ein Auftritt mit Aplomb, denn mit dem «Modular Chair», dem tütenförmigen «Cone Chair» und den ersten aufblasbaren Möbeln überhaupt hatte sich Panton dezidiert von der kunsthandwerklich bestimmten Tradition des dänischen Nachkriegsdesigns verabschiedet. Der Systemcharakter, der sein Schaffen fortan prägen sollte, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in den Stoffentwürfen, die seit 1971 für den neugegründeten Schweizer Textilverlag Mira-X entstanden. Die erste Kollektion beruhte auf acht Farben (Orange, Hellrot, Dunkelrot, Aubergine, Lila, Violett, Blau, Türkis) und fünf Formen (Kreis, Streifen, Quadrat, Schachbrett, Kurve). Mit Raumtextilien, Hängelampen, beleuchteten Wandelementen und modularen Möbelsystemen war eine Grammatik entstanden, die alle Bereiche des Interior Design umfasste. Er habe nur einen Rahmen gesteckt und den Käufern «die Möglichkeit gelassen, sich gestalterisch zu entfalten», meinte Panton 1970.


Im Rausch der Farben

Die beiden Hauptausstellungssäle sind in den Panton-Farben Türkis und Orange gehalten. Als Einbauten finden sich Regale (auf denen die Entwicklungsstufen des Panton-Stuhls und eine Auswahl von Leuchten präsentiert werden) sowie zylindrische Tonnen, in denen mit Hilfe von Modellen und Objekten stimmige Ensembles unter anderem zum Thema mobiles Wohnen und modulare Systeme arrangiert sind. Umfassende Einblicke in die zerstörten Raumgestaltungen für das «Spiegel»-Verlagshaus in Hamburg, das Restaurant Varna in Århus oder Pantons eigenes Wohnhaus in Binningen vermitteln Informationsterminals. Selten hat der Einsatz von neuen Medien in Ausstellungen derart überzeugt wie diese Computerstationen, die am Studiengang für Visuelle Kommunikation der Hochschule für Gestaltung Basel programmiert wurden. Zeichnungen, Dokumente und zeitgenössische Photographien ergänzen die Präsentation und zeugen von der akribischen Recherche des Ausstellungsteams. Bedauerlich ist einzig, dass der Katalog, der alle Bereiche von Pantons Schaffen berücksichtigt und mit seinem umfangreichen Werkverzeichnis zum Standardwerk werden dürfte, noch nicht vorliegt.

Den Höhepunkt der Ausstellung bildet der begehbare Nachbau der auf der Visiona-Ausstellung gezeigten «Phantasy Landscape», mit der der Chemiekonzern Bayer während der Kölner Möbelmesse 1970 auf einem umgebauten Schiff die Anwendung synthetischer Werkstoffe präsentierte. Die höhlenartige Sitz- und Liegelandschaft, aus buntfarbig gepolsterten Elementen bestehend, veranschaulicht Pantons Vorstellung eines raumgreifenden Totaldesigns, das Boden, Wand und Decke zu einer einzigen Form verschmilzt. Im psychedelischen Farbrausch des Panton-Kosmos scheint noch einmal die Sehnsucht nach der Vereinigung aller Künste auf, und zwar - frei von expressionistischem Pathos - als Gesamtkunstwerk für alle.


[ Bis 12. Juni, danach in Berlin. Der Katalog erscheint im Mai. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2000.02.12

18. Januar 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Geschichte einer anderen Idee

Im Hinblick auf den 80. Geburtstag des holländischen Architekten Aldo van Eyck im März 1998 wurde eine Monographie über sein Schaffen geplant, die jetzt...

Im Hinblick auf den 80. Geburtstag des holländischen Architekten Aldo van Eyck im März 1998 wurde eine Monographie über sein Schaffen geplant, die jetzt...

Im Hinblick auf den 80. Geburtstag des holländischen Architekten Aldo van Eyck im März 1998 wurde eine Monographie über sein Schaffen geplant, die jetzt - zehn Monate nach seinem Tod - unter dem Titel «Aldo van Eyck. Werke» gleichsam als postume Darstellung seines Lebenswerks vorliegt. Betreut wurde diese erste deutschsprachige Publikation über den grossen Holländer seit dem 1976 erschienenen und längst vergriffenen Katalog der Dortmunder Ausstellung vom ehemaligen Van-Eyck-Schüler Vincent Ligtelijn, der heute selber an der Technischen Universität in Delft lehrt. Zusammen mit dem 1998 auf holländisch und englisch erschienenen grundlegenden Van-Eyck-Buch von Francis Strauven dokumentiert sie sein Œuvre umfassend.

Das Buch ist in zwei sich ergänzende Teile gegliedert: Zuerst wird van Eycks Werk von mehreren Autoren eingekreist, beschrieben und gewürdigt. Dann werden in chronologischer Reihenfolge alle wichtigen Projekte eingehend dargestellt. Der zweite Teil ist das eigentliche Herzstück dieser Publikation, was bereits das Layout verdeutlicht: Herrscht im ersten Teil eine objektivierende Nüchternheit vor, entwickeln die dargestellten Bauten, Entwürfe und Theorien im zweiten Teil dank den neu überarbeiteten Begleittexten van Eycks und der collageartigen Gestaltung ein faszinierendes Eigenleben. Hier ergänzen sich Texte, Photos, Pläne und Skizzen zu einer kaleidoskopartigen Gesamtschau. Das Layout, das teilweise noch auf van Eycks eigenen Ideen beruht, setzt dessen Vorstellung von Architektur um.

Aldo van Eyck beschäftigte sich mit Architektur auf mehreren Ebenen gleichzeitig: Praxis und Theorie gingen in seinem Werk ineinander über. Die meisten theoretischen Artikel entstanden als Ergänzung zu ganz bestimmten Entwürfen. Van Eyck war Mitglied der holländischen CIAM- Gruppe sowie Mitbegründer des Team X, das sich aus Unzufriedenheit mit den Zielen des CIAM formierte. Zudem gab er während mehrerer Jahre die holländische Architekturzeitschrift «Forum» heraus. Bereits Ende der fünfziger Jahre profilierte sich van Eyck als vehementer Kritiker eines einseitig verstandenen Funktionalismus. Er wehrte sich gegen den weitverbreiteten Schematismus der Nachkriegsmoderne und stellte diesem seine «Geschichte einer anderen Idee» gegenüber. Van Eyck propagierte damit ein alternatives Verständnis von Modernität, deren Einfachheit nicht schematisch, sondern vielschichtig - oder eben poetisch - sein sollte. Er berief sich auf Le Corbusier, Picasso, Joyce und Brancusi.

Für sein Verständnis der Moderne war das Konzept der Relativität entscheidend. Relativität meint, dass die Dinge nicht hierarchisch geordnet und von einem zentralen dominanten Prinzip abhängig sind, sondern auf ihren wechselseitigen Beziehungen beruhen. Damit sind Standpunkte relativ und als solche gleichwertig. Das Ideal der Gleichwertigkeit prägte bereits van Eycks sogenannte Otterloo-Kreise von 1959: Hier sind nicht nur die Macher und Nutzer gleichwertige Partner; ebenso sollen sich die verschiedenen Epochen und Kulturen ergänzen und nicht konkurrenzieren. Dieses umfassende Geschichtsverständnis unterscheidet van Eyck ebenso entschieden von den Funktionalisten wie von den Postmodernisten - die er als «Rats, Posts and other Pests» beschimpfte. Das Zusammenfügen von gleichwertigen Einzelteilen zu einer Gesamtkomposition bezeichnete er als konfigurative Entwurfsmethode. Berühmtestes Beispiel dafür ist das mit vielen Kuppeln überwölbte Waisenhaus in Amsterdam von 1960, das wie eine kleine Stadt oder Kabash organisiert ist. Auf der gleichen Methode basiert der Entwurf für das Hubertushaus in Amsterdam von 1981, wo er erstmals jene Farbigkeit anwandte, die sein Spätwerk auszeichnet.

Die vorliegende Publikation dokumentiert auf umfassende und sorgfältige Weise van Eycks architektonisches Schaffen. Dagegen wirkt die Auswahl der einführenden Texte etwas beliebig. So wurden die Beiträge der Architektenkollegen Peter Smithson und Herman Hertzberger bereits anderweitig publiziert. Insgesamt entsteht jedoch ein vielfältiges Bild von van Eycks Werk. Dank der chronologischen Ordnung lassen sich unterschiedliche Entwurfsphasen über einen Zeitraum von 55 Jahren verfolgen: Da erkennt man im Wettbewerbsbeitrag für die Modissa in Zürich einen Vorläufer des Hubertushauses. Und gleich neben dem Waisenhaus baute van Eyck von 1990 bis 94 einen Bürokomplex. Damit entstand ein reizvoller Kontrast zwischen Früh- und Spätwerk auf engstem Raum, den es zweifellos zu besichtigen lohnt.


Christoph Wieser

Aldo van Eyck. Werke. Hrsg. Vincent Ligtelijn. Birkhäuser- Verlag, Basel 1999. 312 S., Fr. 108.-.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.01.18

18. Januar 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Brückenschlag über den Rhein

Nibelungenlied und «Wacht am Rhein», Burgenromantik und Weinseligkeit, Loreley und Erster Weltkrieg: kein Fluss Europas ist stärker mythisch überhöht und...

Nibelungenlied und «Wacht am Rhein», Burgenromantik und Weinseligkeit, Loreley und Erster Weltkrieg: kein Fluss Europas ist stärker mythisch überhöht und...

Nibelungenlied und «Wacht am Rhein», Burgenromantik und Weinseligkeit, Loreley und Erster Weltkrieg: kein Fluss Europas ist stärker mythisch überhöht und intensiver propagandistisch vereinnahmt worden als der Rhein. Nun soll er Standort eines «Museums der Weltkulturen» werden - zumindest wenn es nach dem Willen des Berliner Anwalts Steffen Barth geht. An einem noch festzulegenden Ort zwischen Strassburg und Karlsruhe soll ein architektonischer Brückenschlag die einstmals gegnerischen Ufer verbinden. Das Gebäude ist als Lern- und Meditationsort gedacht, an dem Gegenstände unterschiedlicher Kulturen ausgestellt werden und Menschen verschiedenster Herkunft einander begegnen. Nach den Vorstellungen seines Initiators soll weniger ein Museum im traditionellen Sinne als vielmehr ein «Ort der internationalen und interdisziplinären Begegnung» entstehen.

Die architektonische Gestaltung des Projekts wurde Tadao Ando anvertraut. Der Japaner, durch seine introvertierten und meditativen Bauten für eine derartige Aufgabe zweifellos prädestiniert, war gut beraten, die ohnehin symbolhaft aufgeladene Vorgabe einer Brücke der Kultur über den Rhein nicht durch architektonische Bildhaftigkeit zu überfrachten und damit an den Rand des Anekdotischen zu führen. Statt dessen zeigen die unlängst der Öffentlichkeit vorgestellten und nun in Buchform publizierten Entwürfe einen abstrakten gläsernen Riegel, der, in der Achse versetzt, auf ebenfalls kubisch-rigiden Baukörpern an den beiden Ufern auflagert. (Steffen Barth und Werner Blaser: Tadao Ando. Museum der Weltkulturen. Verlag Vice Versa, Berlin.) Zum Glas tritt der von Ando favorisierte Beton, aus dem nicht nur die beiden Sockelbauten bestehen, sondern auch die innere Raumgliederung des gewaltigen gläsernen Balkens. Die Jahrtausendwende beflügelt offenkundig museale Konzepte, die sich der Vergangenheit und der Zukunft menschlichen Lebens in globalem Massstab widmen; erinnert sei an die Dépendance des Londoner Imperial War Museum in Manchester, die Daniel Libeskind als «Museum of conflicts» in Form einer geborstenen Weltkugel errichtet. Wie Grussworte unter anderem von Roman Herzog und dem Kunsthistoriker Hans Belting beweisen, hat Barth für seine Vorstellungen eines neuen Mundaneums schon einige Anhänger sammeln können. Ob Andos gläserner Bau dereinst den Rhein überspannen wird, hängt allerdings nicht nur davon ab, ob die nötigen Mittel bereitstehen, sondern auch von einer Präzisierung des inhaltlichen Konzepts. Denn einstweilen sind die Konzeptionen noch zu vage formuliert, um mehr als verhaltene Zustimmung auszulösen.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.01.18

15. Januar 2000Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Rezepte für die Zukunft

In den letzten Jahren der DDR wurde das Leipziger Museum für Kunsthandwerk - eines der ältesten und bedeutendsten Deutschlands - zu einem Schatten seiner selbst. Nun endlich soll die Sanierung nach den Entwürfen von David Chipperfield beginnen. Doch die Pläne der Museumsleitung für die Ausstellungsgestaltung wirken unausgegoren und rückwärtsgewandt.

In den letzten Jahren der DDR wurde das Leipziger Museum für Kunsthandwerk - eines der ältesten und bedeutendsten Deutschlands - zu einem Schatten seiner selbst. Nun endlich soll die Sanierung nach den Entwürfen von David Chipperfield beginnen. Doch die Pläne der Museumsleitung für die Ausstellungsgestaltung wirken unausgegoren und rückwärtsgewandt.

Das Museum für Kunsthandwerk in Leipzig kann auf eine lange Tradition zurückblicken: Vor 125 Jahren von dem heute vergessenen Bildhauer Melchior zur Strassen gegründet, gilt es als zweitältestes Institut dieser Art in Deutschland. Nachdem man zunächst ein Domizil am innerstädtischen Thomaskirchhof bezogen hatte, entstand 1892 bis 1895 am Königsplatz in der Formensprache der italienischen Renaissance ein Neubau nach Plänen des Stadtbaurats Hugo Licht. Nach der für die Finanzierung verantwortlichen Stiftung des Kaufmanns Franz Dominic Grassi hiess der Komplex, der auch das Völkerkundemuseum beherbergte, fortan Grassi-Museum.


Kleinmut und Betulichkeit

Unter dem Direktorat von Richard Graul erfolgte schliesslich der Umzug in einen östlich des Stadtzentrums gelegenen Neubau, den das ortsansässige Büro Zweck & Voigt unter Mitwirkung von Stadtbaurat Hubert Ritter zwischen 1925 und 1929 errichtet hatte. Der um zwei Höfe gruppierte Komplex vereinte Gestaltungsprinzipien einer moderaten Moderne mit Elementen des Art déco. Aufmerksamkeit erregte das Museum für Kunsthandwerk nicht nur durch seine exquisite Sammlung, sondern durch die in einem Seitenflügel zweimal jährlich parallel zur offiziellen Messe veranstalteten Grassi-Messen - von Graul im Sinne der Werkbund-Idee konzipierte Präsentationen von Kunstgewerbe und Industriedesign. Von den Kriegszerstörungen hat sich das Museum für Kunsthandwerk bis heute nicht erholt. Auch wenn zu DDR-Zeiten einige Ausstellungssäle wiedereröffnet werden konnten, bezogen Fremdnutzer weite Teile der einstigen Saalfolgen. Ein Defekt der Heizung erzwang schliesslich im Jahr 1982 die Schliessung der Dauerausstellung.

Dem Museum für Kunsthandwerk fiel es nach der Wende schwerer als anderen Ausstellungsinstituten der Stadt, ins öffentliche Bewusstsein zurückzukehren. Während das aus dem ehemaligen Reichsgericht ausquartierte Museum der bildenden Künste einen opulenten Neubau auf dem Sachsenplatz erhält und für die neu gegründete Galerie für zeitgenössische Kunst eine noble Gründerzeitvilla nach Plänen von Peter Kulka hergerichtet wurde, konnten im Grassi-Museum 1994 gerade einmal fünf Ausstellungssäle für die ständige Sammlung des Museums für Kunsthandwerk wiedereröffnet werden, nachdem ein mit der Sanierung beauftragtes Architekturbüro an der Komplexität des Vorhabens gescheitert war. Ein daraufhin von David Chipperfield erarbeitetes sensibles Konzept für die Restaurierung und Erweiterung des Baukomplexes (der heute auch das Völkerkunde- und Musikinstrumenten-Museum beherbergt) blieb zunächst ohne Folgen, da sich die Stadt Leipzig und das Land Sachsen nicht über die Finanzierung einig wurden.


Griff in die didaktische Mottenkiste

Mit den nach zähem Ringen bewilligten 60 Millionen Mark lässt sich zwar nur der erste Teil von Chipperfields Konzept realisieren - nämlich die Sanierung und museale Wiederinbetriebnahme des bestehenden Baus -, doch wird in absehbarer Zeit zumindest die nötige Fläche für die ständige Sammlung und für Wechselausstellungen zur Verfügung stehen. Ein gemeinsam mit den Leipziger Gestaltern Heinz-Jürgen Böhme und Detlef Lieffertz erarbeitetes Konzept der künftigen Präsentation, das die Direktion soeben im ersten Band der Jubiläumspublikation der Öffentlichkeit vorgestellt hat, wirkt allerdings wenig inspirierend. Nicht nur, dass die Gestaltung der Räume mit Vitrinen und Podien zuweilen eher plump und bieder anmutet; geradezu absurd wirkt der Vorschlag, den einst von Bruno Paul ausgestatteten und mit Glasfenstern von César Klein versehenen Empfangsraum mit (neu zu erstellenden) Gipsabgüssen antiker Skulpturen auszustatten.

Konzeptionell fallen die offenkundig überforderten Verantwortlichen damit deutlich hinter Richard Graul zurück, welcher die Kleinkunst der Antike gleichberechtigt mit Kunstwerken anderer Epochen und Kulturen innerhalb des von ihm erdachten, weitestgehend chronologisch gegliederten Ausstellungsrundgangs zeigte. Da nun endlich die Möglichkeit zum Aufbruch besteht, wäre die Museumsleitung gut beraten, sich nicht mit dem Griff in die didaktische Mottenkiste auf den Weg in die Zukunft zu begeben. Etwas mehr Phantasie, etwas mehr Vision täte not - wann sonst bietet sich schon die Möglichkeit, eine völlig neue Konzeption für eine hochkarätige Sammlung zu entwickeln? Es wäre schade, wenn Kleinmut und Betulichkeit den Sieg davontrügen, obwohl gerade in Leipzig die Chance bestünde, die aus dem 19. Jahrhundert stammende Idee des Kunstgewerbemuseums zu überdenken. Anstatt Grauls Präsentation unter heutigen Bedingungen zu adaptieren, könnte gerade die bewusste Überlagerung vergangener und dezidiert zeitgenössischer Präsentationsstrategien zum eigentlichen Reiz der Ausstellung werden. Damit gelänge es nicht nur, die Kunst ins rechte Licht zu rücken, sondern auch die Sammlungsgeschichte selbst zum Thema zu machen. Anzumahnen wäre in diesem Zusammenhang eine Ausstellung über Graul, dessen Bedeutung als Kunst- und Kulturreformer immer noch weit unterschätzt ist.


Insel der künstlerischen Qualität

Mit der anlässlich des Jubiläums erarbeiteten, unter dem irreführenden Titel «Wettbewerb der Moderne» präsentierten Ausstellung zur Geschichte der Grassi-Messen, die zwischen 1920 und 1956 stattfanden, wurde zumindest ein Schritt in die richtige Richtung unternommen. Schliesslich waren es gerade diese Veranstaltungen, die den Ruf des Museums international festigten und es der Leitung ermöglichten, Spitzenerzeugnisse des zeitgenössischen Kunsthandwerks und Industriedesigns zu günstigen Konditionen zu erwerben. Graul sei es gelungen, hielt einst der Architekt Fritz Schumacher fest, «in den geschmacklosen Hexensabbat der Leipziger Messe . . . eine Insel wirklicher künstlerischer Qualität hineinzubringen».

Allerdings konnte der Qualitätsanspruch der 1927 durchgeführten Schau «Europäisches Kunsthandwerk» nicht dauerhaft aufrechterhalten werden; internationale Beteiligungen waren eher die Ausnahme, und das Bauhaus war nur an zwei Grassi-Messen mit von der Partie. Gewiss, die Wiener Werkstätten zählten zu den wichtigen Ausstellern, ebenso die Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein, die Karlsruher Majolika-Manufaktur, die Porzellanmanufaktur Meissen und Firmen wie Thonet oder Villeroy & Boch. Dass die Erzeugnisse jedoch wirklich immer der von Graul postulierten Qualitätsauslese entsprachen, mag man beim Rundgang durch die chronologisch gegliederte und ansprechend inszenierte Schau bezweifeln. Indes gelang es auch nach 1933, moderne Akzente zu setzen, wie der von Lilly Reich entworfene Stand für die Vereinigten Lausitzer Glaswerke (Frühjahr 1936) beweist. Das elegante Präsentationssystem aus Stahlrohr und Rauchglastablaren für die Arbeiten von Wilhelm Wagenfeld wurde rekonstruiert und bildet zweifellos den Höhepunkt der jetzigen Ausstellung in Leipzig. (Bis 30. Januar)


[ Begleitpublikation: 125 Jahre Museum für Kunsthandwerk Leipzig / Grassi-Museum. Teil 1. Hrsg. Olaf Thormann. Passage-Verlag, Leipzig 1999. 68 S., DM 25.-. (Teil 2 mit einer Dokumentation der Grassi-Messen soll im Frühjahr 2000 erscheinen.) ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2000.01.15

22. Dezember 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Auf den Zug aufgesprungen

An das System europäischer Hochgeschwindigkeitszüge sind die Niederlande bisher nicht angeschlossen. In den nächsten zehn Jahren wird sich das ändern mit...

An das System europäischer Hochgeschwindigkeitszüge sind die Niederlande bisher nicht angeschlossen. In den nächsten zehn Jahren wird sich das ändern mit...

An das System europäischer Hochgeschwindigkeitszüge sind die Niederlande bisher nicht angeschlossen. In den nächsten zehn Jahren wird sich das ändern mit einer Nord-Süd-Linie von Amsterdam über Rotterdam nach Brüssel (Eröffnung 2005) und einer West-Ost-Verbindung über Utrecht Richtung Düsseldorf (2010). Eine Querverbindung nach Hamburg könnte schliesslich die Hansestadt zum 90 Minuten entfernten Vorort werden lassen. Diese Erfolgsmeldungen wären noch kein Anlass für eine Ausstellung des Nederlands Architectuurinstituut in Rotterdam; aber die Holländer versuchen, aus Versäumnissen anderer zu lernen und das ambitionierte Projekt nicht allein unter dem Primat planungsrechtlicher oder ökonomischer Kategorien durchzusetzen. Gewiss, man ist spät auf den Zug aufgesprungen, doch scheinen die niederländischen Architekten und Planer mit viel Realitätssinn und Pragmatismus das Entwicklungspotential der Städte und infrastrukturelle Innovation zu verbinden. So dürfte Ben van Berkels Bahnhofprojekt für Arnhem, das sich derzeit im Rohbau abzuzeichnen beginnt, zu einem Meilenstein der Verkehrsarchitektur avancieren. Benthem Crouwel wurden mit Brückenbauten beauftragt, Pi de Bruijn entwirft ein neues Zentrum am Bahnhof Amsterdam Süd, und MVRDV erarbeiten eine Studie zur Umgestaltung der Centraal Station von Amsterdam. Mobilität, so liess Rijksbouwmeester Wytze Patijn verlauten, sei heutzutage eines der wichtigsten Themen im Städtebau. Einen Überblick über die zukünftigen Bahntrassees sowie die wichtigsten Projekte gibt die Ausstellung - durchaus passend zum Thema - auf Informationsträgern in Form von Werbetafeln und Baustellenschildern.


[ Bis 2. Januar; Broschüre (niederländisch) hfl. 6.75. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.12.22



verknüpfte Beiträge
europa1 Niederlande

20. November 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Not und Tugend

Zwei Jahrzehnte ist es her, dass der Kunsthistoriker Heinrich Klotz beim Magistrat der Stadt Frankfurt Gehör mit seiner Idee fand, in der Mainmetropole...

Zwei Jahrzehnte ist es her, dass der Kunsthistoriker Heinrich Klotz beim Magistrat der Stadt Frankfurt Gehör mit seiner Idee fand, in der Mainmetropole...

Zwei Jahrzehnte ist es her, dass der Kunsthistoriker Heinrich Klotz beim Magistrat der Stadt Frankfurt Gehör mit seiner Idee fand, in der Mainmetropole ein Architekturmuseum zu etablieren. Ziel der Institution war es seit Anbeginn nicht nur, Architektur einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, sondern auch eine Sammlung aufzubauen, die Klotz - seiner Interessen und Kontakte wegen - weder regional noch national beschränkte, sondern bewusst international ausrichtete. Der Name «Deutsches Architektur- Museum» ist also doppelt irreführend: zum einen richtet sich der Fokus des Instituts nicht allein auf Deutschland, zum anderen wird die Arbeit des Museums nicht von der Bundesrepublik finanziert, sondern von der Stadt Frankfurt. Die finanzielle Dauerkrise des sich gerne selbst überschätzenden «Mainhattan» hat, gepaart mit kulturpolitischer Ignoranz, das Budget des Museums inzwischen so weit schrumpfen lassen, dass sich der Betrieb nur mühsam und mit Hilfe von Sponsoren aufrechterhalten lässt; ein Ankaufsetat für die Sammlung ist nicht mehr vorhanden.

Wenn nun doch die Neuerwerbungen der letzten fünf Jahre in einer Ausstellung, die beinahe das gesamte Haus füllt, präsentiert werden, so ist dies der Initiative des Museumsteams zu verdanken, das vor den leidigen Rahmenbedingungen nicht kapitulierte und aus der Not eine Tugend machte: Konnten mit Hilfe von öffentlichen und privaten Zuwendungen gerade noch ein Zeichnungskonvolut aus dem Nachlass von Hans Poelzig sowie Hans Scharouns Wettbewerbsskizzen für das Hochhaus am Berliner Bahnhof Friedrichstrasse (1922) erworben werden, blieb für den Ausbau der Sammlung im übrigen nur das Betteln. Die Briefe, die an eine Reihe von Architekturbüros mit der Bitte um das Überlassen bestimmter Projektdokumentationen ausgesandt wurden, blieben nicht ohne Widerhall, und so trifft man nun auf eine im ganzen erstaunliche, zum Teil sogar hochkarätige Ansammlung von Modellen und Plänen, Skizzen und Entwürfen, die das Baugeschehen der vergangenen Jahre zwar nicht umfassend, aber doch angemessen ausschnitthaft präsentieren. Der Bogen spannt sich von Zaha Hadids Landesgartenschau-Pavillon in Weil am Rhein über die Berliner Info-Box von Schneider und Schumacher bis zu Rafael Moneos Rathaus von Murcia. Mit Herzog & de Meuron (Restrukturierung des Frankfurter Osthafens), Diener & Diener (Schweizer Botschaft, Berlin), Gigon & Guyer (Museum Liner, Appenzell), Peter Märkli (Haus eines Bananenpflanzers in der Karibik) sowie Meili und Peter (Holzfachschule Biel) sind Büros aus der Schweiz besonders gut vertreten.

Ergänzt wird die Schau durch knappe Hinweise auf die drei dem Museum geschenkten Nachlässe des in Russland, Deutschland und Israel tätigen Alexander Klein, des durch die Schwarzwaldhalle in Karlsruhe als Protagonist der Nachkriegsmoderne hervorgetretenen Erich Schelling und von Heinz Rasch. Leider zeigen sich nicht alle Erben derart generös - der Versuch, den derzeit in Kalifornien verwahrten Nachlass von Konrad Wachsmann zu sichern, scheiterte jedenfalls trotz intensiven Bemühungen.

Die jetzige Ausstellung belegt auf das eindringlichste die Bedeutung des Deutschen Architektur- Museums; und sie will darüber hinaus auch als ein Résumé der Ära Wilfried Wang verstanden werden, dessen Amtszeit ungefähr mit jenen Jahren korreliert, in denen die jetzt vorgestellten Exponate in die Magazine gelangten; im nächsten Jahr wird Wang das Museum verlassen. So nimmt es nicht wunder, dass die Einleitung des Katalogs - der im übrigen mehr den Bauten und Projekten nachspürt als den gezeigten Studien, Skizzen und Modellen - die Tätigkeit des jetzigen Direktors gleichsam bilanzieren möchte. Wenn allerdings von Ausstellungen, die erst im kommenden Jahr stattfinden sollen, im Präteritum gesprochen wird, drängt sich der Verdacht auf, hier sei der Nachruf schon zu Amtszeiten erschienen.

Wie es mit dem Museum in Zukunft weitergehen wird, weiss derzeit wohl niemand definitiv zu sagen. Was auf dem Spiel steht, lehrt die Ausstellung. Ein Besuch lohnt sich; denn dass die Exponate in nächster Zeit aus dem Dunkel des Magazins wieder einmal ans Licht der Öffentlichkeit gelangen, darf man bezweifeln. Für eine permanente Präsentation der eigenen Bestände ist im Deutschen Architektur-Museum schlicht kein Platz. (Bis 5. Dezember)


[ Katalog: Die neue Sammlung. Schenkung und Akquisitionen 1995-1999. Hrsg. Anna Meseure und Wilfried Wang. Frankfurt 1999. 156 S., DM 68.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.11.20

02. November 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Im Treibhaus der Gefühle

Kaiserappartement und Nationalbibliothek, Lipizzaner und Heldenplatz: zwischen Hofburg und Ringstrasse beschleicht den Besucher Wiens mitunter das Gefühl,...

Kaiserappartement und Nationalbibliothek, Lipizzaner und Heldenplatz: zwischen Hofburg und Ringstrasse beschleicht den Besucher Wiens mitunter das Gefühl,...

Kaiserappartement und Nationalbibliothek, Lipizzaner und Heldenplatz: zwischen Hofburg und Ringstrasse beschleicht den Besucher Wiens mitunter das Gefühl, als herrschten die Habsburger noch immer. Hinter Augustinerkirche und Albertina, im Windschatten der Neuen Hofburg, die erst 1913 - nach einem knappen Vierteljahrhundert Bauzeit - fertiggestellt wurde, errichtete der aus Prag stammende Friedrich Ohmann zwischen 1899 und 1906 das Palmenhaus an der Ostflanke des Burggartens. Ein Bau zwischen den Zeiten: stilistisch von Olbrichs Secession und Adolf Loos' Haus am Michaelerplatz, die als Manifestationen der Moderne den Hofburgkomplex in die Zange nehmen, gleichermassen entfernt. Und dennoch gelang dem Architekten vor der erdrückenden Folie der Neuen Hofburg eine Meisterleistung: die Einbindung eines Nutzbaus in einen dezidiert urbanen Kontext.

Folgte Franz von Segenschmids Palmenhaus im Park von Schönbrunn als reine Glas-Eisen- Konstruktion noch dem Vorbild einer ästhetisch perfektionierten Ingenieurarchitektur, wie sie Decimus Burton und Richard Turner 1848 in den Londoner Kew Gardens mustergültig vorgestellt hatten, so vermochte es Ohmann, mit Pfeilern und Pylonen aus Naturstein Zweckbau und Repräsentationsarchitektur zusammenzuführen. Ohne das Vorbild des prominenten Antipoden und Konkurrenten Otto Wagner, in dessen Bauten für die Wiener Stadtbahn sich eine ähnliche Synthese dokumentierte, wäre das kaum denkbar gewesen. Doch während Wagner nach Rationalität strebte, feierte mit Ohmanns architektonischer Fassung des Wienflusses im Stadtpark und dem Palmenhaus hinter der Residenz die verfeinerte Ästhetik des Fin de siècle ihre letzten Triumphe.


Minimale Interventionen

Jahrelang bot das Palmenhaus einen Zustand der Verwahrlosung. Nun dient der Nordflügel des restaurierten Baus als Schmetterlingsmuseum, der Südflügel als Orangerie; im Mittelpavillon jedoch ist ein Restaurant entstanden, das so heisst wie der frühere Zweck des Gebäudes: «Palmenhaus». Gregor Eichinger und Christian Knechtl, die ihr gemeinsames Wiener Architekturbüro unter dem Namen «Eichinger oder Knechtl» führen, haben gar nicht erst den Versuch unternommen, mit der historischen Bausubstanz zu konkurrieren - was sich auch auf Grund von Auflagen der Denkmalpflege verboten hätte. Statt dessen beschränkten sie sich auf minimale Interventionen, um das Treibhaus in eine gut funktionierende Gaststätte zu verwandeln, die als Café, Bar und Restaurant (mit mediterran geprägter Küche) genutzt wird.

Sieben hohe Palmen verweisen auf die einstige Nutzung des Gebäudes, markieren dessen Mittelachse und trennen somit den Sitzbereich von Bar, offener Küche und dem vorgelagerten Gang. Die Pflanzenkübel sind unter hölzernen Boxen verborgen, die als Ablageflächen für die Gäste oder Servicestationen der Kellner dienen. Das ebenfalls von den Architekten entworfene schlichte Mobiliar aus Buchenholz ist locker und grosszügig gruppiert, so dass jeder Eindruck drängender Enge vermieden wird. An den Schmalseiten des Innenraums laden intimere Zonen dazu ein, sich ungezwungen in Sesseln niederzulassen. Neben dem seitlich auf einer zweiten Ebene angeordneten Büro ist ein vor der gemauerten Rückwand über der Bar aufragender transluzenter Screen das einzige in die Höhe ragende Element; farbig beleuchtet, setzt er einen magischen Akzent in der Weite des Raumes, überdies wird er für künstlerische Projektionen genutzt.


Architekten gestalten Restaurants

Wien kann auf eine lange Tradition architektonisch ambitionierter Restaurantgestaltungen zurückblicken. Man mag dabei an das raumökonomische Meisterwerk der American Bar von Loos denken oder an Hermann Czech und seine subtilen und - im wahrsten Sinn des Wortes - hintergründigen Interieurs: vom legendären «Kleinen Café» (1970) am Franziskanerplatz bis hin zum MAK-Café (1989). Auch Eichinger oder Knechtl haben sich mehrfach der Bauaufgabe Restauranteinrichtung angenommen; auf das Café Stein im Bezirk Alsergrund (1985) folgte das puristisch-reduzierte Restaurant Wrenkh (1989) am Bauernmarkt, dann die nahegelegene Bar Ron con Soda (1994) mit ihrer extravaganten, beinahe aleatorisch anmutenden Materialkombination. Mit dem jüngsten Projekt ist es ihnen gelungen, das 15 Meter hohe Glasgewölbe des Palmenhauses in ein - für Wien durchaus nicht typisches - weltoffenes und international wirkendes Restaurant umzuwandeln.

Trotz den erstaunlichen Dimensionen des Raums fühlt man sich keineswegs wie in einem Grossrestaurant, sondern sieht sich in eine nachgerade sinnlich wirkende Atmosphäre versetzt. Kein Wunder, ist das Gewächshaus doch literarisch als Treibhaus der Gefühle konnotiert - ob in einem der von Richard Wagner vertonten Lieder Mathilde Wesendoncks oder in einer Schlüsselszene des Romans «L'Adultera» von Theodor Fontane. Und Ottilie, eine der Protagonistinnen aus Goethes «Wahlverwandtschaften», vertraut ihrem Tagebuch an: «Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen.»

