Übersicht

Texte

04. Oktober 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Diplomatische Zurückhaltung

Ein eckiger Tanz auf dem internationalen Parkett: Der Neubau der Deutschen Botschaft in Wien versucht, die Balance zwischen Hochsicherheit und Offenheit zu halten. Das gelingt ihm nur teilweise.

Ein eckiger Tanz auf dem internationalen Parkett: Der Neubau der Deutschen Botschaft in Wien versucht, die Balance zwischen Hochsicherheit und Offenheit zu halten. Das gelingt ihm nur teilweise.

Das Wiener Botschaftsviertel ist ein Ort der nervösen Nachbarschaften. Hier, wo Parzellengrenzen Nationengrenzen darstellen, dominieren Zäune, Mauern, Kameras, Wachposten und Absperrungen den Zwischenraum. Mittendrin, mit einem prachtvollen Park gesegnet, die deutsche Botschaft, in angespannter Lage zwischen den Vertretungen Chinas und Russlands, dessen diplomatisches Verhältnis zu Deutschland momentan auf einem Tiefpunkt angelangt ist.

Mitten in diesem Spannungsfeld: eine Anomalie. Der hohe Metallzaun um das deutsche Territorium macht einen schwungvollen Ausreißer, weitet den Gehweg in Form einer tropfenförmigen Beule in den Garten hinein. Die freche Einladung zur Grenzüberschreitung, konzipiert vom Künstler Stefan Sous, ist die offizielle Kunst am Bau für den Neubau der Deutschen Botschaft. 2016 hatten die Leipziger Architekten Ansgar und Benedikt Schulz den Wettbewerb gewonnen, im April zogen die Mitarbeiter ein, Ende Oktober folgt die offizielle Eröffnung. Es ist das dritte Botschaftsgebäude an diesem Ort.

Die erste Vertretung errichtete das deutsche Kaiserreich 1877 im Renaissancestil, nach der Zerstörung folgte 1962–64 ein Neubau nach dem Entwurf von Rolf Gutbrod. Ein hervorragendes Beispiel der moderaten Moderne, das mit betonter Horizontalen und in schattigem Grau und Grün hinter den Bäumen zurücktrat. Es war die Zeit, als die junge Bonner Republik sich mit neuen Botschaftsgebäuden wie jenem von Hans Scharoun in Brasília als weltoffen und bescheiden präsentierte, ein Gegenmittel zum noch frischen Albert-Speer-Trauma der Monumentalität.

85.000 Reisepässe

Ab den 1990er-Jahren wurde es für die Beschäftigten jedoch enger, da die ständige Vertretung Deutschlands bei der OSZE an derselben Adresse Platz finden musste. Die Residenz des Botschafters wurde nach Hietzing ausgegliedert. 2014 wurde das sanierungsbedürftige Gebäude ganz geräumt, eine Studie kam zum Entschluss: Abriss und Neubau.

Man habe sich damals die Entscheidung für den Abriss wahrlich nicht leicht gemacht, sagt Thomas Hirschle vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), das als Bauherr fungiert. Neben dem zu hohen Sanierungsaufwand gaben die funktionalen Bedürfnisse den Ausschlag. 380.000 deutsche Staatsbürger leben in Österreich, davon 85.000 in Wien. Sie alle brauchen irgendwann einen neuen Pass. Die Wiener Botschaft ist nach jener in der Schweiz die zweitgrößte Pass-Anlaufstelle der Welt für Auslandsdeutsche. Veranstaltungen, Kulturarbeit und Empfänge brauchen repräsentativen Rahmen, vor allem wollte man Kanzlei, Residenz und Wohnbereich wieder an einer Adresse vereinen.

Der Entwurf von Schulz und Schulz, der die viergeschoßige Kanzlei mit den Büros und der Pass- und Visastelle über den zweigeschoßigen Trakt der Empfangsräume schichtet und mit dem fünfgeschoßigen Bauteil für die Residenz an der Ecke zur Reisnerstraße einrahmt, ist eine sinnvolle Umsetzung dieser Wünsche. Dabei blieb der Garten weitgehend unangetastet. „Der Garten war wirklich ein Geschenk“, sagt Benedikt Schulz. „Wir mussten ihn nur noch ein bisschen grüner machen.“

Zudem dient der Park als Filter zum öffentlichen Raum und übernimmt die zunehmend wichtige Rolle des Sicherheitsabstands. „Die internationalen Beziehungen sind schwieriger geworden“, sagt Botschafter Vito Cecere. „Vieles von dem, was heute passiert, entspricht nicht unseren Vorstellungen eines guten Miteinanders.“ Dass er damit vermutlich nicht nur den russischen Nachbarn meint, darf man zwischen den diplomatischen Zeilen lesen. „Umso wichtiger ist es, eine Dialogplattform bereitzustellen.“

Diese einladende Geste der Offenheit sei hier naheliegenderweise eine eher symbolische, betont Benedikt Schulz. „Die Sicherheit soll man gar nicht wahrnehmen.“ Die Sicherheitsanforderungen für Terrorabwehr und Geheimschutz innerhalb des Gebäudes sind hoch, die Personenströme müssen streng voneinander getrennt sein. Der Geheimschutz, sagt Ansgar Schulz, galt auch für die Architekten. „Wir durften bei der Planung auch nicht alles über das Gebäude wissen.“

Um den Widerspruch zwischen Offenheit und Terrorabwehr unter einen Hut zu bekommen, ist die Idee, die Baumasse mit einer horizontalen Fuge zweizuteilen und Luft hereinzulassen, nicht die schlechteste, auch wenn die Fassade aus Kärntner Marmor (eine Hommage an Gastgeberland und Nachhaltigkeit), die auch die Untersicht der auskragenden Bauteile bedeckt, dem Neubau eine gewisse lähmende Schwere verleiht. So ganz lässt sich der defensive Charakter nicht aus der Welt bekommen – eine Terrasse ist hier immer auch ein potenzielles Schussfeld.

Feststiege und Fluchtwege

Dafür empfängt die hohe Eingangshalle die Besucher mit ausgebreiteten Armen, das Atrium erlaubt den Blick in die unzugänglichen Obergeschoße und lässt zumindest die Existenz von inneren Botschaftsvorgängen erahnen. Den weniger sicherheitsrelevanten Weg in den ersten Stock eröffnet eine breite und recht steile Feststiege, die an einer leeren weißen Wand endet. Gäste mit Lackschuh und Robe müssen hier eine scharfe 180-Grad-Drehung hinlegen, wenn sie in der Beletage dem empfangenden Botschafter die Hand schütteln wollen. Die Atmosphäre erinnert eher an einen funktionalen Fluchtweg in einem Flughafenterminal als an den Wiener Kongress.

Die Repräsentationsräume, die sich zu Terrasse und Garten orientieren und an die Botschafterresidenz anschließen, zeugen von einer teils gelungenen Annäherung an Eleganz. Empfang, Bibliothek, Speisesaal. Am Boden leichte Variationen des Natursteins in Grau und Weiß, auch ein Schachbrettmuster taucht auf. Dezente Vorhänge, diskrete Holztäfelung. So ganz ließ sich die Aura bundesdeutscher Bürokratie aber nicht abschütteln. Immerhin: Entfremdete Auslandsdeutsche dürfen hier mit Assoziationen von Länderfinanzausgleichen, Sonderausschüssen und Anträge-bitte-per-Fax ihr Heimatgefühl auftanken.

Mit einer Ausnahme: Die weiße Wendeltreppe von der Terrasse in den Garten, inspiriert von den Besuchen der Architekten in Brasília, erlaubt sich eine martiniglashafte Leichtigkeit, die der übrige Bau nicht leisten darf, und erinnert an sorglosere Zeiten auf internationalem Parkett. Vielleicht kehren sie eines Tages zurück.

Der Standard, Sa., 2025.10.04

01. Oktober 2025Wojciech Czaja
db

Erweiterung einer Firmenzentrale in Ernstbrunn (A)

Die Windkraft Simonsfeld AG zählt zu den größten Windstromproduzenten Österreichs – und hat kürzlich ihren neuen Erweiterungsbau von juri troy architects bezogen. Der Holz-Lehm-Hybridbau überzeugt durch Atmosphäre, Innenraumklima und liebevoll komponierte Details.

Die Windkraft Simonsfeld AG zählt zu den größten Windstromproduzenten Österreichs – und hat kürzlich ihren neuen Erweiterungsbau von juri troy architects bezogen. Der Holz-Lehm-Hybridbau überzeugt durch Atmosphäre, Innenraumklima und liebevoll komponierte Details.

Es hilft nichts. Kaum hat man das Foyer betreten, schaut man zunächst einmal weder auf den eleganten Empfangstresen noch auf die schicken Lounge Chairs vor dem Fenster und schon gar nicht auf die wohlproportionierte Holzkonstruktion, die den gesamten Raum in einer stoischen Ruhe säumt – sondern muss unweigerlich zur Stampflehmwand hinlaufen, Hand ausstrecken, riechen, streicheln, herumrubbeln. »Und beinahe«, erzählt Architekt Juri Troy, »hätten wir die Lehmwand nicht realisieren können, denn es hat sich wochenlang kein einziges Lehmbauunternehmen gefunden, das bereit gewesen wäre, den Erdhaushub vor Ort zu verarbeiten. Das wäre echt ein Malheur gewesen! Umso besser, dass es dann doch noch geklappt hat.«

Zurück zum Anfang. Die Windkraft Simonsfeld AG zählt mit 94 Windkraftanlagen, die sie plant, realisiert und auch selbst betreibt, zu den größten Windstromproduzenten Österreichs. Was 1996 als kleines Garagen- und Bauernhof-Unternehmen begonnen hatte – damals wurden die Betreiber noch von vielen als grüne Spinner belächelt, wie man in der Firmenchronik nachlesen kann – ist heute einer der größten und wichtigsten Arbeitgeber in der Region, eine halbe Autostunde nördlich von Wien. Mit 150 Mitarbeitenden in der Verwaltung und einer jährlichen Ausbeute von über 740 Gigawattstunden an grünem Strom – genug, um damit 185 000 Haushalte zu versorgen – entwickelte sich das einstige Start-up auf diese Weise zu einem ausgewachsenen Unternehmen in diesem Bereich.

Vor den Bestand gesetzt

Der erste Wachstumsschub kam 2014, als das Büro vom Bauernhof im kleinen, beschaulichen Simonsfeld ins etwas größere Ernstbrunn übersiedelte und den österreichischen Architekten Georg Reinberg, seines Zeichens Öko- und Solarpionier, mit der Planung für die neue Firmenzentrale beauftragte. Reinberg setzte damals eine hölzerne Lagerhalle aufs Grundstück, daran angrenzend eine Hightech-Büromaschine für rund 50 Mitarbeitende, mit gläserner Südfassade und konstruktiv inszenierter PV-Anlage auf den Vordächern – eine Art technoides Passivhaus-Wahrzeichen in Stahl und Glas. Dazu passend die offizielle, dafür eigens eingetragene Büroadresse: Energiewendeplatz 1.

Mit dem grünen Trend und dem kontinuierlichen Ausbau an Windkraftanlagen im ganzen Land wuchs der Betrieb stetig an, einige Angestellte mussten sogar schon in eine angemietete Dependance übersiedeln, eine weitere Ausbaustufe am eigenen Grundstück – in direkter Nachbarschaft zum Reinberg-Bau – war daher unausweichlich. In Kooperation mit dem Wiener Consulting-Unternehmen M.O.O.CON, das sich vor allem als Partner für die sogenannte Phase Null versteht, wurde ein einjähriger Findungsprozess initiiert, der 2022 in ein Auswahlverfahren mit anschließendem geladenen, zweistufigen Architekturwettbewerb mündete. Unter den vier teilnehmenden Büros sps architekten, MAGK Architekten, Dietrich Untertrifaller und juri troy architects konnte sich Letzteres als Sieger durchsetzen.

»Eigentlich wurde in der M.O.O.CON-Ausschreibung ganz klar kommuniziert, dass die Aussicht freigehalten und der Zubau neben oder hinter dem bestehenden Gebäude positioniert werden müsse«, erinnert sich Architekt Juri Troy. »Aber das hätte bedeutet, dass man den Neubau versteckt und dass man sich weitere, optionale Ausbaustufen auf diesem Grundstück ein für alle Mal verbaut hätte. Dem haben wir uns widersetzt.« Im Gegensatz zu den drei Konkurrenzentwürfen wagte es Troy, den Neubau direkt vor den Reinberg-Bau zu setzen und der Windkraft Simonsfeld AG auf diese Weise ein völlig neues Gesicht zu geben. Statt Technik, Photovoltaik und abweisender Stahl-Glas-Konstruktion wird man am Grundstück nun von Holz, Loggien und farbigen Outdoor-Möbeln in Empfang genommen.

Doch nicht nur das. Mit dem Anbau in u-förmiger Konstellation ist es gelungen, dem Bestandsbau die Sackgasse zu nehmen und das gesamte Büro mitsamt Lobby, Kantine, Teeküchen, Konferenzsaal und sogar teilbarer Veranstaltungshalle zu einem Ring mit zirkulärer, redundanter Erschließung zusammenzufassen. Auf diese Weise steigen die physischen Begegnungen und Kommunikationssituationen im Unternehmen. Und: »Im Bestandsbau hatten bloß 13 Prozent aller Büros Aussicht auf das große, grüne Feld mit den identitätsstiftenden Windrädern am Horizont«, rechnet Juri Troy vor. »Nun sind es 68 Prozent. Das war eines der ausschlaggebenden Argumente für unseren Sieg.«

Bauteilaktivierter Stampflehm

Und hinein ins Haus. Der Zugang befindet sich in einer gedeckten Nische an der Schnittstelle zwischen Alt und Neu, beiderseits Respekt erweisend, beide Bauphasen wertfrei nebeneinanderstellend. Nach einem kleinen Foyer mit ökologischen Kokosmatten als Fußabstreifer, was sonst, befindet man sich im eingangs erwähnten, stimmungsvollen Luxusfoyer. Holzstützen, Holzmöbel, Holzdecken, Sitzlandschaften in warmen Rot- und Rosatönen sowie Terrazzoböden mit Steinen aus einem nahe gelegenen Steinbruch bilden den Vordergrund vor der erdigen, archaischen Stampflehmwand, die die beiden Sanitär- und Erschließungskerne des Neubaus umfasst und bis hinauf ins Obergeschoss reicht.

»Die Stampflehmwand ist ein nicht nur visuelles, sondern auch haustechnisches und bauphysikalisches Schlüsselelement dieses Entwurfs«, erzählt der Architekt. Sie dient als Wärmespeicher, Feuchtigkeitsregulator und vor allem als bauteilaktivierte Masse, denn im Inneren der 20 cm tiefen Stampflehmschicht, die in groben, wellenartigen Schichten den manuellen Produktionsprozess veranschaulicht, befinden sich wasserführende Leitungen, die wiederum an eine Sole-Wärmepumpe und an elf neue Tiefenbohrungen unter dem Haus angeschlossen sind. »Nichts anderes als eine klassische Bauteilaktivierung«, so Troy, »allerdings nicht mit Stahlbeton, sondern aus einem natürlichen Rohstoff zusammengestampft.«

Von Anfang an hatte der Entwurf vorgesehen, für die Lehmschale das Aushubmaterial vor Ort zu verwenden. Allerdings fand sich zwischen Ostösterreich und Vorarlberg lange Zeit kein einziger Spezialist, der bereit gewesen wäre, den lokalen Aushub weiterzuverarbeiten. Manche hätten sogar vorgeschlagen, den Lehm aus Vorarlberg zu beziehen und quer durch die Alpen zu transportieren. In Hinsicht auf graue Energie und Emissionen hätte das den Gedanken der Kreislaufwirtschaft ad absurdum geführt. Das Ursprungskonzept konnte doch noch realisiert werden, und zwar wohlgemerkt mit tatkräftiger Unterstützung lokaler Mitarbeitender. Dies trug dazu bei, dass das Projekt nach dem österreichischen Gütesiegel klimaaktiv zertifiziert wurde und den Maximalwert von 1 000 klimaaktiv-Punkten erreichen konnte – ein neuer Rekordhalter.

Stimmige Einheit

Rund um die beiden Stampflehmkerne wie auch in deren Inneren befindet sich eine Holzkonstruktion mit 24 x 24 cm großen Stützen und Balken sowie mit Wand- und Deckenelementen aus massiven CLT-Platten. Mit einem konstanten Achsmaß von 2,70 m kommt zwischen den vielen ausgeklügelten baulichen Details wie Sitznischen samt drehbaren Tischchen, Stehboards samt Leselampen und geschickt platzierten Zu- und Abluftschlitzen in den Balkenzwischenräumen nicht nur Ruhe und Ordnung ins Gebäude, sondern, mehr noch, ein weiterer Gedanke von Zirkularität: »Eines Tages«, meint Troy, »wird man das Gebäude abtragen und die Bauteile wiederverwenden können. Aus diesem Grund haben wir die Konstruktion so weit wie möglich standardisiert und modularisiert.«

Auch wenn die Architektur aufgrund der seriellen Modularität wie viele Holzbauten heutzutage auf den ersten Blick wie eine segmentierte Bentōbox aussieht, ist das Projekt gegenüber ähnlichen Bauten in puncto Materialität einen großen Schritt voraus. Jury Troy hat den Erweiterungsbau nicht – wie so oft – ideologisch in einem Holz durchdekliniert, sondern die jeweils bestgeeigneten Holzarten wie beim Bau einer Violine oder eines Konzertflügels nach Bedarf miteinander komponiert: Fichte als Konstruktionsholz, Eiche für die bewitterten Terrassenflächen, Lärche für die Fenster, Weißtanne für Fassade, Türen, Möbel und Akustikdecken und schließlich Esche für Parkett, Handläufe und Griffstangen. Das Resultat ist ein sensibel zusammengestelltes Potpourri mit fließenden materiellen und chromatischen Übergängen – von einem Meister der Nachhaltigkeit, der sein Fach bis ins allerkleinste Detail hinein versteht.

Spätestens wenn man am Fenster zum Hof steht oder in den intimen, windgeschützten Garten hinaustritt, wird man dessen gewahr, was für eine schöne, stimmige Einheit hier geschaffen wurde – mit dem Bau von 2014, dem Neubau von 2025 und einem gleichwertigen Nebeneinander unterschiedlicher Ideologien nachhaltigen Bauens. Wie ernst es der Bauherr mit seinem klimasensiblen, ressourcenschonenden Commitment meint, zeigt sich nicht zuletzt im Blutspende-Bus, der regelmäßig bestellt wird, sowie in den täglich frisch gekochten, ausschließlich vegetarischen Menüs in der Kantine. So, und zwar nur so, könnte die Klimawende eines Tages doch noch gelingen.

db, Mi., 2025.10.01



verknüpfte Bauwerke
Firmenzentrale Windkraft Simonsfeld



verknüpfte Zeitschriften
db 2025|10 Natürlich

06. September 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Killerkommando Canaletto

Seit dem Hochhausprojekt am Wiener Heumarkt wurde wohl kein Barockmaler so oft zitiert wie Bernardo Bellotto. Die Wiener Künstler Steinbrener/Dempf & Huber ziehen gegen ihren längst toten Kollegen in einen polemischen Kampf und fordern in ihrer Ausstellung: „Tötet Canaletto!“

Seit dem Hochhausprojekt am Wiener Heumarkt wurde wohl kein Barockmaler so oft zitiert wie Bernardo Bellotto. Die Wiener Künstler Steinbrener/Dempf & Huber ziehen gegen ihren längst toten Kollegen in einen polemischen Kampf und fordern in ihrer Ausstellung: „Tötet Canaletto!“

Der erste Aufschrei

„Ich denke an ein Retro-Hotel auf höchstem Niveau“, verriet der Wiener Investor Michael Tojner 2012 in einem Interview, als ihn DER STANDARD zu den Umbauplänen des Wiener Eislaufvereins befragte. Knapp zwei Jahre später war der internationale Wettbewerb entschieden: Mit seinem Entwurf für die Sanierung des Hotel Intercontinental sowie für ein ebenso modernistisch anmutendes Wohnhochhaus mit 22 Stockwerken und 73 Meter Gebäudehöhe konnte sich der brasilianische Architekt Isay Weinfeld gegen zwei Dutzend Konkurrenten aus aller Welt durchsetzen – darunter auch Hochkaräter wie etwa Snøhetta, Coop Himmelb(l)au und Neutelings Riedijk Architects. Aufgrund der Schreie und Beschimpfungen im Saal musste die Pressekonferenz damals abgebrochen werden.

Stadt als Meterware

In den Folgejahren entwickelte sich der „Tojner-Turm“ am Rande der Innenstadt zu einem Wiener Politikum, und schon bald mischten sich zwei externe Kräfte in die Diskussion mit ein – einerseits die Unesco, die damit droht, Wien im Falle einer Realisierung den Welterbe-Status abzuerkennen, andererseits der venezianische Vedutenmaler Bernardo Bellotto, besser bekannt als Canaletto, der während seines zweijährigen Wien-Aufenthalts im Auftrag von Maria Theresia ein paar Stadtansichten malte – darunter auch Wien, vom Belvedere aus gesehen, entstanden 1761. Und so musste das geplante Turmprojekt am Heumarkt immer wieder gestaucht und zusammengestutzt werden. Nach heutigem Stand – und noch weit entfernt von einem realisierungsfähigen Konsens – misst er 49,95 Höhenmeter.

Barocke Messlatte

„Wien hat sich seit dem Barock dramatisch weiterentwickelt, und Canaletto ist seit 245 Jahren tot“, sagt Christoph Steinbrener, der mit seinen beiden Partnern Rainer Dempf und Martin Huber das Wiener Künstlerkollektiv Steinbrener/Dempf & Huber leitet. „Wie kann es also sein, dass ein solches Auftragswerk, das in seinen Größen und Proportionen erwiesenermaßen verzerrt und beschönigt wurde, heute immer noch als qualitative Referenz herangezogen wird? Will man Stadtplanung im 21. Jahrhundert ernsthaft an den subjektiven Kennwerten einer absolutistischen Monarchie abarbeiten?“ Der Canaletto-Blick, so Steinbrener, sei damals schon ein Fake gewesen, daher habe er auch überhaupt keine Skrupel, in der Tradition des falschen Abbilds weiterzuarbeiten.

Narrativ der Rechten

„Genau so arbeitet die rechte Politik“, sagt er. „Sie lässt die Kommunikation eskalieren und erreicht damit große Erfolge. Also dachten wir uns: Wir werden die plakative, leicht verständliche und wohl auch erfolgreiche Herangehensweise nicht allein den Rechten überlassen. Das können wir auch!“ Und so eröffneten Steinbrener/Dempf & Huber dieser Tage eine Ausstellung unter dem provokanten Titel Tötet Canaletto!. Die Schau in der Wiener Galerie rauminhalt harald bichler zeigt unter anderem verfremdete Canaletto-Blicke, die zu ganz neuen Arrangements collagiert werden – mit Knochen, Baseballschlägern, kiloschweren Vorschlaghämmern, aggressiv durchschneidenden Stadtautobahnen und himmelhohen Isay-Weinfeld-Hochhäusern, die wie im Hollywood-Film Inception zu einer surrealen Traumwelt zusammenwachsen.

59 Stockwerke

Und plötzlich gibt es in einem Viertelkilometer Höhe ein zweites, gespiegeltes Wien, das mit der echten oder angeblich echten Stadt da unten über Pflanzendarstellungen aus alten Lehrbüchern sowie über insgesamt 14 Tojner-Türme, jeder einzelne davon 59 Stockwerke hoch, verbunden ist. „Wir finden den Turm eigentlich ein bissl fad und vor allem auch sehr kurz nach all den Verkleinerungen“, sagt Künstler Martin Dempf, der in seinem Zweitberuf selbst als Architekt tätig ist. „Also haben wir ihn nach eigenem Ermessen wieder ein bisschen höher gemacht, denn der absolutistisch angelegte Schlossgarten Belvedere, aus dem die Öffentlichkeit einst aktiv ausgeschlossen wurde, kann in Zeiten der Wohnungsnot und der stadtplanerischen Stagnation ruhig einen zeitgenössischen Impuls vertragen.“

Wie tot ist das Tote?

Die am Dienstag eröffnete Ausstellung in der Schleifmühlgasse zeigt neben Collagen, Dioramen und Installationen, die allesamt mit dem vielzitierten Canaletto-Blick arbeiten, auch eine Handvoll schräg inszenierter Tierpräparate – ob das nun halbe Rehe sind oder kopflose Raben mit einem kopfsubstituierenden Objektiv von P. Angénieux, Paris. „In der Tierpräparation ist man stets darum bemüht, das tote Tier so darzustellen, dass es möglichst lebendig und möglichst wenig tot erscheint“, sagt Dempf. „Es ist eine Verzerrung zwischen Original und Kopie. So ähnlich ist das auch beim Canaletto.“ Mit dem ständigen Referenzieren auf einen barocken Zustand, der ohnehin nicht die Realität abgebildet habe, töte man jeden Gedanken einer künftigen Entwicklung.

Urbane Konfliktliebe

„Wir lieben die Stadt“, sagen Steinbrener/Dempf & Huber, die sich schon seit 20 Jahren mit dem Thema Stadt und öffentlicher Raum beschäftigen, im Interview mit dem ΔTANDARD. „In der Dichte der vielen, vielen Konflikte, die es hier Tag für Tag auszutragen gilt, ist die Großstadt das wahrscheinlich komplexeste und faszinierendste soziale Biotop, in dem wir Menschen koexistieren. Umso wichtiger ist es, für die Zukunft Kriterien zu finden und Qualitätsstandards zu definieren, die keinen toten Barockmenschen instrumentalisieren, sondern die aus heutiger Sicht heraus, mit dem heutigen Wissen im Talon eine gesunde Stadtentwicklung und Stadtverdichtung ermöglichen. Als Künstler nehmen wir uns die Freiheit, diesen Missstand zu kommentieren. Canaletto gehört endlich begraben.“

[ Die Ausstellung „Tötet Canaletto!“ ist noch bis 4. Oktober 2025 zu sehen. Galerie rauminhalt_harald bichler. ]

Der Standard, Sa., 2025.09.06

16. August 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Lernen von der Platte

In Berlin hat FAR Frohn & Rojas kürzlich ein Wohnhaus fertiggestellt – mit serieller Bauweise, unverputztem Sichtbeton und ziemlich rougher Ausstattung. Der Bau könnte ein Exempel für billiges Bauen und Wohnen sein.

In Berlin hat FAR Frohn & Rojas kürzlich ein Wohnhaus fertiggestellt – mit serieller Bauweise, unverputztem Sichtbeton und ziemlich rougher Ausstattung. Der Bau könnte ein Exempel für billiges Bauen und Wohnen sein.

Nackte Betonwände in den Zimmern, unverspachtelte Betonunterzüge an der Decke, spartanisch gestaltete Betonlaubengänge mit einer flankierenden Bauteildämmung aus Hornbach-Heraklith, als hätte die Baufirma das Gerüst abgebaut, bevor sie die Außenseite des Hauses überhaupt noch streichen und verputzen konnte. „Nein, das ist Absicht“, sagt Marc Frohn, „und nicht nur, weil wir als Architekten darin eine gewisse Ästhetik erkennen, sondern vor allem auch, weil wir mit diesem Wohnhaus ein Exempel für intelligenten seriellen Wohnbau statuieren wollten.“

Kaulsdorf im tiefsten Osten von Berlin ist so etwas wie das Harter Plateau in Linz oder die Rennbahnsiedlung in Wien. Kaulsdorf Nord 1 im Speziellen, eine wenig charmante Namensgebung der damaligen DDR-Stadtplanung, zählt mit seinen Hochhäusern aus den 1970er- und 1980er-Jahren zu den größten Plattenbausiedlungen Europas – mit viel Grün zwischen den Häusern, aber auch mit Hartz IV, Netto-Diskontern und verrosteten Teppichklopfstangen im Innenhof.

„Im Sinne der städtischen Nachverdichtung eignen sich diese luftig bebauten Quartiere bestens für Neubauten und Lückenschließungen“, so Frohn. „Und nachdem wir hier von jahrzehntelanger Expertise in serieller Vorfertigung umgeben sind, mit Waschbetonfassaden und Plattenbauten aus der Serie WBS70, wollten wir uns auf genau diesem Grundstück mit der Zukunft des seriellen Bauens beschäftigen – und uns die Frage stellen, wie wir Vorfabrikation im besten Einvernehmen mit architektonischer Kreativität technisch effizient und wirtschaftlich attraktiv weiterdenken können.“

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Marc Frohn – der gemeinsam mit Mario Rojas und Wendy Gilmartin das trinationale Architekturbüro FAR Frohn & Rojas leitet, mit Niederlassungen in Berlin, Los Angeles und Santiago de Chile – mit seriellem Wohnbau beschäftigt. Bereits 2019 entwickelte er das vielfach preisgekrönte Wohnregal im Berliner Bezirk Moabit, damals noch mit bloß zehn Wohnungen und einem Büro im Erdgeschoß, in das er selbst eingezogen ist.

Spiegelgleiche Wohnriegel

„Doch nun wollten wir noch einen Schritt weiter gehen und die Idee des Seriellen mit all seinen räumlichen und materiellen Reizen auf einen größeren Maßstab ausweiten.“ Das Resultat ist eine Wohnhausanlage mit zwei spiegelgleichen Wohnriegeln mit insgesamt 124 Wohnungen. Der Bausatz umfasst an die 8300 Fertigteile – darunter nicht nur Säulen, Platten und Unterzüge, sondern auch 124 vorfabrizierte und in einem Stück auf die Baustelle gelieferte Badezimmerboxen.

„Wir stellen das serielle Bauen bewusst und ungeschminkt zur Schau“, sagt Frohn, „ohne Farbe und ohne Verkleidung – und gerne mit all den fleckigen Marmorierungen in der Betonoberfläche.“ Sowohl drinnen in den Wohnungen als auch draußen auf den netzbespannten Laubengängen mit ihren hyperbelförmigen Balkonausweitungen sind die Unterzüge als konstruktive Maßnahme deutlich ablesbar. Bei einer Raumhöhe von 2,85 Metern, die im Neubau mittlerweile als Rarität erachtet werden kann, erscheint dies nicht wirklich störend. Mehr noch ergeben sich in den Schnittpunkten von Säule, Konsole und Querträger spannende Details. Schalter, Steckdosen und Verkabelungen sind auf Putz geführt. Why not?

Doch die Einsparungen liegen nicht nur in der radikalen Reduktion der Materialien, sondern auch in der cleveren Anordnung und Funktionsüberlagerung der Flächen: Der halböffentliche Laubengang dient zugleich als Balkon, auf Vorzimmer wurde komplett verzichtet, die unorthodox geschnittenen Räume mit ihren deckenhohen, teils doppelflügeligen Türen lassen unterschiedliche Nutzungen zu. Hinzu kommt der vom Berliner Landschaftsarchitekturbüro Topotek 1 gestaltete Innenhof – mit knallrotem Sportbelag und ebenso rot lackierten Sitzmöbeln und Spielgeräten.

„Ja, dieses Wohnhaus ist wohl Geschmackssache“, sagt ein junger Herr im Erdgeschoß, der erste, bereits eingezogene Mieter, nachdem die Vermarktung des Projekts im Mai startete und das Haus vor wenigen Wochen erst fertiggestellt wurde. „Ich habe mit meiner Familie davor in einem klassischen Gründerzeithaus gewohnt, und das hier ist jetzt so ziemlich das Gegenteil davon. Aber die Architektur ist in ihrer Fremdheit irgendwie ansprechend. Ich bin schon gespannt, wie sich dieser Wohnriegel mit der Zeit mit Leben füllen wird.“

Mit rund 15 bis 20 Prozent Ersparnis in den Baukosten ergeben sich hier gute Möglichkeiten, die mittlerweile exorbitant hohen Wohnkosten in deutschen Städten ein wenig zu senken. Beim ersten Projekt in Moabit ist dies gelungen, rechnet der Architekt vor, und auch das nun geplante Folgeprojekt in Köln, ein Wohnhaus mit günstigen Wohnungen für Bedienstete der Kölner Stadtwerke, ist bereits in Entwicklung, doch ausgerechnet beim Wohnregal in Kaulsdorf ist die Rechnung leider nicht aufgegangen.

Der Auftraggeber und Investor Euroboden, der lange Zeit innovative High-End-Bauten mit namhaften Architekten wie etwa David Adjaye, David Chipperfield und Arno Brandlhuber realisiert hat, ist seit Ende 2023 insolvent. Eine attraktive Bewertung und Verwertung des Objekts scheint in dieser Situation für einen potenziellen Abverkauf allerhöchste Priorität zu haben – und das schlägt sich auch in der Miete nieder. Auf diversen Immobilienplattformen tauchen die letzten noch verfügbaren Mietwohnungen für 20 Euro und mehr pro Quadratmeter auf. Das ist selbst für Berliner Verhältnisse jenseits von Gut und Böse.

Wirtschaftlich reizvoll

„Mit den beiden Fertigteilhäusern in Moabit und Köln haben wir bewiesen, dass eine serielle Fertigung architektonisch attraktiv und wirtschaftlich reizvoll sein kann und dass wir die Wohnkosten auf diese Weise spürbar reduzieren können“, sagt Marc Frohn, „aber auch, wie viel Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten wir in einem seriellen System haben – und das genau hier, in Kaulsdorf, umgeben von Plattenbauten, quasi von unseren architektonischen Großeltern. Wir können von der Platte lernen.“

In einer Zeit, in der die Wohnkosten ungebremst nach oben klettern, auch in Österreich, mit all den Normen, Vorschriften und baurechtlichen Anforderungen, stellt sich die Frage, ob der Verzicht auf teure Baustoffe, hochwertige Ausstattungen und komplexe technische Schnittstellen nicht eine Möglichkeit wäre, das Wohnen endlich ein Äutzerl billiger zu machen. Sicher keine Lösung für die breite Masse, aber für einige.

Der Standard, Sa., 2025.08.16

09. August 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Rückwärtsgang in Stahlbeton

Die Budapester Burg ist eine Großbaustelle. Viktor Orbáns Fidesz rekonstruiert hier die Kaiserzeit und schiebt andere historische Schichten zur Seite. Eine kritische Bergbesteigung mit dem Künstler Andreas Fogarasi.

Die Budapester Burg ist eine Großbaustelle. Viktor Orbáns Fidesz rekonstruiert hier die Kaiserzeit und schiebt andere historische Schichten zur Seite. Eine kritische Bergbesteigung mit dem Künstler Andreas Fogarasi.

Eine breite Baulücke klafft am Nordrand des Várhegy, des schmalen Bergrückens parallel zur Donau, auf dem die Budapester Burg thront. Rechts von der Lücke: Das wuchtige Gebäude des ungarischen Staatsarchivs, ein historistischer Bau aus dem Jahr 1923. Links davon: ein schmales Stiegenhaus aus Beton und Glas, dem das dazugehörige Haus fehlt. Es gehörte zum Archiv-Erweiterungsbau aus den 1970er-Jahren, der inzwischen abgerissen wurde.

Gefüllt werden soll die Baulücke mit einer Art neuem Altbau. Der im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte und später abgerissene Turm soll wieder errichtet werden, ergänzt um einen Gebäudeflügel, der 1923 geplant, aber nie ausgeführt wurde. Eigentlich sollte mit den Bauarbeiten schon 2022 begonnen werden, passiert ist bisher nichts. Der unerwünschte Bau aus sozialistischer Zeit wurde vorsichtshalber schon beseitigt.

Die Moderne tilgen

Es ist nicht der einzige neue Altbau auf dem Várhegy im Rahmen der großen Rekonstruktions-Initiative namens Nationales Hauszmann-Projekt. Benannt ist es nach Hofbaumeister Alajos Hauszmann, der zwischen 1890 und 1905 die Burg in großem Stil ausbaute, um auf imperialer Augenhöhe mit Wien zu sein – eine Ära, die jetzt wiedererstehen soll, wenn es nach Viktor Orbáns Fidesz-Partei geht, die das Programm maßgeblich vorantreibt. Davon erzählen die vielen Bauzäune, bedruckt mit Fotos, Zeichnungen und Porträts früherer Könige in stattlich-bärtiger Männlichkeit.

Nicht alle sind begeistert von diesem Großvorhaben. „Eine wesentliche Motivation des Hauszmann-Projekts und der aktuellen Regierung ist es, die Moderne aus dem Stadtbild zu tilgen“, sagt Andreas Fogarasi, vor dem Bauzaun des Nationalarchivs stehend. „Ihre Verwerfungen und Wunden und die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts sollen unsichtbar gemacht werden.“ Der in Wien lebende Künstler mit ungarischen Wurzeln kennt die Bausubstanzen von Budapest, denn sie sind Kern seiner Arbeit. Er kombiniert Elemente von abrissbedrohten Bauten zu Materialpaketen, komprimierter Architektur-Archäologie. Seine besondere Liebe gilt der Architektur der Nachkriegszeit. Den Abbruch des Archivgebäudes bedauert er sehr.

Dass den Befürwortern des Hauszmann-Projekts die Bauten der 1950er- bis 1980er-Jahre ein Graus sind, wird keineswegs verhohlen. Denn die Kommunisten, sagen sie, hätten die Zeugen der imperialen Zeit, die der Krieg übrigließ, aus „ideologischen Gründen“ zerstört. Die simple Gleichung: Kommunismus gleich Moderne gleich Internationalität, ohne Rücksicht auf das typisch Ungarische, was immer es sein mag. Spaziert man mit Andreas Fogarasi durch den Várhegy, wird klar, dass das nicht ganz stimmt. Denn die Kommunisten machten hier keineswegs Tabula rasa. Im Altstadt-Gefüge entdeckt man zahlreiche Wohnbauten jener Zeit, die eine unaufgeregte Moderne mit historischen Elementen kombinieren und tadellos gealtert sind.

„Moderne Neuinterpretation“

Auch die Burg selbst wurde nach 1945 nicht als Symbol des unerwünschten Imperialismus gesprengt, sondern wieder aufgebaut – hier unterschied sich Ungarn von der DDR, die das Berliner Stadtschloss per Sprengladung beseitigte. „In Budapest wurde in einem jahrzehntelangen Prozess eine moderne Neuinterpretation geschaffen“, sagt Andreas Fogarasi. „Verschiedene Fassaden nahmen Bezug auf verschiedene Zeitalter, es wurden alternative Formen für die wiederaufgebaute Kuppel diskutiert. Aber heute treffen sich Berlin und Budapest im Rekonstruktionswahn der Gegenwart.“

Nähert man sich dem Burgkomplex, der die südliche Hälfte des Várhegy einnimmt, zeigt das Hauszmann-Projekt sein ganzes Gewicht. Hier werden derzeit das Gebäude des Oberkommandos der ungarischen Streitkräfte und das Erzherzog-Joseph-Palais von Grund auf neu errichtet. Allein diese beiden Bauten dürften mehr Beton aufbieten als die gesamte sozialistische Moderne auf dem Burgberg. Verkleidet in Styropor, darauf ein dünner Firnis aus historischem Dekor.

Das Spiel aus alt und neu wird nicht weniger verwirrend, je weiter man spaziert. Ein Flügel der Burg aus der Rekonstruktion der Nachkriegszeit ist bis auf die Fassade demoliert, daneben baut man an einer alternativen Rekonstruktion. Zwar ist die acht Jahrhunderte umfassende Baugeschichte der Budapester Burg eine des permanenten Umbaus, doch während die Wieder-Aufbauer des Sozialismus noch sorgfältige Archäologie betrieben hatten, ist für das Hauszmann-Projekt nur ein einziges historisches Kapitel interessant – jenes, das mit Ungarns größter territorialer Ausdehnung assoziiert wird. Auch hier ist also reichlich Ideologie im Spiel. Die Architekturtheoretikerin Maitri Dore weist in ihrer Forschungsarbeit Nation-building through architecture in post-socialist Budapest auf diesen selektiven Umgang mit der Geschichte hin: Alles vor dem ungarischen Schlüsseljahr 1867 wird beiseitegeschoben, alles nach 1945 sowieso.

Für sie ist der Fokus auf den Várhegy auch ein Zeichen, dass sich Fidesz nicht mit der Stadt auseinandersetzen und lieber über ihr thronen will. Während hier in Buda dreistellige Millionenbeträge ausgeschüttet werden, bröselt die Bausubstanz in Pest an vielen Stellen vor sich hin. Das ärgert auch Andreas Fogarasi: „Es macht mich unglaublich wütend, dass ein Staat, der die Bildung, die Gesundheitsversorgung, die unabhängige Presse und Kultur finanziell aushungert, sich mit einem enormen Aufwand dieses Denkmal errichtet und dafür historisch und architektonisch wertvolle Substanz zerstört.“

Feingliedrige Glaselemente

Endpunkt des Spaziergangs: die Kuppel des Palastes, wiedererrichtet 1961. Das Tageslicht flutet durch einen Vorhang feingliedriger Glaselemente in die Räume der Nationalgalerie. Auch hier hat das Hauszmann-Projekt große Pläne. Die Galerie wird in einen Neubau in Pest abgesiedelt, entworfen vom japanischen Büro SANAA. Die Kuppel soll durch eine Kopie der neobarocken Hauszmann-Kuppel ersetzt werden. Andreas Fogarasi, der Materialsammler, schaut zu den Glaselementen und seufzt: „Im schlimmsten Fall bekomme ich ein Dutzend davon. Im besseren Fall gar nichts – und die Kuppel bleibt bestehen.“

Der Standard, Sa., 2025.08.09

30. Juli 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Coop-Himmelb(l)au-Mitgründer Helmut Swiczinsky 81-jährig gestorben

Der dekonstruktivistische Architekt hat die internationale Baukultur der letzten Jahrzehnte mitgeprägt und hinterlässt ein wichtiges Stück Architekturgeschichte

Der dekonstruktivistische Architekt hat die internationale Baukultur der letzten Jahrzehnte mitgeprägt und hinterlässt ein wichtiges Stück Architekturgeschichte

„Es gibt keine Wände mehr. Unsere Räume sind pulsierende Ballons. Unser Herzschlag wird zum Raum, unser Gesicht ist Hausfassade.“ Mit Provokationen wie diesen zählten Helmut Swiczinsky und sein Kompagnon Wolf D. Prix in den 1960er-Jahren zu den Jüngsten und Wildesten der Wiener Architekturszene. Mit ihren weißen Anzügen, aufblasbaren Herzräumen und riesigen pneumatischen Wohneinheiten haben die beiden Architekturstudenten in der Aula und in den Zeichensälen der Technischen Hochschule, der heutigen TU Wien, Geschichte geschrieben.

Geboren wird Helmut Swiczinsky 1944 im polnischen Poznań. Er wächst in Wien auf und studiert Architektur in Wien und an der Architectural Association in London. Auf einer Flugreise von Spanien nach Wien beschließt er, gemeinsam mit Wolf D. Prix eine Architekturgruppe zu bilden. „Ich habe damals gerade Hamlet gesehen“, wird sich Prix später erinnern und aus ebendiesem Stück zitieren: „Seht Ihr die Wolke dort, beinah in Gestalt eines Kamels? Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel. Oder wie ein Walfisch?“ Mit dem Blick aus dem Flugzeug wird schließlich der Name des Büros geboren: Coop Himmelblau. „Himmelblau ist keine Farbe“, schreiben die beiden bald in manifestartigen Worten nieder, „sondern die Idee, Architektur mit Fantasie leicht und veränderbar wie Wolken zu machen.“

Zu den ersten Projekten zählen Villa Rosa, The Cloud, Herzraum Astroballon, Herzstadt Weißer Anzug, Gesichtsraum Soul Flipper, Haus mit fliegendem Dach und Flammenflügel im Innenhof der TU Graz („Architektur muß brennen“). Die Prototypen aus Gummi, Latex, Kunststoff, Metallgittern und aufblasbaren Membranen ernennen Luft und Feuer zum Baustoff und erklären der Schwerkraft die Absage. Die Wolken, Fernsehhelme und kugelförmigen Konstruktionen gelten als neue Medien, Körperverlängerungen und dematerialisierte Wohnorganismen.

Berühmt über Nacht
„Unsere Architektur hat keinen physischen Grundriß, sondern einen psychischen“, lautet einer der Texte zu den frühen Projekten, die im architekturtheoretischen Kontext dem Dekonstruktivismus zugeordnet werden und schon bald im Museum of Modern Art (MoMA) in New York zu sehen sind. Oder, noch präziser, in Anspielung an den westdeutschen Aktivisten Rudi Dutschke: „Nicht wir haben uns zu verändern, um in Architektur zu leben, sondern die Architektur hat so auf unsere Bewegung, unser Gefühl, unsere Stimmung, unsere Emotion reagieren, daß wir in ihr leben wollen.“

1983 entsteht das erste dauerhaft realisierte Hochbauprojekt, der Dachausbau Falkestraße in der Wiener Innenstadt. Das mittlerweile denkmalgeschützte Projekt für eine Wiener Rechtsanwaltskanzlei macht die beiden über Nacht international berühmt. Es folgen das Fundermax-Werk in St. Veit an der Glan (1989), der UFA-Kinopalast in Dresden (1998), das Wohnprojekt Gasometer Wien (2001), das Akron Art Museum in Ohio (2007), die BMW-Welt in München (2007), das Musée des Confluences in Lyon (2009) und die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main (2011).

Bruch der Buddys
In den Jahren der EZB-Planung zieht sich Helmut Swiczinsky, der stille und philosophische Innenminister von Coop Himmelb(l)au, das im Zuge der zunehmenden Bautätigkeit das „l“ in Klammern setzt, allmählich aus dem operativen Geschäft zurück. Mit dem Aufkommen der großen Projekte für Baku, Istanbul, Seoul, Dalian und die Halbinsel Krim kommt es zum Bruch der einstigen Buddys, die einst so stark zusammengeschweißt waren wie die Beatles oder die Rolling Stones, deren Song Gimme Shelter viele lange Jahre in der Warteschleife erklingt, wenn man bei Coop Himmelb(l)au anruft.

Helmut Swiczinsky löst die Büropartnerschaft auf und bricht den Kontakt zu Wolf Prix ab. In den letzten zehn Jahren lebt er ohne aktive Erwerbstätigkeit im Kreise seiner Familie und widmet sich der Malerei und der Philosophie. Am Dienstag ist er nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. „Er war einmal mein größter Freund“, sagt Prix auf Anfrage des STANDARD. „Wenn Menschen aus dem Leben gehen, werden die Geschichten, die man mit ihnen erlebt hat, Vergangenheit. Das macht mich sprachlos.“

Der Standard, Mi., 2025.07.30



verknüpfte Akteure
Swiczinsky Helmut

19. Juli 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Wohnzimmer für die Wuchtel

Heute Nachmittag wird das neue Reichshofstadion in Lustenau eröffnet. Das „Fußball-Wohnzimmer“ ist ein spannendes Match zwischen Holzbau, Anrainer-Interessen und cleverer Verkehrsplanung.

Heute Nachmittag wird das neue Reichshofstadion in Lustenau eröffnet. Das „Fußball-Wohnzimmer“ ist ein spannendes Match zwischen Holzbau, Anrainer-Interessen und cleverer Verkehrsplanung.

Heute, Samstag, 16 Uhr, werden die Grün-weiß-Gestreiften aus Lustenau gegen die Augsburger im knallroten Auswärtstrikot antreten und das neue Reichshofstadion mit einem Freundschaftsspiel eröffnen. „Der FC Augsburg spielt in der deutschen Bundesliga, das ist ein Klassenunterschied, das kann man nicht leugnen, die sind schon echt gut“, sagt Bernd Bösch, Vorstandssprecher des SC Austria Lustenau, zweite Bundesliga in Österreich. „Aber wir haben dennoch ganz gute Chancen auf den Sieg. Abgesehen davon: Darum geht es nicht! Wir freuen uns einfach riesig auf das Match. Und wir freuen uns, dass wir nun endlich ein Stadion haben, das dem Namen auch wirklich gerecht wird.“

Schon seit den 1950er-Jahren wird auf dem Areal des ehemaligen Reichshofs – die Bezeichnung geht auf das 9. Jahrhundert zurück, als der Reichshof Lustenoua zwischen mehreren Geschlechtern und Grafschaften hin und her geschenkt wurde – Fußball gespielt. Der Sportplatz wurde immer wieder erweitert, mit einer Rasenheizung ausgestattet und mit mal fixen, mal temporären Tribünen eingefasst, doch die Summe der provisorischen Maßnahmen sollte bald ein Ende haben. 2018 wurde ein offener Wettbewerb mit vorgeschaltetem Bewerbungsverfahren ausgeschrieben.

Vier Pflöcke in den Boden rammen

„Ich glaube, wir haben vor allem aus zwei Gründen gewonnen“, sagt Matthias Kastl, Projektleiter im siegreichen Architekturbüro Bernardo Bader, das den Wettbewerb in Zusammenarbeit mit dem Südtiroler Architekten Walter Angonese und dem Dornbirner Ingenieursbüro GBD Group für sich entscheiden konnte. „Erstens wollten wir eine warme, hölzerne Gemütlichkeit schaffen, eine Art Wohnzimmer für den Fußball bauen, und zweitens haben wir es geschafft, dass das eigentlich kleine, niedrige Stadion dank den vier Eckpylonen, die nun 40 Meter hoch in den Himmel reichen, als hätte jemand vier Pflöcke in den Erdboden gerammt, nun eine gewisse Größe und Sichtbarkeit bekommt.“
Ein Sockel für 90 Minuten Emotionen

Der Haupteingang befindet sich in der Schützengartenstraße 21, keine 200 Meter vom Rhein und somit von der Schweizer Staatsgrenze entfernt. Im Norden des Stadions gibt es ein Klubhaus in Holzbauweise sowie das sogenannte Austria-Dorf, eine Art Ganzjahres-Christkindlmarkt für die Wuchtel, mit Bier und Bosna, mit Fanartikeln und Fußball-Devotionalien – zusammengezimmert in Holzbauweise, niederschwellig in der Anmutung, durchaus ansprechend in seiner architektonischen Gestaltung. Von hier aus gelangt man zur VIP-Lounge sowie – durch breite Publikumstore, durch massiv betonierte „Münder“, wie der Architekt dies ausdrückt – zu den einzelnen Tribünen.

„Der erste Eindruck ist ein sehr archaischer, mit schwerem Sichtbeton, verzinkten Stahltoren und geböschten Wandscheiben, die wir so richtig plakativ in Szene setzen“, sagt Kastl. „Auf diese Weise wollten wir das Fundament zelebrieren und seine tragende Rolle veranschaulichen, schließlich sprechen wir hier von einem Publikum, das aus tausenden Menschen besteht, mit starken Emotionen, mit Schreien, Stampfen und Applaudieren, zweimal 45 Minuten lang und oft auch viel, viel länger.“

Doch kaum hat man die betonierten Münder passiert und die acht Betontreppen überwunden, eröffnet sich plötzlich ein fast 120 mal 80 Meter großes Wohnzimmer mit grünem Teppichboden und ohne Plafond, mit hölzernen Tribünen, hölzernen Stützen, hölzernen Seitenwänden und ebenso hölzernen Tribünendächern, die zehn Meter weit ins Nichts hinausragen und den insgesamt 5000 Zuschauerinnen und Zuschauern ein Dach über dem Kopf bieten. Die bestehende Westtribüne blieb erhalten und wurde dem neuen Konzept miteinverleibt. Spätestens hier versteht man, was die neunköpfige Wettbewerbsjury unter Vorsitz von Hemma Fasch meinte, als sie im Juryprotokoll die außergewöhnliche Atmosphäre des Projekts hervorhob.

Die tragenden Bauteile wie die 60 mal 26 Zentimeter dicken Stützen und das bis zu 85 Zentimeter hohe, jedoch geschickt kaschierte, superschlank erscheinende Tribünendach bestehen aus industriell vorgefertigten BSH-Leimbindern. Ergänzt wird der Holzbau von Bodenbrettern und abgehängten Lamellen aus Vorarlberger Fichte, direkt aus der Region. Bei der fast fünf Meter hohen Glasfassade im Hintergrund handelt es sich um satinierte Scheiben mit einer speziellen Sonnenschutz-Bedampfung, damit die Lichtemissionen, wenn das Spielfeld von oben mit tausenden Lux ausgeleuchtet wird, zu einem Teil absorbiert und die Bewohner in den angrenzenden Wohnhäusern nicht gestört werden.

Das neue, 15 Millionen Euro teure Reichshofstadion, das der Lustenauer Bürgermeister Patrick Wiedl in politischen Worten als „sportliches Highlight“ und „emotionalen Meilenstein“ bezeichnet, kann aber mehr als nur schön sein. Mit seiner gemütlichen Wohnzimmerhaftigkeit und einem vergleichsweise gut durchmischten Publikum – der Anteil der weiblichen Gäste im Reichshofstadion betrug schon bisher 30 bis 40 Prozent, während er in der Bundesliga bei nur 20 Prozent liegt – rückt es den Fußball weg von Gewalt und Rowdytum zwischen den Fanblöcken hin zu einer familiären Freizeit-Chose mit Kind und Kegel.

Die ganze Stadt als Parkplatz

Vor allem aber ist das Stadion Zeugnis einer selten cleveren Zusammenarbeit zwischen sämtlichen Disziplinen, zwischen Holzbauern und Betonierern, zwischen Architekten und Bauingenieuren, zwischen Stadtplanung, Privatwirtschaft und Verkehrsbetrieben. Der Anteil der Pkw-Stellplätze im Stadionbereich ist auf ein absolutes Minimum reduziert, auf 66 Stück, um genau zu sein, davon 20 Prozent barrierefrei. Der Löwenanteil der Pkw-Anreisenden wird auf den bestehenden Firmenparkplätzen und in den unzähligen Gewerbebetrieben abgefangen.

„Lustenau hat einen hohen Anteil an Firmen und Gewerbeparks“, sagt Architekt Matthias Kastl. „Die dazugehörigen Parkplätze stehen an den Abenden und Wochenenden komplett leer. Also haben wir ein Modell entwickelt, wo die Leute ihr Auto auf den bereits bestehenden Parkplätzen abstellen und dann mittels Shuttle zum Stadion gebracht werden.“ Hinzu kommt, dass direkt neben dem Stadion für die Aktivmobilen rund 700 Fahrrad-Stellplätze errichtet wurden. Besser kann ein Freundschaftsspiel zwischen Sport, Politik und Umweltverträglichkeit nicht angepfiffen werden. Die Besten haben schon gewonnen.

Der Standard, Sa., 2025.07.19

14. Juli 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Die Freude am Fragwürdigen

Seit zehn Jahren betreibt der „rebellische Optimist“ Eugene Quinn seine Vienna Ugly Tours. Zeit für ein Spaziergangsgespräch darüber, wie wir Städte lesen, was immer hässlich sein wird und worüber sich heiter streiten lässt.

Seit zehn Jahren betreibt der „rebellische Optimist“ Eugene Quinn seine Vienna Ugly Tours. Zeit für ein Spaziergangsgespräch darüber, wie wir Städte lesen, was immer hässlich sein wird und worüber sich heiter streiten lässt.

Die Route rückwärts gehen? Das habe er in zehn Jahren noch nie gemacht, sagt Eugene Quinn. Jene Pointen, die sich in der gewohnten Dramaturgie auf vorher Gesagtes beziehen, müsse er jetzt leider weglassen. Aber heute geht es um einen Rückblick, also passt die Retourkutsche. Der in Wien lebende Engländer mit irischen Wurzeln trägt schwarzes T-Shirt und MA-48-orange Hose. Wie immer, wenn er seine Vienna Ugly Tour leitet, die 2015 erstmals stattfand und deren Name sich von selbst erklärt: in der Stadt der Unesco-zertifizierten Schönheit das Hässliche suchen und finden.

Tour-Endpunkt und heutiger Startpunkt: das Bundesamtsgebäude an der Radetzkystraße, auch bekannt als „Tintenburg“. Ein Monument der Postmoderne mit fragwürdiger Ästhetik. „Die blaugrün gemusterten Platten sind angeblich eine Hommage an Gustav Klimt, aber für mich sehen sie aus, als hätte jemand aus dem Fenster gespieben“, sagt Quinn, dem man keinen Mangel an plakativen Meinungen nachsagen kann. Drinnen wird es auch nicht besser. „Der Eingang ist zu eng, das Haus ist zu hermetisch, es gibt keinen Dialog mit der Außenwelt, und in den Gängen verliert man sofort die Orientierung. Kein Ort zum Wohlfühlen!“

Das derart gescholtene Ministerium war von Anfang an Teil der Vienna Ugly Tour. Die Beamtinnen und Beamten, sagt Quinn, nähmen es gelassen. „Sie haben sich sogar gefreut, dass überhaupt Besucher vorbeikamen.“ Der von Peter Czernin entworfene und 1986 fertiggestellte achteckige Sozialpartnerschafts-Prunkbau gehört zweifellos nicht zu den Top Ten der Wiener Architekturschönheiten. Als er letztes Jahr unter Denkmalschutz gestellt wurde, reagierten viele irritiert. Doch mit der zeitlichen Distanz wandelt sich unser Blick auf das Gebaute, wird sanfter und gnädiger. Was hat sich in zehn Jahren Vienna Ugly geändert? Haben Quinn und seine Tourengeher manche hässlichen Entlein inzwischen lieb gewonnen?

Verschwitzte Unterleibsesoterik

Manche Stationen, sagt Quinn, seien tatsächlich entfallen, etwa der Nordturm des Stephansdoms („sieht aus wie ein abgebrochener Zahn“) oder die Skulpturen vor dem Michaelertrakt der Hofburg („unangenehm aggressiv“), weil die Teilnehmerinnen seiner Tour protestierten. Andere nahmen sich selbst aus dem Spiel, wie die bizarre Fassadenmalerei am „Haus der Zeit“ am Karmelitermarkt, deren Motive aus dem Bereich verschwitzter Unterleibsesoterik nach dem Verkauf des Hauses mit neutralem Beige übertüncht wurden. Wieder andere waren wenig erfreut über die Aufmerksamkeit und drohten mit Klagen. Um ein Hotel an der Ringstraße muss Quinn heute einen Bogen machen.

Wir verlassen das Ministerium also in die entgegengesetzte Richtung. In einer Stadt, die zunehmend vom Overtourism kolonialisiert wird, mag es erstaunen, dass die Mehrzahl der Teilnehmer bei der Vienna Ugly Tour Einheimische sind. Doch genau darum geht es. Das Aus-dem-Haus-Gehen und Hinschauen ist für den leidenschaftlichen Fußgänger Quinn mindestens so wichtig wie das betrachtete Objekt. Damit steht er in der Tradition des Schweizer Spaziergangswissenschafters Lucius Burckhardt und der Pariser Situationisten der 1960er-Jahre, und er ist nicht allein. Eine Renaissance von themenspezifischen Städtetouren jenseits von langweiligem Baedekerwissen-Herunterbeten ist weltweit zu beobachten. Bei der Vienna Walking Week Ende Juli, die von Quinn und seinem Team von Whoosh organisiert wird, gibt es Touren zu Kunst am Bau im Wiener Gemeindebau und zu Wiens Rolle als Welthauptstadt der Spionage. Dort zieht die Route eine logische Linie von der russischen Botschaft zur FPÖ-Zentrale.

Trotz der hohen Einheimischenquote ist Vienna Ugly keine Suderantenrunde für zeternde Wutbürger an der „Gründerzeit gut, Moderne böse“-Frontlinie, sondern eine heitere Angelegenheit. Schließlich bezeichnet sich Quinn als „rebellischer Optimist“. Er will andere Blickwinkel auf das Gewohnte eröffnen und nebenbei ernste Themen verhandeln. Sein Motto: „fun meets politics“.

Schon bei der nächsten Station, dem News-Tower am Schwedenplatz, sind erste Meinungsverschiedenheiten zu vermelden. Für den Rezensenten ist die locker komponierte Collage aus geraden und schiefen Bauteilen einer der besten Bauten von Hans Hollein, da der Architekt hier ausnahmsweise seine Liebe zu barocker Überladenheit zähmte. Nein, sagt Quinn. Für ihn ist der Turm ein Fixpunkt auf der Tabelle der Tristesse. „Es ist störend und viel zu grau. Niemand mag Grau – außer die Wiener Architekten! Wenigstens ist das riesige Display auf dem Dach kaputt, und wir müssen keine Werbung für die Autorevue mehr sehen.“ Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sein müssen.

Schönheit und Langeweile

Ganz anders beim Collegium Hungaricum in der Hollandstraße. Das ist zwar nicht grau, sondern rot und weiß, aber seine willkürlich verteilten Diagonalen und Stabwerke versuchen hilflos, avantgardistisch zu wirken. Nicht gerade eine Werbung für ungarische Kultur. „Es wirkt alles andere als einladend“, sagt Quinn. „Wenn man daran vorbeigeht, fühlt man sich sehr unsicher – es sieht aus, als ob es gleich auseinanderfällt.“

An dieser Stelle der Tour, sagt er, folge in der Regel ein Exkurs darüber, dass Schönheit auch langweilig sein kann und weniger in Erinnerung bleibt als das Seltsame und Schiefe. Auch Architektinnen und Designer sprechen erfahrungsgemäß lieber über Harmonie und Proportion als über den nicht zu greifenden Begriff Schönheit. Jene, die von der Existenz einer „objektiven Schönheit“ überzeugt sind, bringen meist die Symmetrie ins Spiel. Doch Symmetrie ist so etwas wie das Glutamat der Ästhetik: ein Geschmacksverstärker, aber kein Rezept. Auch der Berliner Dom, zweifellos eines der hässlichsten Bauwerke der Menschheitsgeschichte, ist symmetrisch.

Das Wohnhaus in der Großen Schiffgasse 9 ist es auch, aber deswegen ist es nicht auf der Ugly-Liste. Seine kunterbunte Fassadengrafik erinnert Quinn an eine unbeholfene Kinderzeichnungsversion von Joan Miró und die Modetorheiten der 1980er-Jahre. Schiefe Haarschnitte, Schulterpolster. „Damals sahen auch schöne Menschen hässlich aus!“ Aber ist diese etwas unbeholfene Heiterkeit wirklich hässlich? Die Frage bleibt offen, wir müssen zum Endpunkt der Tour, Pardon, zurück zum Anfang: dem Flakturm im Augarten. „Den finden die meisten sowohl hässlich als auch schön, er lässt sich nicht kategorisieren“, sagt Quinn, verabschiedet sich und begrüßt die Schweizer Touristinnen, die seine Tour gebucht haben. Und sofort geht es dieselbe Strecke retour, in die richtige Richtung.

[ Die Vienna Walking Week 2025 findet von 19. bis 25. Juli statt. ]

Der Standard, Mo., 2025.07.14

Alle 744 Texte ansehen

Publikationen

Alle 12 Publikationen ansehen

Presseschau 12

04. Oktober 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Diplomatische Zurückhaltung

Ein eckiger Tanz auf dem internationalen Parkett: Der Neubau der Deutschen Botschaft in Wien versucht, die Balance zwischen Hochsicherheit und Offenheit zu halten. Das gelingt ihm nur teilweise.

Ein eckiger Tanz auf dem internationalen Parkett: Der Neubau der Deutschen Botschaft in Wien versucht, die Balance zwischen Hochsicherheit und Offenheit zu halten. Das gelingt ihm nur teilweise.

Das Wiener Botschaftsviertel ist ein Ort der nervösen Nachbarschaften. Hier, wo Parzellengrenzen Nationengrenzen darstellen, dominieren Zäune, Mauern, Kameras, Wachposten und Absperrungen den Zwischenraum. Mittendrin, mit einem prachtvollen Park gesegnet, die deutsche Botschaft, in angespannter Lage zwischen den Vertretungen Chinas und Russlands, dessen diplomatisches Verhältnis zu Deutschland momentan auf einem Tiefpunkt angelangt ist.

Mitten in diesem Spannungsfeld: eine Anomalie. Der hohe Metallzaun um das deutsche Territorium macht einen schwungvollen Ausreißer, weitet den Gehweg in Form einer tropfenförmigen Beule in den Garten hinein. Die freche Einladung zur Grenzüberschreitung, konzipiert vom Künstler Stefan Sous, ist die offizielle Kunst am Bau für den Neubau der Deutschen Botschaft. 2016 hatten die Leipziger Architekten Ansgar und Benedikt Schulz den Wettbewerb gewonnen, im April zogen die Mitarbeiter ein, Ende Oktober folgt die offizielle Eröffnung. Es ist das dritte Botschaftsgebäude an diesem Ort.

Die erste Vertretung errichtete das deutsche Kaiserreich 1877 im Renaissancestil, nach der Zerstörung folgte 1962–64 ein Neubau nach dem Entwurf von Rolf Gutbrod. Ein hervorragendes Beispiel der moderaten Moderne, das mit betonter Horizontalen und in schattigem Grau und Grün hinter den Bäumen zurücktrat. Es war die Zeit, als die junge Bonner Republik sich mit neuen Botschaftsgebäuden wie jenem von Hans Scharoun in Brasília als weltoffen und bescheiden präsentierte, ein Gegenmittel zum noch frischen Albert-Speer-Trauma der Monumentalität.

85.000 Reisepässe

Ab den 1990er-Jahren wurde es für die Beschäftigten jedoch enger, da die ständige Vertretung Deutschlands bei der OSZE an derselben Adresse Platz finden musste. Die Residenz des Botschafters wurde nach Hietzing ausgegliedert. 2014 wurde das sanierungsbedürftige Gebäude ganz geräumt, eine Studie kam zum Entschluss: Abriss und Neubau.

Man habe sich damals die Entscheidung für den Abriss wahrlich nicht leicht gemacht, sagt Thomas Hirschle vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), das als Bauherr fungiert. Neben dem zu hohen Sanierungsaufwand gaben die funktionalen Bedürfnisse den Ausschlag. 380.000 deutsche Staatsbürger leben in Österreich, davon 85.000 in Wien. Sie alle brauchen irgendwann einen neuen Pass. Die Wiener Botschaft ist nach jener in der Schweiz die zweitgrößte Pass-Anlaufstelle der Welt für Auslandsdeutsche. Veranstaltungen, Kulturarbeit und Empfänge brauchen repräsentativen Rahmen, vor allem wollte man Kanzlei, Residenz und Wohnbereich wieder an einer Adresse vereinen.

Der Entwurf von Schulz und Schulz, der die viergeschoßige Kanzlei mit den Büros und der Pass- und Visastelle über den zweigeschoßigen Trakt der Empfangsräume schichtet und mit dem fünfgeschoßigen Bauteil für die Residenz an der Ecke zur Reisnerstraße einrahmt, ist eine sinnvolle Umsetzung dieser Wünsche. Dabei blieb der Garten weitgehend unangetastet. „Der Garten war wirklich ein Geschenk“, sagt Benedikt Schulz. „Wir mussten ihn nur noch ein bisschen grüner machen.“

Zudem dient der Park als Filter zum öffentlichen Raum und übernimmt die zunehmend wichtige Rolle des Sicherheitsabstands. „Die internationalen Beziehungen sind schwieriger geworden“, sagt Botschafter Vito Cecere. „Vieles von dem, was heute passiert, entspricht nicht unseren Vorstellungen eines guten Miteinanders.“ Dass er damit vermutlich nicht nur den russischen Nachbarn meint, darf man zwischen den diplomatischen Zeilen lesen. „Umso wichtiger ist es, eine Dialogplattform bereitzustellen.“

Diese einladende Geste der Offenheit sei hier naheliegenderweise eine eher symbolische, betont Benedikt Schulz. „Die Sicherheit soll man gar nicht wahrnehmen.“ Die Sicherheitsanforderungen für Terrorabwehr und Geheimschutz innerhalb des Gebäudes sind hoch, die Personenströme müssen streng voneinander getrennt sein. Der Geheimschutz, sagt Ansgar Schulz, galt auch für die Architekten. „Wir durften bei der Planung auch nicht alles über das Gebäude wissen.“

Um den Widerspruch zwischen Offenheit und Terrorabwehr unter einen Hut zu bekommen, ist die Idee, die Baumasse mit einer horizontalen Fuge zweizuteilen und Luft hereinzulassen, nicht die schlechteste, auch wenn die Fassade aus Kärntner Marmor (eine Hommage an Gastgeberland und Nachhaltigkeit), die auch die Untersicht der auskragenden Bauteile bedeckt, dem Neubau eine gewisse lähmende Schwere verleiht. So ganz lässt sich der defensive Charakter nicht aus der Welt bekommen – eine Terrasse ist hier immer auch ein potenzielles Schussfeld.

Feststiege und Fluchtwege

Dafür empfängt die hohe Eingangshalle die Besucher mit ausgebreiteten Armen, das Atrium erlaubt den Blick in die unzugänglichen Obergeschoße und lässt zumindest die Existenz von inneren Botschaftsvorgängen erahnen. Den weniger sicherheitsrelevanten Weg in den ersten Stock eröffnet eine breite und recht steile Feststiege, die an einer leeren weißen Wand endet. Gäste mit Lackschuh und Robe müssen hier eine scharfe 180-Grad-Drehung hinlegen, wenn sie in der Beletage dem empfangenden Botschafter die Hand schütteln wollen. Die Atmosphäre erinnert eher an einen funktionalen Fluchtweg in einem Flughafenterminal als an den Wiener Kongress.

Die Repräsentationsräume, die sich zu Terrasse und Garten orientieren und an die Botschafterresidenz anschließen, zeugen von einer teils gelungenen Annäherung an Eleganz. Empfang, Bibliothek, Speisesaal. Am Boden leichte Variationen des Natursteins in Grau und Weiß, auch ein Schachbrettmuster taucht auf. Dezente Vorhänge, diskrete Holztäfelung. So ganz ließ sich die Aura bundesdeutscher Bürokratie aber nicht abschütteln. Immerhin: Entfremdete Auslandsdeutsche dürfen hier mit Assoziationen von Länderfinanzausgleichen, Sonderausschüssen und Anträge-bitte-per-Fax ihr Heimatgefühl auftanken.

Mit einer Ausnahme: Die weiße Wendeltreppe von der Terrasse in den Garten, inspiriert von den Besuchen der Architekten in Brasília, erlaubt sich eine martiniglashafte Leichtigkeit, die der übrige Bau nicht leisten darf, und erinnert an sorglosere Zeiten auf internationalem Parkett. Vielleicht kehren sie eines Tages zurück.

Der Standard, Sa., 2025.10.04

01. Oktober 2025Wojciech Czaja
db

Erweiterung einer Firmenzentrale in Ernstbrunn (A)

Die Windkraft Simonsfeld AG zählt zu den größten Windstromproduzenten Österreichs – und hat kürzlich ihren neuen Erweiterungsbau von juri troy architects bezogen. Der Holz-Lehm-Hybridbau überzeugt durch Atmosphäre, Innenraumklima und liebevoll komponierte Details.

Die Windkraft Simonsfeld AG zählt zu den größten Windstromproduzenten Österreichs – und hat kürzlich ihren neuen Erweiterungsbau von juri troy architects bezogen. Der Holz-Lehm-Hybridbau überzeugt durch Atmosphäre, Innenraumklima und liebevoll komponierte Details.

Es hilft nichts. Kaum hat man das Foyer betreten, schaut man zunächst einmal weder auf den eleganten Empfangstresen noch auf die schicken Lounge Chairs vor dem Fenster und schon gar nicht auf die wohlproportionierte Holzkonstruktion, die den gesamten Raum in einer stoischen Ruhe säumt – sondern muss unweigerlich zur Stampflehmwand hinlaufen, Hand ausstrecken, riechen, streicheln, herumrubbeln. »Und beinahe«, erzählt Architekt Juri Troy, »hätten wir die Lehmwand nicht realisieren können, denn es hat sich wochenlang kein einziges Lehmbauunternehmen gefunden, das bereit gewesen wäre, den Erdhaushub vor Ort zu verarbeiten. Das wäre echt ein Malheur gewesen! Umso besser, dass es dann doch noch geklappt hat.«

Zurück zum Anfang. Die Windkraft Simonsfeld AG zählt mit 94 Windkraftanlagen, die sie plant, realisiert und auch selbst betreibt, zu den größten Windstromproduzenten Österreichs. Was 1996 als kleines Garagen- und Bauernhof-Unternehmen begonnen hatte – damals wurden die Betreiber noch von vielen als grüne Spinner belächelt, wie man in der Firmenchronik nachlesen kann – ist heute einer der größten und wichtigsten Arbeitgeber in der Region, eine halbe Autostunde nördlich von Wien. Mit 150 Mitarbeitenden in der Verwaltung und einer jährlichen Ausbeute von über 740 Gigawattstunden an grünem Strom – genug, um damit 185 000 Haushalte zu versorgen – entwickelte sich das einstige Start-up auf diese Weise zu einem ausgewachsenen Unternehmen in diesem Bereich.

Vor den Bestand gesetzt

Der erste Wachstumsschub kam 2014, als das Büro vom Bauernhof im kleinen, beschaulichen Simonsfeld ins etwas größere Ernstbrunn übersiedelte und den österreichischen Architekten Georg Reinberg, seines Zeichens Öko- und Solarpionier, mit der Planung für die neue Firmenzentrale beauftragte. Reinberg setzte damals eine hölzerne Lagerhalle aufs Grundstück, daran angrenzend eine Hightech-Büromaschine für rund 50 Mitarbeitende, mit gläserner Südfassade und konstruktiv inszenierter PV-Anlage auf den Vordächern – eine Art technoides Passivhaus-Wahrzeichen in Stahl und Glas. Dazu passend die offizielle, dafür eigens eingetragene Büroadresse: Energiewendeplatz 1.

Mit dem grünen Trend und dem kontinuierlichen Ausbau an Windkraftanlagen im ganzen Land wuchs der Betrieb stetig an, einige Angestellte mussten sogar schon in eine angemietete Dependance übersiedeln, eine weitere Ausbaustufe am eigenen Grundstück – in direkter Nachbarschaft zum Reinberg-Bau – war daher unausweichlich. In Kooperation mit dem Wiener Consulting-Unternehmen M.O.O.CON, das sich vor allem als Partner für die sogenannte Phase Null versteht, wurde ein einjähriger Findungsprozess initiiert, der 2022 in ein Auswahlverfahren mit anschließendem geladenen, zweistufigen Architekturwettbewerb mündete. Unter den vier teilnehmenden Büros sps architekten, MAGK Architekten, Dietrich Untertrifaller und juri troy architects konnte sich Letzteres als Sieger durchsetzen.

»Eigentlich wurde in der M.O.O.CON-Ausschreibung ganz klar kommuniziert, dass die Aussicht freigehalten und der Zubau neben oder hinter dem bestehenden Gebäude positioniert werden müsse«, erinnert sich Architekt Juri Troy. »Aber das hätte bedeutet, dass man den Neubau versteckt und dass man sich weitere, optionale Ausbaustufen auf diesem Grundstück ein für alle Mal verbaut hätte. Dem haben wir uns widersetzt.« Im Gegensatz zu den drei Konkurrenzentwürfen wagte es Troy, den Neubau direkt vor den Reinberg-Bau zu setzen und der Windkraft Simonsfeld AG auf diese Weise ein völlig neues Gesicht zu geben. Statt Technik, Photovoltaik und abweisender Stahl-Glas-Konstruktion wird man am Grundstück nun von Holz, Loggien und farbigen Outdoor-Möbeln in Empfang genommen.

Doch nicht nur das. Mit dem Anbau in u-förmiger Konstellation ist es gelungen, dem Bestandsbau die Sackgasse zu nehmen und das gesamte Büro mitsamt Lobby, Kantine, Teeküchen, Konferenzsaal und sogar teilbarer Veranstaltungshalle zu einem Ring mit zirkulärer, redundanter Erschließung zusammenzufassen. Auf diese Weise steigen die physischen Begegnungen und Kommunikationssituationen im Unternehmen. Und: »Im Bestandsbau hatten bloß 13 Prozent aller Büros Aussicht auf das große, grüne Feld mit den identitätsstiftenden Windrädern am Horizont«, rechnet Juri Troy vor. »Nun sind es 68 Prozent. Das war eines der ausschlaggebenden Argumente für unseren Sieg.«

Bauteilaktivierter Stampflehm

Und hinein ins Haus. Der Zugang befindet sich in einer gedeckten Nische an der Schnittstelle zwischen Alt und Neu, beiderseits Respekt erweisend, beide Bauphasen wertfrei nebeneinanderstellend. Nach einem kleinen Foyer mit ökologischen Kokosmatten als Fußabstreifer, was sonst, befindet man sich im eingangs erwähnten, stimmungsvollen Luxusfoyer. Holzstützen, Holzmöbel, Holzdecken, Sitzlandschaften in warmen Rot- und Rosatönen sowie Terrazzoböden mit Steinen aus einem nahe gelegenen Steinbruch bilden den Vordergrund vor der erdigen, archaischen Stampflehmwand, die die beiden Sanitär- und Erschließungskerne des Neubaus umfasst und bis hinauf ins Obergeschoss reicht.

»Die Stampflehmwand ist ein nicht nur visuelles, sondern auch haustechnisches und bauphysikalisches Schlüsselelement dieses Entwurfs«, erzählt der Architekt. Sie dient als Wärmespeicher, Feuchtigkeitsregulator und vor allem als bauteilaktivierte Masse, denn im Inneren der 20 cm tiefen Stampflehmschicht, die in groben, wellenartigen Schichten den manuellen Produktionsprozess veranschaulicht, befinden sich wasserführende Leitungen, die wiederum an eine Sole-Wärmepumpe und an elf neue Tiefenbohrungen unter dem Haus angeschlossen sind. »Nichts anderes als eine klassische Bauteilaktivierung«, so Troy, »allerdings nicht mit Stahlbeton, sondern aus einem natürlichen Rohstoff zusammengestampft.«

Von Anfang an hatte der Entwurf vorgesehen, für die Lehmschale das Aushubmaterial vor Ort zu verwenden. Allerdings fand sich zwischen Ostösterreich und Vorarlberg lange Zeit kein einziger Spezialist, der bereit gewesen wäre, den lokalen Aushub weiterzuverarbeiten. Manche hätten sogar vorgeschlagen, den Lehm aus Vorarlberg zu beziehen und quer durch die Alpen zu transportieren. In Hinsicht auf graue Energie und Emissionen hätte das den Gedanken der Kreislaufwirtschaft ad absurdum geführt. Das Ursprungskonzept konnte doch noch realisiert werden, und zwar wohlgemerkt mit tatkräftiger Unterstützung lokaler Mitarbeitender. Dies trug dazu bei, dass das Projekt nach dem österreichischen Gütesiegel klimaaktiv zertifiziert wurde und den Maximalwert von 1 000 klimaaktiv-Punkten erreichen konnte – ein neuer Rekordhalter.

Stimmige Einheit

Rund um die beiden Stampflehmkerne wie auch in deren Inneren befindet sich eine Holzkonstruktion mit 24 x 24 cm großen Stützen und Balken sowie mit Wand- und Deckenelementen aus massiven CLT-Platten. Mit einem konstanten Achsmaß von 2,70 m kommt zwischen den vielen ausgeklügelten baulichen Details wie Sitznischen samt drehbaren Tischchen, Stehboards samt Leselampen und geschickt platzierten Zu- und Abluftschlitzen in den Balkenzwischenräumen nicht nur Ruhe und Ordnung ins Gebäude, sondern, mehr noch, ein weiterer Gedanke von Zirkularität: »Eines Tages«, meint Troy, »wird man das Gebäude abtragen und die Bauteile wiederverwenden können. Aus diesem Grund haben wir die Konstruktion so weit wie möglich standardisiert und modularisiert.«

Auch wenn die Architektur aufgrund der seriellen Modularität wie viele Holzbauten heutzutage auf den ersten Blick wie eine segmentierte Bentōbox aussieht, ist das Projekt gegenüber ähnlichen Bauten in puncto Materialität einen großen Schritt voraus. Jury Troy hat den Erweiterungsbau nicht – wie so oft – ideologisch in einem Holz durchdekliniert, sondern die jeweils bestgeeigneten Holzarten wie beim Bau einer Violine oder eines Konzertflügels nach Bedarf miteinander komponiert: Fichte als Konstruktionsholz, Eiche für die bewitterten Terrassenflächen, Lärche für die Fenster, Weißtanne für Fassade, Türen, Möbel und Akustikdecken und schließlich Esche für Parkett, Handläufe und Griffstangen. Das Resultat ist ein sensibel zusammengestelltes Potpourri mit fließenden materiellen und chromatischen Übergängen – von einem Meister der Nachhaltigkeit, der sein Fach bis ins allerkleinste Detail hinein versteht.

Spätestens wenn man am Fenster zum Hof steht oder in den intimen, windgeschützten Garten hinaustritt, wird man dessen gewahr, was für eine schöne, stimmige Einheit hier geschaffen wurde – mit dem Bau von 2014, dem Neubau von 2025 und einem gleichwertigen Nebeneinander unterschiedlicher Ideologien nachhaltigen Bauens. Wie ernst es der Bauherr mit seinem klimasensiblen, ressourcenschonenden Commitment meint, zeigt sich nicht zuletzt im Blutspende-Bus, der regelmäßig bestellt wird, sowie in den täglich frisch gekochten, ausschließlich vegetarischen Menüs in der Kantine. So, und zwar nur so, könnte die Klimawende eines Tages doch noch gelingen.

db, Mi., 2025.10.01



verknüpfte Bauwerke
Firmenzentrale Windkraft Simonsfeld



verknüpfte Zeitschriften
db 2025|10 Natürlich

06. September 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Killerkommando Canaletto

Seit dem Hochhausprojekt am Wiener Heumarkt wurde wohl kein Barockmaler so oft zitiert wie Bernardo Bellotto. Die Wiener Künstler Steinbrener/Dempf & Huber ziehen gegen ihren längst toten Kollegen in einen polemischen Kampf und fordern in ihrer Ausstellung: „Tötet Canaletto!“

Seit dem Hochhausprojekt am Wiener Heumarkt wurde wohl kein Barockmaler so oft zitiert wie Bernardo Bellotto. Die Wiener Künstler Steinbrener/Dempf & Huber ziehen gegen ihren längst toten Kollegen in einen polemischen Kampf und fordern in ihrer Ausstellung: „Tötet Canaletto!“

Der erste Aufschrei

„Ich denke an ein Retro-Hotel auf höchstem Niveau“, verriet der Wiener Investor Michael Tojner 2012 in einem Interview, als ihn DER STANDARD zu den Umbauplänen des Wiener Eislaufvereins befragte. Knapp zwei Jahre später war der internationale Wettbewerb entschieden: Mit seinem Entwurf für die Sanierung des Hotel Intercontinental sowie für ein ebenso modernistisch anmutendes Wohnhochhaus mit 22 Stockwerken und 73 Meter Gebäudehöhe konnte sich der brasilianische Architekt Isay Weinfeld gegen zwei Dutzend Konkurrenten aus aller Welt durchsetzen – darunter auch Hochkaräter wie etwa Snøhetta, Coop Himmelb(l)au und Neutelings Riedijk Architects. Aufgrund der Schreie und Beschimpfungen im Saal musste die Pressekonferenz damals abgebrochen werden.

Stadt als Meterware

In den Folgejahren entwickelte sich der „Tojner-Turm“ am Rande der Innenstadt zu einem Wiener Politikum, und schon bald mischten sich zwei externe Kräfte in die Diskussion mit ein – einerseits die Unesco, die damit droht, Wien im Falle einer Realisierung den Welterbe-Status abzuerkennen, andererseits der venezianische Vedutenmaler Bernardo Bellotto, besser bekannt als Canaletto, der während seines zweijährigen Wien-Aufenthalts im Auftrag von Maria Theresia ein paar Stadtansichten malte – darunter auch Wien, vom Belvedere aus gesehen, entstanden 1761. Und so musste das geplante Turmprojekt am Heumarkt immer wieder gestaucht und zusammengestutzt werden. Nach heutigem Stand – und noch weit entfernt von einem realisierungsfähigen Konsens – misst er 49,95 Höhenmeter.

Barocke Messlatte

„Wien hat sich seit dem Barock dramatisch weiterentwickelt, und Canaletto ist seit 245 Jahren tot“, sagt Christoph Steinbrener, der mit seinen beiden Partnern Rainer Dempf und Martin Huber das Wiener Künstlerkollektiv Steinbrener/Dempf & Huber leitet. „Wie kann es also sein, dass ein solches Auftragswerk, das in seinen Größen und Proportionen erwiesenermaßen verzerrt und beschönigt wurde, heute immer noch als qualitative Referenz herangezogen wird? Will man Stadtplanung im 21. Jahrhundert ernsthaft an den subjektiven Kennwerten einer absolutistischen Monarchie abarbeiten?“ Der Canaletto-Blick, so Steinbrener, sei damals schon ein Fake gewesen, daher habe er auch überhaupt keine Skrupel, in der Tradition des falschen Abbilds weiterzuarbeiten.

Narrativ der Rechten

„Genau so arbeitet die rechte Politik“, sagt er. „Sie lässt die Kommunikation eskalieren und erreicht damit große Erfolge. Also dachten wir uns: Wir werden die plakative, leicht verständliche und wohl auch erfolgreiche Herangehensweise nicht allein den Rechten überlassen. Das können wir auch!“ Und so eröffneten Steinbrener/Dempf & Huber dieser Tage eine Ausstellung unter dem provokanten Titel Tötet Canaletto!. Die Schau in der Wiener Galerie rauminhalt harald bichler zeigt unter anderem verfremdete Canaletto-Blicke, die zu ganz neuen Arrangements collagiert werden – mit Knochen, Baseballschlägern, kiloschweren Vorschlaghämmern, aggressiv durchschneidenden Stadtautobahnen und himmelhohen Isay-Weinfeld-Hochhäusern, die wie im Hollywood-Film Inception zu einer surrealen Traumwelt zusammenwachsen.

59 Stockwerke

Und plötzlich gibt es in einem Viertelkilometer Höhe ein zweites, gespiegeltes Wien, das mit der echten oder angeblich echten Stadt da unten über Pflanzendarstellungen aus alten Lehrbüchern sowie über insgesamt 14 Tojner-Türme, jeder einzelne davon 59 Stockwerke hoch, verbunden ist. „Wir finden den Turm eigentlich ein bissl fad und vor allem auch sehr kurz nach all den Verkleinerungen“, sagt Künstler Martin Dempf, der in seinem Zweitberuf selbst als Architekt tätig ist. „Also haben wir ihn nach eigenem Ermessen wieder ein bisschen höher gemacht, denn der absolutistisch angelegte Schlossgarten Belvedere, aus dem die Öffentlichkeit einst aktiv ausgeschlossen wurde, kann in Zeiten der Wohnungsnot und der stadtplanerischen Stagnation ruhig einen zeitgenössischen Impuls vertragen.“

Wie tot ist das Tote?

Die am Dienstag eröffnete Ausstellung in der Schleifmühlgasse zeigt neben Collagen, Dioramen und Installationen, die allesamt mit dem vielzitierten Canaletto-Blick arbeiten, auch eine Handvoll schräg inszenierter Tierpräparate – ob das nun halbe Rehe sind oder kopflose Raben mit einem kopfsubstituierenden Objektiv von P. Angénieux, Paris. „In der Tierpräparation ist man stets darum bemüht, das tote Tier so darzustellen, dass es möglichst lebendig und möglichst wenig tot erscheint“, sagt Dempf. „Es ist eine Verzerrung zwischen Original und Kopie. So ähnlich ist das auch beim Canaletto.“ Mit dem ständigen Referenzieren auf einen barocken Zustand, der ohnehin nicht die Realität abgebildet habe, töte man jeden Gedanken einer künftigen Entwicklung.

Urbane Konfliktliebe

„Wir lieben die Stadt“, sagen Steinbrener/Dempf & Huber, die sich schon seit 20 Jahren mit dem Thema Stadt und öffentlicher Raum beschäftigen, im Interview mit dem ΔTANDARD. „In der Dichte der vielen, vielen Konflikte, die es hier Tag für Tag auszutragen gilt, ist die Großstadt das wahrscheinlich komplexeste und faszinierendste soziale Biotop, in dem wir Menschen koexistieren. Umso wichtiger ist es, für die Zukunft Kriterien zu finden und Qualitätsstandards zu definieren, die keinen toten Barockmenschen instrumentalisieren, sondern die aus heutiger Sicht heraus, mit dem heutigen Wissen im Talon eine gesunde Stadtentwicklung und Stadtverdichtung ermöglichen. Als Künstler nehmen wir uns die Freiheit, diesen Missstand zu kommentieren. Canaletto gehört endlich begraben.“

[ Die Ausstellung „Tötet Canaletto!“ ist noch bis 4. Oktober 2025 zu sehen. Galerie rauminhalt_harald bichler. ]

Der Standard, Sa., 2025.09.06

16. August 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Lernen von der Platte

In Berlin hat FAR Frohn & Rojas kürzlich ein Wohnhaus fertiggestellt – mit serieller Bauweise, unverputztem Sichtbeton und ziemlich rougher Ausstattung. Der Bau könnte ein Exempel für billiges Bauen und Wohnen sein.

In Berlin hat FAR Frohn & Rojas kürzlich ein Wohnhaus fertiggestellt – mit serieller Bauweise, unverputztem Sichtbeton und ziemlich rougher Ausstattung. Der Bau könnte ein Exempel für billiges Bauen und Wohnen sein.

Nackte Betonwände in den Zimmern, unverspachtelte Betonunterzüge an der Decke, spartanisch gestaltete Betonlaubengänge mit einer flankierenden Bauteildämmung aus Hornbach-Heraklith, als hätte die Baufirma das Gerüst abgebaut, bevor sie die Außenseite des Hauses überhaupt noch streichen und verputzen konnte. „Nein, das ist Absicht“, sagt Marc Frohn, „und nicht nur, weil wir als Architekten darin eine gewisse Ästhetik erkennen, sondern vor allem auch, weil wir mit diesem Wohnhaus ein Exempel für intelligenten seriellen Wohnbau statuieren wollten.“

Kaulsdorf im tiefsten Osten von Berlin ist so etwas wie das Harter Plateau in Linz oder die Rennbahnsiedlung in Wien. Kaulsdorf Nord 1 im Speziellen, eine wenig charmante Namensgebung der damaligen DDR-Stadtplanung, zählt mit seinen Hochhäusern aus den 1970er- und 1980er-Jahren zu den größten Plattenbausiedlungen Europas – mit viel Grün zwischen den Häusern, aber auch mit Hartz IV, Netto-Diskontern und verrosteten Teppichklopfstangen im Innenhof.

„Im Sinne der städtischen Nachverdichtung eignen sich diese luftig bebauten Quartiere bestens für Neubauten und Lückenschließungen“, so Frohn. „Und nachdem wir hier von jahrzehntelanger Expertise in serieller Vorfertigung umgeben sind, mit Waschbetonfassaden und Plattenbauten aus der Serie WBS70, wollten wir uns auf genau diesem Grundstück mit der Zukunft des seriellen Bauens beschäftigen – und uns die Frage stellen, wie wir Vorfabrikation im besten Einvernehmen mit architektonischer Kreativität technisch effizient und wirtschaftlich attraktiv weiterdenken können.“

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Marc Frohn – der gemeinsam mit Mario Rojas und Wendy Gilmartin das trinationale Architekturbüro FAR Frohn & Rojas leitet, mit Niederlassungen in Berlin, Los Angeles und Santiago de Chile – mit seriellem Wohnbau beschäftigt. Bereits 2019 entwickelte er das vielfach preisgekrönte Wohnregal im Berliner Bezirk Moabit, damals noch mit bloß zehn Wohnungen und einem Büro im Erdgeschoß, in das er selbst eingezogen ist.

Spiegelgleiche Wohnriegel

„Doch nun wollten wir noch einen Schritt weiter gehen und die Idee des Seriellen mit all seinen räumlichen und materiellen Reizen auf einen größeren Maßstab ausweiten.“ Das Resultat ist eine Wohnhausanlage mit zwei spiegelgleichen Wohnriegeln mit insgesamt 124 Wohnungen. Der Bausatz umfasst an die 8300 Fertigteile – darunter nicht nur Säulen, Platten und Unterzüge, sondern auch 124 vorfabrizierte und in einem Stück auf die Baustelle gelieferte Badezimmerboxen.

„Wir stellen das serielle Bauen bewusst und ungeschminkt zur Schau“, sagt Frohn, „ohne Farbe und ohne Verkleidung – und gerne mit all den fleckigen Marmorierungen in der Betonoberfläche.“ Sowohl drinnen in den Wohnungen als auch draußen auf den netzbespannten Laubengängen mit ihren hyperbelförmigen Balkonausweitungen sind die Unterzüge als konstruktive Maßnahme deutlich ablesbar. Bei einer Raumhöhe von 2,85 Metern, die im Neubau mittlerweile als Rarität erachtet werden kann, erscheint dies nicht wirklich störend. Mehr noch ergeben sich in den Schnittpunkten von Säule, Konsole und Querträger spannende Details. Schalter, Steckdosen und Verkabelungen sind auf Putz geführt. Why not?

Doch die Einsparungen liegen nicht nur in der radikalen Reduktion der Materialien, sondern auch in der cleveren Anordnung und Funktionsüberlagerung der Flächen: Der halböffentliche Laubengang dient zugleich als Balkon, auf Vorzimmer wurde komplett verzichtet, die unorthodox geschnittenen Räume mit ihren deckenhohen, teils doppelflügeligen Türen lassen unterschiedliche Nutzungen zu. Hinzu kommt der vom Berliner Landschaftsarchitekturbüro Topotek 1 gestaltete Innenhof – mit knallrotem Sportbelag und ebenso rot lackierten Sitzmöbeln und Spielgeräten.

„Ja, dieses Wohnhaus ist wohl Geschmackssache“, sagt ein junger Herr im Erdgeschoß, der erste, bereits eingezogene Mieter, nachdem die Vermarktung des Projekts im Mai startete und das Haus vor wenigen Wochen erst fertiggestellt wurde. „Ich habe mit meiner Familie davor in einem klassischen Gründerzeithaus gewohnt, und das hier ist jetzt so ziemlich das Gegenteil davon. Aber die Architektur ist in ihrer Fremdheit irgendwie ansprechend. Ich bin schon gespannt, wie sich dieser Wohnriegel mit der Zeit mit Leben füllen wird.“

Mit rund 15 bis 20 Prozent Ersparnis in den Baukosten ergeben sich hier gute Möglichkeiten, die mittlerweile exorbitant hohen Wohnkosten in deutschen Städten ein wenig zu senken. Beim ersten Projekt in Moabit ist dies gelungen, rechnet der Architekt vor, und auch das nun geplante Folgeprojekt in Köln, ein Wohnhaus mit günstigen Wohnungen für Bedienstete der Kölner Stadtwerke, ist bereits in Entwicklung, doch ausgerechnet beim Wohnregal in Kaulsdorf ist die Rechnung leider nicht aufgegangen.

Der Auftraggeber und Investor Euroboden, der lange Zeit innovative High-End-Bauten mit namhaften Architekten wie etwa David Adjaye, David Chipperfield und Arno Brandlhuber realisiert hat, ist seit Ende 2023 insolvent. Eine attraktive Bewertung und Verwertung des Objekts scheint in dieser Situation für einen potenziellen Abverkauf allerhöchste Priorität zu haben – und das schlägt sich auch in der Miete nieder. Auf diversen Immobilienplattformen tauchen die letzten noch verfügbaren Mietwohnungen für 20 Euro und mehr pro Quadratmeter auf. Das ist selbst für Berliner Verhältnisse jenseits von Gut und Böse.

Wirtschaftlich reizvoll

„Mit den beiden Fertigteilhäusern in Moabit und Köln haben wir bewiesen, dass eine serielle Fertigung architektonisch attraktiv und wirtschaftlich reizvoll sein kann und dass wir die Wohnkosten auf diese Weise spürbar reduzieren können“, sagt Marc Frohn, „aber auch, wie viel Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten wir in einem seriellen System haben – und das genau hier, in Kaulsdorf, umgeben von Plattenbauten, quasi von unseren architektonischen Großeltern. Wir können von der Platte lernen.“

In einer Zeit, in der die Wohnkosten ungebremst nach oben klettern, auch in Österreich, mit all den Normen, Vorschriften und baurechtlichen Anforderungen, stellt sich die Frage, ob der Verzicht auf teure Baustoffe, hochwertige Ausstattungen und komplexe technische Schnittstellen nicht eine Möglichkeit wäre, das Wohnen endlich ein Äutzerl billiger zu machen. Sicher keine Lösung für die breite Masse, aber für einige.

Der Standard, Sa., 2025.08.16

09. August 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Rückwärtsgang in Stahlbeton

Die Budapester Burg ist eine Großbaustelle. Viktor Orbáns Fidesz rekonstruiert hier die Kaiserzeit und schiebt andere historische Schichten zur Seite. Eine kritische Bergbesteigung mit dem Künstler Andreas Fogarasi.

Die Budapester Burg ist eine Großbaustelle. Viktor Orbáns Fidesz rekonstruiert hier die Kaiserzeit und schiebt andere historische Schichten zur Seite. Eine kritische Bergbesteigung mit dem Künstler Andreas Fogarasi.

Eine breite Baulücke klafft am Nordrand des Várhegy, des schmalen Bergrückens parallel zur Donau, auf dem die Budapester Burg thront. Rechts von der Lücke: Das wuchtige Gebäude des ungarischen Staatsarchivs, ein historistischer Bau aus dem Jahr 1923. Links davon: ein schmales Stiegenhaus aus Beton und Glas, dem das dazugehörige Haus fehlt. Es gehörte zum Archiv-Erweiterungsbau aus den 1970er-Jahren, der inzwischen abgerissen wurde.

Gefüllt werden soll die Baulücke mit einer Art neuem Altbau. Der im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte und später abgerissene Turm soll wieder errichtet werden, ergänzt um einen Gebäudeflügel, der 1923 geplant, aber nie ausgeführt wurde. Eigentlich sollte mit den Bauarbeiten schon 2022 begonnen werden, passiert ist bisher nichts. Der unerwünschte Bau aus sozialistischer Zeit wurde vorsichtshalber schon beseitigt.

Die Moderne tilgen

Es ist nicht der einzige neue Altbau auf dem Várhegy im Rahmen der großen Rekonstruktions-Initiative namens Nationales Hauszmann-Projekt. Benannt ist es nach Hofbaumeister Alajos Hauszmann, der zwischen 1890 und 1905 die Burg in großem Stil ausbaute, um auf imperialer Augenhöhe mit Wien zu sein – eine Ära, die jetzt wiedererstehen soll, wenn es nach Viktor Orbáns Fidesz-Partei geht, die das Programm maßgeblich vorantreibt. Davon erzählen die vielen Bauzäune, bedruckt mit Fotos, Zeichnungen und Porträts früherer Könige in stattlich-bärtiger Männlichkeit.

Nicht alle sind begeistert von diesem Großvorhaben. „Eine wesentliche Motivation des Hauszmann-Projekts und der aktuellen Regierung ist es, die Moderne aus dem Stadtbild zu tilgen“, sagt Andreas Fogarasi, vor dem Bauzaun des Nationalarchivs stehend. „Ihre Verwerfungen und Wunden und die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts sollen unsichtbar gemacht werden.“ Der in Wien lebende Künstler mit ungarischen Wurzeln kennt die Bausubstanzen von Budapest, denn sie sind Kern seiner Arbeit. Er kombiniert Elemente von abrissbedrohten Bauten zu Materialpaketen, komprimierter Architektur-Archäologie. Seine besondere Liebe gilt der Architektur der Nachkriegszeit. Den Abbruch des Archivgebäudes bedauert er sehr.

Dass den Befürwortern des Hauszmann-Projekts die Bauten der 1950er- bis 1980er-Jahre ein Graus sind, wird keineswegs verhohlen. Denn die Kommunisten, sagen sie, hätten die Zeugen der imperialen Zeit, die der Krieg übrigließ, aus „ideologischen Gründen“ zerstört. Die simple Gleichung: Kommunismus gleich Moderne gleich Internationalität, ohne Rücksicht auf das typisch Ungarische, was immer es sein mag. Spaziert man mit Andreas Fogarasi durch den Várhegy, wird klar, dass das nicht ganz stimmt. Denn die Kommunisten machten hier keineswegs Tabula rasa. Im Altstadt-Gefüge entdeckt man zahlreiche Wohnbauten jener Zeit, die eine unaufgeregte Moderne mit historischen Elementen kombinieren und tadellos gealtert sind.

„Moderne Neuinterpretation“

Auch die Burg selbst wurde nach 1945 nicht als Symbol des unerwünschten Imperialismus gesprengt, sondern wieder aufgebaut – hier unterschied sich Ungarn von der DDR, die das Berliner Stadtschloss per Sprengladung beseitigte. „In Budapest wurde in einem jahrzehntelangen Prozess eine moderne Neuinterpretation geschaffen“, sagt Andreas Fogarasi. „Verschiedene Fassaden nahmen Bezug auf verschiedene Zeitalter, es wurden alternative Formen für die wiederaufgebaute Kuppel diskutiert. Aber heute treffen sich Berlin und Budapest im Rekonstruktionswahn der Gegenwart.“

Nähert man sich dem Burgkomplex, der die südliche Hälfte des Várhegy einnimmt, zeigt das Hauszmann-Projekt sein ganzes Gewicht. Hier werden derzeit das Gebäude des Oberkommandos der ungarischen Streitkräfte und das Erzherzog-Joseph-Palais von Grund auf neu errichtet. Allein diese beiden Bauten dürften mehr Beton aufbieten als die gesamte sozialistische Moderne auf dem Burgberg. Verkleidet in Styropor, darauf ein dünner Firnis aus historischem Dekor.

Das Spiel aus alt und neu wird nicht weniger verwirrend, je weiter man spaziert. Ein Flügel der Burg aus der Rekonstruktion der Nachkriegszeit ist bis auf die Fassade demoliert, daneben baut man an einer alternativen Rekonstruktion. Zwar ist die acht Jahrhunderte umfassende Baugeschichte der Budapester Burg eine des permanenten Umbaus, doch während die Wieder-Aufbauer des Sozialismus noch sorgfältige Archäologie betrieben hatten, ist für das Hauszmann-Projekt nur ein einziges historisches Kapitel interessant – jenes, das mit Ungarns größter territorialer Ausdehnung assoziiert wird. Auch hier ist also reichlich Ideologie im Spiel. Die Architekturtheoretikerin Maitri Dore weist in ihrer Forschungsarbeit Nation-building through architecture in post-socialist Budapest auf diesen selektiven Umgang mit der Geschichte hin: Alles vor dem ungarischen Schlüsseljahr 1867 wird beiseitegeschoben, alles nach 1945 sowieso.

Für sie ist der Fokus auf den Várhegy auch ein Zeichen, dass sich Fidesz nicht mit der Stadt auseinandersetzen und lieber über ihr thronen will. Während hier in Buda dreistellige Millionenbeträge ausgeschüttet werden, bröselt die Bausubstanz in Pest an vielen Stellen vor sich hin. Das ärgert auch Andreas Fogarasi: „Es macht mich unglaublich wütend, dass ein Staat, der die Bildung, die Gesundheitsversorgung, die unabhängige Presse und Kultur finanziell aushungert, sich mit einem enormen Aufwand dieses Denkmal errichtet und dafür historisch und architektonisch wertvolle Substanz zerstört.“

Feingliedrige Glaselemente

Endpunkt des Spaziergangs: die Kuppel des Palastes, wiedererrichtet 1961. Das Tageslicht flutet durch einen Vorhang feingliedriger Glaselemente in die Räume der Nationalgalerie. Auch hier hat das Hauszmann-Projekt große Pläne. Die Galerie wird in einen Neubau in Pest abgesiedelt, entworfen vom japanischen Büro SANAA. Die Kuppel soll durch eine Kopie der neobarocken Hauszmann-Kuppel ersetzt werden. Andreas Fogarasi, der Materialsammler, schaut zu den Glaselementen und seufzt: „Im schlimmsten Fall bekomme ich ein Dutzend davon. Im besseren Fall gar nichts – und die Kuppel bleibt bestehen.“

Der Standard, Sa., 2025.08.09

30. Juli 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Coop-Himmelb(l)au-Mitgründer Helmut Swiczinsky 81-jährig gestorben

Der dekonstruktivistische Architekt hat die internationale Baukultur der letzten Jahrzehnte mitgeprägt und hinterlässt ein wichtiges Stück Architekturgeschichte

Der dekonstruktivistische Architekt hat die internationale Baukultur der letzten Jahrzehnte mitgeprägt und hinterlässt ein wichtiges Stück Architekturgeschichte

„Es gibt keine Wände mehr. Unsere Räume sind pulsierende Ballons. Unser Herzschlag wird zum Raum, unser Gesicht ist Hausfassade.“ Mit Provokationen wie diesen zählten Helmut Swiczinsky und sein Kompagnon Wolf D. Prix in den 1960er-Jahren zu den Jüngsten und Wildesten der Wiener Architekturszene. Mit ihren weißen Anzügen, aufblasbaren Herzräumen und riesigen pneumatischen Wohneinheiten haben die beiden Architekturstudenten in der Aula und in den Zeichensälen der Technischen Hochschule, der heutigen TU Wien, Geschichte geschrieben.

Geboren wird Helmut Swiczinsky 1944 im polnischen Poznań. Er wächst in Wien auf und studiert Architektur in Wien und an der Architectural Association in London. Auf einer Flugreise von Spanien nach Wien beschließt er, gemeinsam mit Wolf D. Prix eine Architekturgruppe zu bilden. „Ich habe damals gerade Hamlet gesehen“, wird sich Prix später erinnern und aus ebendiesem Stück zitieren: „Seht Ihr die Wolke dort, beinah in Gestalt eines Kamels? Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel. Oder wie ein Walfisch?“ Mit dem Blick aus dem Flugzeug wird schließlich der Name des Büros geboren: Coop Himmelblau. „Himmelblau ist keine Farbe“, schreiben die beiden bald in manifestartigen Worten nieder, „sondern die Idee, Architektur mit Fantasie leicht und veränderbar wie Wolken zu machen.“

Zu den ersten Projekten zählen Villa Rosa, The Cloud, Herzraum Astroballon, Herzstadt Weißer Anzug, Gesichtsraum Soul Flipper, Haus mit fliegendem Dach und Flammenflügel im Innenhof der TU Graz („Architektur muß brennen“). Die Prototypen aus Gummi, Latex, Kunststoff, Metallgittern und aufblasbaren Membranen ernennen Luft und Feuer zum Baustoff und erklären der Schwerkraft die Absage. Die Wolken, Fernsehhelme und kugelförmigen Konstruktionen gelten als neue Medien, Körperverlängerungen und dematerialisierte Wohnorganismen.

Berühmt über Nacht
„Unsere Architektur hat keinen physischen Grundriß, sondern einen psychischen“, lautet einer der Texte zu den frühen Projekten, die im architekturtheoretischen Kontext dem Dekonstruktivismus zugeordnet werden und schon bald im Museum of Modern Art (MoMA) in New York zu sehen sind. Oder, noch präziser, in Anspielung an den westdeutschen Aktivisten Rudi Dutschke: „Nicht wir haben uns zu verändern, um in Architektur zu leben, sondern die Architektur hat so auf unsere Bewegung, unser Gefühl, unsere Stimmung, unsere Emotion reagieren, daß wir in ihr leben wollen.“

1983 entsteht das erste dauerhaft realisierte Hochbauprojekt, der Dachausbau Falkestraße in der Wiener Innenstadt. Das mittlerweile denkmalgeschützte Projekt für eine Wiener Rechtsanwaltskanzlei macht die beiden über Nacht international berühmt. Es folgen das Fundermax-Werk in St. Veit an der Glan (1989), der UFA-Kinopalast in Dresden (1998), das Wohnprojekt Gasometer Wien (2001), das Akron Art Museum in Ohio (2007), die BMW-Welt in München (2007), das Musée des Confluences in Lyon (2009) und die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main (2011).

Bruch der Buddys
In den Jahren der EZB-Planung zieht sich Helmut Swiczinsky, der stille und philosophische Innenminister von Coop Himmelb(l)au, das im Zuge der zunehmenden Bautätigkeit das „l“ in Klammern setzt, allmählich aus dem operativen Geschäft zurück. Mit dem Aufkommen der großen Projekte für Baku, Istanbul, Seoul, Dalian und die Halbinsel Krim kommt es zum Bruch der einstigen Buddys, die einst so stark zusammengeschweißt waren wie die Beatles oder die Rolling Stones, deren Song Gimme Shelter viele lange Jahre in der Warteschleife erklingt, wenn man bei Coop Himmelb(l)au anruft.

Helmut Swiczinsky löst die Büropartnerschaft auf und bricht den Kontakt zu Wolf Prix ab. In den letzten zehn Jahren lebt er ohne aktive Erwerbstätigkeit im Kreise seiner Familie und widmet sich der Malerei und der Philosophie. Am Dienstag ist er nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. „Er war einmal mein größter Freund“, sagt Prix auf Anfrage des STANDARD. „Wenn Menschen aus dem Leben gehen, werden die Geschichten, die man mit ihnen erlebt hat, Vergangenheit. Das macht mich sprachlos.“

Der Standard, Mi., 2025.07.30



verknüpfte Akteure
Swiczinsky Helmut

19. Juli 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Wohnzimmer für die Wuchtel

Heute Nachmittag wird das neue Reichshofstadion in Lustenau eröffnet. Das „Fußball-Wohnzimmer“ ist ein spannendes Match zwischen Holzbau, Anrainer-Interessen und cleverer Verkehrsplanung.

Heute Nachmittag wird das neue Reichshofstadion in Lustenau eröffnet. Das „Fußball-Wohnzimmer“ ist ein spannendes Match zwischen Holzbau, Anrainer-Interessen und cleverer Verkehrsplanung.

Heute, Samstag, 16 Uhr, werden die Grün-weiß-Gestreiften aus Lustenau gegen die Augsburger im knallroten Auswärtstrikot antreten und das neue Reichshofstadion mit einem Freundschaftsspiel eröffnen. „Der FC Augsburg spielt in der deutschen Bundesliga, das ist ein Klassenunterschied, das kann man nicht leugnen, die sind schon echt gut“, sagt Bernd Bösch, Vorstandssprecher des SC Austria Lustenau, zweite Bundesliga in Österreich. „Aber wir haben dennoch ganz gute Chancen auf den Sieg. Abgesehen davon: Darum geht es nicht! Wir freuen uns einfach riesig auf das Match. Und wir freuen uns, dass wir nun endlich ein Stadion haben, das dem Namen auch wirklich gerecht wird.“

Schon seit den 1950er-Jahren wird auf dem Areal des ehemaligen Reichshofs – die Bezeichnung geht auf das 9. Jahrhundert zurück, als der Reichshof Lustenoua zwischen mehreren Geschlechtern und Grafschaften hin und her geschenkt wurde – Fußball gespielt. Der Sportplatz wurde immer wieder erweitert, mit einer Rasenheizung ausgestattet und mit mal fixen, mal temporären Tribünen eingefasst, doch die Summe der provisorischen Maßnahmen sollte bald ein Ende haben. 2018 wurde ein offener Wettbewerb mit vorgeschaltetem Bewerbungsverfahren ausgeschrieben.

Vier Pflöcke in den Boden rammen

„Ich glaube, wir haben vor allem aus zwei Gründen gewonnen“, sagt Matthias Kastl, Projektleiter im siegreichen Architekturbüro Bernardo Bader, das den Wettbewerb in Zusammenarbeit mit dem Südtiroler Architekten Walter Angonese und dem Dornbirner Ingenieursbüro GBD Group für sich entscheiden konnte. „Erstens wollten wir eine warme, hölzerne Gemütlichkeit schaffen, eine Art Wohnzimmer für den Fußball bauen, und zweitens haben wir es geschafft, dass das eigentlich kleine, niedrige Stadion dank den vier Eckpylonen, die nun 40 Meter hoch in den Himmel reichen, als hätte jemand vier Pflöcke in den Erdboden gerammt, nun eine gewisse Größe und Sichtbarkeit bekommt.“
Ein Sockel für 90 Minuten Emotionen

Der Haupteingang befindet sich in der Schützengartenstraße 21, keine 200 Meter vom Rhein und somit von der Schweizer Staatsgrenze entfernt. Im Norden des Stadions gibt es ein Klubhaus in Holzbauweise sowie das sogenannte Austria-Dorf, eine Art Ganzjahres-Christkindlmarkt für die Wuchtel, mit Bier und Bosna, mit Fanartikeln und Fußball-Devotionalien – zusammengezimmert in Holzbauweise, niederschwellig in der Anmutung, durchaus ansprechend in seiner architektonischen Gestaltung. Von hier aus gelangt man zur VIP-Lounge sowie – durch breite Publikumstore, durch massiv betonierte „Münder“, wie der Architekt dies ausdrückt – zu den einzelnen Tribünen.

„Der erste Eindruck ist ein sehr archaischer, mit schwerem Sichtbeton, verzinkten Stahltoren und geböschten Wandscheiben, die wir so richtig plakativ in Szene setzen“, sagt Kastl. „Auf diese Weise wollten wir das Fundament zelebrieren und seine tragende Rolle veranschaulichen, schließlich sprechen wir hier von einem Publikum, das aus tausenden Menschen besteht, mit starken Emotionen, mit Schreien, Stampfen und Applaudieren, zweimal 45 Minuten lang und oft auch viel, viel länger.“

Doch kaum hat man die betonierten Münder passiert und die acht Betontreppen überwunden, eröffnet sich plötzlich ein fast 120 mal 80 Meter großes Wohnzimmer mit grünem Teppichboden und ohne Plafond, mit hölzernen Tribünen, hölzernen Stützen, hölzernen Seitenwänden und ebenso hölzernen Tribünendächern, die zehn Meter weit ins Nichts hinausragen und den insgesamt 5000 Zuschauerinnen und Zuschauern ein Dach über dem Kopf bieten. Die bestehende Westtribüne blieb erhalten und wurde dem neuen Konzept miteinverleibt. Spätestens hier versteht man, was die neunköpfige Wettbewerbsjury unter Vorsitz von Hemma Fasch meinte, als sie im Juryprotokoll die außergewöhnliche Atmosphäre des Projekts hervorhob.

Die tragenden Bauteile wie die 60 mal 26 Zentimeter dicken Stützen und das bis zu 85 Zentimeter hohe, jedoch geschickt kaschierte, superschlank erscheinende Tribünendach bestehen aus industriell vorgefertigten BSH-Leimbindern. Ergänzt wird der Holzbau von Bodenbrettern und abgehängten Lamellen aus Vorarlberger Fichte, direkt aus der Region. Bei der fast fünf Meter hohen Glasfassade im Hintergrund handelt es sich um satinierte Scheiben mit einer speziellen Sonnenschutz-Bedampfung, damit die Lichtemissionen, wenn das Spielfeld von oben mit tausenden Lux ausgeleuchtet wird, zu einem Teil absorbiert und die Bewohner in den angrenzenden Wohnhäusern nicht gestört werden.

Das neue, 15 Millionen Euro teure Reichshofstadion, das der Lustenauer Bürgermeister Patrick Wiedl in politischen Worten als „sportliches Highlight“ und „emotionalen Meilenstein“ bezeichnet, kann aber mehr als nur schön sein. Mit seiner gemütlichen Wohnzimmerhaftigkeit und einem vergleichsweise gut durchmischten Publikum – der Anteil der weiblichen Gäste im Reichshofstadion betrug schon bisher 30 bis 40 Prozent, während er in der Bundesliga bei nur 20 Prozent liegt – rückt es den Fußball weg von Gewalt und Rowdytum zwischen den Fanblöcken hin zu einer familiären Freizeit-Chose mit Kind und Kegel.

Die ganze Stadt als Parkplatz

Vor allem aber ist das Stadion Zeugnis einer selten cleveren Zusammenarbeit zwischen sämtlichen Disziplinen, zwischen Holzbauern und Betonierern, zwischen Architekten und Bauingenieuren, zwischen Stadtplanung, Privatwirtschaft und Verkehrsbetrieben. Der Anteil der Pkw-Stellplätze im Stadionbereich ist auf ein absolutes Minimum reduziert, auf 66 Stück, um genau zu sein, davon 20 Prozent barrierefrei. Der Löwenanteil der Pkw-Anreisenden wird auf den bestehenden Firmenparkplätzen und in den unzähligen Gewerbebetrieben abgefangen.

„Lustenau hat einen hohen Anteil an Firmen und Gewerbeparks“, sagt Architekt Matthias Kastl. „Die dazugehörigen Parkplätze stehen an den Abenden und Wochenenden komplett leer. Also haben wir ein Modell entwickelt, wo die Leute ihr Auto auf den bereits bestehenden Parkplätzen abstellen und dann mittels Shuttle zum Stadion gebracht werden.“ Hinzu kommt, dass direkt neben dem Stadion für die Aktivmobilen rund 700 Fahrrad-Stellplätze errichtet wurden. Besser kann ein Freundschaftsspiel zwischen Sport, Politik und Umweltverträglichkeit nicht angepfiffen werden. Die Besten haben schon gewonnen.

Der Standard, Sa., 2025.07.19

14. Juli 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Die Freude am Fragwürdigen

Seit zehn Jahren betreibt der „rebellische Optimist“ Eugene Quinn seine Vienna Ugly Tours. Zeit für ein Spaziergangsgespräch darüber, wie wir Städte lesen, was immer hässlich sein wird und worüber sich heiter streiten lässt.

Seit zehn Jahren betreibt der „rebellische Optimist“ Eugene Quinn seine Vienna Ugly Tours. Zeit für ein Spaziergangsgespräch darüber, wie wir Städte lesen, was immer hässlich sein wird und worüber sich heiter streiten lässt.

Die Route rückwärts gehen? Das habe er in zehn Jahren noch nie gemacht, sagt Eugene Quinn. Jene Pointen, die sich in der gewohnten Dramaturgie auf vorher Gesagtes beziehen, müsse er jetzt leider weglassen. Aber heute geht es um einen Rückblick, also passt die Retourkutsche. Der in Wien lebende Engländer mit irischen Wurzeln trägt schwarzes T-Shirt und MA-48-orange Hose. Wie immer, wenn er seine Vienna Ugly Tour leitet, die 2015 erstmals stattfand und deren Name sich von selbst erklärt: in der Stadt der Unesco-zertifizierten Schönheit das Hässliche suchen und finden.

Tour-Endpunkt und heutiger Startpunkt: das Bundesamtsgebäude an der Radetzkystraße, auch bekannt als „Tintenburg“. Ein Monument der Postmoderne mit fragwürdiger Ästhetik. „Die blaugrün gemusterten Platten sind angeblich eine Hommage an Gustav Klimt, aber für mich sehen sie aus, als hätte jemand aus dem Fenster gespieben“, sagt Quinn, dem man keinen Mangel an plakativen Meinungen nachsagen kann. Drinnen wird es auch nicht besser. „Der Eingang ist zu eng, das Haus ist zu hermetisch, es gibt keinen Dialog mit der Außenwelt, und in den Gängen verliert man sofort die Orientierung. Kein Ort zum Wohlfühlen!“

Das derart gescholtene Ministerium war von Anfang an Teil der Vienna Ugly Tour. Die Beamtinnen und Beamten, sagt Quinn, nähmen es gelassen. „Sie haben sich sogar gefreut, dass überhaupt Besucher vorbeikamen.“ Der von Peter Czernin entworfene und 1986 fertiggestellte achteckige Sozialpartnerschafts-Prunkbau gehört zweifellos nicht zu den Top Ten der Wiener Architekturschönheiten. Als er letztes Jahr unter Denkmalschutz gestellt wurde, reagierten viele irritiert. Doch mit der zeitlichen Distanz wandelt sich unser Blick auf das Gebaute, wird sanfter und gnädiger. Was hat sich in zehn Jahren Vienna Ugly geändert? Haben Quinn und seine Tourengeher manche hässlichen Entlein inzwischen lieb gewonnen?

Verschwitzte Unterleibsesoterik

Manche Stationen, sagt Quinn, seien tatsächlich entfallen, etwa der Nordturm des Stephansdoms („sieht aus wie ein abgebrochener Zahn“) oder die Skulpturen vor dem Michaelertrakt der Hofburg („unangenehm aggressiv“), weil die Teilnehmerinnen seiner Tour protestierten. Andere nahmen sich selbst aus dem Spiel, wie die bizarre Fassadenmalerei am „Haus der Zeit“ am Karmelitermarkt, deren Motive aus dem Bereich verschwitzter Unterleibsesoterik nach dem Verkauf des Hauses mit neutralem Beige übertüncht wurden. Wieder andere waren wenig erfreut über die Aufmerksamkeit und drohten mit Klagen. Um ein Hotel an der Ringstraße muss Quinn heute einen Bogen machen.

Wir verlassen das Ministerium also in die entgegengesetzte Richtung. In einer Stadt, die zunehmend vom Overtourism kolonialisiert wird, mag es erstaunen, dass die Mehrzahl der Teilnehmer bei der Vienna Ugly Tour Einheimische sind. Doch genau darum geht es. Das Aus-dem-Haus-Gehen und Hinschauen ist für den leidenschaftlichen Fußgänger Quinn mindestens so wichtig wie das betrachtete Objekt. Damit steht er in der Tradition des Schweizer Spaziergangswissenschafters Lucius Burckhardt und der Pariser Situationisten der 1960er-Jahre, und er ist nicht allein. Eine Renaissance von themenspezifischen Städtetouren jenseits von langweiligem Baedekerwissen-Herunterbeten ist weltweit zu beobachten. Bei der Vienna Walking Week Ende Juli, die von Quinn und seinem Team von Whoosh organisiert wird, gibt es Touren zu Kunst am Bau im Wiener Gemeindebau und zu Wiens Rolle als Welthauptstadt der Spionage. Dort zieht die Route eine logische Linie von der russischen Botschaft zur FPÖ-Zentrale.

Trotz der hohen Einheimischenquote ist Vienna Ugly keine Suderantenrunde für zeternde Wutbürger an der „Gründerzeit gut, Moderne böse“-Frontlinie, sondern eine heitere Angelegenheit. Schließlich bezeichnet sich Quinn als „rebellischer Optimist“. Er will andere Blickwinkel auf das Gewohnte eröffnen und nebenbei ernste Themen verhandeln. Sein Motto: „fun meets politics“.

Schon bei der nächsten Station, dem News-Tower am Schwedenplatz, sind erste Meinungsverschiedenheiten zu vermelden. Für den Rezensenten ist die locker komponierte Collage aus geraden und schiefen Bauteilen einer der besten Bauten von Hans Hollein, da der Architekt hier ausnahmsweise seine Liebe zu barocker Überladenheit zähmte. Nein, sagt Quinn. Für ihn ist der Turm ein Fixpunkt auf der Tabelle der Tristesse. „Es ist störend und viel zu grau. Niemand mag Grau – außer die Wiener Architekten! Wenigstens ist das riesige Display auf dem Dach kaputt, und wir müssen keine Werbung für die Autorevue mehr sehen.“ Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sein müssen.

Schönheit und Langeweile

Ganz anders beim Collegium Hungaricum in der Hollandstraße. Das ist zwar nicht grau, sondern rot und weiß, aber seine willkürlich verteilten Diagonalen und Stabwerke versuchen hilflos, avantgardistisch zu wirken. Nicht gerade eine Werbung für ungarische Kultur. „Es wirkt alles andere als einladend“, sagt Quinn. „Wenn man daran vorbeigeht, fühlt man sich sehr unsicher – es sieht aus, als ob es gleich auseinanderfällt.“

An dieser Stelle der Tour, sagt er, folge in der Regel ein Exkurs darüber, dass Schönheit auch langweilig sein kann und weniger in Erinnerung bleibt als das Seltsame und Schiefe. Auch Architektinnen und Designer sprechen erfahrungsgemäß lieber über Harmonie und Proportion als über den nicht zu greifenden Begriff Schönheit. Jene, die von der Existenz einer „objektiven Schönheit“ überzeugt sind, bringen meist die Symmetrie ins Spiel. Doch Symmetrie ist so etwas wie das Glutamat der Ästhetik: ein Geschmacksverstärker, aber kein Rezept. Auch der Berliner Dom, zweifellos eines der hässlichsten Bauwerke der Menschheitsgeschichte, ist symmetrisch.

Das Wohnhaus in der Großen Schiffgasse 9 ist es auch, aber deswegen ist es nicht auf der Ugly-Liste. Seine kunterbunte Fassadengrafik erinnert Quinn an eine unbeholfene Kinderzeichnungsversion von Joan Miró und die Modetorheiten der 1980er-Jahre. Schiefe Haarschnitte, Schulterpolster. „Damals sahen auch schöne Menschen hässlich aus!“ Aber ist diese etwas unbeholfene Heiterkeit wirklich hässlich? Die Frage bleibt offen, wir müssen zum Endpunkt der Tour, Pardon, zurück zum Anfang: dem Flakturm im Augarten. „Den finden die meisten sowohl hässlich als auch schön, er lässt sich nicht kategorisieren“, sagt Quinn, verabschiedet sich und begrüßt die Schweizer Touristinnen, die seine Tour gebucht haben. Und sofort geht es dieselbe Strecke retour, in die richtige Richtung.

[ Die Vienna Walking Week 2025 findet von 19. bis 25. Juli statt. ]

Der Standard, Mo., 2025.07.14

07. Juni 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Wie ein Stapel aus 112 Fotos

Vor wenigen Tagen wurde das Photography Seoul Museum of Art eröffnet. Die skulpturale Black Box des Wiener Architekten Mladen Jadrić steht am äußersten Stadtrand. Man fragt sich, warum.

Vor wenigen Tagen wurde das Photography Seoul Museum of Art eröffnet. Die skulpturale Black Box des Wiener Architekten Mladen Jadrić steht am äußersten Stadtrand. Man fragt sich, warum.

Ein Schuhmacher am Straßenrand, Bauarbeiter auf einer filigranen Stahlkonstruktion balancierend, ein Fischhändler, der in den frühen, noch eiskalten Morgenstunden seine Ware vom Truck ablädt. Wer diese ikonografischen Fotos von Lee Hyungrok, Alltagsszenen in einem noch jungen Land kurz nach dem Koreakrieg, als Originalabzug zu Gesicht bekommen möchte, muss am Hauptbahnhof in die Subway Nummer 4 einsteigen und 15 Stationen lang Richtung Nordosten fahren. In der Schlafstadt Dobong-gu, fernab vom Zentrum, nur drei Kilometer von der Stadtgrenze entfernt, ist Hyungroks Œuvre derzeit in der Ausstellung Breath of the Streets. Beginnings of Korean Art Photography zu sehen.

„Fotografie spielt in Südkorea eine wichtige Rolle“, sagt Jung Hee Han, Direktorin im neuen, erst kürzlich eröffneten Photography Seoul Museum of Art, auch besser bekannt als Photo SeMA, „sowohl im persönlichen, künstlerischen Ausdruck als auch in der Dokumentation des Alltags. Zudem ist es eines der demokratischsten Medien, das jedem die Teilnahme ermöglicht. In den Stammhäusern des SeMA gab es bislang nur wenig Platz dafür. Nun haben wir die Möglichkeit und die räumlichen Gegebenheiten, eine fundierte fotografische Sammlung aufzubauen – von der Geschichte bis zur Gegenwart.“

Verdrehter Würfel

Neu ist nicht nur die Sammlung, sondern auch das dafür errichtete Haus. 2017 wurde für den Neubau der SeMA-Dependance ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben. Aus insgesamt 73 Einreichungen ging der Wiener Architekt Mladen Jadrić in Kooperation mit dem südkoreanischen Büro 1990uao als Sieger hervor – und zwar mit einem verdrehten Würfel, mit einer Stadtskulptur aus horizontalen Lamellen, die den Eindruck erweckt, als hätte ein Riese einen Stapel Diapositiva, eingeklemmt in schwarze Plastikrahmen, 112 Stück an der Zahl, neben die Straße gestellt und im Moment des Loslassens zwischen Daumen und Zeigefinger leicht verdreht.

„Fotos, Prints, Polaroids, Positive oder auch Negative sind etwas Flaches, Flächiges, Zweidimensionales“, sagt Jadrić. „Das Sammeln und Archivieren, das ja zu von Natur aus zu den zentralen Tätigkeiten eines Museums gehört, ist immer auch mit einer höhenmäßigen Addition, mit Schlichten und Stapeln verbunden.“ Hinter der poetischen Metapher verbirgt sich eine Lamellenfassade aus recyceltem Faserbeton, eine standardisierte Stangenware, sechs Zentimeter in der Stärke, die nicht zuletzt die Aufgabe hat, sich selbst zu verschatten und den Hitzeeintrag ins Gebäude auf ein Minimum zu reduzieren.

Geplant war außerdem, die Verdrehung der unteren Höhenschichtlinien dazu zu nutzen, dem Platz eine Tribüne mit teils verschatteten Sitzstufen zu geben. „Die Grundstücksausnutzung ist enorm“, so Jadrić. „Mit der Schaffung einer Stufenlandschaft wollten wir den ohnehin geringen öffentlichen Raum auf diese Weise maximieren.“ Obwohl die geplante Platzerweiterung ein ausschlaggebender Faktor für den Wettbewerbssieg war, musste aus Sicherheitsgründen am Ende eine Absperrung vorgesehen werden. Nicht nur die österreichischen, auch die südkoreanischen Behörden, so scheint es, sind Meister der Angst, Haftung und Bürokratie.

Entmaterialisierung

Kaum hat man den Eingangsbereich – der mit seinen Lüftungslamellen und matten Milchglasscheiben leider etwas Rückseitiges, Hinterhofartiges hat, ein ziemliches Autsch im ganzen Projekt – hinter sich gelassen, betritt man eine monochromatisch dunkelgrau ausgemalte Höhle. Kein Fenster weit und breit, lediglich über die Schiebetür gelangt ein einziger, schmaler Tageslichtstrahl in den Innenraum. Der Architekt selbst spricht von Entmaterialisierung, von einer Camera obscura, die im LED-Scheinwerferkegel die darin ausgestellten Fotos umso besser zur Geltung bringt. „Alles, bloß keine weitere generische, hunderttausendste White Box!“

Die unteren drei Etagen dienen für Ausstellungen und Veranstaltungen, im dritten Obergeschoß sind Büros, Workshop-Räume und eine kleine Bibliothek samt eingeschnittenem Atrium angesiedelt. Beheizt und gekühlt wird das Photo SeMA mit 40 geothermischen Tiefbohrungen und einer Wärmepumpe, die mit der auf dem Dach installierten PV-Anlage betrieben wird. So kann das Haus bis zu 85 Prozent seines Gesamtenergiebedarfs abdecken – in einem Land, in dem die Energiedebatte noch in den Kinderschuhen steckt, eine beachtliche Geste. Die Baukosten belaufen sich auf 30,8 Milliarden Won, rund 21,2 Millionen Euro.

