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05. Mai 2017Klaus Englert
TEC21

Passage zur Stadtoase

Öffentlich zugängliche Innenhöfe sind in Barcelona nicht üblich. Im Stadtteil Eixample haben RCR Arquitectes 2007 einen solchen Hof geöffnet, mit neuen Nutzungen belebt und zu einem idyllischen Lebensmittelpunkt im Quartier aufgewertet.

Öffentlich zugängliche Innenhöfe sind in Barcelona nicht üblich. Im Stadtteil Eixample haben RCR Arquitectes 2007 einen solchen Hof geöffnet, mit neuen Nutzungen belebt und zu einem idyllischen Lebensmittelpunkt im Quartier aufgewertet.

Das 2007 fertiggestellte Ensemble von Joan-Oliver-Bibliothek, Seniorenzentrum und Cándida-Pérez-Garten liegt an der Carrer del Comte Borrell im dichten Viertel Sant Antoni in Barcelona. Es zählt zu den gelungensten Eingriffen in die historische Stadterweiterung, die der katalanische Ingenieur Ildefons Cerdà nach dem Niederreissen der Stadtmauer 1854 in einem regelmässigen, streng quadratischen Blockrandraster angelegt hatte.

RCR Arquitectes orientierten sich an Cerdàs ursprünglicher Absicht, die Innenhöfe der Wohnblöcke nicht für gewerbliche Zwecke, sondern für öffentliche Anlagen und Einrichtungen zu nutzen. Nachdem die Fabrik, die früher im Hof gestanden war, abgebrochen worden war, erstellten die Architekten ein Nutzungs­programm, das sich vornehmlich an den Bedürfnissen der Anwohnerinnen und Anwohner orientierte. Das Raumprogramm umfasst nicht nur die Joan-Oliver-Bibliothek – eine von Barcelonas insgesamt 40 Stadtteilbibliotheken –, sondern auch ein Seniorenzentrum und einen Garten samt Kinderspielplatz.

Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta gelang es, die unterschiedlichen Nutzungen zu einem harmonischen Gefüge zu ordnen und den Eindruck zu erwecken, das Ensemble, aus dessen Mitte ein Industrieschlot als Relikt der industriellen Vergangenheit ragt, sei immer schon hier gewesen. Eine neu geschaffene Passage verbindet die Strasse mit den Lesesälen der Bibliothek und dem Innenhof. Wer sie durchschreitet, taucht überrascht in eine lebendige, von Wohnbauten gefasste Oase ein.

Das sowohl zur Strasse als auch zum Hof orien­tierte Torgebäude, das die Bibliothek beherbergt, ist ­ als Stahlgerippe konstruiert. Hinter der verglasten ­Strassenfront sind die Lesesäle sichtbar. Die drei Obergeschosse bilden zueinander versetzte Ebenen. Nahezu eingerahmt von Lesesälen und Galerien entstand ein offen gestaltetes Auditorium. Über diesem bühnenarti­gen Raum befindet sich ein weiterer Lesesaal. Die Mate­rialisierung verstärkt das kontrastreiche Raumkonzept: Hinter dem verglasten Stahlgerippe der Fassade steht der Bibliothekskorpus, dessen Treppe von einer massiven, stählernen Brüstung flankiert ist. Es scheint, als habe die herbe, spröde Ästhetik der vulkanischen Landschaft der Garrotxa die Architekten inspiriert.

Hinter dem Bibliotheksquader, direkt daran anschliessend, erstrecken sich die eingeschossigen Gebäude mit dem Seniorenzentrum. Sie öffnen sich zu einem Karree und umschliessen dabei einen kleinen, schattigen Park, in dem Kinder spielen. Äusserlich verbunden wird die Stahl-Glas-Konstruktion von Bibliothek und Seniorenzentrum durch eigens konstruierte Stahllamellen, die als Sonnenschutz, Raumteiler, Geräusch- und Intimitätspuffer zwischen innen und ­aus­sen funktionieren.

Das friedliche Neben- und Ineinander von ­Bi­bliothek, Seniorenzentrum, Park und Spielplatz ge­neriert im Innenhof eine heile Welt im Kleinen: Alte und Kinder, Besucher und Anwohner kommen zusammen, teilen ein gemeinsames Areal und wechseln wohlwollende Blicke. Wie auch die Pritzker-Jury hervorhebt, ist das Ensemble ein herausragendes Beispiel für den dialogischen Charakter, der viele Projekte von RCR Arquitectes auszeichnet.

TEC21, Fr., 2017.05.05



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TEC21 2017|18 RCR Arquitectes – ausgewählte Bauten

28. August 2015Klaus Englert
TEC21

Holländischer Hybrid

Rotterdam befindet sich im Umbruch. Im Herbst 2014 wurde das neueste städtische Wahrzeichen eröffnet – eine einzigartige Markthalle, konzipiert von den Koolhaas-Schülern Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries (MVRDV).

Rotterdam befindet sich im Umbruch. Im Herbst 2014 wurde das neueste städtische Wahrzeichen eröffnet – eine einzigartige Markthalle, konzipiert von den Koolhaas-Schülern Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries (MVRDV).

Rotterdam ist eine Handelsstadt. Zweimal in der Woche verwandelt sich der der Platz über der ehemaligen Binnenrotte am drittgrössten Seehafen der Welt zu einem riesigen Freiluftmarkt. Anbieter aus allen Landesteilen präsentieren an mehr als 400 Ständen ihre Waren. Der Markt im Stadtzentrum, zwischen BlaakBoulevard und SintLaurenskerk, bietet einen unüberschaubaren Reichtum an Fischen und exotischen Früchten, die Palette reicht vom einheimischen Käse bis zur religiös korrekten Kleidung für die muslimische Frau. Der Rotterdamer Bevölkerung war das nicht genug. 2004 schrieb die Stadtverwaltung einen Investorenwettbewerb für einen Überbauung im Laurensviertel aus, das bislang durch ein Übermass an Büros und Läden geprägt war. Das Ziel: innere Verdichtung und die Verbesserung der Lebensqualität im Quartier. Die Ausschreibungsbedingungen sahen deswegen neben Wohnungen auch einen Markt vor, als Ergänzung zum bestehenden. Neue EUVorschriften verlangten aus hygienischen Gründen allerdings eine überdachte Variante.

Markthalle – neu interpretiert

Das Team von MVRDV, das gemeinsam mit dem Investor Provast den Wettbewerb gewann, nahm den Anspruch wörtlich und setzte auf ein Hybridgebäude, das wesentlich dazu beitragen soll, das Viertel zu beleben. So errichteten die Rotterdamer an der Seite des Wochenmarkts auf dem sumpfigen Grund der Binnenrotte eine Markthalle, die sich zwar an die grossen Vorbilder in Barcelona und Valencia anlehnt, dabei aber eine völlig neue Typologie schuf. MVRDV orientierte sich nicht an den spanischen EisenGlasKonstruktionen, sondern wählte ein riesiges Tonnengewölbe mit einer Länge von 120 m, einer Höhe von 40 m und einer Breite von 70 m. Ausserdem waren vier Tiefgeschosse vorgesehen, was einen Aushub von 15 m erforderlich machte.

Da die Markthalle dort errichtet werden sollte, wo einst der Damm durch die Rotte verlief, war der Boden nass und instabil, der Grundwasserspiegel lag bei 3 m unter dem Strassenniveau. Es galt also, die Baugrube durch Spundwände und ein Fundament aus 2500 Betonpfählen zu stabilisieren. Es folgte ein Stahlbetonrahmen, der die Baugrube zusätzlich bis auf 8 m sicherte und als Tragwerk des 1. Untergeschosses diente. Derartige Tiefbauarbeiten, eine Spezialität niederländischer Ingenieurtechnik, sind schwierig zu bewerkstelligen, da der auf Spundwände und Stahlbetongerüst wirkende Druck durch Flutung der Baugrube ausgeglichen werden muss. Deshalb führten Spezialisten die weiteren Aushubarbeiten und die folgende Stahlbewehrung unter Wasser durch, in einem grossen künstlichen See. Mittels schwimmender Kräne wurde die Baugrube weiter ausgehoben, der Einsatz von GPS Technologie sollte verhindern, dass das bereits bestehende Betontragwerk beschädigt wurde. Taucher verlegten die Bewehrung für die 1.5 m dicke Bodenplatte. In einem 72StundenEinsatz wurde sie ebenfalls un ter Wasser gegossen. Nach Auspumpen der Baugrube erwies sich die Platte, die eine Last von 12?000 kg/m² tragen muss, als wasserdicht. Es folgte die Errichtung der vier Untergeschosse. So entstand peu à peu die Markthalle der Superlative. Aussergewöhnlich ist die überdimensionale transparente Glaswand an den Stirnseiten des Baus.

Es handelt sich um eine Seilnetzfassade, bestehend aus einem Raster vorgespannter, 9 bis 15 cm dicker Stahlseile, zwischen die die jeweiligen Glasscheiben geklemmt wurden. Vergleichbar mit einem Tennisschläger bilden die Seiten der Fassadenöffnung einen steifen Rahmen, während die Fassade selber beweglich ist und auch schweren Stürmen standhält. Sie kann bis zu 70 cm nach innen gedrückt werden, dabei dehnen sich die Seile um bis zu 4 cm.

Kurz bevor die Markthalle im Herbst 2014 eröffnete, erhielt das Gewölbe den letzten Schliff. Neben dem Detailhandel auf der ersten Ebene überspannt es 96 Marktstände, die alles anbieten – von der rheinischen Currywurst bis zu arabischen Gewürzen, vom holländischen Käse bis zum türkischen Baklava. Einige der Stände sind für temporäre Nutzungen reserviert. Auf 4500 perforierten Aluminiumpaneelen, 2 mm dick und 152?×?152 cm gross, haben die Rotterdamer Künstler Arno Coenen und Iris Roskam ein computergeneriertes Riesengemälde aufgetragen, das bereits auf dem Vorplatz die Blicke der Passanten auf sich zieht. Das 11?000 m² grosse, nachts erleuchtete Pixelbild «Füllhorn», das an Motive niederländischer Barockstillleben erinnert, lässt über den Köpfen der Marktbesucher allerlei Früchte und Gemüse in kräftigen Farben herabregnen.

Keine Luxusinsel

Die Grossform der Markthalle mutet zwar wie ein überdimensionaler Fremdkörper im Rotterdamer Stadtbild an, doch verrät die langjährige Beschäftigung der Architekten mit dem öffentlichen Raum, dass sie sich für eine technisch innovative, an Nachhaltigkeitskriterien orientierte Architektur begeistern, die den Stadtraum bereichert. Daraus entwickelten sie ihre Vorliebe fürs Hybridgebäude. Die MVRDVLosung «Eine Stadt in der Stadt errichten» zielt nicht auf einen massiven Turmkomplex, wie ihn Rem Koolhaas an der Maas hochgezogen hat («De Rotterdam» von 2013). Vielmehr steckte das Rotterdamer Trio Maas, van Rijs und de Vries 228 Wohnungen mit unterschiedlichen Grundrissen zwischen dem dritten und elften Geschoss in die Flügel des Tonnengewölbes. Die über dem Detailhandel in den ersten beiden Ebenen gelegenen 102 Miet und 126 Eigentumswohnungen, 80 bis 300 m² gross, verfügen alle über eine Terrasse, die sich über die gesamte Länge der Wohnung erstreckt. In der Angebotspalette finden sich Lofts und Maisonettewohnungen; die Hälfte gestatten – hinter dreifach verglasten Scheiben – den Blick aufs quirlige Treiben des Markts. Allerdings sind die oberen Penthousewohnungen, die den Bogen schliessen, stark abgeschrägt, da ansonsten der Tageslichteinfall nicht ausreichend gewesen wäre.

Mehr als nur Architektur

Den Rotterdamer Architekten ist es gelungen, eine Stadt im Kleinen zu errichten – mit Marktständen, unterirdischen Parkgeschossen, einer kleinen, von Kossmann.dejong gestalteten archäologischen Dauerausstellung, Supermarkt, Detailhandel sowie Miet und Eigentumswohnungen. Alles unter einem Dach. Das Resultat – die Architekten nennen es «24StundenGebäude» – ist ein kleines holländisches Wunder, das dereinst auch Kulturveranstaltungen einschliessen soll. Schon jetzt ist der Bau aus Rotterdam nicht mehr wegzudenken

TEC21, Fr., 2015.08.28



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Markthal Rotterdam



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TEC21 2015|35 Handel im Wandel

14. Dezember 2014Klaus Englert
TEC21

Eiskalte Linie und Feuerpunkt

Das Steilneset-Mahnmal des Architekten Peter Zumthor und der Künstlerin Louise Bourgeois im norwegischen Vardø erinnert an die Hexenprozesse in der Finnmark. Die Installation im Gedenken an die Vergangenheit soll auch helfen, die Zukunft der Stadt zu sichern.

Das Steilneset-Mahnmal des Architekten Peter Zumthor und der Künstlerin Louise Bourgeois im norwegischen Vardø erinnert an die Hexenprozesse in der Finnmark. Die Installation im Gedenken an die Vergangenheit soll auch helfen, die Zukunft der Stadt zu sichern.

Siri Knudsdatter wurde am 11. Januar 1621 im nordnorwegischen Vardø der Hexerei angeklagt. Die Gerichtsakten verzeichnen, die Beschuldigte «habe Leute verzaubert, die dann krank wurden und starben». Da die Frau leugnete, musste sie sich der Wasserprobe stellen: An Händen und Füssen gefesselt wurde sie in die eiskalten Fluten der Barentssee geworfen. Die Akten vermerken: «Wurde der Wasserprobe unterzogen und schwamm wie ein Korken.» Die Wasserprobe zögerte ihren Tod lediglich hinaus – wäre Siri Knudsdatter untergegangen, hätte der Richter das als Zeichen ihrer Unschuld gewertet. Dass die Angeklagte obenauf schwamm, sah er als Beweis ihrer Schuld an: Das reine Element des Wassers habe den vom Teufel besessenen Körper nicht aufnehmen wollen. So wurde sie öffentlich verbrannt. Zwölf weitere Frauen mussten sich im Lauf des Jahres der Wasserprobe unterziehen. Auch sie gingen nicht unter. Auch sie ereilte der Tod auf dem Scheiterhaufen.

Fatale Willfährigkeit

Die an der Universität Tromsø lehrende Historikerin Liv Helene Willumsen erforscht seit Jahren die Hexenprozesse in der Finnmark des 17. Jahrhunderts, einer Region von der Grösse der Schweiz. Wie Willumsen herausfand, war die Hinrichtungsserie von 1621 darauf zurückzuführen, dass John Cunningham, der kurz zuvor zum Festungskommandanten von Vardøhus berufen wurde, unnachgiebige Strenge und moralische Integrität gegenüber dem dänischen König beweisen wollte. Cunningham war zuständig für den Verwaltungsbezirk Finnmark, wo lediglich 0.8 % der norwegischen Bevölkerung lebten, aber 31 % von Norwegens Hexenprozessen stattfanden.[1] Allein in Vardø, einem kleinen Dorf mit damals kaum mehr als 300 Einwohnern, wurden ­zwischen 1601 und 1692 91 Personen wegen Hexerei hingerichtet. Die Historikerin fand heraus, dass die Festungskommandanten, die die Macht in Vardø innehatten und lediglich dem König in Kopenhagen unterstellt waren, vornehmlich die weibliche Bevölkerung im Visier hatten: Neben 14 Männern wurden 77 Frauen der Hexerei beschuldigt und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Unter ihnen waren besonders die Zugezogenen der indigenen Sámi-Bevölkerung der Kommandantenwillkür ausgeliefert.

Ansichten der Stille

Willumsen brachte ihr Wissen in ein aussergewöhn­liches Projekt ein: Sie beriet den Architekten Peter ­Zumthor und die Künstlerin Louise Bourgeois, die beide am nordöstlichen Ende der 2100 km langen Norwegischen Landschaftsrouten[2], dort, wo der Varanger-Fjord an russisches Territorium grenzt, eine imposante Installation errichteten. Im Rahmen ihres «Detour»-Programms möchte die norwegische Strassenverwaltung, die Attraktivität bestimmter Standorte entlang der Landschaftsrouten erhöhen.

Deswegen engagierte sie bislang rund fünfzig Architekten, Landschafts­architekten, Designer und Künstler, möglichst ori­ginelle Beiträge für die norwegische Küstenlandschaft zu liefern. Die Projekte sollen Provinzorte zu Aus­flugszielen aufwerten. Bislang kamen bis auf wenige Ausnahmen junge norwegische Büros zum Zug. Für den nördlichsten Punkt der Route in Vardø wollte man aber zwei international bekannte Grössen einladen. Die Wahl fiel auf den Architekten Peter Zumthor und die hochbetagte französisch-amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois. Sie realisierten ein künstlerisch gestaltetes Denkmal am Steilneset, dem Hinrichtungsplatz aus dem 17. Jahrhundert, zum Gedenken an die hier Verstorbenen.

Mythischer Ort

Dabei ist nicht nur ein Mahnmal entstanden, das schlicht und würdevoll der Opfer gedenkt. Anders als Tausende anderer Denkmäler im städtischen Raum ist Zumthors und Bourgeois’ Mahnmal ein Stück Land-Art, das sich wie selbstverständlich in die ­atemberaubende Naturkulisse einfügt – als sei es mit diesem Ort verwachsen. Zugleich ist ein Gedenkort voller künstlerischer Kraft entstanden. Es überrascht daher nicht, dass der im Juni 2011 eröffneten Gedenkstätte zwei ­Jahre später der North Norwegian Architecture Prize zuerkannt wurde.

Nachdem Bourgeois und Zumthor 2006 mit dem Bau beauftragt worden waren, einigten sie sich auf eine archaische Formensprache. «Zumthor und ich haben Erde, Wasser, Feuer und Licht genutzt, um Ansichten der Stille zu schaffen», sagte Bourgeois wenig später.[3] Zumthor, der damals mit der zum Himmel geöffneten Bruder-Klaus-Kapelle auf den Feldern des Eifeldorfs Mechernich-Wachendorf beschäftigt war, setzte sich in der norwegischen Arktis ebenfalls intensiv mit der Umgebung auseinander. Eine kleine Kapelle mit einem umfriedeten Gottesacker findet sich auch in Vardø. Wer an diesem besinnlichen Ort vorbeikommt, sieht vor sich das Mahnmal wie eine riesige, fragile Holzskulptur auftauchen, dahinter die Meerenge der Barentssee und am Horizont den Domen, den Hexenberg. Unweit von Steilneset ragt die Vardøhus-Festung aus dem frühen 18. Jahrhundert empor, Norwegens als uneinnehmbar geltendes Bollwerk gegen das russische Reich.

Ein Licht für jedes Opfer

Die 120 m lange begehbare Holzkonstruktion des im Juni 2011 fertiggestellten Denkmals erinnert an die Trockenfischanlagen, die heute in den Aussenbezirken von Vardø ungenutzt vor sich hin rotten und weitgehend vergessen sind. Zumthor interessierte sich für diese Konstruktionsweise, die man auch im einzigem Hotel der Stadt auf zeitgenössischen Fotos entdecken kann. Der so entstandene, einfach anmutende Bau ist der ­Tradition der Finnmark-Fischer nachempfunden und trotzt mit minimalem Aufwand den heftigen Winden am Ufer der Barentssee.

Schräg nach aussen greifende Stützen, die jeweils mit einer einfachen Schraube mit den 60 Holzrahmen verbunden sind, stabilisieren die Konstruktion. Darin eingespannt ist der über dem Boden schwebende, schlauchförmige Ausstellungsgang. Er besteht aus einem mit Teflon beschichteten, innen schwarzen, aussen hellen Fiberglastextil, ein Element geht jeweils über drei Felder. Die Textilkonstruktion wurde vorgefertigt, die 17 Einzelteile sowie das Anfangs- und Endstück wurden auf der Baustelle zusammengefügt. Textil und Befestigung erinnern an Segeltuch und Verankerungen aus dem Schiffsbau. Zwei Rampen führen ins Innere.

Zumthor war es wichtig, dass die Passage bei Wind und Wetter, bei Tag und Nacht betretbar ist. Wer den endlos anmutenden, nur rund 1.50 m breiten Gang entlanggeht, vorbei an 91 Tafeln aus schwarzer Seide, fühlt sich niemals allein: Wind und Meeresrauschen sind ständige Begleiter. Kurze biografische Texte künden in weisser Schrift von den Prozessakten, die Inschriften stammen von der Historikerin Willumsen.

Entlang der schwarzen Wände fügte Zumthor 91 in der Höhe variierende Gucklöcher ein, schmale, in das Textil gespannte Metallvitrinen, beleuchtet von 91 Glühbirnen – eine Öffnung für jedes Opfer. Sie geben den Blick auf Dorf und Meer frei und verweisen auf die nordische Tradition, ein Licht im Wohnzimmerfenster aufzustellen, um den dunklen Nächten zu trotzen. Die sinnliche Raumgestaltung, in der jedes Detail den konzisen Gesamtentwurf verrät, steht im Dienst der Opfer, derer das Mahnmal gedenken will.

Verstörende Inszenierung

Während Zumthors Denkmal zur meditativen Ver­senkung einlädt, liefert Bourgeois’ Installation «The Damned, the Possessed and the Beloved» ein starkes Bild zu den Hexenprozessen. Etwas landeinwärts errichtete Zumthor für die Installation einen kubischen, knapp 10 m auf 10 m grossen Pavillon aus 17 Scheiben aus getöntem Rauchglas. Nach dem aufwühlenden Gang durch die Ausstellung erwartet einen unverhofft der dramatische Höhepunkt: Zentrum des Pavillons ist ein stählerner Stuhl, durch dessen Sitzfläche fünf Stichflammen züngeln. Ein schmaler, konkaver Betonring umschliesst den Feuerstuhl, der Gedanke an die sprühenden Feuermassen bei einem Vulkanausbruch liegt nah. Auch theatralische Effekte kommen zum Einsatz: Sieben ovale, um den Stuhl herum befestigte Spiegel verzerren das Konterfei des Besuchers, erinnern an die schmerzverzerrten Gesichter der Opfer.

Die Opfer der Neuzeit

In Vardø gibt es niemanden, der über Steilneset, die Folterungen, die mittelalterliche Festung, die Menta­lität der Kommandanten und die lange Tradition der «Vardøhus Festning» mehr erzählen kann als Elisabeth Eikeland, Majorin der norwegischen Armee und erste weibliche Festungskommandantin nach 44 Vorgängern. So berichtet sie, dass die Festung 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde. Nachdem zwei Partisanen die norwegische Fahne gehisst hatten, ordnete Reichskommissar Josef Terboven, der eigens nach Vardø gereist war, die Erschiessung der beiden Norweger an. Vom Terror, den die Deutschen in Vardø anrichteten, ist auf den Fotos eines Wehrmachtssoldaten, die im kleinen Vardøhus-Museum ausgestellt sind, allerdings nichts zu sehen.

Den Menschen in Vardø ist diese Schreckenszeit weit entrückt. Lieber machen sie heute Werbung für das rund 10 Mio. Euro teure Steilneset Memorial. Anfangs mit wenig Erfolg – den Touristen der Hurtigruten-Kreuzfahrtschiffe, die für ganze zwei Stunden am ­Hafen anlegen, bleibt für eine Besichtigung keine Zeit. Aber das Mahnmal, das vor drei Jahren eröffnete, hat andere städtische Projekte gefördert. Beispielweise ist jetzt am Ende des Hafenbeckens das neue Rathaus fertiggestellt, dem auch ein Kulturzentrum angegliedert ist. Und seit zwei Jahren findet in Ultima Thule zudem jährlich das «Komafest» statt, das sich auch «Urban Art Festival Vardø» nennt und zu dem Künstler sogar aus Brasilien und den Vereinigten Staaten anreisen. Nach vielen Jahren des Niedergangs gibt es also Hoffnung, selbst im kleinen arktischen Vardø.


Anmerkungen:
[01] Liv Helene Willumsen, The Witchcraft Trials in Finnmark Northern Norway, Leikanger 2010
[02] Die Landschaftsrouten sollen die norwegische Natur erlebbar machen. Bis 2023 sollen 250 Rastplätze und Aussichtspunkte mit moderner Architektur und Kunst entlang von 18 Streckenabschnitten realisiert sein. www.nasjonaleturistveger.no/de
[03] Sebastian Frenzel, «Teufelswerk», in: Monopol – Zeitschrift für Kunst und Leben, 10.07.2011
[04] www.archdaily.com

TEC21, So., 2014.12.14



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TEC21 2014|50 In memoriam

30. März 2012Klaus Englert
TEC21

Seilwurf über den Kanal

Die auffallende Fussgängerbrücke mit dem Namen «Slinky springs to fame» über den Rhein-Herne-Kanal im deutschen Oberhausen ist Teil des Projektes «Emscherkunst.2010»: Ein farbiges Band, umwickelt mit einer Spirale, verbindet zwei Parks. Die Leichtigkeit des Entwurfs des Künstlers Tobias Rehberger ist der Konstruktion zu verdanken, die die Ingenieure von schlaich bergermann und partner gewählt haben: einer Spannbandbrücke.

Die auffallende Fussgängerbrücke mit dem Namen «Slinky springs to fame» über den Rhein-Herne-Kanal im deutschen Oberhausen ist Teil des Projektes «Emscherkunst.2010»: Ein farbiges Band, umwickelt mit einer Spirale, verbindet zwei Parks. Die Leichtigkeit des Entwurfs des Künstlers Tobias Rehberger ist der Konstruktion zu verdanken, die die Ingenieure von schlaich bergermann und partner gewählt haben: einer Spannbandbrücke.

Der Frankfurter Künstler Tobias Rehberger ist es gewohnt, durch künstlerische Eingriffe Innenräume zu gestalten. Er liebt es, mit farbigen Installationen und dynamischen Formen die Raumwirkung zu steigern. Dieses Grundprinzip behielt Rehberger bei, als er sich an der «Emscherkunst» beteiligte, die zu den Aktivitäten der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 gehörte. Sein ungewohnter Beitrag zur Kulturhauptstadt ist eine Fussgänger- und Fahrradbrücke, die seit Mai 2011 am Schloss Oberhausen den Rhein-Herne-Kanal überquert. Die nahe Schnellstrasse steigert die Attraktivität des Ortes allerdings nicht, an dem sich die Brücke vom beschaulichen Kaisergarten über den Kanal bis zum Volkspark auf der Emscherinsel erstreckt. Rehberger, Professor für Bildhauerei an der Frankfurter Städelschule, erzählt, wie es zu dem aussergewöhnlichen Auftrag gekommen ist: «Mit etwa dreissig Künstlern bin ich damals mit dem Bus, mit dem Rad und zu Fuss durch das Ruhrgebiet gestreift, um geeignete Orte für Projekte auszukundschaften. Irgendwann stand ich in der Nähe des Oberhausener Kaisergartens am Rhein-Herne-Kanal und sagte intuitiv zum Kurator Florian Matzner: ‹Hier müssen wir eine Brücke bauen.›»

«Weiche und schlabbrige» Fussgängerbrücke

Die Oberhausener Stadtverwaltung war offenbar von Rehbergers spontaner Eingebung so angetan, dass man ihm binnen kurzer Zeit den Auftrag erteilte. Rehbergers Vorstellung war, dass die Brücke sich wie eine Spirale über den Rhein-Herne-Kanal winden müsse. Dabei solle sie «schlabbrig und weich» aussehen. Hinzu kamen Randbedingungen, die es einzuhalten galt: ein behindertengerechtes Gefälle, ein Lichtraumprofil von 8 m über dem Kanal, Schonung des Baumbestandes und Landschaftsplanung. Bauherrin Martina Oldengott von der Emschergenossenschaft bezog Mike Schlaich vom Stuttgarter Bauingenieurbüro Schlaich, Bergermann und Partner früh in den Entwurfsprozess mit ein. Das Team legte relativ rasch den Grundriss (Abb. 1) und das Längsprofil der Brücke fest.

Ausführlicher war die Diskussion um die tragenden Komponenten. Sowohl die Spirale als auch das Band für den Gehweg hätten die tragende Funktion übernehmen können. Die Spirale hätte zusammen mit dem Gehweg als Untergurt und einem zusätzlich konstruierten Obergurt als Fachwerk ausgebildet werden können. Da diese Tragwerksvariante aber schwerer in Erscheinung getreten wäre als der Entwurf, entschied sich das Team, das farbige Band selbst zum Tragwerk auszubilden. Schlaich konstruierte eine leichte, dreifeldrige Spannbandbrücke, um die sich die nicht tragende Spirale wickelt. Rehberger erinnert sich: «Ich wollte ein Objekt entwerfen, das nicht nach Ingenieurskunst aussieht und das keineswegs statisch wirkt. Es ist Mike Schlaich zu verdanken, dass wir uns dieser Idee annähern konnten. Jedenfalls kann ich im Endprodukt meine Idee der Skulptur wiedererkennen.»

Geworfenes Seil und Schlangenlinien

Die dynamische Wirkung der Brücke, die sich wie ein geworfenes Seil über den Kanal spannt, rührt von den zwei Spannbändern her, die mit den 12 cm dicken und 2.67 m breiten Betonfertigteilen der Lauffläche verbunden sind (Abb. 3). Die Stahlbänder sind 66 m weit über den Rhein-Herne-Kanal gespannt, in den Uferbereichen auf 10 m hohe gespreizte V-Stützen gelegt und an ihren Enden über je zwei Zugstangen pro Spannband in den Widerlagern verankert (Abb. 5). Sie hängen leicht durch – der Stich im Hauptfeld ist L / 50, also etwa 1.30 m –, was ihre Zugbeanspruchung begrenzt. Über den Stützen und an den Verankerungen rollen sie kontrolliert über kreisförmig ausgerundete Sättel ab (Abb. 9). Deshalb und weil die Bauteilstärke respektive die Steifigkeit der Spannbänder mit dem Einsatz von hochfestem Feinkornbaustahl minimiert werden konnte, stellen sich aus der Verkehrsbelastung weder zu hohe Biegespannungen noch starke Materialermüdung ein. An den Enden der Spannbandkonstruktion schliessen Rampenbrücken an. Sie zeichnen sich durch expressive Schlangenlinien aus, die alle 10 m durch leichte, schlichte und paarweise angeordnete Stahlstützen getragen werden (Abb. 4 und 8). Die horizontale Krümmung der 170 bzw. 130mm langen Durchlaufträger mit dem 25 cm starken Betonüberbau (Abb. 6) erlaubt es, das ganze, 406 m lange Bauwerk monolithisch auszubilden. Denn Temperaturverformungen verändern nur die Radien, rufen aber kaum zusätzliche Reaktionen an den Widerlagern hervor.

Windungen, Schwingungen und Farbenspiel

Zu den Attributen der Brückenskulptur gehört auch die Spirale aus Aluminium mit 5 m Durchmesser (Abb. 4). Das Tragwerkskonzept mit den Spannbändern und den Durchlaufträgern ermöglichte es, die Spirale leicht auszubilden und im Grundriss und in der Ansicht frei zu führen – die Umwicklung wurde so zum gestaltungsprägenden Element. Da sie in der Vertikalen und Horizontalen leicht aus der Mittelachse verschoben ist, onduliert die Brücke unregelmässig. Die einzelnen Windungen sind aus jeweils drei Segmenten zusammengesetzt, um Transport und Montage zu vereinfachen. Sie werden in Schwingung versetzt, wenn sie durch eine Horizontaleinwirkung wie Wind angeregt werden. Ihre Eigenfrequenzen, wie auch diejenigen des Brückentragwerks, sind aber unkritisch, sodass jederzeit ein sicheres Gehen gewährleistet ist. Die deutlich spürbaren Schwingungen entsprechen der Entwurfsidee von Rehberger: Die Brücke soll schwingen, um die «schlabbrige und weiche» Wirkung spürbar zu machen. Rehberger gestaltete den tartangleichen Belag mit verschieden langen Feldern, für die er 16 unterschiedliche Farben auswählte (Abb. 1). Diese bunten Felder setzen sich auch auf der Unterseite des Laufbandes fort (Abb. 2 und 7). Nachts schlängelt sich der Überbau bunt leuchtend durch den Park, wobei die Spirale kaum wahrnehmbar ist – sie fällt vor allem tagsüber auf. Zu dieser dynamischen und farblichen Gestalt gesellt sich ein Lichtkonzept, das nachts die Beleuchtung der Brücke regelt (vgl. Kasten «Beleuchtung», Seite 20). Die «Skulptur, die auch eine Brücke ist», oder auch das «Tragwerk, das zugleich ein Kunstobjekt ist», verbindet vortrefflich Funktionalität und ein überzeugendes ästhetisches Konzept. Sie steht mustergültig für die kreative und gegenseitig inspirierende Zusammenarbeit von Künstler und Bauingenieur.

TEC21, Fr., 2012.03.30



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TEC21 2012|14 Kunstbrücken

01. Januar 2012Klaus Englert
TEC21

Licht-Oratorium

Beim Umbau der Dortmunder Liebfrauenkirche zu einer Grabeskirche für Urnen hat das Lichtplanungsbüro Licht Kunst Licht aus Bonn die Beleuchtungskonzeption geplant und ausgeführt. Das 21 Meter hohe Kirchenschiff wird von dimmbaren LED-Strahlern erleuchtet.

Beim Umbau der Dortmunder Liebfrauenkirche zu einer Grabeskirche für Urnen hat das Lichtplanungsbüro Licht Kunst Licht aus Bonn die Beleuchtungskonzeption geplant und ausgeführt. Das 21 Meter hohe Kirchenschiff wird von dimmbaren LED-Strahlern erleuchtet.

Kolumbarium nannten die Römer einst den Taubenschlag. Da altrömische Grabkammern, in denen die Urnen in übereinander angeordneten Nischenreihen aufgenommen wurden, Taubenschlägen ähnelten, bezeichnete man auch sie als Kolumbarien. Im antiken Rom wählten Bürger die Feuerbestattung, aber auch Reiche, die für ihre Sklaven und für die Freigelassenen selbst nach ihrem Tode zu sorgen hatten. Das Christentum konnte sich mit dieser Praxis nicht anfreunden und lehnte das Urnengrab ab, da diese Bestattungsweise als unvereinbar mit seinem Glauben an die Wiederauferstehung erschien. Erst die Gründerzeit brachte es mit sich, dass in Deutschland, nachdem die katholische Kirche offiziell die Urnenbestattung akzeptiert hatte, die ersten Krematorien und Kolumbarien errichtet wurden. Als der Berliner Peter Behrens 1907 ein Krematorium für Hagen entwarf, gehörte er zu den ersten, die den modern-sachlichen Architekturstil auf die Sakralarchitektur übertrugen.

Nun war es wiederum ein bekanntes Berliner Architekturbüro, das in der nordrhein-westfälischen Stadt Dortmund die bedeutende Liebfrauenkirche – einen neugotischen Bau von 1883 – in ein Kolumbarium für 4200 Urnen verwandelte. Die grösste Kirche Dortmunds teilt ihr Schicksal mit vielen anderen Sakralbauten des Ruhrgebiets, die in den letzten Jahren schliessen mussten, da nicht mehr genug Gläubige den Gottesdiensten beiwohnten. Deswegen wurde vor drei Jahren unter Vorsitz des Architekten Peter Kulka ein Wettbewerb ausgelobt, um die Backsteinkirche in eine Grabeskirche umzuwandeln. Da es der christlichen Tradition entspricht, die Toten in der Kirche oder im angrenzenden Kirchhof zu beerdigen, sah das Erzbistum Paderborn im Kolumbarium die geeignete Fortführung dieses Brauchs.

Zwischen Apsis und Eingang

Das Büro Volker Staab folgte mit seinem Entwurf der christlichen Tradition der Erdbestattung, indem es die Urnengräber nicht als «Hochregallager», sondern wie Kirchenbänke längs des Mittelschiffs und der beiden Seitenschiffe anordnete: als zwei durch die Mittelachse voneinander getrennte und dennoch visuell verbundene Vierergruppen. Auch die Ausführung in Baubronze unterstreicht die Erdnähe. Durch Volker Staabs Umgestaltung konnte nicht nur der Denkmalwert des Sakralbaus erhalten werden, sondern auch, wie Kulka in der Jurybegründung unterstreicht, «das Volumen des Kirchenraums weiterhin zur Geltung kommen ». Gegenüber den anderen Wettbewerbsentwürfen überzeugt Staabs Entwurf, weil die ungewohnte Urnenanordnung dem Sakralraum eine grosse Offenheit und Transparenz belässt. Dabei schafft die axiale Sichtlinie, die durch den Mittelgang die beiden Urnenfelder voneinander trennt, eine unmittelbare visuelle Ordnung. Die klare Achse zwischen Eingang und Apsis, zwischen Weihwasserbecken und dem Altarraum für die Totenmesse symbolisiert die Lebensspanne zwischen Taufe und Begräbnis.

Dieser Mittelgang ist weitgehend frei gehalten, hier finden sich nur das Totenbuch und die Osterkerze. Die minimalistische Ausgestaltung der Apsis nimmt die reduzierte Form- und Materialsprache der Urnenfelder auf: Für die betont schlichte Gestaltung von Altar, Ambo, Urnenstele und Sitzelementen wurden geschichtete Holzplatten ausgewählt, die sich der horizontalen Gliederung des Kirchenraums anpassen.

Indirekte Strahlung

Wer in diesen Tagen die Dortmunder Liebfrauenkirche betritt, wird zunächst an nichts Aussergewöhnliches denken. Die Ruhe nimmt einen gefangen. Die Kirche war ein sakraler Raum, und sie ist es geblieben. Das wird nicht nur durch Staabs Interventionen deutlich, sondern auch durch das zurückhaltende Beleuchtungskonzept des Bonner Büros Licht Kunst Licht, eines Teams von IngenieurInnen, Architekten und Designern um Andreas Schulz. Ganz offensichtlich bestehen für die Beleuchtung einer Gemeindekirche und einer Grabeskirche unterschiedliche Anforderungen. Denn ein Trauergottesdienst braucht einen Ort für Ruhe und Kontemplation. Licht Kunst Licht hat sich intensiv mit der atmosphärischen Raumwirkung beschäftigt und die angemessenen Konsequenzen für eine meditative Beleuchtung gezogen. Die Lichtspezialisten entschieden sich dafür, in der Dortmunder Liebfrauenkirche ein architekturbezogenes direkt / indirekt wirkendes Beleuchtungssystem einzusetzen.

Dem unvoreingenommenen Besucher des Kolumbariums wird dieser Unterschied auf den ersten Blick verborgen bleiben. Doch beim zweiten Hinsehen wird das Prinzip des Beleuchtungskonzepts klar. Die im Mittelschiff, den Seitenschiffen und im Chorraum angebrachten LED-Leuchten, die «gin.o LED», sind Sonderanfertigungen und stufenlos dimmbar. Dass die Apsis als auratischer Ort erfahren werden kann, verdankt sich nicht allein der sensiblen Möblierung durch Volker Staab, sondern auch der einfühlsamen Beleuchtung durch die Lichtexperten. Ein höheres Beleuchtungsniveau hebt den Altarraum aus dem gesamten Kirchenraum hervor und stellt den eigentlichen Ort der Trauerfeierlichkeit dar.

Dies geschieht durch eigens angefertigte, DALI-gesteuerte[1] LED-Leuchten, die im Mittelschiff oberhalb der Kapitelle auf einer Höhe von 12.70 m montiert sind. Im Chorraum und in den Seitenschiffen sind diese Leuchten entsprechend niedriger platziert und als kompaktes, quaderförmiges Gehäuse mit ingesamt sechs Strahlerköpfen ausgeführt. Die atmosphärischen Eigenschaften des Kirchenraumes rühren aus einem direkt / indirekt wirkenden Leuchtensystem. Dabei geben vier an Gelenken geführte und nach unten gerichtete Strahler ein warmtoniges Licht auf die horizontalen Flächen; zwei weitere Strahler blenden das Deckengewölbe gleichmässig mit diffusem Licht aus und erzeugen damit ein ausgewogenes Verhältnis der Leuchtdichten im Raum. Durch die erforderlichen Dimmstufen kann die atmosphärische Dichte der Apsis massgeblich verstärkt werden. Ein Helligkeitssensor ermöglicht eine Reaktion auf unterschiedliche Tageslichtsituationen. So schaltet sich das künstliche Licht im Falle hoher natürlicher Beleuchtungsstärken im Mittelschiff sowie in den Seitenschiffen aus.

Wie ausgefeilt die Lichttechnik ist, zeigt sich an den Wabenrastern, die eine direkte Blendung vermeiden, und an den Abblendschuten, die verhindern, dass die kapitellnahen Gurtbögen vom Licht erfasst werden. Neben dieser Grundbeleuchtung kommt auch eine Ringpendelleuchte zum Einsatz, die im Eingangsbereich das bronzene Weihwasserbecken mit drachentötendem Erzengel Michael, aber auch die Deckenformation anstrahlt. Die von Licht Kunst Licht entwickelte Beleuchtungstechnik bringt den architektonischen Raum der Grabeskirche besser zur Geltung, als es natürliches Licht in den meisten Fällen vermag. Besonders bei Trauerfeierlichkeiten sind regulierbare Lichtverhältnisse angebracht. Dabei verstärkt die dimmbare LED-Technik durch vorsichtige Betonung der Gewölbe die kontemplative Wirkung, die man sich für das neue Dortmunder Kolumbarium wünscht. Stets wirkt sie im Hintergrund, ohne sich aufzudrängen. Und schliesslich: Sie passt sich Volker Staabs Urnenfeldern an, indem sie ihre Plastizität und Materialität hervorhebt.


Anmerkung:
[01] DALI ist ein Steuerprotokoll, mit dem z.B. Leuchten in einem Gebäude angesteuert, in Gruppen zusammengefasst und mit Dimmwerten belegt werden können. Für die Liebfrauenkirche sind nach Abstimmung mit dem Nutzer verschiedene Beleuchtungsszenarien abgespeichert worden, die nun über ein Schaltpaneel abgerufen werden können.

TEC21, So., 2012.01.01



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TEC21 2012|1-2 Es werde LED!

19. März 2010Klaus Englert
TEC21

Schwarzer Diamant

Das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum mit einem Anbau zu erweitern, war eine delikate Aufgabe. Die Dominanz des 1935 von Fritz Schupp errichteten Altbaus schien kaum eine Intervention zu ertragen. Gelöst haben die Amsterdamer Benthem Crouwel Architekten die Situation mit einem – je nach Lesart – an Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat oder in Anlehnung an die Zeit der Kohlenförderung an einen «schwarzen Diamanten» erinnernden Baukörper.

Das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum mit einem Anbau zu erweitern, war eine delikate Aufgabe. Die Dominanz des 1935 von Fritz Schupp errichteten Altbaus schien kaum eine Intervention zu ertragen. Gelöst haben die Amsterdamer Benthem Crouwel Architekten die Situation mit einem – je nach Lesart – an Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat oder in Anlehnung an die Zeit der Kohlenförderung an einen «schwarzen Diamanten» erinnernden Baukörper.

Als im Spätsommer 2009 das Emil Schumacher Museum am neuen Hagener Kunstquartier eröffnet wurde, galt das als Startschuss für den Neubau etlicher Museen im Rahmen von «Ruhr 2010». Der zweite Streich erfolgte bereits im Dezember, als das Deutsche Bergbau-Museum (DBM) in Bochum einen kontrastreichen Annex von Benthem Crouwel Architekten erhielt. Der Altbau des DBM ist ein Baudenkmal des Ruhrgebiets- und Zechenarchitekten Fritz Schupp, der mit seinem Partner Martin Kemmer die legendäre Zeche Zollverein in Essen errichtet hatte. Schupp hatte das 1935 vollendete Bergbau-Museum mit den zeittypischen Würdeformeln versehen – mit grosszügigem Ehrenhof und mächtigem, säulengestütztem Portikus. Auch Materialwahl und Grundrissgestaltung zeugen von einem recht traditionellen Baukörper, handelt es sich doch um ein monumentales, rechtwinklig angeordnetes Ensemble, dessen zwei quadratische Innenhöfe von einem Mitteltrakt getrennt werden, den ein 60 m hoher Förderturm überragt. Das weltweit grösste Bergbaumuseum mit gigantischen Ausmassen von 7000 m² Ausstellungsfläche hat aber noch weit mehr zu bieten. Zu dem Museumscarrée kommt noch ein Anschauungsbergwerk von 2.5 km Länge hinzu.

«Abstrakter Kubus», «konkrete» Gänge, Stollen und Rampen

Für das Team von Benthem Crouwel (Amsterdam / Aachen), das derzeit auch den Anbau des Amsterdamer Stedelijk-Museums fertigstellt, war das majestätische Bergbaumuseum aus der Ära des Industriezeitalters, wie es von Krupp und Haniel geprägt wurde, eine Herausforderung. Als sich die Architekten 2006 an dem Wettbewerb beteiligten, wurde ihnen schnell klar, dass der Altbau nach einem expliziten Gegengewicht verlangt, was sie mit deutlichen Anleihen am Expressionismus und an der Bauhaus-Moderne zu bewerkstelligen suchten. Entstanden ist ein Anbau, der die einen an Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat denken lässt. Andere, insbesondere einheimische Ruhrpottler, erinnern sich vielleicht an die Zeit der Kohlenförderung und assoziieren dabei einen «schwarzen Diamanten». Tatsächlich hat sich mittlerweile in Bochum die Redewendung vom «schwarzen Diamanten» eingebürgert. Benthem Crouwel entschieden sich für einen schwarzen Kubus, der lediglich im ersten Augenblick hermetisch wirkt. Während Farbe und Gestalt das Fördermaterial Kohle evozieren, von dem die gesamte Region seit dem frühen 19. Jahrhundert lebte, taucht gleichzeitig der Querschnitt des Bergwerks mit seinen Gängen, Stollen und Rampen vor dem geistigen Auge auf. Daran gemahnen die beiden «Bandbrücken», die den Freiraum zwischen Alt- und Neubau überspannen und sich dabei dramatisch überkreuzen. Die Architekten sparten gleichwohl nicht mit heiteren Farben, und so behandelten sie sämtliche neuen Erschliessungswege – die beiden Rampen, auf denen man zu den Wechselausstellungen im Anbau gelangt, und das neue Stiegenhaus – mit poppigem Melonengelb, bestehend aus einer Polyurethanbeschichtung des Betons.Benthem Crouwel bevorzugen kräftige Farben: Zu dem Schwarz, das auf die fugenlose raue Putzoberfläche des Museumskubus aufgetragen und mit glitzernden Siliciumcarbid- Splittern vermengt wurde, tritt also das grelle Melonengelb, das sich bestens zum expressionistischen Aspekt des Anbaus gesellt, nämlich den Zickzacklinien des Fensterbandes, die vom Erdgeschoss bis hinauf in die zweite Etage verlaufen. Die schwarze Putzfassade, die vor den tragenden Stahlbetonwänden abgehängt ist, kontrastiert auch mit der Glasfassade des Foyers. Abends, wenn die Beleuchtung angeschaltet ist, kommunizieren die Zickzacklinien mit den schmalen Fensterschlitzen der Verbindungsrampen und sorgen für anregende Farbeffekte. Bei Tageslicht entdecken die Museumsbesucher, dass sich die gezackten Fensterbänder auf dem Dach fortsetzen und den Blick auf den Förderturm freigeben.

«Steife» Box, stützenfreie Räume

Konstruktionstechnisch haben sich Benthem Crouwel von der Idee der «steifen Box» leiten lassen, wobei die Aussen- und die Kernwände die vertikal aussteifenden Tragelemente bilden. Aus der Konstruktion resultiert auch die technische Gebäudeausrüstung – Betonkerntemperierung, die es erlaubt, Wände oder Decken zu heizen oder zu kühlen. Die gewählte Struktur bietet bei Ausstellungen grosse Vorzüge: Weil die Deckenscheiben die horizontale Kopplung der Wände gewährleisten, war es möglich, grosse, stützenfrei überspannte Räume zu gestalten, die bestens für die geplanten Wechselausstellungen im Neubau geeignet sind. Dabei setzten die Architekten darauf, dass die für Sonderausstellungen vorgesehenen Bereiche auf der ersten und der zweiten Ebene möglichst flexibel zu bespielen sind. Beispielsweise möchte man im 6 m hohen ersten Geschoss eine Raumhälfte für Vorträge abtrennen, ohne dabei den Ausstellungsbetrieb zu beeinträchtigen.

Wandelt man das melonengelbe Stiegenhaus hinauf zum obersten, etwas niedrigeren Stockwerk, überrascht nicht nur die freie Sicht auf das Fördergerüst. Ein frei gelassener Deckenausschnitt erlaubt auch den ungehinderten Blick auf die untere Ausstellungsetage, wo Videos über die Bergbauregion zu sehen sind. Wegen dieser spannenden Blickbezüge ist die Raumgestaltung des zweiten Obergeschosses am überzeugendsten gelungen.

Bergbauatmosphäre atmen

Für die Kuratoren stellt sich die Frage, wie man am besten Ausstellungen zwischen den rauen Sichtbetonwänden konzipiert. Offenbar ist die widerständige Materialität der Betonwände bestens geeignet, um die Industriearchäologie des Ruhrgebiets zu zeigen. So sieht man hier nicht nur ein blank geputztes Goggomobil, ein niedliches Wirtschaftswunder auf vier Rädern, sondern auch ein monströses Schaltwerk aus dem Steinkohlenabbau im rheinischen Hückelhoven. Heutzutage bedarf es allerdings einer modernen Projektionsleinwand, um verfolgen zu können, wie das Schaltwerk funktioniert – wie es Kohlenförderung, Pumpen und Belüftung regelt. Die Atmosphäre von Bergbau und Industrialisierung, die für die jüngere Ruhrgebietsgeneration keineswegs mehr eine alltägliche Erfahrung bildet, ist hier sinnlich wahrnehmbar. Im Erdgeschoss, wo der reguläre Parcours endet, befindet sich ein kleinerer Raum für die Dauerausstellung – die St. Barbara-Sammlung des Esseners Rolfroderich Nemitz, der zu Ehren der Schutzpatronin der Bergleute Kunstwerke zusammentrug, die besonders die Freunde des Bergbaus interessieren dürften.

Museumsdirektor Rainer Slotta ist sichtlich stolz über den gelungenen Neubau, der weit über den vorgelagerten Europaplatz hinweg sichtbar ist. Kürzlich weihte man die neuen Räume mit einer Ausstellung über den Steinkohlenbergbau nach 1945 ein, es folgen Präsentationen über den Kupferbergbau der Anden und die Alabastersteinbrüche der Königin von Saba. Slottas letzte Errungenschaft: Auch das «Visitors Center» im Altbau, das über die Aktivitäten von «Ruhr 2010» informiert, ist jetzt fertig gestellt worden.

TEC21, Fr., 2010.03.19



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TEC21 2010|12 Bergbau

19. Februar 2010Klaus Englert
TEC21

Jacobsen «untergraben»

Arne Jacobsens (1902–1971) Munkegårdsskolen in Gentofte bei Kopenhagen (1952–1956) revolutionierte den Schulhausbau: Mit seinem Rastermodell, zweifellos die originellste Entwurfsidee, übersetzte er die pädagogischen Reformgedanken in gebaute Architektur. Und obwohl er Nachahmer fand, wurde es nirgends konsequenter umgesetzt als in der Gentofter Munkegårds-Schule. Die dänische Architektin Dorte Mandrup «huldigt» dem Zeitzeugen mit einer kongenialen, im Herbst 2009 eröffneten Erweiterung.

Arne Jacobsens (1902–1971) Munkegårdsskolen in Gentofte bei Kopenhagen (1952–1956) revolutionierte den Schulhausbau: Mit seinem Rastermodell, zweifellos die originellste Entwurfsidee, übersetzte er die pädagogischen Reformgedanken in gebaute Architektur. Und obwohl er Nachahmer fand, wurde es nirgends konsequenter umgesetzt als in der Gentofter Munkegårds-Schule. Die dänische Architektin Dorte Mandrup «huldigt» dem Zeitzeugen mit einer kongenialen, im Herbst 2009 eröffneten Erweiterung.

Gentofte liegt nur wenige Kilometer nördlich von Kopenhagen. Es ist ein beschauliches und wohlhabendes Städtchen, mit ausgeprägtem Trend zum Eigenheim-Idyll. Gentofte ist weder eine gewöhnliche Schlafstadt noch eine der typischen Suburbs, weshalb es die Einheimischen nach getaner Arbeit in Kopenhagen weiterhin vorziehen, ins beschauliche Heim vor den Toren der Hauptstadt zurückzukehren.

Ausgerechnet das kleinstädtische Gentofte war in den 1950er-Jahren Schauplatz einer kleinen architektonischen Revolution. Es war die Zeit, als viele westeuropäische Kommunen aufgrund der Kriegszerstörungen erheblichen Bedarf an neuen, richtungweisenden Schulbauten hatten. Und es war die Zeit, als viele Architekten neue Schultypologien ausprobierten und kindergerechtere Klassenräume bauten (vgl. nebenstehenden Kasten). Die Nouvelle vague neuer Schulen begann allerdings im nördlichen Gentofte, als 1949 ein Wettbewerb für die Munkegårdsskolen ausgelobt wurde, den der damals 47-jährige Arne Jacobsen mit einer ungewöhnlichen Gebäudetypologie gewann. Zunächst widmete sich die Zeitschrift «Arkitekten» dem Thema «eingeschossiger Schulbau» und publizierte den siegreichen Entwurf, schliesslich zog nach Fertigstellung des Projekts die internationale Fachpresse nach, die allseits lobte, durch Jacobsens Munkegårdsskolen seien neue Massstäbe im Schulbau erreicht worden. Anerkennung fand besonders der intime Massstab der Schule, die immerhin 850 Kinder aller Altersgruppen aufnehmen sollte.

Mehrgliedriges Ensemble statt monolithischem Baukörper

Jacobsen war bestrebt, den traditionellen monolithischen, mehrgeschossigen Baukörper zugunsten eines mehrgliedrigen, eingeschossigen Ensembles aufzulösen, und reagierte damit auf die allen voran von Rudolf Steiner propagierte Reformpädagogik, die nicht nur einen mehr auf die kindlichen Bedürfnisse ausgerichteten Unterricht forderte, sondern auch Schulgebäude, die den neuen pädagogischen Erfordernissen besser entsprechen. Diese Reformgedanken machte sich 1933 der Architekt Edvard Thomsen (1884–1980) zu eigen, als er in «Arkitekten» forderte, man solle in Dänemark von der «munteren Renaissance» der Pavillonschule in Deutschland und England lernen. Dabei lobte er die einhüftigen Korridore, da sie im Gegensatz zu den üblichen Mittelkorridoren mehr Tageslicht hereinlassen.