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.11.02



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Café im Palmenhaus

29. Oktober 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Von der Idee zur Erscheinung

Valerio Olgiatis Umbau des «Gelben Hauses» in Flims

Valerio Olgiatis Umbau des «Gelben Hauses» in Flims

Manchmal bedarf es des sanften Drucks, um zum Ziel zu gelangen: Mehr als eine Dekade stritt man sich in Flims um Abriss oder Erhalt des mitten im Ort gelegenen «Gelben Hauses», bis der Architekt Rudolf Olgiati 1995 - kurz vor seinem Tod - eine Entscheidung lancieren konnte: Unter der Bedingung, dass das aus den 1870er Jahren stammende Gebäude erhalten bleibe und zukünftig als kulturelles Zentrum genutzt werde, vermachte er der Gemeinde seine regional ausgerichtete kulturhistorische Sammlung. Und er fügte dem Vertrag noch eine Klausel hinzu - das Haus müsse nach seinem Geschmack umgebaut und schneeweiss gestrichen werden. Als auch noch der als Hotelierssohn in Flims geborene Filmemacher Daniel Schmid seine umfassende Sammlung zur lokalen Hotel- und Tourismusgeschichte stiftete, versiegte der örtliche Widerstand.


Hülle und Kern

Wer sich an das lange verwahrloste Wohn- und Geschäftshaus erinnert, wird seinen Augen kaum trauen: Wie eine Fata Morgana steht ein beinahe unwirklich weisses Gebilde an der Hauptstrasse, als habe es sich aus dem Reich der reinen Geometrie und der reinen Farbe in die unvollkommene Welt verirrt. Die Folie der alten Strickbau-Scheunen im Hintergrund und die gesichtslosen Tourismusbauten der sechziger und siebziger Jahre ringsum lassen den Kontrast noch deutlicher hervortreten. Aus der Nähe betrachtet, wird die Idee zur Erscheinung, schimmert hinter dem zeitlosen Sein das historisch Gewordene hervor. Denn einem Palimpsest gleich ist hinter den mit weisser Mineralfarbe gestrichenen, unverputzten Fassaden die Struktur des vorhandenen Baus erkennbar: Natursteinmauer in den unteren Geschossen, eine Riegelkonstruktion in der obersten Ebene.

Der durch das monolithartige Schulhaus von Paspels international bekannt gewordene Valerio Olgiati hat die Auflagen seines Vaters erfüllt und zugleich ein beispiellos radikalisiertes Konzept vorgelegt. Erhalten geblieben sind vom einstigen «Gelben Haus» lediglich die Umfassungsmauern; der Innenausbau wurde ebenso entfernt wie Portikus und Balkon, Sprossenfenster, Giebel und Dach. Schliesslich liess der Architekt den Putz von den Fassaden schlagen, so dass nur noch die rohe, von Öffnungen durchbrochene Mauerschale übrigblieb. In Ortbeton entstanden die neuen Laibungen der beinahe quadratischen Fenster, durch die sich das Schema einer nahezu seriellen Lochfassade ergibt. Über das Mauergeviert wurde eine Attika aus Beton gelegt, auf der das Zeltdach mit seinen weiss gestrichenen Schieferplatten ruht. Dieses greift die Volumetrie des historischen Gebäudes auf, kragt aber nicht mehr vor - die Fassaden werden aus der Nahsicht zu reinen Flächen, das Volumen erscheint als Kubus. - Wie in Paspels sind auch in Flims Hülle und Kern voneinander getrennt. Eingestellt in den massiven Mauerkranz wurde hier eine Holzkonstruktion: Die Massivholzdecken der geschossfüllenden Räume ruhen jeweils auf einem Balkenkreuz, das von einer exzentrisch angeordneten Stütze getragen wird. Im Bereich des offenen Dachstuhls ist das Balkenkreuz blossgelegt und bannt die horizontalen Zug- und Druckkräfte der spektakulär schräg in die vertikale Stütze eingeleiteten Auflast des Firsts. Alle Holzelemente sind weiss gestrichen; nur im Fussboden blieb die Materialfarbe der Bretter erhalten.


Dialog zwischen Alt und Neu

Die Purifizierung von Fassaden war in den zwanziger Jahren ein probates Mittel, Häuser der Gründerzeit zu versachlichen. Valerio Olgiati indes treibt nicht ein antihistoristischer Impuls; im Gegenteil, indem er das bauhistorisch wenig bemerkenswerte Gebäude auf sein materielles Substrat reduzierte, gelang ihm vielleicht ein ehrlicherer Dialog zwischen Alt und Neu, als es manche beschönigende Rekonstruktion vermag. Vereinheitlichend legt sich die weisse Schicht der Farbe über Schründe und Brüche, Narben, Wunden und Ergänzungen: Die reine Form enttarnt sich als Flickwerk, als Resultat von bricolage. Beim genauen Hinsehen wird erkennbar, dass die Details keineswegs der idealen Geometrie gehorchen; der Grundriss ist in Wahrheit ein Trapez, die Dachkante leicht geneigt. Ähnlich dem Schulhaus in Paspels besteht somit eine spannungsreiche Wechselbeziehung zwischen einem monolithisch- rigiden Urbild und einer auf Perfektion verzichtenden Realisierung - wobei die Kontingenz sich beim «Gelben Haus» als historisch bedingt erweist, bei der Schule jedoch einer willkürlichen Intervention des Architekten folgt.

Zu Recht wurde das «Gelbe Haus» vor wenigen Tagen leer eröffnet. Rudolf Olgiati und seiner kulturgeschichtlichen Sammlung widmet sich das vom Verleger Dino Simonett geleitete und vom Verein «Das Gelbe Haus» betriebene Institut ab Mitte Dezember. Weitere Ausstellungen sollen im Halbjahresturnus folgen. Es wird nicht einfach sein, die stark durchfensterten Innenräume zu bespielen; doch als Museum im üblichen Sinne möchten die Träger ihr Gebäude ohnehin nicht verstanden wissen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.10.29



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„Gelbes Haus“ - Umbau

20. Oktober 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Nizza im Ruhrgebiet

Eine vom französischen Architekturbüro Jourda & Perraudin konzipierte Stadt unter Glas ist auf einer früheren Industriebrache in Herne entstanden. Das Ensemble der Bauten zeigt auf vorbildliche Weise, wie sich ökologische Konzepte und herausragende Architektur vereinen lassen. Vor wenigen Tagen konnte nun die Anlage eingeweiht werden.

Eine vom französischen Architekturbüro Jourda & Perraudin konzipierte Stadt unter Glas ist auf einer früheren Industriebrache in Herne entstanden. Das Ensemble der Bauten zeigt auf vorbildliche Weise, wie sich ökologische Konzepte und herausragende Architektur vereinen lassen. Vor wenigen Tagen konnte nun die Anlage eingeweiht werden.

Ein Unternehmer aus Lyon und ein Bergbauingenieur aus Marseille taten sich 1871 zusammen und erwarben ein Stück Land nahe der westfälischen Ortschaft Herne. Nach dem seinerzeit als Wunderwerk gepriesenen Eisenbahntunnel in den französischen Alpen nannten sie ihre Zeche «Mont-Cenis», und der Name lässt wohl etwas von der Dynamik anklingen, welche der Entwicklung des Ruhrkohlebergbaus seinerzeit eignete. Mehr als ein Jahrhundert beherrschte die Zeche mit ihren Fördertürmen den Stadtteil Sodingen, dann kam mit der Krise der nordrhein-westfälischen Montanindustrie das Aus. 1978 fuhren die letzten Kumpel in den Schacht, zwei Jahre später gähnte an Stelle der einstigen Zechenanlagen eine 60 Hektar grosse Brache. Strukturwandel beschränkte sich hier wie anderenorts im Revier zunächst darauf, Strukturen der industriellen Ära auszulöschen. Die Arbeitslosenquote in Herne liegt heute bei nahezu 20 Prozent.

«Wandel ohne Wachstum», so lautet einer der Slogans der 1988 beschlossenen, dezentral ausgerichteten IBA Emscher Park. Natürlich ist die ökonomische und ökologische Erneuerung der grössten Industrieregion Europas ein Ziel, zu dem das Instrument Bauausstellung nur Anstösse geben kann. Und eine Rundreise zu den einzelnen Projekten hinterlässt mancherorts zwiespältige Gefühle: Ob es gelingt, all die Businessparks, Innovationszentren und Zukunftsfabriken dauerhaft mit Betriebsamkeit zu erfüllen, ist ebenso fragwürdig wie die Akzeptanz mancher Kunst- und Kulturprojekte in einer nicht eben bildungsbürgerlich geprägten Region. Doch es gibt auch Projekte, die man als gelungen bezeichnen möchte: etwa die Revitalisierung des Duisburger Innenhafens und die Umnutzung des Mont- Cenis-Geländes in Herne.

Die Entscheidung des Landes Nordrhein-Westfalen, auf dem Areal der Kohlengrube eine Fortbildungsakademie des Innenministeriums zu errichten, führte 1991/92 zu einem zweistufigen Wettbewerb, in dem sich das in Lyon gegründete Atelier Jourda & Perraudin mit einem zukunftsweisenden Konzept einer Stadt unter Glas durchsetzen konnte. Gemeinsam mit den Projektpartnern Hegger Hegger Schleiff aus Kassel und den Ingenieuren von Ove Arup wurde, unterstützt durch einen Forschungsauftrag der Europäischen Union, die Idee einer mikroklimatischen Hülle entwickelt. - Insgesamt 62 Fichtenstämme tragen die aus Holz bestehende Dachkonstruktion der ringsum verglasten Halle. Die Dimensionen sind beeindruckend: 176 Meter misst der Innenraum in der Länge, 72 Meter in der Breite und 15 Meter in der Höhe. In diesen gewaltigen, lichtdurchfluteten Freiraum stellte Projektarchitektin Françoise Hélène Jourda acht aus stereometrischen Primärformen entwickelte, zwei- bis dreigeschossige Baukörper. Neben die klaren Kuben treten die Halbtonne des Casinos sowie der markante Kegelstumpf der Bibliothek. In zwei Zeilen die zentrale Erschliessungsachse flankierend, bieten die Volumina nicht nur der Fortbildungsakademie Platz. Entgegen den ursprünglichen Plänen entschied man sich nämlich während der Projektierungsphase, auch kommunale und öffentliche Einrichtungen in die Gebäudehülle zu integrieren. Durch die Einbeziehung von Quartierbibliothek und Bürgeramt, Restaurant, Hotel und Versammlungssaal findet das in der Glashülle anklingende Thema der Transparenz und Offenheit auch funktional seine Entsprechung.

Holzstege und Schotterflächen alternieren in den unbebauten Arealen und setzen sich auch ausserhalb der verglasten Stadt fort. Eine weitläufige Treppenanlage führt vom Zentrum Sodingens hinauf zur Akademie, die von einem grossen Pappeloval umgeben ist. «Oval Light» nennt der Künstler Mischa Kuball seine Installation, die Akademie und Park zukünftig ins Licht rücken wird. Mit ihrer Verkleidung aus weisslasierten Kiefernpaneelen wirken die einzelnen Volumina im Inneren der Halle angenehm leicht und freundlich; wo früher einmal Schwerstarbeit verrichtet wurde, weht nun ein fast mediterraner Hauch. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Denn die Glashülle, die sich, sofern es das Wetter zulässt, an verschiedensten Stellen öffnen lässt und auch im Winter durch Sonneneinwirkung und Wärmerückgewinnung angenehme Temperaturen ermöglicht, lässt ein Binnenklima entstehen, das dem von Nizza gleicht. Leben kann sich somit ganzjährig auch ausserhalb der eingestellten Gebäude abspielen, deren Räume daher vergleichsweise bescheiden dimensioniert werden konnten. Da eine Glashaut alles umhüllt, wurden Wetterschutz und Wärmedämmung für die Fassaden der einzelnen Gebäude zu irrelevanten Faktoren.

Die gläserne Hülle übernimmt eine weitere Funktion: In das Dach und die Südwestfassade wurden mehr als 10 000 Quadratmeter Photovoltaik-Module integriert. Stolz spricht denn auch die «Entwicklungsgesellschaft Mont-Cenis» vom grössten Solarkraftwerk der Welt. Die glasintegrierten Siliziumzellen, die zusammen eine Spitzenleistung von einem Megawatt erbringen können, sind hier einmal nicht lästige Applikation, sondern dienen, gleichsam zu Wolken arrangiert, der gezielten Verschattung einiger Raumpartien im Inneren. Mit grossen Dächern und gläsernen Hüllen haben Jourda & Perraudin schon verschiedentlich experimentiert - so beim Internationalen Schulzentrum in Lyon (1989-92) und den Universitätsbauten für Marne-la-Vallé (1992-96). Wurde die Stringenz ihrer Projekte aber bisweilen durch manieriert-organische Ausbildungen in Frage gestellt, so beeindruckt das Meisterwerk in Herne gerade durch seine strukturelle Klarheit und formale Prägnanz. Zudem ist es ein Beleg dafür, dass ökologisches Bauen und grosse Architektur zu harmonieren vermögen.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.10.20



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Fortbildungsakademie

18. Oktober 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Starcks Theater

«I try to make places, where life is different», erklärte Philippe Starck, als er 1996 das Hotel «Mondrian» in West Hollywood zu einem Mysterium in Weiss...

«I try to make places, where life is different», erklärte Philippe Starck, als er 1996 das Hotel «Mondrian» in West Hollywood zu einem Mysterium in Weiss...

«I try to make places, where life is different», erklärte Philippe Starck, als er 1996 das Hotel «Mondrian» in West Hollywood zu einem Mysterium in Weiss umgestaltete. Der jüngste dieser magischen Orte ist nun im Londoner West End entstanden: in Covent Garden, nur wenige Schritte hinter der National Gallery, öffnete Anfang September das Hotel «St. Martins Lane» seine Pforten. Der Ian-Schrager-Gruppe, bisher mit einer Reihe von Hotels in den USA vertreten, gelang damit der Sprung nach Europa.

Ian Schrager war in den siebziger Jahren als Gründer der legendären New Yorker Disco «Club 54» bekannt geworden, bevor er ins Hotelbusiness wechselte und 1985 das «Morgans» an der Madison Avenue eröffnete. In einer Zeit, da Hotels sich gemeinhin als gesichtslose Beherbergungsbetriebe präsentierten, setzte das «Morgans» neue Akzente - mit seiner zeitlos-zurückhaltenden Ausstattung von Andrée Putman wurde es zum Vorreiter für den neuen Trend der Designhotels. Der eigentliche Coup gelang Schrager jedoch mit dem Kontakt zu Philippe Starck, der wie kaum ein anderer zeitgenössischer Gestalter die Fähigkeit besitzt, in seinen Arbeiten die Distanz zwischen high und low zu überbrücken. Eine seltene Kombination aus Magie und Witz prägt die New Yorker Hotels «Royalton» (1989) und «Paramount» (1992); die Aufträge für das «Delano» (1995) in Miami Beach und das «Mondrian» in West Hollywood schlossen sich an. Der Erfolg bewog Schrager zur Expansion: er verpflichtete Starck mit einem Exklusivvertrag und begann gemeinsam mit ihm und der Hausarchitektin Anda Andrei die Planung von elf weiteren Projekten - nach dem «St. Martins Lane» in London sollen demnächst ein Hotel in San Francisco und in Santa Barbara eröffnet werden.

Zu realisieren ist ein derart umfänglicher Auftrag nur, wenn der Designer sich dazu bereit erklärt, lediglich eine Art von künstlerischer Oberleitung zu übernehmen und die Umsetzung und Ausführung des Konzepts anderen - in diesem Fall dem Büro Andrei - zu überlassen. Peter Zumthor, mit dem Schrager ebenfalls verhandelte, lehnte ein solches Vorgehen aus verständlichen Gründen ab.

Auch wenn man viele Gestaltungselemente des «St. Martins Lane» aus den anderen Hotels kennt, erstaunt doch die Phantasie des Arrangements aufs neue. Weisse Starck-Gardinen, die nicht bis zum Boden herabhängen, verwehren von aussen den Einblick in die Lobby, verschleiern das numinose Innere und lenken unwillkürlich zu einer Drehtür aus giftgelbem Glas, durch die man in die Halle gelangt. Während der Bereich der Rezeption und der Liftkorridor auf der linken Seite ebenfalls gelb gehalten sind, prägen Kalksteinfussboden, helle Wände und mächtige weisse Rundpfeiler das Interieur und lassen dem Mobiliar, das zu Gruppen arrangiert ist, den Vortritt: hier eine halbkreisförmige, goldgepolsterte Sitzbank, dort ein behäbiger Armlehnstuhl mit Fussbank; hier drei von bunten Gartenzwergen getragene Hocker, dort ein orangefarbener Egg- Chair von Arne Jacobsen. Diese (vom «Paramount» und vom «Mondrian» bekannte) Zusammenstellung heterogener Möbelstücke erzählt von verstaubter Grandezza ebenso wie vom Flirt mit dem Trivialen, als hätten sich die Gestalter aus dem Fundus der benachbarten Bühnen des Theatre District bedient.

Das ironische Spiel mit Nüchternheit und Opulenz, Reduktion und Formenüberschwang setzt sich in den Restaurantbereichen fort. Links entstand ein kulinarischer Ableger des von Starck vor wenigen Jahren in den Räumen des New Yorker «Morgans» eingerichteten «Asia de Cuba». Mit dem zurückhaltenden, skandinavisch inspirierten Mobiliar kontrastieren die Rundpfeiler, die hier abwechselnd von Bücherregalen, Bildern oder Blumentöpfen umgeben sind. Noch spektakulärer zeigt sich die dahinter befindliche Seafood-, Oyster- und Sushibar. Das Eis, auf dem die Meeresfrüchte liegen, gibt den Farbton der Ausstattung vor: Weisse Lederpolster und Tische, Wände und Glasscheiben lassen den Raum zu einem polaren Eiskristall mutieren.

Zweifellos den spektakulärsten Aufenthaltsbereich des Hotels stellt jedoch die Bar dar, die sich hinter einer zentralen, die Lobby beherrschenden Glasscheibe verbirgt, auf die tagsüber mit einem Video-Beam das überdimensionale Bild eines Goldfischglases projiziert wird. Wer die obligatorische Gesichtskontrolle übersteht, gelangt hinter der als Scheibe getarnten Tür in einen schlauchartigen Raum, der von oben durch eine Sequenz indirekt beleuchteter, farbiger Schächte erhellt wird.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 1999.10.18



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St. Martins Lane Hotel

01. Oktober 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Tradition als Passion

1988 bezog die «Financial Times» ihr neues, von Nicholas Grimshaw entworfenes Produktionszentrum in den Londoner Docklands. Das als «Bracken House» bekannte,...

1988 bezog die «Financial Times» ihr neues, von Nicholas Grimshaw entworfenes Produktionszentrum in den Londoner Docklands. Das als «Bracken House» bekannte,...

1988 bezog die «Financial Times» ihr neues, von Nicholas Grimshaw entworfenes Produktionszentrum in den Londoner Docklands. Das als «Bracken House» bekannte, 1956-59 in unmittelbarer Nähe der St. Paul's Cathedral errichtete alte Verlags- und Druckhaus gelangte in die Hände eines japanischen Investors und wäre abgerissen worden, hätte man das Gebäude nicht - als ersten britischen Nachkriegsbau überhaupt - unter Denkmalschutz gestellt und damit vor der Zerstörung bewahrt. Michael Hopkins gelang schliesslich mit der Einfügung eines Traktes in die bestehende Substanz der überzeugende Dialog zwischen Alt und Neu. Indes war «Bracken House» schon zur Zeit seiner Entstehung umstritten. Der Elemente von Guarinis Turiner Palazzo Carignani entlehnende Bau mit seiner strengen Ziegelfassade, deren rosafarbener Klinker an das Papier der «Financial Times» erinnern sollten, galt zwar manchem Kritiker als Versuch, die Architektursprache des 18. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Moderne zu erneuern, wurde damals jedoch von der Avantgarde rundweg abgelehnt. Nicht anders ist zu erklären, dass Albert Richardson, dem Architekten von «Bracken House», langjährigen Professor an der Bartlett School (1919-47) und zeitweiligen Präsidenten der Royal Academy 35 Jahre nach seinem Tod nun erstmals eine schmale Retrospektive in der RIBA Heinz Gallery in London eingeräumt wird.

Richardson, 1880 geboren, wandte sich nach seinen architektonischen Anfängen in diversen Büros vornehmlich urbanen Projekten zu - auf das New Theatre in Manchester (1911/12) folgte eine Reihe von Geschäftshäusern in der Londoner Innenstadt, später auch eine Anzahl von Kirchenbauten. Ohne in einen eklektizistischen Historismus zu verfallen, blieb die massvoll modernisierte Tradition der georgianischen Architektur für ihn gleichwohl bestimmend. Als Verfechter des handwerklichen Erbes und einer evolutionären Entwicklung der Formensprache blieb er ein Mann des beginnenden Jahrhunderts, der mit seinem Neoklassizismus dem Siegeszug der Moderne ablehnend gegenüberstand.

Manchmal komme es ihm vor, als sei die Nation von einer Krankheit infiziert, die sie zwinge, alles Schätzenswerte zu verachten und nach dem Wertlosen zu streben, äusserte er 1936. Die Kritik an der Industrialisierung, wie sie schon Carlyle, Emerson oder Ruskin vorgetragen hatten, wurde von Richardson aktualisiert; seine satirische Zeichnung «Progress» von 1931 zeigt das zukünftige London als ein sich babylonisch aufgipfelndes Arrangement aus Hochhäusern. Dass die Realität Richardsons Befürchtungen längst eingeholt hat, lässt den Rückblick auf sein Werk überfällig erscheinen. Neben seiner Tätigkeit als Architekt und Lehrer widmet sich die Ausstellung auch dem Autor Richardson, der eine Reihe von Standardwerken vornehmlich zur britischen Architekturgeschichte des 18. Jahrhunderts publizierte. (Bis 23. Oktober)


[ Katalog: Sir Albert Richardson 1880-1964. Hrsg. Alan Powers. RIBA Heinz Gallery, London 1999. 96 S., £ 9.95. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.10.01

21. September 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Auf der Suche nach der Identität

Der Versuch, dem Kultur- und Kongresszentrum Rondo in Pontresina durch ein jährliches Internationales Architektur-Symposium Leben einzuhauchen, könnte...

Der Versuch, dem Kultur- und Kongresszentrum Rondo in Pontresina durch ein jährliches Internationales Architektur-Symposium Leben einzuhauchen, könnte...

Der Versuch, dem Kultur- und Kongresszentrum Rondo in Pontresina durch ein jährliches Internationales Architektur-Symposium Leben einzuhauchen, könnte in Zukunft zum Erfolg führen: Nach dem Debakel der konzeptionell unausgereiften Veranstaltung im Vorjahr fanden jetzt bis zu 300 Besucher den Weg ins Engadin. «Bigness and Velocity - die Stadt zwischen Traum und Trauma» lautete das diesjährige Thema. Dabei war es ein geschickter Schachzug der Veranstalter, nicht alle Referenten selbst auszuwählen, sondern die Gestaltung eines Tages und die Auswahl der Mitstreiter jeweils an einen prominenten Architekten zu delegieren: an Rem Koolhaas, Norman Foster und Jacques Herzog. Das verhinderte nicht nur programmatische Inkonsistenz, sondern bewahrte das Publikum auch - ausser im Falle Norman Fosters - vor konventionellen Werkvorträgen.

Wie kaum anders zu erwarten, gab Koolhaas - der den kanadischen Graphiker Bruce Mau und den englischen Politologen Mark Leonard eingeladen hatte - mit seinen Ausführungen gleichsam den theoretischen Rahmen vor: den Begriff der Identität, der im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung stetig an Bedeutung gewinnt. Ins Zentrum seiner Betrachtung stellte der Architekt das Projekt der Verlagerung des Flughafens Schiphol auf eine künstliche Insel im Ärmelkanal. Der Mega-Airport erlaubte es nicht nur, die Luftverkehrsströme über Europa neu zu ordnen und zu optimieren, sondern liesse im Zentrum Hollands eine Freifläche entstehen, die zum Ausgangspunkt für eine konzeptionelle und urbanistische Neudefinition der Niederlande werden könnte. Ausgehend von Leonards Studie «Branding Britain» und ihrem Postulat eines «Cool Britannia» liessen Koolhaas und Mau die Symposiumsteilnehmer in einem Outdoor-Workshop anschliessend nach einem neuen Selbstverständnis der Schweiz suchen. Sollte sich die Schweiz als Zentrum der Kultur oder als liberale Institution, als Think tank, Entrepreneur oder Archiv verstehen? Postkarten mit (künstlerischen) Antworten auf diese Fragen werden von Koolhaas gesammelt und zu einer Publikation zusammengestellt.

Die Frage nach einem neuen «Branding» für die Schweiz stellte auch Jacques Herzog am letzten Tag. Denn in der Tat scheinen viele der traditionellen Bilder nicht mehr mit der Realität kompatibel, die durch Verstädterung bestimmt ist, während die Landschaft - um einen Gedanken von Raoul Bunschoten aufzugreifen - längst vor dem Horizont eines städtischen Denkens operationalisiert wurde. Avancieren vielleicht die neuen Fussballstadien, die - von privaten Investoren finanziert - als hybride Mischung aus Arena, Shopping Mall und Entertainment Center geplant werden, zu neuen Orten der Identifikation? Nach Antworten darf gesucht werden - nicht zuletzt auf dem nächstjährigen Architektur-Symposium, das mit «Global City - Local Identity» einem ähnlichen Thema gewidmet ist.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.09.21

18. September 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kompensation eines Verlusts

1963 fiel die historische Pennsylvania Station in Manhattan dem Abriss zum Opfer. Seitdem werden die Züge im Untergeschoss einer Shopping und Entertainment Mall abgefertigt. Nun möchte man den Bahnhof als markantes Zeichen ins Stadtbild zurückholen. Pläne des renommierten New Yorker Architekturbüros Skidmore, Owings & Merrill liegen bereits vor.

1963 fiel die historische Pennsylvania Station in Manhattan dem Abriss zum Opfer. Seitdem werden die Züge im Untergeschoss einer Shopping und Entertainment Mall abgefertigt. Nun möchte man den Bahnhof als markantes Zeichen ins Stadtbild zurückholen. Pläne des renommierten New Yorker Architekturbüros Skidmore, Owings & Merrill liegen bereits vor.

Es gibt wohl kaum einen unangenehmeren Bahnhof als die Pennsylvania Station in Manhattan. Wer von hier aus einmal den Zug genommen hat, dem bleiben die stickigen Gänge und langen Warteschlangen in Erinnerung. Vielen Besuchern New Yorks dürfte allerdings der Name «Penn Station» kaum etwas sagen. Das ist weiter nicht verwunderlich, denn oberirdisch deutet nichts mehr auf einen Bahnhof hin. Die Station befindet sich heute in den Untergeschossen der architektonisch belanglosen Madison Square Gardens, eines Bürohochhauses mit Shopping Center und Entertainment Mall im Sockelbereich. Der ganze Komplex wird von der 7. und 8. Avenue sowie von der 31. und 33. Strasse begrenzt. Mit täglich mehr als 500 000 Passagieren - die Anzahl ist höher als die aller Fluggäste der drei New Yorker Airports zusammen - gilt die Penn Station als meistfrequentierter Verkehrsknoten der Stadt. Hier kreuzt sich das Schienennetz der Strecken nach New Jersey, Pennsylvanien und in die südlichen Staaten mit der Long Island Rail Road und der New Yorker Subway. Auf Dauer konnte es weder im Sinne der Bahnverwaltung noch der Stadt sein, den Reisenden einen derart kümmerlichen Eingang zum Bahnhof zu bieten, bei dem sich lange Wartezeiten wie auf Flughäfen mit der katakombenartigen Atmosphäre von U-Bahnen verbinden.


Die Caracalla-Thermen von Manhattan

Möglicherweise durch die im letzten Jahr abgeschlossene mustergültige Renovierung des Grand Central Terminal inspiriert, wenn nicht gar unter Zugzwang gesetzt, will man nun wieder ein wenig an die grosse Zeit der Bahnhöfe des 19. Jahrhunderts anknüpfen. Allerdings ist die Entscheidung des Jahres 1963, das grandiose, von McKim, Mead & White im Sinne des «City Beautiful Movement» entworfene Bahnhofsgebäude abzureissen, nicht mehr zu revidieren. Paul Goldberger, der Architekturkritiker der «New York Times», bezeichnete den Abbruch seinerzeit als «the greatest single act of vandalism New York has ever seen». Der einzige Vorteil war, dass damals auf Grund der allgemeinen Empörung die städtische Landmarks Preservation Commission ins Leben gerufen wurde, die vergleichbare Vorgänge fortan wenn nicht verhinderte, so zumindest doch erschwerte.

Fast zynisch wirkt es, wenn heute in den niedrigen Kellergelassen der Penn Station historische Photos des alten Bahnhofs hängen, der mit seiner monumentalen toskanischen Säulenordnung an der Front zur 7. Avenue und der den Caracalla- Thermen in Rom nachempfundenen Schalterhalle zu den grössten der Welt zählte. Weil die seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erwogene Untertunnelung des Hudson River lange ingenieurtechnisch nicht zu bewältigen war, endete die Bahnstrecke von Philadelphia zunächst mit dem Fähreterminal von Hoboken am Westufer des Hudson in New Jersey. Erst 1910, nach Fertigstellung des elektrifizierten Tunnels, konnte das Empfangsgebäude in Central Manhattan eröffnet werden. Die Ergänzung des Bahnhofs bildet das 1914 ebenfalls nach Entwürfen aus dem Büro von McKim, Mead & White jenseits der 8. Avenue über dem Westende der Bahnsteige errichtete Postgebäude, das im gleichen Stil 1935 erweitert wurde.


Segel über der Stadt

Die Entscheidung der Post, den älteren Baukörper - das sogenannte «Farley Post Office» - weitestgehend zu räumen, eröffnete nun die Möglichkeit, die Penn Station prinzipiell zu reorganisieren. Nach den Entwürfen des Architektenteams um David Childs vom vielbeschäftigten Büro Skidmore, Owings & Merrill wird das Postgebäude gleichsam zum neuen Bahnhof umgebaut; der Hof, in dem heute noch Post sortiert wird, wandelt sich dann zur Empfangshalle. Durch grossflächige Verglasungen - auch an der Nord- und Südseite des Gebäudes - soll möglichst viel Licht auf die Gleisebene fallen, um deren unwirtlichen Charakter etwas zu mildern. Zum markanten, das Stadtbild prägenden Zeichen aber wird die wie ein geblähtes Segel hoch aufragende, Stahl-Glas-Konstruktion über der Eingangs- und Schalterhalle, die Childs zwischen den beiden Postgebäuden anordnet. Von den projektierten 484 Millionen Dollar Gesamtkosten übernehmen Föderation, Bundesstaat und Stadt 350 Millionen. Im Jahr 2003 soll der Umbau fertig sein und dann von der Renaissance der Bahnhöfe in New York zeugen.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.09.18

03. September 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Einfügung als Prinzip

Heute gehen die Zürcher Architekten Andreas Galli und Rudolf Moser ihre eigenen Wege, doch sind in den Jahren gemeinsamer Arbeit zwei bemerkenswerte Bauten entstanden: ein Doppelhaus in Busswil und eine Schulhauserweiterung in Bülach. Weniger die Architektur als Objekt interessiert sie als vielmehr die Möglichkeit, «den Neubau so zu modellieren, dass die neu geschaffene Situation durch eine bewusst erzeugte Spannung bereichert wird».

Heute gehen die Zürcher Architekten Andreas Galli und Rudolf Moser ihre eigenen Wege, doch sind in den Jahren gemeinsamer Arbeit zwei bemerkenswerte Bauten entstanden: ein Doppelhaus in Busswil und eine Schulhauserweiterung in Bülach. Weniger die Architektur als Objekt interessiert sie als vielmehr die Möglichkeit, «den Neubau so zu modellieren, dass die neu geschaffene Situation durch eine bewusst erzeugte Spannung bereichert wird».

Einen unspektakulären Altbau durch Formenopulenz oder architektonische Invention zu übertrumpfen und in den Schatten zu stellen, ist kein Kunststück. Als weitaus schwieriger stellt sich der Versuch dar, das Neue einzufügen, denn der Grat zwischen dem Abgrund der Selbstverleugnung und der Untiefe der Anpassung ist schmal. In Bülach haben die Zürcher Architekten Andreas Galli und Rudolf Moser den rechten Weg gefunden: ein winkelförmiger Baukörper - bestehend aus einem zweigeschossigen Klassentrakt und der Turnhalle mit vorgelagerter Eingangshalle - greift die orthogonale Struktur der bestehenden Bauten auf und arrondiert das Areal, so dass ein grosszügiger Pausenbereich entsteht. Auch wenn die Proportionierung der hinzugefügten Volumina auf die Schulgebäude der fünfziger Jahre abgestimmt ist, setzten die Architekten hinsichtlich der Materialwahl und Farbgebung auf Kontrast: dem rotbraunen Klinker antwortet nun eine klare, deutlich zeitgenössische Betonstruktur, die umlaufend mit grossformatigen blaugrünen Faserzementplatten verkleidet wurde.

Einen bestimmenden Akzent verleiht dem Gebäude überdies die überzeugende Intervention des Kölner Künstlers Stefan Steiner. Dieser färbte die beiden hinter der Glasfassade des Sporthallen- und Eingangstraktes sichtbaren Wände rot. Beim näheren Hinsehen lassen die nachts magisch strahlenden Farbflächen den Pinselstrich des lasierenden Farbauftrags erkennen. In weitausholenden, ondulierenden Gesten übermalte Steiner den rigiden Raster der im Sichtbeton abgedrückten Verschalungsplatten und rückt ihn dadurch verfremdet ins Licht. Die in kontrastierenden Farbtönen gehaltenen Füllungen der Bundlöcher - Steiner nennt sie «Korallen» - gaben der Arbeit den Namen «Korallenrot», der auch in grossformatigen Versalien in die Fensterzone des Erdgeschosses eingeätzt wurde. Architektur und Kunst treten in einen spannungsvollen Dialog.