Wichtiger Impuls

„Es ist spannend, dass das Photo SeMA der bereits vierte südkoreanische Kulturbau aus österreichischer Hand ist“, sagt der in Seoul stationierte österreichische Botschafter Wolfgang Angerholzer am Tag der Eröffnung – und verweist auf das Busan Cinema Center von Coop Himmelb(l)au (2012), den One Ocean Pavilion von Soma Architecture in Yeosu (2012) und das Hyundai Motor Studio von DMAA Delugan Meissl Associated Architects in Hoyang (2017). „Und auch dieses Haus ist mehr als nur ein Gebäude. Es ist ein Katalysator für Stadt- und Quartierentwicklung, der den Bezirk Dobong-gu nachhaltig stärken wird.“

In Zeiten von 15-Minuten-Stadt, Dezentralisierung und Bevölkerungsexplosion ist die Positionierung eines öffentlichen Museums am Stadtrand ein wichtiger Impuls. Paris, Berlin, London, Rotterdam oder New York haben diese Aufgabe bereits begriffen und sind dabei, ihre Städte mit politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Magneten zu dezentralisieren. Ein Schritt in die richtige Richtung. Der Schuhmacher von Lee Hyungrok könnte auch eine Einladung an die österreichische Stadtpolitik sein.

Compliance-Hinweis: Die Reise nach Seoul erfolgte auf Einladung des Photo SeMA.

Der Standard, Sa., 2025.06.07

10. Mai 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn die Welt am seidenen Faden hängt

Am Freitag wurde die 19. Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Konstruktive Beiträge halten sich in Grenzen. Die meisten suchen Zuflucht im Gestern oder im dystopischen Übermorgen, dass es leider nur so wehtut.

Am Freitag wurde die 19. Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Konstruktive Beiträge halten sich in Grenzen. Die meisten suchen Zuflucht im Gestern oder im dystopischen Übermorgen, dass es leider nur so wehtut.

Sie erinnern an Wolken, an Spinnennetze, an Omamas Esstischüberwurf. 140 maschinell und zum Teil sogar händisch, mit mütterlicher Hilfe gestrickte Stoffteile, 400 Quadratmeter in Summe, hängen in Bäuchen und Parabeln von der Decke, man muss unweigerlich hingreifen, hineinkneifen, das luftig Leichte mit sanften Griffen durchkneten – bis man plötzlich ein leises Summern und Rattern vernimmt. An den beiden Längsseiten des Pavillons sind 140 Holzspindeln montiert, diese wiederum sind an die auf dem Dach installierte PV-Anlage angeschlossen. Wenn die Sonne scheint, drehen sich die Spindeln und wickeln die weißen, beigen, cremefarbenen Fäden Millimeter für Millimeter auf.

„Am Ende der Biennale“, sagt Architektin Jelena Mitrović, die das Projekt gemeinsam mit Stevan Martinović und Slobodan Jović kuratiert hat, „wird sich die Installation komplett in Luft aufgelöst haben. Dann wird das alles hier Geschichte sein.“ Ob sie das traurig macht, perdu die ganze Schaffenskraft? „Nein, ganz im Gegenteil. Wir bauen und kreieren eh schon viel zu viel, die Welt ist voll davon, unser ökologischer Fußabdruck eine einzige Katastrophe. Jetzt geht es darum, Räume und Gedankenräume wieder zu dekonstruieren und zu demontieren. Wo etwas verschwindet, gibt es Platz für neue Perspektiven. Das müssen wir wohl erst noch lernen.“

Unraveling: New Spaces, so der Titel des serbischen Pavillons am Ende der Giardini, ist wahrscheinlich einer der schönsten, einer der stärksten Beiträge auf der diesjährigen 19. Architektur-Biennale, die gestern, Freitag, offiziell eröffnet wurde. Und er bringt – mit nichts als Stoff – auf den Punkt, wie sehr sich die Disziplin Architektur heuer negiert, verneint, in ihrem gesamten Wesen zutiefst infrage stellt. Und wie schwer sie sich mit dem Generalmotto des diesjährigen Generalkurators Carlo Ratti tut. Denn „Intelligens. Natural. Artificial. Collective“ ist ein ziemlich großes Ding, das in Bausch und Bogen so ziemlich alles einschließt und so ziemlich nichts auslässt.

„Es geht um die Zukunft“, sagt Ratti, der die Biennale wissenschaftlicher haben wollte denn je, im Gespräch mit dem ΔTANDARD, „und darum, wie wir mithilfe von natürlicher, künstlicher und kollektiver Intelligenz zu einer guten, nachhaltigen Lösung beitragen können. Architektur ist eben nicht nur das Erschaffen von Umwelten, sondern auch das Gegenteil davon, das Innehalten, Nachdenken und Umlernen bisheriger Traditionen.“ Ob das wirklich gelingen kann? „Wenn, dann hier auf dieser Biennale, die ich als eine Art vielzelligen Superorganismus begreife. Gemeinsam können wir viel in Bewegung setzen.“

Steinzeitliche Ästhetik

Na ja. Dafür sind die einzelnen Beiträge – ob das nun die Länderpavillons in den Giardini oder die Forschungsprojekte im Arsenale sind – zu polarisierend unterwegs. Die einen marschieren schnurstracks in die Vergangenheit zurück und präsentieren in steinzeitlicher Ästhetik neu interpretierte Archen aus Holz, Lehm und Schilf. Darunter etwa auch Peru, die Ukraine, Marokko, Australien, Saudi-Arabien oder – besonders perfide – Großbritannien, das sich unter dem Titel GBR: Geology of Britannic Repair seine ehemalige Kolonie Kenia wieder einverleibt und den Pavillon in einen Vorhang aus tausenden Kuhdung-Kugeln hüllt. Die Idee der kolonialen Reparatur geht nicht wirklich auf.

Die anderen wiederum flüchten sich ins Übermorgen und setzen alles auf Robotik, künstliche Intelligenz, Nuklearreaktoren „Designed by Pininfarina“ (sic) und die offenbar unaufhaltsame 3D-Bedruckung der Welt, ob das nun mit Lehm, Bioplastik oder Cyanobakterien ist. Bei all dieser naturwissenschaftlichen Komplexität, mit der man in Carlo Rattis vollgestopfter Ausstellung im Arsenale konfrontiert wird, ist es umso erstaunlicher, was man szenografisch und typografisch alles falsch machen kann. Die Texte sind so lang, so dicht, so klein, so kontrastlos und so tief über dem Boden hängend, dass es sich empfiehlt, Lesebrille, Taschenlampe und Knieschoner mitzubringen.

Urbane Überhitzung

Stark thematisiert wird heuer auch die Klimakrise in Verbindung mit urbaner Überhitzung. Bahrain stellt unter dem Titel Heatwave eine Installation vor, die im Stadtraum und auf Baustellen mithilfe von geothermischen Bohrungen und abgehängten Gitterrosten einen gekühlten, wenn auch etwas dystopischen Schattenraum schafft. Deutschland greift mit seinem Stresstest wie immer in die Pathoskiste und inszeniert – durchaus schweißtreibend überzeugend – eine überhitzte Urban-Heat-Hölle sowie ein mit Bäumen gekühltes Stadtparadies. Und das Büro Transsolar simuliert im Arsenale mit Wasserbecken und der Abluft von dutzenden Klimaanlagen die venezianische Sommertemperatur – 42 Grad Celsius – anno 2100. Blöd nur, dass aufgrund der enormen Luftfeuchtigkeit schon am ersten Tag der Biennale der Putz von den denkmalgeschützten Säulen abgeblättert und ins Wasser geplumpst ist.

Noch beängstigender sind die Beiträge von Polen und Lettland. Polen baut unter dem Titel Lares and Penates. On Building a Sense of Security in Architecture ein zynisches Emergency-Labor mit häuslichen Schutzmaßnahmen wie etwa Rauchmeldern, Herrgottswinkeln und als Marienstatue getarnten Feuerlöschern auf – vor dem Hintergrund, dass ab 1. Jänner 2026 alle Neubauten in Polen aufgrund der globalpolitischen Situation mit Luftschutzräumen ausgestattet werden müssen.

Neue Aufgaben meistern

Und Lettland analysiert in Landscape of Defence seine 450 Kilometer lange Nato-Außengrenze zu Russland und Belarus. Oder, wie Kuratorin Liene Jākobsone dies ausdrückt: „Die Welt ist nun mal leider, wie sie ist, aber auch politische und militärische Grenzen können gebaut und gestaltet werden, anstatt sie nur mit Stacheldraht, Panzerkreuzen und Wachtürmen zu verstellen und tausenden Menschen, die hier wohnen, das Leben kaputtzumachen.“

In einer Welt, die auf der Kippe steht, muss Architektur lernen, neue Aufgaben zu meistern. Vielleicht nicht nur mit 3D-Druckern, designten Atomreaktoren und ach so intelligenten Robotern, wie Carlo Ratti meint, sondern auch mit Demut, Hoffnung und Empathie.

Bis 23. November 2025

Der Standard, Sa., 2025.05.10

08. Mai 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Agentur für ein besseres Leben

Am Freitag wird die Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Österreich nutzt den Event, um die Wohnpolitik von Wien und Rom miteinander zu vergleichen.

Am Freitag wird die Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Österreich nutzt den Event, um die Wohnpolitik von Wien und Rom miteinander zu vergleichen.

Eine Rakete aus Holz und Metall, mit offenen Waschmaschinen-Bullaugen als Fenstern, als Spitze ein rotierender Kaminaufsatz, ein sogenannter Fumaiolo. Das 2012 gebaute Fernverkehrsmittel in der Via Prenestina 913 am östlichen Stadtrand von Rom ist ein zynisches Symbol, eine irrwitzige Einladung an all jene, die sich aufgrund der zunehmenden Wohnungsnot und der dramatisch davongaloppierenden Grundstückskosten auf der Erde keine Wohnung mehr leisten können. Es gibt Lösungen anderswo.

Die Kunstinstallation in der 1978 stillgelegten Wurstfabrik Fiorucci ist kein Zufall. 2003 wurde das Gelände verkauft, mit der Absicht, hier einen lukrativen Neubau zu realisieren. Nachdem die Planungen des Investors Webuild Group jedoch jahrelang auf eine Baugenehmigung warten mussten, wurde die ehemalige Fabrik 2009 von Menschen in prekären Lebenssituationen besetzt – darunter Roma, Sinti sowie Migranten aus dem Sudan, dem Maghreb und Lateinamerika.

Das Bottom-up-Wohnprojekt „Metropoliz“, das heute rund 200 Bewohnern und Aktivistinnen ein Dach über dem Kopf bietet, ist eines von vielen Best-Practice-Beispielen, die man im Österreich-Pavillon in den Gardini studieren kann.

Enorme Wohnungsnot

„Die Wohnsituation in Rom ist mit jener in Wien kaum vergleichbar“, sagt Michael Obrist, der den Pavillon gemeinsam mit Sabine Pollak und Lorenzo Romito kuratiert hat. „Hier eine enorme Wohnungsnot, die die Stadt kaum im Griff hat und die dazu geführt hat, dass sich nun Interessengruppen formieren, um leerstehende Häuser zu besetzen und in Eigenregie Wohnrechte zu erkämpfen, dort eine Stadt, die mit 220.000 verwalteten Mietwohnungen der größte Wohnungsgeber Europas ist und die weltweit als leistbares Idealmodell zitiert wird. Und doch haben wir es gewagt, Wien und Rom miteinander zu vergleichen.“

Agency for a Better Living nennt sich der diesjährige Beitrag auf der Architektur-Biennale in Venedig, die am Freitag ihre Pforten öffnet. Zur offiziellen Eröffnung des Österreich-Pavillons werden neben dem Kuratorenteam auch der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig sowie Wohn-, Kunst- und Kulturminister Andreas Babler anreisen. Und beide dürften sich darüber freuen, dass im direkten Vergleich Wien mit seiner strukturellen Top-down-Planung und seinen günstigen Gemeinde- und geförderten Bauträgerwohnungen die Nase vorn hat.

„Das stimmt so nicht unbedingt“, meint Sabine Pollak. „Denn obwohl die Wiener Wohnpolitik vieles richtig macht, gibt es auch hier viele Probleme, die bis heute nicht gelöst sind. Die Anforderungen an das Bauen sind enorm, die Prozesse dauern ewig lange, viele Innovationen werden verhindert. Gute Architektur ist ein Kampf geworden. In diesen Punkten kann Wien durchaus von Rom lernen. Ganz abgesehen davon, dass Wien auch etwas mehr römische Zivilcourage vertragen könnte.“

Filme und Ausstellungen

Der österreichische Pavillon mit seinen zwei Filmen und zwei getrennten Ausstellungswelten zählt ohne jeden Zweifel zu den substanzvollsten Länderpavillons in der Lagunenstadt. Und zu den wenigen Beiträgen, die sich ernsthaft mit Stadt, Architektur und Lebensräumen beschäftigen.

Und doch handelt es sich – ein österreichisches Dauerphänomen, mit Ausnahme des aktivistischen Beitrags 2023 von Hermann Czech und dem mittlerweile aufgelösten Architekturkollektiv AKT – um eine klassisch formatierte Ausstellung mit Fotos, Grafiken und Erläuterungstexten, für die man auf dieser venezianischen Tour de Force mit Steinchen in den Sportschuhen viel Zeit und Energie mitbringen muss. Etwas weniger Pluralismus und etwas mehr sinnliche Unmittelbarkeit hätten einem so nahen, intimen Thema wie Wohnen sicher gutgetan.

Viele andere Länder haben sich vom sperrigen und viel zu umfassenden Generalmotto des diesjährigen Biennale-Kurators Carlo Ratti – „Intelligens. Natural. Artificial. Collective“ – allzu sehr in die Versuchung und Verwirrung führen lassen. Die einen setzen auf die Karte „Back to the roots“ und verrennen sich in vorzeitlich anmutenden Holz- und Lehmskulpturen, die aussehen, als wären hier eben noch die Ewoks am Werk gewesen, die anderen sehen in neuen Technologien wie 3D-Druck, Robotik und Künstlicher Intelligenz die Lösung aller klimatischen und globalpolitischen Probleme. Mit Architektur hat das alles hier nicht viel zu tun. Die unfassbare Polarität dieser Biennale ist wie ein Abbild der Welt, in der wir gerade leben.

Klima und Städte

Deutschland, Belgien, Kosovo, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate beschäftigen sich mit den steigenden Temperaturen in unseren Städten und legen mal konstruktive, mal eher beängstigende Lösungen zum urbanen Überleben und zur nationalen Nahrungsmittelsicherheit vor.

Polen und Lettland präsentieren sich als Emergency-Labore und stellen sich die Frage, welche Auswirkungen drohende Kriege auf die gebaute Umwelt haben.

Und die USA analysieren in ihrem Beitrag Porch. An Architecture of Generosity in einem Spagat aus Zynismus und politischer Unterwerfung die gute, alte Veranda als bautypologisches Element und zelebrieren ihr Willkommenskultur. So als gäbe es die Trump’sche Gegenwart gar nicht.

Der Standard, Do., 2025.05.08

26. April 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Die Frauen von Westafrika

In Togo, Ghana, Benin, Nigeria und im Senegal sind viele Baudenkmäler der Moderne dem Verfall preisgegeben. Eine Gruppe von Architektinnen hat sich nun zum Ziel gesetzt, die Bauten zu dokumentieren und den Verlust zu stoppen.

In Togo, Ghana, Benin, Nigeria und im Senegal sind viele Baudenkmäler der Moderne dem Verfall preisgegeben. Eine Gruppe von Architektinnen hat sich nun zum Ziel gesetzt, die Bauten zu dokumentieren und den Verlust zu stoppen.

Die Farbe abgeblättert, die Fenster rausgerissen, die Zimmereinrichtung ausgehöhlt und längst verscherbelt. Wo sich einst, in den Siebzigern und Achtzigern und damit in der Hochblüte des Phosphathandels, unter der fast im Zenit stehenden Tropensonne Promis, Politiker und Flugbegleiterinnen von Sabena, Air France und Air Afrique am Pool tummelten, mit guter Laune und Schirmchen-Cocktails in der Hand, klafft heute ein ausgetrocknetes Betonloch im Boden.

Aus einem der halbovalen Fenster in der Fassade, umgeben von bunten Mosaiken mit Wölkchen und Pfeilen, ein Summen und Surren: Plötzlich schießt eine Drohne aus dem menschenleeren Haus. Der Pilot, hoch konzentriert, steht vor dem Hotel, das Steuerungsmodul fest im Griff, die Schweißperlen auf der Stirn, bitte nicht stören, nicht jetzt, hinter ihm die Auftraggeberin, eine junge Architektin und Dokumentaristin aus New York, die sich mit ihrem Büro Limbo Accra einer ganz besonderen Form von Architekturarbeit verschrieben hat.

„Das Hôtel de la Paix in der togolesischen Hauptstadt Lomé“, sagt Dominique Petit-Frère, „ist eines der tollsten Baudenkmäler der westafrikanischen Moderne. Schau dir nur mal diese Kontur, diese Details, diesen Fantasiereichtum an!“ Seitdem der Hotelbetrieb 2005 eingestellt wurde, verfällt das Gebäude zusehends. Bis heute gibt es keine umfassende Dokumentation, die das Haus korrekt, repräsentativ und aussagekräftig einfängt. „Und wer weiß, ob das Friedenshotel nicht eines Tages abgerissen wird. Also habe ich mich entschieden, zu dokumentieren, was noch da ist.“

Symbol für Unabhängigkeit

Errichtet wurde das Hôtel de la Paix in den Jahren 1972 bis 1974 nach Plänen des französischen Architekten Daniel Chenut, einem Wegbegleiter Le Corbusiers. Neben Projekten in seiner Heimat Bourgogne widmete er sich vor allem der tropischen Architektur Westafrikas, und hier vor allem dem Aufbau der neuen unabhängigen Republiken Niger, Benin, Togo und Burkina Faso. Das von ihm geplante Hôtel de la Paix mit 216 Zimmern, 16 Bungalows, Restaurant, Nachtclub, Festsaal, Sonnendeck und unverwechselbarer expressionistischer Mosaikfassade gilt bis heute als Chenuts Schlüsselbauwerk – und ist nicht zuletzt ein Symbol für die aufstrebende politische Unabhängigkeit Togos nach 1960.

„Doch ich mache das nicht aus Nostalgiegründen“, sagt Petit-Frère, „sondern eher, weil ich eine Art Hoffnung verspüre, dass ich als Vertreterin einer jungen Generation mit neuen Technologien einen sachlichen Blick auf die gebaute Materie werfen und auf diese Weise einen Beitrag zur Pflege und Dokumentation leisten kann.“ Die Daten des Drohnenflugs werden, sobald sie bereinigt und in verwertbaren 3D-Modellen aufbereitet sind, online als Open-Access-Daten zur Verfügung gestellt.

Limbo-Land

Und Petit-Frère ist bei weitem nicht die einzige Architektin, Stadtplanerin, Historikerin, Forscherin, Kuratorin, die sich am 3500 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen dem Senegal und Nigeria, in diesem zwölf Staaten umfassenden Limbo-Land fehlender Gelder und fehlender politischer Entscheidungen, der Care-Arbeit verschrieben hat. Ein ganzes Dutzend an Initiatorinnen, allesamt Frauen wohlgemerkt, ist hier bereits zugange und nimmt den baulichen Bestand mit Drohnen, Kameras und Laserscannern, mittels Kunst, Fotografie, Interventionen, Rauminstallationen und interdisziplinären Konferenzen unter die Lupe.

Mit dabei Fabiola Büchele und Jeanne Autran-Edorh, die eine Kuratorin aus Vorarlberg, die andere Architektin mit französisch-togolesischen Wurzeln. Früher waren die beiden im Büro des Pritzker-Preisträgers Diébédo Francis Kéré tätig. Mit ihrem 2023 gegründeten Studio Neida mit Sitz in Berlin und Lomé bemühen sie sich nun darum, die westafrikanische Architektur per se und die zunehmende Care- und Dokumentationsarbeit der hier involvierten Frauen zu dokumentieren – ob das nun Sonia Lawson, Nana Biamah-Ofosu, Olufemi Hinson Yovo, Nzinga Biegueng Mboup oder die New Yorker Kuratorin Mallory Cohen ist, die gerade an einer umfassenden Ausstellung über Westafrika arbeitet, die 2026 im MoMA zu sehen sein wird.

„Als ich zwölf Jahre alt war, sind meine Eltern berufsbedingt nach Uganda gezogen“, erzählt Büchele, die später auch in Äthiopien und Tunesien gelebt hat. „Die Ignoranz und strukturelle Diskriminierung Afrikas aus europäischer Perspektive heraus habe ich also schon als Kind beobachtet, und der Umgang mit den wirklich vielfältigen Kulturen am afrikanischen Kontinent hat sich im Wesentlichen bis heute nicht verändert. Der Postkolonialismus ist nach wie vor vorherrschend.“

Umso wichtiger sei es, so Büchele, die Kulturarbeit dieser Länder sichtbar zu machen, die stereotypen Narrative abzulegen und dabei zu helfen, dass die gebauten Schätze aus den 1970er- und 1980er-Jahren unter den Zahnrädern der kapitalistischen Immobilienwirtschaft und der chinesischen Baukonzerne nicht irgendwann abgerissen werden. Im Rahmen der dreitägigen Konferenz Rencontres Architecturales Africaines de Lomé, die kürzlich im Palais de Lomé stattfand, wurden die einzelnen SOS-Maßnahmen, die in der Regel aus eigenen Mitteln, selten nur mit Förderungen und Kunststipendien finanziert werden, erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

Zerstörung eindämmen

Olufemi Hinson Yovo beispielsweise, Architektin und Unidozentin mit Büros in Cotonou, Abidjan und Paris, dokumentiert auf ihrem Instagram-Account @Cotonou.Architecture verschwindende (und bereits verschwundene) Baudenkmäler und engagiert sich dafür, die Zerstörung einzudämmen. Ihre Arbeit bezeichnet sie als Archiving the Loss. Und die britisch-ghanaische Architekturwissenschafterin Nana Biamah-Ofosu beschäftigt sich in ihrem Londoner Büro YAA Projects mit der Unabhängigkeit der ehemaligen europäischen Kolonien in den Jahren zwischen 1957 und 1961. Ihre Arbeit war bereits im Victoria & Albert Museum in London zu sehen, ganz neu ist ihr Dokumentarfilm Tropical Modernism. Architecture and Power in West Africa.

Das Vergessen findet nun endlich Erinnerung: Auf der kommenden Architektur-Biennale in Venedig, die in Kürze eröffnet wird, präsentiert Togo erstmals einen eigenen Länderpavillon, kuratiert von Sonia Lawson, Fabiola Büchele und Jeanne Autran-Edorh. Denn: „Das bauliche Erbe – mal genial, mal exzentrisch – ist ein Leitfaden für künftige, kontext- und klimaverträgliche Ansätze. Das Kaputtmachen muss gestoppt werden.“

Compliance-Hinweis: Der Autor hat die Architekturkonferenz in Lomé im Rahmen einer Pressereise besucht.

Der Standard, Sa., 2025.04.26

12. April 2025Wojciech Czaja
Der Standard

„Jedes Gesicht ist Architektur“

Der Chicagoer Künstler Chris Ware gilt als einer der einflussreichsten Comic-Zeichner der Gegenwart. Das CCCB in Barcelona widmet ihm nun eine riesige Ausstellung. Ein Gespräch über Charlie Brown, Mies van der Rohe und Häuser mit Sprechblasen.

Der Chicagoer Künstler Chris Ware gilt als einer der einflussreichsten Comic-Zeichner der Gegenwart. Das CCCB in Barcelona widmet ihm nun eine riesige Ausstellung. Ein Gespräch über Charlie Brown, Mies van der Rohe und Häuser mit Sprechblasen.

Er hat die Cover des Magazins The New Yorker gestaltet. Seine Figuren wie etwa Rusty Brown, Jimmy Corrigan, Quimby the Mouse oder die Building Stories, in denen Gebäude zum Leben erwachen und ihre Erinnerungen in Sprech- und Denkblasen anschaulich gemacht werden, wurden bereits vielfach ausgezeichnet. Vor wenigen Tagen hat seine europäische Wanderausstellung – nach Paris, Basel, Leipzig, Haarlem und Pordenone – die sechste und letzte Station erreicht: Mit Chris Ware. Dibuixar és pensar („Zeichnen ist Denken“), kuratiert von Jordi Costa, macht das Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB) nun erstmals seinen historischen Keller zugänglich – und offenbart darin riesige Comic-Collagen und kleine, skulpturale Schätze.

STANDARD: Ihren Eintritt in die Welt der Comics, haben Sie einmal im Interview gesagt, verdanken Sie Charlie Brown. Warum ausgerechnet ihm?

Ware: Charlie Brown ist die allererste Figur in der Geschichte des Comics, die so etwas wie Empathie mitbringt – mit Traurigkeit und Nachdenklichkeit, stets am Grübeln über den Sinn des Lebens. In einer Folge, ich war damals noch ein Kind, erzählt Charlie Brown, dass er noch nie eine Valentinskarte bekommen hat. Also habe ich mich hingesetzt, eine Valentinskarte geschrieben und sie an den Verlag geschickt.

STANDARD: Sind Sie auch ein Charlie Brown? Für Ihre Fans sind Sie eher Superman!

Ware: Das schmeichelt mir sehr, danke! Aber ich war Außenseiter in der Schule, und das bin ich bis heute. Ich kann mich mit Charlie Brown sehr gut identifizieren.

STANDARD: In der Ausstellung im CCCB sieht man, dass die Architektur schon in Ihren frühen Arbeiten einen großen Stellenwert einnimmt. Raum und Hintergrund werden mit der gleichen Liebe behandelt wie die Figuren selbst.

Ware: Ein Leben ohne Raum ist undenkbar. Sobald wir als Baby damit anfangen, unsere Welt zu erfassen, besteht sie aus einer x-, y- und z-Achse. Bis zum Tod sind wir permanent von Architektur umgeben. Ich kann gar nicht anders, als den Raum mitzuzeichnen.

STANDARD: Mit wenigen Strichen schaffen Sie es, die Essenz eines Chrysler Building oder eines Wrigley Building einzufangen. Woher nehmen Sie Ihre Expertise?

Ware: Als Kind wollte ich immer Architekt werden. Und nun lebe ich seit fast schon 40 Jahren in Oak Park, Chicago, und bin umgeben von Genies wie Louis Sullivan, Frank Lloyd Wright, Bertrand Goldberg oder Ludwig Mies van der Rohe.

STANDARD: Sogar Ihre Figuren haben etwas Konstruiertes und erinnern an Bauhaus und Postmoderne!

Ware: Ein einzelnes Comic-Bild, muss man wissen, ist keine Zeichnung, die nach den Prinzipien eines singulären Kunstwerks funktioniert, sondern eher eine Art Hieroglyphe. Figur, Körpersprache und Gesichtsausdruck sind so etwas wie konstruierte Architektur – damit man sie wie eine Schrift erfassen und schnell zum nächsten Bild weiterlesen kann.

STANDARD: Mit den „Buildings Stories“ erwachen Ihre Gebäude nun selbst zum Leben und fangen an, mit Sprech- und Denkblasen mit uns zu kommunizieren.

Ware: Mein Freund Tim Samuelson, seines Zeichens Kulturhistoriker, sagt immer: „Die Seele eines Hauses fängt am Türknauf an.“ Hier findet der erste physische Kontakt statt, hier macht sich die Geschichte von hunderten und abertausenden Händen manifest. Gute Architekten verstehen es, diesen Erstkontakt mit Liebe zu gestalten. Seitdem glaube ich, dass diese Häuser viel zu erzählen haben.

STANDARD: Was erzählen sie uns?

Ware: Sie erzählen, wer sie gebaut und wer in ihnen schon mal gewohnt hat, wer darin geliebt, geweint, geschrien, gestritten und gefeiert hat und wie die Frau im dritten Stock als alleinstehende Mutter ihr schwieriges Leben managt, wie sie kämpft und flucht und dennoch nicht verzweifelt.

STANDARD: Es fällt auf, dass in Ihren Comics nur ältere Häuser nachdenklich und redselig sind. Die Moderne und die Gegenwart schweigen. Warum?

Ware: Die schönste und reichste Zeit, was Architektur betrifft, war für mich zwischen 1895 und 1915. In dieser Zeit sind Bauwerke von einer unfassbaren Schönheit entstanden. Und ja, diesen Häusern gebe ich am liebsten eine Stimme.

STANDARD: 2004 haben Sie gemeinsam mit Tim Samuelson einen Film gemacht. In „Lost Buildings“ geht es um die Zerstörung von historischen Bauten, die Platz machen für ein Hochhaus von Mies van der Rohe.

Ware: Das ist ein autobiografischer Comic-Film, in dem der Abbruch von ein paar wirklich schönen Bauwerken dokumentiert wird – ob das nun das Old Federal Building, die Chicago Stock Exchange oder das Kaufhaus Rothschild & Brothers ist. Und Tim, Jahrgang 1951, der damals an die zehn Jahre alt gewesen sein muss, offenbart im Film seine Gefühle und Beobachtungen.

STANDARD: In einer Szene sieht man, wie der kleine Tim in den Gelben Seiten das Büro von Mies van der Rohe ausfindig macht und den Meister höchstpersönlich aufsucht.

Ware: Eine wahre Begebenheit! Tim ist damals direkt in Mies van der Rohes Büro hineinspaziert und hat ihm gesagt, er wolle nicht, dass das Old Federal Building abgerissen werde, weil das so ein schönes Haus sei.

STANDARD: Was hat Mies van der Rohe darauf geantwortet?

Ware: „Lieber Junge, das ist der Lauf der Dinge. Und ich hoffe, dass du eines Tages auf das neue Gebäude schauen wirst und darin die gleiche Art von Schönheit entdecken wirst, der du heute nachtrauerst.“

STANDARD: Und? Hat Tim die Schönheit wiedergefunden?

Ware: Nein, ich fürchte nicht wirklich.

STANDARD: Und Sie, der Zeichner?

Ware: Ach, was soll ich Ihnen sagen! Ich tue mir schwer mit der Architektur ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Vom kulturellen Untergang zeitgenössischen Bauens traue ich mich gar nicht erst zu sprechen. Natürlich gibt es tolle Architekten wie Rem Koolhaas, Renzo Piano oder von mir aus auch Santiago Calatrava, die es verstehen, Schönheit zu erschaffen. Aber die 99 Prozent des Gebauten, die seelenlos in der Gegend herumstehen, die machen mich nur traurig und aggressiv.

STANDARD: Findet man diese 99-Prozent-Gebäude in Ihren Comics?

Ware: Nein.

STANDARD: Wenn dem so wäre, was würden sich die Neubauten denken?

Ware: Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob sie angesichts ihrer mangelnden Empathie überhaupt irgendwas denken.

STANDARD: Angenommen, Charlie Brown wäre Architekt: Wie würde ein Haus aus seiner Feder aussehen?

Ware: Was für ein schöner Gedanke! Es wäre ein Haus, das aus einer Handskizze heraus geboren ist. Es wäre ein Haus, das Wärme ausstrahlt, ohne nostalgisch zu sein. Und es wäre eine Architektur, die dem Menschen endlich wieder Würde und Freude schenkt – anstatt sie ihm immer nur zu rauben.

Compliance-Hinweis: Die Reise nach Barcelona erfolgte auf Einladung des CCCB Centre de Cultura Contemporània de Barcelona. Die Ausstellung „Chris Ware. Dibuixar és pensar“ ist noch bis 9. November 2025 zu sehen. cccb.org

Der Standard, Sa., 2025.04.12

07. April 2025Wojciech Czaja
Bauwelt

Ein Archiv namens Afrika

In Togo, Ghana und Benin hat sich eine Gruppe von Architektinnen, Stadtplanerinnen und Forscherinnen formiert. Ihr Ziel ist die Konservierung und Dokumentation des baulichen Erbes Westafrikas, bevor dieses zwischen den Zahnrädern des Postkolonialismus endgültig verloren geht.

In Togo, Ghana und Benin hat sich eine Gruppe von Architektinnen, Stadtplanerinnen und Forscherinnen formiert. Ihr Ziel ist die Konservierung und Dokumentation des baulichen Erbes Westafrikas, bevor dieses zwischen den Zahnrädern des Postkolonialismus endgültig verloren geht.

Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2025|08 Herzkammer der Stadt

29. März 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Kistenspiel zwischen Containern

Auf dem letzten Landzipfel des Hafens von Rotterdam wurde vor wenigen Tagen das Portlantis eröffnet. Das neue Besucherzentrum und Museum gewährt neugierige Einblicke in die Welt der Frachtenschiffe.

Auf dem letzten Landzipfel des Hafens von Rotterdam wurde vor wenigen Tagen das Portlantis eröffnet. Das neue Besucherzentrum und Museum gewährt neugierige Einblicke in die Welt der Frachtenschiffe.

Die Kinder stehen mit plattgedrückten Nasen an der Fensterscheibe. Im Prinses-Amalia-Hafen – keine zehn Gehminuten entfernt, wenn nicht die internationale Zollgrenze dazwischenläge – wird gerade die 400 Meter lange Hamburg Express, das Flaggschiff der Reederei Hapag-Lloyd, beladen. Rund 9000 Container werden per Kran bis zu zwölf Stock hoch aufs Deck gestapelt. Die Aussicht ist gigantisch, und wer von den bunten, über dem Wasser schwebenden Stahlkisten von HMM, Maersk und Yang Ming nicht genug kriegt, der kann sich mit dem großen Monitor, verbunden über eine Livekamera auf der Dachterrasse, noch näher heranzoomen.

„Wenn man ein Museum im größten Hafen Europas baut“, sagt Winy Maas, Partner im Rotterdamer Architekturbüro MVRDV, „dann darf man nicht außer Acht lassen, dass das größte und wichtigste Exponat der gesamten Ausstellung der Hafen selbst ist. Also wollten wir in jedem Geschoß das Geschehen über ein breites Panoramafenster in den Raum hereinholen.“ Je nach Etage blickt man mal auf die Hafenbecken, mal auf die Sanddünen, mal aufs weite Meer hinaus, wo die Hamburg Express in wenigen Stunden, sobald sie abgelegt hat, hinter dem Horizont verschwunden sein wird.

Das Besucherzentrum Portlantis, das letzte Woche feierlich eröffnet wurde, ist die jüngste und vielleicht sogar ungewöhnlichste Sehenswürdigkeit Rotterdams. Die im Zweiten Weltkrieg fast flächendeckend zerstörte Großstadt hat sich nach den Bombardierungen der deutschen Luftwaffe zum Ziel gesetzt, nicht dem Alten nachzuweinen wie viele andere Städte mit ähnlichem Schicksal, sondern nach dem Neuen zu streben und sich von da an kontinuierlich neu zu erfinden – mit neuen Museen, neuen Hochhäusern und neuen Experimenten wie etwa Markthallen, Recyclingarchitektur oder schwimmenden Bauernhöfen.

Das wichtigste Bau- und Infrastrukturprojekt jedoch ist die Erweiterung des Hafens, der mit einem jährlichen Umschlag von 13,5 Millionen Tonnen längst an die Grenzen seiner Belastbarkeit gestoßen ist. Unter dem Titel Maasvlakte 2 wurden in den letzten 15 Jahren 2000 Hektar Land angeschüttet und auf diese Weise neue Anlegestellen, Logistikhallen und Öl- und Gasspeicher geschaffen. Um Besuchern einen Blick hinter die Kulissen des Hafenalltags zu bieten, hat sich die Hafenbehörde dazu entschieden, auf dem neu geschaffenen Landzipfel, 45 Kilometer von der Rotterdamer Innenstadt entfernt, ein Museum und Infozentrum zu errichten.

„Mit dem neuen Portlantis ermöglichen wir, den Rotterdamer Hafen aus allernächster Nähe kennenzulernen“, sagt Boudewijn Siemons, CEO der Port of Rotterdam Authority. „Wir schauen uns den Hafen aus unterschiedlichen Perspektiven an und werfen in der Ausstellung einen Blick auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Letzteres ist essenziell, denn der globale Schiffsverkehr verursacht enorme Emissionen – und die müssen wir dringend reduzieren.“ Nicht zuletzt verstehe sich das Besucherzentrum mit seinen lustigen, interaktiven, überaus informativen Stationen, so Siemons, als Recruitingmaschine für die Hafenarbeiter von morgen.

Architektonische Wow-Effekte

Noch plastischer formuliert es der Architekt selbst. Er bezeichnet das 29 Meter hohe Portlantis mit seinen fünf geschoßweise verdrehten Kisten als „Blickfang, als Leuchtturm der Logistik, aber auch als eine Art Wachturm, der dazu aufrufen soll, das eigene Konsumverhalten zu hinterfragen und sich die Frage zu stellen, wie der individuelle Lebenskomfort den internationalen Warenverkehr beeinflusst. Wenn man in einer Handelsmetropole wie Rotterdam lebt, an so einem wichtigen Tor zur Welt“, so Maas, „dann darf man die Augen nicht verschließen.“

Dass selbige ganz groß bleiben, voll mit Staunen und architektonischen Wow-Effekten, dafür hat MVRDV – ganz in der Tradition des Büros – natürlich entsprechend vorgesorgt. Im Kontrast zu den matten, patinierten, oftmals angerosteten Schiffscontainern rundherum handelt es sich beim Portlantis um einen Stahlbau mit glattem, poliertem, hochglänzendem Aluminium. Ein knallrotes, weithin sichtbares Erschließungsband mit Treppen und Podesten, die sich bis auf die öffentlich begehbare Dachterrasse hochziehen, verleiht dem Gebäude eine surreale Erscheinung. Je nach Himmel, Wetter und Sonnenstand scheint man in manchen Momenten vor einem Rendering zu stehen.

Im Inneren des Hauses dann die große Überraschung: Bei rund 40 Prozent der Primär- und Sekundärkonstruktion handelt es sich um Recycling, genauer gesagt um wiederverwendete Stahlbauteile, die innerhalb des Rotterdamer Hafens bislang anderweitig im Einsatz waren – als Kran, als Lagerhalle, als temporäres Nebengebäude. Um diese inneren Werte zu zelebrieren, wurde die gesamte Stahlkonstruktion aus Rundstützen und Flanschträgern sichtbar belassen und in unterschiedlichen Grautönen gestrichen.

Umso besser kommt die Szenografie und Ausstellungsarchitektur von Kossmann Dejong zur Geltung. Die Labore, Infoscreens und interaktiven Rauminstallationen sind in fröhlichen, lebensbunten Farben gestaltet und animieren zur Benützung, bei der auch Mütter, Väter, Lehrerinnen, Architekten und Journalistinnen zum Kind werden. Highlight sind die 13 knallgelben Skulpturen, metaphorische Objekte für Hafen und Schifffahrt, die sich im fünfstöckigen Atrium an durchsichtigen Nylonschnüren auf und ab bewegen.

Das Portlantis (Investitionskosten 30 Millionen Euro) ist ein schönes, nachahmenswertes Beispiel dafür, dass sich städtischer Tourismus nicht immer nur auf Kirchen, Konzerte und alte Meister beschränken muss. Mit einem Blick hinter die Kulissen urbaner Infrastruktur können auch ganz andere Neugierden befriedigt werden. Erwartet werden 150.000 Besucher pro Jahr.

Compliance-Hinweis: Die Besichtigung des Portlantis erfolgte im Rahmen einer Pressereise. Der Autor war Gast von Rotterdam Partners.

Der Standard, Sa., 2025.03.29

15. März 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Vorstadt namens Blue Velvet

Suburbia ist überall. Ihre Anfänge, zeigt eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien, hatten durchaus rühmliche Ziele, doch irgendwann hat sich das Wohnmodell pervertiert. Gibt es ein Entkommen?

Suburbia ist überall. Ihre Anfänge, zeigt eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien, hatten durchaus rühmliche Ziele, doch irgendwann hat sich das Wohnmodell pervertiert. Gibt es ein Entkommen?

340Millionen Menschen, 400 Millionen Schusswaffen: Die Gesamtzahl von Glocks, Schmeissers und Kalaschnikows in nichtmilitärischer Verwendung ist nirgendwo so hoch wie in den USA. Oder, anders gesagt: Die Hälfte aller weltweit registrierten Handfeuerwaffen in Privatbesitz wohnt genau hier, irgendwo zwischen A wie Alabama und W wie Wyoming. So wie zum Beispiel das stolze Arsenal der 33-jährigen Avery Skipalis in Tampa, Florida, die der italienische Fotograf Gabriele Galimberti 2021 mit seiner Kamera festgehalten hat.

„Ich wollte ein Porträt der amerikanischen Waffenkultur zeichnen und die weitverbreitete Liebe zu Schusswaffen darstellen“, sagt Galimberti im Interview. „Und es war durchaus leicht, Leute zu finden. Oft bin ich sogar auf welche gestoßen, die 60 Gewehre oder mehr besitzen.“ Für den toskanischen Fotografen ist das Phänomen kein Zufall, sondern eine Frage der Tradition, mehr noch eine logische Konsequenz des 1791 ratifizierten Zweiten Verfassungszusatzes, der den Bewohnern der damals neu eroberten Gebiete das Recht einräumte, Waffen zu tragen und sich damit bei Bedarf zu verteidigen.

Das Foto, Gänsehaut pur, ist eines von fünf Porträts aus der 2021 veröffentlichten Serie Ameriguns, die derzeit im Architekturzentrum Wien (Az W) zu sehen sind. Die Ausstellung Suburbia. Leben im amerikanischen Traum zeichnet die Geschichte eines suburbanen Lebensideals, das vor knapp 200 Jahren seinen Beginn nahm, und analysiert Widersprüche dieses Modells sowie auch dessen soziale, ökologische und lebenskulturelle Folgen. Entstanden ist die Wanderausstellung in Zusammenarbeit mit dem Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), hier in Wien wird sie nun um österreichische Aspekte und innovative Lösungsansätze ergänzt.

„Schon als Kind habe ich gesehen, dass in Kinofilmen und Sitcoms vor allem Suburbs und Einfamilienhäuser vorkommen“, sagt Philipp Engel, Kurator am CCCB, „und seit damals wundere ich mich, warum die Amerikaner so leben, wie sie leben, in diesen Donut-Städten ohne Infrastruktur und ohne öffentliche Verkehrsanbindung.“ Und tatsächlich, ob Alf, Golden Girls, Bezaubernde Jeannie, Der Prinz von Bel-Air, King of Queens, Two and a Half Men, Desperate Housewives, Happiness von Todd Solondz, American Beauty von Sam Mendes oder das abgeschnittene Ohr in David Lynchs Blue Velvet: „Hollywood“, so Engel, „hat auf unser heutiges Verständnis von Stadt einen enormen Einfluss genommen. Suburbia findet sich überall.“

Das war nicht immer so. Die ersten Ansätze einer damals noch subtilen, subkutanen Suburbanisierung hatten durchaus rühmliche Ziele und intakte Rahmenbedingungen. Mitte des 19. Jahrhunderts – in einem Zeitalter also von Bränden, Epidemien, Kriminalität, politischen Unruhen und einer zunehmenden Industrialisierung mit Ruß, Lärm und Gestank – entwickelten Großindustrielle wie etwa Llewellyn Solomon Haskell die ersten Gated Communities und parkähnlichen Stadtrandsiedlungen, um den Menschen ein Wohnen außerhalb der zehrenden Großstadt zu ermöglichen.

Straßenbahn in Los Angeles

Die frühen Suburbs in Illinois und New Jersey wurden von Eisenbahngesellschaften angefahren, viele Haltestellen, kurze Gehdistanzen, und auch der Großraum Los Angeles war damals bestens erschlossen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte L.A. mit 1700 Kilometern und mehr als 900 Streetcar-Garnituren das größte Straßenbahnnetz der Welt. In den Nachkriegsjahren jedoch wurde die Straßenbahn – wie in 45 anderen US-Städten auch – systematisch zerstört. General Motors kaufte die Schienenunternehmen sukzessive auf und legte die Netze still – bloß um den öffentlichen Verkehr mit Fahrzeugen und Verbrennungsmotoren aus eigener Produktion zu ersetzen.

Mit dem Aufstieg des Automobils, dem boomenden Markt mit exotisch benamsten Fertigteilhäusern, die in unterschiedlichsten Architekturstilen geliefert und montiert wurden, und der Heimkehr der Kriegsveteranen, die als Helden und Patrioten gefeiert wurden, während den Frauen die Mobilität genommen wurde, um sie mit allerhand praktischen Haushaltsgeräten in eine Dienerinnenrolle hineinzuquetschen, war der Siegeszug von Suburbia nicht mehr aufzuhalten. Die irreparablen Folgen der Ghettoisierung und jahrzehntelang praktizierten sozialen Derangierung und Pervertierung sind heute sichtbar – nicht nur in Galimbertis erdrückenden Waffenporträts.

„Ich würde das Phänomen aber nicht als irreparabel bezeichnen“, sagt Judit Carrera, Direktorin des CCCB. „Es gibt Ansätze und Bewegungen wie etwa New Urbanism, die sich um eine Verdichtung, Verbesserung und Wiederbelebung des Speckgürtels bemühen.“ Auch Angelika Fitz, Direktorin des Az W, sieht darin eine wichtige Reparaturaufgabe: „Viele Architekturbüros haben das Einfamilienhaus als Bauaufgabe lange Zeit vernachlässigt und abgelehnt. Aber nun wird der Umgang mit bestehenden Einfamilienhäusern zu einer wichtigen Aufgabe in der Transformation. Wir brauchen dringend neue Umbau- und Nutzungsmodelle, sonst werden wir irgendwann nur noch von toten Häusern umgeben sein.“

Allein in Österreich stehen 1,5 Millionen Einfamilienhäuser herum, und der Bau eines solchen ist – jeder Logik zum Trotz – immer noch der größte Wohntraum in diesem Land. Die Kritik daran ist nicht nur eine moralisch-ökologisch-versiegelungstechnische mit erhobenem Zeigefinger. Es reicht schon ein Blick in die Statistik, die in der Ausstellung mit satirischem Unterton inszeniert wird: Die durchschnittliche Haltbarkeit einer Ehe beträgt demnach 10,4 Jahre, die durchschnittliche Laufzeit von Wohnkrediten fast das Doppelte.

Der wertvolle Aha-Moment ist, dass die von Lene Benz, Katharina Ritter und Agnes Wyskitensky kuratierte Ausstellung nicht nur analysiert und sich nicht nur mit ökonomisch motivierten Fehlentwicklungen wie etwa der Blauen Lagune in der SCS, Frank Stronachs Wohnpark Fontana in Oberwaltersdorf oder Alfred Riedls kleinem Dubai in Grafenwörth beschäftigt, sondern dass sie aufzeigt, wie man aus dem suburbanen Albtraum auch wieder aufwachen kann. Ob Kindergarten, Coworking-Haus oder neue, innovative, solidarische Gemeinschaftswohnkonzepte wie etwa das Sauriassl-Syndikat in Oberbayern: Liebe Architekturzunft, hier liegt Arbeitskapital für die nächsten Jahrzehnte.

[ Die Ausstellung „Suburbia. Leben im amerikanischen Traum“ im Az W wird von einem umfassenden Rahmenprogramm mit Vorträgen, Exkursionen und Kinderworkshops begleitet. Zu sehen bis 4. August 2025: azw.at ]

Der Standard, Sa., 2025.03.15

08. März 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Die Krisenbewältigungsakquisiteure

Warten auf einen Auftrag? Das war gestern! Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder suchen sich ihre Projekte selbst und greifen dann zum Telefon: Hallo, Bürgermeister? Kommendes Wochenende halten die beiden einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On in Wien.

Warten auf einen Auftrag? Das war gestern! Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder suchen sich ihre Projekte selbst und greifen dann zum Telefon: Hallo, Bürgermeister? Kommendes Wochenende halten die beiden einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On in Wien.

Früher einmal, als die Bäckerei Seidenschnur noch in Betrieb war, lagen in der Vitrine Brezen, Brötchen und Berliner. Heute sind darin Holz- und Kartonmodelle jener Projekte ausgestellt, an denen Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder gerade arbeiten. Und so wie dereinst ihre Vorgängerinnen in der Berliner Gotzkowskystraße 33, Bezirk Moabit, verstehen Jurek und Aimée, 31 Jahre alt, ihren Job in allererster Linie als Handwerk, als eine Sache, die man so richtig anpacken und durchkneten muss. „Es gibt mehr als genug zu tun da draußen“, sagen die beiden. „Aber die Projekte fliegen einem nicht zu. Es ist daher unsere Aufgabe als Planer, als Umweltgestalterinnen, die Welt zu beobachten und mitunter selbst die Initiative zu ergreifen.“

So wie damals vor ein paar Jahren, als in den späten Abendstunden der ICE plötzlich Halt machte und die Passagiere gezwungen waren, in Stendal, Sachsen-Anhalt, 100 Kilometer westlich von Berlin, auszusteigen und sich die Nacht um die Ohren zu schlagen. Am nächsten Morgen dann ein Spaziergang durch die Altstadt mit ihren hübschen Backstein- und Fachwerkhäuschen, aber auch durch die Neustadt mit ihren unzähligen DDR-Plattenbauten, Typ WBS 70. Einige davon waren längst schon abgerissen, an ihrer Stelle nun Einfamilienhäuser und grüne Blumenwiesen, andere hingegen standen zu Dutzenden noch leer, ungenutzte Geisterburgen mit toten Fenstern, so weit das Auge reicht. Und so kam den beiden eine Idee, die sie im Rahmen des Architekturfestivals Turn On im ORF-Radiokulturhaus kommendes Wochenende vorstellen werden.

Blick bis zum Horizont

„Während in Berlin massive Wohnungsnot herrscht, stehen hier, mit der Bahn gerade mal 34 Minuten von der Stadtgrenze und 49 Minuten vom Berliner Hauptbahnhof entfernt, hunderte, ja vielleicht sogar tausende Wohnungen leer“, sagen Jurek und Aimée, die erst kürzlich eine neue Büroplattform gegründet haben, Association for Ecological Architecture, kurz AFEA. „Also haben wir den Bürgermeister, den Stadtentwicklungsausschuss und die größten und wichtigsten Wohnbaugenossenschaften der Stadt kontaktiert und ihnen vorgeschlagen, die WBS-70-Platte umzubauen – in ein sogenanntes Einfamilienhaus-Haus.“

Das Konzept dahinter: Die Deckenplatten und aussteifenden Wandscheiben der standardisierten Wohnmaschine werden von oben nach unten so weit abgetragen, dass eine abwechslungsreiche Silhouette mit privaten Gärten und Dachterrassen entsteht. Die Betonfassade wird mit vorgefertigten Holzelementen gedämmt. Und was einst auf 2,50 Meter Raumhöhe beschränkt war, soll mit internen Treppen nun zu zwei- und dreigeschoßigen Wohneinheiten verbunden werden. „Am Ende soll man das Gefühl haben, in einem Einfamilienhaus im vierten, fünften, sechsten Stock zu wohnen, mit Blick bis zum Horizont – und noch dazu mit gutem ökologischem Gewissen.“

Der Wohnbauträger hat bereits sein Okay gegeben, im Sommer soll der kontrollierte Teilabbruch starten. „Wir wollen das Projekt im Rahmen eines geförderten Forschungsprojekts als Pilot umsetzen und die Wohnungen für unter zehn Euro pro Quadratmeter vermieten“, sagt Lars Schirmer, kaufmännischer Vorstand der WBGA Wohnungsbau-Genossenschaft Altmark, auf Anfrage des ΔTANDARD. „Es ist eine skalierbare, CO2 -intelligente und sozialpolitisch interessante Lösung, die in vielen Städten im Berliner Umraum Anwendung finden könnte. Wenn alles klappt, denke ich, könnte das Projekt Nachahmer finden und in die Breite ausgerollt werden.“

Für Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder ist es nicht das erste Mal, dass sie mit E-Mail, Anrufen und konsequenter Kaltakquise bei den Stadtobersten einen Auftrag an Land ziehen konnten. Auch in Werben an der Elbe, mit 400 Einwohnern offiziell die kleinste Hansestadt Deutschlands, waren es unzählige Anrufe beim Stadtrat und beim Bürgermeister, die schließlich dazu geführt haben, dass die ehemalige Komturei, ein denkmalgeschütztes Ensemble mitten in der Stadt, nun saniert und revitalisiert wird. Geplant ist ein ökologisches, postfossiles Modellprojekt mit Ferienwohnungen, betreutem Seniorenwohnhaus und Arbeitslofts für die Kreativwirtschaft. Ein Teil ist bereits in Bau, mit ökologischen Baustoffen und kreislauffähigen Produkten, und soll noch vor Jahresende fertiggestellt werden.

„Mittlerweile, fürchten wir, ist kein Bürgermeister mehr vor uns sicher“, sagen die beiden, die auch schon in Basel, Uzwil, Lichtenberg, Mühlberg an der Elbe und Werder an der Havel die Telefone läuten ließen. „Denn egal wohin es uns verschlägt, fällt uns sofort ein Projekt auf, mit dem wir in der Gemeinde vorstellig werden wollen. Wir wollen nicht warten, bis man an uns herantritt. Wir sind Teil einer Generation, die in der Krise nun selbst auf den Plan treten muss.“

Krisenmedizin: 20 Stunden Architektur

Die Chance in der Krise: Unter diesem brisanten Generalmotto steht die nunmehr 23. Ausgabe des Architekturfestivals Turn On, das unter der Schirmherrschaft von Margit Ulama Architektinnen, Bauherren, Bauträger, Fachplanerinnen und Politiker zusammentrommelt, um im Zeitalter prekären Jammerns über Potenziale und Best-Practice-Projekte aus ganz Europa zu sinnieren. Auf dem Programm stehen diesmal Holzbau, Kraftwerke, Bio-Gewerbebauten, nachhaltige Stadtentwicklung und smartes Weiterbauen im Bestand. Mit Vorträgen von AFEA, FAR frohn & rojas, Barkow Leibinger, B.K.P.Š. (Bratislava), Franz & Sue, Pichler & Traupmann, Innauer Matt, Henke Schreieck, Shibukawa Eder, Schenker Salvi Weber, Staab Architekten, Sam Jajob (Die Angewandte), der ehemaligen Berliner Staatssekretärin und Senatsbaudirektorin Regula Lüscher und vielen mehr.

Von Donnerstag, 13. März, 15.30 Uhr bis Samstag, 15. März, 22 Uhr. ORF-Radiokulturhaus, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien.

Eintritt frei.

Der Standard, Sa., 2025.03.08

05. März 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Maler, Dichter und Stadtgestalter

Der chinesische Architekt Liu Jiakun erhält den Pritzker-Preis 2025.

Der chinesische Architekt Liu Jiakun erhält den Pritzker-Preis 2025.

Liu Jiakuns Mutter war Internistin, so wie die ganze Familie überwiegend aus Ärzten bestand. Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er daher in den Gängen des Second People’s Hospital in Chengdu, wo er sich im Umfeld des christlichen Medizininstituts, wie er selbst sagt, eine soziale und lebenskulturelle Toleranz aneignete. Diese kommt ihm nun zugute, denn der Architekt von Museen, Wohnbauten, Kulturzentren, Bürokomplexen, Parkanlagen und öffentlichen urbanen Stadträumen wird nun, wie am Dienstag bekanntgegeben wurde, mit dem diesjährigen Pritzker-Preis ausgezeichnet.

Liu Jiakun wurde 1956 in Chengdu in der zentralchinesischen Provinz Sichuan geboren. Er erwies sich als künstlerisch begabt, erkundete seine Welt durch Zeichnen und Literatur und träumte davon, eines Tages Maler oder Dichter zu werden. Mit 17 Jahren nahm er am staatlichen Zhiqing-Programm für gebildete Jugendliche teil, fünf Jahre später wurde er zum Architekturstudium an der Chongqing University zugelassen. „Mein größtes Talent damals war wahrscheinlich, vor nichts Angst zu haben, und dazu noch natürlich meine Mal- und Schreibfähigkeiten“, blickt der heute 68-Jährige zurück. „Wie in einem Traum wurde mir plötzlich klar, dass mein eigenes Leben wichtig war.“

Nach dem Studium arbeitete er zunächst für die Chengdu Architectural Design Academy und zog dann nach Tibet und Xinjiang, Westchina, wo er sich zehn Jahre lang dem Malen, Schreiben und Meditieren widmete. 1999 gründete er sein eigenes Architekturbüro in Chengdu mit heute rund 20 Mitarbeitern. Er spezialisiert sich darauf, traditionelle chinesische Architektur weiterzudenken, Geschichte mit Innovation zu verschränken, vor allem aber öffentliche Räume in dicht bebauten Ballungsräumen zu schaffen. Sein „West Village“ in Chengdu (2015) ist eine fünfstöckige Platzstruktur, die sich mit Stiegen, Rampen und gedeckten Freiräumen über einen ganzen Block erstreckt.

„Ich strebe immer danach, wie Wasser zu sein, ohne eine feste Form zu haben, und die lokale Umgebung zu durchdringen“, sagt er. „Mit der Zeit verfestigt sich das Wasser, verwandelt sich in Architektur – und vielleicht sogar in die höchste Form menschlicher spiritueller Schöpfung.“ Liu Jiakun ist der erst zweite Chinese, der den seit 1979 vergebenen, mit 100.000 US-Dollar dotierten „Nobelpreis der Architektur“ entgegennehmen wird.

Der Standard, Mi., 2025.03.05

01. März 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Gute Nacht, Iana!

Hinter der roten Fassade im Norden Münchens verbirgt sich ein temporäres Obdach für obdachlose Menschen. Vorgestern, Donnerstag, wurde das Projekt von Hild und K beim BDA-Preis Bayern gewürdigt.

Hinter der roten Fassade im Norden Münchens verbirgt sich ein temporäres Obdach für obdachlose Menschen. Vorgestern, Donnerstag, wurde das Projekt von Hild und K beim BDA-Preis Bayern gewürdigt.

Iana ist 39 Jahre alt, stammt aus Gorj, Rumänien, und lebt seit einigen Jahren in München. Nach ihrer Scheidung wurden ihr die Papiere gestohlen, kurz danach hat sie ihren Job und schließlich auch die Wohnung verloren. Seitdem ist sie obdachlos. Sie ist eine von 13.000 Wohnungs- und Obdachlosen in München und einer der insgesamt 340 offiziell registrierten Härtefälle, die aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft und ihres rechtlichen Status in keinem sozialen Hilfssystem integriert sind. Wenn es kalt ist, fährt sie am Abend mit der U2 bis zum Frankfurter Ring und steigt dann, wie viele andere auch, in den Bus 178 um. Von dort sind es dann noch fünf Stopps, bis sie, wie sie sagt, für eine Nacht zu Hause ist.

„Früher haben wir Obdachlosen nicht weit von hier in einer ehemaligen Kaserne übernachtet“, erzählt Iana. „Was soll ich sagen? Es war eine Kaserne. Nun ist mein Leben, um ehrlich zu sein, auch nicht wirklich schöner, auch nicht wirklich leichter, ich bin immer noch obdachlos, und ich weiß noch immer nicht, wie es jobmäßig weitergehen soll. Aber für einen kurzen Moment, wenn ich am Abend hierherkomme, habe ich das Gefühl, ein bisschen Schönheit und Freundlichkeit zu erleben. Ich mag das rote Holz, die lustige Fassade, man fühlt sich irgendwie ein bisschen besser willkommen.“

Der sogenannte Übernachtungsschutz in der Lotte-Branz-Straße im Norden Münchens, ein Ersatzneubau für besagte Kaserne, die im Zuge der Stadterweiterung abgerissen wurde, um Platz zu machen für neuen Wohnbau, umfasst ein medizinisches Zentrum sowie 730 Betten für obdachlose Menschen – für Männer, Frauen und Familien, die auf der Flucht sind vor Wind und Wetter, aber auch für akute Notfälle in familiären Gewaltsituationen, bei Wohnungsbränden sowie für all jene, die kurzfristig in keinem anderen sozialen Auffangsystem ein Obdach finden konnten. Vorgestern, Donnerstag, wurde das Haus vom Bund Deutscher Architektinnen und Architekten beim BDA Preis Bayern 2025 mit einer Anerkennung gewürdigt.
Eine Heimat auf Zeit

„Und das freut uns sehr“, sagt Architekt Matthias Haber, Partner im zuständigen Architekturbüro Hild und K, „denn die Unterbringung einer so großen Zahl an Menschen in einer so schwierigen Lebenssituation und noch dazu in einer so unwirtlichen Gegend wie hier, mitten im Gewerbegebiet, umgeben von Lagerhallen und Logistikern, ist keine leichte Aufgabe. Dieses Projekt ist nicht nur eine Hilfe in äußersten Notlagen, sondern auch eine Heimat auf Zeit. Und nichts würde ich lieber, als das Haus für seine Nutzerinnen und Nutzer eines Tages in Wohnungen umzubauen.“

Auffälligstes Mittel ist die terracottafarbene Holzfassade mit ihren schlanken, vertikal verlegten Latten aus Weißtanne sowie die verspielte, rokokohafte Bordüre aus insgesamt 720 Opferbrettern, die sich ganz oben wie Omamas Häkeldeckchen um das Haus legt. Ab und zu schummelt sich ein rundes Bullauge dazwischen. Kenner der Architekturgeschichte werden darin leicht ein Zitat auf das 1927 errichtete Ledigenheim im Münchner Westend erkennen, das Architekt Theodor Fischer als Antwort auf die damals schon dramatische Wohnungsnot geplant hat. Während Fischers Ledigenheim bis heute ein Auffangbecken für all jene ist, die für eine reguläre Miete in München nicht genug verdienen, landen hier, im roten Haus in der Lotte-Branz-Straße, all die anderen, die durch alle sozialen und kommunalen Netze gefallen sind.

Bei aller Liebe zu diesem wunderschönen Haus, zu der kleinmaßstäblichen Sympathie, zu den freundlichen Farben im Inneren, zum Leitsystem von Herburg Weiland mit seinen gelben, fast schon knuffigen Waffen- und Drogenverbotslogos macht sich hier auch ein Loch für die größte Kritik an diesem Projekt auf: In keiner anderen deutschen Stadt sind die Wohnkosten so hoch wie hier, jeder fünfte Münchner muss mittlerweile mehr als 45 Prozent seines Einkommens für die Kaltmiete aufwenden. Die Tatsache, dass die Stadt München selbst keine ausreichend großen innerstädtischen Flächenreserven mehr besitzt und mit dieser Einrichtung an den Stadtrand ausweichen musste, macht das strukturelle Problem nur noch sichtbarer.

„Das Übernachtungsangebot wird, wie man sich vorstellen kann, sehr gut angenommen“, sagt Markus Blaszczyk, Bereichsleiter beim Evangelischen Hilfswerk München. „Im Schnitt haben wir rund 450 Nächtigungen pro Tag, und natürlich mussten wir das Haus in weiser Voraussicht auf die Zukunft leider etwas überdimensionieren.“ Die Anerkennung beim BDA-Preis Bayern darf – jenseits der Grenze wie auch diesseits – als nicht nur architektonische, sondern vor allem auch sozialpolitische Denkanregung verstanden werden.

Der Standard, Sa., 2025.03.01



verknüpfte Bauwerke
Übernachtungsschutz Lotte-Branz-Strasse

22. Februar 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Abrissbirne kaputtmachen!

Sanierungen und Renovierungen sind für die Immobilienwirtschaft teuer, langwierig und viel zu kompliziert. Abbruch und Neubau stehen daher an der Tagesordnung. Die EU-Bürgerinitiative House Europe! will das ändern – und sammelt nun Unterschriften für ein Umdenken im EU-Parlament.

Sanierungen und Renovierungen sind für die Immobilienwirtschaft teuer, langwierig und viel zu kompliziert. Abbruch und Neubau stehen daher an der Tagesordnung. Die EU-Bürgerinitiative House Europe! will das ändern – und sammelt nun Unterschriften für ein Umdenken im EU-Parlament.

Das sind sensationelle Pilotprojekte“, sagt der Berliner Architekt Olaf Grawert, Partner bei B+ Architektur. „Aber der immobilienwirtschaftliche Alltag sieht leider anders aus. Sanierungen, Renovierungen und Weiterbauen im Bestand sind immer noch die Ausnahme, stattdessen ist die gesamte Branche auf Abbruch und Neubau fixiert – und das, obwohl wir längst wissen, was für katastrophale ökologische und klimatische Folgen das hat.“ 38 Prozent der globalen CO2 -Emissionen sind auf den Gebäudesektor zurückzuführen. Hinzu kommt, dass die Errichtung und Vernichtung von Bauwerken 36 Prozent des europäischen Mülls produzieren. Im Vergleich dazu: Der Haushaltsmüll macht lediglich acht Prozent der EU-Müllberge aus.

„Die Zahlen sind alarmierend, und wenn sich an der Gesetzeslage nichts ändert, dann wird auch die Immobilienwirtschaft nicht umdenken“, so Grawert. Denn: „Investoren, Projektentwicklerinnen und Finanzdienstleister denken nicht in Gebäuden, sondern einzig und allein in Grundstücken. Unser Ziel ist es, die kapitalistischen Rahmenbedingungen auf EU-Ebene neu zu programmieren und gesetzlich neu zu verankern. Wenn das bei Einwegplastik geht, dann sollte das auch bei Einweghäusern möglich sein!“

Die Welt verändern

Mit seinem Büro B+ und zahlreichen Kolleginnen, Unterstützern und Botschafterinnen aus allen EU-Ländern initiierte er unlängst die EU-Bürgerinitiative „House Europe!“. Innerhalb von zwölf Monaten – bis einschließlich 31. Jänner 2026 – will die Initiative eine Million Unterschriften sammeln und auf diese Weise erzwingen, dass der Themen- und Gesetzesvorschlag im EU-Parlament behandelt und entsprechend ausgearbeitet wird.

„In der Immobranche hat sogar die Sprache eine einseitige Tendenz“, sagt Verena Konrad, Direktorin des Vorarlberger Architekturinstituts (vai) und Österreich-Botschafterin für House Europe!. „Im Neubau werden Potenzialanalysen erstellt, im Altbau hingegen spricht man von Risikoanalysen. Dieses Narrativ ist in den Köpfen vieler Menschen fest einzementiert. Das müssen wir ändern. Wir wollen, dass die Politik und die Immobilienwirtschaft das Potenzial bereits errichteter Gebäude anerkennen.“ Zum Beispiel mit einer Steuerreduktion bei Sanierungen und Renovierungen, wie das fallweise schon in Brüssel praktiziert wird.

„Mit House Europe! können wir die Welt verändern“, sagt Botschafterin Saskia van Stein, Direktorin der International Architecture Biennale Rotterdam. „Wenn wir es schaffen, entsprechende Gesetze zu erlassen und der Immobilienwirtschaft Incentives anzubieten, damit die Sanierung und Renovierung von Altbauten auch wirtschaftlich attraktiver wird, dann wird der Markt dieser Einladung folgen.“ Wenn sich legistisch jedoch nichts ändert und wir so weitermachen wir bisher, prognostizieren Forscherinnen bis 2050 innerhalb der EU eine Bestandsvernichtung im Ausmaß von 1,5 Milliarden Quadratmetern. Das ist die vierfache Fläche von Wien.

Jede Stimme zählt: houseeurope.eu

Haus Schreber, Aachen Eine Arbeitersiedlung im Norden der Stadt, eingebettet in eine Landschaft aus Backstein, Satteldächern und glücklich gemähten Rasenflächen. Allein, den Käufern – Familie Winkel mit drei Kindern – war das Siedlungshäuschen aus den 1920er-Jahren zu klein, und so kontaktierte man das Aachener Architekturbüro Amunt mit der Bitte um 50 Quadratmeter Erweiterung. „Warum ein abgenutztes, unpraktisches Bauwerk mit viel Aufwand abreißen?“, fragte sich Architekt Björn Martenson. „Es ist doch viel besser, das Haus umzunutzen, anders zu organisieren und für eine neue Zeit fit zu machen.“ Und so kam es dann auch. Das Weiterbauen wurde mit großformatigen, unverputzten Bimssteinen bewusst zur Schau gestellt. Das Haus wurde mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnet.

San Gimignano Lichtenberg, Berlin Mitten im Gewerbegebiet Lichtenberg wurde 1987 – bloß zwei Jahre vor der Wende – eine Fabrik für die VEB Elektrokohle errichtet. Bis zur Weltfinanzkrise 2008 stand die Fabrikhalle leer, doch mit dem Zusammenbruch der Bauwirtschaft entpuppte sie sich als wertvolles Rohstofflager: Die Stahlkonstruktion wurde abgetragen und weiterverwertet, die beiden Treppen- und Silotürme jedoch – 42 Meter hoch, 199 Stufen bis ganz nach oben – wären im Abbruch zu kostspielig gewesen und blieben als betonierte Zeitzeugen erhalten. 2021 nahm sich das Architekturbüro B+ der geheimnisvollen DDR-Ruine an und baute sie zu einem Kreativcluster mit Studios und Werkstätten um. Very rough! In der Namensgebung orientierte man sich an den mittelalterlichen Geschlechtertürmen in der Toscana.

De Flat Kleiburg, Amsterdam „Wir haben nach günstigem Eigentum gesucht“, erzählt Dick in einer coolen Wohnung im neunten Stock – mit grünem Samtsofa und ziemlich viel Kunst an der Wand. „Und dann sind wir in der Zeitung auf diese Anzeige gestoßen.“ Der Bauträger Kondor Wessels Vastgoed erwarb – entgegen allen Empfehlungen seitens der Stadt und der Immobilienbranche – den 400 Meter langen Betonbau aus den 1960er-Jahren und sanierte in Zusammenarbeit mit NL Architects und XVW Architectuur lediglich Fassade, Haustechnik und Allgemeinbereiche. Die 498 Wohnungen selbst blieben unberührt und wurden als Edelrohbau und Do-it-yourself-Bastlerhit verkauft – um 1200 Euro pro Quadratmeter. „Und hinter der Wohnungstür“, sagt Jacqueline, zweiter Stock, „konntest du dich austoben und machen, was du willst.“

Der Standard, Sa., 2025.02.22

25. Januar 2025Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Welt voller Volt

Am 26. Jänner ist International Day of Clean Energy: Die Errichtung von Photovoltaik-Anlagen steigt in Österreich exponentiell an, und das ist gut so. Was heißt das im Kontext historischer Dörfer und schützenswerter Altstädte?

Am 26. Jänner ist International Day of Clean Energy: Die Errichtung von Photovoltaik-Anlagen steigt in Österreich exponentiell an, und das ist gut so. Was heißt das im Kontext historischer Dörfer und schützenswerter Altstädte?

Hans Peter Weis versteht die Welt nicht mehr. Vor ein paar Jahren haben ihm die Baubehörde und der unabhängige Gestaltungsbeirat gesagt, er solle das neue Vordach über dem Balkon in einem satten Ziegelrot decken, so wie all die anderen Dachflächen auf dem Haus, und nun, wo er auf das bereits errichtete Vordach nachträglich eine Photovoltaik-Anlage mit fünf Modulen draufsetzen will, um sich von der EVN ein bisschen unabhängiger zu machen, soll er das Blechdach plötzlich dunkelgrau streichen.

„Und jetzt muss ich mit meinen 70 Jahren“, sagt der pensionierte, aber immer noch rüstige Bergsteiger und Bergführer, „bevor die Photovoltaik-Monteure kommen, aufs Dach raufkraxeln, 15 Meter über der Ybbs, und die Blechdeckung neu lackieren, bloß damit die PV-Paneele nicht so stark in Erscheinung treten. Ganz ehrlich? Ich bin sehr dafür, dass man die Altstadt von Waidhofen schützt und das Altehrwürdige bewahrt. Aber dieses ganze Theater für so eine kleine Anlage? Da fehlt mir echt das Verständnis.“

Das PV-Projekt von Hans Peter Weis ist kein Einzelfall. Seit der Corona-Pandemie und vor allem seit Russlands Angriff auf die Ukraine hat die sukzessive Umrüstung auf solare Stromproduktion – ob auf Fassaden oder in der Dachlandschaft – in Waidhofen an der Ybbs deutlich zugenommen. So sehr, dass die Stadt und der zuständige Gestaltungsbeirat, dem der Autor dieser Zeilen als Mitglied angehört, beschlossen haben, einen vorübergehenden Baustopp zu verhängen und in dieser Zeit Schutzzonen zu definieren und zonenabhängige Bebauungsbestimmungen festzuzurren.
Richtlinien benötigt

„Die Errichtung von PV-Anlagen und damit auch die Kollisionspunkte zwischen neuen Technologien und historischer Architektur haben im gesamten Bundesland spürbar zugenommen“, sagt Peter Aichinger-Rosenberger, Amtssachverständiger für Baukultur in der Niederösterreichischen Baudirektion. „Vor allem im Denkmalschutz, im Ortsbildschutz, in städtischen Schutzzonen und im Unesco-Welterbe benötigt diese neue Form von baulichen Fragestellungen rechtliche und gestalterische Grundlagen.“ Einige Gemeinden wie etwa Melk, Krems oder Baden, so der Experte, hätten bereits gute Lösungen, andere sind gerade dabei, entsprechende Richtlinien auszuarbeiten.

In Wien soll die Photovoltaik von derzeit 250 Megawatt Peak bis 2030 auf ein Gesamtleistungsvolumen von 800 Megawatt ausgebaut werden. Das werde nicht ohne dezentrale Großanlagen und ohne Aufrüstung bestehender Altgebäude gehen, meint der Wiener Stadtbaudirektor Bernhard Jarolim und verweist auf die geplante 500 Quadratmeter große PV-Anlage auf der Staatsoper und auf die kürzlich installierte PV-Landschaft am Wiener Rathaus, die rund 13 Prozent des Rathaus-Strombedarfs abdeckt.

Graz ist in mehrere Schutzzonen unterteilt, die Schutzzone eins ist aufgrund des historischen Stadtkerns und der intakten Dachlandschaft nahezu sakrosankt. Wer hier eine PV-Anlage errichten will, erklärt der Stadtbaudirektor und Welterbe-Beauftragte Bertram Werle, der brauche ein positives Gutachten der Altstadtsachverständigenkommission (ASVK). Die baulichen und gestalterischen Möglichkeiten sind stark limitiert und beschränken sich vor allem auf Innenhöfe und nicht öffentlich einsehbare Bauteile.

Rasante Entwicklung

Noch strenger ist Salzburg, wo innerhalb der barocken Altstadt bis heute keine PV-Nachrüstungen genehmigt wurden. „Die Dachlandschaft der Innenstadt findet Erwähnung im Welterbe und ist von allen Hausbergen gut einsehbar“, sagt Eva Hody, Landeskonservatorin für Salzburg im österreichischen Bundesdenkmalamt. „Daher müssen wir hier besonders streng sein. Aktuell haben wir blendfreie Klebepaneele in Begutachtung. Ich denke, das könnte bald eine gut integrierbare Lösung werden.“

Für besonders sensible Bereiche bietet der Markt außerdem sogenannte Dünnschichtpaneele, die matt, blendfrei und in unterschiedlichen Farben erhältlich sind. Deren Nachteil ist die geringe solare Ernte, die weit unter dem Output eines klassischen, vollkristallinen Hochleistungsmoduls liegt.

In den letzten Jahren hat der PV-Ausbau in Österreich exponentiell zugelegt. Allein 2023 wurden 2600 Megawatt Photovoltaik neu installiert – so viel wie in Summe in den fünf Jahren zuvor. Laut E-Control und Klimaschutzministerium verfügt Österreich heute über etwa 8700 Megawatt netzgekoppelter Photovoltaik. Hinzu kommt eine nicht erfassbare Dunkelziffer von nicht einspeisenden Insellösungen.

„Es wird immer mehr, und das ist gut so“, sagt Markus Bischofer, Bürgermeister des Tiroler Vorzeigedorfs Alpbach. „Aber wir sind eine schöne, touristisch attraktive Gemeinde, und deswegen brauchen wir auch restriktive Vorschriften.“ Vor zwei Jahren wurden neue Bebauungsbestimmungen erlassen: Erlaubt sind ausschließlich matte Paneele in dachparalleler Schräglage. Alles andere ist strengstens untersagt. Wer ein Veto kriegt und sich dadurch ökologisch benachteiligt fühlt, kann in eine Gemeinschaftsanlage investieren, die Albach zu genau diesem Zweck ein paar Kilometer außerhalb errichtet hat. Ein gangbarer Weg zum internationalen Tag der sauberen Energie.

Der Standard, Sa., 2025.01.25

18. Januar 2025Wojciech Czaja
Der Standard

„Holzbau ist keine Religion“

In der Architektur wird das Bauen mit Holz zunehmend ideologisiert: Holzbau super, alles andere pfui. Warum eigentlich? Ein holziges Nachdenkgespräch mit dem Vorarlberger Tischlermeister Markus Faißt.

In der Architektur wird das Bauen mit Holz zunehmend ideologisiert: Holzbau super, alles andere pfui. Warum eigentlich? Ein holziges Nachdenkgespräch mit dem Vorarlberger Tischlermeister Markus Faißt.

In der Nachhaltigkeitsdebatte der letzten Jahre hat kein Thema so viele Emotionen hervorgebracht wie die Frage nach dem Baustoff. Zwischen Massivbau-Lobby und Holz-Aficionados ist eine Art Glaubenskrieg entstanden. Fragt sich nur: Warum fällt uns das Differenzieren so schwer? Und ist diese Entweder-oder-Diskussion überhaupt zielführend? Wir haben uns auf den Weg in den Bregenzerwald begeben, auf nach Hittisau, wo seit über drei Jahrzehnten Markus Faißt mit genau diesem emotionalisierenden Baustoff arbeitet. Ein Gespräch über Holz.

STANDARD: Ihre Adresse könnte kaum schöner klingen: Nussbaum 361. Ein Omen?

Faißt: Die schönste Adresse der Welt! Über dieses kleine Glück habe ich mich stets gefreut. Tatsächlich gab es hier in der Gegend früher mal viele Nussbäume.

STANDARD: Haben Sie ein Lieblingsholz?

Faißt: Mein Lieblingsholz ist ohne jeden Zweifel die Ulme, die hier zwar heimisch ist, aber aufgrund des Ulmensterbens leider immer seltener anzutreffen ist.

STANDARD: Warum gerade die Ulme?

Faißt: Kein anderes Holz ist so charakterstark wie die Ulme – mit vielen Farben, von einem zarten Beige über ein nussiges Rehbraun bis hin zu einem kernigen Graubraun, sehr warmen Nuancen, einer vielschichtigen, dynamischen, unregelmäßigen Ringzeichnung, mit vielen schönen Einschlüssen, noch dazu hart, robust, resilient.

STANDARD: Sie arbeiten mit Holz aus der Region?

Faißt: Ich verwende ausschließlich Holz aus dem Bregenzerwald. Im Winter geschlagen, abhängig von den Mondphasen, nach dem Schneiden jahrelang getrocknet und dann erst im Werk weiterverarbeitet. Für hochwertiges Holz benötigt man ein Jahr Trocknungszeit pro Zentimeter Brettstärke. Holzverarbeitung ist ein sehr langsames, langwieriges Geschäft – wie guter Parmesan, wie guter Prosciutto.

STANDARD: Warum soll das Holz im Winter geschlagen werden?

Faißt: Eine Baumfällung ist ein sehr aggressiver Akt. Im Winter sind das Holz und auch der ganze Wald in einer Art Winterschlaf: Die Vegetationskurve ist auf null runtergefahren, die oberste Schicht des Waldbodens ist trocken und im Idealfall gefroren, die Säfte im Stamm haben sich zurückgezogen, die Kapillargefäße sind verschlossen, die Rinde ist hart und robust. Auf diese Weise fügt man dem Wald als Biotop und dem Holz als geerntetes Produkt den geringsten Schaden zu.

STANDARD: Sie schlagen nach Mondphasen?

Faißt: Der Mond ist für mich in einer ziemlichen langen Kette verschiedener Faktoren ein Anteil, den ich mir angeeignet habe zu beachten. Das ist kein esoterischer Hokuspokus, sondern belegbare Erfahrungswissenschaft.

STANDARD: Von den Medien werden Sie oft als Holzpapst bezeichnet. Gefällt Ihnen die Zuschreibung?

Faißt: Ich weiß zu schätzen, dass die Worterfindung wahrscheinlich als Kompliment gedacht war, aber mir geht sie mittlerweile auf die Nerven. Fakt ist: Ich denke, handle und arbeite im Sinne einer ökologischen Nachhaltigkeit und regionalen Wertschöpfungskette – und das mitunter konsequent und kompromisslos, in einer krassen Diametralität jedenfalls zur industriellen Holzverarbeitung. Wenn diese Wertehaltung als päpstlich wahrgenommen wird, soll’s mir recht sein.

STANDARD: Diese Ideologie, die Ihnen immer wieder zugeschrieben wird, findet sich nun auch in der Architektur: Zwischen den puristischen Holzarchitekten und jenen, die in Hybridbauweise bauen und den Holzbau mit Stahl, Beton oder Ziegel kombinieren, ist ein Glaubenskrieg entstanden. Woher kommt dieser fast schon religiöse Fanatismus?

Faißt: Ja, das deckt sich auch mit meiner Beobachtung. Ich freue mich zwar immer, wenn ich von neuen Superlativen im Holzbau höre: das höchste Holzhochhaus! Das erste Holzhaus ganz ohne Beton! Oder die schnellste Baustelle dank Vorfertigung und Modulbauweise! Aber Superlative sind nichts für die breite Masse.

STANDARD: Sondern?

Faißt: Das sind tolle Projekte zum Ausprobieren, zum Experimentieren, zum Ausreizen der technischen, logistischen und ökologischen Grenzen – gerne mit Fehlern, Lernkurven und Entwicklungspotenzialen! Wir brauchen solche Denklabore! Wichtig, wichtig, wichtig! Aber wie jede Entwicklung, die in den Kinderschuhen, später im jugendlichen Sturm und Drang und schließlich in einer euphorischen, immer noch leicht naiven Adoleszenz steckt, müssen diese Experimente früher oder später wieder auf den Boden gebracht werden.

STANDARD: Worin äußert sich diese naive Adoleszenz?

Faißt: In der Polemik, die so polemisch ist wie die aktuelle Politik: Holz gut, Beton böse. Und nicht zuletzt im absoluten Irrglauben, dass man alles in Holz bauen muss.

STANDARD: Geht sich das überhaupt aus?

Faißt: Nein! Pro Jahr werden in Österreich rund 26 Millionen Festmeter Holz geerntet. Und das bei einem jährlichen Zuwachs von 29 Millionen Festmetern. Damit haben wir also noch elf Prozent Spielraum. Dann ist Schluss.

STANDARD: Laut Pro Holz Austria wird bereits ein Viertel der Baukubatur in Holz errichtet. Damit hat sich der Anteil innerhalb von 20 Jahren mehr als verdoppelt.

Faißt: Das freut mich zu hören. Nun sollten wir noch evaluieren, wo der Einsatz sinnvoll ist – und wo bloß dumm und dogmatisch.

STANDARD: Wo ist Holz sinnvoll?

Faißt: Erstens: überall dort, wo es verfügbar ist, bitte lokal und regional denken! Und zweitens: überall dort, wo das Holz möglichst lange im Primäreinsatz und danach hoffentlich nochmal so lange im Sekundäreinsatz ist – also in der Wiederverwendung, im Upcycling oder im Downcycling.

STANDARD: Was bedeutet „lange“ im Holzjargon?

Faißt: Wissen Sie, wie lange ein Baum wachsen musste, bis er gefällt werden kann? 80, 90, 100 Jahre! Mindestens so lange muss das Holz im Einsatz sein, um eine positive Bilanz zu erzielen. Überall dort, wo das Holz so exponiert, so ungeschützt und so unintelligent eingesetzt ist, dass man es nach 20 oder 30 Jahren schon wieder rausreißen muss, ist dies eine verantwortungslose Zerstörung dieser kostbaren Ressource. Darf ich mir was wünschen?

STANDARD: Bitte!

Faißt: Wir müssen endlich wegkommen von diesem ideologischen Wunschdenken. Holzbau ist keine Religion und keine Glaubensfrage. Wir brauchen dringend eine ökonomische Betrachtung, eine langfristige Bilanzierung, eine exakte, ehrliche Evaluation. Das ist der einzig gangbare Weg in die Zukunft.

STANDARD: Welche Trends sehen Sie auf uns zukommen?

Faißt: Auf konstruktiver Ebene wurde in den letzten Jahren schon viel experimentiert. Mit Erfolg. Die Belastbarkeit und Einsatzfähigkeit von Holz hat sich bei gleichzeitiger Reduktion von Gewicht, Volumen und Materialeinsatz seitdem deutlich reduziert. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zukunft noch einige chemische Erfindungen und Optimierungen erleben werden. In Anbetracht eines intelligenten Ressourceneinsatzes kann ich das – selbst als traditioneller Tischlermeister – nur begrüßen.

STANDARD: Ich habe Sie zu Beginn nach Ihrem Lieblingsholz befragt. Gibt es denn auch ein Holz, das Sie ganz und gar nicht mögen?

Faißt: Lange Zeit hat Buche die Liste meine Antipathie angeführt. Ich habe immer gesagt: Buchenholz, das ist die Thujenhecke der Tischler.

STANDARD: Und jetzt?

Faißt: Buche ist bei Tischlern und Architektinnen seit Jahren schon so dermaßen uncool und unbeliebt, dass wir heute auf tausenden Tonnen unverkaufter Buche sitzen – und das, obwohl das Holz fest, robust, günstig und mit der entsprechenden Behandlung auch ästhetisch ist. Daher will ich an dieser Stelle eine Lanze für die Buche brechen. Ich will, dass wir die Buche wieder lieben lernen.

Markus Faißt (62) lebt und arbeitet in Hittisau im Bregenzerwald. Er machte eine Meisterausbildung zum Tischler und übernahm 1993 die Holzwerkstatt seines Vaters. Er verarbeitet ausschließlich unbehandeltes Vollholz aus den regionalen Wäldern. 2024 wurde er als Unternehmer des Jahres ausgezeichnet.

Der Standard, Sa., 2025.01.18

03. Januar 2025Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

In zehn Schritten in die Zukunft

Wien arbeitet am Stadtentwicklungsplan STEP 2035. In die Öffentlichkeit dringt davon nur wenig. Daher haben wir bei Expertinnen und Experten nachgefragt, was sie sich davon erhoffen und was sie sich wünschen.

Wien arbeitet am Stadtentwicklungsplan STEP 2035. In die Öffentlichkeit dringt davon nur wenig. Daher haben wir bei Expertinnen und Experten nachgefragt, was sie sich davon erhoffen und was sie sich wünschen.

Stadtplanung

Ich wünsche mir vom Step 2035 eine Vision zur Transformation der Stadt, die den Bestand als Zukunftsressource betrachtet – mit grünen, attraktiven, gemischt genutzten Industrie- und Gewebearealen. Und mit Förderung lokaler Produktion, denn auch in der Innenstadt gibt es viele kleinere Betriebe, und die brauchen wir genau dort. Ich wünsche mir einen Gesamtplan für grün-blaue Infrastruktur, so wie in Hamburg und Rotterdam. Und ich wünsche mir eine Gesamtstrategie für Stadt und Region, denn das System Wien endet nicht an der Stadtgrenze.

Ute Schneider ist Professorin für Stadtplanung, TU Wien

Grünraum

In einem Dokument wie dem Stadtentwicklungsplan braucht es eine klare Strategie inklusive verbindlicher (und zu befolgender) Instrumente, die das urbane Grün mit anderen Freiraumfunktionen abstimmt und die eine gerechte Verteilung von Lebensqualität garantiert. Anzahl und Größe sind ausschlaggebend: Je größer und kompakter die Grünräume, desto wirksamer sind sie gegen Klimastress und Hitzeinseln. Und: Dort, wo vulnerable Bewohnerinnen und Bewohner darauf angewiesen sind, sind Neubau und Erhaltung von Grünräumen dringend voranzutreiben.

Lilli Lička ist Architektin, LL-L Landschaftsarchitektur

Stadtklima

Wien wird bald ein Mittelmeerklima haben, Extremereignisse werden sich häufen, und die Kapazitäten des Hochwasserschutzes bei Starkregen werden wahrscheinlich bald nicht mehr ausreichen. Je länger wir also zögern, desto radikaler werden die Maßnahmen sein müssen. Was ist zu tun? Schwammstadtbäume, Begrünung von Dächern, Berücksichtigung von Kaltluftströmen, Klimatisierung von Spitälern und Pflegeheimen etc. Wir müssen die Prozesse konkret definieren und befolgen – und nicht nur hie und da ein bisschen begrünen. Es geht nicht darum, was machbar ist, sondern darum, was nötig ist.

Matthias Ratheiser und Simon Tschannett sind Meteorologen und Geschäftsführer, Weatherpark Wien

Verkehr

Wien ist Vorzeigestadt in Sachen Öffis, Radfahren und Zu-Fuß-Gehen. Dennoch verursacht der Kfz-Verkehr einen großen Anteil am CO₂-Ausstoß – und benötigt dafür zwei Drittel des gesamten Straßenraums. Will die Stadt ihre Ziele bis 2040 erreichen, muss Parken teurer werden, müssen Radwege konsequent vermehrt, müssen gute Lösungen für den Mischverkehr gefunden werden – so wie aktuell am Beispiel Argentinierstraße. Was Wien leider noch nicht gut kann: improvisieren, ausprobieren, experimentieren. Die Klimakrise verlangt schnelle Maßnahmen, die rasch wirken. Hier kann Wien noch mutiger werden.

Andrea Weninger ist Geschäftsführerin, Rosinak & Partner

Architektur

Was in Wien fehlt, ist die Weiterentwicklung der dreidimensionalen Gestalt der Stadt. Ein riesiges Spektrum an Möglichkeiten bleibt unausgeschöpft. Ich wünsche mir die Radikalität des Roten Wien zurück. Alternative Modelle für Dichte. Mehr Öffentlichkeit und Zugänglichkeit. Eine Transformation der Bestandsstadt und ihrer Straßen. Und die Produktion in die Stadt zurückholen. Wir brauchen erlebbare Beispiele der vielen Möglichkeiten in allen Maßstäben. Und bitte keine Panik vor Höhe im Zentrum! Mit den Worten Ursula von der Leyens: Wir müssen dem Systemwandel ein Gesicht verleihen!

Anna Popelka ist Architektin, PPAG Architects

Wohnbau

Damit Wien nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis eine klimafitte Stadt der Zukunft werden kann, brauchen wir sofort Maßnahmen in Flächenwidmung und Bauordnung. Aber nein, stattdessen werden Gebäude und Baukultur nach wie vor unter einen Glassturz gestellt. Ohne innovativen Wohnbau, ohne innerstädtische Nachverdichtung, ohne echte Begrünungskonzepte und ohne Balkone und Schattenplätze werden wir immer mehr grüne Wiese verbauen müssen. Es läuft total verkehrt. Wir müssen um jeden Preis unsere Umwelt und unsere Böden schützen – und nicht nur mittelmäßige Altbauten in der hintersten Vorstadt.

Hans Jörg Ulreich ist Geschäftsführer, Ulreich Bauträger

Energie

Das Prinzip „Energieeffizienz first“ ist simpel: erstens Bedarf vermeiden, reduzieren und optimieren – und zweitens den Rest aus erneuerbaren Energiequellen decken. Dieses Prinzip führt zu nachhaltigen, CO₂-freien Lösungen bei Neubauten und Sanierungen und ermöglicht langfristige Planbarkeit. Was so einfach klingt und im Wiener Neubau längst zum Standard gehört, ist im Altbau leider hochkomplex. Für die klimaneutrale Stadt braucht es daher ganzheitliche Lösungen. Eine vorausschauende, in die Stadtentwicklung integrierte Energieraumplanung ist dazu ein wesentlicher Baustein.

Inge Schrattenecker ist stv. Generalsekretärin, ÖGUT Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik

Kreislaufwirtschaft

Gute Stadtplanung ist sich ihrer Materialisierung bewusst. Sie entwickelt Strategien für die Ver- und Entsorgung in Bau, Betrieb und Bestand – von den Stoffströmen bis hin zum Regenwassermanagement. Als Teil der Stadtproduktion ist das Bauen ein wesentlicher Emittent, daher muss für die Entwicklung einer klimawirksamen Kreislaufwirtschaft die CO₂-Bilanz völlig neu betrachtet werden. Eine klimapositive Stadtplanung verbindet die Reduktion von Verkehr und Emissionen mit Strategien der CO₂-Speicherung – und zielt langfristig auf die Stadt als CO₂-Senke ab.

Thomas Romm ist Architekt, forschen planen bauen, und Initiator, Baukarussell

Soziales

Für das Gefüge in der Stadt ist soziale Kohäsion essenziell. Dazu braucht es institutionelle Möglichkeitsräume, die als multifunktionale Hubs fungieren – als Lernorte und Treffpunkte, mit Kulturangeboten und für Austausch und zur Förderung von Talenten. Solche Orte können soziale Ungleichheiten abfedern und schaffen Ausgleich für jene, die auf beengtem Raum wohnen und wenig Chancen und Möglichkeiten haben. Zudem bieten sie im Hochsommer Kühlung für all jene, die unter den Risiken der Stadthitze leiden. Ein weiteres wichtiges Thema ist die klimaresiliente Umgestaltung des öffentlichen Raums als Wohnzimmer für alle.

Cornelia Dlabaja Stiftungsprofessur für nachhaltige Stadt- und Tourismusentwicklung, FH Wien, Sektionssprecherin Soziale Ungleichheit, ÖGS

Migration

Migration ist in Wien längst gelebte Realität. Über 50 Prozent der Jugendlichen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Das ist die Mehrheitsgesellschaft von morgen. Gleichzeitig sind 34 Prozent der Menschen nicht wahlberechtigt – ein tiefgreifendes Demokratiedefizit, das noch zunehmen wird. Umso dringlicher ist es, eine solidarische, zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten, in der echte Teilhabe für alle möglich ist, und die Stadt so zu planen, dass sie Räume eröffnet, die ein gemeinsames Sprechen, Diskutieren und Streiten fördert.

Ivana Pilić ist Kuratorin und Kulturwissenschafterin, D-ARTS

Der Standard, Fr., 2025.01.03

21. Dezember 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn das Erdgeschoß parterre ist

Viele Geschäftslokale stehen leer. Mit dem Wegbrechen der Handelsstrukturen krankt auch das öffentliche Leben in der Stadt. Ein Weihnachtswunsch am letzten großen Einkaufssamstag.

Viele Geschäftslokale stehen leer. Mit dem Wegbrechen der Handelsstrukturen krankt auch das öffentliche Leben in der Stadt. Ein Weihnachtswunsch am letzten großen Einkaufssamstag.

Wir schließen!“ „Alles muss raus!“ „Attraktives Geschäftslokal zu vermieten!“ Auch wenn an den letzten Einkaufssamstagen vor Weihnachten die Menschen wie ausgehungerte Heuschrecken über die Innenstadt herfallen und ob ihrer mächtigen Zahl temporäre Verkehrssperrungen erzwingen, ändert das nichts an den aktuellen Entwicklungen innerhalb der Einzelhandelslandschaft: Selbst in zentral gelegenen Wiener Einkaufsstraßen wie Favoritenstraße, Landstraßer Hauptstraße und – angeblich „too big to fail“, wie die Immobilienwirtschaft immer wieder betont – Mariahilfer Straße hat der Leerstand massiv zugenommen.

„Viele Geschäftslokale stehen leer, die Schriftzüge sind demontiert, die Auslagen großflächig verklebt“, sagt Angelika Psenner, Professorin für Stadtstrukturforschung an der TU Wien, „und das macht was mit uns allen. Mit der Erblindung der Schaufenster, mit dem Verschwinden der Kommunikation zwischen innen und außen und mit dem Wegbrechen der sozialen Interaktion geht eine wesentliche Qualität des öffentlichen Raums und des Stadtparterres verloren.“

Dramatische Situation

Experten gehen davon aus, dass eine gesunde Leerstandsquote im Erdgeschoß, die eine gewisse Dynamik in den Gewerbestrukturen zulässt, um die drei Prozent beträgt. Alles unter fünf Prozent liege immer noch im grünen Bereich. In manchen großen, wohletablierten Einkaufsstraßen in den Wiener Innenbezirken jedoch beträgt der Leerstand aktuell 5,8 bis 6,2 Prozent, wie Roman Schwarzenecker, Prokurist im Beratungsunternehmen Standort + Markt, erklärt. Und da sind Ladenumbauten und Geisterbaustellen wie etwa das 20.000 Quadratmeter große Lamarr der insolventen Signa Holding noch gar nicht miteinberechnet.

Noch dramatischer ist die Situation im ländlichen Raum, in den kleinen Gemeinden und Bezirkshauptstädten, die Leerstände jenseits der 15 Prozent aufweisen und die den Kampf gegen Fachmarktzentrum, Shoppingcenter und Onlinehandel längst verloren haben. Viele bereits konvertierte Geschäftsflächen wie etwa die ehemalige C&A-Filiale in Wiener Neustadt, die – durchaus klug und nachahmenswert – 2017 in ein Ärzte- und Rehabilitationszentrum umfunktioniert wurde, scheinen in der Statistik der verlustig gewordenen Gewerbeflächen gar nicht mehr auf.

Ursachen und Wirkungen

Fragt sich nur: Was tun mit all den leeren Lokalen? Mit dieser großen Frage hat sich kürzlich eine Veranstaltungsreihe an der alten WU beschäftigt, die unter anderem von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA), der IG Architektur, der IG Kultur Wien und der Allianz für Substanz organisiert wurde. Diskutiert und debattiert wurde über Ursachen und Wirkungen, über Fehlentwicklungen und rechtliche Versäumnisse, aber auch über Luftschlösser und Best-Practice-Beispiele.

„Wir können, sobald das klassische Erdgeschoß ausstirbt, nicht überall Garageneinfahrten, Self-Storage-Räume und Automatenshops einbauen“, sagt Philipp Buxbaum, Smartvoll Architekten. „Und auch der Bedarf an Pop-up-Stores und Coworking-Spaces ist enden wollend. Ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft mit neuen, innovativen EG-Nutzungen zu tun haben werden, die wir uns heute noch nicht einmal ausmalen können.“ Umso wichtiger sei es, so Buxbaum, so offene, flexible Strukturen zu schaffen, dass sie später mit allen möglichen Funktionen bespielt werden können.

Beispielsweise mit Ateliers, Galerien, Wohnungen, Vintageläden, Repaircafés, Suppenküchen, Konfektmanufakturen, Knopfgeschäften, Metallwarenhandlungen, öffentlichen Service-Einrichtungen oder etwa Ausweichquartieren für Schulen, Kindergärten und Volkshochschulen. Oder mit Ärzten, Zahnärzten und orthopädischen Studios, die vor 20 Jahren schon das Erdgeschoß erobert haben und die auch heute noch nach barrierefreien Geschäftslokalen in guten B-Lagen Ausschau halten. Oder aber auch mit Mikrogewerbebetrieben, die auf nur wenigen Quadratmetern intelligente Mikrokonzepte realisieren.

„Und genau das ist die Krux an der Sache“, sagt Uli Fries, Geschäftsführer von Kreative Räume Wien. „Denn die Umnutzung von Erdgeschoßlokalen in Bestandsgebäuden ist leider stark überreglementiert. Die bau- und gewerberechtlichen Anforderungen sind so dermaßen hoch, dass sich junge Gewerbetreibende einen solchen Ausbau kaum leisten können. Damit werden viele Player vom Markt aktiv ausgeschlossen. Und das ist schade – nicht nur für die individuelle Biografie, sondern auch für das Kollektiv Stadt.“

Kreative Räume Wien fungiert als Schnittstelle zwischen Hauseigentümern, Vermieterinnen und Raumsuchenden. Rund 400 bis 500 Anfragen pro Jahr werden jährlich verzeichnet, immer öfter auch Raumanfragen von Schulen, Sozialträgern und Kultur- und Bildungseinrichtungen, doch nur ein Teil davon kann erfolgreich vernetzt werden. „Leider haben viele Eigentümer unrealistische Erwartungen, was die Mieteinnahmen betrifft. Mit dem zunehmenden Wegbrechen des Handels werden sie die Mieten nach unten korrigieren müssen – und einsehen, dass das EG nicht mehr die Cashcow ist, um den Wert der Immobilie zu steigern, so wie früher, sondern ein gutes Werkzeug, um die Lebensqualität eines ganzen Quartiers anzuheben.“

Kultur der Ermöglichung

Was es stattdessen brauche, so Stadtstrukturforscherin Psenner, sei eine Kultur der Ermöglichung, „denn wir leben in einer Großstadt, ohne mit allzu vielen Nachteilen einer solchen Metropole konfrontiert zu sein. Kaum ist es im Parterre um ein Dezibel zu laut, kaum gibt es irgendwo mal Speisegerüche, fühlen wir uns in unserem Sein und Wohnen gestört und greifen sofort zum Telefon. Wenn wir eine lebendige Stadt wollen, werden wir unsere Ansprüche und unser Mindset dringend überdenken müssen.“

In der Seestadt Aspern gibt es ein quartiersübergreifendes Erdgeschoßmanagement, das die Bauträger entlastet und die Programmierung und Vermietung in professionelle Hände auslagert. In einigen Städten wie etwa Götzis, Hohenems oder Klagenfurt sind bereits Kümmerer und Kuratorinnen im Einsatz, die sich um den richtigen Gewerbemix kümmern. Und im Quartier Latin in Paris und in der Amsterdamer Innenstadt springt sogar die Stadt in die Bresche und übernimmt die Anmietung von Lokalen, um wieder kleinteiliges Gewerbe ins Zentrum zurückzuholen.

Der freie Markt wird’s schon richten? Nein, das ist ein Wunschdenken. Jetzt liegt der Ball bei der Gesetzgebung und Stadtverwaltung. Und bei denen, die ihre Erdgeschoße strategisch leer stehen lassen und die Stadt damit dem Verfall preisgeben.

Der Standard, Sa., 2024.12.21

07. Dezember 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Chefarbeit im Dienst der alten Dame

Heute, Samstag, wird Notre-Dame nach fünf Jahren Bauzeit pompös wiedereröffnet. Chefarchitekt Philippe Villeneuve führt durch die Kathedrale und spricht über Angst, Verantwortung und missverstandene Geniestreiche.

Heute, Samstag, wird Notre-Dame nach fünf Jahren Bauzeit pompös wiedereröffnet. Chefarchitekt Philippe Villeneuve führt durch die Kathedrale und spricht über Angst, Verantwortung und missverstandene Geniestreiche.

Link zur Archiv Suche

23. November 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Helden der Fassade

Wer sind all die Damen und Herren, die seit der Antike schon Erker, Gesimse und ganze Hausfassaden nach oben stemmen? Ein Spaziergang zu den Atlanten und Karyatiden, die vor allem in Wien der Stadt Körper und Gesicht verleihen. Soeben ist dazu ein vielseitiger Atlas erschienen.

Wer sind all die Damen und Herren, die seit der Antike schon Erker, Gesimse und ganze Hausfassaden nach oben stemmen? Ein Spaziergang zu den Atlanten und Karyatiden, die vor allem in Wien der Stadt Körper und Gesicht verleihen. Soeben ist dazu ein vielseitiger Atlas erschienen.

Die Muskeln deutlich gezeichnet, angespannt und sehnig. Die Haut glatt und straff, kein Gramm Fett zu viel, über den Lenden ein luftig leichter Faltenwurf. Er mit aller Kraft die Tonnen von Stein und Ziegeln nach oben stemmend, sie indes mit Eleganz den Balkon stützend, ohne auch nur einen Millimeter aus der Körperachse auszuscheren. Wer sich im historischen Wien auf aufmerksame Suche begibt, der kommt nicht umhin, sie bald einmal zu Hunderten zu entdecken, eingeklemmt zwischen Sockeln und Gesimsen – die Atlanten und Karyatiden.

„Atlas, Telamon, Last-Träger ist eine Statue, so in der Architectur statt eine Säule das Gebälcke oder andere schwere Lasten, als gantze Decken, Welt-Kugeln u. d. g. tragen muß“, schrieb der deutsche Baumeister, Mathematiker und Architekturtheoretiker Johann Friedrich Penther anno 1744. „Man hat dieses von der Heydnischen Dichtung, welche dem Atlanti den Himmel auf die Schultern legt, angenommen. Artige Beyspiele von Atlantibus finden sich in dem Eugenischen Palast vor Wien, da selbst statt der Pfeiler ansehnliche Creutz-Gewölbe tragen müssen.“

Letztere freilich, vier an der Zahl, zieren die Sala terrena im Oberen Belvedere, in Auftrag gegeben von Prinz Eugen von Savoyen, errichtet in den Jahren 1714 bis 1723 nach Plänen von Johann Lucas von Hildebrandt. Ursprünglich war die Sala terrena noch ein stützenfreier Raum, doch schon bald kam es zu unerwarteten Setzungen, und so musste der Wiener Bildhauer und Stuckateur Santino Bussi nachträglich vier stützende Atlanten aus dem Stein hauen.
Stumme Giganten

„Mich fasziniert die schöne, sinnliche Muskelzeichnung dieser Figuren, aber auch die erotische, aber niemals sexistische Körperhaltung der Karyatiden, wie sie etwa an den Seitenportalen des Parlaments zu finden sind“, sagt der seit 1988 beim ΔTANDARD tätige Gregor Auenhammer, der Philosophie und Geschichte studierte und sich mit ebensolchem Blick schon seit Jahren durch Wien bewegt. „Im Barock, beim Ringstraßenbau und bis in die Gründerzeit hinein sind diese stummen Giganten, die eine tragende Rolle in Wien spielen, Teil des öffentlichen Stadtbilds. Sie verleihen der Stadt Körper und Gesicht.“

Um diese dienende Arbeit zu würdigen, begab sich Auenhammer zwei Jahre lang auf systematische Suche durch Wien, stöberte nach Hinweisen in Bibliotheken und Denkmalverzeichnissen, wanderte sich auf hunderten Straßen die Füße wund und presste seinen fotografischen Fund schließlich zwischen zwei Buchdeckel. Soeben ist der bildgewaltige (und manchmal auch etwas verbalbarocke) Atlas Wiener Atlanten, Hermen & Karyatiden im Verlag Bibliothek der Provinz erschienen.

„Menschendarstellungen mit stützender Funktion gibt es schon seit der griechischen und ägyptischen Antike“, sagt Wolfgang Salcher, Wiener Landeskonservator im Bundesdenkmalamt. „Doch in der Hochblüte Wiens zwischen 1850 und 1900 – im Historismus, in der Rückbesinnung auf die Renaissance und in der Gründerzeit – wurden sie so vielfach produziert, dass sie im Wiener Stadtbild bis heute so präsent sind wie kaum irgendwo sonst.“

Was einst als Darstellung des Atlas begann, jenes Titanen also, der dazu verurteilt war, den Himmel auf seinen Schultern zu tragen, wurde in der Gründerzeit, so Salcher, zu oft massenproduzierten Avengers, Supermännern und anderen hochpotenten Helden in der Fassadenkomposition. Manchmal wurden die Figuren noch von Hand geformt und gemeißelt, in den meisten Fällen jedoch handelte es sich um vorfabrizierte Romanzement-Figuren und halbfertige Gussteile aus Gips, die man aus dem Katalog bestellen konnte.

„Das späte 20. Jahrhundert ist nahezu ausgestorben, was die Präsenz von menschlichen und mythologischen Gestalten in der Architektur betrifft“, so Salcher. Erst mit der Postmoderne findet die Figur zaghaft wieder Einzug ins Stadtbild. So auch am Karlsplatz an der Bibliothek der TU Wien, geplant von Justus Dahinden, in Form einer 18 Meter hohen Betoneule. Der animalische Atlant des Schweizer Bildhauers Bruno Weber spaltet bis heute die Gemüter. Für Salcher hingegen ist die TU-Bibliothek ein Objekt, das schon bald unter Denkmalschutz stehen könnte.

„Das Verschwinden der schwer tragenden Tiere und der geknechteten, fast schon versklavten Männer und Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat nicht nur mit einem sich verändernden Architekturbegriff zu tun“, meint die Wiener Architektur- und Kunsthistorikerin Ingrid Holzschuh, „sondern ist auch Ausdruck eines kulturellen und gesellschaftspolitischen Wandels.“ In der fortschreitenden Demokratisierung der Gesellschaft und Emanzipation des einzelnen Individuums hätten Atlanten und Karyatiden keinen Platz mehr.

Und manchmal scheinbar doch. An der Ecke von Rohanské Nábřeží und Wittgensteinova im Prager Stadtteil Karlín steht eine siebengeschoßige, 24 Meter große Frauenskulptur, die mit ihren Armen das kürzlich errichtete Luxuswohnhaus Fragment umfasst und die tetrisartigen Würfel auf diese Weise scheinbar vor dem Auseinanderfallen bewahrt. „Architektur und Skulptur haben im Laufe der Baugeschichte immer schon eine symbiotische Rolle gespielt, und auch damals schon handelte es sich in den meisten Fällen um eine Art Corporate-Kunst“, sagt David Wittasek, Architekt im Prager Büro Qarta. „Der Auftrag der Bauherren an den Künstler David Černý knüpft an genau diese Tradition an.“

Shitstorm für „Lilith“

Dass die aus poliertem Edelstahl zusammengeschweißte, sexistisch überzeichnete Plastik ausgerechnet auf den Namen Lilith hört – Adams erste Frau im Garten Eden, mythologische Symbolfigur für Freiheit und Gleichberechtigung der Frau –, hat in Medien und Fachkreisen zu einem Shitstorm geführt. „Provokation ist das Recht jedes bildenden Künstlers“, sagt Helena Huber-Doudová, Architekturkuratorin in der Nationalgalerie Prag. „Doch diese Darstellung des weiblichen Körpers ist vorgestrig und erinnert in ihrer hormonellen Überzeichnung an Comicfiguren der 1950er-Jahre. Das hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun, das ist ein Affront gegen alle, die sich in der Gesellschaft nicht als Cis-Männer positionieren. Willkommen im Mittelalter!“

Lilith ist so gesehen eine Botin der gesellschaftlichen, globalpolitischen Umbrüche, mit denen wir aktuell konfrontiert sind. Die Versklavung der menschlichen Figur zur Lastträgerin autokratischer Weltengebäude ist nach hundertjähriger Absenz wieder nähergerückt. Gregor Auenhammers Atlas gibt Einblick und Erkenntnisse.

[ Buchpräsentation am 21. Jänner 2025 im Ahnensaal der Hofburg Wien, Einführung: Christoph Bazil, Präsident des Bundesdenkmalamts, 19 Uhr ]

Der Standard, Sa., 2024.11.23

16. November 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Willi wird’s schon richten

Eine Bauernhofruine aus dem 19. Jahrhundert. Was tun? Wilhelm Buchhammer kaufte den Tiroler Hof, verzauberte ihn in ein Schmuckstück – und bekam dafür den Österreichischen Bauherrenpreis 2024.

Eine Bauernhofruine aus dem 19. Jahrhundert. Was tun? Wilhelm Buchhammer kaufte den Tiroler Hof, verzauberte ihn in ein Schmuckstück – und bekam dafür den Österreichischen Bauherrenpreis 2024.

Der Willi, muss man wissen, ist nicht nur Installateur, was er früher mal erlernt hat, sondern auch Gastwirt unten im Inntal und Vermieter von Ferienwohnungen. Vor allem aber ist er Brotbäcker, Fischzüchter, Schnapsbrenner, Baggerfahrer, Baumeister, Schalungsbauer, Betonierer, Tischler, Fliesenleger, Trockensteinmaurer, Kalklöscher, Kalkverputzer und Dachstuhlzimmermann.

„Der Willi ist echt ein Wunderwuzziwilli“, sagt Architekt Harald Kröpfl, der ein kleines, aber hochbeglückendes Architekturbüro in Landeck betreibt und sich damit für die Ortskernrevitalisierung im Tiroler Oberland starkmacht. „Von so einem Bauherrn habe ich ein Leben lang geträumt. Und von so einem alten Bauernhof hoch oben am Berg wie hier im Kaunertal, von so einer historischen Herausforderung sowieso! Das war durch und durch ein Traumprojekt – von der ersten Skizze vor Ort bis zum ersten übernachtenden Gast.“

Besagter Willi, Wilhelm Buchhammer, wie er im Grundbuche steht, hat ein Herz für alte Bauernhöfe. Als er vor ein paar Jahren erfuhr, dass jener 1890 errichtete Milchbauernhof in Martinsbach, den er schon seit Kindheitstagen kannte, der Gemeinde ein Dorn im Auge war und eigentlich abgerissen werden sollte, fasste er sich ein ebensolches und kaufte die morsche Stein- und Blockhausruine mitsamt zehn Hektar Bergland. Die erste Idee war, die Revitalisierung zum Hobby zu machen, sich ein paar Jahre lang bastelnd durchs Haus zu wüten und es Stein für Stein, Balken für Balken zu ertüchtigen.
Schwieriger Alleingang

„Es sind schon so viele historische Bauernhöfe verschwunden“, sagt Willi, 51 Jahre alt, „nicht noch einer! Vielleicht bin ich ja a bissl sentimental, aber ich wollte meinen Beitrag leisten, um die Geschichte zu bewahren und diese prächtige, ortstypische Tiroler Architektur den nächsten Generationen zu übergeben.“ Und irgendwann, meint er, habe er gemerkt, dass das im Alleingang nicht gehen würde, dass das alles doch nicht so einfach war, wie er sich das vorgestellt habe. Ein Plan musste her. Und am besten ein Architekt noch dazu. Über Empfehlungen kam er schließlich zum Kröpfl Harry.

„Der wusste, was ich will, der hat mich von Anfang an verstanden“, erzählt er. Und so startete eine jahrelange Partnerschaft mit ziemlich wenigen am Computer gezeichneten Plänen und ziemlich vielen Vor-Ort-Gesprächen und Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Da ein morscher Balken, der ersetzt werden musste, dort eine eingestürzte Zwischendecke, die nun zu rekonstruieren war, und zwischendurch musste das Haus hangseitig, auf der Neaderseite, wie man im Oberland sagt, mittels Winden per Handkurbel um 20 Zentimeter angehoben werden, damit es wieder im Lot steht, „aber bloß keinen Zentimeter zu viel, sonst hätte es gerumpelt“.

Das Aufmauern mit Natursteinen, sagt Willi, habe er sich selbst beigebracht, das Betonieren und Stocken des Mauersockels ebenso, und auch das Schlämmen des talseitigen Mauerwerks mit selbst gelöschtem Kalk, unten im Faggenbach, eine ziemlich ätzende Angelegenheit, war selbstmännische Ehrensache. „Am Ende war die Fassade dann halt schon a bissl sehr weiß. Hat in den Augen so richtig geblendet. So konnte das nicht bleiben!“ Die darauffolgende Sanierungsaktion umfasste eine Schwarztee-Kur und mehrfaches Einpinseln mit ebenjenem aufgebrühten Blättersaft. „Einen Tag lang auf dem Gerüst stehen und die Außenwände mit Tee bemalen, und schon hat’s gepasst.“

Jahrelanger Wahnsinn

Für den jahrelangen Wahnsinn, für das unerbittliche Engagement auf Auftraggeberseite wurde Wilhelm Buchhammer gestern, Freitagabend, mit dem Österreichischen Bauherrenpreis 2024 ausgezeichnet. Der seit 1967 jährlich verliehene Preis holt ausnahmsweise mal nicht die Planer und Architektinnen vor den Vorhang, sondern jene Menschen, die das Risiko eingehen und das Geld in die Hand nehmen, um ebensolche Projekte, um ebensolche Visionen zu realisieren. Der von der Zentralvereinigung der Architekt:innen Österreichs (ZV) ausgelobte Preis ist der älteste und konsequenteste seiner Art weltweit.

„Das Verschwinden bäuerlicher Strukturen wird häufig beklagt, aber selten verhindert“, erklärt Gabriele Kaiser, Architekturhistorikerin und eine der Jurorinnen des Bauherrenpreises. „Hier hat ein privater Bauherr mit großer Passion für das Kulturerbe der Region die Initiative ergriffen und einem verwaisten, brachliegenden Hof neues Leben eingehaucht – mit liebevollen Details, mit Riemenböden, Holzbalkendecken, getäfelten Kammern und Möbeln und Öfen aus der damaligen Zeit, unprätentiös und ohne Hang ins Museale.“ Hinzu komme, so Kaiser, die Kontaktaufnahme mit dem Bundesdenkmalamt und dem Tiroler Landeskonservator und die proaktive Unterschutzstellung des Hauses.

Der Willi lacht. „Jetzt kann das Ding nie wieder zerstört oder abgerissen werden, und ich glaube, das ist gut so. Jetzt muss ich noch den Kredit abbezahlen und die Schulden loswerden.“ Man kann ihn dabei unterstützen. Die drei Ferienwohnungen sind ganzjährig buchbar. Eine Reise in eine Welt mit knarrenden Holzböden, schwarzen Bakelit-Schaltern und Wänden, die man streicheln will.

7 ausgezeichnete Häuser

Neben dem Buchhammerhof in Martinsbach wurden folgende sechs Projekte mit dem diesjährigen Bauherrenpreis gewürdigt: Einfamilienhaus mit Schilfdach in Weiden am See: Marina Rosa und Jacobus von Hoorne (Arch. Gilbert Berthold). Wohnprojekt Auenweide in St. Andrä Wördern: Verein Wohnprojekt Wördern, Markus Spitzer (einszueins architektur). KinderKunstLabor in St. Pölten: Stadt St. Pölten, Matthias Stadler, Wolfgang Lengauer, NÖ Kulturwirtschaft GmbH, Martin Maurer, Mona Jas (Schenker Salvi Weber Architekten). Drauforum in Oberdrauburg: Marktgemeinde Oberdrauburg, Stefan Brandstätter (Arch. Eva Rubin). Ágnes Heller Haus, Universität Innsbruck: BIG Bundesimmobiliengesellschaft, Leopold-Franzens-Universität (mohr niklas architekten). Neue Bürowelt Haberkorn in Wolfurt: Haberkorn GmbH, Wolfgang Baur, Andrea Sutterlüty (Nona Architektinnen).

Der Standard, Sa., 2024.11.16



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherr:innenpreis 2024

05. November 2024Wojciech Czaja
db

Gemeindebau H4 in Wien

Im Stadterweiterungsgebiet Seestadt Aspern hat WUP architektur mit geringen Mitteln einen Wiener Gemeindebau mit besonders günstiger Miete errichtet. Das Projekt mit kostengünstigen Baustoffen und repetitiven Elementen lagert die Frage von Wertschätzung und Ästhetik in den Bereich sozialer Kompetenz aus.

Im Stadterweiterungsgebiet Seestadt Aspern hat WUP architektur mit geringen Mitteln einen Wiener Gemeindebau mit besonders günstiger Miete errichtet. Das Projekt mit kostengünstigen Baustoffen und repetitiven Elementen lagert die Frage von Wertschätzung und Ästhetik in den Bereich sozialer Kompetenz aus.

Die einen denken an Großmutters 48-teiliges Lilienporzellan, eine pastellfarbene Erbschaft aus den 1950er Jahren, die anderen an frisch angemischtes Vanille-, Erdbeer- und Pistazieneis. Fragt man die planenden Architekt:innen, so bezeichnen sie die in Gelb, Grün, Grau, Hellblau und Ziegelrot gestrichene Fassade als Reminiszenz an historische, längst denkmalgeschützte Gemeindebauten, konkret als Zitat auf Karl-Marx-Hof (von Architekt Karl Ehn, eröffnet 1930), George-Washington-Hof (von den Architekten Karl Krist und Robert Oerley, fertiggestellt1930) und den prächtigen, weithin sichtbaren Reumannhof (von Architekt Hubert Gessner, fertiggestellt 1926) – an jene Zeiten also, als die Vermählung von wenig Geld und viel Schönheit noch kein Widerspruch war, sondern als hohe Tugend gemeinnützigen Wohnens angesehen wurde.

Der mit Gemeindemitteln errichtete Wohnbau in der Seestadt Aspern, direkt am neu angelegten, 30 000 m² großen Elinor-Ostrom-Park gelegen, ist das nunmehr siebte realisierte Projekt der Gemeindebau-Neu-Offensive, die die Stadt Wien vor wenigen Jahren aufgenommen hat. 2023 – also genau 100 Jahre nach Einführung der Wiener Wohnbausteuer – wollte die Wiener Gemeindewohnungs-Baugesellschaft (WIGEBA) in Zusammenarbeit mit WUP architektur ein Exempel statuieren und entwickelte ein sozial wie auch funktionstechnisch nachhaltiges Wohnmodell für Menschen mit kleinem Portemonnaie und großem Zimmerbedarf.

»Im Grunde genommen knüpft der Gemeindebau Neu nahtlos an die Werte des Roten Wien an«, sagt Andreas Gabriel, Partner bei WUP architektur. »Damals wie heute sind wir im günstigen Preissegment mit hoher Wohnungsnot konfrontiert, und damals wie heute ist eine der wichtigsten Aufgaben die Schaffung billigen, leistbaren, bezahlbaren Wohnraums für eine möglichst große Zahl an Menschen.« Die niedrigen, gedeckelten Baukosten ermöglichen am Ende eine Mietbelastung von nur 7,50 Euro /m² – ohne Eigenmittel, ohne Kaution, ohne Befristung.

Und schon auf den ersten fachkundigen Blick ist ersichtlich, dass WUP architektur gar nicht erst versucht hat, mit den geringen zur Verfügung stehenden Geldmitteln eine Skulptur oder irgendeine programmatische Architekturikone auf die Beine zu stellen. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Projekt, sobald man die Balkonplatten und das verspielte Farbkleid gedanklich entfernt hat, eine banale, komplett durchstandardisierte Betonkiste mit minimaler Außenfläche und maximaler Kubatur. Und mit tragenden Außenwänden und zwei tragenden, mittig angeordneten Innenwänden wie anno dazumal in der flexiblen, viel beschworenen Gründerzeit.

Kostengünstig und durchdacht

»Der Kostendruck im Gemeindebau ist enorm«, so Gabriel. »Also haben wir beschlossen, in der Bauweise und in den Materialoberflächen bewusst zu sparen. Wir haben klassische Baustoffe verwendet und haben die Palette an unterschiedlichen Bauprodukten so klein wie nur möglich gehalten.« Konkret bedeutet das: Stahlbeton, WDVS-Fassade mit Polystyrol und synthetischem Putz, einheitliche Kunststofffenster, einfache Laminatböden in den Wohnräumen sowie verzinktes, unlackiertes Stabgeländer an den Balkonen. Das geht so weit, dass selbst im Treppenhaus die Außenwandkonstruktion und das immergleiche Fensterformat ohne Variation durchgezogen wurde und man – auf dem Halbpodest stehend – in Augenhöhe direkt auf einen Betonkämpfer zuläuft. Das nennt man dann Konsequenz.

Doch wo an einer Stelle gespart wird, kann an anderer Stelle Hochwertiges entstehen. Im Falle des Gemeindebaus H4, ganz nüchtern und uncharmant nach der Grundstücksnummer im neu erschlossenen Quartier Am Seebogen bezeichnet, schlagen die Werte weniger im Materiellen als vielmehr im Funktionalen, im Alltäglichen, im allzu Menschlichen zu Buche: Das Balkonband ist rundumlaufend angelegt, jede Wohnung verfügt über eine 2,50 m tiefe Aufweitung, die man auch mit Tisch, Outdoor-Sofa oder Hollywood-Schaukel möblieren kann, zudem kann man aus jedem einzelnen Zimmer durch ein französisches Fenster, das die Belichtungsfläche bei gleichzeitiger baulicher Verschattung auf ein Maximum erhöht, an die frische Luft hinaustreten.

»Meistens fragt man sich, was man selbst für schön hält und wonach man sich im Wohnen sehnt«, meint Bernhard Weinberger, die andere Hälfte der WUP-Geschäftsführung. »Doch bei diesem Projekt haben wir uns als Architekten und Gestalter zurückgehalten. Wir haben uns die Frage gestellt: Was wünschen sich die Mieterinnen und Mieter? Und wie definieren sich Träume und Schönheit, wenn man nur ein geringes Wohnbudget zur Verfügung hat und auf eine gestützte Gemeindewohnung angewiesen ist?«

Die Antwort darauf findet man in sehr cleveren, durchdachten Grundrissen mit einer Sanitäreinheit in der Mitte und der Möglichkeit, selbst in den kleinsten Zweizimmerwohnungen im Kreis laufen zu können. Ein Drittel der insgesamt 74 Wohnungen ist sogar mit raumhohen, in die Wand integrierten Schiebewänden ausgestattet. »Wir denken weniger in Zimmern und mehr in Nutzungsbereichen«, meint Weinberger. »Je nach Bedarf können diese Bereiche unterschiedlich genutzt werden, sind mal zum Wohnen, mal zum Schlafen, mal zum Arbeiten da.«

Damit erklären sich auch die große Tiefe der Wohnungen und die schmalen, aber langen Schlafzimmer mit jeweils zwei Zugängen und zwei getrennten elektrischen Schaltkreisen: Falls gewünscht, können die Zimmer mit Vorhängen, Raumteilern oder raumhohen Schrankwänden abgetrennt werden und schaffen auf diese Weise Platz zum Arbeiten im Homeoffice oder für das Patchworkkind, das am Wochenende zu Besuch kommt. In den schematischen Grundrissen und Nutzungsszenarien, mit denen sich WUP architektur in einem zweistufigen Konkurrenzverfahren gegen die Mitstreiter:innen durchsetzen konnte, lässt sich die soziale Kenntnis der Planer:innen, die über das traditionelle Vater-Mutter-Kind-Modell weit hinausreicht, mit einiger Gender-Ironie ablesen – samt Bügelbrettern, Kraftkammern und Modelleisenbahnen.

Wir sind zu Besuch im dritten Stock. Als sich die Wohnungstür öffnet, erscheinen zwar keine Alleinerziehenden mit Kind und Kegel an der Hand, dafür aber Margarethe und Herbert Stoklassa mit einem glücklichen Grinsen im Gesicht, sie 74, er 86 Jahre alt. »Wir sind keine Patchwork-Familie, und auf konzentriertes, ungestörtes Arbeiten im Homeoffice sind wir in unserem Alter auch schon lange nicht mehr angewiesen«, sagen die beiden, »aber von diesem großartigen Grundriss profitieren auch wir! Unglaublich, wie die Architekten das gemeistert haben!«

Schon gehen die beiden im Kreis spazieren, öffnen und schließen die beiden Schiebetüren zwischen Küche, Wohnzimmer und Schlafbereich, der sogar über eine kleine Bibliothek und Computerecke verfügt. Dank des offenen Grundrisses und der drei großen französischen Fenster wirkt die 52 m² große Miniwohnung um gute 10 m² größer, als sie ist. »Die Schiebetüren sind ein Hit, oder? Meistens stehen die Türen eh offen, dann ist es, als würden wir in einem kleinen Loft wohnen. Nur wenn wir einen Disput haben, um es vornehm zu formulieren, was ohnedies selten passiert, machen wir die Schiebetüren zu und haben Ruhe voneinander.« Das ist, ganz im Alltag angekommen, sozialer Wohnbau at its very best.

Bernhard Weinberger hat Freude mit seinem Haus, deutet auf die farbigen Korridore, die die Lilienporzellan-Farben in abgesofteter Weise im Inneren wieder aufgreifen, auf die einfachen, aber effizienten Beschriftungen an den Glasscheiben, in mal lesbarer, mal spiegelverkehrter Schrift, auf den Fahrrad-Abstellraum mit direkter Hinausfahrmöglichkeit in den Hof. »Sind wir stolz auf Plastikfenster, EPS-Wärmedämmung und Pseudo-Parkettboden, der eigentlich nur aus bedrucktem, laminiertem Papier besteht? Nein! Aber wir sind stolz darauf, dass uns unter diesen widrigen finanziellen Umständen ein Wohnhaus mit dieser sozialen Qualität gelungen ist.«

Trotz Erdöl-Derivaten und massenindustrieller Stangenware, die in ihrer Produktion wohl alles andere als superfair und superbio ist, hat es der Gemeindebau H4 geschafft, für den Österreichischen Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit 2024 nominiert zu werden. Ein starkes Zeichen.

db, Di., 2024.11.05



verknüpfte Bauwerke
Gemeindebau Aspern H4



verknüpfte Zeitschriften
db 2024|11 Einfach wohnen!

25. Oktober 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Mit einer knallweißen Permanenz

17 Jahre lang war die Institution heimatlos, nun ist es endlich so weit: Heute, Freitag, 25. Oktober, wird das Museum moderner Kunst in Warschau eröffnet. Der Megabau präsentiert sich als nach außen gestülpte White Box.

17 Jahre lang war die Institution heimatlos, nun ist es endlich so weit: Heute, Freitag, 25. Oktober, wird das Museum moderner Kunst in Warschau eröffnet. Der Megabau präsentiert sich als nach außen gestülpte White Box.

Alles ist weiß. Ein kaltes, distanziertes, fast schon abstoßend klinisches Weiß in den Augen. Weiße Säulen, weiße Wände, weiße Plafonds in den Arkadengängen. Hinzu kommen die Portale und Fluchttüren aus Edelstahl, die antibakterielle Ästhetik einer Kühlkammer, eines industriellen Schlachthofs ausstrahlend. Und schließlich die vielen LED-Linien im Foyer und auf den Galerien, wie gleißende Lichtschwerter den Raum durchschneidend. Einfach nichts an diesem Haus ist warm, sinnlich, einladend – und doch kann man nicht anders, als hinzugreifen und den samtigen, perfekt gegossenen Beton zu streicheln und nicht mehr loszulassen.