Jacobsens Entwurf zielte darauf ab, den geschlossenen Baukörper zugunsten einer modularen «open-end»-Struktur, einer seriellen Addition von eingeschossigen Klassentrakten aufzulösen, deren Grundriss einem Teppichmuster gleicht (Abb. 1). Die Klassen, die quer zum Festsaal in Bändern angeordnet sind, werden von parallelen Verbindungsgängen durchschnitten, während die verbliebenen Zwischenräume als frei zugängliche Innenhöfe gestaltet wurden. Jacobsen wollte damit erreichen, dass die Kinder während des Unterrichts auf den grünen Patio hinausschauen und sich ablenken können. Entstanden ist dabei ein repetitives Muster aus linearen, rechtwinkligen Modulen. Prima vista hat die Munkegårds- Schule tatsächlich eine offene Struktur. Genaugenommen gehorcht sie aber klaren Ordnungsprinzipien und einer durchaus hierarchischen Ausrichtung: Das schulische Ensemble wird nämlich durch einen mittig angeordneten Festsaal strukturiert, während der zweigeschossige Riegel, der die Fachklassen und die Lehrerbibliothek aufnimmt, den Komplex im Norden abschliesst. Zudem setzt sich diese Begrenzung im südlichen Bereich fort, insofern die Frontgebäude, die überdachten Fahrradschuppen und die beiden Flügel der Sporthallen die Klassentrakte sowie den lang gestreckten Schulhof sehr markant einfassen.

Der Entwurf für die Munkegårds-Schule entbehrt also nicht eines gewissen Paradoxons: Einerseits zeichnet er sich durch eine nicht hierarchisch aufgebaute Systemstruktur aus, die sich am Grundriss des Gitters orientiert. Andererseits ist eine starke Begrenzung und Zentrierung des Ensembles unverkennbar. Jacobsen berücksichtigte zwar auch Elemente, die den seriellen Charakter der Anlage mildern – etwa die nach Norden ausgerichteten Pultdächer der beiden Sporthallen und die nach Süden orientierten Sheddächer der Klassenzimmer –, aber insgesamt ordnen sich diese Elemente dem Gesamtcharakter unter. Das Rastermodell bleibt die originellste Entwurfsidee, und trotz dem Zeittrend wurde es nirgends konsequenter umgesetzt als in der Munkegårds-Schule. Angesichts der internationalen Diskussion um eine Neuausrichtung der Schularchitektur dauerte es nicht lange, bis einige westliche Architekten die Rasterstruktur konsequenter ausbauten (vgl. Kasten S. 16).

Restaurierung und Erweiterung durch Dorte Mandrup

Ähnlich wie in den 1950er-Jahren zeigt sich das Kopenhagener Baudezernat heutzutage offen für neue Entwürfe in der Schularchitektur. Das zeigt sich nicht nur an dem grossartigen, 2007 fertig gestellten Örestad-Gymnasium des dänischen Büros 3XN, das die Schule ausgehend von einem einzigen kontinuierlichen Raumkörper entwickelte und dabei konsequent auf die geometrischen Formen Arne Jacobsens zurückgriff, sondern auch an Erweiterungsbauten für Schulen, die unter Denkmalschutz stehen. Hierzu gehört auch die Gentofter Munkegårdsskolen, die dringend einen Anbau benötigte. Das Baudezernat richtete deswegen einen begrenzten Wettbewerb aus. Die eingereichten Entwürfe kollidierten aber mit den rigiden dänischen Denkmalschutzbestimmungen. Daraufhin, im Februar 2005, beauftragten die Gemeinde Gentofte und die Denkmalschutzbehörde Dorte Mandrup Arkitekter, einen eigenen Entwurf zu erarbeiten, der auf Zustimmung stiess.

Dorte Mandrup, die im trendigen Viertel Nørrebro in Kopenhagen zusammen mit Vandkunsten und dem Senkrechtstarter BIG ein Atelierhaus bezogen hat, musste im Rahmen eines eng begrenzten Etats zwei Aufgaben in Angriff nehmen. Zunächst ging es darum, den Altbau der Munkegårds-Schule zu renovieren, deren Bausubstanz in viel schlechterem Zustand war als zunächst angenommen (vgl. S. 22ff.). Mauerwerk sowie Dachränder und Dacheindeckungen der Flach- und Pultdächer mussten saniert sowie die Bodenbelägeersetzt werden. In den Klassenräumen wurden Verbindungstüren eingebaut, um eine Adhoc- Vergrösserung der Räume zu ermöglichen. Im renovierten Gymnastiksaal wurde die Trennung zwischen Knaben und Mädchen aufgehoben.

Um das Innenraumklima zu verbessern, wurden sowohl die Oberlichter als auch die Jalousien mit einer automatischen Steuerung ausgerüstet. Denn es galt, den teilweise extremen Lichteinfall in die Klassenzimmer zu filtern. Um auch in den sonnenarmen Wintermonaten möglichst viel natürliches Licht in die Räume zu bringen, hatte Jacobsen sie nämlich nach Süden ausgerichtet.

An dem von Jacobsen liebevoll mit eigenen Designentwürfen gestalteten Festsaal nahm Dorte Mandrup den optisch prägnantesten, materiell aber durchaus respektvollen Eingriff am Bestehenden vor. Trotz der Umwandlung in ein «pädagogisches Entwicklungszentrum» mit dem reversiblen Einbau einer Treppenlandschaft mit integrierter Bibliothek bleibt genug Raum, um den Saal nach wie vor als Theater zu nutzen – inklusive originalem Bühnenvorhang (Abb. 4 und 19–22).

Gleichermassen respektvoll wie mutig

Die eigentliche Herausforderung bestand aber darin, für den Gebäudeannex eine einfache, intelligente und die historische Bausubstanz respektierende Lösung zu finden. Dorte Mandrup überzeugte die Denkmalschutzbehörde mit ihrem Vorschlag, den Anbau im südlichen Bereich des Schulkomplexes, unterhalb des vorgelagerten Hofs, anzugliedern. Es handelt sich um einen unsichtbaren, 100 m langen Riegel, der durch die Pavillontrakte erschlossen wird. Auf dem Schulhof ist die Erweiterung einzig durch vier gläserne Atrien wahrnehmbar, die den Innenraum des Riegels mit Tageslicht versorgen. Markant sind die schräg gestellten Stahlstützen und Profile, die entlang dieser Glasprismen die Lasten abtragen.

Design im Geiste Jacobsens

Dorte Mandrup gelang eine einfache räumliche Segmentierung, indem sie den schlauchförmigen Raum in Haupt- und Seitentrakt unterteilte. Der lang gestreckte Riegel wird ausserdem durch die vier begehbaren Atrien unterteilt – eine Replik auf Jacobsens Patios (Abb. 5 und 15–18). Deren Fussböden weisen jeweils unterschiedliche Motive auf: Kreise, Zahlen und Buchstaben, stilisierte Blüten sowie Kristalle. Es sind bildhafte Übersetzungen der in den angelagerten Räumen unterrichteten Fächer Ernährung und Gesundheit, Körper und Bewegung, Natur und Technik sowie Physik und Chemie.

«Natur» hat Dorte Mandrup in den Toilettenbereich gezaubert, der wegen seiner grellen Farbigkeit ins Auge springt. Um das Unfallrisiko zu begrenzen – erläutert die Architektin während eines Rundgangs –, habe sie den Durchgangsraum zu den einzelnen Toiletten nahtlos mit dem Flur verbunden. Dieser offene Bereich ist eine Augenweide: Auf grün schimmerndem Epoxidharz wurden quer über Fussboden, Wände und Toilettentüren Motive von Zweigen, Blättern und Knospen angebracht. Als Vorlage diente ein von Arne Jacobsen entworfenes Motiv für eine Tapete, das in der Danish Art Library aufbewahrt wird. Das Motiv wurde vergrössert und mit einem grünen Grund hinterlegt (siehe inneres Titelbild). Ausserdem wählte sie für Wände und Mobiliar abwechselnde und lichte Farben – für die kreisrunden Tische und die ebenfalls kreisrunde Sitzgarnitur vornehmlich Rot, Grün und Orange. Das ist eine Reverenz an Arne Jacobsen, der im Altbau zur gleichen Farbpalette griff. Besondere Aufmerksamkeit verwendete Mandrup für das kindergerechte Sitzmöbel, denn immerhin hatte Jacobsen für die Munkegårdsskolen neben dem Design der Schreibpulte, der Wanduhren, der Türklinken, der runden Deckenleuchten und des Bühnenvorhangs im Festsaal auch vier unterschiedliche, farbige Stuhltypen entworfen.

Dorte Mandrup, die in Kopenhagen zuvor die viel beachtete Sporthalle «Prisma» in Amager (2006) und die Kindertagesstätte «Krausesvej» im gleichnamigen Quartier (2005) baute, gelang eine sinnvolle Unterteilung des angegliederten Riegels. Entlang der lichtspendenden Atrien gestaltete sie den Haupttrakt als «Mehrzweckraum» für die nachschulischen Aktivitäten der Kinder. Der Trakt endet mit einer hellgrün gestalteten Küche. Hier soll das gemeinsame Kochen als Teil des Unterrichtsprogramms gelernt werden. Kochen steht tatsächlich hoch im Kurs der Munkegårdsskolen: Dorte Mandrup richtete nämlich im Seitentrakt zusätzlich eine kleinere Küche ein, in der exotische Gerichte aus fernen Ländern ausprobiert werden sollen. Aber natürlich ist auch an die Naturwissenschaften gedacht, und so grenzen an die Experimentalküche die nüchterneren Physik- und Chemielabore an. Bereits «Prisma» und «Krausesvej» beweisen, dass die beste Architektur für die spielerischen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen selbst spielerisch sein sollte. Für den Annex der Munkegårdsskolen ist der Architektin Dorte Mandrup dieser Coup ein weiteres Mal gelungen.

TEC21, Fr., 2010.02.19



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TEC21 2010|08 Munkegårdsskolen

15. Januar 2009Klaus Englert
TEC21

«Cultuurcluster», Enschede

Die verheerende Explosion der Feuerwerkfabrik S. E. Fireworks im nördlichen Stadtteil Roombeek der niederländischen Stadt Enschede am 13. Mai 2000, die 23 Menschen in den Tod riss und etwa 1000 Verletzte hinterliess, war Anlass, Pläne für ein gänzlich neues Roombeek zu erarbeiten. Der Masterplan der Amsterdamer Pi de Bruij n Architecten Cie. sollte es den einstigen Bewohnern ermöglichen, wieder in ihren Stadtteil zurückzukehren. Namhafte Architekten schufen ein attraktives städtisches Milieu, qualitätsvollen Wohnungsbau, anspruchsvolle Kultur angebote und soziale Einrichtungen.

Die verheerende Explosion der Feuerwerkfabrik S. E. Fireworks im nördlichen Stadtteil Roombeek der niederländischen Stadt Enschede am 13. Mai 2000, die 23 Menschen in den Tod riss und etwa 1000 Verletzte hinterliess, war Anlass, Pläne für ein gänzlich neues Roombeek zu erarbeiten. Der Masterplan der Amsterdamer Pi de Bruij n Architecten Cie. sollte es den einstigen Bewohnern ermöglichen, wieder in ihren Stadtteil zurückzukehren. Namhafte Architekten schufen ein attraktives städtisches Milieu, qualitätsvollen Wohnungsbau, anspruchsvolle Kultur angebote und soziale Einrichtungen.

Die holländische Grenzstadt Enschede wurde von mehreren schweren Unglücksfällen heimgesucht. 1862 zerstörte ein Grossbrand den historischen Stadtkern. Im 2. Weltkrieg bombardierten versehentlich alliierte Flieger die Stadt, die für ihre blühende Textilindustrie bekannt war. Die jüngste Katastrophe, die Explosion der Feuerwerkfabrik S. E. Fireworks, legte den ganzen nördlichen Stadtteil Roombeek in Trümmer. Selbst acht Jahre nach der Katastrophe sind etliche Wunden noch sichtbar.

Mittlerweile wurde das Zentrum von Roombeek mit Schulen, Kultureinrichtungen, Wohnungsbau und Gastronomie erfolgreich revitalisiert. Auch die wesentlichen Anforderungen des Masterplans von Pi de Bruijn Architecten konnten umgesetzt werden. Es galt zuerst, die Rückkehr der Bewohner in ihr Stadtquartier zu ermöglichen. 1350 Wohnungen sieht der Masterplan vor. Zwar weist die Infrastruktur noch Lücken auf, doch im Zentrum des Stadtquartiers konnten bereits neue Akzente gesetzt werden. Das Industrieviertel wich einem lebendigen Stadtquartier. Am Roombeek-Bach, der gelungen ins Stadtbild integriert wurde, befi ndet sich das ehemalige Grundstück der 1995 aufgegebenen Rozendaal-Textil fabrik. Bjarne Mastenbroek und sein Amsterdamer Büro SeARCH wandelten das Fabrikgelände in den «Cultuurcluster» um – mit Künstlerateliers, Wohnungen, Museum, Kunstgalerie und Café. Auf der Ostseite des Areals beliess Masten broek die lang gestreckte Fabrikhalle, die westlich davon befi ndlichen Gebäude liess er abreissen.

Turmbau

An deren Stelle errichtete er einen sechsgeschossigen Turmbau mit umlaufendem Fensterband als Attraktion des neu entstandenen Roombeek-Viertels. Da die Geschosstiefen nach oben hin zunehmen, ragt der Turm wie ein Keil aus der Fabriklandschaft heraus. An der Fassade hängt ein metallisches Gewebe, das gegen Sonnenstrahlen schützen und an die traditionellen Webetechniken erinnern soll. Das Gebäude nennt sich nach der holländischen Provinz Twentse Welle und bildet den Verwaltungsbau dreier Museumseinrichtungen, die sich auf naturkundliche, heimatkundliche und textilgeschichtliche Sammlungen spezialisiert haben.

Sichelförmige Dacher, bandförmiger Anbau, signalroter Steg

Das Foyer der Twentse Welle gestaltete SeARCH mit expressiven, sichelförmigen Dachelementen. Von hier aus bieten sich zwei Erschliessungen zu den Ausstellungsfl ächen an: zunächst der Zugang zu einem bandförmigen, backsteinverkleideten Anbau, dessen Erdgeschoss Wechselausstellungen dient, während die oberen Geschosse Atelierwohnungen aufnehmen. Und dann der Weg über einen signalroten Stahlsteg, der die «Kulturstrasse » des Quartiers überquert, ins unterirdische Reich der Dauerausstellung. Dieser 110 m lange, vom Amsterdamer Team Opera gestaltete Raum bietet ein lebendiges Ambiente für überraschende Entdeckungsreisen, von lärmenden Maschinenungeheuern bis zu Raumkompartimenten, die Screens mit Informationen zur Regionalgeschichte präsentieren.

Spuren der frühreren Nutzung

Zum «Cultuurcluster», den Mastenbroek in den letzten Jahren auf dem Rozendaal-Areal schuf, gehört auch eine öffentliche Galerie, die sich «21 Rozendaal» nennt und Ausstellungen zeitgenössischer Kunst organisiert. Der Amsterdamer Architekt liess den rechtwinkligen Umbau und das rückseitige, bandförmige Klinkergebilde an der Strassenfront zusammenlaufen, sodass ein begrünter Zwischenbereich als Rückzugsort und Hortus conclusus entstand. Mastenbroek legte beim Umbau des Fabrikgebäudes zur Galerie Wert darauf, Spuren der früheren Nutzung beizubehalten. Und so erinnert das Gebäude etwas an ein Patchworkgebilde: Neben den neuen Beton- und Klinkerfassaden wurden ursprüngliche Pfeiler beibehalten, ebenso Teile des alten, unverputzten Mauerwerks mit Graffi ti- und Keramikresten sowie die unterhalb des Fussbodens sichtbaren Transportbänder fürBaumwolle.

Mastenbroek wollte nicht den üblichen Galerienchic, er spielt lieber mit ruppiger Industrieatmosphäre. Diese Methode wandte er auch im «Cultuurcluster»-Café am Kopfende der Rozendaal-Halle an. Überzeugend gelang SeARCH ebenso die Gestaltung des frei gewordenen Platzes, der durch den Roombeek-Bach und einige expressiv gestaltete Apartmenthäuser eingefasst wird, deren sägeförmige Dachformation an die Zickzacklinien der belassenen Umfassungsmauern von Rozendaal erinnert.

Clash of materials - Cluster of masters

Ein weiteres Museumsprojekt hat sich Bjarne Mastenbroek zusammen mit Rem Koolhaas für das angrenzende Textillager Balengebouw vorgenommen. Koolhaas wird, nachdem er vor einigen Jahren die Kohlenwäsche auf der Essener Zeche Zollverein in das Ruhrmuseum umrüstete, ein weiteres Industriefossil museumstauglich machen. Der quaderförmige Klinkerbau, durch dessen Turm ein während der Explosion emporgeschleuderter Betonblock zwei Löcher gerissen hat, soll die moderne Sammlung des Künstlers Jan Cremer aufnehmen. Das Cremermuseum wird wie ein «clash of materials» anmuten und den Eindruck vermitteln, als ob der bunkerhafte Charakter des Lagergebäudes von 1896 von innen aufgesprengt würde. Pi de Bruijn hat südlich des Balengebouw die Anlage von Wohnhäusern vorgesehen. Eckpunkt und Landmarke ist Roombeeks höchster Wohnturm, «Zorgcluster» der Amsterdamer Claus en Kaan. Die Reihe der individuell geprägten Wohnhäuser entlang des grün belassenen Explosionszentrums erinnert an Amsterdams Scheepstimmermanstraat, wo internationale Architekten ihre persönliche Handschrift hinterliessen. An der Museumslaan, die Cremermuseum und Rijksmuseum Twenthe verbinden wird, baute der Rotterdamer Erick van Egeraat die doppelgeschossige, fast rundum verglaste Villa «Tektoniek» mit mächtigem Betondach. Bolles Wilson errichteten einen langgestreckten Riegel mit einer Fassade aus schwarz-weissen Streifen, und Benthem Crouwel versteckten das Gebäude-Innenleben des Glazen Huis hinter einer gekurvten und opaken Glasfassade.

Das Stigma von der postindustriellen Stagnation hat man im Textilstandort Roombeek schnell überwinden können. Dank einem mutigen Masterplan, der die vorhandene Bausubstanz der industriellen Vergangenheit mit stadtprägender neuer Architektur zu verbinden weiss.

TEC21, Do., 2009.01.15



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tec21 2009|01-02 Nach dem Knall

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Presseschau 12

05. Mai 2017Klaus Englert
TEC21

Passage zur Stadtoase

Öffentlich zugängliche Innenhöfe sind in Barcelona nicht üblich. Im Stadtteil Eixample haben RCR Arquitectes 2007 einen solchen Hof geöffnet, mit neuen Nutzungen belebt und zu einem idyllischen Lebensmittelpunkt im Quartier aufgewertet.

Öffentlich zugängliche Innenhöfe sind in Barcelona nicht üblich. Im Stadtteil Eixample haben RCR Arquitectes 2007 einen solchen Hof geöffnet, mit neuen Nutzungen belebt und zu einem idyllischen Lebensmittelpunkt im Quartier aufgewertet.

Das 2007 fertiggestellte Ensemble von Joan-Oliver-Bibliothek, Seniorenzentrum und Cándida-Pérez-Garten liegt an der Carrer del Comte Borrell im dichten Viertel Sant Antoni in Barcelona. Es zählt zu den gelungensten Eingriffen in die historische Stadterweiterung, die der katalanische Ingenieur Ildefons Cerdà nach dem Niederreissen der Stadtmauer 1854 in einem regelmässigen, streng quadratischen Blockrandraster angelegt hatte.

RCR Arquitectes orientierten sich an Cerdàs ursprünglicher Absicht, die Innenhöfe der Wohnblöcke nicht für gewerbliche Zwecke, sondern für öffentliche Anlagen und Einrichtungen zu nutzen. Nachdem die Fabrik, die früher im Hof gestanden war, abgebrochen worden war, erstellten die Architekten ein Nutzungs­programm, das sich vornehmlich an den Bedürfnissen der Anwohnerinnen und Anwohner orientierte. Das Raumprogramm umfasst nicht nur die Joan-Oliver-Bibliothek – eine von Barcelonas insgesamt 40 Stadtteilbibliotheken –, sondern auch ein Seniorenzentrum und einen Garten samt Kinderspielplatz.

Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta gelang es, die unterschiedlichen Nutzungen zu einem harmonischen Gefüge zu ordnen und den Eindruck zu erwecken, das Ensemble, aus dessen Mitte ein Industrieschlot als Relikt der industriellen Vergangenheit ragt, sei immer schon hier gewesen. Eine neu geschaffene Passage verbindet die Strasse mit den Lesesälen der Bibliothek und dem Innenhof. Wer sie durchschreitet, taucht überrascht in eine lebendige, von Wohnbauten gefasste Oase ein.

Das sowohl zur Strasse als auch zum Hof orien­tierte Torgebäude, das die Bibliothek beherbergt, ist ­ als Stahlgerippe konstruiert. Hinter der verglasten ­Strassenfront sind die Lesesäle sichtbar. Die drei Obergeschosse bilden zueinander versetzte Ebenen. Nahezu eingerahmt von Lesesälen und Galerien entstand ein offen gestaltetes Auditorium. Über diesem bühnenarti­gen Raum befindet sich ein weiterer Lesesaal. Die Mate­rialisierung verstärkt das kontrastreiche Raumkonzept: Hinter dem verglasten Stahlgerippe der Fassade steht der Bibliothekskorpus, dessen Treppe von einer massiven, stählernen Brüstung flankiert ist. Es scheint, als habe die herbe, spröde Ästhetik der vulkanischen Landschaft der Garrotxa die Architekten inspiriert.

Hinter dem Bibliotheksquader, direkt daran anschliessend, erstrecken sich die eingeschossigen Gebäude mit dem Seniorenzentrum. Sie öffnen sich zu einem Karree und umschliessen dabei einen kleinen, schattigen Park, in dem Kinder spielen. Äusserlich verbunden wird die Stahl-Glas-Konstruktion von Bibliothek und Seniorenzentrum durch eigens konstruierte Stahllamellen, die als Sonnenschutz, Raumteiler, Geräusch- und Intimitätspuffer zwischen innen und ­aus­sen funktionieren.

Das friedliche Neben- und Ineinander von ­Bi­bliothek, Seniorenzentrum, Park und Spielplatz ge­neriert im Innenhof eine heile Welt im Kleinen: Alte und Kinder, Besucher und Anwohner kommen zusammen, teilen ein gemeinsames Areal und wechseln wohlwollende Blicke. Wie auch die Pritzker-Jury hervorhebt, ist das Ensemble ein herausragendes Beispiel für den dialogischen Charakter, der viele Projekte von RCR Arquitectes auszeichnet.

TEC21, Fr., 2017.05.05



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TEC21 2017|18 RCR Arquitectes – ausgewählte Bauten

28. August 2015Klaus Englert
TEC21

Holländischer Hybrid

Rotterdam befindet sich im Umbruch. Im Herbst 2014 wurde das neueste städtische Wahrzeichen eröffnet – eine einzigartige Markthalle, konzipiert von den Koolhaas-Schülern Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries (MVRDV).

Rotterdam befindet sich im Umbruch. Im Herbst 2014 wurde das neueste städtische Wahrzeichen eröffnet – eine einzigartige Markthalle, konzipiert von den Koolhaas-Schülern Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries (MVRDV).

Rotterdam ist eine Handelsstadt. Zweimal in der Woche verwandelt sich der der Platz über der ehemaligen Binnenrotte am drittgrössten Seehafen der Welt zu einem riesigen Freiluftmarkt. Anbieter aus allen Landesteilen präsentieren an mehr als 400 Ständen ihre Waren. Der Markt im Stadtzentrum, zwischen BlaakBoulevard und SintLaurenskerk, bietet einen unüberschaubaren Reichtum an Fischen und exotischen Früchten, die Palette reicht vom einheimischen Käse bis zur religiös korrekten Kleidung für die muslimische Frau. Der Rotterdamer Bevölkerung war das nicht genug. 2004 schrieb die Stadtverwaltung einen Investorenwettbewerb für einen Überbauung im Laurensviertel aus, das bislang durch ein Übermass an Büros und Läden geprägt war. Das Ziel: innere Verdichtung und die Verbesserung der Lebensqualität im Quartier. Die Ausschreibungsbedingungen sahen deswegen neben Wohnungen auch einen Markt vor, als Ergänzung zum bestehenden. Neue EUVorschriften verlangten aus hygienischen Gründen allerdings eine überdachte Variante.

Markthalle – neu interpretiert

Das Team von MVRDV, das gemeinsam mit dem Investor Provast den Wettbewerb gewann, nahm den Anspruch wörtlich und setzte auf ein Hybridgebäude, das wesentlich dazu beitragen soll, das Viertel zu beleben. So errichteten die Rotterdamer an der Seite des Wochenmarkts auf dem sumpfigen Grund der Binnenrotte eine Markthalle, die sich zwar an die grossen Vorbilder in Barcelona und Valencia anlehnt, dabei aber eine völlig neue Typologie schuf. MVRDV orientierte sich nicht an den spanischen EisenGlasKonstruktionen, sondern wählte ein riesiges Tonnengewölbe mit einer Länge von 120 m, einer Höhe von 40 m und einer Breite von 70 m. Ausserdem waren vier Tiefgeschosse vorgesehen, was einen Aushub von 15 m erforderlich machte.

Da die Markthalle dort errichtet werden sollte, wo einst der Damm durch die Rotte verlief, war der Boden nass und instabil, der Grundwasserspiegel lag bei 3 m unter dem Strassenniveau. Es galt also, die Baugrube durch Spundwände und ein Fundament aus 2500 Betonpfählen zu stabilisieren. Es folgte ein Stahlbetonrahmen, der die Baugrube zusätzlich bis auf 8 m sicherte und als Tragwerk des 1. Untergeschosses diente. Derartige Tiefbauarbeiten, eine Spezialität niederländischer Ingenieurtechnik, sind schwierig zu bewerkstelligen, da der auf Spundwände und Stahlbetongerüst wirkende Druck durch Flutung der Baugrube ausgeglichen werden muss. Deshalb führten Spezialisten die weiteren Aushubarbeiten und die folgende Stahlbewehrung unter Wasser durch, in einem grossen künstlichen See. Mittels schwimmender Kräne wurde die Baugrube weiter ausgehoben, der Einsatz von GPS Technologie sollte verhindern, dass das bereits bestehende Betontragwerk beschädigt wurde. Taucher verlegten die Bewehrung für die 1.5 m dicke Bodenplatte. In einem 72StundenEinsatz wurde sie ebenfalls un ter Wasser gegossen. Nach Auspumpen der Baugrube erwies sich die Platte, die eine Last von 12?000 kg/m² tragen muss, als wasserdicht. Es folgte die Errichtung der vier Untergeschosse. So entstand peu à peu die Markthalle der Superlative. Aussergewöhnlich ist die überdimensionale transparente Glaswand an den Stirnseiten des Baus.

Es handelt sich um eine Seilnetzfassade, bestehend aus einem Raster vorgespannter, 9 bis 15 cm dicker Stahlseile, zwischen die die jeweiligen Glasscheiben geklemmt wurden. Vergleichbar mit einem Tennisschläger bilden die Seiten der Fassadenöffnung einen steifen Rahmen, während die Fassade selber beweglich ist und auch schweren Stürmen standhält. Sie kann bis zu 70 cm nach innen gedrückt werden, dabei dehnen sich die Seile um bis zu 4 cm.

Kurz bevor die Markthalle im Herbst 2014 eröffnete, erhielt das Gewölbe den letzten Schliff. Neben dem Detailhandel auf der ersten Ebene überspannt es 96 Marktstände, die alles anbieten – von der rheinischen Currywurst bis zu arabischen Gewürzen, vom holländischen Käse bis zum türkischen Baklava. Einige der Stände sind für temporäre Nutzungen reserviert. Auf 4500 perforierten Aluminiumpaneelen, 2 mm dick und 152?×?152 cm gross, haben die Rotterdamer Künstler Arno Coenen und Iris Roskam ein computergeneriertes Riesengemälde aufgetragen, das bereits auf dem Vorplatz die Blicke der Passanten auf sich zieht. Das 11?000 m² grosse, nachts erleuchtete Pixelbild «Füllhorn», das an Motive niederländischer Barockstillleben erinnert, lässt über den Köpfen der Marktbesucher allerlei Früchte und Gemüse in kräftigen Farben herabregnen.

Keine Luxusinsel

Die Grossform der Markthalle mutet zwar wie ein überdimensionaler Fremdkörper im Rotterdamer Stadtbild an, doch verrät die langjährige Beschäftigung der Architekten mit dem öffentlichen Raum, dass sie sich für eine technisch innovative, an Nachhaltigkeitskriterien orientierte Architektur begeistern, die den Stadtraum bereichert. Daraus entwickelten sie ihre Vorliebe fürs Hybridgebäude. Die MVRDVLosung «Eine Stadt in der Stadt errichten» zielt nicht auf einen massiven Turmkomplex, wie ihn Rem Koolhaas an der Maas hochgezogen hat («De Rotterdam» von 2013). Vielmehr steckte das Rotterdamer Trio Maas, van Rijs und de Vries 228 Wohnungen mit unterschiedlichen Grundrissen zwischen dem dritten und elften Geschoss in die Flügel des Tonnengewölbes. Die über dem Detailhandel in den ersten beiden Ebenen gelegenen 102 Miet und 126 Eigentumswohnungen, 80 bis 300 m² gross, verfügen alle über eine Terrasse, die sich über die gesamte Länge der Wohnung erstreckt. In der Angebotspalette finden sich Lofts und Maisonettewohnungen; die Hälfte gestatten – hinter dreifach verglasten Scheiben – den Blick aufs quirlige Treiben des Markts. Allerdings sind die oberen Penthousewohnungen, die den Bogen schliessen, stark abgeschrägt, da ansonsten der Tageslichteinfall nicht ausreichend gewesen wäre.

Mehr als nur Architektur

Den Rotterdamer Architekten ist es gelungen, eine Stadt im Kleinen zu errichten – mit Marktständen, unterirdischen Parkgeschossen, einer kleinen, von Kossmann.dejong gestalteten archäologischen Dauerausstellung, Supermarkt, Detailhandel sowie Miet und Eigentumswohnungen. Alles unter einem Dach. Das Resultat – die Architekten nennen es «24StundenGebäude» – ist ein kleines holländisches Wunder, das dereinst auch Kulturveranstaltungen einschliessen soll. Schon jetzt ist der Bau aus Rotterdam nicht mehr wegzudenken

TEC21, Fr., 2015.08.28



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14. Dezember 2014Klaus Englert
TEC21

Eiskalte Linie und Feuerpunkt

Das Steilneset-Mahnmal des Architekten Peter Zumthor und der Künstlerin Louise Bourgeois im norwegischen Vardø erinnert an die Hexenprozesse in der Finnmark. Die Installation im Gedenken an die Vergangenheit soll auch helfen, die Zukunft der Stadt zu sichern.

Das Steilneset-Mahnmal des Architekten Peter Zumthor und der Künstlerin Louise Bourgeois im norwegischen Vardø erinnert an die Hexenprozesse in der Finnmark. Die Installation im Gedenken an die Vergangenheit soll auch helfen, die Zukunft der Stadt zu sichern.

Siri Knudsdatter wurde am 11. Januar 1621 im nordnorwegischen Vardø der Hexerei angeklagt. Die Gerichtsakten verzeichnen, die Beschuldigte «habe Leute verzaubert, die dann krank wurden und starben». Da die Frau leugnete, musste sie sich der Wasserprobe stellen: An Händen und Füssen gefesselt wurde sie in die eiskalten Fluten der Barentssee geworfen. Die Akten vermerken: «Wurde der Wasserprobe unterzogen und schwamm wie ein Korken.» Die Wasserprobe zögerte ihren Tod lediglich hinaus – wäre Siri Knudsdatter untergegangen, hätte der Richter das als Zeichen ihrer Unschuld gewertet. Dass die Angeklagte obenauf schwamm, sah er als Beweis ihrer Schuld an: Das reine Element des Wassers habe den vom Teufel besessenen Körper nicht aufnehmen wollen. So wurde sie öffentlich verbrannt. Zwölf weitere Frauen mussten sich im Lauf des Jahres der Wasserprobe unterziehen. Auch sie gingen nicht unter. Auch sie ereilte der Tod auf dem Scheiterhaufen.

Fatale Willfährigkeit

Die an der Universität Tromsø lehrende Historikerin Liv Helene Willumsen erforscht seit Jahren die Hexenprozesse in der Finnmark des 17. Jahrhunderts, einer Region von der Grösse der Schweiz. Wie Willumsen herausfand, war die Hinrichtungsserie von 1621 darauf zurückzuführen, dass John Cunningham, der kurz zuvor zum Festungskommandanten von Vardøhus berufen wurde, unnachgiebige Strenge und moralische Integrität gegenüber dem dänischen König beweisen wollte. Cunningham war zuständig für den Verwaltungsbezirk Finnmark, wo lediglich 0.8 % der norwegischen Bevölkerung lebten, aber 31 % von Norwegens Hexenprozessen stattfanden.[1] Allein in Vardø, einem kleinen Dorf mit damals kaum mehr als 300 Einwohnern, wurden ­zwischen 1601 und 1692 91 Personen wegen Hexerei hingerichtet. Die Historikerin fand heraus, dass die Festungskommandanten, die die Macht in Vardø innehatten und lediglich dem König in Kopenhagen unterstellt waren, vornehmlich die weibliche Bevölkerung im Visier hatten: Neben 14 Männern wurden 77 Frauen der Hexerei beschuldigt und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Unter ihnen waren besonders die Zugezogenen der indigenen Sámi-Bevölkerung der Kommandantenwillkür ausgeliefert.

Ansichten der Stille

Willumsen brachte ihr Wissen in ein aussergewöhn­liches Projekt ein: Sie beriet den Architekten Peter ­Zumthor und die Künstlerin Louise Bourgeois, die beide am nordöstlichen Ende der 2100 km langen Norwegischen Landschaftsrouten[2], dort, wo der Varanger-Fjord an russisches Territorium grenzt, eine imposante Installation errichteten. Im Rahmen ihres «Detour»-Programms möchte die norwegische Strassenverwaltung, die Attraktivität bestimmter Standorte entlang der Landschaftsrouten erhöhen.

Deswegen engagierte sie bislang rund fünfzig Architekten, Landschafts­architekten, Designer und Künstler, möglichst ori­ginelle Beiträge für die norwegische Küstenlandschaft zu liefern. Die Projekte sollen Provinzorte zu Aus­flugszielen aufwerten. Bislang kamen bis auf wenige Ausnahmen junge norwegische Büros zum Zug. Für den nördlichsten Punkt der Route in Vardø wollte man aber zwei international bekannte Grössen einladen. Die Wahl fiel auf den Architekten Peter Zumthor und die hochbetagte französisch-amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois. Sie realisierten ein künstlerisch gestaltetes Denkmal am Steilneset, dem Hinrichtungsplatz aus dem 17. Jahrhundert, zum Gedenken an die hier Verstorbenen.

Mythischer Ort

Dabei ist nicht nur ein Mahnmal entstanden, das schlicht und würdevoll der Opfer gedenkt. Anders als Tausende anderer Denkmäler im städtischen Raum ist Zumthors und Bourgeois’ Mahnmal ein Stück Land-Art, das sich wie selbstverständlich in die ­atemberaubende Naturkulisse einfügt – als sei es mit diesem Ort verwachsen. Zugleich ist ein Gedenkort voller künstlerischer Kraft entstanden. Es überrascht daher nicht, dass der im Juni 2011 eröffneten Gedenkstätte zwei ­Jahre später der North Norwegian Architecture Prize zuerkannt wurde.

Nachdem Bourgeois und Zumthor 2006 mit dem Bau beauftragt worden waren, einigten sie sich auf eine archaische Formensprache. «Zumthor und ich haben Erde, Wasser, Feuer und Licht genutzt, um Ansichten der Stille zu schaffen», sagte Bourgeois wenig später.[3] Zumthor, der damals mit der zum Himmel geöffneten Bruder-Klaus-Kapelle auf den Feldern des Eifeldorfs Mechernich-Wachendorf beschäftigt war, setzte sich in der norwegischen Arktis ebenfalls intensiv mit der Umgebung auseinander. Eine kleine Kapelle mit einem umfriedeten Gottesacker findet sich auch in Vardø. Wer an diesem besinnlichen Ort vorbeikommt, sieht vor sich das Mahnmal wie eine riesige, fragile Holzskulptur auftauchen, dahinter die Meerenge der Barentssee und am Horizont den Domen, den Hexenberg. Unweit von Steilneset ragt die Vardøhus-Festung aus dem frühen 18. Jahrhundert empor, Norwegens als uneinnehmbar geltendes Bollwerk gegen das russische Reich.

Ein Licht für jedes Opfer

Die 120 m lange begehbare Holzkonstruktion des im Juni 2011 fertiggestellten Denkmals erinnert an die Trockenfischanlagen, die heute in den Aussenbezirken von Vardø ungenutzt vor sich hin rotten und weitgehend vergessen sind. Zumthor interessierte sich für diese Konstruktionsweise, die man auch im einzigem Hotel der Stadt auf zeitgenössischen Fotos entdecken kann. Der so entstandene, einfach anmutende Bau ist der ­Tradition der Finnmark-Fischer nachempfunden und trotzt mit minimalem Aufwand den heftigen Winden am Ufer der Barentssee.

Schräg nach aussen greifende Stützen, die jeweils mit einer einfachen Schraube mit den 60 Holzrahmen verbunden sind, stabilisieren die Konstruktion. Darin eingespannt ist der über dem Boden schwebende, schlauchförmige Ausstellungsgang. Er besteht aus einem mit Teflon beschichteten, innen schwarzen, aussen hellen Fiberglastextil, ein Element geht jeweils über drei Felder. Die Textilkonstruktion wurde vorgefertigt, die 17 Einzelteile sowie das Anfangs- und Endstück wurden auf der Baustelle zusammengefügt. Textil und Befestigung erinnern an Segeltuch und Verankerungen aus dem Schiffsbau. Zwei Rampen führen ins Innere.

Zumthor war es wichtig, dass die Passage bei Wind und Wetter, bei Tag und Nacht betretbar ist. Wer den endlos anmutenden, nur rund 1.50 m breiten Gang entlanggeht, vorbei an 91 Tafeln aus schwarzer Seide, fühlt sich niemals allein: Wind und Meeresrauschen sind ständige Begleiter. Kurze biografische Texte künden in weisser Schrift von den Prozessakten, die Inschriften stammen von der Historikerin Willumsen.

Entlang der schwarzen Wände fügte Zumthor 91 in der Höhe variierende Gucklöcher ein, schmale, in das Textil gespannte Metallvitrinen, beleuchtet von 91 Glühbirnen – eine Öffnung für jedes Opfer. Sie geben den Blick auf Dorf und Meer frei und verweisen auf die nordische Tradition, ein Licht im Wohnzimmerfenster aufzustellen, um den dunklen Nächten zu trotzen. Die sinnliche Raumgestaltung, in der jedes Detail den konzisen Gesamtentwurf verrät, steht im Dienst der Opfer, derer das Mahnmal gedenken will.

Verstörende Inszenierung

Während Zumthors Denkmal zur meditativen Ver­senkung einlädt, liefert Bourgeois’ Installation «The Damned, the Possessed and the Beloved» ein starkes Bild zu den Hexenprozessen. Etwas landeinwärts errichtete Zumthor für die Installation einen kubischen, knapp 10 m auf 10 m grossen Pavillon aus 17 Scheiben aus getöntem Rauchglas. Nach dem aufwühlenden Gang durch die Ausstellung erwartet einen unverhofft der dramatische Höhepunkt: Zentrum des Pavillons ist ein stählerner Stuhl, durch dessen Sitzfläche fünf Stichflammen züngeln. Ein schmaler, konkaver Betonring umschliesst den Feuerstuhl, der Gedanke an die sprühenden Feuermassen bei einem Vulkanausbruch liegt nah. Auch theatralische Effekte kommen zum Einsatz: Sieben ovale, um den Stuhl herum befestigte Spiegel verzerren das Konterfei des Besuchers, erinnern an die schmerzverzerrten Gesichter der Opfer.

Die Opfer der Neuzeit

In Vardø gibt es niemanden, der über Steilneset, die Folterungen, die mittelalterliche Festung, die Menta­lität der Kommandanten und die lange Tradition der «Vardøhus Festning» mehr erzählen kann als Elisabeth Eikeland, Majorin der norwegischen Armee und erste weibliche Festungskommandantin nach 44 Vorgängern. So berichtet sie, dass die Festung 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde. Nachdem zwei Partisanen die norwegische Fahne gehisst hatten, ordnete Reichskommissar Josef Terboven, der eigens nach Vardø gereist war, die Erschiessung der beiden Norweger an. Vom Terror, den die Deutschen in Vardø anrichteten, ist auf den Fotos eines Wehrmachtssoldaten, die im kleinen Vardøhus-Museum ausgestellt sind, allerdings nichts zu sehen.

Den Menschen in Vardø ist diese Schreckenszeit weit entrückt. Lieber machen sie heute Werbung für das rund 10 Mio. Euro teure Steilneset Memorial. Anfangs mit wenig Erfolg – den Touristen der Hurtigruten-Kreuzfahrtschiffe, die für ganze zwei Stunden am ­Hafen anlegen, bleibt für eine Besichtigung keine Zeit. Aber das Mahnmal, das vor drei Jahren eröffnete, hat andere städtische Projekte gefördert. Beispielweise ist jetzt am Ende des Hafenbeckens das neue Rathaus fertiggestellt, dem auch ein Kulturzentrum angegliedert ist. Und seit zwei Jahren findet in Ultima Thule zudem jährlich das «Komafest» statt, das sich auch «Urban Art Festival Vardø» nennt und zu dem Künstler sogar aus Brasilien und den Vereinigten Staaten anreisen. Nach vielen Jahren des Niedergangs gibt es also Hoffnung, selbst im kleinen arktischen Vardø.


Anmerkungen:
[01] Liv Helene Willumsen, The Witchcraft Trials in Finnmark Northern Norway, Leikanger 2010
[02] Die Landschaftsrouten sollen die norwegische Natur erlebbar machen. Bis 2023 sollen 250 Rastplätze und Aussichtspunkte mit moderner Architektur und Kunst entlang von 18 Streckenabschnitten realisiert sein. www.nasjonaleturistveger.no/de
[03] Sebastian Frenzel, «Teufelswerk», in: Monopol – Zeitschrift für Kunst und Leben, 10.07.2011
[04] www.archdaily.com

TEC21, So., 2014.12.14



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TEC21 2014|50 In memoriam

30. März 2012Klaus Englert
TEC21

Seilwurf über den Kanal

Die auffallende Fussgängerbrücke mit dem Namen «Slinky springs to fame» über den Rhein-Herne-Kanal im deutschen Oberhausen ist Teil des Projektes «Emscherkunst.2010»: Ein farbiges Band, umwickelt mit einer Spirale, verbindet zwei Parks. Die Leichtigkeit des Entwurfs des Künstlers Tobias Rehberger ist der Konstruktion zu verdanken, die die Ingenieure von schlaich bergermann und partner gewählt haben: einer Spannbandbrücke.

Die auffallende Fussgängerbrücke mit dem Namen «Slinky springs to fame» über den Rhein-Herne-Kanal im deutschen Oberhausen ist Teil des Projektes «Emscherkunst.2010»: Ein farbiges Band, umwickelt mit einer Spirale, verbindet zwei Parks. Die Leichtigkeit des Entwurfs des Künstlers Tobias Rehberger ist der Konstruktion zu verdanken, die die Ingenieure von schlaich bergermann und partner gewählt haben: einer Spannbandbrücke.

Der Frankfurter Künstler Tobias Rehberger ist es gewohnt, durch künstlerische Eingriffe Innenräume zu gestalten. Er liebt es, mit farbigen Installationen und dynamischen Formen die Raumwirkung zu steigern. Dieses Grundprinzip behielt Rehberger bei, als er sich an der «Emscherkunst» beteiligte, die zu den Aktivitäten der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 gehörte. Sein ungewohnter Beitrag zur Kulturhauptstadt ist eine Fussgänger- und Fahrradbrücke, die seit Mai 2011 am Schloss Oberhausen den Rhein-Herne-Kanal überquert. Die nahe Schnellstrasse steigert die Attraktivität des Ortes allerdings nicht, an dem sich die Brücke vom beschaulichen Kaisergarten über den Kanal bis zum Volkspark auf der Emscherinsel erstreckt. Rehberger, Professor für Bildhauerei an der Frankfurter Städelschule, erzählt, wie es zu dem aussergewöhnlichen Auftrag gekommen ist: «Mit etwa dreissig Künstlern bin ich damals mit dem Bus, mit dem Rad und zu Fuss durch das Ruhrgebiet gestreift, um geeignete Orte für Projekte auszukundschaften. Irgendwann stand ich in der Nähe des Oberhausener Kaisergartens am Rhein-Herne-Kanal und sagte intuitiv zum Kurator Florian Matzner: ‹Hier müssen wir eine Brücke bauen.›»

«Weiche und schlabbrige» Fussgängerbrücke

Die Oberhausener Stadtverwaltung war offenbar von Rehbergers spontaner Eingebung so angetan, dass man ihm binnen kurzer Zeit den Auftrag erteilte. Rehbergers Vorstellung war, dass die Brücke sich wie eine Spirale über den Rhein-Herne-Kanal winden müsse. Dabei solle sie «schlabbrig und weich» aussehen. Hinzu kamen Randbedingungen, die es einzuhalten galt: ein behindertengerechtes Gefälle, ein Lichtraumprofil von 8 m über dem Kanal, Schonung des Baumbestandes und Landschaftsplanung. Bauherrin Martina Oldengott von der Emschergenossenschaft bezog Mike Schlaich vom Stuttgarter Bauingenieurbüro Schlaich, Bergermann und Partner früh in den Entwurfsprozess mit ein. Das Team legte relativ rasch den Grundriss (Abb. 1) und das Längsprofil der Brücke fest.

Ausführlicher war die Diskussion um die tragenden Komponenten. Sowohl die Spirale als auch das Band für den Gehweg hätten die tragende Funktion übernehmen können. Die Spirale hätte zusammen mit dem Gehweg als Untergurt und einem zusätzlich konstruierten Obergurt als Fachwerk ausgebildet werden können. Da diese Tragwerksvariante aber schwerer in Erscheinung getreten wäre als der Entwurf, entschied sich das Team, das farbige Band selbst zum Tragwerk auszubilden. Schlaich konstruierte eine leichte, dreifeldrige Spannbandbrücke, um die sich die nicht tragende Spirale wickelt. Rehberger erinnert sich: «Ich wollte ein Objekt entwerfen, das nicht nach Ingenieurskunst aussieht und das keineswegs statisch wirkt. Es ist Mike Schlaich zu verdanken, dass wir uns dieser Idee annähern konnten. Jedenfalls kann ich im Endprodukt meine Idee der Skulptur wiedererkennen.»

Geworfenes Seil und Schlangenlinien

Die dynamische Wirkung der Brücke, die sich wie ein geworfenes Seil über den Kanal spannt, rührt von den zwei Spannbändern her, die mit den 12 cm dicken und 2.67 m breiten Betonfertigteilen der Lauffläche verbunden sind (Abb. 3). Die Stahlbänder sind 66 m weit über den Rhein-Herne-Kanal gespannt, in den Uferbereichen auf 10 m hohe gespreizte V-Stützen gelegt und an ihren Enden über je zwei Zugstangen pro Spannband in den Widerlagern verankert (Abb. 5). Sie hängen leicht durch – der Stich im Hauptfeld ist L / 50, also etwa 1.30 m –, was ihre Zugbeanspruchung begrenzt. Über den Stützen und an den Verankerungen rollen sie kontrolliert über kreisförmig ausgerundete Sättel ab (Abb. 9). Deshalb und weil die Bauteilstärke respektive die Steifigkeit der Spannbänder mit dem Einsatz von hochfestem Feinkornbaustahl minimiert werden konnte, stellen sich aus der Verkehrsbelastung weder zu hohe Biegespannungen noch starke Materialermüdung ein. An den Enden der Spannbandkonstruktion schliessen Rampenbrücken an. Sie zeichnen sich durch expressive Schlangenlinien aus, die alle 10 m durch leichte, schlichte und paarweise angeordnete Stahlstützen getragen werden (Abb. 4 und 8). Die horizontale Krümmung der 170 bzw. 130mm langen Durchlaufträger mit dem 25 cm starken Betonüberbau (Abb. 6) erlaubt es, das ganze, 406 m lange Bauwerk monolithisch auszubilden. Denn Temperaturverformungen verändern nur die Radien, rufen aber kaum zusätzliche Reaktionen an den Widerlagern hervor.

Windungen, Schwingungen und Farbenspiel

Zu den Attributen der Brückenskulptur gehört auch die Spirale aus Aluminium mit 5 m Durchmesser (Abb. 4). Das Tragwerkskonzept mit den Spannbändern und den Durchlaufträgern ermöglichte es, die Spirale leicht auszubilden und im Grundriss und in der Ansicht frei zu führen – die Umwicklung wurde so zum gestaltungsprägenden Element. Da sie in der Vertikalen und Horizontalen leicht aus der Mittelachse verschoben ist, onduliert die Brücke unregelmässig. Die einzelnen Windungen sind aus jeweils drei Segmenten zusammengesetzt, um Transport und Montage zu vereinfachen. Sie werden in Schwingung versetzt, wenn sie durch eine Horizontaleinwirkung wie Wind angeregt werden. Ihre Eigenfrequenzen, wie auch diejenigen des Brückentragwerks, sind aber unkritisch, sodass jederzeit ein sicheres Gehen gewährleistet ist. Die deutlich spürbaren Schwingungen entsprechen der Entwurfsidee von Rehberger: Die Brücke soll schwingen, um die «schlabbrige und weiche» Wirkung spürbar zu machen. Rehberger gestaltete den tartangleichen Belag mit verschieden langen Feldern, für die er 16 unterschiedliche Farben auswählte (Abb. 1). Diese bunten Felder setzen sich auch auf der Unterseite des Laufbandes fort (Abb. 2 und 7). Nachts schlängelt sich der Überbau bunt leuchtend durch den Park, wobei die Spirale kaum wahrnehmbar ist – sie fällt vor allem tagsüber auf. Zu dieser dynamischen und farblichen Gestalt gesellt sich ein Lichtkonzept, das nachts die Beleuchtung der Brücke regelt (vgl. Kasten «Beleuchtung», Seite 20). Die «Skulptur, die auch eine Brücke ist», oder auch das «Tragwerk, das zugleich ein Kunstobjekt ist», verbindet vortrefflich Funktionalität und ein überzeugendes ästhetisches Konzept. Sie steht mustergültig für die kreative und gegenseitig inspirierende Zusammenarbeit von Künstler und Bauingenieur.

TEC21, Fr., 2012.03.30



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TEC21 2012|14 Kunstbrücken

01. Januar 2012Klaus Englert
TEC21

Licht-Oratorium

Beim Umbau der Dortmunder Liebfrauenkirche zu einer Grabeskirche für Urnen hat das Lichtplanungsbüro Licht Kunst Licht aus Bonn die Beleuchtungskonzeption geplant und ausgeführt. Das 21 Meter hohe Kirchenschiff wird von dimmbaren LED-Strahlern erleuchtet.

Beim Umbau der Dortmunder Liebfrauenkirche zu einer Grabeskirche für Urnen hat das Lichtplanungsbüro Licht Kunst Licht aus Bonn die Beleuchtungskonzeption geplant und ausgeführt. Das 21 Meter hohe Kirchenschiff wird von dimmbaren LED-Strahlern erleuchtet.

Kolumbarium nannten die Römer einst den Taubenschlag. Da altrömische Grabkammern, in denen die Urnen in übereinander angeordneten Nischenreihen aufgenommen wurden, Taubenschlägen ähnelten, bezeichnete man auch sie als Kolumbarien. Im antiken Rom wählten Bürger die Feuerbestattung, aber auch Reiche, die für ihre Sklaven und für die Freigelassenen selbst nach ihrem Tode zu sorgen hatten. Das Christentum konnte sich mit dieser Praxis nicht anfreunden und lehnte das Urnengrab ab, da diese Bestattungsweise als unvereinbar mit seinem Glauben an die Wiederauferstehung erschien. Erst die Gründerzeit brachte es mit sich, dass in Deutschland, nachdem die katholische Kirche offiziell die Urnenbestattung akzeptiert hatte, die ersten Krematorien und Kolumbarien errichtet wurden. Als der Berliner Peter Behrens 1907 ein Krematorium für Hagen entwarf, gehörte er zu den ersten, die den modern-sachlichen Architekturstil auf die Sakralarchitektur übertrugen.

Nun war es wiederum ein bekanntes Berliner Architekturbüro, das in der nordrhein-westfälischen Stadt Dortmund die bedeutende Liebfrauenkirche – einen neugotischen Bau von 1883 – in ein Kolumbarium für 4200 Urnen verwandelte. Die grösste Kirche Dortmunds teilt ihr Schicksal mit vielen anderen Sakralbauten des Ruhrgebiets, die in den letzten Jahren schliessen mussten, da nicht mehr genug Gläubige den Gottesdiensten beiwohnten. Deswegen wurde vor drei Jahren unter Vorsitz des Architekten Peter Kulka ein Wettbewerb ausgelobt, um die Backsteinkirche in eine Grabeskirche umzuwandeln. Da es der christlichen Tradition entspricht, die Toten in der Kirche oder im angrenzenden Kirchhof zu beerdigen, sah das Erzbistum Paderborn im Kolumbarium die geeignete Fortführung dieses Brauchs.

Zwischen Apsis und Eingang

Das Büro Volker Staab folgte mit seinem Entwurf der christlichen Tradition der Erdbestattung, indem es die Urnengräber nicht als «Hochregallager», sondern wie Kirchenbänke längs des Mittelschiffs und der beiden Seitenschiffe anordnete: als zwei durch die Mittelachse voneinander getrennte und dennoch visuell verbundene Vierergruppen. Auch die Ausführung in Baubronze unterstreicht die Erdnähe. Durch Volker Staabs Umgestaltung konnte nicht nur der Denkmalwert des Sakralbaus erhalten werden, sondern auch, wie Kulka in der Jurybegründung unterstreicht, «das Volumen des Kirchenraums weiterhin zur Geltung kommen ». Gegenüber den anderen Wettbewerbsentwürfen überzeugt Staabs Entwurf, weil die ungewohnte Urnenanordnung dem Sakralraum eine grosse Offenheit und Transparenz belässt. Dabei schafft die axiale Sichtlinie, die durch den Mittelgang die beiden Urnenfelder voneinander trennt, eine unmittelbare visuelle Ordnung. Die klare Achse zwischen Eingang und Apsis, zwischen Weihwasserbecken und dem Altarraum für die Totenmesse symbolisiert die Lebensspanne zwischen Taufe und Begräbnis.