Wettbewerb (1991) und Fertigstellung (1997) der Schule in Bülach markieren auch die Eckpunkte der sechsjährigen Zusammenarbeit von Andreas Galli und Rudolf Moser, die beide 1958 geboren wurden und ihr Diplom an der ETH Zürich absolvierten. In dieser Zeit entstand auch das Doppelhaus in Busswil. Der 1995 realisierte Bau behandelt das Thema der Einpassung. Der Kontext bestand in diesem Fall aus einer nicht unbedingt attraktiven, aber gleichwohl typischen ländlichen Einfamilienhaussiedlung in der sanften Hügellandschaft des Thurgaus. Reizvoll wurde dieses Ambiente dadurch, dass das zur Verfügung stehende Grundstück am Rand der Bebauungszone lag und den Architekten somit die Möglichkeit bot, an der Schnittstelle zwischen Natur und Zivilisation zu operieren. Die Vorgaben der Gestaltungssatzung - Anordnung der Gebäude parallel zu den Höhenlinien, Satteldach - mussten befolgt werden, und so wirkt das zweigeschossige, ziegelgedeckte Volumen mit seinen Dachüberständen bewusst unspektakulär und durchaus kompatibel mit der ländlichen Gegend. Ein kleiner Knick, der auf den etwas hangabwärts fliessenden Bach zu reagieren scheint, trennt die beiden Teile des Hauses, die analog aufgebaut sind: unten ein von einem grossen Fenster belichteter Wohnbereich, oben zwei oder drei private Räume; vorgelagert im Norden Erschliessungs- und Funktionsräume. Nichts Aufregendes, keine Architektur, welche die Blicke der Passanten erzwingt, und doch, nicht zuletzt dank der Detaillierung und Qualität der Verarbeitung, ein Gebäude, welches das übliche Einerlei der Einfamilienhausquartiere mühelos aussticht.

Im Jahre 1997 beendeten Galli und Moser ihre Zusammenarbeit. Moser betreibt seither ein eigenes Büro in Zürich und gewann zuletzt den 4. Preis im Projektwettbewerb Ecole Cycle d'Orientation de la Gruyère in Tour-de-Trême; Galli, seit 1995 Dozent an der Fachhochschule beider Basel in Muttenz, gründete ein ebenfalls in Zürich ansässiges Büro gemeinsam mit Yvonne Rudolf. In diesem Jahr gewann das Team den Wettbewerb für die International Primary School of Zurich; das Baugesuch ist derzeit in Bearbeitung.


[ Galli und Moser stellen im Rahmen eines Vortrags ihre Arbeiten am 8. September im Architekturforum Zürich vor. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.09.03

23. August 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Bücher am Bahnhof

Für Dortmunder Massstäbe kann Mario Bottas Neubau der Stadt- und Landesbibliothek durchaus als herausragend gelten. Gleichwohl vermag die gegenüber dem Hauptbahnhof gelegene Buchfestung nicht recht zu überzeugen: Konzeptionelle Schwächen sind unverkennbar, und überdies ist dem Architekten zur Bauaufgabe Bibliothek nichts wirklich Neues eingefallen.

Für Dortmunder Massstäbe kann Mario Bottas Neubau der Stadt- und Landesbibliothek durchaus als herausragend gelten. Gleichwohl vermag die gegenüber dem Hauptbahnhof gelegene Buchfestung nicht recht zu überzeugen: Konzeptionelle Schwächen sind unverkennbar, und überdies ist dem Architekten zur Bauaufgabe Bibliothek nichts wirklich Neues eingefallen.

Nach dem Krieg wandelte sich Dortmund, die alte, nunmehr weitgehend zerstörte Hansestadt am westlichen Rand des Ruhrgebiets, zum Einkaufsparadies. Kaufhäuser entstanden, die obligatorischen Fussgängerzonen wurden angelegt, und in den Büro- und Verwaltungsbauten der City schien sich schon die postmontane Ära anzudeuten, welche die Stadt nach dem Niedergang der Zechen und Stahlwerke in eine Identitätskrise stürzte. Zimperlich ging und geht man mit dem baulichen Erbe in Dortmund nicht um: Nachdem die Zeugnisse der Industriekultur weitgehend aus dem Stadtbild gesprengt worden sind, steht nun die bescheidene Wiederaufbaumoderne der fünfziger und sechziger Jahre dem wirtschaftlichen Kalkül im Wege. So beendete eine Dynamitladung 1995 die Existenz der am Hansaplatz gelegenen Stadtbibliothek, weil ein Investor der Stadt versprochen hatte, das Grundstück für 28,5 Millionen Mark zu erwerben und überdies mit einem «Freizeitkaufhaus» zu garnieren. Als die Kommune das Grundstück indes besenrein übergeben wollte, gab es von dem ursprünglichen Ansinnen des Investors keine Spur mehr, und der Hansaplatz präsentiert sich seitdem als innerstädtische Brache.


Entwicklungsgebiet Hauptbahnhof

Auch wenn der erhoffte finanzielle Zuschuss für den Neubau der Stadt- und Landesbibliothek fehlte, gab es nun kein Zurück: In einem Gutachterverfahren für den neuen Standort vis-à-vis dem Hauptbahnhof konnte sich Mario Botta gegen Hansen & Petersen aus Dortmund, Horst Haag aus Stuttgart sowie Gustav Peichl und Jo Coenen durchsetzen. An die Stelle einstiger Pavillonbauten der fünfziger Jahre gesetzt, versucht Bottas Bibliotheksriegel, die Stadtkante an dieser Stelle neu zu fassen. Geht es nach dem Willen der Stadtväter, wird allerdings bald ein gigantisches, blasenartiges, 54 Meter hohes Shopping-Center der Hamburger Architekten Bothe, Richter, Teherani über den Gleisanlagen des Hauptbahnhofs niedergehen und die gebaute Umgebung zur Spielzeugarchitektur degradieren; Bottas Bibliothek geriete ins städtebauliche Abseits.

Wo die Fussgänger nach Überwinden der dem Bahnhof vorgelagerten Verkehrsschneise jetzt noch eine breite Freitreppe zum Niveau der City hinaufsteigen, fungiert die neue Bibliothek als Entrée zum Zentrum. Fast wirkt es so, als habe die Stadtbefestigung, die sich einst hier ausdehnte, den Tessiner inspiriert: Während das aus einem Kegelabschnitt entwickelte Halbrund der Lesesäle seiner Verglasung zum Trotz an eine Bastion erinnert, wirkt das in einen niedrigeren (westlichen) und einen höheren (östlichen) Baukörper gegliederte Volumen der Büro- und Magazinbereiche mit seiner seriellen Reihung von schartenartigen Fenstern mauerhaft streng. Wieso der Architekt rosarote Quarzitplatten zur Verkleidung verwendete und nicht den für die meisten seiner Bauten - und überdies für Dortmund - charakteristischen Ziegel, bleibt unerklärlich.


Architektonisch wenig überzeugend

Auch wenn die städtebauliche Lösung durchaus plausibel ist, vermögen essentielle Teile der Gestaltung nicht zu überzeugen - die ungegliederten Fassaden der Stirnseiten ebensowenig wie die Disposition des Haupteingangs, der sich in der dunklen Erdgeschosszone unterhalb der Verbindungsbrücken zwischen Lesesaal und Bürotrakt verbirgt. Wer einen Lichthof à la Botta in dem trommelförmigen Vorbau erwartet, sieht sich getäuscht: Rolltreppen zwischen den drei Ebenen des Freihandbereichs warten mit dem Charme eines Kaufhauses auf und verhindern vertikale Sichtbezüge. Nur auf der obersten Ebene des Lesesaals ergibt sich ein freier Blick auf die vorgelagerte Glaskonstruktion, obwohl die massigen Stahlrohre des Tragwerks deutlich überinstrumentiert erscheinen. Radial aufgestellte Regale und USM-Haller-Tische zeichnen die Kreisform nach.

Während es dem niederländischen Team Mecanoo in Delft mit dem ein fliessendes Raumgefüge durchstossenden kegelförmigen Lesesaal gelungen ist, den seit der British Library geläufigen Typus der Lesesaalrunde ironisch in die Gegenwart zu transponieren, und auch die Bibliothek von Bolles & Wilson in Münster Originalität beanspruchen kann, ist Botta zur Bauaufgabe Bibliothek wenig eingefallen. Was man um so mehr bedauert, als er im heimatlichen Lugano mit der Bibliothek des Kapuzinerklosters (1976) einen sensiblen und wegweisenden Bau realisiert hat. Indes: Wir leben in einer Informationsgesellschaft, in einer digitalen Ära. Bibliotheken in heutiger Zeit zu bauen sollte bedeuten, die Frage nach der zukünftigen Organisation des Wissens zu stellen. Wer aber die Frage nicht stellt, kann die Antwort nicht finden.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 1999.08.23



verknüpfte Bauwerke
Stadt- und Landesbibliothek

20. August 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Hellas ohne Säulen

Als Tour d'horizon durch das neuzeitliche Baugeschehen Griechenlands will die jüngste Länderausstellung des Deutschen Architektur-Museums in Frankfurt verstanden werden. Auch wenn diesmal einige Schwerpunkte gesetzt sind, dämpfen die stereotype chronologische Reihung und eine lieblose Präsentation die Freude des Besuchs.

Als Tour d'horizon durch das neuzeitliche Baugeschehen Griechenlands will die jüngste Länderausstellung des Deutschen Architektur-Museums in Frankfurt verstanden werden. Auch wenn diesmal einige Schwerpunkte gesetzt sind, dämpfen die stereotype chronologische Reihung und eine lieblose Präsentation die Freude des Besuchs.

Eines der zukunftsweisendsten Grussworte an die Teilnehmer des legendären CIAM IV an Bord der «Patris II», welche die heimatlosen Protagonisten der Moderne in der Zeit des europäischen Nationalismus durch das Mittelmeer beförderte, stammte von Anastasios Orlandos, dem Archäologen und Professor für Geschichte an der Technischen Universität Athen: «Unsere Schule, obwohl eigentlich konservativ, hat sich den gegenwärtigen Fragen gestellt und hat ‹Tod dem Akademismus› verkündet, bevor unser Gast Le Corbusier diese Forderung vorgebracht hat. Ich denke, Sie werden, wenn Sie in wenigen Tagen unsere zauberhaften Inseln in der Ägäis besuchen, nicht nur über die perfekte Einfachheit, den klaren Entwurf und die Reinheit der Linien bei den antiken Häusern auf Delos erfreut sein, sondern auch über den faszinierenden Anblick der Gebäude auf den Inseln ringsum, mit ihren harmonisch und pittoresk in die Landschaft eingebetteten weissen, streng geometrischen Volumina. Diese bescheidenen Inselhäuschen sind die Archetypen der modernen Architektur.» Orlandos sprach damit die beiden Pole an, die das Spannungsfeld, in dem die moderne griechische Baukunst entstand, abstecken: die antike Architektur und das traditionelle mediterrane Bauen.


Langsame Abkehr vom Akademismus

Mit «Architektur im 20. Jahrhundert: Griechenland» gehen die Ausstellungen von europäischen Ländern im Deutschen Architektur-Museum in Frankfurt in die sechste Runde. 113 Gebäude werden diesmal abgehandelt, wobei man sich hinsichtlich der Ausstellungsfläche auf die Eingangsebene und das erste Obergeschoss beschränkte.

Durch den Philhellenismus zum Nationalstil avanciert, hielt sich der Neoklassizismus in Griechenland länger als im übrigen Europa. Ernst Ziller, einstiger Assistent Theophil von Hansens, wurde in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten Exponenten des späten Klassizismus. Mit dem Pesmazoglou-Appartementblock in Athen (1900) schuf er einen auf das gehobene Bürgertum zielenden Bautypus, der fortan die Kapitale prägen sollte. Neue Architektur bedeutete jedoch weiterhin den verspäteten Import einer anderenorts entwickelten Formensprache, was Pietro Arrigonis Jugendstilvilla in Thessaloniki (1911/12) ebenso beweist wie Vasileios Tsagris' Efessios-Gebäude in Athen (1928), dessen Fassade von Otto Wagner inspiriert ist. Mit seinem vernakulären Eklektizismus wirkt das Haus, das Aristotelis Zachos 1924-27 für Angeliki Hadjimichali errichtete, wie ein Befreiungsschlag angesichts des weiterhin tonangebenden Akademismus. Mit der am Hang des Lykabettos gestaffelten Elementarschule (1932) realisierte Dimitris Pikionis ein Meisterwerk im Sinne des Neuen Bauens. Stamo Papadaki, dem Begründer der griechischen CIAM-Gruppe, hingegen war es vorbehalten, mit seinem Einfamilienhaus in Glyfada am Saronischen Golf die weissen Kuben der mediterranen Welt mit dem von Le Corbusier favorisierten Dampfermotiv zu verschmelzen. Le Corbusier und vor allem dessen Spätwerk blieb für die griechischen Architekten seither eine beinahe übermächtige Inspirationsquelle; noch Passagierterminal in Piräus von Yannis Liapis und Elias Skroumbelos (1962-69) und das Gerichtsgebäude in Livadia von Tassos und Dimitris Biris und Elias Papayannopoulos (1966-78) zitieren die Werke des Meisters fast wörtlich.

Ihren eigentlichen Höhepunkt erreichte die moderne griechische Architektur in den fünfziger und sechziger Jahren. Vier Namen beherrschten die Szene: Nicos Valsamakis mit seiner hocheleganten, an die kalifornischen Case Study Houses erinnernden Villa Lanaras in Anavyssos (1963), Takis Zenetos mit dem mächtigen Riegel der streng funktionalistischen Fix-Brauerei in Athen (1957-63), Aris Konstantinidis mit seinen puristischen Strukturen aus Stahlbeton und Stein sowie der vom Rationalismus der Vorkriegszeit zu einem sensiblen Traditionalismus konvertierte Dimitris Pikionis. Seine einfühlsame Gestaltung der Erschliessungswege um die Akropolis und den Philopappos-Hügel in Athen (1954-57) vereint souverän antike und regionale Elemente und mutet mitunter fernöstlich-kontemplativ an.


Ohne Fragen keine Antworten


Anders als bei der Vorjahresschau zum Thema Schweiz suchten die Ausstellungsveranstalter - in diesem Fall das für die Konzeption verantwortliche Hellenic Institute of Architecture - zumindest beiläufig Akzente zu setzen. Valsamakis, Pikionis, Konstantinidis und Zenetos rahmen mit jeweils drei Arbeiten das Atrium im Erdgeschoss. Die herausragende Position dieser Architekten wird zwar niemand bestreiten, doch ist man nach der allzu egalitären Schweiz-Ausstellung für derlei Schwerpunkte schon beinahe dankbar. Allerdings krankt auch die Griechenland-Schau wie die vorangegangenen Präsentationen unter dem lexikalischen Zwang, alles oder vielmehr von allem etwas zu präsentieren. Die Konsequenz dieses Prinzips besteht in einer groben chronologischen Reihung der Werke, die sich als ermüdend erweist und in der amorphen Frankfurter Ausstellungssituation kaum plausibel zur Geltung kommt.

Wären nicht strukturelle Fragen stärker zu akzentuieren? Beispielsweise die nach der Orientierung am traditionellen heimischen Bauen oder am Neoklassizismus? Böte nicht die Frage nach den Bauaufgaben interessante Erkenntnisse? Etwa die, dass sich - von Universitäten, gegebenenfalls Museen abgesehen - derzeit nur noch gewisse Neureiche für Architektur interessieren und ihre luxuriösen Domizile in die hellenische Küstenlandschaft setzen lassen - wahlweise, wie der im Obergeschoss des Deutschen Architektur- Museums präsentierte Ausstellungsteil belegt, in postmoderner oder dekonstruktiver Formensprache? Und schliesslich: Weswegen suchen Architekturausstellungen wie diese die Historie zu marginalisieren? Spiegelt sich Griechenlands politisches Geschick nicht auch in seiner Baugeschichte? Warum glaubt der Besucher, durch ein einziges Gedicht von Jannis Ritsos mehr über dieses Land zu erfahren als durch eine Ausstellung, die als Tour d'horizon durch hundert Jahre Architekturgeschichte verstanden werden will?

Einmal mehr scheinen in Frankfurt die Belange der Architektur von den Sachwaltern verhandelt zu werden. Dass der Katalog auf Grund der desaströsen Finanzsituation des Deutschen Architektur-Museums und mangels Interesses der griechischen Sponsoren an einer deutschsprachigen Edition nur auf englisch (und neugriechisch) erscheint, mag zwar einige Kaufinteressenten abschrecken, liesse sich aber verschmerzen. Deprimierender ist, dass sich die Ausstellungsmacher bei der Auswahl der Dokumente wenig Mühe gegeben haben. An die Stelle von Originalen treten meist Reproduktionen; Bildlegenden und Massstäbe werden als überflüssig erachtet, und Photos sehen vielfach so aus, als ob Shift-Objektiv und farbechter Film noch nicht erfunden seien. Vom Reiz der mediterranen Landschaft, von der Faszination des architektonischen Raums findet sich keine Spur. Zur Architektur verführt man so kaum jemanden. (Bis 17. Oktober)


[ Katalog: 20th Century Architecture: Greece. Hrsg. Savas Condaratos und Wilfried Wang. Prestel-Verlag, München/York 1999. 288 S., Fr. 137.- (DM 78.- in der Ausstellung). ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.08.20

05. August 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Der Weg nach Taliesin

Gut zwanzig Jahre währte die Freundschaft zwischen Frank Lloyd Wright und einem seiner wichtigsten Auftraggeber, dem Warenhausbesitzer Edgar J. Kaufmann aus Pittsburgh. Den zwölf gemeinsamen Projekten, darunter das zur Ikone der Moderne avancierte Wochenendhaus Fallingwater, widmet das Heinz Architectural Center in Pittsburgh eine instruktive Ausstellung.

Gut zwanzig Jahre währte die Freundschaft zwischen Frank Lloyd Wright und einem seiner wichtigsten Auftraggeber, dem Warenhausbesitzer Edgar J. Kaufmann aus Pittsburgh. Den zwölf gemeinsamen Projekten, darunter das zur Ikone der Moderne avancierte Wochenendhaus Fallingwater, widmet das Heinz Architectural Center in Pittsburgh eine instruktive Ausstellung.

«The Point», die Stelle des Zusammenflusses von Allegheny und Monongahela River zum Ohio, gilt in Pittsburgh beinahe als mythischer Ort. 1754 hatten die Engländer das dort befindliche Fort Duquesne erobert und zu Ehren ihres Premiers «Fort Pitt» genannt; damit war nicht nur die Keimzelle für die städtische Entwicklung entstanden, sondern zugleich ein strategischer Eckpfeiler, der den Briten die Vorherrschaft über Amerika sicherte. Der «Point» sähe nach den Vorstellungen von Frank Lloyd Wright heute anders aus. Entgegen den virulenten Konzepten, die Landspitze in einen öffentlichen Park umzuwandeln, präsentierte der Architekt 1947 das visionäre Projekt des Point Park Civic Center. Kern des Entwurfs bildete eine spiralförmige Rampe, die als Megastruktur die einzelnen Bereiche des Centers miteinander verband: Oper, Kongresszentrum und Cinema. Wrights utopischer Entwurf für das autogerechte Entertainment-Center eines postindustriellen und posturbanen Pittsburgh basierte auf dem 1932 publizierten Modell der Broadacre City; diesen Vorstellungen gemäss hatte der Architekt 1935 verlauten lassen, Pittsburgh sei eine «disappearing city». Auch wenn die endlosen Siedlungsteppiche amerikanischer Agglomerationen an Broadacre erinnern, überforderte das Point Park Civic Center die finanziellen Ressourcen ebenso wie den Mut lokaler Entscheidungsträger. Auch ein deutlich reduzierter zweiter Entwurf blieb unausgeführt.


Kultur im Warenhaus

Dass der renommierte Architekt überhaupt Projekte für die seinerzeit noch rauchgeschwärzte Schwerindustriemetropole Pittsburgh entwickelte, ist dem ortsansässigen Warenhausbesitzer Edgar J. Kaufmann (1885-1955) zu verdanken, dem eigentlichen Motor der Point-Park-Idee. «Merchant Prince and Master Builder» nennen die Kuratoren des Heinz Architectural Center am Pittsburgher Carnegie Museum of Art treffend eine Ausstellung, welche das nicht immer ungetrübte Verhältnis zwischen Bauherr und Architekt zum Thema hat - temporäre Verstimmungen führten bisweilen zur Auftragsvergabe an Konkurrenten, so an Richard Neutra für das Kaufmann-Haus im kalifornischen Palm Springs.

1913 hatte der einer deutsch-jüdischen Familie entstammende Edgar die Leitung des familieneigenen Warenhauses Kaufmann's in Downtown Pittsburgh übernommen. Analog zu Bestrebungen, für die in Europa der Werkbund eintrat, verstanden der Direktor und seine Frau Liliane ihr Unternehmen auch als Ort der Geschmacksbildung. Dazu dienten hauseigene Ausstellungen ebenso wie die neusachliche Umgestaltung der Verkaufsetagen (1930) durch den Pittsburgher Architekten Benno Janssen, der einige Jahre zuvor im noblen Villenvorort Fox Chapel die Familienresidenz La Tourelle im Stil eines englischen Landhauses errichtet hatte. Fast verwundert es, dass Kaufmann erst 1934 mit Wright Kontakt aufnahm. Der Unternehmer folgte den Hinweisen befreundeter Designer, vor allem aber der Empfehlung seines Sohnes Edgar jr. (1910-89), der in Europa eine künstlerische Ausbildung absolviert hatte und nach seiner Rückkehr in die USA zeitweilig der Taliesin Fellowship angehörte.

Das erste Zusammentreffen von Edgar und Liliane Kaufmann mit Frank Lloyd Wright in Taliesin war folgenreich: Das Unternehmerpaar stellte den Showroom in Kaufmann's Department Store für eine Broadacre-Ausstellung zur Verfügung und erteilte dem Architekten Aufträge für das Privatbüro im zehnten Geschoss des Warenhauses (das dem Art déco verpflichtete Ensemble befindet sich heute im Londoner Victoria & Albert Museum) und ein Wochenendhaus in einer waldigen Gegend Pennsylvanias, eineinhalb Autostunden südöstlich von Pittsburgh, in der sich ein Erholungscamp für Mitarbeiter des Unternehmens befand.

Der tief eingeschnittene Lauf des Flüsschens Bear Run wurde zum Ausgangspunkt des Entwurfs. Statt das Gebäude in der Höhe mit Blick auf das zu Tal stürzende Wasser zu errichten, überraschte Wright die Kaufmanns im September 1935 mit dem Projekt eines Hauses direkt über dem Wasserfall. Die Einbettung in die Landschaft, die grandiose Staffelung der auskragenden Terrassen, in welcher die Felsblöcke des Flussbettes ihren artifiziellen Widerhall finden, und schliesslich die sich nach aussen öffnenden Innenräume haben Fallingwater in der Perspektive der Nachwelt zum fraglosen Hauptwerk Wrights, ja zu einem architekturhistorischen Markstein der Architektur des 20. Jahrhunderts werden lassen. Die bis zum äussersten ausgereizte Konstruktion der schwebenden Terrassen bereitete schon während der Bauzeit Schwierigkeiten: Bei der Fertigstellung hatte sich die Hauptterrasse, auf die zudem die Last der darüber befindlichen Ebene vermittels der Fensterpfosten abgetragen wird, leicht gesenkt.


Sanierungskonzept

Die Neigung der Terrasse verstärkte sich im Laufe der Jahre, und schliesslich waren Risse in der Brüstung ein alarmierendes Signal. Die gemeinnützige Western Pennsylvania Conservancy, der Edgar J. Kaufmann das Haus 1962 gestiftet hatte, liess die Terrasse 1997 mit Stahlträgern abstützen, um den Senkungsprozess aufzuhalten. Im April dieses Jahres wurde auf einem Expertenhearing schliesslich ein Sanierungskonzept festgelegt. Nach Vorschlägen des New Yorker Büros Robert Silman Associates wird die auskragende Struktur zunächst hydraulisch angehoben, anschliessend können die Stahlbetonbalken unter den Bodenplatten der Hauptterrasse mit Hilfe beidseitig geführter Stahlkabel nachgespannt werden. Eine Kraft von 200 Tonnen wird der neuerlichen Neigung entgegenwirken und die den Gesamteindruck des Gebäudes beeinträchtigenden Stützen überflüssig machen.

Während über das Sanierungsvorhaben nur vor Ort Näheres zu erfahren ist, dokumentiert die Ausstellung den Entstehungsprozess anhand ausgewählter grossformatiger Entwurfspläne. Die Grundidee des Hauses stand von Anfang an fest, doch wurden auf Initiative der Kaufmanns einige Details verändert. Kurz nach Fertigstellung erhielt Wright den Auftrag für das oberhalb gelegene Gästehaus, das die Idee der Staffelung horizontaler Baukörper gleichsam fortschreibt. Anders als dieses Volumen blieben weitere Planungen für das Fallingwater-Anwesen unrealisiert: der Anbau eines Speisesaals ebenso wie zwei «gate lodges», ein Farmhaus und die «Rhododendron Chapel».

Kaum mehr Glück als dem Civic Center von Pittsburgh war dem an der Grandview Avenue geplanten Apartmentkomplex Point View Residences (1952/53) beschieden, bei dem Wright sein Terrassenkonzept auf den Geschosswohnungsbau übertrug. - Dass die Schau sich nicht auf die Ikone Fallingwater beschränkt, ja nicht einmal auf die Projekte des Stararchitekten, hebt sie über den Rang einer üblichen Architekturausstellung. Dabei fällt der Blick auch auf Edward Kaufmann jr., der enge Kontakte zum Museum of Modern Art in New York unterhielt und zwischen 1946 und 1948 dessen «industrial design department» leitete. Mit dem Good Design Program (1950-55) gelang es ihm, durch die Prämierung vorbildlicher Alltagsgegenstände entscheidend zur allgemeinen Geschmacksbildung beizutragen. Gutes Design, so Kaufmann, bestehe nicht nur aus der Kombination von Form und Funktion, sondern zeige auch «an awareness of human values expressed in relation to industrial production for a democratic society». (Bis 3. Oktober)


[ Ausstellungskatalog von Richard L. Cleary: Merchant Prince and Master Builder. Carnegie Museum of Art, Pittsburgh 1999. 200 S., $ 29.95. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1999.08.05

28. Juli 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Queens Folly

Weisse Fähnchen wehen auf silbrigen Gerüsten an der Jackson Avenue im New Yorker Stadtteil Queens: Das jüngste Werk des Doyens der amerikanischen Architektur,...

Weisse Fähnchen wehen auf silbrigen Gerüsten an der Jackson Avenue im New Yorker Stadtteil Queens: Das jüngste Werk des Doyens der amerikanischen Architektur,...

Weisse Fähnchen wehen auf silbrigen Gerüsten an der Jackson Avenue im New Yorker Stadtteil Queens: Das jüngste Werk des Doyens der amerikanischen Architektur, Philip Johnson, ist nahe der Queensboro Bridge in Long Island City entstanden. Im Auftrag des P. S. 1 Contemporary Art Center entwarf der 93jährige den «DJ Booth and Dance Pavilion», der in diesem Sommer den Rahmen für samstägliche Musikveranstaltungen im Aussenbereich des Kunstzentrums abgibt. Gerade erst hat P. S. 1, das als eine der lebendigsten Kultureinrichtungen der Metropole gilt, den «Critic's Choice Award» der Zeitschrift «Travel & Leisure» gewonnen. Nach dem mausoleumsartigen Bürogebäude am Berliner Checkpoint Charlie ist Johnson, der sich in den vergangenen Jahrzehnten chamäleonartig mit seinen Bauten in die jeweils aktuellen Architekturströmungen einzuschreiben wusste, wieder bei einer transparenten Konstruktion angekommen.

Fünf abgetreppte, bis zu 18 Meter hohe Gittertürme für Scheinwerfer und Lautsprecher, mit silbrigem Metallgeflecht verkleidet, umstehen einen zentralen Dancefloor, in dem bis zum 11. September Open-air-Veranstaltungen stattfinden. Als «a disco for the 21st century - a medieval amphitheater with a science- fiction feeling» bezeichnete der Gründer und langjährige Leiter der Architekturabteilung des Museum of Modern Art ein wenig vollmundig sein ephemeres Gelegenheitswerk, dessen Grundriss die polygonale, von hohen Betonmauern bestimmte Hofstruktur des nach einem Umbau durch den Architekten Frederic Fisher 1997 wiedereröffneten P. S. 1 aufgreift. Johnsons an die Hip-Hop- und Techno-Kultur angelehnter Bau markiert den Beginn einer Zusammenarbeit zwischen P. S. 1 und MoMA, die in den kommenden Jahren fortgesetzt werden soll.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.07.28

17. Juli 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Anders wohnen

Die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen Jahren ebenso gewandelt wie die Lebensweise vieler Menschen. Im Museum of Modern Art in New York sind nun unter dem suggestiven Titel «The Un-Private House» 26 Konzepte zu sehen, wie im Bereich des privaten Wohnhauses architektonisch auf diese Veränderungen reagiert werden kann. Entstanden ist eine spektakuläre Schau.

Die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen Jahren ebenso gewandelt wie die Lebensweise vieler Menschen. Im Museum of Modern Art in New York sind nun unter dem suggestiven Titel «The Un-Private House» 26 Konzepte zu sehen, wie im Bereich des privaten Wohnhauses architektonisch auf diese Veränderungen reagiert werden kann. Entstanden ist eine spektakuläre Schau.

Man mag sich fragen, ob angesichts fortschreitender Suburbanisierung der Wunsch nach den eigenen vier Wänden noch vertretbar ist. Zumindest im dichtbesiedelten Europa mit seinen historisch gewachsenen Stadtgefügen wird das Eigenheim zunehmend fragwürdig; und doch bleibt die Sehnsucht vieler Menschen nach einem Refugium, das von individuellen Parametern bestimmt ist und nicht von normierten Vorgaben, ungebrochen. Diese Autonomie eines selbstgewählten und selbstgeschaffenen unmittelbaren Lebensumfelds entspricht einer Massengesellschaft, in der zur Schau gestellte Individualität zum alleinigen Distinktionskriterium wird.


Gravitationszentren des Lebens

Allerdings unterscheidet sich das freistehende Haus zumeist nur quantitativ von der Mietwohnung im Geschossbau; beide Typen folgen, wenn auch in stark reduzierter Form, der Vorstellung (gross)bürgerlichen Wohnens, wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Zwar wurde aus der Villa mittlerweile das Einfamilienhaus, doch verhält sich, wie schon der Name verrät, das Ideal gemeinschaftlichen Zusammenlebens in der Optik der Planer offenkundig wandlungsresistent. Grundrisse, wie man sie in den Modellkatalogen von Fertighausanbietern findet, zeigen die ewig gleiche, auf die Raumbedürfnisse einer Zwei- Kind-Familie zugeschnittene Abfolge von Wohn-, Ess-, Schlaf- und Kinderzimmer. Die Tatsache, dass es Käufer für derlei konfektionierte Häuser gibt, wird die Entwerfer bestätigen. Und doch müsste ihr Weltbild Risse bekommen: die Tatsache, dass in vielen Grossstädten der westlichen Welt Single-Haushalte mittlerweile die Mehrzahl darstellen, ist lediglich die deutlichste Ausprägung eines Wandels, dem die Vorstellung vom Wohnen und Zusammenleben unterliegt.

«The Un-Private House» nennt Terence Riley, Leiter des Department of Architecture and Design am Museum of Modern Art New York, eine wegweisende Ausstellung, in der anhand von 26 Beispielen gezeigt wird, wie Architektur auf derlei Veränderung reagieren kann. Im Gegensatz zu den legendären Architekturausstellungen des MoMA, so der «International Style Exhibition» von 1932 oder der Dekonstruktivismusschau des Jahres 1988, geht es diesmal nicht um die Fundamentierung eines neuen Stils. Im Gegenteil: Konträrer als Simon Ungers' geometrisch rigides, mit Corten-Stahl verkleidetes «T-House» (1992), dessen Bibliotheksturm den flachen Riegel der Wohnräume überragt, und Bernard Tschumis zeitgleiches Projekt einer als fragile Glas-Beton- Konstruktion gedachten Villa für Den Haag lassen sich zwei Gebäude kaum denken. Vergleichbar werden sie erst auf Grund der Tatsache, dass beide mit den normierten Wohnvorstellungen brechen: Ungers' hermetisches Gebilde ist der Lebensort eines Schriftstellers, dessen Bücherschrein monumental inszeniert wird, Tschumi ordnet in seinem transparenten Vorbau Medienarbeitsplätze für die Bewohner an, gewährt ihnen Aus- und den Passanten Einblicke.

Hatte noch eine dogmatisch erstarrte Moderne dem Segregationsprinzip gehuldigt, also die Trennung von Wohnen und Arbeiten gefordert und damit dem Haus lediglich eine private Regenerationsfunktion zugewiesen, so ist dank modernen Kommunikationstechniken Arbeit heute vielfach nicht mehr ortsgebunden. Gerade in kreativen Berufen beginnt sich Heimarbeit durchzusetzen. Damit gelangt die einstige Ideologie von «My home is my castle» an ihr Ende; wo der Wohnort zum Gravitationszentrum des Lebens avanciert, muss er auch öffentliche Funktionen übernehmen. Privatheit ist damit nicht mehr alleiniges Ziel der Bewohner. Auf verblüffend einfache Weise macht dies ein Bau von Shigeru Ban deutlich. Der Japaner nahm den Begriff der «Curtain Wall» beim Wort und versah die beiden Wohnebenen eines Hauses in Tokio (1995) mit einem geschossübergreifenden Vorhang. Tagsüber exponieren sich die Bewohner, fühlen sich wie an der Reling eines Ozeandampfers, der durch das Meer der Grossstadt steuert, nachts verschleiert das Textil die Geschehnisse im Inneren.


Struktur statt Form

Wenn Arbeit und Freizeit verschmelzen, bedarf es veränderter Wohnstrategien und Raumdispositionen, da sich bisherige Hausgrundrisse im Verhältnis zu den neuen Anforderungen - systemtheoretisch gesprochen - als «unterkomplex» erweisen. Als eines der überzeugendsten Beispiele für neue Lösungen kann Ben van Berkels «Möbius-Haus» gelten, bei dem intime Räume mit eher öffentlich wirkenden Zonen zu einem endlosen Band verschlungen sind; je nach Tätigkeit und Tageszeit müssen die Bewohner ihren Aufenthaltsort im Gefüge der Struktur neu bestimmen. Berechtigterweise hat Riley van Berkels Meisterwerk ins (räumliche) Zentrum der Ausstellung gerückt. Nicht nur das Möbius-Haus, auch das von Preston Scott Cohen aus Boston projektierte «Torus House», dessen zwei Wohn- und Arbeitsbereiche sich um ein tordiertes Treppen- Wand-Arrangement lagern, weist Elemente auf, deren Gestalt sich mit den üblichen geometrischen Zuordnungen nicht mehr definieren lässt. Das ist kein Zufall in einer Welt, bei der Positionsbestimmungen ihren Absolutheitsanspruch verloren haben. Im Zeitalter von «cross dressing» und «cross culture», von veränderten Rollenbildern und dynamisierten Lebensprozessen wird dies nicht als Sicherheitsverlust, sondern als Freiheitsgewinn verstanden. So führt Relativierung nicht zur Nivellierung, sondern zu einem verschärften Blick auf die Distanz im Nahen, die Ferne des Vertrauten.