„Die Ambivalenz aus diesem Eiskalten und diesem doch irgendwie Wohlig-Warmen ist schon verblüffend, oder? Kommen Sie, ich zeige Ihnen meinen Lieblingsort!“ Wenige Schritte und Höhenmeter später steht Joanna Mytkowska, Direktorin des neuen Warschauer Museums moderner Kunst, im Stiegenhaus im zweiten Stock, auf der einen Seite eine expressionistische Treppenlandschaft offenbarend, wie mit dem Skalpell aus dem Beton herausgeschnitzt, auf der anderen Seite – durch ein 19 Meter breites und fünf Meter hohes Panoramafenster – der Blick auf den stalinistischen Kulturpalast, der in den 1950er-Jahren im sowjetischen Klassizismus errichtet wurde und seitdem 237 Meter hoch in den Himmel ragt.

Das Muzeum Sztuki Nowoczesnej (MSN) ist das nunmehr fünfte und letzte Museumsprojekt, das sich die polnische Regierung mit dem EU-Betritt 2004 als Hausübung selbst auferlegt hatte. Nach dem Museum der Geschichte der polnischen Juden, dem Museum des Warschauer Aufstands, dem Museum der polnischen Geschichte und dem Museum der polnischen Armee – die beiden letzteren wurden im Sommer 2023 eröffnet, wiewohl mangels Geldmittel und kuratorischen Ausstellungskonzepts bis heute nur teilweise in Betrieb – gilt die Aufmerksamkeit nach zwei Jahrzehnten EU-Mitgliedschaft nun der zeitgenössischen Kunst.

„Wir hatten einen sehr, sehr langen Atem“, sagt Mytkowska, die früher, bevor sie der Einladung nach Warschau gefolgt ist, als Kuratorin am Centre Pompidou in Paris tätig gewesen war. „Die Institution haben wir 2007 gegründet, doch bislang hatten wir nie ein eigenes Haus.“ Zu Beginn war das heimatlose Kunstmuseum in einer historischen Villa am Stadtrand eingemietet, danach für einige Jahre im luftig-leichten Nachkriegsmöbelhaus Emilia, ehe dieses an einen Privatinvestor verscherbelt und abgerissen wurde, zuletzt in der temporären Berliner Kunsthalle des Wiener Architekten Adolf Krischanitz, die nach dem Abbau an der Spree an die Weichsel übersiedelte.

„Doch damit war die Odyssee noch lange nicht zu Ende“, erinnert sich Mytkowska. „Es hat sage und schreibe drei Wettbewerbe gebraucht, bis wir endlich bauen konnten. Eine Blamage für uns!“ Der erste Wettbewerb verstieß gegen die EU-Vergabeordnung und musste noch in der Ausschreibungsphase abgeblasen werden. Der zweite Wettbewerb kürte den Schweizer Architekten Christian Kerez zum Sieger, dessen radikal minimalistisches Projekt jedoch an den hohen Baukosten, an den Hassprotesten der Bevölkerung sowie an den damals noch ungeklärten Eigentumsverhältnissen des Standorts scheiterte. Der dritte Wettbewerb 2014 schließlich führte zum langersehnten Erfolg – und damit zum Sieg des New Yorker Architekten Thomas Phifer. Heute, am 25. Oktober, wird das Ding nach fünfjähriger Bauzeit feierlich eröffnet.

100 Meter lang, 40 Meter breit, 23 Meter hoch: Wie eine überdimensionale iPhone-16-Verpackung aus weißem, matt cellophaniertem Karton mit harten, eckigen Kanten legt sich das Museum moderner Kunst vor die Skyline des Kulturpalasts, direkt an die dicht befahrene Ulica Marszałkowska. Hier wird gar nicht erst gekleckert, hier wird in gigantischen Maßstäben geklotzt. Ohne jegliche Verspieltheit im Kleinen, dafür in dutzend Meter langen Schnitten und morphologischen Volumensubtraktionen auf Makroebene. Der Architekt selbst spricht von „visueller Permanenz“ und einer neuen „Kunstmasse“ im Herzen der Stadt.

Allerhöchste Güte

Was aussieht wie weißer Putz oder wie eine weiß getünchte Oberfläche, ist in Wirklichkeit Sichtbeton aus Weißzement, weißen Zuschlagstoffen und fein gemahlenem Titan, angemischt und durchgerüttelt in allerhöchster Güte. Um eine möglichst hohe Präzision zu gewährleisten, wurde auf dem Grundstück nebenan eine temporäre Feldwerkstatt errichtet, sodass Tischler und Handwerkerinnen die Betonschalungselemente direkt vor Ort anfertigen und in Millimeterarbeit umbauen und adaptieren konnten. Die Baukosten belaufen sich auf 700 Millionen Złoty, rund 162 Millionen Euro.

„Das Prinzip der White Box, reduziert und entsättigt, ist nichts Neues“, sagt Architekt Thomas Phifer, mit einer glücklichen Ruhe durchs Haus schreitend. „Doch nicht nur das. Wir wollten darüber hinaus Fassade und Innenraum nicht als zwei getrennte Elemente auffassen, sondern vielmehr als eine holistische Megaskulptur. Also haben wir die White Box einfach nach außen gestülpt.“ Das Bild, so Phifer, sei durchaus passend, denn so könne sich die politische, wirtschaftliche und baukulturelle Renaissance Warschaus, die er gerade beobachte, vor dem Hintergrund einer White Box als künstlerischer Moment präsentieren.

„Die ersten 17 Jahre in meiner Rolle als Direktorin des Museums moderner Kunst war ich eine Obdachlose, auf der Suche nach einem eigenen Haus“, sagt Joanna Mytkowska. „Ich denke, die Arbeit hat sich ausgezahlt.“ Die Sammlung wurde seit 2007 kontinuierlich aufgebaut – zum Teil mit finanzieller Hilfe und kuratorischer Unterstützung der österreichischen Erste Stiftung – und umfasst heute an die 1000 Werke. Die erste große Ausstellung wird den Titel Impermanent tragen, verrät die Direktorin. „Eine Anspielung auf unser bis dato unbeständiges Nomadentum. Diese Zeiten sind endlich vorbei.“

Der Standard, Fr., 2024.10.25

19. Oktober 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Klingeling, Haus Nummer 4711

Immer mehr Menschen wollen auch im hohen Alter selbstbestimmt und in lustiger Gemeinschaft wohnen. Das ist ein Auftrag an Politik, Architektur und Wohnungswirtschaft. Zu Besuch bei Elisabeth, Georg, Maria, Freya und Iris.

Immer mehr Menschen wollen auch im hohen Alter selbstbestimmt und in lustiger Gemeinschaft wohnen. Das ist ein Auftrag an Politik, Architektur und Wohnungswirtschaft. Zu Besuch bei Elisabeth, Georg, Maria, Freya und Iris.

Es gibt Mohntorte mit Himbeeren und Biskuitroulade mit Marillenmarmelade, dazu einen ganzen Becher frischen Schlagobers. Und eine gehörige Portion Zensur auf den Artikel. „Sie dürfen alles schreiben, was wir Ihnen erzählen und wovon Sie sich selbst ein Bild machen konnten“, sagt die Frau mit dem roten Pulli und dem roten Schal. „Wir freuen uns über jede Publikation, die dem Thema dienlich ist, aber wehe, wir lesen in der Zeitung unser Alter! Schreiben Sie einfach, dass wir bereits reichlich Lebenserfahrung haben.“

Nun denn, von links nach rechts: Elisabeth Kaposi, Georg Barta, Maria Steiner, Vereinsobfrau Freya Brandl und Iris Schmiedbauer sind nicht mehr die Jüngsten. Aber als sie es noch waren, damals, vor zehn Jahren, entstand die Idee, eines Tages eine Art Alters-WG zu bewohnen, mit Menschen in ihrem dritten Lebensalter, Tür an Tür unter ihres- und seinesgleichen, so wie in all den zuvor besichtigten Senioren-WGs in Berlin, in Schottland, in den Niederlanden – und so gründete man gemeinsam den Verein Kolokation.

Zu Beginn noch machte man sich auf die Suche nach einem Altbau, nach einer großen Gründerzeitwohnung oder einer Okkasion irgendwo im Hinterhof. Doch der freie Markt und die weitaus lukrativeren Konkurrenzangebote von gewerblichen Developern machten dem Plan einen Strich durch die Rechnung. Und so schnappte sich der Verein einen gemeinnützigen Wohnbauträger und fungierte mit einer Absichtserklärung – einem sogenannten Letter of Intent – als partnerschaftlicher Trittbrettfahrer in einem von der Stadt Wien ausgelobten Bauträger-Wettbewerb.

Reduktion gegen Lebensende

Freya wohnte früher, nachdem ihr Mann verstorben war, allein in einem Reihenhaus. Maria war in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Baden daheim, mit über einer Stunde Anfahrt zu ihren heißgeliebten Tangonächten in Wien. Und Elisabeth hatte eines Tages den inneren Wunsch, sich nach einem wilden, künstlerisch verdichteten Leben wieder gesundzuschrumpfen. „Wir können unseren Kindern nach dem Tod ja nicht hunderte Quadratmeter voller Zeug hinterlassen“, sagt sie. „Das wäre ja eine Zumutung! Die Reduktion gegen Lebensende ist Teil der eigenen Verantwortung.“

Vor allem aber sehnten sie sich alle nach einem Leben in Gemeinschaft. Nach einer Nachbarschaft mit Sympathie und Empathie. Nach einem sozialen Gefüge, in dem man sich nicht dafür entschuldigen muss, wenn man einmal Hilfe benötigt, weil man Arthrose hat oder im Rollstuhl durchs Leben fährt. Fündig wurde der Verein im Sonnwendviertel, in einem vom gemeinnützigen Bauträger EGW errichteten Wohnhaus am Helmut-Zilk-Park. Die Kolokation-WG nimmt den gesamten zweiten Stock ein und umfasst 15 Wohnungen für insgesamt 17 Personen. Dazu gibt es einen 100 Quadratmeter großen Gemeinschaftsraum mit Küche, Sofas, Fauteuils, einem fünf Meter langen Esstisch und einer Wand voller Bücher und DVDs.

21,2 Prozent aller EU-Bürger sind älter als 65 Jahre. Zurückzuführen ist das demografische Phänomen vor allem auf den medizinischen Fortschritt, auf den zunehmenden Wohlstand in Europa sowie auf ein generell steigendes Bewusstsein für Lebensqualität und selbstwirksame Lebensgestaltung. Und der Prozess ist noch lange nicht zu Ende. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) prognostiziert, dass der Anteil der über 65-Jährigen bis zum Ende des Jahrhunderts auf 31,3 Prozent hochklettern wird.

Das Beunruhigende an diesen Aussichten ist nicht die größer werdende Gruppe der 4711-Echt-Kölnisch-Wasser-Fraktion, sondern die fehlende politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. „Die alten Menschen sind alles andere als eine homogene Gruppe mit einheitlichen Lebens- und Wohnvorstellungen“, sagt der Schweizer Soziologe und Generationenforscher François Höpflinger. „Dies gilt insbesondere für jene Menschen, die lebenslang gelernt haben, ihre Individualität zu pflegen. Dementsprechend sind alle Lebens- und Wohnprojekte, die von einem einheitlichen Typ älterer Menschen ausgehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt.“

Während sich die Bundes- und Landespolitik in den letzten Jahren also vor allem auf das Thema Pflege fokussiert hat (und dabei andere Entwicklungen und Bedürfnisse der Babyboomer-Generation verschlafen hat), entstanden auf Gemeinde- und Vereinsebene zahlreiche innovative Wohn- und Kooperationsmodelle – von der Omama-Wohngruppe über Co-Housing-Projekte bis hin zu Plattformen und intergenerativen Serviceleistungen. Ein paar Dutzend davon sind nun in der kürzlich eröffneten Ausstellung Wie geht’s, Alter? im Architekturforum Oberösterreich (AFO) zu sehen.

„Das halb leerstehende Einfamilienhaus befeuert die Einsamkeit und Zersiedelung und ist die allerschlechteste Lösung“, sagt AFO-Leiter Franz Koppelstätter. „Vor allem im ländlichen Raum gibt es große Wechselwirkungen zwischen Senioren und der Revitalisierung von Dorfzentren und öffentlichen Freiräumen, denn während junge Leute Tag für Tag zum Lernen und Arbeiten in die Stadt auspendeln, sind es meist genau diese älteren Menschen, die aufgrund ihres kleineren Mobilitätsradius im besten Fall das Dorf am Leben erhalten – vorausgesetzt natürlich, es gibt entsprechend attraktive Wohn- und Lebenskonzepte.“

Herzblut-Angelegenheiten

In Kleinzell im Mühlkreis ist es gelungen, unter dem Titel Wohnen mit Service einen alten Vierkanthof zu kaufen und mit interessierten Senioren partizipativ zu entwickeln, Besiedelung ab April 2025. Die Herbstzeit GmbH vermittelt ältere, meist einsame Menschen in Gastfamilien, die bereit sind, ihr Zuhause mit einer Ersatzoma, einem Ersatzopa zu teilen. Und die Plattform Wohnbuddy schaut sich nach leerstehenden Zimmern in Seniorenheimen um und vermittelt diese zu einem günstigen Mietpreis an Studierende – unter der Voraussetzung, dass diese ihren weitaus älteren Nachbarinnen und Nachbarn für ein paar Stunden die Woche als Buddy für Gespräche und diverse Hilfsdienste zur Verfügung stehen.

In Wien plant der Verein Kolokation die mittlerweile vierte Senioren-WG, und in Salzburg baut der Verein Silberstreif mit rund 35 Leuten und dem Bauträger Heimat Österreich eine Seniorenwohngruppe im Wohnprojekt Gnice, Einzug im Sommer 2026. Was sowohl Kolokation als auch AFO-Leiter Franz Koppelstätter fordern: „Bislang handelt es sich bei allen Projekten um Einzelinitiativen und Herzblut-Angelegenheiten einiger weniger Akteure. Was definitiv fehlt, sind Informations- und Beratungsstellen im Rathaus – und die politische Bereitschaft, den geförderten, gemeinnützigen Wohnbau um eine neue Varianz zu bereichern.“

„Wie geht’s, Alter? Gemeinsam Räume für die Zukunft schaffen“ im Architekturforum Oberösterreich (AFO) in Linz. Zu sehen bis 13. Dezember 2024.

Der Standard, Sa., 2024.10.19

12. Oktober 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Herrn Štěchs Gespür für Schönes

Der tschechische Fotograf Adam Štěch hat ein Faible für architektonische Details des 20. Jahrhunderts. Er reist durch die Welt und will die Menschen für das Kleine begeistern. Nun sind seine Fotos im Mak zu sehen.

Der tschechische Fotograf Adam Štěch hat ein Faible für architektonische Details des 20. Jahrhunderts. Er reist durch die Welt und will die Menschen für das Kleine begeistern. Nun sind seine Fotos im Mak zu sehen.

Wie von Geisterhand aufgeklappt, unter einem 70-gradigen Winkel zum Stillstand gekommen, kreisrunden Einblick offenbarend in einen Raum aufregender Stille. „Ich glaube, ich habe noch nie zuvor ein so schönes, außergewöhnliches Toilettenfenster gesehen“, sagt Adam Štěch. „Der Sichtbeton, die geböschte Laibung, die farbliche Reduktion auf das Wesentliche, die Unsichtbarkeit technischer Öffnungs- und Konstruktionsdetails, und dann erst diese über alles überraschende räumliche Lösung zwischen drinnen und draußen: Was für eine Formensprache!“

Ort dieser Begegnung zwischen Objekt und Objektjäger ist die Casa Albero in der italienischen Küstenstadt Fregene in der Einflugschneise des Flughafens Fiumicino, 30 Kilometer von Rom entfernt. Mitten in einem Pinienwäldchen bauten sich Giuseppe Perugini, damals Professor für Gestaltung an der Universität Roma Tre, seine Frau Uga de Plaisant und deren gemeinsamer Sohn Giuseppe Perugini in den Jahren 1967 bis 1975 eine Art betoniertes Baumhaus, das teilweise auf dem Boden stand, teilweise aber auf einer waghalsigen Stützenkonstruktion in den Baumkronen steckte.

Dreidimensionales Tetris

„Die Casa Albero, auch bekannt als Casa Sperimentale“, sagt Štěch, die Begeisterung in seiner Stimme ist nicht zu überhören, „stammt aus einer Zeit, als man sich noch traute, mit Raum und Material zu experimentieren. Manche Elemente dieses Bauwerks wirken wie dreidimensionales Tetris, wie in Beton gegossener Strukturalismus, andere hingegen haben fast schon einen verspielten, postmodernen Charakter. Dieser Brutalismus der europäischen Nachkriegsmoderne hat es mir besonders angetan. Ich kann die Kamera kaum abwenden.“

Štěch (38) studierte Kunstgeschichte an der Karls-Universität in Prag, fühlte sich im Milieu alter Meister, alter Werke aber nie so richtig wohl. Er sei, wie er selbst meint, immer das schwarze Schaf unter den Akademikern gewesen, mehr am Bild, an der visuellen Kraft, an der Entstehungsgeschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts interessiert als an Thesen und theoretischen Schriften. „Meine Methodik ist das Foto als analoges, zeitloses Dokumentationsmittel, als Transportmittel von Emotionen und Begeisterung.“

Das Museum für angewandte Kunst (Mak) widmet diesem Transportmittel derzeit eine eigene Ausstellung. Unter dem Titel Elemente. Adam Štěchs Blick auf architektonische Details sind im Kunstblättersaal rund 2500 dieser „Elemente“ zu sehen. In kompakter Größe, mit abgerundeten Ecken wie damals in den Sechzigern, Siebzigern, kann man durch Štěchs Pupillen auf die Welt schauen, unterteilt in kleinteilige Kapitel wie etwa Türen, Griffe, Fenster, Lampen, Uhren, Kamine, Heizkörper, Waschbecken, Stiegengeländer, Wandvertäfelungen und Möbel aller Art. Es sind genau jene Elemente besessener Formgebung, bis zur buchstäblich allerletzten Schraube, von denen Architekten wie Adolf Loos, Jože Plečnik, Frank Lloyd Wright, Le Corbusier und Gio Ponti nicht die Finger lassen konnten.

„Ich fotografiere seit meinem 20. Lebensjahr, und ich kann mich an diesen Details der Moderne einfach nicht sattsehen“, sagt Adam Štěch. Knapp 50 Länder hat er seitdem bereist, aktuell fotografiert er sich mit seiner Sony Alfa durch die japanische Moderne. Das Archiv umfasst bereits an die 10.000 abgelichtete Gebäude, vom winzigsten Detail über Fassadenansichten bis hin zu umfassenden Fotoreportagen. Das 2020 im Prestel-Verlag erschienene Buch Modern Architecture and Interiors zeigt einen kleinen Bruchteil davon: 1000 Häuser auf 1000 Seiten.

Zu fast jedem Bauwerk der Moderne, so scheint es, pflegt Štěch eine leidenschaftliche Beziehung. So auch zur feuerroten Stahltür in der Treppenstütze der Villa Gontero in Cumiana nahe Turin. „Einer meiner absoluten Favoriten! Ein Hauseingang wie auf einem U-Boot, bloß halt nicht unter der Wasseroberfläche, sondern im Schatten des darüber schwebenden Wohngeschoßes.“ Errichtet wurde das expressionistische Wohnhaus von Carlo Graffi und Sergio Musmeci in den Jahren 1969 bis 1971 für den italienischen Maler Riccardo Gontero. „Die Diskrepanz zwischen der Gegenständlichkeit seiner Bilder und der Abstraktion seines Wohnsitzes“, so der Fotograf, „ist mehr als verblüffend.“

Oder etwa zum Dom Umenia (Haus der Kunst) in der slowakischen Kurstadt Piešťany, errichtet 1974 bis 1979 nach Plänen von Ferdinand Milučký und Júlia Kunovská. Während das Gebäude von außen als hermetische, fast schon abweisende Betonbox erscheint, offenbart sich innen ein sinnliches, rot wogendes Universum aus Lampen, Deckenstreben und weich gepolsterten Stühlen. „Diese hunderten Lämpchen!“ Und dann ein glückliches Grinsen am anderen Ende der Welt.

Sein Ziel, sagt Adam Štěch, ist die Begeisterung und Sensibilisierung für das Kleine, für das Detaillierte in der Architektur. Und die Schaffung der weltgrößten Bilddatenbank systemisch erforschter Architekturdetails des 20. Jahrhunderts. Ersteres ist ihm bereits gelungen. Letzteres ist nur eine Frage der Zeit.

Der Standard, Sa., 2024.10.12

07. September 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Der Herr Baumeister Schwammerl

Die einen gehen in den Wald, um Pilze zu sammeln, die anderen haben sich auf das Bauen und Forschen mit deren hochintelligentem Wurzelwerk spezialisiert. Das Potenzial der sogenannten Myzelien ist enorm – und könnte die Baubranche eines Tages komplett umkrempeln.

Die einen gehen in den Wald, um Pilze zu sammeln, die anderen haben sich auf das Bauen und Forschen mit deren hochintelligentem Wurzelwerk spezialisiert. Das Potenzial der sogenannten Myzelien ist enorm – und könnte die Baubranche eines Tages komplett umkrempeln.

Pilze führen in unserer Lebenskultur ein ambivalentes Dasein. Eierschwammerl gut, Knollenblätterpilz böse. Der eine ist ein Glückspilz, der andere wird zum Schwammerl. Als weißer Camembert und blauer Roquefort eine Conditio sine qua non, auf anderen Nahrungsmitteln jedoch ein Grund zur sofortigen Küblierung. Während Fliegenpilze aus Marzipan als Freudenbringer verschenkt werden, bringen sie als Original draußen in der Natur bloß Tod und Verderben. Und was im Antibiotikum dank seiner Heilkräfte hochbegehrt ist, dem begegnen wir in der Duschkabine mit Putzfetzen und chemischem Schimmelreiniger.

Mit dem 2021 erschienenen Buch Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen ist es dem britischen Biologen Merlin Sheldrake, der an der Oxford University unterrichtet und auch vor diversen Selbstversuchen mit der halluzinogenen Materie nicht zurückscheut, gelungen, das Thema in die breite Masse zu streuen. Seit damals wissen die Bestsellerjäger, dass sich der größte Pilzorganismus der Welt – ein Dunkler Hallimasch irgendwo in Oregon, USA – über neun Quadratkilometer Waldfläche erstreckt und mehrere Hundert Tonnen auf die Waage bringt. Er gilt als das größte Lebewesen der Erde.

Klimawandel

Auch im Design und in der Architektur spielen Pilze eine zunehmend wichtige Rolle. Schon seit den 1980er-Jahren wird mit den fadenförmigen Zellen und den unterirdischen, oft weitverzweigten Wurzelgeflechten – den sogenannten Myzelien – intensiv geforscht. In den letzten Jahren bekam die Myzelienforschung dank Klimawandel, Kreislaufwirtschaft und einer immer wichtiger werdenden Ressourcendebatte großen Rückenwind. Und natürlich auch dank Merlin Sheldrake.

Immer mehr Architekturbüros widmen sich in ihrer täglichen Arbeit dem Schwammerl. An manchen Architekturfakultäten, wie etwa in Kassel, Karlsruhe und Newcastle, wurden bereits Institute für Myzelienforschung und Bauen mit biotechnologischen Materialien ins Leben gerufen. Und bei der Architekturbiennale 2023 in Venedig haben die Kuratoren den belgischen Pavillon unter dem Titel In Vivo mit insgesamt 300 lebenden Myzelienplatten ausgekleidet.

„Myzelien sind ein faszinierendes Baumaterial, das zur Dekarbonisierung der gebauten Umwelt beitragen kann, von dem wir aber noch vergleichsweise wenig wissen“, sagt Corentin Dalon, Partner im belgischen Architekturbüro Bento und zugleich Kurator des belgischen Biennalepavillons. „Daher haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die Forschung bei uns im Atelier voranzutreiben. Das langfristige Ziel ist, im Umgang mit Myzelien eines Tages ein so großes Repertoire zu haben, dass wir damit unterschiedlichste Dinge bauen können.“

Pilzwurzelgeflechte

Zu Beginn sammelte Dalon die weißen Pilzwurzelgeflechte noch eigenhändig im Wald ein, mittlerweile lässt er sich die Myzelien von einem Spezialisten liefern. Im Büro werden die Myzelien erst in der Petrischale unter sterilen Bedingungen zum Wachsen gebracht, ehe sie auf ein biologisches Trägermaterial übertragen werden, das ihnen dank hohen Zucker- und Stärkegehalts als Nahrungsgrundlage dient: Sägespäne, Holzschnitzel, Hanffasern, Stroh oder auch Treber aus der Bierproduktion. Bei 70 bis 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, sommerlicher Zimmertemperatur und absoluter Dunkelheit beginnt das Myzelium, sich auszudehnen und bis in die allerkleinsten Hohlräume einzudringen. Durch Wasserentzug kann das Wachstum gestoppt, der Pilz „schlafend“ gestellt werden. Oder aber man tötet ihn bei rund 80 Grad Celsius irreversibel ab.

„Mit den entsprechenden Rahmenbedingungen kann man das Wachstum und den Endzustand des Myzels perfekt beeinflussen, ja sogar aktiv gestalten“, erzählt Dalon, der am liebsten mit dem Reishi-Pilz (Ganoderma lucidum) arbeitet. Dabei sind von den schätzungsweise sechs Millionen Pilzarten auf der Erde erst an die 120.000 erforscht. „Je nach Pilz, Trägermaterial und Wachstumsprozess lassen sich Produkte mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften bauen.“ Aktuell arbeitet Dalon an Tischen, Hockern und Leichtbauplatten für den Innenausbau.

Einige Myzelprodukte sind in der Tat schon am Markt: Mogu (Italien), Biohm (England) und Ecovative (USA) etwa haben sich auf die Produktion von nachhaltigen Dämmplatten und Akustikpaneelen spezialisiert. Philipp Eversmann jedoch, Professor an der Universität Kassel und spezialisiert auf experimentelles Entwerfen und Konstruieren, ist das zu wenig. Er will noch weiter gehen. „Der Innenausbau spielt in der Architektur eine wichtige Rolle, und es tut mir weh, mitansehen zu müssen, dass wir mit jedem Büroumbau tonnenweise Sondermüll aus Gipskartonplatten schaffen. Das muss auch anders, das muss auch biologisch abbaubar gehen.“

In Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und dem Londoner Ingenieurbüro ARUP arbeitet er nun an einer markttauglichen Variante von 2,50 hohen und zehn Zentimeter dicken Myzelplatten für den Innenausbau. „Wir wollen den komplizierten Aufbau in einem einzigen massiven, aber leichtgewichtigen Bauteil zusammenfassen und sind davon überzeugt, dass dieses Produkt den weltweiten Trockenbaumarkt revolutionieren könnte.“ Das Projekt wird vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) mit rund einer Million Euro gefördert und soll bis 2025 abgeschlossen sein.

Ökologisches Umdenken

„Doch ich fürchte“, meint Ruth Morrow, Professorin für biologische Architektur an der Newcastle University, England, „dass die Gesellschaft noch nicht so weit ist, um eine relevante Marktdurchdringung von Myzelwerkstoffen überhaupt zuzulassen. Noch ekeln sich viele davor, mit so einem biologischen Produkt zu arbeiten. Abgesehen davon, dass die gesamte globale Bauwirtschaft heute auf Perfektion, Unzerstörbarkeit und Ewigkeitsanspruch ausgerichtet ist. Wir müssen erst einmal unser Mindset ändern. Und dann wird es auch Platz für Pilze und andere biotechnologische Werkstoffe geben.“

Das Potenzial jedenfalls ist enorm. Einen Ausblick auf die mögliche Bandbreite liefert ihr Buch Bioprotopia. Designing the Built Environment with Living Organisms, das letztes Jahr bei Birkhäuser erschienen ist. „Ein bisschen Zeit wird die Entwicklung von Myzelien als Baustoff schon brauchen“, so Morrow. „Mit Holz bauen wir Menschen schon seit 200.000 Jahren. Thonet-Bugholz-Stühle und 30 Meter lange Leimbinder gab es auch nicht schon vom ersten Tag an. Wir dürfen also gespannt sein, wie die nächsten Generationen ein ökologisches Umdenken einläuten werden.“

Der Standard, Sa., 2024.09.07

31. August 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Zwei Tage und eine Nacht im Wunderland

Mitten in der Altstadt von Brixen hat das Luxushotelchen Badhaus seine Pforten geöffnet. Schön ist es, hier zu nächtigen. Noch erquickender jedoch ist die Entstehungsgeschichte dieses Projekts im Schoße einer weitsichtigen Politik und einer freigeistigen Auseinandersetzung mit dem baulichen Erbe.

Mitten in der Altstadt von Brixen hat das Luxushotelchen Badhaus seine Pforten geöffnet. Schön ist es, hier zu nächtigen. Noch erquickender jedoch ist die Entstehungsgeschichte dieses Projekts im Schoße einer weitsichtigen Politik und einer freigeistigen Auseinandersetzung mit dem baulichen Erbe.

In der schmalen Via Ponte Aquila, ein Shop neben dem anderen, drängen sich die Touristenmassen, schießen Fotos vom Weißen Turm, dem Wahrzeichen der Stadt, 72 Meter in die Höhe ragend, und den vielen, vielen Giebelzinnen, die das gesamte historische Altstädtchen zieren. Angeblich, so erzählt man sich, das meistbegangene und meistfotografierte Gässchen in ganz Brixen.

Unter der Hausnummer 5, ganz plötzlich, mehr mit dem Sog und dem Reiz der Subtraktion spielend als mit Druck und additiver Reizüberflutung, klafft ein Spalt in der Fassadenlinie, keine zwei Meter breit an der schmalsten Stelle, dahinter eine roughe, eigenartige, streng durchlinierte Fassade aus Kupfer und gebrannten Ziegeln. Über einer der gusseisernen Stangen, die wie überall in der Stadt die mittelalterlichen, leicht aufeinander zufallenden Außenmauern stützen, hängt ein übergroßer Bademantel, ein Aluminiumguss, ein ziemlich freches Kunst-am-Bau-Projekt des Vinschgauer Künstlers Michael Flieri, mehr ist nicht. Willkommen im Hotel Badhaus.

Radikal und spannend

„Das Badhaus als behutsame Wiederbelebung“, heißt es auf der Website des Hotels. „Das Gebäude nutzt den verfügbaren Raum geschickt, vereint verschiedene Volumina und erhebt sich in einer schlanken, nach oben verjüngenden Form.“ Und tatsächlich: Auf dem rund 400 Quadratmeter großen Grundstück, dem man andernorts wohl nicht einmal Beachtung schenken würde, rundum von Nachbarparzellen umzingelt, keine Aussicht weit und breit, steht heute eines der spannendsten, radikalsten Luxushotels Südtirols. Die Zimmer sind groß und teuer, das Raumerlebnis ein introvertiertes Eintauchen in einen alpinen Kokon aus Marmor, Kupfer und Beton.

„Wir wollten die umliegende Altstadt weiterbauen, ohne sie dabei museal zu kopieren, zwar mit durchaus alten, traditionellen Baustoffen, dafür aber mit einer schlichten, zeitgenössischen Formensprache“, sagt Michaela Wolf, die mit ihrem Partner Gerd Bergmeister das vielfach prämierte Architekturbüro bergmeisterwolf betreibt, keine drei Fußminuten vom Badhaus entfernt. „Mit den Tonziegeln und dem Kupfer, die die Materialität des Weißen Turms aufgreifen, entsteht eine ruhige Fügung. Mit den horizontalen Fensterbändern wiederum – drei horizontale Schlitze pro Etage – wirkt das Haus abstrakter, maßstabsloser, irgendwie auch türmiger und hochhausiger.“

Neuschlichtung

Einst stand hier ein dreigeschoßiges Badhaus, das ganze Grundstück ausfüllend, eine Art Südtiroler Tröpferlbad, errichtet direkt über einem unterirdischen Wasserlauf, einer sogenannten Wiere, die heute noch den Trinkwasserbrunnen im Innenhof speist. Laut Wiedergewinnungsplan konnte der Nutzbau aus dem 19. Jahrhundert abgerissen und die damalige Kubatur – in diesem Fall 2559 Kubikmeter – wiederaufgebaut werden, und zwar in welcher architektonischen Konstellation auch immer, vorausgesetzt die Stadt, das Denkmalamt und die angrenzenden Nachbarn stimmen dieser volumetrischen Verschiebung und Neuschlichtung zu.

Statt flach und niedrig sind die 2559 Kubikmeter Raum nun zu einem sechsstöckigen Hochhäuschen gestapelt, dafür aber auf lediglich halber Grundstücksfläche, die restliche Parzelle ist nun ein öffentlich zugänglicher Innenhof mit Rasen, befestigten Sitzstufen und steinernem Trinkwasserbrunnen. „Der Volumentausch ist eine Besonderheit unserer historischen Innenstadt“, sagt der Brixener Bürgermeister Andreas Jungmann. „Im gesamten Altstadtkern, der sogenannten A-Zone, arbeiten wir nicht mit Traufkanten und Gebäudehöhen, sondern ausschließlich mit Kubaturen. Nur 5,5 Prozent der Südtiroler Landesfläche sind überhaupt bebaubar, der Rest ist Gebirge. Wenn man so stark limitiert ist, dann lernt man, die Angst vor Bauhöhe abzulegen.“

Auch das Landesdenkmalamt war vom Abbruch bis zur ersten Hotelnächtigung Anfang Mai in den gesamten Prozess lückenlos miteingebunden. „Vor allem in schönen, pittoresken Altstädten müssen wir aufpassen, dass wir nicht in die Sackgasse der reinen Musealisierung abbiegen“, sagt Karin Dalla Torre, Landeskonservatorin Südtirol. „Aus denkmalpflegerischer Sicht sprechen wir uns eher für einen Dialog zwischen Alt und Neu aus – aber dieser hat natürlich auf allerhöchstem architektonischen Niveau stattzufinden, ohne Abstriche und Kompromisse.“

Möglich war all dies, weil Architekten, Gemeinde, Denkmalamt, Grundstückseigner und die Hotelbetreibergruppe Viertel Group alle an einem Strang gezogen, offen kommuniziert und die Bevölkerung von Anfang an in den Prozess miteingebunden haben. Und weil Südtirol überhaupt so viel weiter ist als wir, weil es verstanden hat, dass die Ressource Boden nicht unendlich ist. Mit dem neuen Landesgesetz Raum und Landschaft, seit 2020 in Kraft, hat der Bürgermeister nicht mehr das alleinige Sagen. Innerhalb der bereits bestehenden Siedlungsgrenzen ist die Bauentwicklung Sache der Gemeinde, außerhalb dieser Grenzen hat das Land Südtirol das Zepter in der Hand. Das soll – über die Innenstädte hinaus – das Land vor Zersiedelung und weiterer Versiegelung bewahren.

Ach, Österreich, du Land der partikularen Interessen, der freunderlichen Wirtschaft und der vielen Machtmänner auf dem Bürgermeistersessel, was hast du noch viel zu lernen! Nach Brixen ist es ein breiter Weg.

Der Standard, Sa., 2024.08.31

17. August 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Im Rausch der Farben

Das ehemalige Adambräu in Innsbruck ist nicht wiederzuerkennen. Die Installation des spanischen Büros Selgascano bricht ein Architekturtabu und ist vor allem eines: bunt.

Das ehemalige Adambräu in Innsbruck ist nicht wiederzuerkennen. Die Installation des spanischen Büros Selgascano bricht ein Architekturtabu und ist vor allem eines: bunt.

Kaum hat man die Lichtschranke passiert, fängt es im Raum an zu rattern und zu surren. In einem unfassbaren Schneckentempo von einem Meter pro Minute beginnen sich die zylindrischen, konzentrisch ineinandergesteckten Körper allmählich auf und ab zu bewegen. Hier eine stahlharte Spiegelmembran von Thyssen, dort weißer, luftiger Gazestoff, der wie Urlaub von der Decke hängt, hinten im Raum wiederum handelsübliche Plastikperlenketten, billigste Meterware aus dem Supermarkt, die in meist spanischen oder italienischen Hauseingängen zu finden sind, um zwar Frischluft ins Haus zu lassen, nicht aber Fliegen, Wespen und Moskitos.

„Wir haben ein großes Faible für leichte, billige Materialien“, sagt José Selgas, „nicht nur, weil sie flexibel und einfach zu bewegen sind, sondern auch, weil sie in der Produktion, im Transport und in der Montage meist einen viel geringeren CO₂-Fußabdruck hinterlassen als schwere, massive Baustoffe.“ Das Surren hat aufgehört, der Flaschenzug hat den Tiefpunkt erreicht, fünf Sekunden Pause. „Doch das Beste an diesen luftigen, transluzenten Kunststoffen“, es surrt wieder, der Motor ist in Gang, die Konstruktion hebt sich in Zeitlupe, „ist, dass es sie in den schönsten und kräftigsten Farben gibt, dass sie im Sonnenlicht tanzen und mit den Menschen darin eine unbeschwerte Poesie entfalten.“

Publikumslieblinge

Gemeinsam mit seiner Partnerin Lucía Cano betreibt er seit 1996 das Architekturbüro Selgascano mit Sitz in Madrid. Zu den ersten Projekten zählen ein Silikonhaus, ein Brillengeschäft, ein Jugend- und Sportzentrum, und meist sind die Bauten bunt und auf reizvolle Weise von oben bis unten plastifiziert, sprechen in ihren leuchtenden Farben für sich, während sich die beiden hinter der Architektur verstecken und nur ungern in den Medien auftreten.

Das ändert sich schlagartig 2015 mit dem Auftrag für den Serpentine Pavilion in den Kensington Gardens in London. Der temporäre Pavillon aus gespannten ETFE-Folien mit seinen grellen, changierenden, ja fast schon metallischen Farbnuancen entpuppt sich als Liebling von Publikum und Presse, mit Hashtag-Qualität und entsprechendem Niederschlag in den sozialen Netzwerken. Auf einmal landen José Selgas und Lucía Cano in der weltweiten Öffentlichkeit, in kürzester Zeit kommen Projektanfragen aus Portugal, Frankreich, Großbritannien, Kenia und den USA.

Und nun ein Projekt in Innsbruck, eine Ausstellung im ehemaligen Adambräu, in dem sich heute das aut architektur und tirol befindet. „Ich habe Selgascano vor einigen Jahren persönlich kennengelernt und sie gebeten, für das aut eine Ausstellung zu konzipieren“, sagt aut-Leiter Arno Ritter. „Und zwar keine klassische Nabelschau mit Fotos, Plänen und Modellen, sondern eine installative, eigens für uns angefertigte Arbeit vor Ort. Ich wollte ein Original haben.“

Es ist früher Nachmittag, die Sonne fällt in den Raum, die Lichtstrahlen kämpfen sich durch die Plastikperlenvorhänge. Im Auf und Ab der weißen Gaze, der gelben, roten, blauen Schnüre, der orangen Filzbahnen, der spiegelnden Oberflächen und der zum Teil farbig gestrichenen Wände, die an die Bierproduktion und an die historischen, handkolorierten Adambräu-Pläne angelehnt sind, die im aut ausgestellt sind, gibt es kaum einen stabilen Nullzustand, alle paar Minuten verändert sich die Lichtstimmung von Strahlendweiß über Punschkrapferl bis irgendwo tief unten am Grund des Meeres. Die Besucherinnen vor Ort zücken ihre Smartphones und fangen die Stimmungsbilder im Dutzend ein.

„Architekturausstellungen können so langweilig sein, einfach nur eine Dokumentation aus Kopien und Faksimiles, mit viel Text und wenig Sinnlichkeit, das interessiert uns nicht“, sagt José Selgas. „Wir wollten ein Projekt für genau diesen Raum machen, für genau diese kreisrunden Löcher im Boden, in denen sich früher die Sudkessel befanden, eine Installation, die im Begehen unseren Anspruch an Architektur sichtbar und auch spürbar macht.“ Kurze Pause, dann fängt das Surren der Motoren wieder an.

Fades Purismusdiktat

„Farbe hat so eine unglaubliche Power, schon seit der Antike haben wir gut und gerne damit gearbeitet“, mein Selgas. „Mit der Moderne jedoch ist das alles verlorengegangen, nun untersteht alles dem Diktat des Purismus. Das ist fad.“ Alles andere als langweilig sind die Bibliothek in London, die Second Home Offices in Hollywood, Los Angeles, und das orange leuchtende Placencia-Kongresszentrum in Cáceres, 2017 fertiggestellt.

Darf Architektur schön sein? „Das ist keine Frage des Dürfens. Das ist eine Frage der Verantwortung von uns Planerinnen und Planern. Und vielleicht ist diese Ausstellung so etwas wie ein Schönheitslabor.“

Der Standard, Sa., 2024.08.17

27. Juli 2024Maik Novotny
Wojciech Czaja
Der Standard

Anatomie des Schnackselns

Am 28. Juli ist Internationaler Sex-Tag. Wir haben sechs Leute aus unterschiedlichen Berufen und Lebensbereichen gefragt: Was macht einen sinnlichen, erotischen, sexuellen Raum aus?

Am 28. Juli ist Internationaler Sex-Tag. Wir haben sechs Leute aus unterschiedlichen Berufen und Lebensbereichen gefragt: Was macht einen sinnlichen, erotischen, sexuellen Raum aus?

Stephan Ferenczy
Architekt, BEHF

Wo und wie Sex innerhalb der Architektur Platz findet, entzieht sich unserer Kontrolle. Dass er innerhalb von geplanten und gebauten Räumen geschieht, ist allen Betroffenen bewusst. Und Sex findet überall statt, sofern unsere Scham und unsere Gesetze es zulassen. Küchentische, Besenkammern und Flugzeugtoiletten wissen das. Was präzisiert der Neufert oder die kleine ergonomische Datensammlung des TÜV dazu? Leider nichts. Wenn Sex Gegenstand einer Bauaufgabe ist, was äußerst selten ausgedrückt wird, sollte er mit einem gewissen Ernst thematisiert werden. BEHF hat die Boutique Bizarre auf der Reeperbahn in Hamburg und den Fetisch-Shop Tiberius in Wien realisiert – appetitliche, erfolgreich funktionierende Sex-Retailer. Die Frage ist: Haben wir Architektinnen und Architekten unsere Projekte anders betreut und gelöst, weil wir (ständig) an Sex gedacht haben? Sicher jedenfalls ist, dass die neuen ÖBB-Schlafwagen von Robotern entworfen wurden.

Sabine Pollak
Architektin, Autorin, Professorin an der Kunstuniversität Linz

Der Wohnbau ist die am stärksten reglementierte Architekturtypologie nach dem Gefängnis. Körperliches Begehren kommt dabei nicht vor, denn die Moderne hat alles wegrationalisiert. Le Corbusier schrieb das Emotionale den Frauen zu, das Rationale den Männern. Alle Körperlichkeit wurde dadurch aus dem modernen Wohnbau ausgegrenzt. Das Bett im Corbusier-Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung ist das wohl unsexyste Bett der Architekturgeschichte: hart, spröde und schmal. Auch der heutige Wohnbau ist komplett durchreguliert. Es gibt nichts Schlimmeres als das Normschlafzimmer: Doppelbett, Schrankwand, zwei Nachtkastln. Hinzu kommt noch die Selbstüberwachung mit Smart Watches, die unsere Körperfunktionen bewerten. Mit Freiheit hat das nichts zu tun, sondern mit Ängsten und Maßregelungen, die uns in unseren Wohnungen gefangen halten. Ich hoffe, dass sich die jüngeren Generationen davon befreien und eine andere Haltung zum Thema entwickeln.

Lukas de Berlin
Veranstalter von queeren und transfreundlichen Sexpartys in Berlin, BEHF

Was braucht es, damit ein Sex-Space funktioniert? Es braucht schlicht die Erlaubnis zu begehren. Außerdem braucht es Komfort, Hygiene, die richtige Temperatur, das richtige Licht (oder auch gar kein Licht) und die Möglichkeit, sich an einem Getränk anzuhalten. Auch ich als queerer, transmaskuliner Veranstalter bin jedes Mal neu aufgeregt, frage mich, was ich gerne ausprobieren würde, und dann füllen wir den großen Darkroom und die verwinkelten, mit Vorhängen verhüllten Separees mit lautem Stöhnen und machen unsere Laken feucht und dreckig. Vor allem die Trans-Community, für die es – im Gegensatz zu schwulem Sex und phallozentrischen, patriarchal dominierten Narrativen – meist keine öffentlichen Sexräume in der Stadt gibt, ist herausgefordert, ihre ganz eigenen sexuellen Wege zu suchen und zu finden. Das steht auch nicht in der Bravo. Mein Ziel? Spielen, experimentieren und Dummheiten machen. Denn: Es menschelt beim Schnackseln!

Tanja Wehsely
Geschäftsführerin Volkshilfe Wien

Sexualität und Intimität gehören zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Auch die WHO erkennt das Recht auf sexuelle Gesundheit an. Dabei geht es um mehr als bloß um den „Akt“, es geht um Nähe und Zusammensein. Als armutsgefährdete, wohnungslose oder pflegebedürftige Frau jedoch wird einem dieses Recht oft nicht zugestanden. Auch alleinerziehende Frauen werden von vielen nur als Mutter gesehen, obwohl auch sie Bedürfnisse haben. Da heißt es: Man soll doch dankbar für das Dach über den Kopf sein, mehr hat man nicht zu wollen. Unsere Gesellschaft ist zwar übersexualisiert, aber wenn es um alte, pflegebedürftige, marginalisierte Gruppen geht, schaut man lieber weg. Wir als Volkshilfe Wien wollen Menschen nicht nur versorgen, sondern empowern. Im Frauenwohnprojekt Hafen*, im Notquartier Nordlicht und in den Häusern für ehemals Wohnungslose sind individuelle Rückzugsräume ganz elementar, und unsere Beratungsstelle „Sophie“ bietet Fortbildung bei Sexualbegleitung an.

Bart Lootsma
Architekturtheoretiker

Begehren ist eines der schönsten Gefühle, aber es verunsichert uns auch, weil wir uns anfangs nie sicher sind, ob die andere Person das Gleiche empfindet. Die Architektur bildet dafür den Hintergrund, den Rahmen fürs Sehen und Gesehenwerden. Einige der interessantesten Studien über Räume des Begehrens stammen aus der Forschung zu Queer Spaces. Jan Kapsenberg schrieb in Erotische Manöver über den Spartacus Gay Guide, der mit Piktogrammen zeigt, wo Schwule ihre Interessen ausleben können. Meistens sind diese Orte architektonisch unauffällig versteckt im ausgedehnten urbanen Gewebe. Kapsenberg entwickelte aus den Piktogrammen eine Entwurfsmethode, die aus einem neutralen Raum einen Raum für Schwule macht. Blicklinien für den Augenkontakt, kleine Tische, damit die Knie sich berühren können, Duschen mit Bänken, von denen man den anderen zuschauen kann, im hinteren Teil dunklere Rückzugsräume und ganz hinten die finsteren Darkrooms. Eine Gay-Software.

Elke Silvia Krystufek
Künstlerin

Man kann Räume mit Farbe berühren. Sexualität behandelt immer auch Grenzen und deren Überschreiten. Auf der Biennale 2009 in Venedig bin ich mit der Farbe über die Tafelbilder bewusst hinausgefahren, direkt auf die Pavillonwände. Außen am Pavillon habe ich die Länderbezeichnung „Austria“ durch das Wort „Tabu“ in blauer Schrift ersetzt. Im Kunstraum Innsbruck habe ich 2004 als Eröffnungsperformance eine Penisform aus einem eigens angefertigten Pantonsessel herausgesägt, und für das Mak habe ich 2006 einen Penis-Stahlrohrtisch entworfen. In meinen sexuellen Kunstinstallationen mag ich unaufgeräumte Räume, oft mit Schaufensterpuppen, Gebrauchsspuren, tropfenden Farben, flüssigkeitsdurchtränkten Stoffen und ausdrucksstarken Mündern und Augen. Nachts träume ich vom Stadtraum, nackt bei der Donauinsel schwimmend, ohne Kontaktlinsen, auf die glitzernde Skyline von Wien blickend, während die Lichter durch die Unschärfe wie Blumen aussehen.

Der Standard, Sa., 2024.07.27

20. Juli 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Zu Besuch bei Biene Maja

Was die Honiginsekten können, das sollte auch dem Menschen nicht vorenthalten sein. Mit dem sogenannten Wabenhaus will der Münchner Architekt Peter Haimerl der klassischen Wohnbauwirtschaft den Kampf ansagen.

Was die Honiginsekten können, das sollte auch dem Menschen nicht vorenthalten sein. Mit dem sogenannten Wabenhaus will der Münchner Architekt Peter Haimerl der klassischen Wohnbauwirtschaft den Kampf ansagen.

Davor, sagt sie, hat sie ganz, ganz traditionell gewohnt, mit Mann und Tochter in einem Reihenhaus, so wie man sich das halt vorstellt. Und vor gar nicht so langer Zeit hat sie sich einen jahrelangen Traum erfüllt und sich jene wunderschöne Couch gekauft, die schon lange auf der Wunschliste stand. „Und jetzt? Ich habe sogar schon überlegt, die hinteren Haxen abzusägen und die Couch zu adaptieren. Aber es bringt nix, eine klassische Couch hat in dieser Wohnung einfach keinen Platz. Ich musste mich davon leider trennen. Und von vielen anderen Möbeln auch.“

Reinhild Zenker, Sozialpädagogin im Evangelischen Beratungszentrum, wohnt richtig schräg. Ihre 36-Quadratmeter-Miniwohnung auf zwei Ebenen, muss man nämlich wissen, hat keine einzige gerade, senkrechte Wand. Stattdessen gibt es riesige sechseckige Fenster in der Fassade, riesige sechseckige Schrankverbauten auf der Wand vis-à-vis sowie schräg geböschte Raumabschlüsse, die vom Boden mit 36 Grad emporsteigen und von der Decke mit ebenfalls 36 Grad nach unten abknicken. Trotz ihrer geringen Größe hat die Wohnung sieben Stufen zwischen Wohn- und Schlafbereich und eine atemberaubende Raumflucht von über zwölf Metern.

Das sogenannte „Wabenhaus“ ist eine Schnapsidee des Münchner Architekten Peter Haimerl. Mit dem radikalen Experiment, mit dem er dem klassischen Wohnriegel mit standardisierten Schuhschachtelzimmern und somit auch der gesamten Wohnbauwirtschaft den Kampf ansagen will, geht er schon seit vielen Jahren schwanger. Nun ist es ihm gelungen, in Zusammenarbeit mit der Wohnbaugenossenschaft Wogeno, die in der Szene für ihre innovativen Projekte bekannt ist, in Riem, einem Stadterweiterungsgebiet im Osten Münchens, seine Vision in die dreidimensionale Realität umzusetzen.

„Die wichtigste Aufgabe an uns Architekten ist es, standardisierte Gepflogenheiten zu hinterfragen und im Rahmen unser Möglichkeiten spannende, interessante Alternativen zu entwickeln“, sagt Peter Haimerl, der in der deutschen Architekturszene von den einen geliebt, von den anderen als Enfant terrible gefürchtet und gemieden wird. „Die Wohnbaugenossenschaft Wogeno wünschte sich ein Raumkonzept, das für Kleinst- und Clusterwohnungen geeignet ist“, erzählt er, „und wer wäre zur Entwicklung einer solchen Lösung besser geeignet als jene kleinen Insekten, die seit Jahrmillionen in genau solchen Clusterstrukturen leben?“

Lernen von den Bienen

Und so kam es dann auch. Statt langweiliger Regelgeschoße und senkrechter Wohnungstrennwände gibt es Split-Levels und geböschte Wabenwände, die im Zickzack ineinandergreifen. Der Vorteil darin, so Haimerl, sei das visuelle Aufweiten der Wohnungen, denn durch die wabenförmige Struktur vergrößert sich das Achsmaß eines einzigen Zimmers von vier Metern auf 6,60 Meter Breite, mit ebenso breiter Glasfassade und Loggia davor. Damit hat die Wohnung genau in jener Höhe die größten Ausmaße, wo auch das Auge herumwandert und wo sich Schulterpartie und ausgestreckte Arme und Hände nach einem weiten Horizont sehnen.

Doch nicht nur die Optik profitiere davon, meint der Architekt, sondern auch die Funktionalität. Denn: „In einem Schuhschachtelzimmer habe ich Möbel mit Beinen, unter denen viel wertvoller Raum verloren geht, ob das nun Tische, Stühle, Sofas, Regale oder irgendwelche Kredenzen sind. Im Wabenhaus kann ich diese Verluste auf null reduzieren. Ich komme mit genau dem aus, was ich in einer funktionsrelevanten Höhe auch wirklich benötige.“

Gemeinsam mit einem Möbelbauer hat Haimerl sogenannte „Halbmöbel“ entwickelt, also Möbelelemente wie etwa Regale, Tische und sogar Sofas, die in der jeweils relevanten Höhe aus der geneigten Betonwand ragen oder die entlang der Böschung hinaufgeschlichtet werden. Reinhild Zenker hat auf ihrem türkisblauen „Halbsofa“ vor dem Fenster Platz genommen, und ja, die flexible Wulstlandschaft, die in unterschiedlichen Konstellationen arrangiert werden kann, lässt viele Sitz- und Liegemöglichkeiten zu und ist in der Tat sehr bequem.

Ein hexagonales Wagnis

„Und leider auch sehr teuer“, meint Yvonne Außmann, Vorständin der Wohnbaugenossenschaft Wogeno, im Rückblick. „Wir wollten etwas Neues ausprobieren und haben uns dazu entschieden, gemeinsam mit dem Architekten ein Wagnis einzugehen und die Grenzen des klassischen Wohnens ein wenig auszudehnen. Ich denke, das ist uns auch gelungen. Dieses Wohnhaus ist einzigartig, etwas noch nie Dagewesenes in Deutschland, und bietet mehr als einfach nur quadratisch, praktisch, gut.“

Die Baukosten jedoch liegen nach Auskunft der Wogeno um ein gutes Drittel über einem traditionell errichten Wohngebäude, „und auch in der Innenraumgestaltung“, so Außmann, „müssen die Mieter tiefer in die Tasche greifen als anderswo. So ein Wohnen muss man sich erst einmal leisten können.“ Trotz der höheren Baukosten wurden die insgesamt 17 Wohneinheiten im Rahmen des sozialen Wohnbaus errichtet und unterliegen einer Mietpreisobergrenze. Mit 12,50 Euro pro Quadratmeter liegt die monatliche Miete deutlich unter dem Münchner Durchschnitt.

„Ich bin jetzt 62 Jahre alt und wollte in meinem letzten Lebensviertel noch mal was ganz Neues ausprobieren“, sagt Reinhild Zenker. „Mich hat dieses Haus auf Anhieb neugierig gemacht, und abgesehen von meiner schönen Couch, die mir fehlt, bereue ich keinen einzigen Tag in meinem neuen Zuhause.“ Ob das ein Wohnmodell für die Zukunft ist? „Oh nein, das glaube ich nicht. Das ist und bleibt ein absolutes Nischenprodukt für eine kleine Minderheit. Aber die Mehrheit wird nie erfahren, wie groß sich 36 Quadratmeter anfühlen können!“

Der Standard, Sa., 2024.07.20

16. Juli 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Der Meister des nur scheinbar Unscheinbaren

Aber nicht, dass Sie mich schon wieder als Kaffeehaus- und Apfelstrudelarchitekten hinstellen! Ich habe in meinem Leben mehr gemacht als nur das!“ Hermann...

Aber nicht, dass Sie mich schon wieder als Kaffeehaus- und Apfelstrudelarchitekten hinstellen! Ich habe in meinem Leben mehr gemacht als nur das!“ Hermann...

Aber nicht, dass Sie mich schon wieder als Kaffeehaus- und Apfelstrudelarchitekten hinstellen! Ich habe in meinem Leben mehr gemacht als nur das!“ Hermann Czech zählt nicht nur zu den bedeutendsten Architekten Österreichs, sondern ist wahrscheinlich auch der letzte noch lebende Gestalter und Theoretiker, der sich intensiv mit dem Begriff der Moderne beschäftigt und der – stets mit einem schelmischen Grinsen zwischen den für ihn typischen, präzise ausgetüftelten Details – die Grundprinzipien klassischen Bauens anwendet.

Oder, um mit den Worten der Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer zu sprechen: „Czech steht mit seinen Arbeiten in mittelbarer Nachfolge von Adolf Loos. In vergleichbarer Weise gelingt ihm die subtile Verbindung von historisch Vorhandenem mit dem, was zeitgemäß gebraucht wird.“

Für genau diesen Brückenschlag wird Czech mit dem Großen Österreichischen Staatspreis 2024 ausgezeichnet. 1936 in Wien geboren, studierte er Architektur an der Technischen Hochschule und später an der Akademie der bildenden Künste. Er war Assistent bei Hans Hollein und Johannes Spalt und realisierte bald seine ersten Lokale, darunter etwa Kleines Café (1970, 1974), Wunder-Bar (1976) und Salzamt (1983). Weitere Projekte sind das Hotel Messe Wien, die Rosa-Jochmann-Schule in Simmering, der Stadtparksteg über den Wienfluss sowie die Winterverglasung auf der Galerie der Wiener Staatsoper.

Auf der Architektur-Biennale in Venedig wollte er 2023 mit dem Architekturkollektiv AKT den österreichischen Pavillon mithilfe einer Maueröffnung für die lokale Bevölkerung zugänglich machen, scheiterte aber an der Engstirnigkeit von Venedigs Bürokratie. Und so mutierte der Pavillon zu einer Chronik stadtpolitischer Verunmöglichung. Das Projekt ist stellvertretend dafür, wie es Czech liebt, sich fernab seines historisch kenntnisreichen Detailwahnsinns in den Geist einer Stadt hineinzudenken.

Czechs Bauten sind still und nur scheinbar unscheinbar. Architektur solle nur dann sprechen, wenn sie gefragt werde, sagte er einmal. Dass der Staatspreis an einen kritischen, nachdenklichen Menschen geht, der in seinem Innenstadtatelier im fünften Stock zwischen tausenden Büchern sitzt und werkt, ist Ausdruck einer neuen Sehnsucht nach Substanz. „Die 30.000 Euro Preisgeld“, so Czech, „kann ich für mein Büro gut brauchen.“

Der Standard, Di., 2024.07.16



verknüpfte Akteure
Czech Hermann

06. Juli 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Das Wunder von Tulln

Wo einst ein asphaltierter Parkplatz für 210 Autos war, erstreckt sich nun ein grüner, klimafitter Park mit Bäumen, Blumenbeeten und Fotospots für frisch vermählte Pärchen. Ein Besuch auf dem kürzlich eröffneten Nibelungenplatz.

Wo einst ein asphaltierter Parkplatz für 210 Autos war, erstreckt sich nun ein grüner, klimafitter Park mit Bäumen, Blumenbeeten und Fotospots für frisch vermählte Pärchen. Ein Besuch auf dem kürzlich eröffneten Nibelungenplatz.

Der kleine Chihuahua hat es sich auf der Holzpritsche bequem gemacht, liegt eingerollt im Schatten des Tischerls und kläfft plötzlich den sich anpirschenden Journalisten an. „Wir hätten uns nie gedacht, irgendwann einmal hier zu sitzen und eine Picknickpause zu machen“, sagen Andreas und Michelle, er Elektrotechniker, sie Kindergartenpädagogin, zwischen ihnen die Einkäufe eines ganzen Samstagnachmittags. „Wenn man weiß, wie es hier früher mal ausgesehen hat, dann weiß man auch: Dieser Platz war die Hölle! Nun ist hier ein kleines Paradies entstanden, ein neuer Park mit Holzbänken und viel Grün rundherum, und das mitten in Tulln. Einfach großartig.“
Wiese statt Asphaltwüste

Der Nibelungenplatz zwischen Altstadt und Donauufer, der sich wie ein Hufeisen um das ehemalige Minoritenkloster und das nunmehrige Rathaus und Gemeindeamt schmiegt, ist ein Erfolgsbeispiel für grünen Stadtumbau im ländlichen, niederösterreichischen Raum. Wo einst ein Parkplatz für über 200 Autos war, eine Asphaltwüste für hektotonnenweise Blech auf Rädern, erstreckt sich nun eines von Österreichs größten Projekten für klimaadaptiven Umbau. Insgesamt wurden 8000 Quadratmeter Boden entsiegelt, stattdessen gibt es nun Wiesen, Stauden, Blumenbeete sowie 38 neu gepflanzte Schwammstadtbäume, darunter Eschen, Eichen, Ulmen, Hainbuchen und Traubenkirschen.

„Tulln gilt schon seit vielen Jahren als Gartenstadt Österreichs“, sagt der Tullner Bürgermeister Peter Eisenschenk (ÖVP), „bloß war davon rund um das politische und kulturelle Herz dieser Stadt bislang nicht viel zu spüren. Also haben wir beschlossen, den Nibelungenplatz zu entsiegeln und statt in Autoparkplätze in Aufenthaltsqualität und nachhaltige Klimaresilienz zu investieren – denn ein guter öffentlicher, klimatisch adaptierter Platz hat immer auch Einfluss auf den sozialen Zusammenhalt einer Stadt und infolgedessen auch auf das persönliche Wohlbefinden der Bürgerinnen und Bürger.“

Dem Projekt zuvorgegangen war ein monatelanger Bürgerbeteiligungsprozess, bei dem sich die Tullner mit Wünschen und Projektideen einbringen konnten und schließlich aus drei Platzszenarien zwischen Mensch, Natur und Pkw wählen konnten. Die kollektive Wahl fiel zugunsten eines Hybridmodells mit großflächiger Entsiegelung und Renaturierung sowie mit einem zusammengeschrumpften Parkplatz für 54 Autos, die auf Kurzparkzonen-Basis auf wasserdurchlässigen Rasensteinen parken. Bei Flohmärkten und städtischen Veranstaltungen werden die Autos entfernt, und der grün durchwachsene Untergrund wird zum Stadtplatz für Mensch, Bühne und Krimskrams aller Art.
Die Verdrängung der SUVs

Für die Planung verantwortlich zeichnet das Wiener Büro DnD Landschaftsplanung, das sich im Sommer 2022 in einem Wettbewerb mit einem geometrischen Konzept aus Bändern, Blühstreifen und wasserdurchlässigen Flächen durchsetzen konnte. Wo einst VW Golfs und fette SUVs standen, gibt es nun Blumen- und Kräuterflächen, bunt blühende Stauden auf rotem Lavakies sowie Sitz- und Spielmöglichkeiten für die gesamte Bandbreite zwischen Generation Alpha und hochbetagten Senioren. Krönender Abschluss ist ein romantisch inszenierter Fotospot für Trauungen.

„Ohne jeden Zweifel ist dies ein großes, umfangreiches Paradebeispiel für Klimaresilienz und Klimawandelanpassung“, sagt Sabine Dessovic, Partnerin bei DnD, „aber natürlich müssen die technischen und ökologischen Maßnahmen, die man trifft, immer auch im Einklang mit den Menschen stehen. Daher habe ich für jeden einzelnen Quadratmeter, den ich plane, immer eine Art Vision oder Traumszenario, in dem ich mir überlege, wie sich die Menschen hier am liebsten aufhalten würden. Am Ende wird diese soziale Hypothese in eine Form gegossen.“ Zum Beispiel mit Sitzstufen, Arbeitstischen mit USB-Anschluss und einem Wasserspiel im Boden mit 30 Wasser- und Nebeldüsen.

Die politische, soziale und technische Anstrengung im Bereich grüner und blauer Infrastruktur in dieser Größe und Konzentration ist in Österreich einzigartig. Immer noch werden in Niederösterreich einer Studie von WWF und Umweltbundesamt zufolge jeden Tag 2,3 Hektar Boden versiegelt – also die dreifache Menge dessen, was auf dem Nibelungenplatz in jahrelanger, penibler Vorarbeit entsiegelt werden konnte. In Gesamtösterreich sind es immer noch zwölf Hektar pro Tag. Was Klimaresilienz, Biodiversität und Nahrungssouveränität betrifft, kann man die Bilanz mit einem einzigen Wort nur kommentieren: Katastrophe.

„Was? Österreich ist auf Platz eins? Ihr seid wirklich Europameister in Sachen Bodenversiegelung?“, meint Joe Reid, Gärtnerin und Landschaftsarchitektin aus Schottland, die auf Kurzurlaub in Österreich ist und mit ihren Freundinnen gerade auf einer der vielen Bänke Platz genommen hat. „Das ist aber ein trauriger Rekord. Dann ist diese lovely Greenery hier ja ein richtiges Anti-Asphalt-Wunder!“

Österreich hat sich vorgenommen, den bundesweiten Bodenverbrauch bis 2030 auf 2,5 Hektar pro Tag zu reduzieren. Tulln ist diesem Ziel – mithilfe aller Parteien im Gemeinderat außer der FPÖ – um 0,8 Hektar näher gekommen.

Der Standard, Sa., 2024.07.06

22. Juni 2024Wojciech Czaja
Der Standard

„Ich will mit der Kraft der Natur arbeiten“

Am Montag wurde der japanische Architekt Junya Ishigami mit dem Kiesler-Preis für Kunst und Architektur ausgezeichnet. Ein Gespräch über Zeit, unendliche Räume und sein neues unterirdisches Restaurant in Ube.

Am Montag wurde der japanische Architekt Junya Ishigami mit dem Kiesler-Preis für Kunst und Architektur ausgezeichnet. Ein Gespräch über Zeit, unendliche Räume und sein neues unterirdisches Restaurant in Ube.

Standard: Haben Sie in der Maison Owl schon einmal zu Abend gegessen?

Ishigami: Schon oft!

Standard:An welches Gericht erinnern Sie sich besonders gut?

Ishigami: Das Restaurant ist ein Crossover aus französischer und japanischer Küche. Mein Lieblingsgericht dort ist Fugu, Kugelfisch.

Standard:Die Architektur eines Restaurants ist immer auch Abbild der Architektur auf dem Teller. Inwiefern korrespondiert der Raum mit den darin servierten Speisen?

Ishigami: Gar nicht. Das war auch nicht die Absicht. Als der Bauherr auf mich zugekommen ist, meinte er, dass ihm drei Dinge wichtig seien, und zwar in genau dieser Hierarchie: erstens das Miteinander am Tisch, zweitens die Atmosphäre des Raumes und erst drittens die Qualität der servierten Speisen. Also habe ich mich auf die Punkte eins und zwei konzentriert, während er den Punkt drei konzipiert und bis zur Perfektion weiterentwickelt hat.

Standard:Sie haben ein unterirdisches Restaurant geschaffen, eine Art Erdraumhöhle. Wie kam es dazu?

Ishigami: Ich habe mit dem Bauherrn vor 20 Jahren schon einmal zusammengearbeitet. Damals habe ich ein Restaurant mit kalten, eckigen, hauchdünnen Stahltischen aus 4,5 Millimeter dickem Stahl entwickelt, denn er hat sich einen coolen, einen richtig kühlen Raum gewünscht. Diesmal war es umgekehrt. Er meinte, er wolle einen Raum, der eine warme, ruhige, gemütliche, ja sogar irgendwie alte Atmosphäre versprüht.

Standard:Wie baut man als Architekt etwas Altes?

Ishigami: Das ist das Problem! Ich wollte nicht mit Zitaten, Elementen und historischen Versatzstücken arbeiten, also habe ich mir überlegt, wie ich die Qualität des Alten anderweitig ins Projekt integrieren kann. Das Älteste, das wir haben, ist die Mutter Erde. Genau damit habe ich gearbeitet.

Standard:Inwiefern?

Ishigami: Ich habe die Schnittstelle zwischen neuer, technischer, künstlich geschaffener Architektur und alter, organischer, über die Jahrhunderte gewachsener Erde zelebriert.

Standard:Wie genau lautet das Rezept für dieses Restaurant? Können Sie den Bauprozess beschreiben?

Ishigami: Es handelt sich hier um ein Hanggrundstück, das wir zunächst einmal ein terrassiert und eingeebnet haben. Danach haben wir in die Erde 38 Löcher beziehungsweise Krater hineingegraben, haben in die Löcher Eisenbewehrungskörbe hineingestellt und haben die Negativform anschließend mit Beton ausgegossen. Nachdem der Beton ausgehärtet war, haben wir die rote Erde erst mit Maschinen und am Ende in Handarbeit hinausgeschaufelt. Das war wie eine archäologische Freilegung. Nachdem die Betonstümpfe freigelegt waren, haben wir die Silhouette gescannt und mit dieser digitalen Schablone dann die Glasscheiben angefertigt.

Standard:Woher kommt die rote Farbe im Beton?

Ishigami: Von der roten Erde, die sich in den offenen Betonporen festgesetzt hat. Mittels feiner Lehm- und Sandschlämme – wir bezeichnen das im Japan als Tsuchikabe – haben wir die Oberfläche fixiert.

Standard:Das klingt alles sehr aufwendig. Wie lang hat die Baustelle insgesamt gedauert?

Ishigami: Sieben Jahre. Die Qualität war wichtiger als der Wettlauf gegen die Zeit.

Standard:Wie reagieren die Restaurantbesucher auf diese Form der Architektur?

Ishigami: Sie werden ruhig.

Standard:Der österreichische Architekt Friedrich Kiesler hat im Jahr 1950 das sogenannte Endless House entwickelt. Erkennen Sie Parallelen zwischen den beiden Projekten?

Ishigami: Natürlich! Ich weiß nicht, ob die Maison Owl auch ein unendliches Haus ist, so wie das Kiesler in seinen Entwürfen gedacht hat, aber im Sinne des weichen, offenen Raumflusses, im Sinne einer Architektur ohne klassische Elemente wie etwa Wand, Decke und Fenster gibt es durchaus große Analogien. Ich bewundere Kiesler sehr!

Standard: Auch Ihre Projekte sind oft unendlich. Sie planen riesige Flugdächer, Landschaftskunstprojekte im Wald und haben erst kürzlich das ein Kilometer lange Zaishui Art Museum in der chinesischen Provinz Shandong eröffnet.

Ishigami: Das Große und Unendliche ist nie mein innerstes Grundanliegen. Es entwickelt sich aus dem Prozess heraus, denn ich will mit der Landschaft und mit der Kraft der Natur arbeiten und eine neue, künstliche Natur erschaffen. Die Größe ist ein Produkt all dieser Parameter.

Standard:In einem Interview haben Sie einmal gesagt, Sie möchten die Architektur befreien. Auch Ihre Ausstellung in der Fondation Cartier in Paris im Jahr 2018 trug den Titel „Freeing Architecture“. Aus welchen Zwängen möchten Sie sich denn befreien?

Ishigami: Le Corbusier, Mies van der Rohe und viele anderen Architekten der Moderne waren darum bemüht, eine perfekte Standardlösung zu entwickeln und diese dann in riesiger Zahl zu multiplizieren und auf die Menschen auszurollen. Wir wissen, dass dieses Konzept gescheitert ist. Ich will die Architektur aus diesem Irrglauben des standardisierten Denkens befreien. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, die immer heterogener wird. Mein Ziel ist, die Grenzen zu sprengen und auf diese Heterogenität mit einer möglichst großen Zahl an Lösungen zu antworten. Es gibt kein Richtig und kein Falsch, es gibt nur die Fülle an Möglichkeiten für uns alle.

Standard:Bevor Sie 2004 Ihr eigenes Büro Junya Ishigami + Associates eröffneten, hatten Sie einige Jahre für das Tokioter Architekturbüro SANAA gearbeitet. Welchen Einfluss hatte SANAA auf Sie?

Ishigami: Bei SANAA habe ich gelernt, die Grenzen des Status quo zu hinterfragen, die Grenzen im Kopf zu sprengen und zu mit unkonventionellen Ideen zu experimentieren. Genau das muss die Aufgabe von Architektur sein.

Standard:Ihre Website besteht aus einem einzigen Kontaktformular in Weiß und Hellgrau und minikleiner Schrift. Auch ein Experiment?

Ishigami: Nein. Ich habe schlicht und einfach keine Zeit, mich um eine gute Homepage zu kümmern. Wer mich sucht, der findet mich auch.

Standard:Wie würde Ihre perfekte Website aussehen, wenn Sie Zeit hätten?

Ishigami: Wie ein dickes, hochwertig gearbeitetes Buch.

Standard:Gibt es ein Projekt, von dem Sie träumen?

Ishigami: Ich würde gerne ein Haus ganz für mich allein planen. Ich hoffe, dass ich eines Tages Zeit dafür finden werde.

Standard:Der Friedrich-Kiesler-Preis ist mit 55.000 Euro Preisgeld dotiert. Wissen Sie schon, was Sie mit dem Geld machen wollen?

Ishigami: Meine Baustellen dauern manchmal sieben Jahre. Auch für diese Überlegung muss ich mir etwas Zeit nehmen. Ich weiß es noch nicht.

Die Ausstellung „Junya Ishigami“, kuratiert von Anna Fliri, ist noch bis 11. Oktober 2024 zu sehen; Friedrich-Kiesler-Stiftung, Mariahilfer Straße 1b, 1060 Wien.

Der Standard, Sa., 2024.06.22

08. Juni 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Kathedrale für die Wuchtel

Vergangenen Donnerstag wurde in Wien der Brick Award 2024 verliehen, eine Art Liebeserklärung an den Ziegel. Der Hauptpreis ging an das Internationale Rugby-Museum in Limerick. Sportliche Leistung.

Vergangenen Donnerstag wurde in Wien der Brick Award 2024 verliehen, eine Art Liebeserklärung an den Ziegel. Der Hauptpreis ging an das Internationale Rugby-Museum in Limerick. Sportliche Leistung.

Sieben Stockwerke, 34 Meter Höhe bis zur Dachkante, fast eine halbe Million in Handarbeit hergestellter Ziegel: Die irische Stadt Limerick, gerade einmal 90.000 Einwohner in der Statistik, dafür aber die Stadt mit der höchsten Konzentration an Kirchen im ganzen Land, hat ein neues Wahrzeichen. Im Gegensatz zu den meisten Sehenswürdigkeiten jedoch frönt man hier weder der Religion noch irgendeiner Form bildender oder darstellender Kunst, sondern ausnahmsweise dem Sport, genauer gesagt dem Rugby.

„Rugby wurde vor ziemlich genau 200 Jahren in England erfunden und gilt bis heute als der wohl wichtigste Nationalsport in Großbritannien und Irland“, sagt Architekt Tom McGlynn, Associate Partner bei Níall McLaughlin Architects. „Und Limerick, muss man wissen, ist in Irland so etwas wie die heimliche Hauptstadt dieses historischen Ballsports. Die lokale Rugby-Mannschaft zählt zu den besten Teams, die Europa zu bieten hat. So gesehen passt es einfach perfekt, dass dieses Gebäude genau hier steht und nirgendwo sonst.“

Vorgestern, Donnerstag, wurde die sogenannte International Rugby Experience, eine Art interaktives Sportmuseum und öffentliches Veranstaltungszentrum rund um die elliptische, eierförmige Wuchtel, in Wien mit dem renommierten, mittlerweile weltweit etablierten Brick Award 2024 ausgezeichnet. Der biennal verliehene Preis richtet sich an herausragende Projekte im Umgang mit dem Baustoff Ziegel, die es schaffen, die jahrtausendealte Bautradition auf technisch innovative und architektonisch anregende Weise in die Zukunft weiterzutragen.

Historische Reminiszenzen

„Für uns war vom allerersten Moment an klar, dass wir bei diesem Projekt in Ziegel bauen wollen“, sagt Architekt McGlynn. „Einerseits ist das Material die logische Fortführung der historischen, georgianischen, fast zur Gänze in Backstein errichteten Altstadt, in der wir uns hier befinden, andererseits finden Rugby und der georgianische Baustil, die ja nahezu gleich alt sind, in diesem Haus wunderbar zueinander.“ Die vertikalen Lamellen, die flachen Rundbögen und die Halb-, Viertel- und Achtelrhythmisierung der Fassade sind eine Reminiszenz an die historischen Nachbargebäude.

Kritik gab es während der Planungs- und Bauzeit seitens konservativer Kreise vor allem in Bezug auf die Bauhöhe. Ein so hohes Gebäude, und das mitten im georgianischen Limerick, an der Ecke von O’Connell Street und Cecil Street? Unmöglich! „Doch das ist zu kurz gedacht“, meint McGlynn, „denn während die klassischen Wohnhäuser im 19. Jahrhundert stets zwei- bis dreigeschoßig waren, hatten die georgianischen Architekten und Auftraggeber bei öffentlichen Bauwerken durchaus eine Vorliebe für Türme und hoch hinausragende Symbolwirkungen. In der Seele dieser Stadt verdient ein Rugby-Museum definitiv öffentliche Aufmerksamkeit.“

Auf einer Grundstücksfläche von nur 500 Quadratmetern ist es gelungen, ein breites Potpourri an Funktionen unterzubringen: Shop, Café, Veranstaltungsräume, ein Piano nobile mit anmietbarer Terrasse sowie eine mehrgeschoßige Ausstellung mit interaktiven Multimediastationen, in denen man sich mit anderen Besuchern in den Disziplinen Kicken, Laufen und Scrumming messen kann, erstellt nach einem Konzept der Londoner Agentur Event. Aus dem obersten Stock, der wie eine gläserne Krone auf dem Turm sitzt, hat man Sicht bis zum River Shannon. Architekt Tom McGlynn: „Eine Kathedrale für das Rugby!“

Überaus sakral

Überaus sakral sind auch die technischen Details, die sorgfältig übereinandergesetzten Ziegel aus einer kleinen Manufaktur in Loughborough, England, die spitz nach vorn zulaufenden Lisenen, die das Haus bis zur Attika gliedern und für dramatische Licht-und-Schatten-Spiele sorgen. Die schlanken Querschnitte sind der Bauweise geschuldet: Hinter der zum Teil vorgefertigten Fassade aus knapp 500.000 Sichtziegeln verbirgt sich eine Stahlkonstruktion.

„Wir haben nach einem hochwertigen Ziegel mit vielen unterschiedlichen Rottönen und einer haptischen, lebendigen Oberfläche gesucht“, erklärt der Architekt. „Und wenn man dann durch die Ziegelmanufaktur spaziert und dabei zusieht, wie jeder einzelne Backstein in mehreren Produktionsschritten so wie damals – vor 100, 200, Jahren – händisch hergestellt wird, dann hat man das Gefühl, dass man als Architekt dazu beiträgt, ein altes Traditionshandwerk am Leben zu halten. Daher sind wir sehr glücklich, den diesjährigen Brick Award entgegennehmen zu dürfen.“

Eingereicht wurden heuer 743 Projekte aus 54 Ländern. Zu den weiteren Preisträgern zählen das Electrical Supply Board Headquarter in Dublin (Grafton Architects), das Wohnhaus M 5605 in Buenos Aires (Estudio Arqtipo), das Intermediate House in Asunción (Equipo de Arquitectura) sowie das temporäre Kunstprojekt Types of Spaces in Logroño (Hanghar und Palma).

„Architekten stehen heute vor mehreren großen Herausforderungen“, sagt Heimo Scheuch, CEO des Ziegelproduzenten Wienerberger, „und die Gewinnerprojekte sind stellvertretend für eine moderne, nachhaltige und vor allem innovative Auseinandersetzung mit dem Baustoff Ziegel“ – und für gebaute Schönheit, die man in der heutigen Architektur oft mit der Lupe suchen muss.

[ „Brick 24. Ausgezeichnete internationale Ziegelarchitektur“. 390 Abbildungen. 284 Seiten / € 59,70. Park Books ]

Der Standard, Sa., 2024.06.08

18. Mai 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Von der Schönheit des Büffelns

Ein Raum, der 200 Studierenden zum Lernen dient, mit Licht, Aussicht, gelben Vorhängen, flexibler Möblierung und Platz für die Hängematte. Da will man noch mal inskribieren! Am Dienstag wurde das „Studihaus“ der TU Braunschweig mit dem European Mies van der Rohe Award ausgezeichnet.

Ein Raum, der 200 Studierenden zum Lernen dient, mit Licht, Aussicht, gelben Vorhängen, flexibler Möblierung und Platz für die Hängematte. Da will man noch mal inskribieren! Am Dienstag wurde das „Studihaus“ der TU Braunschweig mit dem European Mies van der Rohe Award ausgezeichnet.

Eine Flasche Wasser, frisches Obst im Plastiksackerl, daneben stilecht, wie könnte es anders sein, eine aufgerissene Packung Studentenfutter. „Einfach großartig hier“, sagt Soumaia Ismail. „Dieses Gebäude ist eine schöne, freundliche, sympathische Alternative zu all den Lernräumen und Studiensälen, die man sonst so kennt. Und man muss nicht einmal flüstern wie drüben in der Bibliothek, man kann sich ganz normal unterhalten. Irgendwie fühlt es sich an wie ein ganz großer, zweigeschoßiger Coworking-Space für Studierende.“

Verlängertes Wohnzimmer

Die 24-Jährige studiert Lehramt Deutsch und Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig. Sie teilt sich den Tisch heute mit Khalil Daboussi, ebenfalls Deutsch und Geschichte, und Lennardt Fölz, seines Zeichens Wirtschaftsinformatiker, der eigentlich ganz woanders studiert, aber gerne die 30-minütige Busfahrt auf sich nimmt, um hier im Kollektiv zu büffeln. „Coworking-Space? Meinst du? Für mich ist das eher wie ein verlängertes Wohnzimmer, fast noch gemütlicher als bei mir zu Hause und außerdem viel, viel inspirierender.“

Genau deshalb wurde das Studierendenhaus auf dem dicht begrünten, bewaldeten Campus der TU Braunschweig, im Uni-Jargon längst als „Studihaus“ und „Glasi“ bekannt, mit dem European Mies van der Rohe Award 2024 ausgezeichnet. Der Preis wird biennal vergeben und richtet sich an herausragende Architekturleistungen innerhalb der EU. Letzten Dienstag wurde er – unter windigem und dramatisch bewölktem Himmel – vor dem Mies-van-der-Rohe-Pavillon in Barcelona verliehen. Eine Statue, eine Urkunde, 60.000 Euro stürmisch obendrauf.

„Was für eine unglaubliche Ehre! Aber auch eine schöne Bestätigung, dass wir uns nach der Corona-Pandemie und trotz all der digitalen Kommunikations-Tools, die uns heute zur Verfügung stehen, immer noch nach ganz realen Räumen der Begegnungen sehnen“, sagt der Berliner Architekt Gustav Düsing, der das Projekt gemeinsam mit seinem ehemaligen Studienkollegen Max Hacke realisiert hat. „Für mich ist das Studihaus ein von allen Hierarchien befreiter Raum, der 200 bis 250 Studierenden die Möglichkeit gibt, einander zu begegnen und – je nach Lust und Laune – miteinander oder nebeneinander zu lesen und zu lernen.“

Die Studierenden haben die Einladung mehr als wörtlich genommen. Denn was ursprünglich als Zeichensaal ausschließlich für angehende Architekten und Bauingenieurinnen gedacht war, wurde in kürzester Zeit von allen Studienrichtungen der TU gleichermaßen in Beschlag genommen. „An manchen Tagen ist es hier ganz schön voll“, sagt Soumaia Ismail. „Und manchmal passiert es sogar, dass sich Studierende draußen anstellen und warten, bis endlich wieder mal ein Stuhl frei wird.“ Wer nicht die nötige Geduld mitbringt, der nimmt halt stattdessen die Hängematte mit und spannt sie sich von einer Stütze zur nächsten. Auch das ist schon vorgekommen.

Hinter der poetischen, scheinbar ordnungslosen Lebendigkeit des Gebäudes (Baukosten drei Millionen Euro) verbirgt sich ein simples, aber bestechend logisches Konstruktionsprinzip: ein Raster aus drei mal drei Meter großen Feldern, insgesamt 30 mal 30 Meter im Quadrat, dazwischen ein Stützen- und Trägerwald aus zehn mal zehn Zentimeter großen Stahlprofilen, die reinste Stangenware aus dem Stahlkatalog, insgesamt 121 Stützen und 155 dazwischen eingehängte Träger mit standardisierten Knoten, alles miteinander verschraubt, jederzeit wieder demontierbar, oben 49 darauf befestigte Deckenplatten, rundherum 81 Stück Geländer, neun Treppenläufe, mal innen, mal außen platziert, sämtliche Lichtleisten und Steckdosen eingeschnitten und bündig integriert, je nach Nutzung vier bis acht Stück pro Stütze, rundherum 64 Fassadenverglasungen und über allem drüber 900 Quadratmeter Trapezblechdach.

„Als Architektur-Connaisseur kommt einem das Gebäude von Anfang an vertraut vor, als hätte man es schon hunderte Male gesehen“, sagt Gustav Düsing, der sich seit seinem Studium an der Architectural Association (AA) in London intensiv mit den Utopien von Cedric Price und Yona Friedman beschäftigt und dessen Architektur nicht von ungefähr an Jean Prouvé, Richard Rogers und Ludwig Mies van der Rohe erinnert, doch im Gegensatz zu den historischen Inspirationsquellen in reinstes Weiß getaucht und bis zur Farblosigkeit entsättigt scheint. „Doch dann merkt man: Obwohl diese Art von Gebäude in der Architekturtheorie schon so oft erdacht und bis zur letzten Schraube entwickelt wurde, hat es noch nie eines davon in die Realität geschafft.“ Bis jetzt.

Dank des dick eingedämmten Dachs, der automatisierten Durchlüftung und des rundum laufenden Vordachs, das die hoch im Himmel stehende Sommersonne abblockt, wirkt das Haus angenehm temperiert. Und sogar die Akustik – sonst ein Riesenproblem in Stahl-Glas-Bauten – hat man mit Teppich, perforierten Deckenpaneelen und dottergelbem Vorhang, 50 Laufmeter in Summe, zum Teil über zwei Geschoße nach unten fallend, wunderbar in den Griff gekriegt.

„Das Beste am neuen Glasi ist, dass man hier Leuten begegnet, mit denen man bislang keinerlei Berührungspunkte hatte, meistens aus ganz anderen Fächern kommend“, sagt Layla Camara, Psychologiestudentin, „und dann sitzt man mit ihnen plötzlich an einem Tisch und lernt.“ Ihr Lieblingsplatz? „An einem warmen Frühlingstag draußen auf dem Balkon. Es gibt nichts Schöneres. Absolut preisverdächtig!“

Der Standard, Sa., 2024.05.18

11. Mai 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Irrwege aus Asphalt

Der Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß widmet sich in einem filmischen Mammutwerk der immer noch ungebrochenen Dominanz des Automobils und ihren Auswirkungen auf Stadt und Land. Dabei ginge es besser, sagt er – man muss nur wollen.

Der Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß widmet sich in einem filmischen Mammutwerk der immer noch ungebrochenen Dominanz des Automobils und ihren Auswirkungen auf Stadt und Land. Dabei ginge es besser, sagt er – man muss nur wollen.

Weitwinkel: Autobahn. Nahaufnahme: Gaspedal. Dazu eine Stimme in gemütlich-lakonischem Bairisch: „Wer einige Wochen im deutschen Verkehrsgewühl überlebt hat, der weiß es: Das Gesetz der deutschen Straße ist hart, aber gerecht. Jeder, der ein Fahrzeug steuert, hat Vorfahrtsrecht. Je größer das Auto, desto größer das Vorfahrtsrecht.“ Die Filmreportage des Bayerischen Rundfunks mit dem Titel Verhaltensweisen deutscher Autofahrer wurde im April 1964 gesendet, könnte aber auch von heute sein.

Zahllose Dokumentar- und Spielfilme über den Menschen und sein Verhältnis zum Auto sind in diesen 60 Jahren erschienen, von Jacques Tatis Trafic (1971) über David Cronenbergs Crash (1996) bis zu Daniel Abmas Autobahn (2019). Der Tenor ist ähnlich: Das Automobil dominiert unsere Köpfe, unsere Körper, unsere Städte und unser Land. Aber stimmt das noch? Gibt es nicht längst Begegnungszonen, Pop-up-Radwege, Lastenrad-Initiativen, kurz: die Verkehrswende?

Hört man manchen Stimmen der bundesdeutschen Politik zu, scheint sich seit 1964 nicht viel getan zu haben. In Berlin verkündete die neue Stadtkoalition nach der Senatswahl 2023, sie wolle „keinen Parkplatz opfern“, die zur „Spaß-haben-Geld-verdienen-danach-alles-egal“-Partei mutierte FDP erfindet immer absurdere Argumente gegen ein Tempolimit, und eine endlose Abfolge von anderstalentierten Verkehrsministern, die im blauen Dunst der Autoindustrie ihr Biotop fand, trieb die Deutsche Bahn in die dysfunktionale Anarchie und machte sie zum Gespött Europas. Und Österreich? Wir haben zwar keine dominante Autoindustrie, sind aber anscheinend, wie Bundeskanzler Karl Nehammer letztes Jahr verkündete, ein „Autoland“.

Es liegt also vieles im Argen. Dieser Überzeugung ist auch der Filmemacher Reinhard Seiß. Der studierte Raumplaner ist so etwas wie der Wutbürger der österreichischen Baukultur, seit er 2007 mit seinem Buch Wer baut Wien? den Finger in viele noch heute schwärende Wunden legte. Aber er zeigt auch, wie es besser geht, etwa 2013 in seinem Film Häuser für Menschen.

Schadensfall Auto

Beides tut er auch in seinem neuen Film Der automobile Mensch – Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege, der am kommenden Montag im Wiener Gartenbaukino seine Premiere feiert. Mehr als vier Jahre lang hat er daran gearbeitet, biblische 373 Minuten lang ist das Ergebnis, aber keine Angst, sagt Seiß, niemand müsse sich das ganz anschauen. Stattdessen lassen sich die 51 Kapitel nach Bedarf zusammenstellen. Was hat ihn dieses Mal auf die Straße getrieben? „Es gibt wenige Dinge, die so irrational und von so vielen absurden Behauptungen geprägt sind wie unser Verhältnis zum Autoverkehr“, sagt er. Ein Beispiel von vielen: Der immer noch beliebte Sager vom Autofahrer als „Melkkuh der Nation.“

Der Film nimmt uns auf eine Autofahrt durch Österreich, Deutschland und die Schweiz, zeigt, wie nach dem längst widerlegten Motto „One more lane will fix it“ immer noch neue Straßen gebaut werden, auch dort, wo man sie eigentlich gar nicht braucht. Verkehrsforscher wie Hermann Knoflacher, der Grandseigneur der Autokritik, kommen zu Wort, aber oft sprechen die Bilder von zähflüssigem Verkehr auf leinwandbreitem Mehrspurasphalt für sich. Das Auto – ein Schadensfall für die Gesellschaft.

Dabei zielt Seiß darauf, die von ihm diagnostizierten absurden Behauptungen zu widerlegen. Etwa das oft vorgebrachte „Schön und gut, aber auf dem Land brauchst du halt das Auto!“ Das stimmt zwar, aber ist kein Naturgesetz. Dass es auch anders geht, zeigen die Szenen aus der Schweiz. Der Postbus, der mehrmals am Tag im 300-Einwohner-Dorf Waltensburg in Graubünden hält, dank schweizweit koordinierten Takts mit der Bahn so abgestimmt, dass man es in zwei Stunden nach Zürich schafft. Die Bahnen, die von Supermarktketten zum Warentransport genutzt werden, mit Containern, die an kleinen Dorfbahnhöfen verladen werden. Und nein – das macht der Film deutlich – das vermeintliche Argument „Ja gut, das ist halt die Schweiz“ ist keines. „Es sind keine ominösen Mächte, die diese Verhältnisse schaffen, sondern immer Entscheidungen der Politik“, betont Seiß.

Flächenfraß-Turbo

Wenn es heißt, man brauche eben Straßen, weil man sonst nicht schnell genug von A nach B komme, wird gerne unterschlagen, dass die Irrwege aus Asphalt nicht nur lineare Verbindungen sind, sondern auch ein Turbo-Generator für Flächenfraß. Die Lobau-Autobahn würde nicht nur Abgase in die Natur pusten, sondern auch einen neuen Gewerbe-Speckgürtel in Wiens Nordosten erzeugen, und die umstrittene Ostumfahrung Wiener Neustadt ginge Hand in Hand mit 575.000 Quadratmetern neuer Gewerbeflächen auf wertvollen Ackerböden. Und das in einer Stadt, die jetzt schon den höchsten Flächenverbrauch pro Person in Österreich aufweist.

Doch es gibt auch Lichtblicke, auf die Seiß seine Kamera richtet. Lienz in Osttirol, wo man die Verkehrsberuhigung im Stadtkern gegen die Kassandrarufe der Wirtschaft durchsetzte. Ottensheim in Oberösterreich mit seiner Schiffsverbindung nach Linz. Das norddeutsche Bremen mit seiner konsequenten Pro-Fahrrad-Politik. „Es geht schlicht darum, was wir als Lebensqualität definieren“, sagt Seiß. „Die Art der Fortbewegung spielt dafür eine wesentliche Rolle.“

Nicht nur das Thema erinnert an die BR-Dokumentation aus dem Jahr 1964, sondern auch der Tonfall. Denn als Sprecher wählte Seiß den bayerischen Kabarettisten Christian Springer, der die automobilen Welten mit rollendem R und rustikalem Sarkasmus dialektgefärbt kommentiert. Für Seiß eine Reminiszenz an seine Jugend auf dem Land, als der Bayerische Rundfunk ein Fenster zur Welt aufmachte. „Wienerisch wäre zu bösartig, aber Bairisch ist charmant und treffsicher, gemütlich und gfeanzt.“

Das stimmt zwar, doch nach zwei Stunden wird der süffisante Tonfall, in dem die Fehlleistungen „der Politiker, der Architekten und der Neubaugebiete“ kommentiert werden, zu einer etwas einseitigen und eintönigen Dialektik. Mehr Fakten, Daten und andere Stimmen hätten viele der Argumente gegen den Autowahn ergänzen und objektiv untermauern können. Doch die Stoßrichtung stimmt, und wenn es darum geht, die 180-Grad-Verkehrswende hinzubekommen, kann eine gute Dosis Polemik nicht schaden.

Der Standard, Sa., 2024.05.11

27. April 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Nicht so gute Plätze

Das kürzlich erschienene Büchlein „Sh*tscapes“ widmet sich Fehlplanungen im urbanen Raum und fasst die 100 schlimmsten Katastrophen zusammen. Hinter dem ersten Lachen verbirgt sich eine ernsthafte Botschaft.

Das kürzlich erschienene Büchlein „Sh*tscapes“ widmet sich Fehlplanungen im urbanen Raum und fasst die 100 schlimmsten Katastrophen zusammen. Hinter dem ersten Lachen verbirgt sich eine ernsthafte Botschaft.

Ob es wohl eine Bedienungsanleitung zum Verwenden dieser Bank gibt? „Ja, das wäre nicht schlecht“, sagen Paul Bourel und Vladimir Guculak, die das eigentümliche Sitzobjekt in Brixton gefunden haben, einem beliebten multikulturellen Stadtteil im Süden von London. „Denn obwohl es rundherum viele Bars und Lokale gibt, obwohl hier viele Jugendliche und Studenten abhängen, ist hier selten jemand anzutreffen. Und das ist schade, denn gut gestaltete Sitzbänke führen dazu, dass urbane Sozialisation entsteht, dass Menschen ins Gespräch kommen und Kontakte knüpfen. Eine schlechte Planung wie diese jedoch hat den gegenteiligen Effekt.“

Die gegenständliche Donut-Bank findet sich als geografisch und urheberisch anonymisiertes Bildbeispiel #28 im soeben erschienenen Büchlein Sh*tscapes. 100 Mistakes in Landscape Architecture, einem Kompendium von hundert Fehlern und „beschissenen Landschaften“ – so der wortgewitzte Buchtitel – im öffentlichen Raum, eine Art Handbuch für Fachleute und Entscheidungsträger. „Es geht nicht darum, irgendjemanden anzuprangern oder sich über Fehlplanungen, minderwertige Ausführungen oder schlechte Pflege und Instandhaltung lustig zu machen“, so die beiden Autoren, die in London das Landschaftsplanungsbüro studio gb leiten und an der Bartlett School of Architecture unterrichten. „Wir wollen bloß anschaulich machen, wie wenig Bewusstsein es in diesem Bereich gibt und wie viel unnötiger Schaden dadurch entsteht.“

So wie zum Beispiel in Elephant & Castle, Bild #22: Mit viel Sorgfalt wurde die Pflasterung optisch fortgesetzt, als eingeklebtes Steinbett in einem metallischen Schachtdeckel. Allerdings ist die Ausführung minderwertig, Stein und Mörtel haben der Belastung der darüberfahrenden Autos nicht standgehalten.

Wie zum Beispiel in Stockwell, Bild #60: Nicht nur die Aussparung mit runder Metallmanschette scheint winzig klein gewählt, auch die beiden Holzpfähle, die in der Regel in der Anwuchsphase als eine Art Krücke an den Baum gebunden werden, wurden noch immer nicht entfernt und beschädigen auf diese Weise die Rinde.

Geschrumpfter Fertigrasen

Oder etwa in Aldgate, Bild #69: Aufgrund mangelnder Bewässerung und großer Hitze sind die frisch verlegten Fertigrasenmatten geschrumpft. Kalkuliert man die benötigten Personalkosten für Pflege und Bewässerung mit ein, würde sich ein automatisches Bewässerungssystem innerhalb weniger Jahre amortisieren. Die Tauben indes scheint das wenig zu tangieren.

„Beispiele für Fehlplanungen und minderwertige Ausführungen wie diese gibt es nicht nur in London“, sagen Bourel (35) und Guculak (36). „Doch in Großbritannien ist die Dichte höher als anderswo.“ Den Grund dafür orten die beiden Landschaftsarchitekten vor allem in den Eigentumsstrukturen, konkret in der kontinuierlichen Privatisierung öffentlicher Räume und Institutionen in der Ära Margaret Thatcher. „Bei vielen Straßen, Plätzen und Parkanlagen in London handelt es sich um private Räume mit öffentlichem Nutzungs- und Aufenthaltsrecht. Daher gibt es auch kein übergeordnetes Interesse an der Pflege und Erhaltung.“

Und das ist ein ziemliches Problem. Einerseits gibt es eine nationale, überaus ambitionierte Quote, die vorschreibt, die städtischen Freiräume bis 2050 mit einer Deckung von 16,5 Prozent zu begrünen und mit Bäumen zu bepflanzen, zudem ist im November letzten Jahres der sogenannte Biodiversity Net Gain (BNG, Biodiversitäts-Nettogewinn) in Kraft getreten, der Bauträger und Immobilienentwickler verpflichtet, in die Artenvielfalt von Fauna und Flora zu investieren. Andererseits hat eine Studie der UK Forestry Commission kürzlich ergeben, dass 30 Prozent aller städtischen Bäume innerhalb der ersten zwölf Monate nach der Pflanzung absterben. Die mittelfristige Mortalität urbaner Bäume beträgt sogar 50 Prozent.

„Das ist eine Katastrophe“, so die beiden Buchautoren. „Letztendlich ist das nicht nur ein volkswirtschaftlicher Schaden, sondern auch eine sinnlose Zerstörung sozialer und mikroklimatischer Potenziale.“ Klimaschutz und ökologische Verantwortung, so das Fazit nach hundert durchgeblätterten Bildbeispielen, sind keine Privatsache. Die urbane Überlebenssicherheit gehört in öffentliche Hände gelegt.

„Sh*tscapes. 100 Mistakes in Landscape Architecture“, erschienen bei Jovis. Die Autoren bitten um Shitscape-Fotobeispiele aus aller Welt, per Mail an info@studiogb.uk.

Der Standard, Sa., 2024.04.27

02. April 2024Wojciech Czaja
db

Platzumgestaltung Praterstern in Wien

Der Praterstern ist ein Ort mit vielen Menschen und vielen sozialen Friktionen. Nach etlichen glücklosen Umplanungen in den letzten Jahrzehnten wurde der Platz nun ein weiteres Mal erneuert – diesmal allerdings behutsam und nicht nur mit der Kraft von Architektur und Stadtplanung, sondern auch in enger Zusammenarbeit mit der Sucht- und Drogenkoordinationsstelle der Stadt Wien.

Der Praterstern ist ein Ort mit vielen Menschen und vielen sozialen Friktionen. Nach etlichen glücklosen Umplanungen in den letzten Jahrzehnten wurde der Platz nun ein weiteres Mal erneuert – diesmal allerdings behutsam und nicht nur mit der Kraft von Architektur und Stadtplanung, sondern auch in enger Zusammenarbeit mit der Sucht- und Drogenkoordinationsstelle der Stadt Wien.

Die Straßenbahn 5, eine der längsten Linien Wiens, dreht gerade ihre Endschleife, der Bus 80A fährt in die Haltestelle ein, oben die S-Bahn mit Bahnsteigdurchsage, unten ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene, dazwischen liegt, irgendwo auf einer der vielen Bänke, ein obdachloser Mann, Schlafsack, Plastiktüte, Weißwein im Tetrapack.

Ein ganz normaler Moment am Praterstern, könnte man meinen, auf einem der quirligsten öffentlichen Stadträume Wiens, sagen die einen, mitten im ewigen Sorgenkind und Hotspot von Drogen, Alkohol und Kriminalität, sagen die anderen. »Und beides ist irgendwie richtig«, sagt Isabella Lehner-Oberndorfer, Sicherheitsbeauftragte in der Sucht- und Drogenkoordinationsstelle der Stadt Wien, »denn der Praterstern ist ein hochfrequentierter Ort, an dem Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen zusammenkommen, und das sorgt naturgemäß für Friktionen.« Pro Tag, so benennt es die Statistik, laufen hier 150 000 bis 200 000 Menschen über den Platz, steigen ein und aus und um, verlieren sich im Dickicht der sozialen Kontraste.

Schön ist der Platz schon lange nicht mehr. Nach den Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg wurde der alte Nordbahnhof gesprengt und durch einen hässlichen Nutzbau in betonierter Hochlage ersetzt. Albert Wimmer stülpte 2007 eine gläserne Bahnhofshalle darüber, Boris Podrecca errichtete drei Jahre später eine Platzüberdachung mit ganz viel Metallgestänge und verdeckte damit die Bahnhofsuhr, und irgendwie wollte der Platz nie so richtig in die Gänge kommen. Statt in die Architekturgazetten schaffte es der Praterstern als Tatort von Vergewaltigungen und Messerstechereien immer bloß in die Boulevardmedien.

»Als 2014 klar wurde, dass die lokale Polizeistation von hier wegzieht und die alte Wachstube mitten am Platz frei wird«, erzählt Eric-Emanuel Tschaikner, CEO von KENH Architekten, »wurden wir eingeladen, für einen Gastronomen das Haus umzubauen, ein gestalterisches Konzept zu entwickeln und den unmittelbaren Freiraum rund um das Gebäude mitzuplanen.« Mit Erfolg. Der Gastronom pachtete das in den 1980er-Jahren errichtete Polizeihäuschen und startete mit den Planungen.

Als kurz darauf die Stadt Wien auf das Vorhaben aufmerksam wurde, praktischerweise knapp vor den Wiener Gemeinderatswahlen 2015, beschloss sie, die Ideen des Privatiers aufzugreifen, einen öffentlichen Wettbewerb für eine abermalige Umplanung des bis dahin erfolglosen, von vielen Menschen gemiedenen Platzes auszuschreiben, auf dem 2018 ein offizielles Waffen- und Alkoholverbot ausgehängt wurde, dem einzigen Ort mit Restriktionen dieser Art in ganz Wien – und die Renaissance des Pratersterns zum SPÖ-Wahlkampfthema hochzuzüchten.

KENH Architekten nahmen am zweistufigen Realisierungsverfahren teil und holten sich aus strategischen Gründen das Wiener Landschaftsplanungsbüro DD mit an Bord, schließlich haben Anna Detzlhofer und Sabine Dessovic mit öffentlichen Auftraggeber:innen und Projekten im öffentlichen Raum schon mehr als reichlich Erfahrung. Mit insgesamt 40 »Interventionen«, die punktuell ansetzen, ohne den bestehenden Platz komplett auf den Kopf zu stellen, belegte die Arbeitsgemeinschaft den 1. Platz. Im Herbst 2021 starteten die Bauarbeiten, im Sommer darauf wurden die letzten Arbeiten fertiggestellt.

»Am allerwichtigsten war uns, ein neues Narrativ auf den Platz zu bringen«, sagt Architekt Tschaikner. »Wir wollten das Stigma als Problemort mit Drogen, Alkohol und Kriminalität loswerden und stattdessen einen Platz für alle schaffen – für Kinder und Jugendliche, für Anrainer:innen aus der Umgebung, für Leute auf dem Weg von A nach B, aber natürlich nach wie vor einen Ort für Menschen aus marginalisierten Gruppen, die hier unter freiemHimmel ein Zuhause gefunden haben.« In enger Zusammenarbeit mit der Sucht- und Drogenkoordinationsstelle der Stadt Wien, die auf dem Platz schon seit vielen Jahren Sozialarbeit leistet und die Ängste und Bedürfnisse der unterschiedlichen Stakeholder gut kennt, wurde ein Sitz- und Aufenthaltskonzept entwickelt.

Dieses umfasst ein Spektrum an unterschiedlich dimensionierten Betonringen, die im Grundriss die Form des Praterstern-Kreisverkehrs aufnehmen. Bei den sogenannten Pratoiden (Copyright KENH) handelt es sich um Betonfertigteile in verschiedenen Radien, mal mit ebener Oberfläche, mal geböscht und gewölbt, mal mit laminierten Sitzauflagen, mal ohne, mal mit Armlehnen und Aufstehhilfen, mal ohne. Um das subjektive Sicherheitsgefühl am Platz zu steigern, wurden die scheinbar über dem Boden schwebenden Betonringe mit einer indirekten Beleuchtung ausgestattet. Ergänzt wird das Sitzkonzept von durchaus poetischen Betoneiern, die ein wenig wie frei platzierte Hinkelsteine mal da, mal dort herumliegen.

»Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen sich eher in die Nähe von anderen wagen und sich dort wohlfühlen, wenn die Blickrichtungen voneinander wegweisen und nicht zueinander gerichtet sind«, erklärt Isabella Lehner-Oberndorfer. Auf den Betonringen sitzen die Menschen an warmen Tagen Rücken an Rücken, das scheint zu funktionieren. Die Platzierung der Sitzelemente folgt der Geografie des Platzes: Entlang der hochfrequentierten Wege gibt es eher Einzelsitze und geböschte Oberflächen fürs schnelle Hinsetzen zwischendurch, an den etwas abgelegenen Pfaden wiederum sind eher größere Sitz- und Liegeflächen zu finden – für die, die zu zweit kuscheln oder einfach nur alleine schlafen wollen. Interessantes Learning für andere Städte: »An den meisten Problemorten mit marginalisierten Gruppen und sozialen Friktionen werden die Sitzgelegenheiten in der Anzahl stark reduziert«, sagt Lehner-Oberndorfer. »Wir haben das Gegenteil gemacht! Wir haben so viele Sitzmöglichkeiten geschaffen, dass Menschen mit Alkoholproblemen und Obdachlosigkeiten das Angebot gar nicht ausfüllen können. Es gibt genug Verweilorte für alle.« Insgesamt wurden 192 offizielle Sitzmöglichkeiten geschaffen. »Und ja, das Konzept ist aufgegangen, es gibt keinerlei Raumkonkurrenz.«

Neben dem Sitzen zeichnet sich der mit »Interventionen« erfrischte, erneuerte Platz durch Licht, Grün und Wasser aus. Das Beleuchtungskonzept wurde vereinheitlicht und durch energieeffiziente LED-Masten ersetzt, die Versiegelungsfläche wurde reduziert, und wo es die Wege und Platzüberquerungen zugelassen haben, wurden begrünte Flächen vorgesehen. Um die genauen Flächen und Konturen zu bestimmen, wurden die Wege und Trampelpfade der Menschen analysiert. Schließlich wurde entlang des Kreisverkehrs Boris Podreccas Metallkranz entfernt, der den Praterstern einst wie eine Dornenkrone einfasste.

»Wir haben den Platz zum Teil großflächig entsiegelt, neue Rasenflächen geschaffen und das bestehende Material wie etwa Betonplatten und Granitpflaster behutsam entfernt und im Sinne der Kreislaufwirtschaft an anderer Stelle wieder eingebaut«, sagt Sabine Dessovic, Partnerin bei DD Landschaftsplanung. Anstelle von Podreccas Einfassung, der für die Umgestaltung des Pratersterns übrigens keinerlei Verständnis hat und die Begrünungsmaßnahmen als »städtebauliche Gaudi«, »grünen Populismus« und »pseudo-ökologisches Krebsgeschwür« bezeichnet, wurde ein 1,4 m hoher Begrünungsring geschaffen, der v. a. als emotionaler, atmosphärischer Sichtschutz dient.

»Wir wollten den Autoverkehr etwas ausblenden, gleichzeitig aber keine neuen visuellen Barrieren schaffen. Daher haben wir die Höhe beschränkt. Zugleich haben wir uns um eine Auswahl mit robusten, klimaresistenten Pflanzen und möglichst langer Blütenabfolge bemüht.« Weitaus komplexer war das Pflanzen der insgesamt 44 neuen Bäume – darunter Platanen, Kastanien, Robinien, Ulmen und Zelkoven. Um das Urban-Heat-Phänomen nicht erst in vielen Jahren, sondern schon jetzt einzudämmen, entschied sich DD, zum Teil erwachsene, bis zu 20 Jahre Bäume einzusetzen.

»Und das war alles andere als einfach«, so Dessovic. »Wir sind den gesamten Platz mit dem ober- und unterirdischen Leitungs- und Installationsplan abgegangen, der aussieht wie ein wilder Spaghetti-Teller, und ich kann mit bestem Gewissen sagen: Es gibt heute keinen einzigen Quadratmeter mehr, an dem man noch einen weiteren Baum pflanzen könnte. Alle Reserven sind ausgeschöpft, mehr geht nicht mehr.« Schon jetzt ist die subjektiv gefühlte Temperatur im Hochsommer, wie Studien ergeben haben, um 10 bis 15 Grad Celcius kühler als die tatsächliche Umgebungstemperatur.

Highlight des neuen Pratersterns jedoch – unscheinbar in der kalten Jahreszeit, ein erfrischendes Paradies im heißen Sommer – ist das 500 m² große Wasserspiel in der innenstadtzugewandten Platzmitte. Aus rund 250 Auslässen in der Bodenplatte sprudeln je nach Wetter in einer auf das jeweilige Klima abgestimmten Choreografie Wasser und feuchter Nebel. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene aus allen möglichen Kulturen und Lebenswelten laufen an heißen Sommertagen durch die Wolke aus Abkühlung und Lebensfreude.

»Wir machen wirklich viele Projekte im öffentlichen Raum«, sagt Sabine Dessovic, »aber wir haben selten so viel positive Resonanz in Form von E-Mails und Anrufen erhalten, von Medien, aber auch von Menschen, die den Praterstern nun neu kennengelernt haben und uns kontaktieren und sich für die Planung bedanken möchten.« Die Dutzenden, Hunderten, Tausenden Silhouetten, die sich in der allsommerlichen Hitze mit Wasser umgeben, tun ihr Übriges. Ruhe, Kindergeschrei und zwischenmenschliches Chaos an einem Ort in lokaler Überlagerung. Schönheit, lehrt uns dieser Ort, ist in allererster Linie ein sozialer Aspekt. So gesehen ist der Praterstern nun endlich schön geworden.

db, Di., 2024.04.02



verknüpfte Bauwerke
Umbau Praterstern



verknüpfte Zeitschriften
db 2024|04 Aussenraum

23. März 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Theo, wir fahr’n nach Jesolo!

Die jüngste Ausstellung im Architekturzentrum Wien widmet sich der Anatomie des Reisens – nicht nur mit einer profunden Kritik am Status quo, sondern auch mit inspirierenden Beispielen für einen sanften, nachhaltigen Tourismus.

Die jüngste Ausstellung im Architekturzentrum Wien widmet sich der Anatomie des Reisens – nicht nur mit einer profunden Kritik am Status quo, sondern auch mit inspirierenden Beispielen für einen sanften, nachhaltigen Tourismus.

Und üban Woid,
do werma drüberfoahn,
mit Skilift und Chalet-Resort.
Des Umweltamt, des sogt:

„Des geht ned, weil
do is a Schutzgebiet.
Do wohnt ein wahrer Partisan,
und heißen tut er Auerhahn.“

Des Hendl is zwoa ned sehr gscheit,
doch gscheita ois die Seilbahnleit.
Des Schlimmste an dem Viech
is, dass der Vogl a no unbestechlich is.

Der Bürgermeister Blues von Marcus Hinterberger, 2022 erschienen, ertönt in der Station sieben: Natur. Privatisierung der Schönheit . Über der hölzernen Ausstellungswand mit eingebauten Kopfhörern hängt ein lilafarbener Banner von der Saaldecke, ganz so wie auf einer Ferienmesse, auf der man sich mit Sackerln voller Reisekataloge von einem Stand zum nächsten schleppt, nur ist hier alles ein bissl anders. Statt paradiesischen, verheißungsvollen Versprechungen mit almgrünen und himmelblauen Fotos gibt’s Zahlen, Daten, Fakten – und jede Menge Kritik am heute klassischen Massen- und Individualtourismus.

„Der Tourismus hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert“, sagen die beiden Kuratorinnen Katharina Ritter und Karoline Mayer, während sie mit dem STANDARD durch die fiktive Messehalle im Architekturzentrum Wien marschieren, gestaltet nach einem Konzept von ASAP Pitro Sammer Architekten, „denn immer mehr Menschen reisen immer öfter, immer weiter und in immer kürzeren Aufenthalten. Und das hat nicht nur Auswirkungen auf die Mobilität, sondern auch auf viele andere Aspekte – wie etwa Hotelbetrieb, Energieeinsatz, Bodenpolitik, Landwirtschaft, Immobilienwirtschaft, lokale und regionale Lebensqualität sowie steigende Wohn- und Lebenserhaltungskosten.“

Wir lernen: In der Glücksspielmetropole Macau (Sonderverwaltungszone China, ehemals Portugal) macht der Tourismus knapp 51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Die 218 in Europa registrierten Kreuzfahrtschiffe emittieren 4,4-mal mehr Schwefeloxid als alle (!) Autos in ganz Europa. Und: Musterfamilie Gruber, die erst gar kein Auto besitzt und sich vegan ernährt, dafür aber einmal pro Jahr mit den Kids nach Costa Rica fliegt, um dort zwei Wochen lang Meeresschildkröten zu retten, hat einen höheren CO2 -Fußabdruck als Musterfamilie Huber, die mit zwei Autos im Speckgürtel wohnt, sich das ganze Jahr über von Schnitzeln ernährt und einen All-inclusive-Urlaub in Jesolo bucht.

Storytelling-Elemente

Spätestens hier hat man verstanden, warum die Ausstellung den wortspielerischen, doppeldeutigen Titel Über Tourismus trägt. Anhand von Grafiken, konkreten Beispielen und spielerischen Storytelling-Elementen wie mit den Grubers und Hubers werden die Inhalte sehr anschaulich transportiert. Dass die Zusammenstellung über den Hallstatt-Horror, die künstlich beschneiten „weißen Bänder“ in den Alpen und die strukturellen, allseits bekannten Auswirkungen von Kitzbühel, Wörthersee und Salzkammergut weit hinausgehen, versteht sich bei diesem Kuratorinnenduo, das vor drei Jahren bereits den vielbeachteten Ausstellungsschocker Boden für alle konzipiert hatte, fast von selbst.

„Aber wir wollen nicht nur klagen, anprangern und Kollateralschäden aufzeigen“, sagen Ritter und Mayer, „wir wollen auch positive Best-Practice-Beispiele für einen sanften, nachhaltigen Tourismus vor den Vorhang holen, denn schließlich sind wir eine Ferienmesse. Also zumindest fast.“ Rund 30 alternative, durchaus nachahmenswerte Reisestrategien gibt es in der Ausstellung zu entdecken – von der Alm über Städtereisen der anderen Art bis hin zu innovativen Konzepten für Wertschöpfung, Landschaftspflege und karitativen Tourismus, von dem ausnahmsweise die Schwächsten der Gesellschaft profitieren: Obdachlose, Geflüchtete, Gewaltbetroffene.

Mit dem Magdas Hotel, betrieben von der Caritas, mit geflüchteten Menschen an der Bar und Rezeption, gibt es nun erstmals ein schönes, durchaus schickes und absolut bobotaugliches Social-Business-Hotel mitten in Wien. Ein ähnliches Konzept verfolgt ein anderer Trägerverein mit seinem Hotel VinziRast am Land, wo man auf dem Gelände eines ehemaligen Gault-Millau-Luxusrestaurants in Alland nun günstig urlauben und nebenbei Biogemüse und glückliche Eier mit nach Hause nehmen kann.

Sanfter Tourismus

Ebenfalls im ländlichen Raum angesiedelt sind diverse Initiativen wie etwa die „Schule der Alm“. Der 2016 gegründete Verein versteht sich als Ausbildungsprogramm und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Almen im Tiroler Valsertal zu erhalten – und zwar mit der Hilfe von Interessenten, die mal Urlaub von ihrem „Bullshitjob“ machen und sich mit Sense, Spaten und Spitzhacke betätigen und die Kulturlandschaft in bis zu 3400 Meter Seehöhe nachhaltig pflegen und mitgestalten wollen. Aufgrund des zunehmenden Bauernsterbens gibt es in anderen Regionen – wie etwa am Grundlsee in der Steiermark oder am Weißensee in Kärnten – bereits eigene Landschaftspflegefonds, die Nebenerwerbslandwirte finanziell unterstützen.

Dass sanfter Tourismus nicht nur auf das Konto einer nachhaltigen Landwirtschaft einzahlen, sondern auch zum Erhalt regionaler Baukultur beisteuern kann, beweist die 2005 gegründete Stiftung „Ferien im Baudenkmal“. Von der Bauhausvilla am Zürichsee bis zur hochalpinen Holzhütte aus dem 16. Jahrhundert werden denkmalgeschützte Preziosen in der gesamten Schweiz vor dem Verfall bewahrt, denkmalgerecht restauriert und schließlich dem touristischen Markt zur Verfügung gestellt – und das zu durchaus moderaten Preisen, denn das Ziel der Stiftung sind nicht größtmögliche Gewinne, sondern gelebte Baukultur und die Stärkung lokaler Wertschöpfungsketten.

„Der Tourismus ist ein wesentlicher Hebel im Umgang mit der globalen Klimakrise und mit klimaadaptiven Maßnahmen“, sagen die beiden Kuratorinnen. „Daher müssen wir dringend handeln. Es gibt jede Menge sinnstiftender Best-Practice-Beispiele, an denen wir uns orientieren können.“ Während Venedig in Touristenmassen untergeht, hat Bhutan etwa die Corona-Krise dazu genutzt, den Tourismus im eigenen Land neu aufzustellen: Reisende müssen eine Sustainable-Development-Fee (SDF) in der Höhe von 250 US-Dollar pro Tag entrichten. Das Geld kommt nachhaltigen Projekten in den Sektoren Kultur, Bildung, Tourismus, Infrastruktur und Landwirtschaft zugute. Ein Weg von vielen.

Die Ausstellung „Über Tourismus“ ist bis 9. September 2024 zu sehen.

Der Standard, Sa., 2024.03.23

16. März 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Die Ruine Signa-Wunderland

Der Autor und Schauspieler Calle Fuhr bringt den „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ auf die Volkstheater-Bühne. Es ist ab heute, Samstag, zu sehen. Die [in der gedruckten Ausgabe] eingefärbten Textstellen sind Originalzitate aus dem Stück.

Der Autor und Schauspieler Calle Fuhr bringt den „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ auf die Volkstheater-Bühne. Es ist ab heute, Samstag, zu sehen. Die [in der gedruckten Ausgabe] eingefärbten Textstellen sind Originalzitate aus dem Stück.

Die Signa wächst und wächst und wächst. Das muss sie auch. Das ist der Fluch von Benkos Geschäftsmodell. „Und ich finde es spannend und beachtlich, bis zu einem gewissen Grad ringt es mir sogar Respekt ab, mit welchem Geschick René Benko in der Lage war, hunderte, vielleicht tausende Menschen an der Nase herumzuführen“, sagt Calle Fuhr, hellblauer Anzug wie ein Entertainer in einer US-amerikanischen TV-Show à la Jeopardy! oder Der Preis ist heiß. „In der Zwischenzeit ist das Kartenhaus in sich zusammengekracht. Viele Menschen – ob mit Geld, Arbeitsplätzen oder unbeglichenen Rechnungen – sind dabei zu Schaden gekommen.“

Heute Abend soll es um einen Mann gehen, der in den letzten Monaten die Schlagzeilen gefüllt hat wie kaum ein anderer. Calle Fuhr, gebürtiger Düsseldorfer, Autor, Regisseur und Schauspieler in Personalunion, hat die Causa Benko und sein Unternehmensimperium Signa, das aus rund 1000 Töchtern und Enkeltöchtern besteht, im Laufe des letzten Jahres in Zusammenarbeit mit der österreichischen Investigativplattform Dossier studiert und analysiert – und beschlossen, darüber ein Ein-Personen-Stück zu schreiben und sich selbst auf den Leib zu schneidern: Aufstieg und Fall des Herrn René Benko.

Weil eben doch längst nicht alles gesagt ist. Heute, Samstag, ist Premiere im Volkstheater, der große Saal längst ausgebucht bis auf den letzten Platz, der STANDARD war bei der Generalprobe live dabei und hat Zitate daraus, fett markiert in diesem Text, aufgenommen und notiert. „Ob in Österreich bei Kika/Leiner oder in Deutschland mit Karstadt und Galeria Kaufhof: Der Signa wurden Millionen an Steuergeldern hineingepumpt, um die maroden Kaufhäuser vermeintlich am Leben zu halten. Dabei scheint es von Anfang an ein abgekartetes Spiel gewesen zu sein, und zwar auf Kosten der Öffentlichkeit. Daher finde ich“, meint Calle Fuhr, „geht die Sache uns alle an.“

Der René will Geld verdienen. Während seine Klassenkameraden wohl gerade die rubinrote Edition von Pokémon für sich entdeckten, begann er, sich in das Immobilienbusiness einzulesen. Passagenweise gleicht Fuhrs Stück einem Vortrag, einer Univorlesung, beginnend in Benkos Schulkarriere, die er frühzeitig abbrach, um bereits in jungen Jahren Kleinanleger für Immo-Aktien zu keilen, wird dabei aber nie fad, besser jedenfalls als jeder Immobilienlehrgang an einer FH. Erst allmählich füllt sich der Theaterabend mit dramaturgisch hineininszenierten Elementen wie etwa Film, Zaubertrick, fiktiven Dialogen, Rollenwechseln mit Brille und Dialekt, zahlreichen Interaktionen mit dem Publikum.

René Benko zeichnet vor allem eines aus: Er ist schnell. Er weiß oft als Erster Bescheid, sobald eine Perle in einer Innenstadt am Markt ist. „Am meisten interessiert mich das Firmengeflecht aus Geschäftsführung, Aufsichtsräten und Beiratsmitgliedern, die sich bei der Signa aber nie als klassischer Beirat, sondern eigenen Angaben zufolge vielmehr als Impulsgeber und strategischer Beraterkreis verstanden haben“, sagt Calle Fuhr. Ob Gusenbauer, Haselsteiner oder Riess-Hahn: „Ich denke, ihre Besetzung folgt wohl auch einem politischen Kalkül, um in allen Koalitionskonstellationen manövrierfähig zu bleiben und immer als Erster zu erfahren, wann wieder einmal ein Filetstück in der Innenstadt frei wird.“ Und nicht nur das.

Benko kennt alle, und alle kennen Benko. „Benko beherrschte von Anfang an die Sprache von Seitenblicke und Boulevardmedien, und zwar fließend. Er ließ sich mit Promis ablichten, ob das nun Bundespräsidenten, Bürgermeister oder etwa Tina Turner war.“ Ein Schnappschuss mit der Rockröhre, auf der Volkstheater-Bühne ertönt einer ihrer größten Hits: „I call you when I need you, my heart’s on fire. When you come to me, give me everything I need. Give me a lifetime of promises and a world of dreams. You’re simply the best.“ „Das Beste für den einen“, meint Fuhr, „ist aber nicht immer das Beste für alle.“

Wo ich herkomme, im Rheinland, da gehst du nicht einkaufen: Da gehste Kaufhof. Oder da gehste Karstadt. Karstadt und Kaufhof wurden über die Jahrzehnte zum Herz einer typischen deutschen Innenstadt. „Mit der Übernahme von Karstadt und Galeria Kaufhof und der anschließenden Aufsplittung in eine Immobilien- und eine Betreibergesellschaft haben Benko und Co ein perfides Spiel inszeniert.“ Die selbsternannten Spielregeln der Signa werden auf der Bühne anschaulich erklärt, mit einer beliebten Immobilientochter namens Elisabeth und einer ungeliebten Betreibertochter namens Dörte. Bei der Generalprobe schüttelt das Publikum fassungslos den Kopf.

Benko wurde bei seiner Übernahme von Galeria als Retter der deutschen Innenstädte gefeiert. Aber das war nie sein Ziel. „Mit der Schließung vieler Galeria-Filialen“, erzählt Fuhr im Interview mit dem ΔTANDARD, „aber auch mit halbfertigen Rohbauten wie etwa dem Lamarr in Wien, dem Elbtower in Hamburg oder dem Carsch-Haus in Düsseldorf sehen wir nun, wie die Innenstädte nach und nach ausverkauft wurden und wie nun riesige Wunden in ihnen klaffen.“ Der Traum ist geplatzt, das Versprechen wurde gebrochen, viele Baustellen stehen still und warten auf Käufer.

Ich verstehe total, dass Leute gerade schadenfroh sind. Wenn sie denken: Der Benko, der hat’s verdient. „Aber das allein ist zu wenig“, sagt Calle Fuhr. „Außerdem dürfen wir nicht vergessen: Zu Schaden sind wir alle gekommen! Denn das, was Benko den Menschen und den Städten angetan hat, ist eine Form der Zerstörung – nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch in Hinblick auf die bauliche Substanz und auf die eigene urbane Identität.“

Den nächsten René Benko etwas unmöglicher machen. Mit seinem Stück möchte der Produzent verhindern, dass sich die Geschichte eines Tages mit anderen Firmen und anderen Protagonisten wiederholt. „Die Frage also ist: Welche politischen Konsequenzen können wir aus dieser Causa ziehen?“ Vor dem Black, neunte Szene, präsentiert der hellblau gekleidete Entertainer drei Strategien für die Zukunft. Ein Lehrstück an der Schnittstelle von Architektur, Politik und Immobilienwirtschaft.

„Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“, Premiere am 16. März im Volkstheater. Vorstellungen am 20., 24., 25. März sowie am 5., 15., 18. und 27. April. Weitere Termine sind in Planung.

Der Standard, Sa., 2024.03.16

02. März 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Teuflisch gut

Gestern imperiales Kurbad mit Moorbädern, geplant von den Wiener Theaterarchitekten Fellner und Helmer, heute eine mutig hineinimplantierte Musiktribüne in knalligem Rot. Zu Besuch in den Císařské Láznì in Karlsbad.

Gestern imperiales Kurbad mit Moorbädern, geplant von den Wiener Theaterarchitekten Fellner und Helmer, heute eine mutig hineinimplantierte Musiktribüne in knalligem Rot. Zu Besuch in den Císařské Láznì in Karlsbad.

Kateřina Knìžíková betritt die Bühne, champagnerfarbenes Abendkleid mit glitzernden Steinchen von oben bis unten, und setzt zu den ersten Versen an: „Una donna a quindici anni, dèe saper ogni gran moda, dove il diavolo ha la coda, cosa è bene e mal cos’è.“ Schon ein Mädchen von fünfzehn Jahren, singt die Sopranistin, müsse die große Kunst verstehen, wo den Schwanz hat der Teufel, was gut sei und was schlecht.

Ihre Arie aus Mozarts Così fan tutte, so tun es angeblich alle, füllt den ganzen Raum, der Schall pflanzt sich fort bis hoch in die allerletzte Reihe. „Dèe in un momento, dar retta a cento, colle pupille, parlar con mille.“ In einem Moment, zu Hunderten wechselt sie die Blicke, zu Tausenden die Worte.

Gar so viele Männer und Frauen passen in den neuen Konzertsaal im tschechischen Karlsbad nicht hinein, aber immerhin an die 300, verteilt auf 13 Reihen, vollbestückt mit superbequemen, teufelsrot bespannten Klappsitzen. Das allein wäre noch lange kein Grund für Jubel in höchsten Tönen. Sehr wohl aber die Tatsache, dass das knallrote Stahlungetüm ausgerechnet in ein denkmalgeschütztes Gebäude aus dem Jahr 1895 hineingestellt wurde, errichtet von den Wiener Theaterarchitekten Fellner und Helmer, die dereinst auch das Wiener Volkstheater, das Landestheater Salzburg, die Komische Oper Berlin, das Nationaltheater Rijeka und das Opernhaus Odessa geplant hatten.

„Ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe den imperialen Charme dieser Stadt immer schon geliebt“, sagt der Prager Architekt Petr Hájek. Die Kurstadt Karlsbad, Karlovy Vary auf Tschechisch, sei ein Freiluftmuseum galanter, prosperierender k. u. k. Zeiten, ein kompaktes Großstädtchen inmitten bewaldeter Landschaft, mit regem Kulturbetrieb und mondänen Kurbädern, die mal unten im Tal, mal etwas weiter oben auf den Hängen platziert sind. Und im Gegensatz zu österreichischen Kurstädten wie etwa Bad Ischl oder Bad Gastein, so scheint es, ist Karlsbad weder tot noch in der Vergangenheit steckengeblieben, sondern immer noch quicklebendig, mit wohltuend frischem Geiste zwischen all den alten Gemäuern.