Dieser Mittelgang ist weitgehend frei gehalten, hier finden sich nur das Totenbuch und die Osterkerze. Die minimalistische Ausgestaltung der Apsis nimmt die reduzierte Form- und Materialsprache der Urnenfelder auf: Für die betont schlichte Gestaltung von Altar, Ambo, Urnenstele und Sitzelementen wurden geschichtete Holzplatten ausgewählt, die sich der horizontalen Gliederung des Kirchenraums anpassen.

Indirekte Strahlung

Wer in diesen Tagen die Dortmunder Liebfrauenkirche betritt, wird zunächst an nichts Aussergewöhnliches denken. Die Ruhe nimmt einen gefangen. Die Kirche war ein sakraler Raum, und sie ist es geblieben. Das wird nicht nur durch Staabs Interventionen deutlich, sondern auch durch das zurückhaltende Beleuchtungskonzept des Bonner Büros Licht Kunst Licht, eines Teams von IngenieurInnen, Architekten und Designern um Andreas Schulz. Ganz offensichtlich bestehen für die Beleuchtung einer Gemeindekirche und einer Grabeskirche unterschiedliche Anforderungen. Denn ein Trauergottesdienst braucht einen Ort für Ruhe und Kontemplation. Licht Kunst Licht hat sich intensiv mit der atmosphärischen Raumwirkung beschäftigt und die angemessenen Konsequenzen für eine meditative Beleuchtung gezogen. Die Lichtspezialisten entschieden sich dafür, in der Dortmunder Liebfrauenkirche ein architekturbezogenes direkt / indirekt wirkendes Beleuchtungssystem einzusetzen.

Dem unvoreingenommenen Besucher des Kolumbariums wird dieser Unterschied auf den ersten Blick verborgen bleiben. Doch beim zweiten Hinsehen wird das Prinzip des Beleuchtungskonzepts klar. Die im Mittelschiff, den Seitenschiffen und im Chorraum angebrachten LED-Leuchten, die «gin.o LED», sind Sonderanfertigungen und stufenlos dimmbar. Dass die Apsis als auratischer Ort erfahren werden kann, verdankt sich nicht allein der sensiblen Möblierung durch Volker Staab, sondern auch der einfühlsamen Beleuchtung durch die Lichtexperten. Ein höheres Beleuchtungsniveau hebt den Altarraum aus dem gesamten Kirchenraum hervor und stellt den eigentlichen Ort der Trauerfeierlichkeit dar.

Dies geschieht durch eigens angefertigte, DALI-gesteuerte[1] LED-Leuchten, die im Mittelschiff oberhalb der Kapitelle auf einer Höhe von 12.70 m montiert sind. Im Chorraum und in den Seitenschiffen sind diese Leuchten entsprechend niedriger platziert und als kompaktes, quaderförmiges Gehäuse mit ingesamt sechs Strahlerköpfen ausgeführt. Die atmosphärischen Eigenschaften des Kirchenraumes rühren aus einem direkt / indirekt wirkenden Leuchtensystem. Dabei geben vier an Gelenken geführte und nach unten gerichtete Strahler ein warmtoniges Licht auf die horizontalen Flächen; zwei weitere Strahler blenden das Deckengewölbe gleichmässig mit diffusem Licht aus und erzeugen damit ein ausgewogenes Verhältnis der Leuchtdichten im Raum. Durch die erforderlichen Dimmstufen kann die atmosphärische Dichte der Apsis massgeblich verstärkt werden. Ein Helligkeitssensor ermöglicht eine Reaktion auf unterschiedliche Tageslichtsituationen. So schaltet sich das künstliche Licht im Falle hoher natürlicher Beleuchtungsstärken im Mittelschiff sowie in den Seitenschiffen aus.

Wie ausgefeilt die Lichttechnik ist, zeigt sich an den Wabenrastern, die eine direkte Blendung vermeiden, und an den Abblendschuten, die verhindern, dass die kapitellnahen Gurtbögen vom Licht erfasst werden. Neben dieser Grundbeleuchtung kommt auch eine Ringpendelleuchte zum Einsatz, die im Eingangsbereich das bronzene Weihwasserbecken mit drachentötendem Erzengel Michael, aber auch die Deckenformation anstrahlt. Die von Licht Kunst Licht entwickelte Beleuchtungstechnik bringt den architektonischen Raum der Grabeskirche besser zur Geltung, als es natürliches Licht in den meisten Fällen vermag. Besonders bei Trauerfeierlichkeiten sind regulierbare Lichtverhältnisse angebracht. Dabei verstärkt die dimmbare LED-Technik durch vorsichtige Betonung der Gewölbe die kontemplative Wirkung, die man sich für das neue Dortmunder Kolumbarium wünscht. Stets wirkt sie im Hintergrund, ohne sich aufzudrängen. Und schliesslich: Sie passt sich Volker Staabs Urnenfeldern an, indem sie ihre Plastizität und Materialität hervorhebt.


Anmerkung:
[01] DALI ist ein Steuerprotokoll, mit dem z.B. Leuchten in einem Gebäude angesteuert, in Gruppen zusammengefasst und mit Dimmwerten belegt werden können. Für die Liebfrauenkirche sind nach Abstimmung mit dem Nutzer verschiedene Beleuchtungsszenarien abgespeichert worden, die nun über ein Schaltpaneel abgerufen werden können.

TEC21, So., 2012.01.01



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TEC21 2012|1-2 Es werde LED!

19. März 2010Klaus Englert
TEC21

Schwarzer Diamant

Das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum mit einem Anbau zu erweitern, war eine delikate Aufgabe. Die Dominanz des 1935 von Fritz Schupp errichteten Altbaus schien kaum eine Intervention zu ertragen. Gelöst haben die Amsterdamer Benthem Crouwel Architekten die Situation mit einem – je nach Lesart – an Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat oder in Anlehnung an die Zeit der Kohlenförderung an einen «schwarzen Diamanten» erinnernden Baukörper.

Das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum mit einem Anbau zu erweitern, war eine delikate Aufgabe. Die Dominanz des 1935 von Fritz Schupp errichteten Altbaus schien kaum eine Intervention zu ertragen. Gelöst haben die Amsterdamer Benthem Crouwel Architekten die Situation mit einem – je nach Lesart – an Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat oder in Anlehnung an die Zeit der Kohlenförderung an einen «schwarzen Diamanten» erinnernden Baukörper.

Als im Spätsommer 2009 das Emil Schumacher Museum am neuen Hagener Kunstquartier eröffnet wurde, galt das als Startschuss für den Neubau etlicher Museen im Rahmen von «Ruhr 2010». Der zweite Streich erfolgte bereits im Dezember, als das Deutsche Bergbau-Museum (DBM) in Bochum einen kontrastreichen Annex von Benthem Crouwel Architekten erhielt. Der Altbau des DBM ist ein Baudenkmal des Ruhrgebiets- und Zechenarchitekten Fritz Schupp, der mit seinem Partner Martin Kemmer die legendäre Zeche Zollverein in Essen errichtet hatte. Schupp hatte das 1935 vollendete Bergbau-Museum mit den zeittypischen Würdeformeln versehen – mit grosszügigem Ehrenhof und mächtigem, säulengestütztem Portikus. Auch Materialwahl und Grundrissgestaltung zeugen von einem recht traditionellen Baukörper, handelt es sich doch um ein monumentales, rechtwinklig angeordnetes Ensemble, dessen zwei quadratische Innenhöfe von einem Mitteltrakt getrennt werden, den ein 60 m hoher Förderturm überragt. Das weltweit grösste Bergbaumuseum mit gigantischen Ausmassen von 7000 m² Ausstellungsfläche hat aber noch weit mehr zu bieten. Zu dem Museumscarrée kommt noch ein Anschauungsbergwerk von 2.5 km Länge hinzu.

«Abstrakter Kubus», «konkrete» Gänge, Stollen und Rampen

Für das Team von Benthem Crouwel (Amsterdam / Aachen), das derzeit auch den Anbau des Amsterdamer Stedelijk-Museums fertigstellt, war das majestätische Bergbaumuseum aus der Ära des Industriezeitalters, wie es von Krupp und Haniel geprägt wurde, eine Herausforderung. Als sich die Architekten 2006 an dem Wettbewerb beteiligten, wurde ihnen schnell klar, dass der Altbau nach einem expliziten Gegengewicht verlangt, was sie mit deutlichen Anleihen am Expressionismus und an der Bauhaus-Moderne zu bewerkstelligen suchten. Entstanden ist ein Anbau, der die einen an Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat denken lässt. Andere, insbesondere einheimische Ruhrpottler, erinnern sich vielleicht an die Zeit der Kohlenförderung und assoziieren dabei einen «schwarzen Diamanten». Tatsächlich hat sich mittlerweile in Bochum die Redewendung vom «schwarzen Diamanten» eingebürgert. Benthem Crouwel entschieden sich für einen schwarzen Kubus, der lediglich im ersten Augenblick hermetisch wirkt. Während Farbe und Gestalt das Fördermaterial Kohle evozieren, von dem die gesamte Region seit dem frühen 19. Jahrhundert lebte, taucht gleichzeitig der Querschnitt des Bergwerks mit seinen Gängen, Stollen und Rampen vor dem geistigen Auge auf. Daran gemahnen die beiden «Bandbrücken», die den Freiraum zwischen Alt- und Neubau überspannen und sich dabei dramatisch überkreuzen. Die Architekten sparten gleichwohl nicht mit heiteren Farben, und so behandelten sie sämtliche neuen Erschliessungswege – die beiden Rampen, auf denen man zu den Wechselausstellungen im Anbau gelangt, und das neue Stiegenhaus – mit poppigem Melonengelb, bestehend aus einer Polyurethanbeschichtung des Betons.Benthem Crouwel bevorzugen kräftige Farben: Zu dem Schwarz, das auf die fugenlose raue Putzoberfläche des Museumskubus aufgetragen und mit glitzernden Siliciumcarbid- Splittern vermengt wurde, tritt also das grelle Melonengelb, das sich bestens zum expressionistischen Aspekt des Anbaus gesellt, nämlich den Zickzacklinien des Fensterbandes, die vom Erdgeschoss bis hinauf in die zweite Etage verlaufen. Die schwarze Putzfassade, die vor den tragenden Stahlbetonwänden abgehängt ist, kontrastiert auch mit der Glasfassade des Foyers. Abends, wenn die Beleuchtung angeschaltet ist, kommunizieren die Zickzacklinien mit den schmalen Fensterschlitzen der Verbindungsrampen und sorgen für anregende Farbeffekte. Bei Tageslicht entdecken die Museumsbesucher, dass sich die gezackten Fensterbänder auf dem Dach fortsetzen und den Blick auf den Förderturm freigeben.

«Steife» Box, stützenfreie Räume

Konstruktionstechnisch haben sich Benthem Crouwel von der Idee der «steifen Box» leiten lassen, wobei die Aussen- und die Kernwände die vertikal aussteifenden Tragelemente bilden. Aus der Konstruktion resultiert auch die technische Gebäudeausrüstung – Betonkerntemperierung, die es erlaubt, Wände oder Decken zu heizen oder zu kühlen. Die gewählte Struktur bietet bei Ausstellungen grosse Vorzüge: Weil die Deckenscheiben die horizontale Kopplung der Wände gewährleisten, war es möglich, grosse, stützenfrei überspannte Räume zu gestalten, die bestens für die geplanten Wechselausstellungen im Neubau geeignet sind. Dabei setzten die Architekten darauf, dass die für Sonderausstellungen vorgesehenen Bereiche auf der ersten und der zweiten Ebene möglichst flexibel zu bespielen sind. Beispielsweise möchte man im 6 m hohen ersten Geschoss eine Raumhälfte für Vorträge abtrennen, ohne dabei den Ausstellungsbetrieb zu beeinträchtigen.

Wandelt man das melonengelbe Stiegenhaus hinauf zum obersten, etwas niedrigeren Stockwerk, überrascht nicht nur die freie Sicht auf das Fördergerüst. Ein frei gelassener Deckenausschnitt erlaubt auch den ungehinderten Blick auf die untere Ausstellungsetage, wo Videos über die Bergbauregion zu sehen sind. Wegen dieser spannenden Blickbezüge ist die Raumgestaltung des zweiten Obergeschosses am überzeugendsten gelungen.

Bergbauatmosphäre atmen

Für die Kuratoren stellt sich die Frage, wie man am besten Ausstellungen zwischen den rauen Sichtbetonwänden konzipiert. Offenbar ist die widerständige Materialität der Betonwände bestens geeignet, um die Industriearchäologie des Ruhrgebiets zu zeigen. So sieht man hier nicht nur ein blank geputztes Goggomobil, ein niedliches Wirtschaftswunder auf vier Rädern, sondern auch ein monströses Schaltwerk aus dem Steinkohlenabbau im rheinischen Hückelhoven. Heutzutage bedarf es allerdings einer modernen Projektionsleinwand, um verfolgen zu können, wie das Schaltwerk funktioniert – wie es Kohlenförderung, Pumpen und Belüftung regelt. Die Atmosphäre von Bergbau und Industrialisierung, die für die jüngere Ruhrgebietsgeneration keineswegs mehr eine alltägliche Erfahrung bildet, ist hier sinnlich wahrnehmbar. Im Erdgeschoss, wo der reguläre Parcours endet, befindet sich ein kleinerer Raum für die Dauerausstellung – die St. Barbara-Sammlung des Esseners Rolfroderich Nemitz, der zu Ehren der Schutzpatronin der Bergleute Kunstwerke zusammentrug, die besonders die Freunde des Bergbaus interessieren dürften.

Museumsdirektor Rainer Slotta ist sichtlich stolz über den gelungenen Neubau, der weit über den vorgelagerten Europaplatz hinweg sichtbar ist. Kürzlich weihte man die neuen Räume mit einer Ausstellung über den Steinkohlenbergbau nach 1945 ein, es folgen Präsentationen über den Kupferbergbau der Anden und die Alabastersteinbrüche der Königin von Saba. Slottas letzte Errungenschaft: Auch das «Visitors Center» im Altbau, das über die Aktivitäten von «Ruhr 2010» informiert, ist jetzt fertig gestellt worden.

TEC21, Fr., 2010.03.19



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19. Februar 2010Klaus Englert
TEC21

Jacobsen «untergraben»

Arne Jacobsens (1902–1971) Munkegårdsskolen in Gentofte bei Kopenhagen (1952–1956) revolutionierte den Schulhausbau: Mit seinem Rastermodell, zweifellos die originellste Entwurfsidee, übersetzte er die pädagogischen Reformgedanken in gebaute Architektur. Und obwohl er Nachahmer fand, wurde es nirgends konsequenter umgesetzt als in der Gentofter Munkegårds-Schule. Die dänische Architektin Dorte Mandrup «huldigt» dem Zeitzeugen mit einer kongenialen, im Herbst 2009 eröffneten Erweiterung.

Arne Jacobsens (1902–1971) Munkegårdsskolen in Gentofte bei Kopenhagen (1952–1956) revolutionierte den Schulhausbau: Mit seinem Rastermodell, zweifellos die originellste Entwurfsidee, übersetzte er die pädagogischen Reformgedanken in gebaute Architektur. Und obwohl er Nachahmer fand, wurde es nirgends konsequenter umgesetzt als in der Gentofter Munkegårds-Schule. Die dänische Architektin Dorte Mandrup «huldigt» dem Zeitzeugen mit einer kongenialen, im Herbst 2009 eröffneten Erweiterung.

Gentofte liegt nur wenige Kilometer nördlich von Kopenhagen. Es ist ein beschauliches und wohlhabendes Städtchen, mit ausgeprägtem Trend zum Eigenheim-Idyll. Gentofte ist weder eine gewöhnliche Schlafstadt noch eine der typischen Suburbs, weshalb es die Einheimischen nach getaner Arbeit in Kopenhagen weiterhin vorziehen, ins beschauliche Heim vor den Toren der Hauptstadt zurückzukehren.

Ausgerechnet das kleinstädtische Gentofte war in den 1950er-Jahren Schauplatz einer kleinen architektonischen Revolution. Es war die Zeit, als viele westeuropäische Kommunen aufgrund der Kriegszerstörungen erheblichen Bedarf an neuen, richtungweisenden Schulbauten hatten. Und es war die Zeit, als viele Architekten neue Schultypologien ausprobierten und kindergerechtere Klassenräume bauten (vgl. nebenstehenden Kasten). Die Nouvelle vague neuer Schulen begann allerdings im nördlichen Gentofte, als 1949 ein Wettbewerb für die Munkegårdsskolen ausgelobt wurde, den der damals 47-jährige Arne Jacobsen mit einer ungewöhnlichen Gebäudetypologie gewann. Zunächst widmete sich die Zeitschrift «Arkitekten» dem Thema «eingeschossiger Schulbau» und publizierte den siegreichen Entwurf, schliesslich zog nach Fertigstellung des Projekts die internationale Fachpresse nach, die allseits lobte, durch Jacobsens Munkegårdsskolen seien neue Massstäbe im Schulbau erreicht worden. Anerkennung fand besonders der intime Massstab der Schule, die immerhin 850 Kinder aller Altersgruppen aufnehmen sollte.

Mehrgliedriges Ensemble statt monolithischem Baukörper

Jacobsen war bestrebt, den traditionellen monolithischen, mehrgeschossigen Baukörper zugunsten eines mehrgliedrigen, eingeschossigen Ensembles aufzulösen, und reagierte damit auf die allen voran von Rudolf Steiner propagierte Reformpädagogik, die nicht nur einen mehr auf die kindlichen Bedürfnisse ausgerichteten Unterricht forderte, sondern auch Schulgebäude, die den neuen pädagogischen Erfordernissen besser entsprechen. Diese Reformgedanken machte sich 1933 der Architekt Edvard Thomsen (1884–1980) zu eigen, als er in «Arkitekten» forderte, man solle in Dänemark von der «munteren Renaissance» der Pavillonschule in Deutschland und England lernen. Dabei lobte er die einhüftigen Korridore, da sie im Gegensatz zu den üblichen Mittelkorridoren mehr Tageslicht hereinlassen.

Jacobsens Entwurf zielte darauf ab, den geschlossenen Baukörper zugunsten einer modularen «open-end»-Struktur, einer seriellen Addition von eingeschossigen Klassentrakten aufzulösen, deren Grundriss einem Teppichmuster gleicht (Abb. 1). Die Klassen, die quer zum Festsaal in Bändern angeordnet sind, werden von parallelen Verbindungsgängen durchschnitten, während die verbliebenen Zwischenräume als frei zugängliche Innenhöfe gestaltet wurden. Jacobsen wollte damit erreichen, dass die Kinder während des Unterrichts auf den grünen Patio hinausschauen und sich ablenken können. Entstanden ist dabei ein repetitives Muster aus linearen, rechtwinkligen Modulen. Prima vista hat die Munkegårds- Schule tatsächlich eine offene Struktur. Genaugenommen gehorcht sie aber klaren Ordnungsprinzipien und einer durchaus hierarchischen Ausrichtung: Das schulische Ensemble wird nämlich durch einen mittig angeordneten Festsaal strukturiert, während der zweigeschossige Riegel, der die Fachklassen und die Lehrerbibliothek aufnimmt, den Komplex im Norden abschliesst. Zudem setzt sich diese Begrenzung im südlichen Bereich fort, insofern die Frontgebäude, die überdachten Fahrradschuppen und die beiden Flügel der Sporthallen die Klassentrakte sowie den lang gestreckten Schulhof sehr markant einfassen.

Der Entwurf für die Munkegårds-Schule entbehrt also nicht eines gewissen Paradoxons: Einerseits zeichnet er sich durch eine nicht hierarchisch aufgebaute Systemstruktur aus, die sich am Grundriss des Gitters orientiert. Andererseits ist eine starke Begrenzung und Zentrierung des Ensembles unverkennbar. Jacobsen berücksichtigte zwar auch Elemente, die den seriellen Charakter der Anlage mildern – etwa die nach Norden ausgerichteten Pultdächer der beiden Sporthallen und die nach Süden orientierten Sheddächer der Klassenzimmer –, aber insgesamt ordnen sich diese Elemente dem Gesamtcharakter unter. Das Rastermodell bleibt die originellste Entwurfsidee, und trotz dem Zeittrend wurde es nirgends konsequenter umgesetzt als in der Munkegårds-Schule. Angesichts der internationalen Diskussion um eine Neuausrichtung der Schularchitektur dauerte es nicht lange, bis einige westliche Architekten die Rasterstruktur konsequenter ausbauten (vgl. Kasten S. 16).

Restaurierung und Erweiterung durch Dorte Mandrup

Ähnlich wie in den 1950er-Jahren zeigt sich das Kopenhagener Baudezernat heutzutage offen für neue Entwürfe in der Schularchitektur. Das zeigt sich nicht nur an dem grossartigen, 2007 fertig gestellten Örestad-Gymnasium des dänischen Büros 3XN, das die Schule ausgehend von einem einzigen kontinuierlichen Raumkörper entwickelte und dabei konsequent auf die geometrischen Formen Arne Jacobsens zurückgriff, sondern auch an Erweiterungsbauten für Schulen, die unter Denkmalschutz stehen. Hierzu gehört auch die Gentofter Munkegårdsskolen, die dringend einen Anbau benötigte. Das Baudezernat richtete deswegen einen begrenzten Wettbewerb aus. Die eingereichten Entwürfe kollidierten aber mit den rigiden dänischen Denkmalschutzbestimmungen. Daraufhin, im Februar 2005, beauftragten die Gemeinde Gentofte und die Denkmalschutzbehörde Dorte Mandrup Arkitekter, einen eigenen Entwurf zu erarbeiten, der auf Zustimmung stiess.

Dorte Mandrup, die im trendigen Viertel Nørrebro in Kopenhagen zusammen mit Vandkunsten und dem Senkrechtstarter BIG ein Atelierhaus bezogen hat, musste im Rahmen eines eng begrenzten Etats zwei Aufgaben in Angriff nehmen. Zunächst ging es darum, den Altbau der Munkegårds-Schule zu renovieren, deren Bausubstanz in viel schlechterem Zustand war als zunächst angenommen (vgl. S. 22ff.). Mauerwerk sowie Dachränder und Dacheindeckungen der Flach- und Pultdächer mussten saniert sowie die Bodenbelägeersetzt werden. In den Klassenräumen wurden Verbindungstüren eingebaut, um eine Adhoc- Vergrösserung der Räume zu ermöglichen. Im renovierten Gymnastiksaal wurde die Trennung zwischen Knaben und Mädchen aufgehoben.

Um das Innenraumklima zu verbessern, wurden sowohl die Oberlichter als auch die Jalousien mit einer automatischen Steuerung ausgerüstet. Denn es galt, den teilweise extremen Lichteinfall in die Klassenzimmer zu filtern. Um auch in den sonnenarmen Wintermonaten möglichst viel natürliches Licht in die Räume zu bringen, hatte Jacobsen sie nämlich nach Süden ausgerichtet.

An dem von Jacobsen liebevoll mit eigenen Designentwürfen gestalteten Festsaal nahm Dorte Mandrup den optisch prägnantesten, materiell aber durchaus respektvollen Eingriff am Bestehenden vor. Trotz der Umwandlung in ein «pädagogisches Entwicklungszentrum» mit dem reversiblen Einbau einer Treppenlandschaft mit integrierter Bibliothek bleibt genug Raum, um den Saal nach wie vor als Theater zu nutzen – inklusive originalem Bühnenvorhang (Abb. 4 und 19–22).

Gleichermassen respektvoll wie mutig

Die eigentliche Herausforderung bestand aber darin, für den Gebäudeannex eine einfache, intelligente und die historische Bausubstanz respektierende Lösung zu finden. Dorte Mandrup überzeugte die Denkmalschutzbehörde mit ihrem Vorschlag, den Anbau im südlichen Bereich des Schulkomplexes, unterhalb des vorgelagerten Hofs, anzugliedern. Es handelt sich um einen unsichtbaren, 100 m langen Riegel, der durch die Pavillontrakte erschlossen wird. Auf dem Schulhof ist die Erweiterung einzig durch vier gläserne Atrien wahrnehmbar, die den Innenraum des Riegels mit Tageslicht versorgen. Markant sind die schräg gestellten Stahlstützen und Profile, die entlang dieser Glasprismen die Lasten abtragen.

Design im Geiste Jacobsens

Dorte Mandrup gelang eine einfache räumliche Segmentierung, indem sie den schlauchförmigen Raum in Haupt- und Seitentrakt unterteilte. Der lang gestreckte Riegel wird ausserdem durch die vier begehbaren Atrien unterteilt – eine Replik auf Jacobsens Patios (Abb. 5 und 15–18). Deren Fussböden weisen jeweils unterschiedliche Motive auf: Kreise, Zahlen und Buchstaben, stilisierte Blüten sowie Kristalle. Es sind bildhafte Übersetzungen der in den angelagerten Räumen unterrichteten Fächer Ernährung und Gesundheit, Körper und Bewegung, Natur und Technik sowie Physik und Chemie.

«Natur» hat Dorte Mandrup in den Toilettenbereich gezaubert, der wegen seiner grellen Farbigkeit ins Auge springt. Um das Unfallrisiko zu begrenzen – erläutert die Architektin während eines Rundgangs –, habe sie den Durchgangsraum zu den einzelnen Toiletten nahtlos mit dem Flur verbunden. Dieser offene Bereich ist eine Augenweide: Auf grün schimmerndem Epoxidharz wurden quer über Fussboden, Wände und Toilettentüren Motive von Zweigen, Blättern und Knospen angebracht. Als Vorlage diente ein von Arne Jacobsen entworfenes Motiv für eine Tapete, das in der Danish Art Library aufbewahrt wird. Das Motiv wurde vergrössert und mit einem grünen Grund hinterlegt (siehe inneres Titelbild). Ausserdem wählte sie für Wände und Mobiliar abwechselnde und lichte Farben – für die kreisrunden Tische und die ebenfalls kreisrunde Sitzgarnitur vornehmlich Rot, Grün und Orange. Das ist eine Reverenz an Arne Jacobsen, der im Altbau zur gleichen Farbpalette griff. Besondere Aufmerksamkeit verwendete Mandrup für das kindergerechte Sitzmöbel, denn immerhin hatte Jacobsen für die Munkegårdsskolen neben dem Design der Schreibpulte, der Wanduhren, der Türklinken, der runden Deckenleuchten und des Bühnenvorhangs im Festsaal auch vier unterschiedliche, farbige Stuhltypen entworfen.

Dorte Mandrup, die in Kopenhagen zuvor die viel beachtete Sporthalle «Prisma» in Amager (2006) und die Kindertagesstätte «Krausesvej» im gleichnamigen Quartier (2005) baute, gelang eine sinnvolle Unterteilung des angegliederten Riegels. Entlang der lichtspendenden Atrien gestaltete sie den Haupttrakt als «Mehrzweckraum» für die nachschulischen Aktivitäten der Kinder. Der Trakt endet mit einer hellgrün gestalteten Küche. Hier soll das gemeinsame Kochen als Teil des Unterrichtsprogramms gelernt werden. Kochen steht tatsächlich hoch im Kurs der Munkegårdsskolen: Dorte Mandrup richtete nämlich im Seitentrakt zusätzlich eine kleinere Küche ein, in der exotische Gerichte aus fernen Ländern ausprobiert werden sollen. Aber natürlich ist auch an die Naturwissenschaften gedacht, und so grenzen an die Experimentalküche die nüchterneren Physik- und Chemielabore an. Bereits «Prisma» und «Krausesvej» beweisen, dass die beste Architektur für die spielerischen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen selbst spielerisch sein sollte. Für den Annex der Munkegårdsskolen ist der Architektin Dorte Mandrup dieser Coup ein weiteres Mal gelungen.

TEC21, Fr., 2010.02.19



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TEC21 2010|08 Munkegårdsskolen

15. Januar 2009Klaus Englert
TEC21

«Cultuurcluster», Enschede

Die verheerende Explosion der Feuerwerkfabrik S. E. Fireworks im nördlichen Stadtteil Roombeek der niederländischen Stadt Enschede am 13. Mai 2000, die 23 Menschen in den Tod riss und etwa 1000 Verletzte hinterliess, war Anlass, Pläne für ein gänzlich neues Roombeek zu erarbeiten. Der Masterplan der Amsterdamer Pi de Bruij n Architecten Cie. sollte es den einstigen Bewohnern ermöglichen, wieder in ihren Stadtteil zurückzukehren. Namhafte Architekten schufen ein attraktives städtisches Milieu, qualitätsvollen Wohnungsbau, anspruchsvolle Kultur angebote und soziale Einrichtungen.

Die verheerende Explosion der Feuerwerkfabrik S. E. Fireworks im nördlichen Stadtteil Roombeek der niederländischen Stadt Enschede am 13. Mai 2000, die 23 Menschen in den Tod riss und etwa 1000 Verletzte hinterliess, war Anlass, Pläne für ein gänzlich neues Roombeek zu erarbeiten. Der Masterplan der Amsterdamer Pi de Bruij n Architecten Cie. sollte es den einstigen Bewohnern ermöglichen, wieder in ihren Stadtteil zurückzukehren. Namhafte Architekten schufen ein attraktives städtisches Milieu, qualitätsvollen Wohnungsbau, anspruchsvolle Kultur angebote und soziale Einrichtungen.

Die holländische Grenzstadt Enschede wurde von mehreren schweren Unglücksfällen heimgesucht. 1862 zerstörte ein Grossbrand den historischen Stadtkern. Im 2. Weltkrieg bombardierten versehentlich alliierte Flieger die Stadt, die für ihre blühende Textilindustrie bekannt war. Die jüngste Katastrophe, die Explosion der Feuerwerkfabrik S. E. Fireworks, legte den ganzen nördlichen Stadtteil Roombeek in Trümmer. Selbst acht Jahre nach der Katastrophe sind etliche Wunden noch sichtbar.

Mittlerweile wurde das Zentrum von Roombeek mit Schulen, Kultureinrichtungen, Wohnungsbau und Gastronomie erfolgreich revitalisiert. Auch die wesentlichen Anforderungen des Masterplans von Pi de Bruijn Architecten konnten umgesetzt werden. Es galt zuerst, die Rückkehr der Bewohner in ihr Stadtquartier zu ermöglichen. 1350 Wohnungen sieht der Masterplan vor. Zwar weist die Infrastruktur noch Lücken auf, doch im Zentrum des Stadtquartiers konnten bereits neue Akzente gesetzt werden. Das Industrieviertel wich einem lebendigen Stadtquartier. Am Roombeek-Bach, der gelungen ins Stadtbild integriert wurde, befi ndet sich das ehemalige Grundstück der 1995 aufgegebenen Rozendaal-Textil fabrik. Bjarne Mastenbroek und sein Amsterdamer Büro SeARCH wandelten das Fabrikgelände in den «Cultuurcluster» um – mit Künstlerateliers, Wohnungen, Museum, Kunstgalerie und Café. Auf der Ostseite des Areals beliess Masten broek die lang gestreckte Fabrikhalle, die westlich davon befi ndlichen Gebäude liess er abreissen.

Turmbau

An deren Stelle errichtete er einen sechsgeschossigen Turmbau mit umlaufendem Fensterband als Attraktion des neu entstandenen Roombeek-Viertels. Da die Geschosstiefen nach oben hin zunehmen, ragt der Turm wie ein Keil aus der Fabriklandschaft heraus. An der Fassade hängt ein metallisches Gewebe, das gegen Sonnenstrahlen schützen und an die traditionellen Webetechniken erinnern soll. Das Gebäude nennt sich nach der holländischen Provinz Twentse Welle und bildet den Verwaltungsbau dreier Museumseinrichtungen, die sich auf naturkundliche, heimatkundliche und textilgeschichtliche Sammlungen spezialisiert haben.

Sichelförmige Dacher, bandförmiger Anbau, signalroter Steg

Das Foyer der Twentse Welle gestaltete SeARCH mit expressiven, sichelförmigen Dachelementen. Von hier aus bieten sich zwei Erschliessungen zu den Ausstellungsfl ächen an: zunächst der Zugang zu einem bandförmigen, backsteinverkleideten Anbau, dessen Erdgeschoss Wechselausstellungen dient, während die oberen Geschosse Atelierwohnungen aufnehmen. Und dann der Weg über einen signalroten Stahlsteg, der die «Kulturstrasse » des Quartiers überquert, ins unterirdische Reich der Dauerausstellung. Dieser 110 m lange, vom Amsterdamer Team Opera gestaltete Raum bietet ein lebendiges Ambiente für überraschende Entdeckungsreisen, von lärmenden Maschinenungeheuern bis zu Raumkompartimenten, die Screens mit Informationen zur Regionalgeschichte präsentieren.

Spuren der frühreren Nutzung

Zum «Cultuurcluster», den Mastenbroek in den letzten Jahren auf dem Rozendaal-Areal schuf, gehört auch eine öffentliche Galerie, die sich «21 Rozendaal» nennt und Ausstellungen zeitgenössischer Kunst organisiert. Der Amsterdamer Architekt liess den rechtwinkligen Umbau und das rückseitige, bandförmige Klinkergebilde an der Strassenfront zusammenlaufen, sodass ein begrünter Zwischenbereich als Rückzugsort und Hortus conclusus entstand. Mastenbroek legte beim Umbau des Fabrikgebäudes zur Galerie Wert darauf, Spuren der früheren Nutzung beizubehalten. Und so erinnert das Gebäude etwas an ein Patchworkgebilde: Neben den neuen Beton- und Klinkerfassaden wurden ursprüngliche Pfeiler beibehalten, ebenso Teile des alten, unverputzten Mauerwerks mit Graffi ti- und Keramikresten sowie die unterhalb des Fussbodens sichtbaren Transportbänder fürBaumwolle.

Mastenbroek wollte nicht den üblichen Galerienchic, er spielt lieber mit ruppiger Industrieatmosphäre. Diese Methode wandte er auch im «Cultuurcluster»-Café am Kopfende der Rozendaal-Halle an. Überzeugend gelang SeARCH ebenso die Gestaltung des frei gewordenen Platzes, der durch den Roombeek-Bach und einige expressiv gestaltete Apartmenthäuser eingefasst wird, deren sägeförmige Dachformation an die Zickzacklinien der belassenen Umfassungsmauern von Rozendaal erinnert.

Clash of materials - Cluster of masters

Ein weiteres Museumsprojekt hat sich Bjarne Mastenbroek zusammen mit Rem Koolhaas für das angrenzende Textillager Balengebouw vorgenommen. Koolhaas wird, nachdem er vor einigen Jahren die Kohlenwäsche auf der Essener Zeche Zollverein in das Ruhrmuseum umrüstete, ein weiteres Industriefossil museumstauglich machen. Der quaderförmige Klinkerbau, durch dessen Turm ein während der Explosion emporgeschleuderter Betonblock zwei Löcher gerissen hat, soll die moderne Sammlung des Künstlers Jan Cremer aufnehmen. Das Cremermuseum wird wie ein «clash of materials» anmuten und den Eindruck vermitteln, als ob der bunkerhafte Charakter des Lagergebäudes von 1896 von innen aufgesprengt würde. Pi de Bruijn hat südlich des Balengebouw die Anlage von Wohnhäusern vorgesehen. Eckpunkt und Landmarke ist Roombeeks höchster Wohnturm, «Zorgcluster» der Amsterdamer Claus en Kaan. Die Reihe der individuell geprägten Wohnhäuser entlang des grün belassenen Explosionszentrums erinnert an Amsterdams Scheepstimmermanstraat, wo internationale Architekten ihre persönliche Handschrift hinterliessen. An der Museumslaan, die Cremermuseum und Rijksmuseum Twenthe verbinden wird, baute der Rotterdamer Erick van Egeraat die doppelgeschossige, fast rundum verglaste Villa «Tektoniek» mit mächtigem Betondach. Bolles Wilson errichteten einen langgestreckten Riegel mit einer Fassade aus schwarz-weissen Streifen, und Benthem Crouwel versteckten das Gebäude-Innenleben des Glazen Huis hinter einer gekurvten und opaken Glasfassade.

Das Stigma von der postindustriellen Stagnation hat man im Textilstandort Roombeek schnell überwinden können. Dank einem mutigen Masterplan, der die vorhandene Bausubstanz der industriellen Vergangenheit mit stadtprägender neuer Architektur zu verbinden weiss.

TEC21, Do., 2009.01.15



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tec21 2009|01-02 Nach dem Knall

17. November 2008Klaus Englert
Metamorphose

Eine Schule als Gesamtkunstwerk

Ein Juwel der Nachkriegsarchitektur ist die Grundschule Rolandstraße in Düsseldorf. Paul Schneider-Esleben hatte hier gemeinsam mit ZEROKünstlern ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das in den vergangenen Jahren allerdings unbeachtet vor sich hin dämmerte. Legner und van Ooyen Architekten haben die Schule von 1961 nun mit viel Einfühlungsvermögen modernisiert.

Ein Juwel der Nachkriegsarchitektur ist die Grundschule Rolandstraße in Düsseldorf. Paul Schneider-Esleben hatte hier gemeinsam mit ZEROKünstlern ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das in den vergangenen Jahren allerdings unbeachtet vor sich hin dämmerte. Legner und van Ooyen Architekten haben die Schule von 1961 nun mit viel Einfühlungsvermögen modernisiert.

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Metamorphose 2008/06 Die Boomjahre

01. September 2008Klaus Englert
TEC21

Kunst elektrisiert

Madrid erlebt momentan einen regelrechten Museumsboom. Manche beschwören schon ein neues «siglo de oro», ein neues Goldenes Zeitalter, herauf, denn im Herzen Madrids wird derzeit eine Kunstmeile vollendet, die alles Dagewesene in Spanien in den Schatten stellt.

Madrid erlebt momentan einen regelrechten Museumsboom. Manche beschwören schon ein neues «siglo de oro», ein neues Goldenes Zeitalter, herauf, denn im Herzen Madrids wird derzeit eine Kunstmeile vollendet, die alles Dagewesene in Spanien in den Schatten stellt.

Entlang dem Paseo del Prado, der von der prachtvollen Plaza Cibeles im Norden bis zum Bahnhof Atocha im Süden führt, befinden sich in kurzer Entfernung die drei wichtigsten Kunstsammlungen Madrids: Museo Thyssen-Bornemisza mit den Sammlungen von Heinrich und Carmen Thyssen-Bornemisza, Museo Nacional del Prado mit den königlichen Sammlungen und Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía mit Werken aus dem 20. Jahrhundert. Die Museumsmeile «Paseo del Arte» umfasst die Erweiterung dieser grossen Kunstsammlungen sowie die Errichtung der gerade fertiggestellten Kunsthalle Caixa Forum der renommierten katalanischen Stiftung La Caixa. Damit ist das ambitionierte Projekt «Paseo del Arte» noch nicht abgeschlossen, denn Prado-Direktor Miguel Zugaza möchte sein Museum durch Hinzunahme des angrenzenden Museo del Ejército (Heeresmuseum) und des Casón del Buen Retiro zum «Campus del Museo del Prado» vereinen, um zusätzliche Ausstellungsflächen und ein Forschungszentrum zu erhalten. Zu guter Letzt kommt noch die städtebauliche Umgestaltung des Paseo del Prado durch den Portugiesen Alvaro Siza hinzu.

Der Umbau der drei namhaften staatlichen Museen am Paseo del Prado konnte im Herbst 2007 mit dem von Rafael Moneo gestalteten Erweiterungsbau des Museo del Prado beendet werden. Im Februar folgte schliesslich die private Kunsthalle der Stiftung La Caixa. Lange mussten die Madrider auf das mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Caixa Forum des Basler Teams Herzog & de Meuron warten. Doch nun braucht man nur die Strasse zu überqueren, um vom Prado zur neuen Kunsthalle zu gelangen. Auch der erweiterte Musentempel Museo Thyssen-Bornemisza und das Museo Reina Sofía mit Jean Nouvels aufsehenerregendem Anbau befinden sich in unmittelbarer Nähe.

Herzog & de Meuron stellten sich der anspruchsvollen Aufgabe, die denkmalgeschützten Umfassungsmauern eines Elektrizitätswerks, der «Central Eléctrica del Mediodía» von 1899, nahezu komplett in den Museumsneubau zu integrieren. Arata Isozaki hatte es etwas einfacher, als er sechs Jahre zuvor für die Caixa Forum-Kunsthalle in Barcelona den Ziegelbau der 1911 von Josep Puig i Cadafalch errichteten modernistischen Tuchfabrik lediglich um einen abgesenkten Eingangsbereich erweiterte. Herzog & de Meuron akzentuierten nicht nur die spannungsvollen Beziehungen zwischen Alt- und Neubau, sie erklärten das neue Museum schlechthin zum «Magneten» für ganz Madrid. Gemessen an der moderaten Formensprache des «klassizistischen» Prado-Annexes gingen die Schweizer Baumeister ein grösseres Wagnis ein. Sie wollten beweisen, wie radikal zeitgenössisches und fantasievolles Bauen in einem traditionellen städtischen Umfeld möglich ist. Nun, der Nachweis ist ihnen zweifellos geglückt.

Gebirgsmassiv

Gegenüber des Königlichen Botanischen Gartens gelegen, ragt das Caixa Forum aus dem leicht ansteigenden Wohnviertel wie ein Gebirgsmassiv empor. Der neue Baukörper wurde auf die bestehende Ziegelfassade des Elektrizitätswerks aufgestockt, während man den Granitsockel des Altbaus abriss. Die hochgezogene Fassade versteht Jacques Herzog als «zerklüftete Landschaft», geprägt von Schrägen und Einbuchtungen. Dabei orientiert sich das Rot der gusseisernen Fassadenplatten an den Dachziegeln der angrenzenden Wohnbauten. Diese Platten gehören zur architektonischen Attraktion des Museums: Sie besitzen alle ein engmaschiges Perforationsraster, ausserdem unregelmässig geformte Einschnitte. Diese Module schirmen das aufgepfropfte Gehäuse wie eine Aussenhaut ab. Herzog & de Meuron interessieren sich seit mehreren Jahren für diese hybriden Konstruktionselemente, die sie wegen ihrer textilen und dekorativen Eigenschaften schätzen. Auch in der im Bau befindlichen «Ciudad del Flamenco» von Jérez de la Frontera kommen diese Elemente, die an die Fassadenstruktur der Moschee von Córdoba (784–987 n. Chr.) erinnern, zum Einsatz. Die «porösen» Platten des Caixa Forum funktionieren gleichzeitig als Fassade und Fensteröffnung: Sie schliessen ab, leiten aber zugleich gedämpftes Licht in die Museumsräume, in denen sie für ein angenehmes Clair-obscur sorgen.

Pilzdach

Auch konstruktionstechnisch hebt sich der hochkomplexe Baukörper von allen anderen Museumsprojekten auf dem Paseo del Arte deutlich ab (siehe «Dreibein, Korsett und Regenschirme», S. 24 ff.). Harry Gugger, Partner von Herzog & de Meuron, erklärte dazu: «Anfangs dachte niemand an die enormen Schwierigkeiten, die das Projekt mit sich brachte. Zunächst galt es, das Gebäude abzustützen, erst danach konnte der Granitsockel des Altbaus entfernt werden.» Das gesamte Gebäude lastet in den Untergeschossen auf drei mächtigen Pfeilern, die aus dem Fundament ragen. Doch davon bemerkt der Besucher nichts. Er nimmt nur den verkleideten Betonkern wahr, einen mächtigen Stängel, über dem sich das Gebäude wie ein Pilzdach wölbt. Dieser prismatisch geformte Eingangsbereich mit öffentlichem Platz unter dem schützenden Dach mutet wie expressionistische Filmarchitektur an. Die in den zwei Untergeschossen untergebrachten Säle, an deren Wände perforierte Aluminiumplatten angebracht wurden, sind allesamt stützenlos. Ebenso die Ausstellungssäle in der zweiten und dritten Etage. In den fünf oberen Geschossen, die sich über dem buchstäblich aufgelösten Sockelgeschoss erheben, demonstrieren die Basler, wie man Räume sinnlich gestaltet: Im Restaurant hängen tropfenförmige Lampen aus der Werkstatt von Herzog & de Meuron. Die Treppenhausspirale mit ihren elegant geschwungenen Ecken erstrahlt in blendendem Weiss. Und im Foyer überrascht der ruppige Charme eines von Neonröhren, Stahlboden und unverdeckten Ablüftungsrohren geprägten Industrie-Ambientes. Das Direktorenzimmer mag zunächst klaustrophobische Ängste wecken, bis man die Fensterschlitze unterhalb der Decke entdeckt.

Seit Langem gehört es zum Arbeitsprinzip von Herzog & de Meuron, mit bildenden Künstlern und Fotografen zusammenzuarbeiten. Diesmal luden sie den französischen Gartenkünstler Patrick Blanc ein, auf dem öffentlichen Vorplatz, der früher von einer Tankstelle verstellt war, landschaftsarchitektonische Akzente zu setzen. Blanc gestaltete die Brandmauer eines den Platz einfassenden Gebäudes als lebendige Pflanzenwand. An dieser quer zur Kunsthalle emporragenden Wand wachsen 15 000 Pflanzen von 250 verschiedenen Arten, aufgehängt an einem metallischen Gewebe, das gleichzeitig als Bewässerungssystem dient. Gegenüber dem Botanischen Garten zweifellos ein unwiderstehlicher Blickfang für die Passanten am Paseo del Prado.

Das Caixa Forum wird sich als machtvolle Konkurrenz zum benachbarten Museo Reina Sofía entwickeln. Beide Institutionen haben sich in Spanien als führende Museen für die Kunst des 20. Jahrhunderts etabliert, allerdings liegt der Sammlungsschwerpunkt des Caixa Forum mehr auf der Gegenwartskunst, beginnend mit den Nachkriegsströmungen um Joseph Beuys, Bruce Nauman, Bill Viola, Anselm Kiefer, Gerhard Richter und Georg Baselitz. Ähnlich wie das Museo Reina Sofía, das seit Kurzem der experimentierfreudige Manuel Borja Villel leitet, wird man nicht nur auf Ausstellungen setzen, sondern auf Konzertreihen, Debatten und ungewohnte Veranstaltungsformen. Die Rivalität der beiden Institutionen am Paseo del Prado dürfte sich als befruchtend erweisen.

TEC21, Mo., 2008.09.01



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15. August 2008Klaus Englert
Bauwelt

Seine Majestät wünschen Moderne.

Heute scheint das kaum vorstellbar: Vor fünfzig Jahren gab es unter dem Haschemiten-König Feisal II. eine Aufbruchsphase im Irak, die eine Blütezeit moderner Architektur in Bagdad einleiten sollte. Die fünfjährige Regentschaft des jungen Königs – die mit seiner Ermordung durch die Putschisten um General Abdul Karim Qassim im Jahr 1958 ein jähes Ende fand – fiel in eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs im Irak. Die britische Iraq Petrol Company hatte sich, nach jahrzehntelanger Ausbeutung des Landes, dazu verpflichten lassen, 50 Prozent der Gewinne aus der Erdölförderung dem irakischen Staat zugute kommen zu lassen.

Heute scheint das kaum vorstellbar: Vor fünfzig Jahren gab es unter dem Haschemiten-König Feisal II. eine Aufbruchsphase im Irak, die eine Blütezeit moderner Architektur in Bagdad einleiten sollte. Die fünfjährige Regentschaft des jungen Königs – die mit seiner Ermordung durch die Putschisten um General Abdul Karim Qassim im Jahr 1958 ein jähes Ende fand – fiel in eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs im Irak. Die britische Iraq Petrol Company hatte sich, nach jahrzehntelanger Ausbeutung des Landes, dazu verpflichten lassen, 50 Prozent der Gewinne aus der Erdölförderung dem irakischen Staat zugute kommen zu lassen.

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Bauwelt 2008|31 Schulen im Wachstum

16. Juni 2008Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Eine Stadt im Wandel

Berühmt ist Amsterdam für seine Grachten. Aber die Stadt ist auch ein Laboratorium für urbanistische und architektonische Forschungen. Davon zeugen Projekte in neu erschlossenen Gebieten.

Berühmt ist Amsterdam für seine Grachten. Aber die Stadt ist auch ein Laboratorium für urbanistische und architektonische Forschungen. Davon zeugen Projekte in neu erschlossenen Gebieten.

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04. Oktober 2007Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Ein weisser Tempel über dem Rhein

Vor sieben Jahren konnte in einem prachtvollen, südlich von Bonn am Rhein gelegenen spätklassizistischen Gebäude, dem ehemaligen Bahnhof Rolandseck, das...

Vor sieben Jahren konnte in einem prachtvollen, südlich von Bonn am Rhein gelegenen spätklassizistischen Gebäude, dem ehemaligen Bahnhof Rolandseck, das...

Vor sieben Jahren konnte in einem prachtvollen, südlich von Bonn am Rhein gelegenen spätklassizistischen Gebäude, dem ehemaligen Bahnhof Rolandseck, das Arp-Museum eröffnet werden. Wegen der beschränkten Räumlichkeiten für Sammlung und Ausstellungen hatte man schon vorher den New Yorker Architekten Richard Meier mit dem Bau einer Erweiterung beauftragt. Vor wenigen Tagen nun konnte der neue Museumskomplex eingeweiht werden. Überschattet wurde die Feier von einem Kunststreit. Unter anderem bezichtigten Kritiker den Trägerverein des Museums wegen des Verkaufs von Arp-Duplikaten, darunter auch postum hergestellte Güsse, des Handels mit Reproduktionen. Diese und andere Vorwürfe, die noch geklärt werden müssen, dürften allerdings Architekturliebhaber und Kunstfreunde von einem Besuch des in einer der schönsten Landschaften am Mittelrhein situierten Museums kaum abhalten.

Der Eingang zum Museum, in welchem Werke von Hans Arp immer wieder neu mit zeitgenössischer Kunst konfrontiert werden sollen, befindet sich im Bahnhofsgebäude. Dort geht es hinab zu einem vierzig Meter langen Tunnel, der unter den Bahngleisen hindurch zu einem verglasten Konus führt, von wo zwei Aufzüge die Besucher vierzig Meter hinauf zum Museumsneubau befördern. Dieser ist ganz in Meiers bekannter Sprache gehalten und bietet deshalb keine architektonischen Überraschungen. Allenthalben flutet Helligkeit durch Glasfassaden und Oberlichter. Nur auf der Arp gewidmeten Beletage gibt es ein abgeschirmtes Kabinett für kleinere Arbeiten. Sonst aber wirken die Gouachen, Collagen, Ölbilder und Reliefs des elsässischen Dadaisten in den elf Meter hohen, durch Blickachsen erschlossenen Räumen und loftartigen Ausstellungsplattformen reichlich verloren.

Besser fügen sich die sperrigen Grossformate von Anselm Kiefers «Wegen der Weltweisheit» in die helle Umgebung ein. Nur die raumgreifenden Bleibetten aus der Serie «Die Frauen der Revolution» verlieren in der immateriell wirkenden Atmosphäre des mittleren Geschosses ihre Erdenschwere. Günstigere Standorte haben hingegen die Lichtspirale von Barbara Trautmann sowie die Skulpturen und Installationen von Anton Henning, Johannes Brus und Michael Craig-Martin. Trotz allen Schwierigkeiten, die das neue Haus stellt, ist Museumsdirektor Klaus Gallwitz von der Wirksamkeit des Dialogs zwischen dem Klassiker Arp und heutigen Künstlern überzeugt. Nicht Nachlassverwaltung, sondern lebhafter Dialog mit den künstlerischen Strömungen der Gegenwart ist sein Motto. Dieses verspricht nach all den Streitereien einen guten Neuanfang für Rolandseck.

[ Die Ausstellung «Hans Arp. Die Natur der Dinge» dauert bis zum 30. März 2008; die Anselm-Kiefer-Schau «Wege der Weltweisheit / Die Frauen der Revolution» bis 28. September 2008. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2007.10.04



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Arp-Museum Bahnhof Rolandseck

04. Juli 2007Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Attraktionen

Seit fünfzehn Jahren erlebt die spanische Museumsarchitektur eine erstaunliche Blüte. Dabei ist in vielen Fällen das Aussehen der neuen Musentempel wichtiger als ihr künstlerischer Inhalt.

Seit fünfzehn Jahren erlebt die spanische Museumsarchitektur eine erstaunliche Blüte. Dabei ist in vielen Fällen das Aussehen der neuen Musentempel wichtiger als ihr künstlerischer Inhalt.

Der Schriftsteller Julio Llamazares kritisierte kürzlich, dass sich das kastilische León, eine Stadt mit 135 000 Einwohnern, eines der grössten Museen für Gegenwartskunst in Spanien leiste: das soeben mit dem Europäischen Mies-van-der- Rohe-Preis ausgezeichnete Museo de Arte Contemporáneo (Musac) der Madrider Architekten Luis Mansilla und Emilio Tuñon. Gleichzeitig aber vernachlässige León sein historisches Erbe. Das sei, schrieb Llamazares, für spanische Verhältnisse normal. «Mittlerweile gibt es Orte, die weder über Krankenhäuser noch über wichtige Infrastrukturen verfügen, jedoch über ein Museum der Gegenwartskunst. Wie einst die Kathedralen sind diese Museen heute zu wichtigen Aushängeschildern der Städte geworden.»

Warmer Geldregen

In León, das nicht länger nur auf Kirchen und Adelspaläste setzen möchte, ist seit einigen Jahren Modernisierung angesagt. Zunächst bauten Mansilla und Tuñon eine Konzerthalle, dann Dominique Perrault einen Kongresspalast. Nun erregt das durch bunte Fassaden bestimmte Musac Aufsehen. So mancher Kurator dürfte neidisch auf das neue Haus mit seinen 3400 Quadratmeter Ausstellungsfläche blicken. Laut dem Musac-Kurator Agustín Pérez Rubio möchte man nun «die Bürger für das erste Museum des 21. Jahrhunderts begeistern und damit für die Kunst einer Pipilotti Rist und einer Candida Höfer, eines Thomas Hirschhorn und eines Andreas Gursky».