Vor diesem Hintergrund wird das Interesse der Architekten für die Topologie verständlich, jenen Teilbereich der Mathematik, dessen Grundgedanke darin besteht, dass ein Körper seine Gestalt verändern kann, ohne indes die ihm zugrundeliegende Struktur zu verlieren. Die Frage der Form ist somit für die Identität eines Dings nicht mehr essentiell. Das ermöglicht einen unbefangenen Umgang mit der Tradition, der mit der krampfhaften Witzigkeit der Postmoderne nichts mehr gemein hat. Im Aufriss wirkt die für Videokunstsammler entworfene Kramlich Residence von Herzog & de Meuron wie eine Paraphrase auf das Farnsworth House von Mies van der Rohe, im Grundriss aber wird deutlich, dass das Haus aus sich schneidenden, ondulierend geführten Glaswänden besteht, die von einem polygonalen Dach überfangen sind. Welche Bereiche privat bleiben sollen, welche für die Kunstsammlung vorgesehen sind, darüber gibt der Entwurf keine Auskunft. Möglich, dass die Bewohner diese Trennung ohnehin nicht wünschen.


Neue Keimzellen der Gesellschaft

Konfrontiert sehen sich die Architekten nicht nur mit neuen Nutzungsanforderungen, sondern auch mit einem veränderten Auftraggeberspektrum. Michael Maltzan baute in Beverly Hills für ein schwules Paar, François de Menil in Houston für eine alleinstehende Frau, der New Yorker Joel Sanders reflektierte über das «House of a Bachelor». Und wenn es die herkömmliche Familie dann doch noch gibt, sieht sie, dass das Miteinander auch ein temporäres Nebeneinander bedeuten sollte, wie die Entwürfe von den Londoner Farjadi Farjadie Architects sowie Steven Holls «Y House» beweisen.

Terence Riley hat die Schau im MoMA spektakulär inszeniert. Grundrisse und Photos, Computeranimationen und Modelle vermitteln selbst denjenigen ein anschauliches Bild, die Architekturausstellungen eher als spröde erachten. Wer weitere Informationen wünscht, kann sich an einen interaktiven runden Tisch setzen und dank einem ausgeklügelten Sensorensystem die Projektion weiterer Pläne und Bilder steuern. Nur eine Frage lässt die Ausstellung aus - ob es möglich ist, auch dem Wohnen im Geschossbau jene Individualität zu verleihen, die unseren Auffassungen vom Leben entspricht. Derartige Konzepte werden vor allem in den Niederlanden entwickelt - aber vielleicht ist davon später auch einmal etwas in New York zu sehen, denn «The Un-Private House» ist die erste von fünf im Zweijahresturnus veranstalteten Architekturausstellungen, die durch den «The Lily Auchincloss Fund for Contemporary Architecture» finanziert wird. (Bis 5. Oktober)


[ Katalog: The Un-Private House. Hrsg. Terence Riley. The Museum of Modern Art, New York 1999. 250 S., $ 29,95. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.07.17

13. Juli 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Technik und Gestaltung

Konrad Wachsmann gilt als einer der Pioniere des industriellen Bauens. Von seinen beruflichen Anfängen zeugt neben dem Einsteinhaus auch ein Blockhaus, das er für die Firma Christoph & Unmack im schlesischen Niesky errichtete. Das Haus steht seit Jahren leer und verfällt, denn die Lage der Stadt am Ostrand von Sachsen schreckt potentielle Käufer ab.

Konrad Wachsmann gilt als einer der Pioniere des industriellen Bauens. Von seinen beruflichen Anfängen zeugt neben dem Einsteinhaus auch ein Blockhaus, das er für die Firma Christoph & Unmack im schlesischen Niesky errichtete. Das Haus steht seit Jahren leer und verfällt, denn die Lage der Stadt am Ostrand von Sachsen schreckt potentielle Käufer ab.

Eine Zeitungsnotiz begründete die internationale Karriere von Konrad Wachsmann: Die Stadt Berlin, so stand im Frühjahr 1929 zu lesen, wolle dem Nobelpreisträger Albert Einstein ein Landhaus schenken. Die Chuzpe des jungen Architekten Wachsmann, an der Tür des weltberühmten Physikers zu klingeln, zahlte sich aus; noch im gleichen Jahr entstand das hölzerne Sommerhaus in Caputh, einer kleinen Ortschaft am Templiner See südlich von Potsdam. Nicht zuletzt die Freundschaft mit Einstein war es, die es dem einer jüdischen Familie entstammenden Wachsmann ermöglichte, 1941 von Südfrankreich aus in die USA zu emigrieren. Dort konnte er sich als einer der einflussreichsten Protagonisten industriellen Bauens etablieren. Das in Zusammenarbeit mit Walter Gropius entwickelte «Packaged House System» für die «General Panel Corporation» kann dank seinem modularen Konzept als ein Markstein in der Geschichte der Präfabrikation angesehen werden; der Erfolg blieb dem Produkt indes verwehrt.


Musterstadt des Holzhausbaus

Im folgenden beschäftigte sich Wachsmann mit der Entwicklung von gewaltigen Raumfachwerken, Innovationen, die den architektonischen Strukturalismus der sechziger ebenso inspirierten wie die High-Tech-Architektur der siebziger Jahre. Seine Leidenschaft für Präfabrikation und automatisierten Hausbau wäre kaum denkbar ohne die Jahre, die er als Chefarchitekt der Firma Christoph & Unmack im schlesischen Niesky verbrachte - eine Arbeitsstelle, die ihm sein Lehrer Hans Poelzig 1926 vermittelt hatte. Die Entdeckung der Maschine, der Technologie und der Industrialisierung sei für ihn in Niesky zum Schlüsselerlebnis geworden, meinte Wachsmann rückblickend: «Ich begriff, dass die Geschichte des Handwerks ihr Ende gefunden hatte.»

Ähnlich abgelegen wie einst ist die jetzige Kreisstadt des niederschlesischen Oberlausitzkreises Niesky auch heute noch; hinter Dresden werden die Strassen leerer, der östlichste Teil Sachsens ist dünn besiedelt. Das aus einer Gründung der Herrnhuter Brüder hervorgegangene, durch uniforme klassizistische Fassaden und einen regelmässigen Grundriss geprägte Niesky besass in den zwanziger Jahren kaum 3000 Einwohner. Grösster Arbeitgeber war die Firma Christoph & Unmack, die zunächst Dampfkessel hergestellt hatte und im späten 19. Jahrhundert mit Lazarettbaracken reüssierte. Aus der Produktion von vorgefertigten Wohnhäusern (seit 1905) erwuchs der Firma ein neues Profil; als Wachsmann seinen Dienst antrat, galt Christoph & Unmack als grösste Holzbaufirma Europas.

Obwohl in den zwanziger Jahren eine Reihe von heute noch weitgehend erhaltenen Siedlungen entstanden, die Niesky zur Musterstadt für den standardisierten Holzbau machten, gelang es erst Wachsmann mit seinen Entwürfen, auf die bisher massgebliche vernakuläre Anmutung zu verzichten und eine den Konstruktionsprinzipien adäquate, schlichte Formensprache zu entwickeln. Sein Credo, die neue Methode der Holzbearbeitung müsse das äussere Gesicht des Bauwerks verändern und eine neue Form generieren, findet sich formuliert in der Einleitung zu der 1930 bei Ernst Wasmuth verlegten Publikation «Holzhausbau - Technik und Gestaltung», mit dem er seine Arbeit für Christoph & Unmack gleichsam bilanzierte. Gegliedert nach den drei üblichen Konstruktionsprinzipien - Fachwerkbau, Tafelbau und Blockbau -, sollte das Buch aufzeigen, «wie im Holz, im neuen Sinne mit neuen technischen Mitteln werkgerecht bearbeitet, die Wandlung der Anschauung über das Bauen sich widerspiegelt».


Ästhetik der Moderne

Allerdings entstand in Niesky selbst nur ein einziges Haus nach Wachsmanns eigenem Entwurf, das sogenannte Direktorenhaus, das für einen Direktor von Christoph & Unmack 1927 errichtet wurde. Der Architekt bediente sich der traditionell geprägten Blockbauweise aus horizontal geschichteten Bohlen - ein Verfahren, das nur einen vergleichsweise geringen Grad an Standardisierung erlaubte. Gleichwohl gelang es ihm, den eher rustikalen Eindruck des Blockbaus weitestgehend zu vermeiden und sein Gebäude der Ästhetik des Neuen Bauens anzunähern. Im Gegensatz zu herkömmlichen Blockhäusern lässt sich die Einteilung der Räume nicht am Äusseren ablesen, da die Wände nicht an der Fassade hervortreten, sondern in eine Nut der Aussenwand eingeschoben sind; dadurch behält die Fassade ihren gespannten, fast hautartigen Charakter, die präzise geschnittene Stereometrie des von einem steilen Walmdach gedeckten, zweigeschossigen Kubus wird akzentuiert. Bemerkenswert ist überdies die opulente Durchfensterung; die verstärkten Bohlen der Stürze überspannen Fensterbänder mit Weiten von bis zu sechs Metern.

Während der Zeit der DDR öffentlich genutzt, wurde das einstige Direktorenhaus nach der Wende an die Erben jenes Arztes übertragen, der es 1930 erworben hatte. Das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung, das den Erhalt des - von unpassenden Farbanstrichen der Sperrholzplatten im Inneren abgesehen - weitgehend unveränderten Bauwerks garantieren sollte, erwies sich als kontraproduktiv: angesichts der nötigen denkmalpflegerischen Renovierung fand sich kein Interessent, der die von den Eigentümern geforderten 500 000 Mark für Haus und Grundstück zu zahlen bereit war: Die Randlage Nieskys gilt als unüberwindlicher Standortnachteil. Selbst die Kommune sieht sich finanziell ausserstande, das kulturhistorisch bedeutendste Gebäude Nieskys zu kaufen. Der Plan, den Nachlass des Architekten zu erwerben und im Direktorenhaus ein Wachsmann-Zentrum einzurichten, war vor diesem Hintergrund lediglich eine schöne Illusion. Dass der seit bald zehn Jahren leerstehende Bau vom Vandalismus verschont blieb, ist glücklichen Umständen zuzuschreiben. Doch muss dringend eine Lösung gefunden werden, um den Verfall des Baudenkmals aufzuhalten. Denn neben dem Direktorenhaus in Niesky zeugt in Deutschland lediglich noch das Einsteinhaus in Caputh von dem Beginn einer grossen Architektenkarriere, die in den USA vollendet wurde.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.07.13



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Direktorenhaus

16. Juni 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Renovierte Rotunde

«Das Feld meiner Betätigung ist jetzt das schöne Dorf St. Moritz, . . . wo ich die grössten Schönheiten des Hochlandes vereinigt finde», heisst es in einem...

«Das Feld meiner Betätigung ist jetzt das schöne Dorf St. Moritz, . . . wo ich die grössten Schönheiten des Hochlandes vereinigt finde», heisst es in einem...

«Das Feld meiner Betätigung ist jetzt das schöne Dorf St. Moritz, . . . wo ich die grössten Schönheiten des Hochlandes vereinigt finde», heisst es in einem Brief Giovanni Segantinis vom Mai 1898. Anders als die meisten Wegbereiter der Moderne war der seit 1894 in Maloja ansässige Künstler mit seinen Werken auch wirtschaftlich erfolgreich; das zeigt sich nicht zuletzt an der breiten Unterstützung, die Segantini für eine Teilnahme an der Pariser Weltausstellung 1900 erhielt. Ein Engadiner Panorama, das mit einer Bildlänge von 220 Metern vergleichbare Rundgemälde in den Schatten gestellt hätte, sollte nicht nur die Meisterschaft des Malers dokumentieren, sondern überdies Besucher in das zum mondänen Ferienort sich wandelnde Dorf locken. Allerdings überforderte das als synästhetisches Gesamtkunstwerk konzipierte Projekt die zur Verfügung stehenden Mittel, so dass Segantini seine Vorhaben schrittweise reduzieren musste. Als Ergebnis blieb das «Alpentriptychon», dessen Vollendung indes durch Segantinis unerwarteten Tod im September 1899 verhindert wurde.

Als einige Freunde und Förderer des Künstlers 1907 den jungen ortsansässigen Architekten Nicolaus Hartmann, der schon durch Hotelbauten sowie das Engadiner Museum Aufsehen erregt hatte, beauftragten, ein Segantini-Museum für St. Moritz zu entwerfen, wurde die Orientierung am früheren Panorama-Projekt gefordert. Überdies sollte das Gebäude an der nach Champfèr führenden Dorfstrasse sich malerisch in die Landschaft einfügen und auf die Sterbehütte des Künstlers ausgerichtet sein, die sich auf dem Schafberg oberhalb von Pontresina befindet. Diesen Vorgaben entsprechend errichtete Hartmann ein Gebäude, das eher einem Mausoleum als einem Museum gleicht; Rundform und Oberlichtkranz des zylindrischen Baus erinnern entfernt an die Panorama-Architektur, doch leitet sich die stereometrisch reduzierte Formensprache eher von der zeitgenössischen Monumentalarchitektur ab, die nach einer modernen Synthese aus Pantheon, Theoderichsgrab und Mausoleum der Caecilia Metella suchte. Hartmann war mit derartigen Konzepten vertraut, hatte er doch prägende Jahre (1900-03) als Student bei Theodor Fischer in Stuttgart verbracht. Das Bruchsteinmauerwerk schien ihm der Hochgebirgsregion angemessen; es findet sich daher auch in weiteren Bauten Hartmanns, so in der katholischen Kirche in Samedan oder den Stationen der Rhätischen Bahn.

Die bedingte museale Tauglichkeit des Kunsttempels, in dessen Kuppelraum das von der Gottfried-Keller-Stiftung erworbene Alpentriptychon ausgestellt wurde (und wird), zeigte sich mit dem Wachsen der Sammlung: Der in den steilen Hang eingeschnittene Bau bot kaum Möglichkeiten zur Erweiterung. Hartmanns Erweiterungsidee von 1947 blieb Projekt. Abhilfe schaffte erst ein 1981 eröffneter, niedriger Erweiterungsbau, der sich bergseitig um das untere Geschoss der Rotunde legt. Mit seinen der Belichtung dienenden Plexiglaskuppeln, die im Winter unter dem Schnee verschwanden, erwies sich der Annex für Ausstellungszwecke als nur wenig geeignet. Den eigentlichen Anstoss für den Umbau des Segantini- Museums aber gab die nicht mehr akzeptable Haustechnik. Die Erneuerung der Infrastruktur bot die Gelegenheit, auch die funktionalen und ästhetischen Mängel des Gebäudes zu beheben. Der St. Moritzer Architekt Hans-Jörg Ruch, durch den Umbau des Kunstmuseums Chur (zusammen mit Peter Zumthor) und die Erweiterung des Hotels Saratz in Pontresina im Umgang mit historischer Bausubstanz ausgewiesen, brachte in überzeugender Weise denkmalpflegerische und museumspraktische Belange in Einklang.

Die bisher die Mitte des Kuppelsaals einnehmenden Heizapparate sind ebenso verschwunden wie die Abschrankungen, so dass man sich unmittelbar mit dem nun ohne Sockel und mit grösserem Abstand präsentierten Alpentriptychon konfrontiert sieht. Der Annexbau behielt zwar seine Proportionen, doch lässt nun ein der Krümmung der Aussenwand folgender Oberlichtschacht Tageslicht beinahe schattenfrei in den Saal einfallen. Ein künstlich belichtetes Graphikkabinett wurde vom Hauptsaal abgetrennt. Diesem antwortet auf der anderen Seite ein viergeschossiges Segment, das von Ruch in den Felsen hineingetrieben wurde und das neben Magazin- und Lagerräumen den bisher fehlenden Lift aufnimmt.

Ruchs Umbau ist im besten Sinne bescheiden; die Interventionen bleiben von aussen fast unsichtbar, und der graue Putz des Annexes tritt deutlich hinter das Bruchsteinmauerwerk der Rotunde zurück. In Segantinis 100. Todesjahr ist der problematische Spagat zwischen dem Erhalt eines historischen Baus und den heutigen Anforderungen vorbildlich gelungen. Man mag sich davon in der Eröffnungsausstellung überzeugen, welche - als Konzentrat der St. Galler Segantini- Schau - die Werke der Otto-Fischbacher-Giovanni-Segantini-Stiftung mit den eigenen Beständen vereint.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.06.16



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Segantini Museum, Umbau

07. Mai 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Architektur der subtilen Irritation

Im Jahr 1978 gründeten Jacques Herzog und Pierre de Meuron ihr Architekturbüro in Basel, das zur wohl wichtigsten Inspirationsquelle für die zeitgenössische Schweizer Architekturszene werden sollte. Mit organisch anmutenden Grundrissformationen scheinen sich die jüngsten Entwürfe vom bisherigen Œuvre abzusetzen - eine Einschätzung, die allerdings nur oberflächlicher Prüfung standhält.

Im Jahr 1978 gründeten Jacques Herzog und Pierre de Meuron ihr Architekturbüro in Basel, das zur wohl wichtigsten Inspirationsquelle für die zeitgenössische Schweizer Architekturszene werden sollte. Mit organisch anmutenden Grundrissformationen scheinen sich die jüngsten Entwürfe vom bisherigen Œuvre abzusetzen - eine Einschätzung, die allerdings nur oberflächlicher Prüfung standhält.

Bisweilen wird von der Architektur Selbstverständlichkeit gefordert: möglichst unauffällig sollten sich Bauten in das Stadtbild einfügen. Die Gegenposition beharrt auf dem optischen Reiz, auf ins Auge springender Unverwechselbarkeit. Das Basler Architektenteam Herzog & de Meuron fährt mit seinen Arbeiten seit je einen Kurs zwischen diesen Polen: Vordergründig mit formalen Extravaganzen trumpfen diese Bauten nicht auf, aber beiläufig wollen sie auch nicht wahrgenommen werden. Was zunächst vergleichsweise gewöhnlich daherkommt, verstört bei genauerem Hinsehen, denn manches stellt sich anders dar als erwartet. Eine Architektur der Irritation - der Irritation auf den zweiten Blick.

Das begann schon mit dem «Blauen Haus» in Oberwil (1979/80), dem ersten Bau, den das Büro realisieren konnte. Überstehendes Satteldach und kompaktes Mauerwerk der Fassade scheinen das Einfamilienhaus in der vernakulär geprägten Struktur der Basler Peripherie zu verankern. Doch der flüchtige Eindruck täuscht: Die Grundrissgeometrie ist verzogen, die Südfassade in Glas aufgelöst, und der blaue Farbanstrich verleiht dem Gebäude einen beinahe surrealen und immateriellen Charakter. Dieses Spiel mit Wahrnehmungsgewohnheiten, dieser hintergründige Verstoss gegen die Konvention zeigt sich auch an dem Einfamilienhaus in Leymen, das Herzog & de Meuron unlängst fertigstellten. Als Monolith aus Beton ist das präzise geschnittene Volumen in die sanfte Hügellandschaft des Sundgaus eingefügt, evoziert mit seinen flächig aufgefassten, von wenigen Fenstern durchbrochenen Fassaden und dem bündigen Satteldach das archetypische Urbild eines Hauses. Aus der Ferne massiv erscheinend, gleichsam dem Boden entwachsen, wird die vorgebliche Monumentalität subtil desavouiert, sobald man sich nähert. Denn die Fundamentplatte, über der sich die Hausstruktur erhebt, ist vermittels fragil anmutender Stützen in die Höhe gestemmt und raubt dem behäbigen Volumen die Bodenhaftung. Die mächtige Masse beginnt zu schweben, und man betritt das Innere über schmale Stufen von unten wie über eine Falltreppe, die eingezogen werden könnte.


Von der Geometrie zur Topologie

Über Jahre hinweg wurden Herzog & de Meuron von der Architekturkritik als Protagonisten einer «neuen Einfachheit» gefeiert. Ein folgenschweres Missverständnis - einfach, simpel, war die Architektur der Basler nie. Was Adepten und Epigonen jenes spröde und inzwischen verbrauchte Zerrbild der «Schweizer Kiste» generieren liess, resultierte aus einer Fehlinterpretation, einer alleinigen Fixierung auf die Form. In der Tat müssen von dieser Warte aus die jüngsten Projekte des Büros mit ihren zum Teil ondulierenden Grundrissen als Bruch mit den bisher zumeist orthogonal geprägten Bauten verstanden werden.

So unterzogen Herzog & de Meuron zwei ihrer Projekte einer grundsätzlichen Überarbeitung. Die Verwaltung der Bayerischen HypoBank in Frankfurt, 1994 noch als Kombination zweier um einen Hof gruppierter rektangulärer Baukörper entworfen, weist nun kurvig geschwungene Hoffassaden auf, welche den Binnenbereich wie den Hohlkörper einer Druse erscheinen lassen, und der auf einem Rechteck basierende Wettbewerbsentwurf für die Bibliothek der Technischen Universität Cottbus (1993) ist jüngst einer amöbenhaften Grundrissgestalt gewichen. Zukünftiger Höhepunkt dieser Reihe von Bauten dürfte die Kramlich-Residence werden,einWohn- und Galeriehaus für eine Familie von Videokunstsammlern im kalifornischen Napa Valley. Die Entwürfe zeigen eine unterirdische Sequenz von Black boxes mit Projektionsflächen, über der sich - lediglich durch eine Wendeltreppe verbunden - ein transparenter pavillonartiger Baukörper erhebt. Dessen Grundrissstruktur wird durch vier miteinander verschlungene Glaswände gebildet; die Doppelhelix der mittleren beiden lässt eine Reihe von mandelförmigen Kabinetten entstehen. Herzog & de Meuron gelingt es mit diesem Projekt, eine auf die Bedürfnisse des Sammlerpaars zugeschnittene Anzahl kontrastierend materialisierter Räume zu generieren; überdies aber mag man das Projekt als eine ironische Paraphrase auf die amerikanische Tradition des Rationalismus verstehen.

Denn der orthogonale Grundriss, der Mies van der Rohes Farnsworth House und Philip Johnsons Glass House in New Canaan prägte, ist nun gleichsam im Erdreich versunken, während der oberirdische Pavillon zwar Charakteristiken der Vorbilder - Konstruktion, Transparenz - adaptiert, die geometrische Rigidität indes zugunsten einer vorderhand kaum beschreibbaren Gestalt suspendiert. In ähnlicher Weise reagierte Ben van Berkel mit seinem Möbius-Haus auf die Tradition der Moderne (NZZ 5. 2. 99), indem er die zielgerichtete promenade architecturale Le Corbusiers in eine tendenziell endlose Schleife übersetzte. So scheint im Bereich des Bauens die Geometrie als mathematische Leitdisziplin von der Topologie abgelöst zu werden, ein Paradigmenwechsel, der es ermöglicht, über die Eigenschaften von Flächen oder Körpern zu sprechen, ohne ihre konkrete Form zu definieren. Nach dem ephemeren Intermezzo der Postmoderne ist die Moderne eingetreten in das Stadium der Topologie. In den jüngsten Projekten von Herzog & de Meuron somit nur eine Wiederkehr organischer Formen à la Alvar Aalto zu sehen, hiesse, das eigentliche Wesen des Wandels zu verkennen.

Der Gedanke einer Zäsur im Œuvre von Herzog & de Meuron erweist sich als gegenstandslos, wenn man gemäss dem topological shift den Begriff des Minimalismus nicht formal versteht, sondern auf den Umgang mit Oberflächen und Materialien überträgt. Jenen Kritikern, die die gebaute Welt mit ihrem bipolaren Wahrnehmungsinstrumentarium zu klassifizieren suchten - hie Stein, dort Glas -, haben es die Basler von Beginn an schwergemacht. Mal verwendeten sie Stein (beim Haus in Tavole), dann Holz (in der Basler Hebelstrasse); mal rehabilitierten sie diskreditierte Baustoffe wie Eternit oder Sperrholz, dann exponierten sie die Herbheit des Sichtbetons oder umwickelten ihr Stellwerk «Auf dem Wolf» mit Kupferbändern. Das Gebäude der Basler Kantonsapotheke schliesslich ist mit einem Glaspanzer, bedruckt mit grünen Siebdruckpunkten, verkleidet, der sogar bis in die Fensterlaibungen hineingezogen wurde. Doch eine derartige Aleatorik des Materialgebrauchs erwies sich in Zeiten postmoderner Rhetorik als subversive Strategie, weil sich die Gebäude der Dechiffrier- und Interpretierbarkeit verweigerten.

Semiotisch gesprochen, verzichteten Herzog & de Meuron auf eine semantische Dimension; die Referenzbeziehung zwischen Signifikant und Signifikat wurde aufgekündigt. Daher bedeuten die Kupferbänder des Stellwerks nichts, und funktional notwendig, wie mitunter behauptet, sind sie ebensowenig. Diese Ausgliederung aus funktionalen und semantischen Kontexten erlaubt einen neuen, unvoreingenommenen Blick auf die Materialien, die für den Betrachter gleichsam in phänomenologischer Evidenz implodieren. Vor einem derartigen Hintergrund wird das Interesse der Architekten an der abstrakten Kunst verständlich, die auf mimetische Elemente, auf ausserbildliche Bezüge jeglicher Art verzichtet.

Nachdem Herzog & de Meuron den Stoff zu sinnlicher Evidenz emanzipiert hatten, begannen sie damit, heterogene Materialien in optische Homogenität überzuführen. Der Ausstellungsbau der Münchner Kunstsammlung Goetz, der aus der vertikalen Überlagerung eines betonierten und eines hölzernen Baukörpers besteht, zeigt in seiner Fassade eine Kombination aus Aluminium, Mattglas und Birkensperrholz. Bestimmte Lichtverhältnisse vorausgesetzt, nähern sich die unterschiedlichen Baustoffe optisch einander an; Verbindendes tritt gegenüber Trennendem in den Vordergrund. So forcieren die Architekten eine Harmonisierung von Oberflächen, die aber nicht in einem romantischen Ideal transmaterialer Einheit kulminiert, sondern durch visuelle Annäherung die fundamentale Differenz um so deutlicher vor Augen führt. Wie in der Minimal Music sind es die zunächst unspektakulär anmutenden Modulationen und Variationen, welche das Erscheinungsbild nachhaltiger ändern, als sich dies mit den Mitteln des Kontrasts erzielen liesse.

In München noch übereinander gestaffelt, schieben sich die unterschiedlichen Bestandteile der Fassade beim Sportzentrum Pfaffenholz in St. Louis voreinander. Die Epidermis des Gebäudes setzt sich zusammen aus einer Hülle von Rauchglasscheiben, die mit einem Muster bedruckt sind, das die Struktur der dahinter befindlichen Dämmplatten repetiert und an die Oberfläche projiziert, ohne sich indes gegenüber der architektonischen Gestalt in den Vordergrund zu spielen. Ähnlich wie in St. Louis ordnet sich das Ornament auch beim Gebäude der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt in Basel dem Volumen unter. Erst bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass die zwischen Transparenz und Opazität changierenden Glasplatten, die den Altbau der fünfziger Jahre ummanteln, mit den in endloser Abfolge repetierten Versalien des Firmenlogos SUVA bedruckt sind: der Text mutiert zur graphischen Textur.

Bei der vor wenigen Wochen eröffneten Bibliothek der Fachhochschule Eberswalde wurde dieses Konzept noch einmal radikalisiert. Betonwerksteine und Oberlichtbänder des Bücherquaders sind nach einem speziellen Verfahren so bedruckt worden, dass der tätowierte Kubus in der Ferne allein als bläulichgraue Masse erscheint. Aus mittlerer Distanz werden die seriell als Register umlaufenden, von Thomas Ruff ausgewählten Bildmotive erkennbar - Reproduktionen von Werken bildender Kunst auf dem Trägermaterial Glas, Bilder der Zeitgeschichte auf den Betonplatten. Tritt man unmittelbar vor das Gebäude, verliert sich die Bildlichkeit in der nahsichtigen Struktur der Betonoberfläche.


Architektur und Natur

Während sich der flirrend-changierende Charakter der Bibliothek in Eberswalde als eine Frage des Betrachterstandpunkts und der Lichtverhältnisse erweist, bemühen sich Herzog & de Meuron in ihren jüngeren Projekten, die Oberflächen selbst zu dynamischen Veränderungen zu befähigen. Hybride Verbindungen von Architektur und Natur weisen hier neue Wege. Anfangs begannen die Architekten damit, Regenwasser breitflächig über die Fassaden fliessen zu lassen und somit Algenbewuchs zu provozieren. Beim Ricola Marketinggebäude in Laufen bildet der von den flexiblen Dachstangen herabrankende Efeu zusammen mit wildem Wein die äusserste Hülle des Hauses, die als Sonnenschutz im Sommer zur thermischen Regulierung des Binnenklimas beiträgt, das überdies durch das Auf- und Zuziehen von Vorhängen gesteuert werden kann. Weitere Versuche mit genmanipulierten und witterungsresistenten Pflanzen sind bisher allerdings ebenso gescheitert wie der Vorschlag, bei der Basler Kantonsapotheke natürlichen Efeu an künstlichen Ranken emporklettern zu lassen.

Auch hier geht es den Architekten nicht um eine romantisch konnotierte, nivellierende Verschleierung von Gegensätzen, nicht um oberflächliche Harmonisierung, sondern um eine ungewohnte Kombination, die es dem Betrachter ermöglicht, die Eigenschaften unterschiedlicher Materialien sinnlich zu spüren.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.05.07

07. Mai 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Lager und Labor

Über die Bay Bridge geht die Fahrt von San Francisco aus Richtung Norden; nach einer knappen Stunde ist Napa erreicht. Wie Perlen an einer Schnur reihen...

Über die Bay Bridge geht die Fahrt von San Francisco aus Richtung Norden; nach einer knappen Stunde ist Napa erreicht. Wie Perlen an einer Schnur reihen...

Über die Bay Bridge geht die Fahrt von San Francisco aus Richtung Norden; nach einer knappen Stunde ist Napa erreicht. Wie Perlen an einer Schnur reihen sich die Weinorte mit ihren klangvollen Namen im gleichnamigen Valley; das kalifornische Weinanbaugebiet gilt als touristische Attraktion ersten Ranges. Manche der Weingüter sind zu besichtigen, locken mit Degustationen die Besucher; für die Pegasus Close Winery hat Michael Graves bei Calistoga ein Ensemble in der Art eines neoklassizistischen Pasticcio errichtet. Derlei hat die Dominus Winery nicht nötig. Die Erzeugnisse von Christian Moueix, Spitzenprodukt der Region, finden auch so den Weg zu den - häufig in Europa ansässigen - Kunden.

Am nördlichen Rande von Yountville gelegen, ist die Dominus Winery weder Schaukellerei noch Degustationsstube, sondern Lager und Labor. So befleissigt man sich distinguierter Distanz: Ungebetene Besucher werden schon durch Hinweisschilder am Highway 29 abgeschreckt, den gekurvten Weg zu dem inmitten der Rebfelder befindlichen, breitgelagerten Gebäude einzuschlagen, dem ersten Gebäude, das Herzog & de Meuron in den USA realisieren konnten. Dunkelgrau zeichnet sich der langgestreckte Körper vor der sanften Hügelkulisse ab, erscheint des dunklen Farbtons wegen eher als Fläche oder Mauer denn als raumhaltiges Volumen. Das Innere ist streng funktional organisiert und gemäss dem Prozess der Weinherstellung gegliedert: ein Raum mit grossen Chromstahlbehältern für die erste Phase der Fermentierung, ein Barrique-Keller mit Eichenfässern und Degustationstisch, ein Flaschenlager; über dem Barrique-Keller Räumlichkeiten für Verwaltung und ein kleines Labor. Stahl und Beton bilden die Hüllen der axial angeordneten Bereiche. Nichts Spektakuläres also, wäre da nicht die steinerne Verkleidung, durch welche die drei Bauteile zu einem kompakten, von Ferne monolithisch wirkenden Kubus vereint werden. Zwei Durchfahrten trennen die funktionalen Einheiten und ermöglichen den Durchblick durch das Gebäude auf die hinter der Winery befindlichen Rebhänge.

Die nachgerade geniale Idee der Architekten bestand darin, den dunkelgrauen, leicht ins Grünliche changierenden Basalt nicht zu vermauern, sondern wie monumentales Granulat in sogenannte Gabions zu füllen, quaderförmige Drahtgitterkäfige, die üblicherweise zur Befestigung von Strasseneinschnitten Verwendung finden, hier aber, an Stahlgerüsten befestigt, die äussere Hülle des Bauwerks bilden. Die nicht geschichteten oder gefügten, sondern geschütteten Steinmassen bewahren das Innere vor den starken Temperaturschwankungen Kaliforniens und erlauben es, auf eine aufwendige Klimatisierung zu verzichten; Vor Fensteröffnungen wurden ungefüllte Gabions versetzt, und auch die eingeschnittenen Terrassen vor den Verwaltungsräumen sind mit den Drahtkäfigen umgeben, um den Eindruck des stereometrischen Volumens nicht zu stören.

Die wohl eindrücklichste Perspektive bietet der Blick durch die von hängenden Schürzen aus Gabions überfangenen Durchfahrten. Das Tageslicht fällt gedämpft durch das Sieb der Steine hindurch, die ins Schweben zu geraten scheinen. Faszinierend ist die Tatsache, dass sich die üblichen Relationen von Leichtigkeit und Schwere, Fragilität und Massigkeit umkehren. Seiner traditionellen architektonischen Funktion entkleidet, Mauern zu bilden und Massen abzutragen, ist der Stein nur mehr er selbst; der konstruktive Part scheint an die Drahtgitterelemente delegiert. Erst aus weiterer Ferne werden die Gitternetze unsichtbar, verdichten sich die Steinbrocken optisch zur Mauer.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.05.07



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Dominus Winery

09. April 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Die Natur baut mit

Der aus Schichtungen von Holzbalken zusammengefügte Strickbau gilt als eine traditionelle Bautechnik in Graubünden. Mit seinem Schulhaus in St. Peter im Schanfigg hat der Churer Architekt Conradin Clavuot diese Bauweise an ihre Grenzen geführt und zugleich bewiesen, dass ein Anknüpfen an die Tradition nicht zum vernakulären Kitsch führen muss.

Der aus Schichtungen von Holzbalken zusammengefügte Strickbau gilt als eine traditionelle Bautechnik in Graubünden. Mit seinem Schulhaus in St. Peter im Schanfigg hat der Churer Architekt Conradin Clavuot diese Bauweise an ihre Grenzen geführt und zugleich bewiesen, dass ein Anknüpfen an die Tradition nicht zum vernakulären Kitsch führen muss.

Die Strasse nach Arosa schlängelt sich von Chur aus hoch oberhalb der Plessur durch das Schanfigg. Auf halbem Weg erreicht man die rund 1250 Meter hoch gelegene Ortschaft St. Peter, deren Struktur bis heute weitgehend unverändert geblieben ist: Wie Perlen an einer locker gefügten Kette folgen die Häuser der Hauptstrasse und dem Geflecht der Nebenwege, das sich den Hang hinauf ausbreitet. Von oben lässt sich erkennen, wie selbstverständlich sich die Siedlung aus der Topographie entwickelt, die durch einen alternierenden Rhythmus von hervortretenden Hangrippen und Wiesenflächen geprägt wird.