Altes Kaiserbad

Dieser zeigt sich vor allem im alten Kaiserbad, in den sogenannten Císařské Láznì. Einst befanden sich hier, hufeisenförmig im Halbkreis angeordnet, Moorbäder mit tonnenschweren Stahlwannen, die von einer mobilen Krankonstruktion im Innenhof durch die Lüfte bewegt und durch fensterartige Öffnungen im Mauerwerk in die einzelnen Kurbadezimmer hineingeschoben und nach dem getätigten Bad wieder entnommen wurden, um im Hof aufs Neue mit Wasser und frischem Torf befüllt zu werden, alles per zentrale Steuerung hinter den Kulissen. Auf diese Weise konnten pro Tag bis zu 2000 Menschen versorgt werden.

Der Kurbetrieb ist längst eingestellt. Um die architektonische Perle aus ihrem Dornröschenschlaf zu reißen und endlich einer neuen Nutzung zuzuführen, entschied sich die Stadt in Zusammenarbeit mit der nationalen Denkmalbehörde, 2018 einen Wettbewerb auszuschreiben und im einst infrastrukturell genutzten Innenhof einen Konzertsaal für die Tschechischem Philharmoniker zu errichten. Doch nach zwei Jahren intensiver Entwicklungsarbeit steckte das Siegerprojekt fest. Die Komplexität des Gebäudes und seiner horrenden Anforderungen im Umgang mit Akustik, Grundwasser und Denkmalschutz brachten die Planungen zum Erliegen.

„Daraufhin wurde ich 2020 kontaktiert und gebeten, als eine Art Troubleshooter einzuspringen“, erzählt Hájek. Sein Erfolgsrezept: „Nicht alles ins Gebäude hineinquetschen mit Ach und Krach, sondern stattdessen auf die räumlichen Gegebenheiten reagieren und die Bauaufgabe auf das reduzieren, was der Raum und die schwierigen Parameter erlauben.“ Bühne und Tribüne wurden verkleinert und als eine Art selbsttragendes Stahlmöbel in den Hof hineingestellt, auf Kulissen und unmittelbar angrenzende Backstage-Räumlichkeiten wurde verzichtet. Die Haustechnik konnte im Gespräch mit den Bauherren auf eine kompakte Low-Tech-Sparvariante abgespeckt werden. Hájek: „Ungewöhnliche Aufgaben erfordern ungewöhnliche Lösungen.“

Zerlegbare Konstruktion

Um die Bauarbeiten zu vereinfachen, wurde die ehemalige Glasüberdachung entfernt. Durch die so entstandene Öffnung konnten die vorgefertigten Stahlelemente, 746 Stück an der Zahl, per Kran in den Innenhof gehievt werden. Um die Konstruktion eines Tages auch wieder zerlegen zu können, musste die Montage der einzelnen Komponenten – eine Anforderung der Denkmalbehörde – mittels Schraubverbindungen erfolgen. 4592 Muttern und Schrauben halten das 16 Meter hohe Theaterimplantat, das die denkmalgeschützten Hofmauern an keiner einzigen Stelle berühren durfte, zusammen. Erst nach Fertigstellung des 94 Tonnen schweren Teufelswerks wurde das Dach wieder geschlossen.

„Für mich grenzt es an ein Wunder, dass wir das Projekt tatsächlich umsetzen konnten, ohne einen einzigen architektonischen Kompromiss, als roten Bausatz inmitten von Fellners und Helmers wunderschöner Neorenaissance-Architektur“, sagt Petr Hájek. „Was einst ein reiner Technikhof für den Kurbetrieb war, zu dem das Publikum keinen Zutritt hatte, ist nun ein Ort von ein bisschen gebastelter, ein bisschen improvisierter Hochkultur.“

Und was sagen die Künstlerinnen selbst? „In musikalischer Hinsicht ist jeder Konzertsaal ein Unikat und klingt auch entsprechend anders“, sagt Lenka Machová, erste Geige bei den Tschechischen Philharmonikern, kurz nach dem Konzert. „Dieser Saal ist halt besonders anders. Wir finden es großartig, hier zu spielen, wir sind ganz begeistert von den kräftigen Farben und der wilden Geometrie. Eine schöne Anregung für die Augen, die uns herausfordert, den Ohren eine mindestens genauso schöne Anregung zu bieten.“

Der neue Konzertsaal im 1895 errichteten Kaiserbad ist eine wertvolle Inspiration, die beweist, was im Rahmen des Denkmalschutzes alles möglich ist, wenn bloß alle Kräfte an einem gemeinsamen Strang ziehen. Così fan tutte, im besten aller Fälle. Wie meinte doch Mozart? „Par ch’abbian gusto di tal dottrina. Viva Despina!“ Sie scheinen, auf weitere Lehre, Geschmack bekommen zu haben. Es lebe Despina!

Der Standard, Sa., 2024.03.02

29. Februar 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Was Wien von Rom lernen kann

Am Mittwoch wurde der österreichische Beitrag für die Architekturbiennale 2025 in Venedig präsentiert. Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito vergleichen das Wohnen in zwei europäischen Hauptstädten.

Am Mittwoch wurde der österreichische Beitrag für die Architekturbiennale 2025 in Venedig präsentiert. Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito vergleichen das Wohnen in zwei europäischen Hauptstädten.

Bikini, Badehose und Schwimmflügerln wird man auf der kommenden Architekturbiennale zwar nicht brauchen. Denn dafür wird der Pool im Innenhof des Österreich-Pavillons mit 50 Zentimeter Tiefe nicht groß genug sein. Doch dafür soll das Becken mit Meerwasser, Lagunenpflanzen und umliegendem Holzdeck für mikroklimatische Abkühlung und für eine kurze Verschnaufpause sorgen auf der reizüberfluteten Erkundungstour von einem Pavillon zum anderen. Ausgestattet mit Sesseln, Liegestühlen und Sonnenschirmen sollen hier während der Architekturbiennale 2025 in Venedig kuratierte Poolgespräche zum Thema Wohnen stattfinden.

Agency for Better Living nennt sich der Beitrag des Dreierteams Sabine Pollak, Architektin und Professorin für Raum- & Designstrategien an der Kunstuniversität Linz, Michael Obrist, Architekt und Professor für Wohnbau an der TU Wien, und Lorenzo Romito, Aktivist, Gründer des Stadtforschungslabors Stalker, Professor an der Nuova Accademia di Belle Arti (NABA) in Rom sowie Gastprofessor an der ETH Zürich.

Länderübergreifend

Das länderübergreifende Projekt versteht sich als Agentur, Ausstellung und Forschungslabor, um aus wohn- und gesellschaftspolitischen Ansätzen in Wien und Rom zu lernen.

„Wien ist eine Vorzeigestadt für Top-down-Wohnbau“, sagt Kuratorin Pollak. „Vieles, was in dieser Stadt in den letzten 100 Jahren entstanden ist, ist weltweit einzigartig, die ganze Welt schaut da hin. Doch nicht alles entwickelt sich zum Guten. Grundstücke werden rarer und teurer, die technischen Anforderungen steigen, architektonische Qualitäten werden gekürzt, es wird schwieriger, Gemeinschaft herzustellen.“

Im Gegensatz dazu präsentiert sich Rom, das im Umgang mit historischen Ruinen und innovativer Bodenressourcennutzung schon seit hunderten Jahren Erfahrung hat – als europäischer Hotspot für Bottom-up-Ansätze. Leerstände werden besetzt, Bürohäuser zu Wohnzwecken transformiert, immer öfter findet man aktivistische Wohnmodelle und selbstorganisierte Formen des Widerstands.

Projekte wie Corviale, Spin Time, Porto Fluviale und Metropoliz sind Resultate autonomer Strukturen, die Kurator Romito als „Magie der Zivilgesellschaft“ bezeichnet. Aktuell gebe es in den römischen Behörden Bestrebungen, die zum Teil illegal errichteten und genutzten Wohnräume zu legalisieren und als Best-Practice-Wohnprojekte nachhaltig zu verankern. „Die beiden Modelle könnten nicht unterschiedlicher sein“, sagt Kurator Obrist. „In Zeiten globaler Wohnungskrise, in der sich immer weniger Menschen ein gutes Leben in der Stadt leisten können, wollen wir uns die Frage stellen, wie Wien und Rom voneinander lernen können.“

Dabei soll der denkmalgeschützte, nach Plänen von Josef Hoffmann gebaute Österreich-Pavillon in den Giardini in eine Wohnung mit Foyer, Wohnzimmer, Home-Cinema, Küche, einem Ort für unterschiedliche Rezeptexperimente also, und einem begrünten Innenhof mit temporärem Salzwasser-Pool umgebaut werden. Die Interviewpartner der dort stattfindenden Poolgespräche nehmen an einer Lotterie teil und können Übernachtungen in einem der in der Ausstellung präsentierten Wohnprojekte in Wien oder Rom gewinnen. Rote Faden- und Perlenvorhänge, typisch für den europäischen Süden, sollen den Pavillon einhüllen und in seinem Inneren strukturieren.

Politische Verantwortung

Staatssekretärin Andrea Mayer bezeichnete das Konzept für die 19. Architektur-Biennale 2025 als „wichtigen Beitrag, um abseits ästhetischer Fragestellungen auch über die soziale, kulturelle und politische Verantwortung von Architektur zu diskutieren“. Das Budget beläuft sich auf 600.000 Euro. In Zeiten, in denen SPÖ und Wirtschaftskammer so ökologisch desaströse Wahlzuckerl-Ideen wie 100.000 Euro „Eigenheimbonus“ präsentieren, scheint das Geld wertvoll angelegt.

Der Standard, Do., 2024.02.29

17. Februar 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Halle für alle Turn On 2024

Das Handelszentrum HZ16 in Salzburg ist ein Ort, von dem viele träumen. Ein rougher Hub mit Sport, Medizin, Produktion, Hightech-Start-ups und Biogarnelenzucht im Keller. Mehr davon beim Architekturfestival Turn On.

Das Handelszentrum HZ16 in Salzburg ist ein Ort, von dem viele träumen. Ein rougher Hub mit Sport, Medizin, Produktion, Hightech-Start-ups und Biogarnelenzucht im Keller. Mehr davon beim Architekturfestival Turn On.

Vor wenigen Tagen erst hat hier eine Hochzeit stattgefunden. Kathi und Luki haben sich, wie der Willkommenstafel in romantisch geschwungenen Lettern zu entnehmen war, das Ja-Wort gegeben. Die Halle war voll mit Blumenschmuck, bunten Fauteuils und festlich drapierten Tischtüchern. „Hochzeiten stehen nicht unbedingt auf der Tagesordnung“, sagt Marco Sillaber, „doch dafür passiert es regelmäßig, dass sich Leute und Unternehmen für Feiern und Preisverleihungen bei uns einmieten, weil sie das außergewöhnliche Ambiente zu schätzen wissen. Eine Halle wie diese wird man in ganz Österreich kein zweites Mal finden.“

Ort des Geschehens ist das Handelszentrum 16, kurz HZ16, in Bergheim bei Salzburg. Einst hatte Universal Versand hier, lange vor Ebay, Amazon und Zalando, sein österreichisches Zentrallager. 2002 wurde der 43.000 Quadratmeter große Hallenkomplex im Zuge der Logistikumstellung aufgegeben, ab diesem Zeitpunkt stand das Areal weitestgehend leer. Der Salzburger Investor und Projektentwickler Marco Sillaber, der in seiner Heimatstadt bereits das Gusswerk (Österreichischer Bauherrenpreis 2008 und 2013) und die Panzerhalle in Maxglan (2015) zu neuem Leben erweckt hatte, konnte sich als Käufer durchsetzen und riss auch dieses, äußerlich nicht sonderlich schöne Ding aus dem Dornröschenschlaf.

„Ich wollte den Bestand erhalten und mit dem arbeiten, was da ist“, sagt der 62-Jährige auf der kilometerlangen Führung durchs HZ16, „auch wenn es nicht gerade das leichteste Unterfangen ist, einer lieblosen Logistikarchitektur aus den 1970er-Jahren einen gewissen Charme herauszukitzeln. Doch den Smartvoll Architekten ist genau das gelungen. Sie haben es geschafft, den Geist des Hauses zu erhalten und die hässlichen Stützen, Betonträger und Dachuntersichten in einen neuen, ästhetischen Kontext zu rücken.“ Kommenden Samstag, den 24. Februar 2024, wird Smartvoll das Projekt im Rahmen des jährlich stattfindenden Architekturfestivals Turn On der Öffentlichkeit vorstellen.

Industrielle Rotzigkeit

Während sich der Architekturstandard hierzulande immer mehr in Richtung technischer Perfektion, aalglatter Allerweltsschönheit und verwertungstechnisch getriebenen Wegsanierens von Patina, Geschichte und Gebrauchsspuren entwickelt, entfaltet das revitalisierte HZ16 eine faszinierende industrielle Rotzigkeit. Man kann sich kaum erwehren, jede Stahlstange, jedes Metallgitter, jedes galvanisierte Stück Geländer anzugreifen und nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Händen zu ertasten. Die einstige Nutzung des Hauses als Hochregallager für Konsumprodukte und Europaletten wird bis zur allerletzten Schraube durchzelebriert.

„Bei Projekten wie diesen ist weniger meist mehr“, sagt Christian Kircher, Partner bei Smartvoll Architekten. „Ja nicht zu viel machen! Es reicht, einfach nur den Beton, den Stahl und die Glasbausteine für sich sprechen lassen. Und nach Möglichkeit mit dem Raum, mit dem Budget, mit der inhaltlichen Logik des Projekts arbeiten – und nicht dagegen!“ Die gold-gelblich schimmernde Oberfläche des Geländers ist nichts anderes als eine industrielle Galvanisierung, wie man sie im Baumarkt bei Schrauben, Scharnieren und Möbelbeschlägen vorfindet. „Wir mussten einen Kilometer Geländer produzieren“, so Kircher. „Jede andere Oberflächenveredelung hätte den finanziellen Rahmen gesprengt.“ Die Gesamtgestehungskosten für das privatfinanzierte Projekt – inklusive Immobilienkauf und Sanierung – belaufen sich auf unter 1000 Euro pro Quadratmeter.

Dynamische Planungszyklen

Für Philipp Buxbaum, ebenfalls Smartvoll, zeigt die schrittweise Revitalisierung des HZ16 eine neue Planungskultur: „Lineare Planungsprozesse gehören der Vergangenheit an. Gerade bei so komplexen, vielschichtigen Bestandsprojekten wie diesem müssen Architekten, Bauherren, Behörden und auch Mietpioniere eine gewisse Fluidität und Flexibilität an den Tag legen. Als wir begonnen haben zu planen, stand die Nutzung noch nicht fest, und als die ersten Bagger angerollt sind, wussten wir noch immer nicht, wer sich hier eines Tages einmieten oder als Eigentümer beteiligen wird. Wenn wir die Bestandsstadt in den Griff kriegen wollen“, so Buxbaum, der die konstruktive, außergewöhnlich kollegiale Zusammenarbeit mit den Salzburger Behörden hervorheben möchte, „wird an solchen dynamischen Planungszyklen kein Weg vorbeiführen.“

Das Risiko hat sich ausgezahlt. Vor zwei Jahren wurde das HZ16 fertiggestellt. Heute beherbergt es Fachhandel, Tanz- und Sportstudios, digitale Hightech-Start-ups, Produzenten für Skier, Küchen und Fitnessgeräte, Büroniederlassungen im Bereich Auto, Mode und Kreativwirtschaft, und im Untergeschoß befindet sich sogar eine Salzburger Biogarnelenzucht, auf dem unvergesslichen Logo eine Garnele mit Mozartperücke auf dem Kopf. Der Nutzer für die letzte noch verbleibende Freifläche steht auch schon fest: Zwischen den galvanisierten Geländern wird in Kürze ein medizinisches Großlabor für Harn-, Stuhl-, Blut- und Gewebeproben einziehen. Alle reden immer von Nutzungsvielfalt. So sieht sie in gebauter und gelebter Praxis aus.

Die aktuellen Krisen sind zur Normalität geworden. Umso wichtiger sind neue Perspektiven für die Zukunft. Was sind die Fluchtpunkte, auf die sich unsere Gesellschaft hinentwickeln soll? Dieser Frage widmet sich Margit Ulamas Architekturfestival Turn On, das am Freitag und Samstag im Musiktheater Muth über die Bühne gehen wird.

Der Freitag steht traditionell im Zeichen des interdisziplinären Dialogs zwischen Architektur, Bauwirtschaft und Bauindustrie. Diesmal mit einem Einblick in die Internationale Bauausstellung IBA’27 in Stuttgart sowie in Wohn-, Kultur-, Freizeit- und Infrastrukturprojekte in Berlin, Wien, Graz, Salzburg, St. Pölten und Prinzersdorf. Mit einer Präsentation des neuen Krallerhofs von Hadi Teherani in Leogang und einem Beitrag zum Stadtentwicklungskonzept „ISEK: Das Klimaticket zur enkeltauglichen Ortskernentwicklung“.

Am Samstag werden wie immer neun Stunden lang Architekturprojekte im Nonstop-Modus präsentiert – u. a. mit dem HZ16, Peter Haimerls Wabenhaus in München, einem Hausumbau von Claudia Cavallar, dem neuen BWM-Hotelensemble in Bad Gastein, innovativen Wohnprojekten in Wien, Tirol und der Schweiz sowie mit einem Turn-On-Talk zum umsichtigen Umgang mit Bodenressourcen.

Freitag, 23. Februar, 10 bis 19 Uhr, Samstag, 24. Februar, 13 bis 22 Uhr. Theatersaal im Muth, Am Augartenspitz 1, 1020 Wien. Eintritt frei.

Der Standard, Sa., 2024.02.17

01. Februar 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Im Zeichen der Pyramide

Johann Bernhard Fischer von Erlach ist als Erbauer von Karlskirche, Hofbibliothek und Schloss Schönbrunn bekannt. Die erste Sonderausstellung im neuen Wien-Museum begibt sich nun auf barocke Spurensuche.

Johann Bernhard Fischer von Erlach ist als Erbauer von Karlskirche, Hofbibliothek und Schloss Schönbrunn bekannt. Die erste Sonderausstellung im neuen Wien-Museum begibt sich nun auf barocke Spurensuche.

Eine Federzeichnung aus dem Jahr 1712 zeigt den Prospect von dem großen und herrlichen Tempel der Mosque des großen Sultan Ahmed zu Constantinopol, 24 mal 21 Klafter im Grundriss, wie die handschriftliche Notiz am unteren Bildrand verrät. Darüber erheben sich sechs Minarette 21 Klafter hoch in den Himmel. Urheber der ins Büttenpapier gekratzten Federzeichnung ist Johann Bernhard Fischer von Erlach, der das barocke Wien und Salzburg in einem Ausmaß prägte wie kein anderer seiner Zeit.

Diesem wissbegierigen, fernwehgeplagten Seelenanteil des bekannten Barockarchitekten, der nur zwei Jahre nach Erstellung dieser Zeichnung den Wettbewerb zum Bau der Wiener Karlskirche gewann, widmet das wiedereröffnete Wien-Museum nun seine erste Wechselausstellung im vierten Stock: Fischer von Erlach. Entwurf einer historischen Architektur.

„Man weiß bislang sehr wenig über die Privatperson Fischer von Erlach“, sagt Kurator Andreas Nierhaus, der die Ausstellung mit dem Wiener Bildhauer und Fotografen Werner Feiersinger gestaltete. „Aber dafür umso mehr über seine Weltoffenheit, mit der er neue, fremde, exotische Bautypologien in fernen Ländern studiert und sich in sie regelrecht hineinvertieft hat.“

Im Alter von 14 Jahren bekam Fischer von Erlach ein Stipendium, mit dem er nach Rom ging, wo er zeitgenössischen Architekten wie Bernini und Borromini über die Schulter blickte.

Aus dieser Zeit speist sich seine Vorliebe für das mitunter bizarre Wechselspiel aus konvexen und konkaven Formen, die sich in seinen späteren Bauten immer wieder finden. Auch die Cestius-Pyramide, errichtet im Jahr zwölf vor Christus im antiken Rom, hat es Fischer von Erlach angetan. Obwohl dies die einzige Pyramide ist, die er je zu Gesicht bekommen hat, lässt ihn die Form in seinen Zeichnungen, Entwürfen, Skulpturen nie mehr los.

Macht der Worte

Im Zentrum der Ausstellung steht jedoch Fischer von Erlachs titelgebendes Buch Entwurff einer historischen Architectur, an dem er rund 20 Jahre lang arbeitete und das er 1721 herausgab. Eines der wenigen weltweit noch erhaltenen Exemplare, acht Kilogramm schwer, ist als gebundenes Werk wie in losen Schautafeln im Wien-Museum ausgestellt. Und der reichlich illustrierte Vorgänger des Coffeetable-Books, der sich dereinst als Bestseller mit zweiter Auflage und diversen Raubkopien herausstellte, hat es in sich – mit all seinen Moscheen, Schreinen, Tempeln, persischen Pavillons und chinesischen Pagoden, vor allem aber mit der Macht seiner Worte.

„Wann auch die in Zeichnungen sich übende Gelegenheit gewinnen, den Geschmack der Landes-Arten, (welcher, wie in den Speisen, also auch so zu reden in Trachten, und im Bauen ungleich ist) gegen einander zu halten, und das Beste zu erwählen, anbey zu erkennen, daß im Bauen zwar etwas auf eine Regel-lose Gewohnheit ankomme“, ist im Vorwort zu lesen, „wo man einem jeden Volke sein Gutdunken so wenig abstreiten kan, als den Geschmack.“

Oder wie der Kurator es zeitgenössischer formuliert: „Fischer von Erlach war mehr als bloß Architekt, Bildhauer und Erschaffer von pausbäckigen Engeln im Dienste der Kirche, als der er oft dargestellt wird“, sagt Nierhaus. „Er war der Erste, der es geschafft hat, einen fast globalen Überblick über Architektur und Baukultur zu geben, und zwar offen und neutral, ohne Klischees, ohne Wertung, ohne irgendjemandem etwas abzustreiten.“

Obwohl er selbst lediglich Rom, Berlin und England besuchte, scheute er weder Kosten noch Mühen, um an Zeichnungen und Planungsmaterial zu gelangen. Manchmal passte er Expeditionen ab, wie beispielsweise jene Gruppe von schwedischen Gelehrten, die auf dem Weg aus Palmyra im heutigen Syrien, Halt in Wien machten, um von ihnen abzuzeichnen und zu lernen.

Neuentdeckung

Aus dieser Perspektive lassen sich die 25 heute noch erhaltenen Bauwerke Johann Bernhard Fischer von Erlachs – darunter auch die Wiener Karlskirche – neu betrachten.

Beispielsweise als globale Collage aus Sultan-Ahmed-Moschee, Forum Romanum, Trajanssäule und der im 16. Jahrhundert errichteten Kirche Santa Maria di Loreto. In Zeiten von postnationalsozialistischen Kanzleramtsanwärtern und tiefblauer Daham-statt-Islam-Politik lohnt die Neuentdeckung des Fischer von Erlach. Bis 28. April

Der Standard, Do., 2024.02.01

20. Januar 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Jodler in die Welt hinaus

Heute, Samstag, wird in Bad Ischl die Europäische Kulturhauptstadt 2024 eröffnet. Das Salzkammergut leidet an Overtourism, Abwanderung, Leerständen, strukturellen Schwächen und immer noch kaiserlichen Klischees. Doch wie ist es um die Zukunft der einstigen Salzkammer bestellt? Das Potenzial ist enorm.

Heute, Samstag, wird in Bad Ischl die Europäische Kulturhauptstadt 2024 eröffnet. Das Salzkammergut leidet an Overtourism, Abwanderung, Leerständen, strukturellen Schwächen und immer noch kaiserlichen Klischees. Doch wie ist es um die Zukunft der einstigen Salzkammer bestellt? Das Potenzial ist enorm.

In den letzten Tagen hat das Wetter wunderbare Arbeit geleistet. „Schön zugezuckert hast du’s“, sagen die einen, „perfektes Timing“, die anderen. „Ohne Schnee wär’s zwar auch gut gewesen, aber so ist’s noch viel, viel besser.“ Global Home heißt die hausgroße Skulptur des oberösterreichischen Künstlers Herbert Egger, sechs mal vier Meter im Grundriss, zusammengenagelt aus rund tausend Leisten, aus sägerauem, unbehandeltem Fichtenholz, 5000 Laufmeter in Summe.

„Es ist ein Haus für die Natur“, sagt Egger, eingepackt in Daunenjacke und Wollmütze wie alle hier an diesem sonnigen Sonntagvormittag, zwei Grad unter null. „Denn während der Mensch in dieses globale Gebäude keinen Zutritt hat, bietet es in den Zwischenräumen zugleich ein Zuhause für Fauna und Flora. Für Samen, die angeweht werden, für Insekten aller Art, für Vögel, die hier ihre Nistplätze einrichten werden.“

An diesem versteckten Platzerl in St. Konrad, unten am Kotbach, umgeben von einem Wäldchen, wo sich kaum ein Tourist hinverirrt, entfaltet das temporäre Kunstwerk einen gewissen surrealen Zauber. Das Publikum ist begeistert. Und sogar der Grundstückseigentümer, alles andere als ein Kunstkenner, wie er selbst meint, habe das Land gerne zur Verfügung gestellt, denn schließlich, sagt er, ganz ehrlich, was solle man da unten sonst machen?

„Ordentlich Reibung“

Doch das sehen nicht alle so. Am Stammtisch oben im Ort, erzählen die Leute bei der Vernissage, Kunstschaffende und Kulturinteressierte aus dem Salzkammergut, die einen mit Prosecco-Glas, die anderen mit Bierflasche in der Hand, da höre man auch ganz andere Dinge. Wozu das Ganze! Was für eine Verschwendung von Steuergeldern! Und überhaupt, am besten, man fackelt die Hütte so schnell wie möglich ab!

„Zeitgenössische Kunst in einer alten, traditionellen Region“, sagt Elisabeth Schweeger, künstlerische Geschäftsführerin der Europäischen Kulturhauptstadt 2024 in Bad Ischl und im Salzkammergut, „ja, das sorgt schon für ordentlich Reibung. Das Salzkammergut ist zwar eine der kulturell und wirtschaftlich wohlhabendsten Regionen der Alpen, ohne jeden Zweifel, aber es ist auch eine Region, die Gefahr läuft, sich auf den Traditionen auszuruhen und steckenzubleiben. Das zeigt sich an Dirndl und Lederhose, das zeigt sich am 18. August, wenn in Bad Ischl immer noch des Kaisers Geburtstag abgefeiert wird, das zeigt sich aber auch an der lokalen Chalet-Architektur, von der nur wenige wissen, dass sie eigentlich eine Importware aus der Schweiz ist.“

Genau diese Klischees zu überdenken und ein anderes, modernes, zukunftsfähiges Salzkammergut herauszukitzeln ist die Aufgabe der Europäischen Kulturhauptstadt 2024, die – 40 Jahre nach Gründung des Formats auf Initiative der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri und des französischen Kulturministers Jack Lang – nun erstmals in einer ländlichen Alpenregion ausgetragen wird. Am Samstag, den 20. Jänner, wird das Kulturhauptstadtjahr feierlich eröffnet. „Ein Jodler in die Welt hinaus“, so lautet der Programmschwerpunkt des heutigen Tages.

Pausetaste und Inspiration

Während das Format in Kulturhauptstädten wie etwa Helsinki (2000), Graz (2003), Linz (2009), Riga (2014) und Timişoara (2023) eher künstlerische und stadtkulturelle Dienste leistet und im besten Falle als atmosphärisches Beschleunigungsmittel für große Architekturprojekte verstanden werden kann, übernimmt das Hauptstadtjahr in den 23 teilnehmenden Gemeinden des Salzkammerguts eine weitaus wichtigere Funktion: Es dient als Pausetaste, Selbstreflexion und Inspirationsquelle, wie mit den bestehenden Problemen der Region in Zukunft umgegangen werden kann – ob dies nun Overtourism, Abwanderung junger Generationen oder Umgang mit Leerständen und Identitätslöchern ist.

In einem fiktiven, bislang nicht realisierten Projekt pinselt Idil Sentürk, Studentin an der TU Wien, in weißen Lettern auf die Hallstätter Dachlandschaft: „there are people living under these roofs, don’t you believe?“, und Daniel Jordan, ebenfalls Teilnehmer der Denkwerkstatt 2024, lässt das pittoreske Städtchen, das in Guangdong, China, ohnehin schon in einer spiegelverkehrten Kopie existiert, unter dem Titel Recht auf Hallstatt gleich hinter einem blickdichten Vorgang verschwinden.

Erst vor wenigen Tagen, am Mittwoch, haben Simone Barlian, Sabine Pollak, die raumarbeiterinnen sowie Studierende der Kunstuniversität Linz unter dem Titel Plateau Blo ein Saunafloß in den Traunsee gelassen. In der in Gmunden vor Anker gegangenen Schwitzhütte, so der Plan, will man in der kalten Jahreszeit Bürgermeistergespräche zu relevanten Themen veranstalten.

„Nackt sind alle Menschen gleich, die Sauna ist so gesehen ein sehr demokratischer Ort“, sagt Künstlerin Barlian. „Wir nutzen diesen Ort sozialer Wärme daher, um mit den politisch und immobilienwirtschaftlich Verantwortlichen über einen fairen, demokratischen Umgang mit Stadt, Land und See zu diskutieren.“ Hitzige Gespräche sind vorprogrammiert. So etwa auch im Herbst, wenn von 19. bis 22. September nach einem Konzept von Sabine Kienzer und Marie-Thérèse Harnoncourt in Hallstatt das dreitägige Baukultur-Symposium Interventa 2024 über die Bühne gehen wird.

Innovative Rezepte

Das Salzkammergut zählt zu den demografisch ältesten Regionen Österreichs. In einigen Gemeinden beträgt das Durchschnittsalter 48,4 Jahre (Österreich gesamt 43,2 Jahre). Allein in Bad Ischl hat sich der Anteil der über 60-Jährigen laut Statistik Austria in den letzten 20 Jahren von knapp 25 Prozent auf ein Drittel dramatisch erhöht. Umso schöner, dass nun die Jungen kommen. So wie beispielsweise Christoph Held, 39 Jahre alt, besser bekannt als Krauli, Fernsehkoch mit Dreadlocks, Küchenchef am Siriuskogl in Bad Ischl. Ab sofort behaust er das seit Jahren leerstehende Bahnhofsbeisl am ÖBB-Bahnhof Bad Ischl und verwöhnt seine Gäste im sogenannten Wirtshauslabor mit regionaler Küche und innovativen Rezepten.

Zu verdanken ist die Bewerbung Bad Ischls und seiner umliegenden Region, by the way, ebenfalls den ganz Jungen. Bereits 2014 startete Elisabeth Leitner, Kulturberaterin und Obfrau des Vereins Landluft, damals Assistentin an der TU Wien, einen Denkprozess mit rund hundert Studierenden aus ganz Österreich. Eines Tages wurden diese in Bad Ischl vorstellig und schafften es, gemeinsam mit der Gemeinde ein Konzept für die Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt auszuarbeiten. Der Rest ist Geschichte.

Die wichtigste Frage, die es 2024 zu beantworten gilt: „Wie schaffen wir es, die Region zu verjüngen, die Strukturen zu optimieren und die Baukultur weiterzuentwickeln“, so Geschäftsführerin Elisabeth Schweeger, „und zwar ohne Verrat an der Tradition?“ Zwölf Monate Zeit.

Der Standard, Sa., 2024.01.20

13. Januar 2024Wojciech Czaja
Der Standard

Der Atem des Architekten

In den letzten Jahren hat sich das Werk des indischen Architekten Bijoy Jain, Gründer des Studio Mumbai, ziemlich verändert. Sein radikaler Wandel, der nun in der Fondation Cartier in Paris dokumentiert ist, gibt uns zu denken.

In den letzten Jahren hat sich das Werk des indischen Architekten Bijoy Jain, Gründer des Studio Mumbai, ziemlich verändert. Sein radikaler Wandel, der nun in der Fondation Cartier in Paris dokumentiert ist, gibt uns zu denken.

Es riecht nach Holz, nach Schilf, nach feuchtem Lehm, nach staubigem, frisch geschliffenem Stein wie in einem Steinbruch, vor allem aber steigt in der ersten Sekunde schon, kaum hat sich die Türe geöffnet, ein bissig saurer Duft in die Nase auf, als hätte der Bauer mit dem Gülletraktor eben erst die Felder gedüngt.

„Ach, das! Das ist nichts, das hat sich ja schon alles verflüchtigt“, sagt eine Aufseherin. „Sie hätten beim Ausstellungsaufbau dabei sein sollen!“ Und ja, wenig später wird sich herausgestellt haben, dass Bijoy Jain, Exponent und Kurator seiner eigenen Ausstellung in Personalunion, ein größeres Material-Œuvre verwendet hat, als man in mitteleuropäischen Gefilden gewöhnt ist.

„Kuhdung ist da, er ist allgegenwärtig, und er ist zu tausenden Tonnen verfügbar“, sagt Jain im Gespräch mit dem ΔTANDARD. „Warum also sollten wir darauf nicht zurückgreifen?“ In Indien, meint der 59-Jährige, der 2005 sein eigenes, mittlerweile weltberühmtes Büro Studio Mumbai gegründet hat und mit seinem Team seitdem so schöne Wohn- und Kulturbauten geplant hat, dass es einem den Atem verschlägt, habe sich Kuhdung nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Architektur als wertvolles Nutzmaterial herausgestellt. Meist werden damit – mit einer Mischung aus Kuhdung und Strohhäcksel, um genau zu sein – Erdböden und Lehmwände versiegelt.

Rümpfende Nasen

Und genau das habe er auch hier gemacht, sagt er, in der gläsernen, luftig leichten Fondation Cartier in Paris, 1994 nach Plänen von Jean Nouvel errichtet, Boulevard Raspail, 14. Arrondissement. Auf dem hellen Terrazzo im Parterre, wo sonst minimalistische, am Kunstmarkt hoch gehandelte Bilder, Skulpturen, Installationen zu sehen sind, liegt nun, in Kübeln aus der Provinz herbeigekarrt und in einer zwei Millimeter dicken Schicht aufgetragen, ein Stück landwirtschaftlicher Realität. Bei der Pressekonferenz, zu der die Fondation Cartier im Dezember eingeladen hat, stieß – rümpfende Nasen im wahrsten Sinne – Kunstschickeria auf Stoffwechselendstation, ein köstliches Bild.

„Ich werde häufig gefragt, warum ich mit diesen simplen, primitiven Materialien arbeite“, sagt Jain. „Allein die Frage ist schon falsch formuliert. Erstens sind diese Stoffe weder simpel noch primitiv, sondern von hochintelligenter Beschaffenheit, wir haben lediglich verlernt, die Potenziale zu nutzen. Und zweitens sind dies keine Materialien, sondern Medien, um meiner Arbeit physische Manifestation zu verleihen.“ Das eigentliche Material seiner Arbeit, sagt er, seien Licht, Luft, Liebe, Sonne, Wasser, Leben, Schwerkraft und der eigene, unentwegte, niemals pausierende Atem. Daher auch der immaterielle, auffällig spirituelle Titel der Ausstellung: Breath of an Architect.
Lehm, Holz und Stein

Waren auf der Architektur-Biennale 2016 in Venedig, als Bijoy Jain erstmals einem breiteren europäischen Publikum präsentiert wurde, noch Baustoffe, Werkzeuge, Arbeitsmodelle und konkrete, realisierte Projekte zu sehen, so formiert sich die aktuelle Ausstellung in der Fondation Cartier vor allem aus Fragmenten aus Lehm, Holz und Stein sowie aus teils behauenen, teils collagierten, teils aufwendig geflochtenen Skulpturen. Zu sehen ist beispielsweise eine ganze Armada an steinernen Tieren, zu Dutzenden durch den Saal marschierend, angesiedelt zwischen Hinduismus und alttestamentarischer Arche Noah, die nach dem bildhauerischen Prozess in ein milchig weißes Kaolinbad getaucht wurden. Die Tierchen weisen wunderschöne Physiognomien auf, keine Frage, man ist ganz verzückt.

Ob es sich bei den ausgestellten Exponaten um Kunst oder um Architektur handle? „Diese Frage ist banal und langweilt mich ungemein“, sagt ein sichtlich entnervter Bijoy Jain. „Es geht um die Schönheit des Lebens. Es ist alles miteinander verbunden, die Dinge entstammen alle ein und derselben Quelle, ob Kunst oder Architektur, ob drinnen oder draußen, ob du oder ich. Ich möchte aufzeigen, wer wir sind und woher wir kommen. Letztendlich sind wir alle auf den Atem zurückzuführen. Atem ist das, was uns verbindet. Atem ist überall.“

Je fortgeschrittener das Gespräch, desto größer die Missverständnisse zwischen Interviewer und Interviewtem. Noch spiritueller als in der Fondation Cartier und in der bilateralen Annäherung präsentiert sich Jain im knapp 100-minütigen Dokumentarfilm The Sense of Tuning, den die beiden Filmemacher Ila Bêka und Louise Lemoine anlässlich der Ausstellung gedreht und in dem sie den Architekten einen Tag durch Mumbai begleitet haben – nicht nur bei seiner Arbeit, sondern auch beim Meditieren, beim Ausführen der Hunde, beim Philosophieren über religiöse Rituale.

„Ich will Architektur für die Sinne machen“, sagt er in der 55. Minute. „Und zwar nicht nur für die fünf Sinne, die wir schon kennen, sondern auch für den sechsten Sinn, der in Zukunft eine noch viel wichtigere Rolle spielen wird als heute – für die Intuition. Denn neben dem Schauen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken ist dies genau das, wie wir uns den Raum erarbeiten – in intuitiven Gedanken. Erst diese Intuition ermöglicht Präsenz.“ Hilfe!

Fassungslosigkeit

Ausstellung und Film bieten einen sehr intimen, sehr künstlerischen, sehr berührenden Einblick in das Leben eines Architekten, der in den letzten Jahren, seit seiner internationalen Erstentdeckung auf der Biennale in Venedig, eine sichtlich große Reise unternommen hat – von einem sensiblen, bauenden, das Handwerk liebenden Architekten zu einem atmenden, von alltäglichen Zwängen befreiten Künstler, fast schon Guru, der sich jedem Konkretisierungsversuch geschickt zu entziehen weiß.

Letztendlich liegt es an uns selbst, wie wir diese buchstäbliche Fassungslosigkeit Bijoy Jains interpretieren. Möglichkeiten gibt es viele. Eine davon ist, seine Position als planetaren Hilfeschrei zu verstehen und zu erkennen, wie wir unsere Baukultur, wie wir unsere Ressourcen, wie wir unseren eigenen Daseinsraum mit einer immer globaleren, immer mehr um sich wütenden Bauindustrie zugrunde richten.

„Es geht um das Bauen im Einklang mit der Natur und den Ressourcen, die uns die Erde zur Verfügung stellt, und nicht um das Ausbeuten“, sagt Bijoy Jain am Ende. „Wir haben verlernt zu atmen, und nun nehmen wir auch der Erde ihren Atem weg. I think it’s time to rest.“

Die Reise nach Paris erfolgte auf Einladung der Fondation Cartier. Die Ausstellung „Breath of an Architect“ ist noch bis 21. April 2024 zu sehen. Empfehlung Buchpublikation: „Le souffle de l’architecte“, Dokumentarfilm „The Sense of Tuning“ von Bêka Lemoine.

Der Standard, Sa., 2024.01.13

08. Januar 2024Wojciech Czaja
db

Konzertsaal in Karlsbad

Gestern imperiales Kurbad mit schlammigen Moorbädern, geplant von den Wiener Theaterarchitekten Fellner & Helmer, heute radikale Musiktribüne in kräftigem Signalrot, hineinimplantiert vom tschechischen Architekten Petr Hájek. Zu Besuch in den Císařské Lázně in Karlsbad.

Gestern imperiales Kurbad mit schlammigen Moorbädern, geplant von den Wiener Theaterarchitekten Fellner & Helmer, heute radikale Musiktribüne in kräftigem Signalrot, hineinimplantiert vom tschechischen Architekten Petr Hájek. Zu Besuch in den Císařské Lázně in Karlsbad.

Kateřina Kněžíková betritt die Bühne, champagnerfarbenes Abendkleid mit glitzernden Steinchen, ein knallrotes Reflektieren am ganzen Körper. Und setzt zu den ersten Versen an: »Una donna a quindici anni, dèe saper ogni gran moda, dove il diavolo ha la coda, cosa è bene e mal cos’è.« Schon ein Mädchen von fünfzehn Jahren, singt die Sopranistin, müsse die große Kunst verstehen, wo der Teufel hat den Schwanz, was gut sei und was schlecht. Ihre Arie aus Mozarts »Così fan tutte«, so tun es angeblich alle, füllt den ganzen Raum, der Schall pflanzt sich fort bis hoch in die allerletzte Reihe. »Dèe in un momento, dar retta a cento, colle pupille, parlar con mille.« In einem Moment, zu Hunderten wechselt sie die Blicke, zu Tausenden die Worte.

Gar so viele Männer und Frauen passen in den neuen Konzertsaal nicht hinein, aber immerhin an die 300, verteilt auf insgesamt 13 Reihen, voll bestückt mit superbequemen, teufelsrot bespannten Klappsitzen, die sich bei Bedarf mitsamt Tribüne mit wenigen Handgriffen umklappen und nach hinten schieben lassen und den Saal stattdessen mit einer ebenen Kongressfläche beschenken. In welchem Zustand auch immer, das kräftige Signalrot, RAL 3001, füllt den Innenhof des ehemaligen Kaiserbads, Císařské Lázně, errichtet 1895 von den Wiener Theaterarchitekten Fellner & Helmer, und verleiht der längst stillgelegten Badeanstalt im südlichsten Talschlusszipfel von Karlsbad auf diese Weise ein immerhin theatralisches Leben nach dem Tod.

Ein Haus wird wachgeküsst

»Ich bin selbst in Karlsbad geboren und aufgewachsen und habe den Charme dieser Stadt immer schon geliebt«, sagt der Prager Architekt Petr Hájek. »Doch ich kann mich erinnern: Schon in meiner Kindheit war das Kaiserbad leer und verwaist, der Kurbetrieb bereits eingestellt. Nach vielen Jahrzehnten gab es nun die einmalige Chance, das Haus wachzuküssen und einer neuen Funktion zuzuführen.« Die Pläne zum Einbau einer Konzertbühne reichen schon viele Jahre zurück, 2018 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, doch das Projekt steckte nach zwei Jahren fest, weil die ausschweifenden Wünsche der Auftraggeber mit den baulichen, technischen Möglichkeiten und den Anforderungen der Denkmalbehörde nicht in Einklang zu bringen waren. Die Planungen wurden gestoppt.

»Daraufhin wurde ich 2020 kontaktiert und gebeten, als eine Art Troubleshooter einzuspringen und einen alternativen Entwurf auszuarbeiten«, erzählt Hájek, der schon einmal zum Architect of the Year gekürt wurde, mit einem irgendwie beelzebübischen, genussvollen Grinsen im Gesicht. Sein Erfolgsrezept: »Nicht alles ins Gebäude hineinquetschen, was man sich im Idealfall erträumt, denn damit kann man nur scheitern, sondern stattdessen auf die räumlichen Gegebenheiten reagieren und die Bauaufgabe auf das reduzieren, was der Raum und die schwierigen Parameter erlauben. Gerade in so einer fragilen, einzigartigen Situation muss man sehr sensibel vorgehen.«

Bühne und Tribüne wurden daraufhin verkleinert und als eine Art selbsttragendes Stahlmöbel in den Hof hineingestellt, die technischen und materiellen Schnittstellen wurden damit auf ein Minimum reduziert, auf Kulissen und unmittelbar angrenzende Backstage-Räumlichkeiten wurde gänzlich verzichtet, und sogar die Haustechnik konnte im Gespräch mit den Bauherren auf eine kompakte Lowtech-Sparvariante abgespeckt werden. Vor und nach dem Konzert sowie in den Pausen wird die Lüftung auf 100 Prozent hochgefahren, während der Vorstellungen hingegen fährt die Anlage auf viertel oder halbe Kraft herab, bei Tonaufzeichnungen wird sie komplett auf Standby gestellt. Aufgrund der enormen Raumhöhe von rund 20 m ist genug Frischluft für alle vorhanden. Hájek: »Ungewöhnliche Aufgaben erfordern ungewöhnliche Lösungen.«

18:53 Uhr. In wenigen Minuten beginnt das Konzert. Gleich wird Kateřina Kněžíková die Tschechischen Philharmoniker mit ihrer Sopranstimme begleiten, gefolgt von Haydn und Beethovens 5. Sinfonie in c-Moll. Während die Gäste den Saal betreten und ihre Sitzreihen auf den ebenfalls knallrot lackierten Stufen erklimmen, stehen unter der Tribüne einstweilen die Musikerinnen und Musiker, stimmen ihre Instrumente mangels Backstage-Bereich vor den Augen (und Ohren) des einströmenden Publikums ein, räuspern sich, zupfen an den Saiten, speicheln ihre hölzernen Mundstücke ein. Eine Kakophonie auf Tuchfühlung, frei von jeglichen Barrieren, mal abgesehen vom Talent der darstellenden Kunst, so simpel und basisdemokratisch hat sich die räumliche Begebung in klassischer E-Musik noch nie angefühlt.

19:00 Uhr. Wo eben noch die Besucherinnen und Besucher nach oben spaziert sind, marschieren nun die Orchestermitglieder der Tschechische Philharmonie die Treppen hoch, gewappnet mit Violinen und Bratschen, mit Klarinetten, Querflöten und ausladend gerollten Hörnern. Applaus. Wenige Momente später betritt Dirigent Tomáš Netopil die Bühne. Und schon bei den ersten Zwischenabtritten, die mangels Backstage-Bereich in diesem Gebäude lediglich angedeutet werden können, wird man als Zuschauer – wenn neben dem Stiegenabgang bald ein schwarz gekleideter Herr auftauchen wird, mit einem weißen Handtuch, keck über den Unterarm geworfen, um dem Dirigenten die Möglichkeit zu bieten, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen – unweigerlich schmunzeln müssen. Ungewöhnliche Aufgaben, hat der Architekt gesagt, erfordern ungewöhnliche Lösungen, jawohl.

Mit 4.592 Schrauben verbunden

Die Exotik liegt dem Bauwerk schon seit seiner Fertigstellung anno 1895 bis ins kleinste Detail inne. Denn ursprünglich wurde das Kaiserbad für gesundheitlich wohltuende Moorbäder genutzt. Um den Angestellten die Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes zu erleichtern und das schwere Schleppen des Schlamms zu vermeiden, diente der Innenhof als reiner Service-Hof, mit einem Stahlkran in der Mitte, der die mit Moor gefüllten Wannen durch Fensteröffnungen direkt in die Badezellen hineinschob, um sie nach dem Baden der Gäste wieder zu entnehmen und im UG des Hofs mit frischem Torf und Wasser aufs Neue zu befüllen.

»Damals clever, heute clever«, sagt Petr Hájek ganz lapidar. Um die Bauarbeiten zu vereinfachen, wurde das ehemalige verglaste Stahldach entfernt. Durch die so entstandene Öffnung konnten die geschweißten, vorgefertigten Stahlelemente, 746 Stück an der Zahl, per Kran in den Innenhof gehievt werden.

Um die Konstruktion eines Tages auch wieder zerlegen zu können, musste die Montage der einzelnen Komponenten – eine Anforderung der Denkmalbehörde – ausschließlich mittels Schraubverbindungen erfolgen. 4 592 Schrauben halten das 16 m hohe Theater-Implantat, das die denkmalgeschützten Hofmauern an keiner einzigen Stelle berühren durfte, zusammen. Erst nach Fertigstellung des roten Teufelswerks wurde das Dach wieder geschlossen – mit einem stählernen Tragwerk samt Trapezblech und Dämmung, in den Zwischenräumen des Fachwerks werden die verhältnismäßig spärlich dimensionierten Lüftungsleitungen geführt.

Aus akustischen Gründen wurde die gesamte Stahlkonstruktion mit ebenfalls signalrot lackiertem Streckmetall verkleidet. Im Überkopfbereich über dem Orchester kamen CNC-gefräste Sperrholzplatten zum Einsatz. Als Vorlage für die unregelmäßig verspielte Oberfläche mit ihrem reizvollen Licht- und Schattenspiel diente die topografische 3D-Landschaft rund um Karlsbad, irgendwie charmant. Die 300 gepolsterten Klappsitze – ein Entwurf Jean Nouvels für die Philharmonie in Paris, den Petr Hájek als Lizenz für dieses Projekt in Absprache mit dem Atelier Nouvel übernommen hat – tun ihr Übriges.

Für klassische Sinfonien, Violinkonzerte und Mozart-Arien eignet sich der Klang ohrenscheinlich ganz wunderbar, für Kammermusik und andere, atmosphärisch etwas dumpfere Musik wird man noch weitere Maßnahmen ergreifen müssen. Geplant sei, so Hájek, die hufeisenförmige Ummauerung des Innenhofs mitsamt ehemaligen Badezimmerfenstern mit einem schwarzen, raumhohen Vorgang auszustatten, den man bei Bedarf ganz oder zumindest teilweise wird schließen können. Dann wird sich der Saal mit seiner mobilen Kinoleinwand, die man hinter dem Orchester hervorzaubern kann, nicht zuletzt auch als Location für das Karlovy Vary International Film Festival noch besser eignen. Die Nachrüstung wird dem Projekt guttun.

Beethovens Fünfte ist gleich zu Ende. Die Violinen sägen sich eifrig in die letzten Schlussakkorde ein. Die Theaterbühne in Fellners & Helmers Kaiserbad, so viel ist nach knapp zwei Stunden Moll-Kunstgenuss sicher, ist ein radikaler, ungewöhnlicher, aber durch und durch schlüssiger und geglückter Bau, der dem Publikum angenehmen und mitunter begeisterten Gesprächsstoff, Klangfarbe Dur, liefert. Applaus.

db, Mo., 2024.01.08



verknüpfte Zeitschriften
db 2024|01-02 Kulturbauten

23. Dezember 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Magnolien für Herrn Kennedy

In Wien-Penzing wurde kürzlich das Wohnprojekt Kennedy Garden übergeben. Die enorme Bebauungsdichte und die unglückliche Akustik werfen viele Fragen auf: Haben wir Stadtverdichtung wirklich schon zu Ende gedacht?

In Wien-Penzing wurde kürzlich das Wohnprojekt Kennedy Garden übergeben. Die enorme Bebauungsdichte und die unglückliche Akustik werfen viele Fragen auf: Haben wir Stadtverdichtung wirklich schon zu Ende gedacht?

Im fünften Stock steht ein Mann auf dem Balkon und telefoniert. Nicht besonders laut und schon gar nicht überbordend in seinem stimmlichen Volumen, und dennoch versteht man jedes einzelne Wort. „Ja, nein, geht leider nicht, war aber ausgemacht, wann kann die Lieferung erfolgen?“ Ein paar Kojen weiter, zwei Etagen tiefer, sitzen ein paar Freunde an der frischen Luft, Prost, und unterhalten sich über den edlen Tropfen im Glas, eine Mischung aus Säure, Abgang, Wohlgefallen. Schräg vis-à-vis klirrendes Kindergeschrei, nach wenigen Sekunden wird die Terrassentür geschlossen.

Fast ist man verleitet, nach den Lautsprechern zu suchen, so unerhört gut pflanzt sich der Schall in diesem 30 mal 30 Meter großen, zehnstöckig umzingelten, mit harten Oberflächen verglasten und zubetonierten Innenhof fort. Ein akustisches Schaustück des Alltags, ein riesiges Amphitheater des Wohnens, in dem sich die Loggien um die freie Mitte gruppieren wie die Logen im Burgtheater, in der Staatsoper um Bühne und Parkett. Fragt sich nur: Wer ist hier der Schauspieler und wer das Publikum?

„Den durch häusliche Räume zum Ausdruck gebrachten Empfindungen muss nichts ungewöhnlich Liebreizendes oder Anheimelndes anhaften“, schreibt Alain de Botton in seinem 2006 erschienenen Buch Glück und Architektur. Von der Kunst, daheim zu Hause sein . „Zwischen den Vorstellungen von Heim und heimelig besteht keine notwendige Verbindung. Was wir Zuhause nennen, ist nur ein Ort, dem es gelingt, uns dauerhaft wichtige Wahrheiten näherzubringen, die von der weiten Welt ignoriert werden.“

Hohe Bebauungsdichte

Kennedy Garden heißt dieses Projekt, das der Wiener Wohnbauträger Buwog mitten in die historische Penzinger Vorstadtbebauung hineinstellte. Einst befand sich hier, nur wenige Schritte von der Kennedybrücke entfernt, ein großer Siemens-Bürokasten. 2013 beschloss die Buwog, das rund zwei Hektar große Areal zu kaufen und umzuwidmen. Wo einst gearbeitet wurde, wird nun mittel- bis hochpreisig gewohnt. 512 Wohnungen umfasst das Mammutprojekt unter dem euphemistischen, marketingtechnisch gut gewählten Titel „Kennedy Garden“.

Die einzelnen Wohnhäuser, nicht weniger blumig, hören auf Namen wie etwa Calla, Orchidea, Lavandula oder – wie im bildlich dokumentierten Falle – Magnolia mit insgesamt 206 freifinanzierten Eigentumswohnungen. Bis auf ganz wenige Restposten, erfährt man auf Anfrage bei der Buwog, die sich am Immobilienmarkt seit vielen Jahren mit dem Slogan „Glücklich wohnen“ positioniert, sind bereits alle Wohnungen verkauft. „Schöne Häuser“, schreibt de Botton, „scheitern nicht nur als Garanten des Glücks, sie müssen sich auch vorwerfen lassen, dass es ihnen durchaus nicht immer gelingt, den Charakter ihrer Bewohner zu verbessern.“

Doch warum ist das Grundstück – vor allem im Bereich des Bauteils Magnolia – in einer solchen Wucht vollgepfercht, die sogar die Bebauungs- und Bevölkerungsdichte einzelner Straßenblocks in Neubau, Josefstadt und Margareten übertrifft?

„In Bezug auf die Dichte ist das Projekt grenzwertig“, sagt Herwig Kleinhapl, Partner im Grazer Büro Love Architecture and Urbanism, das aus einem geladenen Architekturwettbewerb 2017 als Sieger hervorgegangen ist. „Die Bebauungsfläche und Baufluchtlinien hat die Stadt Wien in einem Bebauungsplan definiert. Hätten wir uns den Vorgaben widersetzt, wären wir wahrscheinlich disqualifiziert worden. Unsere Aufgabe war es daher, mit den strikten Vorgaben bestmöglich umzugehen.“

Bestmögliche Privatsphäre

Und ja, die Architektur reagiert auf die vorgegebene Dichte, indem sie alle Stückel der räumlichen Geometrie spielt: Die Loggien und Achsraster der einzelnen Wohnungen sind leicht verdreht und orientieren sich zur offenen Flanke des Innenhofs, die Vor- und Rücksprünge schaffen ein Maximum an Abwechslung und kleinteiliger Verspieltheit, die massiven Querschotten sorgen für bestmögliche Privatsphäre. Der Kritik tut dies keinen Abbruch, auf dem visuellen und akustischen Präsentierteller bleibt man trotzdem.

Und was sagt die Buwog selbst zum Unglück des Autors dieser Zeilen, zur Skepsis an der immobilienwirtschaftlichen Jetztzeit-Praxis? „Wir befinden uns hier in der Tat in einer hohen Bebauungsdichte, dennoch gebe ich zu bedenken: Architektur und Dichte sind ein sehr subjektives Thema“, meint Andreas Holler, Geschäftsführer der Buwog. „Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, dass Bebauungsdichte an der einen Stelle, Entsiegelung und Begrünung an anderer Stelle und vor allem Baukosten und Finanzierungsaspekte miteinander kommunizierende Gefäße sind.“

Neue Wohndebatte

Dank des Bauteils Magnolia, so Holler, sei es gelungen, im südlichen Teil des Areals einen großen Park mit Spielplätzen anzulegen und im gesamten Projekt generell faire, leistbare Kaufpreise zu gewährleisten. „Und was die Akustik betrifft: Jedes Projekt bringt neue Learnings und Erkenntnisse mit, so auch im Kennedy Garden. Um die von Ihnen angesprochene Schallproblematik zu verbessern, planen wir nun, die Geländesprünge und Stützmauern zusätzlich zu begrünen.“

Nachträgliche Stadtverdichtung ist gut und wichtig. Wir werden das Wachstum Wiens und anderer europäischer Großstädte nicht allein mit Bahnhofsüberbauungen und Satellitenstädten à la Aspern in den Griff kriegen. Zugleich aber beweist Kennedy Garden, dass wir noch einige sozialräumliche und stadtplanerisch-gesellschaftliche Hausaufgaben zu erledigen haben – oder aber unseren bislang gewohnten, mitteleuropäischen Wohnkomfort in puncto Privatsphäre gehörig überdenken müssen. Bevölkerungswachstum und Allüren auf Basis partikularer Interessen sind in Zukunft nicht länger vereinbar. Ein Weihnachtswunsch: Es braucht eine neue Wohndebatte.

„Im psychologischen wie im physischen Sinne brauchen wir ein Zuhause als Kompensation für unsere Verletzlichkeit“, schreibt Alain de Botton, ein letztes Mal Glück und Architektur . „Doch dann, wenn wir endlich allein sind und aus dem Salonfenster in den Garten und in die zunehmende Dunkelheit schauen, können wir langsam wieder Kontakt mit dem wahren Selbst aufnehmen, das in der Kulisse nur auf das Ende unserer Show gewartet hat.“

Der Standard, Sa., 2023.12.23

09. Dezember 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Aufmarsch der Badeenten

Letzte Woche hat das Hotel Badeschloss seinen Betrieb aufgenommen. Der erste nennenswerte Neubau in Bad Gastein seit langem. Aber nicht der letzte! Eine Geschichte über lustige Hotelzimmer und drohende Bettenfluten.

Letzte Woche hat das Hotel Badeschloss seinen Betrieb aufgenommen. Der erste nennenswerte Neubau in Bad Gastein seit langem. Aber nicht der letzte! Eine Geschichte über lustige Hotelzimmer und drohende Bettenfluten.

Wir waren zwei Tagesreisen vom Badeschloss entfernt, als durch ein verbotenes, verbotenes, verbotenes, ruckartiges Zurückwenden, durch eine Drehung aus der Schulter der gesamte, bereits zurückgelegte Weg wieder vor uns lag“, singt der deutsche Musiker Friedrich Liechtenstein in seinem Chanson Das Badeschloss. Und als hätte er es bereits damals geahnt, 2014, noch lange, bevor sich irgendein Impuls abzeichnete, bevor der erste Bagger anrollte und der Baukran die gelb-pink-königsblau gekachelte Saunalandschaft im 13. Stock fertigbetonierte: „Once upon a time, memories of them, looks like promises of Cadillacs and glam. Wir liegen Rücken an Rücken, und jeder hält sein gelbes Yo-Yo fest, wir sind made for the future.“

Wider den morbiden Charme

Seit letzter Woche ist das Zukunftsversprechen nun manifest, standfest im Ortszentrum verankert, nur wenige Meter vom Gasteiner Wasserfall entfernt, der mit 80 Dezibel die Felswand herunterkracht und die Fassade des historischen Badeschlosses mit einer eisigen Gischt umspült. Nach rund dreijähriger Bauzeit wurde das Hotel Badeschloss, das jahrzehntelang vor sich hingammelte, mit seinem zum Teil abgebrannten Dachstuhl und längst vermoosten Wänden, am 1. Dezember feierlich wiedereröffnet – und ist nach vielen, vielen Jahren der erste nennenswerte Neubau in ganz Bad Gastein.

„Bad Gastein war im 18. Jahrhundert ein Pionier des alpinen Tourismus“, sagt Lisa Loferer, Geschäftsführerin des lokalen Kur- und Tourismusverbands. „In den letzten Jahrzehnten jedoch haben viele Hoteliers verabsäumt zu investieren. Zuletzt war Bad Gastein vor allem für seinen morbiden Charme bekannt. Doch plötzlich“, meint Loferer, „wir konnten es kaum glauben, stand nach langer Zeit wieder ein Kran im Ort, ein Meilenstein für uns alle, ein Zeichen für Neubeginn.“

Bad Gastein – das sogenannte, vielzitierte Manhattan der Alpen, mit kaisergelben Villen und dramatischen Türmchen, mit Grandhotels, die auf der steilen Böschung zu gigantischen Herbergen heranwachsen. Was also läge näher, meint Erich Bernard, Partner bei BWM Architects and Designers, als sich dieser Typologien anzunehmen und die Stadt mit einem neuen, zeitgemäßen Hochhaus weiterzubauen? Mit 13 Geschoßen und 35 Meter Höhe birgt es 82 Zimmer, eine zweigeschoßige Spa-Landschaft und einen beheizten Dach-Pool mit Blick ins Gasteinertal.

Außen präsentiert sich das neuneckige Prisma als doppelschalige Betonkonstruktion mit unregelmäßig versetzten französischen Fenstern, rau, rough, brutalistisch, je nach Wetterlage scheint sich die graue Fassade vor der Felsenkulisse in ein paar gesprenkelte Pixel aufzulösen.

Innen hingegen ließ sich BWM von der namensgebenden Prämisse des 1794 errichteten Hauses inspirieren und verwandelte das Ding in ein neues, ziemlich freches Bobo-Badeschloss – mit knalligen Farben, gefliesten Schwimmstreifen und gelben Perlonbändern, die mit Chip und Kästchennummer üblicherweise unsere Handgelenke zieren und in den Zimmern nun als Schlaufe zum Öffnen der Laden und Schränke dienen.

„Es war eine wunderschöne Aufgabe, die Geschichte in die Gegenwart zu übertragen“, sagt Bernard. „Im Neubau haben wir uns mit dem Motto des Hotels ausgetobt, es ist ein Haus für Badefreunde und detailverliebte Hedonisten, die hier in die Ästhetik eines Siebzigerjahre-Hallenbades abtauchen wollen. Den Altbau hingegen haben wir behutsam saniert und aufpoliert.“ Hier befinden sich nun Lobby, Bar, Rezeption, Restaurant mit Showküche sowie 20 historische Zimmer, eines davon sogar mit zwei freistehenden Badewannen mitten im Schlafzimmer. Selbstquietschend, Badeenten überall.

Jede Menge Patina

Das Badeschloss ist nicht die einzige Neuigkeit in Bad Gastein. Genau vis-à-vis hat bereits vor wenigen Monaten das Straubinger Grand Hotel seinen Betrieb aufgenommen – mit fünf Sternen, 46 Zimmern und jeder Menge Patina und abgeblätterten Wänden, die hier auf luxuriöseste Weise ästhetisch zelebriert werden. Obwohl sich das Haus vollkommen anders am Markt positioniert (die Maybachs und Jaguars sind bereits geparkt), werkt hinter den Kulissen das exakt gleiche Team: Architektur von BWM, betrieben wird das Haus von der Berliner Travel Charme Hotel GmbH & Co. KG, im Grundbuch steht die Hirmer Verwaltungs GmbH mit Sitz in München.

Interessantes Detail: Mehr als 20 Jahre waren die beiden Liegenschaften in Besitz des Wiener Investors und „Garagenkönigs“ Philippe Duval, dem auch das Haus Austria und das denkmalgeschützte Kongresshaus gehören und der sich weigert, auch nur einen Cent in die Erhaltung seiner Immobilien zu investieren. Aufgrund von Gefahr in Verzug ist das Land Salzburg als eine Art Zwischenhändler eingesprungen und hat die beiden Häuser nach Abschluss der dringlichsten Sofortmaßnahmen zum Nullsummenspiel weiterverkauft. Duval selbst ist auf Anfrage des ΔTANDARD nicht zu erreichen.

„Die beiden Hotels sind ein schöner Impuls“, sagt Eva Hody, Landeskonservatorin Salzburg im Österreichischen Bundesdenkmalamt. „Straubinger respektiert die alte Bausubstanz, und das Badeschloss, obwohl neu, fügt sich in seiner Hochhaustypologie sowie in seiner Struktur, Farbigkeit und Materialität sehr gut in die dahinterliegende Felslandschaft. Bad Gastein zeichnet sich von jeher durch eine extreme Bebauung in Hanglage aus, mit talseitig bis zu acht- und neungeschoßigen Fassaden. Ein Turm wie dieser ist ein durchaus möglicher Weg.“

Epoche der Baukräne

Des einen Segen, der anderen Fluch: Die Revitalisierung von Straubinger und Badeschloss hat eine Handvoll internationaler Hotelketten und Projektentwickler auf den Plan gerufen. 15 Jahre nachdem Lokalmatadore wie etwa Ike Ikrath, Evelyn Ikrath und Olaf Krohne bislang sensibel auf den Ort reagiert und in den leerstehenden Immobilien nachhaltige Hotelkonzepte implementiert haben, scheint nun eine Epoche der Baukräne zu starten. Die aktuell 8500 Hotelbetten sollen auf 10.000 bis 12.000 Betten aufgestockt werden.

„Über ungelegte Eier möchte ich nicht sprechen“, sagt Gerhard Steinbauer (ÖVP), Bürgermeister von Bad Gastein. „Aber ja, Fakt ist: Einige Projekte befinden sich bereits in Entwicklung, wir sind mit den Betrieben in intensiven Gesprächen. Und wir werden uns darauf konzentrieren, Altsubstanz zu sanieren und alte, bereits gewidmete Grundstücke zu bebauen, auf denen früher schon mal ein Hotel stand. Bis zu maximal 3500 Betten sind möglich.“

Die Renaissance von Bad Gastein ist eine große Chance. „Promises of Cadillacs and glam, wir sind made for the future.“ Zugleich ist jetzt der dringliche Zeitpunkt, diese Renaissance aktiv zu planen und nicht allein fremden, ausschließlich ökonomisch fokussierten Investoren und Spekulanten zu überlassen. Es braucht dringend ein baukulturelles Leitbild, besser noch, einen unabhängigen städtebaulichen Wettbewerb. Andernfalls läuft Bad Gastein Gefahr, seinen einzigartigen Charme einzubüßen.

Die Übernachtung im Straubinger Grand Hotel erfolgte auf Einladung von Travel Charme.

Der Standard, Sa., 2023.12.09

02. Dezember 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Unsere Wohnung ist das weiße Papier in unserem Leben

Roland Winkler und Klaudia Ruck leiten ein gemeinsames Architekturbüro in Klagenfurt. Sie mögen sich sehr, sagen die beiden, aber zwischen Bett und Büro braucht es auch einmal eine geografische Auszeit

Roland Winkler und Klaudia Ruck leiten ein gemeinsames Architekturbüro in Klagenfurt. Sie mögen sich sehr, sagen die beiden, aber zwischen Bett und Büro braucht es auch einmal eine geografische Auszeit

Das Wichtigste ist das Wohnzimmer. Der Raum ist hell, weiß, irgendwie unbelastet. Nachdem wir ja beide in der Architektur tätig sind und uns den ganzen Tag mit Raum, Funktion, Ästhetik, Gestaltung und viel Krimskrams beschäftigen, können wir uns hier entspannen und zur Ruhe kommen. Manche sagen, dass es bei uns immer so aufgeräumt ist. Die Wahrheit ist: Wir räumen nicht wirklich auf, wir sind auch nicht besonders diszipliniert, zumindest nicht in der eigenen Wahrnehmung, es schaut einfach so aus, weil wir es – nach einem langen, intensiven Tag – gar nicht anders aushalten würden.

Hinter dem Weißen, Minimalistischen verbirgt sich aber auch ein ganz anderer Grund: Eigentlich ist hier alles sehr simpel, sehr Lowtech und auch sehr billig gebaut, denn als wir vor einem Vierteljahrhundert eingezogen sind, hatten wir fast kein Geld. Die Decke mit den genagelten Dachträgern war schon hier, wir haben sie lediglich weiß lackiert. Die Fenster zum Innenhof sind übrig gebliebene, reklamierte Bauteile der Tischlerei, die hier beheimatet war. Wir haben den Restposten übernommen und die Größe des Innenhofs an die Fenster angepasst. Sogar das Bad ist komplett recycelt. Gemeinsam mit Kollegen hatten wir eine Ausstellung gemacht, nach dem Abbau wusste niemand, wohin mit den Ausstellungstafeln, und so haben wir statt einer Verfliesung das Badezimmer damit ausgekleidet. Wir sind richtige Restlverwerter! Heute würde man Kreislaufwirtschaft dazu sagen.

Ein bisschen erinnert uns die Wohnung an unser Studium. Als wir in Graz Architektur studiert haben, hatten wir einen Schreibtisch im Zeichensaal der TU. Noch lange vor CAD-Zeiten haben wir unsere Pläne ja händisch gezeichnet – mit Lineal und Tuschestift auf Transparentpapier. Und nach jedem größeren Projekt, wenn der Tisch schon schmutzig und vollgekritzelt war, haben wir die Platte mit weißem Papier neu bespannt. Das war wie ein seelisches, psychohygienisches Aufräumen! So ähnlich ist auch unsere Wohnung: Sie ist das weiße, saubere, aufgespannte Papier in unserem Leben.

Wir wohnen hier im Osten von Klagenfurt. Im Grunde genommen ist das ein klassischer Industriebau aus der Vorkriegszeit. Früher befand sich hier eine Tischlerei, später war im Erdgeschoß der Klagenfurter Modelleisenbahnverein eingemietet – mit der größten Modelleisenbahn Kärntens, bitte schön! Heute nutzt ein befreundeter Künstler den Raum als Atelier. Im ersten Stock haben wir unser Büro eingerichtet, als die Kinder kamen, haben wir den Bereich daneben zur Wohnung ausgebaut. Die beiden Fenster hinter uns sind eine Notlösung, denn die Nachbarin wollte nicht, dass wir ihr auf die Terrasse schauen. Und so haben wir diese Lamellen aus Holzbrettern gebaut. Mit einem simplen Seilzug kann man sie auch ganz zumachen.

Der Bullerjan in der Mitte des zwölf Meter langen Wohnzimmers eignet sich nicht nur zum Heizen, sondern ist auch eine Art Grenze zwischen uns beiden. Im Büro picken wir den ganzen Tag aneinander, und im Bett dann auch in der Nacht. Dazwischen brauchen wir im Wohnen etwas Distanz, eine geografische Auszeit voneinander, weil wir uns sonst nicht aushalten würden. Dem einen gehört die Couchlandschaft, der anderen der Esstisch. Das eine eignet sich zum Lümmeln, Musikhören, Fernsehen, das andere zum Lesen und Patience-Karten-Legen. Die täglich zelebrierte Trennung funktioniert wunderbar, wir mögen uns noch immer!

Auf dem Grundstück nebenan, das sich nach dem Abbruch einer ehemaligen Lederfabrik die Natur zurückerobert hat, wird in den kommenden Jahren ein gemeinnütziger Wohnbau errichtet. Das Haus wird uns ziemlich nah auf die Pelle rücken, unsere Aussicht aus dem Fenster wird auf drei Meter reduziert, wir müssen uns was einfallen lassen. Aber wir sind guter Dinge. Wir lieben es, mit Widrigkeiten umzugehen. Aus der Not entstehenden die besten Tugenden.

Der Standard, Sa., 2023.12.02



verknüpfte Akteure
WINKLER+RUCK

18. November 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Werkstatt namens Westbalkan

Sarajevo ist zwar wunderschön, hat aber auch einen Haufen infrastruktureller Probleme. Der Reparaturbedarf ist enorm. Architekten, Städtebauer und sogar Kulturschaffende scheinen den Westbalkan nun neu zu entdecken.

Sarajevo ist zwar wunderschön, hat aber auch einen Haufen infrastruktureller Probleme. Der Reparaturbedarf ist enorm. Architekten, Städtebauer und sogar Kulturschaffende scheinen den Westbalkan nun neu zu entdecken.

Nach ein paar Minuten kommt der Kellner mit den Metalltellern. Ein halbes Fladenbrot, gefüllt mit zehn Ćevapčići, eine von oben wild hineingerammte Gabel, daneben ein Gupf Rahm und ein Berg aus fein gehackten Zwiebeln. Die Baščaršija, eine Art Jerusalem im Kleinen, eine Collage aus Kreuzen, Monden und Sternen, ist das Ćevapčići-Epizentrum der Welt. Hier liegt, Grillofen an Grillofen, eine Ćevabdžinica neben der anderen, die Željo, die Softić, die Mrkva, die Petica und die Hodžić, allesamt historische Familienbetriebe. Jede einzelne Familie hält ihr Rezept seit Generationen schon streng geheim.

Doch leider ist Sarajevo nicht nur eine der schönsten, sinnlich intensivsten Städte Europas, sondern zugleich auch einer der größten urbanistischen Patienten. Unter der Last der eigenen, so reichhaltigen Geschichte kam es im Laufe der Zeit zu eklatanten Brüchen – hin- und hergerissen unter den Slawen, Osmanen und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, blockfreie Teilrepublik des Vielvölkerstaats Jugoslawien, ein Hotspot von Ethnien, Kulturen und Religionen, Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1984 sowie, wenig später, Tatort des drei Jahre lang andauernden Bosnischen Krieges, der der Stadt und ihren Menschen große Wunden zugefügt hat.

„Es ist viel passiert, und jede einzelne Epoche hat die Stadt auf ihre Weise weitergebaut und weiterentwickelt“, sagt die bosnische Architektin und Stadtplanerin Nermina Zagora, ihr Büro befindet sich in der 1966 errichteten Terrassensiedlung Ciglane, abgetreppt in den Hang hineingebaut, mit eigener Standseilbahn und Blick auf die ganze Innenstadt. „Die Folge ist, dass wir es heute mit einer städtischen Infrastruktur zu tun haben, die stark fragmentiert ist und die nie ein konsistentes Konzept hatte. Wir haben so viele Umbrüche und Veränderungen erlebt, wir sind irgendwie „lost in translation“.“

Der Verkehrsmasterplan stammt noch aus den 1970er-Jahren, als die Klimakrise noch in weiter Ferne lag. Das öffentliche Verkehrssystem wiederum baut auf einer einzigen Straßenbahnlinie auf, die sich wie eine eiserne Schlinge um die Bašèaršija legt, den Rest übernehmen Busse und neu angekaufte, knallgelbe Trolleybusse. Doch die größte Herausforderung ist die Erschließung der Hillside-Settlements, der sogenannten Mahalas, die in Form von einst informell errichteten Hütten, Häusern und Villen an den Nord- und Südhängen der Stadt den Berg hinaufwachsen.

Hoher Motorisierungsgrad

„Die Mahalas verleihen der Stadt ihr unverwechselbares Gesicht, sind aber auch ein großes infrastrukturelles Problem“, sagt Zagora, die letztes Jahr in Zusammenarbeit mit Dina Šamić das Buch Urban Rooms of Sarajevo herausgebracht hat. „Für eine hochwertige Verkehrsverbindung ist die Topografie zu steil, die Straßenstruktur zu verwinkelt, und die Seilbahnkonzepte, die in Anlehnung an südamerikanische Öffi-Modelle angedacht wurden, sind allesamt an den hochkomplexen Eigentumsverhältnissen gescheitert. Die Folge ist: Die meisten fahren mit dem Auto.“

Der hohe Motorisierungsgrad sowie die katastrophale Wärmeversorgung – an die 40.000 Haushalte heizen laut einer Schätzung der Umweltorganisation Eko-Akcija mit Holz, Kohle und Haushaltsmüll, manchmal sogar mit alten Autoreifen – führt dazu, dass die Feinstaubbelastung in den Wintermonaten über dem Zehnfachen des EU-Grenzwerts liegt. Aufgrund der Lage im Talkessel ist die Luftverschmutzung dann größer als in Peking, Mumbai oder Neu-Delhi. „Je nach Wetterlage“, sagt Zagora, „liegt der Rauch oft tagelang über der Stadt. Wir brauchen dringend eine Lösung.“

Die Stadt als Burek

Das weltweit tätige Netzwerk Urban Think Tank (UTT) arbeitet genau daran. Die beiden Architekten und Stadtforscher Hubert Klumpner und Michael Walczak, die an der ETH Zürich Architektur und Urban Design unterrichten, nahmen die größten Defizite Sarajevos unter die Lupe und luden Büros aus aller Welt ein, sich an der Lösungsfindung in Form von Visionen, Konzepten und Best-Practice-Beispielen zu beteiligen. Das Resultat ist eine Ausstellung unter dem Titel 100 Ideas for the Western Balkan. Designing Urban Imagineries , die im Rahmen der Architektur-Olympiade kürzlich im Europäischen Haus der Kultur in Sarajevo zu sehen war.

„Zum einen ist Sarajevo eine Stadt mit riesigen infrastrukturellen Problemen“, sagt Hubert Klumpner, „zum anderen hat man sich hier im Kaleidoskop der Geschichte immer schon weit mehr getraut als in vielen anderen Städten. Sarajevo war und ist ein urbanistisches Experimentierfeld. Auf diesem baukulturellen Erbe können wir aufbauen.“ Die Frage ist nur: Wie? Wie kriegt man den enormen Reparaturbedarf, den mehr als 40-jährigen Entwicklungs- und Investitionsrückstau in den Griff?

„Die wichtigsten Schritte sind der Ausbau des Verkehrs und des Fernwärmenetzes, die Renaturierung der Miljacka, die durch die Stadt fließt, sowie die Aktivierung von unverbauten Nord-Süd-Achsen, die im mittlerweile dicht besiedelten Talkessel von Sarajevo als wertvolle Frischluftschneisen genutzt werden könnten“, sagt Klumpner.

Ein Projekt in der Ausstellung zeigt, wie der Fluss gereinigt, das Ufer umgebaut und die titelgebende Copacabana nach Sarajevo gebracht werden könnte. Ein anderes Projekt beschäftigt sich damit, das bislang linear strukturierte Sarajevo zu einem Ring rund um den Berg Žuč auszubauen – zu einer Art „Burek“ (O-Ton Walczak) – und der Stadt auf diese Weise eine neue Mobilitäts- und Wachstumsachse anzubieten.

Aber auch überraschende Fragen tauchen auf: Wie kann man von der Olympiade 1984 profitieren? Wann kommt endlich Renzo Pianos neues Ars-Aevi-Museum für zeitgenössische Kunst? Und was tun mit all den Maroni, die rund um Sarajevo wachsen, bislang aber kaum genutzt werden? Die vom Österreichischen Außenministerium mitfinanzierte Ausstellung 100 Ideas for the Western Balkan gibt mögliche Antworten und versteht sich als lebendige Wanderausstellung, die nun über den Westbalkan touren und sich auf ihrer Reise kontinuierlich verändern wird. Nächster Halt ist die albanische Hauptstadt Tirana (ab 25. März), danach geht’s weiter nach Belgrad, Podgorica, Skopje und Priština.
Wiederentdeckung

In der Zwischenzeit wird die Wiederentdeckung des Westbalkans auch in Wien zelebriert: Die Kunsthalle Wien widmet sich in ihrer Ausstellung No Feeling Is Final. The Skopje Solidarity Collection dem künstlerischen und baukulturellen Erbe der nordmazedonischen Hauptstadt und geht der Frage nach, wie das heutige Skopje als Collage aus Kenzo Tange, Sozialbrutalismus und neobarocker Zuckerbäckerbehübschung gehegt, gepflegt und gerettet werden kann. Oder, wie Hubert Klumpner sagt: „Wir müssen unseren Blick ändern und endlich lernen, den Westbalkan neu zu lesen.“

Die Reise nach Sarajevo erfolgte auf Einladung der Sektion Internationale Kulturangelegenheiten des BMEIA. Buchempfehlung: „Architectural Guide Sarajevo“, kürzlich erschienen bei DOM Publishers.

Der Standard, Sa., 2023.11.18

06. November 2023Wojciech Czaja
db

Geschosswohungsbau »Rosalie« in Wien

Häuser mit Balkon sind im geförderten Wiener Wohnbau längst Standard, doch das von Gangoly & Kristiner Architekten und O&O Baukunst ist ein hellgraues, minimalistisches Schmuckkästchen: Mit viel Esprit, Disziplin und technischer Raffinesse ist es gelungen, die heterogenen Vorgaben aus Baurecht, Brandschutz und Tragwerksplanung in ein schönes, stimmiges Balkonkleid zu packen.

Häuser mit Balkon sind im geförderten Wiener Wohnbau längst Standard, doch das von Gangoly & Kristiner Architekten und O&O Baukunst ist ein hellgraues, minimalistisches Schmuckkästchen: Mit viel Esprit, Disziplin und technischer Raffinesse ist es gelungen, die heterogenen Vorgaben aus Baurecht, Brandschutz und Tragwerksplanung in ein schönes, stimmiges Balkonkleid zu packen.

»Ich habe keine Ahnung, warum wir zwei Balkone haben«, sagt Arife Güner. »Einen betritt man vom Wohnzimmer aus, den anderen übers Kinderzimmer. Und schon gar nicht verstehe ich, warum die so eigenartig über Eck gehen, mit einem abgemauerten Loch dazwischen, obwohl auf der einen Seite gar kein Fenster in der Wand ist. Aber man muss ja nicht alles verstehen. Die Architekten werden sich schon was gedacht haben dabei.« Die 29-jährige Studierendenheimleiterin wohnt mit ihrem Mann Ibrahim und ihren beiden Söhnen Yiğit und Mert in einer 85-Quadratmeter-Wohnung im siebten Stock. Der flexible Grundriss, die Aussicht bis zum Wienerwald und, ja, natürlich auch die beiden Balkone, die bereits mit Tisch, Stühlen und Hängematte bestückt sind, seien für die Wahl der Wohnung mit ausschlaggebend gewesen, sagt Arife.

Tatsächlich ist das Wohnhaus in der Leyserstraße 4a, das auf den hübschen Namen Rosalie hört, eines der aktuell schönsten – und auch baurechtlich und bautechnisch komplexesten – Best-Practice-Beispiele für Balkonien in Wien. Auf Basis einer vielparametrigen Matrix aus Bauordnung, Grundstückbestimmungen, Loggien- und Balkonregelung, Respektabstand zum Baumbestand, Zufahrtsmöglichkeit für die Feuerwehr, Optionen zum Anleitern im Brandfall, Berechnung des Brandüberschlags und nicht zuletzt einer millimetergenauen Komposition zwischen Ortbeton- und Fertigteil-Elementen entstand Rosalies raffiniertes Fassadenkleid.

Dem Park gegenüber zurückgenommen

»Wir befinden uns hier im Westen Wiens, auf dem Areal der ehemaligen Theodor-Körner-Kaserne«, sagt Dominik Troppan, Projektleiter und Partner im österreichischen Architekturbüro Gangoly & Kristiner. »Eines der größten Assets dieses Grundstücks ist der reichhaltige Bestand an alten, ausgewachsenen Bäumen. Sie bieten nicht nur eine unverwechselbare, schützenswerte Atmosphäre, sondern sind auch ein wichtiger mikroklimatischer und biodiverser Regulator. Ihnen gehört die Bühne.«

Und der Anspruch an die Hauptrolle ist mehr als ernst gemeint: Auf Basis eines städtebaulichen Wettbewerbs 2016 und des siegreichen Masterplans von driendl*architects wurde die Bebauung mit knapp 1 000 geförderten und frei finanzierten Wohnungen an die Ränder des 4,1 ha großen Areals gedrängt – in Form von kompakten, bis zu 12-geschossigen Baukörpern. Auf diese Weise konnte der Park mit seinen bis zu 20 m hohen Platanen zum überwiegenden Teil erhalten bleiben. Nachdem die Baustelle fertiggestellt und die Kräne wieder abgebaut waren, hat die Fauna mit Vögeln und Fledermäusen ihren Weg wieder zurückgefunden. Ab und zu, sagen die hier wohnenden Leute, seien auch schon Habichte gesichtet worden.

»All das«, meint Troppan, »hat in unseren Entwurf mit hineingespielt. Daher haben wir uns entschieden, das Haus in seiner Außenerscheinung farblich zurückzunehmen.« Während im Eingangsbereich und in den Treppenhäusern ein pastelliges Beigerot (RAL 3012) und ein kräftiges Opalgrün (RAL 6026) dominieren, präsentiert sich die Fassade mit ihrer dreidimensionalen Balkonmatrix in nacktem Sichtbeton mit Weißzement-Zuschlag. Lediglich die mal glatten, mal sandgestrahlten Oberflächen und die um 3 cm vor- und rückspringenden Betonfertigteile verleihen dem vermeintlich einheitlichen Hellgrau eine plastische, lebendige Schattierung.

Ablesbarkeit durch Komplexität

Doch wie sieht die Komposition im Detail aus? »Um den Aufbau der Balkone zu verstehen, muss man beim Primärtragwerk anfangen«, erklärt Troppan, der das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Büro O&O Baukunst (Markus Penell) und dem gemeinnützigen Bauträger WBV-GPA (Wohnbauvereinigung für Privatangestellte) im Rahmen eines förderbaren Kostendeckels realisierte. Bei den Geschossdecken handelt es sich um Halbfertigteildecken mit 5 cm starken Fertigteilen und 15 cm Ortbetonschicht. Die Gang- und Wohnungstrennwände bestehen aus Hohlwänden als verlorene Schalung mit Ortbetonfüllung, bei den Außenwänden wiederum handelt es sich je nach statischer Anforderung und Einbindungsmöglichkeit der tragenden Wärmedämmelemente teils um Ortbeton, teils um Fertigteilelemente. Durch den geringen Ortbetoneinsatz konnte die Bauzeit um einige Monate reduziert werden.

Schließlich die Balkone: Sowohl bei den Balkonplatten als auch bei den Brüstungen und den vertikalen, 45 cm breiten Pfeilern handelt es sich um komplett vorgefertigte Elemente, die eine scheinbare Ruhe und Einheitlichkeit ausstrahlen, bei genauerer Betrachtung jedoch einen technischen und baujuristischen Wahnsinn offenbaren, der es erforderlich machte, die Fassade in der Ausführungsplanung Stück für Stück zu detaillieren. Mit einer Toleranz von 2 cm zuzüglich 5 mm breiter Fase stoßen die Elemente aneinander. An manchen Stellen haben die Architekten mit einer 3 cm breiten Scheinfuge zugunsten einer klar ablesbaren Komposition ein wenig geschummelt.

»Der große Vorteil der Fertigteilbauweise offenbart sich in den Details«, sagt Projektleiter Troppan. »Denn mit einer Bauteilstärke von nur 11 cm schaffen wir Betonbrüstungen in Rekordschlankheit.« Hinzu kommt, dass es die Norm und die Richtlinien bei Fertigbauweise aufgrund der hohen Fertigungsqualität erlauben, bei Vorsprüngen, Balkonüberdachungen und horizontalen Parapetabschlüssen auf eine Verblechung sowie auf die Abdichtungen zu verzichten, die bei Ortbetonbauweise notwendig gewesen wären. Dies kommt v. a. dem poetischen Attikaabschluss über dem zehnten Stockwerk zugute: Ohne Blech und ohne jeden Schnickschnack ragen die dicken Kreissegmente über die Fassade und schenken dem Haus ein subtiles Krönchen. Ein wenig erinnert die Formalität an eine Tortenunterlage oder an Omas gehäkeltes Spitzendeckchen. So viel Süß, bei all der Strenge, das Schmunzeln ist nicht zu unterdrücken.

Einverleibte Stockwerksenklave

»Das ist ein wirklich schönes Wohnen hier, und am meisten gefällt mir«, sagt Stephan Gruber, »dass einem dieses Haus bei allem Kostendruck, dem der geförderte Wohnbau natürlich unterliegt, dennoch mit Schönheit und Respekt begegnet.« Gruber sitzt mit seiner Familie und seinen Nachbarn und Nachbarinnen auf der Dachterrasse im sechsten Stock, auf dem etwas niedrigeren Bauteil, der dem hohen Balkonturm wie ein kleines, kompaktes Stadthaus vorgelagert ist. Was für eine Aussicht, am Horizont die Otto-Wagner-Kirche am Steinhof.

Obwohl die Dachterrasse mit ihren beigeroten, RAL-3012-lackierten Laternen allen Bewohner:innen des Hauses gleichermaßen zur Verfügung steht, kümmern sich in erster Linie die Leute der sechsten Etage darum. Die 22 Menschen nämlich, vom Baby- bis ins Pensionsalter, verteilt auf neun Wohnungen, hatten eine eigene Baugruppe gegründet und konnten in enger Absprache mit dem Bauträger die Etage nach eigenen Ermessen planen und umgestalten. Die sogenannte Baugruppe Vorstadthaus Breitensee ist Wiens einzige Baugruppe, die nicht ein ganzes Wohnhaus für sich beansprucht, sondern als Stockwerksenklave einem geförderten Wohnhaus regelrecht einverleibt wurde.

»Wir haben in der Vergangenheit bereits einige Erfahrungen mit Baugruppen machen können«, sagt Michael Gehbauer, Geschäftsführer der WBV-GPA. »Ich halte diese Form selbstbestimmten und mitgestaltenden Wohnens im Rahmen des sozialen Wohnbaus für sehr wichtig. Eine integrierte Baugruppe jedoch, wie diese hier, hat eine besonders hohe soziale Vorbildwirkung, denn so kann die Energie der wenigen 22 Menschen aufs ganze Haus ausstrahlen.« Rechtlich fügt sich die Baugruppe mit einzelnen Mietverträgen ins übrige Haus. Die einzige Besonderheit ist ein Rahmenvertrag, in dem die Pflege von Dachterrasse, Kinderspielraum und gemeinschaftlichen Einrichtungen festgehalten wurde.

Insgesamt umfasst das Gebäude 115 Wohnungen mit Mittelgang-Erschließung, wobei jeweils ein Fenster bei der Liftgruppe und eines an einem Ende des Korridors für natürliche Belichtung in den halböffentlichen Bereichen sorgt. Im Geschäftslokal im EG, in dem ursprünglich ein Nahversorger geplant war, hat sich eine Augenklinik eingemietet. Nebenan gibt es einen Fahrrad- und Kinderwagen-Abstellraum sowie einen Kinderspielraum, von dem man in anderen Wohnhäusern nur träumen kann – hier gibt es Holzpuppenhäuser, Matratzenhöhle und sogar eine Kletterwand. Über eine riesige Glasscheibe gibt es eine Sichtverbindung in die angrenzende Waschküche. Damit ist die Rosalie – außen wie innen – ohne jeden Zweifel einer der aktuell sympathischsten Sozialwohnbauten Wiens.

db, Mo., 2023.11.06



verknüpfte Bauwerke
Wohnbau Leyserstrasse



verknüpfte Zeitschriften
db 2023|11 Balkone und Loggien

30. September 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Mit dem Rollator zum Regenbogen

Schwul, lesbisch und bi. Trans und inter: Das queere Wohnen und Pflegen im hohen Alter ist oft ein Tabu. Nicht so im neuen Lebensort Vielfalt in Berlin. Ein Besuch vor Ort.

Schwul, lesbisch und bi. Trans und inter: Das queere Wohnen und Pflegen im hohen Alter ist oft ein Tabu. Nicht so im neuen Lebensort Vielfalt in Berlin. Ein Besuch vor Ort.

Ich habe in meinem Leben echt nichts anbrennen lassen, habe auf der ganzen Welt herumgemacht und Spaß gehabt“, sagt Peter-Lutz Dreißig. Früher, erzählt er, hatte er eine Werbeagentur, hat sich mit Katalogproduktion beschäftigt, ein Dasein zwischen Hochglanz und Deadlines, doch das ist lange her. „Mein Mann ist vor vier Jahren verstorben, wir waren 36 Jahre lang ein Paar, es war eine schöne Zeit. Und jetzt, na ja, jetzt fängt eine andere schöne Zeit an. Erstens bin ich nicht mehr der Adonis, der ich vielleicht einmal war, und zweitens kommt das Leben auch mal zur Ruhe.“

Intergenerationen-Wohnhaus

Peter-Lutz ist 78. Vor ein paar Wochen hat er seine 120 Quadratmeter große Eigentumswohnung aufgegeben und ist hierher gezogen, in den sogenannten Lebensort Vielfalt am Berliner Südkreuz, nur wenige Schritte vom riesigen Bahnknoten entfernt. Bedingt durch die günstige Verkehrssituation mit ICE, Regio und S-Bahn wurde hier in den letzten Jahren ein ganzer Stadtteil namens Schöneberger Linse aus dem Erdboden gestampft. Entstanden ist ein Quartier mit Wohnen, Gewerbe und einigen Energiekonzernen, die hier ihre Headquarter-Zelte aufgeschlagen haben.

Lebensort Vielfalt ist ein Wohnprojekt für schwule Männer, lesbische Frauen, Transmenschen, Intersexuelle und viele andere, die sich der LGBTIQA-Community zugehörig fühlen und die Angst davor haben, im hohen Alter zu vereinsamen. „Weißt du, ich stamme aus einer Generation, die ihre Sexualität und Identität lange Zeit verdrängt hat und die sich erst spät geoutet hat“, sagt Peter-Lutz, fünfte Etage, Blick in den Hof. „Wir haben viel Hass und Diskriminierung erlebt, wir haben uns unsere Sichtbarkeit und gesellschaftliche Integrität erst erkämpfen müssen. Viele von uns haben Nachholbedarf. Jetzt bin ich hier, um meine neuen Nachbarinnen und Nachbarn an der Hand zu nehmen – und uns noch ein paar feine Jahre zu gönnen.“

Alter, Pflege, Homosexualität. Ein sensibles Thema. Oft ein Tabu. Die Schwulenberatung Berlin, eine Pionierin auf diesem Gebiet, hat sich dieser Aufgabe schon vor vielen Jahren angenommen und hat 2012 in der Niebuhrstraße, Berlin-Charlottenburg, das europaweit erste Alten- und Pflegeheim für Lesben und Schwule eröffnet. Fünf Jahre später folgte am Berliner Ostkreuz ein LGBTIQA-Haus mit Wohngemeinschaften. Und nun ist am Südkreuz das bislang größte Projekt mit insgesamt 69 Wohnungen und einem zweistöckigen Sozialberatungszentrum entstanden. Am Freitag, dem 6. Oktober, wird das Haus feierlich eröffnet.

„Seit unserem ersten Altenwohnprojekt vor elf Jahren haben wir viel dazugelernt“, sagt Geschäftsführer Marcel de Groot. „Wir wissen heute, dass die Altersgruppe nicht zu homogen sein darf. Erstens ist das in sozialer und kommunikativer Hinsicht ein Nachteil, zweitens sind wir als Verein komplett überfordert, wenn plötzlich das halbe Haus pflegebedürftig wird. Daher haben wir uns entschieden, dieses Projekt als Intergenerationen-Wohnhaus zu konzipieren. Es geht um gegenseitige Hilfe und Unterstützung im Alltag. Dazu braucht es Jung und Alt.“

Neben vielen Senioren und Seniorinnen im Alter von 70, 80, 90 Jahren sind hier auch einige 30- und 40-Jährige eingezogen: Ärztinnen, Sozialarbeiter, Studierende. Mit einem Konzeptpapier und Motivationsschreiben konnten sich die jungen Leute für eine geförderte oder freifinanzierte Lebensort-Wohnung bewerben. Eine Weltpremiere der Inklusion und gesellschaftlichen, intergenerativen Integration befindet sich im Erdgeschoß: Im Kindergarten „Rosarote Tiger und Gelbgrüne Panther“, ebenfalls betrieben von der Schwulenberatung Berlin, gibt es Platz für 90 Kids.

„Rund ein Drittel unserer Kinder stammen aus Regenbogenfamilien im Haus oder auch aus dem Kiez“, sagt die Kindergartenleiterin Silke Leifheit. „Die restlichen 70 Prozent kommen aus ganz normalen Familien, was auch immer das sein soll, weil sich die Eltern für ihre Kinder eine offene, lebensbunte, im Herzen tolerante Umgebung wünschen.“ Hier lernen die Kinder nicht nur Nonbinärität, Männer mit Nagellack und den Umgang mit Personalpronomen wie they/them kennen, sondern auch, dass das erfolgreiche und dringend benötigte pädagogische Konzept längst nicht allen gefällt. Immer wieder verirren sich ein paar AfD-Sympathisanten mit gar nicht so bunten Fahnen hierher, um vor dem Kindergarten gegen den Lauf der Welt zu demonstrieren.

Pinke Buchstaben

„Damit werden wir schon fertig“, sagt Marcel de Groot. „Ich bin davon überzeugt, dass jedes Lebenskonzept auf dieser Welt, um zu erstarken und selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft zu werden, ein Symbol, eine bauliche Manifestation benötigt, und die ist uns hier wunderbar gelungen. Und nachdem wir als Verein hier nicht nur eingemietet sind, sondern das Grundstück mithilfe von Spenden, Krediten und Erbschaften gekauft und das Wohnhaus eigenständig errichtet haben, können wir die soziale, kulturelle, pädagogische Nutzung nachhaltig sicherstellen.“ Das Gesamtinvestitionsvolumen beträgt 25 Millionen Euro, davon machen die Nettobaukosten rund 17 Millionen Euro aus.

Der Lebensort Vielfalt, entstanden nach Plänen von Roedig Schop Architekten, die den Masterplan für die Schöneberger Linse erstellt und mit der Schwulenberatung Berlin schon öfter zusammengearbeitet haben, ist Resultat eines sogenannten Konzeptverfahrens, ausgeschrieben vom Land Berlin, bei dem unterschiedliche Sozialträger gegeneinander antreten mussten. Fraglich, ob ein konkurrierender Prozess zwischen unterschiedlichen Vereinen und LGBTIQA-Plattformen dafür der richtige Weg ist. Im Laufe der Jahre sind viele Tränen geflossen. Doch das Resultat entschädigt. In pinken Buchstaben leuchtet die Botschaft dieses Hauses über dem Eingang: Lebensort Vielfalt. Bald wird die Regenbohnenfahne gehisst.

Durch die Welt knutschen

Es ist ein vielfältiger Lebensort für Hardy Selzer (76), der in der Pandemie gemerkt hat, wie sehr er auf soziale Kontakte angewiesen ist, obwohl er früher immer streitsüchtig war. Für Gregory Peercy (59), der in einer Kleinstadt in Kentucky aufgewachsen ist und sich selbst nach einem psychischen Breakdown als „maybe a little bit crazy“ bezeichnet. Für Monika Mayerhofer-Kammann (75), die mit ihrer Ehefrau Elke, einer ehemaligen DDR-Hochleistungssportlerin, im Leben nicht immer mit offenen Armen empfangen wurde, nun aber das Gefühl hat, endlich angekommen zu sein.

Oder für Karl-Heinz Skupin (80), der sich in seiner Jugend durch die Welt geknutscht hat und der mit seinem Mann Hans-Georg in eine 60-Quadratmeter-Wohnung im sechsten Stock gezogen ist. „In diesem Alter nochmal umziehen! Doch jetzt haben wir einen Ort, wo wir zwei alte Dackel vor dem Haus auf der Bank sitzen werden und nochmal das Leben Revue passieren lassen können. Selbst wenn wir uns eines Tages im Rollator durch die Gegend schieben müssen: Das ist jetzt unser Zuhause.“

Ähnliche Wohnprojekte wurden kürzlich in Köln, Lyon und Stockholm realisiert, in Planung sind Rom, Marseille und Barcelona. Möge die Idee mit dem Rollator in die Welt ausgerollt werden.

Der Standard, Sa., 2023.09.30

16. September 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Kaczyńskis neue Camouflage

Zwei neue Museen in Warschau, das eine wunderschön, das andere von gigantischem Ausmaß, beweisen: Rechtsradikale Propaganda-Architektur ist Instagram-tauglich geworden.

Zwei neue Museen in Warschau, das eine wunderschön, das andere von gigantischem Ausmaß, beweisen: Rechtsradikale Propaganda-Architektur ist Instagram-tauglich geworden.

Es ist, als würde sich der Beton samtig, streichelweich anfühlen. Als wäre das Haus in eine dicke Fischgrät-Strickdecke gehüllt. Als fühlte man sich warm und geborgen. „Genau das war unser Ziel“, sagt Krzysztof Budzisz, Partner im Warschauer Architekturbüro WXCA. „Vor vielen Jahren schon hatten wir die Idee, die Fassade als monolithisches Relief in diesem sinnlichen Ornament abzugießen. Es war ein langer Weg dahin, mit vielen Modellen und vielen, vielen unterschiedlichen Betonrezepturen, die wir ausprobiert haben. Doch die Arbeit hat sich gelohnt. Jetzt stehen wir da, vor der wahrscheinlich schönsten Fassade, die uns je gelungen ist.“

Entwickelt wurde das Projekt in Zusammenarbeit mit dem englischen Ingenieurspezialisten Buro Happold. Für die knapp acht Meter hohen Fassaden, die nicht als Fertigteile produziert, sondern direkt vor Ort im klassischen Schalungsbau gegossen wurden, musste eine eigene Silikonmatrize entwickelt werden. Mit Erfolg, das Ergebnis ist auf den Millimeter genau abgebunden, die Grate im warmen, ziegelroten Beton mit einer Kante wie vom Bildhauer. Schon jetzt, wenige Wochen nach Fertigstellung, wurde der Bau von Baufirmen und Betondelegationen aus aller Welt besucht.

Doch Achtung, in seinem materiellen – und noch mehr in seinem immateriellen – Inneren lauern große Überraschungen. Kaum hat man das Museum betreten, galoppieren historische Ritter durch die Hallen, mit Lederstiefeln und Kettenhemd bekleidet, nebenan eine ganze Batterie an Rüstungen und Speeren, überall polnische Fahnen und Flaggen von der Decke hängend, und dann schließlich, ein dramatischer Hintergrund wie im Schützengraben, ein sowjetischer Panzer, Modell T-34 mit 76-Millimeter-Rohrkanone, Baujahr 1943.

Polnische Geschichte

Das Museum der polnischen Armee, in Auftrag gegeben vom polnischen Verteidigungsministerium, Resultat eines internationalen Architekturwettbewerbs 2009, ist ohne jeden Zweifel eines der schönsten zeitgenössischen Bauten in ganz Warschau. Und plötzlich versteht man, dass es sich beim Zickzackmuster der Fassade, die man eben noch begeistert gestreichelt hat, um eine Anspielung auf Abzeichen und militärische Uniformapplikationen handeln muss.

Das Armeemuseum ist das erste, bereits eröffnete Kulturprojekt auf der Warschauer Zitadelle, die in den 1830er-Jahren von der Armee des Russischen Reiches errichtet und die längste Zeit vom polnischen Heer genutzt wurde. Bis vor wenigen Wochen war das 32 Hektar große Areal militärisches Sperrgebiet, nun steht es der Öffentlichkeit als grüne und kulturelle Oase zur Verfügung. So der offizielle Wortlaut dieser derzeit größten Museumsbaustelle Europas.

„Die Zitadelle war immer ein unbeliebter, negativ konnotierter Ort in Warschau“, sagt Budzisz. „Der Rückzug des Militärs und der Rückbau der Kasernengebäude bieten nun die Chance, den Park mit seinem riesigen Baumbestand als Naherholungsgebiet und Kulturquartier zu nutzen. Schließlich ist dies ein geschichtsträchtiger, historisch wertvoller Ort. Unser Traum ist, dass die Zitadelle bald wieder als ein Stück Stadt wahrgenommen wird.“

Die Chancen stehen gut, denn das 300 Millionen Złoty teure Projekt (rund 65 Millionen Euro) steht nicht allein da. Am 29. September wird das neue Museum der polnischen Geschichte eröffnet, ein gigantischer Bau aus weißem Marmor, 200 Meter lang, 60 Meter breit, 24 Meter hoch, Baukosten 650 Millionen Złoty (140 Millionen Euro), ebenfalls von WXCA geplant, mit Bühne, Konzertsaal, Amphitheater, Bibliothek, Werkstätten, Restaurant und Dachterrasse mitsamt Mirrorpool, in dem sich die Warschauer Skyline spiegelt.

Weltweite Aufmerksamkeit

Doch noch besser stehen die Chancen, dass die nationalistische, rechtspopulistische Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit), die das Land seit 2015 regiert, das 2009 gestartete Architekturprojekt dazu verwendet, sich ein Denkmal zu setzen und in der Bevölkerung zu suggerieren, eine moderne, weltoffene Partei zu sein, die in der Lage ist, Projekte zu realisieren, die weltweit für Furore sorgen. Es gibt kaum ein internationales Onlineportal im Bereich Architektur und Design, das in den letzten Wochen nicht darüber berichtet hätte. Mit tollen Fotos von leeren Räumen. Die Panzer, Waffen und Camouflage-Exponate sind darauf freilich nicht zu sehen.

Ebenfalls nicht kommuniziert wird die Tatsache, dass das bereits fertiggestellte Museum der polnischen Geschichte noch keine Dauerausstellung hat, dass die 7000 Quadratmeter große Halle im ersten Stock Rohbau ist und überhaupt erst noch befüllt werden muss, dass die Mitarbeiter und Mitglieder der Wissenschaftsbeiräte der beiden Museen ein Naheverhältnis zur PiS haben oder sogar mal ein politisches Amt innehatten, dass die Architekten den Platz zwischen den Museen begrünen wollten, was von der PiS allerdings verhindert wurde, weil sie ihn in Zukunft für politische Paraden nutzen will, dass das Armeemuseum demnächst einen Zwillingsbau erhält, in dem es dann nicht nur Panzer und Kampfflugzeuge geben wird, sondern auch Café, Kino und – jawoll – einen Schießstand zur freizeitlichen Beschäftigung.

„Die Museen, die unter der PiS-Regierung in den letzten Jahren gebaut oder personell neu besetzt wurden, sind nichts anderes als Lügen- und Inquisitionsmaschinen“, sagt der polnische, in Wien lebende Schriftsteller Radek Knapp, Autor des mittlerweile aktualisierten Buches Gebrauchsanweisung für Polen . „Je leerer und sinnentleerter die Politik, desto größer sind die von ihr geschaffenen Gebäude. Dass sie leerstehen, spielt keine Rolle.“

Scheinliberale Lebenssprache

Noch schärfer formuliert es der Warschauer Architekt, Kulturtheoretiker und Universitätsprofessor Jakub Szczęsny: „Manche dieser Institutionen sind bis in die Führungsebene hoch von Rechtsradikalen durchseucht, deren einziges Interesse es ist, die Geschichte und die Realität zu manipulieren und ihre Häuser als Propagandawerkzeug für Jarosław Kaczyńskis Vision eines heroischen, völkisch reinen Polens zu nutzen. Sie beherrschen das skrupellose Spiel genauso gut wie Orbán, Putin und Trump.“

Bei der Parlamentswahl in Polen 2019 erzielte die PiS mit 43,6 Prozent das beste Wahlergebnis, das eine Partei im demokratischen Polen je erreichte. „Und so, wie man die rechtskonservativen Wähler auf der Straße nicht mehr erkennt, weil sie mittlerweile eine moderne, scheinliberale Lebenssprache beherrschen, sind auch die baulichen Machtsymbole einer ultrarechtskonservativen, fast schon nationalsozialistischen Regierung nicht mehr als solche zu erkennen. Die Architektur des Bösen ist instagrammable geworden.“

Der Standard, Sa., 2023.09.16

02. September 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Per Propeller durch die Stadtgalaxis

An Passagierdrohnen wird bereits seit geraumer Zeit gearbeitet. Doch wo und wie werden die Flugobjekte in unseren Städten starten und landen? In diese Forschungs- und Entwicklungslücke hat sich nun der Berliner Flughafenplaner AMD.Sigma hineingesetzt.

An Passagierdrohnen wird bereits seit geraumer Zeit gearbeitet. Doch wo und wie werden die Flugobjekte in unseren Städten starten und landen? In diese Forschungs- und Entwicklungslücke hat sich nun der Berliner Flughafenplaner AMD.Sigma hineingesetzt.

Passenger W. Czaja, your e-flight from Dubai Jumeirah E-Hub to Abu Dhabi Marina Vertiport is ready for boarding. Please proceed to gate number X12. Airtaxi take-off in ten minutes.“ Mit dem Handgepäck geht es zum kleinen Cityairbus, drei Propeller an jedem Flügel, zwei weitere auf der Heckflosse, unübersehbar das charakteristische Branding von Emirates Next, Gesamtkapazität vier Personen, die Türen schließen, kurz darauf wird die Drohne zum Abflugpunkt gezogen, die Motoren starten, ein lautes Surren, in einer vertikalen Linie steigt das Ding in Sekundenschnelle nach oben.

Geht es nach dem Berliner Architektur- und Consulting-Büro AMD.Sigma Airport Management und Development GmbH, könnte diese Vision bereits innerhalb dieses Jahrzehnts Realität werden. „Und damit“, meint Olaf Bünck, Senior Manager, zuständig für strategische Flughafen- und Vertiport-Entwicklung im Unternehmen, „wird sich die urbane und interurbane Mobilität massiv verändern. Sie wird schneller und multimodaler – und trägt zu einer grünen, CO₂-reduzierten Mobilität bei.“
Vertiports

AMD.Sigma, eine Tochter der Flughafenbetreibergesellschaft Munich Airport International (MAI), ist darauf spezialisiert, Flughäfen zu planen, von der Entwicklung von Master- und Businessplänen bis hin zu Beratungsleistungen im Bereich Umbau, Ausbau, Sanierung, Übersiedlung, Baugenehmigung, Prozessentwicklung, Projektmanagement und strategische Neuausrichtung. Im Portfolio finden sich München, Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Sofia, Istanbul, Abu Dhabi, Kuwait, Bangkok, Newark und Rio de Janeiro. Zu den aktuellen Consulting-Kunden zählen aber auch kleinere Flughäfen wie etwa Salzburg und Klagenfurt.

Als erstes Büro dieser Art weltweit beschäftigt sich AMD.Sigma nun auch mit Drohnenflugverkehr, Drohnenflughäfen und den damit verbundenen Auswirkungen auf Stadt, Architektur und Verkehrsplanung. Der Fokus richtet sich dabei vor allem auf die Standortfindung, Entwurfsplanung und Infrastrukturentwicklung von Drohnenflughäfen, sogenannten Vertiports. Im Fachjargon werden die elektrisch betriebenen Drohnen daher auch eVTOLs genannt. Die etwas sperrige Abkürzung steht für Electric Vertical Take-off and Landing Aircraft.

Hinter den Kulissen ist das Thema weitaus fortgeschrittener, als vielen bewusst ist. Das OECD International Transport Forum (ITF) arbeitet schon seit Jahren an rechtlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für Drohnen zur Beförderung von Menschen, ein entsprechendes Paper wurde bereits von mehr als 50 Ländern aus aller Welt ratifiziert. Die European Union Aviation Safety Agency (EASA) hat vor einigen Monaten ein Manual für die Vertiportplanung und Einflugschneisen herausgegeben. Und in Zürich – einer der Pioniere der frühen Entwicklungsphase – fliegen zwar noch keine Menschen, in medizinischer respektive transplantiver Mission sehr wohl aber schon deren Organe und Blutkonserven durch die Lüfte.

„Weltweit gibt es rund 600 Tech-Unternehmen, die sich mit der Entwicklung und Optimierung von Drohnenkonzepten befassen“, sagt Bünck. „Es ist nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis die ersten eVTOLs zertifiziert und für den zivilen Luftverkehr zugelassen werden. Gleichzeitig aber gibt es bislang nur wenige Überlegungen, wie diese neue Verkehrstechnologie in bestehende Städte integriert werden kann. Und genau hier setzen wir an. Wir entwickeln Architektur- und Refurbishment-Modelle für Vertiports im urbanen und suburbanen Raum.“

Nicht wie im Sci-Fi-Film

Die weitverbreitete Annahme, dass Passagierdrohnen von bestehenden Großflughäfen wegfliegen und – wie in Science-Fiction-Filmen immer wieder dargestellt – auf irgendeinem Hochhaus landen werden, muss der Drohnenexperte relativieren. Auch das Andocken an einen klassischen Großflughafen ist komplexer, als man annehmen möchte. „Höhenwinde, Luftverwirbelungen und infrastrukturelle Anforderungen wie etwa elektrische Ladeeinrichtungen sind alles andere als trivial“, so Bünck. „Das alles sind große technische Herausforderungen. Kein unüberwindbares Hindernis zwar, aber eine komplexe Planungsaufgabe.“

Für viel wahrscheinlicher hält Bünck die Errichtung von Vertiports auf städtischen Freiflächen mit einer Mindestfläche von rund 10.000 Quadratmetern. Der Großteil des Areals entfällt auf Infrastrukturflächen wie etwa Lande- und Parkflächen für die Fluggeräte, PV-Anlage, Trafostation und Wartungsflächen sowie auf den sich trichterförmig nach oben öffnenden Luftraum für Start- und Landemanöver. Als Alternative könnte man auch bestehende Hochgaragen zu Mobility-Hubs ausbauen und – analog zum heute schon üblichen Park-and-Ride-Konzept – als Park-and-Fly-Anlagen nutzen. Pläne und Konzepte wie diese liegen im Büro von AMD.Sigma zuhauf auf dem Tisch.

Aktuell arbeiten die Berliner Architekten an einem Forschungsprojekt unter dem Titel InterRegional eAirport . Ziel dieser Studie ist es, eine enorme, in vielen Ländern Europas schlummernde Ressource zu nutzen. „Allein in Deutschland gibt es eine Vielzahl an kleinen Regionalflughäfen“, sagt Geschäftsführer Adam Symalla, „und viele davon sind defizitär oder stehen kurz vor dem wirtschaftlichen Aus. Diese bestehenden Infrastrukturen könnten allein schon aufgrund ihrer Größe durch Solarparks ergänzt und mit Vertiports kombiniert werden.“ Auf diese Weise, so Symalla, könnte man neben dem primären internationalen Flugnetz ein sekundäres, dezentrales, interurbanes Flugdrohnennetz aufbauen.

Stadtplanung hinkt hinterher

Die Entwicklung wird kommen. EU-Politik, Gesetzgebung, Flugindustrie und vor allem eine ganze Batterie an global agierenden Unternehmen, die sich mit hocheffizienten Ladetechnologien beschäftigen, sind in ihrer Arbeit weit fortgeschritten. „Bloß Architektur und Stadtplanung hinken noch hinterher“, meint Symalla. „Und das ist bedauerlich, denn wenn wir uns dieser künftigen Planungsaufgabe nicht annehmen und gute, intelligente Lösungen im Einklang mit der europäischen, historisch gewachsenen Stadt erarbeiten, dann geben wir das Zepter aus der Hand – und die Industrie wird diese Aufgabe im Alleingang lösen. Wollen wir das wirklich zulassen?“

Im Büro AMD.Sigma wird die nächste Powerpoint-Slide eingeblendet. Streng vertraulich, das Projekt ist noch unter Verschluss. „Das Thema ist zu reizvoll und im Sinne einer nachhaltigen Urban Mobility auch viel zu wichtig.“ Wann wird man mit eVTOLs von der Berliner City an die Ostsee fliegen können? „Früher, als Sie glauben!“

Der Standard, Sa., 2023.09.02

05. August 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Kann das Schiff da rauf?

„Kann die Wand da weg?“ Diese Frage stellt sich aktuell eine Münchner Ausstellung, die auf lustige und niederschwellige Weise einen Blick hinter die konstruktiven Kulissen der Architektur wirft.

„Kann die Wand da weg?“ Diese Frage stellt sich aktuell eine Münchner Ausstellung, die auf lustige und niederschwellige Weise einen Blick hinter die konstruktiven Kulissen der Architektur wirft.

Gleich neben der Münchner Großmarkthalle, nur wenige Winkelsekunden von der Isar entfernt, man traut seinen Augen kaum, ist auf der ehemaligen Eisenbahnbrücke ein Schiff vor Anker gegangen. „Und so ein Projekt“, sagt Thomas Beck, seines Zeichens Tragwerksplaner, im täglichen Sprachgebrauch den meisten eher als Statiker bekannt, „hat man nicht alle Tage. Für uns war die Berechnung und tragwerksplanerische Konzeption eine ziemliche Challenge, bei der wir sehr kreativ sein mussten, denn die Rahmenbedingungen waren mehr als verschärft.“

Was ist passiert? Einst war die MS Utting, Baujahr 1949, ein beliebtes Ausflugsschiff auf dem bayrischen Ammersee. Aufgrund technischer Mängel musste das 36 Meter lange Boot 2016 aus dem Verkehr gezogen und durch einen zeitgemäßen Nachfolger ersetzt werden. Daniel Hahn, ein wilder Hund in der Münchner Gastroszene, hatte die Idee, das ausgemusterte Ding zu kaufen, über der Lagerhausstraße zu parken und ihm neues Leben einzuhauchen – als Bar, Restaurant und Event-Location.

„Als wir das Projekt in Angriff genommen haben, war gerade Februar, das Schiff lag teilweise in gefrorenem Wasser“, erzählt Beck, Partner bei A.K.A. Ingenieuren. „Hinzu kommt, dass es fast keine Planunterlagen gab, mal abgesehen von einem alten, mäßig aussagekräftigen Spantenriss. Anhand der Wasserlinie, der Geometrie des Rumpfes und der Größe des Aufbaus waren wir gezwungen, das Schiffsgewicht zu schätzen. Die größte Erschwernis war, dass wir vom Auswassern im Ammersee bis zur Montage in München-Sendling ein Zeitfenster von einem Tag hatten. Es gab keinerlei Möglichkeit, einen Geometrieabgleich zu machen. Das ist echt verschärft!“

Mithilfe von Bockgestellen und unterschiedlich dimensionierten Holzkeilen, die in der Lage waren, Planabweichungen aufzunehmen, ist es gelungen, ein flexibles Tragwerkskonzept zu erstellen und das Schiff auf der stillgelegten Eisenbahnbrücke passgenau abzustellen. Sobald die beiden Krane ihre Arbeit erledigt hatten, konnte der Rumpf untermauert und mit einem massiven Fundament gestützt werden. Seit fünf Jahren ist das ehemalige Schiff, das mittlerweile auf den Namen Alte Utting hört, in Betrieb.

Diesen und vielen anderen Geschichten aus der Welt der Tragwerksplanung widmet die Architekturgalerie München im Bunker aktuell eine Ausstellung. Unter dem genialen, aus dem Alltag gegriffenen Titel Kann die Wand da weg? werden Projekte und Schlüsselmomente aus Thomas Becks beruflichem Leben geschildert. „Und ja“, sagt er, „die Frage, ob die Wand da, die Stütze da oder die Decke da wegkönne, die hört man als Tragwerksplaner, sobald man mit Bauherren in der Bestandssanierung zu tun hat, ziemlich regelmäßig.“

Für Nicola Borgmann, Direktorin der Architekturgalerie, ist es nicht das erste Mal, dass sie sich dem Thema widmet. Schon einmal, 2016, offenbarte sie in einer Ausstellung über die waghalsigen Hochhäuser und gigantischen, hauchdünnen Pencil-Skyscrapers des global tätigen, in New York ansässigen Ingenieurbüros SOM Skidmore, Owings & Merrill einen Blick hinter die konstruktiven Kulissen der Architektur.

„Architektur und Tragwerk sind untrennbar miteinander verbunden“, meint Borgmann, „und doch versteckt sich das eine Metier oft hinter dem anderen. Abgesehen von ein paar Architekturikonen wie etwa Centre Pompidou in Paris, Lloyd’s Building in London oder Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin ist eine sichtbare, nachvollziehbare Konstruktion meist nicht erwünscht. Schade.“ Das bestätigt auch Beck. „Manchmal werden wir Tragwerksplaner einfach nur als Rechenknechte eingesetzt. Dann machen wir halt unseren Job und rechnen aus, was die Architekten sich wünschen, das ist schon okay. Aber die Großartigkeit unserer Arbeit startet dort, wo man grübeln, sich austoben und in enger Zusammenarbeit mit Bauherren und Architektinnen eine co-kreative Lösung schaffen kann.“ So wie die letzte Fahrt der MS Utting, die neben vielen anderen Projekten in München dokumentiert ist.

„Kann die Wand da weg?“ Bis 29. 9. in der Architekturgalerie München.

„Rechenknechte sind wir schon lange nicht mehr! Mittlerweile, habe ich das Gefühl, ist unsere Expertise in Fachkreisen anerkannt und wird auch sehr geschätzt. Natürlich ist nicht jedes einzelne Projekt, an dem man arbeitet, eine Neuerfindung des Rades, aber manche schon. Es gibt nichts Schöneres, als gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten und ein Gebäude wachsen und entstehen zu sehen.“
Klaus Bollinger, Bollinger & Grohmann

„Ich empfinde meinen Job nach vielen, vielen Berufsjahren immer noch als herausfordernd. Jeden Tag gibt es neue Fragen und neue Aufgabenstellungen. Die Normen und Bauordnungen ändern sich ständig, und dann erst die neuen Software-Releases! Ich mag diese Abwechslung und die Zusammenarbeit mit spannenden, interessanten Bauherren und Architektinnen. Mir wird nie fad.“
Gretl Salzer, Wien

„Für die Landesausstellung Steiermark in Herberstein haben wir kürzlich einen neuartigen kraftschlüssigen Verbindungsknoten aus Holz entwickelt. Das war handwerkliches Engineering vom Feinsten! Ich mag diese Momente, wenn einem der Knopf aufgeht. Und selbst, wenn man was ganz Neues, noch nie Dagewesenes macht, ist man als Ingenieur immer auf der sicheren Seite, denn wir können alles immer auch berechnen.“
Peter Bauer, Werkraum, Vizepräsident, Kammer der ZiviltechnikerInnen Wien, Niederösterreich, Burgenland

„Für die Formel 1 und den MotoGP haben wir vor einigen Jahren eine mobile Red-Bull-Energy-Station entwickelt. Ein hochkomplexer Bausatz, der so konzipiert werden musste, dass man ihn innerhalb von wenigen Stunden auf- und wieder abbauen kann. Wenn man dann in Monaco steht und dabei zuschaut, wie ein dreigeschoßiges Holzhaus auf einem Lastenfloß in den Hafen geschippert wird … das ist schon wow!“
Kurt Pock, KPZT, Klagenfurt

„Eigentlich wollte ich in Bulgarien Architektur studieren, aber dann ist es doch Bauingenieurwesen geworden. Das Gute daran: Ich betrachte Tragwerksplanung aus der Sicht der Architektin und kombiniere technisches Fachwissen mit einem ästhetischen Gespür. So entstehen wunderbare, manchmal ziemlich komplizierte Juwelen.“
Neli Rachkova- Anastassova, Wien

Der Standard, Sa., 2023.08.05

22. Juli 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Hinterholz 101

Ein altes, baufälliges Gründerzeithaus am Stadtrand von Leipzig. Was tun? Das außergewöhnliche Architekturbüro Summacumfemmer hat sich des Patienten angenommen und ihn nicht saniert, nicht renoviert – sondern einfach nur repariert. Ein Besuch.

Ein altes, baufälliges Gründerzeithaus am Stadtrand von Leipzig. Was tun? Das außergewöhnliche Architekturbüro Summacumfemmer hat sich des Patienten angenommen und ihn nicht saniert, nicht renoviert – sondern einfach nur repariert. Ein Besuch.

Der Putz abgeschlagen, die gesamte Fassade einfach nur mit Romanzement geschlämmt. Für ein hochwertiges Stiegenhaus kein Geld, stattdessen ein simples Bauprovisorium, aus handelsüblichen Schichtholzplatten zusammengebastelt. Fenster vom Fensterproduzenten, ebenfalls Fehlanzeige, zu teuer, zu aufwendig im Einbau, viel zu lange Lieferzeiten, es geht auch anders, einfache Zwei-Scheiben-Fixverglasungen zum Beispiel, mit Gummidichtungen und Klammern an die Mauerlaibung geschraubt, das tut’s fürs Erste auch.

„Wenn wir ein altes, in die Jahre gekommenes Haus in Schuss bringen“, sagt Florian Summa, 41 Jahre alt, „dann sprechen wir in der Regel von Sanierung, Renovierung, Restaurierung oder sogar Rekonstruktion. Aber diese kostspieligen Erneuerungen sind nicht die einzige Möglichkeit! Wir wollen beweisen, dass es auch anders geht, dass man ein altes, gründerzeitliches Haus auch reparieren kann, so wie man einen Schuh oder eine zerrissene Jeansjacke repariert.“

Mindset-radikal

Ort der baulich manifest gewordenen Beweisantretung ist die Dieskaustraße 101 in Leipzig, fernab der Innenstadt, elf Tramstationen stadtauswärts, im von Textilfabriken und schweren Industriearealen geprägten Stadtteil Kleinzschocher. Obwohl das 1888 errichtete Haus die letzten 30 Jahre lang leerstand, mit Taubenkolonien im Dachboden, teils eingestürzten Holzbalkendecken und längst zerstörtem Stiegenhaus, obwohl die Fassade mit blauen, engmaschigen Baugerüsten eingehüllt war, Gefahr in Verzug aufgrund von herabfallenden Bauteilen, war es um den Architekten und seine Partnerin Anne Femmer, die den Bastlerhit – die Bauruine – 2014 auf immoscout24.de gefunden hatten, von der allerersten Sekunde an geschehen.

„Wir hatten schon einige Jahre Auslandserfahrung hinter uns, hatten bereits in Wien, Zürich, Gent, London und Tokio gearbeitet, und uns schien die Zeit reif, uns eine eigene Existenz aufzubauen. Wo, wenn nicht in Leipzig! Eine spannende, dynamische Stadt, deren Geschichte noch nicht fertiggeschrieben ist, die noch viel Input, Inspiration und Initialzündungen benötigt, in der wir als Architekten, Architektinnen zur künftigen Entwicklung einen essenziellen Beitrag leisten können. Und dieses baufällige Haus, was für eine schöne Herausforderung!“

Der Kaufvertrag wurde unterzeichnet, das sächsische Hinterholz 8 nahm seinen Lauf, und das frisch gegründete Büro Summacumfemmer übte sich von da an nicht nur in der Schreibtischplanung von Architektur, sondern auch in der staubigen, baustelligen Realisierung selbiger – mit Maurerkelle, Kreissäge und kilometerweise ausgerollten Kabeltrommeln im ganzen Haus. Heute zählt Summacumfemmer, das auf der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig den deutschen Pavillon mitkuratiert hat, zu den jüngsten, fröhlichsten, ohne jeden Zweifel Mindset-radikalsten Architekturbüros Deutschlands.

„Unser Ziel war, aus dem Nichtfunktionieren wieder ein Funktionieren zu machen“, sagt Florian Summa, öffnet die Tür ins Stiegenhaus, eine simple Stalltür aus verzinktem Stahl, beplankt mit Polycarbonat-Stegplatten zur minimalen Wärmedämmung, gefunden um einen Pappenstiel bei einem bayerischen Stallproduzenten. Das alte Holzportal hingegen, verzogen und undicht, wurde um ein paar Meter versetzt und dient nun als Eingangstür ins erdgeschoßige Büro. Überall weiß gekalkte Ziegelwände, Lichtschalter vom Elektriker ums Eck, aufputzgeführte Stromkabel, im Durchbruch zwischen den beiden großen Arbeitsräumen steht ein Bullerjan, daneben ein Holzstapel für die winterlichen Monate.

Tausende Stunden Arbeitszeit

„Im ersten Stock wohnen wir mit unseren beiden Töchtern“, sagt Florian Summa, die Schichtholzskulptur emporklimmend, „im zweiten Stock gibt es zwei Wohnbereiche für unser Au-pair-Mädchen sowie für einen lieben Freund, der immer wieder in Leipzig pennt, und im dritten Stock und im Dachgeschoß ist noch Baustelle, da kann man sich ein Bild davon machen, was wir in den letzten Jahren schon alles repariert haben.“

Ein Fußboden aus Holzdielen und OSB-Platten, schlammgrün lackiert, eine silberne Unterspannbahn, damit die an der Decke angetackerte Wärmedämmung nicht auf den Kopf rieselt, zur Unterstützung in der Küche eine Gerüststange, die zugleich als Handtuchhalter dient, an der Wand eine gebrauchte, zufällig gefundene Küchenzeile von Bulthaup. Die Reparatur des Gründerzeithauses in der Dieskaustraße 101 ist noch lange nicht fertig. Zu den bereits investierten tausenden Stunden Arbeitszeit, schätzt Florian Summa, werden noch viele weitere Tausende hinzukommen. Doch wozu das ganze Unterfangen? „Als In-situ-Reallabor und Experiment am eigenen Leib. Denn wenn wir von Kreislaufwirtschaft und Ressourcenmanagement sprechen, dann können wir mit unseren Hausreparaturen nicht so umgehen, als würden wir jedes Mal aufs Neue einen perfekten, neuwertigen Neubau auf die grüne Wiese stellen, dann müssen wir endlich umdenken, die Bauordnung und die Normen adaptieren“ – und ganz generell die Planungskultur in der Architektur und Immobilienentwicklung gründlich überdenken.

„Wenn ich mich an ein altes Haus herantaste, dann will ich nicht zwei Jahre im Voraus bis zur letzten Türklinke alles vorausgedacht haben. Wo bleibt da noch Platz für Zufall und Spontaneität, für die Geschichten, die das Haus mir zu erzählen hat?“ Ist die Leipziger Hausreparatur der Schlüssel zur Zukunft? Nein, liebe Bauherren und Hausbesitzerinnen, aber ein wertvoller Gedankenöffner.

Der Standard, Sa., 2023.07.22

08. Juli 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Adieu, Hanni! Tschüss, Tlapa!

Mit den um sich wütenden Investoren und Immobilienentwicklern wird die Stadt sukzessive ihrer Identität beraubt. Der Wiener Künstler Andreas Fogarasi dokumentiert das Verschwinden auf so sinnliche wie nüchterne Weise. Zu sehen im Kunsthaus Muerz.

Mit den um sich wütenden Investoren und Immobilienentwicklern wird die Stadt sukzessive ihrer Identität beraubt. Der Wiener Künstler Andreas Fogarasi dokumentiert das Verschwinden auf so sinnliche wie nüchterne Weise. Zu sehen im Kunsthaus Muerz.