Von der spendierfreudigen Regionalregierung Castilla-León erhält das Musac jährlich 5 Millionen Euro, aber auch die neuen Museen für Gegenwartskunst in Salamanca und Valladolid werden grosszügig unterstützt. Ohne gefüllte Staatskassen wäre die Freizügigkeit der autonomen Regionen nicht denkbar. Tatsächlich konnte Kulturministerin Carmen Calvo für das laufende Jahr einen Anstieg des Museumsetats um 38 Prozent versprechen. Diese wachsenden Mittel stammen nicht zuletzt aus den hohen Subventionen, die Spanien aus EU-Fonds bezieht. Von diesen profitiert auch das Macba in Barcelona, Richard Meiers blütenweisses Museum für Gegenwartskunst. Bei einem Etat von 10,3 Millionen Euro und wachsenden Besucherzahlen kann sich Macba-Direktor Manuel Borja-Villel wie Krösus unter den spanischen Museumsdirektoren fühlen. Borja-Villel weiss seinen Handlungsspielraum zwar zu schätzen, beklagt aber gleichzeitig, dass die Gelder vornehmlich Museen in den Metropolen und Nordspanien zugutekommen: «In Andalusien gibt es eine lebendige Szene mit vielen Künstlergruppen, aber es fehlen dort die nötigen Kunsthallen.»

In Andalusien gibt es nur eine Ausnahme: Málaga. Die Stadt leistet sich immerhin vier Häuser für moderne Kunst - darunter das in einer rationalistischen Markthalle von 1942 untergebrachte Centro de Arte Contemporáneo (CAC) und das aus verschiedenen Bauten zusammengesetzte und vom amerikanischen Architekten Richard Gluckman vorbildlich umgebaute Picasso-Museum im prachtvollen Altstadtkern. Musac-Kurator Pérez Rubio schätzt zwar das neue Picasso-Museum, kritisiert aber, dass Picassos Geburtsort Málaga auf Kosten anderer Städte privilegiert wird: «Allein mit dem Geld für die Eröffnungsfeierlichkeiten - mit Königspaar, Presse und Gästen aus aller Welt - hätte man neue Kunstzentren in Huelva und Almería aufbauen können. Doch die Region ging leer aus.»

Glitzernde Hülle

Das Musac in León, das Picasso-Museum in Málaga und viele andere spanische Kunstzentren sind Ausdruck jenes Booms, der seit den neunziger Jahren zu Museumsneugründungen führte, sei es in der Hauptstadt oder in einem Dörfchen wie Malpartida de Cáceres in der tiefen Extremadura. Dabei hoffen alle auf den «Bilbao-Effekt». Selbst Kritiker müssen zugestehen, dass das Musac die kulturelle Attraktivität Leóns ebenso nachhaltig verändert hat wie Frank Gehrys Guggenheim- Museum jene der einst grauen Industriestadt am Nervión, die zu einer bei Kulturtouristen beliebten Destination geworden ist.

Mit Blick auf Bilbao kritisiert Macba-Direktor Borja-Villel: «Schnell einigt man sich auf einen internationalen Stararchitekten, der eine glitzernde Museumshülle errichtet. Doch allzu oft weiss später keiner, wie das neue Programm aussehen soll. Oder es kommt vor, dass Geld für eine Sammlung fehlt.» So geschehen in Valencia, wo vor einigen Jahren Guillermo Vázquez Consuegra das «Museum für Aufklärung und Moderne» (Muvim) errichtete. Erst spät besannen sich die Stadtpolitiker darauf, dass Valencia keine erwähnenswerten Dokumente der Aufklärung und der Moderne besitzt. Eine Lösung ist bis heute nicht gefunden, und so bleibt dem Besucher nichts anderes übrig, als das «edificio-paisaje» genannte Museumsgebäude und dessen Einbettung in den archäologischen Garten zu bewundern.

Aufsehenerregende Neubauten

Ähnliches passiert derzeit auf Teneriffa, wo man ebenfalls auf den Bilbao-Effekt setzt. Deshalb beauftragte man die Pritzker-Preis-Träger Herzog und de Meuron mit dem Bau des Instituto Oscar Domínguez, dessen Grundfläche allein schon 20 000 Quadratmeter misst, am Rand der Altstadt von Santa Cruz de Tenerife. Es fragt sich nur, ob der Anspruch eines «Museums von weltweiter Ausstrahlung» mit dem interessanten, aber nicht aufsehenerregenden Werk des kanarischen Surrealisten Oscar Domínguez eingelöst werden kann - oder ob allein der Name der Architekten und deren Bau die Besucher anlocken sollen.

Eine Provinzposse besonderer Art leistete man sich im galizischen La Coruña, wo die jungen Architekten Victoria Acebo und Angel Alonso den gläsernen Kubus des Centro de Arte realisierten, der die Programmbereiche Tanzschule und Museum miteinander vernetzt. Die raffinierte Konstruktion, die sogar in der Spanien- Schau des New Yorker Museum of Modern Art gezeigt wurde, behandelt jeden Bereich wie einen selbständigen Baukörper mit eigener Erschliessung, ohne dass dieses Prinzip von aussen sichtbar wäre. Ungeachtet des originellen Entwurfs ruhen seit etlicher Zeit die Bauarbeiten, da der mittlerweile regierende PSOE von den anfänglichen Plänen abrückte und nun ein Wissenschaftsmuseum einrichten will, obwohl sich La Coruña bereits mehrere vergleichbare Einrichtungen leistet.

Derlei Planungsunsicherheiten sind auch Rafael Moneo bestens vertraut. Erst nach über 13 Jahren Entwurfs- und Bauzeit konnte er in diesem Frühjahr den Annex des Museo Nacional del Prado vollenden. Derzeit ist das Gebäude zur «Vorbesichtigung» offen, denn eingeweiht wird es erst zu einem späteren Zeitpunkt. Zu einem weiteren Highlight am Paseo del Arte soll die Ausstellungshalle Caixa Forum werden, die derzeit Herzog und de Meuron unweit des Prados errichten. Mit ihren schiefen Dachbahnen und der gusseisernen Aussenhaut wird sie sich wie ein drohendes Gebirgsmassiv über dem Paseo und dem angrenzenden Stadtteil erheben. Sie ist ein merkwürdiger Hybride, der über die Umfriedungsmauern des Elektrizitätswerks Central eléctrica del mediodía von 1899 hinauswächst, eine kuriose Mischung aus konventioneller Ziegel- und expressiver Monumentalarchitektur. Da Herzog und de Meuron das Bauwerk aufständerten, gewannen sie ebenerdig einen öffentlichen Platz, der sich am Boulevard zu einer grösseren Freifläche mit dekorativ begrüntem Mauerwerk ausweitet.

Das Caixa Forum wird von der mächtigen katalanischen Sparkassenstiftung «la Caixa» getragen und steht für eine vielfältige spanische Kulturlandschaft, die in grossen Teilen erst durch private Stiftungen ermöglicht wird. Vor kurzem eroberte auch die Caixa Galicia mit einer vom britischen Architekten Nicholas Grimshaw inmitten des Altstadtgewebes von La Coruña errichteten, wellenförmig verglasten Kunsthalle kulturelles Terrain. Und in Huesca hat Rafael Moneo für die Fundación Beulas einen massiv wirkenden Baukörper realisiert. Dabei erinnert dieser zugleich modern und archaisch wirkende Bau an die ausgewaschenen Felsformationen der nahen Pyrenäen. - So verschieden die spanischen Museen auch sein mögen, lassen sie doch Politiker von neuen städtischen Attraktionen, Kuratoren von herausragenden Sammlungen und Architekten von spektakulären Museumsbauten träumen.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2007.07.04

02. Juni 2007Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Kritische Blicke auf wuchernde Städte

Rotterdam präsentiert sich in diesem Jahr als «City of Architecture». Hauptattraktion ist die dritte Architekturbiennale, die sich mit dem sozialen Engagement von Architekten in der Dritten Welt befasst. Daneben lockt das Sommerprogramm mit einer grossen Le-Corbusier-Schau.

Rotterdam präsentiert sich in diesem Jahr als «City of Architecture». Hauptattraktion ist die dritte Architekturbiennale, die sich mit dem sozialen Engagement von Architekten in der Dritten Welt befasst. Daneben lockt das Sommerprogramm mit einer grossen Le-Corbusier-Schau.

Die Rotterdamer Architekturbiennale begeisterte die Besucher bisher stets mit städtebaulicher Aufbruchstimmung. Vor dem Ausstellungsort Las Palmas, einem monumentalen Speichergebäude auf der Wilhelminakade, wurde man Zeuge, wie gleich nebenan der Montevideo-Tower hochgezogen wurde. Inzwischen aber ist im Las-Palmas- Bau das Niederländische Fotoinstitut eingezogen, und die Biennale-Veranstalter mussten sich in der Innenstadt nach neuen Räumlichkeiten umsehen. Es bot sich die Kunsthal an, die zusammen mit dem benachbarten Niederländischen Architekturinstitut (NAI) geeignete Ausstellungsflächen besitzt. Zwar mussten die Organisatoren vom Rotterdamer Berlage-Institut diesmal mit geringeren Subventionen auskommen. Das hatte zur Folge, dass man sich mit «Visionary Power. Producing the Contemporary City» zu einem klaren Themenschwerpunkt durchrang, der durch zwei Begleitveranstaltungen - «The New Dutch City» in der Kunsthal und «A Better World, Another Power» im NAI - sinnvoll ergänzt wird.

Bauen am Rande der Legalität

Der Blick auf die Hauptausstellung macht deutlich, dass der Umzug in die Kunsthal mit einem radikalen Perspektivenwechsel verbunden ist: Dominierten in den beiden vorangegangenen Architekturbiennalen Probleme der westlichen Stadtentwicklung, so sieht man sich nun mit den immensen architektonischen, urbanistischen und sozialen Engpässen der Dritten Welt konfrontiert. Den Kuratoren, die den Ausstellungsparcours in fünf Themenkreise (Capital Cities, Corporate Cities, Spectacle Cities, Informal Cities, Hidden Cities) gliederten, lag es fern, Entwürfe von Stararchitekten für boomende Metropolen wie Schanghai, Singapur oder Dubai vorzustellen, mit denen sich zumeist Hochglanz-Magazine schmücken. Vielmehr haben unspektakuläre Projekte den Weg in die Ausstellungshallen gefunden. Während die von den Medien gefeierten Architekten die Selbstdarstellung der Global Cities mit aufsehenerregenden Gebäuden unterstützen, beschäftigen sich ihre weniger bekannten Kollegen in der südlichen Hemisphäre mit der Aufwertung von Slums. Um ihre Tätigkeit auch in unseren Breitengraden etwas bekannter zu machen, haben acht Forscher vierzehn Architekturbüros unter anderem aus Astana, Ceuta, Johannesburg, Mexiko-Stadt und Tijuana / San Diego eingeladen. Auf dem Biennale-Forum demonstrieren die Architekten, wie sie den Bewohnern der «gegenwärtigen informellen Stadt» zu einem menschenwürdigem Dasein verhelfen wollen.

Ein sensibler Blick auf das bauliche und soziale Umfeld ist den meisten Projekten eigen. Besonders die im Ausstellungsbereich «Immigrant City - Migration» von Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner vorgestellten Studios machen deutlich, dass die Arbeit der Drittwelt-Architekten sich kaum mit den Ausbildungsinhalten westlicher Universitäten deckt. Die Kuratoren fordern eine sozial verantwortliche Architektur, die vermehrt Rücksicht auf Gemeinschaften und deren Lebensbedingungen nimmt. Auf diese sollen sich die Architekten mit möglichst flexiblen Strategien einlassen. Brillembourg und Klumpner - die sich in Petare auskennen, einem Slum in Caracas mit einer Million Einwohnern und eigenem «Regierungssystem» - wissen, dass es heute nicht mehr darum gehen kann, die informellen und illegalen Verhältnisse zu beseitigen. Die Regierungen von Venezuela, aber auch von Brasilien haben das ebenfalls erkannt. Heute bemühen sich daher São Paulo, Rio de Janeiro und andere Städte des Südens, in ihren riesigen Favelas minimale Infrastrukturen herzustellen.

Der Architekt Teddy Cruz demonstriert, wie notwendig schnell zu errichtende, improvisierte Behausungen sind. An der mexikanisch-amerikanischen Grenze von San Ysidro arbeitet er zusammen mit der NGO-Vereinigung «Casa Familia», um für die anschwellenden Migrantenströme «Living Rooms», temporäre Unterkünfte mit privaten und gemeinschaftlichen Räumen, zu errichten. Und in Mexiko-Stadt hat es das Team Arquitectura 911sc mit einem informellen Sektor zu tun, der parallel zur «formellen Stadt» wächst und diese in absehbarer Zukunft in den Schatten stellen wird. In der Grauzone zwischen diesen beiden Bereichen, irgendwo in den ausufernden Metastasen im Osten der Megapole - im Ödland zwischen einer properen Klinkersiedlung und den chaotischen Behausungen eines riesigen Slums -, wollen die Mitarbeiter von Arquitectura 911sc einen Park anlegen. Dabei haben sie erkannt, dass dies nicht ohne Verhandlung mit beiden Seiten und nur mit dezentraler Planung möglich ist. Und es ist ihnen klargeworden, dass der Gegensatz zwischen «formell» und «informell» für ihre Arbeit hinfällig geworden ist.

Kurator Roemer van Thoorn ist davon überzeugt, dass die ausgewählten Projekte aus mehreren Kontinenten den städtischen Raum wiedergewinnen und die Rolle der «civitas» reaktivieren können. Das ist begrüssenswert, doch bleibt es zweifelhaft, ob das traditionelle Bild von der europäischen Stadt ohne weiteres auf die urbanistischen Wucherungen in Caracas oder Mexiko- Stadt übertragbar ist. Der vom Office Kersten Geers entworfene ghettoartige Auffangbereich für afrikanische Migranten in Ceuta ist bestenfalls eine zynische Antwort auf die gängige Praxis von Sicherheitswall und Abschiebehaft. Selbst die von «a-u-r-a/FÜNDC BV» für Havanna vorgeschlagene nachhaltige Stadtentwicklung widerspricht den Idealen der «bürgerlichen Stadt». Die Architekten sehen nämlich die einzige Rettung Havannas vor einem künftigen Ansturm global agierender Investoren in der Musealisierung der Ciudad Vieja, dem Aufbau touristenfreier Pufferzonen und einer Ciudad Nueva, einer künstlichen Wolkenkratzer-Insel vor dem Malecón.

Le Corbusier in Südamerika

Diese funktionalistische Dreiteilung Havannas ist wahrscheinlich ebenso artifiziell und lebensfremd wie Le Corbusiers rationalistische Stadtvisionen der 1920er Jahre. Beim Besuch der von Stanislaus von Moos und Arthur Rüegg betreuten Ausstellung «Le Corbusier. The Art of Architecture», des Glanzlichts der Architekturbiennale im NAI, lässt sich jedoch feststellen, dass die Stadtlandschaft von Rio de Janeiro und deren eigenartige Topographie den Schweizer während der Lateinamerikareise von 1929 zum radikalen Umformulieren seiner städtebaulichen Theorien veranlassten. Rüegg und von Moos zeigen dazu Le Corbusiers Reiseskizze der mäandrierenden Wegführung eines Autobahnviadukts an der Küste Rios. Der Architekt habe sich damals vom geometrischen Schachbrettmuster seines «plan voisin» befreit, mit dem er in seiner Phantasie noch kurz zuvor das Paris nördlich der Seine kahl schlagen und Platz für 18 Hochhäuser schaffen wollte. 1932 übertrug Le Corbusier dann seine neue Vorstellung von einem organischen Städtebau auf Algier - in Form einer schlaufenförmigen Bandstadt mit Wohneinheiten und darüber geführter Autobahn.

Die materialreiche Le-Corbusier-Schau, die im Herbst ins Vitra-Museum in Weil am Rhein weiterziehen wird, befasst sich vornehmlich mit den künstlerischen, kunsthandwerklichen und kulturellen Einflüssen, welche die Architektur des Meisters geprägt haben. Laut von Moos «war Le Corbusiers Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der modernen Technik nach dem Zweiten Weltkrieg stark erschüttert». Dennoch glaubte er weiterhin an die Machbarkeit der Welt. Seine Idealstadt Chandigarh wurde zum Vorbild von Brasilia und jüngst auch von Astana. Letztlich waren - das zeigt die sehenswerte Ausstellung auch - zwei Seelen in Le Corbusiers Brust: eine, die sich fremden Kultureinflüssen öffnete, und eine andere, die das modernistische Credo von technischem Fortschritt und Rationalisierung hochhielt.

[ Bis 2. September: «Visionary Power. Producing the Contemporary City» und «The New Dutch City» in der Kunsthal sowie «A Better World, Another Power» und «Le Corbusier. The Art of Architecture» im NAI. Der Biennale-Katalog (englisch) kostet Euro 39.50, der Le-Corbusier-Katalog (deutsch/englisch) Euro 84.75. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2007.06.02

25. Mai 2007Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Trutzburg und Höhle

Peter Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle setzt ein Zeichen in der Eifel

Peter Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle setzt ein Zeichen in der Eifel

Als sich Peter Zumthor vor neun Jahren von dem Bauernpaar Hermann-Josef und Trudel Scheidtweiler dazu begeistern liess, dem heiligen Niklaus von Flüe ein Sanktuarium im entlegenen Mechernich-Wachendorf in der Eifel zu errichten, dachte er an eine Feldkapelle für einsame Wanderer, die in ihr Andacht und Ruhe finden sollten. Doch von Ruhe ist derzeit rund um das Gotteshaus wenig zu spüren. Denn schon vor Abschluss der Bauarbeiten umschwirrten zahllose Reporter die Baustelle und die Auftraggeber. Man dachte sogar daran, vor der kleinen Bruder-Klaus-Kapelle inmitten eines Kornfelds einen Parkplatz für jene Touristenscharen zu errichten, die anlässlich der Eröffnung von Zumthors Kölner Diözesanmuseum im kommenden September einen Abstecher ins nahe gelegene Wachendorf einlegen werden. Doch zum Glück konnte der Schweizer Architekt den Parkplatz verhindern.

Tradition

Kurz vor der Einweihung der Feldkapelle am letzten Wochenende waren Zumthors Mitarbeiter Rainer Weitschies, die Scheidtweilers und freiwillige Helfer noch damit beschäftigt, dem Bauwerk vor dem Dank- und Festgottesdienst den letzten Schliff zu geben. Hin und wieder kamen Schaulustige aus dem Ort, auch Bauern, die in den letzten Jahren eifrig halfen, die 23 Betonschichten des zwölf Meter hohen Turms aufzutragen. Ein Freund des Auftraggeberpaars, das bereits im Rentneralter ist, erzählte, dass er dabei mitgewirkt habe, den Zement mit Sand und grobem Kiesel aus der Voreifel zu stampfen. Peter Zumthor habe zu dieser Methode geraten, weil sie einer uralten regionalen Bautradition entspreche und selbst von Laien angewandt werden könne. Auf die Frage nach dem Heiligen meinte der tatkräftige Helfer, jeder Rheinländer stutze wohl, wenn er den ihm unbekannten Namen auf der provisorischen Tafel vor der Kapelle lese: «Diese Feldkapelle ist dem Heiligen Niklaus von Flüe geweiht. Er war Bauer und Einsiedler, Ratsherr und Richter, Gottsucher und Friedensstifter.» Daraufhin berichtet der Wachendorfer Bauer, er und Hermann-Josef Scheidtweiler gehörten bereits seit vierzig Jahren dem katholischen Landvolk an, das Bruder Klaus verehre. Deswegen seien sie auch immer wieder nach Flüeli-Ranft bei Sachseln gepilgert.

Hätten die Scheidtweilers einen anderen Heiligen ausgesucht, wäre Zumthors Kapelle in der Eifel wohl kaum Realität geworden. Aber für Bruder Klaus wollte Zumthor die Kapelle sogar honorarfrei errichten, «weil der Innerschweizer Eremit ein Lieblingsheiliger meiner Mutter war». Als Gegenleistung erwartete Zumthor als eigensinniger Perfektionist von Beginn an, den zeitlichen Ablauf und sogar das kleinste Detail selbst bestimmen zu dürfen.

Archaik

Entstanden ist schliesslich ein minimalistischer, blockhafter Turmbau über fünfeckigem Grundriss. Der scharfkantige Monolith mag zunächst an eine Trutzburg denken lassen, doch der Innenraum weckt gänzlich andere Assoziationen. Zumthor versuchte wohl, die Einsiedelei des Eremiten aus dem 15. Jahrhundert mit architektonischen Mitteln in die heutige Zeit zu versetzen. Wer die dreieckige Chromstahltür der fensterlosen Kapelle durchschreitet, betritt einen dunklen, höhlenartigen Raum, der ein gewisses Unbehagen auszulösen vermag. Denn er weckt nicht nur Assoziationen an einen Uterus, sondern auch an die Visionen Sterbender, die am Ende eines Tunnels einen Lichtschein wahrnehmen sollen. Tatsächlich verjüngt sich der Andachtsraum zeltähnlich nach oben und lässt an der Spitze eine schmale Öffnung zum Himmel frei, durch die der Regen ungehindert einfallen kann. Zumthor erreichte die monolithische Wirkung der Fassade und den Höhlencharakter im Innern durch zwei grundverschiedene Schalungsmethoden. Für die äussere Konstruktion wurde der Stampfbeton konventionell in horizontalen Schichten geschalt. Der Innenraum hingegen ist das Resultat einer nahezu vertikalen Schalung aus 120 Fichtenstämmen.

Da die nach dem Trocknen völlig mit dem Beton verbundenen Baumstämme nicht ohne weiteres wieder entfernt werden konnten, entschied sich Zumthor für ein Köhlerfeuer, das bei verschlossener Tür 14 Tage lang schwelte. Nach der Reinigung des Sakralraums blieben nur die Negativrundungen der Stämme und die dunkel glänzende Oberfläche des Betons. Schliesslich wurden in die entstandenen kleinen Öffnungen Hunderte von Glassteinen eingesetzt, welche die von oben hereinfallenden Lichtstrahlen brechen.

Im ersten Augenblick fesselt die archaische Wucht dieses Innenraums, der einen gleichzeitig schaudert und begeistert. Dann denkt man vielleicht an die Höhle von Bruder Klaus, die so ähnlich ausgesehen haben mag - ein schmaler Eingang, vom Feuer verrusste Wände, der freie Blick zum Himmel und mitten im Andachtsraum eine schlichte Holzbank.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.05.25



verknüpfte Bauwerke
Bruder-Klaus-Kapelle

02. März 2007Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Buntes Treiben am Wasser

Dem Phänomen des Einwohnerschwunds antworten die Städte des Ruhrgebiets mit einem Ausbau der Geschäftszonen. Gleichzeitig wird in Duisburg das Gebiet rund um den Innenhafen neu belebt.

Dem Phänomen des Einwohnerschwunds antworten die Städte des Ruhrgebiets mit einem Ausbau der Geschäftszonen. Gleichzeitig wird in Duisburg das Gebiet rund um den Innenhafen neu belebt.

«Duisburg baut Zukunft», ist auf einer Tafel im Zentrum der Stadt zu lesen. Tatsächlich ist am König-Heinrich-Platz, in zentraler Lage, das Baufieber ausgebrochen. Hier entsteht das City Palais, ein multifunktionales Stadthaus mit Philharmonie, Spielkasino, Hotel, Büros, Geschäften und Parkhaus. Nach Abschluss der Arbeiten im Frühjahr wird Duisburg, so hofft man, das schmuddlige Ruhrgebiet-Image abgestreift haben. Für das neue Stadtbild liessen die Kommunalpolitiker sogar die denkmalgeschützte Mercator-Halle abreissen. Dabei war der Flachbau des Duisburger Büros Stumpf und Voigtländer ein gelungenes Beispiel der Nachkriegsmoderne.

Banaler Stadtpalast

Realisiert wird nun der konventionelle Vorschlag des Londoner Büros Chapman Taylor. Dieses setzt auf banale Geschäftsarchitektur. Aus der Mitte des Ensembles stösst ein gläserner Bug auf den König-Heinrich-Platz vor. Der fünfgeschossige, elliptische Office-Riegel bildet den Blickfang des City Palais. Doch den für die Innenstadt erhofften architektonischen Mehrwert bietet er nicht. Positiv ist einzig die Tatsache, dass das Gebäude die Bezüge zwischen Liebfrauenkirche, Theater und Landgericht klärt. Bald wird noch das von Chapman Taylor zusammen mit dem Wiener Büro Ortner und Ortner entworfene Forum Duisburg hinzukommen. Vom Forum, das als multifunktionales Zentrum für Büro, Einzelhandel und Gastronomie geplant ist, erhofft sich die Stadt den entscheidenden Anstoss zum wirtschaftlichen Aufschwung. Das österreichisch-englische Gemeinschaftsprojekt weist eine ähnlich bewegte Geschichte auf wie das City Palais. Denn zunächst hatte man den extravaganten Japaner Shin Takamatsu beauftragt, neben dem strengen Klinkerbau des Hauptbahnhofs die bizarre Shopping-Mall Multi Casa zu bauen. Doch dann bevorzugte der niederländische Investor plötzlich die Innenstadt als Standort.

Der geplante Abriss eines Nachkriegs-Kaufhauses am König-Heinrich-Platz kam den Investoren entgegen. Chapman Taylor übernahm die Grundrissgestaltung, Ortner und Ortner entwarfen die Fassaden der Shopping-Mall. Die Wiener konzipierten ein Ensemble aus drei- bis viergeschossigen Gebäuden, die einen kontrastreichen Wechsel von einfachen Prismen und ondulierenden Baukörpern mit rhythmischer Fassadengestaltung bilden. Das Forum, das Ende 2007 fertig sein wird, soll der Stadt zusätzlich 57 000 Quadratmeter Verkaufsfläche sowie überdachte Passagen, Arkaden, Plätze und Terrassen mit grossstädtischem Flair bringen. Mit diesem «grössten in einer deutschen Innenstadt realisierten Projekt» begibt man sich in Konkurrenz zu Essen, Oberhausen und Dortmund, die bereits um die grössten Shopping-Malls wetteifern.

Nach der Entscheidung für die Neugestaltung der Innenstadt muss es den Duisburger Planern gedämmert haben, dass sich das glitzernd neue Zentrum stark vom städtischen Umfeld abheben wird. Der Bereich zwischen dem König-Heinrich- Platz und dem seit den neunziger Jahren durch Wohn-, Büro- und Kulturbauten aufgewerteten Innenhafen blieb bis heute unverändert öde. Dem soll nun abgeholfen werden. Schaut man sich die Pläne an, liegt die Vermutung nahe, die Duisburger seien auf dem besten Weg, ihre Stadt in eine Foster-City zu verwandeln. Die Begeisterung für Norman Foster begann, als der britische Lord 1991 den Masterplan für den neuen Innenhafen vorlegte und wenig später das Microelectronic- Center sowie das Haus der Wirtschaftsförderung baute. Nun soll auch das damals konzipierte Eurogate, ein markantes Office-Center am Holzhafen, folgen. Vor wenigen Tagen nun stellte Foster in Duisburg seinen Masterplan für die Innenstadt vor.

Eigentlich wollte der Duisburger Stadtentwicklungsdezernent den Entwurf des neuen Masterplans für den Stadtraum zwischen Innenhafen und Zentrum jüngeren Architekten anvertrauen. Doch die Liebe der Duisburger zu Foster war grösser. Foster möchte nun die Verkehrsflächen reduzieren, eine umweltfreundliche Mobilität stärken und die alte Montanstadt in eine «pulsierende, grüne und umweltbewusste Stadt umwandeln». Sicherlich profitiert Foster davon, dass er an seinen alten Masterplan für den Innenhafen anknüpfen kann. Dieser hatte die klare Vorgabe, die alten Getreidespeicher zu erhalten, eine Mischnutzung mit hochwertiger Infrastruktur sowie anspruchsvolle baukünstlerische Akzente durchzusetzen. Foster liess Grachten anlegen und entlang der Kanäle Zeilenbauten mit ausgedehnten Innenhöfen errichten. Diese Wohnbauten, die unter anderem von Foster, von Auer & Weber sowie von Ingenhoven & Overdiek stammten, wurden international gelobt. Breite Unterstützung bekam Foster auch für seinen Plan, die Bebauung und Umnutzung des Innenhafens in kleinen Schritten vorzunehmen. Unter den Gesichtspunkten Diversität und kontinuierliches Wachstum entstanden so unterschiedliche Einrichtungen wie Zvi Heckers Synagoge, Dani Karavans «Garten der Erinnerung» oder die Küppersmühle, ein nach den Plänen von Herzog & de Meuron für die Sammlung Hans Grothe umgenutzter Industriebau.

Vielfältiges Erscheinungsbild

Die angestrebte Diversität lässt sich vornehmlich an den neuen Bürogebäuden der beiden Hamburger Büros Bothe Richter Teherani sowie von Gerkan, Marg & Partner ablesen. Das eine steht für Investorenarchitektur mit einprägsamer, symbolhafter Fassadengestaltung, das andere für moderne Klinkerbaukunst, die sich den Kubaturen, Materialeigenschaften und Traufhöhen der alten Getreidesilos anpasst. Foster setzte bewusst auf unterschiedliche Handschriften, die den Innenhafen beleben. Beispielhaft sind die Five Boats seines Landsmanns Nicholas Grimshaw.

Das langgestreckte Glasprisma mit den fünf abgerundeten Querriegeln, die an angelegte Boote erinnern, avancierte mit seiner nächtlichen Beleuchtung zum werbewirksamen Stadtsignet. Neben den Five Boats soll sich demnächst Fosters Eurogate erheben, auf das die Duisburger nun schon seit 15 Jahren warten. Für Dieter Steffen, Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft Innenhafen, ist der Foster-Bau, der Hotel, Shopping-Mall und Büros vereinen wird, «ein Symbol für den Duisburger Strukturwandel». Er soll als grosse Sichel den Bogen des Holzhafens umschliessen. Mit der Wahl Fosters setzten die Duisburger auf Nummer sicher. Bedenklich ist demgegenüber der politische Beschluss, trotz dem Bevölkerungsschwund im Ruhrgebiet weiter auf Shopping-Malls zu setzen und den Renditeversprechungen der Investoren zu vertrauen. Woher all die Kunden für City Palais, Forum und Eurogate kommen sollen, ist unklar.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2007.03.02

02. März 2007Klaus Englert
db

Inneres Glühen

Am Fuß der spanischen Pyrenäen errichteten die ortsansässigen Architekten in minimalistischer Glasarchitektur fünf außergewöhnliche Hotelpavillons. In den Innenräumen der meditativen Unterkünfte stört nichts den Eindruck von Klarheit, Ruhe, Einsamkeit.

Am Fuß der spanischen Pyrenäen errichteten die ortsansässigen Architekten in minimalistischer Glasarchitektur fünf außergewöhnliche Hotelpavillons. In den Innenräumen der meditativen Unterkünfte stört nichts den Eindruck von Klarheit, Ruhe, Einsamkeit.

Mit weit über fünf Millionen Besuchern jährlich verzeichnet Barcelona derzeit die höchste touristische Zuwachsrate unter den europäischen Städten. Die Hotelbranche hat sich bereitwillig auf diese Entwicklung eingestellt und reagiert mit bemerkenswerten Neubauten: Vom Meeresufer bis weit über Barcelonas neues Stadtsignet – Jean Nouvels Torre Agbar für die Wasserwerke »Aguas Barcelona« – hinaus, bis in die südliche »zona franca« zwischen den Vororten der Metropole und dem Flughafen hinein, entstehen Hotels namhafter Architekten. So baut zum Beispiel Dominique Perrault an der Avenida Diagonal das »Habitat Sky«, ein 120 Meter hohes, mit einer metallisch glänzenden Haut überzogenes Zweischeiben-Haus, und Enric Ruiz-Gelis das »Hotel Hábitat«, dessen Fassade in der Nacht von einem Netz aus Fotovoltaikzellen erleuchtet werden soll.
Doch auch Reisende, die es vorziehen, eher außerhalb des städtischen Trubels zu wohnen, kommen auf ihre Kosten: Weit entfernt vom Zweitresidenz-Gürtel deutscher Touristen am Meer empfiehlt sich das Städtchen Olot inmitten des Vulkangebiets Garrotxa als Refugium für den Großstadtflüchtling. Die intimen Hotelpavillons »Les Cols« des heimischen Architekturbüros RCR sind eine überzeugende Alternative zu den Designhotels Barcelonas.

Architektur im Vulkangebiet

Hinter dem Kürzel RCR verbergen sich die Architekten Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramón Vilalta. Die drei hatten sich während des Studiums an der renommierten Architekturfakultät in Barcelona kennengelernt und entgegen der Ratschläge ihrer Professoren und Kollegen entschieden, der Karriereschmiede der katalonischen Metropole den Rücken zu kehren und in ihrer gemeinsamen Heimatstadt Olot ein Büro zu gründen. Dabei bauten sie eine lebendige Arbeitsgemeinschaft auf, die auf kollektive Entscheidungen setzt. Seit Ende der neunziger Jahre entstanden fast alle Projekte von RCR im Vulkangebiet La Garrotxa. So zum Beispiel ein schmaler, lang gestreckter Badepavillon, der wie selbstverständlich am Ufer des Río Fluvia steht, oder das Stadion Tussols-Basil, eine Leichtathletikanlage, die sich in die Lichtung eines Eichenwaldes einfügt und sich als gelungene Verbindung von Natur und Architektur erweist.

Im letzten Jahr hat das Büro zwei weitere Projekte am östlichen Stadtrand von Olot realisiert: ein Restaurant, das in ein altes katalonisches Bauernhaus eingefügt wurde, und fünf Gästepavillons, die auf dem angrenzenden Grundstück entstanden sind. »Les Cols« (katalanisch: die Kohlköpfe) ist in Spanien bereits zu einem Geheimtip geworden; die Küche verbindet lokale Tradition mit ausgetüftelter Finesse, und die Architektur zeigt, dass RCR einem spanischen »paisajismo« folgen, der keineswegs orthodox ist, sondern immer wieder für originelle Raumlösungen sorgt. So haben sie den traditionellen Gemeinschaftsraum des Bauernhauses in einen goldlackierten Bankettsaal mit einem zwanzig Meter langen goldenen Tisch, goldenen Stühlen und Wänden verwandelt.

Ganz aus Glas

Nach diesem Farbenrausch überraschen die Pavillons durch ihre nüchterne, fast unauffällige Erscheinung und Konstruktion. Doch die Architektur ist hier längst nicht alles, auch das Zelebrieren von Ritualen gehört dazu: Der Hotelgast wird von der jungen Hotelbesitzerin Judit Planells in ein kleines, schummriges Vestibül geleitet, in dessen Mitte lediglich ein Tisch mit Kohlköpfen und brennenden Kerzen steht. Hier wird der Gast charmant mit den Gesetzen des Hauses vertraut gemacht, den Hotel- und Zimmercodes sowie den Servicezeiten. Das ist in der Tat notwendig, denn in »Les Cols« ticken die Uhren etwas anders. In Begleitung von Judit Planells gelangt man nun auf einem eingefassten Pfad mit schwarzem vulkanischen Kieselboden, vorbei an Palisaden aus grünlich schimmernden Glaslamellen, zum eigenen Pavillon, dessen Tür sich nur mit dem selbst gewählten Zahlencode öffnen lässt. Jede Wohnstatt besitzt einen eigenen Patio aus vulkanischem Gestein, einem ausschließlich fürs Auge geschaffenen Meditationsgarten. Doch der intime Innenhof ist keineswegs das Überraschendste an dieser Anlage: Von einem Vestibül, das lediglich durch eine gläserne Schiebetür vom Wohnbereich getrennt ist, gleitet der Blick ins Innere, und schon kommen erste Zweifel auf: »Und hier soll ich wohnen?« Ist dieser transparente und grünlich schimmernde Zen-Raum, in dem es weder Tisch noch Stuhl und auch keinen High-Tech-Flachbildschirm gibt, tatsächlich bewohnbar? Sichtbar sind nur die Membranen der Matratze, alles andere ist hinter der Wand verborgen. Über Touchscreens im Durchgang zwischen Wohn- und Badezimmer lassen sich in diesem intelligenten Haus sowohl die Beleuchtung als auch Raumteiler und Jalousien bewegen. Nichts stört den atmosphärischen Eindruck von Klarheit, Ruhe und Einsamkeit.

Die Pavillons wirken nie völlig transparent, sondern wie eingetaucht in ein grünliches Dämmerlicht. Es gibt keine Zentralbeleuchtung, sondern viele kleine Lichtquellen, die sich zum Glück ohne längeres Suchen und Probieren an- und ausschalten lassen. In der Nacht kann man dann sehen, dass sich unterhalb des gläsernen Bodens winzige, nach unten gerichtete Strahler befinden. Der gesamte Gebäudekörper hängt an L-förmigen Stahlstützen, von denen die Stahlrahmenkonstruktion abgehängt ist. Diese Konstruktionstechnik erlaubt eine Glasarchitektur bei der, neben gläsernen Wänden, auch gläserne Böden und Decken dominieren. Alles zusammen mit den leicht verspiegelten, stählernen Oberflächen von Wänden und Sanitäreinrichtung verstärkt die immaterielle Ausstrahlung des Pavillons. Allerdings rührt diese Atmosphäre nicht allein von der durchgehenden Transparenz und den Spiegeleffekten her, sondern auch von der klaren räumlichen Ordnungsstruktur, die RCR geradezu mit mönchischer Rigidität eingehalten haben. Stets sind es Kubus und Quader, von denen sich die Architekten inspirieren ließen. Diese Regel setzten sie auch konsequent im Badezimmer, bei der Gestaltung von Duschzone und Badebecken um.

Duschen im Kiesbett

Selten haben sich Architekten mit mehr Sorgfalt dem Badekabinett zugewandt. Es ist eine kompositorische wie ästhetische Meisterleistung, auch wenn man einräumen muss, dass dafür bei einigen Details funktionale Anforderungen geopfert worden sind. Das Wasser im grün schimmernden Waschbecken ist ein gemächlich fließender Fluss und gerät immer dann in Bewegung, wenn sich der Benutzer nähert. Unter der genial einfachen Dusche fühlt man sich wie unter einem Wasserfall, während die Füße in einem seichten Flussbett aus schwarzen Marmorkieseln zu stehen kommen. Nach dem Duschen empfiehlt es sich, in das angrenzende, in den Boden eingelassene Becken – ein sprudelndes japanisches Bad – zu steigen, um sich langsam in den Tag hineinzuträumen. Das ständig zirkulierende Wasser macht es möglich, dass diese Wanne auch für Bademuffel eine Wonne ist.

Alsbald ertönt, etwas unsanft, die Klingel an der Pavillontür und gemahnt an die Gesetze des Hauses. Judit Planells bringt das Frühstückstablett mit Oloter Spezialitäten. Am besten setzt man sich auf die Stufe des Vestibüls, schaut hinaus auf die sanften, gleichmäßigen Linien des Steingartens und genießt beim Frühstück die ruhige Morgenstimmung.

Peu à peu fügt sich der Gast bereitwillig der Ordnung dieser ostasiatisch anmutenden »Mönchszellen« und fragt erst gar nicht nach, was alles fehlt. »Les Cols« dürfte das einzige Hotel der Welt sein, in dem man sich in der Dämmerung auf die Matratze legen und durchs Oberlicht die vorbeiflatternden Fledermäuse beobachten kann. Währenddessen plätschert im Badezimmer sanft das Wasser, und durch die geöffnete Schiebetür strömt frische Luft. Spätestens wenn man des frei umherfliegenden Federviehs im Restaurants gewahr wird, ist klar, dass man sich mitten auf dem Land befindet. Kein Zweifel, in diesem Hotel ist alles unvergleichlich.

db, Fr., 2007.03.02



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Hotelpavillons »Les Cols«



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db 2007|03 Wohlfühlen außer Haus

31. August 2006Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Von der Kohlenwäsche zum Design der Zukunft

Mit der neuen Designschule von Sanaa und der umgebauten Kohlenwäsche von Rem Koolhaas versucht Essen in der Kulturszene zu punkten. Als Blickfang dient die Designausstellung «Entry 2006».

Mit der neuen Designschule von Sanaa und der umgebauten Kohlenwäsche von Rem Koolhaas versucht Essen in der Kulturszene zu punkten. Als Blickfang dient die Designausstellung «Entry 2006».

Noch 1989 stand die Essener Zeche Zollverein kurz vor dem Abriss. Die Zeugen von mehr als hundert Jahren Industriegeschichte sollten neuen Arbeitsplätzen weichen. Doch es kam anders: Im selben Jahr setzte die IBA Emscher Park die Erhaltung der Zeche Zollverein durch. Es brauchte zwar einige Zeit, bis die Bevölkerung den Wert der Anlage erkannte, doch heute, zwanzig Jahre nach Stilllegung von Zollverein, sind die Essener stolz auf ihr neues Weltkulturerbe. Die Weichen für eine neue Zukunft der Zeche Zollverein wurden 2001 gestellt, als die Kommune für einen Designstandort optierte, eine Entwicklungsgesellschaft für die architektonische und wirtschaftliche Transformation des Areals gegründet wurde und Rem Koolhaas' Rotterdamer Office for Metropolitan Architecture (OMA) einen Masterplan erarbeitete. Dieser sah im Wesentlichen drei «Attraktoren» vor: eine Designschule, den Umbau der Kohlenwäsche zum Ruhrmuseum und ein (später aufgegebenes) Kongresszentrum. Den internationalen Wettbewerb für die Designschule gewann das japanische Büro Sanaa von Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa mit dem verblüffend einfachen Entwurf eines monumentalen Betonkubus.
Der durchlöcherte Kubus

Die Essener Designschule (offiziell «Zollverein School of Management and Design») ist das erste europäische Gebäude von Sanaa. Sie ragt - laut Sejima - wie eine «Landmarke» aus den alten Bergarbeiterhäusern an der Gelsenkirchener Strasse heraus. Nähert man sich dem Neubau jedoch von der Zeche Zollverein her, wird zudem deutlich, dass der Betonwürfel mit einer Grundfläche von 35 mal 35 und einer Höhe von 34 Metern bestens auf die massive Kubatur der nahe gelegenen Kohlenwäsche reagiert. Dabei wollten Sejima und Nishizawa, die in Japan durch leichte und filigrane Architekturen bekannt wurden, die monumentale Industriearchitektur auf Zollverein nicht einfach kopieren. Sie entschieden sich für eine Zwischenlösung: keine vollends transparente Glasfassade, keine massive, undurchdringliche Betonwand. Sejima spricht von einer «abstrakten Mauer»: Sie wird von insgesamt 136 unregelmässig angeordneten Öffnungen durchstossen, ohne dass dem Aussenstehenden sofort die Geschosseinteilung einleuchtet.

Aus Beton eine leichte Hülle zu konstruieren, verstanden die beiden japanischen Architekten als eigentliche Herausforderung. Sie schufen eine minimalistische Architektur mit reduzierter Materialpalette, einheitlich grauer Farbgestaltung, klarer Raumordnung und freien Grundrissen. Überraschend in dem faszinierenden Betonkubus ist der durch doppelte Glaswände abgetrennte Vortragssaal im Erdgeschoss. Die Produktionsebene im ersten Stock bietet einen überwältigenden Raum mit zahlreichen mehrreihig angeordneten Fenstern und setzt auf grösstmögliche Gestaltungsfreiheit der Benutzer. Seminarräume, locker um eine Bibliothek gruppiert, strukturieren die zweite Etage, während im obersten Stockwerk gläserne Bürokuben neben Patios angeordnet sind, die den Blick hinauf zum schön gestalteten Dachgarten lenken.

Maschinenästhetik und Glamour

Fast gleichzeitig mit der jüngst erfolgten Einweihung der Designschule war auch die Umbauphase der benachbarten Kohlenwäsche beendet - eines beeindruckenden industriellen Fossils aus Stahlfachwerk mit Ziegel- und Glasausfachung von 45 Metern Höhe und einer Nutzfläche von 12 000 Quadratmetern. Die Transformation wurde vom Gezänk mit der Denkmalschutzbehörde begleitet. Zunächst lehnte sie den Vorschlag von Diener & Diener aus Basel ab, das Industriedenkmal durch einen gläsernen Kopfbau aufzustocken. Dann scheiterte Rem Koolhaas' Entwurf eines Annexes am Veto der Denkmalschützer. Dabei wollten beide Entwürfe das Weltkulturerbe unversehrt lassen.

Umso unverständlicher mutete die vom Denkmalschutz akzeptierte Entscheidung an, neue Geschosse einzuziehen sowie Arbeitsbühnen und Maschinen teilweise wegzuräumen, um Platz für Ruhrmuseum und Besucherzentrum zu schaffen. Koolhaas, der mit dem Essener Architekturbüro Heinrich Böll den späteren Entwurf ausarbeitete, sagte damals: «Wir wollen eine Konfrontation, eine kreative Spannung zwischen der Maschinenwelt und den Ausstellungsflächen herstellen.»

Seit der Eröffnung der mit allerlei Vorschusslorbeeren zur «Weltmesse» erkorenen Designschau «Entry 2006» vor wenigen Tagen in den Räumen des in der Kohlenwäsche untergebrachten Ruhrmuseums kann man prüfen, ob Koolhaas' Konzept tatsächlich aufgeht. Es war vorhersehbar, dass seine Formel eines «pushing the building and pushing the program» kaum mit den strengen Kriterien des Welterbebüros harmonieren würde. Tatsächlich kollidiert das museale Grundkonzept, dem Besucher den Weg der Kohle nachvollziehbar zu machen, mit den architektonischen Eingriffen ins Gebäude. Beispielsweise wurden die zur Kohlesortierung hergerichteten Betonbunker aufgeschnitten, um sie in Ausstellungskabinette zu verwandeln.

Doch bei aller funktionalen Überfrachtung des Industriemonuments: Die schräge Stahl-Glas- Gangway, welche die Besucher zum 24 Meter hoch gelegenen Besucherzentrum befördert, ist eine Augenweide. Die leuchtend orange angestrichene Rolltreppe nimmt das Kantenprofil der zahlreichen Bandbrücken auf, die das Zechenareal dominieren. Die Popfarbe erleuchtet auch den grandiosen, im nördlichen Kohlesilo eingebauten Treppenschacht. Koolhaas und Böll gelang es, das ehemals dunkel und abweisend wirkende Gebäude durch diese Lichtregie völlig umzudeuten. Auch der gläserne Aussichtspavillon auf dem Dach der Kohlenwäsche gehört zur «kreativen Spannung», von der Koolhaas sprach.

Leichtgewichtiges Design

Für die Ausstellungsmacher der «Entry 2006» stellte sich zwangsläufig die Frage: Wie lässt sich in der Kohlenwäsche, deren Erscheinung so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, eine «Ausstellung zur Zukunft des Designs» realisieren? Ergebnis der über fünf Jahre dauernden Vorarbeit, die 8,3 Millionen Euro verschlang, ist eine etwas konfus konzipierte Megaveranstaltung, die sich in vier Einzelausstellungen gliedert: «Second Skin» präsentiert Innovationen aus der Design-Branche, «Open House» zeigt neue Tendenzen computergesteuerter Architektur, «Groundswell» widmet sich Problemen der Landschaftsgestaltung, und «Talking Cities» beschäftigt sich mit den urbanen Rändern, den Industriebrachen und den vergessenen Stadtlandschaften. Francesca Ferguson, Kuratorin von «Talking Cities» und demnächst Direktorin des Architekturmuseums Basel, beleuchtet dabei auch das Entwicklungspotenzial ehemals unzugänglicher Industrieareale. Die Zeche Zollverein im armen Essener Norden ist einer dieser Orte.

Mag sein, dass es für die Ausstellungsmacher ein nahezu auswegloses Unterfangen war, gegen den stählernen Riesen Kohlenwäsche anzukommen. Gleichwohl erwiesen sich die «Entry»-Kuratoren als zu leichtgewichtig: Ihnen fehlt das klare, einprägsame Konzept, um gegenüber diesen Industriegiganten bestehen zu können.

[ «Entry 2006» in der Kohlenwäsche Essen dauert bis 3. Dezember. Die im stadt.bau.raum Gelsenkirchen untergebrachte Begleitveranstaltung «Designcity» dauert vom 2. bis 22. September. Die Kataloge «Entry Paradise. Neue Welten des Designs» (Euro 29.90) und «Talking Cities. Die Mikropolitik des urbanen Raums» (Euro 14.90) sind im Birkhäuser-Verlag, Basel, erschienen. ]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2006.08.31

07. Juli 2006Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

«Les Halles» am Rhein

Stadtumbau in Düsseldorf

Stadtumbau in Düsseldorf

«Die neuen Düsseldorfer Stadtquartiere - ein Areal, auf dem sich Chic, Charme und Lebensgefühl entwickeln werden.» So lautet der Werbeslogan für das neue Stadtprojekt im Herzen Düsseldorfs. Gemeint ist allerdings nicht die vornehme Königsallee. Die Marketingstrategen der Immobiliengesellschaft Aurelis denken vielmehr an das nördlich des Hauptbahnhofs gelegene alte Gleisareal, das sie derzeit in ein hochwertiges innerstädtisches Gebiet für Wohnen, Dienstleistung und Geschäfte verwandeln. Einst gab es hier einen Güterbahnhof, von dem während der Kriegsjahre 6000 Düsseldorfer jüdischen Glaubens deportiert wurden. Nach dessen alten Hallen wird das neue Stadtquartier, das auf dem historisch bedeutsamen Standort entsteht, «Les Halles» genannt.

Bereits steht ein von Düsseldorfer Architekten entlang eines 700 Meter langen Stadtgartens angeordnetes Wohnviertel. Es handelt sich dabei um das mittlere von drei Stadtquartieren, die auf den Masterplan von Kees Christiaanse / ASTOC, Eckhard Gerber und Cornelia Müller / Jan Wehberg aus dem Jahre 2000 zurückgehen. Den Architekten und Planern, die eine grössere städtische Dichte und Kohärenz anstreben, stehen insgesamt 35 Hektaren Grundfläche zur Verfügung. Für die einzelnen Stadtquartiere sieht der Masterplan eine Abfolge von Bandstrukturen vor - Gebäudereihen für Mischnutzung und parallel dazu angeordnete Grünstreifen. Das ehrgeizige Projekt profitiert davon, dass eine riesige Brache in unmittelbarer Nähe von Königsallee, Schadowstrasse und Hofgarten neu erschlossen wird und urbane Qualitäten erhält. Gewinnen werden dadurch auch einige innerstädtische Vorhaben, beispielsweise der Umbau des Kö-Bogens, der eine verbesserte Verbindung zum Hofgarten vorsieht.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.07.07

28. April 2006Klaus Englert
db

Licht im Dunkel

Beim Ausbau der Bahnsteighalle gelang es, den typischen Charakter der unterirdischen Tunnelröhre zu bewahren und trotzdem Weite und Großzügigkeit spürbar werden zu lassen. Die Haltestelle bietet das Erlebnis einer ganz eigenen Welt unter Tage.

Beim Ausbau der Bahnsteighalle gelang es, den typischen Charakter der unterirdischen Tunnelröhre zu bewahren und trotzdem Weite und Großzügigkeit spürbar werden zu lassen. Die Haltestelle bietet das Erlebnis einer ganz eigenen Welt unter Tage.

Es ist nicht gerade üblich, dass renommierte Architekten, die gewöhnlich repräsentative Bauwerke im städtischen Umfeld errichten, auch einmal „unter Tage“ arbeiten. Eines der Beispiele ist Norman Foster, der in Bilbao eine hochmoderne U-Bahnstation konstruierte. Sie entstand etwa zu jener Zeit, als Frank Gehry der grauen Industriestadt ein glitzerndes Museum baute und damit den „Bilbao-Effekt“ begründete. An Fosters aluminiumverkleidete und großräumige U-Bahnstation erinnert sich leider kaum jemand, obgleich sie die modernste in ganz Spanien ist. In Porto griff Eduardo Souto de Moura nicht auf das High-Tech des britischen Lord, sondern auf Granit zurück, den traditionellen Baustoff, mit dem die italienischen Barockbaumeister die dortige Kathedrale errichteten. Souto de Moura verwendete bei der Gestaltung der Metrostation, die unmittelbar hinter Rem Koolhaas' „Casa da Música“ liegt, matt geschliffene Granitplatten, zudem setzte er in dem äußerst klar geschnittenen Raum linear verlaufendes Kunstlicht und Glasplatten für Lifte und Brüstungen ein.

Die Sensibilität für klare Raumgestaltung und überzeugende Materialwahl ist auch dem Team von Rübsamen + Partner zueigen. Das bewiesen die Architekten bei der überaus gelungenen Gestaltung des Bochumer U-Bahnhofs Lohring, den sie Ende Januar, neun Jahre nach dem gewonnenen Wettbewerb, endlich fertig stellen konnten. Man kann sich durchaus dem euphorischen Kommentar des Bochumer Stadtbaurats Martin zur Nedden anschließen, der während der Eröffnung des U-Bahnhofs sagte: „Das ist ein Meilenstein für die Stadtentwicklung.“ Zunächst fällt auf, dass die Konzeptionen für die Erschließung der beiden U-Bahnhöfe in Bochum und Porto durchaus vergleichbar sind. Dies wird deutlich, wenn man die Treppe hinunter zur Zwischenebene und zu den Bahnsteigen wählt, vorbei an geschliffenen, anthrazitfarbenen Granitplatten und bündig angebrachten Lichtbändern. Dem klaren Raumkonzept gesellt sich ein Farbenspiel hinzu, das unmittelbar verdeutlicht, dass Architektur nicht nur nach Ordnungsverhältnissen ausgerichtet sein soll, sondern auch, wenn sie wirklich gelungen und überzeugend ist, die sinnlichen Reize anspricht.

Holger Rübsamen, der bei Oswald M. Ungers, dem strengsten Verfechter kubischer und orthogonaler Architektur, in die Lehre ging, spricht begeistert vom „grünen Lichtsee“. In diesen Lichtsee taucht der Fahrgast ein, wenn er von der Zwischenebene, unter der roten Ausleuchtung der Betondecke hinweg, die Rolltreppe hinab zum Bahnsteig benutzt. Plötzlich wird er eingehüllt von einer zwölf Meter hohen Halbröhre, vormals ein kahles Betongewölbe, das nun mit schimmernden Aluminiumplatten verkleidet ist. Die Reflexionen auf den Metallplatten entstehen durch die raffinierte Bodenformation, rechteckige Glasplatten, die die Leuchtkörper unterhalb der Oberfläche verbergen. So ist der Fahrgast nirgendwo direkten Lichtquellen ausgesetzt, er nimmt allenfalls das aus dem Boden kommende gefilterte Licht und die Reflexionen an der Decke wahr.