Als der Churer Architekt Conradin Clavuot vor der Aufgabe stand, für St. Peter ein Schulhaus und eine Mehrzweckhalle zu entwerfen, entschied er sich für den ortstypischen Strickbau. Er konnte sich damit gegen seine Konkurrenten Pablo Horvath und Jürg Ragettli durchsetzen, die ihre Projekte in Beton realisieren wollten. Dass der monolithische Charakter eines Betonbaus mit der Alpenlandschaft des Bündnerlandes harmoniert, hat unlängst Valerio Olgiati mit seinem Schulhaus in Paspels (NZZ 5. 2. 99) überzeugend bewiesen; Clavuot selbst, der vor einigen Jahren eine architekturhistorische Publikation über die Kraftwerksarchitektur Graubündens vorgelegt hat, wurde mit dem Betonkubus des Unterwerks bei Seewis im Prättigau (1993/94) bekannt. Anders als dort galt es indes in St. Peter, weniger mit der Natur als mit der vorhandenen Dorfstruktur in Dialog zu treten. Die Verwendung des Baustoffes Holz kann somit als Votum für die Fortschreibung einer lokalen Bautradition verstanden werden.

Das Baugelände liegt unweit der Kirche am Westrand von St. Peter und schliesst sich an das giebelständige Gemeindehaus an, das bisher als Schule genutzt wurde. Dessen Ausrichtung bestimmt auch Clavuots Neubauten. Unmittelbar an der Strasse entstand eine schlichte, in ihrer dienenden Funktion pragmatisch materialisierte Einstellhalle für Fahrzeuge, die - gleichsam Substruktion des Neubaukomplexes - aus Beton besteht. Ihr Dach wird als Sportplatz genutzt und ist der breitgelagerten Mehrzweckhalle zugeordnet, während das Schulhaus rechtwinklig zum Berg hin übereck versetzt ist. Von der Strasse aus gesehen scheinen sich die Dächer der Gebäude zu überlagern; der Architekt rückte die beiden Volumen so nahe zusammen, wie es die Brandschutzbestimmungen zuliessen, um ein räumliches Spannungsfeld zu erzeugen. Derart bilden Schulhaus, Gemeindehaus und Mehrzweckhalle ein locker erscheinendes, gleichwohl präzise konfiguriertes Ensemble, das die für den Ort charakteristische raumbildende Kraft von Solitären adaptiert: Ausser dem zur Strasse hin orientierten Sportplatz, von dem aus der Blick auf die Berge geht, entsteht zwischen den drei Gebäuden ein weiterer Freiraum, Vorplatz der Schule und Pausenhof zugleich. Treppen verbinden die unterschiedlichen Niveaus miteinander, geben Weg- und Sichtachsen vor, die sich bald einladend öffnen, bald zu intimen Durchlässen verengen.

Was sich unprätentiös gibt, ist in Wahrheit subtil kalkuliert - das beweisen auch die Gebäude selbst. Zunächst erscheint der Strickbau als simple Technik: Massive Holzbalken werden nach dem Baukastenprinzip zu tragenden Wänden übereinandergeschichtet. Probleme entstehen indes dadurch, dass Holz ein natürliches Material ist und im Laufe der Zeit einem Schwundprozess unterliegt. Das addiert sich bei einem mehrgeschossigen Gebäude zu Grössenordnungen, die den Entwurfsprozess zu einem vertrackten Rechenspiel werden lassen. Denn dem Schwundprozess unterliegen lediglich die horizontal eingesetzten Balken, nicht jedoch als Ständer verwendete Hölzer oder fixe Elemente wie Türen, Fenster oder Verkleidungen. Statische und dynamische Elemente müssen sorgfältig berechnet werden, Setzungsfugen den progressiven Schwund kompensieren. Zwischen den auf den sich senkenden Balkenlagen aufruhenden Dächern und der vom Tragwerk separierten Verkleidung zeigt sich am Schulhaus eine Pufferzone, die verschwunden sein wird, wenn sich alle Elemente in wenigen Jahren an ihrem vorgesehenen Platz befinden: die Natur baut mit und vollendet die Gebäude.

Im Gegensatz zu Gion Caminada, der in Vrin und Duvin ebenfalls das Prinzip des Strickbaus aufgriff, entschied sich Clavuot in St. Peter für eine Wärmedämmung auf der Aussenseite und verkleidete seine Baukörper mit Lärchenbrettern. Dies beeinträchtigt ein wenig die kompakte Wirkung der Volumen, generiert indes Innenräume von geradezu archaischer Einfachheit: Die Schönheit der Konstruktion tritt unverkleidet zutage. Gewissermassen handelt es sich um die Urform der modularen Bauweise. Alle Details müssen auf das Mass der Balken abgestimmt sein. Besonders eindrucksvoll ist das Treppenhaus mit seiner Schichtung von Stufen, Geländern und Wänden gelungen und die Mehrzweckhalle, in denen der Strickbau sämtliche bisher bekannten Dimensionen sprengt. Stützenlos überspannt eine Holzbinderkonstruktion den Raum; wie andere zeitgenössische Architekten in Graubünden konnte sich auch Clavuot auf die Berechnungen des Churer Ingenieurs Jürg Conzett verlassen. 35 Meter lang ist die Halle, deren opulente, fast raumhohe Fensterfront einen Ausblick auf das überwältigende Bergpanorama der anderen Talseite gestattet.

Clavuot hat sich in St. Peter einer vordergründig modernen Formensprache enthalten, die herkömmliche Technik des Strickbaus aber bis an dessen Grenzen herangeführt. Das Ensemble des Schulhauses, mag es auch prima vista unspektakulär erscheinen, erweist sich somit als überzeugender Versuch, eine traditionelle Bauweise zu reaktivieren, ohne in die Abgründe einer vordergründigen, heimattümelnden Architektur zu stolpern. Die Subtilität der Intervention offenbart sich erst auf den zweiten Blick.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.04.09



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Schulhausensemble

23. März 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Expressive Bauten in impressionistischer Sicht

Die Zürcher Architekten Marie-Claude Bétrix und Eraldo Consolascio sind vor allem durch ihre Bauten für die Salzburger Stadtwerke bekannt geworden. In einer unkonventionellen Inszenierung präsentieren sie nun ihr Schaffen in der Architekturgalerie der Weissenhofsiedlung in Stuttgart. Assoziative Bildketten treten an die Stelle der üblichen Pläne und Modelle.

Die Zürcher Architekten Marie-Claude Bétrix und Eraldo Consolascio sind vor allem durch ihre Bauten für die Salzburger Stadtwerke bekannt geworden. In einer unkonventionellen Inszenierung präsentieren sie nun ihr Schaffen in der Architekturgalerie der Weissenhofsiedlung in Stuttgart. Assoziative Bildketten treten an die Stelle der üblichen Pläne und Modelle.

Seit nunmehr 10 Jahren arbeiten die beiden in Erlenbach tätigen Zürcher Architekten Marie- Claude Bétrix und Eraldo Consolascio für die Salzburger Stadtwerke. 1989 gewannen sie den Wettbewerb für den Neubau des Heizkraftwerks Nord, den sie zusammen mit Eric Maier zwischen 1992 und 1995 ausführten. Es handelt sich dabei um einen wuchtigen, skulptural geformten Betonblock, zu weiten Teilen mit einer Haut aus glänzenden Stahlplatten umhüllt, dazu ein ebenfalls aus Sichtbeton gegossener, freistehender Schlot, der sich von einem quadratischen Grundriss zu einem dreieckigen Abschluss verjüngt. Die Aufmerksamkeit, die dieser Energiekathedrale zuteil wurde, führte zu einer Reihe von Folgeaufträgen: dem Umbau des benachbarten Heizhauses, das bei Bedarf zugeschaltet werden kann, und dem 1995 fertiggestellten Umspannwerk Mitte. Weitere Projekte für die Salzburger Stadtwerke – nicht zuletzt ergänzende Gebäude auf dem Gelände des Heizkraftwerks Nord – sind in Planung.

Für ihre Ausstellung in der Architekturgalerie der Weissenhofsiedlung in Stuttgart konzentrierten sich Bétrix & Consolascio auf die drei bereits realisierten Salzburger Bauten, die zweifellos den Höhepunkt ihres bisherigen Œvre markieren. Keine umfassende Retrospektive also, die sich angesichts des beschränkten Raumangebots der Stuttgarter Architekturgalerie kaum angeboten hätte, auch kein an die Wände applizierter Werkbericht der derzeitigen Projekte, wie man ihn von Vorträgen an Architekturfakultäten kennt.

Die Problematik der scheinbaren Objektivität einer traditionellen Präsentation von Plänen, Photos, Modellen hat bisher vor allem Herzog & de Meuron mit verschiedenen Verfremdungsstrategien thematisiert. An derartige Konzepte knüpfen Bétrix & Consolascio an, wenn sie den verdunkelten Ausstellungsraum vierseitig mit hinterleuchteten, fast raumhohen Leinwänden auskleiden, auf die in nahtloser Sequenz zehn Innenraumdetails gedruckt sind. Selbst die Grenzen zwischen den einzelnen Bildern verschwimmen: Bald ist eine Treppe zu erkennen, bald eine Batterie von Messgeräten; hier ein Wandstück, dort ein Fussboden. – Nicht zuletzt die Unschärfe vieler Aufnahmen lässt den Betrachter völlig darüber im unklaren, was er eigentlich sieht und um welches Gebäude es sich handelt. Der architektonische Raum wird dissimuliert und damit auf seine materialästhetischen Konstituenten reduziert, auf Farbe und Oberflächenstruktur, und solchermassen in seine abstrakten Werte zerlegt. Tiefe geht ihrer räumlichen Koordinaten verlustig, wird zu einem rein optischen Phänomen; Farbe, so zeigt sich, ist weniger ein physikalisch messbarer Auftrag von Pigmenten als vielmehr ein magisches Spiel von Licht und Schatten, Transparenz und Opazität. «Echo» haben die Architekten ihre Installation genannt – und so, wie man auf einer Photo an der Stirnseite nur die zerfliessenden Konturen eines Birkenstamms sehen kann, der sich in einem Epoxidharzfussboden spiegelt, konfrontieren Bétrix & Consolascio den Besucher mit einem fast psychedelisch anmutenden Nachhall ihrer Architektur, präsentieren ihre expressiven Bauten mit einer impressionistischen Optik.

Die Bildausschnitte der Impressionisten waren, wie man heute weiss, durch die frühen photographischen Experimente Nadars bestimmt; die Perspektiven in der Stuttgarter Ausstellung resultieren aus einer filmischen Analyse der Bauten mit der Videokamera. Wer mehr über sie erfahren möchte, mag sich in einer Seitenkoje das Video ansehen; ob die von einer rauchigen Frauenstimme esoterisch aus dem Off geraunte Wortcollage indes zum Verständnis nötig ist, mag bezweifelt werden. Wer noch mehr wissen möchte, kann die in eine CD-Hülle integrierten «Katalog»-Seiten zur Hand nehmen, in denen sich dann auch Grundrisse und Schnitte finden, kann die zahlreichen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften studieren – oder ein Billett nach Salzburg lösen. Was, in der Konsequenz, immer noch am instruktivsten sein dürfte.

[Bis 16. Mai, anschliessend in der Architekturgalerie Leipzig]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.03.23

05. Februar 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Synthetischer Kubismus

Das neuste Wohnhaus von Ben van Berkel besitzt programmatischen Charakter. Der heute 41jährige Amsterdamer Architekt hat sich von der Idee des Möbius-Bandes anregen lassen. Obwohl das Gebäude zunächst labyrinthisch wirkt, weist es eine in sich geschlossene Struktur auf, die zu einer neuen Harmonie führt.

Das neuste Wohnhaus von Ben van Berkel besitzt programmatischen Charakter. Der heute 41jährige Amsterdamer Architekt hat sich von der Idee des Möbius-Bandes anregen lassen. Obwohl das Gebäude zunächst labyrinthisch wirkt, weist es eine in sich geschlossene Struktur auf, die zu einer neuen Harmonie führt.

Mathematischen Definitionen gemäss ist ein Möbius-Band - jener Streifen, dessen Enden, um 180 Grad verdreht, miteinander verbunden werden - eine Fläche, die nur eine Randkurve und eine Seite besitzt. Als Charakteristikum des Möbius-Bandes gilt die Nichtorientierbarkeit: Wo oben, wo unten, wo rechts, wo links, wo hinten, wo vorne ist: all das lässt sich nicht entscheiden. Das Prinzip des Möbius-Bandes in die Architektur zu übertragen bereitet Schwierigkeiten. Weil sie den Gesetzen der Schwerkraft unterliegen, können irdische Wesen sich in einer derartigen Figur nur schwer bewegen. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob konventionelle Wohnungen mit ihrer mehr oder weniger stereotypen Reihung rechteckiger Räume tatsächlich den menschlichen Bedürfnissen entsprechen?

Das Ehepaar, das den Amsterdamer Architekten Ben van Berkel mit dem Entwurf für ein Wohnhaus beauftragte, hatte zumindest andere Vorstellungen. Da beide Partner ihrer beruflichen Tätigkeit zu Hause nachgehen, bedeutet das Leben in den eigenen vier Wänden in diesem Fall nicht nur schlafen und entspannen, sondern auch arbeiten. So wünschten sie sich ein Haus, das genügend Freiraum für all diese Bedürfnisse böte; ein Haus, das die Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit des Lebens repräsentiere; ein Haus schliesslich, das den Rhythmus der Natur auch im Inneren spürbar werden lasse - befindet sich das Grundstück doch unweit von Amsterdam in einer waldigen Gegend.

Streifen von grauem Sichtbeton und grünlichem Glas schimmern - zumindest im Winter - durch das Astwerk der Bäume hindurch, wenn man sich dem Grundstück nähert. Die Aussenansichten des expressiv anmutenden Baukörpers - von Fassaden im engeren Sinne lässt sich kaum sprechen - geben allerdings wenig Aufschluss über das dem Gebäude zugrunde liegende Konzept, das auf den Prinzipien des Möbius-Bandes basiert: Endlosigkeit und Nichtorientierbarkeit. Van Berkel fügte zwei Raumfluchten so zusammen, dass sich im Inneren eine schleifenförmige Promenade ergibt, die sämtliche Räume berührt und die beiden Ebenen miteinander verbindet.

Falls man nicht mit dem Auto die im Zentrum des Hauptgeschosses gelegene Garage ansteuert, bietet sich ein unscheinbarer Zugangsweg an. Vom Tor aus führt der geschotterte, von zwei Plattenreihen eingefasste Pfad die Senke entlang einem Bachlauf hinunter zum versteckten Eingang, der sich unter den markanten kanzelartigen Vorsprüngen der Raumfluchten des Hauptgeschosses befindet. Eine schmale Treppe leitet vom Vestibül hinauf zur Wohnebene. Dort angekommen, gilt es, sich zu entscheiden. Nach hinten in das Arbeits- oder Schlafzimmer, geradeaus in den Wohnbereich oder seitlich die neuerliche Treppe hinauf in das obere Geschoss? Die Orthogonalität scheint ausgehebelt: Wände fliehen, knicken, hier aus Beton, dort aus Glas, Innen und Aussen scheinen zu verschmelzen.

Doch so labyrinthisch, wie das Raumgeflecht zunächst anmutet, ist es letztlich nicht, im Gegenteil: Schlaufenähnlich zieht sich die innere Promenade, zu der es keine Alternative gibt, durch das Haus, der Weg der Bewohner, ihre tägliche Laufbahn. Ein Diagramm van Berkels zeigt die Struktur des Hauses, projiziert auf das Zifferblatt einer Uhr, die man zugleich als Kompass verstehen kann. Wie anhand der Beischriften erkenntlich, fliessen die Nutzungen ineinander; keiner der Bereiche wurde seitens des Architekten eindeutig definiert, Ambiguität ist Programm, alles verändert sich unmerklich. Die Waschbecken wirken, als seien sie aus dem Bad in das Schlafzimmer verrutscht, Arbeitszonen besitzen wohnliche Qualität, und der Wohnbereich erweitert sich nahtlos zum Konferenzraum.

Von den beiden Arbeitszimmern, die wie die beiden Brennpunkte einer Ellipse das Kraftfeld des Hauses zusammenhalten, dem Schlafbereich sowie den Kinderzimmern abgesehen, gibt es im «Möbius-Haus» kaum distinkte, abgetrennte Räume. Verkehrsflächen nehmen den grössten Teil der Grundfläche ein; wer das Haus besucht, wird unweigerlich einer Dynamik unterworfen, die Stillstand nahezu verbietet. Alles ist miteinander verknüpft, Raum wird um die vierte Dimension der Zeit erweitert. Nur konsequent, dass die ebenfalls von van Berkel entworfenen Schichtholzmöbel durchgängig auf Rollen gelagert sind. In Kontrast dazu treten statische Tische aus Beton, die unmittelbar mit dem konstruktiven Gerüst des Hauses verbunden sind, aus diesem hervorwachsen oder in dieses einmünden.

Es ist eine seltsame promenade architecturale, die das Haus durchzieht. Es ergeben sich optische Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen des Gebäudes und Ausblicke auf den von Adriaan Geuze vom Team West 8 gestalteten Garten. Doch all das wirkt eher beiläufig; die Fenster fungieren als Öffnungen, nicht als Rahmen. Ben van Berkel inszeniert keine Perspektiven, durch die sich Welt erschliesst, er bedient sich auch keiner Dramaturgie, die den Parcours in eine Abfolge von Stationen verwandelte. Die hybride Struktur des Hauses generiert ihre eigene Raumlogik und erweist sich als selbstreferentiell.

Mit seinen Bauten, die in den achtziger Jahren zunächst vor allem in Amersfoort entstanden, konnte sich der 1957 in Utrecht geborene Ben van Berkel als einer der bedeutendsten Exponenten der zeitgenössischen niederländischen Architektur etablieren. Anders als Rem Koolhaas, der in seinen Werken vielfach Elemente collagiert, die dem funktionalistisch-konstruktivistischen Erbe der Moderne entstammen, steht van Berkel eher in einer expressiven Tradition. Schon in der Vergangenheit verwahrte er sich indes davor, als dekonstruktivistischer Architekt verstanden zu werden.

Auch wenn die polygonal gebrochenen Flächen seiner Fassaden, die pfeilartig vorstossenden Betonelemente zunächst an Projekte von Zaha Hadid erinnern, geht es dem Niederländer nicht um Zersplitterung oder Fragmentierung. Am ehesten erinnert van Berkels Konzept an den synthetischen Kubismus, bei dem die ausserbildlichen Verweise, welche die Bilder der analytischen Phase geprägt hatten, zugunsten einer bildimmanenten Harmonie heterogener Formen suspendiert worden waren. In diesem Sinne sucht Ben van Berkel nicht nach der Fragmentierung des Bestehenden, zerlegt nicht die Wirklichkeit in ihre Bestandteile, sondern forscht nach einer neuen Struktur, die Vielheit in Einheit überführt - nach einer neuen Harmonie. Keines seiner Gebäude zeigt das so deutlich und überzeugend wie das «Möbius-Haus». Man kann es als ein architektonisches Manifest verstehen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.02.05



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„Möbius-Haus“

30. Januar 1999Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Kugel, Prisma und Zylinder

Revolutionsarchitektur als Ferment des Architekturdiskurses

Revolutionsarchitektur als Ferment des Architekturdiskurses

Die Auseinandersetzung mit den als «Revolutionsarchitektur» bekannten Entwürfen von Boullée, Ledoux und Lequeu wirkte auf die Architekturentwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts in mancherlei Weise inspirierend. Die Idee einer Monumentalität der reinen Form fungierte als Ferment in heterogenen Kontexten - ob in der Moderne oder in der Postmoderne.

Derjenige, der in den vergangenen Jahren wohl am nachhaltigsten für die Bekanntheit von Etienne-Louis Boullée gesorgt hat, hiess Stourley Cracklite. Cracklite, ein amerikanischer Architekt, organisierte in Rom eine Ausstellung über den Revolutionsarchitekten. Im Laufe der Vorbereitungen identifiziert er sich mehr und mehr mit Boullée. Der französische Architekt wird ihm zum imaginären Gesprächspartner, zum Alter ego. Stourley Cracklite - so hiess der Protagonist in Peter Greenaways Film «The belly of an architect» aus dem Jahre 1986.

Legitimation der Moderne

Bevor er zum «Filmstar» wurde, fand Boullée Eingang in den Architekturdiskurs. Nach einigen verstreut publizierten Studien zur Revolutionsarchitektur legte Emil Kaufmann 1933 das Bändchen «Von Ledoux bis Le Corbusier» vor, das als vorläufige Summe seiner Beschäftigung mit dem Thema gelten kann. Das Verdienst des Autors besteht nicht allein darin, die lange vernachlässigten, nachgerade dem Vergessen anheimgefallenen Projekte und Visionen von Boullée, Ledoux, Lequeu und ihren Nachfolgern gewürdigt und neu gewichtet haben; überdies werden die französischen Baumeister der Zeit um 1800 zu Gründungsheroen der architektonischen Moderne stilisiert. Man kann die Schrift Kaufmanns folglich nicht nur als wirkungsgeschichtliche Analyse verstehen, sondern zugleich als Versuch, die je nach Sichtweise polemisch exponierte oder kritisierte Voraussetzungslosigkeit des Neuen Bauens zu unterminieren. Was sich bisher als traditionslos, als revolutionär darstellte - oder so bezeichnet wurde -, gliederte sich in einen evolutionären Prozess ein, angeblich Autochthonem standen auf einmal Vorbilder gegenüber.

Kaufmanns architekturhistorischer Legitimationsdiskurs für die Moderne bedient sich eines bipolaren Schemas, des das gesamte 19. Jahrhundert prägenden Kampfs zwischen Autonomie und Heteronomie. In den Entwürfen von Ledoux und seinen Zeitgenossen sieht der Autor eine antiklassische Volte, den Widerstand gegen die barocken Gesetze von Proportion und Dekoration, letztlich die Absage an eine normative Ästhetik. Materialgerechtigkeit, Autonomie der Form und Primat des Tektonischen avancieren zu neuen Postulaten. Eine dekadenzkritische Optik prägt Kaufmanns Sicht auf das 19. Jahrhundert; Schinkel, der selbst mit der Bauakademie das Prinzip der Konstruktionsgerechtigkeit verfolgt hatte, wird zum Paradigma für den historistischen Sündenfall. Dennoch versteht Kaufmann das Denken in den Kategorien von Block und Masse gleichsam als rezessives Erbmerkmal, das erst im 20. Jahrhundert von der Latenz zur Dominanz gelangt sei. Abschliessend verwahrt sich der Autor davor, die diachronen Vergleiche allein unter dem Aspekt formaler Entsprechungen vorzunehmen, der Leidenschaft für Kugel, Prisma und Zylinder; entscheidend sei vielmehr ein «neuer Idealismus», eine neue Geistigkeit, die sich gemäss seinen Behauptungen in Ledoux' Idealstadtprojekt ebenso artikuliere wie in Le Corbusiers «Cité mondiale».

Kaufmanns gegen einen geistigen Vordenker der NS-Ideologie, Arthur Moeller van den Bruck, und dessen in den Jahren des Ersten Weltkriegs erschienenes Buch «Der Preussische Stil» gerichtete knappe Feststellung, «Der ‹Preussische Stil› war nichts anderes als die deutsche Nachahmung der französischen Revolutionsarchitektur», konnte nicht verhindern, dass die Herrschenden, die im Jahr des Erscheinens von Kaufmanns Buch in Deutschland an die Macht kamen, das formale Repertoire von Ledoux und Boullée beerben liessen. Wilhelm Kreis' megalomaner kegelförmiger Entwurf für ein «Totenmal am Dnjepr» lehnt sich überdeutlich bis zur Penetranz an Boullées Vorbild eines «cénotaphe tronconique» an. Dass Kreis mit seinen aus stereometrischen Primärformen aggregierten Denkmälern, die zu Beginn der vierziger Jahre als ins Hypertrophe verzerrte Wiedergänger auftauchten, schon vor der Jahrhundertwende zum Monumentalarchitekten par excellence avanciert war, ist eine Tatsache, die Kaufmann geflissentlich zu übersehen - und übergehen - verstand.

Wie nahe Kreis' Formensprache in jener Zeit die Entwürfe von Fritz Schumacher, von Peter Behrens oder auch von Ludwig Mies standen - auch das wirft ein Schlaglicht auf die Genese der Moderne. Der Schatten der Revolutionsarchitektur wird auch hier erkennbar. Doch zu dem Gedanken einer Geburt der Avantgarde aus dem Geist der Monumentalität - die Frage des Monumentalen wurde selbst im De-Stijl-Kreis verhandelt - war Emil Kaufmann nicht bereit: Die Apologie der Moderne erzeugt deren Mythos.

Erbe der abstrakten Geometrie

Es erstaunt nicht, dass eine unbefangene Auseinandersetzung mit der französischen Revolutionsarchitektur nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst ausserhalb von Europa einsetzte. So veröffentlichte Philip Johnson, durch sein 1932 gemeinsam mit Henry-Russell Hitchcock publiziertes Buch «International Style» zu einem der einflussreichsten Propagandisten des Modern Movement avanciert, 1950 eine Selbstinterpretation seines im Jahr zuvor fertiggestellten «Glass House» in New Canaan, Connecticut. Mit Hilfe begleitender Abbildungen suchte er den transparenten Baukörper in eine Traditionslinie einzurücken, die von der Akropolis über Schinkels Kasino in Kleinglienicke und Malewitschs Suprematismus bis zu Mies van der Rohes Farnsworth House reicht. Eine Illustration zeigt das kugelförmige «Flurwächterhaus» von Ledoux, dessen radikale Geometrie Johnson seiner eigenen Architektur als wesensverwandt erachtete. «Der Kubus und der Kreis, die reinen mathematischen Formen, waren den intellektuellen Revolutionären, die aus dem Barock ausbrachen, teuer, und wir sind ihre Nachkommen», heisst es im Erläuterungstext, der explizit auf Kaufmanns Buch Bezug nimmt.

Von nachhaltigerer Bedeutung für die Rezeption der französischen Revolutionsarchitektur indes war eine von der Bibliothèque Nationale zusammengestellte Ausstellung von Architekturentwürfen Boullées, Ledoux' und Lequeus, die zunächst in Paris zu sehen war und 1968 unter dem Titel «Visionary Architects» in Houston gezeigt wurde. Niemand Geringeres als Louis I. Kahn verfasste das im amerikanischen Katalog einleitend abgedruckte, hymnische Gedicht: «Spirit in will to express / Can make the great sun seem small. / The sun is / Thus the Universe. / Did we need Bach / Bach is / Thus music is. / Did we need Boullée / Did we need Ledoux / Boullée is / Ledoux is / Thus Architecture is.»

Kahns Begeisterung für die Revolutionsarchitekten ist keineswegs zufällig; die Suche nach elementaren, archetypischen Formen prägte sein Œuvre ebenso wie der Verstoss gegen die elaborierte Ästhetik des «International Style». An die Stelle eleganter Stahl-Glas-Strukturen treten spröde Beton- und Ziegelwände, die zu einer beinahe archaisch anmutenden Monumentalität führen. Ihren wohl überzeugendsten Ausdruck fand diese Baugesinnung in den gewaltigen Bauten des Regierungszentrums von Dacca, Bangladesh, mit deren Planung Kahn seit 1962 befasst war.

Die Betonzitadelle des Parlamentsgebäudes wurde zu einem Triumph der abstrakten Geometrie; über einem aus Kreisen und Quadraten gebildeten Grundriss errichtet, sind die hochragenden Mauern ihrerseits von dreieckigen, kreisförmigen oder rechteckigen Mauern durchbrochen. In Japan war es Arata Isozaki, der sich zu gleicher Zeit explizit auf Boullée und Ledoux berief und anhand der Auseinandersetzung mit deren Projekten seine Abkehr vom Metabolismus vollzog. Hatte er schon 1964 Ledoux' Entwürfe für kubische Häuser mit vier Belvederes in der «Nakayama Residence» paraphrasiert, entlehnte er nun das Dachmotiv von Ledoux' ringförmigem Flusswächterhaus für die Idealstadt Chaux. Bündig auf der Mauerkante aufsitzende, halbtonnenförmige Dächer mit ringförmigen Blenden an den Stirnseiten kennzeichnen Isozakis Bauten der frühen siebziger Jahre: den Fujimi Country Club, aber auch die Kitakyushu-Bibliothek. Deren Inneres verrät im übrigen die Kenntnis von Boullées berühmter Innenraumperspektive einer Nationalbibliothek.

Dass die Rezeption der Revolutionsarchitektur als Ferment in einem Prozess der Ablösung von der Nachkriegsmoderne wirkte, belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass Aldo Rossi 1967, mithin ein Jahr nach der Publikation seiner Programmschrift «L'architettura della città», eine italienische Übersetzung des Traktats «Architecture» von Boullée vorlegte. Rossi hätte sein Repertoire architektonischer Grundmotive ohne die Kenntnis der Revolutionsarchitektur kaum entwickeln können; angesichts seines Entwurfs für den Friedhof in Modena hat er selbst in der «Scientific Autobiography» von der Anregung durch Boullée gesprochen. Die Parallele besteht nicht nur in formaler Hinsicht - Rossi überhöhte seine Anlage durch stereometrische Primärformen, einen Konus und einen von quadratischen Lichtöffnungen durchbrochenen Würfel. Natürlich ist es auch die Todes- und Memorialthematik, welche auf die düster-erhabenen Visionen der Franzosen zurückverweist. Gerade diese Ernsthaftigkeit im Umgang mit architektonischen Pathosformeln macht den Friedhof San Cataldo zu einem der überzeugendsten Werke Rossis und setzt ihn ab von der inflationären, zum Teil ironisch gebrochenen Verwendung von Monumentalmotiven, die die Epoche der Postmoderne prägte.

Vorwärts, wir müssen zurück

In Bauten von Michael Graves - zum Beispiel der Clos Pegase Winery (1987) im kalifornischen Napa Valley -, den urbanen Visionen von Léon Krier oder Ricardo Bofills Wohnanlagen in der Pariser Agglomeration vermischten sich der Revolutionsarchitektur entlehnte Elemente mit Klassizismen jeglicher Couleur. Hatte Kaufmann Boullée und Ledoux noch als Protagonisten und Propagandisten einer autonomen Architektur verstanden, so war die reine Form nun in die Konkursmasse der Baugeschichte eingegangen, aus der es sich beliebig zu bedienen galt. Manolo Nuñez, ein Schüler Bofills, klotzte zwei trommelförmige Hochhäuser aus vorfabrizierten Betonelementen in die Ville nouvelle Marne-la-Vallée; Philip Johnson, inzwischen vom Anwalt der Moderne zum Parteigänger der Postmoderne konvertiert, inszenierte ein wenig Ledoux in der Sky Lobby seines AT&T Building in New York. Bei der Architekturfakultät der Universität Houston, 1983-1985 gemeinsam mit John Burgee errichtet, verliess er sich völlig auf das historische Vorbild und setzte Ledoux' unrealisierten Entwurf eines Hauses der Erziehung für die Stadt Chaux mit geringen, kaum überzeugenden Modifikationen in Architektur um. Ein neuer Historismus hatte Ledoux und Boullée eingeholt. Vielleicht ist es von hintersinniger Ironie, dass sich Stourley Cracklite am Ende in den Tod stürzt.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.01.30

24. Dezember 1998Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Luft von anderen Planeten

Der Gedanke einer mystischen Allbeseelung und einer kosmischen Harmonie prägte die Vorstellungswelt jener deutschen Architekten, die sich im Jahre 1919 zur «Gläsernen Kette» zusammengeschlossen hatten. In den Zeichnungen von Bruno Taut und Wenzel Hablik entgrenzt sich die irdische Welt ins Universum.

Der Gedanke einer mystischen Allbeseelung und einer kosmischen Harmonie prägte die Vorstellungswelt jener deutschen Architekten, die sich im Jahre 1919 zur «Gläsernen Kette» zusammengeschlossen hatten. In den Zeichnungen von Bruno Taut und Wenzel Hablik entgrenzt sich die irdische Welt ins Universum.

«Zu bauen gibt es heute fast nichts», konstatierte Bruno Taut, als er sich im November des Jahres 1919 an eine Reihe von Kollegen wandte, um sie zu einer neuen Form geistigen Austauschs zu bewegen. Die «imaginären Architekten» sollten vermittels Rundschreiben miteinander in Kontakt treten und, wenn die wirtschaftliche Krisensituation schon keine Praxis ermöglichte, zumindest theoretisch das Feld des Bauens erörtern. Taut gelang es als Spiritus rector, zwölf Mitstreiter um sich zu scharen – der Briefwechsel der «Gläsernen Kette», wie der Dramatiker Alfred Brust den eingeschworenen Zirkel nannte, währte bis Ende Dezember 1920. Befleissigten sich die Teilnehmer auch eines logenhaft-sektiererischen Gebarens – Decknamen verschleierten für Aussenstehende die Autorschaft der Zirkulare –, so war man andererseits an Öffentlichkeit interessiert. Tauts kurz nach Formierung der Gruppe publizierter Essay «Architektur neuer Gemeinschaft» wurde mit Zeichnungen seiner Mitstreiter illustriert und enthielt gleichsam ein programmatisches Statement der Gruppe. In parareligiös- nietzscheanischer Diktion avancierte der Architekt darin zum Verkünder eines neuen Glaubens. Den schöpferischen Prozess sah Taut als Vorschein einer neuen spirituellen Welt, in der die bisherigen Gegensätze zur Einheit verschmolzen würden – «vom Stall zum Stern ist eine feste Kette, bei der man Anfang und Ende beliebig vertauschen kann». Der seit der Romantik geläufige Topos des Kristalls wurde zum Symbol der kosmischen Harmonie.


«ALPINE ARCHITEKTUR»

Taut formulierte seine Überzeugungen nicht nur in zahlreichen Briefen an die Mitglieder der «Gläsernen Kette» sowie in mehreren Zeitschriftenbeiträgen, sondern visualisierte sie überdies mit einer Reihe utopischer Szenarien, die schon während der Kriegsjahre entstanden waren, nun aber auch verlegt werden konnten. Gedanklich an einen Nachlasstext von Friedrich Nietzsche anknüpfend, veranschaulichte er mit dem 1919 erschienenen Mappenwerk «Alpine Architektur» die Idee, die Hochgebirgsregion im Herzen Europas durch eine Gemeinschaftsinitiative der europäischen Völker in eine Kunstlandschaft zu verwandeln. Felsgipfel werden abgetragen, Kristallhäuser errichtet; visionäre, farbig leuchtende Glasarchitekturen aus Pfeilern, Bögen und Spitzen überformen das Gebirgsmassiv zwischen Monte Rosa und Matterhorn. Auch wenn Taut das die Arbeitskraft der gesamten Menschheit einbindende Projekt im Sinne einer Kriegsvermeidungsstrategie beschreibt, versteht er die schillernden Bauten in antifunktionalistischem Impetus dezidiert als «unpraktisch und ohne Nutzen», gleichsam als gigantisches Land-art-Projekt.