Unterstreicht Ihren Typ! Zeitlos elegant und dennoch sportiv! Und die Problemstellen um die Taille herum, die werden wunderbar kaschiert! Der Tlapa in der Favoritenstraße, das Modehaus mit dem mexikanischen Sprachfehler in der Phonetik, war das Klamotteneldorado unserer Kindheit. Egal, ob Erstkommunion, Konfirmation oder die dritte Hochzeit von Oma Klara, hier durften wir Arbeiterbezirkskinder mitsamt Mischpoche einmal im Jahr einen auf Kärntner Straße machen und wurden mit Sonntagspanier für die kommenden Anlässe eingedeckt.

Im Jänner 2016 musste das Modehaus Tlapa nach hohen Schulden und Verlusten seine Pforten schließen. Drei Jahre lang stand das Haus mit seiner eigenwilligen, aber aus kindlicher Perspektive stets interessanten Leichtmetallfassade und seiner orange folierten, rauchglasverspiegelten Glaspyramide am Eck leer. 2019 rollten die Abbruchbagger heran und machten den 1873 errichteten und sukzessive erweiterten Gebäudekomplex, der in den späten 1960er-Jahren vom Wiener Architekten Kurt Stiel seine eierschalenfarbene Elementfassade verpasst bekommen hatte, dem Erdboden gleich.

„Diese Art von vorgehängter Fassade, mit der man Bauten aus unterschiedlichen Epochen effizient kaschieren und zu einer gestalterischen Einheit zusammenfassen kann“, sagt Andreas Fogarasi, „hat man in der BRD und DDR damals in fast jeder Großstadt gesehen“, ob das nun Horten, Merkur, Schocken, Konsument oder die Centrum-Warenhäuser waren. Die sogenannte Horten-Kachel von Egon Eiermann hat Geschichte geschrieben. „Doch hier in Wien ist diese Architekturtypologie ein absolutes Unikum.“

3,1 Quadratmeter Tlapa-Fassade hängen nun im Kunsthaus Muerz an der Wand, ein Tableau aus zwölf Elementen, die Halbkreise mit 39 Zentimetern Durchmesser leicht aufgerollt, neun Zentimeter ragt das Blech vor und offenbart auf diese Weise einen klaffenden Sichelmond, der dem Gebäude in der Favoritenstraße einst sein charakteristisches Relief verlieh. Gemeinsam mit einem Fassadenmuster des Nachfolgebaus, ein gelochtes Wellblech, 112 mal 137 Zentimeter groß, bildet das Tlapa-Paneel nun eine Art Bündel, zusammengeschnürt mit einem Umreifungsband aus Stahl, strammgezogen mit einer Zange, festgeklammert, fertig.

Zeiten zusammenschnüren

Schon seit 2019 widmet sich Fogarasi, seines Zeichens ausgebildeter Architekt, heute bildender Künstler an der Schnittstelle zwischen Bild, Skulptur und Raum, den allmählich aus dem Stadtbild verschwindenden Architekturen, ob das nun vermeintlich schöne Gründerzeithäuser oder vermeintlich weniger schöne Bauten der Nachkriegsmoderne sind, die abgerissen, zu Tode saniert oder bis zur Unkenntlichkeit verändert werden. In seinen Paketen , wie er die zusammengeschnürten, verräumlichten Baustoffcollagen nennt, vereint er die Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft.

„Unabhängig davon, ob es sich um historisch wertvolle oder gar denkmalgeschützte Bauten handelt oder nicht“, meint Fogarasi, „verliert die Stadt mit jeder weiteren Zerstörung ein Stück ihrer Identität. Ich möchte diesen Verlust dokumentieren, und ich möchte die alten mit den neuen Baustoffen, die zwar eine örtliche, aber niemals eine zeitliche Übereinstimmung haben, zusammenfügen und für immer aneinanderfesseln.“ Er sieht seine Pakete , die in den meisten Fällen auf einen ganz konkreten Ort referenzieren, nicht nur als Materialrettung, sondern vor allem als Dokument einer sinnlichen, atmosphärischen Stadtchronik.

Anstelle des Modehauses Tlapa entsteht nun ein Neubau mit Retail, Büros und 126 Serviced Apartments, ein Projekt des Immobilienentwicklers Vermehrt AG in Zusammenarbeit mit Pegasus Capital Partners, Sitz in Erlangen, ein Entwurf von Drawcon Architects, Brno, geplante Fertigstellung Anfang 2024, das Objekt schon seit zwei Jahren fast vollständig vermietet. Gestern Familienunternehmen, heute Finanzprodukt in einem internationalen Portfolio, gestern Handarbeit, heute Massenware-Bauprodukte von der Stange. „Die Komplexität eines Ortes, auf das Maximum reduziert“, wie Fogarasi sagt, nüchtern und emotionslos. Von der Wertigkeit der Baustoffe könne sich jeder selbst ein Bild machen.

Einstürzende Altbauen

Die Emotionen kommen erst in der Menge. Begonnen hat seine Serie Nine Buildings, Stripped vor vier Jahren mit in der Tat neun Materialcollagen, die zunächst in der Kunsthalle Wien, später auch in der Galerie Kargl zu sehen waren. In der Zwischenzeit umfasst die Serie bereits an die 40 Pakete , zum überwiegenden Teil aus Wiener Alt- und Neubauten erbettelt, erworben, ergaunert, aber etwa auch aus dem Palast der Republik und dem später nachfolgenden Humboldt-Forum in Berlin, aus dem Hotel Intercontinental Praha, das nach dem Refurbishment nächstes Jahr als Golden Prague Hotel wiederauferstehen wird, sowie von diversen Abbruchhäusern in der nordostrumänischen Stadt Iași.

Gestrippt wurden beispielsweise ein Gründerzeithäuser im 15. Bezirk, das Bürogebäude Schoeller-Bleckmann am Franz-Josefs-Kai, die Sozialversicherungsanstalt auf der Wiedner Hauptstraße, ein Schrebergartenhäuschen in Favoriten sowie die Bildhauerateliers im Wiener Prater. Ganz klein und unscheinbar, Nummer zwei an der Wand im Kunsthaus Muerz, fast wäre man daran vorbeigelaufen, wenn die glasierte Keramikkachel im Scheinwerferlicht nicht so schokoladig geschimmert hätte, ein Paket zur Villa Hanni, abgerissen in der ersten Corona-Lockdown-Woche 2020.

Errichtet wurde das Haus in der Dr.-Heinrich-Maier-Straße 35 in Währing, in direkter Nachbarschaft zum Pötzleinsdorfer Schlosspark, 1910 vom Otto-Wagner-Schüler Karl Adalbert Fischl. Im ersten Stock war die secessionistische, Semmeringpayerbachrax-anmutende Villa mit eisenoxidglasierten Keramikkacheln verkleidet. Das lange Zeit unbewohnte Haus scheint mutwillig den Kräften von Natur, Witterung und Vandalismus überlassen worden zu sein, alles Geschichte. An seiner Stelle steht nun ein vollwärmegeschütztes Haus aus Stahlbeton und Hohlblockziegeln.

In Fogarasis Ausstellung im Kunsthaus Muerz wird eine alte Kachel, nonverbale Liebeserklärung an Handwerk und hochwertige Produktqualität, mit einem neuen Putzmuster zusammengebunden. Das Umreifungsband aus Stahl hat sich schon jetzt in die chemisch verputzte Styroporplatte eingeschnürt. Die Baukunst ist zum Sondermüll geworden.

Ausstellungshinweis: „Last Minutes“ im Kunsthaus Muerz in Mürzzuschlag, mit Werken von Andreas Fogarasi und Markéta Othová. Zu sehen bis 3. September. Weitere „Stripped“-Arbeiten sind in der Ausstellung „1978“ im Quartz Studio in Turin zu sehen, bis 22. Juli.

Der Standard, Sa., 2023.07.08

24. Juni 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Hereinspaziert!

Der Wiener Prater war immer schon ein Ort geheimnisvoller Kuriositäten. Heute ist er ein Hort kurioser Geheimniskrämerei. Zwei Projekte werfen viele, viele Fragen auf.

Der Wiener Prater war immer schon ein Ort geheimnisvoller Kuriositäten. Heute ist er ein Hort kurioser Geheimniskrämerei. Zwei Projekte werfen viele, viele Fragen auf.

Da steht sie also, 72 Meter lang, 42 Meter breit, 13 Meter hoch, vor wenigen Tagen wurde das umstrittene Projekt offiziell übergeben. Von den einen (Stadt Wien, Bezirksvorstehung, SPÖ) wurde die sogenannte Sport-&-Fun-Halle in der Venediger Au sehnlichst erwartet und in großen Worten herbeigelobt. Die anderen hingegen (Bürgerinitiative, Volksanwaltschaft, Grüne) kritisierten das intransparente Verfahren und die vermeintlich so illegale Vorgehensweise, dass einem jeder Fun vergeht. Was ist hier passiert?

„Nachdem klar war, dass die alte Sporthalle neben dem Ferry-Dusika-Stadion abgerissen wird, um Platz für den neuen Fernbusbahnhof zu machen“, sagt Architekt Michael Schluder, während er die Tür in die soeben fertiggestellte Sporthalle aufsperrt, „hatte die Stadt Wien die Verpflichtung, rasch eine Ersatzhalle zu errichten. Es gab eine Standortanalyse, und wir wurden eingeladen, eine Machbarkeitsstudie zu erstellen und ein Anbot vorzulegen. Basierend darauf haben wir einen Entwurf und eine mit der Auftraggeberin und den Behörden abgestimmte Einreichung nach § 71 der Wiener Bauordnung erstellt.“

Und jetzt wird’s kompliziert. Denn der Flächenwidmungsplan für das besagte Grundstück in der Venediger Au, in der von 1895 bis 1901 singende Gondolieri die Besucher auf eine venezianische Kanalreise entführt hatten, sieht für die Parzelle zwar eine sogenannte „Esp Erholungsfläche Sport“ vor, die die Errichtung sportnaher Bauten ermöglicht – allerdings mit einem nicht unwesentlichen Passus namens „BB1 Besondere Bestimmungen“, die im Wiener Gemeinderat im Mai 2003 beschlossen wurden: „Auf der mit BB1 bezeichneten und als Grünland (…) gewidmeten Grundfläche dürfen keine Gebäude errichtet werden.“

Zumindest temporär

Stadt Wien und Architekt haben darauf mit besagtem § 71 reagiert. Dieser ermöglicht, selbst auf einem Grundstück mit noch nicht projektkonformer Flächenwidmung und Bebauungsbestimmung ein zumindest temporäres Bauwerk zu errichten. In diesem Fall ist die Sport-&-Fun-Halle für die Dauer von fünf Jahren bewilligt, in dieser Zeit kann die Stadt Wien das Grundstück entsprechend nachwidmen. „Bei Projekten mit engem Zeitplan“, sagt Andreas Machold, Geschäftsführer der WIP Wiener Infrastruktur Projekt GmbH, auf Anfrage des ΔTANDARD, „ist das ein durchaus übliches Vorgehen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen werden an das dann bereits bestehende Gebäude nachträglich angepasst.“

Die Stimmung in der zwölf Millionen Euro teuren Halle ist sehr angenehm. Ein Holzleichtbau mit Leimbinderstützen, luftig leichtem Holzfachwerk und duftenden Wänden aus Brettsperrholz. Darüber ein Lichtband aus Polycarbonat-Stegplatten, die ein mattes, diffuses Licht ins Innere bringen. Sportflächen für Streetsoccer, Street-Basketball, Inline-Hockey, Badminton und sogar Beachvolleyball. Am Ende eine betonierte Galerie mit korallenrot eingefärbten Böden, Treppen und Metallgeländern. Roland Rainers Stadthallenbad lässt grüßen. Eine sportliche Referenz. „Die Architekten haben die Bauaufgabe adäquat gelöst, ein hübsches Projekt, wenngleich eine monofunktionale Kiste auf der grünen Wiese im Sinne der Stadtverdichtung und Nutzungsmischung der absolut falsche Ansatz ist“, sagt der Leopoldstädter Bezirksvorsteher-Stellvertreter Bernhard Seitz (Grüne). „Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieses Bauwerk illegal errichtet wurde. Die Stadt Wien als Auftraggeberin und bewilligende Baubehörde in institutioneller Union hat sich hier selbst ein Okay gegeben.“

Fragen bitte nur schriftlich

Noch schärfer formuliert es Lorenz E. Riegler, Allright Rechtsanwälte, der im Auftrag der Grünen im September 2022 ein Gutachten erstellte. „Jeder andere Bauwerber, der in seiner Einreichplanung nur ein Prozent von der Wiener Bauordnung abweicht, wird wieder heimgeschickt. Hier ist man zu 100 Prozent abgewichen und hat dennoch einen positiven Baubescheid bekommen, der von der Stadt Wien und der Baupolizei jedoch unter Verschluss gehalten wird. Auch mir wurde die Einsicht in den Akt verweigert. Dieses Projekt ist eine schwere Wunde im Rechtsstaat, die man nur schwer wieder verarzten kann.“

Sämtliche Projektbeteiligte beziehen sich in ihren Stellungnahmen darauf, dass so ein Prozedere bei öffentlichen Bauvorhaben „ein ganz normaler, üblicher Vorgang“ sei, dass die Halle „streng baurechtlich betrachtet legal“ errichtet worden sei. Fragt sich nur: Warum spricht dann niemand mit den Anrainern und Skeptikerinnen darüber? Warum fährt die Stadt Wien eine Kommunikationskampagne des Schweigens? Und warum bekommt eine Tageszeitung bei der Stadt Wien, bei der Bezirksvorstehung und den involvierten Magistratsabteilungen keine telefonische Auskunft? Fragen zu diesem Projekt, heißt es, bitte nur schriftlich.

800 Meter Luftlinie von der Sport-&-Fun-Halle entfernt steht angrenzend zum Freudplatz eine weitere Kuriosität, die sich derzeit im Rohbau befindet – das Panorama Vienna, ein 34 Meter hoher Betonzylinder, also genau ein Meter unter dem Schwellenwert zur Wiener Hochhausregelung. Das Projekt der Berliner Unternehmerin Ilona Cardoso Vicente wird ein 3500 Quadratmeter großes 360-Grad-Rundgemälde beheimaten, das im Jahresrhythmus kuratiert und ausgetauscht werden soll. Auf der Website bezieht man sich auf die Wiener Weltausstellung anno 1873, die heuer ihr 150. Jubiläum feiert.

Der Innenraum ist gewaltig, die Nachhallzeit im Gespräch mit der Bauherrin beträgt beeindruckende sieben, acht Sekunden, das wird schon eine Wucht werden. Etwas befremdlicher hingegen mutet das Rendering an, das die Vida Panorama GmbH vor einigen Jahren im Umlauf gebracht hat und das ein wenig an ein Gasspeicherbecken in der OMV-Raffinerie Schwechat erinnert. Die MA 19 (Architektur und Stadtgestaltung) spricht in ihrer Stellungnahme von einem „skulpturalen Gebäudekomplex“ und einem „stadtgestalterischen Bindeglied“. Hmmm.

Kein Innovationsschub

Der Wiener Stadthistoriker Peter Payer sieht das anders: „Die Bauten im historischen Prater und vor allem auf der Weltausstellung 1873 haben sich stets durch eine hohe Innovationskraft ausgezeichnet, die Attraktionen waren ein Versuchslabor mit einem oft lustvollen, sinnlichen, illusorischen, jedenfalls hohen baulichen Anspruch. Auf dem Rendering macht das Gebäude einen nüchternen, abweisenden Eindruck. Ein Innovationsschub teilt sich hier nicht wirklich mit.“

Bauherrin Vicente und ihr Architekturbüro WGA entgegnen, der Stand sei längst überholt, es werde an einer modernen Energiefassade mit PV-Modulen und teilweiser Begrünung gearbeitet. „Wir sind auf dem Designweg unterwegs. Bitte beurteilen Sie uns erst, wenn das Projekt abgeschlossen und das Federkleid montiert ist.“ Mehr wird derzeit nicht verraten. Die Stadt Wien beansprucht für sich, eine lebenswerte Stadt mit innovativer Stadtplanung, transparenten Prozessen und einem regen Austausch mit ihrer Zivilbevölkerung zu sein. Selbstbild und Fremdbild müssen dringend in Einklang gebracht werden. Bis dahin gilt: Hereinspaziert ins Kuriositätenkabinett!

Der Standard, Sa., 2023.06.24

03. Juni 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Dieser Ort war mein Alterlaa

Harry Glücks Wohnpark Alterlaa macht auch heute noch viele Menschen glücklich. Die Regisseurin Bianca Gleissinger, selbst Kind dieses Hauses, geht in ihrem Film „27 Storeys“ der Frage nach, woran das liegt.

Harry Glücks Wohnpark Alterlaa macht auch heute noch viele Menschen glücklich. Die Regisseurin Bianca Gleissinger, selbst Kind dieses Hauses, geht in ihrem Film „27 Storeys“ der Frage nach, woran das liegt.

Tschuldigung! Wir drehen einen Film. „Dort wo die Blumen blühn, dort wo die Täler grün, dort war ich einmal zu Hause“, singt Freddy Quinn aus der Konserve, 33. Minute, während Edi und Gitti in ihrem Freddy-Quinn-Museum gerade ein paar Freddy-Quinn-Pappaufsteller durch die Tür bugsieren. „Wo ich die Liebste fand, da liegt mein Heimatland, wie lang bin ich noch allein?“

Wow! Wie viele sind denn das? Eine CD-Sammlung mit mehr als 300 CDs, hunderte VHS-Videobänder mit dem österreichischen Schlagersänger in allen erdenklichen Rollen und Bühnenauftritten, dazu tausende Plakate und Schellacks, mit denen das kleine Museum im Block A, Stiege 8, Etage 2, ausgekleidet und bis unter den Plafond komplett zutapeziert ist. „So schön, schön war die Zeit, so schön, schön war die Zeit…“

Edi und Gitti suchen noch jemanden, der die Nachfolge fürs Museum übernimmt, wenn sie einmal in Rente gehen. Ihre Kinder waren mit mir in der Schule und hörten damals am liebsten die Nu-Metal-Band Limp Bizkit. Freddy Quinn. Stationen einer Karriere 1949–2006. Und mittendrin die Filmregisseurin Bianca Gleissinger, die sich immer wieder ins Bild hineinschleicht, die Szenen mit ihrer frechen, „goscherten“ (Kleine Zeitung) , irgendwie immer noch pinken Stimme aus dem Off kommentiert und sich mit ihrer Soziodokumentation auf die Spuren ihrer eigenen Kindheit begibt, auf die Suche nach Fragen und Antworten ihres damals so ungetrübt rosaroten Lebens. Licht aus, Tür zu, und Schnitt.

Architekt Harry Glück hatte 1960 einen revolutionären Traum – den Wohnpark Alterlaa. Denn er forderte das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl. Drei Wohnblocks, 250.000 Quadratmeter, 27 Stockwerke, Swimmingpools und Tennisplätze. „Ich bin hier aufgewachsen“, sagt Gleissinger, Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), die mit ihrem Film 27 Storeys – Alterlaa Forever ihr Abschlussprojekt und zugleich ihr 82-minütiges Filmdebüt vorlegt, im Gespräch mit dem ΔTANDARD. „Für mich war das Wohnen in Alterlaa mit all seinen Annehmlichkeiten damals ganz normal. Erst später habe ich begriffen, was für ein besonderer Ort das hier ist.“

Ein riesiger Pool nahm hart arbeitenden Vätern den Druck des wirtschaftlichen Aufstiegs. Die Hausfrau konnte nun auch am Leben teilnehmen, da die Küche erstmals an den Wohnraum angebunden war. Wohnen wie die Reichen für alle war das Motto. Oder wie Kritiker das damals formulierten: Pools für die Proleten! „Ob hier wirklich so viele Proleten wohnen? Natürlich! Wenn man 3200 Wohnungen für 9000 Menschen baut“, sagt Gleissinger, „dann ist in gewisser Weise alles wahr und unwahr zugleich, denn wo viele Menschen wohnen, da hat das Leben auch viele verschiedene Farben.“

Proleten wie wir! Wir hatten dank Alterlaa alles, was es für ein glückliches Leben brauchte. Wir waren Harry Glücks Glücksutopie. Und als wir ausziehen mussten, habe ich mich weinend an die Dunstabzugshaube geklammert. Bis heute zählt Harry Glücks Wohnpark Alterlaa – der nicht nur für seine Swimmingpools auf dem Dach berühmt ist, sondern auch für seine vielen Vereine und exotischen Clubräume wie etwa Bridge-Salon, Schießhalle, und Modellbauwerkstatt – zu den beliebtesten Wohnbauten Österreichs. Die Fluktuation ist extrem gering, die Wohnzufriedenheit mit 98 Prozent unschlagbar hoch, der Wohnbau immer wieder Motiv für Studien und Forschungsarbeiten.

Das Alterlaa der Gegenwart ist ein Paradies für analoge Menschen. Doch dieser Film dreht sich nicht nur um das Objekt, wie es schon so oft untersucht und dokumentiert wurde, sondern vor allem um die hierin lebenden Subjekte. Zu Wort kommen Urgesteine, die hier seit dem allerersten Tag eingemietet sind, Fertigstellung 1976, aber auch Jugendliche und neu Zugezogene, die mit Alterlaa in ein neues Leben durchstarten wollen. Kinder fahren mit dem Scooter durchs Bild, Teenager verabreden sich über die hausinterne Sprechanlage auf ein Bier, in den Küchen werden Schnitzel geklopft. Und dann, in der 76. Minute, wird Hanna nachdenklich.

Das Alterlaa der Gegenwart ist das größte Altenheim Österreichs, sagen Kritikerinnen. „Alterlaa ist für mich ein schönes beginnendes Ende meines Lebens, ich fühle mich sehr wohl hier“, sagt die kürzlich pensionierte Hanna, während sie ihre Reiseführer ausmistet, weil sie wahrscheinlich nie wieder nach Florida reisen wird. „Hier kannst du alt werden. Bis der Tod Alterlaa und mich scheidet.“ Auch das passiert. Peter, einer der Protagonisten im Film, verstirbt während der Dreharbeiten. Seine Wohnung wird geräumt, ausgemalt, für die nächsten Mieterinnen instand gesetzt.

Mein Alterlaa war kein Ort, es war eine Zeit, die ich nicht loslassen wollte. Eine Zeit, in der ich noch gar keine Vorstellung davon hatte, dass alle Dinge vergänglich sind. „Natürlich ist 27 Storeys auch ein Film über Alterlaa“, sagt die 33-jährige Regisseurin, „denn Harry Glück hatte die große Gabe, die damalige Zeit mit einem sehr wachen Auge zu lesen und in eine ansprechende, sozial adäquate Architekturform zu übersetzen. Aber es ist auch ein Film über Kindheit, über kindliches Glück, über erfüllte und geplatzte Kindheitsträume.“

Ich wollte Prinzessin werden, aber ich wollte auch Kriegerin sein, hier in unserem Wohnzimmer. Im Gymnasium wollte ich Britney Spears sein, und mit 19 wollte ich Playmate werden. In meinem Zimmer war alles pink, pink, pink. Vielleicht muss das Mädchen mit den pinken Wänden nur eines tun – eine Dunstabzugshaube loslassen. „Dieser Film ist aber auch ein Werkzeug, um von alten sozialen Utopien loszulassen, denn die Zeiten von der Stadt in der Stadt – von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Einkaufen unter einem Dach – sind vorbei. Das interessiert heute niemanden mehr.“

Wir hatten 10.000 Nachbarn und Nachbarinnen, darunter weltberühmte Stars und Fußball-Legenden. Wer in Alterlaa gewohnt hat, der war wer! Alle anderen fanden das komisch. Und wir fanden alle anderen komisch. Bei aller Sentimentalität, Menschlichkeit und Freddy-Quinn-Skurrilität schafft es der Film, nicht nur in die Geschichte zurückzublicken und die Gegenwart darzustellen, sondern auch die Frage zu stellen, wie wir es schaffen, unsere Wohnutopien zu transformieren und innovative Lebensmodelle für die Zukunft zu entwickeln. Ein dringlicher Auftrag an alle Politiker, Bauträger und Architektinnen: Über welche zeitgenössischen Wohnprojekte wird man in 50 Jahren einen Film drehen wollen?

„27 Storeys – Alterlaa Forever“, ab sofort im Kino.

Der Standard, Sa., 2023.06.03

20. Mai 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Im Labor der vergessenen Ideen

Soeben wurde die 18. Architekturbiennale in Venedig eröffnet. Unter dem Titel „The Laboratory of the Future“ üben einige Länder heuer massiv Kritik am Veranstalter. Manche stellen das Format überhaupt infrage.

Soeben wurde die 18. Architekturbiennale in Venedig eröffnet. Unter dem Titel „The Laboratory of the Future“ üben einige Länder heuer massiv Kritik am Veranstalter. Manche stellen das Format überhaupt infrage.

Ein Liter Gemüsesaft Wetland, eine Tüte Kartoffelchips Extreme Natur e, einmal Hustenzuckerln Amnesia, ein Vollwaschmittel Villa Frankenstein, und dann noch eine Packung Chicken-Wings Making Heimat . Mit den Lebenbismitteln im Einkaufskorb geht es ab zur Kassa, der Kassier ist voll nett, zahlen muss man hier nämlich nix, dafür aber bekommt man zur Dokumentation des getätigten Einkaufs einen Originalbeleg überreicht. Das Faksimile bleibt in der Kassa, denn am Ende der 18. Architekturbiennale – nach insgesamt 190 Tagen Laufzeit – soll ausgewertet werden, welche Produkte vom Publikum am häufigsten geshoppt wurden.

„Wir sind natürlich kein echter Supermarkt“, sagt Ernests Cerbulis. „Aber wir sind ein echt super Wissensmarkt, denn die insgesamt 506 Produkte, die wir im Sortiment haben, wurden eigens für Venedig konzipiert und von ausgesuchten Experten und Spezialistinnen in Handarbeit produziert. Mehr Qualität geht nicht.“ Entwickelt wurden die hier lagernden Wissens- und Lebensmittel von sämtlichen partizipierenden Länderpavillons und Kuratorenteams der letzten zehn Architekturbiennalen, also der Jahre 2002 bis 2021. Es ist alles vertreten, von Made in Germany bis Made in Elfenbeinküste.

Wissen konsumieren

„Die Architekturbiennale ist eine Shoppingmall voller Ideen, Konzepte und außergewöhnlicher Urheberschaften, die sich mit den Problemen und Herausforderungen unseres Zusammenlebens beschäftigen“, sagt Cerbulis, einer der Kuratoren des lettischen Länderpavillons mit dem Titel TCL. Die Abkürzung steht für Trade Center Latvia, die diskontartige Anmutung über der Kassa, die an Lidl und Hofer erinnert, könnte kaum besser sein. „Bloß stellt sich die Frage: Was passiert mit all dem akkumulierten, kollektiven Wissen nach der Biennale?“

Die Antwort ist: Es verschwindet in der Kulturschublade und gerät in Vergessenheit. Lettland macht die Archivboxen wieder auf, reibt uns (und dem Präsidium der Biennale) unter die Nase, was eh schon alles erdacht und erfunden wurde, und lädt uns dazu ein, die am dringendsten benötigten Produkte in den Korb zu legen, sie miteinander zu kombinieren und das ganze Wissen endlich zu konsumieren. „Es steht viel Arbeit an. Es braucht nur noch die richtigen Entscheidungen in den Kassen der öffentlichen Hand.“

Lettland ist nicht der einzige Beitrag, der die Architekturbiennale in ihrer heutigen Form auf den Prüfstand stellt. Auch Österreich, Deutschland, die Schweiz und die Niederlande stellen infrage, ob die Biennale tatsächlich so sinnvoll und kulturell nachhaltig ist, wie sie es für sich selbst beansprucht, ob das Modell der Länderkonkurrenz überhaupt noch zeitgemäß ist und ob die monofunktionale Nutzung der Pavillons nicht ein bisschen eindimensional ist. Und all diese Länder mussten sich an den Behörden und Biennale-Verantwortlichen zum Teil die Zähne ausbeißen.

Biennale dekonstruieren

Ob das wohl das war, was sich Lesley Lokko, Gesamtkommissärin der 18. Architekturbiennale, erhoffte, als sie das diesjährige Motto The Laboratory of the Future ausrief und die Teilnehmenden dazu ermutigte, sich als „Agents of Change“ einzubringen?

Dabei hat Lokko, schottische Architektin und Lehrende mit ghanaischen Wurzeln, eine längst überfällige Evolution eingeleitet: Sie hat Afrika und die afrikanische Diaspora gepusht und die kulturgeistigen Leistungen dieses gigantischen Kontinents endlich sichtbar gemacht, sie hat den teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern in der gesamten Ausstellung mit Porträtfotos ein physisches Gesicht gegeben, und sie hat angeregt, das Format der Ausstellung nicht bloß als „Momentaufnahme mit einem Narrativ“ zu verstehen, sondern als Prozess.

Ihr einziges Pech ist, dass manche Länder den Prozess sehr wörtlich genommen haben und nun die Biennale dekonstruieren – sowohl materiell als auch immateriell. Die Schweiz verbindet ihren Bruno-Giacometti-Pavillon mit dem venezolanischen Gegenstück von Carlo Scarpa, indem sie die trennenden Mauerelemente entfernt. Die Holländer haben Löcher in die Dachkonstruktion geschnitten und sammeln nun das Regenwasser ihres Pavillons, um mit der flüssigen Metapher auf die Fehlerstellen in unserem globalen Kapitalsystem (Cashflow, Liquidität, in Geld schwimmen) hinzuweisen.

Und das österreichische Kuratorenteam – bestehend aus dem Architekturkollektiv AKT und dem Wiener Architekten Hermann Czech – hat sich eineinhalb Jahre lang darum bemüht, einen Teil des Österreich-Pavillons für die Dauer der Biennale der lokalen Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Vergeblich.

„Wir wollten den Pavillon durch eine Öffnung in der Giardini-Mauer vom Stadtteil Sant’Elena aus zugänglich machen“, sagt Fabian Antosch von AKT. „Seit ihrem Beginn 1980 hat sich die Architekturbiennale massiv ausgebreitet und die hier lebenden Menschen mehr und mehr zurückgedrängt.“ Inzwischen umfasst die Biennale im Arsenale und in den Giardini – die auch außerhalb der Biennale-Saison öffentlich nicht zugänglich sind – 13 Hektar Land sowie eine Vielzahl an Kirchen, Palazzi, Wohnhäusern, Hotels, Bibliotheken und leerstehenden Geschäftslokalen. Biennale, Baubehörde und Denkmalamt haben die von AKT und Czech vorgeschlagene Öffnung abgelehnt (DERΔTANDARD berichtete).

Teil des Problems

Ein substanzielles Rütteln an der architektonischen Nabelschau ist auch der diesjährige Beitrag Deutschlands. Unter dem Titel Wegen Umbau geöffnet wird der Pavillon coram publico umgebaut, repariert und „instandbesetzt“, wie dies das Kuratorenteam rund um Anh-Linh Ngo formuliert. „Seit vielen Jahren sehen wir auf den Biennalen, was wir gegen die Klimakrise und die fortschreitende Ökologiekatastrophe tun sollten“, sagt Ngo, „lassen dabei aber außer Acht, dass wir Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind. Wir machen bei diesem Zirkus mit.“

Von der letzten Kunstbiennale 2022 wurden Tonnen von Baumaterialien eingesammelt, die sonst auf der Müllhalde gelandet wären. Mit dem angehamsterten Baustofflager repariert der Pavillon nun sich selbst: Der NS-Bau bekommt eine Werkstatt, eine Ökotoilette und eine barrierefreie Rampe.

„Wir bauen den Pavillon nach unseren gesellschaftlichen Vorstellungen um“, so Ngo. „Und wenn dieser Teil abgeschlossen ist, werden wir mit den Studierenden, die ab kommender Woche hier arbeiten werden, auch diverse bauliche Schäden und Abnützungserscheinungen in der umliegenden Stadt beheben.“

Damit ist nun die größte aller Baustellen eröffnet: Das Fundament der Architekturbiennale bröckelt, die Säulen der sozialen, ökologischen und gesellschaftspolitischen Relevanz wurden heuer ordentlich ins Wanken gebracht, es braucht dringend eine Sanierung. The Laboratory of the Future, so scheint es, ist zu einem Museum of the Past geworden.

Der Standard, Sa., 2023.05.20

19. Mai 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Zirkus, Zynismus, Zukunftslabor?

Die 18. Architekturbiennale in Venedig ist eröffnet. „The Laboratory of the Future“ lautet das heurige Gesamtmotto. Eine Handvoll Länderpavillons – allen voran Österreich – reagiert darauf auf subversive, intelligente Weise.

Die 18. Architekturbiennale in Venedig ist eröffnet. „The Laboratory of the Future“ lautet das heurige Gesamtmotto. Eine Handvoll Länderpavillons – allen voran Österreich – reagiert darauf auf subversive, intelligente Weise.

Eigentlich war alles anders geplant. Es hätte der Österreich-Pavillon in den Giardini zum Teil an die venezianische Bevölkerung abgegeben werden sollen. 350 Quadratmeter für die Menschen, die hier wohnen und arbeiten, für die alten Leute und Schulkids, als Treffpunkt und Veranstaltungsort, zum Kartenspielen und Fußballschauen. Dies sollte mit einem Durchbruch in der Mauer des österreichischen Pavillons und mit einer Wiederöffnung eines ehemaligen Durchgangs in der Giardini-Mauer ermöglicht werden, damit die Leute ein- und ausgehen können. Als Plan B hätte es eine über die Mauer führende Brückenkonstruktion gegeben.

Doch es kam anders. Aus dem „Eigentlich“ wurde ein theoretisches, offenbar nicht realisierbares Gedankenkonstrukt, das am Starrsinn der Behörden und der Angst und Egomanie der Biennale-Direktion scheiterte. Die Baustelle ist eröffnet, der Brückenpfeiler steht, die Treppe aus normalen Gerüstelementen ist errichtet – doch dann die große Überraschung, die Absperrung, das Ende. Damit mutiert der Titel Partecipazione / Beteiligung zum bürokratischen Zynismus.

Schon an den ersten beiden Preview-Tagen für die Presse sorgte der Pavillon für regen Besuch und noch regeres Kopfschütteln. „Wir haben alles Mögliche unternommen, hatten intensiven Kontakt mit der Baubehörde, mit der Denkmalbehörde und mit den Verantwortlichen der Biennale“, sagt Lena Kohlmayr vom 17-köpfigen Architekturkollektiv AKT, das für den österreichischen Beitrag in Kooperation mit dem Wiener Architekten Hermann Czech verantwortlich zeichnet. „Doch die Gespräche waren mühsam, zum Teil kamen negative Bescheide, und zum Teil lässt man uns seit Monaten zappeln. Wir machen diese Ablehnung sichtbar.“

Kunst- und Kulturminister Werner Kogler (Grüne), der nach Venedig angereist war, bezeichnete das Projekt in seiner Eröffnungsrede als Gegenmodell zum sonst üblichen „Friss-oder-stirb-Missverständnis“, das in der Politik, Stadtplanung und Immobilienwirtschaft oft zu beobachten sei. „Dieses Projekt“, sagte Kogler, „zeigt auf, wie wir zusammenleben und Raum teilen können. Und es beweist, dass es auch auf der anderen Seite der Mauer Menschen, städtisches Leben sowie Potenziale und Herausforderungen gibt.“
Jährliche Heuschrecken

Und Letztere sind in Venedig in der Tat massiv. Sie umfassen Kunst-Gentrification, spekulative Raumpolitik, Airbnb-Aushöhlung und Horden an Galeristen und Kulturbobos (den Autor dieser Zeilen miteingeschlossen), die zur alljährlichen Kunst- oder Architekturbiennale wie Heuschrecken über die Lagunenstadt herfallen und die überaus sensiblen sozialen Rituale und gesellschaftlichen Infrastrukturen zerstören. Und die Raumnahme der Fremden wird immer größer.

Die erste Biennale 1895 umfasste einen einzigen Palazzo dell’Esposizione, zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Giardini und Teile des Stadtviertels Sant’Elena einverleibt, in den 1990ern breitete sich die Biennale auf das Arsenale und auf immer mehr Kirchen und Palazzi in der Stadt aus. Heute infiltriert die Biennale viele Hotels, Wohnbauten, Bibliotheken, Erdgeschoßlokale und leerstehende Gewerbebetriebe.

Jane da Mosto und Carolyn Smith von der Initiative We are here Venice haben sich ausgerechnet, dass neben den 13 Hektar Land der Giardini und des Arsenale auf dem schwarzen Brett der Biennale weitere 49 (!) Hektar Ausstellungsfläche in der Stadt gelistet sind, viele davon am Canal Grande gelegen. Sechs Hektar wurden bei der letztjährigen Kunstbiennale in Besitz genommen.
Treffpunkt verloren

„Das ist eindeutig zu viel“, sagt Remi Wacogne, Sprecher der lokalen Bürgerinitiative OCIO: „Die Biennale ist für Venedig ohne jeden Zweifel ein wichtiger Wirtschafts- und Tourismusfaktor. Aber den Venezianern gehen dadurch wichtige soziale, konsumfreie Treffpunkte verloren. Immer mehr Stadt gehört der Biennale. Und auch die Giardini sind – wenn nicht gerade Biennale ist – zugesperrt und öffentlich nicht zugänglich. Als politisches Zeichen ist das verheerend.“

Ob das wohl das war, was sich Lesley Lokko, Gesamtkommissärin der 18. Architekturbiennale, erhoffte, als sie das diesjährige Motto The Laboratory of the Future ausrief? Österreich ist mit seiner subversiven Kritik übrigens nicht das einzige Land, das die Existenzberechtigung der Biennale in ihrer heutigen Form auf den Prüfstein stellt. Auch die Schweiz und die Niederlande positionieren sich heuer als Stachel im Fleisch. Noch unverfrorener machen das Deutschland und Lettland, indem sie die Biennale und ihre weder sozial noch ökologisch nachhaltigen Machenschaften komplett dekonstruieren und sich hinter all den repräsentativen, medienwirksamen Fassaden die Frage stellen, was nach so vielen Architekturbiennalen mit dem ganzen kollektiven Wissen passiert. Zahlt sich der ganze Zirkus überhaupt noch aus?

Der Standard, Fr., 2023.05.19

06. Mai 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Die Welt hinter der rosaroten Brille

Eine (zum Glück analoge) Ausstellung widmet sich den Reizen und Potenzialen virtueller Räume und KI-generierter Architekturbilder. Wollen wir da wirklich hin? Ja und nein.

Eine (zum Glück analoge) Ausstellung widmet sich den Reizen und Potenzialen virtueller Räume und KI-generierter Architekturbilder. Wollen wir da wirklich hin? Ja und nein.

Neunzig Millionen Bienenstöcke, 3357 Algenfarmen und 932 Zettabytes an Daten. Geht es nach dem australischen Architekten und Filmemacher Liam Young, so könnte man die zehn Milliarden Menschen, die im Jahr 2050 die Erde bevölkern werden, in einer einzigen Stadt zusammenpferchen. Diese Stadtutopie, kurz Planet City, würde lediglich 0,2 Prozent der Erdoberfläche einnehmen – vergleichbar mit der Größe von Texas, Ägypten oder Skandinavien, mit dem Vorteil, dass sich in Zukunft 99,98 Prozent des Planeten wieder regenerieren könnten.

Der gleichnamige Film Planet City, 15 Minuten geballter Utopie, zeigt riesige Wohntürme, zerklüftete Felskanten mit drangepickten Häuschen, romantische Abenddämmerungen, pinke Gemüsefelder, so weit das Auge reicht, und gigantische Batterien von Solarfarmen, die die neue Hyperpolis umgeben und mit Energie versorgen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Blicken in die Zukunft ist dieser nicht nur dystopisch. 2555 Feste und Feiertage, hat sich Young ausgerechnet, würden in Planet City aufgrund der kulturellen Dichte nahtlos ineinander übergehen.

„Planet City ist ein Mikrokosmos, der auf dem globalen Konsens beruht, dass wir uns auf kleiner Fläche zurückziehen und die Erde wieder sich selbst überlassen“, sagt Young, den die BBC als „the man designing our futures“ bezeichnet. „Ob ich möchte, dass diese Stadt auch wirklich gebaut wird? Natürlich nicht! Planet City ist eine Provokation. Es ist die Einladung, dass wir uns eines Tages an einem pinken Algensee verlieben. Dass wir uns in unterschiedliche Zukünfte hineindenken und hineinprojizieren. Dass wir das, was wir hier lernen, auch auf die gebaute, bereits existierende Stadt übertragen.“

Sehnsuchtsorte und Dreamscapes

Planet City hat nun erstmals den Weg in ein österreichisches Museum gefunden, und zwar in die Ausstellung /imagine: Eine Reise in die neue Virtualität, die kommenden Dienstag im Museum für angewandte Kunst (Mak) in Wien eröffnet wird. /imagine: ist eine zum Glück reale, analoge, ganz und gar handfeste Ausstellung über die neuen virtuellen Welten, die wir permanent kreieren, über ihre künstlich geschaffenen Räume, über ihre kulturellen und ökologischen Potenziale – aber auch über die sozialen, politischen und kapitalistischen Abgründe, die in der neuen Technologie lauern.

„Im Corona-Lockdown sind viele Sehnsuchtsorte entstanden, sogenannte Dreamscapes, die in den sozialen Netzwerken viral gegangen sind“, sagen die beiden Kuratorinnen Marlies Wirth und Bika Rebek. „Es ist aufregend, diese Bilder zu konsumieren und sich dem Hype hinzugeben, der nicht mehr einigen wenigen Fachleuten vorbehalten ist wie noch vor ein paar Jahren, sondern dank niederschwelliger Programme wie etwa Dall-E, Midjourney und Stable Diffusion nun auch für die breite Masse zugänglich ist.“

Die Aufgabe der Kulturtechnik sei es, nicht nur auf der Welle mitzuschwimmen, sondern die neuen virtuellen Möglichkeiten zu hinterfragen und zu analysieren. „Wer sind die Protagonistinnen und Künstler? Woher kommt der Wunsch nach diesen fiktiven Orten überhaupt? Und wohin kann die Reise gehen?“ Der typografisch etwas sperrige Titel /imagine: wird eingefleischten Fans bekannt vorkommen, handelt es sich dabei doch um eine Art Reiseantritt, um den Tastaturbefehl, den man im KI-Programm Midjourney eingeben muss, um computergenerierte Images, sogenannte CGIs, zu erstellen.

Charlotte Taylor und Anthony Authié vom Pariser ZYVA Studio haben das schon öfter gemacht. Als Reaktion auf Covid- und Klimakrise bedienen sich die beiden bekannter Architekturikonen des 20. Jahrhunderts und setzen diese in eine neue, post-anthropozentrische, geografisch leicht verfremdete Welt. Nicht in Los Angeles, sondern plötzlich an einer pinkfröhlichen Steilküste in der Nähe von Marseille balanciert, einsam und menschenleer, John Lautners berühmtes Chemosphere House aus dem Jahr 1960.

Immer öfter dient der virtuelle Raum auch als grenzenlose Visitenkarte für Abenteuer und Kundenakquise. Das Salzburger Architekturbüro Studio Precht kommt genau so an seine Aufträge: Statt an offenen, unbezahlten Wettbewerben teilzunehmen, investiert es lieber in virtuelle Entwürfe, die dermaßen schön, g’scheit und sympathisch sind, dass sich sämtliche Blogs, Newsletter und Zeitschriften darum reißen – und manchmal eine reale Anfrage eines realen Bauherrn eintrudelt. So wie zum Beispiel beim Baumhaus Bert, das auf diese Weise von der Pixelwelt auf den Pogusch kam, wo es für 400 Euro pro Nacht an Restaurantgäste des Steirerecks vermietet wird.

Erste Euphoriephase

Andrés Reisingers Hortensia Chair blickt auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte zurück: Vor fünf Jahren präsentierte der argentinische Designer einen fiktiven, 3D-gerenderten Fauteuil auf Instagram und bekam daraufhin eine solche Flut an Kaufanfragen, dass das gute Stück – in Kooperation mit der Textildesignerin Júlia Esqué und dem dänischen Möbelhersteller MOOOI – erst in eine limitierte Kleinserie und schließlich in Serienproduktion gegangen ist. Um 6500 Euro kann man in den rund 30.000 zusammengenähten Polyester-Blütenblättern Platz nehmen, et voilà!

„Wir stecken derzeit in der Euphoriephase, was die Möglichkeiten der virtuellen 3D- und KI-Produktion betrifft“, sagen Marlies Wirth und Bika Rebek. „Zugleich aber tauchen bereits die ersten Ängste und Zweifel auf: Wie können wir Datenmissbrauch unterbinden? Was tun, wenn wir in Bild- und Filmwelten bald nicht mehr wissen, was echt und was unecht ist? Und wie können wir uns in Zukunft gegen Fake News und Digital Colonialism der White-Collar-Gesellschaft zur Wehr setzen?“

Gleichzeitig bietet die Welt hinter dem Befehl /imagine: große Chancen. In der Baubranche können Prozesse optimiert, Müll und Verschnitt reduziert, materielle Ressourcen geschont werden. Dank KI können wir von der gebauten Welt und unseren Kulturgütern – auch von bedrohten oder bereits zerstörten – digitale Zwillinge erstellen. „Vor allem aber“, sagen die beiden Kuratorinnen, „kann KI die Fantasie anregen und ein Katalysator für Gedankenexperimente sein. Wir können damit nicht nur Architektur entwerfen, sondern vielleicht auch den Umgang mit unserem Planeten neu denken.“ Das sollten wir.

„/imagine: Eine Reise in die neue Virtualität“ im Mak, Eröffnung am 9. Mai 2023, 19 Uhr

Der Standard, Sa., 2023.05.06

22. April 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Ganz schön hässlich

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt es. Oh doch! Eine Ausstellung in Linz widmet sich nun der „Scheeheit“ und der „Schiachheit“ in der Architektur – und bringt wichtige Erkenntnisse zutage.

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt es. Oh doch! Eine Ausstellung in Linz widmet sich nun der „Scheeheit“ und der „Schiachheit“ in der Architektur – und bringt wichtige Erkenntnisse zutage.

Die Fassade in Hellblau, Orange oder Weiß, das Dach in Gelb, Blau oder Rot, dazu bunte Fensterläden, das Ganze wahlweise mit oder ohne Zaun, manchmal gibt es noch einen Schornstein obendrauf, am Ende des Dorfes schließlich eine Kirche mit 10,3 Zentimeter hohem Plastiktürmchen. „Die frühkindliche Prägung ist voll von diesen architektonischen Stereotypen“, sagt Franz Koppelstätter. „Im Umgang mit diesen Spielzeugen lernen wir bereits in frühen Jahren, was wir später einmal als schön oder hässlich empfinden werden. Es gibt fast kein Entkommen.“

Das Modell „1/22 Häuschen ohne Zaun“ ist in der Preisliste des oberösterreichischen Spielwarenherstellers Hoffmann, Stand 1962, mit fünf Schilling ausgepriesen. „513 Bergkapelle“ schlägt mit zwölf Schilling zu Buche. Die Miniaturarchitekturen im Maßstab 1:87 von Hoffmann sowie vom deutschen Schwesterunternehmen Faller zählten jahrzehntelang zu den meistverkauften Spielzeugen in Europa. Die einen spielten damit Architektur, eine Hoffmann-Spielesammlung trägt sogar den Titel „Der kleine Städtebauer“, die anderen, vielleicht etwas älteren Spieler nutzten sie als Kulisse für ihre Märklin-Modelleisenbahn.

„Ob Modellhäuschen, Puppenhäuser, Puppenmöbel, Pixi-Bücher, Kindervideos, Kinderlieder oder Märchen, die am Abend vor dem Schlafengehen vorgelesen werden“, sagt Koppelstätter, Leiter des afo architekturforum oberösterreich, „in allen materiellen und immateriellen Medien, die wir in unserer Kindheit konsumieren, stecken bereits festgefahrene Geschmacksbilder drin, die altmodische, längst veraltete Wohn- und Lebensmodelle vordeterminieren, von denen wir uns später nur schwer wieder trennen können.“

Genau diesem Phänomen widmet sich die Ausstellung schee schiach (im breiten Dialekt gesprochen, mit einem schön verschluckten Nasallaut am Ende), die Koppelstätter konzipiert und gemeinsam mit Kollegen und Kuratorinnen umgesetzt hat. Seit Freitag ist die Ausstellung im afo zu sehen.

„Schon seit Jahrtausenden macht sich die Menschheit Gedanken darüber, was schee und was schiach ist, und bis heute gibt es darauf keine Antwort. Fachleute und Laien reden aneinander vorbei und haben meist weder eine gemeinsame Sprache noch eine übereinstimmende Definition von Schönheit.“

Der Traum aller Österreicher

schee schiach ist in mehrere Kapitel unterteilt und soll über die gesamte Laufzeit adaptiert und um zeitgenössische und künftige, visionäre, utopische Ansätze ergänzt und erweitert werden. Eine Annäherung in progress sozusagen. Neben der Spielzeugecke widmet sich die Ausstellung immer wieder dem Traum aller Österreicher, dem Einfamilienhaus. Nach wie vor sehen 65 Prozent aller Erwachsenen (Gallup-Umfrage, 2021) das Einfamilienhaus als ideale, erstrebenswerte Wohnform. Und das, obwohl die Kosten für ein Durchschnittseinfamilienhaus samt Durchschnittsgrundstück in den letzten Jahren regelrecht explodiert sind: Waren es 2018 noch 386.000 Euro pro Haus und Grund, so muss man laut einer Studie des Market-Instituts heute bereits 537.600 Euro hinblättern.

Geschmacksdiktatur

Wolfgang Stempfer, Dozent und Innenarchitekt, widmet sich in der Ausstellung der Genese des Einfamilienhauses und findet die Ursprünge dafür in der römischen Antike. Schon ab dem zweiten Jahrhundert vor Christus war der Gestank Roms den Angehörigen der Oberschicht ein Dorn in der Nase, worauf sie sich an den Stadträndern eine Villa suburbana errichten ließen, um sich dort dem Nichtstun und den wohligen Düften der Natur hinzugeben. In der Renaissance erfuhr die Einfamilienvilla im Latium, im Veneto und in der Toskana einen neuen Aufschwung.

„Und bis heute“, sagt Stempfer, „wird das Einfamilienhaus trotz aller ökologischen, ökonomischen und volkswirtschaftlichen Nachteile – was etwa Straßenbau, Ausbau der Infrastruktur und finanzielle Belastung der öffentlichen Hand betrifft – von der Politik propagiert.“ Sei es hierzulande in Form von Förderungen und Pendlerpauschalen, sei es in den USA, wo das Einfamilienhaus immer noch als heteronormatives Mantra beworben wird, um die Menschen mit Eigentum, Hypotheken und materiellem Patriotismus an das eigene Land zu binden. In einem Inserat des Own Your Home Committee anno 1922 heißt es: „The man who owns his home – is a better worker, husband, father, citizen and a real American.“

Die vielleicht stärkste ästhetische Prägung jedoch, die im deutschsprachigen Raum der Gesellschaft aufgebürdet wurde, meint der Linzer Kunst- und Architekturhistoriker Georg Wilbertz, sei im Nationalsozialismus zu beobachten gewesen. „Das NS-Regime war unter anderem auch ein Geschmacksregime“, sagt er. „Es gab eine starke propagandistische Auseinandersetzung mit Stil, Ästhetik und Angemessenheit.“ Manche Bücher wie beispielsweise Gerdy Troosts Das Bauen im neuen Reich, herausgegeben im Gauverlag Bayerische Ostmark, erreichten Auflagen von bis zu 40.000 Stück.

„Die Maler der deutschen Romantik haben uns das Antlitz unserer Heimat zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts treu bewahrt“, schreibt Troost in ihrem Bestseller. „Die sorgfältige Durchbildung jedes einzelnen Baues, der in Deutschland errichtet wird, nach den Grundgesichtspunkten eines deutschen Kulturempfindens, bringt uns dem bedeutsamen Ziele näher, die Wohnstätten unseres Volkes auch seelisch zu seiner Heimat zu machen. Unter sicherer Führung überwindet die neue deutsche Baukultur das seelische Elend, das die kunstvernichtende Unkultur des liberalen Zeitalters verschuldet hat.“

Auch wenn sich die politischen Vorzeichen in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert haben, so hat sich in vielen Teilen der Gesellschaft bis heute dennoch eine Geschmacksdiktatur erhalten, die über „schee“ und „schiach“ entscheidet – seien es diktatorische Regimes in Zentralasien, seien es Bauinnungen, Baustofflobbys, Fertighaushersteller oder konservative Gestaltungsratgeber-Plattformen auf Länderebene, wie sie etwa in Niederösterreich zu finden sind. Doch Vorsicht!

Keine Einbahnstraße

„Für den Gap zwischen schee und schiach sind aber nicht nur die anderen verantwortlich“, sagt afo-Leiter Franz Koppelstätter, „sondern eben auch die Architekturschaffenden selbst. Das kulturelle und kommunikative Missverständnis ist keine Einbahn. Auch Architektinnen und Architekten verstehen oft nicht, was andere Menschen unter Schönheit verstehen. Und das ist ein Problem. Wir wollen diese Übersetzungslücke sichtbar machen. Und zwar ohne Boulevard-Bashing.“

Die Ausstellung „schee schiach“ ist noch bis 23. Juni 2023 zu sehen. In Kooperation mit dem afo werden kommende Woche beim Crossing-Europe-Filmfestival Linz einige Kurz- und Langfilme zum Thema gezeigt. Lotte Schreiber hat die Auswahl kuratiert. Zu sehen ist u. a. „Retreat“ von Anabela Angelovska, ein 30-minütiger Dokumentarfilm, der der Frage nachgeht, warum in Nordmazedonien plötzlich zuhauf pseudoluxuriöse Südstaatenvillen aus dem Boden sprießen. 26. April bis 1. Mai 2023.

Der Standard, Sa., 2023.04.22

15. April 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Kampf der Herzerln

Vor drei Jahren hat Spittal an der Drau einen neuen Rathausplatz bekommen. Der neue Bürgermeister findet ihn „schiach“ und hat nun begonnen, ihn verbal und materiell zu demontieren. Im Sommer soll er mit Palmen und Pavillons aufgemotzt werden. Hilfe!

Vor drei Jahren hat Spittal an der Drau einen neuen Rathausplatz bekommen. Der neue Bürgermeister findet ihn „schiach“ und hat nun begonnen, ihn verbal und materiell zu demontieren. Im Sommer soll er mit Palmen und Pavillons aufgemotzt werden. Hilfe!

Szene 1, 2017: Vor dem Rathaus von Spittal an der Drau steht ein romantisch anmutender Eisenpavillon mit einer weiß lackierten Parkbank. Frisch vermählte Hochzeitspaare, hört man, lassen sich hier gerne fotografieren. Der restliche Rathausplatz ist als Platz kaum existent, eine Mischung aus Parkplatz und Rathausrückseite, überall Asphalt, vollgepfercht mit schräg parkenden Autos, keine Menschenseele weit und breit, in der Mitte ein leerstehendes Haus.

Szene 2, 2020: Es wird ein Wettbewerb zur Umgestaltung ausgeschrieben. Der Sieg geht an das Kärntner Architekturbüro Gasparin & Meier, das den Platz 2020 in eine Begegnungszone umbaut – mit Brunnen, Basketballplatz und gemütlichen Sitzecken, die in ihrer Gestaltung mit Lounge-Möbeln, Omama-Stehlampen und stilisierten Teppichen einem Wohnzimmer nachempfunden sind. Der gesamte Platz ist gepflastert, keine Versiegelung, das Kopfsteinpflaster wie in Italien im Schotterbett verlegt. Im Sinne der Schwammstadt soll das Regenwasser versickern. Es fließt in mehrere Retentionsbecken unter dem Platz und wird zur Bewässerung der 22 neu gepflanzten Bäume verwendet. Auf diese Weise wird die Kanalisation entlastet.

Szene 3, letzte Woche: Auf einem der zehn Quadratmeter großen Teppiche wurden die Lounge-Möbel, da sie „im Weg gestanden“ seien, vom neuen Bürgermeister Gerhard Köfer (Team Kärnten, zuvor Team Stronach, zuvor SPÖ, seit 2021 im Amt) bereits abgebaut. Stattdessen gibt es nun einen immergrünen Kunstrasen, zwölf Quadratmeter in der Fläche, mit weißer Rosamunde-Pilcher-Parkbank, Eisenherzerl und bunten Plastikblumen zum Fotografieren. Laut Köfer solle im Sommer nun auch der restliche Platz umgebaut werden, mit einem Pavillon als „Fotopoint“ in der Platzmitte.

Wir fragen den Bürgermeister:Am Gründonnerstag, Karwoche, wird Der ΔTANDARD von Bürgermeister Köfer in Empfang genommen. „Viel Zeit habe ich nicht. Sie schreiben ja sowieso, was Sie wollen.“ Zum einen kritisiert Köfer im Interview die Gestaltung des Platzes: „Wenn ich da runterschaue, dann sehe ich: Das ist einfach schiach. Das schaut ja lächerlich aus! Wir müssen den Rathausplatz neu beleben. Wir arbeiten nun daran, dass der Platz zeitgemäß wird.“

Noch eine Kritik: „Und zum anderen wurde der Platz so gebaut, dass er nahezu unbegehbar ist.“ Die Kritik richtet sich an den Bodenbelag, also an die Verlegung mit nicht geschnittenen, sondern gebrochenen Pflastersteinen. Es sei schwierig, den Platz mit Rollstuhl zu befahren und mit Stöckelschuhen zu begehen. „Da fällt dir das Gebiss raus, wenn du jemanden im Rollstuhl rüberschiebst.“ Der Landesrechnungshof empfiehlt in einer schriftlichen Stellungnahme, zu prüfen, ob ein Zusatz zum Fugensand mit erhöhtem Feinanteil die Fugenoberfläche besser verfestigen würde. Das könne die Unebenheiten reduzieren.

Bloß bitte nicht Basketball spielen! Auch am ehemaligen Basketballplatz – die bereits montierten Basketballkörbe mussten nach wenigen Tagen, nachdem sich Anrainer wegen des Lärms beschwert hatten, wieder abgebaut werden – lässt Köfer kein gutes Haar: „Übriggeblieben ist dieser weiße Schmutz. Wenn’s regnet, ist das eklig.“ Damit hätten auch die Marktbetreiber, die jeden Donnerstagvormittag hier unten ihren Bauernmarkt aufbauen, keine Freude, meint er. Sie freuten sich auf eine Pavillonüberdachung, versichert er. „Fragen S’ die Leute!“ Das tun wir. Wir hören uns mal um. „Der Platz ist schon okay, ein cooles Ding eigentlich, ganz anders, als man das sonst kennt“, sagt Ivo Burušić, 30 Jahre alt, er betreibt mit seinen Eltern jeden Donnerstag einen Obst-und-Gemüse-Stand. „Aber bitte keinen Pavillon! Wir fahren hier mit unseren Kombis und Lieferwagen auf den Platz, es ist jetzt schon eng!“ Corinna Ebner und Vanessa Goller, zwei befreundete Mütter, die mit ihren Kindern hier sind, meinen: „Früher war das nur eine Durchfahrtsstraße mit Parkplatz. Etwas mehr Grün wäre schön, und vielleicht noch mehr Spielgeräte für die Kinder, aber der Platz mit den Wohnzimmer-Lounges ist sehr nett, endlich mal was anderes!“

Die Sache mit dem Kopfsteinpflaster: Mario Rindlisbacher, Ofensetzer von Beruf, freut sich über den Bodenbelag: „Meist bemüht man sich, ein südliches, historisches Flair in eine Stadt zu bringen. Mit dem Kopfsteinpflaster ist das hier absolut gelungen. Ich würde an diesem Platz absolut nix ändern wollen!“ Etwas anders sieht das Svetlana Thaler, Betreiberin des angrenzenden Stadtcafés: „Schön ist der Platz ja, und auch gemütlich. Nur die Pflasterung finde ich nicht so geeignet. Wenn ein Wind kommt, ist der Sand überall.“

Barrierefreiheit? Am stärksten bekrittelt Bürgermeister Gerhard Köfer die Barrierefreiheit. Wir fragen Lukas Hofer, 34 Jahre alt, er ist in der Tageswerkstätte der Stiftung Liebenau beschäftigt und sitzt im Rollstuhl. Er macht gerade Pause im Eissalon. „Ein ganz glatter Boden wäre natürlich einfacher zu befahren, keine Frage. Aber es geht schon, ich würde sagen, dieser Platz ist sehr wohl barrierefrei. Das viel größere Problem sind die ganzen Randsteine in der Stadt. Die sind ein Kas. Das habe ich dem Bürgermeister schon öfter geschrieben, aber der meldet sich nie zurück.“

Und jetzt? Im Sommer soll der Rathausplatz, der vor erst drei Jahren aus stadtklimatischen Gründen bewusst als Versickerungsfläche angelegt wurde, zum Teil verfugt, versiegelt und umgebaut werden. Dazu hat Köfer im Rahmen des Leader-Förderprogramms der EU bereits einen Förderantrag unter dem etwas befremdlichen Titel „Makeover einer Dame“ gestellt. Mit 20 Palmen solle ein südliches Flair in die Stadt gebracht werden, der Rathausplatz erhalte zudem einen „mediterranen Pavillon mit Bepflanzung“. Auch so kann man der Erderwärmung begegnen.

Das Problem: Gerhard Köfer, der bereits kurz nach Amtsantritt den unabhängigen Gestaltungsbeirat von Spittal an der Drau aufgelöst hat, weigert sich, zur Umgestaltung des Platzes das Büro Gasparin & Meier – oder auch irgendwelche anderen Architekten – heranzuziehen. Das könne er selbst am besten. „Ich habe keine Ausbildung, aber ich mache das schon seit 30 Jahren. Ich habe eine starke Vorstellungskraft für alles, was mit Bauen zu tun hat.“ Oder auch seine Frau Evelyn Köfer. Die leitet den Ausschuss Stadtmarketing. Und ist für Herzerln und Blumenpavillons zuständig. „Wir haben so viel Kreativität im Haus. Und auch viel Gefühl für etwas.“

Fazit: Der Bürgermeister ist in Österreich immer noch die oberste Bauinstanz. Wie g’scheit das ist, wird man im nächsten Sommer in Spittal an der Drau sehen können. Oder aber die Geschichte nimmt doch noch ein gutes Ende.

Der Standard, Sa., 2023.04.15



verknüpfte Bauwerke
Rathausplatz Spittal an der Drau

25. März 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Superstadtsanierungsrevolution

Die Cité Le Lignon in Genf ist so etwas wie der Karl-Marx-Hof in Wien, nur mit zwölf Stockwerken und mehr. Nun wurde die Ikone der Moderne saniert. C'est très bon!

Die Cité Le Lignon in Genf ist so etwas wie der Karl-Marx-Hof in Wien, nur mit zwölf Stockwerken und mehr. Nun wurde die Ikone der Moderne saniert. C'est très bon!

Madame Ruth hat Kaffee aufgesetzt. Im Körbchen liegen frische Croissants aus ihrer Lieblingsbäckerei. „Gleich unten ums Eck, denn hier in Lignon, hier kriegt man fast alles! Doch Sie sind ja nicht gekommen, um mit mir über Gebäck zu sprechen. Sie wollen etwas über diese riesige Wohnhausanlage wissen, die in den letzten Jahren saniert wurde. Lieber Herr Architekt, vielen Dank dafür! Meine Heizrechnung hat sich seitdem halbiert. Also, was darf ich Ihnen erzählen?“

Ruth Righenzi-Eggenberger, 81 Lenze alt und ein Lächeln wie ein freches Mädchen, wohnt seit über 50 Jahren in Le Lignon, dem größten Bauwerk der Schweiz. Mit mehr als einem Kilometer Länge, 84 Stiegenhäusern, knapp 2800 Wohnungen und sogar einer eigenen Postleitzahl ist Le Lignon am westlichen Stadtrand von Genf eine der größten Wohnhausanlagen der Welt. Errichtet wurde die Ikone der späten Moderne am Ufer der Rhône in den Jahren 1963 bis 1971 nach Plänen von Georges Addor und Dominique Julliard. Aufgrund ihrer einzigartigen Größe und architektonischen Qualität wurde die Superstadt, die heute rund 6500 Menschen beherbergt, 2009 vom Kanton Genf unter Denkmalschutz gestellt.

„Was seitdem passiert ist, scheint wie ein technisches Paradebeispiel aus dem Bilderbuch“, sagt Ruth. „Mit wenigen Handgriffen wurde die Fassade von innen gedämmt, die Loggia bekam eine Isolierverglasung, die Fenster wurden saniert, die Steigleitungen wurden erneuert, zudem wurden im Stiegenhaus die Türen und Bodenbeläge getauscht.“ Ruth macht einen Bissen vom Croissant. „Resch und knackig, nicht wahr? So wie der Zeitplan der Baufirma, denn soll ich Ihnen was verraten? Die Bauarbeiten in meiner Wohnung haben vielleicht zwei Wochen gedauert, und ich musste in dieser Zeit nicht einmal ausziehen. Wirklich bravo!“

Das freut natürlich den Architekten. Denn genau das war der Plan. Stephan Gratzer, Partner im Genfer Architekturbüro Jaccaud + Associés, betreut das Projekt seit vielen Jahren. Die Wohnungen auf Stiege 49 – also auch jene von Madame Ruth – wurden bereits 2012 saniert und thermisch und energetisch ertüchtigt. Seitdem haben sich die Architekten, Baufirmen, Schlosser, Fensterbauer und Installateure Stiege für Stiege vorgearbeitet. Mittlerweile wurden 47 Stiegen erneuert, und die Bauarbeiten sind noch lange nicht abgeschlossen. Für das außergewöhnliche Sanierungsprojekt wurde das Büro Jaccaud + Associés von der Schweizer Architekturzeitschrift Hochparterre sogar mit dem Goldenen Hasen ausgezeichnet.

„Die Schwierigkeit in Le Lignon ist, dass die 84 Stiegen verschiedenen Bauträgern und Hausverwaltern gehören“, erklärt Gratzer. „Das heißt: Wir haben es hier mit vielen Entscheidern, vielen Ansprechpartnern und vor allem vielen unterschiedlichen Unternehmenskulturen zu tun. Daher war für uns die oberste Prämisse, dass die sanierten Fassaden gegenüber den unsanierten nicht herausstechen. Das Bauwerk muss trotz aller Veränderungen und unabhängig vom jeweiligen Sanierungsfortschritt wie aus einem Guss erscheinen.“

Das erklärt auch den Denkmalschutz. Denn nur mit diesem Kniff war es möglich, das historische Erscheinungsbild und die originale Curtain-Wall-Fassade mit ihren dunkelgrauen Gläsern, ihren kantigen Aluminium-Einfassungen und ihren warmen Loggien aus Zedern- und Mahagoniholz rechtens zu schützen. Als Nächstes wurde das Institut für Technik und Schutz der modernen Architektur (TSAM) der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) beauftragt, mit ihren Studierenden die einzelnen Bauteile zu analysieren und einen Sanierungskatalog zu entwickeln, der erstens die Besonderheiten der Nachkriegsmoderne wahrt und zweitens einen Umbau ohne Gerüst und ohne Auszug der Mieterinnen und Mieter ermöglicht.

Vorbild für Österreich

Auf dieser Basis kamen die Architekten Jaccaud + Associés ins Spiel. „Das ist ein hochkomplexes Projekt mit vielen, vielen Wohnungen“, sagt Gratzer. „So etwas ist nur möglich, wenn alle an einem Strang ziehen und die gewohnten Pfade verlassen.“ Um die behördlichen Wege zu beschleunigen, musste für das gesamte Sanierungsprojekt lediglich eine einzige Rahmenbaubewilligung angesucht werden – ein absolutes Novum. Hinzu kommen einige Hundert technische Leitdetails, die in einem dicken Handbuch festgehalten sind und an die sich die involvierten Generalunternehmer und Handwerker penibel zu halten haben.

„Le Lignon ist trotz seiner hohen räumlichen Qualitäten eine rigide Stahlbetonmatrix mit wenig baulicher Flexibilität“, erklärt Gratzer. „Vor allem bei der Wärmeisolierung mussten wir daher sehr effizient arbeiten.“ Die Decken und Parapete wurden mit Glaswolle gedämmt, auf den Laubengängen kamen sogenannte Aerogel-Kügelchen zum Einsatz, unter den Terrassen und Laubengängen wurden, um wertvolle Höhe zu sparen, Vakuum-Dämmplatten verlegt. „War nicht gerade billig, aber es funktioniert.“

Die Architekten, der Generalunternehmer und das Comité Central du Lignon, der in diesem Projekt als eine Art Schirmbauherr fungiert, sind mit den Bewohnerinnen im engen Kontakt, und es hat sich herausgestellt, dass die Halbierung der Heizrechnung bei Madame Ruth kein Einzelfall ist. Die meisten Mieter berichten von einer Reduktion der Energiekosten und von besseren, angenehmeren Innenraumtemperaturen im Sommer wie im Winter.

„Ich würde sagen, dass 80 Prozent der hier wohnenden Menschen mit der Sanierung sehr zufrieden sind“, sagt Ruth Righenzi-Eggenberger. „Die restlichen 20 Prozent hätten sich wahrscheinlich mehr erwartet und sind enttäuscht, dass das Haus immer noch so aussieht, wie es war. Doch genau das ist die große Qualität! Wir wohnen hier, wir leben hier, wir sind hier zu Hause – und jetzt ist unser Zuhause ökologisch besser und ökonomisch leistbarer, ohne dass sich irgendetwas Großes verändert hätte. Meine Wohnung schaut immer noch aus wie eine alte Bauernstube! Also ich finde das wunderbar.“

Auch in Österreich steht uns mit der rechtlich verankerten Dekarbonisierung bis 2040 ein radikaler Stadtumbau bevor, der in seinen sozialen, ökonomischen und stadtplanerischen Ausmaßen mit der Gründerzeit, vielleicht sogar mit dem Bau der Wiener Ringstraße zu vergleichen ist. Zehntausende Wohnhäuser, die in den Nachkriegsjahren errichtet wurden und die schlecht gedämmt und an fossile Energieträger gebunden sind, müssen zukunftsfit gemacht werden.

Ohne standardisierten Katalog, ohne kollektiven Rückhalt aus Politik und Industrie und ohne den visionären Elan, der in Le Lignon ganz viel Wohnglück produziert hat, wird es nicht gehen.

Der Standard, Sa., 2023.03.25

18. März 2023Wojciech Czaja
Der Standard

An einem Bächlein helle

Am 22. März ist UN-Weltwassertag. Ein guter Anlass, um über die Zukunft von Wasser und Stadtklima nachzudenken. Eine Gruppe von Forschenden will die Wienerwaldbäche, die einst durch die Stadt flossen, wieder an die Oberfläche bringen.

Am 22. März ist UN-Weltwassertag. Ein guter Anlass, um über die Zukunft von Wasser und Stadtklima nachzudenken. Eine Gruppe von Forschenden will die Wienerwaldbäche, die einst durch die Stadt flossen, wieder an die Oberfläche bringen.

An der Fassade des Palais Montenuovo auf der Freyung erfährt man Wissenswertes über die Geschichte Wiens. Eine kleine Reiterfigur mit Krummsäbel und Turban erinnert an die Erste Türkenbelagerung anno 1529. Doch auch überaus überraschende Trivia zur Wiener Stadtmorphologie sind an dieser Stelle ersichtlich, etwa auf einem verblassten Schild zu Füßen des Osmanen: „Bis zum J. 1456 floß durch diese Gasse und durch den tiefen Graben der Alsbach der Donau zu.“

In wenigen Tagen, am 22. März, findet der alljährliche UN-Weltwassertag statt. Das weltweite Ereignis unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen steht heuer unter dem Motto „Accelerating Change“ („Beschleunigung des Wandels“). Dringliche Worte, die auf den Zusammenhang zwischen Klimakrise, Landnutzung und der elementaren Bedeutung von Wasser für Mensch, Fauna und Flora hinweisen. „Es muss gelingen“, ist auf der Website eines teilnehmenden Regierungspartners zu lesen, „die Resilienz des Wasserhaushalts zu stärken, zu viel und zu wenig Wasser zu managen und Wasser wieder verstärkt in der Fläche zu halten.“

Mammutprojekt

Welchen Beitrag dazu könnte etwa der ehemalige Alsbach leisten, der einst in Dornbach und Neuwaldegg entsprang und nach einer Umleitung im Hochmittelalter durch Hernals und weiter durch die heutigen Straßenverläufe von Währinger Straße, Schottentor, Herrengasse, Freyung, Tiefer Graben und Concordiaplatz plätscherte, ehe er am Werdertor in den Wiener Arm der Donau mündete? Und gibt es den Alsbach heute überhaupt noch?

„Insgesamt gibt es rund 50 Bäche, die im Wienerwald entspringen und die in früheren Zeiten in offener Führung durch Wien flossen“, sagt Renate Hammer, Leiterin des Institute of Building Research & Innovation (IBR&I). „Zahlreiche Straßennamen wie etwa Badgasse, Hofmühlgasse oder Alserbachstraße verweisen auf die einst große Präsenz der Wiener Wasserläufe.“

Allein, mit den Choleraepidemien Mitte des 19. Jahrhunderts wurden viele Bäche aus siedlungshygienischen und volksgesundheitlichen Gründen in künstliche Kanäle gefasst und verschwanden unter der Erde.

„Heute“, meint Hammer, „gehört dieses Problem der Vergangenheit an. Stattdessen haben wir ein neues Problem, nämlich ein stadtklimatisches und ressourcentechnisches, auf das wir dringend reagieren müssen.“ In Zusammenarbeit mit Kolleginnen und diversen Partnerinstituten arbeitet Hammer seit 2021 an einem umfassenden Forschungsprojekt unter dem Titel „ProBach“. Das vierjährige, vom Klima- und Energiefonds mit rund 530.000 Euro geförderte Mammutprojekt untersucht die Durchflussmengen und die unterirdischen Verläufe der Wienerwaldbäche und befasst sich mit der Frage, mit welchen rechtlichen, technischen und städtebaulichen Mitteln die historischen Gewässer wieder an die Oberfläche gebracht werden könnten.

„Die natürlichen Einzugsgebiete im Wienerwald sind bis heute vorhanden, doch spätestens an den Bebauungsrändern werden die Bäche ins Wiener Kanalisationsnetz eingeleitet. Damit geht das kostbare Wasser verloren“, so die Forscherin. Mehr noch: Anstatt es effizient zu nutzen, etwa für die Bewässerung von Stadtbäumen, belastet es die Kanalisation und verlangt zudem nach größeren Kanalquerschnitten. Das kostet Geld.

„Wir haben insgesamt 16 Wienerwaldbäche untersucht, nicht alle davon führen ganzjährig Wasser, doch am ergiebigsten erscheint der Alsbach mit einer kontinuierlichen Wassermenge von zumindest fünf Litern pro Sekunde“, sagt Florian Kretschmer vom Institut für Siedlungswasserbau, Industriewasserwirtschaft und Gewässerschutz, Boku Wien. „Das klingt nicht nach viel, aber selbst im heißen Sommer sind das mehr als 400 Kubikmeter Wasser pro Tag, die erst in den Kanal geführt und verschmutzt und in der Folge in der Kläranlage wieder gereinigt werden müssen. Das müssen wir hinterfragen!“

Stellt sich die Frage: Wie bekommt man das saubere Bach- und Regenwasser wieder aus dem Kanal heraus? „Es gibt in Europa einige gute Rohr-in-Rohr-Projekte, in denen das Reinwasser aus dem Kanal wieder entkoppelt wurde“, erklärt Philipp Stern, Junior Partner und Studienleiter am IBR&I, und nennt als Beispiele den Bründl- und den Einödbach in Graz, den Darmbach in Darmstadt, den Melaan in Mechelen und die Alna in Oslo. Die bislang umfassendste Erfahrung mit der Entkoppelung von Kanal- und Regenwasser hat die Stadt Zürich, die seit den 1980er-Jahren insgesamt 18 Kilometer Bachläufe rekonstruiert und sukzessive an die Oberfläche zurückgeholt hat.

Die Studie „ProBach“, die noch bis 2024 läuft und keineswegs die erste ihrer Art ist (es wurden in den letzten Jahren schon einige Studien beauftragt und durchgeführt, allerdings wurden diese von der Stadt Wien bislang unter Verschluss gehalten), analysiert die unterschiedlichen Bachrouten und kommt zum Schluss, dass der Als-, der Erbsen- und der Schreiberbach – mit einer Durchflussmenge von sieben bis zwölf Litern pro Sekunde an zumindest 300 Tagen im Jahr – ausreichend Wasser führen, um das Bachwasser über weite Strecken im Fluss zu halten.

Attraktive Räume

„Entlang der Bäche“, meint Magdalena Holzer, Stadtklimatologin bei Weatherpark, „könnte man Stauden und Sträucher pflanzen, Bäume setzen, mit großen Steinen arbeiten, verschattete Aufenthaltsbereiche schaffen und auf diese Weise vor allem für sozioökonomisch schwächer gestellte Menschen innerhalb der dicht verbauten Stadt attraktive öffentliche Räume schaffen.“ Aus zahlreichen Untersuchungen wisse man, dass mit großflächiger Beschattung und Verdunstungskälte durch Wasser die subjektiv empfundene Temperatur im Hochsommer um bis zu zehn Grad Celsius reduziert werden könne.

In der Inneren Stadt, am Alsergrund, in Ottakring und in Hernals gibt es großes Interesse an erlebbarem Wasser in der Stadt. Zur Diskussion standen bereits Wasserflächen, mobile Flussoasen und sogar ein offen geführter Schanibach. Auch Bernd Vogl, neuer Geschäftsführer des Klima- und Energiefonds, erklärt auf Anfrage des STANDARD: „Der eine oder andere neue Kilometer Gewässer in Wien wäre ein Beitrag zur Lebensqualität.“

Leider gab es für die Bestrebungen der Bezirke seitens Ulli Sima, der amtierenden Stadträtin für Innovation, Stadtplanung und vieles andere, vertraulichen Quellen zufolge bislang keine Unterstützung. Auch auf Anfrage des STANDARD reagiert sie skeptisch, steht für ein Gespräch nicht zur Verfügung, lässt über die Pressesprecherin der MA 45 (Wiener Gewässer) ausrichten, es gebe in Wien keine unterirdischen Bäche, die freigelegt werden können, denn diese seien Teil des Kanalsystems.

Die Forschungsergebnisse von „ProBach“ könnten dazu herangezogen werden, über ein resilientes, zukunftsfittes Wien nachzudenken. Und mit wissenschaftlich fundierter Forschungsarbeit den Gegenbeweis anzutreten. Dass es vielleicht doch geht. Beschleunigung des Wandels. Es braucht dringend ein Pilotprojekt.

Der Standard, Sa., 2023.03.18

06. März 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Margherita Spiluttini 1947–2023

Die Ausnahmefotografin trug dazu bei, dass Architekturfotografie als Kunstmedium anerkannt wurde

Die Ausnahmefotografin trug dazu bei, dass Architekturfotografie als Kunstmedium anerkannt wurde

Ihre ersten Fotos waren radioaktive und radiologische Innenraumfotografien vom menschlichen Körper, wie sie selbst zu sagen pflegte. Margherita Spiluttini machte eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin und arbeitete in jungen Jahren in der nuklearmedizinischen Abteilung des Wiener AKH. Eines Tages begann sie, auch außerhalb des Krankenhauses zu fotografieren: Menschen, Momente, Landschaften, Stilllebenserien im eigenen Haushalt, Dokumentationsfotos der frühen Frauenbewegungen in Österreich.

In den 1980er- und 1990er-Jahren entdeckte sie ihre Liebe für das Gebaute. Nun ist Österreichs wichtigste Architekturfotografin 76-jährig in Wien verstorben. „Als ich begonnen habe zu fotografieren“, sagte Spiluttini einmal im Interview, „war die Branche traditionell und verkrustet. Fotografie als zeitgenössische Kunstform war ein Fremdwort.“ Spiluttini, aufgewachsen im Pongau, hatte schon früh mit bedrohlichen Bergen und technischen Eingriffen in die Natur zu tun, war geprägt von Rohbauten, Brückenpfeilern und Tunneleinfahrten. Sie fotografierte für die größten und bekanntesten Künstler und Architekten der Welt – unter anderem für Roland Rainer, Peter Zumthor, Aldo Rossi, Álvaro Siza Vieria, Tadao Ando, Sol LeWitt, James Turrell, Olafur Eliasson, Friedensreich Hundertwasser und war jahrelang Haus- und Hoffotografin für das Schweizer Büro Herzog & de Meuron.

Sie beteiligte sich an zahlreichen Biennalen in Venedig, war Vorstandsmitglied der Wiener Secession und lehrte an der Angewandten in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz. „Ich liebe diesen Moment, wenn ich unter dem schwarzen Tuch meiner Plattenbodenkamera verschwinde“, sagte sie. „Das Bild auf der Mattscheibe steht am Kopf, alles ist seitenverkehrt, man schaut anders, irgendwie konzentrierter auf die Welt.“ 2014 schoss sie selbstständig das letzte Foto ihrer Karriere. 1995 war bei ihr Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert worden, seit 2006 war sie auf den Rollstuhl angewiesen, das Fotografieren wurde immer schwieriger.

Spiluttini trug dazu bei, dass das fotografierte Bauwerk heute als eigenständige Kunst anerkannt ist. Dafür wurde sie 2006 mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 2016 mit dem Österreichischen Staatspreis für künstlerische Fotografie ausgezeichnet. Anfang Jänner verstarb ihr Lebensgefährte, der Architekt Gunther Wawrik, wenige Wochen später ist sie ihm nun an den Folgen ihrer MS-Erkrankung nachgefolgt.

Spiluttini hinterlässt ein unschätzbares Œuvre an 120.000 Diapositiven und Negativen, die sie zu Lebzeiten als Vorlass dem Architekturzentrum Wien übergab.

Der Standard, Mo., 2023.03.06

03. März 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Architekturfotografin Margherita Spiluttini gestorben

Die österreichische Autodidaktin hat dazu beigetragen, dass Architekturfotografie heute als künstlerisches Medium anerkannt ist

Die österreichische Autodidaktin hat dazu beigetragen, dass Architekturfotografie heute als künstlerisches Medium anerkannt ist

Ihre ersten Fotos waren radioaktive und radiologische Innenraumfotografien vom menschlichen Körper, wie sie selbst zu sagen pflegte. Margherita Spiluttini machte eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin und arbeitete in ihren jungen Jahren in der nuklearmedizinischen Abteilung des Wiener AKH. Eines Tages begann sie, auch außerhalb des Krankenhauses zu fotografieren: Menschen, Momente, Landschaften, Stilllebenserien im eigenen Haushalt, Dokumentationsfotos der frühen Frauenbewegungen in Österreich. In den 1980er- und 1990er-Jahren entdeckte sie ihre Liebe für das Gebaute, für das von Menschenhand Geschaffene. Nun ist Österreichs, wenn nicht sogar Europas wichtigste Architekturfotografin 76-jährig in Wien verstorben.

„Als ich begonnen habe zu fotografieren“, sagte Spiluttini einmal in einem Interview mit dem STANDARD, „war die Branche traditionell und verkrustet. Fotografie als zeitgenössische Kunstform war ein Fremdwort. Ja, es gab die Magnum-Fotos, die alle bewundert haben, aber die waren mir zu anekdotisch.“
Aus Hassliebe wurde Faszination

Spiluttini, Tochter eines Baumeisters, aufgewachsen im Pongau, hatte schon früh mit bedrohlichen Bergen und technischen Eingriffen in die Natur zu tun, war geprägt von Rohbauten, Brückenpfeilern und Tunneleinfahrten. „Es war eine Art Hassliebe“, sagte die Autodidaktin. „Eines Tages ist aus dieser Hassliebe eine tiefe Faszination geworden, eine Faszination für Architektur, die mich nie wieder losgelassen hat.“

Spiluttini fotografierte für die größten und bekanntesten Künstler und Architekten der Welt – unter anderem für Roland Rainer, Peter Zumthor, Aldo Rossi, Álvaro Siza Vieria, Tadao Andō, Sol LeWitt, James Turrell, Ólafur Elíasson, Friedensreich Hundertwasser – und war jahrelang Haus- und Hoffotografin für das Schweizer Büro Herzog & de Meuron. Sie beteiligte sich an zahlreichen Biennalen in Venedig, war Vorstandsmitglied der Wiener Secession und lehrte an der Angewandten in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz.

Diagnose: Multiple Sklerose

„Ich liebe diesen Moment, wenn ich unter dem schwarzen Tuch meiner Plattenbodenkamera verschwinde“, sagte sie. „Das Bild auf der Mattscheibe steht auf dem Kopf, alles ist seitenverkehrt, man schaut anders, irgendwie konzentrierter auf die Welt.“ 2014 schoss sie selbstständig das letzte Foto ihrer Karriere. 1995 nämlich war bei ihr multiple Sklerose (MS) diagnostiziert worden, seit 2006 war sie auf den Rollstuhl angewiesen, das Fotografieren wurde immer schwieriger. „Ich hatte einen elektrischen Rollstuhl mit integrierter Stehfunktion. Und jetzt stellen Sie sich einmal diese Situation auf der Straße mit Kamerastativ und großem, schwarzem Tuch darüber vor! Gemeinsam mit meiner Assistentin habe ich am Ende schon oft lustige Blicke geerntet.“

Unschätzbares Œuvre

Margherita Spiluttini hat es geschafft, die Architekturfotografie in ihrer Wertigkeit zu heben. Sie hat dazu beigetragen, dass das fotografierte Bauwerk heute als eigenständige Kunst anerkannt ist. Dafür wurde sie 2006 mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 2016 mit dem Österreichischen Staatspreis für künstlerische Fotografie ausgezeichnet. Anfang Jänner verstarb ihr Lebensgefährte, der Wiener Architekt Gunther Wawrik, wenige Wochen später ist sie ihm nun – aufgrund der Folgen ihrer MS-Erkrankung – nachgefolgt. Spiluttini hinterlässt ein unschätzbares Œuvre von 120.000 Diapositiven und Negativen, von 120.000 Blicken auf die Welt, die sie noch zu Lebzeiten als Vorlass dem Architekturzentrum Wien übergab.

Der Standard, Fr., 2023.03.03

25. Februar 2023Wojciech Czaja
Der Standard

„Meine Häuser sind eine Heimat für Verletzlichkeit“

Der Münchner Architekt Peter Haimerl hat eine Vorliebe für kaputte Bauten und urbane Dysfunktionalitäten. Kommenden Samstag hält er einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On in Wien.

Der Münchner Architekt Peter Haimerl hat eine Vorliebe für kaputte Bauten und urbane Dysfunktionalitäten. Kommenden Samstag hält er einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On in Wien.

Standard: Sie gelten als einer der radikalsten Architekten im deutschsprachigen Raum. Sehen Sie das selbst auch so?

Haimerl: Selbstbeurteilung ist eine schwierige Sache. Ich empfinde mich nicht als radikal, aber ich mache eine Architektur, die bis an die Grenzen geht, die sich bemüht, Raum nicht nur als etwas Funktionales zu sehen, sondern immer auch als einen Gedankenraum mit sinnlichen, theoretischen und philosophischen Facetten. Und ja, ich will diese Facetten ohne Kompromiss in die Realität umsetzen.

Standard: Sie haben eine Vorliebe für Schuppen, Stallungen und kaputte Bauernhäuser – aber auch für ausgestorbene und verwahrloste Orte in der Stadt. Woher kommt diese Faszination?

Haimerl: Es ist wie immer im Leben: Gebrochene Charaktere und Lebensgeschichten Gezeichneter sind interessanter als alles, was glatt und eindimensional ist. Mich interessieren Gebäude, die Narben und Nahtoderfahrungen haben, die schon was durchgemacht haben. Es steckt in ihnen eine unverfälschte Wahrheit, die man auch auf die Jetztzeit übertragen kann.

Standard: Was genau können wir von kaputten Häusern lernen?

Haimerl: Die Verletztheit und Verletzlichkeit. Die meisten glauben, es geht in der Architektur um die perfekte Lösung, um die tollste Form, um das schönste Detail. Nein! Es geht darum, Räume zu schaffen, die Würde und Verständnis ausstrahlen und die eine Heimat bieten für die Verletzlichkeit in uns Menschen.

Standard:Ihre Projekte – ob nun Altbau oder Neubau – wirken an sich schon sehr archaisch und dramatisch. Dennoch werden die fertigen Häuser manchmal mit Kühen, Pferden und geheimnisvollen Frauen in Szene gesetzt. Wieso denn das?

Haimerl: Klassische Architekturfotografie langweilt mich zu Tode. Ich möchte über das klassische Bild hinausgehen. Bei der schwarzen Frau, die auf einigen Fotos zu sehen ist, handelt es sich um meine Frau Jutta Görlich, sie inszeniert die Räume gemeinsam mit dem Fotografen Edward Beierle. Dazu betreibt sie Geschichtsforschung zum Ort und zum Haus und verknüpft die Resultate mit Humor und Surrealismus.

Standard: Und dann steht plötzlich eine Kuh in der Badewanne.

Haimerl: Ja, das kann passieren. Dann ist die Badewanne eben nicht nur eine Badewanne, sondern auch ein Behältnis mit Geschichte.

Standard: Seit fast 30 Jahren beschäftigen Sie sich mit der sogenannten Zoomtown. Worum geht es da?

Haimerl: Das Konzept der Zoomtown habe ich schon in den 1990er-Jahren entwickelt. Bei Zoomtown geht es um Europa, denn wenn wir gegen die alten und neuen Supermächte wie USA, Russland, China und Indien kulturell überleben wollen, dann müssen wir damit anfangen, die europäischen Städte als großes Ganzes, als urbanes Kollektiv, als eine Art zusammenhängende Supermetropole zu betrachten: London, Paris, Berlin, Warschau, Madrid, Rom, Wien, Belgrad, Athen, Istanbul und so weiter. Ich bezeichne dieses Netzwerk als UME, als United Metropoles of Europe. Und diese UME sind gemeinsam stark genug, die Fehler der Moderne zu beheben und endlich wieder schöne, lebenswerte, auch menschlich funktionierende Städte daraus zu machen.

Standard: Von welchen Fehlern sprechen wir hier im Speziellen?

Haimerl: Vor allem davon, dass die amerikanische Moderne mit ihren Autos und Autobahnen wie ein Fremdkörper auf den europäischen Kontinent appliziert wurde und diesen in den letzten 70, 80 Jahren massiv verändert und verschlechtert hat. Die europäische Stadt hat seitdem vieles von ihrem historischen Charakter eingebüßt und ist zu einem scheinbar effizienten Straßenraum für individuelle, motorisierte Mobilität geworden. Doch die Wahrheit ist: Das Auto braucht viel Platz – und diesen vielen Platz nimmt es uns Menschen weg. Das müssen wir dringend wieder reparieren.

Standard: Wie?

Haimerl: Mit dem Verdrängen von Autos, mit dem Rückbau von Straßen, mit dem Entrümpeln und Entsiegeln des öffentlichen Raums und mit der Implementierung eines neuen paneuropäischen öffentlichen Verkehrsnetzes – einer Art Europa-Schnellbahn, die aber nicht nur bis zum Hauptbahnhof fährt, sondern bis in die wichtigsten Subzentren und Quartiere hineindringt.

Standard: Klingt gut. Aber wozu braucht es das?

Haimerl: Weil die europäische, historisch gewachsene Stadt ihre eigene Zukunft finden muss, wenn sie kulturell überleben will. Mit einer amerikanischen Moderne-Vision wird das nicht gelingen. Dass wir jetzt schon an die räumlichen und verkehrstechnischen Grenzen stoßen, zeigt sich in vielen europäischen Städten. Einige davon haben bereits begonnen, radikal umzudenken.

Standard:Das diesjährige Architekturfestival Turn On beschäftigt sich mit den geopolitischen Verwerfungen des letzten Jahres. Welche Auswirkungen hat das auf die europäische Stadt?

Haimerl: Das ist eine große Frage! Die Corona-Pandemie, die Energiekrise, der Krieg in der Ukraine und die politische Willkür Russlands haben dazu geführt, dass wir heute in einem Angstraum leben. Und ein solcher Angstraum lässt keine Visionen zu. Lieber flüchtet man ins Lokale, ins Regionale, ins Ruhige, ins Nostalgische, ins intellektuell und emotional gerade noch Fassbare. Es scheint jetzt nicht die Zeit für große Sprünge zu sein – obwohl wir gedanklich, technologisch und wirtschaftlich dazu imstande wären.

Standard: Was wünschen Sie sich?

Haimerl: Dass wir die Kraft der multiplen Krisen dazu nutzen, massiv umzudenken. Ich wünsche mir ein Bekenntnis zu einem Europa ohne Partikularinteressendebatten, ich wünsche mir ein architekturpolitisches und verkehrsräumliches Miteinander, und ich wünsche mir die sofortige Abschaffung von Kurzstreckenflügen.

Peter Haimerl (62) leitet ein Architekturbüro in München und beschäftigt sich mit der Revitalisierung alter Häuser sowie mit der Neuerfindung der europäischen Stadt. Von 2018 bis 2023 war er Professor an der Kunstuni in Linz. Am Samstag, den 4. März, hält er einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On.

Turn On

Die multiplen Krisen der letzten Jahre, allen voran der Krieg in der Ukraine und die Sichtbarwerdung von Abhängigkeiten und Fehlentwicklungen, machen auch vor dem Bauen und Wohnen nicht halt. Mit den konkreten Auswirkungen dieser Zeitenwende befasst sich das Architekturfestival Turn On, das kommende Woche bereits zum 21. Mal über die Bühne geht. Vorgestellt werden etwa das kürzlich eröffnete Parlament, der Ikea am Westbahnhof, das neue Wien-Museum, das Wohnprojekt The Marks, der Campus Tower Hamburg, diverse innovative Modelle im geförderten und freifinanzierten Wohnbau sowie ein Revitalisierungskonzept für Bad Gastein, das „Manhattan der Alpen“. Mit Vorträgen von PPAG, DMAA, feld72, gaupenraub +/–, Pedevilla, bergmeisterwolf, Ripoll Tizón, Sergison Bates, Peter Haimerl u. v. m. Beginn Donnerstag, 2. März, 14.30 Uhr. Bis Samstag, 4. März, 22 Uhr. ORF-Radiokulturhaus, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien. Eintritt frei.

Der Standard, Sa., 2023.02.25

11. Februar 2023Wojciech Czaja
Der Standard

Die Herren L.O.M.O.

Im Gegensatz zu Schwestern haben Brüderpaare in der Architektur eine lange Tradition. Es gibt eine Menge von ihnen. Zum Beispiel Laurids und Manfred Ortner. Der eine in Wien, der andere in Berlin.

Im Gegensatz zu Schwestern haben Brüderpaare in der Architektur eine lange Tradition. Es gibt eine Menge von ihnen. Zum Beispiel Laurids und Manfred Ortner. Der eine in Wien, der andere in Berlin.

In der Seestadt Aspern gibt es einen Wohnbau namens Die drei Schwestern , die einzelnen Häuser heißen Anna, Bella und Clara. In der Architekturgeschichte wiederum werden historische Pionierinnen aus der Zeit der ersten hochschulausgebildeten Architektinnen und Ziviltechnikerinnen gerne als „Margarete Schütte-Lihotzkys Schwestern“ bezeichnet. Auffällig ist auch, dass Schwestern immer wieder als Auftraggeberinnen auftreten – es gibt Doppelhäuser für Schwestern in Wien (querkraft), Innsbruck (Paolo Pizzignacco), Zürich (raumfindung), Brixen (bergmeisterwolf), Kirchheim (Alexander Brenner), Bochum (Eigenentwurf) und in der spanischen Provinz Murcia (Blancafort Reus Arquitectura).

Abgesehen davon jedoch sind weibliche Geschwisterschaften in der Architekturzunft ein eher seltenes Phänomen. Was man von männlichen Geschwisterpaaren definitiv nicht behaupten kann. In den 1920er-Jahren zählten die Stuttgarter Brüder Heinz und Bodo Rasch zu den wichtigsten Vertretern der Moderne, in der Schweiz planten die Gebrüder Pfister eine Vielzahl öffentlicher Bauten, in Preußen hingegen arbeiteten Bruno und Max Taut eher aneinander vorbei als miteinander, und auch heute noch nehmen Brüder gerne zu zweit das Geodreieck in die Hand. Die Liste allein im deutschsprachigen Raum ist lang: Pedevilla Architekten, Marte.Marte, Najjar & Najjar, Chalabi & Chalabi, Brückner und Brückner, Innerhofer oder Innerhofer – oder etwa die beiden Architektenbrüder Laurids und Manfred Ortner, die inzwischen ein Riesenbüro mit 80 Mitarbeitern betreiben, der eine in Wien sitzend, der andere in Berlin.

Von O&O stammen viele zentrale, stadtprägende Bauwerke wie etwa das Wiener Museumsquartier, der Bürocluster Wien-Mitte, das Landesarchiv NRW in Duisburg, das Berliner Shoppingcenter Alexa, das Theater- und Kulturzentrum Schiffbau in Zürich, die Sächsische Landes-Staats- und Universitätsbibliothek in Dresden (übrigens eine der zehn größten der Welt) sowie weitere Wohn-, Büro- und Hotelbauten in ganz Deutschland.

Geboren und aufgewachsen sind die beiden in Linz, Laurids Jahrgang 1941, Manfred Jahrgang 1943. Schon in der Schulzeit zeichneten und malten beide gerne, spielten meist mit ihren Zinnsoldaten, denen sie mit Farbe Kleidung auf den Leib pinselten. Dazu wurden Flaggen entworfen, Schiffe gebaut und Häuser zusammengezimmert. Das brüderliche Spiel empfanden die beiden damals als eine Art kreative Rivalität: Man durfte sich voneinander Inspiration holen und es anders und besser machen, durfte den anderen mit seinen eigenen Waffen schlagen, nur eines war damals schon verpönt im Hause Klein Ortner: nachahmen und kopieren.

Texte, Bilder, Zeichnungen

Und so trennten sich die Wege nach der Matura: Während Manfred an der Wiener Akademie der bildenden Künste aufgenommen wurde, wo er Malerei und Kunsterziehung studierte, musste für Laurids eigens der Familienrat einberufen werden: Der arme Bub, grad noch durch die Schule gekommen, was soll nur aus ihm werden? Architektur an der TU Wien, so der Konsens, schien noch die beste aller Optionen.

In ihrer Studienzeit hatten L. O. und M. O. phasenweise nur wenige Berührungspunkte, holten sich beim anderen aber immer wieder Rat – und Inspiration. Und so entstanden einige Texte, Bilder, Zeichnungen und fiktive Raumentwürfe, die damals schon mit „L.O.M.O.“ signiert wurden. Laurids gründete mit seinen Kollegen Günter Zamp Kelp und Klaus Pinter die viel beachtete Architektur- und Kunstgruppe Haus-Rucker-Co, die international so erfolgreich war, dass Anfang der 1970er-Jahre gleich zwei Studios eröffnet wurden: eines in New York von Zamp Kelp und Pinter, das andere in Düsseldorf von Laurids – und Bruder Manfred, der 1971 in die Gruppe einstieg. Haus-Rucker-Co mischte in der Kunstszene der 70er und 80er kräftig mit. Die „Architekten-Künstlergemeinschaft“, so die Eigendefinition, war zum Beispiel bis zur endgültigen Auflösung 1992 dreimal auf der Documenta in Kassel vertreten.

Im Jahr 1987 beschlossen die Brüder, ein eigenständiges Architekturbüro zu gründen: Ortner & Ortner. Der Rest ist Architekturgeschichte und O&O in der Zwischenzeit ein Imperium mit Niederlassungen in Wien, Köln und Berlin. In ihren Büros: Bücher, Bücher, Bücher und tausende Materialmuster aus Holz, Glas, Beton, Metall und Keramik auf den Tischen. Wir haben L. O. und M. O. getrennt voneinander gefragt:

Architektenbrüder also, wie ist das so?

Was uns heute auszeichnet, nach nunmehr acht Jahrzehnten, das ist ein fast sprachloses Verständnis. Es ist alles schon tausendmal gesagt worden, wir kommunizieren mittlerweile nonverbal, und wir verstehen uns von Grund auf. Über all die kleineren Querelen, die es natürlich gibt, hinweg haben wir eine Art symbiotische Beziehung. Ich weiß nicht, ob ich das zwischen uns als Liebe oder Freundschaft bezeichnen würde, keine Ahnung. Auf jeden Fall aber ist es eine tiefe Verbundenheit, die sich sehr gut anfühlt. Die Rivalität der Kindheit hat sich in eine Differenzierung transformiert: Manfred ist der bessere Zeichner von uns beiden, und er ist auch derjenige, der einen organischeren Zugang im Denken und in der körperlichen Bewegung hat. Ich wiederum bin der Texter, der Stratege, der thematisch besser Aufgestellte. Ob er mir fehlt, wenn wir uns nicht sehen? Ich glaube nicht, es braucht eine gesunde Distanz, nur nicht aufeinanderpicken! Aber wenn wir uns sehen … ein Traum! Niemand bringt mich so zum Lachen wie er!

Was immer schon unser Trumpf war, in all der langen Zeit, ist das gegenseitige Vertrauen. Wir haben schon alle Phasen durchgemacht, von Konkurrenz und Rivalität über ein jahrelanges Nebeneinander bis hin zu einer gegenseitigen Stärkung und Inspiration. Heute hat unsere Beziehung einen so reichen Bodensatz, dass wir manchmal schon zig Schachzüge des anderen vorausdenken können. Und obwohl wir eh schon wissen, was der andere sagen wird, ist uns seine Meinung immer noch wichtig. Wir sind Sparringspartner füreinander. Manchmal fliegen die Fetzen, Laurids ist der schärfste Kritiker, den man sich vorstellen kann, er bringt immer eine zusätzliche Perspektive rein, er denkt und formuliert mit Worten wie ein Schwert. Dafür bin ich derjenige, der den Laden zusammenhält und sich kommunikativ einbringt, ich bin einer, der Dinge erledigt. Es funktioniert gut an zwei Orten, er in Wien, ich hier in Berlin. Wenn wir uns nicht sehen, vermisse ich ihn. Wenn wir uns dann sehen … was wir lachen können!

Der Standard, Sa., 2023.02.11

21. Januar 2023Wojciech Czaja
Der Standard

SOS Gründerzeit

Teil 1 Immer mehr Gründerzeithäuser werden abgerissen. Mit der zunehmenden Zerstörungswut verändert sich auch das Stadtbild. Was heißt das für Wien? Fünf Protokolle.

Teil 1 Immer mehr Gründerzeithäuser werden abgerissen. Mit der zunehmenden Zerstörungswut verändert sich auch das Stadtbild. Was heißt das für Wien? Fünf Protokolle.

Gründerzeit? Eine endliche Ressource!

„Die Wiener Gründerzeit ist image- und stadtbildprägend. Mit diesen Bildern sind wir alle aufgewachsen. Mit dem Weiterwachsen der Stadt und mit dem zunehmenden Verwertungsdruck der Immobilienwirtschaft jedoch wird uns allmählich klar, dass die gründerzeitliche Substanz eine endliche Ressource ist.

Der Abbruch eines nicht denkmalgeschützten Hauses und das Füllen einer solchen Baulücke mit einem modernen Wohnbau, der den heutigen Bedürfnissen und der Nachfrage am Markt entspricht, ist im Einzelfall absolut legitim. In der Summe aber müssen wir anerkennen, dass uns ein Stück der Wiener Identität, die auch im Tourismus eine große Rolle spielt, zu verschwinden droht.

Was tun? Mein Begehr ist ein gutes Nebeneinander aus Alt und Neu. Dazu muss man die baukulturelle Qualität im Neubau nach oben heben. In den meisten Fällen lässt diese nämlich zu wünschen übrig. Auch in der Gründerzeit war nicht alles eitel Wonne – mit dem Unterschied allerdings, dass es ein Bewusstsein für Ensembles, für Stadtbilder und für eine gesamtstädtische Verantwortung gab.“

Peter Payer ist Stadtforscher und Stadthistoriker in Wien.

Ästhetik hat im Neubau keinen Stellenwert

„Nicht nur in Wien, auch in anderen Städten bin ich viel unterwegs und beobachte, wie sich die gebaute Stadt verändert. An vielen Orten gelingt es, den Neubau in die historische Stadt so einzuweben, dass zwischen Alt und Neu eine gewisse Balance entsteht. Man nimmt Rücksicht auf Farbe, Material, Geschoßhöhe und Fensterproportionen.

In Wien hat Ästhetik im Neubau keinen Stellenwert. Entweder haben Architekten ein ästhetisches Empfinden, das nicht der breiten Masse entspricht, oder aber die Bauherren, Investorinnen und Wohnbauträger weigern sich, Geld in eine ansprechend gestaltete und im menschlichen Maßstab gegliederte Fassade zu investieren. Natürlich, der gründerzeitliche Stuck war meist vorgefertigt, hört man immer wieder als Kritik, die reinste Katalogware. Na und? Die heutigen Häuser bestehen auch aus vorgefertigten Elementen. Wo ist da der Unterschied?

Das neue Wien fühlt sich an, als würden Laien, Architektinnen und Bauherren in unterschiedlichen Welten leben. Ich wünsche mir mehr Schönheit an den Fassaden und gestalterische Mindeststandards, die ein Wohnhaus im gründerzeitlichen Wien erfüllen muss. Die Stahlbetonkisten mit ihren Vollwärmeverbundsystemen machen die Stadt kaputt.“

Georg Scherer betreibt seit 2018 den Blog wienschauen.at.

2,50 Meter hohe Erdgeschoße sind ein No-Go

„Nicht jedes Haus, das in der Gründerzeit erbaut wurde, ist auch wirklich schützenswert. In Summe aber bietet die gründerzeitliche Bausubstanz Qualitäten, die der gewerbliche Wohnbau der jüngeren Zeit leider nicht mitbringt. Das merkt man auch im Stadtparterre der historischen Bestandsstadt: Früher gab es im Erdgeschoß in den sogenannten G’wölben ein reges Leben mit Handel, Gastronomie und produzierendem Gewerbe.

Das ist heute anders. Die meisten Neubauten bestehen im Erdgeschoß aus Haustor, Garageneinfahrt und Zugang zum Müllraum. Dazwischen parken hunderttausende Autos. Damit ist das Erdgeschoß vielerorts monoton und unbelebt. Die wenigen Erdgeschoßlokale, die man findet, stehen entweder leer oder werden als gewerbliche Storage-Räume genutzt, was aber auch nicht unbedingt zu einer Belebung des Erdgeschoßes beiträgt.

In den 1990er-Jahren haben sich viele Kreative und Architekturbüros im Erdgeschoß eingemietet. Heute findet man immer häufiger Arztpraxen und Zahnärztinnen. Die Möglichkeiten müssen dringend ausgeweitet werden! Denn das Erdgeschoß ist eine Raumressource für künftige Nutzungen, die wir uns heute vielleicht nicht einmal noch vorstellen können. Das heißt: 2,50 Meter Raumhöhe im EG ist ein No-Go.“

Angelika Psenner ist Professorin für Stadtstrukturforschung an der TU Wien.

Auf der Suche nach der gemeinsamen Sprache

„Um Klartext zu sprechen: Nicht nur die heutigen Baulückenhäuser, auch viele Gründerzeithäuser waren gewerblich errichtet, gewinnorientiert, bodenausnutzend, dichte Burgen mit geringem Lebenskomfort. Kein Unterschied also zum heutigen neoliberalen Neubau.

Mit einem Unterschied aber: Damals gab es so etwas wie eine gemeinsame Sprache, die innerhalb der Regeln Variationen zuließ. Der Charakter einer Straße wurde durch den Takt rhythmisiert: Baulinie, Putzfarben, Fenstergiebel, Kordongesimse. Damit blieb das einzelne Haus – trotz seiner individuellen Züge – stets in ein verbindliches Stadtbild eingebunden.

Heute gewinnt man manchmal den Eindruck, als hätten die Häuser mit ihren Nachbarbauten und der Straße, in der sie stehen, nichts zu tun. Zwar ist in der heutigen Bauordnung immer noch vom „Stadtbild“ die Rede, aber die Verbindlichkeit eines solchen Bildes ist Geschichte. Dem gewinnorientierten, gewerblich errichteten Neubau, der steif dasteht und sich auf seine vielleicht schillernde Fassade verlässt, fehlen diese Qualitäten.

Ich wünsche mir mehr Wandlungsfähigkeit, mehr kleinmaßstäbliche Nutzungsvielfalt und mehr Augenmerk auf den Kontext – ohne Heraufbeschwören alter Zeiten, die auch damals nicht rosig waren.“

Gabriele Kaiser ist Architekturhistorikerin in Wien und Linz.

Eine schöne Fassade ist kein Verbrechen

„Wir rechnen heute mit einem Lebenszyklus von 50 Jahren. Die gründerzeitlichen Häuser haben schon 120 Jahre auf dem Buckel, wären nach heutigen wirtschaftlichen Gesichtspunkten also schon doppelt abgeschrieben, stehen aber immer noch da. Den Gebäuden scheint eine Qualität innezuwohnen, die sie überlebensfähig macht. Mit diesem historischen Kapital zu arbeiten und die Stadt in ihrem Charakter weiterzubauen ist unser aller Verantwortung, denn die Qualität der gründerzeitlichen Stadt ist, sobald sie einmal zerstört ist, unwiederbringlich verloren.

Egal, ob wir bei Hild und K neu bauen oder sanieren: Wir verstehen unsere Arbeit als Bauen im Bestand, denn im städtischen Kontext ist man immer von Bestand umgeben. Wir kennen, wenn es um Schönheit an der Fassade geht, keine Tabus. Wir arbeiten gerne mit Humor, mit Zitaten, mit Ornamenten, mit der Freiheit der Transformation. Zudem sind manche Qualitäten – wie etwa eine lebendige Erdgeschoßzone und eine ästhetische und hochwertige Fassade – unverzichtbar.

Abbrüche und Neubauten, die einzig und allein ökonomisch motiviert sind und alle anderen Aspekte ignorieren, sind aus baukultureller und ökologischer Sicht abzulehnen. Diese Abrisse müssen gestoppt werden.“

Matthias Haber ist Partner bei Hild und K Architekten in München und Berlin.

Lesen Sie nächste WocheTeil 2: Zerstörung im ländlichen Raum

Der Standard, Sa., 2023.01.21

24. Dezember 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Kann denn Kirche Sünde sein?

Direkt neben dem Ceaușescu-Palast in Bukarest wächst die orthodoxe Nationalkathedrale in den Himmel. Das Projekt bricht sämtliche Weltrekorde – aber auch die Grenzen von Ethik und Angemessenheit.

Direkt neben dem Ceaușescu-Palast in Bukarest wächst die orthodoxe Nationalkathedrale in den Himmel. Das Projekt bricht sämtliche Weltrekorde – aber auch die Grenzen von Ethik und Angemessenheit.

Letzte Nacht hatte ich einen Traum“, singt Dan Teodorescu, Komponist und Frontman der rumänischen Band Taxi. „Ich ging morgens in die Kathedrale, um nach Gott Ausschau zu halten, aber ich fand ihn nicht, obwohl ich sogar in den Mehrzweckräumen, in den zwölf Aufzügen und in der Tiefgarage nach ihm suchte. Kein Wunder, dass man ihn nicht findet, auf einer Fläche von elf Hektar Land.“

Im Refrain des 2016 erschienenen Chansons Despre Smerenie („Über die Demut“) stimmen schließlich knapp 70 rumänische Promis mit ein, darunter etwa Sänger, Künstlerinnen, Architektinnen, Schriftsteller, TV-Moderatoren, Sportlerinnen und Schauspieler aus Film und Bühne. Gott wird nicht zu finden sein, singen sie, zumindest nicht hier in der neuen Nationalkathedrale, die sich derzeit in Bau befindet, sondern ganz woanders, vielleicht in einer kleinen Holzkirche irgendwo oben auf einem Hügel. 67-mal ist der Refrain zu hören: „Ich glaube, Gott bevorzugt Holz, Holz und kleine Räume.“

Der Bau der neuen rumänisch-orthodoxen Nationalkathedrale (Originalwortlaut Catedrala Mântuirii Neamului Românesc, Kathedrale der Erlösung des rumänischen Volkes) schlägt seit Anbeginn schon Wellen der Empörung. Der Wunsch nach einem riesigen Gotteshaus in der Hauptstadt ist rund 130 Jahre alt und geht auf den rumänischen König Karl I. zurück. Nachdem der über zweieinhalb Jahrzehnte machthabende kommunistische Diktator Nicolae Ceaușescu in seiner Amtszeit ganze Bukarester Stadtviertel – darunter auch eine Vielzahl von Kirchen – hatte abreißen lassen, nahm die Idee nach seinem Tod am 25. Dezember 1989 erneut Fahrt auf.

Erfahrung mit Shoppingmalls

Drei unterschiedliche Standorte standen jahrelang zur Diskussion, wurden von der Stadtregierung aufgrund der Ortsunverträglichkeit jedoch immer wieder abgelehnt. 2010 schließlich konnten sich Staat und Kirche einigen und beschlossen, die neue Nationalkathedrale direkt neben dem Ceaușescu-Palast, dem heutigen Palatul Parlamentului, zu errichten. Aus einem nationalen Wettbewerb ging Augustin Ioan, Architekt und Professor an der Ion-Mincu-Universität für Architektur und Stadtplanung (UAUIM), mit seinem Team an Studierenden als Sieger hervor.

Doch so weit sollte es nicht kommen. Das Projekt wurde gestoppt, stattdessen erteilte das rumänisch-orthodoxe Patriarchat, das bei diesem Mammutprojekt als Bauherr fungiert, einen Direktauftrag an das Ingenieurbüro Vanel Exim S.R.L., das mit Bahnhöfen, Krankenhäusern und zahlreichen Shoppingmalls im ganzen Land bereits reichlich Erfahrung im großmaßstäblichen Bau sammeln konnte. Und die ist hier vonnöten, denn mit 127 Meter Höhe und 127 Meter Länge ist die Nationalkathedrale die größte orthodoxe Kirche Europas. Die 407 Quadratmeter große Ikonostase aus Millionen goldenen Mosaiksteinchen fand sogar den Weg ins Guinness-Buch der Rekorde.

„Es gibt für die Kathedrale kein historisches Vorbild, denn in diesen Dimensionen sind Kirchen im orthodoxen Christentum nicht verankert“, sagt die Bukarester Architektin Adina Buzea. „Die Elemente, die hier verwendet wurden, sind entweder eine Weiterentwicklung und Neuinterpretation von römisch-katholischen Kirchen oder aber eine Vergrößerung und Aufblasung orthodoxer Versatzstücke bis zu einem Maßstab, der einfach nur lächerlich und übertrieben wirkt.“

Kritisch sieht Buzea nicht nur die Architektursprache, sondern das Projekt an sich: „Aufgrund budgetärer Engpässe wurden in Rumänien in den letzten Jahren etliche Krankenhäuser geschlossen. Das Land ist mit Gesundheitseinrichtungen chronisch unterversorgt. Für eine Kirche in diesen Dimensionen aber ist das Geld da.“ Kolportierte Baukosten: 185 bis 300 Millionen Euro. Das Grundstück an der Ecke Calea 13 Septembrie und Strada Izvor, direkt neben dem Ceaușescu-Palast, wurde der – per Verfassung wohlgemerkt steuerbefreiten – Kirche kostenlos zur Verfügung gestellt.

Das Bild im städtischen Gefüge ist grotesk. Inmitten eines sechs- bis achtspurigen Straßenrings, fernab von U-Bahn und infrastrukturellen Einrichtungen entstehen ein Gotteshaus für 7000 Besucher, ein steinerner Vorplatz mit beheizten Stufen und eine unterirdische Garage mit hunderten Pkw-Stellplätzen. Auf den Renderings am Bauzaun ist kein einziges Stückchen Grün zu sehen. Stattdessen überall Marmor, Beton und gülden glitzernde Kuppeln. Oder, wie dies der einstige Wettbewerbssieger Augustin Ioan in einem Interview formuliert: „Was hier entsteht, sieht alt und neu zugleich aus. Das ist Mittelmaß, korrupter Zynismus, Eitelkeit ohne Konsequenz. Dieses Projekt ist eine einzige Sünde.“

Constantin Amâiei, Architekt im Planungsbüro Vanel Exim, hat vom Patriarchat einen Maulkorb verpasst bekommen und darf sich zum eigenen Projekt nicht äußern und keine Informationen zur Verfügung stellen. Das Patriarchat wiederum lehnt jedes Medieninterview ab und schickt stattdessen per Mail einen Haufen Links zu selbstherrlichen Artikeln auf der Website der orthodoxen Nachrichtenagentur, basilica.ro. Da erfährt man unter anderem, dass das Geläut in der Innsbrucker Glockengießerei Grassmayr hergestellt wurde. Mit 25 Tonnen Gewicht und 3,35 Meter Durchmesser handelt es sich dabei um die größte Schwingglocke Europas. Guinness-Buch der Rekorde.

Quantität statt Qualität

„Die Nationalkathedrale ist die Summe von Macht und Weltrekorden, sie ist ein Symbol für die Kohabitation von Staat und Religion“, sagt Ștefan Simion, Associate Professor für Architektur an der Ion-Mincu-Universität sowie Herausgeber des architekturtheoretischen, zeitkritischen Magazins Mazzocchioo. „Es geht um Quantität und nicht um Qualität, die architektonische und baukulturelle Leistung liegt fast bei null. Leider wurde diese Kirche ohne Rücksicht auf die Stadt, auf ihre Menschen und ihre Bedürfnisse errichtet. Das Resultat ist eine Art Disneyland, nur viel böser.“

Am Nachmittag geht der Schichtbetrieb zu Ende. Die Bauarbeiter stellen die Helme ins Regal und steigen in dutzende Busse ein, die auf dem Parkplatz stehen. An der Karosserie große Klebebuchstaben, geschwungener Schriftzug, Basilica, Abfahrt im Konvoi. Geplante Fertigstellung: 2025. Dann startet die Suche nach Gott.

Der Standard, Sa., 2022.12.24

10. Dezember 2022Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

„Alles ist so ernst geworden“

Am 13. Dezember feiert Wolf Prix seinen 80. Geburtstag. Dem ΔTANDARDerzählt er, wofür er heute brennt, warum er es für blödsinnig hält, die Bauwirtschaft als CO2 -Sünderin hinzustellen, und wie es ist, für Autokraten zu bauen.

Am 13. Dezember feiert Wolf Prix seinen 80. Geburtstag. Dem ΔTANDARDerzählt er, wofür er heute brennt, warum er es für blödsinnig hält, die Bauwirtschaft als CO2 -Sünderin hinzustellen, und wie es ist, für Autokraten zu bauen.

STANDARD: In Ihren jungen Jahren haben Sie gesagt: „Architektur muss brennen.“ Muss sie das, wenn man 80 ist, immer noch?

Prix: Freilich! Die meisten glauben, dass wir wirklich Feuer legen wollen, aber das wollen wir natürlich nicht. Im übertragenen Sinne muss Architektur aber auf jeden Fall Emotionen erzeugen.

STANDARD: Was wurde aus den „jungen Wilden“, wie Sie sich damals genannt haben? Wird man zu einem alten Wilden? Oder doch zu einem jungen Gemäßigten?

Prix: Heute bin ich gelassener. Ich ärgere mich nicht mehr über unsere Fehler und die Fehler der anderen, sondern ich ärgere mich gar nicht mehr, ich lache gerne. Allerdings wurde früher mehr gelacht, die Architekten waren lustiger und frecher, die Medien waren provokant, die Gesellschaft war offener. In den letzten Jahren ist alles ernst geworden, man versteht keinen Spaß mehr. Vielleicht liegt das auch an den Architektenverträgen, die immer dicker und umfangreicher werden.

STANDARD: Die Rolling Stones galten früher als Rebellen, heute füllen sie Stadien für die ganze Familie. Auch Sie waren ein frecher Rebell, heute bauen Sie für Zentralbanken und Regierungen. Sehen Sie hier Parallelen?

Prix: Kann sein, dass es hier tatsächlich Parallelen gibt. Auch die Karriere eines bauenden Architekten wandelt sich mit der Zeit. Stellen Sie sich vor, ich würde heute das Gleiche planen wie 1968, als wir mit unseren Gedankenräumen eine neue Lebensweise wecken wollten. Das ist heute unvorstellbar! Beim Bauen und Realisieren und mit dem Älterwerden geht man mit der Kraft ökonomischer um. Um diese Erfahrung kommt man nicht herum.

STANDARD: Gemeinsam mit Ihren Zeitgenossen – mit Zünd-Up, Missing Link und Haus-Rucker-Co – haben Sie in den 1960er-Jahren an der Verbesserung der Welt gearbeitet. Was wurde aus den damaligen Visionen?

Prix: Ich sage gerne, dass wir verloren haben. Die Idee der optimistischen Gedankengebäude war nicht durchsetzbar. Der Unterschied ist nur, dass wir damals das zukünftige Leben völlig neu definiert haben! Heute ist die Lebensqualität einer Stadt nichts anderes als ein neues Biedermeier: Rückzug in die Ego-Privatheit, Rückzug aus dem öffentlichen Raum, Rückzug in die Gemütlichkeit, auf dem grünen Balkon im Liegestuhl sitzend, mit einer Flasche Bier in der Hand, die romantische Scheinrealität einer grünen Stadt. Wo sind die zukünftigen innovativen Lebenskonzepte?

STANDARD: Heute reden wir über Ressourcenschonung. Die Bauwirtschaft steht als CO2 -Sünderin am Pranger.

Prix: Oje, schon wieder diese blödsinnige Feststellung.

STANDARD: Wissen Sie, wo der Stahl für Ihre Museen und Konferenzzentren herkommt?

Prix: Nein, das weiß ich nicht. Muss ich auch nicht. Aber ich mag diese Diskussionen nicht. Denn wenn wir von Materialverschwendung sprechen, dann müssen wir schon die Architekturindustrie mit der Waffenindustrie vergleichen. Wir bauen Waffen aus Unmengen von Stahl, die nur einen einzigen Zweck haben: Zerstörung. Und wir bauen Kampfflugzeuge, wovon eines so viel kostet wie das Musée des Confluences in Lyon, und nach spätestens fünf Jahren wird es abgeschossen. Das müssen wir vergleichen! Vergleichen wir doch den CO2 -Ausstoß des Kriegs in der Ukraine mit dem CO2 -Ausstoß von unseren Kulturbauten auf der Krim. Darüber müssten wir sprechen!

STANDARD: Ihre größten und wichtigsten Projekte haben Sie stets im Ausland realisiert, zuletzt vor allem in China. Aktuell bauen Sie in Russland und auf der Halbinsel Krim. 1998 haben Sie in einer Rede in Wien gesagt: „Autoritäre Systeme vertragen keinen Ungehorsam.“ Wie verträgt sich das?

Prix: Es kommt nicht darauf an, für wen oder wo wir bauen, sondern was wir bauen. Was Russland betrifft, so habe ich alles Relevante schon im Spiegel -Interview gesagt. Außerdem sind wir jetzt von der EU sowieso sanktioniert. Wir dürfen nicht mehr für Russland arbeiten – ein demokratisches Arbeitsverbot. Alle Aufträge, die wir in Arbeit haben, Hochhäuser, Theater, Schulen und Kulturzentren, können wir wegwerfen. Toll!

STANDARD: Auf der Krim nach 2014 zu bauen dient der Legitimierung einer völkerrechtswidrigen Annexion. Sehen Sie das anders?

Prix: Wir hatten auf der Krim nie ein Arbeitsverbot, denn Kulturbauten waren von den Sanktionen ausgenommen. Aber ja, nun müssen wir auch dieses Projekt stoppen. Ein Freund von mir hatte auf der Krim eine Fabrik für Maschinenteile und wurde ebenfalls sanktioniert. Wer, glauben Sie, hat diese Lieferungen übernommen? Ein Amerikaner! Also hören Sie mir auf mit den moralischen und angeblich politischen Darstellungen ...

STANDARD: Die meisten und größten Ihrer Aufträge kommen von autokratischen Regimen. Was macht das mit Ihnen?

Prix: Gar nix. Gegenargument: Ich habe Sympathie für eine Gesellschaft, demokratisch oder autokratisch, die sich erlaubt, auf einen Schlag in sieben Städten Kulturzentren zu bauen. Bei uns heißt es nur: Brauchen wir nicht! Es wird gerne vergessen, dass auch ein François Mitterrand autokratisch entschieden und zahlreiche Großprojekte beauftragt hat. Und ganz ehrlich: Es macht keinen Unterschied, ob man für Autokraten oder für Turbokapitalisten baut. Für Autokraten ist es sogar etwas angenehmer, weil sie nicht jeden Cent berechnet haben wollen, um zu wissen, wie viel sie mit einem Projekt verdienen.

STANDARD: Welche Auswirkungen haben die Russland-Sanktionen auf Ihr Büro?

Prix: Wir arbeiten nun für einen anderen Autokraten und sitzen mit all jenen, die gesagt haben, dass sie für Russland nicht mehr arbeiten wollen, Schulter an Schulter in Saudi-Arabien. Dort planen wir alle an der 170 Kilometer langen Linearstadt Neom. Das ist eine der radikalsten Stadtplanungsideen, eine Mischung aus Le Corbusier und Superstudio.

STANDARD: Im Rückblick auf mehr als 50 Jahre Schaffen: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Prix: Auf drei Dinge: auf den Dachbodenausbau in der Wiener Falkestraße, auf das Musée des Confluences in Lyon und auf das Mocape-Museum in Shenzhen, weil ich bei diesem Projekt Piranesi am nächsten gekommen bin.

STANDARD: Am 13. Dezember werden Sie 80. Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?

Prix: Weiß ich nicht. Das ist ein Tag wie jeder andere. Das ganze Drumherum ist mir völlig egal. Aber ich weiß, dass ich nicht noch weitere 80 Jahre vor mir habe. Und dass ich gewisse Dinge nicht mehr erleben werde, von denen ich als junger Architekt dachte, ich würde sie noch erleben. Zum Beispiel die Projekte in Russland. Oder dass ich noch lerne, Keith Richards Riff in Gimme Shelter spielen zu können.

STANDARD: Gibt es einen Wunsch für die Zukunft?

Prix: Ich habe immer noch den Wunsch, dass wir die großen Probleme der Welt mit Wissen und Optimismus lösen können – und dabei nicht vergessen zu lachen.

STANDARD: Wofür brennt Wolf Prix heute?

Prix: Für die Möglichkeit, Architektur zu bauen, die beweist, dass wir mit manchen Aussagen recht gehabt haben könnten. Und trotzdem: Jeder hat recht, aber nichts ist richtig.

Wolf Dieter Prix, geboren am 13. Dezember 1942 in Wien, gründete 1968 mit Helmut Swiczinsky und Michael Holzer das Büro Coop Himmelb(l)au, das er seit 2001 allein leitet. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern des Dekonstruktivismus.

Der Standard, Sa., 2022.12.10



verknüpfte Akteure
Prix Wolf D.

03. Dezember 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Anti-Asphalt-Manifest

Alle reden von Entsiegelung. Doch keiner tut es. Wie genau müsste man so etwas in Angriff nehmen? Eine Handlungsanleitung anhand der Wiener Kirchengasse. Leider nur eine Utopie. Oder doch nicht?

Alle reden von Entsiegelung. Doch keiner tut es. Wie genau müsste man so etwas in Angriff nehmen? Eine Handlungsanleitung anhand der Wiener Kirchengasse. Leider nur eine Utopie. Oder doch nicht?

1. Der grüne Traum

Eine Klatschmohnwiese wie bei den Fernsehbienen Willi und Maja, damals in den Siebzigern, mit allerlei buntem Gestrüpp und Geblüm, mit Viecherln und Insekten, ja sogar ein Eichhörnchen hat den Weg hierher gefunden und hält auf einer der aufgebrochenen Asphaltschollen nun Ausschau nach Nussigem. „Wir träumen von einem richtigen Urban Jungle“, sagen Christian Kircher, Philipp Buxbaum und Viola Habichel, die in der Kirchengasse 23, siebter Wiener Gemeindebezirk, aktuell eine Beton- und Asphaltwüste, das Büro Smartvoll Architekten leiten. „Gerade in der gründerzeitlichen Stadt, die nur wenig Grün zu bieten hat, wäre so eine Entsiegelung ein Beitrag für mehr Lebensqualität und ein besseres, erträglicheres Stadtklima.“ Alles nur ein Traum? „Es reicht ein Blick auf die U-Bahn-Baustelle U2 und U5. Wenn der Wille da ist, geht alles.“

2. Die graue Wahrheit

Österreich ist Versiegelungseuropameister. Pro Minute werden 80 Quadratmeter Boden versiegelt, das sind 11,5 Hektar pro Tag, 42 Quadratkilometer pro Jahr. Mit anderen Worten: Jahr für Jahr wird in Österreich Grünland in der Größe von Eisenstadt zubetoniert und mit Asphalt zugegossen. Die dringend benötigte Produktion von Wohnraum in städtischen Ballungsräumen lässt die Entwicklung nicht abflachen. Vom politischen Ziel, den Flächenverbrauch bis 2030 auf 2,5 Hektar pro Tag zu reduzieren, sind wir Lichtjahre entfernt. Was tun? In Anlehnung an das Wiener Baumschutzgesetz, demnach für jeden gefällten Baum ein Ersatzbaum zu pflanzen ist, könnte man einen Eins-zu-eins-Tausch für Versiegelung und Entsiegelung gesetzlich verankern. In Anbetracht der dramatisch zunehmenden Klimakrise fragt man sich, warum diese Diskussion nicht schon längst geführt wird.