Lichtkunstwerk

Unterhalb der Decke verlaufen schlangenartig gewundene Neonröhren, entworfen von der Düsseldorfer Künstlerin Eva-Maria Joeressen. Von ihr stammt auch ein gelbes Lichtkreuz, das sie am Ende des Bahnsteigs in eine knallrote Wand integrierte, hinter der sich die Gebäudetechnik verbirgt. Das Lichtkunstwerk ist eine komplexe Farbkomposition, bestehend aus dem „grünen Lichtsee“, den grell erleuchteten Schlangenlinien und der abstrakt gestalteten Wandtafel. Nicht umsonst schrieb die Bochumer Lokalpresse nach der Eröffnung des Bahnhofs von einem „Erlebnisraum“, und Holger Rübsamen fügte hinzu: „Das ist nicht einfach eine U-Bahnstation für uns, sondern mehr.“ Mit diesem „Mehr“ meint er nicht nur den künstlerischen Beitrag von Eva-Maria Joeressen, sondern auch Klaus Kessners Klanginstallation, die durch die Verarbeitung von „in situ“ aufgenommenen Geräuschen den wartenden Fahrgast mit stets veränderten Lauteindrücken überrascht. Holger Rübsamen schwärmt von dem vorgefundenen Betongewölbe, einem völlig stützenfreien Gewölbe mit einem der größten Querschnitte, die jemals in Deutschland unterirdisch gebaut worden sind. Die Raummaße der einseitig erschlossenen, röhrenartigen Halle weisen immerhin eine Höhe von acht, eine Breite von 18 und eine Länge von 97 Metern auf. Für Rübsamen galt es nicht nur, die Gewölbearchitektur zu bewahren, sondern gleichsam ihren Erlebnischarakter zu steigern - „den herabsteigenden Passanten eine eindrucksvolle Perspektive“ zu bieten. Während die Bochumer Architekten die Decke von allen Installationen freihielten, konzentrierten sie sich darauf, den räumlichen Eindruck durch halbtransparente und reflektierende Oberflächen zu steigern. Besonders stolz sind Rübsamen und sein Partner Boris E. Biskamp auf die ungewöhnliche Bodenkonstruktion, die wesentlich das Ambiente des Ortes prägt. Da die Oberfläche der dreilagigen Sicherheits-Glasplatten extrem rutschfest und widerstandfähig sein musste, war es notwendig, das Material einer Sonderbehandlung zu unterziehen, für die eine holländische Firma aus Voorhuizen bei Amsterdam eine besonders effiziente Methode entwickelte. Im Grunde ist das Verfahren relativ einfach, denn die Holländer legen die Glasplatten in ein Quartz-Sandbett und lassen sie dann in einem Ofen erhitzen, bis sich die Schicht aus Quartz und Sand mit den Glasplatten verbindet. Das Resultat ist eine verblüffend rauhe und stumpfe Oberfläche, die sich bestens für begehbare Flächen im städtischen Raum eignet. Weil sich Rübsamen und Biskamp für eine indirekte Bodenbeleuchtung entschieden, befestigten sie die Leuchtkörper unterhalb von Aluminiumgussplatten, die entlang des Gleiskörpers angebracht wurden. Die Glas- und Aluminiumplatten mussten notgedrungen durch kleine „Stempelchen“ aufgeständert werden, um Raum für die Beleuchtung zu schaffen. So hat man den Eindruck einer vollständig illuminierten Bodenformation.

Entscheidend für den atmosphärischen Raumeindruck ist die Verkleidung des Betongewölbes mit schmalen Aluminiumblechen, die die Biegung des Raumkörpers nachzeichnen. Diese perforierten Aluminiumplättchen haben zunächst die Eigenschaft, den Schall aufzunehmen, der schließlich durch ein dahinter liegendes, zwei Millimeter dickes Schallschluckflies vollständig absorbiert wird. Die atmosphärische Natur der Aluminiumbleche entsteht aber erst durch ein, erstmals im Automobilbau angewandtes Eloxierverfahren, das durch den Einsatz von Spectrocolor die Oberflächen leicht changieren lässt. Im U-Bahnhof Lohring strahlt das Licht hinauf und wird von der schimmernden Aluminiumhaut reflektiert, die mit der Längsausrichtung des Fugenschnitts die Gestrecktheit des Tonnendachs hervorhebt. Holger Rübsamen meint, dass die Farben von Glas- und Aluminiumplatten selbstverständlich abgestimmt sein mussten: „Wir konnten erreichen, dass niemals gleiche Lichtreflexionen an der Decke entstehen. Wir wollten keine sterile Oberfläche.“

Es wäre geradezu frevelhaft, wenn Bahnbedienstete auch hier für das handelsübliche Mobiliar gesorgt hätten. Zum Glück konnten sich Rübsamen und Biskamp mit der Stadtverwaltung einigen, den homogenen Raumeindruck zu bewahren und auf konventionelle Bänke und Werbung zu verzichten. Bei der Unterbringung von Fahrkartenautomaten wurde darauf geachtet, die Geräte möglichst bündig anzubringen. Damit ist den Bochumer Architekten in Zusammenarbeit mit Eva-Maria Joeressen und Klaus Kessner ein eindrucksvolles Raumkunstwerk gelungen, das hoffentlich Anreiz bei vergleichbaren Projekten schaffen wird.

db, Fr., 2006.04.28



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U-Bahnstation „Lohring“ - Innenausbau



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db 2006|05 Städtische Dienste

24. Januar 2006Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Zusammenklang von Alt und Neu

Max Dudlers Diözesanbibliothek in Münster

Max Dudlers Diözesanbibliothek in Münster

Wenn man vom Ruhrgebiet ins westfälische Münster fährt, ist man immer wieder aufs Neue überrascht von dieser Schatzkammer des Mittelalters. Der romanisch-gotische Dom und das Rathaus aus der Zeit der Hochgotik gehören zu den Juwelen der Stadt. Doch Münster hat sich nicht zur Musealisierung seiner Innenstadt entschlossen. So konnte der Schweizer Architekt Max Dudler in unmittelbarer Nähe des Doms drei Neubauten für das Bischöfliche Generalvikariat errichten. Der Ort im Zentrum der Altstadt wird dominiert vom hoch aufragenden Turm der gotischen Liebfrauenkirche Überwasser und dem langgestreckten Gebäude des Priesterseminars. Der Wettbewerb sah die Erweiterung des vorhandenen Ensembles vor mit der parallel zum Seminargebäude zu errichtenden Diözesanbibliothek und zwei zusätzlichen Baukörpern für Büros.

Stadträumliche Konzeption

Der 1949 in Altenrhein im St. Galler Rheintal geborene Dudler löste die Aufgabe mit jener Selbstverständlichkeit, mit der er vor wenigen Jahren in Bonn das monumental wirkende Gebäude für die Hochschulrektorenkonferenz errichtete. In beiden Fällen wählte er einen rationalistischen Raster, der gleichermassen Fassade und Grundriss bestimmt. Auch die viergeschossige Lochfassade, welche durch hohe, rhythmisierte Fensterschlitze geprägt ist, findet sich in Münster wieder. Trotz dem gleichen Grundvokabular ist die Bibliothek alles andere als eine Kopie des Bonner Verwaltungsgebäudes. Wer solches vorschnell vermutet, verkennt die Sensibilität Dudlers für die jeweils unterschiedlichen urbanen Zusammenhänge.

Dem neuen Gebäudeensemble aus Diözesanbibliothek und Büroriegel liegt nämlich eine klare stadträumliche Konzeption zugrunde, die sich aus der axialen Ausrichtung der parallel zum Seminargebäude errichteten, langgestreckten Bibliothek ergibt. Dudler suchte mit der Traufhöhe und der Auswahl des örtlichen Sandsteins den Dialog zum Nachbargebäude. Die neuen Bürobauten, die sich um einen rückwärtigen Flügelbau gruppieren, variierte er in den Proportionen, wodurch ihm eine Anpassung von neuer und alter Bausubstanz gelang. Dudler besann sich sogar auf die Tradition des Klosterbaus und fügte den neuen Blocks Höfe an, die zu einer merklichen Auflockerung des Ensembles beitragen. Neben dem alten Flügelbau, der eine kleine Kapelle beherbergt, liess er sogar einen modernen Kreuzgang errichten, der in seiner minimalistischen Strenge wohl einzigartig ist.

Zwar wird den Bauten Dudlers oft ein Hang zur monumentalen Geste nachgesagt, doch gerade im Münsteraner Ensemble vermeidet Dudler zum Glück den rigiden Monumentalismus seines Lehrers Oswald Mathias Ungers, der allzu häufig wie eine starre Umsetzung palladianischer Ideale wirkt. Dudler lässt sich von derlei Ideen nicht beirren. In den Bauten von Münster vereint sich das rationalistische Vorbild Ungers' mit Schweizer Einfachheit zu einem Minimalismus, der sich den funktionalen Erfordernissen bestens anpasst. In der Diözesanbibliothek gibt es kein Detail, das störend oder überflüssig wäre. Selbst die in die Wand eingelassenen Handläufe des Treppenhauses fügen sich nahtlos ins architektonische Konzept ein und wirken dabei unauffällig. Alles andere würde die Wahrnehmung der geometrischen Kubatur des Raums beeinträchtigen.
Transparenz

Vorzüglich gelang Dudler die Gestaltung des schlauchförmigen Bibliothekssaals, der beim ersten Anblick fast wie eine Offenbarung wirkt. Als scharfen Kontrast zur kalten Natursteinfassade wählte er hier den warmen Ton der Eichenholzverkleidung. Der traditionelle Baustoff beherrscht den Lesesaal und die als Galerietrakt angegliederte Präsenzbibliothek, eine Welt des Wissens, die sich quasi in einen Weltinnenraum zurückgezogen hat.

Und doch ist die Bibliothek kein zurückgezogener Ort wie jene Klosterbibliotheken, wo sich die Mönche in die heiligen Schriften versenkten. Die Diözesanbibliothek erscheint zugleich als sakraler und säkularer Ort - hermetisch abgeschirmt und doch mit der Aussenwelt kommunizierend. Dieses prima vista eher abweisend wirkende Gebäude überrascht nämlich durch eine Transparenz, die Blickkontakte zwischen innen und aussen ermöglicht.

Das Aufbrechen der Monumentalität durch die Herstellung von Kontakten zwischen dem Innen und dem Aussen scheint Max Dudler immer wieder zu faszinieren. Dabei könnte das gerade eröffnete Museum Ritter im schwäbischen Waldenbuch andeuten, welche Entwicklung von Dudlers Architektur in Zukunft zu erwarten ist.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2006.01.24



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Diözesanbibliothek

18. November 2005Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Der konservierte Protest

Die neue Kunstakademie München von Coop Himmelb(l)au

Die neue Kunstakademie München von Coop Himmelb(l)au

Coop Himmelb(l)au, die Himmelsstürmer aus dem barocken Wien, gefallen sich als notorische Spielverderber. Angetreten ist das Team um Chefdenker Wolf Prix in den revolutionären Wirren von 1968, als man sich der Idee verschrieb, «Architektur veränderbar wie Wolken zu machen». Ihr erstes architektonisches Manifest wider die «pragmatisierte Mittelmässigkeit» (Prix) war vor knapp zwanzig Jahren ein Dachausbau in Wien, ein gläsernes Gebilde, das einem lauernden Insekt ähnelt. Seither wurden die geneigten Ebenen, sich kreuzenden Winkel und Lichtpyramiden, die gekippten Wände und sich verschiebenden Böden zum Markenzeichen von Coop Himmelb(l)au. 1988 machte Philip Johnsons Dekonstruktivismus-Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art die Wiener weltweit bekannt. Spätestens als sie vor fünf Jahren sogar den Grossen Österreichischen Staatspreis erhielten, war klar, dass der löckende Stachel ihres Revoluzzertums stumpf geworden ist. Spätestens seitdem die dekonstruktivistische Attitüde staatlicherseits honoriert wird, hätten die Wiener Architekten an eine Weiterentwicklung ihres Stils denken können. Aber nein, ihre Manier haben sie gefunden, und ihr blieben sie treu.

Zahmer Erweiterungsbau

Diese konservierte Protesthaltung merkt man dem neuesten Werk von Coop Himmelb(l)au, dem Erweiterungsbau der Münchner Akademie der Bildenden Künste, deutlich an. Deswegen wetterten einige Münchner Architekten, der Annex neben der alten Akademie, Gottfried von Neureuthers Neorenaissance-Palast von 1886, käme etliche Jahre zu spät, die Erweiterung des Risalit-Gebäudes mute heute etwas fahl und abgestanden an. Dazu muss man aber wissen, dass der Wettbewerb 1992 entschieden wurde, also zu einer Zeit, als der Dekonstruktivismus seinen Zenit gerade überschritten hatte.

Trotz aller Kritik lässt sich schwerlich verleugnen, dass der neueste Wurf von Coop Himmelb(l)au im kleinteiligen Schwabing mit seiner alten Bausubstanz noch immer wie eine gebaute Provokation erscheint. Vielleicht liegt dies ja daran, dass München derlei Provokationen kaum zu bieten hat. Selbst die «Fünf Höfe» von Herzog & de Meuron an der Theatinerstrasse wurden von der Münchner Bürgerschaft zurechtgestutzt und erscheinen heute fast nur im Blockinneren als Neubau. Und in Stefan Braunfels «Pinakothek der Moderne», einer mit viel majestätischem Pomp aufgeblähten Herrschaftsarchitektur, umweht einen der kühle Geist des bayrischen Freistaats.

Zu diesem «Nationalsymbol» haben sich Coop Himmelb(l)au an der Ecke von Türken- und Akademiestrasse den geeigneten Gegenpol ausgedacht. Das gesamte Gebilde wirkt zunächst neben dem Neureuther-Bau wie eine verwegene architektonische Skulptur mit kastenförmiger Auskragung und hoch aufragendem, schrägem Glasschild, das an massiven Rohren aufgehängt ist. Frappierend auch das betonierte Vordach, das so gar nicht mit der gestuften, aus Holzplanken gefertigten Terrasse harmonieren will. Selbst im Foyer setzt sich der erste Eindruck fort. Der überraschend noble Parkettboden kontrastiert mit den Sichtbetonwänden und den gewalzten Stahlblechplatten der Fassade. Die Wiener haben offenbar alles darangesetzt, der Kunstakademie jegliche kreative Atmosphäre auszutreiben.

Industrieller Charme

Die Eingangshalle versprüht den industriellen Charme einer Ruhrgebietszeche mit ihren charakteristischen Förderbändern. Blechtunnel durchstossen die Wände, durchziehen kreuz und quer den Lichthof des Foyers und verschwinden wieder in den gegenüberliegenden Geschossebenen. Dabei werden die kastenförmigen Stege von massiven, windschief stehenden Rundpfeilern abgestützt und versperren damit die mögliche Nutzung der Halle für Veranstaltungen. Wer dem Stiegenhaus folgt, vorbei an tief liegenden Fensterschlitzen, an Künstlerateliers und bestechenden Ausblicken auf den Akademiepark sowie die Münchner Kirchen, erreicht über dem Glasdach des Lichthofs die Panorama-Terrasse mit den Gästeappartements. Ein Steg führt hinab auf einen metallenen Gitterboden, inmitten einer chaotischen Dachlandschaft.

Trotz seiner verwirrenden Konstruktion hat der selbstverliebt wirkende skulpturale Block stadträumliche Vorzüge. Er öffnet nicht nur klare Sichtbezüge zum Neureuther-Altbau und zum städtischen Kontext, er nutzt auch sinnvoll die frei gewordene Ecksituation und lässt genügend Raum für einen kleinen Vorplatz. Hier, auf der Terrasse des Akademie-Cafés, zeigt sich der widerspenstige Koloss von seiner besten Seite, hier lässt es sich in der angenehmen Jahreszeit gut aushalten.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.11.18



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Akademie der Bildenden Künste - Erweiterungsbau

05. Oktober 2005Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Kölner Wunderlampe

Das deutsche Modehaus Peek & Cloppenburg setzt bei seinen Neubauten in jüngster Zeit auf Spitzenarchitektur. Beim neuesten Gebäude handelt es sich um einen Glaspalast des Italieners Renzo Piano in Köln. Stadträumlich gesehen ist das Haus eine Bereicherung, baukünstlerisch aber nur die gelungene Kopie eines alten Projekts.

Das deutsche Modehaus Peek & Cloppenburg setzt bei seinen Neubauten in jüngster Zeit auf Spitzenarchitektur. Beim neuesten Gebäude handelt es sich um einen Glaspalast des Italieners Renzo Piano in Köln. Stadträumlich gesehen ist das Haus eine Bereicherung, baukünstlerisch aber nur die gelungene Kopie eines alten Projekts.

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Peek & Cloppenburg

17. August 2005Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Wallfahrtsort für Architekturfreunde

Vor wenigen Tagen konnte in Madrid das Design-Hotel «Puerta América» eröffnet werden. Insgesamt neunzehn bekannte Architekten und Designer gestalteten die Bars, Restaurants und Zimmer des zwölfgeschossigen Gebäudes. Dabei wurde die baukünstlerische Kreativität ganz gezielt in den Dienst von Werbung und Marketing gestellt.

Vor wenigen Tagen konnte in Madrid das Design-Hotel «Puerta América» eröffnet werden. Insgesamt neunzehn bekannte Architekten und Designer gestalteten die Bars, Restaurants und Zimmer des zwölfgeschossigen Gebäudes. Dabei wurde die baukünstlerische Kreativität ganz gezielt in den Dienst von Werbung und Marketing gestellt.

Der Weg zu Madrids «Puerta América», einem Design-Hotel der Superlative, führt mitten in die Unwirtlichkeit der Grossstadt. Das Auge hat sich schnell an die urbanistische Einöde rund um die lärmige Avenida de América und die verwahrlosten Torres Blancas von Saénz de Oíza gewöhnt, die einst einen Meilenstein der spanischen Moderne darstellten. Beim Passieren dieser organisch gewundenen Wohntürme entdeckt man plötzlich eine architektonisch nicht besonders anspruchsvolle, dafür aber umso bizarrer gestaltete Hochhausscheibe, über deren Fensteröffnungen orangefarbene Markisen wie Wimpern kleben. Die Markisen - so wollte es der französische Architekt Jean Nouvel - sind der Blickfang des 12-geschossigen Hotels «Puerta América». Sie wurden angebracht, um in allen möglichen Sprachen die Freiheit zu preisen. Bei einem Fünfsternehotel mag dies überraschen. Aber das Etablissement sollte nun einmal in jeglicher Hinsicht aussergewöhnlich sein. So aussergewöhnlich wie die Vermählung von Architektur und Poesie. Deshalb liess Nouvel Fragmente von Paul Eluards Gedicht «Liberté», geschrieben in krakeliger Kinderschrift, auf die Markisen drucken. Vom antifaschistischen Freiheitsdrang des französischen Dichters blieb dabei nur noch eine blasse Marketingidee übrig - ein babylonisches Verwirrspiel von sprachlichen Versatzstücken.

Ein gigantischer Werbegag

Dank Nouvel stand in den letzten Wochen die Freiheit in Madrids wirtschaftlichen Kreisen hoch im Kurs. Als Erster hob der Präsident der Hotelgruppe Silken, zu der das 75 Millionen Euro teure Hotel gehört, in metaphysische Sphären ab, als er die Architekten lobte, die das neue Haus in eine «Hommage an die Freiheit, an die Verbindung der Völker, Kulturen und Religionen» verwandelt hätten. In den Chor der Preisungen reihte sich sodann die Direktorin der spanischen Kunstmesse Arco ein mit dem Refrain: «Das Hotel ist ein Symbol kreativer Freiheit und ein Schmelztiegel der Kulturen.» Wie gut die Marketingstrategie läuft, zeigt sich daran, dass selbst die Politiker mitspielten. Im Beisein der Architekten Nouvel, Arata Isozaki, David Chipperfield und anderen «estrellas» der internationalen Architektenszene verkündete Bürgermeister Alberto Ruiz-Gallardón, durch das prestigeträchtige «Puerta América» habe Madrid den Titel «Welthauptstadt der Architektur» verdient.

Die Anregung zum Bau des «Puerta América» lieferte offenbar der New Yorker Hotel-Tycoon Ian Schrager, der vor fünf Jahren Herzog & de Meuron zusammen mit Rem Koolhaas zu einem aussergewöhnlichen, aber schliesslich doch nicht ausgeführten Hotelprojekt in Manhattan animiert hatte. Von einer Wiederbelebung der Idee von Schrager kann aber in Madrid nicht die Rede sein. Denn die beiden Pritzker-Preisträger sind diesmal nicht dabei. Doch die Silken-Manager haben aus der Not eine Tugend gemacht und flugs mit Norman Foster und Zaha Hadid zwei andere Pritzker-Preisträger eingespannt, dazu siebzehn weitere Stars und Sternchen, die fortan wie Kometen am Madrider Himmel leuchten sollen. Ob die Rechnung aufgeht, wird sich zeigen. Offensichtlich glaubt man an Donald Trumps Motto: «Trendige Hotels, von renommierten Architekten entworfen, vermarkten sich besser.» Diesen Spruch jedenfalls haben sich die Madrider Manager an die Brust geheftet. Und die vermeintlichen Stararchitekten und Stardesigner konnten gar nicht den Blick davon lassen. Ihre Aufgabe, jeweils einen Gemeinschaftsbereich oder gar ein ganzes Stockwerk nach ihren eigensten Vorstellungen zu gestalten, haben zwar einige nicht ohne Bravour gemeistert. Eher unter den Erwartungen blieben die Beiträge von Chipperfield, Foster, Hadid, Isozaki und Nouvel, die zu den gefragtesten ausländischen Architekten in Spanien zählen.

Zwischen Barock und Minimalismus

Als einen der Lichtblicke im Potpourri des internationalen Staraufgebots darf man die Arbeit des britischen Minimalisten John Pawson bezeichnen. Ihm gelang im Foyer mit geschwungenen, perforierten Holzwänden und einem meditativ anmutenden Wasserlauf eine klare Raumaufteilung von nahezu buddhistischer Einfachheit und Strenge. Der australische Designer Marc Newson nutzte die Raumflucht der angrenzenden Bar, indem er in eine Nische eine acht Meter lange Theke stellte, die aus einem sechs Tonnen schweren Block weissen Carrara-Marmors besteht und - will man der Anekdote glauben - vor dem Bau der Fassade installiert werden musste. Wie aber schnitten die umworbenen Stars ab? Zaha Hadid schuf fürs Vestibül futuristisch kantige Lampen und blieb sonst ihrem barocken Hang zu verspielten Formen treu. In den von ihr gestalteten Zimmern liess sie märchenhaft organische Gebilde aus weissen Acrylbauteilen kreieren. Amerikanische Gäste werden dabei wohl an Disneyland denken. Nur die spanische Putzfrau, die eigens aufs Waschbecken klettern muss, um den Spiegel zu reinigen, dürfte weniger vergnügliche Assoziationen haben.

Foster setzte einmal mehr auf erlesene Materialien, gediegene Formen und technologische Zitate, Chipperfield wählte luxuriöse Stoffe und klare Raumkonzepte, während Isozaki die japanische Karte spielte und seine Hotelzimmer in formenstrenge «black boxes» verwandelte. Auch wenn die von Isozaki ausgewählten Materialien beeindrucken, dürften seine Dunkelkammern wohl nur während des sonnigen Madrider Sommers zu ertragen sein. Fast klaustrophobische, an den Expressionismus von Schwitters Merzbau erinnernde Räume aus kaltem rostfreiem Stahl schufen Holger Kehne und Eva Castro vom Londoner «Plasmastudio». In ihren Zimmern dürfte einem der Schlummer schwer fallen.

Schon ein kurzer Rundgang durch das Haus macht deutlich, dass in Madrid die Gattung Luxushotel, die einst durch Eleganz zu überzeugen suchte, mit dem «Puerta América» zum Sinnbild kakophonischer Dissonanzen geworden ist. Hier scheint gestalterisch alles erlaubt zu sein, sofern es nur von einem der Grossen der Architektenzunft stammt. Diese Art von Publicity wirkt im harten Kampf um die Hotelgäste ganz offensichtlich.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2005.08.17

08. August 2005Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Ein frischer Wind aus Westen

Das seit einigen Jahren sich rasch wandelnde Stadtbild Warschaus wird geprägt von öden Brachflächen, Einkaufszentren und modischer Kommerzarchitektur. Erste Zeichen eines «Architekturfrühlings» gehen nun aber von den beiden massstabsetzenden Botschaftsgebäuden der Niederlande und Deutschlands aus.

Das seit einigen Jahren sich rasch wandelnde Stadtbild Warschaus wird geprägt von öden Brachflächen, Einkaufszentren und modischer Kommerzarchitektur. Erste Zeichen eines «Architekturfrühlings» gehen nun aber von den beiden massstabsetzenden Botschaftsgebäuden der Niederlande und Deutschlands aus.

Eine deutsche Architekturzeitschrift verhiess kürzlich den Warschauer Frühling. Das war eine gewagte Prophezeiung. Denn die massgeblichen Impulse zur Stadterneuerung fehlen auch sechzig Jahre nach der Totalzerstörung durch die deutschen Besatzungstruppen noch immer. Die wiedererrichtete Altstadt wird wie eine Schatztruhe gehütet, während das Zentrum im Spannungsfeld von stalinistischem Kulturpalast, grossstädtischen Brachflächen, modischer Kommerzarchitektur und dem neuen Shoppingcenter Zote Tarasy zerrieben wird.

Der Stadt die Seele wiedergeben

Warschaus Bauvorsteher Tomasz Zema befürchtet sogar, die Mall des Kaliforniers Jon Jerde, von dem die weltweit grössten Einkaufszentren stammen, werde nach ihrer Fertigstellung grosse Teile des städtischen Lebens in sich aufsaugen und die Verödung der Stadtteile jenseits der Weichsel forcieren. Zema ist auch eher pessimistisch gestimmt, wenn er auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Bauamtes angesprochen wird: «Bis heute ist es uns nicht gelungen, der Stadt ihre Seele wiederzugeben. Das neue Zentrum ist lediglich virtuell, es ist übersät mit leeren Flächen und temporären Gebäuden. Auch die infrastrukturelle Verbindung zwischen den einzelnen Stadtvierteln lässt zu wünschen übrig.»

Selbstverständlich weiss Zema, dass architektonische Projekte in Osteuropa nur dann eine Chance auf Verwirklichung haben, wenn das Geld von ausländischen Investoren kommt, die ihre eigenen Architekten mitbringen. So war es mit der niederländischen ING-Bank und dem Mall-Spezialisten Jerde, der das monströse Shoppingcenter frech zwischen Kulturpalast und Bahnhof setzte. Ähnlich verhält es sich mit dem gerade entstehenden Büroturm von Skidmore, Owings & Merrill, der von mehreren ausländischen Investoren finanziert wird. Oder mit Norman Fosters Bürogebäuden am nördlichen Rand des legendären Pisudski-Platzes. Zwar gehören sie zu jenen trendigen Stahl-Glas-Konstruktionen, die man mittlerweile als Dutzendware in fast allen westeuropäischen Städten findet. Aber die Warschauer Stadtplaner sehen in dem Bauwerk den Anfang einer umfangreichen Stadterneuerung und hoffen auf eine Renaissance des «Warschauer Dreiecks». Momentan ist von dem Aufbruchsgeist noch wenig zu spüren, aber bereits in Kürze beginnen die Bauarbeiten, die dem Geschäftszentrum rund um den Pisudski-Platz das grossstädtische Flair wiedergeben sollen.

Nach der Fertigstellung von Fosters Bürobauten verbleibt noch die Umsäumung des nordwestlichen Platzrandes, der in den Saski-Park übergeht. Dabei setzen die Warschauer Stadtplaner auf die originalgetreue Restaurierung dreier im Krieg zerstörter Paläste - des quer zu Platz und Park gelegenen Brühlschen Palastes sowie der beiden Saski-Paläste, die das Grab des Unbekannten Soldaten einrahmen werden. Für den Eckpunkt dieser Randbebauung ist hingegen ein Neubau vorgesehen, dessen Programm noch nicht vollends geklärt ist. Ausgleich zwischen Alt und Neu bei strikter Beibehaltung des traditionellen Stadtgrundrisses - dies ist das Leitbild des Bauamtes, mit dem es die Erinnerungen an das alte Warschau wieder lebendig werden lässt.

Mit Vorliebe erzählt Tomasz Zema von neuen Bauprojekten im reizvollen azienski-Schlosspark, dem Warschauer Diplomatenviertel. Dazu gehört die Kernsanierung der französischen Botschaft, eines 1970 von Bernard Louis Zehrfuss und Jean Prouvé errichteten dreistöckigen, weissen Riegels, der durch schwarze Stahlträger abgestützt wird. Derweil werden am westlichen Rand der Parklandschaft die britische und die deutsche Botschaft hochgezogen. Der Engländer Tony Fretton setzt auf den leicht hügeligen Parkausläufern eine dreigeschossige, minimalistisch anmutende Kanzlei, deren vertikal verlaufendes Stahlgerippe mit Glas und Stein ausgefüllt wird. Durch einen Hof getrennt, entsteht auf der gegenüberliegenden Seite die Botschaftsresidenz, ein mediterran wirkender Kubus mit grossen Fenstern und hellen Steinplatten.

Der junge Berliner Architekt Holger Kleine baut derweil unweit des Sejm die deutsche Botschaft, das erste deutsche Gebäude in Warschau seit dem Zweiten Weltkrieg. Kleine ist sich darüber im Klaren, dass dieses Projekt eine ausserordentliche Sensibilität erfordert. Denn die neue Botschaft bleibt mit der Geschichte Warschaus verbunden, einer Geschichte, die unauslöschlich mit der Barbarei des Nationalsozialismus verknüpft ist. Jede Monumentalität verbietet sich beim Gedanken an die Zerstörungswut der deutschen Besatzer.

Architekturfrühling

Kleine entschied sich daher für einen mehrgliedrigen Baukörper mit Flachdach. Prägnant sind die «vegetativen Wände», bewachsen mit Polsterpflanzen, Farnen und Efeu. Sie fügen sich harmonisch zu den Fassaden aus Schiefer und Glas. Mit dieser aussergewöhnlichen Materialkombination möchte Kleine ökologisches, traditionelles und technologisches Bauen miteinander versöhnen. Anders als die nahe gelegene französische Botschaft, die sich dem azienski-Park wie ein Monolith entgegenstemmt, gliedert sich die deutsche Kanzlei geradezu organisch in die umgebende Parklandschaft ein. So führt eine begrünte Rampe hinauf zu einem Dachgarten, zu Wänden mit wildem Wein. Kleine kommentiert sein Entwurfsprinzip: «Wir arbeiten mit einem Gleichgewicht aus offenen und geschlossenen, hellen und dunklen, harten und weichen, vertikalen und horizontalen Flächen. Dieser Dialog ist uns sehr wichtig, da er das eine durch das andere bereichert.»

Wenn man vom «Warschauer Architekturfrühling» spricht, dann trifft dieses Bild am ehesten auf Erick van Egeraats aufsehenerregende niederländische Botschaft zu. Sie liegt in beschaulicher Lage am östlichen Ende des Parks, der unmittelbar ans Weichselufer anschliesst. Die Ummauerung erinnert an eine Baustelle. Doch der erste Eindruck täuschte. Van Egeraat, der sich seit einigen Jahren auch mit Projekten in Budapest und Moskau profiliert, wollte nur einen sinnfälligen Kontrast zur gegenüberliegenden japanischen Botschaft herstellen, die wie ein Bollwerk hinter einer wuchtigen Mauer verschwindet. Vor Kanzlei und Residenz zog er einen sechs Meter hohen «Pflanzenzaun» hoch, eine vegetabile, durchlässige Wand aus dicken und dünnen Stahlrohren.

Leider beeinträchtigen die ornamentalen Elemente, das chaotische Geflecht des Zauns und das Gewirr der aufgedampften pflanzlichen Muster auf der Glasverblendung der Kanzlei den klaren Gesamteindruck der Anlage. Die Stärke liegt eher im wohlproportionierten Arrangement des Ensembles, in der einladenden und lichten Atmosphäre der Kanzlei und dem aufgeständerten, blockartigen Riegel der Residenz, vor dem sich eine grobe Steinmauer erhebt. Die beiden Gebäude sind durch einen öffentlichen Platz aufeinander bezogen, der den Blick auf eine sanft ansteigende Gartenlandschaft mit Wasserläufen lenkt. Bei der Kanzlei legte Erick van Egeraat zwar Wert auf grosszügige Glasfassaden, aber es gelang ihm gleichzeitig, die sinnliche Qualität des Gebäudes durch Kombination von Sichtbeton, Holz und Glas fühlbar zu machen.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2005.08.08

01. Juli 2005Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Leuchtturm in der Stadtwüste

Metastasenförmig breitet sich Madrid in alle Himmelsrichtungen aus. Doch architektonischer Qualität begegnet man in den neuen Stadtvierteln nur selten. Ausnahmen bilden Bauten international bekannter Architekten, etwa des Rotterdamer Büros MVRDV, das im Norden der Stadt ein spektakuläres Wohnhochhaus errichtet hat.

Metastasenförmig breitet sich Madrid in alle Himmelsrichtungen aus. Doch architektonischer Qualität begegnet man in den neuen Stadtvierteln nur selten. Ausnahmen bilden Bauten international bekannter Architekten, etwa des Rotterdamer Büros MVRDV, das im Norden der Stadt ein spektakuläres Wohnhochhaus errichtet hat.

Madrid wächst in atemberaubendem Tempo. Ähnlich wie Barcelona sich zwischen Jean Nouvels Torre Agbar und dem neuen Forum-Gebäude von Herzog & de Meuron unaufhaltsam nach Norden in Richtung Meer und Río Besòs ausbreitet, liegen auch in Madrid die wichtigsten Expansionsgebiete am Nordrand der Stadt. Dort sollen insgesamt vier Türme von Pei, Foster, Pelli und Rubio / Alvarez Sala gemäss der grossangelegten Operación Chamartín dereinst die Plaza Castilla rahmen und 1,5 Millionen Quadratmeter Büroflächen bieten. Diesem Expansionsdrang folgt auch der Wohnungsbau. Auf ehemaligem Ackerland, wo noch bis in die achtziger Jahre nur einige Hütten von Wanderarbeitern standen, wachsen nun in einem atemberaubendem Tempo die Blöcke neuer Siedlungen heran.

Altgediente Rezepte und Alternativen

Der Generalplan für die neuen Siedlungsgebiete, der Bauwirtschaft und Immobilienhandel im boomenden Madrid astronomische Gewinne verspricht, heisst «Planes de Actuación Urbanística» (PAU). Vorgesehen ist die Errichtung von mehr als einem Dutzend Siedlungen mit rund 300 000 Wohnungen. Im Madrider Norden gehören dazu neben den Luxussiedlungen La Florida und La Moraleja auch die Grosssiedlungen Las Tableras und Sanchinarro. Der renommierte spanische Architekturkritiker Luis Fernández- Galliano hat die Anlagen dieser heranwachsenden Siedlungen zu Recht als «urbanismo basura» - als Schrott-Urbanismus - kritisiert. Sie seien Ausdruck einer Bodenspekulation und eines korrupten Immobilienhandels, deren Lieblingsarchitektur sich durch eine traditionelle Ziegelverkleidung auszeichne. Der Madrider Generalplan folgt altgedienten Rezepten mit vielversprechender Rendite und setzt auf die Sprache eines rückwärts gewandten Urbanismus: Shopping-Malls mit Kreiselverkehr, geschlossene Wohnblöcke und leblose Strassen mit wenig Einzelhandel. Von einer städtischen Vision mit anspruchsvoller Architektur kann keine Rede sein.

Dass es auch anders geht, beweist eine kommunale Gesellschaft, die sich Empresa Municipal de la Vivienda (EMV) nennt. Die von der EMV in Auftrag gegebenen Projekte wirken fast wie blühende Oasen inmitten einer endlosen Wüstenlandschaft. An ihnen sind ambitionierte Architekten wie die Lateinamerikaner Legorreta, Salmona und Mendes da Rocha beteiligt, denen es darum geht, Alternativen zum marktorientierten Urbanismus aufzuzeigen. Zu den Wettbewerben der EMV werden meist auch ausländische Teams geladen, denen ein erstaunliches Mass an gestalterischer Freiheit zugestanden wird. - Die spanische Partnerin des Rotterdamer Büros MVRDV, Blanca Lleó, ist voll des Lobes für die Initiativen der EMV. Man fördere originelle Bauformen, die sich deutlich von den vorherrschenden geschlossenen und repetitiven Blockstrukturen des PAU mit ihren sechsgeschossigen Backsteinfassaden unterschieden. So haben MVRDV gerade eine Wohnmaschine fertiggestellt, die weit über die Stadtwüste von Sanchinarro hinausragt. Die markante Scheibe versteht sich als Gegenentwurf zum repetitiven Blockmuster des Sanchinarro-Viertels. Man merkt, dass einige Ideen aus Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture (OMA) stammen, wo die beiden MVRDV-Partner Winy Maas und Jacob van Rijs den letzten Schliff bekommen hatten. Besonders Koolhaas' Idee von «Bigness», verstanden als Schichtung programmatischer Einheiten zu einem einzigen architektonischen Gebilde, hat es den Architekten angetan. Was Koolhaas allerdings als Neuerfindung des Urbanismus begreift, nutzen sie zur Reformierung eines gleichförmigen Wohnungsbaus.

Die konstruktive Logik des Madrider Wohnhochhauses verrät, dass sie eine Variation ihres Amsterdamer «Silodam»-Wohnblocks (NZZ 7. 3. 03) anstrebten. Dort hatten sie die einzelnen, containerartigen «Blocksegmente» als konstruktive Elemente konzipiert, die - aufgrund gleicher Höhe und Farbe - gewissermassen eine wiedererkennbare Identität herstellen. Diese über- und nebeneinander gestapelten «Häuser in einem Haus» sollen nach dem Willen der Architekten die Herausbildung von «Mini-Nachbarschaften» unterstützen. Die hauptsächlich von Jacob van Rijs entwickelte Madrider Wohnscheibe funktioniert ähnlich. Die Addition verschiedener Nachbarschaften, an der Fassade ablesbar durch die Verwendung von Natursteinelementen und vorfabrizierten Betonplatten, wurde beibehalten. Dabei folgen die unterschiedlichen Wohnungstypen der von aussen erkennbaren Fassadenaufteilung. Allerdings bieten die einzelnen Segmente nicht ein Grundmuster identischer Wohnungen an, sondern im Grundriss die gleiche Abfolge unterschiedlicher Typen.

Wohnen in einer riesigen Skulptur

Verglichen mit dem «Silodam»-Gebäude, wurde die «Bigness» diesmal konsequenter umgesetzt, da sich die einzelnen «Häuser» zu einem urbanen Gebilde mit 22 Geschossen stapeln. Neu ist auch die auffällige Strukturierung des Superblock genannten Hochhauses durch einen orangefarbenen, weithin sichtbaren Zirkulationsweg. Er besteht aus privat und öffentlich genutzten Aufzügen sowie Treppen, die das Gebäude durchqueren und an der Fassade entlangführen. Dieser Weg, der den Block wie eine vertikale Strasse durchzieht, hatte sogar Einfluss auf die Konstruktion: Er fügt die einzelnen «Häuser» zu einem städtischen Komplex zusammen. Selbst die Wahl zweigeschossiger Wohneinheiten (Duplex) in der Attika und dreigeschossiger Typen (Triplex) unterhalb der Aussichtsplattform resultiert aus dieser Logik. Von der obersten Ebene der Maisonettes führen Treppen auf die Dachterrasse, die - über die Einöde von Sanchinarro - einen schönen Ausblick zum Guadarrama-Gebirge bietet.

Wenn dieser Superblock bereits zum Stadtgespräch geworden ist, dann nicht wegen seiner Grösse, sondern wegen seines auffälligen Lochs. Um jedes Déjà-vu zu vermeiden, entschieden sich die Architekten von MVRDV, über dem 12. Stockwerk einen 15 Meter hohen Hohlraum mit einer Aussichtsplattform von 550 Quadratmetern zu belassen, die schon jetzt zum Wahrzeichen von Sanchinarro geworden ist. Diese kann jedermann über den öffentlichen Aufzug erreichen, um die Aussicht zu geniessen.

Da Mietwohnungen bei den Spaniern verpönt sind, hält der Superblock nur Eigentumswohnungen bereit. Doch die EMV hatte festgelegt, 156 Einheiten als subventionierte Wohnungen anzubieten, die gut 50 Prozent unter dem marktüblichen Preis verkauft werden. Dass diese Preise nur mit gewissen Einbussen in der Ausführungsqualität möglich waren, lässt sich leicht ausrechnen. Zwar gehört die Geschosshöhe von 2,5 Metern auch in Spanien längst zur allgemein akzeptierten Norm. Aber der glückliche Besitzer einer Eigentumswohnung im 22. Geschoss wird sich damit abfinden müssen, dass er beim Blick auf die weite Landschaft der Zugluft, welche durch die Fensterritzen pfeift, ausgesetzt ist.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.07.01

02. Juni 2005Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Glücklich am Wasser

Das Bauen am Wasser, das von jeher die Basis des niederländischen Städtebaus bildet, steht im Zentrum der zweiten Architekturbiennale von Rotterdam. Daraus entwickelt das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) die Vision einer neuen Wasserstadt.

Das Bauen am Wasser, das von jeher die Basis des niederländischen Städtebaus bildet, steht im Zentrum der zweiten Architekturbiennale von Rotterdam. Daraus entwickelt das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) die Vision einer neuen Wasserstadt.

Wer dieser Tage durch Rotterdam streift, wird vielleicht verdutzt vor einem Plakat Halt machen, das eine riesige, aufschäumende Welle zeigt. Weisse und blaue Lettern geben Auskunft, was uns droht: De Zondvloed (die Sintflut). Was wie die Warnung einer Weltuntergangssekte klingt, entpuppt sich schnell als skurrile Werbung für die zweite, vom Nederlands Architectuur Instituut (NAI) organisierte Architekturbiennale von Rotterdam, die sich dem Thema Wasser und Stadt widmet. Der Landschaftsarchitekt Adriaan Geuze, Kurator der diesjährigen Biennale, meinte während der Eröffnungsveranstaltung, er habe die Flutwelle vor der holländischen Küste aufgenommen. Er versteht sie als Hinweis auf die wind- und wettergeprüften Niederlande, keinesfalls aber als Anspielung auf die Umweltkatastrophe in Südostasien. Wer also bei der Architekturbiennale an Tsunamis denkt, der liegt falsch. Die Ausstellung präsentiert zwar «Flood Resistant Housing» von Greg Lynn und West 8, entworfen sind diese Häuser jedoch für das Überflutungsgebiet entlang der IJssel. Der amerikanische Architekt und die Rotterdamer Landschaftsarchitekten entwickelten ein neues Siedlungsmodell für wassernahes Wohnen, das weiter führt als das traditionelle Bauen auf Poldern und Deichen. Wenngleich es auf der Biennale um die Neuerfindung von Landschaft, Stadt und Architektur geht, so dreht sich doch alles um die «Hollandse Waterstad». Geuze möchte diese holländische Tradition wachhalten und zeitgemäss deuten.

Holländische Wasserstadt

Es ist nicht zufällig, dass Geuze zwei Jahre nach Francine Houbens aufregender erster Rotterdamer Architekturbiennale zum Thema «Mobilität» zu den holländischen Grundlagen von Städtebau und Landschaftsplanung zurückkehrt. Denn Geuze, der 1996 den Masterplan für die brachliegenden Amsterdamer Pieranlagen Borneo und Sporenburg entwickelte, gilt als entschiedenster Erneuerer der «Hollandse Waterstad». Der von ihm neu geplante Teil des östlichen Hafengebiets von Amsterdam zählt weltweit zu den überzeugendsten Hafenumwandlungen der letzten Jahre. Hier ist Wohnen am Wasser in stark verdichteten Apartmenthaus-Anlagen und hoch aufragenden architektonischen Landmarken möglich. Im Gespräch erklärt Geuze, dass er dieses Hafengebiet als «eine zeitgenössische Antwort auf die alten Amsterdamer Kanäle» verstehe. Entsprechend lasse der Masterplan für Borneo-Sporenburg klare Vorbilder erkennen: «Wir sollten uns daran erinnern, dass man im Amsterdam des 17. Jahrhunderts bestens wusste, wie Strassen und Wasserwege im Städtebau anzulegen sind. Doch in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging dieses Wissen verloren. Erst in unseren Tagen besinnen sich die Stadtplaner Amsterdams wieder auf das Erbe ihrer Stadt, das Erbe des 17. Jahrhunderts.»

Zukunftsträume

In der Ausstellung im NAI wird dargelegt, wie es in 700 Jahren zu insgesamt 3500 Poldern gekommen ist. Ganz nebenbei werden einige der zahllosen Landschaftsplaner dem Vergessen entrissen und andere - etwa Aldo van Eyck, Gerrit Rietveld oder Cornelis van Eesteren - mit der Besiedlung der Poldern in Verbindung gebracht. Die Wasserstadt hingegen wird in den grossen Ausstellungshallen des alten Speichergebäudes «Las Palmas» thematisiert. Hier, auf dem Wilhelminapier, schlendert man an zahllosen Maquetten von Hafenstädten vorbei, die alle belegen, wie vielgestaltig deren Bindefunktion zwischen Land und Wasser ist. An Modellen für Utrecht, Gouda oder Delft aus dem 11. bis 17. Jahrhundert möchte Geuze aufzeigen, dass die Handelshäfen mit ihren Bewehrungen, Lagerhallen, Handelsniederlassungen und öffentlichen Einrichtungen im Stadtleben verankert waren. Diese Tradition gelte es zu reaktivieren. Allerdings suggeriert die Ausstellung, die Geschichte der Wasserstadt unterliege einer bruchlosen Entwicklung. Natürlich hat es diese - darüber weiss Geuze selbst am besten Bescheid - niemals gegeben. Denn bevor Rotterdams Kop van Zuid und Amsterdams östliches Hafengebiet zu weithin beachteten Modellen der Hafenumnutzung wurden, bewirkte die Zeit der Industrialisierung, dass der Hafen von der Stadt getrennt und zum Zentrum der Schwerindustrie wurde - bis sich im 20. Jahrhundert der Industriehafen zur Stadt in der Stadt wandelte, der öffentliche Zugang zum Ufer blockiert wurde und Stadt und Hafen völlig auseinander brachen. Diese lange Geschichte überspringt Geuze. Lieber weicht er, zwecks Würdigung seiner Idealstädte, auf «Seaside Resorts» wie Brighton und Ostende oder militärische Wasserstädte wie Naarden aus.

Geuzes Steckenpferd ist die «New Dutch Watercity». Zu diesen Zukunftsstädten gehört das IJssel-Projekt von Greg Lynn und West 8, das die alte Tradition der Halligenhäuser auf Warfen aufgreift. Mit den Überschwemmungsgebieten der IJssel nahe Kampen beschäftigt sich auch das Rotterdamer Avantgarde-Team MVRDV. Die Architekten wollen hier simple Einfamilienhäuschen ansiedeln, die zum Schutz vor Überschwemmung auf Stelzen stehen. Zum staatlichen Vinex- Programm, das seit Jahrzehnten den Bedarf an neuen Siedlungen regelt, gehört nicht nur das Leben am Wasser, sondern auch das Leben im Wasser. Weil den Holländern die Aufschüttung des künstlichen Archipels IJburg östlich von Amsterdam nicht ausreicht, wollen sie das eigene Heim zur Insel machen. Die unzähligen Hausboote auf den Amsterdamer Kanälen dürfen als ihre Vorläufer gelten. In Flevolands Huizen, auf Amsterdams Steigereiland und Roermonds Marina sollen «schwimmende Häuser» wieder die verschüttete Seefahrerleidenschaft der sesshaft gewordenen Holländer wecken. Doch bevor Geuze die Niederlande zur «Floating Society» umwandelt, steht erst einmal der pragmatischere Plan «Rotterdam 2035» zur Realisation an. In dreissig Jahren wird man dann von der Flussstadt, der Wasserwegstadt und der Kanalstadt reden. Geuze träumt von einer Zukunftsstadt mit weitverzweigten Wasseradern, die eine ungeahnte städtische Lebensqualität bieten soll.

Geuze will offenbar zeigen, dass sich seit den frühen Projekten wie etwa der «City on Pampus», die Bakema und van den Broek 1964 als östliche Erweiterung Amsterdams für 350 000 Bewohner errichteten, die Zeiten grundlegend geändert haben. So soll «Valencia Litoral», ein in den nächsten dreissig Jahren durchzuführendes Projekt, die gesamte städtische Meeresfront der spanischen Mittelmeerstadt urbanisieren. Und in Dubai werden mehrere Milliarden Dollar in ein touristisches Eldorado in Form von zwei palmenförmigen Inseln (NZZ 5. 3. 04) investiert. Trotz Tsunamis und aufgrund der Klimaerwärmung drohender Sintflut ist offenbar die Angst vor dem Wasser gewichen. Die Niederlande machen es der grossen Welt wieder einmal vor. Nur wer nah am Wasser baut, lässt Adriaan Geuze verkünden, ist der Glückliche.

Die 2. Internationale Architekturbiennale Rotterdam dauert auf «Las Palmas» und im Niederländischen Architekturinstitut bis zum 26. Juni. Katalog: The Flood (engl./niederl.). Euro 14.50.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2005.06.02

13. Mai 2005Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Ein kleines Guggenheim

Mit Möbeldesign und Kunst will die ostwestfälische Kleinstadt Herford künftig im internationalen Wettstreit der Museen mitspielen. Dazu hat sie sich von Frank O. Gehry ein exzentrisches Haus bauen lassen, das ganz direkt auf den Bilbao-Effekt abzielt. Der Neubau und die Eröffnungsausstellung hinterlassen eher zwiespältige Eindrücke.

Mit Möbeldesign und Kunst will die ostwestfälische Kleinstadt Herford künftig im internationalen Wettstreit der Museen mitspielen. Dazu hat sie sich von Frank O. Gehry ein exzentrisches Haus bauen lassen, das ganz direkt auf den Bilbao-Effekt abzielt. Der Neubau und die Eröffnungsausstellung hinterlassen eher zwiespältige Eindrücke.

Die mittelalterliche Kleinstadt Herford in Ostwestfalen-Lippe wollte hoch hinaus. Ein Museum für Kunst und Möbeldesign musste her, entworfen vom Kalifornier Frank O. Gehry. Auch der neue Museumsdirektor sollte nicht irgendwer sein, sondern Jan Hoet, der 1992 die Kasseler Documenta IX geleitet hat. So war die Euphorie der Politiker, Unternehmer und Kuratoren kaum zu bremsen, als das neue Haus vor wenigen Tagen eröffnet wurde. Hoet sah schon die «grösste Kleinstadt Deutschlands» entstehen, weil sie es geschafft habe, «Visionen» zu entwickeln. Einen veritablen «Gehry» könne sie vorweisen und stehe nun auf gleicher Höhe mit den Nachbarstädten Bielefeld und Osnabrück, die mit Philip Johnsons Kunsthalle und dem Felix-Nussbaum-Museum von Daniel Libeskind punkten dürfen. Schliesslich fiel der Satz, den man erwartet hatte: «Wir wollen das kleine Bilbao werden», verkündete der Chef der als Betreiberfirma fungierenden gemeinnützigen Gesellschaft für Möbel, Kultur und Kunst. Freudiges Kopfnicken signalisierte allgemeine Zustimmung.

Hybrides Bauwerk

Einen drolligen Namen dachte man sich für das neue Museum aus: MARTa. Dieses kuriose Sprachgebilde steht für «M» wie Möbel, «ART» wie Kunst und «a» wie Ambiente. Was so unbeholfen zusammengezwängt ist, verweist auf ein hybrides Bauwerk, das nicht nur unterschiedliche Funktionen, sondern auch Neues und Altes aufregend miteinander verbindet. Das MARTa, so schwante es vor Jahren dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Wolfgang Clement, sollte ein «Haus des Möbels» zur Förderung des einheimischen Wirtschaftsstandortes werden. Nun ist daraus eine multifunktionale Einrichtung geworden: Ein «Museum für Kunst und Design», ein «Forum für Kultur, Veranstaltungen und Präsentationen» sowie ein «Zentrum für Kompetenz und Information».

Gehry hat daraus eine amerikanische Variante des hierzulande geläufigen «Bauens im Bestand» gemacht. Das Museum erscheint zunächst, wenn man sich ihm vom Bahnhof und von der gewundenen Hauptstrasse her nähert, wie ein kompletter Neubau. Eine verwirrende Architektur, die Klinkerfassade, Stahlbetonkonstruktion und ein wogendes Dach aus Stahlblech miteinander verbindet. Erst der rückwärtige Teil, der sich einem Flüsschen anschmiegt, und das Foyer verdeutlichen die Logik der Konstruktion. Gehry musste nämlich ein denkmalgeschütztes Betriebsgebäude, einen viergeschossigen, klar gegliederten Stahlskelettbau aus den fünfziger Jahren respektieren.

Aufregender Fremdkörper

Die Herforder Bauherren, die gerne auf Gehrys «Energieforum Innovation» im nahen Bad Oeynhausen sowie auf dessen Entwurf für die Erweiterung der Bielefelder Kunsthalle verweisen, dachten natürlich nicht an nahtlose Einpassung des neuen Museums in die umstehenden Gründerzeithäuser, eher an ein werbewirksames Objekt. Für derart exzentrische Projekte ist Gehry bekanntlich der Richtige. Seitdem er vor 25 Jahren im kalifornischen Santa Monica ein kleines Einfamilienhaus mit Ziegelschornstein und Schindeldach lustvoll ausbaute und durch eine Umhüllung aus Wellblech, Drahtgitter und laminierten Holzplatten erweiterte, war allseits klar, was er unter «Bauen im Bestand» versteht. Aber Santa Monica ist nicht Herford. Und Gehrys Zugeständnis, den Massstab zu wahren und die westfälische Klinkertradition aufzugreifen, konnte nicht verhindern, dass das MARTa zum aufregenden Fremdkörper in der mittelalterlichen Kleinstadt wurde.