Einziger Zweck dieser Architektur ist der Schmuck der Erde, dem er eine nachgerade therapeutische Kraft zuschreibt: Flugzeuge und Luftschiffe sollen die Menschen durch die Bergregion fahren und Ausblicke ermöglichen, durch welche die Reisenden von ihren Krankheiten geheilt werden. Dass das Konzept der «Alpinen Architektur» nicht ernsthaft als Handlungsanweisung, sondern eher als Gedankenexperiment zu verstehen war, liegt auf der Hand; Taut weist selbst darauf hin, wenn es in einer Beischrift heisst: «Wir müssen immer das Unerreichbare kennen und wollen, wenn das Erreichbare gelingen soll.»

Noch deutlicher zeigt sich der utopische Charakter in den abschliessenden Blättern. Dort wird der Gedanke der Kristallbauten vom Tellurischen auf den Bereich des Astralen übertragen. Die Tafeln «Domstern» und «Grottenstern» visualisieren architektonisch transformierte Himmelskörper, die irgendwo in der Unendlichkeit des Alls zu schweben scheinen, «Sternennebel» besteht aus einer kaleidoskopartig-psychedelischen Farb-Flächen-Struktur, bei welcher der Verweis auf eine ausserbildliche Wirklichkeit fast völlig suspendiert ist. An die Stelle der Mimetik tritt im letzten Blatt des Mappenwerks die Leere: «Sterne Welten Schlaf Tod Das Grosse Nichts Das Namenlose», liest man in den die Seite beherrschenden Textzeilen. Dieser Prozess kosmischer Entgrenzung findet seine Parallele in Tauts künstlerischem Selbstverständnis. Der Künstler, die «Zentralsonne», schaue als Auge in die Welt; in der schöpferischen Arbeit bilde er die Formen, gebe sich an das Ganze hin, lösche sich selbst aus und werde eins mit dem Weltgeist, heisst es 1919 in «Der Sozialismus des Künstlers».


DER GRIFF NACH DEN STERNEN

Die Begeisterung für astrale Visionen teilte Bruno Taut mit einigen seiner Kollegen aus dem Zirkel der «Gläsernen Kette». Besonders der in Itzehoe lebende Wenzel Hablik hatte sich seit längerem in Zeichnungen, Graphiken und Gemälden mit Weltraumvisionen auseinandergesetzt. Noch während seiner Studienzeit in Wien unternahm der angehende Kunsthandwerker und Maler eigene Flugversuche; seit 1906 entstanden Entwürfe für Flugmaschinen und Zeppeline. Phantastischer jedoch sind die Skizzen für «Luftkolonien», riesige stählerne Gebilde, welche ausgewählte Menschen zum Mars befördern sollten. Mit dem Radierungszyklus «Schaffende Kräfte» (1908/09) antizipierte Hablik genau jene Verbindung von Mystizismus und kosmischen Visionen, Bergwelt und Kristallarchitektur, die einige Jahre später die Arbeiten von Taut bestimmte. Unzweideutig an die Diktion von Nietzsches «Also sprach Zarathustra» anknüpfend, lautet die Beischrift zum ersten Blatt der Folge: «O könnt' ich ewig weilen auf jenen schöpferischen Höhen – wo aus dem Nichts die Sterne sich gebären.»

Derartige utopische Szenarien speisten sich nicht nur aus Habliks Interesse an Aviatik und Astronomie, sondern waren durch literarische Vorlagen inspiriert: Neben den populären Romanen von Jules Verne und Kurd Lasswitz ist hier insbesondere an das umfangreiche Œuvre von Paul Scheerbart zu denken. In der langen Folge seiner Romane, Essays und Novellen hatte sich der 1915 in Berlin verstorbene Schriftsteller unermüdlich phantastischen astralen Szenarien gewidmet; die detaillierte Beschreibung der Baulichkeiten auf fernen Planeten erregte das Interesse der an der «Gläsernen Kette» beteiligten Architekten. So zeichnete Bruno Tauts Bruder Max die «Nuse- Türme» aus Scheerbarts «Lesábendio» – einem 1913 erschienenen Roman, in dem übrigens zum erstenmal der Begriff «Raumfahrt» eingeführt worden sein soll.

Das folgenreiche persönliche Zusammentreffen von Bruno Taut und Paul Scheerbart hatte 1913 auf Vermittlung des Glasmalers Gottfried Heinersdorff stattgefunden; in der Folgezeit entspann sich ein intensiver geistiger Austausch, der durch die wechselseitige Dedikation von Werken bestätigt wurde. Scheerbart widmete dem Architekten die Schrift «Glasarchitektur»; Taut beteiligte den Dichter an seinem Glashaus für die Kölner Werkbundausstellung von 1914. Auszüge aus Scheerbarts skurrilen Texten fanden an verschiedenen Stellen Aufnahme in die von Taut herausgegebenen Publikationen, unter anderem in seine zwischen 1920 und 1922 in zwei Staffeln herausgegebene Zeitschrift «Frühlicht». Tauts Editorial zu Beginn der zweiten Staffel – «Frühlicht» erschien nicht mehr als Supplement zur Zeitschrift «Stadtbaukunst Alter und Neuer Zeit», sondern als eigenständiges Periodikum – lässt noch einmal das kosmisch-expressionistische Pathos der Vorjahre anklingen: «Gläsern und hell leuchtet im Frühlicht eine neue Welt auf. Sie sendet ihre ersten Strahlen aus. Vorglanz der jubelnden Morgenröte. Jahrzehnte, Generationen – und die grosse Sonne der Baukunst, der Kunst überhaupt, beginnt ihren Siegeslauf.» Doch schon bald setzte die Wende zur Sachlichkeit ein – Taut selbst war inzwischen zum Magdeburger Stadtbaurat bestellt worden. Wenige Jahre später – 1924 – ging er als Architekt der GEHAG nach Berlin. Von Auftragsmangel konnte nicht mehr die Rede sein; da sich Wohnungen auf der Erde errichte liessen, erübrigte sich der Griff nach den Sternen.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1998.12.24

23. Dezember 1998Hubertus Adam
Neue Zürcher Zeitung

Der Stoff, aus dem die Räume sind

Einen Überblick über die Architektur, das Design und die Kunst Frankreichs aus den letzten vierzig Jahre zu geben, ist Ziel einer Ausstellung im Guggenheim Museum SoHo in New York. Die Kuratoren verzichten auf eine strikte Trennung der Gattungen und stellen die Frage nach dem Umgang mit dem Raum ins Zentrum ihrer Überlegungen.

Einen Überblick über die Architektur, das Design und die Kunst Frankreichs aus den letzten vierzig Jahre zu geben, ist Ziel einer Ausstellung im Guggenheim Museum SoHo in New York. Die Kuratoren verzichten auf eine strikte Trennung der Gattungen und stellen die Frage nach dem Umgang mit dem Raum ins Zentrum ihrer Überlegungen.

Es war keineswegs zufällig, dass Renzo Piano und Richard Rogers im Jahr 1970 – in einer Phase umfassender Veränderungen der französischen Gesellschaft – den Wettbewerb für das Centre Pompidou gewannen. Die Kulturmaschine, welche die Architekten an den Rand des Marais-Viertels stellten, sagte einem elitären Bildungsverständnis den Kampf an und schaffte zugleich doppelten Freiraum: in konzeptioneller Hinsicht, weil die Neutralität des Inneren eine Vielfalt unterschiedlicher Nutzungen zulässt, aber auch im urbanistischen Sinne, da das aufragende Volumen eine vorgelagerte Leerfläche schafft, die als Bühne, ja als Agora im Zentrum von Paris dient.


Anschauliche Präsentation

Nicht ohne Grund wurde die derzeit im Guggenheim Museum SoHo in New York präsentierte Ausstellung unter dem Titel «Premises. Invested Spaces in visual arts, architecture & design from France 1958–1998» massgeblich vom Team des zurzeit auf Grund einer Generalsanierung geschlossenen Centre Pompidou vorbereitet. Die umfangreiche, von Bernard Blistène, Alison M. Gingeras und Alain Guiheux kuratierte Schau sucht die Kategorien Raum und Ort als theoretisches Instrumentarium für einen Tour d'horizon durch die vergangenen vierzig Jahre französischer Kunst- und Architekturentwicklung fruchtbar zu machen. Der Titel ist geschickt gewählt, oszilliert er doch dank seiner Ambiguität zwischen den Bedeutungen Ort/Raum und Gedanke/Prämisse, umfasst also einen theoretisch-programmatischen ebenso wie einen architektonisch-pragmatischen Zugriff. Bildende Kunst – vornehmlich in Form von Installationen, die zum Teil eigens für die Ausstellung angefertigt wurden – und Bauten werden in New York vielfältig zueinander in Beziehung gesetzt; hinzu treten Videopräsentationen und Arbeiten aus dem Bereich Design. Die Kuratoren haben ihre Schau in zehn Abteilungen gegliedert, die alternierend der Kunst und Architektur gewidmet sind; so werden Nähen provoziert und zugleich Zäsuren akzentuiert. Anstelle einer chronologischen Ordnung entschied man sich für diachrone Schnitte durch das in Überfülle präsentierte Material.

Transluzente Gazevorhänge trennen die Architekturbereiche von den übrigen Abteilungen. Dabei dient der weisse Stoff zugleich als Folie für omnipräsente Diaprojektionen, die – neben einer Vielzahl von Architekturmodellen aus der Sammlung des Musée national d'art moderne – die Anschaulichkeit der Ausstellung garantieren. Unter dem Schlagwort «Form versus relation» beginnt die Ausstellung mit der Kritik am CIAM und am Formalismus des späten Le Corbusier, wie sie von Peter und Alison Smithson vorgetragen und in den Entwürfen von Candilis/Josic/Woods sowie im futuristischen Konzept der Ville spatiale von Yona Friedman aufgenommen wurde. Gegenübergestellt finden sich zeitgenössische Arbeiten von Künstlern, deren Arbeiten ebenfalls die strikte Abgrenzung von privater und öffentlicher Sphäre in Frage stellen: die Plakatabrisse von Raymond Hains, eine Rauminstallation von Daniel Spoerri und ein von Arman devastiertes Interieur. Es folgt – unter dem Titel «Sites of memory» – die Auseinandersetzung mit der individuellen und kollektiven Erinnerung (Jean Dubuffet, Louise Bourgeois, Christian Boltanski) und im Bereich «Enclosures» die Thematik des repressiven Raums.

In diesem Kontext lassen sich die Raumzellen von Absalon und die Käfiginstallationen von Jean-Marc Bustamante durchaus in Verbindung bringen mit den Versuchen von Architekten wie Jean Renaudie, Lucien Kroll und Christian de Portzamparc, durch partizipatorisches Bauen oder Adaption ortsspezifischer Elemente neue Standards für den Massenwohnungsbau zu setzen. «The fabrication of architecture» behandelt die Liaison von Architektur und industrieller Ästhetik, für die Bauten von Jean Prouvé, Piano und Nouvel als paradigmatisch gelten können, «Fragment versus container» kontrastiert geschlossene und offene Form: Frédéric Borels zerklüftete Häusergruppe in der Pariser Rue Oberkampf zum einen, Dominique Perraults Berliner Velodrom zum anderen. Gerade in der jüngeren, durch die Medienwirklichkeit geprägten Zeit aber scheinen sich die bisher konstitutiven Oppositionen von privat und öffentlich oder offen und geschlossen zu verschleifen. In den Bauten und Projekten von Bernard Tschumi und Rem Koolhaas oder auch dem in Ausführung befindlichen Metafort Media Research Center in Aubervilliers von Finn Geipel und Nicolas Michelin zeigt sich ein neues Verständnis von Architektur. Collagen und Brüche werden bewusst in Kauf genommen; es handelt sich um synthetische Projekte, die heterogene Raumkonzepte miteinander verbinden.


Anregung zum Denken

Zweifellos ist der Versuch spannend, die zumeist getrennten Bereiche Architektur und Kunst gemeinsam zu fokussieren. Allerdings lässt sich kaum verhehlen, dass es der von den Kuratoren vorgegebenen Systematik an Trennschärfe mangelt. So wirkt die Zuordnung der Objekte zu den einzelnen Ausstellungsbereichen bisweilen eher beliebig; eine andere Gruppierung der Exponate könnte vermutlich kaum weniger Plausibilität beanspruchen. Auch wenn manches nebulös bleibt, muss man doch anerkennen, dass es den Ausstellungsmachern gelungen ist, zwei getrennte Kunstgattungen zueinander in Beziehung zu setzen. Ob es anlässlich von Konfrontation und Reibung zum Funkenschlag kommt, bleibt dem Empfinden des Betrachters überlassen. Zu denken aber gibt die Schau allemal. Und das ist in Zeiten, da Kunstausstellungen dem ästhetischen Solipsismus huldigen und Architekturpräsentationen sich in geistlosen Werkdokumentationen erschöpfen, nicht wenig. (Bis 10. Januar)


[Katalog: Premises. Invested Spaces in Visual Arts, Architecture & Design from France: 1958–1998. The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York 1998. 544 S., $ 45.–.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1998.12.23



verknüpfte Akteure
Friedman Yona

01. November 1998Hubertus Adam
NZZ-Folio

Ein Prunkstück des Neue Bauens

Das Haus zum neuen Singer im Osten von Basel ist wohl der bedeutendste Bau des Architekturbüros Artaria & Schmidtt. Wie nur selten verbinden sich bei diesem...

Das Haus zum neuen Singer im Osten von Basel ist wohl der bedeutendste Bau des Architekturbüros Artaria & Schmidtt. Wie nur selten verbinden sich bei diesem...

Das Haus zum neuen Singer im Osten von Basel ist wohl der bedeutendste Bau des Architekturbüros Artaria & Schmidtt. Wie nur selten verbinden sich bei diesem Gebäude der damalige soziale Anspruch, die zweckmässige Form und die ästhetische Gestalt optimal. Ohne Zweifel zählt das Haus für alleinstehende Frauen zu den aussergewöhnlichen Leistungen des Neuen Bauens in der Schweiz. Das zeigt sich schon daran, dass es von Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson 1932 in ihre Publikation «International Style» aufgenommen wurde.

1927 hatten Artaria & Schmidt in einem Wettbewerb der Frauenzentrale beider Basel ihre Konkurrenten Ernst Friedrich Burkhardt und Hans Bernoulli ausstechen können. Ausschlaggebend für den Auftrag war nicht zuletzt, dass die Partner mit dem Haus Colnaghi in Riehen kurz zuvor das erste Stahlskelett-Wohnhaus der Schweiz errichten konnten und somit als Protagonisten des industriellen und damit kostengünstigen Bauens galten. Auch beim Haus zum neuen Singer in der Basler Speiserstrasse nutzten die Architekten eine Skelettkonstruktion, welche sich in kurzer Zeit erstellen liess. Ganze sechs Wochen benötigte man für die Montage des aus Doppel-T-Trägern errichteten Skeletts. Die Geschossdecken bestehen aus Rippendecken mit Hohlräumen, die in Bimsbeton ausgeführt wurden, damit sie leichter seien. Soweit möglich, verwendete man vorfabrizierte und in Serienfertigung erstellte Bauelemente.

Das Gebäude wirkt mit seinen 21 Kleinwohnungen zur Strasse hin wie ein dreigeschossiges Reihenhaus. Tatsächlich aber handelt es sich um einen winkelförmigen Baukörper. Gegen den Garten schliesst sich ein leicht zurückgesetzter Quertrakt an, der des Geländesprungs wegen ein Geschoss niedriger gehalten ist und dessen Dach als Terrasse genutzt wird. Auch der Eingang befindet sich im Norden, an der Gelenkstelle zwischen Strassen- und Gartenflügel.

Während die zur Strasse hin verdeckte, auf Grund der Hanglage vom Garten her jedoch als Vollgeschoss erkennbare Basisebene ursprünglich Gemeinschaftseinrichtungen sowie Wirtschafts- und Kellerräume beherbergte, waren die Geschosse darüber dem Wohnen vorbehalten. Die Kleinwohnungen des Strassenflügels bestanden aus einem Wohn- und einem schmaleren Schlafbereich, die je nach Belieben mit Hilfe einer Schiebewand getrennt oder verbunden werden konnten; die Wohnungen an der südlichen Gebäudestirn waren um ein zum Hof ausgerichtetes Zimmer erweitert.

An der Strassenfassade ist die innere Aufteilung durch den alternierenden Rhythmus von Balkon- und Fensterachsen ablesbar; das Stahlskelett erlaubte es, die geschlossenen Wandflächen auf schmale vertikale Pfeilerzonen sowie auf die horizontalen Brüstungen zu reduzieren. Die Balkons sind vom Wohnbereich her zugänglich, schieben sich jedoch vor die Schlafzimmer, so dass der Wohnbereich nicht verschattet wird. Die Struktur der Gartenfassaden weicht deutlich von jener der Ostseite ab. Schmale, von Pfeilern unterbrochene Fensterbänder bestimmen die Westansicht und verweisen auf die dahinterliegenden Korridore ebenso wie auf die Sequenz der Wohnungen; die Südfront zeigt mit ihren loggienartig ausgebildeten, von schottenartigen Querwänden getrennten Balkons eine plastische Gliederung.

Der Konkurs des Büros beendete 1930 die fünfjährige Partnerschaft zwischen den Architekten Hans Schmidt und Paul Artaria in Basel. Anschliessend eröffnete Artaria ein eigenes Büro. Schmidt übersiedelte noch Ende des Jahres 1930 in die Sowjetunion. Als Verfechter des industrialisierten Wohnungsbaus war er von Ernst May, dem vormaligen Stadtbaurat von Frankfurt am Main, in eine internationale Architektenequipe berufen worden, die sich der Planung von Industriestädten im Uralgebiet widmen sollte. Doch die Hoffnungen der Aktivisten, im Rahmen des sozialistischen Aufbaus ihre Konzepte des Neuen Bauens im grossen Massstab realisieren zu können, zerschellten an der sich verschärfenden Doktrin der stalinistischen Kulturpolitik. Als einer der letzten Teilnehmer der «Brigade May» kehrte Schmidt 1937 in seine Heimatstadt Basel zurück.

Die Standardisierung des niederländischen Volkswohnungsbaus, die Schmidt während eines Praktikums in Hilversum und Rotterdam kennengelernt hatte, liess ihn zu einem Verfechter des Funktionalismus und Konstruktivismus werden. Seine Überzeugung materialisierte sich nicht nur in Bauten, sondern fand auch schriftlich ihren Niederschlag. Er war Mitbegründer und Redaktor in Personalunion der Avantgarde-Architekturzeitschrift «ABC, Beiträge zum Bauen». Nicht einmal die Grundbedingungen für industrielles Bauen, die technische Klarheit und die Einheitlichkeit des Bauwerks, sei den Architekten bewusst, beklagte Schmidt darin im Jahr 1928.

Unglücklicherweise war es eine, nach heutigen Massstäben eher bescheidene, Fehlkalkulation, die das Büro Artaria & Schmidt 1930 in die Liquidation trieb. 50 000 Franken mehr als die veranschlagten 320 000 Franken kostete das Haus « Zum neuen Singer». Neben der architektonischen Gestalt galt auch das Nutzungskonzept des Hauses an der Speiserstrasse als vorbildlich. Ledigen Frauen des gehobenen Mittelstandes bot es autonome Wohnungen mit eigenen kleinen Küchenzonen und erlaubte zugleich die Nutzung von Gemeinschaftsräumen im Basisgeschoss. Die Bewohnerinnen konnten im Essraum essen, die Speisen liessen sich aber auch mit einem Lift in die einzelnen Geschosse befördern.

Artaria & Schmidt orientierten sich weniger an der Idee der Zentralversorgung, die im postrevolutionären Russland diskutiert wurde, als am Konzept eines Einküchen- oder Boarding-Hauses, das schon Hermann Muthesius in Berlin realisiert hatte. Das Haus zum neuen Singer erzwang keine Kollektivität. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden vergleichbare Projekte realisiert, vornehmlich in Dänemark, zum Beispiel die Kingohusene von Jörn Utzon, die in Helsingör stehen.

Das in Basel ebenso wegweisende wie emanzipatorische Konzept hatte nur kurzfristig Bestand. Schon 1956 wurden die Gemeinschaftseinrichtungen aufgegeben. Bei der Sanierung 1990 ersetzte man die filigranen, schwarzgrau gefassten Stahlrahmenfenster durch ungeschlachte weisse Kunststofffenster, die die einst wandbündige Anordnung negieren. Auch die transparenten Balkongitter und als Rankgerüste dienenden Seitenwangen sind nicht mehr vorhanden - an ihrer Stelle finden sich plumpe Eternitplatten. Das Gesicht des Hauses ist damit völlig entstellt. Ignoranz des Eigentümers und Nachlässigkeit der Denkmalpflege haben zur Zerstörung einer Inkunabel helvetischen Neuen Bauens geführt. Bleibt zu hoffen, dass ein zukünftiger Besitzer sich des bauhistorischen Wertes seines Hauses bewusst ist. Einer Rekonstruktion der zerstörten Fenster, Türen und Balkongitter in ihrer einstigen Farbigkeit stünde nichts im Wege.

NZZ-Folio, So., 1998.11.01



verknüpfte Bauwerke
Haus «Zum neuen Singer»

01. September 1998Hubertus Adam
NZZ-Folio

Ein Haus am Meer fürs Volk

Lange Zeit wurde das Meer - wie auch das Hochgebirge - vor allem als bedrohlich empfunden. Wenn möglich entstanden menschliche Ansiedlungen in sicherem...

Lange Zeit wurde das Meer - wie auch das Hochgebirge - vor allem als bedrohlich empfunden. Wenn möglich entstanden menschliche Ansiedlungen in sicherem...

Lange Zeit wurde das Meer - wie auch das Hochgebirge - vor allem als bedrohlich empfunden. Wenn möglich entstanden menschliche Ansiedlungen in sicherem Abstand zur Küste. Auch der historische Ortskern von Bexhill in der englischen Grafschaft Sussex liegt landeinwärts auf einem Hügel. Erst als im 18. Jahrhundert Mediziner die Heilkraft des Meerwassers propagierten, unternahmen die britischen Könige Reisen an die Seaside und leiteten damit die touristische Entwicklung der Kanalküste ein. John Nashs phantasievoller, indisch inspirierter Royal Pavilion in Brighton (1815-1821) fand in der Küstenarchitektur und in den Pieranlagen des ausgehenden 19. Jahrhunderts unzählige Nachahmungen. Am Strand inszenierte sich die viktorianische Gesellschaft in einer exotisch anmutenden Kulisse, als sei man längst zu fernen Gestaden aufgebrochen.

Während umliegende Orte wie Hastings oder Eastbourne sich bereits als Seebäder etabliert hatten, war diese Entwicklung an Bexhill zunächst spurlos vorübergegangen, bis der ortsansässige Grundbesitzer, der 7. Earl de la Warr, 1883 den Bauunternehmer John Webb mit einer systematischen Bebauung des Küstenstreifens beauftragte; aus Bexhill wurde Bexhill-on-Sea. Mit diesem städtebaulichen Kraftakt erschöpfte sich der Innovationsdrang des kleinen Ortes, und in den zwanziger Jahren galt das Angebot an Aktivitäten, das Bexhill für seine Gäste bereithielt, als hoffnungslos rückständig.

Dass man dem drohenden Einbruch bei den Übernachtungszahlen dringend entgegenwirken müsse, war eine Einsicht, die sich unter den konservativen Einwohnern nur langsam durchsetzte.

Ohne den zwischen 1933 und 1935 amtierenden sozialistischen Bürgermeister, den 9. Earl de la Warr, wäre es kaum gelungen, ein nachgerade revolutionäres Gebäude an der Strandpromenade zu errichten: den De La Warr Pavilion, entworfen von Erich Mendelsohn (1887-1953) und Serge Chermayeff (1900-1953).

Ein für Bewohner und Besucher offenes Volkshaus mit Veranstaltungssälen, Restaurants und Terrassen solle das neue Zentrum des Ortes bilden, hatte der junge Adlige gefordert; ein Gebäude, das mit dem Neo-Regency der zeitgenössischen Vergnügungsarchitektur radikal breche. Dem agilen Bürgermeister war es zuzuschreiben, dass der Ausschreibungstext des Wettbewerbs vom September 1933 dezidiert eine Architektur im Sinne des Neuen Bauens forderte: ein einfaches Gebäude mit leicht wirkender Erscheinung in Stahlrahmen- oder Eisenbetonkonstruktion.

Unter den 230 Einsendungen fiel die Wahl des Jurors Thomas S. Tait, eines Anwalts der Moderne, der vom Royal Institute of British Architects ernannt worden war, auf den Entwurf von Mendelsohn. Dieser, wenige Monate zuvor aus Deutschland emigriert, hatte ihn mit seinem Partner Chermayeff eingereicht, der in Russland geboren, aber in England zum Architekten ausgebildet worden war und auch dort arbeitete. Obwohl verschiedentlich Einwände gegen das Projekt und die Auftragsvergabe an einen Architekten vom Kontinent zu hören gewesen waren, wurde die Bausumme durch eine vom Ministry of Health lancierte Volksabstimmung bewilligt. Im Dezember 1935 konnte der Pavilion nach nur elfmonatiger Bauzeit eingeweiht werden.

Das Tragwerk, an dessen Entwicklung das Ingenieurbüro von Felix Samuely beteiligt war, besteht aus einem verschweissten und dann verkleideten Stahlskelett, einer in Deutschland mehrfach erprobten, aber in Grossbritannien neuartigen Konstruktion.

Mit dem strahlend weissen Volkshaus hatte sich nicht nur die vom Earl de la Warr verfolgte Vision einer zukunftsweisenden Seebadarchitektur erfüllt, sondern zugleich war die architektonische Moderne in England zum Durchbruch gelangt. Oberhalb der klassizierenden Kolonnade, die J. B. Wall 1911 zur Erinnerung an die Krönung von Georg V. errichtet hatte, erhebt sich der langgestreckte Komplex inmitten eines sanft zum Ufer hin abfallenden Rasenhanges. Der Pavilion besteht aus zwei funktional getrennten Bauteilen: dem blockhaft geschlossenen Volumen des Theater- und Konzertsaals im Westen, der von Chermayeff fertiggestellt wurde, als Mendelsohn nach Palästina übersiedelt war, und einem zweigeschossigen Osttrakt. Dieser war zum Meer hin verglast und auf der Landseite durch Fensterbänder gegliedert. Das Erdgeschoss diente als Restaurant; darüber befanden sich Lounge und Bibliothek.

Spektakuläres Kennzeichen des Baus aber ist das elegante Haupttreppenhaus, das wie der Mittelpavillon eines Schlosses halbkreisförmig vor die Flucht der Seefassade tritt. Ringartig umspielen die auf zwei Stützen ruhenden Terrassen den gläsernen Halbzylinder, um sich in Loggia und Dachplatte des Restaurantflügels fortzusetzen. Als sei man auf einem Hochseedampfer unterwegs, geht der Blick über die relingähnlichen Geländer hinaus auf das Meer. Die geschlossene Fassade zum Ort wird durch das weit vorspringende, gleichfalls verglaste Nordtreppenhaus belebt.

Es ist dem unermüdlichen Bemühen des 1989 gegründeten Pavilion Trust zu verdanken, dass zwei Jahre später mit einer denkmalschutzgerechten Sanierung des umgebauten und verwahrlosten Gebäudes begonnen werden konnte. Nach den Plänen des Londoner Architekturbüros John McAslan & Partners wurde zunächst die Seefassade mit ihren Terrassen und dem Haupttreppenhaus instand gesetzt. Später restaurierte man das zum Teil erhaltene Originalmobiliar von Alvar Aalto und ergänzte es durch Repliken. Nun erhofft sich der Pavilion Trust Gelder für den zweiten Bauabschnitt: die Teilrekonstruktion der Innenräume und des Konzertsaales, die Erneuerung der Nordfassade und den Neubau eines Verwaltungstraktes, der nach anfänglichen Plänen nicht mehr an den Bau anschliessen, sondern als niedriger Riegel separat entlang der Strasse errichtet werden soll. Überdies will man die ursprünglich für den Sport genutzte, nun aber aus Brandschutzgründen gesperrte Dachterrasse durch den Einbau einer Fluchttreppe zugänglich machen. Der District Council, Eigentümer des Gebäudes, hat bei der Nationallotterie um 16 Millionen Pfund für das Restaurierungsprojekt nachgesucht und wurde dabei unterstützt von der staatlichen Organisation English Heritage. Die Entscheidung wird im Herbst fallen.

Bis weit in die Nacht geöffnet, ist der De La Warr Pavilion der lebendigste Ort in der kleinen Küstenstadt. Er bietet Raum für Konzertveranstaltungen und Ausstellungen, für Aktivitäten diverser ortsansässiger Gruppen und Initiativen; vor allem aber kann man sich auf seinen Sonnendecks mit Blick aufs Meer erholen.

Wenn sich das Dunkel über Bexhill senkt, beginnt Mendelsohns elegante, durch verchromte Scheiben gegliederte Lampenkonstruktion im Haupttreppenhaus zu leuchten. Aus der Ferne wirkt sie wie ein gleissender Lichtfaden, der den gläsernen Zylinder erleuchtet. Und radiale Schattenstreifen der Fensterprofile lassen die erleuchtete Unterseite der vorkragenden Dachplatte zum strahlenden Nimbus werden. Die expressionistische Vision eines Volkshauses - hier scheint sie verwirklicht.

NZZ-Folio, Di., 1998.09.01



verknüpfte Bauwerke
De La Warr Pavilion

01. Juli 1998Hubertus Adam
NZZ-Folio

Ein Nildampfer in Böhmen

Betrachtet man das Haus Stross auf dem obigen Bild, zeigt es sich von seiner Unterseite. Die historische Fotografie des Hauses im nordböhmischen Liberec,...

Betrachtet man das Haus Stross auf dem obigen Bild, zeigt es sich von seiner Unterseite. Die historische Fotografie des Hauses im nordböhmischen Liberec,...

Betrachtet man das Haus Stross auf dem obigen Bild, zeigt es sich von seiner Unterseite. Die historische Fotografie des Hauses im nordböhmischen Liberec, dem vormaligen Reichenberg, schafft eine eigene Realität: sie marginalisiert das zentrale Abschlussgeschoss und unterstreicht dafür die horizontale Ausrichtung des Baukörpers; sie suggeriert ein Flachdach, indem sie das kupfergedeckte Walmdach gar nicht zeigt; sie bietet eine gewissermassen exzentrische Ansicht, welche die Symmetrie des Gebäudes leugnet.

Der Blick geht dem Hang entlang hinauf zur Südwestecke des Hauses mit ihren vielen geballten, viertelkreisförmig schwingenden Baukörpern. Das Spiel mit den schwellenden Volumen wird durch die kräftigen Linien der vorspringenden Dächer und der schattenwerfenden Gesimse noch gesteigert.

Mit anderen Worten: der Bau wirkt dynamischer und eleganter, als er in Wirklichkeit ist. Mittels Froschperspektive wurde er auf dem Bild optisch den Formvorstellungen der Moderne angepasst. Nicht ganz zu Unrecht fühlte sich Müller-Wulckow, aus dessen Buch die historische Fotografie stammt, vom Haus Stross an die Architektur von Frank Lloyd Wright erinnert: Die Villa, «straff horizontal an der Strassenseite, dacht sich in amerikanischer Weise terrassenförmig nach der Talsenkung hin ab», schrieb er dazu in seinem Buch «Wohnbauten und Siedlungen aus deutscher Gegenwart».

Der Hang, der steil zur tiefliegenden Talsperre im Osten von Liberec abfällt, ist inzwischen dicht bewachsen, so dass der heutige Besucher den Bau aus dieser Perspektive übers Eck gar nicht mehr betrachten kann. Seit Anfang der fünfziger Jahre beherbergt die mächtige Villa, die sich der Textilhändler Franz Stross 1923 bis 1925 vom thüringischen Architekten Thilo Schoder (1888-1979) errichten liess, das städtische Hygiene-Institut. Die immobile Innenausstattung blieb zum Teil erhalten, doch die Raumstruktur wurde dem neuen Nutzungsprogramm entsprechend verändert. Allzuviel ist über den Bauherrn selber nicht bekannt. 1877 im ägyptischen Alexandria geboren, flüchtete Franz Stross vor den revolutionären Wirren des Jahres 1919 nach Liberec/Reichenberg, das im 19. Jahrhundert zum Zentrum der böhmischen Textilproduktion avanciert war. «Nildampfer» nannte der Volksmund den Neubau auf dem Hügel. Als Stross später nach Südamerika ausgewandert war, hielt sich in Böhmen noch lange hartnäckig das Gerücht, er habe jenseits des Ozeans eine Kopie seiner früheren Behausung bewohnt. Man betritt das dreigeschossige Haus, das auf einem Granitsockel ruht, von der Strassenseite, also von Norden her. Geht man eine Treppe hinab, steht man vor der in der Mittelachse angeordneten Flügeltür des Portals.

Typologisch knüpfte der Architekt Schoder, der in Gera 1919 sein eigenes Atelier für Architektur, Innendekoration und Kunstgewerbe eröffnet hatte und zu Stross seit 1920 Kontakt unterhielt, an das grossbürgerlich geprägte Landhaus des beginnenden Jahrhunderts an. Während sich die privateren Bereiche in den Obergeschossen befanden, diente das Erdgeschoss eher repräsentativen, halböffentlichen Zwecken. Von der mehrgeschossigen Halle, die in den Obergeschossen von Galerien umgeben war, gelangte man in das Ess- und das Musikzimmer, die über den dazwischen angeordneten Wintergarten zu einer Enfilade vereinigt werden konnten. An die vorgelagerte Terrasse schloss sich zum Hang hin ein kupferverkleidetes Orchideenhaus an. Im Osten befand sich ein abgeknickter, vom Hauptbaukörper deutlich getrennter Wirtschaftstrakt.

Bemerkenswert ist das Haus Stross aber nicht allein auf Grund seiner Raumdisposition, sondern auch hinsichtlich seiner exquisiten Innenausstattung. Schoder konnte hier - getreu der Doktrin seines Weimarer Mentors und Lehrers Henry Van de Velde - zum erstenmal innerhalb seines ‘uvres die komplette Innenausstattung mitentwerfen. Diverse Marmorsorten, Hölzer verschiedener Arten, Schleiflackmöbel und Majolika - Geld scheint für den Bauherrn keine Rolle gespielt zu haben. Knüpfte der Architekt bei Details wie den Türgriffen noch unverkennbar an das Formenvokabular Van de Veldes an, so war die Ausstattung in ihrer Gesamtheit doch eher dem Art déco zuzuordnen. Bei aller konstruktiven Gliederung des Mobiliars liess sich eine latente Tendenz zum Derben nicht verkennen.