3. Die Standortsuche

In mikroklimatischer Hinsicht ist jede einzelne Straße für eine Entsiegelung geeignet. Durch den Wegfall von massiven Baustoffen, durch die Verdunstungskälte der Pflanzen (Evapotranspiration) und nicht zuletzt durch die Verschattung mittels Bäumen würde selbst das kleinste Gasserl von einem Asphaltabbruch profitieren. In stadtklimatischer Hinsicht eignen sich für eine Entsiegelung vor allem größere, zusammenhängende Grünbänder, die im Idealfall in die heißesten Urban-Heat-Islands hineingeschlagen werden – im Falle von Wien also im Bereich der Innenbezirke und entlang des Westgürtels. Einen noch höheren Effekt erzielt man durch die Entsiegelung von West-Ost-Kaltluftschneisen: Auf diese Weise könnte die frische Wienerwald-Luft aus dem Westen durch begrünte Kanäle noch schneller, noch kühler, noch effizienter bis in die Innenstadt vordringen.

4. Das Entsiegelungs-Einmaleins

Ein klassischer Straßenaufbau misst rund 70 Zentimeter. In der historischen Stadt jedoch sind die historisch gewachsenen Aufbauten oft bis zu zwei, drei Meter dick. Hinzu kommen zahlreiche Einbauten für Strom, Telefon, Glasfaser, Gas, Wasser, Abwasser und Fernwärme, die im Falle einer Entsiegelung verlegt oder zumindest geschützt werden müssten. Anbieten würde sich dafür eine Bündelung aller Installationsleitungen in sogenannten Kollektorgängen, wie sie in einigen Städten weltweit bereits Standard sind. Nachdem der unter einer Versiegelung befindliche Boden biologisch und chemisch betrachtet tot ist, müsste der Bodenaufbau komplett neu komponiert werden. Denn: Nur ein gesunder, lebendiger Boden trägt zur Klimaregulierung bei und ist in der Lage, mit einer biodiversen Fauna und Flora Wärme zu puffern und Wasser zu speichern.

5. Die technischen Gefahren

Technisch betrachtet ist die Stadt – mit Ausnahme von grünen Plätzen und Parkanlagen – ein versiegeltes Bauwerk, das über ein komplexes, künstlich angelegtes Kanalsystem entwässert wird. Reißt man die Versiegelung an einer x-beliebigen Stelle auf, ist es, als würde man in der Badewanne den Stöpsel ziehen. Gar nicht gut. Damit die entsiegelte Fläche also nicht unkontrollierbare Regenwassermengen abbekommt, müssen Topografie und Beschaffenheit der angrenzenden Häuser und Dachflächen sowie die Retentions- und Entwässerungskonzepte genau überprüft werden. Die angrenzenden Hausfassaden und Kellerwände müssten – wie bei einem Einfamilienhaus auf der grünen Wiese – mit Abdichtungen und Drainagen ertüchtigt werden.

6. Die juristische Hürden

Die größte Herausforderung jedoch liegt nicht in der Bautechnik, sondern in den hochkomplexen magistratischen Strukturen: Um einen so starken Eingriff ins Straßensystem zu ermöglichen, müssten nach Auskunft von Experten rund 20 Wiener Magistratsabteilungen ihr Einverständnis geben – darunter etwa die Abteilungen für Stadtteilplanung und Flächennutzung (MA 21), Straßenverwaltung und Straßenbau (MA 28), Baupolizei (MA 37), Wiener Stadtgärten (MA 42) sowie Bau-, Energie-, Eisenbahn- und Luftfahrtrecht (MA 64). Hinzu kommen die Okays von weiteren Stellen wie etwa Wiener Netzen, Wien Kanal und Feuerwehr, vom jeweils zuständigen Bezirk sowie vom Wiener Planungsdirektor Thomas Madreiter, vom Stadtbaudirektor Bernhard Jarolim sowie von der amtierenden Planungsstadträtin Ulli Sima.

7. Die Moral von der Geschicht

Die Entsiegelung bereits versiegelter Verkehrsflächen ist technisch und juristisch möglich – wenn auch mit hohem baulichem Aufwand und einem Höllenritt durch die Magistrate. Zudem muss der tote, kontaminierte Boden – wie beim Rudolf-Bednar-Park (Nordbahnhof) oder Helmut-Zilk-Park (Sonnwendviertel) – abtransportiert und durch neues, gesundes Substrat ersetzt werden. Eine günstigere Alternative ist die punktuelle Begrünung und Bepflanzung mit Schwammstadtbäumen oder kompakten Street-Trees, die auf einer Fläche von nur einem Pkw-Stellplatz ihr Auslangen finden. Wasserreserven sind genug vorhanden. Aktuell versickern in Wien lediglich sieben Prozent des Regenwassers im Untergrund, 93 Prozent müssen über Kanäle abgeleitet werden. Das ist teuer, aufwendig und stadtklimatisch unvernünftig. Fakt ist: Die zubetonierte Stadt in ihrer heutigen Form ist nicht zukunftsfähig. Wir müssen unsere Zukunftsbilder neu malen.

Der Artikel entstand in enger Zusammenarbeit mit Christian Kircher, Philipp Buxbaum und Viola Habichel (Smartvoll Architekten), Daniel Zimmermann (3:0 Landschaftsarchitektur), Susanne Formanek (Innovationslabor Grün Statt Grau), Bernhard Scharf (Green 4 Cities), Simon Tschannett (Weatherpark), Renate Hammer (Institute of Building Research and Innovation), Thomas Hauck (Institut für Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung, TU Wien) und Markus Busta (HSP Rechtsanwälte).

Danke für Ihre Expertise!

Der Standard, Sa., 2022.12.03

12. November 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Kreislaufwirtschaft ist kein Klumpert

Vor wenigen Tagen hat das neue Social-Business-Hotel Magdas in Wien seine Pforten geöffnet. Und nun öffnet es uns die Augen, was im Bereich von Pflege, Erhaltung und Kreislaufwirtschaft alles möglich ist.

Vor wenigen Tagen hat das neue Social-Business-Hotel Magdas in Wien seine Pforten geöffnet. Und nun öffnet es uns die Augen, was im Bereich von Pflege, Erhaltung und Kreislaufwirtschaft alles möglich ist.

Da, wo jetzt die Hugos, Aperol-Spritzer und Magdas-Habibi-Special-Gin-Drinks ausgeschenkt werden, wurde auch früher schon allerhand Sünde zutage gefördert, wenn auch dereinst ohne Alkoholeinfluss, tagein, tagaus, viele, viele Tausende Male über all die Jahrzehnte. „Was glauben Sie, woher das Holz hinter der Bar stammt? Das erraten Sie nie!“ Und recht hat sie, die Frau Sonnleitner. Denn die dunkle Holzvertäfelung mit ihren vertikalen, leicht genuteten Sprossen, die nun den Background für Mohammeds und Magdalenas Schanktat am Tresen bilden, war früher einmal Teil eines Beichtstuhls im sogenannten Waldkloster, Wien-Favoriten.

Die Zeiten der Rosenkränze sind vorbei. Heute führen die hochwertig gearbeiteten Holztafeln – so wie viele andere Möbel und Bauteile auch – ein Leben nach dem Materialtod, und zwar im neuen Magdas Hotel in der Ungargasse, das seit wenigen Tagen in Betrieb ist. Im Erdgeschoß gibt’s Drinks, Frühstücke, supergute Mittagsmenüs, regionale und levantinische Köstlichkeiten sowie ein eigenartiges, halbherzig interpretiertes Austrian Vitello Tonnato vom Mageren Meisel mit leider von Bord gegangenem Thunfisch. In den Etagen darüber kann man sich für 89 Euro aufwärts in ein Vintage-Paradies mit Omama-Kommoden und Großvaters Lounge-Fauteuils betten.

„2015 haben wir unser erstes Magdas Hotel im Prater eröffnet“, sagt Gabriela Sonnleitner, Hotelmanagerin und Geschäftsführerin von Magdas Social Business. „Wir haben dort mit wenig Aufwand ein ehemaliges Pflegehaus der Caritas in ein Hotel mit sozialem Schwerpunkt umgebaut, in dem wir vor allem Geflüchtete, Asylwerber und Langzeitarbeitslose beschäftigen konnten. Aufgrund des Nutzungsvertrags hatte das Projekt ein Ablaufdatum. Umso besser, dass das Konzept seitdem reifen konnte und wir nun in zentraler, städtischer Lage unser noch schöneres Nachfolgeprojekt in Angriff nehmen können.“

Errichtet wurde das Haus 1963 vom damaligen Dombaumeister Kurt Stögerer. Bis vor kurzem diente das schmucklose Gebäude in der Ungargasse 38 als Priesterwohnheim, alles sehr karg und wenig hedonistisch, eher nach innen gekehrt und auf die wortlose Begegnung mit Gott ausgerichtet, lediglich die Kapelle im sechsten Stock, die wie ein betonierter Schiffsbug durch die Fassade in den Straßenraum hinausbricht, machte schon von weitem auf die ungewöhnliche Funktion aufmerksam.

„Viele Häuser der Nachkriegszeit haben eine gewisse unaufgeregte Eleganz“, sagt Johann Moser, Partner bei BWM Architekten. „Doch dieses spezielle Haus ist eine Besonderheit, weil es irgendwie Fluch und Segen zugleich ist.“ Einerseits, so der Architekt, seien viele Bauteile wie etwa Wände, Decken und Oberflächenmaterialien sehr billig und zum Teil minderwertig gebaut worden. Andererseits aber sei das Haus aufgrund seiner semisakralen Nutzung so gut gepflegt und so wenig verändert worden, dass sich die asketische, spirituelle Atmosphäre bis zur Gegenwart erhalten habe. „Darauf konnten wir echt gut reagieren.“

Der Tisch war mal ein Schrank

Die Umbauarbeiten umfassen vor allem Reparaturen und Ertüchtigungen: Die Wände wurden aufgedoppelt und schallisoliert, die Deckenplatten, die an einigen Stellen gerade mal fünf Zentimeter dick waren, wurden statisch verstärkt und bekamen einen neuen Estrich, das Erdgeschoß wurde entkernt, ein barrierefreier Lift wurde eingebaut, der Parkplatz auf der Rückseite des Hauses wurde wegrationalisiert und in einen Gastgarten mit Salbei, Mangold und Pfefferminze umgestaltet.

„Die Außenfassade“, sagt Moser, „wurde erfreulicherweise schon in den 1980er-Jahren gedämmt und mit neuen Kunststoffisolierfenstern aufgepäppelt. Ist zwar alles nicht wirklich schön, aber absolut brauchbar und auch energetisch durchschnittlich gut. Das konnten wir unverändert belassen – was uns im Sinne der Kreislaufwirtschaft natürlich sehr freut.“ Die technisch größte Veränderung liegt in der Tiefe verborgen: Um das Haus mit geothermischer Energie zu versorgen, wurde darunter 18-mal in die Tiefe gebohrt. Zur Abdeckung der Winterspitzen gibt es einen neuen Fernwärmeanschluss. Gesamtinvestitionsvolumen: neun Millionen Euro, finanziert mit einem konditionsgünstigen Social-Business-Kredit der Bank Austria.

Platz nehmen, Fritz-Kola bestellen, in ein paar Minuten wird die Menüsuppe serviert. Die Tische im Restaurant, schönes Ulmenfurnier, wie man es heute kaum noch irgendwo findet, waren früher einmal Schranktüren, oben in den Priesterschlafzimmern. Irgendwo, sagt der Kellner, versteckt sich noch ein Schlüsselloch in der Tischplatte. Die Holzstühle, ein Entwurf des Architekten und Angewandte-Professors Franz Schuster, waren bereits im Prater-Hotel im Einsatz und wurden nun in der Caritas-Werkstatt in Retz einer Frischekur unterzogen. Und die Lampen stammen – wie auch schon die Beichtstuhlpaneele – aus besagtem Waldkloster in Favoriten. Amen.

„Wir wollen nicht nur sozial, sondern auch baulich, klimatisch und ökologisch nachhaltig agieren“, sagt Hotelchefin Gabriela Sonnleitner. „Das heißt: Wir wollten möglichst wenig von hier raustragen und wegschmeißen und möglichst viel Klumpert erhalten.“ Das kreislaufwirtschaftliche Konzept entstand in Zusammenarbeit mit den Materialnomaden, die Möbelumbauten, die in den Zimmern bisweilen lustige Formate annehmen und zum Schmunzeln anregen, sind ein Kunst-am-Bau-Projekt des Wiener Künstlers und Designers Daniel M. Büchel. Am Ende schaut’s aus, als wäre es nie anders gewesen, nur mit ein bissl mehr Humor.

Der Beweis ist gelungen, wieder einmal. Mit seinen 85 Zimmern und 171 Betten ist das Magdas Hotel ein wirklich entzückendes Exempel für Erhalt, für Weiterbauen, für Kreislaufwirtschaft. Jetzt liegt es an der Politik und Verwaltung, mit ihren Baugesetzen Projekte wieder diese nicht mehr zu erschweren, sondern zu fördern und Incentives für Investoren und Entwicklerinnen zu schaffen. Das Magdas darf keine exotische Orchidee bleiben, sondern muss zum neuen, normativen Baukulturstandard werden.

Aktuell arbeitet Wien gerade an einer Bauordnungsnovelle, die 2023 in Kraft treten soll. Diese Woche fand im Wiener Rathaus eine Enquete dazu statt. Experten und Expertinnen aus sämtlichen technischen Bereichen gaben Impulse, was in der Novellierung alles Niederschlag finden muss. Liebe Stadt, da geht die Reise hin! Bitte anschauen und Weichen stellen, dringender Handlungsbedarf.

Der Standard, Sa., 2022.11.12

22. Oktober 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Eine andere Sicht auf die Dinge

Am Donnerstag wurde in Wien der Anotherviewture Award verliehen. Der Preis honoriert die Leistungen und Initiativen von Architektinnen und Ziviltechnikerinnen. Dahinter steckt eine unglaubliche Power.

Am Donnerstag wurde in Wien der Anotherviewture Award verliehen. Der Preis honoriert die Leistungen und Initiativen von Architektinnen und Ziviltechnikerinnen. Dahinter steckt eine unglaubliche Power.

Im Sommer, sagt sie, wurde hier ein Kinderbuch präsentiert. Kurz darauf hat der Kosmetikhersteller Maybelline New York mit Freiheitsstatuen aus Pappkarton seine neue Produktlinie Winter 2022 vorgestellt. Und erst kürzlich hat sich ein privates Unternehmen eingemietet, um mit seinen Kundinnen und Kunden auf die kommende Saison anzustoßen – mitsamt Showeinlage von Dragqueens und Akrobaten.

„Dieser Raum ist für alle“, sagt Sabina Grincevičiūtė. „Wir wollen diesen schönen, exotischen Ort bekannt machen und dafür sorgen, dass dieses bislang unsichtbare Eck von Vilnius, das die Leute meist nur mit Lagerhallen und Heizkraftwerk assoziieren, endlich auf der Mental Map landet, denn eigentlich ist es hier wirklich großartig.“

Grincevičiūtė, 35 Jahre alt, ist Partnerin im litauischen Büro Do Architects. Gemeinsam mit Algimantas Neniškis und ihren beiden Kolleginnen Andrė Baldišiūtė und Gilma Teodora Gylytė leitet sie ein Team mit knapp 60 Leuten – und zählt damit zu den drei größten Architekturbüros des Landes. Die Projekte umfassen sämtliche Bautypologien von Wohn-, Büro- und Bildungsbau über Quartiersentwicklungen und urbane Refurbishments bis hin zu rein kommerziellen Corporate-Projekten, mit deren lukrativen Planungshonoraren diverse Pro-bono-Projekte für NGOs und karitative Zwecke finanziert werden.

„Wir sind ein junger Haufen aus Architektinnen, Landschaftsarchitekten, Designern, Interior-Spezialisten, Projektmanagern, Soziologinnen und Rechtsexpertinnen, und in den neun Jahren seit unserer Gründung ist es uns gelungen, uns nicht nur als ein Büro unter zu drei Vierteln weiblicher Führung zu etablieren, sondern uns auch zu den wichtigsten Aktivistinnen im Stadt- und Kulturbereich zu entwickeln. Das ist eine unglaubliche Power, die wir nutzen wollen. Wir können was bewegen!“

Und Do Architects meinen es mit ihrem programmatischen Büronamen wirklich ernst: In regelmäßigen Abständen veranstalten sie im öffentlichen Raum und in irgendwelchen Innenhöfen Feste, Picknicks und Bauernmärkte. Sie nehmen Kontakt zu Fonds, Rechtsanwälten und Immobilienentwicklern auf und halten Workshops zum Thema Architektur und Stadtkultur ab – denn: „Wir müssen die Macherinnen und Macher in der Immobilienbranche dringend sensibilisieren – dahingehend, dass sie nicht nur Grundstücke verwerten, sondern die Stadt weiterbauen und damit eine große kulturelle und gesellschaftliche Verantwortung tragen.“

Und als wäre das alles nicht genug, hat sich das Büro bei seiner Gründung 2013 vorgenommen, alle drei Jahre zu übersiedeln und jeweils ein neues Stadtentwicklungsgebiet in Angriff zu nehmen oder eine vergessene, verwaiste Stadtbrache mit seiner Präsenz wachzuküssen. Die letzte Übersiedlung führte sie nach Vilkpėdė, rund fünf Kilometer außerhalb der Altstadt.

„Seit ein paar Monaten sind wir nun an unserem insgesamt vierten Standort“, sagt Grincevičiūtė, „und zwar in einer ehemaligen Betonfabrik im Südwesten der Stadt. Nachdem die Produktion aufgelassen wurde, war es hier still und leer. Wir waren die Ersten vor Ort, haben bereits einige Kreative anlocken können und betreiben auch einen Veranstaltungsraum, den wir zu diversen Zwecken an Externe weitervermieten.“ Mittlerweile ist Betono Fabrikas ein stadtbekannter Hotspot in der Kulturszene.

Unterrepräsentierte Frauen

Für ihre außergewöhnlichen Leistungen wurde Sabina Grincevičiūtė am Donnerstag in der Akademie der bildenden Künste Wien mit dem verbal-phonetischen nicht ganz einfachen Anotherviewture Award ausgezeichnet. Das bissl verkopfte Kofferwort birgt das englische „her view“ im Namen und hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur die weibliche Perspektive auf das Bauen anschaulich zu machen, sondern auch planerisch beeindruckende Leistungen von Architektinnen, Stadtplanerinnen und Ziviltechnikerinnen vor den Vorhang zu holen.

„Es gibt tolle Frauen, die im Bereich des Planens und Bauens viel bewegen, aber in vielen Ländern ist der Anteil weiblicher Architekturschaffenden in den Medien und in der Berufspraxis immer noch massiv unterrepräsentiert“, sagt Bettina Dreier, Architektin in Graz und innerhalb der Länder- und Bundeskammer Arch+Ing Vorsitzende des Ausschusses der Ziviltechnikerinnen – mit kleinem „i“, wie sie betont, denn dieser Ausschuss widmet sich ausschließlich den Anliegen und der Sichtbarmachung der Frauen.

Vor einigen Jahren startete Dreier mit ihrem Kolleginnenteam eine Initiative unter dem Titel Yes We Plan!. In Kooperation mit Deutschland, Frankreich, Spanien und Slowenien wurde die aktuelle Situation von Architektinnen und Ziviltechnikerinnen analysiert – mit einem erschreckenden Ergebnis: 52 Prozent aller Architektur- und Bauingenieur-Absolventen in Österreich sind weiblich (Stand 2019). Unter den insgesamt 5741 beeideten Architekturschaffenden jedoch beträgt der Frauenanteil dann nur noch 15,2 Prozent. Damit ist Österreich hinter Frankreich (28,6 %), Spanien (31,5 %), Deutschland (33,1 %) und Slowenien (45,2 %) trauriges Schlusslicht.

Ein ganzes Bündel an nationalen und internationalen Maßnahmen soll nun dafür sorgen, dass sich die Situation bessert: Ausstellungen, Publikationen, Symposien und nicht zuletzt der erstmals verliehene Anotherviewture Award, der in Anlehnung an den französischen, schon längst etablierten Prix des Femmes Architectes von der Arch+Ing-Kammer ins Leben gerufen wurde. Zu den österreichischen Preisträgerinnen, die sich ebenfalls über 5000 Euro Preisgeld freuen dürfen, zählen Barbara Poberschnigg, Catharina Maul und Carla Lo. Der ΔTANDARD gratuliert – und hofft, dass dieser Preis eines Tages absurd erscheinen wird.

Der Standard, Sa., 2022.10.22

01. Oktober 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Der Glücklichmacher

Karl Schwanzers BMW-Hochhaus in München ist 50 Jahre alt. Filmemacher Max Gruber und Schauspieler Nicholas Ofczarek widmen dem Ausnahmearchitekten eine Hommage. Und was für eine!

Karl Schwanzers BMW-Hochhaus in München ist 50 Jahre alt. Filmemacher Max Gruber und Schauspieler Nicholas Ofczarek widmen dem Ausnahmearchitekten eine Hommage. Und was für eine!

Sobald wieder ein Stockwerk am Boden zusammengebaut war, zeiteffizient und auf den Millimeter genau, wurde es an den rund 80 Meter langen Stahlseilen um ein paar Meter nach oben gezogen und hydraulisch nach oben gepumpt, und die nächste Etage war dran. Damit hat Karl Schwanzer die Gesetzmäßigkeiten von Architektur und Schwerkraft komplett auf den Kopf gestellt: Der 22. Stock wurde zuallererst montiert, der erste zuallerletzt. Architektur ist ja nicht etwas Statisches, sondern wird erlebt.

Das 1972 fertiggestellte BMW-Hochhaus am Petuelring im Norden Münchens ist laut DIN-Norm kein Gebäude, sondern eine Hängebrücke. Um das Gewicht der einzelnen Bauteile zu reduzieren, hat Schwanzer ausschließlich mit Leichtbauelementen gearbeitet. So wurde für die 2304 Fassadenelemente etwa – erstmals in Europa – ein Alugussverfahren eingesetzt, das Schwanzer auf einer seiner Reisen nach Japan entdeckt hat. Ohne völlige Hingabe an ein Werk ist keine Optimierung einer Leistung denkbar.

Die charakteristische Schrägstellung der Fenster ist nicht etwa gestalterische Willkür, sondern hatte die Aufgabe, den Raumschall von Tippen und Telefonieren, aber auch den eindringenden Straßenlärm gegen die Akustikdecke zu lenken, ehe er abgedämpft auf die Arbeitsplätze zurückreflektiert wurde. Das Streben nach der besten Lösung, nach Vollkommenheit ist dem menschlichen Wesen zutiefst inhärent.

Sogar schon in der Wettbewerbsphase landete Schwanzer einen Coup. Um den damals noch skeptischen BMW-Vorstand vom Entwurf und vor allem von der runden Konstruktion zu überzeugen, ließ er in den Bavaria-Filmstudios auf eigene Kosten eine ganze Büroetage als 1:1-Modell aufbauen – mit Fassade, Möblierung, Schreibmaschinen, Münchner Fotopanorama und einer ganzen Crew an Schauspielerinnen und Statisten. Eine Million Schilling kostete ihn das taktische, wiewohl erfolgreiche Unterfangen. Die Architekturgeschichte zeigt, dass für großzügige Lösungen auch Opfer erbracht werden müssen.

Bis heute ist der „BMW-Vierzylinder“, seit 1999 unter Denkmalschutz stehend, eine der wichtigsten Ikonen europäischer Nachkriegsarchitektur – und zudem ein absoluter Pionier in Sachen Büroarbeit und Corporate Architecture. Aber hat ein Haus nur die Funktion, den Menschen drinnen zu dienen – und nicht auch den vielen, die es von außen erleben und anzusehen haben? Das Haus als Erscheinung, wie es die Umwelt bestimmt, gehört uns allen.

Rechtzeitig zum 50. Geburtstag des Vierzylinders hat der österreichische Filmemacher Max Gruber, der vor drei Jahren bereits mit seinem genialen Comic Schwanzer. Architekt aus Leidenschaft auf sich aufmerksam gemacht hatte, nun einen Dokumentarfilm gedreht, der den Wahnsinn dieses Projekts und die unendliche Passion Schwanzers anschaulich macht. Wenn man sich entschlossen hat, Architekt zu sein, muss man den Mut aufbringen, Visionen erfüllen zu wollen.

„Schwanzer steht für eine große künstlerische Kraft, für eine dramatische, aber undogmatische Suche nach tiefer Wahrhaftigkeit“, sagt Gruber. „Mich fasziniert, wie ganzheitlich er gedacht und gearbeitet hat. Auf der einen Seite war er ein Poet, hat Texte und Lyrik geschrieben, auf der anderen Seite war er ein grandioser Manager und hat damals schon ein Büro mit mehr als 100 Mitarbeitern geschupft. Er war ein Billy Wilder der Architektur!“ Oft werde ich gefragt: Was ist Ihre Spezialisierung? Meine Spezialisierung ist die Mehrgleisigkeit, die ins Weite führt.

Die 73-minütige Doku basiert auf aktuellen Bildern, historischem TV-Material und bislang unveröffentlichten Super-8-Filmen aus dem privaten Archiv. Zu Wort kommen ehemalige Studenten und Mitarbeiterinnen Schwanzers, aber auch BMW-Leute und zeitgenössische Kommentatoren. Und dann ist da noch ein nachdenklich dreinblickender Nicholas Ofczarek, Hornbrille und Stecktuch, in der Verkörperung des 1975 verstorbenen Ausnahmearchitekten. Dass niemand an die Denkmäler von morgen denkt! Das aber ist unser Auftrag, den wir von der Geschichte bekommen haben – dass wir Architekten Spuren hinterlassen.

„Ich bin kein Architekt, und ich nehme mir nicht das Recht, mir ein Urteil über seine Bauten zu bilden“, sagt Ofczarek im Interview mit dem ΔTANDARD. „Aber die Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit entfaltet einen Sog, dem man nicht widerstehen kann. Wie dieser Mann gedacht hat und wie er formuliert hat, was Architektur, Kunst und Schönheit anbelangt, ist für jeden kreativen – und auch unkreativen – Menschen eine große Inspiration. Der Versuch, ins Unbekannte vorzustoßen, erfordert den Mut zur Unvollkommenheit – wie den zum Besseren.

„Ich kannte zwar das Philips-Haus und natürlich auch das 20er-Haus im Schweizergarten, aber wirklich kennengelernt habe ich Schwanzer letztendlich über seine Texte“, meint Ofczarek. „Der Charakter formt sich energetisch in dem, was der Mensch gesagt hat und was in Schrift und Sprache materialisiert ist. Wenn man auf diesen Inhalt vertraut, schafft man es, zum Wesen vorzudringen. Ich glaube, ich bin Schwanzer nähergekommen.“ Das Abtauchen in die eigene Tiefe, der Wahrheit auf den Grund gehen, das kann man nur selbst.

Max Gruber, Nicholas Ofczarek und den zu Wort kommenden Zeitgenossen ist es gelungen, Schwanzer in einer großen Vielschichtigkeit zu porträtieren – als Architekten, Manager, Lehrer, als leidenschaftlichen Visionär und unermüdlichen Workaholic, als einen, der es versteht, das Künstlerische und Programmatische mit dem Unternehmerischen und Pragmatischen zu verbinden. Nur wenige Menschen sind zu Spitzenleistungen prädestiniert. Diese Auswahl ist die Macht des Schicksals.

Der Film hilft zu verstehen, was früher einmal war und heute nicht mehr ist. Nämlich die Überzeugung, dass Architektur die Welt nicht nur zubaut, sondern sie auch ein Stückchen schöner und besser macht. Wie sagte doch Karl Schwanzer?Die Architekten besitzen ein Instrument, Menschen glücklich zu machen.

„Er flog voraus. Karl Schwanzer. Architektenpoem“. Premiere am Dienstag, 4. Oktober, im Gartenbau-Kino, 19.30 Uhr, in Anwesenheit von Max Gruber und Nicholas Ofczarek. Regulärer Kinostart in Österreich: 14. Oktober.

Der Standard, Sa., 2022.10.01

17. September 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Das überalle Klassenzimmer

Diese Woche war Schulbeginn in Oberösterreich. Das Oberstufengymnasium Rose in der Tabakfabrik Linz ist ein exotischer, mit der Stadt vernetzter Ausreißer. Ein Lokalaugenschein.

Diese Woche war Schulbeginn in Oberösterreich. Das Oberstufengymnasium Rose in der Tabakfabrik Linz ist ein exotischer, mit der Stadt vernetzter Ausreißer. Ein Lokalaugenschein.

Ich war früher in einer HTL für Hoch- und Tiefbau“, sagt Tobias Lammer, 18 Jahre alt, seit wenigen Tagen Schüler in der achten Klasse, „und da war das pädagogische Konzept ganz klar: „Ich Lehrer, ich bin der G’scheite, und ihr Schüler, ihr seids die Depperten.„ So macht Lernen doch keinen Spaß, oder?“ Tobias sitzt auf einer vorgestrig gemusterten Oma-Couch, neben ihm ein übermaltes Nachtkastl aus dem Vintageladen, vor ihm eine Vase mit einer Sonnenblume drin. „Doch dann wurde mir die Rose empfohlen, alles andere als eine klassische, konventionelle Regelschule. Es ist ein pädagogisches Konzept auf Augenhöhe. Und der Raum, der ist richtig cool.“

Rose – das ist die Abkürzung für „Reformpädagogisches Oberstufenrealgymnasium Steyr der Evangelischen Kirche“, und vom S wie Steyr darf man sich nicht irritieren lassen, denn da war die Privatschule bis vor kurzem beheimatet. Vor wenigen Monaten jedoch übersiedelte man nach Linz, genauer gesagt in die ehemalige Tabakfabrik von Peter Behrens und Alexander Popp, einen denkmalgeschützten Industriebau aus den frühen 1930er-Jahren, den ersten Stahlskelettbau Österreichs. Im Erdgeschoß des ehemaligen Zollwarenlagers, des heutigen Haus Havanna, hat sich die Rose auf nunmehr 675 Quadratmetern eingemietet. Und zwar so richtig cool.

Über ein paar Stufen gelangt man vom Innenhof der Tabakfabrik auf eine vorgelagerte Terrasse, von dort in ein riesiges Loft, das lediglich von ein paar gläsernen Trennwänden und simplen Tischlereinbauten aus Schichtsperrholz mehr atmosphärisch denn akustisch zoniert und gegliedert wird. Dazwischen immer wieder Bauernschränke, Ohrenfauteuils, Thonet-Sessel und diverse Kleinmöbel, die das Mid-Century-Herz höherschlagen lassen. Es ist, als würde man einen Coworking-Space oder eine abgerockte Berliner Werbeagentur durchschreiten.

Keine Sonderräume

Erster Schultag im neuen Wintersemester 2022: Rund hundert Schülerinnen und Schüler sind heute in die Rose gekommen, manche mit besonderen Bedürfnissen, andere mit besonderen Talenten. Sie lümmeln gemütlich in der Ecke, tragen Hoodies mit der Aufschrift „Out of space“, so wie Tobias, sitzen auf den Tischen, lesen, lernen, trinken, essen, erzählen sich Highlights aus den Sommerferien, besprechen die morgige Klassensprecherwahl, stimmen gerade über die Schulordnung fürs kommende Semester ab, und auch über die Lernaufträge, die bis Ende September erfüllt werden müssen. Man muss schon genauer hinschauen, um in der Menge der Jugendlichen den sogenannten Lehrkörper auszumachen.

Doch irgendetwas fehlt. Und bald wird man feststellen: Die Rose hat keine Aula, keine Direktion, kein Lehrerzimmer, keine Bibliothek, keinen Festsaal, keinen Musiksaal, keinen Zeichensaal, keinen Werkerziehungssaal, keinen Turnsaal, keinen Speisesaal, keinen Chemiesaal für gefährliche H2 SO4 -Experimente. „Und genau das ist der Grund“, meint Michael Zinner, Schulraumforscher und Vorstandsmitglied im Evangelischen Schulerhalterverein der Rose, „warum wir uns für diesen besonderen Standort in der Tabakfabrik entschieden haben.“

Denn anstatt die Schule mit all diesen kostspieligen und die überwiegende Zeit ungenutzten Sonderräumen auszustatten, was im Rahmen der monatlichen Schulgelder ohne Großsponsor auch gar nicht finanzierbar gewesen wäre, gibt es Nutzungsvereinbarungen und Vereinsmitgliedschaften mit den benachbarten, in die Tabakfabrik eingemieteten Start-ups, Maker-Spaces, Unternehmen, Institutionen und universitären Bildungseinrichtungen.

In der Grand Garage können die Jugendlichen auf Fotostudios, Werkstätten, Hightech-Labore, Computerarbeitsplätze und 3D-Drucker zurückgreifen. Größere Technologieprojekte gehen an der Johannes-Kepler-Universität und im Ars Electronica Center über die Bühne. Die Modeklasse der Kunstuniversität Linz stellt ihre Studios und Textilateliers zur Verfügung. Im Festsaal der Tabakfabrik und des benachbarten Kulturhofs können größere Veranstaltungen stattfinden. Das Mittagessen kommt auf Wunsch von einem der vielen Lokale am Areal im Riesenkochtopf angerollt. Und zum Turnen gehen die Jugendlichen ins Martial-Arts-Studio nebenan, in die Pädagogische Hochschule oder einfach nur über den Zebrastreifen an die Donau.

Omniloziertes Lernen

„Wir sind zwar eine kleine, einfache Schule“, sagt Zinner, der nebenbei das architektonische Herzstück geplant und die ökologiezertifizierten Holzmöbel und Raum-in-Raum-Module entworfen hat, Gesamtinvestitionsvolumen 240.000 Euro, ein absolutes Low-Budget-Projekt, das sich nur ausgegangen ist, weil ein paar Eltern Tische zusammengeschraubt und Holzoberflächen eingeölt haben. „Aber dafür sind wir umgeben vom schönsten Klassenzimmer, das man sich nur vorstellen kann, mit bester technischer Infrastruktur und vielen tollen Synergieeffekten. Aus dem dislozierten Unterrichten wird ein omniloziertes Lernen.“

In der heutigen Gesellschaft, sagt Ulrike Schmidt-Zachl, pädagogische Leiterin der Rose, die unter anderem von der Future-Wings-Privatstiftung unterstützt wird und die sich an der renommierten Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) orientiert, gebe es einen enormen Bedarf an Veränderung. „Mit unserem räumlichen, funktionalen und pädagogischen Konzept kriegen die Schülerinnen und Schüler jeden Tag hautnah mit, wie Vernetzung, wie Kooperation, wie Kollaboration, wie städtische Gesellschaft und wie Kommunikation auf Augenhöhe funktionieren. Wenn sie das lernen und in ihrem späteren Berufsleben umsetzen und weiterentwickeln, dann haben wir schon viel erreicht.“

Charlie, ein Labradormischling, einer von insgesamt drei Schulhunden, die hier den ganzen Schultag genüsslich auf und ab spazieren, hat es sich gerade gemütlich gemacht, will von Mirjam Katzensteiner, Maturaklasse, offenbar am Kopf gestreichelt werden. „Im Biologieunterricht“, sagt sie, „haben wir letztes Semester Augen seziert und wochenlang den Verschimmelungsprozess von Toastbrot analysiert und dokumentiert. Wo gibt es das schon! Dafür haben wir halt keine Klassenräume mit Tür, es kann ganz schön laut werden, und manchmal geht’s ein bissl chaotisch zu. Na und!“

Die Rose, ein dritter Pädagoge mit Schönheit und Stachel, irgendwie „out of space“. Besser kann man Schule nicht machen.

Der Standard, Sa., 2022.09.17



verknüpfte Bauwerke
Evangelisches Oberstufenrealgymnasium ROSE

20. August 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Im Tempel der Nüchternheit

In Teil 3 unserer Sommerserie reisen wir nach Nancy: Das 1954 errichtete Privathaus des Architekten Jean Prouvé steht zwar unter Denkmalschutz, doch sein Zustand ist ein sehr trauriger.

In Teil 3 unserer Sommerserie reisen wir nach Nancy: Das 1954 errichtete Privathaus des Architekten Jean Prouvé steht zwar unter Denkmalschutz, doch sein Zustand ist ein sehr trauriger.

Geht zum Regal und nimmt eine Ausgabe der Zeitschrift AMC Revue d’Architecture zur Hand, Juni 1984, 80 Franc das Heft. „Hier ist es, Seite 54, genau danach habe ich gesucht.“ Luc Bonaccini, 57 Jahre alt, zerzauste Haare wie ein Professor, blättert hin und her, mal zum Text, dann zum Interview, schließlich zu den Plänen und Schwarz-Weiß-Fotografien. „Auf den Artikel über dieses Haus hier bin ich während meines Architekturstudiums gestoßen: Maison Jean Prouvé in Nancy. Es war Liebe auf den ersten Blick. Eines Tages, dachte ich mir damals, will ich das Haus von innen sehen. Und jetzt das: Ich wohne hier!“

Bonaccini ist Architekt, genauer gesagt Mitarbeiter im regionalen Architektur-, Stadtplanungs- und Umweltberatungsamt CAUE im Département Meurthe-et-Moselle. Vor 17 Jahren ist er von Straßburg nach Nancy gezogen, nahm seinen neuen Job im öffentlichen Dienst an und bekam von der Stadt Nancy ausgerechnet die Maison Jean Prouvé, Rue Augustin Hacquard 4–6, zur Miete angeboten. „Ich und dieses Haus! Ich konnte es kaum glauben! Die einzige Auflage war, dass ich mich um das Haus kümmern und es bei Bedarf einmal pro Woche für Besucher zugänglich machen müsse. Nichts leichter als das!“

Das Privathaus von Jean Prouvé, 1954 im Nordwesten von Nancy errichtet, ist eines der wenigen, erhaltenen Gebäude des französischen Ausnahmearchitekten. Während im Europa der Nachkriegszeit vor allem mit Beton gebaut und mit Nierentischen und pastelligen Farbtönen eine Renaissance der Gute-Laune-Heimat zelebriert wurde, experimentierte Prouvé in seinen Haus- und Möbelentwürfen mit industrieller Vorfertigung und gezielter Einsparung von Gewicht, Baustoffen und energetischen Ressourcen. Je weniger Material, je weniger Handgriffe, je weniger Komplexität, desto besser.

Im Zeichen der Multiplikation

Zu Beginn befasste sich der ausgebildete Kunstschmied und Metallarbeiter mit Reparaturen und historischen Rekonstruktionen. Seinen Durchbruch erzielte der autodidaktische Architekt und Möbelbauer 1931 mit seinem Wettbewerbsentwurf für die Möblierung der Cité Universitaire de Nancy. Von da an ging es steil bergauf: Für die französischen Kolonialstaaten in Westafrika entwickelte er günstige, aber robuste Schulmöbel, hinzu kamen Betten für Sanatorien und Internate, die zu Zehntausenden produziert und exportiert wurden.

Auch seine modular aufgebauten Architekturprojekte standen im Zeichen der Multiplikation, etwa 100 Tankstellenhäuschen in Frankreich sowie 600 Schulklassen in Kamerun. Zeitweise hatten Les Ateliers Jean Prouvé bis zu 200 Mitarbeiter in der Produktion.

„Sein Vermächtnis ist gigantisch“, sagt Luc Bonaccini, in der Hand eine Tasse Tee, während er an seinem Wohnzimmertisch sitzt, ein Entwurf von Jean Prouvé, was sonst. „Er war ein Superstar, der sich aber stets in den Dienst des Produkts, der industriellen Fertigungstechnik und einer gewissen Demokratisierung der einst unerschwinglichen Möbel- und Architekturdisziplin gestellt hat. Es ist eine Ehre, hier wohnen zu dürfen. Aber nein, es ist nicht immer leicht.“

Am 1954 errichteten Haus, das von Prouvé und seiner Familie in nur wenigen Monaten ohne Unterkellerung und ohne umfassende Hangsicherung wie ein modulares Fertighaus zusammengeschraubt wurde, nagt der Zahn der Zeit. Die charakteristischen Bullaugenpaneele aus Aluminium sind verbeult und zum Teil undicht, die vertikalen Fensterläden, die sich in der Brüstung versenken lassen, stecken fest, an den Fenstern sammelt sich Kondensat.

„Doch das größte Problem“, sagt Bonaccini, „ist die sommerliche Hitze. Das Holz-Blech-Dach ist nur wenige Zentimeter dick und so leicht, dass Prouvé im Wohnzimmer eine Säule einbauen musste – und zwar nicht, um das Gewicht zu tragen, sondern um das Dach vor dem Wegfliegen zu sichern.“ Die Temperaturunterschiede haben dem Bauwerk, das seit 1987 unter Denkmalschutz steht, ordentlich zugesetzt. Durch das starke Schwinden und Dehnen sind die Türen, Paneele und Holzverkleidungen vielerorts gerissen.

„Wir sind uns der Schönheit und Besonderheit des Hauses sehr bewusst, umso mehr schmerzt uns der bedauerliche Zustand“, sagt Kenza-Marie Safraoui, Kuratorin für Kulturerbe und zuständig für die Museen der Stadt Nancy. „Leider sind uns in der Museumsverwaltung die Hände gebunden, denn das Haus befindet sich im Eigentum der Stadt. Das Haus wird vermietet, wir hätten viele gute Ideen, haben aber leider keinen Zugriff darauf. Die Situation ist vertrackt.“

Und was sagt Vitra zu alledem? Vor 20 Jahren hat das deutsche Nobelmöbelhaus mit Sitz in Weil am Rhein bei Basel die alten Entwürfe von Jean Prouvé aus den Archiven gehoben und mit Prouvés Erben Kontakt aufgenommen, um den Nachlass des radikalen Avantgardisten in die Vitra-Produktlinie aufzunehmen. Der Stuhl Standard , der Fauteuil Direction , der EM Table und die Wandleuchte Potence werden seit vielen Jahren erfolgreich verkauft. Erst kürzlich stellte Vitra im Rahmen einer Pressereise ein neues Produkt vor – den blitzblauen Lounge-Chair Kangourou , ein Entwurf aus dem Jahre 1948.

Das Herz blutet

„Die Wiederentdeckung des fast verschollenen Jean Prouvé im Jahr 2002 war der Beginn einer Lovestory“, sagt Christian Grosen, Head of Design bei Vitra. „Prouvés Arbeit hat viele Künstler, Designer und Architekten inspiriert. Er zählt ohne jeden Zweifel zu den größten und wichtigsten Pionieren des 20. Jahrhunderts. Uns blutet das Herz, dass ausgerechnet sein eigenes Privathaus in so einem schlechten Zustand ist. Es wäre toll, wenn man das Haus wieder in Schuss bringen könnte.“

Die einen sind Besitzer eines Kulturdenkmals und mit dem Erhalt des Objekts sichtlich überfordert. Die anderen haben einen großen Schatz geborgen und sind in den letzten 20 Jahren zu wahren Prouvé-Connaisseurs aufgestiegen.

Möge dieser Text als Anstoß dienen, die Kräfte und Budgets zu bündeln und das angedepschte Schmuckkästchen in der Rue Augustin Hacquard zu sanieren und einer öffentlichen Nutzung zuzuführen – ob als Museum, Artists-Residency oder Vitra-Hotel für Fans des nüchternen Strichs. Wie sagte doch Prouvé? „Partir du détail pour arriver à l’ensemble.“ Im Kleinen anfangen, um zu einem Ganzen zu gelangen.

Hinweis: Die Reise nach Nancy erfolgte auf Einladung von Vitra.

Der Standard, Sa., 2022.08.20

06. August 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Die Verchipperfieldisierung Berlins

Im August begeben wir uns auf eine Reise durch Europa. Teil eins: Berlin, das in den letzten Jahren durch einen Architekten besonders stark geprägt wurde. Aber was macht David Chipperfield so deutsch? Und warum fügt sich seine Handschrift so gut in diese Stadt?

Im August begeben wir uns auf eine Reise durch Europa. Teil eins: Berlin, das in den letzten Jahren durch einen Architekten besonders stark geprägt wurde. Aber was macht David Chipperfield so deutsch? Und warum fügt sich seine Handschrift so gut in diese Stadt?

Über ihr ein alter, verrosteter Kran, an schweren Ketten von der Decke hängend, daneben eine ganze Batterie an Schläuchen und Spritzdüsen, die ehemalige Glasreinigungsanlage. „Sehen Sie die alten Mörtelfugen? Die gusseisernen Säulen? Die vielen Spuren von Fenstern, Gewölbedecken und Mauerdurchbrüchen, die man im Putz noch so wunderbar erkennen kann?“ Annette Hähn deutet durch die Glastür in die Halle. Die Zufriedenheit mit ihrem Arbeitsplatz ist ihr ins Gesicht geschrieben. „David Chipperfield hat schon das Neue Museum auf der Museumsinsel gebaut und die Neue Nationalgalerie saniert, und jetzt arbeiten auch wir in einem Chipperfield-Bau. Schon toll, oder?“

Nach der Wende stand die in den 1880er-Jahren errichtete Bötzow-Brauerei am Prenzlauer Berg, nur wenige Gehminuten vom Alexanderplatz entfernt, lange Zeit leer, ehe sie mehrere Male den Besitzer wechselte und schließlich 2010 in den Händen von Hans Georg Näder, Eigentümer der Ottobock SE, landete. Das niedersächsische Unternehmen ist auf die Herstellung von Prothesen, Orthesen, Exoskeletten und High-End-Rollstühlen spezialisiert – und hat beschlossen, das denkmalgeschützte Areal zu sanieren und sich hier mit Teilen der Verwaltung und einer Forschungsabteilung für Rollstühle anzusiedeln.

„Wir sind ein traditionsreiches Unternehmen, das seit über hundert Jahren besteht und sich seit seiner Gründung durch technische Innovation auszeichnet“, sagt Hähn, Assistentin am Berliner Standort von Ottobock, während sie den Journalisten durch die sanierte Brauerei begleitet und ihn auf eine kleine materialkundliche Entdeckungsreise entführt. Überall Stahl, Glas, nackter Beton, grober Reibputz an den Wänden, ockerfarbene, eigens für dieses Projekt gebrannte Ziegelklinker an der Fassade. „Auch in unsere Produkte kann man hineinblicken, ihnen die Funktionsweise ansehen und verstehen, wie sie beschaffen sind und welchen Zweck sie erfüllen. So gesehen, denke ich, passt die Architektur gut zu uns.“

In den kommen Jahren – die Grundplatten werden bereits betoniert – werden auf der noch unbebauten Freifläche, Prenzlauer Allee 242, drei Neubauten für Wohnen und Arbeiten errichtet, eingebettet in einen grünen Campus, geplante Fertigstellung Ende 2024. Damit ist die Bötzow-Brauerei – nach einem gefühlten Dutzend stadtprägender, gestaltgebender Chipperfield-Bauten in ganz Berlin – ein weiteres Riesenprojekt aus der Feder des britischen Neoklassizisten, der seit fast 25 Jahren ein Schwesternbüro in der deutschen Bundeshauptstadt betreibt. Mittlerweile ist die Berliner Dependance mit 140 Mitarbeitern phasenweise sogar größer als das Mutterbüro in London.

Der einzige Stararchitekt?

Gegründet wurde das Berliner Büro 1998 anlässlich des gewonnenen Architekturwettbewerbs für die Sanierung des Neuen Museums. In der Zwischenzeit wurden von hier aus bereits einige Hundert Projektplanungen in ganz Europa begleitet und betreut, ein Teil davon in und für Berlin – neben dem Neuen Museum beispielsweise die James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel, die Galerie am Kupfergraben, das Gropius-Ensemble, der Umbau des Ullstein-Verlags in der Friedrichstraße, der eigene Bürocampus in der Oranienburger Vorstadt oder zuletzt die Generalsanierung der Neuen Nationalgalerie von Ludwig Mies van der Rohe.

„Er baut viel in Berlin, ist oft in der Zeitung und im TV zu sehen“, sagt Annette Hähn. „Ich habe sogar das Gefühl, dass Chipperfield unter den Berliner Architekten der prominenteste ist, derjenige, der auch in der breiten Bevölkerung am häufigsten in Erscheinung tritt. Mich freut seine Präsenz insofern, als ich ihn, soweit ich das als Nichtarchitektin überhaupt beurteilen kann, für einen sehr sensiblen Architekten halte. Er eckt nicht an, er provoziert nicht, er ist einfach nur bestrebt, Schönheit zu erschaffen.“

In Fachkreisen ist immer wieder das spitze Bonmot zu hören, dass Chipperfield, obwohl in London zu Hause und im Besitz eines britischen Reisepasses, der berühmteste, wenn nicht sogar einzige Stararchitekt Deutschlands sei – bekannter, schillernder und einzigartiger im Auftreten als ein Gunter Henn, ein Werner Sobek, ein Meinhard von Gerkan. Aber was macht ihn so deutsch? Warum fügt sich seine Handschrift so gut in diese Stadt?

Unkompromittierte Häuser

„Die Arbeit am Neuen Museum war mit Sicherheit ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer eigenen Architekturhaltung des Berliner Büros“, sagt Alexander Schwarz, Partner bei David Chipperfield Architects und Leiter der deutschen Niederlassung. „Am Neuen Museum lässt sich beispielhaft ablesen, wie Berlin beschaffen ist. Es ist gebrochen, fragmentarisch, im stetigen Wandel, in einer bis heute noch immer nicht abgeschlossenen Transformation befindlich. Dieser Umgang mit Leerstellen, diese Sehnsucht nach dem Weiterschreiben der Stadt ist ohne Zweifel ein Motor unseres Schaffens. Das passt gut zu Berlin.“

Oft finden sich dort Ziegel, roher Beton und sandfarbener Stein. Häufiger zumindest als bei den Projekten in München, London, New York, Ottawa oder Shanghai. Auch in Wien befindet sich das dritte Chipperfield-Projekt – nach dem Peek-&-Cloppenburg-Gebäude auf der Kärntner Straße und einem Hotel in Margareten – in Bau. Es handelt sich um Luxusvillen in Hietzing.

„Nein, wir wollen keine Bildebene bedienen, und wir betreiben auch keine metaphorische Architektur“, meint Schwarz. „Was wir machen, ist hochwertiges, langlebiges Bauen, das sich gut ins Umfeld fügt. Das ist selten laut und meistens zeitlos elegant. Und als Reaktion auf den Charakter dieser Stadt ist unsere Architektursprache in Berlin wahrscheinlich klassischer und klassizistischer als anderswo.“

Die nächsten Projekte sind bereits in Bau, darunter etwa der Jannowitz-Tower an der Jannowitzbrücke in Berlin-Mitte, eine 75 Meter hohe Landmark direkt an der Spree. In der Berliner Öffentlichkeit ist das Projekt bereits weitgehend bekannt. Über weitere Bauvorhaben, die sich bereits in der Pipeline befinden, wird vorerst noch nicht gesprochen. Paris hatte seinen Baron Haussmann, Ljubljana seinen Plečnik, Barcelona seinen Gaudí. Sind wir nun Zeugen einer Berliner Verchipperfieldisierung?

„Das halte ich für übertrieben“, meint Alexander Schwarz. „Doch Fakt ist: Es ist schwierig, in Deutschland herausragende Bauten hinzustellen, denn die Gesetzeslage und Mentalität führt zwar zu einer Kultur der hohen Nivellierung – allerdings mit wenig Luft nach oben für Extravagantes. Dass es ausgerechnet uns gelungen ist, hier so viele unkompromittierte Häuser zu realisieren, steht für das radikale Understatement unserer Herangehensweise.“ Wie Berlin wohl in den kommenden 25 Jahren Gestalt annehmen wird? Abwarten und Tee trinken.

Der Standard, Sa., 2022.08.06

23. Juli 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Der geschrumpfte Baumeister

Der bayerische Architekt Max Otto Zitzelsberger macht zwar immer wieder auch richtig große Häuser, doch die meisten seiner Projekte baut er en miniature. Wie schön! Aber warum eigentlich?

Der bayerische Architekt Max Otto Zitzelsberger macht zwar immer wieder auch richtig große Häuser, doch die meisten seiner Projekte baut er en miniature. Wie schön! Aber warum eigentlich?

Die Wände aus Wellpappe und Büttenpapier, vor dem Haus ein Kilo Sand und Kieselsteinchen, eine Vegetation aus Lavendel, Schafgarben und getrocknetem Lampenputzergras. „Meist stammen die Bäume und Sträucher von einem schönen Feldblumenstrauß, den meine Frau bekommen hat, manchmal sogar von mir. Nachdem der Strauß in der Vase nach Wochen komplett vertrocknet ist, heißt es kurz vor der Entsorgung: Schatz, kannst du damit noch was anfangen?“

Und ob er das kann! Für Max Otto Zitzelsberger, Architekt in der bayerischen Pampa, sind die kleinen Dinge und Reststoffe unseres täglichen Wohnens und Arbeitens wertvolle Baumaterialien. Aus Drähten, Eis-am-Stiel-Stäbchen und Papieren in allen erdenklichen Farben, Strukturen, Grammaturen entstehen Häuser, Anbauten, Umbauten, Schulen, Kindergärten, Bauernhöfe und Verkaufsschuppen für Metzger und Fleischereibetriebe. Bloß sind seine Bauwerke meist kleiner, als man es gewohnt ist, denn Zitzelsbergers Welt ist eine Welt im Maßstab 1:25.

„Ich mag das Kleine, das Winzige, und mein allererstes Projekt, das ich realisiert habe, war ein Hühnerstall mit drei Quadratmetern Grundfläche“, sagt der ausgebildete Architekt, der drei kleine Bürostandorte in Bayern leitet und an der TU Kaiserslautern eine Juniorprofessur für Tektonik im Holzbau innehat. Für seinen Schwiegervater, einen Bauern mit Hühnern und Puten, entwarf er 2011 einen hölzernen Massivbau mit zehn Zentimeter dicken Wänden, die aus Holzklötzchen wie in einem klassischen Ziegelverband aufgemauert wurden. Der Stall wurde in diversen Fachmedien veröffentlicht. „Ein kleines Projekt für den Menschen, ein großes Haus für das Huhn“, so Zitzelsberger.

Kleinheit dominiert

Und heute? „Das Kleine und Geschrumpfte ist in meinen Bauten immer noch ein dominanter Faktor, denn die Architektur im großen Maßstab stellt mich schon lange nicht mehr zufrieden“, sagt der 39-Jährige mit einer Mischung aus breitem Grinsen und tiefem Seufzen. „Der Beruf des Architekten hat sich stark gewandelt, es gibt kaum noch schöne Aufträge, in die man als junger Planer hineinwachsen kann. Wer heute als Architekt tätig ist, der ist eine Projektmaschine, die verhältnismäßig wenig kreativen Spielraum hat – dafür aber immer mehr über Normen, Haftung, Finanzierung, Kostengarantien und rechtliche Gefahren wissen und sich um Verträge kümmern muss. Das macht keinen Spaß.“

Stattdessen könne man dies als Chance sehen, um das Gebiet der Baukultur neu zu definieren. „Jedes Gebäude, das errichtet wird, ist immer nur das Modell einer ursprünglich perfekten Planungsidee, einer Utopie“, sagt Zitzelsberger – und stimmt damit in den Kanon nichtbauender Architekten wie etwa Yona Friedman, Raimund Abraham, Friedrich Kiesler, Lebbeus Woods, Paul Laffoley oder Wolfgang Tschapeller ein. „Mit dem Bauen muss man den Perfektionismus und Idealismus aufgeben und Kompromisse eingehen. Für mich aber sind diese vielen, vielen Kompromisse nicht mehr tragbar. In der Welt en miniature muss ich weniger Eingeständnisse machen, kann Baukultur betreiben, wie ich will.“

In dieser, seiner Welt, in der die Häuser meist nicht höher als 30 Zentimeter, die Grundstücke nicht größer als zwei Quadratmeter sind, entstanden in den letzten Jahren die Sanierung eines 60er-Jahre-Wohnhauses in Vötting, ein Wohnbau für einen gemeinnützigen Bauträger in Salzburg, die Erweiterung des historischen Rathauses in Sinzing bei Regensburg, das längst aus allen Nähten platzt, sowie die Umnutzung des ehemaligen Distlerhofs in Berngau, der in Zitzelsberger erfundenen Breitengraden nun als Gemeindebauhof mitsamt generationengerechtem Wohnen fungiert.

Eine seiner liebsten Utopien jedoch ist das Geschäftshaus für einen Metzger, das sogenannte Wurst-Haus in Floß in der Oberpfalz. Im Vordergrund stand die Errichtung eines „dekorierten Schuppens“ in der architekturhistorischen Definition von Robert Venturi und Denise Scott Brown – mit einem Dach aus Wellkarton, einer dekorierten Fassadenfront, überdimensionierten Buchstaben über der Attika und eigenwilligen Beschattungselementen, wie sie etwa in der Architektur von John Hejduk zu finden sind. Postmoderne pur, geschrumpft auf die Größe eines Wohnzimmercouchtischs.

Zauberwelt Modelleisenbahn

Manchmal finden die Projekte, die von Kommunen und Privatbauherren als Entwurfsideen und Bebauungsstudien in Auftrag gegeben werden, dann aber doch den Weg in den Maßstab 1:1, wenn auch nicht in überbordender Regelmäßigkeit. „Ich fühle mich in der fiktiven Miniaturwelt wohl“, sagt Zitzelsberger, dessen Minihäuser die schlichte Eleganz eines Architekturmodells und zugleich die Detailliebe einer Märklin-Modelleisenbahn aufweisen. „Doch wenn das Schicksal es will, dass ein Projekt groß gemacht werden soll, dann wehre ich mich nicht dagegen. Es ist schön, wenn sich das ab und zu ergibt.“

Zu diesen Zufällen zählen neben dem schwiegerväterlichen Hühnerstall auch eine kleine Pfarrgalerie, ein Wohnungsumbau, ein Buswartehäuschen, ein revitalisierter Stadl sowie die sogenannte Erkläranlage in Berngau, eine Art Ideenwerkstatt und Open-Air-Freiluftklasse für Kinder mit und ohne Behinderung, die auf dem Areal einer alten, mittlerweile ungenutzten Kläranlage realisiert wurde. Das Projekt – entstanden in Kooperation mit Nonconform, der Lebenshilfe Neumarkt und dem Sozialwissenschaftlichen Institut für regionale Entwicklung (SIREG) – wurde vielfach publiziert und war sogar für den DAM-Preis für Architektur 2021 nominiert.

Was also ist neben diesen wenigen, aber vielbeachteten Bauten der Motor fürs Nichtbauen? „Mit den politischen, wirtschaftlichen und klimatischen Krisen hat sich die Architektur radikal verändert“, sagt Max Otto Zitzelsberger mit einem verschmitzten Lächeln, in dem hie und da die Weisheit eines hochbetagten Architekturtheoretikers durchblitzt.

„Wir haben unser Gespür für Schönheit verloren, wir haben das Zepter an die Immobilienwirtschaft abgegeben, wir müssen erst wieder verstehen lernen, was uns Baukultur überhaupt noch wert ist. Solange wir die Antwort darauf nicht haben, gehe ich diesen Fragen in 25-facher Verkleinerung nach.“

Der Standard, Sa., 2022.07.23

25. Juni 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Lernen von den Schwammerln

Nach sieben Jahren Laufzeit erreicht die Internationale Bauausstellung Wien nun ihren Höhepunkt. Doch was ist die IBA Wien überhaupt? Und welches Vermächtnis wird sie uns hinterlassen haben?

Nach sieben Jahren Laufzeit erreicht die Internationale Bauausstellung Wien nun ihren Höhepunkt. Doch was ist die IBA Wien überhaupt? Und welches Vermächtnis wird sie uns hinterlassen haben?

Das Bettsofa Flottebo, 120 Zentimeter breit, gab es um wohlfeile 699 Euro, das Kommodensystem Bestå schlug mit 440 Euro zu Buche, und den kleinen, kompakten Esstisch Tommaryd konnten die Architekten aus dem Selbstbedienungslager um 219 Euro mit heimnehmen. Neben der Terrassentür hängt ein schwarz-weißes Rendering, so soll’s hier eines Tages mal ausschauen, glückliche Menschen sitzen auf einer Picknickdecke in der Wiese, umzingelt von Bäumen, an der Wand daneben sind ein paar Porträtfotos zu sehen, Kinderfotos aus dem historischen Fundus der hier involvierten Planerinnen und Architekten.

„Schon alles sehr weiß hier, ein bisschen zu weiß vielleicht, wenn man das mit einem realistischen Wohnalltag vergleicht, in dem es meist etwas wilder und chaotischer zugeht“, sagt Musterbewohnerin Klara, 26 Jahre alt, „aber durchaus schön und gemütlich. Und man kriegt eine Idee davon, wie diese Wohnung eines Tages aussehen könnte.“ Für Mustermitbewohner Bernhard (56) sind vor allem die Schiebewände ein Hit, denn mit einer einzigen Handbewegung, sagt er, wird man in der Lage sein, Wohn-, Schlaf- und Arbeitsbereiche je nach Bedürfnis, je nach Tageszeit zusammenzulegen oder akustisch und atmosphärisch voneinander zu trennen.

Die weiße Gerbera auf dem künstlich-klapsmühlig in Szene gesetzten Foto mag zwar echt sein, doch darüber hinaus ist hier – noch – nichts real. Denn die 52 Quadratmeter große Musterwohnung im Gemeindebau Neu in der Mela-Köhler-Straße 7, Baufeld H4B in der Seestadt Aspern, rundherum Bagger und behelmte Bauarbeiter unterwegs, geplante Fertigstellung Frühjahr 2023, ist lediglich ein erster früher Vorbote der flexiblen, experimentell erarbeiteten Grundrisse, die die WUP Architekten für den gemeinnützigen Bauträger Wigeba hier realisieren.

Mit seinen 74 Wohnungen – ein Drittel davon mit schiebbaren Wänden ausgestattet – ist der innovative Gemeindebau eines der Pilotprojekte, die im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Wien auf Schiene gebracht wurden und nun, von einem Qualitätsmonitoring begleitet, sukzessive umgesetzt werden. Nach sieben Jahren Projektzeit erreicht die IBA Wien damit ihren Höhepunkt. Seit vorgestern ist die finale IBA-Ausstellung Wie wohnen wir morgen? im IBA-Zentrum in der Nordwestbahnstraße, Brigittenau, zu sehen.

Vier-Zimmerchen-Wohnung

„Wohnen wird immer teurer, und wir stehen heute vor der immensen Herausforderung, dass sich viele Menschen – vor allem Alleinerziehende mit ein oder zwei Kindern – kaum noch eine ausreichend große Wohnung leisten können“, sagt Bernhard, Musterstatist in Weiß, Partner bei WUP Architekten, Weinberger mit Nachnamen. „Also haben wir im Prinzip eine Zwei-Zimmer-Wohnung entwickelt, die im Kreis begehbar und bei Bedarf mittels Schiebewänden im Nu in eine Vier-Zimmerchen-Wohnung umfunktioniert werden kann – mit einer kleinen Privatsphäre für jeden und für jede.“

Während selbst im günstigen, geförderten Wohnbau die Bestrebungen zunehmend in Richtung hoher Materialqualität gehen, begnügt sich der Gemeindebau in der Mela-Köhler-Straße mit Laminatböden, Kunststofffenstern und verzinkten Eisengeländern. Das materielle Hirnschmalz floss stattdessen in echt clevere Grundrisse, die mit Standardmöbeln und 60 Zentimeter tiefen Schrankwänden wohlfeil und intelligent einzurichten sind. „Im Fokus steht nicht die architektonische Ästhetik“, so Weinberger, „sondern das Raum- und Zimmerbedürfnis von Menschen in prekären Lebenssituationen.“ 7,50 Euro kostet die Miete pro Quadratmeter.

Die Entwicklung neuer, innovativer Lösungen auf Wohn- und Stadtteilebene – genau darum geht es bei der IBA Wien. Weniger handelt es sich dabei um eine Ausstellung im klassischen Sinne, wie der seit 1901 (!) gebräuchliche Titel vermuten lassen würde, als vielmehr um eine Initiative und einen experimentellen Prozessrahmen, in dem bislang unbekannte, unerprobte urbane Habitatmodelle und konkrete Pilotprojekte beispielhaft durchexerziert werden – mit dem Ziel, voneinander zu lernen, die Regelwerke und Standards zu überdenken und der eigenen, irgendwie zur Routine gewordenen Planungskultur wieder einen Schubs in Richtung Zukunft zu geben.

„Früher waren die IBAs tatsächlich eine Nabelschau von realisierten Projekten, im Vordergrund stand dabei meist die Exzellenz“, sagt Kurt Hofstetter, Leiter und Koordinator der IBA Wien. „Doch spätestens mit der IBA Hamburg 2013 hat sich der Fokus vom Projekt auf den Prozess verlagert. Heute geht es nicht mehr um exzellente Architektur im Sinne einer Einzelerscheinung, sondern um die Anhebung der Lebensqualität aller an einem Ort wohnenden, lebenden Menschen.“

Zwischen den Häusern

Die Argusaugen der IBA Wien, die Konzeption, Entwicklung, Planung, Errichtung und Wohnbetrieb gleichermaßen unter die Lupe nimmt, richten sich dabei zum einen auf singuläre Wohnbauten wie etwa den Gemeindebau Neu in der Seestadt Aspern, das Loft Living und den Grünen Markt im Sonnwendviertel oder das Holzbausystem Vivihouse, das als gebauter Prototyp derzeit am Donaufeld zu besichtigen ist.

Zum anderen aber hat sich die IBA Wien – mehr als die parallel stattfinden IBAs in Basel, Heidelberg, Stuttgart, Thüringen und in der Region Parkstad im südlichsten Zipfel der Niederlande – dem Quartiersmaßstab verschrieben, also dem Grätzel, der Nachbarschaft, der sozialen, technischen und gewerblichen Infrastruktur zwischen den Häusern.

„Als wir Anfang der 1990er-Jahre mit mehreren Bauträgern ein großes Wohnquartier in der Donaustadt entwickelt haben“, erinnert sich Hofstetter, „gab es keinen einzigen Plan, der die Erdgeschoßzone aller involvierten Bauträger abgebildet hat. Niemand wusste, was sein Nachbar für Pläne schmiedet. Also habe ich mich hingesetzt und mit Tusche einen quartiers- und bauträgerübergreifenden Erdgeschoßplan gezeichnet. Und zu meiner großen Verwunderung muss ich sagen: Bis heute ist das noch immer nicht Standard.“

In den letzten sieben Jahren ist es der IBA immerhin gelungen, dass im magistratsabteilungsparifizierten Wien die einzelnen Planungsstellen heute endlich miteinander reden und abteilungs- und kompetenzübergreifend im Kollektiv die Wohnquartiere der Zukunft planen. Die in der Ausstellung präsentierten und in vielen, vielen Stadttouren erkundbaren Quartiere – ob das nun im verdichteten, revitalisierten oder ganz neuen Wien ist – geben Einblick in die intensive Netzwerkarbeit, die schon fast zur Normalität geworden ist.

Damit ist das größte und wichtigste Exponat der Internationalen Bauausstellung Wien fast unsichtbar. Oder, wie Kurt Hofstetter meint, der gerade Merlin Sheldrakes Buch Verwobenes Leben über das Verhalten von Pilzen am Nachtkastl liegen hat: „Pilze, Schimmel und Myzelien sind hochintelligente Systeme, die sich untereinander austauschen und einander mit Nährstoffen versorgen. Wer grad hat, der gibt. Wer grad braucht, der nimmt. Wir alle, die wir Stadt bauen, können von Pilzen noch viel lernen.“

Schlusspräsentation IBA Wien im IBA-Zentrum, Nordwestbahnstraße 16, 1200 Wien. Zu sehen bis 18. November 2022. Mit einem sehr umfangreichen Veranstaltungs- und Exkursionsprogramm.

Der Standard, Sa., 2022.06.25

18. Juni 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Tonnenschwerer Leuchtturm

Das Nationalmuseum Oslo, vor kurzem eröffnet, ist optisch und programmatisch ein Kulturmonolith von enormen Dimensionen. Architektonisch kollidieren südliche Romantik und nordische Pragmatik.

Das Nationalmuseum Oslo, vor kurzem eröffnet, ist optisch und programmatisch ein Kulturmonolith von enormen Dimensionen. Architektonisch kollidieren südliche Romantik und nordische Pragmatik.

Eigentlich hätte Klaus Schuwerk jeden Grund, glücklich zu sein. Der deutsche Architekt steht in dem von ihm entworfenen Nationalmuseum in Oslo, 6,05 Milliarden Kronen (rund 600 Millionen Euro) teuer und zwölf Jahre nachdem der weitgehend unbekannte Architekt im Team mit dem Berliner Büro Kleihues + Kleihues den Wettbewerb gewonnen hatte. Die Institution, 2003–2005 durch die Zusammenlegung von fünf Museen entstanden, hatte sich ein prestigeträchtiges Grundstück ausgewählt: auf dem Areal des ehemaligen Bahnhofs Oslo Vest am Ufer des Oslofjords, gegenüber dem monumentalen Rathaus.

Aber Klaus Schuwerk ist nicht glücklich. Dabei wurde sein Entwurf, der die gigantische Baumasse in ein gedrungenes Gebilde aus ineinandergeschobenen Quadern packte, plangemäß umgesetzt, und auch die Massen aus graugrünem norwegischem Quarzit an Fassade und im Foyer verbaut. Doch erstens, sagt er, sei es ein langer Kampf gewesen, einheimischen Stein und nicht billigeren Import zu verwenden, es hätten sich zu viele Beteiligte in seine Kernkompetenzen eingemischt, und überhaupt – er deutet resigniert in den Raum: Diese Möbel! Diese Mistkübel! Schrecklich! Für all das habe er eigene und schönere Entwürfe geliefert und sei ignoriert worden. Und das schwarze „Nm“-Logo auf der Fassade gefällt ihm auch nicht, das Museum sei schließlich auch so als solches erkennbar.

Nationale Identität

Es passiert nicht oft, dass man einen Architekten trösten möchte, sein neues Gebäude sei doch gar nicht so schlecht geworden, wie er sagt. Zugegeben, die tonnenschwere kantige Masse, in die wenige tiefe Fensterlöcher gestanzt wurden, empfängt die Besucher nicht gerade mit offenen Armen, doch ist man einmal drinnen, atmet das hohe, geräumige Foyer mit seinen schweren Eichenholztüren eine zeitlose Eleganz. Wer einmal durch Peter Zumthors berühmte Therme im Graubündner Ort Vals mit ihrer archaischen Steininszenierung wandelte, wird mit einem kleinen Déjà-vu belohnt.

Direktorin Karin Hindsbo wiederum ließ anlässlich der Eröffnung am 11. Juni mit nordisch-lockerer Sachlichkeit jedes Pathos vermissen, obwohl sie von nun an dem größten Museum der nordischen Länder vorsteht: 400.000 Objekte von Malerei über die Antike bis zum Designobjekt, davon 6500 in insgesamt 86 Räumen ausgestellt. Stattdessen betonte sie die gesellschaftliche Verpflichtung: „Das kulturelle Erbe einer Nation ist ihre Identität. Museen spielen hier eine wichtige Rolle, weil die Menschen ihnen vertrauen; mehr noch als Büchern oder Schulen. Diese Glaubwürdigkeit müssen wir erhalten.“

Für die erste Ausstellung I Call It Art wurden in einem Open Call 147 Werke von meist unbekannten Norwegern ausgewählt, um gleich von Beginn an zu vermitteln: Dieses Museum gehört euch allen. Das Ergebnis ist ein etwas anstrengendes Sammelsurium unbändigen Ausdruckswillens, das einen mit Dankbarkeit für die Existenz von Kunsthochschulen zurücklässt. Darüber hinaus lassen Eintrittspreise von 18 Euro diese Inklusionsgeste eher symbolisch erscheinen. Auch Architekt Klaus Schuwerk winkt ab. Er hätte sich stattdessen Werke gewünscht, die den Raum zur Geltung bringen. Vielleicht eine Stahlskulptur des (bei Architekten stets beliebten) Richard Serra.

Nun sind Unterschiede zwischen Bauherr und Architekt nichts Außergewöhnliches, hier jedoch sind sie Indiz für ein grundsätzliches kulturelles Missverständnis. Auf der einen Seite die romantisch-mediterrane Vorstellung des Architekten als Gesamtkünstler. Sein ideales Museum: hehr und heilig, erhaben und ewig, nobel und solide. Auf der anderen Seite die nordische Tradition der Offenheit, Teamarbeit und Inklusion. Hier elitäres 19. Jahrhundert, dort demokratisches 21. Jahrhundert. Hier Tempel, dort Sitzkreis. Selbst im düsteren Edvard-Munch-Saal laden didaktische bunte Bauklötze die kleinen Besucher ein, den Schrei nachzubauen.

Doch diese Widersprüche kann das Museum schon angesichts seiner schieren Größe gut aushalten, und die klassische Enfilade von Räumen lässt allen Exponaten der Dauerausstellung (Ausstellungsarchitektur: Guicciardini & Magni Architetti) genügend Raum. Gibt man den Anspruch auf, alles sehen zu wollen, hat das Megamuseum durchaus seinen Reiz. In der Malerei kann man sich ebenso verlieren wie in der fantastischen Design-Ausstellung und ihren großen Glaskabinetten, in denen Textilien, Möbel, Grafik und Objekte thematisch klug kombiniert werden und wo auch das berühmte Animationsvideo zu a-has Take on Me seinen Platz findet.

Quarzit-Gebirge

Mit einer nennenswerten Ausnahme: Das Quarzit-Gebirge bekam eine verglaste Halle aufgesetzt, die für Wechselausstellungen dient und nachts als horizontaler Leuchtturm aufglüht. Klaus Schuwerk nennt sie den „Alabaster Room“, doch die antike Erhabenheit, die dieser Name suggeriert, stellt sich nicht ein. Mit 130 Meter Länge ist die Halle im Inneren von ermüdender Endlosigkeit, die sieben Meter hohe transluzente Fassade drängt sich unruhig in den Raum und nimmt der Kunst die Freiheit zur Entfaltung. „Man kann an das Glas zwar keine Bilder hängen, aber es sieht gut aus“, sagt Sammlungsdirektorin Stina Högkvist lakonisch. Der nordische Pragmatismus wird es schon hinbekommen.

Möglicherweise sind die beiden Direktorinnen auch so entspannt, weil der größere Plan, in den sich das Nationalmuseum einordnet, mit Sicherheit aufgehen wird. Auch wenn es auf eine ikonische Großform verzichtet, mit der Stadt verschmilzt und seine kulturelle Bedeutung fast ausschließlich im Inneren zeigt, ist es ein Schlüsselelement in der Osloer Waterfront, deren Wiederentdeckung die Stadt komplett umkrempelt.

Ein Prozess, der 1993 mit Renzo Pianos leichtfüßigem Astrup-Fearnley-Museum begann und mit dem 2007 eröffneten, sofort zum Wahrzeichen gewordenen Opernhaus den Turbo einschaltete. 2020 kam die exzellente städtische Deichmann-Hauptbibliothek dazu, 2021 der recht emotionslos-anämisch geratene Stahl-Glas-Stapel des Munch-Museums. Das Nasjonalmuseet komplettiert diese Reihe und soll Oslo nun endgültig in die Königsklasse der globalen Kulturdestinationen katapultieren. Auch wenn der granitschwere Kunst-Leuchtturm, unter seinem eigenen Gewicht fast versinkt, dürfte er wie geplant Einheimische und Touristen an den Fjord locken. Und vielleicht macht auch der Architekt eines Tages seinen Frieden damit.

Die Reise nach Oslo erfolgte auf Einladung der norwegischen Botschaft Wien.

Der Standard, Sa., 2022.06.18

31. Mai 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Vanillesaucengelb trifft auf großes Drama

Viel Architektur auf wenig Raum im Horten-Museum

Viel Architektur auf wenig Raum im Horten-Museum

Constantin Luser bläst in seinen 6,22 Meter hohen Vibrosaurier . 25 Blasinstrumente erklingen in schrillen Tönen. Die Kakofonie füllt das ganze Haus. „Dieses Freispielen der Ecken und Durchbrechen der Decken war uns von Anfang an wichtig“, sagen Ernst J. Fuchs und Marie-Thérèse Harnoncourt vom Wiener Architekturbüro The Next Enterprise, die sich mit ihrem Entwurf im Wettbewerb 2019 gegen Kuehn Malvezzi und Ortner & Ortner durchsetzten. „Auf diese Weise gibt es kleine und große, gemütliche und dramatische Räume, und die Kunst kann sich optisch und akustisch ausbreiten.“

Mit nicht einmal 1500 Quadratmetern, verteilt auf drei Ausstellungsebenen und eine Büroetage im Dachgeschoß, ist das Haus deutlich kleiner, als man auf den ersten Blick glauben möchte. Das Foyer mit eingezogenen Ebenen und einer schluchtartigen Raumhöhe von über 17 Metern bis unters Dach verströmt beim Eintreten eine Weite, die man im Wiener Mumok etwa vergeblich sucht und im New Yorker MoMA erfolgreich findet. Die 240 Quadratmeter großen Lichtdecken und die frech in den Altbau eingeschriebene, um rund 45 Grad verdrehte Geometrie tun ihr Übriges.

Highlight sind die beiden Treppenläufe, die sich trotz ihres imposanten Gewichts von 6,5 Tonnen fast schwerelos an die schwebenden „Plateaus“ klammern. Die massiven Edelstahlskulpturen, die vor Ort zusammengeschweißt und in einem aufwendigen Verfahren glasperlengestrahlt wurden, animieren die Besucher zum Klopfen und Streicheln – und verraten nebenbei, dass die Auftraggeberin Heidi Horten weder Kosten noch Mühen gescheut hat.

Von 13 Millionen Euro Nettobaukosten war in der Wettbewerbsausschreibung die Rede. Zu den tatsächlichen Kosten will sich Museumsdirektorin Agnes Husslein-Arco nicht äußern.

„Das Wichtigste ist doch, dass dieses private Museum viele unterschiedliche Nutzungen und Bespielungen zulässt“, so Husslein-Arco. „Ich persönlich finde die Sequenz aus permanenten Überraschungen zwischen Altbau und Neubau am faszinierendsten.“ Ein solcher Überraschungsmoment ist auch der Tea Room in einem der Kabinette. Markus Schinwald entwickelte eine fast romantische Vitrinenwand mit gläsernen Bullaugen, und Hans Kupelwieser verschrottete mit einem Bagger 13 Alutafeln, die er in einem metallisch-samtigen Rot eloxieren ließ.

Fazit: Der 1914 errichtete, komplett entkernte und vanillesaucengelb gestrichene Altbau im Innenhof des Hanuschhofs ist von außen keine Wucht, aber das ist mit 29 Grundstückseigentümern an so einer Adresse auch kein Wunder. Doch in seinem Inneren entfaltet das Ding eine kleine, dramatische Museumslandschaft mit architektonischem Seltenheitswert.

Der Standard, Di., 2022.05.31



verknüpfte Bauwerke
Museum Heidi Horten Collection

21. Mai 2022Wojciech Czaja
Der Standard

„Jetzt will ich feiern!“

Kommenden Freitag wird in London der heiß begehrte Pritzker-Preis an den heurigen Laureaten Diébédo Francis Kéré vergeben. Ein Gespräch über Lehm, unbequeme Schulmöbel und rauschende Feste mit dem ganzen Dorf.

Kommenden Freitag wird in London der heiß begehrte Pritzker-Preis an den heurigen Laureaten Diébédo Francis Kéré vergeben. Ein Gespräch über Lehm, unbequeme Schulmöbel und rauschende Feste mit dem ganzen Dorf.

Wo sind Sie gerade? Berlin, Benin, Burkina Faso? „Alles gut, ich bin in meinem Büro in Berlin, die Baustellen laufen gerade gut, außerdem muss ich mich noch auf die Zeremonie nächste Woche vorbereiten“, sagt Diébedo Francis Kéré am Beginn des Zoom-Interviews. Er mag Zoom und Telefonate, sagt er, da passiere meist Gutes. Und dann erzählt er vom Anruf der Pritzker-Preis-Direktorin Manuela Lucá-Dazio irgendwann im Februar, er war gerade in Benin, die Verbindung war schlecht, er verstand nur Wortfetzen: Pritzker, 2022, Jury, Gratulation. Er konnte es nicht fassen!

STANDARD: Viele Leute haben schon seit längerer Zeit damit spekuliert, wann der Pritzker-Preis endlich an Diébédo Francis Kéré vergeben wird. Sie auch?

Diébédo Francis Kéré: Wow! Was? Echt? Wollen Sie mich veräppeln? Emotional, würde ich sagen, habe ich die Botschaft schon ein wenig verarbeiten können. Da war alles dabei, von Lachen bis Weinen. Intellektuell kann ich es noch immer nicht fassen.

STANDARD: Was bedeutet Ihnen der Preis?

Kéré: Einerseits eine persönliche Genugtuung, andererseits eine gewaltige Anerkennung für die Arbeit, die ich mit meinen Leuten seit über 20 Jahren leiste. Zu Beginn hat man als Architekturstudent ja überhaupt keine Ahnung, was einem der Job später abverlangen wird, und geht mit einer gewissen Naivität in den Beruf hinein. Diese Naivität hat mir Tür und Tor geöffnet. Und es macht mich überglücklich, dass sich diese naive Annäherung an die Materie im Laufe der Jahre als so erfolgreich herausgestellt hat.

STANDARD: Wie sind Sie zum Bauen gekommen?

Kéré: Über viele Umwege. Schon mit sechs, sieben Jahren musste ich an den Nachmittagen nach der Schule arbeiten, um ein bisschen Geld zu verdienen. Ich hatte die Aufgabe, mit einem Eselskarren Baumaterialien anzuschaffen. Die Baustellen haben mich fasziniert. Eine weitere Prägung war, dass ich mich eines Tages gefragt habe, warum es im Klassenzimmer immer so heiß war. Wir sind unter einem Blechdach gesessen, es gab kaum Licht oder Frischluft, es war dunkel und unfassbar heiß. Ach, und dann die Schultische! Das waren Holzbretter mit Beinen, einfach zusammengenagelt, nicht einmal verschraubt, alles hat gewackelt. Die Nägel haben sich in den Stoff gebohrt und meine Hosen und Unterhosen kaputtgemacht. Ich habe nicht verstanden, warum das Leben so unbequem sein muss. Ich wollte es schöner, heller und bequemer machen.

STANDARD: Sie haben eine Tischlerausbildung gemacht.

Kéré: Ja, mit neun bin ich zu einem Tischler gekommen, der mich als Lehrling aufgenommen hat. Danach habe ich in Fada N’Gourma eine professionelle Tischler- und Mechanikerlehre absolviert. Ich wollte nie als Mechaniker arbeiten, aber ich wollte so gut mit Metall umgehen können, dass ich selbst Dächer decken kann. Ich wollte bessere Dächer machen als die, die wir in der Schule hatten.

STANDARD: Mit 20 Jahren sind Sie nach Berlin gekommen. Was war Ihr erster Eindruck?

Kéré: Nach Berlin bin ich mit einem Stipendium der Carl-Duisberg-Gesellschaft und des Deutschen Entwicklungsdienstes gekommen. Es war ein Stipendium für eine Tischlerausbildung. Mein erstes Mal außerhalb von Afrika. Dieser kontinentale Winter! Ich wusste nicht, wie ich diese Kälte überleben soll. Doch was mich wirklich schockiert hat, war die Erkenntnis, dass in einer deutschen Großstadt alle Flächen komplett versiegelt, zubetoniert und -asphaltiert sind. Nirgendwo gibt es ein Stückchen natürlicher Erde, nirgendwo ist Natur, überall ist Mensch. Das war ein Schock.

STANDARD: Obwohl Sie seit 2004 ein Büro in Berlin betreiben, bauen Sie vor allem in Burkina Faso, aber auch in Mali, Kenia, Senegal, Mosambik sowie in Benin und im Sudan. Wie schaffen Sie es, diese großen Projekte von Deutschland aus zu leiten?

Kéré: Zum einen bin ich selbst viel auf den Baustellen unterwegs, zum anderen bemühen wir uns immer sehr, vor jedem Projekt ein paar Handwerker und Fachleute vor Ort auszubilden und mit ihnen eine Art Crashkurs für bestimmte Bauweisen oder technische Details zu machen. Das funktioniert eigentlich sehr gut.

STANDARD: Sie arbeiten oft mit lokalen Materialien wie Stein, Holz und Lehm. Gerade im Global South sind dies jedoch Baustoffe, die oft stigmatisiert sind und mit Armut konnotiert werden. Was setzen Sie dem entgegen?

Kéré: Das ist tatsächlich ein enormes Problem in vielen armen Ländern im globalen Süden. Die Elite ignoriert meist alle Logiken lokalen und regionalen Bauens und kopiert stattdessen den Westen, denn aus dem Westen – so hält sich die Legende – kommen die guten, perfekten, hoch entwickelten Dinge. Bloß achtet man leider nicht darauf, ob sich diese westlichen Dinge auch in südlichen Klimaregionen eignen. Die Vorbildwirkung dieser Elite ist leider katastrophal.

STANDARD: Wie schaffen Sie es, dass Ihre Lehmbauten dann doch realisiert werden?

Kéré: Mit Argumenten. Ich kläre die Leute auf und rechne ihnen vor, wie viel Geld, Zeit und Energie sie sparen, wenn sie so und nicht anders bauen. Es geht um Kosten, Effizienz und Langlebigkeit. Solche Faktoren versteht jeder.

STANDARD: Ihre aktuellen Projekte werden immer größer. Ich denke da nur an die Benin National Assembly in Porto-Novo. Wie gelingt es Ihnen, den Geist zu bewahren und die Idee lokalen und regionalen Handwerks auf die nächste Maßstabsebene zu transferieren?

Kéré: Das ist keine leichte Aufgabe! Der Maßstabssprung von einer lokalen, räumlich überschaubaren Größe auf eine politische, in gewisser Weise internationale Ebene braucht ein unglaubliches Transformationsmoment – und auch symbolische Gesten. Wir bezeichnen das Projekt nicht als National Assembly, sondern als „L’arbre à palabres“, als Palaverbaum. Man kennt den Palaverbaum ja als traditionellen Versammlungsort, in dessen Schatten sich die Menschen über Politik, Gesellschaft und das Zusammenleben im Dorf austauschen. Das Parlamentsgebäude ist nichts anderes, bloß größer. Außerdem wollen wir für die Böden im ganzen Haus Steine aus Steinbrüchen in ganz Benin zusammenzutragen. Auch das ist ein Beitrag zu einer lokalen, regionalen Ökonomie.

STANDARD: Haben Sie einen Wunsch für die Zukunft?

Kéré: Natürlich! Ich wünsche mir, dass ich fit bleibe, weiterhin inneren Frieden finde und mir meine Kraft, Energie und Inspiration behalte, um Projekte zu realisieren, die die Menschen glücklich machen.

STANDARD: Der Pritzker-Preis ist mit 100.000 US-Dollar dotiert. Was werden Sie damit tun?

Kéré: Ganz ehrlich? Der Pritzker-Preis ist eine enorme Sache für mich und meine gesamte Familie. Meine Mutter hat mich immer schon gepusht, ermuntert und zur Schule geschickt, und auch heute noch verfolgt sie die Arbeit ihres Sohnes mit Stolz und Interesse mit. Auch einige meiner Freunde und Geschwister freuen sich mit mir mit. Ich lade sie alle zur Preisverleihung nach London ein – Visumanträge, Flugkosten, Unterbringung, einfach alles. Wir sind eine große Familie, da bleibt nicht mehr viel übrig.

STANDARD: Was machen Sie mit dem Rest?

Kéré: Mein ganzes Leben besteht aus Effizienz, sinnstiftender Arbeit und sorgfältigem Umgang mit Geld. Jetzt will ich feiern und in meinem Dorf in Burkina Faso ein großes Fest schmeißen.

[ Diébédo Francis Kéré, geb. 1965 in Gando, Burkina Faso, betreibt seit 2004 sein Architekturbüro in Berlin. Als erster afrikanischer Architekt wurde er heuer mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. Am 27. Mai findet in London die Verleihung statt. ]

Der Standard, Sa., 2022.05.21

09. April 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Sattelfest

Nichts ist unter Architekten verschmähter als das gute, alte Satteldach. Was wurde nicht schon gespottet und geschimpft! Das Wiener Architekturbüro Smartvoll macht das ungeliebte Ding wieder salonfähig.

Nichts ist unter Architekten verschmähter als das gute, alte Satteldach. Was wurde nicht schon gespottet und geschimpft! Das Wiener Architekturbüro Smartvoll macht das ungeliebte Ding wieder salonfähig.

Vom Haupteingang bis ins Büro des Bürgermeisters sind’s keine 30 Schritte. Immer nur gradaus, meist steht die Tür sperrangelweit offen, direkt in der Sichtachse sitzt er, alles gut im Blickfeld habend, zugleich einsichtig wie nur was, tippt grad irgendwas in den Computer. „Ah, da sind Sie ja!“ Alois Zetsch, laut Gemeinde-Homepage bei der ÖVP, aber irgendwie mehr schwarz-rotgrün als türkis, ist eigentlich gelernter Elektriker, leitet seit vielen Jahren ein eigenes Elektrounternehmen. Seit 2005 ist er Mitglied im Gemeinderat, 2014 wurde er – keine Kurzschlusshandlung, sondern mit ziemlich überzeugender Mehrheit – zum Bürgermeister gewählt.

„Eine der Agenden“, sagt der 62-Jährige, Flanellhemd und Fleece-Jacke, „war ein neues Rathaus, denn das alte Gebäude platzte aus allen Nähten, war in keinster Weise barrierefrei, und selbst wenn wir es mühsam saniert hätten, wäre es dennoch ein hermetisches, altmodisches Haus geblieben. Ich aber wollte, dass Großweikersdorf endlich ein offenes, einladendes Gemeindeamt bekommt.“ Zur Auswahl standen zwei Grundstücke im Eigentum der Gemeinde, eines direkt am historischen Hauptplatz, eines am Stadtrand neben dem Bauhof. Gut, dass man sich fürs richtige entschieden hat.

Vier Architekten wurden im Rahmen eines kleinen geladenen Wettbewerbs um einen Entwurf gebeten – drei Büros aus der Region sowie ein Wiener Büro, von dem der Elektriker Zetsch bei einem Projekt vor vielen Jahren mal einen Auftrag bekommen hatte und dessen freche, innovative Architektur ihm seitdem in Erinnerung geblieben war. Diesmal drehte sich der Spieß um, und die Architekten bekamen den Auftrag vom zum Statthalter aufgestiegenen Professionisten. Im Herbst 2021 wurde das neue Rathaus feierlich eröffnet.

Wie eine Scheune in Iowa

Die Straßenfront wurde durchbrochen, statt einer langweiligen, verputzten Fensterfassade wurde mit städtebaulichem Wagemut eine hölzerne Satteldachfront in die Baulücke gestellt, links und rechts davon zwei wilde, verwunschene Gehwege, ein Abstecher in die Wohnsiedlung dahinter, gelegentlich kann man die Gemeindemitarbeiterinnen hier bei einer Zigarette und einer Tasse Kaffee antreffen, dazwischen erstreckt sich das Gebäude – wie eine Scheune irgendwo in Iowa – 60 Meter weit nach hinten.

„Wir wollten ein wirklich offenes, öffentlich zugängliches Rathaus, das sich anfühlt wie ein Kumpel, dem man gern mal auf die Schulter klopft, weil man ihn so gern hat“, sagt Philipp Buxbaum, der gemeinsam mit seinem Partner Christian Kircher das Wiener Büro Smartvoll Architekten leitet. Das Ziel wurde erreicht: Während in einem klassischen Rathaus, wie Buxbaum vorrechnet, lediglich zehn bis 15 Prozent der Nutzfläche hausfremden Personen zur Verfügung stehen, sind in Großweikersdorf rund 55 Prozent des Gebäudes öffentlich begehbar – darunter auch eine Art Wohnzimmer-Lounge mit Bibliothek und Sitztribüne. Den schulterklopfenden Sympathiefaktor erreicht man über das gute alte Satteldach.

„Wir sind überhaupt keine Satteldach-Spezialisten und auch keine Satteldach-Liebhaber, aber wir haben auch keine Scheu davor, wie viele andere Architekten“, sagt Kircher. „In diesem Fall hat sich das Satteldach angeboten, weil es das optische Erscheinungsbild des Gebäudes reduziert und irgendwie handlicher und kompakter macht. Und auch, weil es eine aus dem eigenen Einfamilienhaus bekannte Architekturtypologie ist, die sich den Bürgerinnen und Bürgern als Willkommensgruß und freundliches Kommunikationsmittel präsentiert.“

Großstadtdschungel

Bürgermeister Alois Zetsch hat bislang nur beste Rückmeldungen bekommen. „Die Leute lieben das Haus, und sie haben das Gefühl, dass ihnen die Gemeinde hier ein zweites Wohnzimmer hingestellt hat. Wenn sie einen Termin auf der Gemeinde haben und ein bissl warten müssen, dann sitzen sie nicht auf einem Konferenzstuhl im Wartezimmer, sondern auf einem grünen Sofa unter einem riesengroßen Holzdachstuhl.“ Der Erfolg des 5,3 Millionen Euro teuren Projekts hat schon weite Kreise gezogen: Nominierung für den Holzbaupreis und den INA Award 2021, Anerkennung beim Holzbaupreis, Sieger beim Architizer A+Award.

Und die Satteldach-Euphorie in der digitalen Crowd ist noch lange nicht zu Ende: Erst letztes Wochenende veröffentliche der Architekturblog designboom eine Projektstudie von Smartvoll, die sich – abermals mit einem Satteldach gekrönt – mit städtischer Nachverdichtung und urbanem Wohnen mit Zugang ins Grüne beschäftigt. Zwischen zwei Feuermauern im dichtest verbauten Wien-Ottakring stellen Buxbaum und Kircher fiktiv einen hölzernen Leichtbau auf das Dach eines niedrigen Gründerzeithauses und verwandeln die Lücke zwischen den beiden Feuermauern solcherart in einen wilden Großstadtdschungel.

„Die hohe Schule der österreichischen Architektur lehrt einen, 80 Stunden pro Woche zu arbeiten, niemals zu lachen, stets ernst zu bleiben, dem Flachdach zu huldigen und in modernen Raumkontinua wie bei Mies van der Rohe zu denken“, sagt Philipp Buxbaum. „Solche Kisten zu bauen ist unter Architekten eine Art Modeerscheinung – ach was, Religion! Doch es gibt auch eine Architektur jenseits dieser monokulturellen Dogmatik. Wir nennen das Biodiversität.“

Der Standard, Sa., 2022.04.09



verknüpfte Bauwerke
Gemeindezentrum Großweikersdorf

07. März 2022Wojciech Czaja
db

Wie man einen Regenbogen baut

Die Kirche der Seligen Maria Restituta in Brünn ist eine Skulptur aus Licht und Beton. Architekt Marek Jan Štĕpán hat sich an Vorbildern des 20. Jahrhunderts orientiert und einen ambivalent großartigen Ort geschaffen, bei dessen Anblick die Reaktion zwischen Begeisterung und Enttäuschung oszilliert.

Die Kirche der Seligen Maria Restituta in Brünn ist eine Skulptur aus Licht und Beton. Architekt Marek Jan Štĕpán hat sich an Vorbildern des 20. Jahrhunderts orientiert und einen ambivalent großartigen Ort geschaffen, bei dessen Anblick die Reaktion zwischen Begeisterung und Enttäuschung oszilliert.

Kaum hat man die Banalität des Außenraums hinter sich gelassen, kaum ist die gläserne, mit Holzlatten verkleidete Brandschutztür mit Panikbeschlag wie aus dem Baumarktkatalog mit einem metallischen Klick zugefallen, überfällt einen eine Mischung aus Schock und zauberhafter Überraschung. Man steht plötzlich mitten in einer Raum-Zeit-Maschine, in Millisekunden reist man nach Ronchamp zu Le Corbusiers Notre-Dame du Haut. Nackter Beton in unterschiedlichen Qualitäten und Oberflächen, mal glatt, mal rau, mit Besenstrich gekratzt oder konzentrisch in kleinen, 8 cm breiten Holzlatten geschalt, und über genau jene Fläche, die sich mit einem magischen Licht-Schatten-Spiel in 18 m Höhe über den Kirchenraum stülpt, legt sich wie ein dematerialisierter Schleier aus Licht ein kreisrunder Regenbogen in allen Farben dieser Welt.

»Schon seit Jahrhunderten beschäftigen sich die Menschen damit, wie man höhere, spirituelle Kräfte darstellen kann, und auch Umberto Eco bezeichnete die Identität Gottes einst als einen Lichtstrom, der das ganze Universum durchdringt«, sagt Architekt Marek Jan Štěpán. »Genau darum geht es in dieser Kirche. Die eigentliche Lichtquelle ist von unten betrachtet unsichtbar, und doch dringt dieses wunderbare sphärische Licht in den Innenraum und breitet sich auf der gesamten, im Durchmesser 25 m großen Kuppel aus. Das ist meine ganz persönliche Art und Weise, Spiritualität und universelle Kraft darzustellen. Es geht um Immaterialität und um eine fast uterushafte Sanftheit und Sicherheit.« Štěpán, 54 Jahre alt, selbst praktizierender Christ und Professor für sakrale Räume an der Technischen Hochschule Brünn, beschäftigt sich schon seit geraumer Zeit mit Kirchenarchitektur. Sein Portfolio umfasst katholische, evangelische und jüdische Gotteshäuser sowie zahlreiche Entwürfe für Altäre, Tabernakel und diverse liturgische Geräte. Mit besagtem Standort in Lesná, einer modernen Wohnsiedlung im Norden Brünns, die in den 60er Jahren von František Zounek und Viktor Rudiš nach dem Prinzip einer Gartenstadt errichtet wurde, hatte er schon mal während seines Diplomstudiums 1991 zu tun. Damals wurde ein öffentlicher Wettbewerb für eine Kirche und ein Glaubens- und Gemeindezentrum ausgeschrieben, den er gemeinsam mit Zdeněk Bureš gewinnen konnte. Das Gemeindezentrum von Bureš wurde realisiert, der Entwurf für die Kirche der Seligen Maria Restituta allerdings blieb in den Akten.

»Es vergingen 25 Jahre mit weit über 30 Entwurfsvarianten vieler beteiligter Architekten, doch die Diözese von Brünn konnte sich auf keine Lösung einigen«, erinnert sich Štěpán. 2016, ein Vierteljahrhundert später, wurde daher ein zweiter Wettbewerb ausgeschrieben. Und: »Ich konnte es kaum glauben, aber den habe schon wieder ich gewonnen! Es gibt einige Analogien zu meinem Erstentwurf, vieles ist ähnlich, aber im Großen und Ganzen ist das Projekt wohl reifer und erwachsener geworden. Während ich mich als Student noch mit einer expressiven Holzkonstruktion verewigen wollte, die ein wenig an Moby Dicks Skelett erinnert, ist meine Sprache im Laufe der Jahre ruhiger und in gewisser Weise entmaterialisierter geworden. Es geht um Baustoff in seiner reinsten Form und um Licht – um viel Licht.«

Zu ebener Erde liegt glatter Granit, an den Wänden ist die archaische Sprache Štěpáns ablesbar, sei es in Form von bauüblichen Betonfertigteilen, sei es in Form von unterschiedlich behandelten Kratztexturen und Schalungsadrücken. An zwei Stellen, die einen vagen rechten Winkel markieren, ragen organische, konvex geformte Emporen in den Kirchenraum, und fast scheint es, als habe Štěpán die beiden charakteristischen Betonvordächer in Ronchamps Kapelle mit einem bildhauerischen Kunstkniff von außen nach innen gestülpt. Unter den Kratzstrukturen verbergen sich vorgespannte Balkonplatten mit einer schiffsbauartigen Unterkonstruktion aus Holzleichtbau. Da ist er also wieder, Moby Dicks Bauch. Die erste Empore dient als erweiterter Sitzbereich, falls die Messe mal mehr Besucher locken sollte, die zweite, leicht höhenversetzte Galerie gehört den Chören und Organisten. Das räumliche Angebot dürfte nicht übertrieben sein. Nach Auskunft des Architekten besuchen rund 500 bis 600 Gläubige regelmäßig die beiden Sonntagsmessen. »Zwar gibt es in Mähren bloß 4 % praktizierende Christen, und tatsächlich befinden sich in der Brünner Altstadt viele Kirchen, die oft leer stehen, aber gerade in so dicht besiedelten Wohnquartieren wie hier in Lesná ist der Bedarf an gotteshäusern meist nicht gedeckt.« Rund 20 000 Menschen leben hier, und der Blick auf die Häuser, Lokale und Geschäfte, auf die waghalsig konstruierte Schwimmhalle und auf das heterogene atmosphärische Straßenbild lässt vermuten, dass die Bewohnerschaft von Lesná eine sozial, kulturell und demografisch durchmischte ist.

So facettenreich wie das Lichtspiel an der Decke

Die Geometrie der gesamten Kuppelkonstruktion ist so gelöst, dass das Fensterband von unten unsichtbar bleibt. Vor den thermischen Fenstern – kleine, handelsübliche Kippflügel, mit denen der Raum entlüftet werden kann – befindet sich die farbgebende Fassadenebene aus 4 m hohen Verbundsicherheitsgläsern, 120 Stück an der Zahl, die mit durchgefärbten Klebe- und Verbindungsfolien ihr volles Regenbogenspektrum entfalten. Zwischen Fenster und Kuppelvolute gibt es eine schmale Galerie, die über Turm und Stahlbrücke zu Wartungs- und Reparaturzwecken der Beleuchtungsanlage erreicht werden kann. Welch Freude, dass sich diese irdischen Funktionen dem perfekt inszenierten, illusorischen Bild des Betrachters entziehen.

Anders sieht es leider aus, sobald man den Innenraum verlassen hat. Im Anschluss an Štěpáns Neubau der Seligen Maria Restituta – benannt zu Ehren der Ordensschwester und Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime, die 1943 hingerichtet und 1998 seliggesprochen wurde – befindet sich das bestehende Gemeindezentrum von Zdeněk Bureš, das im Zuge der Kirchenbauarbeiten lediglich in einem unauffälligen Grauton überstrichen wurde. Errichtet wurde die kreisrunde Kirche daneben auf einem rechteckigen Betonpodest, in dessen Mitte kleine Bäumchen gepflanzt wurden. Darunter befindet sich eine Tiefgarage mit rund 40 Stellplätzen und mechanischer Belüftung. Flankiert wird der mit Granit verkleidete Vorplatz schließlich von einem 31 m hohen Glockenturm mit dreieckigem Grundriss. Die Wendeltreppe im Innern des Turms dient in den unteren Metern als Garagenzugang und im oberirdischen Bereich als Erschließung der Fenstergalerie und des 16-teiligen Glockenspiels.

Und leider, spätestens hier, kippt die Euphorie über dieses sinnliche, spirituelle, mit wenig Budget und viel Leidenschaft gestaltete Projekt ins Gegenteil. Die euklidische Mengenlehre aus kreisrundem Zylinder, rechteckiger Garagenschachtel und dreieckigem Turm, die banale Kombination aus weißer Putzfassade, buntem Glasband und gelb-roter Glockenloggia am höchsten Punkt des Turms entwickelt an dieser Stelle des Gebäudes banale, ja fast naive Momente pseudo-postmoderner Gestaltungslehre. Marek Jan Štěpáns Erläuterungstext zum Konzept und zur architektonischen und religiösen Bedeutung des Kreises als perfekter, ganzheitlicher, formvollendeter Körper macht die Sache auch nicht besser. Verstärkt wird das kindliche Erscheinungsbild durch ein zum Teil technisch bedingtes Kunstprojekt an der Kirchenaußenwand. Um auf klassische Dehnungsfugen zu verzichten, legte der Künstler Petr Kvíčala ein amorphes, sich immer wieder überschneidendes Liniengeflecht über die gesamte Vollwärmedämmsystemfassade. Die linearen Mulden dienen der 3 cm dicken Putzschicht bei Temperaturschwankungen als Dehn- und Sollbruchstelle. Dazwischen schweben hieroglyphenartige, ebenfalls in den Putz hineingekratzte Piktogramme, die Aufschluss über das Leben und die Vorlieben der Ordensfrau Maria Restituta Kafka geben sollen: Sonnen, Kerzen, ‧Fische, Weintrauben, Blumen, Bücher und sogar ein Glas Bier, das über dem Eingang zu entdecken ist. Man ist hin- und hergerissen zwischen Schmunzeln und Schnaufen. Eigentlich schade.

Seinen Frieden schließen kann man mit diesem Bauwerk erst wieder aus der Entfernung. Wenn man den Ort verlassen und sich in die Straßenbahn gesetzt hat, ragt über den Baumkronen von Lesná – in einer fast schon wieder Le-Corbusier-haften Weise – der Kirchturm der Seligen Maria Restituta empor. Die zwei gelben und roten, weit in die Ferne hinausleuchtenden Glockenloggien ganz oben sind ein schöner, sympathischer städtebaulicher Orientierungspunkt. Und so bleibt der letzte Eindruck eines Hauses, das im sehr Kleinen und sehr Großen überzeugt – und dazwischen Abbild eines einst klerikal-kommunistischen Dilemmas ist, in dem die Bautypologie Kirche jahrzehntelang architektonischen Entwicklungsstillstand erleiden musste. Das Projekt in drei Worten: Himmel, Hölle, Himmel.

db, Mo., 2022.03.07



verknüpfte Zeitschriften
db 2022|03 Mut zur Farbe

26. Februar 2022Wojciech Czaja
Der Standard

„Wir dürfen die Fantasie nicht unterschätzen“ Turn On

Die Pariser Architektin Sophie Delhay hat es geschafft, mit den Richtlinien des geförderten Wohnbaus zu jonglieren. Ihre Häuser sind eine Anleitung zur Freiheit. Nächste Woche hält sie einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On.

Die Pariser Architektin Sophie Delhay hat es geschafft, mit den Richtlinien des geförderten Wohnbaus zu jonglieren. Ihre Häuser sind eine Anleitung zur Freiheit. Nächste Woche hält sie einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On.

STANDARD: Wer ist die rote Frau auf den Fotos?

Delhay: Sie sind der Erste, der das fragt. Das bin ich!

STANDARD: Wie denn das?

Delhay: Es war alles organisiert. Die Wohnungen waren gereinigt, der Fotograf Bertrand Verney war mit seiner ganzen Ausrüstung vor Ort, und plötzlich haben wir gemerkt, dass es unmöglich ist, einen zweigeschoßigen, fünf Meter hohen Raum zu fotografieren, ohne dabei einen Größenbezug herzustellen. Es war sonst niemand da. Also haben wir mich als Maßstab inszeniert.

STANDARD: Die Fotos zeigen das Wohnhaus „32 Logements-Cathédrale“ in Dijon. Warum fünf Meter hohe Räume?

Delhay: Jedes Haus, das ich plane, hat seine eigene Religion. Dieses Wohnhaus in Dijon, das wir 2020 fertiggestellt haben, zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Wohnzimmer zum Teil zweigeschoßig ausgeführt haben. Viel Raum, viel Licht, viel Großzügigkeit im Sein und Denken. Wir haben uns getraut, dem Wohnhaus den Namen „Cathédrale“ zu geben. Man fühlt sich irgendwie frei.

STANDARD: Sie sprechen von Religion. Wie kann sich diese Religion sonst noch bemerkbar machen?

Delhay: In unserem Projekt „Unité(s)“, ebenfalls in Dijon, sind wir von gleich großen Raumquadraten ausgegangen. Jedes Zimmer hat genau 13 Quadratmeter und ist über Schiebetüren mit den anderen Zimmern verbunden oder auch von ihnen getrennt. Wir geben keine Nutzung vor, sondern überlassen den Bewohnern, ob und wie sie die Räume zusammenlegen wollen. In wiederum einem anderen Projekt in Nantes haben wir uns getraut, jeweils ein Zimmer aus dem Wohnungsverband herauszulösen.

STANDARD: Das heißt?

Delhay: Man kann das Zimmer nur erreichen, indem man die Wohnung verlässt und im Garten oder auf der Terrasse ein paar Schritte durch den Außenraum schreitet. Es ist eine Art Exklave.

STANDARD: Wie reagieren die Bewohner darauf?

Delhay: Unsere Auftraggeber bitten uns meistens, zu jedem Projekt eine kleine Broschüre zu erstellen, in der wir in wenigen Worten das Konzept des Wohnprojekts erklären und niederschreiben, was wir uns dabei gedacht haben. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich das so gut finde.

STANDARD: Warum nicht?

Delhay: Weil jede Erklärung die Fantasie wegnimmt, weil jede Regulierung etwas kaputtmacht. Uns Architektinnen wird immer nachgesagt, wir hätten ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. Nun, ich glaube auch an die Vorstellungskraft meiner Bewohnerinnen und Bewohner. Wir dürfen die Fantasie der Menschen nicht unterschätzen!

STANDARD: Sind Ihre Wohnkonzepte eine Herausforderung?

Delhay: Für manche wahrscheinlich schon. Für andere sind sie eine Anregung oder sogar eine Fantasiemaschine. In der Regel, wenn nicht gerade Covid ist, besuche ich nach circa zwei Jahren ein Projekt und frage die Bewohner, ob ich mir ihre Wohnungen anschauen darf. Und manchmal bin ich ganz schön überrascht.

STANDARD: Bitte ein Beispiel.

Delhay: In dem Projekt in Nantes, wo ein Zimmer der Wohnung nur über den Garten zu erreichen war, habe ich einen Mann getroffen, der diesen Extraraum als Wohnzimmer nutzt. Ich war ganz perplex. Und dann hat er mir erklärt, dass er seine Tochter nach der Scheidung nur selten sieht – doch wenn er sie bei sich hat, dann wohnen sie hier draußen, wo sie stundenlang spielen, reden und gemeinsame Momente teilen. Ist das nicht schön?

STANDARD: Was machen Sie, wenn ein Mieter mit Ihrer Wohnung überhaupt nichts anfangen kann?

Delhay: Im geförderten Wohnbau in Frankreich bekommt jeder Interessent genau drei Wohnungen präsentiert, aus denen er auswählen kann. Wer mit so einem Konzept nicht zurande kommt, kann auf zwei andere Wohnungen ausweichen. Die Vielfalt der Wohnkonzepte ist kein Problem, sondern eine Bereicherung.

STANDARD: Die meisten Ihrer Wohnprojekte sind sehr rough, haben Sichtbeton an den Wänden oder Metallgitter an der Fassade. Wieso denn das?

Delhay: Jede Entscheidung verändert das gesamte System. Wenn ich mich entscheide, hohe Räume zu machen, Schiebetüren einzubauen oder getrennte Wohnbereiche zu schaffen, dann kostet das Geld, dann muss ich das Geld an anderer Stelle wieder einsparen. Im Wohnhaus „32 Logements-Cathédrale“ mussten wir auf teure Böden und ausgemalte Wände verzichten, sonst wären wir mit dem Budget nicht ausgekommen. Es sind kommunizierende Gefäße.

STANDARD: Müssen Sie sich nicht an gewisse Mindeststandards im sozialen Wohnbau halten?

Delhay: Doch, und diese Mindeststandards definieren die Zimmergrößen, die Fußbodenoberflächen, weiß ausgemalte Wände und vieles mehr. Ich halte mich nicht daran. Aber ich halte mich daran, dass wir pro Quadratmeter Nutzfläche nur ein gewisses Budget verbauen dürfen. Wir verbauen es halt anders.

STANDARD: Das geht?

Delhay: Früher war ich jung und gutgläubig. Ich war eine „tête brûlée“, ein brennender Kopf, eine Art kompromissloser Geist. Und irgendwie hatte ich immer Glück, denn die Bauträger haben das Konzept verstanden – und erkannt, was sie an Mehrwert bekommen, wenn sie woanders auf gewisse Qualitäten verzichten. Heute ist das anders. Die Unternehmen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie mich zu einem Bauträgerwettbewerb einladen.

STANDARD: Gewinnen Sie oft?

Delhay: Nein, die meisten Wettbewerbe verlieren wir. Aber wenn wir gewinnen, dann mit großer Euphorie unter allen Beteiligten.

STANDARD: Manchmal werden Sie als experimentell bezeichnet. Stimmen Sie dem zu?

Delhay: Nein. Ein Experiment hat immer mit Risiko und Laborversuch zu tun. Ich aber bemühe mich lediglich, ein architektonisches Vokabular für das zu finden, was schon längst da ist – und zwar für eine Gesellschaft, die sich verändert hat, die nach Freiheit und Offenheit verlangt, die nicht mehr in ein paar wenige Standards zu pressen ist. Unsere Wohnkultur braucht dringend eine neue Architektursprache.

STANDARD: Nächste Woche halten Sie einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On. Worüber werden Sie sprechen?

Delhay: Über Freiheit – und darüber, dass es als Architekten, als Architektinnen unsere Aufgabe ist, diese Freiheit zu befreien.

[ Sophie Delhay (48) gründete das Architekturkollektiv Boskop in Lille und leitet seit 2008 ihr eigenes Architekturbüro in Paris. Sie unterrichtet an der École d’Architecture in Versailles. ]

Der Standard, Sa., 2022.02.26

12. Februar 2022Wojciech Czaja
Der Standard

Architektur in der Antarktis: Die Schlacht am vereisten Buffet

In der Arktis wittern Nationen und Konzerne Rohstoffe und Schifffahrtsrouten. Das Interesse am Eis manifestiert sich auch in der Architektur. Fotograf Gregor Sailer hat sie eingefangen

In der Arktis wittern Nationen und Konzerne Rohstoffe und Schifffahrtsrouten. Das Interesse am Eis manifestiert sich auch in der Architektur. Fotograf Gregor Sailer hat sie eingefangen

Schaut aus, als würde von unten ein russisches U-Boot die Eisdecke aufbrechen und auftauchen wollen, daneben ein rotes Stahliglu, polygonal aus Fünf- und Sechsecken zusammengeschweißt, zwei Türen, der Eingang in die Bohrlochkammer, und dann kilometerweit nichts als Pipelines bis zum Horizont, bis in die Industriegebiete von Húsavík, Reykjavík und Reyðarfjörður, wo sich die größten Silizium- und Aluminiumwerke Islands befinden. „Der Wasserdampf aus den geothermischen Anlagen ist eine wertvolle Energiequelle“, sagt Gregor Sailer. „Heute schon werden in Island rund 575 Megawatt aus Erdwärme gewonnen. Ohne diese Anlagen hätte sich die isländische Schwerindustrie hier wohl niemals angesiedelt.“

Das Kraftwerk in Bjarnarflag neben dem Mývatn-See im Nordosten Islands, eingezäunt und bewacht wie so vieles im polaren Norden dieser Welt, ist nur eine von vielen Anlagen, die der Tiroler Fotograf in den Jahren zwischen 2017 und 2021 mit seiner Sinar-Laufbodenkamera auf die Filmplatte bannte. Die Begehrlichkeit des 42-Jährigen gilt dabei aber nicht so sehr dem Seltenen, Exotischen als vielmehr all jenen versteckten, in der Regel verborgenen Infrastrukturen, die Teil eines geopolitischen und globalwirtschaftlichen Netzwerks sind und hinter denen sich eine ebenso komplexe militärische Überwachungsmaschinerie verbirgt.

„Aufgrund der billigen und im Übermaß verfügbaren Energie ist Island ein strategisch wichtiger Industriestandort, zugleich aber müssen die Rohstoffe und veredelten Materialien über weite Strecken mit dem Schiff an- und abtransportiert werden“, sagt Sailer. „Viele Länder und Konzerne haben daran Interesse. Daher zählt Island zu den von der Nato am stärksten überwachten Regionen auf der Nordhalbkugel.“

Vier Jahre lang besuchte Sailer Kraftwerke, Produktionsstätten, Sendeanlagen, Radarstationen, Bohrinseln, Forschungscamps und ganzjährig eingeschneite Gewächshäuser in der Arktis – die meisten davon jenseits des nördlichen Polarkreises. Sie alle definieren eine rund 21 Millionen Quadratkilometer große Region, um die sich einige Weltmächte und Industrienationen prügeln wie bei einer Schlacht am vereisten Buffet. Im Fokus der Interessen von China, Russland und den USA stehen nicht nur begehrte Rohstoffe wie Öl, Gas und seltene Erden, die aufgrund der in der Klimakrise auftauenden Polkappen nun leichter zugänglich werden, sondern auch neue Schifffahrtsrouten.

„2018“, sagt Sailer, „hat die chinesische Regierung in ihrem Arctic White Paper erstmals die polare Seidenstraße erwähnt. Einerseits sollen die Frachtrouten dadurch um bis zu 40 Prozent verkürzt werden, was den globalen Schiffsverkehr billiger und effizienter machen wird, andererseits wäre diese Route eine attraktive Alternative zum längst überlasteten Suezkanal.“ Als im März 2021 die Ever Given die Sandböschung rammte und den Kanal verstopfte, stand der globale Frachtverkehr wochenlang still. Solche Super-GAUs möchte China mit der polaren Seidenstraße, die aufgrund der Erderwärmung bis spätestens 2050 eisfrei befahrbar sein wird, künftig vermeiden.

Fahne unter Wasser

„Tatsächlich gibt es viele Instanzen, die von der Klimakrise und Erderwärmung profitieren werden und die aus diesem Grund schon jetzt ihre Reviere in der Arktis markieren“, erzählt Sailer. Die politische und wirtschaftliche Machtgier nimmt bisweilen skurrile Züge an: Nachdem Russland seine Konkurrenten überlisten und die Grenzen des Festlandsockels und die daraus abgeleiteten Ansprüche auf Öl- und Gasvorräte geologisch korrekter verankern und dabei nicht nur auf vereistes Wasser setzen wollte, schickte es im Jahr 2007 ein U-Boot los und rammte auf dem Nordpol in über 4000 Meter Tiefe eine russische Fahne in den Meeresboden.

Für sein fotografisches Narrativ besuchte Gregor Sailer rund 20 Destinationen und Einrichtungen in Island, Grönland, Norwegen, Großbritannien und im eisigen Norden Kanadas. Einige andere Reisen wie etwa nach Russland wurden ihm verwehrt oder fielen den restriktiven Corona-Lockdowns zum Opfer.

Die meisten und visuell mit Abstand kältesten Fotos, die vor ein paar Monaten in seinem Buch The Polar Silk Road (Kehrer-Verlag) verewigt wurden, stammen aus dem Forschungscamp East Grip in der Einöde Grönlands, wo seit Jahren Eiskernbohrungen durchgeführt werden, um aus den rund 100.000 Jahresschichten Informationen über die Klimageschichte der Welt zu gewinnen, sowie von der militärischen Überwachungszentrale im kanadischen Tuktoyaktuk, wo sich direkt an der Beaufortsee eine Kontrollstation des North American Aerospace Defense Command (Norad) sowie eine von insgesamt 50 Radarstationen des North-Warning-System-Netzwerks (NWS) befinden.

„Ich finde die militärischen Einrichtungen faszinierend, weil sich aufgrund des Klimas und der in diesen Breitengraden verfügbaren Baustoffe ein typischer Farb- und Formenkanon entwickelt hat“, erzählt Sailer. „Meistens wird mit Stahl gebaut, die Kugeln und Polyeder sind allgegenwärtig, und die häufigste Farbe ist Weiß, gelegentlich findet man auch rote und schwarze Bauten.“ In den meisten Fällen, sagt der Fotograf, der bei minus 55 Grad Celsius fotografieren musste, verschmelzen die militärischen Einrichtungen mit der Landschaft oder verschwinden gleich ganz im Schneesturm.

Gespenstisch

Ein Objekt hier oben auf 69,4 Grad nördlicher Breite (kleines Foto) hat es ihm besonders angetan – und zwar die achteckige, rund 120 Meter breite Esso-Caisson-Bohrinsel, die 1982 in Japan gebaut und nach Beendigung ihrer fossilen Dienste vor einigen Jahren technisch ausgeweidet und in die Bucht von Tuktoyaktuk geschleppt wurde, wo sie seitdem im Wasser treibt und jeden Winter von meterdickem Eis eingefangen wird. Das Bild ist gespenstisch, irgendwie bedrohlich. Ein perfektes Setting für einen eiskalten Blade Runner-Film.

„Die Arktis ist geografisch zwar weit weg von uns“, sagt Gregor Sailer, „aber die territorialen Dispute, die sich hier oben abzeichnen und die in den nächsten 30 Jahren noch massiv zunehmen werden, betreffen uns alle. Ich hatte die Möglichkeit, diese versperrten Gebiete zu betreten und zu fotografieren. Und ich erachte es als meine Aufgabe, diese Geschichten sichtbar zu machen.“ Die eingeschneiten Architekturen sind Zeugen eines ziemlich kalten Krieges.

Der Standard, Sa., 2022.02.12

20. Dezember 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Richard Rogers 1933–2021

Mit dem Bau des Centre Pompidou hat er seinen Ruhm begründet – jetzt ist der britische Architekt 88-jährig gestorben

Mit dem Bau des Centre Pompidou hat er seinen Ruhm begründet – jetzt ist der britische Architekt 88-jährig gestorben

Februar 1977, Paris. Es regnet in Strömen. Richard Rogers steht vor dem kürzlich fertiggestellten Centre Pompidou und betrachtet sein vollendetes Werk, als plötzlich eine ältere Dame an ihn herantritt und ihm einen Platz unter ihrem Regenschirm anbietet. Was er denn von diesem Gebäude hielte, fragt sie. Und Rogers stolz: „Ich bin der Architekt.“ In der nächsten Sekunde bekam er mit dem Schirm eins über die Rübe gezogen.

Lange hatte es gedauert, bis die Pariser sein wohl berühmtestes Frühwerk zu schätzen gelernt haben. Die Presse bezeichnete es als Pompidoleum, als Erdölraffinerie, als Notre-Dame der Röhren. Die französische Tageszeitung Le Figaro sprach gar von einem „kulturellen King Kong“ und verglich das Haus auch mit jenem sagenumwobenen Monster im Loch Ness. Heute ist das Centre Pompidou, das Richard Rogers mit seinem damaligen Partner Renzo Piano plante, aus dem Pariser Stadtbild nicht mehr wegzudenken. In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist Richard Rogers im Alter von 88 Jahren friedlich eingeschlafen, wie seine Familie der New York Times mitteilte.

Seine Kindheit und Jugend waren ein Horror. Geboren 1933 in Florenz, 1939 mit der Familie nach London übersiedelt, konnte er wegen einer nichtdiagnostizierten Legasthenie bis zu seinem elften Lebensjahr weder lesen noch schreiben. Er wurde regelmäßig gemobbt, „ich weinte mich jede Nacht in den Schlaf, Jahre der Traurigkeit“, schrieb er später in seiner Autobiografie A Place for all People . In den späten Fünfzigerjahren studierte der Schulabbrecher Architektur an der berühmten Architectural Association School of Architecture (AA) in London, hatte aber auch hier mit Misserfolgen zu kämpfen, flog in seinem vorletzten Studienjahr in fünf von sechs Fächern durch.

Mit einem Fulbright-Stipendium ging er 1962 nach Yale, wo er eine tiefe Freundschaft mit seiner späteren Frau Su Brumwell sowie mit Norman Foster und dessen Freundin Wendy Cheesman schloss. 1963 gründeten sie das sogenannte Team 4, das sich schon bald zu einem Nährboden für die britische Hightech-Bewegung herausstellen sollte. Inspiriert von den frühen Industriebauten in Nordengland entstanden die ersten realisierten Projekte in Vorfertigung und modularer Bauweise. Aus dieser Haltung heraus entstand schließlich das Centre Pompidou.

Die Saure-Gurken-Zeit war damit endgültig vorbei. Es folgten das Lloyd’s Building in London (1984), der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (1994), der Millennium Dome in London (1999), der fröhlich bunte Flughafen Madrid Barajas (2004), der Justizpalast in Antwerpen (2006), das Leadenhall Building in London (2014), aufgrund seiner Form auch besser bekannt als „Käsereibe“, und schließlich das Three World Trade Center in New York (2018) sowie etliche Konzepte für günstiges, leistbares Wohnen in ganz Großbritannien.

1991 wird Rogers von Queen Elizabeth II zum Ritter erhoben, 2007 erhält er den renommierten Pritzker-Preis, 2015 wird er vom Männermagazin GQ zu den „50 best-dressed British men“ gezählt. Der freundliche, sympathische Mann, der stets in grasgrünen und knallpinken Hemden auftrat, hat die Welt für die Schönheit einer technoiden, konstruktiven und zugleich hellen, bunten, verspielten Architektur sensibilisiert wie kein anderer.

Der Standard, Mo., 2021.12.20

17. November 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Mit Wölkchen und Tarnfarbe

In der Joseph-Lister-Gasse in Wien-Hietzing hat die Sozialbau eine weitestgehend CO2 -freie Mustersiedlung mit Wärmepumpen und Photovoltaik errichtet. Die Architektur dafür stammt von zwei bekannten Büros.

In der Joseph-Lister-Gasse in Wien-Hietzing hat die Sozialbau eine weitestgehend CO2 -freie Mustersiedlung mit Wärmepumpen und Photovoltaik errichtet. Die Architektur dafür stammt von zwei bekannten Büros.

Auf der Rückseite der Klinik Hietzing, einst Krankenhaus Lainz, befand sich früher ein Personalwohnheim. Nachdem sich die Anforderungen an Wohnen und Arbeiten in den letzten Jahrzehnten massiv verändert haben und die kleinen, niedrigen Wohnungen keine sinnvolle Weiterverwertung zuließen, wurde die alte Wohnhausanlage abgerissen. Heute stehen hier, in unmittelbarer Nähe zum benachbarten Hörndlwald, zehn fröhliche Sozialbau-Stadtvillen, die von zwei der bekanntesten Architekturbüros Österreichs geplant wurden: Coop Himmelb(l)au und DMAA Delugan Meissl Associated Architects.

„Unsere Häuser sind eine Neuinterpretation der weißen Moderne“, sagt Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au. „Einerseits lösen wir mit den großen, eleganten Balkonskulpturen die Grenze zwischen Innen- und Außenraum auf, weil wir darauf den Wohnraum in den Freiraum hinaus erweitern, andererseits lassen wir uns auch nicht die Kunst aus der Baukunst vertreiben.“ Konkret: In Anlehnung an die bildhauerische Herangehensweise von Louis Kahn, Le Corbusier und Erwin Wurm, die Prix als Referenz für dieses Projekt zitiert, gibt es über jedem Hauseingang eine dreidimensionale, adressbildende Plastik – mal ein Haus, mal ein Kegel, mal ein durchlöcherter Würfel. Zudem gibt es auf jedem Haus eine Fassadenzeichnung aus dem Hause Himmelb(l)au, mit Sonne, Wölkchen und Signatur: CHBL.

Optischer Kontrapunkt

Ganz anders präsentieren sich die fünf Häuser von Delugan Meissl. „Wir wollten einen Kontrapunkt zu Coop Himmelb(l)au setzen“, sagt Gerhard Göller, Projektleiter bei DMAA, „und haben uns daher für eine erdige, olivgrüne Tarnfarbe entschieden. Um die Fassadenfläche zusätzlich zu strukturieren, sind die Häuser rundum in einen vertikalen Kratzputz gehüllt.“ Die handwerklich aufwendige, fast schon in Vergessenheit geratene Putzmethode sorgt für eine besonders raue Oberfläche und verhindert aufgrund der tausenden kleinen Mikrorisse, dass die Putzfläche eines fernen Tages durch die großen Temperaturdifferenzen zwischen Sommer und Winter aufplatzt oder reißt.

„Durch den hohen Anteil an Bäumen auf dem Grundstück und durch die sehr großflächige Verwurzelung im Boden wäre eine geothermische Lösung technisch kaum durchführbar gewesen“, sagt Sozialbau-Chef Josef Ostermayer. Stattdessen werden die insgesamt 194 Mietwohnungen – die Hälfte gefördert, die andere Hälfte am freien Markt – mit Luftwärmepumpen beheizt. Über eine Fußbodenheizung gelangt die Wärme in die Wohnungen. Im Sommer dient die Anlage als Stützkühlung.

Die Warmwasseraufbereitung erfolgt mittels einer Hochtemperatur-Luft-Wasser-Wärmepumpe pro Stiege. Auf den Dächern sind Photovoltaikmodule installiert, die den nötigen Strom für den Betrieb aller Wärmepumpen liefern. „Überschüssige Stromspitzen werden wir für die Beleuchtung der öffentlichen und halböffentlicheren Bereiche nutzen“, sagt Ostermayer. „Unterm Strich sollte es uns auf diese Weise gelingen, weitestgehend emissionsfrei zu sein.“

Die Wohnungsgrößen variieren zwischen 53 und 112 Quadratmetern. Dass das örtliche, technische und architektonische Angebot den Nerv der Zeit getroffen hat, zeigt sich in der extrem hohen Nachfrage: Nach Auskunft der Sozialbau gab es knapp 10.000 Vormerkungen. Das sind durchschnittlich 50 Interessenten pro Wohnung. Vor zwei Wochen wurden die Schlüssel übergeben.