Trotz allen Anstrengungen schaffte es Herford nicht, zum kleinen Bruder von Bilbao zu werden. Natürlich konnte der Versuch nur scheitern. Denn das riesige Guggenheim-Museum wirkt in der grauen baskischen Industriestadt wie eine vom Himmel gefallene Sternschnuppe. Nichts von dieser Strahlkraft in Herford: Das MARTa ist eine sich selbst feiernde Architektur, die der Kunst, für die sie gebaut wurde, wenig Luft lässt. Diese Apotheose «alpiner Architektur» im westfälischen Flachland will offenbar unter Beweis stellen, dass man sowohl Konzerthallen in Los Angeles als auch Museen in Westfalen wie Gebirgsmassive bauen kann. Doch selbst der experimentierfreudigste Architekt muss zugestehen, dass Musiksäle als Schuhschachteln und Ausstellungssäle als orthogonale Räume am besten funktionieren. Mit diesem Pragmatismus kann sich Gehry selbstverständlich nicht anfreunden. Im Guggenheim-Museum musste er die Ausstellungsflächen auf ein Mindestmass reduzieren, damit sie sich in die widerspenstige Architektur einpassen liessen. In Herford treffen nun Kubaturen und Kunsträume schmerzlich aufeinander.

Schwierige Ausstellungsräume

Gehry setzte vor den rückwärtig gelegenen Altbau die neuen Bereiche für Forum und Wechselausstellungen, wobei es ihm gelang, diese zur Strasse heranzurücken und gleichzeitig um einen prägnanten Vorplatz zu gruppieren. Vom Altbau ist das neue Ensemble durch eine verwegen vorgeblendete Glasfassade und eine zentrale Wegachse getrennt, die den Zugang zum Museum, zum «Forum», zum «Zentrum» und zum Café mit kupfernen, organisch ausgebuchteten Galerien regelt. Zum Blickfang des Museumsbereichs machte Gehry fünf apsidenartige Baukörper. Diesen setzte er schräg gestellte zylindrische Helme auf, die im Innern als Lichtschächte dienen. Hier erweisen sich die wogenden Wände und tief heruntergezogenen Gewölbe mit ihren zahllosen Zwickeln als problematisch, sie müssen die Kuratoren bei der Hängung der Bilder zur Verzweiflung getrieben haben. Die Ecken und Wellen beengen jede bespielbare Fläche. Selbst mit dem zentral gelegenen «Dom» hatten die Ausstellungsmacher ihre liebe Mühe - trotz seinem quadratischen Grundriss. Praktische Einbaukästen, die eigens für die Eröffnungsausstellung «(My private) Heroes» aufgestellt wurden, können nur kosmetische Abhilfe schaffen.

Problemlos ist hingegen die Präsentation der Sammlung Karl Kerber im ersten Geschoss des Altbaus. Die restaurierten Räume dienen der Kunst besser als die selbstverliebte Architektur Gehrys. Dergleichen konnte Jan Hoet nicht aus der Fassung bringen, denn die narzisstische Präsentation seiner «ganz persönlichen Helden» ergänzt Gehrys Riesenskulptur geradezu kongenial. Diese Schau, die auf die Renaissance der Helden in zahllosen Facetten setzt, macht ratlos, weil sie nichts weiter als ein beliebiges Sammelsurium von Hoets privaten Obsessionen ist. Sie erklärt alles zur Kunst, die Installation von Nazi-Reliquien und Francis Bacons «Kardinal», Jan Ullrichs gelbes Trikot und Georg Baselitz' «Soldat», nicht zu vergessen die neue Grossskulptur des aufstrebenden Herford - Gehrys MARTa.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.05.13



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MARTa Herford

31. Dezember 2004Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Einzigartige Architektur?

Der holländische Architekt Rem Koolhaas hat in den neunziger Jahren, als Südostasien von anämischen Hochhauslandschaften überwuchert wurde, von der unaufhaltsamen...

Der holländische Architekt Rem Koolhaas hat in den neunziger Jahren, als Südostasien von anämischen Hochhauslandschaften überwuchert wurde, von der unaufhaltsamen...

Der holländische Architekt Rem Koolhaas hat in den neunziger Jahren, als Südostasien von anämischen Hochhauslandschaften überwuchert wurde, von der unaufhaltsamen Ausbreitung des «junk space» gesprochen. Angesichts dieser Tendenz könnte man meinen, dass Architektur zum Refugium der «happy few» unter den internationalen Stars geworden ist, die sich ihre Bauherren aussuchen können. Jean Nouvel, selbst einer der «happy few», und der Philosoph Jean Baudrillard fragten in einer vom Pariser Maison des écrivains organisierten Diskussionsreihe nach der Einzigartigkeit der Architektur. Wie nicht anders zu erwarten, tastete man sich zunächst langsam zu den begrifflichen Voraussetzungen des Gesprächs vor. Denn wenn bei weitem nicht alles Gebaute schon Architektur ist, unter welchen Umständen kann dann von «einzigartiger Architektur» gesprochen werden? Oder, allgemeiner, von «einzigartigen Objekten»?

In seinem beachtlichen Frühwerk «Le système des objets» hatte Baudrillard eine kontrollierte Warenwelt beschrieben, in der die Objekte zu einem Gefüge von Funktionen geworden sind, denen jegliches Mysterium und Naturhafte ausgetrieben ist. Für diese Welt des Konsums, die nichts von ihrem Produktionsgrund weiss und nur noch die kulturelle Kohärenz von «Zeichen-Objekten» kennt, kann es keine einzigartigen Objekte geben. Angesichts der Globalisierung hat Baudrillard nun diese These revidiert. Das Einzigartige versteht er als Stachel in der globalen Entwicklung des Kapitalismus; als «Riss» in der weltweiten Vernetzung der Machtzentren. Im Jahre 2000, als Baudrillard das Gespräch mit Nouvel führte, schien er seine anarchische Lust noch bändigen zu wollen, als er den Finanzmoloch New York als einen Körper beschrieb, «der bereits da ist und den man nicht mehr zerstören kann». Nach dem Attentat vom 11. September 2001 glaubte er verkünden zu sollen: «Der Zusammenbruch der Türme ist ein symbolisches Ereignis höherer Ordnung. [. . .] Er ist ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte der modernen Stadt, er präfiguriert eine Form des dramatischen Endes, um nicht zu sagen des Verschwindens dieser Form von Architektur wie auch des von ihr inkarnierten Weltsystems.»

Gibt es tatsächlich so etwas wie die «Architektur als reines Ereignis», von der Baudrillard träumt? Sicherlich liegt sie am ehesten in einer Bestimmung, der am Schluss beide Gesprächspartner zustimmen: Wenn eine gebaute Architektur etwas Einzigartiges ist, dann nur, wenn sie Ballast abwirft, wenn sie aus der Idee und der Geschichte der Architektur heraustritt. Solche Architektur zielt nicht auf Veränderung anhand von Modellen, sondern auf ein Werden ohne klare Richtungsangabe. Baudrillard: «Dahin zu gelangen, alles auszuschalten, leer zu machen, ist zweifellos die Vorbedingung zu jedem authentischen Schaffensakt. Wenn du keine Leere machst, wirst du niemals zur Einzigartigkeit gelangen.»

[ Jean Baudrillard, Jean Nouvel: Einzigartige Objekte. Architektur und Philosophie. Passagen, Wien 2004. 125 S., Fr. 28.80. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.12.31



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Einzigartige Objekte. Architektur und Philosophie

30. Oktober 2004Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Konzeptlose Leidenschaft

Die «Museumsinsel Hombroich» gilt schon lange nicht mehr als Geheimtipp. Denn immerhin zieht der Kunst- und Landschaftspark bei Neuss mittlerweile jährlich...

Die «Museumsinsel Hombroich» gilt schon lange nicht mehr als Geheimtipp. Denn immerhin zieht der Kunst- und Landschaftspark bei Neuss mittlerweile jährlich...

Die «Museumsinsel Hombroich» gilt schon lange nicht mehr als Geheimtipp. Denn immerhin zieht der Kunst- und Landschaftspark bei Neuss mittlerweile jährlich 70 000 Besucher an - darunter Niederländer, Schweizer und Franzosen, ja sogar Japaner. Mittlerweile ist das aussergewöhnliche Gebiet um eine Attraktion reicher. Der seit 1983 bestehende Park konnte vor etwa zehn Jahren auf eine angrenzende Raketenstation der Nato ausgeweitet werden, wo zuvor Sprengköpfe für Pershing-Raketen und Cruise-Missiles lagerten. In der folgenden Zeit verwandelten bildende Künstler wie Eduardo Chillida, Erwin Heerich und Peer Kirkeby die ehemals verbotene Stadt in den «Kulturraum Hombroich» - mit Skulpturen sowie wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen. Zu einem wahrhaft architektonischen Zugewinn führte aber erst der Entschluss des Sammlerehepaars Viktor und Marianne Langen, auf der «Raketenstation Hombroich» ein privates Museum von Tadao Ando bauen zu lassen. Der japanische Architekt sorgte für eine wohltuende Abwechslung, nachdem Erwin Heerich mittlerweile seit zwei Jahrzehnten an jeder Ecke Hombroichs seine sattsam bekannten Klinkergebäude mit kubischen Grundmustern errichtet hatte.

Licht und Schatten

Ando hat sich die Erdwälle der Raketenstation zunutze gemacht und die zwei Riegel seines Museums wie in eine Mulde eingebettet. So beherbergen die «Schutzwälle» einen langgestreckten gläsernen Quader, zu dem erst gelangt, wer zunächst eine japanische Gartenanlage überquert - durch das Tor eines konvexen Kreissegments hindurch, dann zwischen Kirschbäumen, einer konkav gestalteten Rohbetonwand und einem Spiegelteich entlang. Durch diesen zauberhaften Eingangsbereich erweist sich Ando als Meister einer «architecture parlante»: Die vordere Seite des Museumsriegels ragt wie ein Bug in den künstlichen Teich und lässt, je nach Sonnenstand, zwischen durchlaufender Glasfront und Betonkern vielfältige Schattenreflexe entstehen. Das Spiel von Licht und Schatten, der sensible Einsatz von Wasser innerhalb begrenzender Erdwälle, das Changieren zwischen opakem Sichtbeton und transparentem Glas, das Nebeneinander von funktionalen und szenischen Elementen - diese architektonische Welt Tadao Andos fügt sich wie ein Mysterium zum rationalen Baustil eines Erwin Heerich.

Die allseitige Erwartung war nicht gering, als die Langen Foundation eine Eröffnungsausstellung ankündigte, die ein interessantes Wechselspiel zwischen Architektur und Kunst versprach: «Bilder der Stille. Die Tradition Japans und die westliche Moderne». Der erste Teil der Ausstellung befindet sich in einem hermetischen Raum im Innern des Betonkerns, einem schlauchartigen Saal, der das Herzstück der Sammlung umfasst - rund neunzig, darunter höchst anmutige, japanische Rollbilder aus dem 12. bis 19. Jahrhundert. Von frühen buddhistischen Kultbildnissen über narrative Zeugnisse der höfischen Tradition bis zur profanen japanischen Malerei. Diese Schatztruhe bleibt dem Besucher auch nach der laufenden Ausstellung zugänglich.

Für den Sammlungsbestand aus der westlichen Moderne hat Tadao Ando zwei parallele Trakte, die aus einem angedockten Gebäudekomplex bestehen, sechs Meter tief ins Erdreich verlegt. Das spektakulärste Entrée zu den unterirdischen Sälen ist eine zum Hof führende Freitreppe. Allerdings zeigt sich auch hier wieder Andos Hang zur Theatralik - der Zugang endet nämlich vor einer verriegelten Glastür. Auch die Rampe hinunter zum ersten Ausstellungssaal erweist sich nicht unbedingt als sehr funktional, da die Hängung der Bilder dem architektonischen Effekt geopfert wer- den musste.

Cézanne - japanisch

Was Viktor und Marianne Langen in ihrem Leben an moderner Kunst gesammelt haben, überrascht durch etliche hochkarätige Werke, von Paul Cézanne bis Anselm Kiefer. Auffällig an den ausgestellten Arbeiten ist, dass sie mehr eine Sammelleidenschaft als ein klares Konzept verraten. Die Liebe zur alten japanischen Kunst, zu den lyrischen Graphismen und zarten Tuschezeichnungen hinterlässt ihre Spuren allenfalls in den Bildern eines Paul Klee und Joan Miró. Und es fragt sich, ob der Ausstellungstitel «Bilder der Stille» angesichts der Unterschiedlichkeit der ausgestellten Werke nicht doch etwas willkürlich gewählt wurde.

Aber zumindest bei einigen Gemälden ist unverkennbar, dass die suggestive Farbgebung besonders in der amerikanischen Nachkriegsmalerei das Sammlerehepaar beeindruckt haben musste. Wovon nicht nur die monochromatischen Ölbilder eines Mark Rothko zeugen. Auch frühere Kunstrichtungen, die sehr stark auf Reduktion bildnerischer Mittel setzen, scheinen das Interesse des Ehepaars geweckt zu haben. Beispielsweise Cézannes spätes Bild der «Montagne Sainte-Victoire». Diesen berühmtesten Berg der modernen Kunstgeschichte hat er mehrfach gemalt. Aber dieses Gemälde von 1906 ist sein einfachstes und «japanischstes».

Bilder der Stille. Die Tradition Japans und die westliche Moderne. Langen Foundation, Hombroich bei Neuss. Bis 15. Mai 2005. Katalog Euro 15.-.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2004.10.30



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Langen Foundation

27. Oktober 2004Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Städtebauliche Ideen für Kabul

Eine deutsch-afghanische Architektin hat einen Plan für den Wiederaufbau Kabuls ausgearbeitet, der von der afghanischen Regierung akzeptiert wurde. Dennoch sind die Widerstände immens. Investoren fehlen, Gelder werden falsch verteilt, und der Streit zwischen dem Städtebauministerium und der Stadtverwaltung lähmt die Arbeit.

Eine deutsch-afghanische Architektin hat einen Plan für den Wiederaufbau Kabuls ausgearbeitet, der von der afghanischen Regierung akzeptiert wurde. Dennoch sind die Widerstände immens. Investoren fehlen, Gelder werden falsch verteilt, und der Streit zwischen dem Städtebauministerium und der Stadtverwaltung lähmt die Arbeit.

Der Architektin Zahra Breshna ist das Leben zwischen den Welten nicht fremd. Zwar wohnt sie seit 24 Jahren in Deutschland und besitzt mittlerweile im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ein Architektenbüro. Doch kürzlich hat sie sich wieder in ihre Heimatstadt Kabul aufgemacht, um ihre Ideen vom Wiederaufbau der Altstadt voranzubringen. Bereits der Grossvater hatte in den zwanziger Jahren in Berlin bei Max Liebermann studiert und auch dort geheiratet. Später ging auch ihr Vater, Abdullah Breshna, nach Deutschland, liess sich zum Architekten ausbilden und arbeitete bei Egon Eiermann. Als er Anfang der sechziger Jahre unter König Zahir Schah nach Afghanistan zurückkehrte, trug er massgeblich zur modernen Stadtentwicklung Kabuls bei. Doch 1980 besetzte die Sowjetarmee das Land, worauf die Breshnas das Land fluchtartig verliessen. Der Besatzung folgten die Tyrannei verfeindeter Mujahedin-Gruppen, die Schreckensherrschaft der Taliban und der Krieg.

Neue Strukturen und alte Mentalitäten

Zahra Breshnas Dokumentation der Wunden Kabuls ist bedrückend: 80 Prozent der Altstadt und 50 Prozent der gesamten Stadt sind zerstört. Gleichzeitig stieg seit dem Fall des Taliban- Regimes die Einwohnerzahl von 700 000 auf nahezu 3 Millionen an. Die Folgen sind schlechte hygienische Verhältnisse, wachsende Obdachlosigkeit, eine kaum funktionierende Infrastruktur und beschädigte öffentliche Einrichtungen. Dass leer stehende Häuser von notleidenden Menschen einfach besetzt werden, gehört zur Normalität. Als Breshna nach 20 Jahren erstmals wieder in ihre Heimat zurückkehrte, kam ihr der Flugplatz wie ein «riesiger Schrotthaufen» vor, «wo überall herausgerissene Flugzeugteile herumlagen». Und an jeder Ecke bemerkte sie eine «furchtbare Verwahrlosung». Trotzdem hat sie sich voll und ganz dem Wiederaufbau der Altstadt verschrieben.

Die Beharrlichkeit hat sich ausgezahlt. Momentan leitet Breshna das «Department for Preservation and Rehabilitation of Urban Heritage in Afghanistan», eine dem Städtebauministerium unterstellte Abteilung. Sie ist heute nicht nur für Kabul, sondern für den Wiederaufbau aller zerstörten Altstädte Afghanistans verantwortlich. Als noch niemand in Afghanistan an Wiederaufbaupläne für Kabul dachte, arbeitete die diplomierte Architektin an einer Dissertation über «Die Wiederaufbaustrategie für die zerstörte Altstadt von Kabul». Auf einer internationalen Städtebaukonferenz im Sommer 2002 erhielt sie den Auftrag, ihre Entwürfe zu verfeinern; und Ministerpräsident Hamid Karzai ermunterte sie am Rande der Gespräche auf dem Bonner Petersberg, ihre Arbeitskraft dem neuen Afghanistan zur Verfügung zu stellen. Breshna ist noch heute begeistert: «Ich habe keine Sekunde lang gezögert und bin schnellstmöglich nach Kabul gefahren.»

Probleme vor Ort waren wegen Hungerlöhnen, Bestechlichkeit und schlechter Arbeitsmoral vorherzusehen. Selbst Breshna wartet noch immer auf einen Vertrag der Regierung. Derweil hat der Aga Khan Trust ihre Bezahlung übernommen, allerdings nur für eine beschränkte Zeit. Hinderlich sind mangelnde Koordinierung vor Ort, sachunkundig getroffene Entscheidungen und daraus resultierende Fehlinvestitionen ausländischer Institutionen, aber auch die Zurückhaltung von Investoren sowie die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Stadtverwaltung und Städtebauministerium. Die Regierung zeigte sich erfreut über die von Breshna eingereichten Pläne, die bewusst bewahrende, an der bestehenden Struktur der Kasbah ausgerichtete Elemente mit neuen urbanistischen Konzepten verbinden. Aber die Kabuler Stadtverwaltung opponiert unverdrossen gegen diese Entwürfe. Die Ursache sieht Breshna in der starren Bürokratie, die unfähig sei, die Probleme einer 3-Millionen-Metropole auch nur annähernd zu lösen. So hält der Bürgermeister Kabuls an einem Masterplan fest, den er nach Vertreiben der Taliban vor drei Jahren aus der Schublade hervorkramte. Dieser wurde zwischen 1964 und 1971 von sowjetischen Architekten ausgearbeitet und gilt noch heute vielen Beamten als Ideal eines modernen und prosperierenden Kabul. Dabei propagiert er eine nach dem Modell des stalinistischen Monumentalismus geformte Stadt mit Verkehrsschneisen, Hochhäusern und einer zugunsten von Plätzen und öffentlichen Einrichtungen radikal umgemodelten Altstadt.

Urbane Besonderheiten

Diesen Plan verwirft Breshna, da er die gewachsenen urbanen und kulturellen Besonderheiten Kabuls missachtet. Ihr «Strategieplan» geht dagegen von den Veränderungen aus, die das Stadtbild seit vorislamischer Zeit durchmachte. Zur ersten Entwicklungsphase zählt sie die typische Morphologie islamischer Städte: eine Kasbah, bestehend aus ummauerten Quartieren, die ihrerseits Cluster von zentrierten Raumzellen bilden. Von diesen nichthierarchisch angelegten Quartieren, die ursprünglich von unterschiedlichen Ethnien und Berufsgruppen selbständig organisiert wurden, ist in der heutigen Altstadt nur wenig übrig geblieben, ebenso wenig von den Konstruktionsprinzipien der Privathäuser mit ihren homogenen Fassaden, den abgeschirmten Wohnbereichen und den zentral gelegenen Höfen. Ganz zu schweigen von den schattigen Gassen, quirligen Basaren, reich ornamentierten Moscheen und üppigen Gärten. Doch für Breshna gehört all dies zum Gedächtnis einer Stadt, das es unbedingt wiederzubeleben gilt - ohne aber einen nostalgisch verklärten Zustand wiederherzustellen, den es seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr gibt. Sie weist darauf hin, dass die seit 1878 vorgenommene Errichtung einer Neustadt mit Achsen und Sichtbeziehungen zwangsläufig auch die Altstadt verändern musste. Der einschneidendste Eingriff ins Altstadtgefüge erfolgte 1949, als man die breite Jade-Maiwand- Achse durch das Gewirr der Kasbah schlug.

Die Architektin möchte einerseits die Modernisierung weitertreiben, anderseits die heute als schäbig empfundene Altstadt restaurieren und die traditionellen regionalen Bauweisen wieder fördern. Deshalb befürwortet sie die Idee, Kabul II, eine Neustadt auf einer Hochebene jenseits des Flughafens, von den zukünftigen Bewohnern mit traditionellem Baumaterial selbst errichten zu lassen. Sie möchte mit Lehmarchitektur die alten Konstruktionsweisen und Handwerkstechniken reaktivieren und so ein ökonomisches, ökologisches und kulturell angemessenes Bauen fördern. Dabei hofft sie, dass sich langfristig auch Architekten, Stadtplaner und Ingenieure aus dem Exil an dieser Selbstorganisation der Menschen beteiligen werden.

Breshnas Leitgedanke betrifft die historisch gewachsenen Strukturen, aber auch den Ausbau eines modernen Stadtzentrums mit Repräsentations-, Geschäfts- und Wohnbereichen. Besonders wichtig ist ihr ein dezidiert modernes städtebauliches Konzept, das sich an Ringen, Zwischenzonen und Bändern orientiert. Vorgesehen ist die Begrenzung des Altstadtkerns durch einen inneren Ring, in dessen Mitte die historische Struktur mit den Basaren partiell rekonstruiert wird. Es folgt eine zwischen Altstadt und Stadterweiterungen angelegte Zwischenzone mit überdurchschnittlichem Entwicklungspotenzial. Hier, entlang des Kabul-Flusses, möchte Breshna unterschiedliche städtebauliche und architektonische Strukturen und Typologien überlagern und markante Hochhäuser errichten. Westliche urbanistische Konzepte sollen vornehmlich in den äusseren Bereichen berücksichtigt werden: in einem die Altstadt umschliessenden Band, das durch Flüsse, Kanäle und Seen bestimmt wird, und einem Grüngürtel, der wichtige kulturelle Orte verbindet. Breshna hofft, dass Kabul die positiven Eigenschaften von einst wiedererlangen wird, als in ihr Paschtunen, Tadschiken, Hindus, Sikhs, Juden, Usbeken und Turkmenen zusammenlebten und sie unter Zahir Schah von aufgeklärtem und säkularem Denken geprägt war. Daran gelte es anzuknüpfen. Um - nach der Verteufelung der «sündigen» Stadt durch die Taliban - eine lebendige städtische Gesellschaft zu fördern.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2004.10.27

01. Oktober 2004Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Offensive in Düsseldorf

Einst galt Düsseldorf als Stadt der Banken und der Mode. In den achtziger Jahren rückte dann zusehends die moderne und zeitgenössische Kunst in den Vordergrund; Museen und Galerien gewannen an Bedeutung. Doch inzwischen scheint die Architektur eine führende Rolle in der Selbstwahrnehmung der Stadt übernommen zu haben.

Einst galt Düsseldorf als Stadt der Banken und der Mode. In den achtziger Jahren rückte dann zusehends die moderne und zeitgenössische Kunst in den Vordergrund; Museen und Galerien gewannen an Bedeutung. Doch inzwischen scheint die Architektur eine führende Rolle in der Selbstwahrnehmung der Stadt übernommen zu haben.

Die Rivalität zwischen den beiden Rheinmetropolen Köln und Düsseldorf ist Legende. Lange stritt man sich um die Vorherrschaft auf dem Kunstsektor. Jede Stadt wollte die meisten Galerien und die wichtigsten Museen haben. Nun, nach Jahren des Streits, scheint es so, als habe man sich einen anderen Schauplatz ausgesucht. Als die Kölner mit dem «Mediapark» in die architektonische Offensive gingen, Stars wie Jean Nouvel und Herman Hertzberger präsentierten, zogen die Düsseldorfer sogleich nach: Der alte Rheinhafen wurde zur «Medienmeile» umgerüstet, und internationale Vorzeigearchitekten polierten das Image der Landeshauptstadt auf. Wenig später folgte die Antwort: Der Kölner Stadtrat entschied sich im vergangenen Jahr, gegen heftigen Widerstand in der Bevölkerung und die Ermahnungen der um das Weltkulturerbe des Doms besorgten Unesco, auf der Deutzer Rheinseite eine Hochhauslandschaft aufzustellen.

Stadtkrone

Die Antwort aus Düsseldorf liess nicht lange auf sich warten: 15 Hochhäuser seien derzeit in der Planung, brüstete sich Oberbürgermeister Joachim Erwin von der CDU und fügte selbstbewusst hinzu, Düsseldorf sei jetzt schon «die prosperierendste Region Deutschlands». Nun gelte es, die Landeshauptstadt «fit fürs 21. Jahrhundert zu machen». Seinem Ziel, einmal als grösster Erneuerer in die Annalen der Stadtgeschichte einzugehen, ist er beträchtlich nähergekommen, seit er sich selbst zum Planungsdezernenten kürte. Weil der Oberbürgermeister die unzähligen Liebhaber der historischen Stadt nicht verärgern will, bevorzugt er in der Öffentlichkeit eher moderate Töne. Wer im Gespräch mit ihm ein offenes Bekenntnis zum modernen Stadtumbau erwartet, sieht sich aber schnell enttäuscht: Joachim Erwin spricht ganz diplomatisch von «Stadtergänzung» und «Stadtreparatur». Aber so moderat geht es selbst in der Innenstadt dann doch nicht zu. Vor allem das historische Zentrum zwischen der neuen Kunstsammlung im renovierten Ständehaus und dem klassizistischen Hofgarten erlebt derzeit eine Bauwut, wie sie Düsseldorf seit den Wiederaufbau-Jahren unter dem legendären Friedrich Tamms nicht mehr erlebte.

Wer heute in die Innenstadt fährt, den umgibt ein Hauch von Zeitenwende. Das Düsseldorfer Team JSK (Joos Slapa Krüger-Heyden) baut hier, mitten auf dem Graf-Adolf-Platz, eine imposante Stadtkrone. Der 90 Meter hohe Büroturm mit vorgehängter Glasfassade wird über einem Grundriss errichtet, der zwei ineinander greifende Ellipsen nachzeichnet. Im Übrigen verwirrt das gesamte Projekt durch seine geradezu postmoderne Anmutung: Das Büro JSK, das sich in einem Gutachterverfahren gegen Dominique Perrault, Helmut Jahn und Hans Kollhoff durchgesetzt hatte, möchte nämlich die denkmalgeschützte Fassade des abgerissenen Postamts in das Bauprojekt integrieren und die nicht mehr vorhandenen Fassadenteile entsprechend dem historischen Vorbild rekonstruieren. Diese Kulissenarchitektur wollen sie mit ihrem hoch aufragenden Turmgebäude zu einem alt-neuen Ensemble vereinen, indem sie beide Baukörper durch ein gläsernes Dach verbinden, unter dem sich ein Atrium öffnet.

Zu den Düsseldorfer Grossprojekten von JSK gehört auch die Errichtung einer Multifunktionsarena, die eigentlich als Austragungsort für die Olympischen Spiele vorgesehen war. Doch führten der Abstieg des Fussballvereins Fortuna Düsseldorf und mangelndes öffentliches Interesse mitten im Kommunalwahlkampf schliesslich gar zur Absetzung der geplanten inoffiziellen Eröffnungsfeier. So verflogen Erwins Tagträume, aber zum Aufpolieren des städtischen Ruhms, so dachte er sich, blieb immerhin noch der Medienhafen, der durch die «einstürzenden Neubauten» des Kaliforniers Frank O. Gehry auf die Titelseiten internationaler Gazetten gelangte. Nachdem im neuen Düsseldorfer Luxusviertel bereits Grössen wie David Chipperfield, Steven Holl, Jo Coenen und Christoph Ingenhoven ihre Landmarken errichtet hatten, entwarf JSK für die benachbarte Halbinsel einen krönenden Abschluss. Die Hafeninsel, auf der sich bereits der Japaner Fumihiko Maki mit einem zurückhaltenden, aber exzellenten Bürokubus und der englische Poparchitekt William Alsop mit der schrillen Hochhausscheibe «Colorium» ein Stelldichein geben, soll durch zwei L-förmig auskragende Kunst-Hotels bereichert werden. Allerdings haben sich bisher weder Investoren noch Hotelbetreiber für das ambitiöse Projekt erwärmen können. Derweil sehen viele Düsseldorfer mit Missbehagen den künftigen Bauarbeiten entgegen. Denn in den heissen Sommermonaten verlustieren sich hier viele Einheimische auf dem Sand von «Monkey Island» mit kühlem Bier und Falafel.

Eldorado für Investoren

Aber die Planer lassen sich von derlei Sehnsüchten nicht aufhalten und bauen die alten Speichergebäude und Mälzereien in renditeträchtige Büroadressen um. Auch an der Einfahrt zur Halbinsel wird demnächst ein strahlender Hochhausturm emporwachsen. Nachdem die Kölner dem Deutschamerikaner Helmut Jahn einen lukrativen Auftrag für ein Hochhausprojekt in Deutz erteilt hatten, durften die Düsseldorfer nicht zurückstehen. So wird demnächst auch am Medienhafen, direkt neben der stahlverkleideten Maki- Box, die übliche High-Tech-Architektur amerikanischer Provenienz entstehen, deren Einfallslosigkeit sich mit so manchem innerstädtischen Kommerztempel messen kann. Joachim Erwin fällt dazu nur ein: «Ein Jahn steht uns doch gut an.»

Den Kuchen der lukrativen Grossaufträge in der Altstadt haben die Düsseldorfer Grossbüros JSK, Hentrich Petschnigg und Partner (HPP) sowie Rhode Kellermann Wawrowsky (RKW) weitgehend unter sich aufgeteilt. Sie profitieren davon, dass einige historische Gebäude, wie etwa Emil Fahrenkamps Hotel «Breidenbacher Hof», der Abrissbirne zum Opfer gefallen sind. An ihrer Stelle sollen renditeträchtige Bürobauten (besonders klangvoll: «Broadway Office») und Luxushotels errichtet werden. Zurückhaltender zeigt man sich bei einem wichtigen Kulturprojekt: Dort, wo der städtische «Bürgersaal» und die neuen Ausstellungsflächen der Kunstsammlung NRW geplant sind, klafft seit vielen Jahren eine hässliche Baulücke, die naturgemäss als Stellplatz benutzt wird. Obwohl der hiesige Kulturdezernent und Stadtdirektor erst kürzlich vom NRW- Ministerpräsidenten eine «kulturpolitische Vision» für das Land gefordert hat, ist davon in Düsseldorf nichts zu spüren. Im Gegenteil. Die Bau- und Kulturpolitik zieht sich zusehends aus ihren öffentlichen Aufgaben zurück und überlässt das Spielfeld privaten Investorengruppen. Das vielleicht beste Beispiel derzeit ist Karl Friedrich Schinkels «Altes Stadthaus», das einzige Bauwerk des grossen preussischen Baukünstlers in der Landeshauptstadt. Es soll privaten Investoren angeboten werden, während die dahinter liegenden Gebäude zum Abriss freigegeben werden.

Grossprojekte

In Düsseldorf spricht man derweil lieber über Grossprojekte, die den Symbolwert der Stadt steigern. Zunächst war es der Medienhafen, nun sind es Airport City und das neue Regierungsviertel am Rhein. Dieses Stadttor, das den Abschluss der allseits gelobten Rheinufer-Untertunnelung markiert, wurde vor einigen Jahren vom Düsseldorfer Büro Petzinka, Pink & Partner als Topadresse für Büros und die neue Staatskanzlei gebaut. Das gläserne Trapezoid, für welches Bernhard Pfaus Studienhaus geopfert wurde, und der Hochhausturm von JSK betonen die Sichtachse des zukünftigen Viertels, in dem nach Meinung etlicher Planer und Investoren nur noch das alte Polizeipräsidium stört. Der in den frühen dreissiger Jahren, im Zeichen der erschlaffenden Moderne, errichtete Monumentalbau steht derzeit zur Disposition. Es ist zwar noch nicht entschieden, ob der auf kammförmigem Grundriss errichtete Ziegelbau tatsächlich abgerissen wird, aber dem sich in Düsseldorf etablierenden «Urban Managerialism» ist das Gebäude offensichtlich ein Hindernis für ein im High-Tech-Glanz erstrahlendes Regierungsviertel.

Derweil setzt sich die marktorientierte Stadtentwicklung nahezu ungehindert in der neuen Airport City durch. Nach dem Flughafenbrand vor sechs Jahren schrieb die zuständige Entwicklungsgesellschaft einen Wettbewerb aus, der die architektonische Umwandlung eines 23 Hektaren grossen Kasernengeländes vorsieht. Mit zusätzlichen Flächen sind insgesamt über 20 Hektaren für Gewerbebauten und hochwertige Büronutzungen vorgesehen. Die Airport City soll einmal als luxuriöser Büropark samt Kongresshotel und Entertainment-Center erstrahlen. Von planenden Eingriffen der Stadt ist hier nichts zu sehen, selbst die Entwicklungsgesellschaft hält sich zurück und überlässt das Terrain den Investoren und Architekten. Natürlich hält diese Entwicklung den Oberbürgermeister nicht davon zurück, allseits Optimismus zu verbreiten und die «neue Visitenkarte am Flughafen» zu rühmen. Doch momentan sieht es so aus, als würde man mit viel Gottvertrauen auf ein hehres Ziel zusteuern, von dem sich die Stadt grossen wirtschaftlichen Reichtum verspricht. Im Klartext: Düsseldorf will sich weltweit als Global City positionieren. Unbeirrt geht die Planung der Airport City voran, und man lässt sich keineswegs durch den fast kompletten Leerstand von Alsops «Colorium»-Tower und anderer hochwertiger Bürobauten abschrecken.

Für die Düsseldorfer liegt die Airport City allerdings in weiter Ferne. Lieber diskutiert man Christoph Ingenhovens Entwurf für den «Kö- Bogen». Die meisten Interessengruppen loben die Vorzüge des Projekts, das darauf abzielt, im neuralgischen Innenstadtbereich zwischen Königsallee, Hofgarten und Jan-Wellem-Platz eine störende Verkehrssituation zu beseitigen, den Übergang zwischen historischer Bebauung und Park zu erleichtern und den alten Stadtgrundriss wiederherzustellen - kurz, die stadträumliche Qualität durch mehr Übersichtlichkeit zu verbessern. Doch in der öffentlichen Debatte ging es kaum um die Vor- und Nachteile des Entwurfs. Im Mittelpunkt stand vielmehr ein dubioses Planungsverfahren, das jahrelang unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagte. Es entfachte sich sogar eine hitzige Debatte, in deren Verlauf Architektenkammer und Bund Deutscher Architekten (BDA) das einseitige Vorgehen von Ingenhoven und Stadt kritisierten. Als man dann hörte, immerhin habe es eine Präsentation des Entwurfs auf der Immobilienmesse in Cannes gegeben, war dies nicht gerade zur Besänftigung der aufgebrachten Gemüter geeignet. Mittlerweile ist Ingenhovens Plan zwar publik, aber die Architektenkammer beharrt verständlicherweise auf einem öffentlichen Wettbewerb.

Gleichwohl vertraut der Oberbürgermeister auf seinen «Düsseldorfer Weg», dessen erschreckende Wirtschaftsgläubigkeit in dem Motto «Investor, suche deinen Architekten» gipfelt. «Bringe einen Weltklasse-Architekten mit, und du bekommst das Grundstück veräussert», verkündete er den Investoren, als ob nur Stars und potente Geldgeber das Stadtbild prägen dürften. Nachdem Frank O. Gehry das geeignete Signet für den Medienhafen geliefert hatte, würde Joachim Erwin das umstrittene «Filetstück» in der Innenstadt am liebsten direkt an Christoph Ingenhoven und die mitgebrachte Investorengruppe übergeben. Noch sträubt sich Hartmut Miksch, Präsident der Architektenkammer NRW: «Es darf nicht sein, dass Investoren die Stadtplanung bestimmen. Denn sie ist das hoheitliche Recht der Stadt, der Politik, die hier den Rahmen setzen muss.» Doch es ist kaum zu erwarten, dass man sich in Düsseldorf von diesen Argumenten beeindrucken lassen wird. Eher sieht es so aus, als wäre die Landeshauptstadt auf dem besten Weg, nur noch als Wirtschaftsstandort für Investorengruppen interessant zu sein.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.10.01

24. Mai 2004Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

«Wir gestalten die Niederlande neu»

Die Niederlande haben sich in den letzten Jahren zu einer architektonisch führenden Nation entwickelt. Dies hat sich keineswegs zufällig ergeben. Eine staatlich koordinierte Baupolitik hat viel zu einer besseren Ausbildung, einem starken öffentlichen Interesse an Architektur und einer Planung von Projekten beigetragen, die im nationalen Interesse sind. Holländische Architekten sind absolute Frühstarter: Sie stehen bereits mitten im Berufsleben, wenn etwa ihre Schweizer Kollegen noch fürs Studium büffeln müssen.

Die Niederlande haben sich in den letzten Jahren zu einer architektonisch führenden Nation entwickelt. Dies hat sich keineswegs zufällig ergeben. Eine staatlich koordinierte Baupolitik hat viel zu einer besseren Ausbildung, einem starken öffentlichen Interesse an Architektur und einer Planung von Projekten beigetragen, die im nationalen Interesse sind. Holländische Architekten sind absolute Frühstarter: Sie stehen bereits mitten im Berufsleben, wenn etwa ihre Schweizer Kollegen noch fürs Studium büffeln müssen.

Vorzüge der Architekturpolitik

Von der pessimistischen Grundstimmung gegenüber Städteplanung und Architektur in unseren Gegenden sind die Niederländer, ein Volk von technokratischen Machern, weit entfernt. Spricht man beispielsweise den Maastrichter Architekten und niederländischen Reichsbaumeister Jo Coenen auf dieses Problem an, verweist er darauf, dass ein grundlegender Reformwille in seinem Heimatland vieles zum Besseren gewandelt hat. «Wir sind dabei, die Niederlande neu zu gestalten», bekennt er selbstbewusst und zeigt die Programmschrift «Die Niederlande gestalten». Es handelt sich um eine sogenannte Nota, in der ausgeführt wird, welchen Richtlinien die staatliche Baupolitik, unabhängig von den jeweiligen Legislaturperioden, in den nächsten Jahren folgen soll.

Coenen, der viele Jahre lang «Gebäudelehre und Entwerfen» an der Technischen Universität Karlsruhe unterrichtet hat, kennt die klaren Vorzüge der niederländischen Architekturpolitik. So versucht er derzeit, die zehn «Grossen Projekte» voranzubringen. Sie reichen von der Erweiterung des Amsterdamer Rijksmuseum bis hin zur «Delta Metropolis», die die Umwandlung des fragmentierten Lebensraums Randstad in ein kohärentes städtisches System bei gleichzeitiger Verbesserung der Verkehrswege vorsieht. Die Effizienz der holländischen Baupolitik liegt aber nicht einfach in der zentralen Koordinierung durch den Reichsbaumeister, sie resultiert aus der Vernetzung verschiedener Initiativen, seien es lokale, regionale oder staatliche Architekturzentren, deren Zusammenspiel die öffentliche Diskussionskultur wesentlich befruchtet. So konnte die Nota «Belvedere», die darauf abzielte, die Wucherung der Städte einzudämmen und den Wert der Landschaft neu zu bestimmen, einen ähnlichen Erfolg erzielen wie die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscherpark, die innerhalb von zehn Jahren das industrielle Ruhrgebiet in einen völlig neuen Kulturraum transformierte.

Piere als Paradiese

Von dieser architektonischen Kultur profitieren selbstverständlich viele in Holland arbeitende Architekten. Beispielsweise der Rotterdamer Adriaan Geuze: Nachdem der Stadtrat in den achtziger Jahren beschlossen hatte, die seit 1979 aufgegebenen Docklands östlich des Hauptbahnhofs zu bebauen, überlegte er, wie das «Oostelijke Havengebied» am Ij revitalisiert und die Stadt näher ans Wasser herangerückt werden kann. Mit Stadtplanern und Investoren setzte Geuze auf die Wiederbelebung der «hollandse waterstad». Auch Jo Coenen war anfangs mit von der Partie. Die beiden erstellten einen Masterplan für die Bebauung einiger Piere, die nicht mehr von Frachtschiffen angelaufen werden.

Coenen war für das erste Projekt, den Wohnungsbau auf der KNSM-Halbinsel, verantwortlich, auf der heute Hans Kollhoffs monumentaler «Piräus-Block» und Wiel Arets' schwarzer Wohnturm wie Landmarken prangen. Geuze widmete sich den Halbinseln Borneo und Sporenburg, wobei er sich an städtischen Konzepten orientierte, die man längst vergessen glaubte: «Im 17. Jahrhundert hatte es in Amsterdam eine hervorragende Stadtplanung hinsichtlich der Strassenführung und der Wasserlinien gegeben. Doch in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte man jegliche Vorstellung davon verloren, wie eine Stadt gebaut wird. Erst in letzter Zeit kam es zu einer Rückbesinnung auf die alten urbanistischen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts. Man versucht nun, das eigene städtische Erbe zu begreifen und wiederzubeleben.»

Adriaan Geuze bewundert Sjoerd Soeters' Bebauung der benachbarten Java-Halbinsel, weil es dort gelungen ist, an die Tradition der Amsterdamer Grachten anzuknüpfen. Aber er weiss, dass dies nicht mit nostalgischer Wehmut, sondern mit einer zeitgenössischen Interpretation der Architektur einhergehen muss. Soeters setzte auf Blockrandbebauung am Ufer und enge Grundstücke an den neuen Grachten, aber jeweils mit einem demonstrativen Individualismus.

Verdichtetes und differenziertes Bauen

Borneo und Sporenburg sind derweil zu einem Paradebeispiel für verdichtetes und differenziertes Bauen geworden. Von langweiligen Reihenhaus- Silhouetten will Adriaan Geuze nichts wissen: «Mich interessiert, dieselben strengen Regeln beizubehalten und doch individuelle Architektur zuzulassen.» Drei Superblöcke, die wie Gletschermassive das ruhige Meer der Wohnhäuser überragen, werden bald die Attraktion der beiden Halbinseln ausmachen. Von den zwei bisher fertiggestellten ist Frits van Dongens «Walfisch», der wie ein gestrandeter Moby Dick aussieht, zweifellos der spektakulärste. Die massiven Blöcke stehen im Kontrast zur niedrigen Gebäudehöhe, die man entlang der Strassen antrifft. Dabei konnte Geuze jegliche Eintönigkeit vermeiden, weil er jedem Architekten gestattete, mit verschiedenen Wohnungstypen zu experimentieren.

Das berühmteste Beispiel ist die Scheepstimmermanstraat auf Borneo, die mittlerweile für viele Architekturbegeisterte zu einem Mekka experimentellen Bauens geworden ist. Hier durften die Architekten ihren ganz eigenen Stil verwirklichen. So errichtete Koen van Velsen für einen holländischen Bergsteiger ein Wohnhaus, dessen gläserne Fronten um einen freistehenden Baum herum angeordnet sind. Anders ging das Rotterdamer Büro MVRDV (Maas, van Rijs, de Vries) vor. Die mittlerweile international bekannten Architekten bieten intelligente Raumaufteilung anstelle kapriziöser Bau-Kunststücke. Ihnen gelang es, extrem engen Grundstücken von 2,5 Metern Breite «das denkbar schmalste Haus» (MVRDV) abzuringen, in dem dennoch räumliche Vielfalt und, dank verglasten Seitenfronten, verblüffende Transparenz geboten werden.

Triumph der Newcomer

Überhaupt sind die Newcomer aus Rotterdam die eigentliche Überraschung in der holländischen Architekturszene. Erst 1999, als sich niemand einen Reim auf das merkwürdige Kürzel MVRDV machen konnte, verblüfften sie alle mit der Sendeanstalt VPRO in Hilversum. Und ein Jahr später debütierten sie auf internationalem Parkett mit ihrem kurios-phantastischen Sandwich-Pavillon für die Expo in Hannover. Auf einmal waren die drei jungen Rotterdamer in aller Munde. Trotz zahlreichen Aufträgen aus dem Ausland ist es ihnen wichtig, weiterhin in den Niederlanden zu bauen, und sogar auf den Amsterdamer Pieren sind sie mit lukrativen, aber höchst unterschiedlichen Projekten vertreten.

Auf der Oostelijke Handelskade renovieren sie erstmals einen denkmalgeschützten Altbau. Das Gebäude, das vor 60 Jahren der Gestapo noch als Internierungslager für Waisenkinder diente, überführt das Rotterdamer Trio derzeit in ein Luxushotel. Ein weiteres Projekt auf dem Silodam ist vor zwei Jahren fertiggestellt worden. Neben zwei ehemaligen Getreidesilos, einer säkularen Backsteinkathedrale und einem Speichergebäude im kargen «Béton brut»-Stil der fünfziger Jahre setzten sie ihr «Containerschiff» ans Kopfende des Silodams. Eine niederländische Tageszeitung titelte damals: «Ein hipper Ozeandampfer, klar zum Auslaufen». Und tatsächlich, der «Dampfer» mit seinen gestapelten Wohncontainern ragt mit seinen wuchtigen Stelzen aus dem Hafenbecken heraus. Weil MVRDV für jeden einzelnen «Container» individuelle Wohnungstypen entwickelte, deren Fassaden durch unterschiedliche Farben hervorgehoben sind, wirkt die knallbunte Schachtel aus dem Experimentallabor des Rotterdamer Avantgarde-Büros wie eine Farbattacke auf die Nüchternheit der sie umgebenden Hafenlandschaft.

Rotterdam gegen Amsterdam

Frits van Dongen, der sein Büro im Amsterdamer Jordaan-Viertel hat, profitierte in den letzten Jahren von der Umnutzung des Amsterdamer und des Rotterdamer Hafens. Beispielsweise errichtete er in Rotterdams «Kop van Zuid», dort, wo internationale Stars wie Renzo Piano und Norman Foster ihre modernen Landmarken an der Maas hochzogen, den Wohnblock «De Landtong» und machte die zuvor verpönte Blockbebauung wieder populär. Auf die lange Rivalität zwischen Amsterdam und Rotterdam angesprochen, meint van Dongen: «In Amsterdam bewegt sich momentan ungeheuer viel, obwohl bis vor einigen Jahren Rotterdam die Speerspitze der modernen Architektur war. Lange Zeit hat man sich hier in Amsterdam von der Vorstellung leiten lassen, die Stadt so gut wie möglich zu konservieren, da Kohärenz, Schönheit und Gemütlichkeit über alles gestellt wurden.

Anders in Rotterdam, wo man nach dem Krieg bestrebt war, eine gänzlich neue Stadt aufzubauen. Man wollte eine Stadt, die sich von der traditionellen holländischen Bauästhetik unterscheidet und gegenüber Experimenten aufgeschlossen ist.» Frits van Dongen gibt aber zu bedenken, dass Rotterdam in den letzten Jahren mächtig aufgeholt hat. Immerhin gebe es hier Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture, die legendäre Talentschmiede für junge Architekten, aus der etliche internationale Stars hervorgegangen sind. Und man solle nicht vergessen, dass Koolhaas auf der Wilhelminapier, direkt hinter Ben van Berkels grandioser Erasmusbrükke, den spektakulären MAB-Tower, ein hybrides Gebilde aus geschichteten Volumina, bauen wird.

Aber van Dongen erinnert sogleich daran, dass Amsterdam mittlerweile ganz neue Massstäbe gesetzt hat: «Neben den neuen Zentren in der Hafengegend sind wir damit beschäftigt, auf dem künstlichen Archipel Ijburg eine neue Stadt entstehen zu lassen. Das Ijburg-Projekt ist typisch holländisch. Es wird 50 000 bis 60 000 Menschen neuen Wohnraum verschaffen.»

Rem Koolhaas und seine Talentschmiede

Vor allem Rem Koolhaas, der in London wohnt, in Rotterdam arbeitet und sich in den Flughäfen der Welt zu Hause fühlt, hat die städtebauliche Entwicklung in den Niederlanden massgeblich geprägt. Für den Utrechter Universitätscampus «de Uithof» entwickelte er Anfang der neunziger Jahre einen Masterplan, der einen avantgardistischen Gegenpol zur Altstadt mit ihrer Grachtenseligkeit markiert. Die Delfter Architektengruppe Mecanoo baute hier die «Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Management», eine Hochschule als kleine in sich gekehrte Stadt mit drei künstlerisch gestalteten Patios. Und Koolhaas selbst errichtete die Pädagogik-Fakultät «Educatorium», deren ansteigender Hörsaal-Trakt wie eine Biskuitrolle über dem Mensabereich hinausragt.

Der Name Rem Koolhaas ist seit den letzten Jahren auch mit der holländischen Provinz verbunden. In den Poldern von Flevoland, 30 Kilometer von Amsterdam entfernt, modelt er das kleinstädtische Almere in ein Klein-Manhattan für 400 000 Menschen um. Internationale Architekten lud er ein, um dem Ort gemeinsam die kleinstädtische Gemütlichkeit auszutreiben. Das japanische Team Sanaa baut inmitten des Weerwater ein «Stadtheater», während das Amsterdamer Büro Claus en Kaan die neue Skyline von Almere durch einen skulpturalen Turmbau begrenzt. Neben dem Urban Entertainment Center, das William Alsop, der Popkünstler unter den Architekten, errichtet hat, lässt Koolhaas momentan sein Grosskino «Megabioscoop» aufrichten.

Almere als Wallfahrtsort

Schon jetzt ist absehbar, dass Almere in den nächsten Jahren zum Wallfahrtsort für Architekturfreaks wird. Floris Alkemade, Projektleiter beim Office for Metropolitan Architecture, spricht bereits von «Dutchtown», dem architektonischen Neuland in den Poldern: «Das Fehlen historischer Architektur bot uns die Chance, Almere neu zu erfinden. Wir wollen nicht, dass alles schön und gut sein muss. Lieber möchten wir dem Bestehenden eine neue Dynamik und einen neuen Massstab hinzufügen.» Mit diesem Grundsatz haben die holländischen Architekten in den letzten Jahren international Furore gemacht.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2004.05.24



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02. April 2004Klaus Englert
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02. April 2004Klaus Englert
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Transformation einer Retortenstadt

Die in den Poldern von Flevoland gelegene Retortenstadt Almere entwickelt sich seit einigen Jahren zu einem faszinierenden Gemeinwesen mit einem neuartigen Zentrum. International bekannte Architekten wurden eingeladen, um unter der Leitung von Rem Koolhaas am baulichen Gelingen der «Dutchtown» Almere mitzuwirken.

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30. März 2004Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Verspielte Formen

Zum 70. Geburtstag des Wiener Architekten Hans Hollein

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09. Januar 2004Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

„Die Niederlande neu gestalten“

Jo Coenen als niederländischer Reichsbaumeister

Jo Coenen als niederländischer Reichsbaumeister

Der aus Maastricht stammende Jo Coenen steht einer Institution vor, die in der Welt ihresgleichen sucht. Er ist nämlich Reichsbaumeister der Niederlande und damit mitverantwortlich für die staatliche Architekturpolitik. Die einzigartige Stellung der niederländischen Architektur im internationalen Kontext ist also keineswegs zufällig.

Die Maastrichter müssen ein glückliches Völkchen sein. Die Stadt hat sich eine beschauliche Atmosphäre erhalten, von der sie besonders an Sommertagen zehrt. Schnell füllen sich dann die Strassencafés des Vrigthof-Platzes, und während man sich im Schatten der Sant Servaas Kerk verwöhnen lässt, kommt das Gefühl auf, in längst vergangene Zeiten versetzt zu sein. Kaum zu glauben, dass nur einen Steinwurf entfernt einer der eigenwilligsten Architekten der Niederlande in einem herrschaftlichen Altbau sein Atelier eingerichtet hat. Jo Coenen ist vieles in einer Person: Hochschullehrer, Architekt, Stadtplaner - und Reichsbaumeister. Als solcher ist er mit den höchsten planerischen Aufgaben betreut und berät die Regierung in ihren Entscheidungen.

Bevor Coenen vor zwei Jahren in die oberste Bauinstanz des Landes gewählt wurde, hatte er sich als Architekt einen Namen gemacht. So baute er 1993 in Rotterdam den Neubau des renommierten Niederländischen Architektur-Instituts (NAI), in welchem die einzelnen Gebäudeteile auf Kollisionskurs zu gehen scheinen. Impulsgebend sind auch spätere Projekte: Im Düsseldorfer Medienhafen vollendete er kürzlich einen 16-geschossigen Büroturm mit Fassaden aus Muschelkalk und Glas, der wie ein Ausrufezeichen am südlichen Ende des Hafenbeckens steht. Und auf dem Amsterdamer Oosterdok-Eiland errichtet er zurzeit eine «Stadtbibliothek». Aber Coenen besteht darauf, dass er sich neben seiner Tätigkeit als Architekt immer auch als Stadtplaner verstanden hat.


Funktionsmischung

So erstellte er für das unweit der Maastrichter Altstadt gelegene Industriegelände von «Sphinx Céramique» einen Masterplan mit einer Funktionsmischung aus Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur, für den er international anerkannte Kollegen an die Maas holen konnte. Vertreten ist sein Tessiner Lehrer Luigi Snozzi, der entlang des Ufers Apartmentblocks wie Waben aneinander reihte. Mario Botta bewies mit «La Fortezza» ein weiteres Mal seinen Hang zu festungsartigen Backsteinarchitekturen, Wiel Arets verlieh dem «Indigo Office Building» eine markante Fassade mit Fensterbändern, und Alvaro Siza baute neben sein Turmgebäude eine sichelförmige Anlage für Wohnungen und Büros. Vor ihnen hatte schon Aldo Rossi mit dem Bonnefanten-Museum ein Wahrzeichen errichtet. Schliesslich hat auch Coenen auf dem Areal gebaut. Am eindrucksvollsten gelang ihm dabei die Renovierung eines Theaterhauses und der Anbau eines Cafés, von dessen Terrasse der Blick bis zur Maas schweift.