Das gilt gleichermassen für die Fassaden, die durch alternierende Flächen von rötlichem Porphyrputz und grünlich patiniertem Kupferblech bestimmt werden. Auch wenn der Architekturpublizist Heinrich de Fries 1929 konstatierte, dass beim Haus Stross «der Einfluss des Meisters und Lehrers Van de Velde mit besonderer Eindringlichkeit und anhaltender Nachwirkung in Erscheinung tritt», bleibt die Vergröberung gegenüber den Werken des Belgiers doch deutlich spürbar. Dafür verantwortlich ist die kompakte und gedrungene Organisation der Baumassen, aber auch die mächtige, fast plumpe Ausbildung von Details, zum Beispiel der wulstartigen Verdachungen. Für eine Reihe luxuriöser Privathäuser, die während oder kurz nach der Inflationszeit von 1922/23 entstanden, ist eine solche stilistische Unsicherheit typisch. Der Reichtum der Auftraggeber entlud sich in Opulenz, ohne zu einer klaren Form zu finden. So steht das Haus Stross trotz seiner einheitlichen Gestaltung, bedingt durch die durchgängige Verschleifung der Baukörper, dem Monumentalstil der Jahrhundertwende letztlich näher als dem Neuen Bauen.

Erst mit dem Bau der Seidenweberei Schulenburg & Bessler in Gera 1925-1928 adaptierte Schoder Formprinzipien der Moderne, wie sie beispielsweise von Erich Mendelsohn vertreten wurden. In einer Reihe von Siedlungsbauten der ausgehenden zwanziger Jahre kulminierte das Schaffen Schoders, der 1932 nach Norwegen übergesiedelt und in seiner einstigen Heimat weitgehend in Vergessenheit geraten war.

Erst die Geraer Ausstellung 1997 hat die Aufmerksamkeit auf einen Architekten gelenkt, der zumindest in den frühen zwanziger Jahren keineswegs eine Randfigur war. Schoder litt, anders als die späteren Protagonisten der Moderne, zu dieser Zeit nicht an Auftragsmangel. Dass Schoders Bauten von Ludwig Hilberseimer zur Illustration seiner Bücher ausgewählt wurden, ist wohl gerade diesem Umstand zu verdanken. Paul Klopfer, Schoders vormaliger Lehrer in Weimar, kritisierte indes die Orientierung an Van de Velde als «kunstgewerbliche Abschweifungen». Mit dem Haus Stross in Böhmen endete diese Arbeitsphase des Architekten aus Gera.

NZZ-Folio, Mi., 1998.07.01



verknüpfte Bauwerke
Haus Stross

01. Mai 1998Hubertus Adam
NZZ-Folio

Licht, Luft und Sonne

Wer heute in Davos ankommt, kann nur noch in Ansätzen jene urbane Topographie ausmachen, die Thomas Mann einst zu der treffenden Formulierung verleitete,...

Wer heute in Davos ankommt, kann nur noch in Ansätzen jene urbane Topographie ausmachen, die Thomas Mann einst zu der treffenden Formulierung verleitete,...

Wer heute in Davos ankommt, kann nur noch in Ansätzen jene urbane Topographie ausmachen, die Thomas Mann einst zu der treffenden Formulierung verleitete, die Gebäude mit ihren Balkonlogen wirkten hier «von weitem löchrig und porös wie ein Schwamm». Mit dem irreversiblen Wandel vom Kurort zum Wintersportparadies machte Davos einen tiefgreifenden Wechsel durch: nicht mehr die Sanatoriumskomplexe am Hang prägen das Ortsbild, sondern dicht gereihte Appartementhäuser, die das Tal überwuchern und längst die frühere Siedlungsgrenze verwischt haben.

«Davos, das neue Mekka der Schwindsüchtigen», hatte 1874 der Slogan gelautet, der Tuberkulosekranke nach Graubünden locken sollte. «Der Weg zu Kraft und Gesundheit führt über Davos», hiess es hingegen auf einem Plakat des örtlichen Verkehrsvereins aus dem Jahr 1929. Die «Sonnenstadt im Hochgebirge» wollte sich seinerzeit ein dezidiert modernes Image geben und ihren Ruf als Ort der Moribunden ablegen, der nicht zuletzt durch Thomas Manns «Zauberberg» zementiert worden war.

In den Bauten des Architekten Rudolf Gaberel (1882-1963) fand die Wende zur Moderne ihre architektonische Entsprechung. Die Chirurgische Klinik der Zürcher Heilstätte im Ortsteil Clavadel, zwischen 1930 und 1932 entstanden, wurde zum Musterbeispiel einer funktionalistischen Architektur.

Der Kampf gegen die Volksseuche Tuberkulose trat nach Robert Kochs Entdeckung des Tuberkelbazillus 1882 in ein wissenschaftlich fundiertes Stadium und führte schon vor der Jahrhundertwende zu neuen Heilmethoden. Das Wissen um die Infektionswege bedingte die Absonderung der Kranken in geschlossenen Häusern, die mit windgeschützten, der Sonne zugewandten Balkons optimale Voraussetzungen für Freiluft-Liegekur und Heliotherapie boten. Hoch über Davos gelegen, wurde das Sanatorium Schatzalp zur Wiege der neuen Heilstättenarchitektur, von Pfleghard und Haefeli 1899/1900 als einer der ersten grossen Schweizer Eisenbetonbauten errichtet. Wegweisend war nicht nur das Flachdach, das den Schneerutsch verhinderte, sondern auch der Verzicht auf historisierende Dekorelemente, mit dem Ziel, das Gebäude möglichst staubfrei zu halten.

Dass die Propaganda für das Neue Bauen sich in den zwanziger Jahren argumentativ auf hygienisch-medizinische Erkenntnisse stützen konnte, erstaunt vor diesem Hintergrund nicht. Le Corbusiers funktional segregierte Stadtvisionen benutzen die Reinlichkeitsrhetorik ebenso wie die Schriften Sigfried Giedions, der in seiner Publikation «Befreites Wohnen» (1929) explizit auf die Sanatoriumsarchitektur verwies. Auch das Gebäude der Thurgauisch-Schaffhausischen Heilstätte, von Pfleghard, Haefeli und Robert Maillart in Davos erbaut und von Gaberel mit einer Liegehalle auf dem Dach erweitert, entsprach dem Postulat Giedions, das moderne Haus müsse «leicht, lichtdurchlassend und beweglich» sein.

Auftraggeber des Neubaus in Clavadel, einem am Eingang zum Sertigtal gelegenen Ortsteil von Davos, war die Stiftung Zürcher Heilstätten, die seit 1898 ein Lungensanatorium in Wald im Zürcher Oberland betrieb und eine schon bestehende Einrichtung in Clavadel 1918 als Hochgebirgs-Dépendance übernommen hatte. Rudolf Gaberel, von dem schon Entwürfe für den Umbau des Altbaus stammten, gewann 1930 den Wettbewerb für den Neubau einer separaten chirurgischen Abteilung.

«Das Gebäude besteht aus einem nach der bestmöglichen Besonnung und Aussicht gerichteten, um 43 Grad von der Südrichtung nach Westen abgedrehten Krankenflügel und einem senkrecht dazu gestellten Behandlungs- und Wirtschaftsflügel», heisst es im Erläuterungsbericht. Der T-förmige, kompakte Baukörper erlaubte dank einem zentralen Erschliessungskern minimale Wege im Inneren. Die auf drei Ebenen übereinander angeordneten Patientenzimmer mit ihren insgesamt 60 Betten orientierten sich zum Tal hin, die Operations- und Behandlungsräume befanden sich im rückwärtigen Trakt, dessen Dachterrasse Zugang zum Berghang hatte.

Die heilende Kraft von Licht, Luft und Sonne zu nutzen war eigentlicher Zweck des Gebäudes. Bei gutem Wetter wurden die Betten der Patienten auf die den Zimmern vorgelagerten Liegebalkons gefahren. Statt für eine geschlossene Brüstung entschied sich Gaberel für ein Gefüge aus horizontal angeordneten Stangen: zum einen erleichterte dieses System die Beseitigung des Schnees, zum anderen warfen die Stangen weniger Schatten als herkömmliche Brüstungen. Bei starkem Wind konnten die grossflächig verglasten Liegehallen an den beiden Stirnseiten des Krankentraktes genutzt werden.

Von der Möblierung der einzelnen Zimmer abgesehen, ist Gaberels Klinik weitgehend unverändert geblieben. Neue Standards im Gesundheitswesen haben jetzt jedoch eine Erweiterung des Komplexes nötig gemacht. Ohne umfangreiche Baumassnahmen, so die Stiftung Zürcher Hochgebirgskliniken, wäre Clavadel nicht mehr zu betreiben gewesen.

So plausibel die Argumentation auch sein mag - Gaberel selbst hatte übrigens eine zukünftige Aufstockung vorgesehen -, so unverständlich bleibt der Verzicht auf einen Wettbewerb. Denn Sensibilität im Umgang mit dem Bau ist dem Erweiterungsprojekt des Zürcher Architekten Werner Bauert bei allen Nachbesserungen schwerlich zu attestieren. Der mächtige talseitige Trakt, der mit Aufnahme, Verwaltung und Sporthalle in diesem Mai eingeweiht wird, und das neue, leicht gebogene Bettenhaus rücken Gaberels einstigen Solitär optisch ins Abseits und machen das mehrfach umgebaute Sanatoriumsgebäude der Jahrhundertwende überflüssig - der Abbruch steht bevor.

In einem weiteren Bauabschnitt sollen die noch vorhandenen historischen Fenster und Türen der Patientenräume im Gaberel-Bau durch moderne Schiebetüren ersetzt und die Fenster des Sockelgeschosses vergrössert werden. Die museale Rekonstruktion eines historischen Patientenzimmers ist da wohl kaum mehr denn ein schwacher Trost.

NZZ-Folio, Fr., 1998.05.01



verknüpfte Bauwerke
Chirurgische Abteilung der Zürcher Heilstätte

01. März 1998Hubertus Adam
NZZ-Folio

Ziegel und Putz

Burg, 25 Kilometer nordöstlich von Magdeburg gelegen, zählt zu jenen Orten, die Reisende lediglich als Autobahnausfahrt kennen - oder als Bahnstation,...

Burg, 25 Kilometer nordöstlich von Magdeburg gelegen, zählt zu jenen Orten, die Reisende lediglich als Autobahnausfahrt kennen - oder als Bahnstation,...

Burg, 25 Kilometer nordöstlich von Magdeburg gelegen, zählt zu jenen Orten, die Reisende lediglich als Autobahnausfahrt kennen - oder als Bahnstation, durch die der Intercity rauscht. Touristen verirren sich nur selten hierher, spektakuläre Sehenswürdigkeiten gibt es nicht, die Arbeitslosenquote liegt heute bei fast 25 Prozent.

Seine Blüte hatte der Ort in der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Tuch- und Maschinenfabriken siedelten sich an, vor allem aber wurde Burg zu einem Zentrum der lederverarbeitenden Industrie. Zunächst als Manufakturen in den Hinterhöfen untergebracht, besetzten die Betriebe bald immer grössere Areale innerhalb der Stadt. Conrad Tack, der als erster deutscher Schuhfabrikant seine Erzeugnisse in eigenen Läden verkaufte, liess einen weitläufigen Produktionskomplex nahe der Nikolaikirche errichten. Die gewaltigen Hallen mit ihren Reihen gusseiserner Stützen stehen heute leer.

Eine der letzten in Burg gegründeten Schuhfabriken war die Firma Hermann Guiard & Co., für die der Berliner Architekt Arthur Korn 1925 eine Produktionsstätte baute. Zusammen mit der ebenfalls von Korn errichteten Villa für den Fabrikanten Dr. Krojanker zählt sie zu den raren Leistungen des Neuen Bauens am Ort.

In den zwanziger Jahren gehörte der heute kaum bekannte Arthur Korn zur Spitze der architektonischen Avantgarde in Berlin. 1891 als Sohn jüdischer Eltern in Breslau geboren, hatte er zwischen 1909 und 1911 unter Bruno Paul an der Kunstgewerbeschule in Berlin studiert und einige Jahre in diversen Architekturbüros gearbeitet, bevor er sich - nach einer kurzen Assistenz bei Erich Mendelsohn - 1922 gemeinsam mit dem Ingenieur Siegfried Weitzmann selbständig machte. Schon der erste Bau, eine Villa für Rechtsanwalt Goldstein, den Präsidenten der Österreichischen Länderbank, geriet zum Markstein - nicht nur wegen der von De-Stijl-Prinzipien beeinflussten Formensprache, sondern auch wegen der Kooperation mit dem Plastiker Rudolf Belling und dem damaligen Mendelsohn-Mitarbeiter Richard Neutra.

Korn, Mitglied der Novembergruppe, der Architektenvereinigung «Der Ring» und des «Kollektivs für sozialistisches Bauen», profilierte sich im Villenbau, realisierte aber auch eine Reihe von Geschäftslokalen in Glas und Stahl. Sein Meisterwerk jedoch wurde der Neubau für die Kondomfabrik Fromm in Berlin-Friedrichshagen, eine weitläufige Gruppe von Bauten aus offenliegenden, rot gestrichenen Stahlskeletten, ausgefacht mit Glasscheiben und weiss glasierten Fliesen.

Von den NS-Behörden verfolgt, floh Korn 1935 nach Jugoslawien und zwei Jahre später weiter nach London, wo er Mitglied der M.A.R.S.-Gruppe (Modern Architecture Research) wurde. Er widmete sich ausschliesslich der Stadtplanung und lehrte von 1945 bis 1965 an der Architectural Association. Auf den Kontinent zurückgekehrt, starb Korn 1978 in Niederösterreich.

Bei der Schuhfabrik Hermann Guiard handelt es sich um den ersten Industriebau des Architekten. Gemeinsam mit seinem Partner Weitzmann errichtete er ein im Kern viergeschossiges Bauwerk von 37 Meter Länge und 13 Meter Breite. Der nördliche Teil ist um zwei Geschosse erhöht und setzt sich gegen den Hof im turmartig ausgebildeten Baukörper des Treppenhauses fort. Der Maschinenraum des Aufzugs überragt diesen um ein weiteres Stockwerk. Im Winkel schliesst sich auf der Südseite ein kleiner zweigeschossiger Trakt an, in dem sich ehemals die Verwaltung befand. Demjenigen, der von Süden her auf den Komplex zugeht, bietet sich eine sukzessive Staffelung der Baukörper dar, die durch zum Teil abgerundete Ecken an Dynamik gewinnen. Korn nutzte die Hauptansicht, indem er die fensterlose Stirnseite als Werbefläche einsetzte. Riesige, zum Teil stockwerkhohe, serifenlose Lettern, deren Schatten heute noch an der Fassade erkennbar sind, nannten den Firmennamen sowie den Ort und waren selbst aus den vorbeifahrenden Zügen zu erkennen.

Auch wenn der Hauptbau mit den vier Fabrikhallen ein Stahlbetontragwerk besitzt, bleibt die Konstruktion an der Fassade unsichtbar. Vorspringende Schichten aus roten Ziegeln alternieren auf Hof- und Strassenseite mit schmaleren, hellen Putzbändern, in welche die Fenster eingelassen sind. Am Verwaltungsbau verändern sich die Proportionen. Gebäudestirn und Dachaufsatz sind vollständig mit Ziegeln verkleidet. Die Nordfassade besteht aus zwei grossen, L-förmig ineinandergreifenden Flächen in Putz- und Ziegeloptik.

Überdies belebte Korn das Gebäude, indem er dem rein kubischen Charakter mit einer scheibenartigen Ausbildung von Wandelementen begegnete. Das zeigt sich besonders deutlich an der Strassenfront der zwei Dachgeschosse, dem Ziegelrechteck der Gebäudestirn und der gratigen Vertikale, welche die versetzten Fenster des Treppenhauses voneinander trennt. Man mag auch hierin einen Einfluss der holländischen Architektur sehen, der sich mit von Mendelsohn inspirierten Elementen (abgerundete Ecken) mischt.

Nach mehr als sechzig Jahren der Verfolgung und Verdrängung beginnt die Gemeinde Burg sich ihrer jüdischen Geschichte zu entsinnen. So wird die jüngst identifizierte Synagoge des 19. Jahrhunderts mit Mitteln der Denkmalpflege restauriert. Zur Biographie des Fabrikanten Guiard ist aber bisher kaum etwas bekannt. Das Grundbuch führt ihn bis 1937 als Eigentümer der Schuhfabrik, die in den letzten Jahrzehnten der DDR als Lager des Bekleidungswerks diente. Inzwischen wurden die einstigen Fabrikhallen in Einzelräume unterteilt; die Forderung der Denkmalpfleger nach einer Material- und Farbanalyse fand kein Gehör.

Mit der Schuhfabrik Guiard und der Villa Krojanker besitzt Burg die beiden letzten erhaltenen Bauten Arthur Korns. Nach Zerstörungen von Korns Bauten im Zweiten Weltkrieg war in Berlin mit Abbrüchen bis hinein in die siebziger Jahre unwidersprochen das fortgesetzt worden, was im Jahr 1933 begonnen hatte: die Zerstörung eines Lebenswerks.

NZZ-Folio, So., 1998.03.01



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Schuhfabrik Hermann Guiard & Co.

05. Januar 1998Hubertus Adam
NZZ-Folio

Der Zoo als konstruktivistische Bühne

Während sich auf dem europäischen Kontinent längst die Avantgarde des Internationalen Stils etabliert hatte, so dass Henry-Russell Hitchcock und Philip...

Während sich auf dem europäischen Kontinent längst die Avantgarde des Internationalen Stils etabliert hatte, so dass Henry-Russell Hitchcock und Philip...

Während sich auf dem europäischen Kontinent längst die Avantgarde des Internationalen Stils etabliert hatte, so dass Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson 1932 mit ihrer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art eine erste Bilanz ziehen konnten, blieb Englands Baukunst bis in die dreissiger Jahre weitgehend traditionell bestimmt.

Zwar war die Arts-and-Crafts-Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts mit ihrer Forderung nach Materialgerechtigkeit und Zweckmässigkeit selbst Geburtshelferin des modernen Bauens gewesen, doch trat die Architekturentwicklung auf der Insel in den zwanziger Jahren in ein Stadium der Stagnation. Im Siedlungsbau herrschte noch immer der perpetuierte Landhaustypus vor, bei repräsentativen Aufgaben befleissigte man sich dagegen vornehmlich eines akademischen Neoklassizismus, wie ihn Edwin Lutyens vertrat.

Es waren vorab europäische Emigranten, welche die Formprinzipien der «weissen Moderne» in den dreissiger Jahren in England heimisch machten: Marcel Breuer, Erich Mendelsohn, Walter Gropius, vor allem aber Berthold Lubetkin (1901-1990).

Mit dem Pinguinbecken (1934) für den Londoner Zoo im Regent's Park errichtete Lubetkin, der 1932 mit sechs Absolventen der Architectural Association die Architektengruppe Tecton gegründet hatte, ein ebenso elegantes wie funktionales Kleinbauwerk, das zu den Meisterleistungen des Internationalen Stils gehört und im britischen Kontext als bahnbrechend einzustufen ist. Die Verbindung von Architektur und Plastik, von freier Gestaltung und tektonischer Strenge hat hier zu selten erreichter Vollkommenheit gefunden.

Bevor der 1901 im georgischen Tiflis geborene Lubetkin 1931 nach London kam, hatte ihn ein unstetes Wanderleben, bei dem sich Ausbildung und Praxis mischten, im Verlauf von gut zehn Jahren durch die bedeutenden Metropolen Europas geführt. Nach einer zweijährigen Ausbildung an den revolutionären Kunstschulen in Moskau und Petrograd (unter anderem bei Tatlin, Rodtschenko und Alexander Wesnin) übersiedelte der angehende Architekt 1922 nach Berlin. Dort assistierte er El Lissitzky bei der Ausstellung sowjetischer Kunst in der Galerie van Diemen. Studienaufenthalte in Wien und Warschau schlossen sich an, ausserdem arbeitete Lubetkin zeitweilig bei Bruno Taut in Magdeburg und Ernst May in Frankfurt. 1925 kam er nach Paris, wo er an der Planung der Bauten von Melnikow und Rodtschenko für die Art-déco-Ausstellung beteiligt war und sein Studium an verschiedenen Hochschulen fortsetzte. Ein Apartmentgebäude an der Avenue de Versailles war das einzige Bauprojekt, das von der 1927 bis 1929 bestehenden Bürogemeinschaft mit dem Pariser Architekten Jean Ginsberg realisiert wurde. Mit seiner dezidiert modernen Formensprache vermochte Lubetkin jedoch in der französischen Kapitale nicht dauerhaft Fuss zu fassen.

So kam das Angebot aus London, ein Haus für eine russische Emigrantin zu bauen, zur rechten Zeit, zumal Lubetkin schon in Paris den Londoner Architekturstudenten Godfrey Samuel kennengelernt hatte, der ihn in London einführte und 1932 Gründungsmitglied von Tecton wurde.

Samuels Freundschaft mit Solly Zuckerman, einem Forscher des Londoner Zoos, war es zu verdanken, dass die Direktion des Tierparks Tecton sukzessive mit der Planung einiger Zoobauten beauftragte. Zuerst entstand ein Gorillahaus (1932/33), dann folgten das Pinguinbecken und wenig später das Nordtor mit Erfrischungspavillon. Das Pinguingebäude besteht aus einer elliptischen Mauerschale, die teils als Brüstung, teils als Wand ausgebildet ist, ein vertieft gelegenes Wasserbecken umfriedet und so den Bereich der Tiere von dem der Menschen trennt. Formale Attraktion der Anlage sind zwei in der Mitte befindliche, U-förmige Rampen in diagonaler Ausrichtung. Diese überlagern sich als freitragende Stahlbetonkonstruktionen dergestalt, dass der Eindruck einer Spirale entsteht. Die Pinguine können die Rampen emporwatscheln und gelangen entweder auf ein Podest, von dem aus eine Treppenrampe wieder hinunter zum Becken führt, oder sie steigen eine weitere Treppe hinauf zu einem Tauchschacht, der sich nach aussen, also zum Publikum hin, zu einem Aquariumfenster öffnet.

Lubetkin und seine Tecton-Gruppe revolutionierten mit ihrem Pinguinbecken die Zooarchitektur. Weder entwarfen sie eine simple umzäunte Beckenanlage, noch versuchten sie, den antarktischen Lebensraum der Pinguine mit Felsen und Schollen in der Art eines Dioramas zu imitieren. Statt dessen errichteten sie ein konstruktivistisches Raumgebilde, das der Motorik und dem Bewegungsrhythmus der Tiere entsprechende, abwechslungsreiche Teilbereiche zum Schwimmen, Tauchen, Laufen oder Stehen aufweist: Nistkästen, Beckenränder, Stege, Treppen, Rampen, Flachbecken und Tauchschacht. Um den Tieren möglichst viele Sinneseindrücke beim Laufen zu ermöglichen, besteht der Boden nicht durchgehend aus Beton, sondern ist teilweise mit Gummi oder Schieferplatten belegt. Die gerade im Sommer nötigen Schattenzonen entstehen durch Wandpartien, die über der Brüstung schweben und dem filigranen Gebäude erst Volumen verleihen.

Viele Londoner fragten sich, wie die Zeitschrift «Mother and Child» 1938 resümierte, warum es für menschliche Wesen nicht ebenso wie für die Pinguine einen Lebensraum geben könne, der ihren Bedürfnissen entspricht.

Nicht romantisch verklärte Natur entwarfen die Architekten mit dem Pinguinbecken im Regent's Park Zoo, sondern ein artifizielles Panorama, eine abstrakte Bühnenlandschaft, eine Kunstwelt. Die Inszenierung, in welcher die Pinguine unfreiwillig die Darsteller sind, dient dem Publikum - wie im richtigen Schauspiel - zur Belehrung und zur Erbauung.

NZZ-Folio, Mo., 1998.01.05



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Pinguinbecken im Regent's Park Zoo

01. November 1997Hubertus Adam
NZZ-Folio

Monument auf der Heide

Wälder, Hügel und Heide prägen das Gebiet zwischen Arnhem und Apeldoorn; «De hoge Veluwe», der südliche Bereich des Gebiets, hat den Status eines Nationalparks...

Wälder, Hügel und Heide prägen das Gebiet zwischen Arnhem und Apeldoorn; «De hoge Veluwe», der südliche Bereich des Gebiets, hat den Status eines Nationalparks...

Wälder, Hügel und Heide prägen das Gebiet zwischen Arnhem und Apeldoorn; «De hoge Veluwe», der südliche Bereich des Gebiets, hat den Status eines Nationalparks erlangt.

Etwas weiter nördlich davon liegt ein mächtiges und wenig bekanntes Gebäude, die Funkstation Kootwijk. Sie wurde zwischen 1919 und 1922 von dem in Amsterdam geborenen Architekten Julius Maria Luthman (1890-1973) errichtet. Eine einsame Strasse führt durch den Wald bis zur Grenze des abgesperrten Terrains. Hat man den Schlagbaum passiert, sieht man in der Ferne einen grauen, hochaufragenden Bau. Halb Bunker, halb Kathedrale, spiegelt sich die Front des aus Stahlbeton errichteten Bauwerks in einem vorgelagerten Wasserbecken, was den Eindruck von der Wucht des Baus nochmals verstärkt. «Radiostation» heisst es in Versalien über dem Eingangsportal; ein Relief des Bildhauers Hendrik Albert van den Eindje zeigt eine von zwei Figuren umgebene Maske mit geöffnetem Mund. Zeitgenossen sahen in der Maske den durch die Räume entsandten Fernruf, während die weiblichen Gestalten das Abendland und den kolonialen Osten repräsentieren.

Van den Eindje versinnbildlichte die Funktion des Gebäudes, das als fester Langwellensender für den Funkverkehr mit Bandung auf Java in der damaligen Kolonie Niederländisch-Indien diente.

Ende 1918 begannen die Planierungsarbeiten auf dem in Staatsbesitz befindlichen Terrain bei Kootwijk, dessen Abgelegenheit für den Sendebetrieb günstig war. Anfang 1920 setzten die Fundamentierungsarbeiten ein, im Februar 1923 wurde der Sendebetrieb offiziell aufgenommen. Dass der junge und relativ unbekannte Luthman den grossen Auftrag - er umfasste neben dem Sendegebäude auch einen Wasserturm, ein Beamtenwohnhaus, ein (heute zerstörtes) Transformatorenhaus und eine Arbeitersiedlung - bekam, ist H. Th. Teeuwisse zu verdanken, dem Direktor des Rijksgebouwendienst. Teeuwisse war Anhänger der von der Amsterdamer Schule verfochtenen, stark plastisch geprägten Formensprache. Luthman, damals gerade 29 Jahre alt, hatte an der Akademie der bildenden Künste und technischen Wissenschaften in Rotterdam studiert und in verschiedenen Büros gearbeitet, bevor er 1915 ins Stadtbauamt Amsterdam wechselte. Dort, aber auch im Büro Baanders, lernte er die Architektur der Amsterdamer Schule kennen und traf mit deren Protagonisten zusammen; das Beamtenwohnhaus von Radio Kootwijk, ein Backsteinbau mit hohem Walmdach, ist von den Amsterdamer Formvorstellungen am deutlichsten beeinflusst.

Wasserturm und Sendegebäude sind in unverkleidetem Stahlbeton gehalten. Das hat nicht nur funktionale Gründe, wie etwa die Abschirmung atmosphärischer Störungen von den Sendegeräten. Luthman stand vor der Aufgabe, eine adäquate Form für eine noch junge Bauaufgabe zu finden, die bisher typologisch nicht fixiert war. Funkstationen waren zuvor reine Zweckgebilde gewesen: ein Sendemast, daneben ein Schuppen für die technischen Geräte. Doch in Kootwijk handelte es sich um ein nationales Prestigeprojekt und um eine neue, weltumspannende Technik. Traditionelle und moderne, retrospektive und prospektive, nobilitierende und funktionale Elemente wurden vereinigt, und es entstand ein hybrides, eindrucksvolles Gebäude.

Die Teilung in Turm und Schiff nimmt das sakrale Schema auf, die westliche Stirnseite mit dem Adlerrelief über dem Bogenscheitel kann als Triumphbogenmotiv verstanden werden, und der Aufbau der symmetrischen Turmfront mit Wasserbecken und Vorhof erinnert an Monumentalkonzepte der Jahrhundertwende. Doch wirken diese formalen Reprisen nicht vordergründig. Luthman hat sich von den dekorativen Bizarrerien der Amsterdamer Schule entfernt und mit klaren Kanten, glatten Flächen und dem Spiel von Licht und Schatten dem Vokabular des frühen De Stijl angenähert.

Da die Funkstation aus einem einzigen Material besteht, war eine Gliederung der Wände nur durch Fensterflächen sowie Vor- und Rücksprünge möglich. Die expressionistisch anmutende Flächengliederung der Längsseiten wird durch den ungewöhnlichen Schnitt der Erdgeschossfenster zusätzlich verstärkt.

Unweigerlich erinnern die skulpturalen Details an Entwürfe von Erich Mendelsohn, vor allem an seinen Potsdamer Einsteinturm, der allerdings erst 1921 fertiggestellt wurde. Dennoch könnte Luthman das Projekt gekannt haben: einerseits reiste er 1919 zur Vorbereitung seines Auftrags nach Berlin (wo er sich auch die im Bau befindliche Grossfunkstation Nauen von Hermann Muthesius angeschaut hat); andererseits war Mendelsohn der erste prominente Architekt, der nach dem Ersten Weltkrieg den Kontakt zur Amsterdamer Architekturszene suchte.

Mendelsohn musste beim Einsteinturm auf verputztes Mauerwerk zurückgreifen. Luthman dagegen wählte zusammen mit seinem Ingenieur J. Emmen einen Mittelweg zwischen klarer funktionaler Form, wie sie sich in der von Stahlbetonbindern rhythmisierten Halle artikuliert, und skulptural-organischer Formung. Er konnte sich einer monolithischen Betonstruktur bedienen.

Inzwischen dient die Radiostation Kootwijk als Kurzwellensender für den Schiffsfunk von Radio Scheveningen; der weithin sichtbare, 220 Meter hohe Sendemast wurde demontiert. Der Bau hat sich vergleichsweise gut erhalten, wurde aber mit einer grauen Spritzbetonschicht überzogen, welche die einstige lebendige Gliederung der Fassade durch die Abdrücke der Schalungsbretter hat verschwinden lassen.

Ende 1998 wird auch Radio Scheveningen seinen Funkverkehr auf Satellit umstellen; was dann mit diesem Meisterwerk der niederländischen Architektur geschieht, weiss bis heute niemand.

NZZ-Folio, Sa., 1997.11.01



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Funkstation

01. September 1997Hubertus Adam
NZZ-Folio

Bauen im Hochgebirge

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verloren die Alpen ihren bedrohlichen Charakter. Berge waren nicht mehr jene Orte der Existenzgefährdung, wie sie Lord...

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verloren die Alpen ihren bedrohlichen Charakter. Berge waren nicht mehr jene Orte der Existenzgefährdung, wie sie Lord...

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verloren die Alpen ihren bedrohlichen Charakter. Berge waren nicht mehr jene Orte der Existenzgefährdung, wie sie Lord Byron seinen Helden Manfred erleben liess; und Nietzsches Übermensch, der das Leben in Eis und Schnee den Annehmlichkeiten der Zivilisation vorzog, blieb kulturkritisches Konstrukt in einer Krisenphase der Individualität. Charakteristischerweise schickte Bruno Taut in seinem 1919 erschienenen romantisch-utopischen Mappenwerk «Alpine Architektur» auch
nicht mehr den heroischen Einzelnen, sondern Arbeitsarmeen ins Hochgebirge, um die Berggipfel mit Hammer und Meissel, Beton und Glas zu Kunstwerken zu transformieren.

Prosaischer indes war die Realität: Einstmals abgelegene Regionen wurden nach und nach für jedermann erreichbar; der touristischen Eroberung ging die infrastrukturelle Erschliessung voraus. Mit Strassen, Tunnels und Schienen wurden die bisherigen Grenzen von Raum und Zeit ausser Kraft gesetzt - auf die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert üblichen Standseil-und Zahnradbahnen folgte 1908 die erste Personen-Seilschwebebahn (zwischen Bozen und Kohlern), durch die man von aufwendigen Trassierungen unabhängig wurde und stärkere Steigungen überwinden konnte. Die Regionen oberhalb der Baumgrenze liessen sich fortan bequem als Ziel eines Halbtagsausflugs erleben.

Man gelange in 40 Minuten vom Stadtzentrum aus auf das 2330 Meter hohe Hafelekar, heisst es dementsprechend in einer 1929 auf der vierten Umschlagseite des offiziellen Innsbrucker Stadtführers publizierten Anzeige der Nordkettenbahn. Die Titelgraphik der Broschüre veranschaulicht die unmittelbare Beziehung zwischen Natur- und Kulturlandschaft: als schwarze Silhouette steht die Stadtkulisse mit ihren historischen Türmen vor dem violett schimmernden, als Hintergrundfolie dienenden Massiv der Nordkette.

Zwar musste die unmittelbare Nähe des stadtbeherrschenden Bergzugs die touristische Erschliessung begünstigen, doch entschloss sich Innsbruck erst 1927, eine Seilschwebebahn auf das Hafelekar zu bauen.

Seit 1906 durch eine Standseilbahn erschlossen, bot sich die 300 Meter über der Stadt gelegene Höhensiedlung Hungerburg für die Errichtung der Talstation an. Obwohl es möglich gewesen wäre, Hungerburg (Seehöhe 863 Meter) und Hafelekar (2256 Meter) direkt miteinander zu verbinden, errichtete man auf der Seegrube (1905 Meter) eine Zwischen- und Umsteigestation. Die Teilung der Gesamtstrecke in zwei Sektionen hatte zweierlei Vorteile: einerseits liess sich die Beförderungskapazität steigern, andererseits wies die geschätzte Hanglage der Seegrube klimatische Bedingungen auf, die denen auf dem windumtosten und rauhen Hafelekar deutlich überlegen waren und den Bau eines Berghotels und -restaurants ermöglichten.

Sobald die Ingenieure der auf Seilbahnen spezialisierten Leipziger Firma Adolf Bleichert Streckenführung und technisches Konzept festgelegt hatten, schrieb die Stadt Innsbruck als Bauherrin einen Architekturwettbewerb für die drei Stationsgebäude aus.

Sieger in der Konkurrenz wurde der ortsansässige Franz Baumann (1892-1974), eher ein architektonischer Aussenseiter, der an der Innsbrucker Staatsgewerbeschule eine Ausbildung zum Bauleiter absolviert hatte und in der Öffentlichkeit lediglich durch einen Entwurf für ein Kriegerdenkmal in Kufstein bekannt geworden war. Mit den 1927/28 ausgeführten Gebäuden der Nordkettenbahn avancierte Baumann zum vielbeachteten Vertreter eines regional gebundenen Neuen Bauens und - neben Lois Welzenbacher – zum österreichischen Erneuerer der alpinen Architektur.