Der Standard, Mi., 2021.11.17

17. November 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Ochsenblutrote Jubiläumsfeier

Zu ihrem 100. Geburtstag errichtet die Gesiba eine Wohnhausanlage, die komplett emissionsfrei beheizt werden soll

Zu ihrem 100. Geburtstag errichtet die Gesiba eine Wohnhausanlage, die komplett emissionsfrei beheizt werden soll

Vor hundert Jahren wurde die Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt gegründet. Das daraus gebildete Akronym „Gesiba“ ist bis heute namensgebend. Was einst mit Siedlervereinen und Reihenhausstrukturen in dünn besiedelten Grätzeln begann, soll nun wieder aufgegriffen und auf neu interpretierte Weise zelebriert werden. „Nachdem wir bei der Siedlerbewegung sowie auf dem Gebiet von Niedrigenergie- und Passivhaustechnologien immer schon Vorreiter waren“, sagt Ewald Kirschner, Generaldirektor des gemeinnützigen Bauträgers, „haben wir diese CO2 -neutrale Wohnhausanlage zu unserem Jubiläumsprojekt auserkoren.“

Drei Architekturbüros sind daran beteiligt: Bauteil eins plant der alte Gesiba-Hase Rudolf Guttmann, Bauteil zwei das Studio Eder Krenn, Bauteil drei Herbert Binder in Kooperation mit dem Atelier Kaitna Smetana. Gemeinsamkeit aller drei Baulose: „Wir sind hier in einer sensiblen Gegend zwischen Oberem Mühlwasser und Asperner Siegesplatz umgeben von Einfamilienhäusern, Ackerflächen und Wäldern“, sagt Architekt Benni Eder, der hier 44 Wohnungen plant. „Daher wollen wir den Charakter dieses Ortes trotz wirtschaftlicher Ausnützung des Grundstücks auf jeden Fall beibehalten.“

Außen handelt es sich um 38 punktuelle Häuser in kubischer Form mit Balkonen, Dachterrassen und zum Teil ochsenblutrotem Anstrich. Ergänzt wird die Wohnhausanlage, die insgesamt 155 Wohnungen umfasst, von einem Kindergarten und einem übergreifenden Freiraumkonzept von DnD Landschaftsplanung. „Es wird hier nie eine urbane Atmosphäre mit hunderten urbanen Menschen vor ihren Häusern geben“, meint der Architekt, „daher wollten wir dieses Trugbild auch gar nicht in irgendwelchen fotorealistischen, sozialromantischen Darstellungen vortäuschen.“

Die Jubiläumsbesonderheit liegt im Technischen verborgen: Unter der Wohnhausanlage werden 200 Meter tiefe Sonden in den Boden gegraben, 80 Stück an der Zahl. Über Bauteilaktivierung sollen die Häuser im Winter beheizt und im Sommer immerhin um ein paar Grad nach unten temperiert werden. Die Stromversorgung für die Wärmepumpen erfolgt durch eine PV-Anlage auf dem Dach. Der gesamte Heizwärmebedarf soll auf diese Weise emissionsfrei abgedeckt werden.

„Während des Baubewilligungsverfahrens gab es ein paar Einsprüche“, erinnert sich Gesiba-Chef Kirschner. „Daher haben wir das Projekt ein bisschen redimensioniert und auf die volle Ausnützbarkeit verzichtet.“ Zwischen den Häusern ist Urban Farming geplant. Alle Wohnungen werden im Rahmen der Wiener Wohnbauinitiative errichtet – also mit Wohnkosten in geförderter Höhe zu freifinanzierten Konditionen. Die Miete beläuft sich auf 11,50 Euro, der Eigenmittelanteil auf 150 Euro pro Quadratmeter. Bauzeit: Mitte 2022 bis Mitte 2024.

Der Standard, Mi., 2021.11.17

17. November 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Mit Backrohr und Kühlschrank zur Miete

Die Wientalterrassen der WBV-GPA bauen auf dem Prinzip von CO2 -Neutralität und Kreislaufwirtschaft auf. Geheizt wird mit Geothermie und Wärmerückgewinnung. Die Haushaltsgeräte können im Haus angemietet werden.

Die Wientalterrassen der WBV-GPA bauen auf dem Prinzip von CO2 -Neutralität und Kreislaufwirtschaft auf. Geheizt wird mit Geothermie und Wärmerückgewinnung. Die Haushaltsgeräte können im Haus angemietet werden.

Eingeklemmt zwischen Westbahngleisen und Hadikgasse, die kurz darauf zur Wientalautobahn mutiert, errichtet die Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA) auf einem ehemaligen ÖBB-Grundstück in der Käthe-Dorsch-Gasse eine Wohnhausanlage mit 196 klassisch geförderten Mietwohnungen und 99 Smart-Wohnungen. Die Bebauung ist recht kompakt, eine kammartige Struktur mit fünf Höfen, doch dafür gibt es – quasi als Kompensation für die hohe Dichte und die räumlich eng gesteckten Grenzen – drei riesige Dachterrassen im fünften, sechsten und siebten Stock mit Blick auf Wienfluss, Wienerwald und Lainzer Tiergarten.

Doch die wahren Vorzüge der sogenannten Wientalterrassen liegen nicht oben am Himmel, sondern tief verborgen unter der Erde. Über 60 Erdsonden, die bis zu 150 Meter in die Tiefe reichen, wird genug geothermische Energie gewonnen, um damit alle Wohnungen beheizen zu können. Mithilfe von Wärmepumpen und Bauteilaktivierung in den massiven Deckenplatten gelangt die Wärme schließlich in die Wohnbereiche. Unterstützt wird das Niedrigenergiekonzept durch Solarthermie auf dem Dach und ein in Österreich in diesem Maßstab erstmals angewandtes Wärmerückgewinnungssystem, das die Restwärme aus dem Abwasser der gesamten Wohnhausanlage entnimmt und über Wärmetauscher wieder ins Netz zurückspeist.

„Auf diese Weise können wir auf fossile Brennstoffe komplett verzichten“, sagt Michael Gehbauer, Geschäftsführer der WBV-GPA, die das Konzept in Zusammenarbeit mit Ingenieuren des Austrian Institute of Technology (AIT) entwickelte. „Für uns gemeinnützige Bauträger in Österreich ist dieses System neu, in der Schweiz allerdings sind derartige Abwasserwärmerückgewinnungskreisläufe bereits gang und gäbe. Daher haben wir uns im Rahmen einer Exkursion einige Projekte live angeschaut – und uns mit den verantwortlichen Bauträgern und Genossenschaften über ihre Erfahrungswerte im alltäglichen Betrieb ausgetauscht.“

Das physikalische Gleichgewicht der Kräfte sorgt für einen buchstäblich coolen Nebeneffekt: „Wenn die Erdbatterien am Ende des Winters leer und ausgekühlt sind“, sagt Architekt Alfred Berger, der gemeinsam mit seiner Partnerin Tiina Parkkinen das Büro Berger+Parkkinen leitet und das Projekt in Kooperation mit Architekt Christoph Lechner (CEHL) geplant und umgesetzt hat, „müssen wir sie für die kommende Saison wieder mit Energie auffüllen. Daher nutzen wir die Geothermie, um die Wohnungen im Sommer um ein paar Grad zu kühlen. Das ist ein überaus komfortables Angebot, das im geförderten Wohnbau Seltenheitswert hat.“

Eine weitere Besonderheit ist das gemeinsam mit dem Verein Rusz (Reparatur- und Servicezentrum) betriebene Reparaturcafé, in dem die Bewohner mit der Instandsetzung von Haushaltsgeräten vertraut gemacht werden sollen. Weiters wird die WBV-GPA die Haushaltsgeräte in den Waschküchen und in den bereits möblierten Wohneinheiten von Rusz anmieten. Auf Wunsch soll das nachhaltige Kreislaufwirtschaftskonzept auch auf die Wohnungen übertragen werden. Wer möchte, kann – statt in neue Elektrogeräte zu investieren – eine Art Nutzungsvertrag mit dem Verein Rusz abschließen und seine Elektrogeräte über eine monatliche Gebühr anmieten, servicieren und bei Bedarf auch kostenlos reparieren und erneuern lassen.

„All in Penzing“

Der Eigenmittelanteil beläuft sich auf 298 Euro pro Quadratmeter, die monatliche Miete auf 7,97 Euro pro Quadratmeter. In den Smart-Wohnungen reduzieren sich die Kosten ganz klassisch auf 60 Euro Eigenmittelanteil und 7,50 Euro Miete. Hinzu kommen diverse Verbandswohnungen für Alleinerziehende, Garçonnierenverbünde, eine WG für Kinder und Jugendliche, Werkstätten und Büros für den Verein Balance sowie ein Intergenerationenzentrum unter dem Namen „All in Penzing“, das vom Kuratorium Wiener Pensionistenwohnheime betrieben wird und die lokale Nachbarschaft von Jung und Alt stärken soll. Geplante Fertigstellung: November 2022.

Der Standard, Mi., 2021.11.17

09. Oktober 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Das Paradies ist die Hölle

The Villages, ein schwer profitables Sozialexperiment mitten in Florida, ist die größte Rentnersiedlung der Welt. Der Dokumentarfilm „The Bubble“ holt das Leben der 150.000 Einwohner vor die Linse. Seit gestern im Kino.

The Villages, ein schwer profitables Sozialexperiment mitten in Florida, ist die größte Rentnersiedlung der Welt. Der Dokumentarfilm „The Bubble“ holt das Leben der 150.000 Einwohner vor die Linse. Seit gestern im Kino.

Fokussierter Blick nach vorn, Augen zusammengekniffen, auf dem Kopf ein schwarzes Baseball-Käppi, Aufnäher von der National Rifle Association, „NRA Instructor“, darüber schwarze Ohrenschützer – und dann Schuss, und noch einer, Volltreffer ins Schwarze. „Ich habe heute fast mehr zu tun als in meinen Berufsjahren“, sagt Terry Marksberry in der zehnten Minute. „Bei mir ist fast jeden Tag etwas los. Dieser aktive Lebensstil hält einen jung. Hier sitzt man nicht auf seiner Veranda im Schaukelstuhl. Oh nein, so funktioniert das hier nicht.“

The Villages ist die größte Rentnersiedlung der Welt und zugleich das schnellstwachsende Stadtgebiet der USA. Mehr als 150.000 Pensionistinnen und Pensionisten haben hier, im Herzen Floridas, eine Autostunde nordwestlich von Orlando, ein Zuhause gefunden, in dem sie nun ihren Lebensherbst verbringen. Wohnberechtigt ist, wer zumindest das 55. Lebensjahr abgeschlossen hat. Die meisten bleiben hier bis zu ihrem Tod. „Sowieso. Ich wüsste gar nicht, wo ich sonst hingehen sollte“, sagt Terry schulterzuckend, 80 Jahre alt, jung geblieben wie nur was. Und Schnitt.

Aneinander vorbeileben

„Streng genommen ist The Villages aber nicht einmal eine Stadt, geschweige denn eine politische Gemeinde“, sagt Valerie Blankenbyl, „sondern ein Entwicklungsgebiet eines mittlerweile sehr großen und sehr mächtigen Familienunternehmens. The Villages Incorporated kauft seit den 1980er-Jahren permanent Land an und hat sich auf diese Weise auf die beinahe doppelte Fläche von Manhattan vergrößert.“ 142 Quadratkilometer privates Firmengelände, öffentlich ist hier nur eine Handvoll Straßen und Plätze.

Seit 2014 forscht die 37-jährige Filmemacherin bereits an urbanen Strukturen, in denen alte und junge Generationen aneinander vorbeileben. 2017 nahm das Projekt konkrete Formen an, 2019 haben nach jahrelanger Recherche die Dreharbeiten begonnen. Immer wieder wurden dem Filmteam seitens The Villages Inc. Steine in den Weg gelegt, mitsamt Drohungen und Rufschädigung in der ganzen Stadt. Nun ist der 950.000 Euro teure Dokumentarfilm endlich fertig. Am Dienstag war Premiere im Wiener Votiv-Kino. Seit Freitag läuft The Bubble österreichweit in den Kinos.

Die Expansion stoppen

„Wir wissen, wir sind hier in einer Bubble“, sagt Toni Hyde, eine fesche alte, mehrfach auf dem OP-Tisch verjüngte Frau, die mit ihrem BMW-Cabrio in die Disco fährt, um dort live zu singen. „I want a little sugar in my bowl. I want a little sweetness down in my soul.“ „Aber es ist eine schöne Blase.“ Später im Film wird man sie mal ohne Perücke sehen, die melierte Schönheit in der Hand haltend, mit der Bürste durchkämmend. „Es ist eine wunderbare Sache. Man geht in den Supermarkt, in den Nachtclub oder auf den Golfplatz, und alle sind in unserem Alter. Wir denken also gar nicht an das Alter. Wir sind alle gleich.“

The Villages bietet 54 Golfplätze, 70 Swimmingpools, 96 Freizeitzentren und mehr als 3000 Klubs und Vereine. Auch der Vorspann des Films, in dem nach einer strengen Choreografie sieben Golfcarts plötzlich gleichzeitig auf die Straße hinausrollen und – von einer Drohne gefilmt – im Gänsemarsch durch die Stadt fahren, wurde in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Golf Cart Precision Drill Team gedreht, erzählt die Regisseurin. Man lacht, man schüttelt den Kopf, man erwischt sich selbst dabei, wie man die hier lebenden Menschen – wie so oft im etwas strangen Make-it-great-again-America – verächtlich bemitleidet. Alles sehr lustig. Eh klar.

Doch die größte Qualität von The Bubble besteht darin, dass der Film die vordergründige, oberflächlich humorvolle Sozialblase nach nicht einmal einer Viertelstunde erstmals zum Platzen bringt. Seit geraumer Zeit betreibt das von Harold S. Schwartz gegründete und nun in dritter Generation geführte Familienunternehmen The Villages Inc. eine aggressive Expansionspolitik, bei der mit Scheinfirmen und versteckten Tochterunternehmen den Großgrundbesitzern das Land abkauft und die für Florida typischen Sumpfgebiete unter Umgehung von Bauvorschriften und Widmungsvorgaben mehr und mehr in Siedlungsretorten verwandelt werden.

Und die Strategie wird von Jahr zu Jahr unappetitlicher: Grundbesitzer, die sich weigern, ihr Land und ihre Häuser zu verkaufen, und das oft unter Wert, werden von The Village einfach wie ein Krebsgeschwür eingekesselt und mit Mauern und Zufahrtsschranken zugebaut. In den nächsten zehn Jahren, so der Plan, soll sich das Rentnerparadies auf die Fläche von Orlando verdoppelt haben. Rund um The Villages haben sich zahlreiche Bürgerinitiativen gebildet, die mit allen Mitteln versuchen, die Expansion zu stoppen. Zum Teil vergeblich. Manche Grundstücke haben längst die Besitzer gewechselt.

„Was The Villages ausmacht? Sie wollen alles kontrollieren“, sagt Lauren Ritchie, Journalistin und Kolumnistin für den Orlando Sentinal, eine der wenigen kritischen Stimmen, die sich trauen, namentlich aufzutreten. „Das ist ein wirklich seltsames soziales Experiment.“ Andere, die im Film anonym bleiben, wurden von The Villages Inc. bereits erpresst und mehrfach bedroht. Die lokale Tageszeitung Daily Sun liegt fest in der Hand des Vorstands. Und aus den öffentlichen Lautsprechern auf Straßen und Plätzen dringen rund um die Uhr Musik, Werbung und Nachrichten von WVLG, FM 102,7, einem Partner von Fox News.

Surreale Wucht

„Künstliche Konstrukte wie The Villages sind eine Bedrohung für den Menschen und die Natur“, sagt Valerie Blankenbyl. „Die Sümpfe verschwinden, die Moskitos werden mit Pestiziden ausgerottet, und aufgrund des hohen Wasserverbrauchs für die 54 Golfplätze ist der lokale Grundwasserspiegel rund um den Ort um bis zu drei Meter gesunken.“ Die Bilder von Kameramann Joe Berger, die diese Phänomene einfangen, sind eine surreale Wucht.

Gefahr sieht die Filmemacherin, die von den Anwälten von The Villages regelmäßig unter Druck gesetzt wurde, aber auch für die Gesellschaft: „Jeder von uns lebt in einer Bubble. Den Wunsch nach dieser Idylle kann man den Bewohnerinnen und Bewohnern von The Villages nicht vorwerfen. Die Kritik richtet sich an die Bau- und Immobilienwirtschaft, die diese monokulturellen und sozial radikalen, kaum durchmischten Strukturen fördert und als Sehnsuchtsort bewirbt.“ Am Anfang Lachen, am Ende Trauer und Wut. Ein Meisterwerk.

Der Standard, Sa., 2021.10.09

18. September 2021Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

20 Jahre Museumsquartier: Oase mit einem Quäntchen Mut

Vor 20 Jahren wurde das Wiener Museumsquartier eröffnet, die Geburtsstunde eines der größten Kulturbezirke Europas. Doch wie hat sich das MQ in zwei Jahrzehnten gemausert?

Vor 20 Jahren wurde das Wiener Museumsquartier eröffnet, die Geburtsstunde eines der größten Kulturbezirke Europas. Doch wie hat sich das MQ in zwei Jahrzehnten gemausert?

Plus
Wojciech Czaja

600Pferde und 200 Karossen, sagt Wikipedia, sollen in den ehemaligen Hofstallungen, errichtet 1713 nach Plänen des Barockbaumeisters Johann Bernhard Fischer von Erlach, Platz gefunden haben. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch war von der einstigen Pracht nicht mehr viel zu spüren. Der sogenannte Messepalast verlor zusehends an Charme, und auch die letzten Ausstellungen Wunderblock oder Von der Natur in der Kunst , die wir mit unseren Vätern gesehen haben, glichen mehr einem Hindernisparcours durchs Gruselkabinett als einer kunst- und kulturwürdigen Ausstellungsstätte.

Im September 2001, vor genau zwei Jahrzehnten, wurde das Areal als saniertes und erweitertes Museumsquartier wiederbelebt – mit Mumok, Kunsthalle, Leopold-Museum, Architekturzentrum Wien, Zoom Kindermuseum, Tanzquartier Wien und ohne 67 Meter hohen Leseturm. Zugegeben, die Architektur im gesamten MQ ist mäßig spannend und endenwollend innovativ. Alles ist zu plump, zu niedrig, zu nichtssagend. Und die mindermittelmäßigen Kompromisse zwischen Kronen Zeitung , Bürgermeister Helmut Zilk und Denkmalschutzexperte Manfred Wehdorn haben mehr politischen als baukulturellen Aussagewert. Ja eh.

Und doch ist das Museumsquartier selbst nach 20 Jahren einer der spannendsten Orte Wiens. Wer weiß, vielleicht gerade deshalb – weil es keinen Leseturm gibt, weil der Fischer-von-Erlach-Trakt nie aufgerissen und zur Stadt hin geöffnet wurde, weil das MQ als architektonisch dermaßen langweilige Insel inmitten einer dichtbebauten Stadt schlummert, die außerhalb der MQ-Konturen einem stetigen stadtpolitischen und marktwirtschaftlichen Wandel unterworfen ist.

Michel Foucault hat in den 1960er-Jahren den Begriff der „Heterotopie“ geprägt, eines Ortes also, der in seiner Abgeschiedenheit nach speziellen gesellschaftlichen Codes funktioniert. „Die Heterotopie vermag an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind“, schrieb der französische Philosoph 1967. „Die Heterotopien setzen immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“

Das MQ als isolierte und doch durchdringliche urbane Heterotopie ist zu einem unverzichtbaren öffentlichen Freiraum Wiens geworden – mit bunten Enzis, die in ihrer Kleinheit und Genialität die Welt erobert haben, von Bayreuth über Moskau bis ins ferne Kanada, mit komischen Libellen, die unlängst auf dem Leopold-Dach gelandet sind, um doch noch einen neuen Society-Ort zu schaffen, und einem Unterhaltungsprogramm samt Stinkepunsch, Eisstockschießen und prokrastinativem Enzi-Bobolümmeln. Wien ohne MQ?

Unvorstellbar.

Minus
Maik Novotny

Vielleicht ist es eines der Geheimrezepte für Wiens Spitzenplatz in den Lebensqualitätsrankings, dass man in dieser Stadt das Sich-Arrangieren mit dem Kompromiss perfektioniert hat. Jede Empörung gleitet nach einer Zeit zuverlässig in einen Zustand des „Passt eh“ hinüber, ab dann ist jede Kritik ein Sudern, das die Gemütlichkeit stört. Ja, das gilt auch für das Museumsquartier. Sicher, 20 Jahre nach seiner Eröffnung gilt es als Erfolgsgeschichte, und das nicht ohne Grund. Der Innenhof funktioniert als Stadtraum perfekt für Einheimische und Touristen. Die kulturellen Highlights sind beeindruckend.

Aber dabei wird vergessen, dass der Kulturbezirk sich mit bleiernen Schuhen von der Startlinie schleppte: Er war im Stadtraum unsichtbar. So verzweifelt waren die Macher, dass der damalige Mumok-Direktor Edelbert Köb 2002 vorschlug, einen gigantischen Spiegel an einen Heißluftballon zu hängen, um den Hof von außen sichtbar zu machen.

Das lag daran, dass das MQ dank gewisser Kräfte (Gott habe Hans Dichand selig) gar nicht im Stadtraum sichtbar sein sollte. Der Leseturm wurde geculturecancelt, die Museen Leopold und Mumok mussten sich hinter die niedrigen Hofstallungen ducken, der Vorplatz an der Zweierlinie erinnert mit seinen Wiesen und Hecken an einen leblosen Kleingarten. An diesen Kinderkrankheiten laboriert man bis heute.

Der Weg zur Kunst ist ein Hindernislauf. Hat man es durch die maulwurfsartigen Durchschlupfe endlich in den Hof geschafft, heißt es, steile Stiegen emporzuklettern und sich durch niedrige Portale zu quetschen, bis man das Museumsinnere erreicht, das ebenfalls von drückender Enge ist, was immer wieder für kuratorisches Kopfzerbrechen sorgte. Die Kunsthalle mit ihrem Klinkerfassaden-Look à la Stadtbücherei Wolfenbüttel wurde gleich komplett in den Lieferantenhof verräumt, ihr labyrinthisches Foyer ist eine Farce. Die Höfe seitlich der weißen und schwarzen Würfel sind in ihrer Übriggebliebenheit bis heute leblose Quasi-Sackgassen, an deren Ende Muschelkalk und Basaltlava unmotiviert mit der sakrosankten barocken Putzfassade kollidieren.

Es musste viel nachgebessert werden (die Rampe zum nicht auffindbaren Restaurant im Mumok, das Wegeleitsystem), die Rettung des MQ kam mit den Sitzmöbeln der Enzis, weil man vergessen hatte, dass sich Menschen im öffentlichen Raum gerne hinsetzen. Schöne Kulisse und hochkarätiges Kulturprogramm – das konnte Wien schon immer. Aber das verdeckt bis heute die Tatsache, dass die Architektur und die Zugänglichkeit immer noch nicht funktionieren. Es hätte so viel besser sein können, wenn man es von Anfang an zugelassen hätte und den Kräften der Kulturlosigkeit nicht nachgegeben hätte. So bleibt ein schön scheinender Kompromiss.

Der Standard, Sa., 2021.09.18

08. September 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Haus wartet auf die Mobilitätswende

Die Wohnanlage in der Oleandergasse hätte ein wunderbares Pilotprojekt für die Sharing Economy werden sollen. Doch es kam anders. Heute sind die Wohnungen im Norden der Donaustadt vor allem eine wertvolle Quelle der Erkenntnis.

Die Wohnanlage in der Oleandergasse hätte ein wunderbares Pilotprojekt für die Sharing Economy werden sollen. Doch es kam anders. Heute sind die Wohnungen im Norden der Donaustadt vor allem eine wertvolle Quelle der Erkenntnis.

Wenn die Straßen nach Ginster, Herzblumen und Pelargonien benannt sind, dann weiß man, dass die Stadtgrenze nicht mehr fern ist. Im Falle der Wohnsiedlung Oleandergasse, errichtet von der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA), sind es keine 2000 Schritte quer durch den Acker, bis man Wien verlassen hat und mit beiden Beinen in Niederösterreich steht. Und doch hat sich der gemeinnützige Bauträger für dieses Projekt ein besonderes Mobilitätskonzept einfallen lassen – ohne Tiefgarage, dafür aber mit einem flexibel befahrbaren und beparkbaren Anger sowie einem elektrischen Fuhrpark auf Sharing-Basis. So viel zur Theorie. Die Praxis sieht ein wenig anders aus.

Am Anfang stand die Idee im Raum, hier oben im Wiener Norden die Bebauungs- und Besiedelungskultur der letzten Jahrhunderte zu respektieren und ein Wohnprojekt zu errichten, dass sich ganz in die Tradition dieses Ortes fügt. Breitenlee zeichnet sich durch Ackerbau, landwirtschaftlich geprägte Dörfer und historische Angerstrukturen mit Hakenhöfen aus. Und so entstand die Idee, auf eine kostspielige Tiefgarage zu verzichten und stattdessen in einen hochwertigen Holzbau und eine bis dahin einzigartige Freiraumgestaltung zu investieren, in der Mensch und Auto je nach Bedarf einmal mehr, einmal weniger Platz einnehmen.

Wer unbedingt ein eigenes Fahrzeug benötigt, so der Plan von Querkraft Architekten und Architekt Thomas Moosmann, der soll am Rande des Angers parken und die Mitte zum Spielen und Spazierengehen frei lassen. Je weniger Menschen parken, desto größer der unverparkte Dorfplatz im Zentrum der Anlage. Um den Umstieg auf Sharing Economy zu versüßen, wurde ein Mobility-Point mit E-Bikes, E-Scootern und Elektroautos samt Steckdose errichtet. 2018 wurden die Wohnungen übergeben.

Allein, nach zwei Jahren mäßig geglückten Betriebs musste das Mobility-Konzept mangels Nachfrage aufgegeben werden. „Im Grunde genommen bietet eine Wohnhausanlage mit 133 Wohnungen ausreichend kritische Masse für so ein innovatives Mobilitätskonzept“, sagt Cilli Wiltschko, Leiterin der Projektentwicklung in der WBV-GPA. „Allerdings haben wir uns als Bauträger in einem Punkt verkalkuliert. Denn für Sharing Mobility liegt die Oleandergasse erstens zu weit am Stadtrand und ist zweitens nicht gut genug an den öffentlichen Verkehr angebunden. Die meisten Leute, die hier eingezogen sind, haben ein eigenes Auto. In der Seestadt Aspern oder in der Nähe einer U-Bahn-Station hätte das Konzept wahrscheinlich wunderbar funktioniert.“ Nun stehen so viele Autos auf dem Anger, dass die freie Mitte auf ein Minimum geschrumpft ist, berichtet Wiltschko. „Das ist schade, aber auch Teil des Freiraum- und Mobilitätskonzepts.“
Das Stadtrandproblem

Was ist das Learning für die Zukunft? „Ich mag dieses Projekt, weil hier tolle Ideen und auch wichtige Erkenntnisse drinstecken“, sagt Wiltschko und appelliert daran, in Zukunft nicht alle Bauträgerwettbewerbe über einen Kamm zu scheren. „Ein innovatives Mobilitätskonzept hat durchaus Sinn in der Stadt, entlang der U-Bahn oder in Stadterweiterungsgebieten mit einer bestimmten, von den Bewohnerinnen und Bewohnern mitgetragenen Identität. Am Stadtrand aber ist so ein Konzept – zumindest aus heutiger Sicht – nicht zielführend.“

Die Hoffnung ist noch lange nicht verloren. „Wir können davon ausgehen“, sagt Architekt Jakob Dunkl von Querkraft, „dass sich die individuelle Mobilität in den nächsten zehn bis 20 Jahren dramatisch verändern wird – weg vom Auto als Eigentumsobjekt hin zur Bewegung als Dienstleistung. Die Wohnhausanlage in der Oleandergasse wird darauf rasch reagieren und sich im Nu in einen Dorfplatz zum Spielen und Spazierengehen verwandeln.“

Der Standard, Mi., 2021.09.08



verknüpfte Bauwerke
WHA Oleandergasse

28. August 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Haus für Billy

Ein radikales Möbelhaus mit Symbolwirkung am Wiener Westbahnhof: Der neue City-Ikea von Querkraft Architekten hat nicht nur 160 Bäume auf dem Dach und an der Fassade, sondern auch keine Autos in keiner Garage.

Ein radikales Möbelhaus mit Symbolwirkung am Wiener Westbahnhof: Der neue City-Ikea von Querkraft Architekten hat nicht nur 160 Bäume auf dem Dach und an der Fassade, sondern auch keine Autos in keiner Garage.

Das Haus, die Fassade, die Offenheit, die vielen Bäume, und dann erst die Bienen, die kommendes Frühjahr einziehen werden“, sagt Marie, gelbes T-Shirt, am Rücken ein „Hej!“, wir sind per du, „also ich finde dieses Konzept absolut überwältigend. Für mich ist das der schönste und außergewöhnlichste Ikea, in dem ich je war.“ Seit sechs Monaten ist Marie Hofmann Customer Experience and Event Manager, so nennt sich ihr Job, am neuen City-Standort neben dem Wiener Westbahnhof. Sie hat das Projekt in der letzten Bauphase begleitet und ihre Expertise eingebracht, damit das Einkaufserlebnis im kleinsten Schwedenmöbelhaus Österreichs zum Abenteuer wird.

Erster Eindruck nach einem Minieinkauf mit selbst eingescannten und kontaktlos bezahlten Jubla, Fantastisk und Sommardröm: Viel Arbeit wird Marie damit nicht haben, denn die ersten Kundinnen und Kunden, die sich für die Einkaufspremiere online registrieren mussten, sind ganz verzückt beim Durchwandern der Etagen, ohne dass sie zwischen potemkinschen Schlafzimmerkojen irgendwelchen blöden Pfeilen auf dem Boden folgen müssen. Und auch das architektonische Auge ist bisweilen ungehalten baff ob der Tatsache, dass dieses Konzept eines autolosen Blumentopfhauses – wie zu Beginn in tollkühner Manier direkt aus dem Hirn herausskizziert – den Weg in die Realität gefunden hat.

„Das war von Anfang an eine sehr einzigartige Zusammenarbeit“, sagt Jakob Dunkl, Querkraft Architekten, „denn wir wurden gebeten, einen radikalen Entwurf zu machen und uns ruhig etwas zu trauen. Also haben wir uns getraut.“ Neun Architekturbüros aus ganz Europa wurden 2017 zu einem zweistufigen Wettbewerb eingeladen, darunter auch so alte Retailhasen wie BWM, BEHF und Snøhetta. Aufgrund eines Kopf-an-Kopf-Rennens wurde kurzerhand noch eine dritte Stufe einberufen, die Querkraft für sich beanspruchen konnte.

„Ikea hat viel weniger Nutzfläche gefordert als laut Bauordnung und Flächenwidmung auf das Grundstück draufgepasst hätte, also haben wir uns entschieden, auf allen Seiten um mehr als vier Meter zurückzuspringen und der Stadt ein Stück Natur zurückzugeben“, so Dunkl. Rund um das eigentliche Gebäude, das in Stahlbeton-Skelettbauweise errichtet wurde und während der Bauphase noch ein mäßig famoses Bild abgegeben hat, steht nun ein weißes, sechsgeschoßiges Stahlregal aus 30 Zentimeter fetten I-Trägern und bildet damit eine Matrix für Erker, Terrassen und Dutzende Laub- und Nadelbäume, die ausschauen, als hätte ein Riese Bonsaibäumchen und kleine Sukkulenten in sein Billy-Regal hineingestellt.

Zu den an der Fassade eingetopften Pflanzen zählen Ahorne, Kiefern, Birken, Buchen, Eichen, Eschen, Weidenbäume sowie diverse Gräser, Stauden und Beeren. Die Artenvielfalt spiegelt jene Flora wider, die in der südschwedischen Provinz Småland – der Heimat des Ikea-Gründers Ingvar Kamprad – zu finden ist. Entwickelt wurde die Freiraumplanung von Green for Cities und Kräftner Landschaftsarchitektur. Den beiden Büros ist auch die unsichtbare Gartentechnik zu verdanken, denn jeder einzelne der insgesamt 160 Blumentöpfe, die an vier Fassaden und auf der öffentlich zugänglichen Dachterrasse montiert sind, ist mit Feuchtigkeitssensoren und automatischer Be- und Entwässerung ausgestattet.

„Die Lieferung und Montage der Bäume war sehr spannend, denn aufgrund des großen Gewichts mussten die Töpfe, die Bäume und das Erdreich voneinander getrennt auf das Haus gehoben werden“, sagt Sandra Sindler-Larsson, Market Establishment Manager beziehungsweise, weniger du-ikea-deutsch, technische Projektleiterin auf Bauherrenseite. Immerhin wiegen die gefüllten und bewässerten Behältnisse, eine Ingefära-Kopie, Blumenabteilung, vier Euro das Stück, je nach Größe und Baumsorte zwischen 1,5 und sieben Tonnen. „Natürlich wären eckige Tröge billiger gewesen als diese runde Version aus gebogenem, zusammengeschweißtem Stahlblech, aber Blumentöpfe sind nun einmal rund.“

Im Inneren gleicht der Ikea, dessen Fassade mit Glas und Sandwich-Paneelen verkleidet und der an das Wiener Fernwärmenetz angeschlossen wurde, auf den ersten Blick einem normalen, viergeschoßigen Möbelhaus. Mit nur 20 nachgestellten Showrooms liegt der Fokus weniger auf dem häuslichen Einlullen wie in jeder anderen blaugelben Kiste am Stadtrand als vielmehr auf dem Spaziergehen und Stöbern.

Auch das Sortiment unterscheidet sich deutlich: Kaufen kann man alles, bis hin zur maßgeschneiderten Küche, allerdings liegen im unterirdischen, vollautomatisierten Regallager lediglich 3000 Cash-and-Carry-Produkte bereit. Mitnehmen kann man nur, was man in einer Tragtasche in der U-Bahn transportieren kann. Alles andere wird mit einem der 30 neu angeschafften Elektro-Trucks bis vor die Wiener Wohnungstür geliefert.

Aus genau diesem Grund gibt es auch keine Pkw-Garage. Es ist das erste Mal weltweit, dass Ikea dieses radikale Mobilitätskonzept umsetzt. Zu verdanken ist dies vor allem zwei querdenkenden Personen, die 2012 die Initiative ergriffen und die Spielregeln für eine innerstädtische Ansiedlung des schwedischen Unternehmens definiert haben – der damaligen Wiener Planungsstadträtin Maria Vassilakou und dem ehemaligen Wiener Planungssprecher Christoph Chorherr (beide Grüne).

In den obersten zwei Stockwerken gibt es ein Hostel mit 345 Betten, das von der Accor-Tochter Jo&Joe betrieben wird und das sowohl von der Straße per Lift als auch direkt vom Ikea-Restaurant aus betreten werden kann. Durch begrünte Atrien, die von oben ins Haus hineingedrückt wurden, werden alle Zimmer und Dorms mit Tageslicht erschlossen. Das Dachgeschoß schließlich ist, wie dies im städtebaulichen Vertrag vorgeschrieben war, täglich von acht bis 24 Uhr öffentlich zugänglich. Mit zig Bäumen, weißen Container-Bars und betonierten Klippan-Sofas mit Blick auf die Stadt.

Seit wenigen Tagen ist das neue Haus (Gesamtinvestitionsvolumen 140 Millionen Euro) in Betrieb. Seit wenigen Tagen hat Wien endlich eine zeitgenössische, sehenswerte Architekturikone. Hej!

Der Standard, Sa., 2021.08.28

24. Juli 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Utopie Alltag

Eisenhüttenstadt ist die erste sozialistische Planstadt der DDR. In einer Ausstellung werden nun Geschichte, Gegenwart und Zukunft beleuchtet. Lernfaktor enorm.

Eisenhüttenstadt ist die erste sozialistische Planstadt der DDR. In einer Ausstellung werden nun Geschichte, Gegenwart und Zukunft beleuchtet. Lernfaktor enorm.

Der Hochofen ist das höchste Bauwerk der Stadt. So etwas wie der Kirchturm auf dem Dorfplatz. Bloß halt wichtiger, praktischer, effizienter. „19. September 1951 in Betrieb genommen“, steht auf einer Metalltafel am Fundament. Und damit nahm Eisenhüttenstadt an der ostdeutsch-polnischen Grenze, knapp 100 Straßenkilometer von Berlin entfernt, seinen Anfang. Heute zählt die sozialistische Planstadt, die aussieht, als hätte ein SED-Funktionär mit der Modelleisenbahn gespielt und zwischen all den Häusern, Laternen und Moosgummibäumen vor lauter Euphorie auf die Zuggleise vergessen, zu den außergewöhnlichsten Stadtutopien des 20. Jahrhunderts.

„Eisenhüttenstadt ist die erste sozialistische Planstadt der DDR und war damals der gebaute, manifest gewordene Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Modells“, sagt Florentine Nadolni. „Tatsächlich steht diese Stadt für Euphorie und Optimismus, denn sie war das Produkt einer jungen, tatkräftigen und technisch gebildeten Bevölkerung, die dem kriegszerstörten Deutschland den Rücken kehrte und in dieser neuen Stadtutopie ihre Träume ausleben konnte. Schon der erste Eindruck auf der Leninallee mit ihren weiten Plätzen, ihren Blumenbeeten und all ihren Lokalen und Feinkostläden war für die Ankommenden ein Erlebnis.“

Nadolni, 40 Jahre alt, selbst ein Kind der DDR, ist ausgebildete Soziologin und Kulturwissenschafterin und beschäftigt sich mit dem kulturellen Erbe der Deutschen Demokratischen Republik. Seit 2017 leitet sie das Museum Utopie und Alltag mit Sitz in Eisenhüttenstadt. Die rund 500 Quadratmeter kleine Institution ist in einem ehemaligen Kindergarten beheimatet und widmet sich der wissenschaftlichen Aufbereitung und Dokumentation der DDR-Alltagskultur.

„Ohne Ende Anfang“

„Und Teil dieser Kultur“, sagt Nadolni, die die Ausstellung gemeinsam mit Axel Drieschner kuratierte, „ist auch die Art und Weise, wie in der DDR gelebt und gewohnt wurde und wie wir mit diesem Erbe heute umgehen.“ Diesen Fragestellungen widmet sich die Ausstellung Ohne Ende Anfang , die neben dem prominenten Protagonisten Eisenhüttenstadt auch Querverbindungen zu Schwedt/Oder (Erdölverarbeitung) und zum polnischen Pendant Nowa Huta bei Krakau (Stahlindustrie) schafft.

Im Gegensatz zu bestehenden Städten, die in den DDR-Jahrzehnten lediglich überformt und erweitert wurden, konnten in Eisenhüttenstadt jene 16 Grundsätze des Städtebaus , die im April 1950 in der Sowjetunion verfasst und im Juli 1950 vom Ministerrat der DDR verabschiedet wurden, vom Fundament auf als perfektes Ideal realisiert werden. Dazu zählen etwa die „harmonische Befriedigung des menschlichen Anspruchs auf Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung“ (2. Grundsatz) sowie ein adäquates „Antlitz der Stadt“, eine „individuelle künstlerische Gestalt“ und Plätze als „strukturelle Grundlage der Planung der Stadt und ihrer architektonischen Gesamtkomposition“ (9. Grundsatz).

„Das Zentrum von Eisenhüttenstadt wurde zu Beginn errichtet und ist in einem historisierenden, sozialistischen Klassizismus gehalten“, sagt Nadolni. „Mit dem Tod Stalins 1953 ändert sich die Architektursprache, und die weiteren Bauten werden schlichter, nüchterner, industrieller. In den äußeren Wohnkomplexen wurden dann nur noch günstige und schnell zu errichtende Plattenbauten realisiert. Was sich jedoch als Qualität durch ganz Eisenhüttenstadt durchzieht: Platz, Weite, Licht, Luft und viel Grün.“

Zudem wurden die Straßen und Wohnhäuser so positioniert, dass die Menschen von daheim in die Arbeit zu Fuß gehen und dabei den Straßenverkehr meiden konnten. „Die Innenhöfe sind miteinander verbunden, sodass sie nicht nur ein Ort der Freizeit, sondern auch eine attraktive Verkehrsfläche für Passantinnen und Passanten sind.“ Aufgrund der Architektur und der besonderen städtebaulichen Anlage steht Eisenhüttenstadt heute unter Denkmalschutz. Teile dieses größten Flächendenkmals Deutschlands sogar schon seit den 1980er-Jahren.

Wie geht es weiter?

Um die dramatisch schrumpfende Stadt – die Hälfte der einst 50.000 Einwohner ist bereits weg – vor dem Verfall zu schützen, hat sich Eisenhüttenstadt für einen einzigartigen Weg entschieden: Die Stadtränder mit ihren Plattenbau-Wohnkomplexen wurden in den letzten Jahren sukzessive abgerissen, das Zentrum der Stadt jedoch zum Teil aufwendig und behutsam saniert – zumindest dort, wo die Handhabe noch möglich ist. Nadolni: „Einige Schlüsselbauwerke wie etwa das Hotel Lunik befinden sich in privater Hand und sind reine Spekulationsobjekte. Die Investoren halten sich bedeckt, man kann den Häusern beim Einsturz zusehen.“

Wie geht es weiter? Bis 2026 soll die Stahlhütte – einst Eisenhüttenkombinat Ost (EKO), heute ArcelorMittal – auf grüne Energie umgestellt werden. Fragwürdig, ob das Werk, das statt der einst 16.000 heute nur noch 2500 Menschen beschäftigt, eine weitere Wende überleben wird. „Aus denkmalpflegerischer Sicht ist Eisenhüttenstadt ein richtiges Juwel, aber das Gesellschaftsmodell, das diese Stadt verkörpert, ist bereits Geschichte“, sagt Thomas Drachenberg, Landeskonservator in Brandenburg, dem ΔTANDARD. „Es braucht ein Existenzkonzept für die Zukunft, auch ohne die Schwerindustrie.“

Wie dieses Konzept aussehen könnte, ist Teil der Ausstellung. Die Besucher sind eingeladen, ihre Ideen zu teilen. Und Kuratorin Florentine Nadolni träumt davon, sich mit anderen Planstädten wie etwa Nowa Huta, Dunaújváros (Ungarn), Dimitrowgrad (Bulgarien) und Magnitogorsk (Russland) zu vernetzen. „Bei aller Liebe zu diesem Denkmal, aber wir sind auch von Rückbau und Depression betroffen. Umso wichtiger sind eine gesamteuropäische Offenheit und eine internationale Vision für uns alle.“

[ „Ohne Ende Anfang. Zur Transformation der sozialistischen Stadt“, Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt. Bis 29. Mai 2022 ]

Der Standard, Sa., 2021.07.24

17. Juli 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Stadt, Land, Bild

Gestern, Freitag, wurde in Frankfurt der Europäische Architekturfotografie-Preis vergeben. An der Schnittstelle von arm und reich, von schön und hässlich, von städtisch und ländlich gibt es eine Bewegungsunschärfe.

Gestern, Freitag, wurde in Frankfurt der Europäische Architekturfotografie-Preis vergeben. An der Schnittstelle von arm und reich, von schön und hässlich, von städtisch und ländlich gibt es eine Bewegungsunschärfe.

Wohnblöcke, Plattenbauten, austauschbare Hochhäuser bis zum Horizont. Und nicht selten sind auf seinen Fotos noch Rohbauten und dutzende Baukräne zu sehen, die sich im Kreis drehen und Fenster und Betonfertigteile in den zehnten oder 20. Stock hinaufziehen. Doch eine Gemeinsamkeit haben sie alle, die rund 30 dezentralen Stadtlagen in der Türkei, die der deutsche Architekturfotograf Norman Behrendt in den letzten Jahren mit seiner Linse eingefangen hat: Irgendwo dazwischen findet sich immer eine Moschee mit unzähligen Kuppeln und Minaretten, anachronistisch in Gold, Silber und Kupfer schimmernd, und man kennt sich nicht aus: Was ist alt, und was ist neu?

Passend zu Corona-Zeiten

„Der Zuzug der ländlichen Bevölkerung in die Städte ist enorm, und so wird an den Stadträndern im Eiltempo gebaut, um Wohnraum für Tausende von Menschen zu schaffen“, sagt Behrendt, der regelmäßig in der Türkei ist und 2015 seine Fotoserie Brave New Turkey gestartet hat. „Der Bau von Moscheen ist Teil dieser Stadtentwicklung, dabei gibt es zwischen der modernen, zeitgenössischen Architektursprache der Wohnblöcke und der historistischen Anmutung der Gebetshäuser einen stilistischen Clash, der mitunter sehr befremdlich wirkt und mich darüber nachdenklich stimmt, welchen Stellenwert die Religion in der derzeit konservativ regierten Türkei einnimmt. Viele Aleviten, mit denen ich gesprochen habe, halten diese Entwicklung für fragwürdig und beängstigend.“

So wie am Beispiel der Yaşamkent-Nur-Moschee in Ankara. Die gezeigte Aufnahme mit der gülden glitzernden Dachlandschaft stammt aus dem Jahr 2017 und findet sich unter jenen Preisträgern und Auszeichnungen, die gestern, Freitag, im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main mit dem Europäischen Architekturfotografie-Preis ausgezeichnet wurden. Die Ausschreibung stand heuer unter dem Motto „Das Urbane im Peripheren“ und widmete sich jenen Tendenzen und Entwicklungen, in denen die uns bekannten Stadt- und Landbilder mal sanft, mal heftig, mal poetisch irritierend aufeinanderprallen.

„Wir haben den Preis vor Beginn der Pandemie ausgeschrieben, aber es ist fast unheimlich zu sehen, wie passend die Thematik auch in Zeiten von Corona erscheint, wenn man bedenkt, wie viele Menschen plötzlich auf das Land geflüchtet sind und wie menschenleer und gespenstisch dörflich die Stadt an manchen Tagen gewirkt hat“, sagt Christina Gräwe, Vorsitzende des Vereins Architekturbild e. V. mit Sitz in Berlin und Heidelberg. „Ja, die urbanen Spuren im ländlichen Raum sind unübersehbar.“

So auch bei Torsten Andreas Hoffmann. Der deutsche Fotograf reist regelmäßig nach Indien und erforscht mit seinen beiden Kameras, Canon 5DS R und Leica CL, die rasant wachsende Metropole Mumbai. „Es gibt wenige Städte, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Upperclass und Abgrund so groß und so tief ist wie in Mumbai. Aufgrund ihrer begrenzten Lage auf einer Halbinsel treffen die unterschiedlichen Facetten dieser Stadt hier besonders chaotisch aufeinander.“

Soziale Reibung

Mit seiner Serie Peripherie für die Armen hielt er das weltberühmte Slumviertel Dharavi fest, in dem laut Schätzungen rund 600.000 Menschen leben sollen. „Früher lag Dharavi am Stadtrand, und man fuhr auf dem Weg zum Flughafen daran vorbei“, sagt Hoffmann. „Heute aber hat sich die Stadt so weit in den Norden ausgedehnt, dass Dharavi geografisch gesehen in der Mitte der Stadt liegt. Die wichtigsten Verkehrswege führen mittendurch, die Reibung ist spürbar.“

Um genau diese soziale Reibung darzustellen, und zwar in einem Viertel, in dem die Menschen vor allem als Masse wahrgenommen werden und kaum ein individuelles Gesicht haben, fotografiert Hoffmann mit speziellen Neutraldichtefiltern, was – auch untertags – zu Bewegungsunschärfen und Belichtungszeiten von fünf bis zehn Sekunden führt.

Mit ungewöhnlich langen Belichtungszeiten arbeitet auch Oliver Heinl. Seine Fotos, die er mit bis zu 15 Sekunden lang geöffneter Blende einfängt, wurden gestern mit dem ersten Preis ausgezeichnet. „Die Stadt wird nie unsichtbar, auch nicht hier draußen im Umland von Nürnberg“, sagt der 55-Jährige. Sein Motiv: kein Gewitter, keine Polarlichter, sondern einzig und allein die nächtliche Lichtverschmutzung, die in der urbanen Peripherie die Nacht zum Tag macht. Damit gewinnt der menschliche Eingriff an der Schnittstelle Stadt und Land an sozialpolitischer und ökologischer Brisanz. Stadt ist immer und überall, auch wenn es nur ein optisches Echo am Himmel ist.

Der Standard, Sa., 2021.07.17

06. Juli 2021Wojciech Czaja
db

Die Baugruppe von Bullerbü

Das Gemeinschaftswohnprojekt B.R.O.T. in Pressbaum ist eines der auf den ersten Blick unscheinbarsten und bei näherer Betrachtung wohl schönsten Baugruppen-Projekte Österreichs. Das Wiener Büro nonconform zimmerte ein nachhaltiges Dorf aus zehn vorgefertigten Holzhäusern.

Das Gemeinschaftswohnprojekt B.R.O.T. in Pressbaum ist eines der auf den ersten Blick unscheinbarsten und bei näherer Betrachtung wohl schönsten Baugruppen-Projekte Österreichs. Das Wiener Büro nonconform zimmerte ein nachhaltiges Dorf aus zehn vorgefertigten Holzhäusern.

Die Kleinen laufen nackt durch die Botanik und richten wassergefüllte Spritzpistolen aufeinander. Fangenspielen, Räuber und Gendarm, Käferbegutachtungen auf der ausgebreiteten Handfläche. »Spinnst du? Das ist doch kein Marienkäfer! Der ist ja nicht mal rot!« – »Oh ja, die sind nicht alle rot! Du hast ja keine Ahnung …« Die ersten Minuten vor Ort fühlen sich an, als wäre man in eine Zeitmaschine ein- und in irgendeiner smartphone- und applosen Parallelwelt wieder ausgestiegen. Wie ein Wald- und Wiesenspaziergang durch Bullerbü, mit Pippi Langstrumpf , Tommy und Annika an der Hand.

»Die meisten von uns kommen aus Wien und haben sich nach einem ruhigen, nachhaltigen Leben mit geringem CO2-Fußabdruck gesehnt«, sagt Johanna Leutgöb. »Es gibt sehr viele Kinder, sehr viel Natur und auch ein gewisses Bewusstsein für die Gestaltung des Wohn- und Lebensalltags, das uns alle verbindet. Und trotzdem wohnen hier ganz viele unterschiedliche Leute aus unterschiedlichen beruflichen Backgrounds mit unterschiedlichen Lebensvorstellungen.« Johanna, 64 Jahre alt, ist Coach und Organisationsberaterin und lebt hier gemeinsam mit ihrem Partner Peter, seines Zeichens Landschaftsplaner und Landschaftsökologe. Er steht gerade in der Küche und mischt den Teig für Rosinenbrot und gebackene Mäuse.

»Mit 22 Jahren bin ich in mein erstes ökotopisches Wohnprojekt eingezogen, und ich würde sagen, mit Baugruppen und gemeinschaftlichen Wohnmodellen mit all ihren Vor- und Nachteilen kenne ich mich mittlerweile ziemlich gut aus«, so Johanna. »Viele Fehler, die man zu Beginn macht, haben wir hier versucht zu vermeiden.« Soziale Homogenität sucht man vergeblich. Die Bewohnerinnen und Bewohner stammen aus mehreren Generationen, Einkommensschichten und kulturellen Backgrounds. Es wurde sogar eine Crowdfunding-Kampagne gemacht, um einer jungen Flüchtlingsfamilie aus Afghanistan eine 50 m² große Wohnung zur Verfügung zu stellen. Mehr als 40 000 € konnten auf diese Weise zusammengetragen werden.

All diese Wärme und Lebendigkeit dieses ungewöhnlichen Projekts scheint in der niederösterreichischen Frühlingsluft zu liegen, sobald man zwischen den vorgefertigten Holzhäusern durchmarschiert und hinter den großen, ungemähten Flockenblumen, Schafgarben und Kamillen in den Fenstern das soziale Durcheinander beobachtet. Die Initiative geht zurück auf Helmuth Schattovits (1939-2015), der bereits in den 90er Jahren in Wien das erste Wohnprojekt unter der Dachmarke B.R.O.T. errichtete. Hinter dem etwas eigenwillig kohlehydrathaltigen Akronym verbergen sich die Worte und Werte »Begegnen, Reden, Offensein, Teilen«.

Nach mehreren Wohnprojekten dieser Art innerhalb der Wiener Stadtgrenzen stieß Schattovits 2011 durch Zufall auf dieses Grundstück am Haitzawinkel, 20 km westlich von Wien, das von der Pfarre Pressbaum zur Bebauung im Baurecht angeboten wurde. B.R.O.T. griff zu und sicherte sich das Areal für 99 Jahre. Eine weitere Fügung sorgte dafür, dass Schattovits bei einer Straßenbahnfahrt auf Architekt Peter Nageler, Partner im Wiener Architekturbüro nonconform, stieß, und so nahm das Projekt seinen Lauf. Einreichplanung 2015, Spatenstich 2017, Fertigstellung 2018. Jetzt stehen wir also da, die Rotzlöffel und ich, die Spritzpistole auf den Journalisten gerichtet. »Wer bist du? Was machst du da?«

Aufgeteilt ist das ursprünglich 14 000 m² große Hanggrundstück, das von der höchsten bis zur tiefsten Stelle um rund 10 m abfällt, auf elf Parzellen mit insgesamt zehn Wohnhäusern und einem Gemeinschaftshaus im Zentrum. Außerdem gibt es einen Sportplatz und eine E-Ladestation im Süden sowie Spielplatz, Schwimmteich, Gewächshaus, Parkplatz und in den Hang eingegrabene Stauraumboxen im nördlichen Teil des Areals. Einer der Bewohner betreibt sogar eine Bienenfarm mit etlichen Stöcken. Aktuell wird ein Haus der Stille errichtet. Das Fundament steht schon.

»Partizipationsprojekte haben wir schon viele gemacht, aber in diesem Fall war der Prozess besonders reibungslos und unkompliziert«, sagt Johanna Steinhäusler, Projektleiterin bei nonconform. »Die Baugruppe zeichnete sich von Anfang an durch ein hohes Engagement aus – und durch eine gewisse Sturheit, weil sie auf manche Dinge auf keinen Fall verzichten wollte. Der starke gemeinschaftliche Zusammenhalt funktioniert bis heute.« Zu den unumstößlichen Entscheidungen der Gruppe zählen v. a. Bauweise und Haustechnik. Bis auf das Gemeinschaftshaus und die Treppenhauskerne, die in Stahlbeton errichtet wurden, handelt es sich beim gesamten Projekt um Holzleichtbau mit kreuzlagenverleimten Deckenplatten.

Die vorgefertigten Fassadenelemente sind geschoßhoch und bis zu 8 m lang und bestehen aus einer Fichtenkonstruktion mit vertikaler Lärchenlattung und innen liegender, eingeblasener Zellulosedämmung mit 30 cm Dicke. Innenbeplankung und nichttragende Wände sind ganz klassisch im Trockenleichtbau errichtet worden. Auffällig ist die Raumhöhe von 2,70 m in den Wohnräumen sowie die KLH-Decke mit belassener Sichtoberfläche in den Aufenthaltsräumen. Die meisten Bewohner haben eine unbehandelte Deckenuntersicht, einige wenige haben das Holz eingeölt oder lackiert. Lediglich in den Vorzimmern sowie in den Sanitärräumen wurde eine abgehängte Gipskartondecke eingezogen. In den Hohlräumen befindet sich die Installation für die kontrollierte Wohnraumlüftung.

»Ein großes Anliegen«, sagt Architektin Steinhäusler, »war uns die Positionierung der Fenster und Fenstertüren. Wo immer dies mit Rücksicht auf die Möblierung möglich war, haben wir die Fensteröffnungen ganz in die Ecke gerückt. Durch den flächenbündigen Anschluss an die angrenzende Innenwand ergibt sich auf der Oberfläche ein sehr schönes Licht- und Schattenspiel. Zudem sorgt das flach einfallende Streulicht durch die Reflexion für zusätzliche Helligkeit in den Innenräumen.« Sämtliche Fenster – auch jene in den OGs – sind französisch ausgeführt und verlaufen fast bis zum Boden. Die Absturzsicherung besteht aus verzinkten Stabgeländern. Sehr easy, sehr rough, sehr passend zum hier innewohnenden Geist.

Geheizt wird mit Biomasse. Neben dem Gemeinschaftshaus wurde eine kleine Hackschnitzelanlage errichtet, die mit Holzabfällen aus dem lokalen Maschinenring gespeist wird. Zudem wurden auf den Gebäuden 50 m² Sonnenkollektoren mit 4 000 l Pufferspeicher sowie sechs PV-Anlagen im Gesamtausmaß von 97 kW Peak-Nennleistung angebracht. Übers Jahr gerechnet können damit rund 75 % des Strombedarfs gedeckt werden. Kleiner Wermutstropfen: Während der Großteil des Wohnprojekts aussieht wie eine Mischung aus Bullerbü und Biene Majas Klatschmohnwiese mit einem Hauch Woodstock, dominiert auf der Technikzentrale mit ihren schräg aufgeklappten Kollektorflächen der Eindruck eines etwas aus den Fugen geratenen Sonnenkraftwerks. Der visuelle Schmerz ist verkraftbar.

Umso schöner die Tatsache, dass sich die Baugruppe vom Kärntner Holzproduzenten Weissenseer, der sich auf dem innovativen Holzbausektor mittlerweile einen über die Branche hinaus bekannten Namen gemacht hat, die Holz- und KLH-Reststücke hat anliefern lassen. Einige davon fristen nun ein Dasein als Klettergerüst oder Küchenarbeitsplatte im Gemeinschaftshaus. Neben der Werkstatttür lehnt ein unförmiges Holzstück mit etwa 1,50 m Länge. Mit Bleistift hat jemand die Absichtserklärung auf die Oberfläche geschrieben: »Reserviert Rutsche!!!«

»Wir wohnen hier jetzt seit über drei Jahren«, sagt Stefan Fittner, Kassier der Vereins B.R.O.T. Pressbaum. »Über eine eigens eingerichtete Signal-Gruppe stehen wir permanent in Kontakt. Wer auch immer etwas braucht, ob das nun Hilfe in der Werkstatt oder Unterstützung in der Food-Coop ist, schreibt einfach eine kurze Nachricht in die Gruppe.« Und Anita Scharl, die beruflich in der Umweltanwaltschaft tätig ist und den Verein eine Zeit lang als Pressesprecherin repräsentierte, freut sich v. a. über das gute Raumklima in den Wohnungen und über das insgesamt gute Preis-Leistungs-Verhältnis des Projekts. »Es gab viele Aufs und Abs mit der Kirche, mit den Kreditvereinbarungen, mit den Kostenangeboten bei den Baufirmen, aber letztendlich ist das Projekt verhältnismäßig gut über die Bühne gegangen. Es ist super, hier zu wohnen.«

Auf ihrer Terrasse wird gerade eine Pergola errichtet. Der Bruder, Zimmermann von Beruf, ist zur Stelle, die Mutter zupft das Unkraut aus den Gemüsebeeten, der 80-jährige Vater, der dem Autor dieses Artikels schnell noch einen Crash-Kurs im Sensenmähen gibt, kümmert sich um das viel zu hohe Gras auf der Böschung zwischen Wohnhaus und Sportplatz. »Es ist nicht immer alles so harmonisch wie heute«, sagt Anita. »Aber fast immer. Ich mein’, schau dich mal um! Ich persönlich hätte mir zwar ein klassisches Satteldach gewünscht, aber in diesem Punkt bin ich halt von der Baugruppe und den Architekten überstimmt worden. Abgesehen davon ist unser kleines Dorf hier einfach nur großartig.«

db, Di., 2021.07.06



verknüpfte Zeitschriften
db 2021|07 Anders Bauen

23. Juni 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Gewerbehaus sagt der Gründerzeit Hallo

Auf dem Nordbahnhof-Areal entsteht ein ungewöhnliches gefördertes Projekt: Die Hauswirtschaft besteht zur Hälfte aus Wohnen und zur Hälfte aus Gewerbe. Diese Bündelung ist nicht leicht – aber machbar.

Auf dem Nordbahnhof-Areal entsteht ein ungewöhnliches gefördertes Projekt: Die Hauswirtschaft besteht zur Hälfte aus Wohnen und zur Hälfte aus Gewerbe. Diese Bündelung ist nicht leicht – aber machbar.

Link zur Archiv Suche

05. Juni 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Von Kokosnüssen und Schwammerln

Die in Ghana und New York lebende Architekturforscherin Mae-ling Lokko beschäftigt sich mit Abfallprodukten aus der Landwirtschaft. In ihren Projekten arbeitet sie mit Kokosfasern und Pilzsporen. Eine Anleitung zum Träumen.

Die in Ghana und New York lebende Architekturforscherin Mae-ling Lokko beschäftigt sich mit Abfallprodukten aus der Landwirtschaft. In ihren Projekten arbeitet sie mit Kokosfasern und Pilzsporen. Eine Anleitung zum Träumen.

Die machen Schaffelle aus Plastikflaschen. Die machen Lampen aus Seegras. Die machen Schüsseln aus Mais.“ So lautet die aktuelle Ikea-Werbekampagne, die seit einigen Wochen im österreichischen und deutschen Fernsehen ausgestrahlt wird. Am Ende schließlich, mit schwedischem Akzent: „Ideen sind unsere wertvollste Ressource.“

Allein das Experimentieren mit innovativen Materialien beschränkt sich nicht nur auf die Möbel- und Haushaltsindustrie. Architektinnen und Architekten beschäftigen sich schon seit geraumer Zeit mit der Entwicklung von Baustoffen aus nachwachsenden Rohstoffen wie etwa Palmenfasern, Myzelien und Hanf. Eine davon ist die New Yorker Architekturforscherin Mae-ling Lokko, die kommende Woche an der Universität für angewandte Kunst einen Vortrag halten wird.

Seit rund 15 Jahren erforscht die gebürtige Saudi-Araberin, die in Ghana und auf den Philippinen aufgewachsen ist, die Potenziale jener Abfallstoffe, die als Nebenprodukt der globalen Nahrungsmittelproduktion anfallen – des sogenannten Agrowaste. Weltweit fabrizieren wir, während wir unsere Schnitzel und Pommes frites heranzüchten, rund 350 Milliarden Tonnen Müll pro Jahr, Tendenz steigend.

Organische Müllberge

„Immer mehr Menschen brauchen immer mehr Nahrung“, sagt Lokko. „Daher sehe ich hier einen wachsenden Rohstoffmarkt, der zwar unglaubliches Potenzial hat, dessen Möglichkeiten wir heute aber nur marginal nutzen. Der überwiegende Teil der hier anfallenden Fasern und organischen Müllberge landet auf der Deponie oder wird verbrannt.“ An den Stadträndern der ghanaischen Hauptstadt Accra, erzählt die Forscherin, werden jede Nacht illegal Tonnen von Kokosfasern und Kokosnussschalen abgeladen und angezündet, auf diese Weise werden – anstatt im Kreislauf zu bleiben – Unmengen von CO2 in die Atmosphäre geschleudert.

Dummes Downcycling

„Klar kann man Kokosfasern verbrennen und damit Energie produzieren“, sagt die Forscherin. „Aber das ist nichts anderes als dummes Downcycling, mit dem der potenzielle Lebenszyklus dieses Werkstoffs drastisch verkürzt wird.“ Lokkos Antwort auf das Problem: In Zusammenarbeit mit dem Rensselaer Polytechnic Institute in Troy, Upstate New York, und dem von ihr gegründeten Forschungsunternehmen Willow Technologies in Ghana trennte sie die Spelzen vom Kokosfasermark, häckselte das Ganze zu feinen Fasern und verpresste die Gemengelage unter Einwirkung von Hitze und Druck – ganz nach den Fertigungsprinzipien von Sperrholz – schließlich zu dreidimensionalen Modulen, die als Raumteiler oder Schallschutzelemente eingesetzt werden können.

„Leider ist der Fertigungsprozess sehr aufwendig und energieintensiv und eher für die Produktion und den Verkauf in hochentwickelten Industrieländern geeignet, während der Rohstoff selbst im Global South in meist sehr armen Regionen anfällt“, resümiert Lokko. „Die geografischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Hürden sind kaum zu überwinden. Daher kann man dieses Projekt wohl als gescheitert betrachten.“ Im Rahmen der Vienna Biennale for Change 2021 sind die Platten zurzeit im Angewandte Innovation Lab (AIL) in der Otto-Wagner-Postsparkasse zu sehen.

Weitaus aussichtsreicher ist Lokkos aktuelle Vision, mit der sie keineswegs allein dasteht, sondern sich in eine ganze Riege von innovativen Schwammerlutopisten aus dem Kunst- und Designbereich einreiht: Sie entwickelt Geschirr, Möbelstücke und Bausteine aus Pilzsporen in der noch vegetativen Phase, aus sogenannten Myzelien. Mit diversen Fasern aus der Reis-, Mais-, Kokos- oder Getreideproduktion vermengt und in entsprechende Schalungen gepresst, können die Myzelien – die richtige Temperatur und Luftfeuchtigkeit vorausgesetzt – innerhalb von ein paar Tagen zu harten, dichten Formstücken heranwachsen, die anschließend nur noch getrocknet werden müssen.

Kein Sick-Building-Syndrome

In den letzten drei Jahren wurde das von ihr entwickelte Agrowaste-Biokomposit auf zahlreichen Festivals und Ausstellungen ausgestellt, das unter anderem mit dem Visible Award 2019 und dem Royal Academy Dorfman Award 2020 ausgezeichnet wurde. Unter dem Titel Agricologies schafften es die von ihr gepflanzten Tassen, Teller, Schüsseln, Schalen und Vasen, die im täglichen Umgang mit der gleichen Sorgfalt wie etwa unlackiertes, naturbelassenes Holz behandelt werden müssen, sogar ins Reich der Lifestylemagazine. Nun soll das bis jetzt gewonnene Know-how im Rahmen von Schulworkshops an Kinder und Jugendliche weitergegeben werden.

„Wir träumen heute davon, unsere Häuser in Zukunft im 3D-Drucker hochzuziehen“, sagt Mae-ling Lokko, die soeben einen Job als Professorin an der Yale University angenommen hat und dort ab 2022 unterrichten wird. „Aber wer weiß, vielleicht werden unsere Gebäude eines Tages von allein wachsen und sich verfestigen.“ Im Gegensatz zu vielen Produkten, an denen heute geforscht wird, kommt die fungale Myzelienarchitektur ganz ohne Weichmacher oder künstliche und mineralische Bindemittel aus. „Der nächste Schritt“, so Lokko, „sind Langzeitstudien, die etwaige Auswirkungen auf die Gesundheit der darin lebenden Menschen untersuchen. Aus heutiger Sicht aber gibt es keinerlei Anzeichen für ein Sick-Building-Syndrome.“

Noch ein langer Weg

Bis zum Einsatz im Baubereich sei es noch ein langer Weg. Es brauche noch jahrelange Arbeit, um die biologischen, chemischen und physikalischen Eigenschaften von Myzelien zu erforschen und zu optimieren. Doch realisierte Pilotprojekte wie etwa der 13 Meter hohe Hy Fi Tower aus reinen Myzelziegelsteinen, den der New Yorker Architekt David Benjamin vor drei Jahren im MoMA PS1 in Brooklyn in den Himmel hochgeschlichtet hat, lassen die Spekulation zu, dass diese Utopie in nicht allzu ferner Zukunft eintreten könnte.

Wenn einem auf der Architektur-Biennale in Venedig das Träumen schon vermiest und vermieft wurde, so darf man sich in Zeiten, in denen schwedische Möbelhäuser Bettwäsche aus Holz machen, zumindest auf der Vienna Biennale for Change ein wenig vom Idealismus verleiten lassen. Solche Köpfe braucht die Welt.

[ Mae-ling Lokko, Vortrag im Rahmen der Sliver Lectures an der Universität für angewandte Kunst: Donnerstag, 10. Juni, 19 Uhr ]

Der Standard, Sa., 2021.06.05

22. Mai 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Bauanleitung Weltuntergang

Heute, Samstag, wird die Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Das Motto des Kurators Hashim Sarkis lautet „How will we live together?“. Doch die Beantwortung dieser Frage ist so verstörend und dystopisch, dass es im Hirn wehtut.

Heute, Samstag, wird die Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Das Motto des Kurators Hashim Sarkis lautet „How will we live together?“. Doch die Beantwortung dieser Frage ist so verstörend und dystopisch, dass es im Hirn wehtut.

Eine riesiges Trumm aus Edelstahl. Eine abstoßende, chirurgische Kälte. Alle paar Sekunden öffnen sich irgendwelche Laden, rollen hinaus wie in einem Leichenschauhaus, bleiben kurz stehen zur Betrachtung, werden mit einem blechernen Surren wieder eingezogen. Zwar liegen darauf keine toten Menschen, immerhin aber jede Menge ausgestopfter oder in Formaldehyd eingelegter Tiere: Wildschweine, Schwarzziegen, Bären, Reiher und Taranteln. Es sind jene Spezies, die in Israel in den letzten Jahrzehnten aus ihrem natürlichen Habitat verdrängt, ja manchmal sogar nahezu ausgerottet wurden.

„Die politische Situation in Israel ist dieser Tage besonders angespannt“, sagt Rachel Gottesmann. „Doch in diesem Land fügen nicht nur wir Menschen uns gegenseitig Schaden zu, unser Verhalten hat auch immense Auswirkungen auf Fauna und Flora.“ Eine der größten ökologischen Katastrophen mit weitreichenden Folgen für die Biodiversität Israels war die Trockenlegung des Hule-Sees und der umliegenden Sümpfe in den 1950er-Jahren, um damit Wasser für die Landwirtschaft zu gewinnen.

„Außerdem haben wir den Kampf zwischen den weißen und den schwarzen Ziegen erforscht“, erzählt die Kuratorin des israelischen Pavillons. „Die schwarzen, von jeher einheimischen Ziegen waren für die Palästinenser von Anbeginn an eine wichtige Quelle für Milch und Fleisch. Doch als die europäischen Juden nach Israel kamen, waren sie entsetzt, ein so karges, felsiges Land vorzufinden – und gaben kurzerhand den schwarzen Ziegen die Schuld daran.“

Schwarz und weiß

1934 wurde die Haltung von schwarzen Ziegen – ohne wissenschaftliche Fundierung und Verifizierung wohlgemerkt – stark reguliert, 1950 wurde sogar eine eigene Tötungsverordnung verabschiedet, die viele arabische Bauern in den existenziellen Ruin trieb. Stattdessen ließen die neu angesiedelten Juden weiße Ziegen aus Europa importieren. Erst 2018, nach knapp 70 Jahren, wurde das nicht nur absurde, sondern auch sozial und ökologisch desaströse Gesetz wieder rückgängig gemacht. „In diesem Land ist alles schwarz und weiß, voller Angst und voller Hass“, sagt Gottesmann. „Daher stellt sich unweigerlich die Frage: Werden wird es jemals schaffen, friedlich miteinander auszukommen?“

Der politisch zutiefst selbstkritische israelische Pavillon unter dem Titel „Land Milk Honey“ zählt zu den schrägsten und zugleich besten und einprägsamsten Beiträgen der Architektur-Biennale 2021. Zwar hatte der diesjährige Biennale-Kurator Hashim Sarkis, seines Zeichens Dekan der School of Architecture and Planning am Massachusetts Institute of Technology (MIT), mit der Frage „How will we live together?“ ein wirklich eindeutiges, unmissverständliches Motto vorgegeben, doch mit deren Beantwortung haben sich die Architekturschaffenden aller Frauen und Herren Länder sichtlich schwergetan.

Einige Kunst- und Architekturbeiträge fliehen statt in die Zukunft schnurstracks in die Vergangenheit und reproduzieren verklärte und romantische Bilder von Häuslichkeit, Gemütlichkeit und harmonischem Miteinander in Form von Großfamilien, Co-Housing-Modellen und ästhetisch durchorchestrierten Nachbarschaften. Andere Länder wiederum machen das Gegenteil, widmen sich der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung unserer Umwelt und verzetteln sich – wie etwa Österreich, Uruguay und die Niederlande – in Theorien und Philosophien mit aberhunderten Film- und Soundinstallationen, bis einem die Augen tränen und die Ohren glühen. Das virtuelle Geschwurbel geht so weit, dass Kanada und Deutschland auf Materialität und bauliche Manifestation sogar komplett verzichten und ihre Pavillons mit QR-Codes tapezieren. Das stellt jede physische Präsenz in der Lagunenstadt infrage. Wirklich mühsam.

Echt jetzt?

Doch die größte Kritik muss man an jenen Kommissären und Kuratorinnen üben, die der aktuellen Covid-Pandemie verfallen sind und ihre Kernkompetenz hinter sich gelassen haben. Statt Wohnkonzepte, Zusammenlebensmodelle und innovative Architekturtypologien für morgen zu liefern, mutieren sie zu großen Kindern und überbieten sich in der Reproduktion von Aliens, Avataren, prothetischen Künstlichkeiten, in Schläuchen und Bubbles eingeschweißten Naturen und so dystopischen Bildern, dass man bisweilen das Gefühl hat, in einem Sci-Fi-Museum zu Matrix, Brazil und HR Giger zu stehen. How will we live together? Echt jetzt? Für Menschen, deren Job es ist, unsere bauliche Zukunft zu gestalten, ist diese Weltuntergangsmodenschau ein mehr als jämmerliches Armutszeugnis.

Umso erfreulicher, dass in dieser Biennale der kapitalen Themenverfehlungen einige Preziosen umso besser zur Geltung kommen. Irland beispielsweise zeigt sich auf dieser Biennale von einer in der Öffentlichkeit wenig bekannten Seite. Mit 63 Serverfarmen und Datenzentren allein in Dublin zählt die Insel zwischen Europa und Nordamerika zu den Data-Hotspots dieser Welt.

„Das sind mehr Einrichtungen als in jeder anderen Stadt in Europa“, sagen die beiden Kuratoren David Capener und Fiona McDermott. Viele weitere sind bereits in Bau. 2027, so die Prognose, werden die Serverfarmen ein Drittel der gesamten Energie Irlands verbrauchen.

„Das sind gigantische Mengen. Bis heute haben wir dafür kein Klimakonzept. Wenn wir von Klimaschutz und der Reduktion von CO₂ sprechen, dann müssen wir in Zukunft auch über Facebook, Twitter und Tiktok sprechen.“

Ökologisch desaströs

Eine superkonkrete Lösung für ein supergroßes CO₂-Problem liefern – Überraschung – ausgerechnet die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Der in Dubai stationierte Architekt und Kurator Wael Al Awar hat mit der University of Tokyo, der New York University in Abu Dhabi und der American University of Sharjah in den letzten drei Jahren einen neuen Beton entwickelt, bei dem statt Portlandzement zum Binden eine spezielle Salzverbindung, nämlich Magnesiumoxid (MgO), verwendet wird.

„Die Emirate sind der drittgrößte Entsalzer der Erde“, sagt Al Awar. „Bis heute wird die hochkonzentrierte Salzlösung, die am Ende des Prozesses übrig bleibt, ins Meer zurückgeschüttet. An einigen Stellen im Persischen Golf liegt die Salzkonzentration mittlerweile bei zehn Projekt. Das ist ökologisch desaströs. Stattdessen kommt das Abfallprodukt nun auf konstruktive Weise zum Einsatz.“ MgO bindet im Aushärtungsprozess nicht nur Kohlendioxid, sondern ersetzt zugleich klassischen Portlandzement, der wiederum zu den größten CO₂-Emittenten unserer denaturierten Zivilisation zählt.

„Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen“, so Al Awar. „Aber ich bin optimistisch, wir sind dran.“ In Tests weist der MgO-Beton eine ähnliche Druckfestigkeit auf wie klassischer Beton. Wenn alles gutgeht, könnte damit ein Drittel der Bautätigkeit in den VAE abgefedert werden, so der Kurator. Zukunftsmusik? Ja. Utopisch? Ja. How will we live together? Dafür aber liefert der Beitrag einen der wenigen konstruktiven Lösungsansätze dieser Biennale.

Der Standard, Sa., 2021.05.22

11. Mai 2021Wojciech Czaja
db

Wahlkampf mit urbanem Benefit

Im Rekordtempo wurde an der Kaiserbadschleuse des ­Donaukanals der öffentliche Freiraum durch die »Schwimmenden Gärten« erweitert. Das Projekt ist nicht nur Resultat eines etwas provinziell wirkenden Wahlkampfs, sondern glücklicherweise auch einer strengen und zugleich überaus erfrischenden Handschrift der Wiener ­Landschaftsarchitektin Carla Lo. Der urbane Benefit ist enorm.

Im Rekordtempo wurde an der Kaiserbadschleuse des ­Donaukanals der öffentliche Freiraum durch die »Schwimmenden Gärten« erweitert. Das Projekt ist nicht nur Resultat eines etwas provinziell wirkenden Wahlkampfs, sondern glücklicherweise auch einer strengen und zugleich überaus erfrischenden Handschrift der Wiener ­Landschaftsarchitektin Carla Lo. Der urbane Benefit ist enorm.

Ein sonniger Freitag Ende März. Der erste heiße Nachmittag dieses Jahres. Im gefühlt zehnten Corona-Lockdown wird die Kaiserbadschleuse, die bis vor Kurzem ungenutzte Betoninsel im Wiener Donaukanal, von Dutzenden ­Menschen belagert. Ohne T-Shirt, ohne Schuhe und ohne jede Hast, dafür aber mit dunklen Sonnenbrillen, in denen sich der wolkenblaue Frühlingshimmel spiegelt.

Carla Lo ist eine von ihnen. Die 44-jährige Landschaftsarchitektin, weites ­Leinenhemd, zerrissene Patchwork-Jeans, liegt inkognito inmitten der sich sonnenden Menge und freut sich über den sozialen Erfolg ihrer »Schwimmenden Gärten«. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Büro dieses Projekt eines ­Tages wirklich realisieren würde, und meint: »Nun sitzen wir da, und ich bin froh darüber, dass dieser städtische Raum von den Wienerinnen und Wienern so gut angenommen wird.«

Angefangen hat alles im Jahr 2016. Kurz vor der Wiener Gemeinderatswahl wünschte sich die damalige Umweltstadträtin Ulli Sima als »Wahlzuckerl« ein paar coole Renderings, die auf stadtromantische Weise darstellen, wie man die Kaiserbadschleuse aus ihrem mehr als 100-jährigen Dornröschenschlaf reißen und endlich einer urbanen Nutzung zuführen könnte. Errichtet wurde das massive Bollwerk mit 125 m Länge und 10 m Breite ursprünglich anstelle des ehemaligen Kaiserbads in den Jahren 1904 bis1908 für die Schiffbarmachung und Regulierung des Donaukanals. In Betrieb genommen wurde die Schleuse, die sich gegenüber von Otto Wagners (1841-1918) berühmtem Schützenhaus befindet, allerdings nie.

»Also haben wir einen Entwurf gemacht und uns überlegt, wie wir die Insel mit Plattformen zugänglich machen und mit Pflanzentrögen und großen Holzdecks zum Sitzen und Liegen aufwerten würden«, erinnert sich Carla Lo. Mit einer Handvoll attraktiv gerenderter Visionen ging die Wiener SPÖ dann tatsächlich ins Rennen. Nach dem Wahlsonntag war dann allerdings jahrelang Funkstille. Das Projekt wurde auf Eis gelegt, bis wenige Monate vor der darauffolgenden Gemeinderatswahl. Aus den Medien erfuhr die Landschaftsarchitektin, dass die Schwimmenden Gärten nun tatsächlich umgesetzt werden sollten. Vom verbindlichen Anruf der Stadträtin bis zur geplanten Fertigstellung blieben wiederum genau sechs Monate. Ein straffer Zeitplan. Damit wurde das fiktive Wahlzuckerl von 2016 zu einem konkreten Wahlversprechen für 2020 aufgewertet.

Am Holzdeck neben uns liegt eine Gruppe Jugendlicher. Ein paar Dosen Bier werden gerade »aufgepoppt«. Es wird gelacht, getrunken, foto­grafiert. In den Mülleimern nebenan manifestiert sich der hohe Stellenwert des Projekts als buchstäbliche Zufluchtsinsel vor dem Virus und den damit verbundenen ­Sicherheitsmaßnahmen: Prosecco-Flaschen und Pizzakartons. »Es funk­tioniert«, sagt die aus Heidelberg stammende Landschaftsarchitektin, die in der Regel v. a. öffentliche und halböffentliche Freiräume im geförderten ­Wohnungsbau plant. »Mehr kann man sich nicht wünschen, oder?«

Kräftig dimensioniert

Im Zuge der Neugestaltung wurde die denkmalgeschützte Schleuseninsel über zwei breite Brückenbauwerke mit massiven T-Trägern aus Stahlbeton an den Uferweg des Donaukanals angebunden. Die Tragwerksplanung des ­Wiener Ingenieurbüros Gmeiner Haferl hat es mit der statischen Sicherheit dabei sehr genau genommen und orientiert sich weniger an sommerlicher Leichtigkeit als leider vielmehr an den brutalistischen Dimensionen talüberspannender Autobahnbrücken. Gut, dass sich die Blicke der Flaneure nur ­selten unterhalb des Wegeniveaus verirren.

Viel ansprechender ist da schon das urbane Leben darüber. Auf beiden Verbindungsplattformen eröffnet sich eine Gehlandschaft aus Beton mit Besenstrich-Oberfläche und daran angrenzenden Holzdecks, die sich mit eckig ­eingefassten Böschungen zu einer polygonalen Sitz- und Liegelandschaft auf zwei Ebenen hochentwickelt. Die Neigungen mit mal 45°, mal 60° sind ergonomisch gut gewählt, die Sitzhöhen könnten kaum komfortabler sein.

Mit 55 mm Dicke weisen die Eichenbohlen, die auf einer Unterkonstruktion aus Holz und Stahl montiert sind, einen im Zeitalter steigenden ökonomischen Drucks ungewöhnlich hohen Materialeinsatz auf. Dies ist der Lang­lebigkeit geschuldet: Bei Vandalismus durch Graffiti und motorische Beschädigungen, so der Plan, lässt sich das Holzpodest diverse Male abschleifen und sogar -hobeln.

Auf Kopfhöhe der Sitzenden, Liegenden und Lümmelnden entspinnt sich ein kleiner grüner Dschungel mit heterogener Bepflanzung. 15 verschiedene Pflanzenarten – darunter Gräser, Kräuter und Blumen – werden mit den nun ins Land ziehenden Sommermonaten dank automatischer Bewässerung stattliche Höhen erreichen und prächtige Farben entfalten. Dazwischen tauchen immer wieder mehrstämmige Bäume auf: Wildäpfel, Felsenbirnen und zart­rosafarbene Zierkirschen.

Grüner als entworfen

Carla Lo wirkt glücklich. Doch dann verändert sich die Laune ein wenig. In ihrem mitgebrachten Aktenordner finden sich Pläne, die dokumentieren, wie alles hätte aussehen sollen, bevor es so wurde, wie es heute ist. »Meine Vision war, dass wir die Schleuseninsel revitalisieren, sie aber in ihrer archaischen, nutzungsoffenen Erscheinung erhalten«, sagt Lo. Geplant war, die Kaianlage lediglich mit ein paar Ulmen zu bepflanzen und mit schlichten Stahlplatten, die die Kontur der historischen Insel säumen, zu belegen. Die restliche Fläche zwischen den riesigen »Vorlegeplatten« sollte ungeordnet gepflastert werden.

Doch die Wiener Umweltstadträtin wollte es grüner. Mehr Bäume, mehr Grasbeete, mehr bewachsene Pflanzentröge an den Kaimauern. Ein paar ­Bänke und punktuelle Sitzelemente mussten auch noch her. Und gusseiserne Einfassungen der grünen Grasrabatte, wie sie vom Stadtgartenamt klassischerweise in ganz Wien eingesetzt werden. Und selbstredend Mülleimer sowie gepflasterte Segmentbögen, um noch ein bisschen mehr italienischen Romantizismus hineinzubringen. Und am Ende ist alles so vollgestellt und vollgegrünt und mit notwendigen Verkehrswegen vor­definiert, dass kaum noch Platz bleibt, um in den warmen Sommermonaten irgendwo eine Picknick-Decke auszubreiten.

»Es hört sich eigenartig an, dass ausgerechnet ich als Landschaftsarchitektin so viele Monate gegen Grün gekämpft habe«, erklärt Carla Lo. »Aber tatsächlich ist die zur Verfügung stehende Sitz- und Liegefläche für die Menschen auf ein Minimum geschrumpft. Die alte Schleuseninsel ist nutzungstechnisch bis zum letzten Quadratmeter durchgeplant und durchmöbliert. Innovative Freiraumplanung sieht für mich anders aus.«

Absturzgesichert

Während der gesamte Donaukanal an seinen beiden Uferkanten auf vielen ­Kilometern Länge ohne Geländer auskommt, mussten die Schwimmenden Gärten rundherum auch noch eingezäunt werden. Der Grund – und damit erreicht der politische Zynismus seinen Höhepunkt: Aufgrund der vielen ­definierten Sitzelemente sei die Insel keine nutzungsoffene Verkehrsfläche mehr, sondern ein möblierter Stadtplatz, für den man nun entsprechende ­Absturzsicherungen vorsehen müsse. Glücklicherweise fand sich mit den schlanken Holmen und dem kaum sichtbaren Edelstahl-Netz eine sensible, ortsverträgliche Lösung.

Die Schwimmenden Gärten (Baukosten 3,5 Mio. Euro) sind ein durch und durch politisches Projekt. Sie zeigen auf, wie die Gestaltung öffentlichen Freiraums in dieser Stadt funktioniert. Für die meisten Menschen jedoch sind ­diese Anekdötchen und Provinzpossen unsichtbar und irrelevant. Übrig bleibt ein Projekt, das trotz aller Querelen und trotz des immensen Zeitdrucks zu den gelungensten und sym­pathischsten Freiraum-Oasen Wiens zählt. Zu verdanken ist dies wohl der krisenerprobten Handschrift einer Landschaftsarchitektin, die gelernt hat, selbst im ­geförderten Wohnbau unter enormem Kostendruck überaus ­passable Freiraumkonzepte zu realisieren.

»Ich glaube, das war die stressigste und zugleich schönste Baustelle meines Lebens«, sagt Carla Lo. „Die Stimmung vor Ort war ausgelassen, und die ­Brückenbauer, die üblicherweise Autobahnbrücken an irgendwelchen schwer erreichbaren Unorten errichten, haben sich gefreut, dass sich ihr Arbeitsplatz erstmals inmitten der Wiener Innenstadt befindet.« Die Freude am Prozess überträgt sich auf das Resultat. Die Sonne wird immer wärmer. Die Menschen werden mehr. Die Selfies nehmen zu.

db, Di., 2021.05.11



verknüpfte Zeitschriften
db 2021|05 Außenraum

10. April 2021Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Ranken oder Ränkespiele? Pro Kontra

Für die einen sind begrünte Fassaden ein wunderbares, innovatives Bauelement im Großstadtdschungel, für die anderen ist der Saum an der Wand nicht nur Chlorophyllkosmetik, sondern auch Architekturhölle. Auch wir sind uns nicht wirklich einig.

Für die einen sind begrünte Fassaden ein wunderbares, innovatives Bauelement im Großstadtdschungel, für die anderen ist der Saum an der Wand nicht nur Chlorophyllkosmetik, sondern auch Architekturhölle. Auch wir sind uns nicht wirklich einig.

Wojciech Czaja: Pro

Mit dem Glauben an das Automobil und neuen Entwicklungen in der Beton-, Glas-, Stahlindustrie hat die späte Moderne unsere Städte komplett verändert. Und jetzt haben wir den Salat. Oder auch nicht, denn genau dieser ist aus den Betonwüsten zum überwiegenden Teil völlig verschwunden. Die Folgen davon sind fatal: Überhitzung der Städte, katastrophale Luftqualität und in vielen grünlosen Vierteln noch dazu kalorische Anti-Oasen unter dem fast schon euphemistischen Titel Urban-Heat-Islands. Die einzig konsequente Möglichkeit, um aus diesem betonierten Schlamassel wieder rauszukommen, ist die offensive, ja fast schon aggressive Begrünung unserer Städte. Die einen machen das mit Parks, Wiesen, Blumenbeeten, Gemüserabatten und Urban-Gardening-Flächen, die anderen greifen dazu auf die etwas dichtere Variante mit Büschen, Stauden, Sträuchern und Bäumen aller Art zurück. Wenn es sein muss, nicht nur der horizontalen Fläche.

Einer der Meister der vertikalen Begrünung ist der Pariser Botanikkünstler Patrick Blanc, der unter anderen auch Jean Nouvels preisgekröntes Hochhaus One Central Park in Sydney begrünte (siehe Foto) . Auch andere vertikale Flächen wie Feuermauern, Innenhöfe, Altbaufassaden, Tunneleinfahrten und meterhohe Mauern sind vor seinem grünen Daumen nicht sicher – ob das nun Madrid, Miami oder Kuala Lumpur ist. Und dann gibt es ja noch den vertikalen Waldmeister Stefano Boeri mit seinen millionenfach geinstagramten Türmen in Mailand.

Ja klar, vieles davon ist Fassadenkosmetik und Behübschung von eigentlich naturkatastrophalen Problemen. Außerdem braucht man Metallkonstruktionen, Bewässerungsanlagen und manchmal auch allerlei sensorische Hard- und Software. Doch der mikroklimatische Effekt infolge von Verschattung, Verdunstungskälte, Feinstaubabsorption und nicht zuletzt CO2 -Speicherung ist enorm. Studien haben ergeben, rechnet die niederländische Stadtplanerin Helga Fassbinder vor, dass man mit zehn Prozent mehr Grün die sommerlichen Höchsttemperaturen in der Stadt um bis zu drei Grad Celsius senken kann. Mit der Wiener Klimakarte, die die ehemalige Planungsstadträtin Birgit Hebein im September letzten Jahres vorgestellt hat, gibt es nun auch hierzustadt eine echt heiße Planungs- und Nichtverbauungsgrundlage.

Ganz ehrlich? Viele Fassadenbegrünungen zwischen Sydney, Biotope-City und MA 48 am Margaretengürtel sind klimatischer und ökologischer Schmonzes. Muss das wirklich sein? Ja, es muss! Auf rationaler und wissenschaftlicher Ebene wissen wir schon viel, aber damit erreicht man weder Otto Normalverbraucher und Monika Mustermann noch irgendwelche ökonomisch getriebenen Investorenherzen. Bis der Baustoff Grün in der Stadtplanung und im Städtebau nicht wieder absolute Selbstverständlichkeit wird, ist jedes grüne Mittel recht. Her mit den grünen Fassaden!

Maik Novotny: Kontra

Über nichts reden die Wiener lieber als über Fassaden jeder Art. Die Stadt ist eine Bühne, jedes Haus eine Kulisse, alles ist schöner Schein, alles ist Oberfläche. Darüber lässt sich auch viel schöner streiten als über banale Fakten und über die Mechanismen hinter den Kulissen. Kein Wunder also, dass auch der Kampf gegen die Überhitzung und für die klimagerechte Stadt recht schnell zu einem zweidimensionalen Fassadenthema wurde.

Um es gleich klarzustellen: Der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist der wichtigste, den es gibt, und hier ist jedes Mittel recht. Wenn es der Kühlung dient, dass es hier und da vertikal emporrankt: Nur her damit! Es wird schon nicht, wie von vielen befürchtet, der ganze kulturelle Reichtum der Architektur hinter Efeu und Knöterich verschwinden.

Aber die Fassadenbegrünung kaschiert mehr als erwärmtes Gemäuer, sie ist eine Ablenkungsstrategie. Sie verlagert das Schlachtfeld der Klimakatastrophe vom Öffentlichen ins Private, von der Ebene in die Senkrechte. Fragt man Landschaftsplaner nach den besten Mitteln gegen urbane Hitzeinseln, bekommt man fast immer dieselbe Antwort: Nichts ist besser als der richtige Baum am richtigen Ort. Bäume sind nahezu perfekt. Sie sind langlebig, kümmern sich weitgehend um sich selbst, spenden im Sommer Schatten und im Winter nicht. Es gäbe noch reichlich Platz für mehr Bäume, doch an diesem Platz stehen heute tonnenschwere Klumpen aus Metall dumm herum. Weil man sich – von homöopathischen Pflanzprojekterln und kurzen „Kühlen Meilen“ abgesehen – nicht traut, hier jemandem etwas wegzunehmen, weicht man aus. Sollen sich die Hausbesitzer ums Klima kümmern! Während Paris, Amsterdam und New York die Autos radikal verbannen, bleibt in Wien alles beim Alten, im scheinheilig schönen Schein des „Genug gestritten!“.

Doch nicht nur in Wien werden Ränkespiele mit dem Geranke getrieben. Seit Architekt Stefano Boeri 2014 in Mailand die baumbestandenen Doppeltürme seines Bosco Verticale einpflanzte, übertrumpfen sich Investoren weltweit in der Begrünung ihrer Wolkenkratzer. Wurscht, wenn für den Beton ganze Sandstrände über Nacht verschwinden: Was von außen so schön grün aussieht, kann nur ökologisch sein! Ist es nur eben fast nie.

Von Fallwinden gerüttelt und von Böen zerzaust, kämpft das zum Symbol überhöhte bemitleidenswerte Gestrüpp im 29. Stockwerk einen aussichtslosen Kampf, dabei möchte es doch so gerne einfach nur in Ruhe zwischen seinen Artgenossen am Boden stehen. Zwar macht die Bewässerungstechnik große Fortschritte, und es verdorrt nicht mehr alles sofort, wenn der Hausbesorger im Sommerurlaub ist, doch der Aufwand steht ab einer gewissen Höhe in keinem Verhältnis zum energetischen Ergebnis. Also: Vorsicht bei den grünen Tapeten und Fassaden: Oft steckt nicht mehr dahinter als Chlorophyllkosmetik.

Der Standard, Sa., 2021.04.10

08. April 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Prototyp für die Protomoderne

Die Pläne für den Umbau des ehemaligen Wiener Otto-Wagner-Spitals sind enthüllt. Die Central European University wird in die denkmalgeschützten Pavillons einziehen

Die Pläne für den Umbau des ehemaligen Wiener Otto-Wagner-Spitals sind enthüllt. Die Central European University wird in die denkmalgeschützten Pavillons einziehen

Das Konzept für Pavillon 4 auf dem Wiener Otto-Wagner-Areal in den Steinhofgründen: Die Pläne dafür stammen überraschenderweise vom global agierenden US-Architektenbüro Kohn Pedersen Fox Associates.
Das Konzept für Pavillon 4 auf dem Wiener Otto-Wagner-Areal in den Steinhofgründen: Die Pläne dafür stammen überraschenderweise vom global agierenden US-Architektenbüro Kohn Pedersen Fox Associates.

Schwarz-weiß gekachelte Böden, holzvertäfelte Wände in den Besprechungszimmern und Sitzbänke aus Bugholz ganz im Stile der Wiener Werkstätte. Im Freien geht das Lernen hurtig weiter: Vor einem der denkmalgeschützten Pavillons, im Halbschatten der ausgewachsenen Bäume, sitzen glückliche Studierende mit aufgeklapptem Laptop und unterhalten sich über die Zukunft zentraleuropäischer Bildungspolitik.

Gestern, Mittwoch, stellte die Central European University (CEU) ihre Pläne für die Sanierung und Revitalisierung des Otto-Wagner-Areals – besser bekannt unter dem Namen Steinhofgründe – der Öffentlichkeit vor. Geplant ist, zehn historische, denkmalgeschützte Pavillons, die früher Teil des weitläufigen Otto-Wagner-Spitals waren, für die Zwecke der CEU umzubauen. Das Jugendstiltheater, wahrscheinlich eines der schönsten und außergewöhnlichsten Häuser auf dem Areal, wird in Zukunft als Auditorium und Konferenzzentrum dienen.

Die größte Überraschung im bisherigen Prozedere ist die Auswahl der Architekten. Aus einem kleinen Wettbewerb unter insgesamt sieben internationalen Büros ging das weltweit agierende Büro Kohn Pedersen Fox Associates (KPF) mit 650 Mitarbeitern und Hauptsitz in New York als Sieger hervor. Zwar findet sich im Portfolio von KPF so manche historische Sanierung, und auch im Bildungsbereich in London, Oxford und Ann Arbor hat sich das Büro mittlerweile eine gute Expertise angeeignet, doch wirklich bekannt ist KPF für ein ganz anderes Kaliber – für die unzähligen Headquarters von Samsung, Amazon und Unilever sowie für seine 400 bis 600 Meter hohen Supertürme in New York, Seoul, Peking, Hongkong, Guangzhou und Schanghai.

„Die CEU hat bei der Gestaltung des neuen Campus nach einem innovativen Team gesucht, das die einzigartige architektonische Vision Otto Wagners erhalten, aber auch Antworten auf die Anforderungen einer Universität der Zukunft geben kann“, sagt Michael Ignatieff, Rektor der CEU. „Der neue Campus muss flexibel nutzbar sein, um auf die Bedürfnisse verschiedenster Disziplinen und Formen des Zusammenarbeitens und Lernens eingehen zu können, die die Zeit nach der Pandemie sicherlich prägen werden.“

Und James von Klemperer, Chefdesigner von KPF, zitiert seine österreichischen Vorfahren herbei und will Geschichte mit zeitgenössischer Architektur verbinden. Die Familie Kuffner war im Wiener Westen kulturell und wirtschaftlich umtriebig. Die Kuffner-Sternwarte zeugt davon. „Mit Gebäuden zu arbeiten, die von Otto Wagner, dem Meister der Protomoderne, und seinen Zeitgenossen entworfen wurden, ist eine immense Herausforderung, die viel Einfühlungsvermögen erfordert. Durch meinen familiären Hintergrund fühle ich mich motiviert, diese Verbindung herzustellen.“

Die Indoor- und Outdoor-Visualisierungen, die ein bisschen künstlich amerikanisch und Computerspiel-animiert wirken, machen zwar neugierig, dennoch ist die Wahl in Bezug auf KPF Associates aus baukultureller Sicht nur schwer nachvollziehbar. Die CEU selbst, die heute noch in einem Interimsquartier in der Quellenstraße in Wien-Favoriten untergebracht ist, begründet den Zuschlag für das 35.000-Quadratmeter-Projekt mit einem mehrstufigen Auswahlprozess, in den sogar Studierende und Fakultätsmitglieder eingebunden waren.

„Kein Grund zur Sorge“

Michaela Schüchner (SP), Bezirksvorsteherin von Penzing, und Selma Arapović, Sprecherin für Stadtplanung und Stadterneuerung bei den Neos, die sich schon seit Jahren für den Erhalt des Otto-Wagner-Areals einsetzt, zeigen sich mit dem Projektfortschritt zufrieden. Mit der CEU werde das ehemalige Krankenhaus revitalisiert und einer zeitgemäßen Nutzung zugeführt, sagen beide: „Wir haben auf einen Flächenwidmungsplan gepocht, der im Juni 2020 im Gemeinderat beschlossen wurde und ganz genau festsetzt, welche Änderungen erlaubt sind und welche nicht.“ Man werde das Projekt im Auge behalten, sehe allerdings keinen Grund zur Sorge.

Die CEU beziffert die Baukosten mit rund 180 Millionen Euro. Eigentümerin des künftigen Uni-Kerngebiets ist und bleibt die Wiener Wirtschaftsagentur, die der CEU im Juni letzten Jahres ein 100-jähriges Baurecht mit Verlängerungsoption eingeräumt hat. Im Jänner 2023 sollen die ersten Bagger anrollen. Geplante Fertigstellung: 2025.

Der Standard, Do., 2021.04.08

20. Februar 2021Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Stadt schickt sich in die Wüste

Seit ein paar Wochen wirbt das Königreich Saudi-Arabien im deutschen Privatfernsehen recht aggressiv für seine utopische Stadt „Neom The Line“. Was ist dran an dem Versprechen? Ist es ein theokratischer Tagtraum? Oder gar eine Sackgasse?

Seit ein paar Wochen wirbt das Königreich Saudi-Arabien im deutschen Privatfernsehen recht aggressiv für seine utopische Stadt „Neom The Line“. Was ist dran an dem Versprechen? Ist es ein theokratischer Tagtraum? Oder gar eine Sackgasse?

Ein langsam sich ausdehnender Balken mit Windrädern, Palmenhainen, Onyx-Gazellen, bunten Korallenfischen und atemberaubenden Wadi-Steinformationen. Dazu eine rauchige, seriöse Stimme, die von Mensch, Natur und Revolution spricht. „It’s time. It’s time to draw the line. Neom.“

Doch was steckt hinter der visuell anregenden Werbung, die seit einigen Wochen in sämtlichen Foren und TV-Kanälen – darunter auch im deutschen Privatfernsehen – mit scheinbar unpackbarem Werbeetat in den besten Hauptabendstunden ausgestrahlt wird? Die Orient-Expedition eines Reiseveranstalters? Ein neues Online-Strategiespiel à la Sim City oder Forge of Empires , bei dem es gilt, eine futuristische Stadt zu errichten? Oder vielleicht ein Science-Fiction-Film wie dereinst Michael Bays Die Insel (2005) mit Scarlett Johansson und Ewan McGregor in den Hauptrollen?

Von Zukunft ist in der Tat die Rede, und zwar von jener, wie sie sich das Königreich Saudi-Arabien ausmalt. Im Nordwesten des Landes, Provinz Tabuk, will Seine Hoheit Mohammed bin Salman, Kronprinz von Saudi-Arabien und praktischerweise zugleich Vorstandspräsident der mit dem Bau befassten Neom Company, eine 170 Kilometer lange Idealstadt errichten, die sich vom Golf von Akaba über das 2500 Meter hohe Hedschas-Gebirge bis zu den im Binnenland vorzufindenden Wadis erstreckt. Der Name des Megaprojekts: „Neom The Line“. Im Jänner war Baubeginn.

„Wir wollen das Konzept einer konventionellen Stadt in das einer futuristischen Stadtvision verwandeln“, sagt bin Salman bei einem seiner vielen Konferenzauftritte. „Neom The Line besteht zu 95 Prozent aus Natur, eine Stadt ohne Autos, ohne Straßen, ohne CO2 -Emissionen, eine Stadt für eine Million Einwohner, die hier mit Hochgeschwindigkeitszügen, künstlicher Intelligenz und nachhaltiger Energiegewinnung aus Windkraft, Sonnenenergie und Wasserstoff-Kraftwerken ein Zuhause finden sollen.“

Wie eine Perlenkette

Neom The Line – der Name ist ein Kompositum aus dem lateinischen „neu“ und dem Initial von „mustaqbal“ (Zukunft) – ist ein einziger langer Strich, der in einem hochmodernen Hafen-Hub am Roten Meer seinen Anfang nimmt, ungeachtet von Berg und Tal schnurstracks durch die saudi-arabische Landschaft durchgaloppiert, um schließlich in einem neu zu errichtenden internationalen Flughafen abrupt zu enden. Angestrebt wird, so heißt es in den offiziellen Presseaussendungen, eine Mischung aus Dubai, Singapur und Silicon Valley.

Auf einer Breite von rund zwei Kilometern sollen an den wichtigsten neuralgischen Punkten Subzentren mit Wohnen, Büros, Schulen, Kindergärten, Geschäften, Apotheken und Freizeiteinrichtungen entstehen, die nach dem Konzept einer Fünf-Minuten-Stadt zu Fuß erreicht werden können. Die gesamte Infrastruktur wie Müllablagerung, Energie und Lieferlogistik liegt unterirdisch. Verbunden werden die wie Perlen an einer Perlenkette aufgefädelten Subzentren über eine High-Speed-Zugverbindung. Angestrebte Fahrzeit von Ost nach West: 20 Minuten. Das entspricht zwar einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 510 km/h, aber das ist schon okay.

So weit die wunderbaren Eckpunkte. Die Zukunft darf kommen. Was die Entwickler allerdings verschweigen: Für den Bau der neuen Linienstadt müssen laut The Guardian rund 20.000 Beduinen, die hier leben, vertrieben werden. Abdul Rahim al-Huwaiti, Mitglied des Howaitat-Stammes, machte in einem Video darauf aufmerksam, dass die saudischen Sicherheitskräfte ihn und seine Familie mit Gewalt verjagen wollen, und wurde kurz darauf ermordet aufgefunden. Eine Kugel im Kopf. Mit dem Attentat im April letzten Jahres legten Architekt Norman Foster und Daniel L. Doctoroff, CEO von Google Sidewalk Labs, ihre Funktion im wissenschaftlichen Neom-Beirat nieder.

Doch die künstliche Traumstadt, mit der die konservative und menschenrechtlich rückständige Monarchie (Platz 159 von 167 im globalen Demokratie-Ranking des Economist , Platz 170 von 180 im Pressefreiheit-Ranking von Reporter ohne Grenzen) ihr internationales Image aufpolieren und sich für die Zeit nach der Ölschwemme wappnen will, wirft nicht nur einen politischen Schlagschatten auf das Gesamtprojekt. Auch architektonisch, stadtplanerisch und in Hinsicht auf Nachhaltigkeit tauchen viele kritische Fragen auf.

„Die Idee der Bandstadt ist nicht neu, sondern wurde in der Architekturtheorie schon oft aufgegriffen“, sagt Vittorio Magnago Lampugnani, Professor für Städtebaugeschichte an der ETH Zürich sowie Autor der fast fünf Kilo schweren Urbanismusbibel Die Stadt im 20. Jahrhundert . „Aufgrund der langen Distanzen und der damit verbundenen Abhängigkeit von schnellem Verkehr jedoch hatten das Modell und die wenigen realisierten Beispiele wie etwa in Madrid keinerlei Auswirkung auf den heutigen Städtebau. Träume und Visionen sind wichtig, keine Frage. Aber die reale Verräumlichung der Bandstadt-Idee ist geschichtlich betrachtet nutzlos.“

„Biopolitische Sehnsucht“

Im konkreten Fall, meint Lampugnani, sei die Situation sogar um einiges absurder. „Das Projekt Neom The Line liegt mitten in der Wüste und verbindet nicht einmal zwei bestehende Punkte A und B, sondern endet nach 170 Kilometern im Nichts. Ich erkenne keine Legitimation für diese Stadt, sondern sehe nur das Kopieren eines historisch erfolglosen Modells. Das ist eine Sackgasse.“

Auch Charlotte Malterre-Barthes, Assistenzprofessorin für Stadtplanung an der Harvard Graduate School of Design in Boston, die sich schwerpunktmäßig mit Siedlungsstrukturen in Wüstengebieten beschäftigt, äußert sich im Gespräch mit dem ΔTANDARD überaus skeptisch: „Nachhaltigkeit wird bei diesem Projekt großgeschrieben, aber wie nachhaltig ist es, die Wüste mit einer U-Bahn zu untertunneln, Millionen Tonnen Beton durch die Natur zu transportieren und zigtausende Bauarbeiter auszubeuten?“

Die Linearstadt Neom, für die Saudi-Arabien in der ersten Tranche 500 Milliarden US-Dollar (412 Milliarden Euro) in die Hand nehmen will, ist für die Stadtforscherin eine „biopolitische Sehnsucht“, um – wie so oft bei autokratischen Top-down-Fantasien – über eigentliche Missstände und Probleme eines Systems hinwegzutäuschen. „Man könnte vermuten, dass sich hinter dem Projekt in erster Linie nationale und internationale wirtschaftliche Interessen verbergen.“

Nach Auskunft von Florian Lennert, Head of Mobility bei Neom, die ihr Headquarter vor wenigen Wochen von der Hauptstadt Riad in die Region Tabuk verlegte, sei man bereits mit namhaften Verkehrstechnologie-Unternehmen wie etwa Siemens, Alstom und Hyperloop im Gespräch. Auch andere Stakeholder wie beispielsweise der 5G-Anbieter stc oder der US-amerikanische Anlagenbauer Bechtel sind mit an Bord. Um weitere Investoren und Entwickler zu gewinnen, plant Kronprinz Mohammed bin Salman, die Provinz Tabuk – ähnlich wie etwa bei Hongkong, Shenzhen und Macau – zu einer autonomen Region mit eigener Verfassung und eigenen Steuer- und Wirtschaftsgesetzen zu erklären. Ob das reicht?

Neom ist das vielbeworbene Versprechen, eine neue Zukunft zu bauen. Aktuell deutet vieles darauf hin, alte, missglückte Vergangenheiten zu kopieren. Fertigstellung des ersten Bauabschnitts: 2025.

Der Standard, Sa., 2021.02.20

30. Januar 2021Wojciech Czaja
Der Standard

„Die Stadt der Fußgänger war voller Türen“

Die Welt steht kopf: Dank Lockdowns und Onlinehandels verschwinden die klassischen Handelsstrukturen aus dem Stadtbild. Was tun? Ein Gespräch mit der Wiener Erdgeschoßforscherin Angelika Psenner.

Die Welt steht kopf: Dank Lockdowns und Onlinehandels verschwinden die klassischen Handelsstrukturen aus dem Stadtbild. Was tun? Ein Gespräch mit der Wiener Erdgeschoßforscherin Angelika Psenner.

Standard: Frau Psenner, wann war das letzte Mal, dass Sie an einem Erdgeschoß vorbeigegangen sind und sich bei dessen Anblick erfreut haben?

Psenner: In meiner Gasse gibt es einen Künstler, der im Erdgeschoß wohnt, in einer ehemaligen Tischlerei, und ich bin jedes Mal erfreut, wie er den Wohnort nutzt, wie er in Nicht-Corona-Zeiten Leute einlädt und kleine Ausstellungen veranstaltet.

Standard: Und wann waren Sie das letzte Mal so richtig entsetzt?

Psenner: Das passiert leider regelmäßig, mehrmals am Tag. Grund dafür sind die vielen Garagen und Storage-Räumlichkeiten, die dort entstehen, wo einst eine florierende Handelsstruktur war. Bei alledem, was wir heute schon über Erdgeschoße wissen, wundert es mich, dass diese gravierenden Fehler immer noch begangen werden.

Standard: Am Beispiel einer typischen innerstädtischen Wohngasse haben Sie erforscht, dass die Gastro- und Gewerbeflächen zwischen 1910 und 2018 – also in etwas mehr als 100 Jahren – um zwei Drittel geschrumpft sind. Gibt es ähnliche Zahlen für ganz Wien?

Psenner: Wie die Zahlen in Wien aussehen, müsste man erforschen. Aber ja, in unserem Forschungsgebiet, das wir untersucht haben, sind die Gewerbe- und Gastronomieflächen um fast 70 Prozent zurückgegangen. Spannend finde ich persönlich, dass es damals sehr viel produzierendes Gewerbe inmitten der Wohnviertel gab – beispielsweise Tischlereien, Waschwarenerzeuger, Korkwarenerzeugungsgewerbe, Krawattennäherinnen und Hemdennähereien, sogenannte Pfaidlerinnen. Vor allem aber gab es überraschend viele Gastronomiebetriebe, also etwa Zuckerbäckereien, Fleischereien, Brandweiner, Kaffeehäuser und Essensauspeisungen. Das Straßenbild war ein diametral anderes als heute.

Standard: Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Psenner: Die meisten Geschäfte und Essensausspeisungen waren klein und hatten direkte Zugänge von der Straße aus. Das heißt: Überall dort, wo wir heute im Erdgeschoß bestenfalls Fenster vorfinden, wenn diese nicht schon längst zugemauert und Garageneinfahrten zum Opfer gefallen sind, gab es große, gläserne Portale – oft sogar mit Markisen und Baldachinen. Die Stadt der Fußgängerinnen und Fußgänger war einst voller Türen!

Standard: Gab es in den letzten 100 Jahren einschneidende Ereignisse, die zum Geschäftssterben besonders beigetragen haben?

Psenner: Ich denke da vor allem an die Einführung der Straßenverkehrsordnung 1938 im Nationalsozialismus. Man kann es ja kaum fassen, aber in vielen Punkten geht die heutige StVO immer noch darauf zurück. In § 78 ist festgehalten, dass das unbegründete Stehenbleiben auf dem Gehsteig verboten ist. Ich bin mit jeder Novelle aufs Neue erstaunt, dass dieser Passus noch immer nicht gefallen ist. Genau diesem Aufenthaltsverbot auf Gehsteigen ist zu verdanken, dass ein Gassenverkauf heute oft verunmöglicht wird. Viele Anrainer und Anrainerinnen fühlen sich durch herumstehende Menschen belästigt und reichen, indem sie sich auf § 78 beziehen, Klage ein. Meistens mit Erfolg. Solange wir diesen Passus haben, bleibt das urbane, quirlige Stadtparterre, das wir regelmäßig auf Renderings neuer Stadterweiterungsgebieten präsentiert bekommen, eine Utopie.

Standard: Stadtparterre? Den Begriff haben Sie 2012 geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Psenner: Der Begriff Stadtparterre umschreibt das Zusammenspiel von Erdgeschoßzonen, Fassaden, Portalen, Gehsteigen und Diffundierungsräumen zwischen drinnen und draußen. Das Stadtparterre umfasst auch die Innenhöfe der Gebäude, es ist also das Parterre der gesamten, öffentlichen Stadt.

Standard: Wie nehmen Sie das Stadtparterre im 21. Jahrhundert wahr?

Psenner: In vielen Fällen als eine Aneinanderreihung von Garageneinfahrten und folienbeklebten Schaufenstern, hinter denen sich neuerdings Self-Storage-Räume befinden. Urbane Vielfalt sieht anders aus.

Standard: Im Publikumsjargon hat sich der Begriff „Tote Augen“ etabliert. Stimmen Sie dem zu?

Psenner: Ja.

Standard: Mit dem zunehmenden Onlinehandel und den Pleiten im Zuge des Corona-Lockdowns wird das Geschäftssterben weiter zunehmen. Kann man diesen Prozess noch aufhalten?

Psenner: Nur mit sehr rigiden und mutigen Eingriffen seitens der Politik. Es gab in der jüngeren Vergangenheit schon zwei Wellen, die zum Geschäftssterben beigetragen haben – zum einen die Einführung des Euro 2002, zum anderen die Registrierkassenverpflichtung 2016. Mit dem zunehmenden Onlinehandel und der derzeitigen Corona-Krise überlagert sich nun ein langsamer, schleichender Prozess mit einem sehr akuten, dramatischen Phänomen. Der Einzelhandel wird unter den herrschenden Prämissen der globalen Wachstumswirtschaft definitiv noch weiter zurückgehen.

Standard: Was schlagen Sie vor?

Psenner: Das österreichische Mietrechtsgesetz veranlasst viele Hauseigentümer dazu, lieber einen Geschäftsleerstand im Erdgeschoß in Kauf zu nehmen und den Verlust durch alle anderen Mieteinnahmen zu kompensieren – anstatt sich ernsthaft nach einem passenden, vielleicht auch temporären Mieter umzuschauen. Eine Abhilfe wäre beispielsweise die Einführung einer Leerstandsabgabe. Unsere Studie zeigt zudem einen klaren Zusammenhang zwischen Leerstand, zu engen Gehsteigen und zugeparktem Straßenraum.

Standard: Wie können wir das Erdgeschoß in Zukunft effektiv nutzen?

Psenner: Es gibt so viele Ideen! Einerseits sehe ich eine gewisse Sehnsucht nach Kleinhandel, nach Repariergewerbe, nach Bäckereien, Gemüsegeschäften, Bio-Fleischereien. Andererseits ist es an der Zeit, das Stadtparterre neu zu denken und das klassische Erdgeschoß zugunsten neuer Funktionen zu öffnen. Infrage kommen Ateliers, temporäre Nutzungen, Wohnen oder etwa Kombinutzungen mit Wohnen und Gewerbe – wie dies in der Gründerzeit in den sogenannten G’wölben üblich war. Aber dazu müssen sich Politik, Kultur und Mentalität ändern. Und es bräuchte neue Gesetze – und zwar solche, die das 1938 induzierte Vorrecht des motorisierten Individualverkehrs wieder in stadtverträgliche Dimensionen zurückdrängen. Die in den Nullerjahren initiierte Restitution von Kunst- und Kulturgütern sollte nun endlich auch zur Restitution des öffentlichen Raums führen.

Standard: Wovon träumen Sie?

Psenner: Ich träume davon, dass Wien zu Tokio wird – dass das Parken von Autos aus dem öffentlichen Raum verschwindet. Und dass sich Wiens Gassen wieder mit Menschen füllen.

Angelika Psenner (53) studierte Architektur und Soziologie und ist im Bereich Stadtforschung tätig. Sie ist Associate Professor for Urban Structure Studies und lehrt an der TU Wien. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Auseinandersetzung mit Erdgeschoßzonen und öffentlichen Räumen.

Der Standard, Sa., 2021.01.30

11. Januar 2021Wojciech Czaja
db

Wogen im Wein

Mit dem Weingut Lahofer in Dobšice u Znojma ist den tschechischen Architekten Chybík + Krištof die nahezu perfekte Welle gelungen. Das hyperbolisch geformte Dach, aufwendig in der Konstruktion, hält das heterogene Ensemble zusammen und taugt überraschenderweise sogar für so manch »maritimen« Moment.

Mit dem Weingut Lahofer in Dobšice u Znojma ist den tschechischen Architekten Chybík + Krištof die nahezu perfekte Welle gelungen. Das hyperbolisch geformte Dach, aufwendig in der Konstruktion, hält das heterogene Ensemble zusammen und taugt überraschenderweise sogar für so manch »maritimen« Moment.

»Komm, hier lang!«, sagt Ondřej Chybík, eilt voraus, die Stufen hochlaufend, nimmt eine starke Rechtskurve und begibt sich schließlich flotten Schritts ans Ende des Dachs. »Lehn dich an die Reling, und jetzt musst du die Arme ausbreiten, ja, genau so! Ist das nicht wunderbar? Man kann von hier oben sogar das Meer riechen. Wir nennen das den Titanic-Moment.« Allein, unter mir findet sich kein Salzwasser, sondern süßer Rebensaft in Tanks und Fässern, und ringsum grüne, streng durchlinierte Weingärten, so weit das Auge reicht. »Das macht nichts«, sagt Ondřej, und auch, dass er ja nicht Leonardo sei, sondern dass es um die Fantasie im Kopf ginge, die anzuregen seine Aufgabe als Architekt schließlich sei.

In Dobšice u Znojma, tiefstes Südmähren unweit der österreichischen Grenze, ist diese gedankliche Anregung auf dramatisch inszenierte Weise gelungen. Keine 5 km Luftlinie von der mittelalterlichen Kleinstadt Znaim entfernt, befindet sich das traditionelle Anwesen des in Tschechien landesweit bekannten Winzers Lahofer. Zu den besten Tropfen des Weinguts zählen Sauvignon Blanc, Müller-Thurgau und der so wunderbar im Ohr widerhallende Ryzlink rýnský. Der alte Produktionsstandort war vor geraumer Zeit schon zu klein geworden, und so hatte Lahofer an der Architekturfakultät in Brno (Brünn) einen Studentenwettbewerb ausgeschrieben, der dem Unternehmen jedoch nicht die erhofften Resultate bescherte.
»Wir haben davon in der Zeitung gelesen«, erinnert sich Ondřej. »Das hat uns neugierig gemacht. Wenn die Studenten nicht das abgeliefert haben, was Lahofer glücklich gemacht hätte, dann könnte uns das doch vielleicht gelingen! Also haben wir Lahofer angerufen und ihm direkt angeboten, dass wir das Projekt übernehmen könnten.« Gemeinsam mit seinem Partner Michal Krištof, mit dem er seit 2010 das Brünner Architekturbüro Chybík + Krištof leitet, untersuchte er diverse Logistik- und Produktionsabläufe und präsentierte dem Bauherrn in spe aus dem erarbeiteten Kompendium schließlich sieben verschiedene Varianten. Nach zwölf Stunden Besprechungsmarathon einigte man sich schließlich auf den letztlich nun auch realisierten Entwurf.

Vorne Chipperfield und hinten Hadid

Das architektonische Konzept ist in mehrfacher Hinsicht janusköpfig. Nach Süden hin, sichtbar von der Bundesstraße 53, präsentiert sich das Weingut wie eine flache, elegante Vitrine aus Glas und Beton. Mit den schlanken Pfeilern, den großen Glasflächen und der weit hinausragenden Dachkrempe, die für ein Minimum an Verschattung der Fassade darunter sorgt, wirkt das Haus auf den ersten Blick wie ein etwas geschrumpfter Flughafen-Terminal. Erst im maßstäblichen Vergleich mit den Weinstöcken vor der Fassade verflüchtigt sich dieses Bild, und übrig bleibt eine edle Anmutung mit warmen, schimmernden, aus dem Inneren herausleuchtenden Farben.

Im Bereich des Haupteingangs im Westen mutiert der streng rhythmisierte Glasriegel zu einer Art gerahmten Roulade, die im Gelände platziert ist, als hätte jemand eine Rehrücken-Backform aus fest gewordenem Stahlbeton über einen gläsernen Teig gestülpt. In der Achse des Eingangs entfaltet sich dann ein Bild mit fortlaufend hintereinanderliegenden, halbkreisförmigen Rundbögen, die den Eindruck erwecken, als würde das eben noch luftige Bauwerk – nun, nach einer Drehung des Betrachtungswinkels um 90 ° – etwas zunehmend Erdiges und Bodenständiges annehmen.

Gleichsam tonnenschwer und satt in die Topografie hineingeschmiegt, offenbart sich auf der Nordseite des Besuchereingangs eine flache, organisch modulierte Stufenlandschaft, die in weichen Kurven und mit Thermo-Wood bekleidet bis zum Dach hinauf ansteigt und dem Haus schon wieder eine neue Assoziation verleiht: Unweigerlich muss man an das 1995 fertiggestellte Yokohama Passenger Terminal von Foreign Office Architects (FOA) denken.
Und schließlich sind auf der Rückseite im Norden alle dienenden Bereiche des Weinguts untergebracht. Die Produktions- und Logistikflächen bieten zwar wenig Raum für Ästhetik, doch dafür umso mehr Flächeneffizienz und Funktionalität. Während die repräsentativen Bereiche wie Shop, Verkostungsraum und der Verwaltungstrakt mit raffiniert geformten, thermisch aktivierten Bauteilen aus perfektem Sichtbeton aufwarten, dominiert im technischen Kernstück des Weinguts eine rigide Fertigbauweise mit Betonpfeilern und -trägern, gedämmten Sandwich-Fassadenelementen sowie einem leichten Kaltdachaufbau mit Trapezblech und kiesbeschwerter Dämmung aus extrudiertem Polystyrol. Alles sehr praktisch. Die Sinnlichkeit liegt hier in den Stahltanks und Barrique-Fässern verborgen.

»Das Weingut hat zwar etwas Heterogenes und Fragmentarisches«, sagt Ondřej, »doch denke ich, dass wir den Auftrag und den Erfolg des Projekts genau diesem Umstand verdanken. Wir haben nichts im klassischen Sinne entworfen, sondern haben in jedem einzelnen Bauteil auf Basis der vielen, vielen Parameter die jeweils perfekte Lösung gefunden.« Oder, anders ausgedrückt: Lahofer, das ist vorne Chipperfield und hinten Hadid, im Abgang ein Hauch von Ando und Sejima.

Worüber Ondřej Chybík und Michal Krištof nicht sprechen: Durch die heterogene Ausgestaltung des Projekts ergeben sich natürlich auch entsprechend vielfältige fotogene Perspektiven auf das Gebäude. Der Verdacht liegt also nahe, dass hier nicht nur die funktionalen Parameter als formende Faktoren des Entwurfs dienten, sondern sehr wohl auch ein Gespräch zweier Marketing-Experten über Sexiness und Instagramability: Das Kate-Winslet-Deck auf dem Dach ist nur einer von vielen Hotspots, die in Blogs und sozialen Medien immer wieder auftauchen.

Der Reiz des Ungeplanten

»Die maritime Assoziation ist uns eigentlich bloß passiert«, sagt Ondřej, »aber das passt schon, denn mit den Brüchen und den unvorhersehbaren Entwicklungen kommt erst der Reiz.« Überraschend war auch die Entstehung der Innenraumgestaltung: Ursprünglich war geplant, das gesamte Interieur schlicht und ohne jegliche künstliche Verfremdung in den natürlichen Materialfarben von Holz, Beton und Terrazzo zu belassen. Doch als die Bagger zum ersten Mal anrollten und ihre Schaufeln in den fruchtbaren Boden gruben, wurden die asketischen Pläne wieder verworfen.

Die Farbe und Textur des Bodens empfanden die Architekten als so reizvoll, dass sie beschlossen, die ungewöhnliche Ästhetik auf den innen liegenden Ortbetonflächen zu zitieren. Der tschechische Künstler Patrik Hábl hat die zweiachsig gekrümmten Dachunterseiten zwischen den insgesamt 25 Querschotten als Leinwand verwendet und darauf seine Interpretation des lehmigen Weinbodens verewigt. Das Kunst-am-Bau-Projekt ist so subtil wie raffiniert und erinnert mit seinem ungleichmäßigen Farbauftrag und seinen teils bronzefarben glitzernden Camouflage-Flächen an eine aufgeschnittene und vielfach vergrößerte Korkplatte.

»Schön, wenn die Anstrengungen des Baus heute hinter der Oberfläche der Kunst verschwinden«, meint Michal Krištof, »doch tatsächlich war die Schalung und Ausbetonierung der zweiachsig gekrümmten Flächen, die Wand und Dach nahtlos miteinander verbinden, ein ziemlicher Kraftakt.« Um den flüssigen Beton daran zu hindern, sich im Schalungshohlraum unregelmäßig zu verteilen, konnte dieser in nur 20 bis 30 cm hohen Schichten eingefüllt werden, was sich als deutlich aufwendiger als angenommen herausstellte. Glücklicherweise war der Bauherr, der im Gesamtprojekt so viel Effizienz und Wirtschaftlichkeit erkannte, überzeugt, dass sich auch dieser technische und künstlerische Mehraufwand lohnen würde.

Fast alles an diesem Bauwerk scheint perfekt durchkomponiert und minutiös orchestriert. Über ein paar ganz wenige Ausnahmen, wie z. B. bei den Details an der Schnittstelle zwischen der wogenden Dachwelle und dem Innenausbau, kann man nach einer ausgiebigen Weinverkostung sicherlich getrost hinwegsehen. Stattdessen gibt es aufregende Wellenvariationen, veredelten Beton sowie schicke Eames- und Prouvé-Sessel zu entdecken. Davon können die deutschen und österreichischen Winzer mit ihrer zu Tode kopierten Cortenstahl- und Zigarrenclub-Ästhetik noch was lernen.

db, Mo., 2021.01.11



verknüpfte Zeitschriften
db 2021|01-02 Dachlandschaften

19. Dezember 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Monopoly für Politiker

Wollten Sie immer schon mal auf einen Sitz 16.000 Prozent Gewinn machen? Oder wollen Sie lieber nachhaltig agieren und g’scheite Bodenpolitik machen? Eine Ausstellung im AzW zeigt, wie es gehen kann.

Wollten Sie immer schon mal auf einen Sitz 16.000 Prozent Gewinn machen? Oder wollen Sie lieber nachhaltig agieren und g’scheite Bodenpolitik machen? Eine Ausstellung im AzW zeigt, wie es gehen kann.

Der 1970 errichtete Seoul-Station-Overpass überbrückt die zentralen Gleisanlagen, sodass man früher mit dem Auto vom Bahnhof aus bequem den traditionellen Namdaemun-Markt erreichen konnte. Nachdem Sicherheitsinspektionen im Jahr 2006 gravierende konstruktive Mängel aufzeigten, musste die Autobahnbrücke jedoch von einem Tag auf den anderen gesperrt werden – und löste damit einen jahrelangen Nachdenk- und Diskussionsprozess aus. Statt Abriss und Neubau entschied sich die Stadt dazu, das Bauwerk zu erhalten, die Betonstruktur zu sanieren und darauf einen tausend Meter langen Skygarden für Jogger und Flaneure anzulegen.

„Wo vor einigen Jahren noch pro Stunde tausende Autos über den Asphalt gefahren sind“, sagt Winy Maas vom niederländischen Architekturbüro MRVDV, „haben wir nun 24.000 Blumen, Büsche und Bäume gepflanzt – darunter mehr als 250 verschiedene Arten, die in diesen Breitengraden typischerweise zu Hause sind.“ Der Aufbau einer natürlichen Humusschicht war aus statischen Gründen nicht möglich. Daher entschied sich MVRDV, aus der Not eine Tugend zu machen und die Flora in 645 zylindrische Betontröge mit unterschiedlichen Durchmessern zu setzen. „Das Verständnis von städtischem Grund und Boden hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten radikal verändert“, so Maas. „Auf diese Weise konnten wir den Menschen einen wertvollen öffentlichen Freiraum zurückgeben.“

Best-Practice-Projekte

Die Entstehungsgeschichte des Seoullo 7017 Skygarden , seit rund drei Jahren in Betrieb, ist eines von rund 20 positiven, ja fast schon euphorischen Fallbeispielen, die zurzeit im Architekturzentrum Wien (AzW) zu sehen sind. Unter den weiteren Best-Practice-Projekten finden sich Kunstprojekte, Forschungsbauernhöfe, Initiativen zur Rettung von Grünland, Konzepte für ein schönes Leben ohne Rendite, gemeinschaftliche Quartiersentwicklungen, politische und steuerrechtliche Werkzeuge aus Kolumbien oder etwa die ENCI-Kalkgrube in Maastricht, die 2008 stillgelegt wurde und in den letzten Jahren in ein Naturreservat umgewandelt wurde. Ein Paradies für Badende, während im Hintergrund als Relikt einer vergangenen Zeit patinierte Kessel und Schornsteine in den Himmel ragen.

In diesem Teil der kürzlich eröffneten Ausstellung Boden für Alle empfiehlt es sich, länger zu verweilen und gute Energie zu tanken. Denn abgesehen davon wird man in den übrigen sechs Stationen der Ausstellung – eine Art österreichisches Bodenpolitik-Einmaleins für Gestalter und Entscheiderinnen – mit Zahlen, Daten, Fakten konfrontiert, die zum Teil so schockierend sind, dass man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Die comichafte Gestaltung der Ausstellung (genial gelöst: Planet Architects, LWZ und Manuel Radde), die das Unfassbare in Sprechblasen, Denk-Bubbles und Krachbumm-Gewitterwolken packt, hilft einem, ob der recherchierten Statistiken nicht schreiend davonzulaufen.

Pro Minute werden in Österreich zehn Quadratmeter Straße gebaut. Im gleichen Zeitraum gehen 30 Quadratmeter Ackerfläche verloren. Allein in der Steiermark gibt es 157,5 Quadratkilometer gewidmete, unbebaute Baulandreserven. Das ist mehr als die gesamte Stadtfläche von Graz. Dadurch steigt der Wert von Bauland in Österreich um durchschnittlich 750 Euro pro Sekunde. Am stärksten ist der Wertzuwachs in Kitzbühel. Durch die Umwidmung von Grünland zu Bauland können Grundstückseigentümer im Tiroler Nobelsportort bis zu 16.000 Prozent Gewinn machen.