Im Gespräch erzählt Coenen von seinem ersten Grossprojekt, dem Masterplan für die KNSM- Halbinsel am Amsterdamer Hafen, mit dem er den öffentlichen Raum der Stadt reaktivieren wollte. «Anders als in unseren Nachbarländern gibt es in den Niederlanden Politiker und Bürger, die noch immer Wert auf öffentliche Plätze legen.» Wenn man heute durch die fast menschenleeren Strassen der einstigen Hafenmole geht, versteht man schnell, dass auf KNSM und den benachbarten Halbinseln Java, Borneo und Sporenburg allzu sehr auf verdichtetes Wohnen gesetzt wurde - zulasten einer lebendigen Funktionsmischung. Es dauerte einige Jahre, bis sich die Hafenfront belebte durch die Cafés, Restaurants und Geschäfte in Kollhoffs «Piräus»-Gebäude und im «Hofhaus» von Diener & Diener. Nun aber, in seiner neuen Funktion als Reichsbaumeister der Niederlande, möchte Coenen alles besser machen. Nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren verliess er die beengten Räume des Ministeriums und zog mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern in ein grösseres Gebäude in Den Haag um. «Mir ist die räumliche Distanz zur Regierung wichtig, denn es ist ja meine Aufgabe, das Kabinett bei Bauaufgaben kritisch zu beraten.» Kurz darauf kam der Paukenschlag: Der neue Reichsbaumeister Coenen veröffentlichte eine Programmschrift mit dem Titel «Die Niederlande gestalten». Diese «Nota» stellte klar, welchen Richtlinien die staatliche Baupolitik in den nächsten Jahren folgen soll.

Der erste Satz beruhigte zwar noch die Gemüter durch den Hinweis auf das internationale Ansehen der niederländischen Architektur, doch dann heisst es: «Der Schwund öffentlicher Räume ist besorgniserregend, Wohnsiedlungen wuchern über die Grenzen von Städten und Dörfern.» Gleichzeitig sei die Qualität der öffentlichen Räume in den Städten so erschreckend, dass «die Niederländer sich wie zusammengepfercht» fühlen. Die erste, vor zwölf Jahren verabschiedete Nota zu «Raum für Architektur» setzte die Bedingungen für bauliche Qualität fest, während die folgende Nota von 1996 («Architektur des Raums») Richtlinien für die städtische Entwicklung und den Landverbrauch vorgab. Coenen erklärt, dass die neue Nota die früheren weiterführe, sich aber auch deutlich von ihnen unterscheide: «Wir müssen uns mit der gesamten gestalterischen Skala beschäftigen - von der Anfertigung eines Stuhls bis zum Städtebau, von der Stadt- bis zur Regionalplanung.»


Langfristige Konzepte

In seiner Nota «Die Niederlande entwerfen» möchte Coenen verschiedenste Fachkräfte zusammenbinden, um die gegenwärtige «Krise der Architektur» zu überwinden. Man versteht, dass Coenen die Herrschaft von Spezialisten entschieden ablehnt: «Wenn ästhetische Fragen im Vordergrund stehen, dann wird die Architektur zusehends eingeschränkt, und der Beruf verliert seinen Sinn.» Am liebsten möchte Coenen die Entscheidungen aus den Händen der Baukoordinatoren und Manager nehmen und sie wieder denen übergeben, die weniger durch das Schielen nach hoher Rendite als durch entwerferisches Denken geleitet werden. Um seinem Anspruch Nachdruck zu verleihen, machte Coenen zehn «Grosse Projekte» zum Kern seiner Architekturnota. So verschieden diese Projekte anmuten, wollen sie doch «eine ästhetisch anspruchsvolle Mischung aus Architektur, Infrastruktur und Landschaft» erreichen. «Delta Metropolis», das wohl anspruchsvollste Projekt, verfolgt die Umwandlung des fragmentierten Lebensraums Randstad in ein kohärentes urbanes System bei gleichzeitiger Verbesserung der Verkehrswege. Andere Projekte sehen die Erweiterung des Amsterdamer Rijksmuseum durch die Sevillaner Cruz und Ortiz oder den Schutz öffentlicher Stadträume vor rücksichtslos agierenden Developern vor.

«Wir sind dabei, die Niederlande neu zu gestalten», bekennt Coenen selbstbewusst. Er, der Professor für «Gebäudelehre und Entwerfen» an der TU Karlsruhe und später Gastprofessor in Aachen war, weiss sehr wohl, dass die niederländische Architekturpolitik klare Vorzüge besitzt. Versucht die Regierung doch möglichst viele langfristige Konzepte für die Zukunft des Landes voranzutreiben. Allein die Vielzahl von lokalen, regionalen und staatlichen Architekturzentren befruchtet die Diskussionskultur. Coenen erinnert beispielsweise an die Debatte anlässlich der Nota «Belvedere», die darauf zielte, die Wucherung der Städte einzudämmen und den Wert der Landschaft neu zu bestimmen. Die Anteilnahme an dieser Diskussion, so Coenen, sei vergleichbar gewesen mit der Breitenwirkung der IBA Emscherpark, die innerhalb von zehn Jahren das industriell geprägte Ruhrgebiet in einen vollkommen neuen Kulturraum transformiert habe. Für ihn machen die Diskussionen der Notas deutlich, dass Architektur jeden angehe. «Deswegen steht die Tür meines Ateliers jedem offen. Es ist doch eine wunderbare Einrichtung, wenn das Entwurfsatelier eine Verlängerung der Strasse ist. Jeder kann hereinkommen.»

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2004.01.09



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24. Oktober 2003Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Augenaufschlag am Hafen

Amsterdams Architekturzentrum Arcam konnte diese Woche seinen neuen, aufregend gestalteten Sitz im Hafengebiet der holländischen Metropole einweihen. Errichtet wurde das exzentrische Gebäude von René van Zuuk, einem jungen Vertreter der an erfolgversprechenden Talenten reichen niederländischen Architekturszene.

Amsterdams Architekturzentrum Arcam konnte diese Woche seinen neuen, aufregend gestalteten Sitz im Hafengebiet der holländischen Metropole einweihen. Errichtet wurde das exzentrische Gebäude von René van Zuuk, einem jungen Vertreter der an erfolgversprechenden Talenten reichen niederländischen Architekturszene.

«Es ist doch ein ziemlich konventionelles Gebäude, zudem hat es die üblichen drei Geschosse. Also mit einem ‹Blob›, einer computergenerierten tropfenförmigen Architektur, hat es nichts gemeinsam.» Man könnte fast meinen, Maarten Kloos, der Direktor des diese Woche an der Prins Hendrikkade in einem Neubau wiedereröffneten Amsterdamer Architekturzentrums Arcam, möchte die Besucher des Neubaus abwimmeln. Aber diese lassen sich ihre hoch gespannten Erwartungen nicht nehmen. Man kommt unter anderem hierher, um einen Neubau zu besichtigen, der selbst im avantgardistisch umgestalteten Amsterdamer Hafenquartier hervorsticht.

Kloos gibt aber zu, dass das Arcam (Architectuur Centrum Amsterdam) nicht irgendein Gebäude haben wollte. Immerhin stehe man als eine Stiftung, die sich für die Architektur Amsterdams einsetze, etwas im Rampenlicht. Zwar wäre man nicht abgeneigt gewesen, einen Star zu engagieren. Doch ebenso gerne wollte man einem jungen Architekten eine Chance geben, der das Programm des Arcam in eine prägnante architektonische Erscheinung umsetzen konnte. Die Mitarbeiter der Stiftung hatten sich schon auf ein wochenlanges Auswahlverfahren vorbereitet. Doch dann einigte man sich schnell auf René van Zuuk, einen jungen Baukünstler aus dem benachbarten Almere. Van Zuuk hatte bereits mit seinem dekonstruktivistischen Atelier einiges Aufsehen erregt und ebenso mit einem aus zwei L-förmigen Betonschalen bestehenden Ausstellungspavillon in Flevoland. Unlängst wurde er sogar vom Vordenker der niederländischen Architektur, Rem Koolhaas, eingeladen, zusammen mit internationalen Architekten in Almere die «holländische Stadt des 21. Jahrhunderts» mitzugestalten.

Das Arcam, das bisher in beengten Räumlichkeiten am Waterlooplein untergebracht war, hatte sich einen schwierigen, aber attraktiven Standort ausgesucht, auch wenn die bebaubare Fläche an der Prins Hendrikkade lediglich 211 Quadratmeter betrug. Dafür besitzt nun der Neubau einen freien Blick über das Hafenbecken des Oosterdok bis hin zum Schifffahrtsmuseum und zu Renzo Pianos Wissenschaftsmuseum «Nemo». Maarten Kloos ist überzeugt davon, dass man kaum einen besseren Standort in Amsterdam hätte finden können. Hier, am Rande des Zentrums, sei man weit genug weg vom Touristenrummel, aber mittendrin in einer aktiven, im architektonischen Umbruch begriffenen städtischen Szenerie. Kloos hofft, dass nun im Städtedreieck von Amsterdam, Rotterdam und Den Haag das Interesse für architektonische Belange weiter zunimmt, denn das Arcam werde versuchen, neben dem Niederländischen Architekturinstitut (NAI) in Rotterdam und dem Amt von Rijksbouwmeester Jo Coenen in Den Haag seinen Einfluss geltend zu machen.

Weiterhin bleibt es jedoch das vorrangige Ziel des Arcam, den Bürgern die Baupolitik Amsterdams zu vermitteln. Auch verstehe man sich als eine Kontrollinstanz für Baukultur und gebe deshalb im Zweijahresrhythmus eine Publikation zu gelungenen Gebäuden in der holländischen Hauptstadt heraus. Im eigenen Haus möchte man zudem die Information verbessern. Dem Besucher stehen zahlreiche Bücher, Zeitschriften und Broschüren zur Verfügung. Im Parterre geben Ausstellungen Einblick in die neuesten architektonischen Entwicklungen. Das Souterrain hingegen ist Zusammenkünften vorbehalten, während das Obergeschoss für die Mitarbeiter als heller, durch Glaswände unterteilter Bürotrakt gestaltet wurde. Der grösste Vorzug des Neubaus - davon ist Maarten Kloos überzeugt - liege darin, dass alle drei Ebenen durch Galerien und Lufträume miteinander verbunden und somit Teil des Ganzen sind.

Das Arcam stellte nicht nur hohe Anforderungen an die Bauqualität, sondern wollte auch ein Gebäude mit jeweils unterschiedlichen Fassaden: zur Strasse hin eher geschlossenen, zum Hafen hin hingegen offenen. Van Zuuk hat dieses Problem fast spielend gelöst. Nach einigen Versuchen am Modell gelang ihm eine bezwingende Form, die tatsächlich an die derzeit beliebte neo- organische «Blob»-Architektur denken lässt: Die verformte Haut aus Aluminium und Zink, welche Fassade und Dach ineinander übergehen lässt, schnitt er auf. Dieser Augenaufschlag am Hafen gewährt nun Einblick in das Parterre und in das Obergeschoss. Für den rückwärtigen, tiefer liegenden Gebäudeteil wählte van Zuuk eine durchlaufende Glasfassade mit zurückhaltender Profilierung. - Zum Schluss gibt van Zuuk eine Anekdote zum Besten: Eigentlich sei es ein Glücksfall gewesen, dass er genau an dieser Stelle das neue Arcam bauen konnte. «Denn hier stand zuvor der von Renzo Piano errichtete Eingangspavillon zum ‹Nemo›. Da man mit der Zeit keine Verwendung mehr für ihn hatte, wurde er abgerissen. Allein Betonstützen und Betondecke blieben stehen und sollten in den Arcam-Neubau integriert werden.» Der argwöhnisch gewordene Piano befürchtete eine Kopie des eigenen Pavillons, doch zu guter Letzt war er voll des Lobes für van Zuuks «Blob»-Entwurf.


[Arcam, Prins Hendrikkade 600 (www.arcam.nl). Eröffnungsausstellung «Open due to Redevelopment». Eintritt frei.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.10.24



verknüpfte Bauwerke
Architekturzentrum Amsterdam - Arcam

10. Mai 2003Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Das Leben in der automobilen Gesellschaft

Die erste Internationale Architekturbiennale in Rotterdam steht unter dem Motto «Mobilität». Das Niederländische Architekturinstitut wartet mit thematischen Ausstellungen über die «World Avenue» und die «Holland Avenue» auf, während im ehemaligen Speichergebäude «Las Palmas» internationale Verkehrsprojekte präsentiert werden.

Die erste Internationale Architekturbiennale in Rotterdam steht unter dem Motto «Mobilität». Das Niederländische Architekturinstitut wartet mit thematischen Ausstellungen über die «World Avenue» und die «Holland Avenue» auf, während im ehemaligen Speichergebäude «Las Palmas» internationale Verkehrsprojekte präsentiert werden.

Am Anfang der modernen Stadt- und Verkehrsplanung stand die Vision eines Schweizers: Als Le Corbusier 1929 durch das Flugzeugfenster die Silhouette Rio de Janeiros betrachtete, kam ihm eine Idee, die bis heute die architektonischen Debatten anstachelt: Eine «majestätische Autobahn» sollte das gesamte Territorium auf etwa hundert Metern Höhe durchqueren und die Stadt mit dem Hinterland verbinden. «Damit man mich recht verstehe», notierte Le Corbusier, «die Autobahn erhebt sich überhalb der bezaubernden Bucht und steigt über die Stadt bis hinauf zu den Dächern der Wolkenkratzer. Nicht durch die Brückenbögen gewinnt sie an Höhe, sondern weil sie über den Gebäudekuben entlangführt, die für die Menschenmassen konstruiert wurden.» Anfangs liessen sich von Le Corbusiers Idee Techno-Utopisten anstecken, die Metropolen wie Schluchten entwarfen, durchzogen von zahllosen Tunnelsystemen für den Autoverkehr. Doch dann kam «Metropolis» und offenbarte die Kehrseite der Technikbegeisterung - Menschen hinter der Fassade gigantischer Monumente, unter das Diktat der Maschinisierung gezwungen.


Gefahren urbaner Desintegration

Wenn nun die erste Internationale Architekturbiennale in Rotterdam Ausstellungen präsentiert, die sich sowohl dem Leitthema «Mobilität» als auch Le Corbusiers Vision verpflichtet fühlen, so liegt dies vornehmlich daran, dass die Verkehrsprobleme in den rapide wachsenden Metropolen weit weg von einer Lösung sind. Francine Houben vom Architekturbüro Mecanoo als Direktorin der diesjährigen Biennale und Maria Luisa Calabrese als Kuratorin sind davon überzeugt, dass Le Corbusiers Ansatz eine gestalterische Kraft innewohnt, die geeignet ist, die Gefahren der urbanen Desintegration zu meistern. Gerade die Niederländer wissen um die Risiken des «urban sprawl»: der Aufteilung der Siedlungsstrukturen in Freizeit-, Arbeits- und Schlafstädte sowie des Zubetonierens des letzten Restgrüns. Dessen Wahrnehmung ist mittlerweile laut Adriaan Geuze entlang der Autobahn von Rotterdam nach Den Haag auf zwei Minuten Fahrzeit geschrumpft. Dort, wo früher Weideland war, gibt es heute Autobahnausfahrten mit Business-Centers und McDonald's-Restaurants. Diese Entwicklung erachtet der Rotterdamer Landschaftsarchitekt «für ein kleines Land wie Holland» als «katastrophal».

Deswegen zeigen Geuze und das Rotterdamer Architekturbüro MVRDV, wie Bauen und der Umgang mit Grünraum angesichts knapper Ressourcen und wachsenden Wohnungsbedarfs sinnvoll sein können. Die Architekten von MVRDV schlagen für das Stadtzentrum von Leidschenveen die Errichtung einer «vertikalen Stadt» vor: eine fächerartig gestapelte Bebauungsstruktur mit Parkrampen, Geschäften und öffentlichen Einrichtungen. Sie möchten am liebsten die funktionale Trennung des Verkehrs rückgängig machen und wie Le Corbusier das Auto wieder voll ins städtische Leben integrieren - aber mit neuen Raumverbindungen und Schnittstellen. Geuze zeigt in der Ausstellung im einstigen Speichergebäude «Las Palmas», das im Rahmen der Architekturbiennale internationalen Teams eine Plattform bietet, einen anderen Weg: Im südkalifornischen Pasadena baut er, begeistert von den Parkways des amerikanischen Landschaftsarchitekten Frederik Law Olmsted, den «Elevated Arroyo Parkway» als programmatischen Gegenentwurf zur Metropole Los Angeles. Entsprechend dem Ausstellungsmotto «A Room with a View» stellt er den endlos verschlungenen Autobahnen von Los Angeles farbige Landmarken entgegen, die entfernt Luís Barragáns Türmen an den Hauptstrassen von Mexico City gleichen. Qualitätvolle räumliche Verdichtung und Panoramablicke auf die umgebende Landschaft - auch für Francine Houben liegt darin das Ideal von Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung.

Wer eine Probe aufs Exempel machen will, unternehme einen Besuch der sehenswerten Ausstellungen «World Avenue» und «Holland Avenue» im Niederländischen Architekturinstitut (NAI). Houben hat zehn Ballungszentren aus Asien (Tokio, Peking, Pearl-River-Delta, Jakarta, Beirut), Europa (Budapest, Randstad Holland, Ruhrgebiet) und Amerika (Mexico City, Los Angeles) ausgewählt. Über Mexico City erfährt man, dass die Autofahrer das Programm zur Verkehrsreduktion unterliefen, indem sie sich Zweitwagen zulegten und so die Anzahl Autos noch erhöhten. Auf einer rotierenden Plattform können sich die Besucher in einen VW-Käfer setzen und virtuell über chaotische Autopistas bis hinaus in die Vorstädte fahren - vorbei an hupenden Autos und Strassenverkäufern. Dem NAI gelingt in der Hauptgalerie eine eindrückliche Verbindung von Information und atmosphärischer Dichte. Einprägsam ist das Beispiel des Pearl-River-Deltas, eines explosiv gewachsenen Ballungsgebiets westlich von Hongkong mit Chinas dichtestem Strassennetz, 1260 Brücken und 5 Flughäfen. Die Autofahrt führt hier durch Hochhauswälder, deren erschreckende Uniformität zum globalen Zeichen schneller Rendite geworden ist. Verglichen damit wirkt die Reise durchs Ruhrgebiet fast schon gemütlich: überall Fastfood-Lokale, rauchende Fabrikschlote, Reihenhaussiedlungen und schliesslich die vertrauten Staumeldungen aus dem Autoradio.


Ästhetik der Autobahnen

Die Ausstellungen im NAI und in «Las Palmas» fragen danach, wie sich die wachsende Mobilität der Gesellschaft auf die städtischen Strukturen auswirkt. Houben und Calabrese sind sich bewusst, dass es kein Zurück in eine Zeit geben darf, als das Einfamilienhaus im Grünen und das Auto eine symbiotische Einheit bildeten. Nicht extensiver Strassenausbau, sondern extrem verdichtete Stadtautobahnen sind das Ziel. Statt um die Entfesselung der Mobilität geht es um deren Steuerung, statt um urbane Zerstreuung um Verdichtung. Houbens Motto «A Room with a View» ist Kevin Lynchs Untersuchungen zur visuellen Wahrnehmung von Autofahrern geschuldet. Um die besonderen Qualitäten von Städten und Landschaften besser aufnehmen zu können, müsse mehr Wert auf die Gestaltung der Strassen gelegt werden. Es geht also auch um die Ästhetik der Autobahnen. In «Las Palmas» werden zudem Bauwerke präsentiert, die den täglichen Bewegungsfluss besonders gut ins architektonische Konzept integrieren. Etwa Ben van Berkels Arnheimer Bahnhof oder der spektakuläre Fährenterminal in Yokohama von Foreign Office Architects, der wie eine ins Meer hinausragende Parklandschaft gestaltet ist. Und nicht zuletzt Peter Haimerls Entwurf für ein vernetztes, überirdisches Transportsystem, das die herkömmliche Automobilität ersetzen und Synergien für die Gestaltung des Stadtraums freisetzen soll. So verschieden die Konzepte sind: Mit Le Corbusiers Vision haben sie gemeinsam, dass sie die Strasse als Korridor durch ereignislose Stadt- und Landschaftsräume verwerfen. Die Strasse soll Erlebnisqualität gewinnen. Auch wenn sie keine Aussicht auf die Bucht von Rio bietet.


[ Bis 7. Juli: Architekturbiennale im NAI, in «Las Palmas» und im Pakhuis Meesteren. Kataloge: Francine Houben, Luisa Maria Calabrese: Mobility. A Room with a View. NAI Publishers, Rotterdam 2003. 447 S., Euro 35.-. - Mecanoo Architecten: Holland Avenue 2002/2030, Research/Design Road Atlas. Ministry of Transport, Den Haag 2003. 150 S., Euro 10.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2003.05.10

26. April 2003Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Verfall und Planungseuphorie

Die drei virtuellen Städte in Ostdeutschland

Die drei virtuellen Städte in Ostdeutschland

Seit einem Jahr propagiert die deutsche Bundesregierung das Förderprogramm «Stadtumbau Ost». Die Einsicht in den Handlungsbedarf kam spät, denn die Zeichen des urbanen Notstands in den ostdeutschen Städten sind alarmierend: Über eine Million Wohnungen sowie unzählige Gewerbebauten, soziale Einrichtungen und Industrieareale stehen in Städten wie Rostock, Wismar, Potsdam, Magdeburg, Cottbus, Halle, Erfurt, Gera, Zwickau und Chemnitz leer. Die potenziellen Einwohner dieser «verlassenen Stadt» würden mit 2,3 Millionen Menschen die zweitgrösste Metropole Deutschlands bilden. Zu dieser Erkenntnis kommt die Ausstellung «3 Städte: Verlassene Stadt - Ersatzstadt - Ungebaute Stadt», die von den Kuratoren Sybil Kohl, Philipp Oswalt und Albrecht Schäfer in der Kunsthalle Düsseldorf eingerichtet wurde und deren unspektakuläre Präsentation offenbar ganz im Trend des Low-Budget-Programms der neuen Direktorin Ulrike Groos liegt. Die Schau zeigt, wie vielfältig das vernachlässigte Erbe ist: Es reicht von gründerzeitlichen Wohnhäusern, Volksbädern aus der Zeit um 1900 und Verwaltungskomplexen im neusachlichen Stil über Gaststätten, Tankstellen und Kaufhäuser bis hin zu den Plattenbauten des uniformen DDR-Funktionalismus.

Die Kehrseite des städtischen Verfalls war lange Zeit eine ungebremste Planungseuphorie, die den nach 1989 entstandenen Wachstumsmarkt einzig nach den Verheissungen satter Renditen bemass. Deswegen dachten die westlichen Investoren der ersten Stunde weniger an behutsames Renovieren, sondern mehr an Einkaufszentren und Multiplexkinos, die sie bevorzugt auf der grünen Wiese in unmittelbarer Nähe der Autobahnen hochzogen. Der zweite Teil der Präsentation zeigt diese ostdeutsche «Ersatzstadt» zwischen utopischer Kühnheit und banaler Scheusslichkeit als Mix aus Shopping-Malls, Metastasen an den Stadträndern und einer adrett postmodernen Wohnhauskultur mit ihrem Zierrat aus Giebeln, Säulchen und Erkern.

Die Ausstellung widmet sich schliesslich auch der «ungebauten» utopischen Stadt - oder anders gesagt: den Visionen der Investoren, Planer und Architekten. Es überrascht, dass die Kuratoren dazu nicht auf die mittlerweile üblichen Computersimulationen, sondern auf traditionelle Architekturzeichnungen zurückgriffen. Erwartungsgemäss handelt es sich fast ausschliesslich um Grossprojekte, die im Berliner Baufieber der frühen neunziger Jahre entstanden, als sich das Zentrum der neu-alten deutschen Hauptstadt zur sogenannt grössten Baustelle Europas wandelte. Wie sehr Investoren bisweilen in gigantomanischen Träumen schwelgen, demonstriert ein Projekt für eine «High-rise-City» - in Form einer Mischung aus Manhattan und Singapur - für die Metropole an der Spree.


[ Bis 10. Mai in der Kunsthalle Düsseldorf. Begleitpublikation: 3 Städte: Verlassene Stadt - Ersatzstadt - Ungebaute Stadt. Architektur-Stadtführer Ostdeutschland, Band I-III. Hrsg. Sybil Kohl, Philipp Oswalt, Albrecht Schäfer. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2003. € 14.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2003.04.26

04. April 2003Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Monumentaler Kubus

Das Architektenteam Sanaa in Essen

Das Architektenteam Sanaa in Essen

Für die Essener Zeche Zollverein, die im Dezember 2001 zum Weltkulturerbe erklärt wurde, legte das Rotterdamer Office of Metropolitan Architecture (OMA) vor einem Jahr einen Masterplan mit «Attraktoren» vor. Für den ersten dieser Attraktoren, die Designschule Zollverein, wurde ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben, den kürzlich das japanische Team Sanaa von Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa gewonnen hat. Der Entwurf der Tokioter Architekten sieht für den Eingangsbereich der Zeche Zollverein einen überdimensionierten Kubus vor, dessen Formensprache den Dialog mit der rationalistischen Industriearchitektur von Fritz Schupp und Martin Kremmer aufnimmt. Die Monumentalität des 38 Meter hohen Baukörpers soll durch ein Feld unterschiedlich angeordneter Perforationen relativiert werden. Zudem möchte Sanaa die mit Spritzbeton bearbeitete Fassade als textile Struktur lesbar machen und so den Spannungsbereich zwischen undurchsichtig und transparent sowie zwischen schwer und leicht ausloten.

Dass dieser japanische Rationalismus mittlerweile zum Markenzeichen von Sanaa wurde, veranschaulicht zurzeit eine Ausstellung in der Kompressorenhalle der Zeche Zollverein. Es ist die erste Einzelausstellung der beiden Architekten in Europa. Für die Präsentation haben sich Sejima und Nishizawa auf Modelle und Zeichnungen aktueller Projekte in Japan, Europa und Amerika beschränkt. Dabei zählen die Essener Designschule und ein Kulturzentrum im holländischen Almere zweifellos zu den markantesten Entwürfen. Erstmals kann man auch das neue Projekt für die Erweiterung des Instituto Valenciano de Arte Moderno (IVAM) bewundern. Die Japaner beabsichtigen, den bestehenden modernen Baukörper mit einer dünnen, selbsttragenden Aussenhaut zu umspannen und das Museum um Skulpturen- und Dachgärten zu erweitern.


[Bis zum 13. April in der Zeche Zollverein in Essen.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.04.04

07. März 2003Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Ein Museum der Wohntypen

Die ersten spektakulären Bauten des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV liessen vermuten, dass es vor allem durch innovative Architektur und durch aussergewöhnliche Konstruktionen aufzufallen sucht. Nun hat es mit dem Silodam-Container in Amsterdam erneut einen wegweisenden Bau realisiert: ein spannendes Wohngebäude.

Die ersten spektakulären Bauten des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV liessen vermuten, dass es vor allem durch innovative Architektur und durch aussergewöhnliche Konstruktionen aufzufallen sucht. Nun hat es mit dem Silodam-Container in Amsterdam erneut einen wegweisenden Bau realisiert: ein spannendes Wohngebäude.

Vor wenigen Jahren gehörte das junge Architektentrio MVRDV (Maas, van Rijs, de Vries) noch zu den Nobodys der Szene. Dies änderte sich sehr schnell, als die drei den lukrativen Auftrag erhielten, für 40 Millionen Gulden ein neues Gebäude für die Sendeanstalt VPRO in Hilversum zu errichten. Plötzlich galten sie als Senkrechtstarter in der grossen Schar talentierter holländischer Architekten. Schon kurze Zeit später debütierten sie auf dem internationalen Parkett mit ihrem kurios- phantastischen Sandwich-Pavillon für die Expo in Hannover. Auf einmal waren die drei Rotterdamer mit dem modischen Kürzel in aller Munde. Viele Kritiker waren überzeugt, dass sie nun siegesgewiss von Grossprojekt zu Grossprojekt schreiten würden. Doch zum Glück kam alles anders. Denn MVRDV wollte vor allem durch innovative Architektur, durch aussergewöhnliche Konstruktionen auffallen. So folgte auf ihre Expo- Attraktion ein wirklicher Überraschungscoup: „das denkbar schmalste Haus“ - so MVRDV - auf der Amsterdamer Scheepstimmermanstraat, dem Mekka experimentellen Bauens im neu erschlossenen Hafengebiet (NZZ 7."9."01). Dieses Miniatur-Wohnhaus gleicht einem gebauten Manifest, da es durch intelligente Geschossaufteilung eine verblüffende räumliche Vielfalt ermöglicht. Auch bei den nächsten Projekten in der niederländischen Hauptstadt blieb MVRDV der selbst gesteckten Maxime treu. Besonders gilt dies für den Silodam-Container, ein kürzlich fertig gestelltes Wohngebäude in der Nähe des Alten Holzhafens.


Hipper Ozeandampfer

Das Bauwerk erhebt sich am Kopfende eines ehemaligen Piers, der mittlerweile zur Topadresse in den neuen Siedlungen der „Waterstad“ geworden ist. Er verlängert die axialsymmetrische Ausrichtung der zwei vorgelagerten Speicherbauten: eines monumentalen Getreidesilos mit der Aura einer säkularen Backsteinkathedrale und eines angrenzenden Speichers, der dem „béton brut“ der fünfziger Jahre verpflichtet ist. Die Eigenwilligkeit dieser beiden Industriefossilien ist nicht zu übersehen, aber die knallbunte Schachtel aus dem Experimentierlabor des Rotterdamer Avantgardebüros sticht schon von weitem ins Auge. Die gestapelten Container auf Stelzen wirken jedenfalls wie eine Farbattacke auf die Nüchternheit der umgebenden Hafengebäude.

Eine niederländische Tageszeitung titelte denn auch: „Ein hipper Ozeandampfer, klar zum Auslaufen“. Die Metapher klingt zwar reichlich phantastisch, ist aber durchaus zutreffend. Anders als die beiden Speichergebäude ist das „Containerschiff“ nämlich nicht auf dem sicheren Grund des Piers gebaut, sondern ragt mit massiven Stützen aus dem Hafenbecken empor. Der Eindruck eines Ozeandampfers drängt sich auch auf, weil die ersten beiden Gebäudeteile nur durch frei über das Hafenbecken schwebende Stege erreichbar sind. Dagegen erfolgt der Zugang zu den letzten beiden Blockabschnitten über eine breite Freitreppe. Dieses bühnenhafte Entrée hat mehrere Funktionen: Es öffnet den zunächst geschlossen wirkenden Block und durchschneidet die gesamte Gebäudetiefe. Hier sind die Lasten förmlich zu spüren, die die massiven Stützen abfangen, doch zugleich erstaunt die unerwartete Offenheit der Passage, die sich zu einer grossflächigen Terrasse mit Blick über die Flusslandschaft ausweitet. Ausserdem regelt das Entrée den Zugang zu den jeweiligen Erschliessungsbereichen der Blockabschnitte, aber auch zu einem Café, das sich unterhalb der Aussichtsplattform befindet und wie eine ausgezogene Schublade über den Ij hinausragt. Aus diesem Guckkasten können die Gäste den Hausbewohnern zuschauen, wie sie mit ihren kleinen Booten auf dem Fluss herumschippern. Dieses Flair der „Waterstad“ sei ihr besonders wichtig, betont Nathalie de Vries von MVRDV, und deswegen habe man im Team lange überlegt, wie man dem Wohnen am Wasser am besten Rechnung tragen könne.
Nähe zum ursprünglichen Amsterdamer Lebenselement - dies könnte das Motto des Rotterdamer Trios sein. Aber die Architekten von MVRDV folgen nicht einfach der gängigen Mode; sie verstehen sich vielmehr als Trendsetter. Deswegen bekräftigt Nathalie de Vries das eigentliche Markenzeichen des jungen Architektenteams: höchste Differenziertheit in der Raumgestaltung. Der Silodam-Container birgt daher im Innern so manche Überraschung, die von aussen kaum zu erahnen ist. Etwas unspektakulärer spricht Nathalie de Vries lieber von einem „Museum der Typen“. Gemeint ist ein Wohngebäude, das mit den traditionellen Formen der Wohnarchitektur radikal bricht. Im Grunde realisiert der Silodam- Container ein früheres Manifest von MVRDV: „Die Forderung nach grösserer Vielfalt und ungewöhnlicheren Wohnungsformen nimmt überhand. Das ideale Haus hat ausgedient; es gibt tausend ideale Häuser.“ In einem schönen Traum könnte man sich vorstellen, diese tausend idealen Häuser im „Museum der Typen“ zu durchstreifen. Da es sich leider um ein Museum mit privaten Wohnungen handelt, wird es bei dem Traum bleiben.


Miniatur-Nachbarschaften

Doch das originelle Konstruktionsprinzip ist für jeden auch an der Fassade ablesbar, betrachtet man das Farbenkleid des Wohncontainers. „Mehrere Häuser in einem Haus“ versprechen die Architekten, man kann auch nüchterner sagen: „Mehrere Blocksegmente ergeben ein Wohngebäude.“ Die einzelnen „Häuser“ sind dann jene konstruktiven Elemente, die auf Grund gleicher Geschosshöhe und Farbe, die an Korridoren und Galerien ablesbar ist, gewissermassen eine wiedererkennbare Identität herstellen. Hier sollen sich nach dem Willen der Architekten „Miniatur- Nachbarschaften“ bilden. Womit wir bei der Philosophie von MVRDV wären: Nur eine hochgradige Differenzierung der Wohnbereiche entspricht dem zunehmenden Hang zu individuellen Lebensformen.
Die an der Fassade erkennbaren zwanzig verschiedenen Farben entsprechen ebenso vielen Wohnungstypen. Das Silodam-Museum beherbergt Wohnungen von höchst unterschiedlicher Grösse: In dieser „Unité d'habitation“ gibt es Wohnungen mit bis zu drei Geschossen; andere sind über umlaufende, mehrgeschossige Galerietrakte erreichbar; wieder andere besitzen einen eigenen Zugang zu einer Dachterrasse; ebenso kommen Wohnflächen vor, die rings um einen Patio gebaut sind; oder auch Apartments, die sich durch die gesamte Tiefe des Gebäudes ziehen. Wie nicht anders bei MVRDV zu erwarten, ist manches nichts weiter als Spielerei. Man trifft aber auch auf unerwartete Einfälle, die den Kontext phantasievoll einbeziehen. Etwa die im Sockelgeschoss einzig durch Holzstege miteinander verbundenen Wohnungen, die den Bewohnern täglich vor Augen führen, wie nah die Architekten am Wasser gebaut haben. - MVRDV ist eine kleine Revolution im Wohnungsbau gelungen. Im Amsterdamer Hafen gibt es nun tausend ideale Häuser in einem Haus.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.03.07



verknüpfte Bauwerke
Silodam-Container

01. November 2002Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Von Amsterdam lernen

Der 1946 geborene Amsterdamer Architekt Frits van Dongen wurde mit seinem spektakulären, «Wal» genannten Wohnblock am Ij international bekannt. Mehr als das Erscheinungsbild interessiert ihn aber die differenzierte Gestaltung seiner Bauten. Das beweisen der Batavia- und Botania-Komplex im ehemaligen Hafen von Amsterdam.

Der 1946 geborene Amsterdamer Architekt Frits van Dongen wurde mit seinem spektakulären, «Wal» genannten Wohnblock am Ij international bekannt. Mehr als das Erscheinungsbild interessiert ihn aber die differenzierte Gestaltung seiner Bauten. Das beweisen der Batavia- und Botania-Komplex im ehemaligen Hafen von Amsterdam.

«Wal» nennen die Amsterdamer liebevoll das markante, silbrig schimmernde Wohngebäude am Ij, das den Architekten Frits van Dongen bis auf die Titelseiten der internationalen Lifestyle- Magazine gebracht hat. Natürlich kommt dieser plötzliche Ruhm nicht von ungefähr. Denn offenbar hat van Dongen zielsicher den Zeitgeist getroffen, der nach spektakulären Bauten giert. Er ist sich durchaus bewusst, warum sich die Medien so sehr interessieren: «Die Leute empfinden das Gebäude als sexy.» Er bedauert jedoch, dass sich dieses Interesse nicht um den Facettenreichtum seiner übrigen Architektur kümmert.


Rückkehr zur Grossform

Die strahlende Riesenskulptur aus 27 000 Zinkplatten wurde in Amsterdam schnell zum Wahrzeichen der erneuerten Hafenzone und zieht mittlerweile Scharen von Architekturinteressierten an. Nach den Vorstellungen von Adriaan Geuze, der hier den Masterplan für die Quartiere Borneo und Sporenburg erstellt hat, bleibt der gestrandete Moby Dick nicht das einzige Wahrzeichen im neuen Siedlungsgebiet. Gegen Ende der Bauarbeiten sollen insgesamt drei Superblöcke das ruhige Meer der Wohnhäuser überragen. Im Gespräch erzählt van Dongen, wie schwer es war, im traditionsbewussten Amsterdam mit den vielen Grachten, der kleinteiligen Struktur und der niedrigen Bauhöhe das neue urbanistische Denken durchzusetzen: «Erst in den letzten zehn Jahren begann in Amsterdam ein Umdenken. Man setzte nun mehr auf die Autonomie von Wohnblöcken im städtischen Umfeld. Es war Hans Kollhoff, der Anfang der neunziger Jahre mit dem phantastischen Piräus-Block auf dem KNSM-Pier die Kehrtwende einleitete. Seit den katastrophalen Erfahrungen mit dem Bijlmermeer-Ghetto in den sechziger Jahren war es der erste grosse Block, den man wieder in einer Neubausiedlung genehmigte. So ergab es sich, dass ich als einer der ersten holländischen Architekten Gelegenheit hatte, wieder grosse Wohnblocks zu bauen.»

Den Anfang machte «De Landtong» in Rotterdams Kop van Zuid, einem Siedlungsgebiet an der Nieuwe Maas, das im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstörte wurde und nun als Experimentierfeld für avantgardistische internationale Architektur gilt. 1998 errichtete van Dongen auf der von Wasser umspülten Landzunge 623 Wohnungen in drei Baublöcken, die von vier Geschossen im Süden bis auf zwölf Geschosse im Norden ansteigen. Van Dongen wollte mit «De Landtong» den geschlossenen Baublock weiterentwickeln - als heterogenes Ensemble, das allenfalls durch das matte Rot des Ziegels zusammengehalten wird. Im Gespräch macht er deutlich, dass für ihn diese Entwicklung keinesfalls zufällig ist: «Die Besonderheit der architektonischen Entwicklung geht auf das Wohnungsgesetz von 1901 zurück, das den Bürgern ein menschenwürdiges Wohnen mit ausreichend Licht und Luft garantierte. Seit dieser Zeit lenkte und finanzierte die Regierung den Wohnungsbau, sie trug viel dazu bei, stadtplanerische Initiativen zu wecken.»

Gerne erzählt van Dongen, wie ihn seine Lehrer Herman Hertzberger und Aldo van Eyck davon überzeugten, gegen die doktrinären CIAM- Typologien eine mehr an den menschlichen Bedürfnissen orientierte Architektur zu setzen. Diese «humanistische Ethik» überzeugte ihn so sehr, dass er seine Basketball-Karriere abbrach und Mitte der siebziger Jahre einen gänzlich neuen Weg einschlug: «Seit dieser Zeit bestand mein Leben nur noch aus Architektur.» Dass die Einflüsse van Dongens nicht nur bei den holländischen Strukturalisten, sondern auch bei Carel Weeber, mit dem er 1988 de Architekten Cie. gründete, und Rem Koolhaas zu suchen sind, gibt er offen zu. Wie diese gegensätzlichen Stile sich vertragen können, zeigen zwei öffentliche Bauwerke, die Mojo-Konzerthalle und das Pathé- Kino im Südosten Amsterdams, die sich allerdings etwas allzu sehr den heutigen Trends und den Klischees der Investoren anpassen.


Hoch verdichteter Wohnungsbau

Die Stärken van Dongens liegen in den differenziert gestalteten Wohnblöcken. Das beweisen der Batavia- und Botania-Komplex inmitten der Hafenerweiterung Amsterdams. Im Gegensatz zum «Wal» fehlt dem Batavia-Gebäude jenes «glittering image», das es auf die Titelseiten der Illustrierten bringen könnte. Die langgestreckten Ziegelfassaden des U-förmigen Blocks vermitteln zunächst einen abweisenden, ja sogar festungsartigen Eindruck. Erst auf den zweiten Blick enthüllt das Gebäude seine Reize. Dazu zählen die variationsreiche Fassadengestaltung mit teilweise geschosshoher Verglasung und Fensterbändern, ebenso der keilförmige Abschluss des massiven Blockrands, der den monumentalen Eindruck des Komplexes abmildert. Gleiches gilt für die «Botania», die wie ein markanter roter Kubus in die Nieuwe Herengracht hineinragt. Dieser moderne Block differenziert die traditionelle städtische Gebäudetypologie: Die weissen Holzrahmen werden als Strukturierungsprinzip übernommen, doch der Baukörper wirkt rationalistischer. Im Innern gestaltete van Dongen höchst abwechslungsreiche Wohnungsgrundrisse; und die Dachlandschaft bietet eine schöne Aussicht über die «Waterstad». - Der «Wal», «Batavia» und «Botania» stehen für einen hoch verdichteten Wohnungsbau, wie er auch die traditionellen Stadtviertel Amsterdams prägt. Van Dongen genügt ein Blick aus seinem Büro: «Betrachtet man das Jordaan-Viertel, so findet man den typischen Amsterdamer Städtebau - hohe Wohndichte, ökonomischen Landverbrauch und städtisches Lebensgefühl.»

Ihm geht es um vorbildliche Stadtplanung, um die kreative Weiterentwicklung der holländischen Stadt. Deswegen reizte es ihn, zusammen mit Adriaan Geuze und Ton Schaap, dem Verantwortlichen des Stadtplanungsamtes für die Umwandlung der östlichen Hafengebiete, die städtebaulichen Koordinaten des Joordan auf die neuen Viertel Borneo und Sporenburg zu übertragen: «Der Bebauungsplan für die Besiedlung der Halbinseln ist typisch holländisch. Wir haben wie gewohnt eine hohe Bebauungsdichte mit geringer Geschosshöhe kombiniert.» Man versuchte, das Amsterdamer Ideal der kompakten Stadt mit den Vorzügen intimer Wohnatmosphäre zu verbinden. - Wenn Frits van Dongen an das «neue Amsterdam» denkt, dann nicht nur an die Besiedlung des südlichen Ij-Ufers. Als Gegenpol zu den neuen Wohnvierteln am ehemaligen Hafen wird im Amsterdamer Süden in den nächsten 20 Jahren das Geschäftszentrum Zuidas entstehen. Van Dongen erwähnt noch ein weiteres Projekt, das in den nächsten Jahrzehnten das städtische Bild Amsterdams nachdrücklich verändern wird: Ijburg, ein Archipel aus sechs künstlich aufgeschütteten Inseln inmitten der Zuidersee. Dieses grosse Landgewinnungsprojekt soll für 60 000 Menschen Wohnraum bereitstellen. Van Dongen, der zusammen mit Felix Claus und Ton Schaap den Masterplan für die ersten Abschnitte - Haveneiland und Rieteilanden - erstellt hat, sieht zwar die Gefahr einer zunehmenden Verstädterung, aber er wäre kein Holländer, wenn ihn dies nicht auch zuversichtlich machen würde.

Da der letzte Raumplanungsbericht der niederländischen Regierung von einem zusätzlichen Bedarf von zwei Millionen Wohnungen auf einer Fläche von 39 000 Hektaren Land in den nächsten dreissig Jahren ausgeht, wurde das Ijburg- Projekt, angesichts der aus allen Nähten platzenden Randstad, zu einer zwangsläufigen Konsequenz. Für die Planer war es selbstverständlich, auch hier das Jordaan-Viertel zum Gradmesser der zukünftigen Bebauung zu machen. So erreichen allein Haveneiland und Rieteilanden eine Wohnungsdichte, die nahe an jene des Jordaan- Viertels herankommt. Van Dongen, Claus und Schaap verteidigen zwar die Idee der Blockstruktur, doch die vorgegebenen Gebäudetypologien sollen in späteren Planungsphasen noch genügend Spielraum für die individuelle Gestaltung von Grachten, Strassen, Höfen, Patios und Gärten lassen. - Begeistert fügt Frits van Dongen hinzu: «Amsterdam steht inmitten eines grossen architektonischen und urbanistischen Umbruchs. Die neuen Gebiete am Wasser bewahren unsere Lebens- und Wohnqualität, zugleich werden die architektonischen Highlights viele Architekturfans anziehen. Die Stadt wird jedem etwas zu bieten haben. Dieses Image sollte sie besser herausstellen. Das wäre grossartig.»

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.11.01

18. September 2002Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Neue Promenaden

Strategien zur Verschönerung unserer Städte

Strategien zur Verschönerung unserer Städte

Wie sieht die Zukunft unserer Städte aus? Wie lassen sich die öffentlichen Räume besser gestalten? Und vor allem: Wie kann man die urbane Lebenskultur steigern? Diese Fragen sind am Erbe der europäischen Stadt orientiert und lassen zwangsläufig an Städte mit Strassencafés und belebten Plätzen denken. Selten hat man so viel nachgedacht über Veränderungsstrategien, und selten wurden so viele Aktionen beschworen wie heute. Besonderen Nachholbedarf scheint man in Deutschland zu spüren, wo man sich seit dem letzten Jahr auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene auf die verstärkte Förderung der Baukultur besinnt. Einig ist man sich über die Verbesserung städtischer Lebensqualität, nur an überzeugenden Rezepten mangelt es noch.

Eine der Strategien, die man kürzlich auf einem urbanistischen Symposion in Düsseldorf diskutierte, nennt sich «Embellissement». Mit diesem Konzept soll eine städtische Erneuerung entsprechend der klassischen Vorstellung von Ordnung und Schönheit herbeigeführt werden. Natürlich fragt man sich, wie diese Strategie in unseren modernen Städten durchzuführen sei, ob sie sich etwa damit begnüge, die Innenstädte mit historisierenden Fassaden zu schmücken, während daneben die banalen Hüllen der Shopping-Malls, Entertainment-Center und Multiplexe hochgezogen werden. Die Gefahr besteht also, dass die Sanierung das städtische Chaos erst recht heraufbeschwört. Dagegen bieten sich zwar umfassende urbanistische Eingriffe an. Da diese heutzutage jedoch meist nur in Gestalt von «public private partnerships» durchsetzbar sind, stellt sich die fast unlösbare Aufgabe, einen Interessenausgleich zwischen Politikern, Architekten, Stadtplanern, Developern und Bürgern herzustellen. Also beschränkt man sich lieber auf leicht überschaubare innerstädtische Massnahmen oder auf die Umgestaltung gut gelegener Industriegebiete.
Peripheres Niemandsland

Zu diesen Massnahmen gehört etwa Bordeaux' Jahrhundertprojekt unter der Leitung des Landschaftsarchitekten Michel Carajoude. In den nächsten Jahren möchte er das Ufer der Garonne in eine kilometerlange Promenade umgestalten, gesäumt von abwechslungsreichen Parkanlagen. Dadurch lässt sich das beeindruckende Panorama von Bordeaux zwar verschönern, doch folgt man dabei letztlich nur der traditionellen Vorstellung eines touristisch attraktiveren Zentrums. Aber wie sehen die Peripherien von Bordeaux aus? Asphaltierte Industriebrachen, gesichtslose Fertigbaukisten, auf exotisch getrimmte Fast-Food-Lokale und überdimensionierte Werbeflächen, wohin das Auge blickt. Dieses Niemandsland ist weltweit zur traurigen Realität geworden. An den Brachflächen der städtischen Randbezirke scheitern die gut gemeinten Vorsätze eines «Embellissement». Selbst erhaltenswerte Grünflächen werden zunehmend bedroht. Der Rotterdamer Landschaftsarchitekt Adriaan Geuze kritisiert, dass die Suburbanisierungslawine in dicht besiedelten Ländern wie den Niederlanden das letzte Restgrün zu zerstören droht, während gleichzeitig jeder Ort in der sich zwischen Amsterdam, Rotterdam und Utrecht kreisförmig ausbreitenden «randstad» einen eigenen Autobahnanschluss fordert. «Jeder Bürgermeister verbindet sein Heil damit, direkt an der Ausfahrt ein Business-Center und einen McDonald's und alle zehn Jahre eine Wohnsiedlung mitten ins Grüne zu bauen.»

Was nützen punktuelle innerstädtische Verschönerungen, wenn die suburbanen Viertel verrohen? In der Regel fehlt ein notwendiges Gefühl für den Wert von Zwischenräumen, wie sie die zersiedelten Aussenquartiere darstellen. Ihnen wird keinerlei Nutzen zuerkannt, da sie aus dem dualistischen Schema von Stadt und Land herausfallen. Der in Mailand lebende Landschaftsarchitekt Andreas Kipar verweist gerne darauf, dass dieses schematische Denken selbst das Problem ist. Ihn bringen italienische Bürgermeister zur Verzweiflung, die jede freie Wiese als potenzielles Baugrundstück betrachten. Aber erst wenn die «interaktiven Landschaften» von Suburbia in ihrem Eigenwert geachtet werden, besteht die Chance, eine Vielfalt von Identitäts- und Qualitätsräumen zu schaffen. Dies bedeutet, Interpretationen offen zu lassen und nicht sogleich jede Brache in einen Themenpark umzuwandeln.
Revitalisierungen

In unserer postindustriellen Gesellschaft sind die Industriebrachen eine der urbanistischen Herausforderungen der Zukunft. Nach der Wende war es besonders in Ostdeutschland gang und gäbe, die Industriefossilien wenn irgend möglich in schicke Gewerbeparks zu transformieren. Von einer lebendigen Mischung der Nutzungen und Funktionen konnte kaum die Rede sein. Vorbildliche Beispiele im Umgang mit ausgedienten Industriearealen sind hingegen etwa Zürich West, wo Wohnen, Kultur, Sport und Vergnügen dicht gemischt sind, oder die Essener Zeche Zollverein, ein als Weltkulturerbe anerkanntes Industriegelände, für das Rem Koolhaas einen Masterplan mit Wohnungen, Ausstellungsgebäuden, Instituten, Gewerbebauten, Freizeitzentren, Geschäften und Parks entwickelte. Da der grobmaschige Masterplan nur einen zeitlichen und programmatischen Rahmen für die weitere Entwicklung des industriellen Komplexes vorgibt, bleibt genügend Raum für kleine, innovative und temporäre Projekte, die durch eine lebendige Stadtkultur den Gegensatz zwischen Industriegebiet und städtischer Kulturlandschaft aufbrechen könnten.

Auch die Revitalisierung der zu Brachflächen degenerierten Hafengebiete zielt auf städtische Anbindung. Durch die Aufwertung der einstigen Hafenanlagen zu neuen städtischen Zentren macht man eine Entwicklung rückgängig, die die Stadt in den letzten 150 Jahren vom Wasser entfernte und eine autonome Region mit Schwerindustrie und Speichergebäuden entstehen liess. Gerne wird heute die Hafenstadt um 1700 gewürdigt, als «balcons urbains» öffentliche Zonen bildeten, die städtisches Leben und Gewerbehafen verbanden. In Barcelona hat man sich in den achtziger Jahren auf dieses Erbe besonnen, als Ignasi de Solà-Morales nach dem Vorbild des alten Passeig de Colom die Hafenpromenade Moll de la Fusta anlegte. Sie erweist sich als ein vorbildlich funktionierendes urbanistisches Element, da sie auf verschiedenen Ebenen die Altstadt, den Verkehrsfluss der Ronda Litoral und das Meer zusammenrückt.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.09.18

06. September 2002Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Vergangenheitskult und Zukunftsentwürfe

Seitdem Fidel Castro 1965 die architektonische Moderne auf Kuba für tot erklärte, tut man in Havanna so, als habe es niemals eine Epoche des internationalen Stils auf Kuba gegeben. Man setzt lieber auf die bei Touristen beliebte Kolonialarchitektur. Aber seit einiger Zeit gibt es auch leise Ansätze eines Neuanfangs.

Seitdem Fidel Castro 1965 die architektonische Moderne auf Kuba für tot erklärte, tut man in Havanna so, als habe es niemals eine Epoche des internationalen Stils auf Kuba gegeben. Man setzt lieber auf die bei Touristen beliebte Kolonialarchitektur. Aber seit einiger Zeit gibt es auch leise Ansätze eines Neuanfangs.

Noch heute wird der Schriftsteller Alejo Carpentier in seiner kubanischen Heimat geradezu kultisch verehrt. Besonders beliebt sind jene kurzen Prosastücke, die das romantische Bild eines lebendigen, farbenfrohen Havanna wachhalten, den unvergänglichen Charme der Kolonialarchitektur preisen und dabei die verblassenden Slogans einer alt gewordenen Revolution mühelos überdauern. Als 1959 die bärtigen Comandantes die Macht auf dem Inselstaat übernahmen und die moderne kubanische Architektur die letzte Phase ihres ungewöhnlichen Aufschwungs erlebte, schrieb Carpentier den Aufsatz «Stadt der Paläste», eine Verklärung von Havannas vergangener Grösse. Auch die 1964 veröffentlichte «Stadt der Säulen» verlor kein Wort über die Modernen, obwohl im gleichen Jahr Fidel Castro das Totenglöcklein für das letzte ambitiöse Architekturprojekt läutete - Ricardo Porros Nationale Kunstschule, ein Ensemble aus Kuppel- und Tonnengewölben, das kurz vor seiner Vollendung aufgegeben werden musste (NZZ 9. 2. 02). Carpentier hatte schon früh geahnt, dass die museale Konservierung Havannas den touristischen Erwartungen am besten entspricht. Vergessen die Zeit, als Richard Neutra und Roberto Burle Marx die 1958 prämierte Villa für Alfred de Schulthess bauten, vergessen Philip Johnsons Entwurf für das Hotel Monaco und Mies van der Rohes Projekt für die Verwaltung von Bacardi, vergessen der prägende Einfluss von Le Corbusier und Frank Lloyd Wright auf die lokalen Architekten, vergessen die kubanische Sektion der Congrès internationaux d'architecture moderne (CIAM), vergessen auch die Neuordnungspläne für Habana del Este von Josep Lluís Sert und der Masterplan für die Altstadt von Ricardo Porro.


Fehlende Weitsicht

Während mittlerweile die Nationale Kunstschule in Cubanacán von der Natur zurückerobert wird, rüstet sich die Aktiengesellschaft Habaguanex unter der Leitung des Stadthistorikers Eusebio Spengler Leal, um das nostalgische Bild von La Habana Vieja wieder aufzufrischen. Leal hatte 1993 von Castro freie Hand bekommen, um durch einen Masterplan (Plan Maestro para la Revitalización Integral de La Habana Vieja) die besonders bedrohte Altstadt vor dem Verfall zu retten. Der Plan sieht neben der Umsiedlung von 20 000 Menschen in vorübergehende Wohneinheiten (comunidades transitorias) die Entkernung von Palästen und Wohnhäusern vor, die nach der Renovierung zumeist in Hotels, Bars und Boutiquen umgewandelt werden. Der Überschuss aus diesen Projekten fliesst schliesslich zurück in die finanzkräftige Habaguanex, die das Kapital in weitere Restaurierungen, Joint Ventures und in Dienstleistungsangebote - wie etwa Taxiunternehmen - investiert.