Primär durch ihre Funktion als Verkehrsbauwerke bestimmt, zeigen sich die Seilbahnstationen der Nordkettenbahn frei von heimattümelnden Tendenzen. Zugleich aber vermied Baumann einen vordergründigen architektonischen Formalismus.

Flachdach und Glas - gemeinhin als Insignien des Modernen Bauens verstanden - waren unter den extremen klimatischen Bedingungen der Gebirgsregion kaum zu verwenden; Baumann benutzte weiss verputztes Mauerwerk und partielle Holzverschalungen. Die Baukörper selbst sind klar gegliedert und einfach in der Form; auf ornamentale Details wurde verzichtet. Pultdächer überdecken die Wagenhallen der Stationen und folgen mit ihrer Neigung dem Verlauf der Seile und des Geländes.

Mit der Kombination von Pultdach (über Wagenhalle, Maschinenraum und Spanngewichtsschacht) und Satteldach (über Wartesaal und Verwaltung) erinnert die Talstation am ehesten an das regionale alpine Bauen – nicht zuletzt auf Grund des hohen Holzanteils der Fassaden.

Die vom Volumen her differenzierte Mittelstation Seegrube ist eine geschickte Kombination von einem Verkehrs- mit einem Gastronomiegebäude. Den beiden im 122°-Winkel zueinander stehenden Wagenhallen mit angegliederten Betriebsräumen ist im Westen ein Hotelbau angeschlossen, der in den unteren beiden Geschossen Restauranträume enthält. Während ein tief herabgezogenes Schleppdach auf der Nordseite dem Wetter trotzt, öffnet sich auf der Südseite die weithin sichtbare viergeschossige Fassade, vor der sich eine Terrasse befindet, zur Sonne und zum besiedelten Tal hin.

Das beeindruckendste Gebäude ist ohne Zweifel die Bergstation Hafelekar. Auf steilem, abschüssigem Terrain etwa 80 Meter unterhalb des Gipfels errichtet, scheint der gedrungene Bau nachgerade mit dem Fels verzahnt: ein festungsähnlicher Brückenkopf der Zivilisation mitten in einer grosse Teile des Jahres von Eis und Schnee bedeckten, unwirtlichen Landschaft. Nur an diesem Gebäude verwandte Baumann gerundete Bauformen, übertrug somit den eleganten Schwung der modernen Formensprache in die Hochalpen.

Über viertelkreisförmigem Grundriss erhebt sich seitlich der Achse aus Wagenhalle, Spannraum und Gewichtschacht ein zum Hang hin orientierter Restaurantbereich, der in einem kleinen halbrunden Vestibül auf der Bergseite elegant ausschwingt. «So spricht der Berg, die Höhe, so die neue Zeit», heisst es euphorisch in einer zeitgenössischen Rezension.

Nur wenige Tische und Stühle finden in der Gaststube Platz; wie auch in den beiden Stationen sind sie grob aus Holz gehauen, unverwüstlich, bewusst primitiv, urtümlich oder archaisch, gleichsam vorkulturell; trotz ihrer Expressivität empfand Baumanns Architektenkollege Clemens Holzmeister die Gebilde als zu kraftmeierisch. Aus Holzscheiben und -kugeln sind die Schirme der Deckenleuchten gefertigt. Art-déco-Einschlag zeigen demgegenüber die von vielfach geknickten Eisenstäben gehaltenen Wandbeleuchtungskörper aus runden Milchglasscheiben in der Seegrube.

Durch unterschiedliche Gestaltung seiner drei Zweckbauten gelang es Franz Baumann, die sich je nach der Entfernung von der Stadt verändernde Gewichtung von Kultur und Natur zu veranschaulichen. Als architektonisches Artefakt verhält sich die Station Hafelekar in ihrer rauhen Umgebung defensiv, bietet wenig Angriffsflächen; sie wird - tendenziell – zur zweiten Natur.

NZZ-Folio, Mo., 1997.09.01



verknüpfte Bauwerke
Nordkettenbahn - Stationsbauten

04. Juli 1997Hubertus Adam
NZZ-Folio

Schau-Haus über dem Fluss

In den späten zwanziger Jahren hielt sich Joachim Ringelnatz mehrfach in Köln auf. Der nächtliche Besuch in einem wenige Jahre zuvor eröffneten Restaurant...

In den späten zwanziger Jahren hielt sich Joachim Ringelnatz mehrfach in Köln auf. Der nächtliche Besuch in einem wenige Jahre zuvor eröffneten Restaurant...

In den späten zwanziger Jahren hielt sich Joachim Ringelnatz mehrfach in Köln auf. Der nächtliche Besuch in einem wenige Jahre zuvor eröffneten Restaurant am Rheinufer fand seinen Reflex in einem Gedicht mit dem Titel «Köln von der Bastei aus gesehen», das mit den Versen endet: «Ich wünsche: Es möchte sich die Bastei / Jetzt karussellartig drehen.»

Ein historisches Foto macht die Impressionen des Dichters anschaulich. Es zeigt ein weit ausladendes rundes Gebäude mit spitzem Zeltdach in der Mitte; dem eigentlichen Gastraum vorgelagert ist eine umlaufende, von einem fächerförmigen Flachdach überdeckte Terrasse mit einer gläsernen Brüstung.
Erleuchteter Innenraum und helle Fenster («Wie Perlenreihen und Geschmeid / Lichtern die Ufer am Rheine») stehen im Kontrast zum Dunkel des Gebäudes, um das herum der Nachthimmel wie ein Nimbus glänzt. Im Hintergrund erscheint die Silhouette des linksrheinischen Ufers: Zwar ist der Dom verdeckt, doch lassen sich die Hohenzollernbrücke und der Turm von Gross St. Martin deutlich erkennen.

Wilhelm Riphahn (1889-1963) war noch ein unbekannter Architekt, als er sich Anfang der zwanziger Jahre überlegte, einen direkt am Fluss gelegenen, nutzlos gewordenen Sperrturm des preussischen Befestigungsgürtels, die sogenannte Caponniere, zu einer Gaststätte umzubauen. In Köln geboren und an der dortigen Baugewerkschule ausgebildet, hatte er sich nach einigen Praktika - so bei den Brüdern Taut sowie dem Dresdner Stadtbaurat Hans Erlwein - 1913 selbständig gemacht. Zunächst waren hauptsächlich Privatleute die Auftraggeber, wobei Riphahns Vater, ein Bauunternehmer, bei der Vermittlung half. Zurückhaltende neobarocke Formen prägen die Wohnbauten: Der junge Architekt rüttelte am Korsett des Konventionellen, gesprengt aber hat er es nicht.

Mit der 1923/24 errichteten Bastei jedoch gelang ihm stilistisch und beruflich der Durchbruch. Riphahn etablierte sich als dezidierter Verfechter des Neuen Bauens, und sein Ruf als Planer funktionalistisch bestimmter Grosssiedlungen festigte sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sein bedeutendstes Projekt der Neubau des Kölner Opernhauses (1954-57).

Für den Plan, auf der Caponniere «ein supermodernes Restaurant» zu bauen, gewann Riphahn Adolf G. Worringer, den Direktor des Zoo-Restaurants und Bruder des Kunsthistorikers Wilhelm Worringer, welcher mit seiner 1907 publizierten Dissertation «Abstraktion und Einfühlung» eine einflussreiche Programmschrift der expressionistischen Epoche verfasst hatte. Zunächst war das Restaurantprojekt in der Öffentlichkeit umstritten; die Uferzone war sensibel, und man befürchtete vor allem eine Beeinträchtigung des Blicks zum Dom. Erst nachdem ein Modell im Massstab 1:1 am vorgesehenen Standort errichtet worden war, beruhigte man sich. Die Architekturkritik äusserte sich unisono begeistert nach der Fertigstellung des Bauwerks, das sich - so Heinrich de Fries 1926 - mit der Landschaft, dem Strom und den Brücken vermähle, «fast völlig befreit scheinbar von der Basis, aus der es doch entwachsen ist».

Durch Aushöhlung der meterdicken Mauern des Turms hatte Riphahn in drei Geschossen Platz für Weinkeller, Vorratsräume, Büros und Toiletten geschaffen, zudem für ein doppelläufiges Treppenhaus über kreisförmigem Grundriss. Damit konnte das Hauptgeschoss - die Restaurantebene - von sekundären Funktionen befreit werden (abgesehen von der Küche, die sich in einem rechteckigen, zur Strasse hin orientierten Vorbau befindet).

Radial angeordnete Stahlträger, aus der Untersicht von der Uferpromenade aus deutlich erkennbar, stützen die Restaurantplattform. Das Zentrum des Gastraums bildet eine auf Pfeilern ruhende zeltartige Gewölbestruktur, die aussen als verschieferte Spitze sichtbar ist. Die Pfeilerstellung des Inneren war umgeben von einem halbkreisförmigen Sitzbereich, dieser wiederum von der Terrasse. Des starken Windes wegen musste die Terrasse relativ bald nach der Eröffnung geschlossen werden; Riphahn liess die Glasbrüstung entfernen und durch prismatisch angeordnete Glasscheiben ersetzen. 1958 rekonstruierte der Architekt sein im Zweiten Weltkrieg ausgebranntes Werk so, dass die Bastei auch heute noch einen vergleichsweise authentischen Eindruck von ihrem früheren Zustand vermittelt. Bedauerlich indes die veränderte Farbgebung im Inneren: Anstelle eines elfenbeinfarbenen Tons ist das zentrale Gewölbe in einem tiefen Blau gehalten, das die Plastizität der Raumstruktur kaum zur Geltung kommen lässt.

In den Zackenformen der Details und hinsichtlich der Verwendung von Glas ist Riphahns Restaurantpavillon deutlich von den Formprinzipien des expressionistischen Bauens beeinflusst. Vis-à-vis, auf dem rechten Rheinufer, hatte Bruno Taut 1914 anlässlich der Werkbundausstellung sein Glashaus errichtet, eine von den ekstatisch-utopischen Dichtungen Paul Scheerbarts beeinflusste Inkunabel des architektonischen Expressionismus - und hatte damit einen simplen Ausstellungspavillon der Glasindustrie nachgerade als mystischen Kultbau entworfen.

Taut war es auch, der 1920 im zweiten Heft der von ihm herausgegebenen Zeitschrift «Frühlicht» den Entwurf eines (allerdings nie realisierten) drehbaren Hauses an der Kurischen Nehrung veröffentlicht hatte. Grundriss und Gewölbebildung von Riphahns Projekt sind Tauts Skizzen so nah verwandt, dass die Ähnlichkeit kaum zufällig ist. Selbst die Form der nachträglichen Aussenverglasung findet sich in den im «Frühlicht» publizierten Zeichnungen. Intuitiv traf Ringelnatz mit seiner Vorstellung, die Bastei müsse sich drehen können, die Idee des Taut-Entwurfs, den Riphahn offenkundig adaptiert hatte.

Vergleicht man indes beide Projekte näher, so zeigt Riphahns Restaurant eine Tendenz zur Versachlichung und Verknappung der Form. Glas fungiert hier nicht in eingefärbter Form als gleichsam metaphysischer Baustoff, sondern dient schlicht dazu, Wandanteile zu reduzieren und freien Ausblick auf Dom, Stadt und Fluss zu bieten. Die Gestaltung der Decke entspricht ihrem Konstruktionsprinzip; expressionistische Elemente sind nicht zum modischen kulissenähnlichen Applikationsdesign aus Rabitz verkommen, das manche zeitgenössischen Bars und Amüsierbetriebe aufwiesen, etwa das von Walter Würzbach und Rudolf Belling eingerichtete Tanzcasino Scala (1920) in Berlin.

So ist ein Werk entstanden, das an der Schwelle zwischen Expressionismus und Funktionalismus steht. Sein besonderer Reiz liegt in der gelungenen Kombination von neu und alt; dass ein funktionsloser Militärbau, Relikt einer überwundenen Epoche, einer zivilen Nutzung zugeführt wurde, mag entfernt das Aufbruchspathos einer jungen Generation spiegeln. Die erträumte Gemeinschaft aber versammelte sich nicht in phantastisch-expressionistischen Gemeinschaftshäusern und Kultbauten, sondern amüsierte sich in den zwanziger Jahren unter den Sternengewölben von Bars, Tanzlokalen und Gaststätten.

NZZ-Folio, Fr., 1997.07.04



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Restaurant Bastei

15. Mai 1997Hubertus Adam
NZZ-Folio

Ein Musterbeispiel farbigen Bauens

Bruno Taut's eigenes Haus in Berlin Dahlewitz

Bruno Taut's eigenes Haus in Berlin Dahlewitz

Alle Anhäufungen von Einzelhäusern aber, wie sie in den Vororten der Grossstädte und manchmal auf dem Lande zu sehen sind, bilden in ihrer Gesamtheit nichts anderes als einen fürchterlichen Schutthaufen.» Der Satz, der zunächst wie eine Beschreibung ausufernder Eigenheimsiedlungen an den Rändern heutiger Städte anmutet, stammt aus dem Abschlusskapitel der 1927 erschienenen Publikation «Ein Wohnhaus» von Bruno Taut, Chefarchitekt der Berliner Gemeinnützigen Heimstätten Spar- und Bau-Aktiengesellschaft. Taut, der gerade mit genossenschaftlichen Grosssiedlungen mustergültige Beispiele eines sozial verstandenen Neuen Bauens zu entwickeln begann, beschäftigt sich darin mit dem Problem des Einfamilienhauses - am Beispiel seines eigenen Domizils, das er in den Jahren 1925/26 in Dahlewitz, einem Vorort südlich von Berlin, erbaut hatte.

Der heutigen Besitzerin, die das markante viertelkreisförmige Gebäude in den sechziger Jahren erworben hatte, ist es zu verdanken, dass der ursprüngliche Zustand weitgehend unverändert geblieben ist; vor kurzem erst wurde die denkmalgerechte Rekonstruktion der ursprünglichen Farbfassung abgeschlossen.

Im Schaffen des 1880 geborenen Taut nehmen solitäre Eigenheime einen eher untergeordneten Platz ein. Angesichts des der Lösung harrenden Problems des Massenwohnungsbaus glaubte der Architekt denn auch, seine Beschäftigung mit dem per se luxuriösen Bautypus Einfamilienhaus rechtfertigen zu müssen; er setze sich hier experimentell mit den essentiellen Elementen des Bauens auseinander, die für den Bau von Grosssiedlungen die gleiche Geltung beanspruchen könnten, betonte er immer wieder.

Diese Elemente herauszupräparieren, ist die eigentliche Absicht der Veröffentlichung «Ein Wohnhaus», der detaillierten Beschreibung und Erklärung des Dahlewitzer Anwesens. «Wie soll der moderne Mensch wohnen? Wenn Sie dieses Buch über Tauts Wohnhaus sich genau ansehen, wissen Sie es!» heisst es in einem vom Verlag formulierten Klappentext. Taut selbst hat sich gegen Kopien seines Baus verwahrt; serielle Fertigung und Rationalisierung titulierte er als «hausgewordenen Stumpfsinn».

Das vergleichsweise bescheiden dimensionierte, zweigeschossige Gebäude mit Flachdach liegt inmitten eines ausgedehnten Gartens. Seine konvexe Ostseite wendet es der vorbeiführenden Strasse zu; die spitze Westseite ist auf die Wiese hinter dem Haus orientiert. Im Norden schliesst sich ein niedriger Klinkerbau an, der Wirtschaftsräume und Garage enthält.

Im Inneren gibt es fünf eigentliche Wohnräume: das wabenförmige Wohnzimmer, von dem aus der Garten zu betreten ist, sowie einen Nachbarraum im Erdgeschoss; im Stockwerk darüber befinden sich drei Schlafzimmer. Das südliche diente zugleich als Arbeitszimmer, während die übrigen einen eher kammerartigen Charakter aufweisen. Obwohl sich auch diese Zimmer zum Balkon hin öffnen, werden sie tagsüber nur unzureichend belichtet; eine der nicht zu leugnenden Schwächen des Dahlewitzer Hauses. Von Einbauschränken und -regalen abgesehen, sind die streng funktionalen und technisch ausgeklügelten Einrichtungsgegenstände leider verlorengegangen.

Noch verstörender als die Form des Gebäudes dürfte auf die Zeitgenossen die Farbgebung gewirkt haben: Schwarz an der Strassenfront, Weiss auf der Rückseite; dazu kommen die Primärfarben Blau, Rot und Gelb an den Fenstern. Taut begründete die ungewöhnliche Kolorierung wärmetechnisch: Schwarz fängt die Morgensonne ein, Weiss reflektiert die heissen Sonnenstrahlen des Nachmittags; in seiner grossen Form, heisst es in «Ein Wohnhaus», sei der Grundriss eine Sonnenuhr.

In den Innenräumen hat Bruno Taut die Farbkontraste zusätzlich verstärkt. Im Arbeitszimmer treffen rote, gelbe und blaue Wandflächen aufeinander; eine gewagte Kombination von leuchtend roter Decke und weinroten Wänden prägt das Wohnzimmer. Zusätzliche Akzente setzen die ebenfalls bunt gestrichenen Heizkörper und Rohre. War es zuvor meist üblich, Installationen hinter Blenden zu verbergen, so werden die «wohltätigen Einrichtungen» hier in ihrer technischen Schönheit erkannt. Taut erzielte damit im Grunde das gleiche Ergebnis wie die Vertreter der Pop-Architektur in den sechziger Jahren, jedoch nicht als Ergebnis eines hypertrophen Maschinenkults, sondern als Ausdruck lebensreformerischer Vorstellungen. Da die Farbe in Dahlewitz zum eigentlichen Schmuck des Hauses wird, ja dessen Raumwirkungen mitbestimmt, konnte auf traditionelle Schmuckelemente verzichtet werden. Vorhänge forderte Taut ebenso zu verbannen wie Zimmerblumen, Tischdecken oder Teppiche.

Das Wohnhaus in Dahlewitz kann als Musterbeispiel farbigen Bauens gelten, einer Idee, die Taut zeit seines Lebens beschäftigte und vielleicht mit seiner Doppelbegabung als Maler und Architekt zu erklären ist. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg legte der Architekt die gedeckte Palette des deutschen Impressionismus ab und entdeckte die reinen Farben, die an den Fassaden von Berliner und Magdeburger Siedlungsbauten fortan exzessive Verwendung fanden. Als «Kolonie Tuschkasten» wurde die seit 1913 entstehende Gartenstadt Falkenberg in Berlin-Grünau verspottet. Als es des Krieges wegen nichts mehr zu bauen gab, entlud sich der nimmermüde Schaffensdrang des Architekten in einer Reihe utopisch-expressionistischer Entwürfe - in kristallinen, farbenprächtigen Architekturvisionen.

In die architektonische Praxis liessen sich Tauts Utopien allerdings nur schwer übertragen. Als Stadtbaurat in Magdeburg (1921-23) hatte er sich mit der bunten Bemalung historischer Bausubstanz zu begnügen. Immerhin vermag man in Dahlewitz einige Reflexe der vorangehenden expressionistischen Periode auszumachen - ob es sich dabei um die spitzwinklige Baugestalt handelt, die bei Näherung an Dynamik gewinnt, oder um die ausgiebige Verwendung von Glasbausteinen an Nordfassade und Balkonverdachung. Wenn der Mond durch das Glasdach scheine, sei das fast ein Stück Romantik, die auf modernem Industriegeist beruhe, liest man in Tauts Beschreibung.

Von den sich zunehmend dogmatisch gebenden Vertretern des Neuen Bauens grenzte er sich ab, nicht zuletzt mit seinen farbenfreudigen Berliner Siedlungsbauten. Wie heisst es doch in «Ein Wohnhaus»: «Das Ableiern einer „modernen“ Formensprache ist im Grunde ebenso veraltet und rückständig wie jeder frühere Stilkanon.

NZZ-Folio, Do., 1997.05.15



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Haus in Dahlewitz

15. Mai 1997Hubertus Adam
NZZ-Folio

Wohnmauer über dem Tyne

Überbauung Byker, Newcastle upon Tyne, England
1968-75

Von den Tyne-Brücken im Zentrum Newcastles aus schweift der Blick Richtung Osten. In einiger...

Überbauung Byker, Newcastle upon Tyne, England
1968-75

Von den Tyne-Brücken im Zentrum Newcastles aus schweift der Blick Richtung Osten. In einiger...

Überbauung Byker, Newcastle upon Tyne, England
1968-75

Von den Tyne-Brücken im Zentrum Newcastles aus schweift der Blick Richtung Osten. In einiger Entfernung fällt auf einem Hügel oberhalb des Flusses ein markantes winkelförmiges Gebäude ins Auge: das Altenwohnheim Tom Collins House am Westende von Byker. Der Stadtteil entstand in seiner heutigen Form zwischen 1968 und 1981, und zwar nach Plänen des 1914 in England geborenen Architekten Ralph Erskine.

Wenige Minuten nur dauert die Fahrt mit der Metro in die Siedlung für 7850 Menschen, die als Musterbeispiel partizipatorischen Bauens gilt. Von der Metrostation her kommend, sieht sich der Besucher zunächst mit einer gewaltigen, nahezu eineinhalb Kilometer langen Wohnmauer konfrontiert, der «Byker Wall», die das Areal nach Norden gegen Wind und Verkehrslärm abschirmt.

Mit bis zu neun Geschossen ragt die ondulierend geführte Häuserschlange auf und folgt dem nach Südwesten hin abfallenden Gelände. Bastionsartige Vorbauten lassen den Eindruck einer bewohnten Stadtmauer von archaischer Wucht entstehen, ein Eindruck, der durch die spärlichen Fensteröffnungen verstärkt wird: nur Küchen, Badezimmer und Abstellkammern befinden sich auf der unbelichteten Nordseite. Rhythmisiert wird die schier endlose Hauszeile durch die leuchtend gelben und roten Klimakästen neben den Fenstern, durch die in erdigen Tönen gehaltene Backsteinverblendung sowie durch die hellblauen Aufsätze der Liftschächte.

Tritt man durch einen der schmalen Durchgänge in das Innere der Siedlung, weicht die hermetische Kompaktheit des Äusseren der Offenheit der Südfassade: mit bunten Holzlatten verkleidete und von transparenten Wellplasticdächern überdeckte Balkone, Kanzeln und Erschliessungsgänge sind der weissgestrichenen Wandzone vorgelagert und verleihen dem Ensemble einen Akzent des Provisorischen. Von dort eröffnet sich ein grandioser Panoramablick über die Stadt mit ihren Tyne-Brücken.

1968 hatte der in Schweden lebende Ralph Erskine von der Stadtverwaltung den Auftrag erhalten, das marode Stadtviertel Byker zu restrukturieren. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Siedlung für Werft- und Minenarbeiter angelegt, galt Byker wegen des geringen Wohnstandards, der hohen Bevölkerungsdichte und Kriminalität als ein dringend erneuerungsbedürftiger Teil der vom wirtschaftlichen Strukturwandel ohnehin stark betroffenen Grossstadt. In einer Umfrage sprachen sich 80 Prozent der Bevölkerung Bykers dagegen aus, die monotonen Reihen der vorhandenen Backsteinhäuser zu sanieren, und plädierten für den Abbruch der verkommenen Siedlung.

Erhalten blieben lediglich die vormaligen Bauten der Gemeinschaft: Pubs, Kirchen und ein Schwimmbad. Als Traditionsinseln und identitätsstiftende Orte integrierte Erskine diese Gebäude in die neue Siedlungsstruktur: an der Nordostecke des Areals, im Quartier Grace Lee, verminderte er die Byker Wall auf drei Stockwerke, um Schiff und Turm der Kirche bei einem Blick von aussen - wie in einer mittelalterlichen Stadt - in Erscheinung treten zu lassen.

Erskine erarbeitete ein Siedlungskonzept, das es erlaubte, auf einen unverzüglichen Totalabbruch zu verzichten. Die Notwendigkeit temporärer Unterbringung entfiel damit; sukzessive siedelten die Bewohner in die neuen Viertel um und räumten ihre angestammten Quartiere, die anschliessend ebenfalls neu bebaut wurden. Der propagierte Slogan «Byker for Byker people» liess sich trotzdem nur ansatzweise realisieren. Gemäss einer Analyse von 1978 setzte sich die Bevölkerung des Neubaugebietes nur ungefähr zur Hälfte aus Bewohnern des alten Byker zusammen.

Das in Byker praktizierte Prinzip einer schrittweisen Stadterneuerung ermöglichte es, die Bewohner am Planungsprozess zu beteiligen. Erskine, dessen Hauptbüro sich weiterhin im schwedischen Drottningholm befand, installierte in Byker eine Dépendance, die als Anlaufstelle für Fragen und Klagen diente. Den zukünftigen Bewohnern wurde weitgehendes Mitspracherecht eingeräumt: Gebäudekonfiguration, Grundrisse, Farb- und Materialwahl erfolgten in Abstimmung mit den Nutzern. Um Einsicht in die Probleme und Bedürfnisse zu gewinnen, wohnten einige Mitarbeiter des Erskine-Büros zeitweilig in Byker.

Während in Byker Wall - dem architektonisch interessantesten Teil des Ensembles - etwa 20 Prozent der Bevölkerung des Quartiers Unterbringung gefunden haben, leben die übrigen Bewohner in dem westlich anschliessenden, kleinteilig mit vorwiegend zweigeschossigen Häusern bebauten Areal. Es zerfällt in einzelne der Geländemodellierung folgende Baugebiete, die sich in verschachtelte Strukturen gliedern; der intime Charakter soll Nachbarschaftskontrolle ermöglichen und dem Vandalismus entgegenwirken.

Auf Wunsch der Bewohner wurde der Autoverkehr aus Byker verbannt, ein System aus Fussgängerwegen, Pfaden und schmalen, fast privat anmutenden Durchlässen erschliesst die ruhige, üppig begrünte Siedlung, die mit ihren bunten Häusern und dem ephemeren Charme der Holzverkleidungen wie eine Mischung aus skandinavischem Vorort und englischem Gartenstadtkonzept wirkt. Auch Byker offenbart die strikte Funktionstrennung der Moderne und stellt sich primär als Schlafsiedlung dar, in der sich tagsüber Rentner, Kinder und Erwerbslose aufhalten. Trotz anfänglichen Versuchen ist es kaum gelungen, Geschäfte in Byker anzusiedeln. Selbst eine vergleichsweise hohe Identifikation der Bewohner mit ihrem architektonischen Umfeld vermag vor sinnloser Verwüstung nicht zu bewahren, wie einzelne hinter Stacheldraht verborgene Gebäude beweisen.

NZZ-Folio, Do., 1997.05.15



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Byker Wall

15. Mai 1997Hubertus Adam
NZZ-Folio

Betonstruktur und Glashaut

Pioniertat des Stahlbetonbaus: die Kirche Notre-Dame du Raincy, von den Gebrüdern Perret in den zwanziger Jahren gebaut.

Pioniertat des Stahlbetonbaus: die Kirche Notre-Dame du Raincy, von den Gebrüdern Perret in den zwanziger Jahren gebaut.

Längst ist der kleine, ungefähr vierzehn Kilometer östlich des Pariser Stadtzentrums gelegene Ort Le Raincy in der wuchernden Zone der Banlieue aufgegangen. Wer hier nicht wohnt oder geschäftlich zu tun hat, wird den Vorortzug kaum verlassen. Niedrige Häuser säumen die hangaufwärts gerade nach Norden führende Hauptstrasse und verleihen dem unspektakulären Ambiente den Charakter vorstädtischer Beschaulichkeit. Als Blickfang der Strasse ragt auf der Anhöhe ein turmartiges graues Gebilde auf. Bündel von röhrenartigen Rundpfeilern umfassen den sich nach oben hin abgestuft verjüngenden und in ein Kreuz mündenden Turm der Kirche Notre-Dame du Raincy.

Der Bauherr der Kirche, Abbé Nègre, war experimentierfreudig und Neuerungen gegenüber aufgeschlossen. Er wusste genau, wem er den Auftrag gab, für die vergleichsweise bescheidene Summe von 600 000 Francs ein Gotteshaus zu errichten, das zugleich dem Gedenken an die Gefallenen der Marne-Schlacht von 1915 dienen sollte. Über Bekannte hatte er von den Gebrüdern Perret erfahren, die sowohl als Architekten wie auch als Bauunternehmer fungierten und sich seit Anbeginn ihrer Karriere Stahlbetonkonstruktionen verschrieben hatten.

Die beiden Perret-Brüder kamen 1874 beziehungsweise 1876 in Brüssel auf die Welt, und zwar als Söhne eines nach der Niederschlagung der Pariser Commune nach Belgien geflohenen Bauunternehmers. Sie studierten an der Ecole des Beaux-Arts in Paris, verliessen die Schule aber noch vor dem Diplom und wechselten in die architektonische Praxis. Ihre Aufmerksamkeit galt vor allem der ingenieurtechnischen Entwicklung, die gerade in Frankreich entscheidend dazu beitrug, dass sich die Architektur aus den historistischen Fesseln des 19. Jahrhunderts befreien konnte. Baltards Pariser Hallen, der Turm, den Eiffel für die Weltausstellung entworfen hatte, und schliesslich Freyssinets Luftschiffhallen in Orly überragten hinsichtlich ihrer Modernität die Baukunst ihrer Zeit.

Die theoretisch von den Schriften Viollet-le-Ducs und Auguste Choisys inspirierte Suche der Perrets nach Offenlegung konstruktiver Zusammenhänge zeigte sich schon am Casino von Saint-Malo, das die Brüder 1899 erbauten. Auguste war für den Entwurf verantwortlich, sein Bruder Gustave für den unternehmerischen Bereich. Blieb die Verwendung des neuen Baumaterials Stahlbeton hier auf einen Aussenteil des Gebäudes beschränkt und zudem unsichtbar, so geriet das nur vier Jahre später entstandene Wohnhaus an der Rue Franklin zum Fanal der neuen Konstruktionsweise: Die auch an der Fassade ablesbare Stahlbetonkonstruktion erlaubte dank der Minimierung der Wandflächen eine exzellente Belichtung der Innenräume des eine schmale Parzelle ausfüllenden Hauses.

Die bei Dockanlagen in Casablanca (1915) und bei dem Pariser Konfektionshaus Esders (1919) gewonnene Erfahrung mit der Überwölbung sehr grosser Raumweiten kam Auguste Perret in Le Raincy zugute. Wie Freyssinet in Orly bewiesen hatte, wäre es gewiss technisch möglich gewesen, einen etwa 20×55 Meter messenden Raum stützenfrei mit Stahlbeton zu überwölben. Doch Perret nahm Abstand von einer reinen Ingenieurlösung und schuf eine Synthese aus architektonischer Tradition und bautechnischer Neuerung. Für den Stahlbeton sprachen vorderhand ökonomische Kriterien: Standardbauelemente konnten seriell gefertigt werden, Verschalungen liessen sich mehrfach einsetzen, so dass die Bauzeit sich auf dreizehn Monate reduzierte.

Der Grundriss mit zentraler Apsis und Eingangsturm beweist, dass die völlig aus Stahlbeton errichtete Kirche Notre-Dame in Le Raincy die abendländische Tradition der Sakralbaukunst fortschreibt, sie jedoch in einer neuen, materialgerechten Sprache formuliert und artikuliert. Das betrifft zunächst die Entscheidung, das Prinzip der Dreischiffigkeit aufzugreifen. Dabei besitzen die Joche der Seitenschiffe die halbe Breite des Mittelschiffs - ein seit der Romanik geläufiges Proportionsverhältnis. Mehrschiffigkeit aber musste bedeuten, auch auf das System von Stütze und Last, von Säule und Gewölbe zurückzugreifen. Des Einsatzes von Stahlbeton wegen konnte der Architekt schlanke Rundstützen ohne Kapitell und Basis verwenden. Mit den Kannelüren tilgte man die unsauberen Abdrücke der Schalungen; es mag sich darin aber auch jene klassizierende Tendenz offenbaren, die Perrets ‘uvre zeit seines Lebens grundierte.

Auf den Stützen ruhen die flachen Gewölbe der Seitenschiffe, welche in der Dachzone ausgesteift wurden und quer zur Längsachse der Kirche ausgerichtet sind, um den Tiefenzug des durchgehenden Hauptgewölbes subtil zu rhythmisieren. Dieses selbst setzt niveaugleich mit der Scheitelhöhe der Seitenschiffgewölbe an, was eine leichte Erhöhung des Raumes bewirkt und das Mittelschiff zusätzlich auszeichnet. Indem Perret den Fussboden vom Eingang her Richtung Chorraum nach Art eines Auditoriums absenkte, orientierte er die Gemeinde auf den Altar als liturgisches Zentrum.

Die entscheidende Neuerung Perrets in Le Raincy bestand darin, Wand und Tragstruktur zu trennen. Während die Pfeiler bei der gotischen Kathedrale in die Wand integriert sind und aus dieser lediglich partiell hervortreten, stehen die äusseren Rundpfeiler in Perrets Bau vor der Wand. Die konstruktiven Elemente sind somit optisch von der Raumhülle abgesetzt.

Damit eröffnete sich die Möglichkeit, die endgültig von ihrer statischen Funktion entlastete Wandschicht frei zu gestalten; in Le Raincy arbeitete Perret mit einem Raster vorfabrizierter verglaster Betonelemente von 60×60 cm. Durch eingelassene Kreise, Kreuze sowie horizontale und vertikale Balken gelang eine einfache Differenzierung, die eine auch am Aussenbau wirksame dekorative Gestaltung von textil anmutender Qualität entstehen liess.

Durch die ornamentale Verwendung der Formelemente ergeben sich Kreuzformen, in deren Mitte sich jeweils ein Bildfeld befindet. Maurice Denis entwarf die Bildszenen des Marienlebens, er war aber auch für die Farbgestaltung der ungegenständlichen Fensterflächen verantwortlich. Bleiben die Betonteile der Fassaden beim Blick von aussen bestimmend, so lösen sich die Wandpartien oberhalb des Sockels im Inneren, das zum Altar hin leicht abfällt, vollends in Licht auf. Perrets Bau von 1922/23 avanciert zu einem Reflex des 20. Jahrhunderts auf die Lichtvisionen Abbé Sugers, welche sich in Saint-Denis materialisierten und damit die Epoche der Gotik einleiteten.

Wie Saint-Denis hat auch Le Raincy seine Bewunderer gefunden - und seine zahlreichen Nachfolgebauten; man denke an Karl Mosers St. Antonius in Basel oder an Egon Eiermanns Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin.

NZZ-Folio, Do., 1997.05.15



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Notre-Dame du Raincy

Profil

Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Archäologie in Heidelberg. 1997/98 war er Redakteur der Zeitschrift Bauwelt in Berlin, seit 1998 ist er Redakteur der Zeitschrift archithese in Zürich. Daneben ist er als freier Architekturkritiker tätig, vor allem für die Neue Zürcher Zeitung. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge und Buchpublikationen zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts und zur Architektur der Gegenwart. Hubertus Adam lebt und arbeitet in Zürich.

Auszeichnungen

2004 Swiss Art Award für den Sektor Kunst- und Architekturkritik

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