Natürlich erntet Leals Vorhaben viel Lob, da der schleichende Verfall der Altstadt als unabwendbar galt. Dabei wird allerdings übersehen, dass die vom Stadthistoriker initiierten Renovierungen die Kluft zwischen dem alten, unter Schuttmassen erstickenden Tagelöhnerviertel Jesús María, das inoffiziell zur «No-Go-Zone» erklärt wurde, und dem touristisch aufgewerteten Dreieck zwischen Plaza de la Catedral, Plaza de Armas und Plaza Vieja nur noch vergrösserten. Da die Kolonialarchitektur zweifellos die grösste Attraktion auf die Touristen ausübt, sollte kein avantgardistisches Bauexperiment das romantisierte Bild von La Habana Vieja eintrüben. Deswegen versteht Leal die Altstadtrestaurierung als einen «viaje en la memoria». So wurde etwa die Plaza Vieja, die noch vor einigen Jahren von einer Tiefgarage verunziert wurde, auf ausdrückliches Verlangen Leals in die Zeit der vierziger Jahre zurückversetzt. Nun präsentiert der Platz mit seinen schattenspendenden Arkaden und frisch renovierten Renaissance-Häusern im Zentrum ein schlichtes Denkmal, umgeben von einer polygonalen Gitterkonstruktion, die ebenso stupide wirkt wie die weiträumige Umfassung durch Kanonenkugeln. Kein Wunder, dass das von Carpentier so sehr gelobte «Schauspiel» auf den Strassen Havannas hier wie abgestorben wirkt.


Neuinterpretation der Altstadt

Als der exilkubanische Schriftsteller Iván de la Nuez vor kurzem in seine Heimatstadt zurückkehrte, fühlte er sich in das kolonialistische Havanna zurückversetzt: «Das Aussehen von Havanna ist das einer Stadt aus früheren Zeiten, beherrscht von der düsteren Architektur der Macht.» Auch ausländische Architekten, die Leals Restaurierungen jahrelang beobachtet haben, sind eher skeptisch. Natürlich ist es übertrieben, wenn sich Carl Pruscha an «Disneyland» erinnert fühlt, aber auch sein Wiener Kollege Wolf Prix erkennt den «kapitalistischen Virus», der in Havanna um sich greift: «Es entstehen Touristenfallen, während zur gleichen Zeit die Bewohner ausquartiert werden.» Prix beklagt das Fehlen einer Vision für ein neues Havanna. Dabei glaubt er keineswegs an die Investitionen mächtiger Developer, die die Stadt binnen kurzer Zeit ruinieren würden. Vielmehr favorisiert er eine «sanfte» Veränderung, ein Low-Budget-Unternehmen und die Kreativität der Bevölkerung.

In diese Richtung geht ein Vorschlag des New Yorker Architekten Lebbeus Woods: Sein Projekt für den Malecón sieht eine sechs Kilometer lange Befestigungsmauer aus Beton vor, die den Schutz vor den gefährlichen Stürmen verbessern, aber auch das städtische Leben ans Meer heranführen soll. Woods unterstreicht den Vorteil dieses Projekts für eine Stadt wie Havanna: «Die ganze Bevölkerung könnte den Wall bauen und danach auch für seine Instandhaltung sorgen.» Woods hat diesen Entwurf vor sieben Jahren im Rahmen des «Havanna Project» erarbeitet. Auch Wolf Prix, Carl Pruscha, Peter Noever, Eric Owen Moss, Thom Mayne und Carme Pinós waren damals an dem Projekt beteiligt, das für verschiedene Bezirke von La Habana Vieja neue, völlig ungewöhnliche Vorschläge diskutierte. Doch sie wurden ebenso wenig ernst genommen wie die Modelle, die Woods und Moss im Januar 2000 in der Altstadt präsentierten.

Die einzige Nische, die man derzeit der Gegenwartsarchitektur zugesteht, ist ihr eingeschränktes Dasein in Ideenwettbewerben. Immerhin wecken die hier entstandenen Entwürfe eine Ahnung davon, dass «die kubanischen Architekten» - wie Wolf Prix meint - «einmal die besten der Welt» waren. Davon zeugt ein kürzlich in Havanna veranstalteter Wettbewerb, der sich mit punktuellen Eingriffen in drei städtischen Zonen beschäftigte. Ausdrücklich wurde verlangt, die historische Stadt mit den Mitteln zeitgenössischer Baukunst neu zu interpretieren. Dem vom andalusischen Ministerium für Bauen und Wohnen sowie vom Amt des Stadthistorikers ausgelobten Wettbewerb sassen unter anderem Antonio Cruz (Sevilla) und Eusebio Leal vor. Die prämierten Entwürfe überzeugen insgesamt durch eine flexible Raumorganisation - durch umlaufende Galerietrakte, auskragende Wohneinheiten, diagonal verlaufende, geschossverbindende Brandtreppen und eine maschenförmige Vernetzung von Wohnflächen und Patios. Von Anbiederung an das historische Stadtbild keine Spur.

Ein in Santiago de Compostela veranstalteter Wettbewerb setzte dagegen Akzente für die zukünftige Entwicklung verschiedener lateinamerikanischer Städte. Bei den für Santiago de Cuba vorgestellten Entwürfen wird deutlich, dass die von Woods und Prix favorisierten Low-Budget- Modelle durchaus in der Lage sind, der strapazierten Hafenregion der südkubanischen Stadt durch ein ökologisches Konzept neue, überzeugende Nutzungen zu geben. Jurymitglied Roberto Segre meint denn auch, «viele junge Architekten fühlen sich von dem historischen Erbe befreit und verfolgen ein architektonisches und urbanistisches Konzept, das dem Lateinamerika des 21. Jahrhunderts entspricht». Iván de la Nuez spricht sogar von einer «neuen kubanischen Architektur». Allerdings fügt er hinzu, dass den Erben eines Ricardo Porro, Mario Romañach, Max Borges Recio und Nicolás Quintana nichts anderes übrig bleibt, als den Traum eines fiktiven Havanna im Exil fortzuspinnen.


[ Architekturbiennale in Havanna
zz. Vor einem Jahr wurde in Havanna die Initiative zur Durchführung einer Architekturbiennale ergriffen, die dank der Einwilligung des Kulturministeriums im März zur ersten Veranstaltung dieser Art auf Kuba führte. Zu sehen waren neben der Präsentation von Architekturfilmen und Architekturbüchern auch Ausstellungen zum Urbanismus im historischen Havanna sowie zur kubanischen Baukunst im 20. Jahrhundert. Die nächste Architekturbiennale soll im Jahr 2004 stattfinden. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.09.06

18. Juni 2002Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Der neue Paseo del Prado

Ein Projekt von Alvaro Siza

Ein Projekt von Alvaro Siza

Madrid rüstet architektonisch und städtebaulich auf: Rafael Moneo baut eine Erweiterung des Prado, Jean Nouvel widmet sich dem Anbau des Centro de Arte Reina Sofia, und Juan Navarro Baldeweg errichtet das neue Teatro del Canal. Nun hat ein weiterer Stararchitekt einen illustren Wettbewerb gewonnen. Der Portugiese Alvaro Siza wird in den nächsten Jahren den Paseo del Prado im Herzen der Hauptstadt völlig neu gestalten. Die bis anhin lärmende und fussgängerfeindliche Verkehrsachse, die den Atocha-Bahnhof mit der Plaza Cibeles verbindet und am Botanischen Garten, am Prado und am Thyssen- Museum vorbeiführt, soll beruhigt werden. Siza, der sich gegenüber Carlos Ferrater, Rubio Carvajal & Alvarez Sala sowie der Gruppe Debates Urbanos durchsetzte, konnte die Jury mit einem beeindruckenden und dennoch sparsamen Entwurf überzeugen. Er will den Verkehrsfluss des Paseo del Prado neu verteilen, die Anbindung an die angrenzenden Viertel und den Botanischen Garten verstärken und gleichzeitig die Strasse erweitern, die im Mittelbereich einen breiten öffentlichen Raum, einen grünen Parkstreifen für Spaziergänger, erhalten soll. Durch landschaftsarchitektonische Mittel möchte Siza einen parkähnlichen Boulevard gestalten und damit «die städtische Qualität verbessern».

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.06.18



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Paseo del Prado

25. März 2002Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Zukunft für Industriebauten

Projekte von Koolhaas für das Ruhrgebiet

Projekte von Koolhaas für das Ruhrgebiet

Kaum war die Guggenheim Dependance von Rem Koolhaas in Las Vegas eröffnet worden, da wurde bekannt, dass er in Dallas ein Theater und in Los Angeles das County Museum of Art bauen wird. Und nun ist der unentwegt zwischen den Kontinenten pendelnde Architekt auch im «Ruhrpott» gelandet, um dort zwei anspruchsvolle Projekte zu verwirklichen. Koolhaas präsentierte kürzlich einen Plan für die Neuordnung der Essener Zeche Zollverein und einen «Dekonstruktionsplan» für die Henrichshütte in Hattingen. Die legendäre Zeche, einst im «Bauhaus-Stil» errichtet und als Folge des Strukturwandels 1993 geschlossen, gilt mittlerweile als Aushängeschild der IBA Emscher Park und seit kurzem sogar als Unesco-Weltkulturerbe. Koolhaas schlug vor, einen «Economy Ring» um das Industriedenkmal zu legen: Von zwei auf einer Symmetrieachse verteilten Design-Gewerbeparks erhofft er sich spannungsvolle Beziehungen zu einem Kongressgebäude, einem Bildungszentrum und dem Ruhrmuseum. Schliesslich sollen eine «Design School Zollverein» und ein periodisch auszurichtendes «Weltforum des Design» («Metaform») den Masterplan komplettieren. Damit nicht genug: Der «Dekonstruktionsplan» des Rotterdamer Architekten sieht zudem für die stillgelegte Henrichshütte Hattingen die Rückverwandlung des Stahlwerks vor. Koolhaas nennt dies ein «Rückbaukunstwerk».

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.03.25

06. März 2002Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Atmende Architektur

Ein Sammelband über Bruno Taut

Ein Sammelband über Bruno Taut

Im Jahre 1924 erschien in Magdeburg eine Ansichtskarte mit belebtem Marktplatz, zackig ornamentierten Warenhäusern und farbig angemaltem Rathaus. Der «Gruss vom bunten Magdeburg» zeigt eine Stadt im Fluss der Veränderung. Die wohlwollende Karikatur zielte auf den künstlerischen Reformeifer, den der neue Stadtbaurat Bruno Taut bei seiner Aktion «Farbiges Magdeburg» entwickelte. Der ungebremste Aufbruchswille, den Taut seit dem Amtsantritt zusammen mit seinem Mitarbeiter Carl Krayl entfesselte, machte die Farbexperimente der zuvor eher grauen Stadt über die Landesgrenzen hinaus bekannt: Das Renaissance-Rathaus erhielt einen roten Farbanstrich, die Arbeitersiedlung «Reform» wurde ausgebaut und in ein buntes Kleid gehüllt, Hausfassaden wurden in Kunstwerke verwandelt, Krayls Pavillon der «Mitteldeutschen Ausstellung» zeigte sich auf der Höhe des expressionistischen Zeitgeistes, und sogar die Strassenbahn erschien, wie Ilja Ehrenburg fasziniert notierte, «prächtig gemustert wie ein Drache».

Im vorliegenden Taut-Sammelband beschreibt Regina Prinz die von Taut verordnete Verjüngungskur als «bewusstseinsweckende» Erziehungsmassnahme. Die Kampagne war allerdings nur ein kurzes Intermezzo, denn nach knapp drei Jahren fühlte sich der avantgardistische Stadtbaurat zu wichtigeren Aufgaben berufen. In der Reichshauptstadt widmete er sich den drängenden Wohnungsproblemen, und binnen kurzer Zeit avancierte er, wie Winfried Nerdinger schreibt, zum «bedeutendsten deutschen Wohnungsbauer im 20. Jahrhundert». Allein in Berlin errichtete Taut mehr als 10 000 Wohnungen. Dabei folgte er weniger dem rationalistischen Credo eines Mart Stam oder Ernst May als vielmehr dem Leitbild einer organischen Architektur: Die asymmetrischen Reihen des Siedlungsbaus sollten die fliessenden Bewegungen eines «atmenden Wesens» zum Ausdruck bringen.

Trotz seinem unbestrittenen Einfluss auf die Architektur der zwanziger Jahre geriet Bruno Taut in Vergessenheit. Erst 1960 machte ihn Ulrich Conrads, wenngleich als Vertreter der «phantastischen Architektur», im Westen wieder bekannt, während ihn Kurt Junghanns in der DDR als Vorläufer des sozialistischen Massenwohnungsbaus vereinnahmte. In Ostdeutschland wurde das Erbe Tauts erst nach der «Wende» von 1989 wieder lebendig: Magdeburg besann sich seines einstigen revolutionären Stadtbaurats und rekonstruierte den Farbanstrich seiner zu «grauen Steinkästen» (Taut) verkommenen Häuser. In dem Sammelband, der durch hervorragende Fotos besticht, sind sie in ihrem neu-alten Kleid zu bewundern.


[Bruno Taut. 1880-1938. Architekt zwischen Tradition und Avantgarde. Hrsg. Winfried Nerdinger. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2001. 440 S., Fr 220.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.03.06

01. Februar 2002Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Neuer Regierungssitz

Rafael Moneo baut in Santander

Rafael Moneo baut in Santander

Im Frühjahr nächsten Jahres wird Rafael Moneo in Santander den neuen Sitz der kantabrischen Regionalverwaltung bauen. Der Spanier setzte sich in der Schlussrunde gegen vier prominente Konkurrenten durch - den Amerikaner Peter Eisenman, den Engländer David Chipperfield und die beiden Landsleute Carlos Ferrater und Jerónimo Junquera. Am Ende hatte er sogar ein leichtes Spiel, weil Eisenman seine dekonstruktivistische Splitterarchitektur über das vorgeschriebene Baugelände hinausragen liess. Für Moneo, der zurzeit mit der Erweiterung des Prado beauftragt ist, sprach sich zudem die Mehrheit von 6000 Teilnehmern einer Internetbefragung aus. Dass bei derartigen Abstimmungen die spanischen Stars sozusagen ein Heimspiel haben, wird sicherlich niemanden überraschen. Ob deswegen der raffinierte gläserne Kubus von Chipperfield chancenlos auf dem letzten Platz landete?

Dennoch gibt es an der Wahl Moneos, die der Regierungspräsident Martínez Sieso dieser Tage verkündet hat, nichts zu rütteln. Der Neubau, der das Grundstück des alten Regierungssitzes und einen angrenzenden Parkplatz besetzen soll, wird die urbane Lebensqualität verbessern. Moneo lindert den monumentalen Eindruck des aus einerdoppelschaligen Glasfassade bestehenden Prismas, indem er das Gebäude zur Hafenfront hin auskragen lässt und unter dem so entstandenen Portikus einen öffentlichen Platz schafft.

Nachdem Francisco Javier Sáenz de Oiza vor zwölf Jahren ein postmodernes Auditorium an Santanders pittoresker Bucht gebaut und so den Volkszorn geweckt hatte, scheinen sich nun die Wogen im Hafen von Puertochico geglättet zu haben. Moderne Architektur, zumindest in der moderaten Form Moneos, ist offenbar in Santander mehrheitsfähig geworden. Im mondänen Seebad San Sebastián hatte Moneo vor zwei Jahren sein «Kurhaus»-Auditorium überzeugend vor die Belle-Epoque-Gebäude der Uferpromenade gesetzt. Nun scheint es, als habe ihn das Glück auch in Santander nicht verlassen.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.02.01



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Sitz der kantabrischen Regionalverwaltung

19. Dezember 2001Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Mehr Mut

Eine Tagung zur Baukultur in Köln

Eine Tagung zur Baukultur in Köln

«Statt besserer Städte haben wir allenfalls mittelmässigere geschaffen. Und die Klagen werden jeden Tag stärker. Eine Wendung aus der bleiernen Misere, an der wir leiden, gibt es nicht.» Man könnte meinen, der Philosoph Wolfgang Welsch wolle an Hegel erinnern, der für die Sprache der Philosophie lediglich «das übliche Grau in Grau» reservierte. Und trotzdem - Welsch machte auch Verbesserungsvorschläge, und am Ende des Festvortrags, den er auf der jüngst vom Bundesministerium für Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen durchgeführten Kölner Tagung «Baukultur in Deutschland» hielt, fühlten sich viele aufgerüttelt. Vergessen die missmutigen und pessimistischen Blicke zu Beginn der Veranstaltung. Vergessen auch das artige Kopfnicken zu der vom Berliner Ministerium angeregten «Initiative Architektur und Baukultur», von deren Erfolg kaum jemand überzeugt war.

Nach dem Philosophen kamen die Architekten aufs Podium, und der Düsseldorfer Christoph Ingenhoven gab den Takt vor, an den sich die Tagungsteilnehmer im weiteren Verlauf hielten: «In einem dezentralistischen Land wie der Bundesrepublik Deutschland muss man ein Medium schaffen, in dem man um die Frage des richtigen und sinnvollen Bauens ringt.» Der Hamburger Architekt und Kritiker Gert Kähler, der den vom Ministerium in Auftrag gegebenen «Statusbericht Baukultur in Deutschland» während des Kongresses vorstellte, konnte zwar die Frage nach dem geeigneten Medium auch nicht beantworten, aber immerhin gab er zahlreiche Anregungen, die langfristig zu einer «gebauten Umwelt führen können, die mehr Menschen zufrieden macht». Ganz oben in seinem Empfehlungskatalog standen die Forderungen nach einem interministeriellen «Arbeitskreis Baukultur» und einer «Stiftung Baukultur», die die breite Öffentlichkeit für die Probleme der Architektur sensibilisieren sollen. Neben einem gesetzlich begründeten «Recht auf gut gebaute Umwelt» und einer stärkeren schulischen Einbeziehung der Architektur möchte Kähler nach dem Vorbild des Hippokrates-Eides einen entsprechenden Baukultur-Eid schaffen, der Planer und Architekten zu mehr gesellschaftlicher Verantwortung verpflichtet. Schliesslich schlug er vor, Stadtbaumeister als Gutachter von öffentlichen Planungsprozessen zu wählen, Architekten, Bauwerke und Städte auszuzeichnen sowie einen «Tag der Baukultur» zu veranstalten.

Es war ein umfangreiches und anspruchsvolles Programm, das Kähler auf der Tagung präsentierte. Gab es zu diesem Zeitpunkt noch schwankende Kongressteilnehmer, dann wurden sie vom charismatischen Karl Ganser, dem ehemaligen Leiter der IBA Emscher Park, vollends überzeugt. In einer mitreissenden Rede regte er an, vermehrt qualitätsgerechtes Bauen zu fördern, gelungene Beiträge zur Baukultur öffentlich zu präsentieren, aber auch misslungene («das wird ein dickes Schwarzbuch») bekannt zu machen. Der Schluss war nicht nur ein Appell an die Architekten, es war ein Aufruf an die Bürger: «Wir müssen uns mehr zumuten.»

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2001.12.19

14. November 2001Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Streng architektonische Inszenierung

Das Altamira-Museum von Juan Navarro Baldeweg

Das Altamira-Museum von Juan Navarro Baldeweg

Als der spanische Dichter Rafael Alberti vor den Felsmalereien in der Altamira-Höhle stand, wähnte er sich im «schönsten Heiligtum der gesamten spanischen Kunst. (. . .) Es kam mir vor, als ob die Felsen brüllten. Ich sah wilde und ruhende Bisons, in Rot und Schwarz, in Herden vereint und glänzend durch eintretendes Wasser.» Wie der vom «Schaudern der Jahrtausende» ergriffene Alberti waren auch die Maler der Moderne gebannt von den Hirschen, Pferden und Rindern, die der paläolithische Künstler vor über 14 000 Jahren in der Höhle verewigte. «Niemand von uns ist in der Lage, so zu malen», hatte selbst Picasso ausgerufen.

Da die archaischen Tierdarstellungen zum spanischen Nationalschatz zählen und als Weltkulturerbe unbedingten Schutz verlangen, sind sie seit kurzem dem breiten Publikum nur noch in einer originalgetreuen Reproduktion der Restauratoren Matilde Muzquiz und Pedro Saura zugänglich. Diese befindet sich in der «Neocueva», einer vom spanischen Architekten Juan Navarro Baldeweg nachgebildeten Höhle unweit der ursprünglichen Altamira-Höhle im kantabrischen Santillana del Mar. Für die Besucher hat dies den unschätzbaren Vorteil, dass sie sich für eine Besichtigung nicht mehr dreissig Monate im voraus anmelden müssen. Und dass sie nun die Zeichnungen und Malereien ohne die hinterlassenen Spuren unzähliger Touristen bewundern können.

Neben der «Neocueva» ist aber auch Juan Navarros Museumsneubau eine Augenweide: Die terrassenförmige Konstruktion und die zurückhaltenden Ockertöne der Fassade passen sich der Hügellandschaft an. Der Madrider Architekt hat dieses Gebäude, das neben der Höhlenkopie ein archäologisches Museum, eine Bibliothek, eine Restaurierungswerkstatt, einen Verwaltungstrakt und ein Café umfasst, im Sinne einer «architecture parlante» interpretiert - als eine «geologische Tektonik». Navarro, der auch das «Museo de la Evolución Humana» bei der Atapuerca-Höhle (Burgos) bauen wird, gelang es in Altamira, die Innenarchitektur durch den immateriellen Lichtzauber zum Schweben zu bringen. Die Ausstellungsräume bestechen durch raffiniert gestaltete Oberlichtbänder. Ein visuelles Erlebnis ist die Bibliothek: Sie ist in wohldosiertes natürliches Licht getaucht und gibt durch eine verglaste Trennwand den Blick auf das schwarze Felsgestein der «Neocueva» frei, das an zahllosen Stahlseilen aufgehängt ist und wie ein Bühnenbild wirkt. Dieser Bezug zur Bühne ist durchaus von Navarro beabsichtigt, da er dem Besucher keineswegs weismachen will, er befinde sich in der wirklichen Höhle. Mit einem «Höhlen-Disneyland», wie es ein Kritiker von «El País» befürchtete, hat das neue Gebäude allerdings nichts gemeinsam, eher mit einer Inszenierung, die sich streng architektonischer Mittel bedient.

Die Museumsdirektion wies darauf hin, dass man sich im Einverständnis mit Navarro darauf geeinigt habe, aus dem «international bekannten Juwel der Menschheitskunst» keinen Themenpark zu machen. Dagegen wolle man angrenzende Häuser für Wechselausstellungen nutzen und die Umgebung der Höhle mit Bäumen und Sträuchern bepflanzen, die zur Zeit des paläolithischen Künstlers hier wuchsen. Ein anspruchsvolles Ziel zur Bewahrung der «Sixtinischen Kapelle des Paläolithikums».


[Das Altamira-Museum in Santillana del Mar ist dienstags bis sonntags geöffnet. Vorverkauf: Tel. 0034/902-112211.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2001.11.14



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Altamira-Museum

05. Oktober 2001Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Waben und graue Ziegel

Zumthor-Ausstellung in Köln

Zumthor-Ausstellung in Köln

Als im Zweiten Weltkrieg Bomben auf St. Kolumba fielen, kam es den Kölnern wie ein Wunder vor, dass neben Mauerteilen und einem Turmstumpf die Figur der Madonna am nördlichen Chorpfeiler erhalten blieb. Noch heute sind die Wunden des Krieges sichtbar, doch mitten in die Ruinenlandschaft baute Gottfried Böhm 1950 eine schöne Kapelle. Da die weiterhin sichtbaren Zerstörungen in der Kölner Innenstadt auf Dauer niemanden zufriedenstellten, veranstaltete das in engen Räumen untergebrachte Diözesanmuseum einen Architektenwettbewerb, um auf dem historischen Gelände einen Neubau zu errichten. Mit einem überzeugenden Entwurf konnte sich Peter Zumthor gegenüber seinen Konkurrenten Gigon & Guyer, David Chipperfield, Petry + Partner und Ben van Berkel durchsetzen. Das Ergebnis dieser Arbeit ist zurzeit im Diözesanmuseum zu besichtigen. Hier kann der Besucher Einblick in die jeweiligen Planungsphasen des Architekten nehmen und nachvollziehen, wie es zu dem wabenartigen Mauerwerk kam, das Zumthor um das Ruinenfeld bauen will. Und wie er zu dem überraschenden Schluss gelangte, graue Ziegel zu benutzen. Zumthor versteht das neue Diözesanmuseum, das sich auf den Grundmauern des Bestandes erhebt und die Böhm'sche Kapelle integriert, keineswegs als eine schroffe Gegenüberstellung alter und neuer Formen. Im Gegenteil: «Der neue Baugedanke ist versöhnlich und integrativ.»


[Bis 4. November im Kölner Diözesanmuseum.]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.10.05

07. September 2001Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Triumph der künstlichen Natur

Ein Gespräch mit dem Rotterdamer Landschaftsplaner Adriaan Geuze

Ein Gespräch mit dem Rotterdamer Landschaftsplaner Adriaan Geuze

Unter dem Namen «West 8» stellte Adriaan Geuze, einer der wichtigsten Erneuerer der Landschaftsarchitektur, 1987 ein Team zusammen, das die unterschiedlichsten Aufgaben gelöst hat: vom Masterplan für Borneo-Sporenburg in Amsterdams altem Hafen bis zum Schouwburgplein in Rotterdam. Klaus Englert sprach mit Adriaan Geuze.

Wie kamen Sie zur Landschaftsarchitektur?

Wir machten uns nie Illusionen über Landschaftsarchitektur. Statt dessen gingen wir davon aus, dass in der heutigen Kultur architektonische Entwürfe, Ökologie, Stadtplanung und Industriedesign nicht voneinander zu trennen sind.

Sehen Sie einen Unterschied zwischen traditioneller Landschaftsarchitektur und Ihrer Arbeit?

Dieser Unterschied ist offensichtlich, und er beruht auf verschiedenen geistigen Voraussetzungen. Der Ursprung der heutigen Disziplin geht auf die romantische Landschaftsarchitektur zurück, auf Leute wie Frederick Law Olmsted, der in den Vereinigten Staaten arbeitete. Später, im 20. Jahrhundert, wurde die romantische Ideologie besonders in der deutschen und der skandinavischen Landschaftsarchitektur durch eine anthroposophische Komponente ergänzt. Der Leitgedanke war: Die Stadt ist schlecht und die Natur gut. In den zwanziger Jahren setzte man auf geistige und sportliche Rekreation in Grünanlagen und Parks. In den sechziger Jahren, in der Zeit der Hippies und des «Club of Rome», wurde über die Ausbeutung des Planeten Erde diskutiert. Dies führte dazu, dass die Natur als etwas grundsätzlich Gutes betrachtet wurde.

Wie ist diese Sicht mit der holländischen Tradition der Landgewinnung zu vereinbaren?

Die Holländer hatten stets auf die Natur eingewirkt. Aus dieser Tradition heraus habe ich einen starken Widerwillen gegen die romantische Landschaftsarchitektur entwickelt. Meine Professoren erzählten mir, dass die Menschen vor allem Opfer seien - Opfer der Stadt, des Verkehrs und des Kapitalismus - und dass die Landschaftsarchitektur einen Ausweg aufzeigen müsse. Ich meine jedoch, dass die Menschen keineswegs Opfer, sondern gut informierte und schöpferische Wesen sind - auf der Höhe der technologischen Entwicklung. Das bedeutet nicht, dass sich die Landschaftsarchitektur gegenüber ökologischen Anliegen gleichgültig verhalten sollte.

Eine neue Landschaftsarchitektur
Welche persönlichen Erfahrungen führten zu Ihrem Verständnis von Landschaftsarchitektur?

Zu meiner Studienzeit war die akademische Lehre vergiftet. Ausschlaggebend war nicht allein das romantische Reservoir, auch nicht der deutsche Naturkult der zwanziger oder die Hippie-Bewegung der sechziger Jahre, sondern die Verbindung aller drei Strömungen. Leider wurden diese Dogmen niemals offen artikuliert, weswegen es schwierig war, sie zu bekämpfen. Für mich kam eine weitere Erfahrung hinzu: Vor zwanzig Jahren, zur Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs, entstand ein riesiges Arbeitslosenheer, und zum ersten Mal wurde der politische Wunsch geäussert, eine Million Häuser innerhalb von zehn Jahren zu bauen. Es stellte sich schnell heraus, dass der Wildwuchs der Städte schwindelerregende Ausmasse annahm. Anstatt Ballungszentren und Uferlinien zu nutzen, brachte die Stadtplanung Krebsgeschwüre ohne funktionierende Infrastrukturen hervor. Also fragte ich mich: «Warum gestalten die Landschaftsarchitekten Parks, statt sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen?»

In welche Richtung sollte sich denn die Landschaftsarchitektur weiterentwickeln?

Seit den sechziger Jahren gibt es interessante Untersuchungen über unser Verhältnis zu Parks und zur natürlichen Umgebung. Sie haben ergeben, dass viele Menschen eine unmittelbare Konfrontation mit der Natur, die sie für gefährlich und unordentlich halten, möglichst vermeiden. Das Problem in meinem Land besteht darin, dass wir zu viele Grünanlagen haben und dass die Möglichkeit ausreichender Pflege kaum besteht. Wir brauchen mehr geschlossene Gartenanlagen, die zu Galerien, Museen oder Kirchen gehören. Deren Besitz und Unterhalt ist zwar privat, aber ihre Nutzung mehr oder weniger öffentlich.

Sehen Sie Unterschiede zur Landschaftsarchitektur in Deutschland oder in der Schweiz?

Es bestehen vollkommen verschiedene Voraussetzungen, weil die vor zwanzig Jahren begonnene Suburbanisierung die gesamten Niederlande nachhaltig ruiniert hat. Heute sind wir mit den Auswirkungen dieser Entwicklung konfrontiert.

Und wie begegnet man dieser Entwicklung auf der politischen Entscheidungsebene?

Das grundsätzliche Problem in den Niederlanden besteht darin, dass die einzelnen Gemeinden zu viel Macht besitzen und ihr eigenes Programm durchsetzen wollen. Dieses deregulative System bedingt, dass jede Stadt eine eigene Autobahnausfahrt besitzt, ein Business-Center und einen McDonald's. Das ist für ein kleines Land wie die Niederlande katastrophal. Deshalb machten wir den Vorschlag, die Regierungen auf regionaler Ebene zu stärken. Dies wird Auswirkungen auf die Randstad Holland haben, wo fünf Millionen Menschen, verteilt auf achtzig bis neunzig Gemeinden, leben.

Ist demnach das System Randstad mit seinen urbanen Wucherungen gescheitert?

Die holländische Stadtplanung hat viele Fehler gemacht. Vor dreissig Jahren wurden im sozialen Wohnungsbau Menschen in Hochhäuser eingepfercht, und später, als man die Probleme erkannte, wurden die Häuser in die Luft gesprengt. Heute sind die Fehler nicht minder gravierend. Man meint das Ei des Kolumbus in der angeblichen Vitalität suburbaner Siedlungen gefunden zu haben. Doch diese Suburbs haben weder eine städtische Dichte noch eine ländliche Atmosphäre, sie sind ein unsinniges Zwischending.

Modell Amsterdamer Hafen
Bedeutet das städtebauliche Konzept für Borneo-Sporenburg im Amsterdamer Hafen einen Ausweg aus dem Dilemma der Suburbanisierung?

Auf Borneo-Sporenburg wollten wir zeigen, dass Modelle mit einer höheren Dichte besser funktionieren. Wir haben hier eine Dichte von hundert Häusern pro Hektare und gleichzeitig eine niedrige Bebauungshöhe geschaffen, weshalb das Projekt als Alternative zu den bestehenden Vorstädten und als Testfall für neue Typologien gesehen werden kann. Es gilt aber sehr genau zu untersuchen, wie sich die sozialen Strukturen dem architektonischen Umfeld anpassen. Für Borneo-Sporenburg erstellten wir einen Plan, der eine grosse architektonische Vielfalt zuliess, was für die Niederlande absolut einzigartig ist. Während Typologie und Baumaterialien vorgeschrieben wurden, gab es keine Einschränkung der architektonischen Freiheit - so wie beim Amsterdamer Grachtenhaus, das zwar in der Bauweise kaum Unterschiede aufweist, aber doch einen grossen Spielraum für individuelle Gestaltung freilässt. Ein Glücksfall kam hinzu: Die Marine gestattete uns, die sehr regulierten Siedlungseinheiten durch die einer alten Amsterdamer Tradition entsprechende Nutzung der Quais zu beleben: Leute kommen mit ihren Hausbooten und ihren verrückten Ideen und bringen ein anarchistisches und künstlerisches Element ins neue Quartier.

Den Architekten in den Niederlanden scheint es gut zu gehen.

Man könnte meinen, dass wir uns in den Niederlanden im goldenen Zeitalter der Architektur befinden, weil viele junge Architekten radikal Neues bauen. Dabei wird ein wesentlicher Aspekt übersehen: Durch mangelhafte Investitionen und durch fehlende handwerkliche Genauigkeit entsteht alles andere als dauerhafte Architektur. Die holländische Bauindustrie basiert lediglich auf der Massenproduktion von Paneelen, Mauern und Materialien. Deswegen sollte man sich keinen Illusionen hingeben, da die scheinbar so grossartigen Neubauten in hundert Jahren nicht mehr existieren werden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.09.07



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04. August 2001Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Eine Schlange am Guadalquivir

Rem Koolhaas' Kongressgebäude für die Kalifenstadt

Rem Koolhaas' Kongressgebäude für die Kalifenstadt

Lange Zeit zehrte das verschlafene Córdoba vom Ruhm seiner grossen Vergangenheit. Nun wagt die Stadt am Guadalquivir den Sprung ins 21. Jahrhundert. Neben der Neugestaltung der Uferanlagen wird zurzeit das Projekt für ein Centro de Congresos de Córdoba (CCC) genanntes Tagungszentrum diskutiert, das nach den Plänen von Rem Koolhaas in einer Flussschleife nahe der alten Römerbrücke realisiert werden soll.

Die Vergangenheit galt bisher als Córdobas Attraktion. Die von den Karthagern gegründete andalusische Stadt bauten die Römer zur prosperierenden Kolonie aus, von der heute noch die Brücke über den Guadalquivir zeugt. Seine Glanzzeit erlebte Córdoba, nachdem die maurischen Omaijaden im 8. Jahrhundert nach Spanien übergesetzt waren, die Stadt zum Sitz des Kalifats gemacht und einzigartige Werke in Architektur, Kunsthandwerk, Wissenschaft und Literatur hervorgebracht hatten. Noch heute mag die Altstadt nostalgischen Touristen wie eine Schatztruhe vorkommen. Doch die Politiker haben erkannt, dass Córdoba nicht auf Dauer von der ruhmreichen Tradition leben kann. Als César Portela vor zwei Jahren nördlich der Altstadt den neuen Busbahnhof baute, gelang es ihm, römische Überreste in moderne Bauformen zu integrieren.


Zeitgemässes Image

Der Erfolg des mit dem spanischen Architekturpreis ausgezeichneten Busbahnhofs mag die Baubehörde dazu bewogen haben, ein Bild der zukünftigen Stadt zu entwerfen. So wurde im Januar ein internationaler Wettbewerb für das Centro de Congresos de Córdoba (CCC) ausgeschrieben, der wegweisende und hochkarätige Architektur garantieren sollte. Ähnlich wie sich das mittelalterlich geprägte Santiago de Compostela mit Bauten von Alvaro Siza und mit Peter Eisenmans «Ciudad de la Cultura de Galicia» ein zeitgemässes Image gibt (NZZ 2. 2. 01), setzt auch Córdoba ganz auf die architektonische Avantgarde. Neben den andalusischen Stars Antonio Cruz und Antonio Ortiz wurden Rafael Moneo, Rem Koolhaas, Zaha Hadid und Toyo Ito um Entwürfe gebeten. Der Wettbewerb sah vor, am Südufer des Guadalquivir, dem markante städtebauliche Akzente fehlen, ein Kongresszentrum als Gegengewicht zur Grossen Moschee und zum Komplex rund um die römische Brücke zu schaffen. Das neue Wahrzeichen, das laut Ausschreibungstext «zum Bindeglied zwischen historischer Stadt und der künftigen Erweiterung Córdobas werden soll», entsteht auf einer Landzunge, die vor hundert Jahren noch ein Überschwemmungsgebiet mit Gärten war, in die sich die begüterten Bürger zur Sommerfrische zurückzogen.

Das CCC ist allerdings nur Teil eines übergreifenden Plans, der die Attraktivität der gesamten Uferzone verbessern soll. Der Architekt Juan Cuenca Montilla bepflanzt die unterhalb des Alcázar verlaufende Promenade mit Zypressen und Palmen, legt die alte Stadtmauer frei und stellt die arabische Wasserleitung wieder her, die einst zwischen Festung und Moschee verlief. Ausserdem transformiert er die dem zukünftigen Kongresszentrum vorgelagerte Zone in den Miraflores-Park, der über den Guadalquivir hinweg den Blick auf Altstadt und Sierra Morena freigibt. Zudem verwandelt Juan Navarro Baldeweg, Erbauer des kürzlich eröffneten Altamira-Museums in Santillana del Mar, das gegenüberliegende Ufer in ein Naherholungsgebiet. In diesem Bereich südlich des Altstadtrings restauriert er eine alte Mühle, die der Öffentlichkeit als Museum zugänglich gemacht wird. Zudem öffnet er die Stadt zum Fluss, indem er eine durch Pflanzen und Wasserläufe geprägte Parklandschaft anlegt.

Diese landschaftsgestalterischen Eingriffe sind der Auftakt zum projektierten CCC. Bereits vor dem Wettbewerbsentscheid wurde von einem «neuen architektonischen Wahrzeichen» gesprochen. Seit kurzem weiss man nun, dass Koolhaas den hochkarätigen Wettbewerb für sich entscheiden konnte, und dies obwohl der holländische Pritzkerpreisträger den vorgegebenen Standort ignoriert und einen 360 Meter langen Keil zwischen die Uferböschungen der Guadalquivir-Schleife zwängt. Die Jury, der unter anderen der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago angehörte, zeigte sich beeindruckt von diesem Vorschlag, der Platz für den angrenzenden Miraflores-Park und eine geplante Brücke bietet, welche die römische Brücke entlasten soll. Erstaunlich ist dabei, dass Koolhaas in seine schlangenartige «Linear City» das erforderliche Programm von Besucherzentrum, Konferenzsaal, Auditorium, Shopping-Center, Ausstellungsräumen und Hotel unterbringt.

Trotz der aussergewöhnlich langgestreckten Form des Kongresszentrums nimmt Koolhaas Konstruktionsprinzipien wieder auf, die er gegenwärtig auch in der niederländischen Botschaft in Berlin anwendet. Sie radikalisieren Le Corbusiers Leitgedanken einer promenade architecturale: Das von Pilotis getragene Gebäude wird durch Rampen gegliedert, die die Besucherströme vom Eingangsbereich bis hinauf zur Dachterrasse führen und so für eine unaufhörlich fliessende Bewegung sorgen. Derart werden die horizontalen Schichtungen aufgelöst, und es entstehen unregelmässige Geschossebenen, die so eingeschnitten und verformt sind, dass sie mit den darunter oder darüber liegenden Ebenen ein fortlaufendes Band bilden. Dieses Gebilde nennt Koolhaas ein «programmatisches Sandwich». Erst seine Faltungen und das Zusammenziehen der Raumsegmente lassen die verschiedenen Funktionsbereiche entstehen. Lediglich die Rückseite des Gebäudes scheint diesen Bewegungsfluss aufzuhalten. Hier lässt Koolhaas keilförmige Kanzeln auskragen, in denen Konferenzsaal und Auditorium untergebracht sind.


Urbanes Ensemble

Für die schwierige städtebauliche Situation an der Guadalquivir-Schleife hat Koolhaas die beste Lösung ausgearbeitet - ein Kongresszentrum, das, wie er schreibt, «das Miraflores-Viertel, den Fluss und die Altstadt zu einem kohärenten urbanen Ensemble vereinigt». Cruz & Ortiz hingegen, die demnächst das Amsterdamer Rijksmuseum umgestalten werden, placierten das extrem flache und ausgedehnte Prisma ihres Kongresszentrums vorschriftsmässig an die Uferzone und verhinderten damit eine sinnvolle Eingliederung des Parks und eine direkte Blickachse zur Altstadt. Moneo, dessen «Kursaal» am Strand von San Sebastián von der spanischen Architekturkritik zum herausragendsten Bauwerk der letzten Jahre geadelt wurde, ignorierte jedes einheitliche Gestaltungsprinzip, indem er neben einem L-Block ein Hotel mit Patios wie einen durchlöcherten Teppich anlegte und für den Kongresssaal «eine Ansammlung segmentierter Kuppeln» vorsah - als Reverenz an Córdobas arabische Tradition.

Der Japaner Toyo Ito fand eine ansprechende Lösung: Die Grundfläche seines Modells entspricht fast der gesamten Ausdehnung des Kongresssaals, dessen Halbdunkel und labyrinthische Fluchten an die Grosse Moschee erinnern sollen. Eingeschnitten in dieses Gefüge sind die ondulierenden Volumina des Auditoriums, des Besucherzentrums und des hoch emporragenden Hotelturms. Niemand war schliesslich überrascht, dass die in London lebende Irakerin Zaha Hadid, die kürzlich einen städtebaulichen Auftrag für Barcelona erhielt, die avantgardistische Formensprache am deutlichsten ausreizte. Zwar folgte sie den Standortvorgaben, doch den örtlichen Gegebenheiten ist ihr Vorschlag am wenigsten angepasst. Ihr Modell mutet an wie ein Vogel mit weit ausgebreiteten Flügeln. Wie nicht anders zu erwarten, blieb Hadid mit diesem aus der Reihe fallenden Entwurf ihrem konstruktivistischen Dynamismus treu. - Der Entscheid für das Projekt von Koolhaas zeigt, dass Córdoba nach einigen eher zaghaften Versuchen in moderner Architektur mit einem neuen Wahrzeichen den Weg in die Zukunft beschreiten will.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2001.08.04

26. März 2001Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Architektur des Wegnehmens

Rem Koolhaas und das Museum Ludwig

Rem Koolhaas und das Museum Ludwig

«Das neue Museum soll locken und konfrontieren.» So jedenfalls stellt sich Rem Koolhaas das Kölner Museum Ludwig im November 2001 vor, wenn die auf sieben Millionen Mark veranschlagten Umbauarbeiten abgeschlossen sind. Während das Architekturbüro Peter Busmann und Godfrid Haberer den Ausstellungsbereich in den Zustand von 1986 versetzt, realisiert Koolhaas sein aussergewöhnliches Konzept für das Foyer. Anders als in Las Vegas, wo der Rotterdamer Architekt derzeit eine Ausstellungshalle für das «Venetian Casino» baut, nimmt er in Köln deutlich Abstand von amerikanischen Museumsvorstellungen: «Die Museen in den USA sind zusehends zu einem Teil der Entertainment-Industrie geworden, zu einem Amalgam von Shopping, Gambling und Kultur», verkündete Koolhaas jüngst auf einer Pressekonferenz in Köln. Deswegen wolle er das Museum Ludwig zu «etwas Seriöserem machen». Zu einem Ausstellungsort, der das Kunsterlebnis unmittelbar ermögliche. Sein Konzept nennt er eine «Architektur des Wegnehmens». Dort, wo derzeit noch Kasse, Garderobe und Verkaufsstand den Raum verstellen, soll die Kunst einkehren. Den Museumsbesucher wird dann ein offenes und lichtes Foyer mit Kunst erwarten, die - vielleicht - lockt und konfrontiert.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2001.03.26



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Museum Ludwig - Umbau

02. Februar 2001Klaus Englert
Neue Zürcher Zeitung

Die Stadt der Pilger und der Zukunft

Santiago de Compostela setzt auf neue Architektur

Santiago de Compostela setzt auf neue Architektur

Mit dem Centro Gallego de Arte Contemporáneo von Alvaro Siza wagte Santiago de Compostela 1994 einen ersten Schritt in die architektonische Gegenwart. Nun will die Stadt mit der von Peter Eisenman entworfenen «Ciudad de la Cultura de Galicia» den baukünstlerischen Monumenten von Bilbao und San Sebastián antworten.

Bis vor wenigen Jahren galt Santiago de Compostela, die Stadt des heiligen Jakob und der Pilgerströme, nicht eben als Hort der Moderne. So musste der portugiesische Architekt Alvaro Siza Vieira, als er 1988 den Auftrag zum 1994 vollendeten Centro Gallego de Arte Contemporáneo erhielt, seinen Museumsneubau völlig in den urbanistischen Kontext des am Rand der historischen Altstadt gelegenen Klosters San Domingos de Bonaval integrieren, damit die Touristen, die ihren Blick entlang der Stadtmauern und über die historischen Monumente schweifen lassen, nicht von einem avantgardistischen Bauwerk verschreckt werden. Mittlerweile hat sich Santiago an sein Museum gewöhnt; und Siza durfte sogar den angrenzenden Garten des Klosters umgestalten.


Ein baukünstlerischer Donnerschlag

Als in den späten neunziger Jahren Santiagos Vorbereitungen zur Europäischen Kulturstadt 2000 liefen, dämmerte es den Ratsherren, dass das immergleiche Touristenprogramm von Kathedralen-, Kirchen- und Klosterbesichtigungen durch zeitgenössische Bauten noch attraktiver gemacht werden könnte. Deshalb machte man sich nach Sizas Centro Gallego an den Bau der vor einem Jahr eröffneten Journalismus-Fakultät, eines Lichtblicks in einem sonst eher trostlosen Universitätscampus. Im vergangenen Jahr ertönte dann ein architektonischer Donnerschlag, der Santiago ins Scheinwerferlicht der spanischen Medien versetzte: die Präsentation von Peter Eisenmans Projekt einer «Ciudad de la Cultura de Galicia», einer «Kulturstadt Galicien», die das bisher eher verschlafene Santiago ins dritte Jahrtausend befördern sollte. Nachdem Frank Gehry in der Industriemetropole Bilbao das Guggenheim-Museum wie ein schimmerndes Gletschermassiv aus den Fluten der Ría hatte aufsteigen lassen und Rafael Moneo im bürgerlichen San Sebastián das «Kursaal»-Auditorium wie einen Felsen in die Meeresbrandung gestellt hatte, sehnte sich auch die galicische Hauptstadt, die bisher jeden Stein als Bestandteil eines riesigen Museums ehrte, nach einem zukunftsträchtigen Symbol. Da ihr aber die Zukunft doch nicht ganz geheuer war, entschloss sie sich, die «Kulturstadt Galicien» etwa 15 Kilometer südlich von Santiago auf dem Monte Gaias zu errichten.

Dennoch will man heute vom Versteckspiel früherer Jahre nichts mehr wissen. Zu dem prätentiösen Wettbewerb hatte man ausser Eisenman eine Handvoll renommierter Architekten geladen: die Spanier Manuel Gallego, César Portela, Ricardo Bofill und Juan Navarro Baldeweg, das Zürcher Büro Gigon Guyer, den Amerikaner Steven Holl, das Office for Metropolitan Architecture von Rem Koolhaas aus Rotterdam, den in Berlin lebenden Daniel Libeskind sowie Jean Nouvel und Dominique Perrault aus Paris. Sie wurden gebeten, Pläne für ein Auditorium, eine Bibliothek, ein Zeitungsarchiv, ein Medienzentrum, eine Oper und ein Museum für Geschichte zu entwerfen. Untergebracht werden sollten diese Bauten in einem architektonischen Ensemble, das die Hügelformation des Monte Gaias gestalterisch einbezieht.

Auf diese Vorgaben haben die Architekten sehr unterschiedlich reagiert. Annette Gigon und Mike Guyer setzten auf die Bergspitze vier steinerne Kuben, die einen Platz begrenzen. Offenbar stiessen sich die Juroren an der losen Gruppierung der durch unterschiedliche Patios ausgezeichneten Solitäre auf dem Plateau. Daniel Libeskind, der am Rande der Autobahn einen riesigen, durch Spalten aufgerissenen Block entwarf, der neben den programmatischen Bereichen auch Gärten einschliesst, setzte auf sein vom Berliner Jüdischen Museum her bekanntes dekonstruktivistisches Vokabular. Für mehr Überraschung sorgte Steven Holl, der eine «Verzweigung» prismatischer Fragmente vorstellte. Durch das Auseinanderdriften der Baukörper auf dem Monte Gaias, dem «Berg der Verzweigung», setzte sich Holl auf originelle Weise mit dem Ort auseinander. Dominique Perrault hingegen wollte ein riesiges gläsernes Prisma in den Berg einführen, dessen raffiniert angeordnete Spiegel Licht in die entferntesten Winkel der künstlichen Kaverne leiten sollten.


Eisenmans Entwurf

Peter Eisenman kommt Perraults experimentellem Ansatz nahe, wenngleich die Unterschiede unübersehbar sind. So möchte der New Yorker die gesamte Hügelformation nutzen, um die einzelnen Gebäudeteile in die Erde einzugraben. Dabei versenkt er allerdings den Gebäudekomplex nicht unter die Erdoberfläche, sondern passt ihn dem Verlauf der Landschaft an. Sein Konzept hat Eisenman als Projektbeschreibung publiziert, die mit einem vorangestellten Baudrillard-Zitat Eisenmans Vorliebe für die französische Philosophie manifestiert. Im Text selbst kommt einmal mehr seine Auseinandersetzung mit Jacques Derrida und Gilles Deleuze zum Ausdruck. Grundlegend ist Eisenmans Wunsch, die Architektur vom cartesianischen Raum abzulösen, sie also nicht mehr als Umgrenzung des Raumes oder als eine Reihe von Rasterpunkten aufzufassen. Bereits im Frankfurter «Rebstockpark»-Projekt versuchte er die Architektur vom dominierenden Raumbezug zu befreien und als «Objekt-Ereignis» zu inszenieren. Durch das konstruktive Prinzip der Falte wurde ein zeitlicher Veränderungsfaktor eingeführt, der sich als kontinuierliche Variation der Formen manifestiert.

Dieses Interesse für zeitliche Modulationen zeigt auch der Entwurf für die «Kulturstadt Galicien». Der Ausgangspunkt bildet hier die Überlagerung räumlicher und zeitlicher Schichten, die Eisenman mit dem Aufbau des Unbewussten vergleicht. Der computergenerierte Grundriss der Kulturstadt soll wie ein Palimpsest lesbar sein. Als «Fundament» dient ihm der Grundriss von Santiagos Altstadt, auf den er die neue urbanistische Struktur und abschliessend die Oberfläche der geriffelten Jakobsmuschel projiziert. Man sieht, auch hier bemüht der Theoretiker Eisenman den Begriff der «Falte», desgleichen den Gegensatz des «Geriffelten» und des «Glatten», den er von Deleuze entlehnt. Dieser ganze theoretische Apparat soll auch diesmal das cartesianische Raummodell, das Denken von Figur und Grund, ausser Kraft setzen und so eine neue Architektur ermöglichen: Laut Eisenman besteht das Projekt nicht aus unterscheidbaren Gebäuden, «denn die Bauwerke des Zentrums sind in den Grund eingeschnitten; und demnach verwandeln sich beide, Bauwerke und Landschaft, zu Figuren».


Metaphorischer Überschwang

Doch kann, was derart wortmächtig daherkommt, auch als gebaute Architektur überzeugen? Die Jurymitglieder jedenfalls waren vom Modell begeistert, das sich wie eine bruchlose Erweiterung der natürlichen Umgebung ausnimmt: als eine wellenförmige, künstliche Landschaft, in der die einzelnen Gebäude mit ihren verschiedenen Funktionen kaum erkennbar sind. Dass diese Verwandlung des Monte Gaias schwerlich mit traditionellen architektonischen Kriterien zu bewerten ist - dessen ist sich beispielsweise Fernando Távora, der Grandseigneur der portugiesischen Architektur, bewusst, wenn er das Ensemble als ein Spiel zwischen künstlichen und natürlichen Gestalten versteht. Im Übrigen waren von den befragten Juroren nur Allgemeinplätze zu vernehmen. Angel Sicart, Generaldirektor der galicischen Denkmalbehörde, wiederholte unablässig die einzigartige Verbindung zwischen Tradition und Zukunft, während der Kritiker Luís Fernández-Galiano die Überzeugung vertrat, nun würden wir endlich Zeuge von Eisenmans krönendem Meisterwerk, seinem «Zauberberg».

Von derlei metaphorischem Überschwang distanzierte sich Wilfried Wang, der als einziges Jurymitglied gegen Eisenman votierte. Im Gespräch bewertete es Wang denn auch als einen Skandal, dass sein Votum ignoriert wurde und die Pressemitteilung der Jury von einem «einstimmigen Urteil» sprach. Seine Kritik zielt auf ein massstabsloses und überteuertes Projekt, dessen Hülle zwar prima vista originell anmutet, aber «eine Raumaufteilung aufweist, die ins 19. Jahrhundert gehört». Doch die spanischen Juroren waren offenbar der Überzeugung, Santiago brauche den amerikanischen Stararchitekten, um als galicische Kulturmetropole für das neue Jahrtausend gewappnet zu sein. Den Nutzen wird, nach Meinung Wangs, vor allem der einstige Franco-Minister und heutige Präsident der galicischen Regierung, Manuel Fraga Iribarne, haben, der sich durch das Nationalmonument verewigen will. - Auf dem Monte Gaias ist Santiago de Compostela nun unübersehbar in der Zukunft gelandet. Der Wettstreit mit den Stadtsymbolen von Bilbao und San Sebastián, dem Guggenheim-Museum und dem «Kursaal», ist zwar aufgenommen. Aber es bleibt abzuwarten, ob nach der anfänglichen Euphorie nicht doch die Ernüchterung folgt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.02.02



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'Ciudad de la Cultura de Galicia‘

Profil

Promotion in Germanistik und Philosophie an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf

Lehrtätigkeit

Lehraufträge an der Universität Essen, der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf und der Kunstakademie Düsseldorf

Publikationen

Jacques Derrida, Paderborn (UTB) 2009
New Museums in Spain, Stuttgart (Edition Axel Menges) 2010
Barcelona, Berlin (DOM Publishers), 2018

Veranstaltungen

Instituto Cervantes München, 2012
Instituto Cervantes Frankfurt, 2012
Architektenkammer NRW, 2012
„Smart Cities“, Fraport-Tagung Frankfurt, 2018

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