Aussicht auf Lösungen

„Raumplanung und Bodenpolitik sind ein sehr komplexes Thema, bei dem Bauwirtschaft, Gemeindepolitik und Immobilienspekulation eng miteinander verflochten sind“, sagt Katharina Ritter, die die auf den ersten Blick so sympathisch wirkende Ausstellung (außen hui, innen heftig) gemeinsam mit Karoline Mayer kuratierte. „Unser Ziel ist es, diese Verknüpfungen sichtbar zu machen und auch darzustellen, welche Rolle jeder Einzelne, jede Einzelne von uns in diesem großen Monopoly-Spiel einnimmt.“

Der klassische Traum des Österreichers ist immer noch das eigene Häuschen auf der grünen Wiese. Dass dieser Wunsch nicht ohne raumplanerischen Super-GAU in Sachen Versiegelung, Zersiedelung, Individualverkehr, Erschließungskosten und CO2-Belastung realisierbar ist, dürfte sich schon herumgesprochen haben. Neu ist die Erkenntnis, dass dieser Wunsch Herrn Otto Normalverbraucher und Frau Monika Mustermann unter den bestehenden Bedingungen mehr als leicht zu erfüllen wäre: Wollte man die städtischen Wohnungen entleeren und die gesamte österreichische Bevölkerung auf die in diesem Land bestehenden Ein- und Zweifamilienhäuser aufteilen, dann würde das einen Schlüssel von 4,16 Bewohnern pro Wohneinheit ergeben. Es ist also schon alles gebaut, was wir brauchen. Was wollen wir mehr?

Vorausgesetzt, man bringt die Zeit und Energie mit, sich durch das Kompendium durchzuarbeiten, bietet die Ausstellung Boden für Alle am Ende allen Frustes wunderbare Aussicht auf Lösungen: Da ist die Rede von der Mehrwertabgabe im Schweizer Kanton Basel-Stadt. Da ist die Rede von der überaus innovativen Contribución de Valorización in Manizales, Kolumbien. Und da ist die Rede vom Südtiroler Bauleitplan, demnach neues Bauland stets an bestehendes Bauland angrenzen muss. Es würde ja so leicht gehen!

Dieser Artikel ist ein Appell an die Bundes-, Landes- und Gemeindepolitik: Pflichtexkursion ins AzW! Dann erfährt man auch, warum Bayern einer der größten Bodenbesitzer in Österreich ist.

Der Standard, Sa., 2020.12.19

12. Dezember 2020Maik Novotny
Wojciech Czaja
Der Standard

Der Fall Loos

Dieser Tage jährt sich der 150. Geburtstag von Adolf Loos. Architekt, Designer, Theoretiker, Dandy, aber auch Verurteilter in einem Sexualprozess. Wir haben sechs Experten gebeten, die umstrittene Persönlichkeit unter die Lupe zu nehmen.

Dieser Tage jährt sich der 150. Geburtstag von Adolf Loos. Architekt, Designer, Theoretiker, Dandy, aber auch Verurteilter in einem Sexualprozess. Wir haben sechs Experten gebeten, die umstrittene Persönlichkeit unter die Lupe zu nehmen.

Sehnsucht nach Sinnlichkeit

Man muss sich lediglich in die Raumwelten des Adolf Loos hineindenken. Man nimmt in seinen Sofas Platz und sitzt an seinen Tischen. Man bestaunt die fließend ineinander übergehenden Räume und Zonen. Man ist versucht, den kühlen Marmor zu betasten, edle Hölzer zu befühlen und den Flausch seiner Teppiche unter nackten Füßen zu spüren. Alles wird angemessen sein. Gemütlich, doch edel. Praktisch, doch schön.
Was Adolf Loos seiner überladenen Epoche entgegengesetzt hat – nämlich die entschlackte Symbiose aus den drei elementaren Zutaten Qualität, Komfort und Eleganz –, macht heute ebenso Sinn wie zu seiner Zeit und ist geradezu wegweisend. Er arbeitete mit Sinnlichkeit, Raffinesse und Emotionen, nach denen wir uns heute heimlich sehnen. Seine Interieurs geben die richtigen Anstöße in einer Welt des unsinnlich Glatten und rein Funktionalen, in der kaum je ist, was es zu sein scheint.
Billiger Nachbau oder Original? Letztlich egal. Adolf Loos’ Idee der warmen, wohnlichen Räume, kleidsam in jeder Situation, doch nicht zu gefällig, sodass man eine Zeit braucht, um sie für sich zu erobern, wären einfach ins Heute zu transponieren. Wir müssen wieder wohnen lernen. (Gregor Eichinger, Architekt und Interiorgestalter, Büro für Benutzeroberfläche)

Sexueller Klassenkampf

Der Beschuldigte darf vor Gericht alles zu seiner Verteidigung Dienliche vorbringen. Wahr muss es nicht sein. Er darf daher behaupten, dass „verderbte“ Mädchen von sexuellen Übergriffen fantasieren – oder sich das sogar wünschen, entsprechend Sigmund Freuds Zurücknahme seiner Inzestentdeckungen, dass Symptome oft sexuelle Traumata symbolisieren. Wenn er ein „nobler Herr“ war wie Adolf Loos, wurde ihm geglaubt, wurde er doch a priori als moralisch höherstehend bewertet. Und es wurde ihm verziehen, selbst wenn die Beweislast und die Absurdität seiner abenteuerlichen Rechtfertigungsargumente unübersehbar waren.
Diese Denkweise wird noch immer propagiert: Noch immer sehen sich solche Sozialdarwinisten mit finanziellem, künstlerischem, wissenschaftlichem, network-basiertem oder nur medialem Prestige als Wohltäter à la „Sie hat durch mich doch Vorteile gehabt!“. Der Skandal des Marquis de Sade bestand nicht in den „perversen“ Aktivitäten, die er seiner Klägerin zumutete, sondern darin, dass eine Bürgerliche einen Adeligen vor Gericht brachte. Und eine „Unter-Frau“ einen „Ober-Mann“. (Rotraud A. Perner, Juristin, Psychotherapeutin und evangelische Theologin)

im himmel mit loos

ich wollte immer in den architektenhimmel, auch um mit adolf loos über einige dinge zu sprechen. aber seit der neuen moralisierung von kunst und architektur bin ich mir nicht mehr sicher, ob sich das ausgeht oder was ich tun müsste, um auch gewiss in die hölle zu kommen. adolf loos scheint einen zentralen nerv des wiener kulturverständnisses getroffen zu haben, bis heute. ginge es nur um ästhetische empfindungen, würde darüber amüsiert und kennerhaft diskutiert werden. es scheint aber mehr zu sein, was dem zum barock-dekorativen, zu gefälligkeit neigenden wiener architekturverständnis so widerstrebt. wenige kennen die texte von loos oder haben seine bauwerke erlebt und begriffen. architektur ist in wien nur verdaulich, wenn sie spektakulär inszeniert oder geschmacklich aufgeladen oder als politisches mittel, befreit von anspruch und substanz, mit infantilität und niederschwelligkeit als „sozial“ inszeniert wird.
architektur bleibt in wien verdächtig. meine hoffnung: es gibt im architektenhimmel auch eine abteilung für moralisch zweifelhafte architekten, sonst könnte es dort einsam werden. bis dahin gibt es zum trost die texte und bauwerke von adolf loos. (Werner Neuwirth, Architekt)

Moderne Moden für freie Menschen

Die Mode befindet sich hoffentlich gerade in einem Paradigmenwechsel, für dessen Gelingen eine Besinnung auf den modernen Standpunkt von Loos definitiv nützlich wäre. Wenn Modeunternehmen von Philistern geleitet werden, die im Rausch von Kosteneffizienz und Margenerhöhung die Qualität ihrer Produkte zugrunde richten, wenn durch eine Wohlstandskluft dem von Klein- und Mittelbetrieben getragenen Handwerk die Lebensgrundlage entzogen wird, während einem besinnungslosen Luxuspöbel jegliche Sensibilität und geschmackliche Kompetenz fehlt, dann ist die Rückbesinnung auf handwerkliche Tradition nicht konservativ – sondern progressiv.
Modernes Design heißt letztlich, dass seine Formensprache Sinn machen muss und dass ästhetische Qualität auf dem soliden Fundament einer lebendigen Handwerkskultur stehen sollte, die jene Sensibilität für Material und Form hervorbringt, die Loos vorexerziert hat. Seine einfache, aber gute Kleidung entspricht dem bürgerlichen Ethos. Ihre Rolle ist aber nicht das Bewahren einer erstarrten Gesellschaft, vielmehr schafft sie durch subtile Perfektion den Rahmen für souveräne und freie Individuen. (Wilfried Mayer, Modedesigner)

Respekt vor der Tradition

Eine Auseinandersetzung mit Adolf Loos ist kunsthistorisch in vielerlei Hinsicht lohnend. Seine pointierten Essays zeugen von einem umfassenden Kulturbegriff, dem ein profundes Wissen der Kunst- und Baugeschichte zugrunde liegt. Bekanntlich ließ er nur zwei Bauaufgaben als Kunst gelten – das Grabmal und das Denkmal. Alle anderen, auch das Haus, seien zweckgebunden und deshalb aus dem Bereich der Kunst auszuschließen. In seinen Interieurs bezieht sich Loos auf verschiedene Quellen, antike oder angelsächsische, die er in die Moderne transferiert und modifiziert.Der Respekt vor der Tradition und die Ablehnung des Modischen oder des Imitats sind auch aus heutiger Sicht mehr als zeitgemäß. Seine Wegeführungen, die Verwendung edler Materialien, die raffinierte Lichtregie und Farbgebung begeistern nicht nur Studierende der Architekturgeschichte. Retrospektiv betrachtet besteht die internationale Relevanz von Loos in der Entwicklung des „Raumplans“, womit er einen revolutionären, alternativen Beitrag zu den Raumkonzepten der Moderne leistete. (Sabine Plakolm-Forsthuber, Professorin an der TU Wien, Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege)

Seid ja nicht groß wie Loos!

Unsere Aufregung über den Fall Adolf Loos verrät mehr über uns selbst als über Loos. Von Loos werden wir wohl nie wissen, ob er tatsächlich schwerere Vergehen begangen hat als die nachweislichen, für die er verurteilt wurde. Bezeichnend für unsere Gegenwart aber ist, dass wir dazu neigen, es zu glauben und allein darum schon Konsequenzen zu fordern. Jede Anschuldigung erscheint uns wahr, und jeder Verdacht begründet.
Denn wir möchten die Großen fallen sehen – insbesondere diejenigen, die es gewagt haben, aufzubegehren. Ihnen wollen wir sofort, wie Matthias Dusini im Falter gefordert hat, eine „Abgleichung“ im Namen von – uns auffällig willkommenen – Ohnmächtigen entgegenhalten. Größe, so meinen wir nämlich, kann immer nur auf Kosten von Kleinen erkauft worden sein. Diese Wunschfantasie bildet die aktuelle Schwundstufe einer einst antiautoritären politischen Haltung. Die Guten können nun nur noch die Kleinen sein. In ihnen sehen wir unser ideales Selbst. „Klein bleiben!“, lautet darum die Maxime postmoderner Selbstverzwergung. (Robert Pfaller, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz)

Der Standard, Sa., 2020.12.12

21. November 2020Wojciech Czaja
Der Standard

So ein Mist!

So viel wie in den vergangenen Wochen wurde noch nie über Re-Use und Recycle diskutiert. Ein Best-Practice-Beispiel ist das Umar von Werner Sobek. Es besteht zu einem großen Teil aus, genau, Müll.

So viel wie in den vergangenen Wochen wurde noch nie über Re-Use und Recycle diskutiert. Ein Best-Practice-Beispiel ist das Umar von Werner Sobek. Es besteht zu einem großen Teil aus, genau, Müll.

Badezimmerfliesen aus eingeschmolzenen Schneidbrettern? Ziegelsteine aus zertrümmerten Kloschüsseln? Trockenbauwände aus gepressten Tetra-Packs? Und Wärmedämmung aus geschredderten Jeans? „Ja, das geht, und es war ein unglaublich großer Aufwand, all diese Produkte am Markt zu finden beziehungsweise mit den Produzenten gemeinsam zu entwickeln“, sagt Roland Bechmann. „Aber die Recherche, die uns monatelang auf Trab gehalten hat, beweist, dass die Baubranche reif dafür ist.“

Auf dem Gelände der ETH Zürich in Dübendorf, ein paar Tramstationen von der Innenstadt entfernt, wurde vor einigen Jahren ein recht schmuckloses Betonhaus errichtet, das sich selbst als eine Art XXL-Regal für bautechnische Innovationen versteht und sukzessive mit neuentwickelten Modulen und neuen Elementen nachhaltigen Bauens gefüllt wird. Der jüngste Baustein, der im zweiten Obergeschoß mit einem Autokran zwischen die beiden Betondeckeln hineingeschoben wurde, hört auf den Namen Umar – das Akronym steht für „Urban Mining and Recycling“ – und ist ein Exempel für Bauen mit wiederverwendeten und wiederverwerteten Materialien aus der Bau- und Konsumgüterindustrie.

„Das Schöne an diesem Bau“, sagt Bechmann, Partner im Stuttgarter Architektur- und Ingenieurbüro Werner Sobek, der das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institute of Technology (KIT) entwickelte, „ist zu sehen, dass man im nachhaltigen Bauen längst keine ästhetischen Kompromisse mehr eingehen muss. Früher war ökologische Architektur meist ein Synonym für Entsagung und Verzicht. Doch das ist vorbei. Re-Use und Recycling können richtig chic sein!“

Genutzt wird die rund 125 Quadratmeter große Showcase-Box am ETH-Campus übrigens als Studenten-WG für bis zu vier Personen. Bei Interesse müssen die hier Wohnenden die neugierigen Gäste in Empfang nehmen und ihnen eine Führung durch die Räumlichkeiten geben. Manche Dinge erklären sich ganz von allein, für die etwas versteckteren Werte hinter Wänden und Bodenaufbauten kann eine Broschüre zurate gezogen werden. 152 Seiten voller Aha-Erlebnisse.

Symposien und Konferenzen

Vielleicht liegt es an der mit Corona verbundenen Besinnung auf Natürliches, vielleicht auch auf unserer gesteigerten Sensibilität für die fortschreitende Klimakrise, dennoch ist es überraschend, dass in den letzten Wochen das Thema in Symposien und Konferenzen hierzulande gleich mehrfach beleuchtet wurde – beim Symposium Circular Strategies an der Universität für angewandte Kunst, beim Jahreskongress der IG Lebenszyklus Bau, beim ÖGFA-Symposium „Stoffwechsel“ sowie vorgestern, Donnerstag, beim ORTE-Online-Symposium „Von der Wegwerfgesellschaft zur Kreislaufwirtschaft“. Und ja, Werner Sobeks Umar-Kiste flimmerte dabei nicht bloß einmal über die Zoom-Monitore.

„Wir beschäftigen uns schon lange mit der Triple-Zero-Thematik, also null fossile Energien, null Emissionen, null Müll“, sagt Bechmann. „In Bezug auf Müllvermeidung und Schonung materieller Ressourcen jedoch ist dies mit Abstand unser radikalstes und konsequentestes Projekt.“ Die Reise in die Welt des Recyclings war eine horizonterweiternde, bloß in einem Punkt, erinnert sich der Architekt, stoße die Kreislaufwirtschaft fast an Grenzen – im Bereich Elektro und Sanitär.

„So gut wie überall kann man Kleben durch Schrauben und Klemmen ersetzen, und so gut wie überall kann man auf Verbundbaustoffe verzichten, wenn man sich mit der Materie ein bisschen auseinandersetzt und die gewohnten Pfade verlässt. Doch bei elektrischen Verkabelungen und gedämmten, verklebt ummantelten muss man entweder aufgeben oder aber sich noch mehr anstrengen.“

Letztere Taktik jedenfalls hat sich gelohnt. Laut eigenen Angaben ist das zum überwiegenden Teil im Holzwerk vorgefertigte Umar nach Ablauf seiner Lebenszeit zu 98 Prozent wiederverwertbar. Der Sondermüll, der üblicherweise den Großteil der Baggerschaufel ausfüllt, beläuft sich auf zwei Prozent. Das ist – abgesehen von Lehmbauten, Blockhäusern und traditionellen Bautypologien – im zeitgenössischen Bauen Weltrekord.

Nicht mehr Utopie, sondern Alltag

Nicht nur in den Baustoffen, auch bei den Details erzählt das Umar eine schöne Geschichte von Vergänglichkeit und Ewigkeit: Die Kupferbleche an der Fassade, mit denen das Panoramafenster eingerahmt wurde, stammen von verschiedenen Bauwerken in der Umgebung und weisen daher auch unterschiedliche Oxidationsgrade auf. Und die Türknäufe, ein Entwurf des belgischen Designers Jules Wabbes, stammen aus einem Bankgebäude in Brüssel und kommen als leicht zerkratzte Vintageprodukte zum Einsatz.

„Bauen mit Recyclingbaustoffen und daher auch eine Eindämmung von Energieverbräuchen und CO₂-Emissionen“, sagt Roland Bechmann, „das ist ohne jeden Zweifel die Zukunft der Baubranche. Vielleicht dauert es noch acht, vielleicht zehn, vielleicht zwölf Jahre, bis die Bauindustrie das kapiert und reagiert und in die eigene Philosophie integriert hat. Aber es wird kommen.“ Noch bewegen sich Recyclingprojekte rund 15 Prozent über den üblichen Baukosten, was sowohl der aufwendigen Baustoff- und Produktherstellung als auch dem dünnen Vertriebsnetz geschuldet ist. Doch die Preisdifferenz hat ein Ablaufdatum.

„Mit 25 Euro pro Tonne ist die CO₂-Steuer derzeit noch ein nettes Feigenblatt“, sagt der Architekt. Das deutsche Umweltbundesamt beziffert einen ehrlichen CO₂-Preis, bei dem die Folgekosten nicht auf die Gesellschaft umgewälzt werden, mit 180 bis 205 Euro pro Tonne. „Spätestens dann wäre ein Haus wie das Umar mit einer konventionellen Bauweise kostengleich. Es ist eine Frage der Zeit und der Politik, bis dieses Projekt nicht mehr utopisch, sondern alltäglich ist.“

Der Standard, Sa., 2020.11.21

18. November 2020Wojciech Czaja
Der Standard

„Wienerwald-Bäche liefern kühle Massen“

Bis 2040 muss Österreich CO₂-neutral werden. So sieht es der Green Deal vor. Um das zu schaffen, sagt die Bauforscherin Renate Hammer, braucht es auch die Renaturierung städtischer Flächen.

Bis 2040 muss Österreich CO₂-neutral werden. So sieht es der Green Deal vor. Um das zu schaffen, sagt die Bauforscherin Renate Hammer, braucht es auch die Renaturierung städtischer Flächen.

Bis jetzt hat Österreich – wie viele andere Länder auch – die in sämtlichen Klimaprotokollen festgehaltenen Emissionsziele meilenweit verfehlt. Viel Spielraum bleibt jetzt nicht mehr. Doch die Energieexpertin Renate Hammer ist davon überzeugt: Wenn es wo gelingt, aus der Trias von Gas, Öl und Kohle auszusteigen, dann im Betrieb unserer Wohn- und Bürohäuser. Mit ihrem Forschungsinstitut, das Ministerien, Behörden, Industrie, Privatwirtschaft und internationale Organisationen berät, untersucht sie, wie wir unsere gebaute Umwelt adaptieren und den Planeten retten können.

Standard: Der Green Deal sieht vor, dass Österreich bis 2040 CO₂-neutral werden muss. Ist das möglich?

Hammer: Im Gegensatz zum Verkehr oder zur Industrie beispielsweise, die zum Teil mit sehr hohen Temperaturen arbeitet, kommt der Gebäudebereich mit vergleichsweise geringen Energiedichten aus. Im Betreiben unserer Wohngebäude oder Büros brauchen wir selten mehr als 45 Grad Celsius für eine Niedertemperaturheizung und kaum mehr als 60 Grad Celsius für die Warmwasseraufbereitung. Und kochen tun wir mittlerweile mit Induktion. Wenn es uns hier nicht gelingt, die Ziele des Green Deal zu erreichen, dann ist uns eh nicht mehr zu helfen.

Standard: Aktuell werden in Österreich 142.000 Wohnungen mit Öl und 665.000 Wohnungen mit Gas betrieben. Die fossilen Brennstoffe sind noch sehr präsent in diesem Land.

Hammer: Das stimmt, aber unsere Studie „Raus aus Gas“, die wir im Auftrag der MA 20 erstellt haben, stimmt mich optimistisch. Wir haben sämtliche bestehenden Gebäudeformen unter die Lupe genommen, vom Einfamilienhaus über die Wohnbauten der Sechziger- und Siebzigerjahre und die Gemeindebauten des Roten Wien bis hin zum gründerzeitlichen Gebäudebestand in der dichtverbauten Stadt. Technisch ist die Umstellung auf erneuerbare Energien immer möglich. Wir konnten keine Konstellation finden, wo Gas, Öl oder Kohle alternativlos waren.

Standard: Gibt es Alternativen?

Hammer: Zum Beispiel Fernwärme, Solartechnik, Biomasse oder Wärmepumpen. In Gebäuden mit mehreren Wohneinheiten kann man im Keller oder auf dem Dach eine zentrale Wärmepumpe installieren, von der aus die Energie direkt in die Wohnungen weiterverteilt wird – idealerweise über die Kaminstränge, die dann ja nicht mehr benötigt werden. Man kann aber auch wohnungsweise umstellen, etwa mit Kleinstwärmepumpen, die der klassischen Gastherme optisch nicht unähnlich sind – was den Umstieg in gewisser Weise psychologisch erleichtert.

Standard: Welchen Stellenwert hat Geothermie?

Hammer: Geothermie zur Energiebereitstellung zu nutzen ist sinnvoll und zumeist auch machbar, aber mit erhöhtem technischem Aufwand verbunden. In vielen Häusern in dichtverbauten Gebieten kann man schwer in die Tiefe bohren – weil Tiefgarage, weil Abwasserkanal, weil U-Bahn-Schacht. Eine denkbare Alternative ist, diagonal dorthin zu bohren, wo grad kein Hindernis im Weg ist. Im Stadtentwicklungsgebiet Eurogate II im dritten Bezirk soll nun erstmals eine öffentliche Grünfläche für Geothermie genutzt werden. Das alles wirft allerdings Fragen sozialer und rechtlicher Natur auf, die im Rahmen des Green Deal diskutiert werden.

Standard: Die Handlungsspielräume in Bezug auf den Green Deal liegen nicht nur im Gebäudebereich, sondern auch auf städtebaulicher Ebene.

Hammer: Es geht darum, die zunehmend extremen klimatischen Bedingungen in der Stadt in den Griff zu bekommen. Im September hat die Stadt Wien eine neue Klimaanalysekarte vorgestellt, die sowohl die Urban-Heat-Islands definiert als auch die wichtigen Kaltluftschneisen ausweist, die zur natürlichen Kühlung genützt werden können. Die Karte ist sehr fein gerastert und bietet sehr detaillierte Informationen. Weitere Themen für die kommenden Jahre sind flexible Beschattung, die Entsiegelung von Straßen, Gassen und Plätzen sowie ein Neudenken von Natur in der Stadt – durch Bepflanzungen und Wasser.

Standard: Wasser ist ein gutes Kühlmedium mit einer hohen Wärmekapazität. Welche Rolle könnte es in der Stadtplanung spielen?

Hammer: Eine wichtige! Fließgewässer liefern kühle Massen ins städtische Gefüge. Verdunstungskälte, Begleitgrün und nicht zuletzt die Möglichkeit, an einem heißen Sommertag die Füße hineinzuhalten, zeigen deutliche Wirkung. Es gibt in Wien eine Vielzahl an Wienerwald-Bächen, deren ursprüngliche Verläufe durch dichtverbaute Gebiete führen. Wir befassen uns gerade mit der Frage, ob und wie die natürlichen Kühlpotenziale der ehemaligen Bäche als „nature-based solutions“ für die Stadt wieder nutzbar gemacht werden können.

Standard: Gibt es ein Beispiel?

Hammer: Unser Institut liegt am Tiefen Graben in der Wiener Innenstadt. Genau hier verläuft das ursprüngliche Bett des Ottakringer Bachs, was sich stadtmorphologisch noch sehr gut nachvollziehen lässt. Eine wesentliche Forschungsfrage für uns ist, welche klimatischen und stadträumlichen Vorteile sich aus einer Reaktivierung und Reintegration von Bachläufen für das urbane Mikroklima ergeben könnten. Eine Kombination mit dem Schwammstadtprinzip wäre sinnvoll.

Standard: Eines Tages könnte ein Bach durch die Innenstadt fließen?

Hammer: Warum nicht! Eine Renaturierung und damit völlige Umgestaltung von versiegelten Straßen klingt exotisch, aber wenn man sich den Cheonggyecheon-Kanal in Seoul oder die Wiederherstellung des Zhangjiagang in Suzhou, China, anschaut, wird man feststellen, wie viel Lebensqualität so entsteht.

Standard: Ins Hotel Orient wird man künftig mit der Gondel fahren? Hammer: Das wäre doch romantisch! Wir brauchen Utopien.

Standard: Welchen Zeithorizont gibt es?

Hammer: Mit einem erfolgreichen Pilotprojekt kann es schnell gehen. Ich nenne als Beispiel gern den Liesingbach. Die erfolgreiche Renaturierung eines Teilabschnitts hat zur Folge gehabt, dass aus einem ehemals wenig attraktiven, kanalähnlichen Gerinne heute ein belebter Erholungsraum geworden ist.

Standard: Was sind die drei wichtigsten politischen Handlungen in Hinsicht auf den Green Deal?

Hammer: Erstens: ein konsequenter Ausstieg aus der fossilen Abhängigkeit. Zweitens: eine Kostenwahrheitsverordnung für lokale und regionale Ressourcen. Mangos aus Übersee und chinesischen Marmor soll man nicht verbieten, aber sie müssen real und sozial gerecht bepreist und damit teurer sein als österreichische Birnen und heimischer Granit. Und drittens: ein Flächenverbrauchsnettonullgesetz. Das heißt: Jede Fläche, die wir heute neu in Anspruch nehmen, muss an anderer Stelle in gleichem Ausmaß wieder entsiegelt und renaturiert werden.

[ Renate Hammer (51) studierte Architektur, Solararchitektur und Urban Engineering in Wien, Krems und Tokio. Sie ist Vorstandsmitglied der Plattform für Baukulturpolitik. Seit 2013 ist sie Geschäftsführerin des Institute of Building, Research & Innovation ZT-GmbH., lehrt an der FH Campus Wien und an der Kunst-Uni Linz. ]

Der Standard, Mi., 2020.11.18

17. Oktober 2020Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Kühler Kopf im Fieberwinter

Sinkende Temperaturen, steigende Ansteckungszahlen: Wie wollen wir den städtischen Freiraum für die kommenden Monate wintertauglich machen? An welchen Städten können wir uns ein kulturelles Beispiel nehmen? Und wie können wir technisch nachhelfen? Viele Fragen, zwei Meinungen.

Sinkende Temperaturen, steigende Ansteckungszahlen: Wie wollen wir den städtischen Freiraum für die kommenden Monate wintertauglich machen? An welchen Städten können wir uns ein kulturelles Beispiel nehmen? Und wie können wir technisch nachhelfen? Viele Fragen, zwei Meinungen.

Wojciech Czaja: Grölendes Singen und Saufen, man riecht den Jägermeister, der mit Bier, Schweiß und teuersten Champagner-Jahrgängen vermischt die Ischgler Après-Ski-Hütte in ein strapazierendes Aerosolgewitter hüllt, förmlich aus dem Foto aufsteigen. 26 Jahre lang hat Lois Hechenblaikner das Postwedel-Treiben im Skigebiet Ischgl festgehalten und damit den visuellen Beweis zum lokalen Tourismus-Slogan geliefert: „Relax. If you can ...“ Im Juni, wenige Monate nach dem Tiroler Wintergate in 1400 Meter Seehöhe, erschien im Steidl-Verlag sein schockierendes Fotobuch Ischgl.

„Das alpine Geschäftsmodell des Après-Ski ist ein schlitzohrig diabolisches, denn es baut darauf auf, dass jemand nicht mehr ganz bei sich ist, sondern ganz außer sich, um in diesem Zustand die Tourismusmaschine am Laufen zu halten“, sagt der Tiroler Fotograf, der selbst im Gastgewerbe aufgewachsen ist. „Man darf aber auch den Gast nicht aus der Verantwortung entlassen. Er ist ein Komplize, den man ins Kitzloch oder in die Schatzi Bar nicht erst mit einer Peitsche eintreiben muss.“

Nun ist die Großstadt mitnichten eine Piste. Dennoch darf man sich davon inspirieren lassen, dass der Homo sapiens offensichtlich kein Problem damit hat, sich der sozialen Interaktion in winterlicher Frische hinzugeben. Die Verlängerung der Schanigartensaison ist ein guter erster Schritt, um den uns bevorstehenden Corona-Winter gesundheitlich und volkswirtschaftlich möglichst unbeschadet zu überstehen. Fragt sich nur: Was tun, wenn die erste Schneeflocke fällt?

Dass wir, wenn die urbane und gesellschaftliche Kultur nur entsprechend gepflegt wird, kein Problem damit haben, bei winterlichen Minustemperaturen auszuharren, beweist ein Blick in traditionell kalte Gefilde: In Berlin, Oslo, Stockholm, Edinburgh und Tromsø sind Gastgärten seit Jahren schon ganzjährig in Betrieb. In Warschau, Moskau und St. Petersburg gibt es selbst bei minus 30 Grad Flohmärkte, auf denen man vereiste Würstel und eingeschneite Transistorradios kaufen kann. Und in Detroit hat sich nach dem Zusammenfall der Automobilindustrie und der städtischen Verkehrsinfrastruktur eine neue urbane Fahrradkultur entwickelt, die sogar den eisigen Winden des Lake Erie trotzt.

Ja eh, trotz Klimakrise und immer milder werdender Winter ist’s auch in Wien bisweilen etwas ungemütlich an der frischen Luft. Und ja eh, Heizschwammerln sind böse, böse, böse. Aber vielleicht kann man im Krisenjahr 2020, in dem CO2 - und Stickstoffdioxid-Emissionen deutlich geringer ausfallen als sonst, ja ausnahmsweise einmal die Stadtluft mitheizen und uns auf diese Weise dazu anspornen, Menschengruppen in Innenräumen zu meiden. Und Woll- und Polyesterdecken austeilen. Ganz viele Decken.

Appell an die Stadtplanungspolitik: In Zukunft in Masterplänen und Fachkonzepten nicht nur auf sommerliche Faktoren wie Urban Heat Islands, Frischluftschneisen, Coole Straßen, Verschattungskonzepte und plätschernde Brunnen setzen, sondern auch die Eiszapfenzeit mitdenken!

Maik Novotny: Das Unangenehme zuerst: Weihnachtsmärkte sind das Letzte. Sie blockieren wochenlang Gassen und Plätze mit Bretterbarrikaden und mit Menschen, die von einem Bein aufs andere treten und Tassen mit klebrig-süßen Heißgetränken umklammern wie kleine Kinder, die nach Hause wollen. Weihnachtsmärkte sind eine Fehlentwicklung. Kühle Getränke in warmen Räumen sind heißen Getränken bei eisigen Temperaturen immer vorzuziehen.

Einerseits. Andererseits heißt das nicht, dass sich die Stadtbevölkerung im Winter komplett nach innen verziehen sollte. Erst recht nicht in diesem kommenden, mit Bangen und Sorge erwarteten Winter. Wenn im Innenraum Infektionsgefahr und Vereinsamung drohen, muss der Außenraum einen Ausgleich schaffen, und das nicht nur zu Konsumzwecken. Die Verlängerung der Schanigartensaison ist eine gute Sache, denn sie besetzt den Straßenraum auf Dauer und macht ihn zum Möglichkeitsraum. Bedauerlich allerdings, dass die Wiener Grätzeloasen, also Schanigärten ohne gastronomischen Bezahlzwang, nicht in die Wintersaison verlängert wurden. Hier hätte sich die Gelegenheit für Experimente geboten. Straße und Platz im Winter sollten mehr anbieten können als Schnitzel unterm Heizpilz.

Warum nicht von anderen Städten lernen, die den öffentlichen Raum winterfest gemacht haben? Das kanadische Edmonton (Durchschnittstemperatur im Jänner: stramme 10,4 Grad unter null) fragte sich vor zehn Jahren: Warum immer übers kalte Wetter sudern? Warum nicht stolz sein auf Schnee, Eis und Wind? Anstatt sich in beheizte Shoppingmalls zurückzuziehen, wurde eine Winter City Strategy aufgestellt und seitdem draußen das Beste aus der Saison gemacht. Eislaufen, Schlittenfahren, Festivals, auch Modetipps für den Unter-null-Dresscode liefert die Stadtverwaltung. Sogar das Radfahren im Winter wird gefördert. Nicht nur in Kanada: Rotterdam richtete 2015 Schlechtwetterampeln für Radfahrer ein, die bei Regen schneller grün werden.

Skandinavische Städte machen das Draußen winterfest: Kopenhagen verlängert unter dem Marketing-Label CopenHot mit Outdoor-Badewannen die Freizeitsaison, in Helsinki sind die öffentlichen Saunas ganz ohne Wellness-Sprech schon immer rund ums Jahr in Betrieb, und das Meer gibt es fürs Winterschwimmen gratis dazu. „Die Temperatur ist egal, wenn die Sonne scheint und der Wind zahm ist, gilt das in nordischen Ländern als schöner Tag,“ schrieb der dänische Stadtplaner Jan Gehl.

Was die nordischen Breitengrade können, sollte auch im wintermilden Wien kein Problem sein. Warum nicht aus der Not eine Chance machen, aus dem Winter ein Experiment, aus dem Stadtraum ein Ideenlabor? Wer weiß, vielleicht haben wir im März Lösungen, die mehr bieten als Party und Punschkonsum und auf Distanz zum grölenden Ischglismus gehen? Zwischen den Heizpilzen ist noch viel Platz für ein stilles Winter Wonderland in kühler Frischluft. Denn die Weihnachtsmärkte allein werden uns nicht trösten.

Der Standard, Sa., 2020.10.17

26. September 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Die Schule der tausend Telewizorki

Am Mittwoch wurde in Wien der Brick Award 2020 vergeben. Der Hauptpreis ging an ein Projekt, das es geschafft hat, die Identität eines Ortes zu retten und Scham in Stolz zu verwandeln. Zu Besuch in Schlesien.

Am Mittwoch wurde in Wien der Brick Award 2020 vergeben. Der Hauptpreis ging an ein Projekt, das es geschafft hat, die Identität eines Ortes zu retten und Scham in Stolz zu verwandeln. Zu Besuch in Schlesien.

Link zur Archiv Suche

05. September 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Mr. and Mrs. Instagram

Das Salzburger Architekturbüro Studio Precht pfeift auf Wettbewerbe. Dafür investieren Chris und Fei Tang Precht in fiktive Projekte, die sie in Blogs und Onlineportalen veröffentlichen – und kommen so an ihre Auftraggeber. Ein Besuch in den Bergen.

Das Salzburger Architekturbüro Studio Precht pfeift auf Wettbewerbe. Dafür investieren Chris und Fei Tang Precht in fiktive Projekte, die sie in Blogs und Onlineportalen veröffentlichen – und kommen so an ihre Auftraggeber. Ein Besuch in den Bergen.

Um zehn Uhr fährt der Bauer aufs Feld raus, in seinem Anhängertank das konzentrierte Glück seiner ganzen Kuh- und Ziegensippschaft. Sobald der Hahn aufgedreht wird und die Düsen ihre Arbeit aufnehmen, wälzt sich der säuerlich duftende Sprühnebel über die Maierwiesen bis direkt vor die Haustür von Studio Precht, und manchmal sogar hinein bis zum Besprechungstisch. „Wenn wir Besuch von Bauherren und Investoren bekommen, die bei uns mit Münchner oder Berliner Kennzeichen vorfahren“, sagt Chris Precht, „dann lieben die diesen Moment, dann sind die plötzlich ganz verzückt über die unmittelbare Authentizität des Salzburger Landlebens.“

Gemeinsam mit seiner Frau Fei Tang betriebt der 36-Jährige ein Architekturbüro, irgendwo oben auf den Hängen über der Salzach, dessen Vornamen und Gesichter in der Öffentlichkeit fast gänzlich unbekannt sind, doch dafür wird der Name Studio Precht von sämtlichen Blogs und Onlinemagazinen zwischen New York und Schanghai im regelmäßigen Rhythmus auf- und abdekliniert. Auf Dezeen, Designboom, Archdaily, Architizer, Archolivers, aber auch auf asiatischen Plattformen wie etwa Gooood oder Designwire sind dutzende Einträge und hunderte schöne Bilder zu sehen. Manchmal handelt es sich um realisierte Bauwerke, meist jedoch um fiktive Projekte an fiktiven Standorten für fiktive Kunden. Die Renderings sind eine Wucht.

Ein Baumhaus namens Bert

„Die meisten Architekten buttern wertvolle Arbeitszeit in offene, internationale Architekturwettbewerbe, und wenn man sich anschaut, wie viele Teilnehmer es bei so manchem Projekt gibt, dann grenzt die Arbeit mit hoher Wahrscheinlichkeit an Gratiskreativität mit null Aussicht auf Realisierung“, sagt Precht. So wie damals im Juni 2014, als beim Wettbewerb für das Guggenheim in Helsinki plötzlich mehr als 1700 Projektentwürfe eintrudelten. Das Projekt wurde gestoppt, das finnische Guggenheim in den historischen Äther verbannt.

„Wir machen es anders. Wir investieren unsere Gratisarbeit stattdessen in fiktive Bauaufgaben, von denen wir überzeugt sind, dass sie einen wertvollen baulichen, konstruktiven, konzeptionellen Beitrag für die Welt von morgen liefern können.“ Ein Bausystem aus Bambus beispielsweise, an dem man zwei Jahre lang entworfen, getüftelt und mit Experten aus Bali Workshops gemacht hat, bei dem man 700 Bambusrohre bestellt und im Garten anschließend dreidimensionale Verbindungen zusammengeknotet hat. Ein Baumhaus namens Bert etwa, das ausschaut, als hätte jemand einen 15 Meter hohen Baumstamm mit ein paar abgesägten Ästen in den Wald gestellt. Eine vertikale Farm aus dreidimensionalen Holzmodulen, die je nach Belieben zu einem grün wuchernden Skyscraper hochgestapelt werden kann.

„Wir veröffentlichen diese Projekte, die zwar keinen Bauherren und keinen Standort haben, dafür aber bis zur letzten Schraube durchkonzipiert und millimetergenau durchgeplant sind, auf Instagram und beschicken damit einige auserwählte Redaktionen“, sagt der Herr mit dem breiten Grinser, „und dann nimmt alles seinen Lauf.“ Eine Viertelmillion Abonnenten hat @chrisprecht auf seinem Instagram-Account, meist kommen innerhalb weniger Stunden Anfragen von Blogs und Magazinen aus aller Welt. Und wozu das Ganze? „Um potenzielle Kunden anzusprechen.“

Mit Erfolg. Gegründet wurde Studio Precht 2010 in Peking. Chris und Fei Tang lernten einander in der chinesischen Büroniederlassung von Graft Architects kennen, jenen Sonnyboys, die für Brad Pritt und andere Stars und Sternchen tätig sind, und machten sich mit einer 5000 Quadratmeter großen, temporären Installation in Xiangyang, Provinz Hubei, selbstständig. In den sieben Jahren bis zu ihrem Umzug nach Österreich bauten sie sich ein Büro mit 20 Mitarbeitern auf und wickelten rund 100 Projekte ab, ein Drittel davon wurde realisiert.

„Doch wir haben festgestellt, dass Glück nicht skalierbar ist, dass mit dem immer größer werdenden Büro lediglich die Bürokratie und die kaufmännischen Herausforderungen zunehmen, nicht aber unsere persönliche Zufriedenheit“, sagt Precht. „Also haben wir das Büro aufgelöst, haben die Koffer gepackt und sind nach Österreich gezogen.“ Zwei Festangestellte haben die beiden heute – und die Qual der Wahl, welchen Projekten sie eine Abfuhr erteilen. „Im Leben als Architekt gibt es zwei Phasen. Jene, in der man immer Ja sagen muss, und jene, in der man beginnt, Nein zu sagen.“ Aufgrund der großen internationalen Publicity ist Studio Precht seit einigen bereits Jahren in Phase zwei.

Offene Wettbewerbe? Nix da!

Viele, viele Bauherren haben sich von der Magie der gerenderten Bilder und feinsäuberlich durchdetaillierten Projekte verzaubern lassen – darunter etwa ein Berliner Investor, der in Toronto ein Wohnhochhaus errichten will, ein indischer Hotelier, der in Hyderabad ein grünes Hilton bauen mag, Familie Reitbauer, die im Steirereck am Pogusch sechs Baumhäuser hinstellen möchte. Toronto ist on hold, Spatenstich Hyderabad ist im kommenden Frühjahr, am Pogusch sollen die Bauarbeiten im Oktober starten. Hinzu kommen diverse Shops, Lokale und Interiorprojekte, etwa ein Farm-to-Table-Restaurant in Riad, Saudi-Arabien, oder mobile Kiosks für die japanische Kette % Arabica in Schanghai, Hongkong, Bangkok, Dubai und Sofia.

„Unser Portfolio ist ganz klar strukturiert“, sagt Precht. „Auf der einen Seite haben wir klassische Auftragsarbeiten wie etwa Einfamilienhäuser, Wohnbauten und Hotelprojekte in der Umgebung. Auf der anderen Seite haben wir unsere selbst initiierten Träume und Visionen, die wir als Forschungs- und Vermarktungsmittel einsetzen. Das ist unser Kapital. Und ja, nicht alle, aber manche davon schaffen den Weg in die Realität.“ Nur eines ist im Studio Precht ein rotes Tuch. Offene Wettbewerbe. „Nie wieder!“

Elf Uhr. Das Telefon läutet. Das Interview muss für ein paar Minuten unterbrochen werden. „Entschuldige bitte, das muss ich annehmen.“ Am anderen Ende ist Edi Rama, Ministerpräsident von Albanien, eine Anfrage für ein Projekt in der Nähe von Tirana. Vielleicht wird Herr Rama ja bald Salzburger Berg- und Kuhluft schnuppern.

Der Standard, Sa., 2020.09.05

22. August 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Auf der anderen Seite der Mattscheibe

Wie plant man ein TV-Studio? Welche Regeln gelten im virtuellen Raum? Und warum dreht sich im neuen Studio von Servus TV die Moderatorin im Kreis? Zu Besuch im jüngsten Projekt der Wiener Architekten Veech X Veech.

Wie plant man ein TV-Studio? Welche Regeln gelten im virtuellen Raum? Und warum dreht sich im neuen Studio von Servus TV die Moderatorin im Kreis? Zu Besuch im jüngsten Projekt der Wiener Architekten Veech X Veech.

Es ist 19.20 Uhr. Der News-Jingle wie jeden Abend. Die Einspielung der wichtigsten Themen aus aller Welt. Reisewarnung für Kroatien, Urlauber sollen heimkommen, US-Außenminister Pompeo in Wien. Und dann die Kamerafahrt quer durchs Studio, von rechts nach links im Uhrzeigersinn, beginnend mit einer Totalen, Servus Nachrichten , eine digitale Einblendung in leuchtenden Versalien, scheinbar über dem Rednerpult schwebend, ein Zoom in die Mitte des Studios, und dann in einer Einstellung von Kopf bis Knie endend, in einer sogenannten Amerikanischen, der Schwenk auf die heutige Moderatorin, Katrin Prähauser: „Schönen guten Abend!“

In den nächsten 15 Minuten bleibt nichts dem Zufall überlassen. Jede Anmoderation, jeder Kommentar, jede Begrüßung potenzieller Studiogäste, die Übergabe an Wetterfrosch Matthias Merkel zwölf Minuten nach Sendungsbeginn, ja sogar das Ende der Sendung mit dem scheinbar informellen Verlassen des Moderationsplatzes ist optisch und technisch perfekt durchchoreografiert. Dass sich im neuen TV-Studio von Servus TV in Mateschitz’ Medienimperium kein einziger Kameramann mehr aufhält und die Moderatorin in einem fast menschenleeren Raum arbeitet, ist für den Zuschauer im Wohnzimmer nicht zu erfassen.

Per Knopfdruck auf Sendung

„Früher stand hinter jeder Kamera ein Kameramann, und man war in ständigem Blickkontakt zueinander“, sagt Katrin Prähauser im Interview mit dem ΔTANDARD „Heute fahren die Kameras von alleine, und der Kameramann sitzt im Regieraum, wo er nur noch Feinjustierungen aus der Ferne vornimmt. Die einzigen Leute im Studio sind der Lichttechniker, der Aufnahmeleiter und die Visagistin. Es war eine vollkommen neue Studiosituation, auf die man sich erst einstellen musste. Aber dafür können wir – quasi per Knopfdruck – jederzeit auf Sendung gehen und liefern gleichbleibende Qualität.“

Hinter dem neuen Studio neben der Salzburger Red-Bull-Arena, das nach Auskunft von Servus TV und seiner Planer zu den derzeit modernsten TV-Studios der Welt zählt, steckt das Wiener Architekturbüro Veech X Veech. In der allgemeinen Öffentlichkeit kaum bekannt, zählen Stuart A. Veech aus Chicago und Mascha Veech-Kosmatschof aus Moskau zu den wenigen Experten weltweit, die sich auf die Gestaltung von Newsrooms und ganzer Rundfunk-Zentralen spezialisiert haben. Broadcast-Enviromnent nennt sich das im Fachjargon. Das neue Studio von Servus TV, das im Februar, nur wenige Wochen vor dem Corona-Lockdown, in Betrieb genommen wurde, ist nach Projekten für den ORF und für den arabischen Sender Al Jazeera mit Studios in Doha und im Londoner Shard Tower der jüngste Wurf von Veech X Veech.

„Klassisch betrachtet ist Architektur die Gestaltung unserer realen Wohn- und Lebensräume“, sagen die beiden. „Doch im Zeitalter der Digitalisierung und immer neuerer Kommunikationstechnologien verlagert sich unser Aufgabenfeld mehr und mehr in die virtuelle Welt.“ Die Gestaltung von Medienräumen ist dabei eine besonders komplexe Bauaufgabe – gilt es doch, Licht, Akustik und Medientechnik unter zeitlich und räumlich beengten Verhältnissen aufeinander abzustimmen und in eine architektonisch passende und für die breite Masse ansprechende Form zu gießen.

„Wie verhalten sich matte und glänzende Oberflächen im digital übertragenen Bild? Welche Spiegelungen sind visuell anregend, und welche sollte man lieber vermeiden? Und wie stimmt man Licht, Geometrien und Oberflächenmaterialien aufeinander ab, sodass es in der Wiedergabe der Bilder bei Spiegelungen und Überlagerungen gewisser Strukturen nicht zu Verfremdungen von Lichtfarbe und Lichttemperatur kommt? „All das“, sagt Stuart A. Veech, „müssen wir in der Planung millimetergenau berücksichtigen.“

Globus, Auto, Hohensalzburg

Dass es sich tatsächlich um Arbeit im Millimeterbereich handelt, beweist ein Blick auf die beiden LED-Videowalls im Hintergrund der Moderatorin, auf denen in den Sport- und Nachrichten-Sendungen sowie in den unterschiedlichen Talk-Formaten in den Abendstunden sogenannte Hintersetzerbilder gezeigt werden – mal ein dramatischer Globus, mal ein verschwommenes Formel-1-Auto, mal ein mozartkugelsüßer Blick auf die Festung Hohensalzburg. Damit es zwischen den beiden mobilen LED-Walls im Vordergrund und der großen, gekrümmten LED-Wall im Hintergrund aufgrund der Spiegelungen nicht zu ungewollten Moiré-Effekten kommt, wurden die LED-Pixel mit 1,2 und 1,5 Millimeter Durchmesser unterschiedlich groß dimensioniert.

„Woher man so was weiß? Harte Arbeit, viele Simulationen und jahrelange Erfahrungswerte“, sagt Veech. Für das 130 Quadratmeter große TV-Studio in Salzburg wurde zwischen Planungsende und Baubeginn sogar ein Mock-up im Maßstab 1:1 aufgebaut, um die räumliche Wirkung und die Geisterfahrten der vollautomatischen Robocams auf Herz und Nieren zu prüfen – bevor es finanziell ernst wird, aber darüber spricht man im Hause Red Bull nicht. Positives Ergebnis, grünes Licht für die Realisierung.

„Eine absolute Neuerung, die es in dieser Form noch nirgendwo gibt“, meint Alexander Guntersdorfer, Regisseur im neuen Studio, „ist das drehbare Moderationspult in der Mitte des Raumes. Die Kameras haben vorgegebene Fahrwege, durch die Drehung aber können wir den Moderator und die Studiogäste mal näher an die Linse bringen, mal etwas weiter in den Hintergrund drehen. Vor allem aber erlaubt uns die drehbare Bühne, mit nur einem Studio sehr viele unterschiedliche Konstellationen abzudecken.“ Das Spektrum reicht von Moderationen über Experteninterviews bis hin zu kleinen Talkrunden, sitzend, stehend, langsam sich im Kreise drehend.

„Der neueste Trend“, sagt Stuart A. Veech, der bereits an neuen TV-Projekten für TV Nova in Prag, für die BTV Media Group in Sofia sowie für einen deutschen Privatsender arbeitet, „sind TV-Studios mit Tageslicht und Bezug zum Außenraum. Hier kommen wegen der unterschiedlichen Wellenlängen zwischen künstlichem und natürlichem Licht noch riesige Herausforderungen auf uns zu.“ Doch auch diese technischen Probleme, sagt der Architekt, von Betriebsgeheimnissen sprechend, sind in den Griff zu kriegen. Es ist 19.34 Uhr. Katrin Prähauser: „Ihnen noch einen schönen Abend und auf Wiedersehen!“

Der Standard, Sa., 2020.08.22

01. August 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Das ist der Homo Urbanus

Mit dem Film-Dekathlon „Homo Urbanus“ ist den französischen Filmemachern Ila Bêka und Louise Lemoine ein wortloses Meisterwerk gelungen. Einblicke in die Alltagskultur zehn global bekannter Städte.

Mit dem Film-Dekathlon „Homo Urbanus“ ist den französischen Filmemachern Ila Bêka und Louise Lemoine ein wortloses Meisterwerk gelungen. Einblicke in die Alltagskultur zehn global bekannter Städte.

Perücke, Elfenohren, düster geschminkte Augen, Peace bis in die Fingerspitzen und über den Schultern ein textiles Hybrid aus Schulmädchen und Marineoffizier. So sieht er aus, der Homo Urbanus Tokyoitus. Der Homo Urbanus Shanghaianus wiederum sitzt auf einem Stuhl auf dem Gehsteig, vor ihm ein Spiegel um den Laternenmast gebunden, und bekommt gerade die Haare geschoren. Und der Homo Urbanus Rabatius liegt mit seinen Menschenkollegen mit Vorliebe auf der Hafenmole und trocknet seinen Körper, bevor er von anderen, weniger freundlichen Menschenkollegen ein paar Minuten später an Armen und Beinen geschnappt und in den Atlantik geschmissen wird.

Die Filmserie Homo Urbanus der beiden französischen Filmemacher Ila Bêka und Louise Lemoine ist alles andere als eine didaktische Analyse über die globale Lebenskultur im urbanen Raum. Sie ist vielmehr eine emotionale, feinstoffliche Collage aus Blicken und Momenten, eingefangen in zehn Städten weltweit, die mit großem Schmunzeln und herzerwärmender Neugier unterschiedliche Charakteristika urbaner Koexistenz sichtbar macht – vom grauen St. Petersburg im klirrend kalten Winter bis zum hitzebrütenden Doha, wo die im Film porträtierten Protagonisten mit größter Anstrengung die Lebensdauer jedes einzelnen Grashalms zu verlängern trachten.

Eine Ode an die Differenz

„Wir haben keinerlei wissenschaftlichen Anspruch, wir wollen die Dinge einfach nur so zeigen, wie sie sind“, sagt Louise Lemoine im Interview mit dem Standard, „charmant, chaotisch und manchmal auch haarsträubend irrational.“ Unter den bislang 30 Architektur- und Stadtdokumentationen finden vor allem ungeahnte, zum Teil liebevoll voyeuristische Blicke hinter die Kulissen des Bauens und Benützens von Bauwerken, dargestellt aus der Sicht von Putzfrauen, Kanalarbeitern und Feuerwehrmännern. „Unsere Filme sind niederschwellige Liebeserklärungen an die Differenz von Mensch, Stadt und Kultur. Sie richten sich an jeden, der gerne beobachtet und Details entdeckt.“

Zwischen Sakura und Vespa

Homo Urbanus, Resultat von drei Jahren Dreharbeit auf vier Kontinenten, nahm seinen Lauf auf der Agora-Biennale 2017 in Bordeaux. Seit letztem Monat, mit allen sichtbaren Spuren der globalen Corona-Pandemie gespickt, ist der letzte Film im Kasten. Aktuell ist das rund zehnstündige Werk – eine reine Videoausstellung ohne Plan, ohne Fotografie, ohne Architekturmodell – im Architekturzentrum Arc en Rêve in Bordeaux zu sehen. Im Herbst wird man die Filmserie im Rahmen der Ausstellung Living the City im ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof genießen können.

Manche der insgesamt 571 Minuten sind dokumentarische Bestätigungen bereits bekannter Bilder. Etwa wenn der Homo Venetianus mit Koffern, Einkaufstaschen und neonpinken Überschuhen gegen die Acqua Alta am Markusplatz ankämpft. Wenn der Homo Kyotoitus inmitten von zartrosa Kirschblüten seine Picknickdecke ausbreitet und die alljährliche Sakura feiert. Oder wenn der Homo Neapolitanus mit der Vespa zwischen Kinderwagen hindurchmanövriert und wenig später die Füße einer traurigen Marienstatue küsst.

Andere Bildstrecken wiederum – und das macht Homo Urbanus zum sowohl wertvollen Filmdokument als auch sinnvollen Substitut für die heuer definitiv nicht stattfindende Fernreise – erzählen neue Details an der Schnittstelle zwischen Habitus und Mentalität: Wie geht man in Bogotá mitten in der Rushhour mit einem fehlenden Gullydeckel auf der Straßenkreuzung um? Wie werden in Seoul riesige Mengen von Schuhen und Klamotten durch die Gänge enger Indoormärkte transportiert? Und wie schafft man es in Schanghai, frischgewaschene Bettlaken zwischen parkenden Autos zum Trocknen auszubreiten?

„Es ist faszinierend, wie die Menschheit imstande ist, sich unterschiedlichen Kulturen und unterzuordnen und ihre ganz eigenen urbanen Codes zu entwickeln“, sagt Louise Lemoine, die mit ihrem Partner Ila Bêka an der Architectural Association (AA) in London unterrichtet. „Man ist kreativ, passt sich an und erfindet sich von Ort zu Ort neu.“ In den Filmen, die keinerlei Dialoge oder Off-Kommentare beinhalten, sucht man vergeblich nach Wertungen. Im Fokus liegt die „Poesie des Alltags“, wie dies die beiden Filmemacher ausdrücken.

Der andere Canal Grande

Einzig in Doha, Hauptstadt von Katar, sommerliche Höchstwerte jenseits der 45 Grad Celsius, schwingt zwischen den Szenen eine nonverbale, fast schon zermürbend zynische Kritik mit. Asiatische und afrikanische Gastarbeiter wässern den Rasen und reinigen die Straßen von herbeigewehtem Sand, als wollte man die Launen der Natur besiegen können. Wenn im künstlich angeschütteten Venedig und Pseudo-Murano wenig später italienische Klänge aus den Lautsprechern dringen, hier die Rialto-Brücke, dort eine elektrische Gondel, keine Menschenseele weit und breit, dann möchte man lachen und weinen zugleich. Louise Lemoine: „Die soziale Bühne namens Stadt hat eben viele Facetten.“

„Homo Urbanus. 10 films et 10 villes du monde“, im Architekturzentrum Arc en Rêve, Bordeaux. Zu sehen bis 11. Oktober 2020.

Der Standard, Sa., 2020.08.01

20. Juni 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Von Ecken und Engeln

Raimund Abraham war ein Zerrissener zwischen dem Willen zu bauen und dem Wunsch zu träumen. Letzterem widmet das Museum für angewandte Kunst eine Ausstellung: Architektur in Skizzen und Collagen.

Raimund Abraham war ein Zerrissener zwischen dem Willen zu bauen und dem Wunsch zu träumen. Letzterem widmet das Museum für angewandte Kunst eine Ausstellung: Architektur in Skizzen und Collagen.

Er setzte sich in den Fauteuil, blickte etwas schroff unter seiner Hutkrempe hervor und machte einen paffenden Zug mit seiner Zigarre. „Also, dann stellen Sie halt Ihre Fragen!“ Nach ein paar Minuten dann der erste große Widerspruch. „Nein, das sehe ich nicht so. Ich behaupte, dass Architektur nicht unbedingt gebaut werden muss. Papier, Bleistift und die reine Sehnsucht nach dem Raum reichen vollkommen aus, um Architektur zu machen. Das Bauen ist eigentlich nur der letzte Schritt im Prozess, das Gezeichnete zu übersetzen und die physische Benutzbarkeit zu ermöglichen. Man kann darauf aber auch gut verzichten.“

Genau diesem Herrn, der sich in der Öffentlichkeit mit stets grantigem Blick zeigte und nicht davor zurückscheute, die Architektenschaft lauthals zu beschimpfen und zu verfluchen, widmet das Museum für angewandte Kunst (Mak) nun seine erste Post-Corona-Ausstellung. Angles and Angels, wie die von Bärbel Vischer kuratierte Schau im Kunstblättersaal so eckig und engelhaft zugleich genannt wird, lässt die wenigen realisierten Bauwerke von Raimund Abraham nahezu links liegen, verzichtet auf Fotos und realistische Darstellungen und konzentriert sich stattdessen voll und ganz auf Abrahams wichtigstes Kommunikationswerkzeug – auf die Skizze, auf die Collage, auf die mitunter mannshohe, akribisch durchaxonometrierte Schnittzeichnung.

Abraham, 1933 in Lienz geboren, 2010 bei einem Verkehrsunfall in Los Angeles tödlich verunglückt, gehört trotz seiner wenigen realisierten Bauwerke zu den wichtigsten österreichischen Architekten des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam mit Rudolf M. Schindler, Richard Neutra und Friedrich Kiesler zählt er zu jener Generation, die Österreich den Rücken kehrte, um sich im Amerika der Sechzigerjahre, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, eine Existenz ohne Zwänge und Einschränkungen aufzubauen. Er leitete ein eigenes Architekturbüro, unterrichtete an mehreren Hochschulen und führte ein hedonistisches Leben in New York, Los Angeles und Mazunte am mexikanischen Pazifik.

Demut vor der Natur

Was sofort auffällt: Während Abrahams spätes Werk vor allem eine Huldigung an Metrik, Materialität und Maschinenästhetik ist, die 2001 im 85 Meter hohen Austrian Cultural Forum in New York gipfelte, wirken seine frühen Skizzen, die den Schwerpunkt der Mak-Ausstellung bilden, wie die utopischen Träume von Hans Hollein, Archigram und Coop Himmelb(l)au. Da werden Bälle in der Landschaft platziert, da werden städtische Infrastrukturen in einer schlauchartig um sich greifenden Megabridge gebündelt, da werden die Funktionen des Bauens und Wohnens prototypisch auf ein einziges, kugelrundes Universal House reduziert.

„Nur die Augen sind in der Lage, unbekannte Landschaften zu durchdringen, Täler von verwundeten Bergen, trockene Ebenen, Wasserfälle aus flüssigem Erz, versteinerte Träume, die den Albträumen des Erbauers von bröckelnden, zu Staub zerfallenen Mauern zu entfliehen suchen“, schreibt Raimund Abraham 2001 in seinem Manifest Eyes Digging, als würden seine Augen das Vorgefundene durchsuchen und durchgraben wollen. „Kann ich jemals die Fesseln meines Schicksals aufbrechen, der ich zerrissen bin zwischen dem Willen zu bauen und dem Wunsch zu träumen?“

Genau in diesen träumenden Worten, sagt Christoph Thun-Hohenstein, einst Bauherr und Leiter des Austrian Cultural Forum in New York, heute Direktor des Mak, merke man Abrahams Philosophie und Demut vor der Natur. „Für Abraham ist jedes Gebäude ein gewaltiger Eingriff in die Natur. Er war der Meinung: Wenn man die Landschaft schon verletzt, dann muss das Gebaute umso besser, umso stärker sein, denn nur dann könne sich das Gebäude mit der Landschaft wieder versöhnen. Diese Balance herzustellen, meinte er, ist die Verantwortung jedes Architekten.“

Mit diesem Überbau versteht man nicht nur Abrahams Thesen und Manifeste, sondern begreift auch seine mal eckig aggressiven, mal vorsichtigen Striche. Im House with Curtains (1971) überlässt der Architekt die ultimative Formgestaltung dem Wind. Das House with Two Halves (1972), das er seinem Freund Walter Pichler widmete, ähnelt einem entzweiten Brotlaib, der sich respektvoll in die Erde gräbt. Und vor dem House with Flower Walls (1972) ist man als Betrachter ganz überrascht, wie dünn und fein die Bleichstrichskizze der Architektur ausfällt, wohingegen die kräftig rot kolorierten Blumenstränge und Wurzeln die Mauern wie blutdurchströmte Venen und Adern penetrieren.

Architekturen als Feste

Doch nicht alle teilen die Ansicht, dass Abraham stets mit Respekt und Vorsicht gegenüber der Natur gearbeitet habe. „Das war ein eigensinniger und manchmal auch ziemlich brutaler Architekt, den ich gerne zu den österreichischen Beton-Fundamentalisten zähle“, sagt Wolf Prix, Mastermind von Coop Himmelb(l)au, der 2005 anlässlich der Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um das Land Wien die Laudatio auf seinen Freund und Kollegen Raimund Abraham hielt. „Ich schätze sein Talent, er war formal sehr begabt, aber mit Vorsicht hat das alles nicht viel zu tun.“ Wie brutal Abraham in Gedanken baute, zeigen seine in der Ausstellung präsentierten Entwürfe für städtebauliche Wohnquartiere in Venedig – ein Projekt, das glücklicherweise nie zur Realisierung angedacht war.

Und so scheiden sich, auch noch zehn Jahre nach Abrahams Tod, die Geister. In seiner Laudatio bezeichnete ihn Wolf Prix als „nicht den Architekten der schnellen Zukunft, sondern jenen einer dauerhaften Zukunft. Seine Architekturen sind Feste!“ Die Kuratorin Bärbel Vischer entdeckt in seinen Zeichnungen eine Sensibilität und Individualität des Bauens und Entwerfens, die in der heutigen CAD-Kultur längst verlorengegangen ist. Und Mak-Direktor Christoph Thun-Hohenstein sieht im Studium von Abrahams Werk eine Rückbesinnung auf wertvolle Fragen: „Wo stehen wir? Wovon träumen wir? Und welche Form von Fortschritt wollen wir haben?“ Gerade jetzt könnten die Antworten anders ausfallen als noch vor wenigen Wochen.

„Raimund Abraham. Angles and Angels“, zu sehen bis 18. Oktober 2020 im Mak. Im Rahmen der Ausstellung wird auch der Film „Scenes from the Life of Raimund Abraham“ (USA 2013, 365 Min.) von Jonas Mekas gezeigt: 25. August sowie 5., 22. und 26. September.

Der Standard, Sa., 2020.06.20

08. Juni 2020Wojciech Czaja
db

Happy Hour

Hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof stehen viele uninspirierte Wohnkisten von gemeinnützigen und freifinanzierten Bauträgern. Im einheitlichen Häusermeer fällt ein Wohnprojekt jedoch erfreulich aus der Reihe: Das »Gleis 21« von einszueins architektur setzt Lebenslust eins zu eins in Baukultur um. Unser Wien-Korrespondent hat es bei einem seiner Stadtspaziergänge eingehend für uns erkundet.

Hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof stehen viele uninspirierte Wohnkisten von gemeinnützigen und freifinanzierten Bauträgern. Im einheitlichen Häusermeer fällt ein Wohnprojekt jedoch erfreulich aus der Reihe: Das »Gleis 21« von einszueins architektur setzt Lebenslust eins zu eins in Baukultur um. Unser Wien-Korrespondent hat es bei einem seiner Stadtspaziergänge eingehend für uns erkundet.

Die Cafés und Restaurants sind seit Wochen geschlossen, auch hier im Sonnwendviertel hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof, wo in den letzten Jahren auf dem Areal der ehemaligen Fracht- und Verschubgleise ein ganzes Stadtviertel für fast 20 000 Einwohner aus dem Boden gestampft wurde. Die Gassen, Straßen, Fußgängerzonen wirken ausgestorben, wie dieser Tage fast überall auf der Welt. »Hinsetzen darfst dich nicht, aber zum Mitnehmen und Spazierengehen kann ich Dir gern ein frisches Semmerl mit Ziegenkäse ­machen, wennst magst«, sagt Sabine Anreiter, vor ihr eine Theke voller Köstlichkeiten aus Tirol, Kärnten, Oberösterreich. Der Greißlerladen »Bio Mio« in der Bloch-Bauer-Promenade ist nicht nur ein schönes, wohlriechendes Geschäftchen, sondern auch ein Ersatz für den Kaffeehaus-Tratsch, für das sogenannte Plauscherl.

»Weißt, ich wohne und arbeite im gleichen Bezirk, zehn Gehminuten voneinander entfernt«, sagt die 58-Jährige, »aber zwischen meinem Wohnort und meiner Arbeitsstätte liegen Welten. Man geht ein paar Blocks und ist plötzlich in einer vollkommen neuen Stadt. Im alten Favoriten leben viele Migranten, es geht wild und chaotisch zu. Im neuen Favoriten aber verwirklicht sich die gehobene Mittelschicht, bestehend aus Lehrern, Journalisten und Akademikern, und baut sich ihr kleines, feines Paradies. Noch fehlt mir die Lebendigkeit. Aber dafür bin ich beeindruckt, wie gut sich die Menschen hier vernetzen. Es ist, als würde über der Stadt, wie in einem kleinen Dorf, ein unsichtbares Spinnennetz von privaten und beruflichen Kooperationen liegen.«

Erfreulicher Einzelgänger

Ein Produkt genau solch feinmaschiger Netzwerkarbeit liegt wenige Meter weiter stadtauswärts. Am Nachbargrundstück befindet sich ein für diese Gegend untypisches Wohnhaus, das aus dem Häusermeer aus schicken, reduzierten, minimalistischen Einheitswohnbauten in Architekturweiß und Architekturgrau heraussticht: Das sogenannte Gleis 21, Produkt einer 66-köpfigen Baugruppe, macht mit seinem kanariengelben Sockel, seiner warmen Holzfassade, seinen blauen und türkisen Fenstern und seinem irgendwie zusammengestrickten Laubengang aus Sichtbeton und verzinktem Stahl auf den ersten Blick schon gute Laune.

»Der offene Laubengang ist wirklich etwas rough«, sagt Patrick Herold, der mit seiner Frau Birgit und dem zweijährigen Sohn Leo im ersten Stock wohnt, eine Eckwohnung am freistehenden Treppenhaus, ein Gespräch zwischen Straße und Balkon wie dereinst zwischen Romeo und Julia. »Aber dafür bietet er viel Fläche und Flexibilität. Der Gang ist so breit, dass man ihn selbst fast schon als eine Form solidarischen Wohnens bezeichnen könnte. Manche ­Bewohner parken hier ihre Kinderwagen, andere haben ein kleines Sofa draußen stehen, und es gibt sogar Leute, die am Abend ihren Esstisch hinausstellen und ihre Nachbarn auf ein paar Tapas einladen.« Nach einer Weile dann, keine Essenseinladung zwar, aber immerhin: »Magst raufkommen und dich etwas umschauen? Ich mach dir auf!« ›

Planen in der Baugruppe

Gleis 21, ein Kooperationsprojekt des Bauträgers Schwarzatal, des Kärntner Holzbauunternehmens Weissenseer und des auf Baugruppen und Partizipationsprojekte spezialisierten Wiener Architekturbüros einszueins, ist ein Holzhybridbau mit 34 Wohnungen auf insgesamt 4 000 m² Nutzfläche. Außerdem gibt es Bibliothek, Werkstatt, Saunahaus, Fitnessraum, eine großzügig verglaste Waschküche, eine Gemeinschaftsküche auf dem Dach, eine private Musikschule im Souterrain, ein paar anmietbare Mini-Apartments für Gäste und Flüchtlinge sowie ein leider noch schlummerndes Restaurant, für das man noch einen Betreiber sucht. Besonders stolz sind die Bewohner – 46 Erwachsene, 20 Kinder – auf den großen Veranstaltungssaal im EG, der u. a. vom Wiener Stadtkino bespielt und vom berühmten Burgtheater als Dependance und Off-Space genutzt wird. Vor der Corona-Krise gab es Lesungen, Filmvorführungen, Tanzveranstaltungen, zuletzt ein komplett ausverkauftes Jazzkonzert.

»Sowohl in der Planungsphase als auch jetzt im Betrieb«, sagt Patrick, »war die gesamte Baugruppe in kleine Projektgruppen unterteilt. Die einen haben sich um die Farben und Materialien gekümmert, die anderen um die Konzeption der Gemeinschaftsflächen, wiederum andere um das wirtschaftliche Finanzierungs- und Betriebsmodell.« Auch heute noch ist jeder erwachsene Hausbewohner angehalten, zehn bis 15 Stunden pro Monat in die Hausgemeinschaft zu investieren – so z. B. in die Vermietung und Bespielung des Veranstaltungssaals sowie in die Pflege der projekteigenen Webseite.

»Arbeitsstunde, haben wir uns gedacht, würde so ernst und mühsam klingen. Daher sprechen wir lieber von Happy Hour. Das passt gut zum Happy Feeling dieses Hauses.«
Auch die Architekten selbst, inzwischen zu regelrechten Meistern soziokratischer Baugruppen-Moderation herangereift, erinnern sich mit größtem Vergnügen an die Planungszeit zurück. »Der Aufwand ist enorm, und manchmal braucht man Nerven wie Stahlseile«, sagt Projektleiterin Annegret Haider. »Aber am Ende kriegt man mehr Energie zurück als man investiert hat. Die Zufriedenheit derer, für die man plant, ist eine der schönsten Befriedigungen, die man als Architektin erleben kann.« Die langjährige Erfahrung zeigt, dass die Wohnzufriedenheit in Baugruppenhäusern deutlich höher ist als in klassischen Miet- und Eigentumswohnungen, die am Markt erhältlich sind. Für die Projekte von einszueins, so hört man, so liest man, trifft das insbesondere zu.

»Das Schöne ist«, sagt Architekt Markus Zilker, einer von insgesamt drei Partnern im Büro, »dass wir mit Menschen arbeiten, die Wohnen nicht nur als Ware, sondern in erster Linie als sozialen Raum und als Lebenskultur verstehen. Das schlägt sich natürlich auch in der architektonischen Gestaltung, in den unterschiedlichen Nutzungselementen sowie im Einsatz von materiellen Ressourcen nieder. Einer der wichtigsten Eckpfeiler dieses Projekts von der allerersten Stunde an war die Entscheidung, dass das Haus konstruktiv und atmosphärisch als Holzbau bzw. Holzhybridbau errichtet werden soll.«
Die Wahl fiel auf einen massiven, vertikalen Betonkern, in dem die Küchen, Sanitärräume und aussteifenden Scheiben untergebracht sind sowie auf Geschossdecken und Fassaden aus vorgefertigten Holzmodulen. Das Anschlussdetail von Holzverbunddecke und Betonlaubengang mittels Isokorb, erzählt Zilker, war eine technische Entwicklung von einszueins und Weissenseer und kam in dieser Form weltweit erstmals zum Einsatz. Andere konstruktive Details hingegen, so wie etwa die Anschlusspunkte zwischen Unterzug, Geländer und Entwässerungsmaßnahmen würden eher den Weg in die Fibel der Herzen als ins Bauhandbuch für Ingenieure finden.

Noch einmal drei Stockwerke in die Höhe. Die luftige Erschließung macht die Begehung nicht nur coronatauglich, sondern sorgt auch für ein gewisses Urlaubsflair: Fahrräder, Blumenkästen, hölzerne Kisten mit selbstgenähten Sitzkissen. Und immer wieder stehen die Fenster offen, die Menschen in ihren Küchen, ein Hallo aus der Tiefe des Raums. Im letzten Stock, direkt unter der kollektiven Dachbibliothek wohnt der Wiener Radio- und Zeitungsjournalist Michael Kerbler.

»Das Gleis 21 wird nicht jedem gefallen«, sagt er. »Muss es aber auch nicht. Diejenigen, die genauer hinsehen, werden darin nicht nur ein fröhliches, berührendes Wohnhaus für 64 Individualisten und Gemeinschaftsmenschen erkennen, sondern auch die Erkenntnis haben, dass Architektur gleichermaßen aus materieller Hardware und sozialer Software besteht. Das Gleichgewicht der Kräfte in diesem Projekt ist einfach perfekt. Kann schon sein, dass sie mich hier im Holzpyjama raustragen werden. Aber jetzt geht es mal darum anzukommen, sich ein neues Grätzel anzueignen und ein Stückerl Stadt in den nächsten Jahren ordentlich zu beleben. Es ist viel zu tun. Warst schon ­unten beim Bio Mio?«

db, Mo., 2020.06.08



verknüpfte Zeitschriften
db 2020|06 Stadtspaziergänge

30. Mai 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Der Seeteufel von Mariahilf

Die Baustelle ist fast abgeschlossen, seit letzter Woche ist der Wasserzoo wieder in Betrieb. Der Zubau zum Haus des Meeres ist ein Produkt von Beratungsresistenz und unsensibler Bestellqualität auf Bauherrenseite.

Die Baustelle ist fast abgeschlossen, seit letzter Woche ist der Wasserzoo wieder in Betrieb. Der Zubau zum Haus des Meeres ist ein Produkt von Beratungsresistenz und unsensibler Bestellqualität auf Bauherrenseite.

Der Lophius piscatorius, auch Seeteufel genannt, ist keineswegs schön anzusehen. Er hat einen flachen, aalglatten, schuppenlosen Körper und einen breiten Kopf mit weit aufgerissenem Maul. Und er ist groß, ziemlich groß sogar. Ausgewachsene Exemplare können bis zu zwei Meter lang und 50 Kilogramm schwer werden. Ein ziemliches Trumm also. Kommende Woche, sagt Daniel Abed-Navandi, leitender Meeresbiologie am Haus des Meeres (HdM), werde man einen Seeteufel aus Valencia erhalten. Der Aqua-Terra-Zoo im Flakturm Esterházypark bekommt eine neue Attraktion.

Der sechste Bezirk, mitten im Herzen Mariahilfs, hat seine Attraktion bereits in den letzten Monaten verpasst bekommen. Seit den Fünfzigerjahren schon, damals noch als Provisorium gedacht, wird der ehemalige Feuerleitturm als Meeresmuseum genutzt. Mit dem gläsernen Rucksack-Zubau von Wilhelm Holzbauer, im HdM-Jargon liebevoll „Nase“ genannt, nahm der Untergang seinen Lauf. Es folgten eine Nasenkopie an der Ostseite, eine Boulderwand, ein Fluchtstiegenhaus, eine Restaurant-Aufstockung sowie nun, in den letzten Monaten errichtet, ein turmhoher Zubau, der sich „wie einst der Uhrturmschatten an den Grazer Uhrturm“ (O-Ton Stadt Wien) an den Flakturm schmiegt.

Nach knapp zwei Jahren Bauzeit entpuppt sich das um 3500 Quadratmeter erweiterte Haus des Meeres, was Architektur, Ortsbildverträglichkeit und vor allem den Umgang mit dem historischen Bestand betrifft, als baukulturelle Katastrophe. Journalistenkollegen anderer Medien haben das HdM mit einem „Autohaus in Bukarest“ und mit einer „Faschingsmaske mit Ohren“ verglichen und sprechen von einem „monströsen Körper“, der sich so massiv vor den Bestand schiebt, „dass man glauben könnte, der Flakturm hätte sich in Luft aufgelöst“. Doch um Eckhäuser tragischer noch als das Resultat dieser Baubegebenheit ist der Prozess. Der Seeteufel steckt im Detail.

„Nachdem es sich um ein so wichtiges Gebäude in so prominenter Lage handelt, haben wir dem Bauherrn gleich zu Beginn empfohlen, einen Wettbewerb auszuschreiben“, erinnern sich Andreas Machalek von Pumar Architekten und Ludwig Starz von Looping Architecture. „Das hat er abgelehnt. Zudem war das Korsett so eng, das Raum- und Funktionsprogramm so umfassend und die Schnittstellen mit anderen Planern und Gewerken in den Ausstellungsräumen, im Veranstaltungssaal und im Restaurant so undurchsichtig, dass wir ehrlich gesagt nur wenig Spielraum hatten. Das ist gewiss nicht unser stärkstes Projekt, aber im Rahmen der Möglichkeiten haben wir beste Arbeit geleistet.“

Auch die Stadt Wien, Abteilung Architektur und Stadtgestaltung, hat dem Bauherrn des Öfteren einen Wettbewerb ans Herz gelegt. „Jahrelang wurde das Haus des Meeres stückchenweise erweitert“, erklärt Abteilungsleiter Franz Kobermaier. „Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, das Bauwerk in einem kompetitiven Prozess einem Gesamtkonzept zu unterziehen und eine optimale architektonische und stadträumliche Lösung zu finden. Bei aller Liebe zur Baukultur, aber ohne Umwidmungsverfahren können wir niemanden zu einem Wettbewerb zwingen.“

Eine enge Freundschaft

Dazu muss man wissen: Der Flakturm im Esterházypark steht nicht unter Denkmal- oder Ensembleschutz, hinter der Bauherrenschaft verbirgt sich keine öffentliche Institution, sondern ein privater Betreiber, und seitdem das Haus 2015 von der Stadt Wien für einen symbolischen Euro an ebenjenen verkauft wurde, hat auch die öffentliche Hand jedes Mitspracherecht daran verloren. Eine unglückliche Verkettung unglücklicher Umstände.

Nicht einmal der Fachbeirat für Stadtplanung und Stadtentwicklung konnte sich mit seiner Expertise und seiner wiederholten Forderung nach einem Wettbewerbsverfahren einbringen, denn als er die letztgültigen Pläne 2018 zur Begutachtung vorgelegt bekam, war das Projekt im Bezirksausschuss längst schon positiv beurteilt und befand sich bereits in der Einreichphase. „Wir sind ein empfehlendes Gremium, das sehr darum bemüht war, die für uns essenziellen Qualitäten einzufordern“, sagt Beiratsvorsitzende Elke Delugan-Meissl. „Doch leider haben die Rahmenbedingungen dies kurz vor Baustart nicht mehr zugelassen. Bei einem Projekt mit dieser Präsenz im Stadtgefüge ist das doppelt schmerzlich. Eine vergebene Chance!“ Friedrich Dahm indes, Wiener Landeskonservator im Österreichischen Bundesdenkmalamt und ebenfalls Mitglied der Jury, in seiner Stimme sickert ein Hauch Verzweiflung durch: „Ich kann und will mich zu diesem Projekt nicht äußern.“

Aus mehreren Quellen, die anonym bleiben möchten, ist zu vernehmen, dass das Haus des Meeres sämtliche Anbauten und Erweiterungen mehr oder weniger selbst entworfen haben soll, dass es zwischen dem HdM und einem ehemaligen hochrangigen Wiener Politiker eine enge Freundschaft geben soll und dass diese Bindung womöglich auch dazu benützt worden sein könnte, um auf die Projektrealisierung einen gewissen Druck auszuüben – nicht zuletzt auch mit den Geschützen des mit der SPÖ sympathisierenden Boulevards. Die Recherche zur Genese des HdM besteht aus zahlreichen Gesprächen off the record, die nur mit ausgeschaltetem Mikrofon zustande kommen.

Und was sagt das Haus des Meeres selbst zu alledem? „Mich wundern die Vorwürfe, denn wir stehen mit der Stadt Wien seit vielen Jahren permanent im Gespräch“, sagt Hans Köppen, Geschäftsführer der Haus des Meeres Betriebs GmbH, die in den Zubau rund 18 Millionen Euro investierte. „Wir haben das Projekt wie empfohlen realisiert. Natürlich gab es gewisse Freiheiten in der Umsetzung, aber die Grundvorstellung erfolgte immer in enger Abstimmung. Architektur ist und bleibt eine Geschmacksfrage. Das merkt man auch, wenn man sich anschaut, was an den Wiener Ausfallstraßen alles hingebaut wird.“

Der Vergleich hinkt. Weder liegt der Esterházypark in der Wiener Pampa, noch handelt es sich beim Flakturm um eine Möbelix-Kiste im Gewerbepark Stadlau. Doch genauso schaut er heute aus. Das Haus des Meeres, seit letzter Woche post Corona wieder in Betrieb, ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn erstens zu viele Kräfte und Mächte in einem Projekt mitmischen und zweitens der Bauherr eines so prominenten Bauwerks sich weigert, baukulturelle Verantwortung wahrzunehmen.

Der Standard, Sa., 2020.05.30

23. Mai 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Baumeister, der das Leben feiert

Der Pritzker-Preisträger Balkrishna Doshi ist ein Kenner der Seele und Seismograf für gesellschaftliche Entwicklungen. Zu Besuch in der ersten Ausstellung nach Corona im Architekturzentrum Wien.

Der Pritzker-Preisträger Balkrishna Doshi ist ein Kenner der Seele und Seismograf für gesellschaftliche Entwicklungen. Zu Besuch in der ersten Ausstellung nach Corona im Architekturzentrum Wien.

Wie ein Reptil mit gläsernen Glupschaugen und schimmernden Keramikschuppen ragen die panzergleichen Kuppeln in die Höhe und machen neugierig auf das, was sich wohl im Inneren verbergen mag. Umgeben von Büschen und Bäumen, eingebettet in den grünen Park der CEPT University im Westen Ahmedabads, steigt man sodann hinab in die Tiefen der Anlage und findet sich plötzlich in einer warmen, bunt ausgemalten, weitverzweigten Betonhöhle wieder. Dramatische Lichtkegel fallen von oben in den Raum.

„Wahre Architektur muss uns freudig und feierlich stimmen, sie muss uns im Innersten berühren“, sagt der indische Architekt Balkrishna Doshi, der für seinen Freund Maqbul Fida Husain, einen in Indien berühmten Bildhauer, die unterirdische Galerie Gufa aus 18 kreisrunden und elliptischen, miteinander verschnittenen Kuppeln und windschief im Raum stehenden Säulen entwarf. „Ein gutes Haus lässt sich nicht in Einzelelemente wie Licht, Flächen oder Tragstruktur zergliedern. Ganz im Gegenteil: Es lässt Böden, Wände und Decken zu einem zusammenhängenden Ganzen verschmelzen und erzeugt einen organischen Raum fast wie ein lebendes Wesen.“

Ein riesiges Drahtmodell dieses beeindruckenden Wesens im Maßstab 1:2 sowie viele weitere Projekte Doshis, der 2018 als erster indischer Architekt überhaupt mit dem renommierten Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, sind nun als Post-Corona-Premiere im Architekturzentrum Wien (AzW) zu sehen. Kommenden Freitag wird die Wanderausstellung eröffnet. Aufgrund des verspäteten Starts ist die Ausstellungsdauer diesmal auf einen Monat beschränkt, bevor die Exponate nach Chicago weiterverschifft werden müssen.

„Für Balkrishna Doshi ist Architektur die Feier des Lebens“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des AzW, die die Ausstellung mit dem programmatischen Untertitel Architektur für den Menschen von der Vastushilpa Foundation und vom Vitra-Design-Museum übernommen hat. „Seine Bauten sind von der Überzeugung getragen, dass die gebaute Umwelt einen entscheidenden Einfluss auf das Wohlergehen, auf das Zugehörigkeitsgefühl und auf den gesellschaftlichen Gemeinsinn hat. Zudem vereint seine Vorstellung von Nachhaltigkeit die soziale, kulturelle, ökologische und wirtschaftliche Dimension.“ Schon 1956, als er sein eigenes Architekturbüro gründete, nannte er dieses Vastushilpa. Der Sanskrit-Begriff lässt sich am ehesten mit „Umwelt gestalten“ übersetzen.

Umwelt gestalten

Bis heute richtet der inzwischen 92-jährige Balkrishna Doshi – neben perfekter Lichtchoreografie, der Verwendung regionaler Materialien und der Einbeziehung lokaler Man- und Woman-Power – genau darauf den Fokus. Seine Bauten kommen ohne Klimatisierung aus, arbeiten mit natürlicher Belüftung und thermischen Strömungen im Innenraum und nutzen altbewährte Methoden stromloser Kühlung mittels gesammelten Regenwassers. Ins Tonnengewölbe seines 1980 errichteten Architekturstudios Sangath ließ er wie in vielen anderen Projekten Tonröhren einbauen, die bei Bedarf mit kaltem Wasser gefüllt werden und das Haus auf diese Weise kühlen. Damit hat er die heute in Europa gebräuchliche Bauteilaktivierung als Lowtech-Variante um Jahrzehnte vorweggenommen.

Doshi, der zu Beginn seiner Karriere für Le Corbusier, später auch mit Louis Kahn und Kenzo Tange arbeitete, war immer schon eine Art Seismograf für gesellschaftliche Entwicklungen. Für einkommensschwache Menschen, die in Indien als Economically Weaker Sections (EWS) bezeichnet werden, errichtete er 1989 in Indore, Zentralindien, die superkompakte Wohnsiedlung Aranya mit jeweils 30 Quadratmeter großen Einzelparzellen, die in einer Regierungslotterie an bedürftige EWS-Familien verlost wurden. Fundament, Grundmodul, Sanitärblock sowie Strom- und Kanalanschluss waren bereits fertiggestellt, den Rest der Häuser konnten die Bewohner nach eigenen Wünschen erweitern. Die möglichen Bebauungsvarianten stellte Doshi den Bewohnern in einem Formenkatalog sowie in 60 Musterhäusern zur Ansicht.

Flexibel, organisch, nah an der Natur

„Doshi hat hier sehr früh realisiert, was auf diversen Architektur-Biennalen in Venedig mit einigen Jahren Verspätung oft untersucht und durchdacht wurde“, sagt Fitz. „Das mit dem Menschen mitwachsende Minimalhaus ist aufgrund der knapper werden Grundstücksressourcen und den damit verbundenen hohen Bau- und Wohnkosten in den Großstädten heute aktueller denn je.“ Doch im Gegensatz zu den meisten Selbstbau-Projekten, die früher oder später wie eine Schrebergartensiedlung aussehen, gelingt es Doshi, die selbstbestimmten Überformungen so zu choreografieren, dass sie tatsächlich eine gestalterische, dörfliche Einheit bilden.

„Das Leben ist im Fluss“, sagt Doshi, der in der westindischen Stadt Ahmedabad lebt und arbeitet. „Ich wurde in eine Großfamilie mit 17 Menschen hineingeboren, die sich ständig wandelte und weiterentwickelte, und so kam mir in den Sinn, dass ein festes, statisches Gebäude diesen Veränderungen niemals gerecht werden kann. In meinem Leben ist Architektur etwas Flexibles, etwas Organisches, ganz nah an der Natur.“

Als Balkrishna Doshi vor zwei Jahren mit dem mit 100.00 US-Dollar dotierten Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, war sein sehnlichster Wunsch die Befähigung und Bevollmächtigung der Menschen. „Das geht nicht mit Ziegel und Beton. Das geht nur mit Bildung, Technologien und einem freien Geist in der Gesellschaft. Und vielleicht mit einem internationalen Preis, der mir nun eine gewisse kulturelle Macht verleiht – und die möchte ich als Werkzeug nutzen, um die indische Regierung zum Umdenken zu bewegen.“

[ „Balkrishna Doshi. Architektur für den Menschen“ im AzW im Museumsquartier. Zu sehen von 29. Mai bis 29. Juni 2020. ]

Der Standard, Sa., 2020.05.23

15. Mai 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Architekturtheoretiker Dietmar Steiner gestorben

Als Gründer und langjähriger Leiter des Architekturzentrums Wien prägte Steiner die Art, wie in Österreich über Architektur nachgedacht wird

Als Gründer und langjähriger Leiter des Architekturzentrums Wien prägte Steiner die Art, wie in Österreich über Architektur nachgedacht wird

Auf dem Cover seines 2016 erschienenen Buchs „Steiner’s Diary“ ist er, auf einem Holzgestell sitzend, direkt in die Kamera blickend, mit einer Zigarette im Mundwinkel zu sehen. Das Bild ist mehr als paradox, denn einerseits war „der Steiner“, wie ihn alle nannten, kaum eine Minute ohne sein Tabakmarkenzeichen zu sehen, andererseits jedoch hatte der zeitlebens Getriebene kaum je eine Minute Zeit, Ruhe und Muße zu finden. Am Freitag ist der in und für die Architektur lebende Dietmar Steiner an den Folgen einer Herzoperation, von der er sich in den letzten Monaten nicht mehr erholte, 68-jährig in Wien verstorben.

Steiner, 1951 in Wels geboren, träumte als Kind davon, Konstrukteur von Formel-1-Autos zu werden, studierte Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien und arbeitete viele Jahre bei Friedrich Achleitner und Rob Krier. Er leitete ein Büro für Architekturberatung und war Redakteur des internationalen Designmagazins „Domus“ in Mailand, bei dem er sich die Skills für eine sowohl scharfsinnige Beobachtung als auch scharfe Zunge aneignete, die auch seine späteren Texte im STANDARD, im „Profil“ sowie in zahlreichen Ausstellungskatalogen und Büchern prägte.

Pionier in heutigem Museumsquartier

Seine für Wien und Österreich größte Vermachenschaft jedoch geht auf das Jahr 1993 zurück. Gemeinsam mit der damaligen Kulturstadträtin Ursula Pasterk erarbeitete er ein Viersäulenmodell aus Präsentieren, Diskutieren, Publizieren und Archivieren, mietete sich im damals noch unsanierten Messepalast, dem heutigen Museumsquartier, ein und gründete das Architekturzentrum Wien. Bis heute ist das AzW, nunmehr unter der Führung von Angelika Fitz, die größte und wichtigste Architekturinstitution Österreichs.

„Es ist ein unglaubliches Glück, dass dieser Job und meine Person sich gefunden haben“, sagte Steiner 2016 in seinem Abschiedsinterview mit dem STANDARD. „Ich bin wirklich dankbar dafür, dass mir damals die Chance geboten wurde, dieses Haus zu gründen und ein Wissenszentrum mit einer umfangreichen Sammlung und einem mittlerweile wirklich fundierten Archiv zu etablieren, das mittlerweile weit über Österreich hinaus bekannt ist und sich internationale Reputation erarbeitet hat.“

„Wer heute Architektur macht, muss Jus studieren“

Steiner, der sich selbst als Fatalisten bezeichnete, erkannte in der österreichischen Baukultur der 90er-Jahre eine regelrechte Aufbruchstimmung, deren Rückenwind er sich als AzW-Direktor zunutze machte, während er die aktuelle Situation streng kommentierte: „Wer heute Architektur macht, muss von Jus und Wirtschaft mittlerweile mehr Ahnung haben als vom Bauen. Mit Architektur im klassischen Sinne hat das alles bald nicht mehr viel zu tun. Wo sind die Rebellen gegen das Imperium? Es braucht bitte mehr davon!“

„Steiner’s Diary“, eine Art 400-seitiger Rückblick auf die österreichische Architektur sowie auf seine Rolle als baukultureller Mentor und Katalysator, ist in „sieben Tage“ unterteilt. Vom Ruhen am siebenten Tag, an dem er in seiner Pensionierung sein Archiv sortierte und seinen umfassenden Vorlass vorbereitete, konnte keine Rede sein. Diese findet er nun, Rebell, wie er war, am achten Tag.

Der Standard, Fr., 2020.05.15

25. April 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Atemübungen für die Zukunft

In den letzten Wochen haben wir uns an dieser Stelle dem Thema Wohnen gewidmet. Doch wie wollen wir morgen und übermorgen eigentlich arbeiten? Das oberösterreichische Unternehmen Grüne Erde zeigt vor, wie es gehen könnte. Ein Besuch vor Ort.

In den letzten Wochen haben wir uns an dieser Stelle dem Thema Wohnen gewidmet. Doch wie wollen wir morgen und übermorgen eigentlich arbeiten? Das oberösterreichische Unternehmen Grüne Erde zeigt vor, wie es gehen könnte. Ein Besuch vor Ort.

Im Winter, wenn die erste Schneeflocke fällt“, sagt Maria Kainrad, „starren wir alle wie gebannt in unser bewaldetes Atrium, und jetzt in der Corona-Krise, wo wir in der Produktion ausnahmsweise Schichtbetrieb eingeführt haben, damit wir uns aus dem Weg gehen können und nicht so nah beisammensitzen müssen, sehen wir, wie sich die Laub- und Nadelbäume in den Abendstunden orangerot färben und wie die Sonnenstrahlen in den Glasscheiben reflektiert werden. Schaut einfach nur wunderschön aus.“

Kainrad, 55 Jahre alt, ist Teamleiterin in der Schneiderei. Gemeinsam mit ihren 20 Mitarbeiterinnen in der Abteilung sitzt sie zwischen Nähmaschinen, Dampfbügelgeräten und schrankgroßen, radgetriebenen Spulen, auf die Fäden, Garne und naturfarbene Baumwollstoffe aufgewickelt sind. Doch anders als in anderen Fabriken ist sie nicht Gefangene in irgendeiner gesichtslosen Industriehalle mit Dämmpaneelfassade und Trapezblechdecke, die einzig und allein dem Prinzip der Kosteneffizienz folgt, sondern arbeitet in einem mittlerweile preisgekrönten Holzbau – mit Blick auf eines von insgesamt 13 begrünten Atrien, die wie sinnliche Luft- und Pflanzenwürfel aus dem rund 9000 Quadratmeter großen Gebäude ausgestanzt sind.

Die Rede ist vom neuen Schauraum und Produktionsstandort des oberösterreichischen Unternehmens Grüne Erde. Hier, im abgeschiedenen Almtal, eine spazierende Viertelstunde vom Bahnhof Viechtwang entfernt, kann man nicht nur Möbel und Wohnaccessoires kaufen und nebenbei in der Geschichte der 1983 gegründeten Firma schmökern, sondern auch den insgesamt 50 Arbeiterinnen und Arbeitern in der Polster- und Matratzenproduktion bei ihren einmal feinstofflichen, einmal kräftezehrenden Handgriffen über die Schulter schauen.

„Der alte Produktionsstandort war viel zu klein und seit Jahren schon veraltet“, erinnert sich Reinhard Kepplinger, Geschäftsführer und Co-Eigentümer der Grünen Erde. „Daher war klar, dass wir früher oder später expandieren müssen. Auf diesem Grundstück in Pettenbach, auf dem sich einst die Fabrikationshalle eines Küchenherstellers befand und wo wir daher keinen einzigen Quadratmeter Land zusätzlich versiegeln mussten, fand sich die perfekte Gelegenheit. Das war die Geburtsstunde unserer neuen Homebase, die wir nun Grüne-Erde-Welt nennen.“

Daniel-Düsentrieb-Wahnsinn

Kepplinger, ein Gentleman-Lächeln im Gesicht, sieht aus, als wäre er einem Zegna- oder Jil-Sander-Katalog entsprungen, doch unter den edlen Tüchern schlägt sein Herz für Filz, Wolle, Ökolatex, bienengewachstes Holz und eigens gezüchtetes Kapok, dessen wolkig-flaumige Samenfasern als vegane Alternative zu Federn und Daunen verwendet werden. Hinzu kommt eine Portion Daniel-Düsentrieb-Wahnsinn, denn das gesamte Möbelprogramm von Grüne Erde kommt ohne ein einziges Stück Metall aus, ohne Schraube und ohne Scharnier, und besteht daher aus teils traditionellen, teils selbstentwickelten Steckverbindungen und mechanisch beweglichen Details.

„Diesen Geist“, sagt Architekt Klaus Klaas Loenhart, „galt es, in das Gebäude zu übersetzen.“ Loenharts Herz ist nicht minder grün beschaffen, ist er mit seinem Grazer und Münchner Büro Terrain doch derjenige, der auf der Expo 2015 in Mailand den mit 56 Bäumen und fast 13.000 Stauden bewaldeten Österreich-Pavillon Breathe.Austria entwarf und in Anlehnung daran das Grüne-Erde-Haus als Breathing Headquarters bezeichnet.

„Auf Metall kann man auf der Baustelle freilich schwer verzichten“, so Loenhart, „daher haben wir uns die Frage gestellt, wie wir die Radikalität und ökologische Kompromisslosigkeit dieses Unternehmens auf den Maßstab der Architektur übertragen können – und haben beschlossen, auf erdölbasierte Produkte zu 98 Prozent zu verzichten.“ Die einzigen zwei Ausnahmen sind die Heizschläuche im Boden und die Gummidichtungen in den Fenstern und Türen.

Das Resultat dieser ressourcenschonenden Bemühungen ist ein Holzbau mit hohen, aussteifenden und zugleich schallschluckenden Holzkassetten an der Decke sowie tragenden, weiß lasierten Fichtenstützen, die einem eigens entwickelten Algorithmus folgen und daher wie zufällig verteilt im Raum stehen. Die ehemalige Betonhalle des Küchenproduzenten wurde zermalmt und zermahlen und führt nun als recycelter Zuschlagstoff in der Fundamentplatte ein Weiterleben nach dem Tod. Das Dach ist mit einer Kautschukdichtung abgeschlossen, darüber befindet sich eine fast flächendeckende Fotovoltaikanlage, gekühlt und geheizt wird mittels Geothermie.

Die Zukunft der Arbeit

Die 13 Lichtatrien schließlich, die 13-mal unterschiedlich bestückt und bepflanzt sind und auf diese Weise die verschiedensten Rohstoffquellen der Grünen Erde sichtbar machen, sind nicht nur Lichtspender, sondern dienen auch zur sommerlichen Querlüftung. Große Öffnungsflügel machen die winzigen Miniaturwälder spür- und riechbar. „Es ist ein schöner Job an einem tollen Ort, aber den ganzen Tag lang zu arbeiten hat trotzdem etwas Ermüdendes“, sagt Maria Kainrad. „Wenn man dann plötzlich den Nadelwald und die blühenden Sträucher riecht, sobald man die Fenster aufmacht, ist das schon ziemlich lässig.“

Die Grüne-Erde-Welt, ein Kooperationsprojekt von Klaus Klaas Loenhart und dem Linzer Architekturbüro Arkade, wurde mit dem Oberösterreichischen Holzbaupreis 2019 ausgezeichnet. Mit einem Baubudget von rund 1100 Euro pro Quadratmeter ist es nicht nur gelungen, die Werte des Unternehmens, die sich sonst in flauschigen Alpakadecken, kirschkerngefüllten Kissen und handgestreichelten Massivholzmöbeln manifestieren, auf den Maßstab XXL zu übertragen (alles gutes Marketing, keine Frage), sondern auch Wertschätzung gegenüber Mensch und Natur zur Geltung und zum Ausdruck zu bringen.

„Wissen Sie, wir sind Arbeiterinnen. Und ich kann Ihnen ehrlich sagen, dass uns in der Gesellschaft da draußen nicht immer der größte Respekt entgegengebracht wird“, sagt Kainrad. „Hier arbeiten zu dürfen fühlt sich an, als würden wir in einem hellen Wohnzimmer mit Terrazzoboden und grünen Balkonen sitzen. Die Corona-Krise macht die anstrengenden Jobs, die die Gesellschaft am Laufen halten, plötzlich sichtbar – ob das nun Supermarktkassierinnen, Straßenarbeiter oder Fachkräfte in einem regionalen oberösterreichischen Unternehmen sind.“

Die aktuelle Ausnahmesituation auf der ganzen Welt bietet Gelegenheit, innezuhalten und die Werte unserer zum Teil uninspirierten und unmenschlichen Bauproduktion, die statt des Menschen oft nur die Moneten in den Mittelpunkt stellt, zu überdenken. Wie wollen wir in Zukunft wohnen, wie wollen wir lernen, wie wollen wir arbeiten? Zum Beispiel so.

Der Standard, Sa., 2020.04.25



verknüpfte Bauwerke
Grüne Erde Welt

18. April 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Wer zahlt die Krise?

In einem offenen Brief werden Vermieterinnen und Hauseigentümer zur Verantwortung gezogen. Sie sollen in Härtefällen Mietern unter die Arme greifen. Auch langfristige Wohnrechtsreformen werden gefordert. Ein Aufruf.

In einem offenen Brief werden Vermieterinnen und Hauseigentümer zur Verantwortung gezogen. Sie sollen in Härtefällen Mietern unter die Arme greifen. Auch langfristige Wohnrechtsreformen werden gefordert. Ein Aufruf.

Die Corona-Krise konfrontiert uns mit einer Realität, die wir in dieser Form noch nie zuvor erlebt haben“, sagt Simon Andreas Güntner. Der deutsche Soziologe ist Professor an der TU Wien und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Raumsoziologie und Fragen des urbanen Zusammenlebens. „Entsprechend neu und ungewohnt ist die derzeitige Definition des Wohnens, das sich durch die Überlappung mit zusätzlichen Funktionen wie etwa Schule und Arbeit vollkommen verändert. Wir müssen uns damit arrangieren, dass die Wohnung nun mehr ist als bloß der Ort des persönlichen Rückzugs. Wir müssen das Wohnen neu lernen.“

Doch während die einen damit beschäftigt sind, ihre Wohnung umzubauen und coronatauglich zu machen (das Architekturzentrum Wien hat dazu sogar einen Instagram-Aufruf unter dem Hashtag #WieWirCoronaWohnen gestartet), fürchten die anderen schlichtweg um ihre Existenz. Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und der plötzliche Entfall von Umsätzen und selbstständigen Lebensgrundlagen führen in tausenden Fällen zu prekären Situationen.

Die Folge sind Mietrückstände, finanzielle Mittellosigkeit und manchmal sogar auslaufende Mietverträge, die laut dem viertem Covid-19-Bundesgesetz zwar in beiderseitigem Einvernehmen zwischen Mieter und Vermieter verlängert werden „können“ – aber eben nicht müssen. In Härtefällen kann der Vermieter den befristeten Vertrag beenden – und das in einer Zeit, in der Wohnungssuche, Übersiedelung und Möbelbeschaffung de facto unmöglich durchzuführen sind.

„Die kurzfristigen Maßnahmen und wirtschaftlichen Konsequenzen rund um die Corona-Krise machen die schon seit langem bestehende Problematik Wohnen jetzt umso deutlicher“, sagt die Wiener Architektin Gabu Heindl, die an der Architectural Association (AA) in London unterrichtet. „Mit den 1994 eingeführten Lagezuschlägen und Befristungen, die heute gang und gäbe sind und die die Mieterinnen alle drei Jahre vor potenzielle Wohnungslosigkeit stellen, wenn sie nicht den Mund halten und laufende Mieterhöhungen in Kauf nehmen, was wiederum zu Mietexplosionen am privaten Wohnungsmarkt führt, wurde das Mietrechtsgesetz mehr und mehr prekarisiert.“ Und das Problem ist kein geringes: Allein 2017 wurden 70 Prozent aller privaten Wiener Mietverträge befristet abgeschlossen.

Um auf die bestehenden Missstände hinzuweisen, die in der Corona-Krise mitunter zu Ausweglosigkeiten führen, verfasste Heindl gemeinsam mit Bettina Köhler, Stadtforscherin und Sozialwissenschafterin an der Universität Wien, einen offenen Brief mit dem Titel Wer zahlt die Krise? , der dieser Tage über mehrere Print- und Onlinemedien publikgemacht wurde. Mehr als hundert Wissenschafter, Architekturschaffende und Universitätsprofessorinnen haben sich dem Brief mit ihrer Unterschrift angeschlossen.

Problem Befristungen

Zu den darin geäußerten Forderungen zählen unter anderem die Stärkung der Mittel und Kapazitäten von Frauenhäusern, die Öffnung von Hotels, Airbnb-Apartments und leerstehenden Wohnungen für Wohnungs- und Obdachlose, die Aussetzung von Kündigungen und Mieterhöhungen während der Corona-Krise sowie klare Regelungen zu Mietzinsreduktionen und Mietenerlässen als Alternative zu den im Bundesgesetz dargestellten Mietstundungen, die mit bis zu vier Prozent verzinst werden dürfen und die die Mieter mittelfristig sogar noch stärker belasten.

„Wohnen ist wie Bildung, Arbeit und Gesundheit ein Menschenrecht, doch in der Corona-Krise ist dieses Menschenrecht noch stärker gefährdet“, sagen Heindl und Köhler. „Der Umstand, dass wir immer mehr Wohnraum in die Hände von Fonds, internationalen Konsortien und institutionalisierten, gewinnorientierten Großbesitzverwaltern übergeben, macht das Einfordern dieses Grundrechts nicht gerade einfacher, aber umso wichtiger.“

Auch Martin Orner, Obmann und Geschäftsführer des gemeinnützigen Bauträgers EBG, selbst Mitunterzeichner des Briefs, meint: „Wir haben in der Corona-Krise mit Ausfällen zu rechnen, und es stellt sich die Frage, wie wir diese finanziellen Lasten fair verteilen. Es kann nicht sein, dass die Verluste von den Schwächsten in der Gesellschaft getragen werden müssen, während die Gewinne bei den Reichsten unangetastet bleiben. Daher braucht es eine Regelung, wie auch Vermieterinnen und Grundstückseigentümer ihre soziale Verantwortung wahrnehmen.“ Für in Not geratene Vermieter schlagen die Autorinnen im offenen Brief die Errichtung eines Härtefonds vor.

„Die Corona-Krise macht nichts anderes, als schon lang bestehende Problemlagen zuzuspitzen“, kontert Barbara Ruhsmann, Obfrau des Forums Wohn-Bau-Politik. „Ich glaube allerdings nicht, dass es hilft, wenn jetzt alle in denselben Debattenmustern verbleiben wie in den letzten Jahrzehnten auch schon. Fruchtbarer wäre es, unsere Wohnpolitik überhaupt gründlich zu überdenken, das Mietrechtsgesetz zu reformieren und – wie im türkis-grünen Regierungsprogramm angekündigt – die Expertise der Bevölkerung in Form von Enqueten und Bürgerkonvents einzubeziehen.“

Selbstredend, dass der offene Brief auch in der Immobilienwirtschaft nicht nur auf Zustimmung stößt. „Gerade die privaten Immobilieneigentümer haben schon im Zuge der Regelungen der Gewerbemieten eine immense Belastung zu spüren bekommen“, sagt Sandra Bauernfeind, Vorstand des Österreichischen Verbands der Immobilienwirtschaft (ÖVI). „Daher sind wir um einen offenen Dialog zwischen Vermieter und Mieter bemüht – allerdings ohne weitere zusätzliche legistische Regelungen.“ Martin Prunbauer, Präsident des Österreichischen Haus- und Grundbesitzerbundes (ÖHGB), meint: „Private Immobilieneigentümer leisten einen großen Anteil an der Gesamtinvestitionssumme im Bau- und Baunebengewerbe und erweisen sich als stabiler Konjunkturmotor für die heimische Wirtschaft. Diesen Menschen jetzt noch mehr wegzunehmen ist eindeutig der falsche Weg.“

Die Diskussion ist eröffnet

Und Kaspar Erath, Obmann des Vereins zur Revitalisierung und architektonischen Aufwertung der Wiener Gründerzeithäuser, äußert sich auf Anfrage des ΔTANDARD: „Ernährung und Gesundheit sind auch ein Grundrecht. Niemand kommt auf die Idee, die Supermärkte und Apotheker zu attackieren und zu fordern, Lebensmittel und Arzneien im Härtefall kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Warum also beim Wohnen? Wenn das so weitergeht, dann können wir am besten gleich alle enteignen und eine riesengroße österreichische Kommune machen!“

Die Diskussion ist eröffnet. Der offene Brief mit Forderungen an die private Immobilienwirtschaft und längst überfälligen Fragen der Risikoverantwortung und Verteilung auf der einen Seite sowie die Ängste und Gegenwehrmechanismen der privaten Wohnungsvermieter und ihrer Interessensvertretungen auf der anderen Seite zeigen vor allem eines auf – dass die Bundesregierung in Sachen Wohnrecht und Mietrechtsgesetz in und nach Corona einige dringend anstehende Hausaufgaben zu erledigen hat.

„Wir müssen verstehen“, sagt Bernd Rießland, Vorstandsmitglied der Sozialbau AG und Obmann des Österreichischen Verbands gemeinnütziger Bauvereinigungen (GBV), „dass der österreichische Staat in der Corona-Krise kein Bösewicht ist, sondern lediglich in unser aller Interesse als Organisator und Manager mit entsprechenden Corona-Maßnahmen agiert, weil es ja auch unser aller Interesse ist, diese Pandemie so gut wie möglich zu überstehen. Daher ist es auch nötig, dass sich jeder mit seinen zur Verfügung stehenden Ressourcen in dieser Krise beteiligt – die Armen wie die Reichen, die Mieter wie die Vermieter, die Privaten wie die Gemeinnützigen.“

Wie lautet der so oft gehörte Corona-Slogan? „Gemeinsam schaffen wir das!“ Aus dieser notgedrungenen Arbeitsgemeinschaft ist niemand ausgenommen.

Der Standard, Sa., 2020.04.18

21. März 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Klimaschutznotverordnung 2021

Die rigorosen Maßnahmen gegen die Corona-Krise beweisen, dass wir in der Lage sind, unser Verhalten zu ändern. Was wäre, wenn sich die Bundesregierung der Klimakrise mit der gleichen Konsequenz entgegenstellte wie dem Coronavirus? Was, wenn eines Tages ähnliche Maßnahmen im Bauen und Wohnen getroffen würden? Ein Bericht aus der Zukunft.

Die rigorosen Maßnahmen gegen die Corona-Krise beweisen, dass wir in der Lage sind, unser Verhalten zu ändern. Was wäre, wenn sich die Bundesregierung der Klimakrise mit der gleichen Konsequenz entgegenstellte wie dem Coronavirus? Was, wenn eines Tages ähnliche Maßnahmen im Bauen und Wohnen getroffen würden? Ein Bericht aus der Zukunft.

Wien, 21. März 2021 – Heute zu Mittag haben Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck (ÖVP) und die grüne Umweltministerin und CO2-Ausschuss-Vorsitzende Leonore Gewessler in einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz die Klimaschutznotverordnung 2021 (KliNo) bekanntgegeben, die am 1. April 2021 in Kraft treten soll. Das Paket der türkis-grünen Regierung geht mit aller nötigen Konsequenz gegen die fortschreitende globale Klimakrise vor und erinnert mit seinen zum Teil harten Maßnahmen, die von Bund, Land, Gemeinde, Baupolizei, Klimamiliz und CO2-Ausschuss rigoros umgesetzt werden sollen, an das temporäre „Corona-Gesetz“, das vor genau einem Jahr als Reaktion auf die sich ausbreitende Krankheit Covid-19 vom Nationalrat verabschiedet wurde.

Neben diversen Konsumkontingentierungen von nicht täglich benötigten Gebrauchsgütern pro Kopf, drastischen Einschränkungen im privaten und beruflichen Luftverkehr sowie verschärften Vorschriften für Industrie und Logistik, die anhand eines 24-monatigen Stufenplans mithilfe von EU-Geldern aus dem kürzlich beschlossenen Förderpaket „ProClimActive“ Schritt für Schritt umgesetzt werden, betrifft eine ganze Reihe von Maßnahmen den Wohn- und Bausektor.

Vorbild für das Maßnahmenpaket ist unter anderem die sogenannte 2000-Watt-Gesellschaft – ein interdisziplinäres, energiepolitisches Modell der ETH Zürich, das in der Schweiz bereits seit mehreren Jahren Anwendung findet und das den Lebensstil und die durchschnittliche Pro-Kopf-Leistung bis 2050 von derzeit 2500 Watt (globaler Mittelwert) bzw. 6000 Watt (EU-Durchschnitt) auf 2000 Watt reduzieren soll. Hier die wichtigsten branchenbezogenen Punkte der KliNo 2021 im Überblick: –

Wirtschaftsumbau

Die Umstellung der österreichischen Betriebe der Baubranche auf Klimaneutralität verlangt eine umfassende Adaptierung von Sortimenten, Lieferketten, Produktionsprozessen, Arbeitsabläufen und eine alternative Schwerpunktsetzung bei den zu bewältigenden Bauaufgaben. Die Bundesregierung unterstützt diese Umstellung mit einer Milliarde Euro, die zusätzlich zu den Geldern aus dem EU-Fonds ProClimActive zur Verfügung gestellt werden.

Memorandum für Baulandwidmung

Mit sofortiger Wirkung werden in den nächsten zehn Jahren keine Baulandwidmungen mehr vorgenommen. Die Versiegelung in bestehenden Siedlungsgebieten ist auf das absolut notwendige Minimum zu reduzieren. Siedlungsgrenzen sind einzuhalten. Über Widmungen entscheidet ab sofort nicht mehr die bürgermeisterliche Instanz, sondern Bund und Land.

Versiegelungsstopp

Sofortiger Versiegelungsstopp im ländlichen Raum und in städtischen Grünzonen. Systemerhaltend notwendige Versiegelungen dürfen nur noch mit einer entsprechenden Ersatz-Entsiegelung in zumindest gleichem Flächenausmaß vorgenommen werden. Zur Bewertung von Ver- und Entsiegelungsansuchen wird ein unabhängiger Flächenbeirat eingerichtet.

Sanierung und Rückbau

Brachliegende Immobilien sind vom Grundeigentümer entweder zu sanieren und in Nutzung zu bringen oder aber bis zur Bodenentsiegelung rückzubauen. Rückbau- und Entsorgungskosten müssen bei Planung, Errichtung und Verkauf transparent kommuniziert und in die Lebenszyklusberechnung ohne Ausnahme miteinbezogen werden.

Reduktion von Neubau

Neubau ist auf das nachweislich Notwendige zu beschränken. Eine potenzielle Gebäudemindestnutzungsdauer von 100 Jahren sowie ein flexibles Nachnutzungskonzept sind nachzuweisen. Zugunsten künftiger Sanierungszyklen sind Gebäudestruktur, Fassade, Haustechnik und Interieur modular bzw. voneinander leicht trennbar auszuführen.

Verbot von Verbundbaustoffen

Sofern materielle und technische Alternativen am Markt verfügbar sind, ist der Einsatz von nichttrennbaren und nichtrecyclingfähigen Verbundbaustoffen im Hochbau verboten. Lokalen und ökologischen Baustoffen mit regionaler Wertschöpfungskette und leichter Demontage sowie Rezyklierbarkeit ist der Vorrang zu geben.

Vereinheitlichung der Bauordnung

Zugunsten der Praktikabilität der Umsetzung werden alle neun Landesbauordnungen – mit Ausnahme von boden-, wind- und niederschlagsrelevanten Faktoren – zu einer österreichischen Bauordnung (ÖBO) zusammengeführt.

Novelle Stellplatznachweis

Die Notwendigkeit der Errichtung eines Pkw-Stellplatzes ist nachzuweisen. Ohne entsprechenden Nachweis dürfen nur noch Stellplätze für einspurige Fahrzeuge und/oder Elektrofahrzeuge samt E-Ladeanschluss errichtet werden. Nichtbenötigte Stellplätze sind rückzubauen.

Grüne Infrastruktur

Im Sinne des Mikro- und Kommunalklimas (Kühlung, Luftqualität, Entlastung des öffentlichen Kanalnetzes etc.) sind Neubauten und neue Siedlungsquartiere mit grüner Infrastruktur auszustatten (grüne Fassaden, Dachbegrünung, „Schwammstadt“ etc.). Der Gebäudebestand ist dementsprechend nachzurüsten.

Verschattung

Je nach Bedarf und örtlicher Gegebenheit sind bauliche und/oder mechanische Verschattungsmaßnahmen vorzusehen. Bestehende Gebäude sollen im Zuge kommender Sanierungsmaßnahmen nachgerüstet werden. Bei gründerzeitlichen und denkmalgeschützten Bauten ist ein Schattengutachten bezüglich der Erhaltungswürde und des Verschattungsbedarfs nachzuweisen.

Heizen und Kühlen

Der gesamte Wärme-, Kühl- und Lüftungsbedarf für die Nutzung von Wohnen, Büro und Gewerbe ist im Niedertemperaturbereich bzw. verbrennungsfrei zu decken. Der elektrische Energiebedarf für diese Nutzungen ist erneuerbar und nach Möglichkeit lokal herzustellen.

Smart Grids

Um Bedarfsspitzen abzudecken und die Netze zu entlasten, wird die Errichtung von Smart Grids mit Mitteln von ProClimActive gefördert. Heterogene Nutzungszusammenschlüsse aus unterschiedlichen Assetklassen (Wohnung, Büro, Hotel, Gastgewerbe, Bildungsbau, Industrie, Infrastruktur) sind aus Effizienzgründen zu bevorzugen. Öffentliche und private Energieversorger müssen Einspeise- und Entnahmetarife angleichen.

CO2-Steuer

Wie im Bereich Konsum und Mobilität wird auch das Bauen und Wohnen CO2-versteuert. Fällig wird die CO2-Steuer (gestaffelte Steuerklassen) bei Neubaumaßnahmen, nichtklassifizierten und/ oder fossilen Energiequellen, bei über den festgesetzten Maximalwert hinausgehenden Energieverbrauchsmengen sowie im Erwerb und/oder Bewohnen von neu erbauten Einfamilienhäusern.

Energieverbrauch

Der jährliche Normenergieverbrauch wird abhängig von Haushaltsgröße, Warmwasseraufbereitung und Heiz- und Kühlbedarf auf einen entsprechenden Maximalwert festgesetzt. Darüber hinausgehende Verbrauchsmengen werden CO2-besteuert. Bis Jahresende müssen alle Haushalte und sonstige Miet- und Eigentumsverbände mit Smart Metern ausgestattet werden.

Miet- und Eigentumsrecht

Die Mietzinsrücklagenbildung umfasst ab sofort auch Maßnahmen zur thermischen und klimagerechten Sanierung. Eine qualifizierte Mehrheit an Gemeinschaftseigentümern reicht aus, um Verbesserungsmaßnahmen im Sinne des Klimaschutzes umzusetzen. Bei langfristigem Leerstand im Mietwohnbau (ab sechs Monaten) und lokalem Wohnbedarf fällt eine Leerstandsabgabe in der Höhe von 20 Prozent der marktüblichen Miete an. Die Leerstandsabgabe erhöht sich alle sechs Monate um weitere 20 Prozent.

Der Autor hat sich beim Verfassen der fiktiven Klimaschutznotverordnung von Expertinnen und Experten beraten lassen.

Der Standard, Sa., 2020.03.21

04. März 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Frauenduo gewinnt Pritzker-Preis

„Architektur-Nobelpreis“ für Yvonne Farrell und Shelley McNamara

„Architektur-Nobelpreis“ für Yvonne Farrell und Shelley McNamara

Chicago – Na endlich! 1979 wurde der renommierte Pritzker-Preis, der jährlich mit 100.000 US-Dollar dotiert ist, ins Leben gerufen. In den ersten 40 Jahren seines Bestehens wurden erst drei Frauen damit ausgezeichnet, wobei Zaha Hadid 2004 die Einzige war, die den sogenannten „Nobelpreis der Architektur“ ohne männlichen Büropartner entgegennehmen durfte.

Nachdem die Kritik an der männlichen Dominanz des Preises immer lauter wurde, ist es umso logischer, dass mit Yvonne Farrell (69) und Shelley McNamara (68), die gemeinsam das Büro Grafton leiten, gleich zwei Chefarchitektinnen vor den Vorhang geholt werden. Nach ihrem Architekturstudium gründeten die beiden Irinnen 1978 in Dublin ihr eigenes Architekturbüro. Sie realisierten bereits Bildungsbauten und diverse Institutsbauten in Irland. 2008 stellten sie ihren ersten internationalen Auftrag fertig, der kurz darauf zum World Building of the Year 2008 erkoren wurde – die Università Luigi Bocconi in Mailand.

Es folgten weitere ausgezeichnete Universitätsbauten in Lima (Peru, 2015) und Toulouse (Frankreich, 2019) sowie großmaßstäbliche Projekte in Frankreich und Großbritannien. Derzeit in Bau befindet sich die London School of Economics and Political Science. Internationale Bekanntheit erlangten Farrell und McNamara vor zwei Jahren, als sie die Direktion der Architektur-Biennale 2018 in Venedig übernahmen. Am 6. 3. hält Farrell beim Turn-On-Festival in Wien den Festvortrag.

Der Standard, Mi., 2020.03.04

15. Februar 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Im Wilden Wiener Westen

Eine Ausstellung des Wien-Museums wirft einen neuen Blick auf die kalifornischen Wohnhäuser des österreichischen Exilarchitekten Richard Neutra.

Eine Ausstellung des Wien-Museums wirft einen neuen Blick auf die kalifornischen Wohnhäuser des österreichischen Exilarchitekten Richard Neutra.

Für die fünf Kinder waren die beiden großen Granitblöcke im Garten „die zwei großen Zehen“. Richard Neutras Frau Dione hingegen bezeichnete die 90 Millionen Jahre alten Felstrümmer gerne auch als jene zwei Hände, die die Aufgabe hätten, das Haus und seine Bewohner, die Oylers, zu segnen und zu beschützen. Das Oyler House in Lone Pine, rund dreieinhalb Autostunden nördlich von Los Angeles gelegen, zählt zu den wenig bekannten und auch entsprechend selten publizierten Werken des österreichisch-kalifornischen Exilarchitekten Richard Neutra (1892–1970). Nun ist es als eines von insgesamt neun Neutra-Häusern – am liebsten möchte man in die himmelblau-salbeigrün-silbrig schimmernden Fotos hineinkippen und durch sie hindurchwandern – in einer Ausstellung im Wien-Museum zu sehen.

„Richard Neutra und Rudolph Schindler sind jene beiden Wiener Architekten, die gemeinsam mit John Lautner, Craig Ellwood, Gregory Ain und einigen anderen die kalifornische Moderne der 1930er- bis 1960er-Jahre maßgeblich geprägt haben“, sagt Andreas Nierhaus, Architekturthistoriker am Wien-Museum. „Doch während Schindler in Österreich regelmäßig publiziert und ausgestellt wird, gab es zu Neutra hierzulande vor knapp 40 Jahren die letzte Ausstellung. Es gibt also ordentlich Nachholbedarf.“

Gemeinsam mit dem Tiroler Architekturfotografen David Schreyer, seines Zeichens selbst ausgebildeter Architekt, machte sich Nierhaus im Sommer 2017 nach L.A. auf, um sich dort auf die Spuren jener Wohnhäuser zu begeben, die vor wenigen Jahrzehnten noch für 25.000 bis 100.000 US-Dollar in den Maklerbüros und Zeitungsinseraten erfolglos angeboten wurden. Mit dem Mid-Century-Hype, der rund um 2000 eingesetzt hat, und der Wiederentdeckung des kalifornischen Architekturfotografen Julius Shulman (1910–2009) durch den deutschen Taschen-Verlag, der seine Schwarz-Weiß-Fotografien zu riesigen Coffee-Table-Books zusammengebunden hat, die seitdem in keinem Kulturhaushalt mehr fehlen dürfen, sind auch die Bauten Richard Neutras in den Architektur- und Immobilien-Olymp aufgestiegen. „Das Spannende aber ist, dass Neutras Häuser bis heute vor allem in den Schwarz-Weiß-Fotos von Julius Shulman sichtbar sind“, sagt David Schreyer. „Die meisten Gebäude befinden sich in Privatbesitz, sind in der Zwischenzeit hinter Hecken, Büschen und Palmen verschwunden und wurden seit Shulman nie wieder professionell fotografiert.“ Mit den nun vorliegenden Farbfotos Schreyers, die innerhalb von vier Wochen zwischen Kakteen und Klapperschlangen geschossen wurden, wird erstmals ein zeitgenössischer Blick auf Neutras Architektur ermöglicht.

Zum Selberbauen

Zurück nach Lone Pine, die Sierra Nevada im Westen, den Death-Valley-Nationalpark im Osten. Ende der 1950er-Jahre kaufte der Beamte und Versicherungsmakler Richard F. Oyler genau hier ein Grundstück, um für sich und seine Familie ein Haus zu errichten. In der Ortsbibliothek stieß er auf Bücher über Richard Neutra und schrieb dem Architekten daraufhin einen Brief mit der Einladung zur Zusammenarbeit. Die beiden Grundvoraussetzungen waren die Einhaltung eines knappen Budgets sowie die Realisierung des Holzbaus in Selbstbauweise.

„Im Gegensatz zum medial überlieferten Bild, dass Neutra ein Star sei, hat er eigentlich sehr gerne für Klienten mit niedrigem Budget geplant“, sagen die beiden Kuratoren Nierhaus und Schreyer. „Er war beeindruckt von der urzeitlichen Landschaft des Ortes, wo später auch einige Hollywood-Western gedreht wurden, und entwarf ein Haus, das durch seine große Glasfassade im Osten die Natur in den Innenraum holte.“ Ein ausladendes Vordach spendet Schatten und schützt das Haus vor sommerlicher Überhitzung. Die tragenden Balken sind so dimensioniert, dass Oyler sie in seiner Freizeit eigenhändig zusägen und in Position bringen konnte.

Heute wird das 1959 errichtete Haus von der Schauspielerin Kelly Lynch und dem Filmproduzenten Mitch Glazer bewohnt. „Dieses Haus ist ein Kunstwerk und zugleich der beste Beweis dafür, dass so ein Kunstwerk nicht viel kosten muss“, sagt Lynch. „Mit seinem kompakten Grundriss, der Platz für eine siebenköpfige Familie bereitstellte, aber auch durch die natürlichen Baumaterialien könnte es zum Vorbild für heutige Wohnhäuser werden.“

Antwort auf die Klimakrise

Neben dem neuen Blick auf die kalifornische Moderne und der umwerfenden Schönheit der Häuser und ihrer Bilder erklärt sich damit auch eine nicht unwesentliche Mission dieser in Anlehnung an die Balloon-Frame-Bauweise in Szene gesetzten Ausstellung: „Neutra hat gerne experimentiert und sich für neue, innovative Konstruktionen interessiert“, so Nierhaus und Schreyer. „Seinem behutsamen Umgang mit dem lokalen Wüstenklima ist zu verdanken, dass die meisten seiner Häuser auch bei 50 Grad Celsius ohne Klimaanlage auskommen.“

Die kleine Größe der Bauwerke, die Selbstzufriedenheit des Low-Techs und die Langlebigkeit der hier gebauten Materie stellen den heutigen amerikanischen XXL-Lebensstil drastisch infrage und bieten eine nicht nur lokale Antwort auf die globale Klimakrise.

[ „Richard Neutra. Wohnhäuser für Kalifornien“, Wien-Museum Musa, Felderstraße 6–8, 1010 Wien. Bis 20. September 2020 ]

Der Standard, Sa., 2020.02.15

18. Januar 2020Wojciech Czaja
Der Standard

Kinder des Kletterns

Wann wurde der Spielplatz erfunden? Wie hat sich dessen Architektur im Laufe der Zeit verändert? Warum schauen heute alle Spielgeräte gleich aus? Die Ausstellung „The Playground Project“ widmet sich diesem zu wenig beachteten Kulturthema.

Wann wurde der Spielplatz erfunden? Wie hat sich dessen Architektur im Laufe der Zeit verändert? Warum schauen heute alle Spielgeräte gleich aus? Die Ausstellung „The Playground Project“ widmet sich diesem zu wenig beachteten Kulturthema.

Eine Höhle, eine Raumkapsel, ein kleiner Piratenschlupfwinkel: „Diese Volumina“, schreibt Xavier de la Salle, „sollten keine Abfolge von Raumkörpern mit festgelegten Funktionen sein, sondern eigenständige Räume mit einer eigenen plastischen und ästhetischen Wirkung. Da ihnen keine Gebrauchsanweisung beigefügt war, konnten die Kinder sie nutzen, wie sie wollten, entweder um sich zu bewegen oder unter dem Gesichtspunkt von Imagination und Projektion.“ Und manchmal, erinnert sich der französische Maler und Bildhauer zurück, wurden die Räume nicht nur von Kindern genutzt, sondern „zu anderen Stunden“ auch von Erwachsenen.

Gemeinsam mit dem polnischen Architekten Simon Koszel und dem britischen Designer David Roditi gründet Xavier de la Salle 1967 die Group Ludic. Die interdisziplinäre Truppe beschäftigt sich mit der Planung und Errichtung von Spielskulpturen aus Polyurethan und Polyester. Die weißen und bunten Kunststoffkugeln balancieren meist auf bekletterbaren Stahlkonstruktionen. Auf diese Weise entstehen Spielplätze in Paris, Le Havre, Biarritz, Korsika, Rotterdam, Eindhoven, Den Haag sowie in diversen französischen Feriencamps. 1969 wird eine solche Spielskulptur auch im Quartier de la Chapelle im Norden von Paris (Foto rechts) in Betrieb genommen.

„Das echte Terrain bestand für uns aus schwierigen Quartieren und Schlafstädten, aus Städten, wo das lebendige Straßentreiben dem Monofunktionalismus geopfert worden war, den viele Planer im Namen der Charta von Athen stumpfsinnig umgesetzt haben“, sagt de la Salle. „Es ging uns darum, in den Raum einzugreifen, um die Art, wie man ihn konstruiert, besetzt und für Kinder zugänglich macht. Dabei wurde das Warum zu einer der entscheidenden Komponenten – egal ob es um Bildung, Entwicklung, Erziehung, Wohlbefinden, Komfort, Entdecken oder etwas anderes ging.“

Spielplätze als kreatives Labor

Genau dieser in der Architekturdiskussion bislang wenig beachteten Thematik widmet sich die Wanderausstellung The Playground Project, die derzeit im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main haltmacht. „Zwischen 1950 und 1980 war der Spielplatz ein kreatives Labor, es gab eine sehr aktive Spielplatzbewegung, und in den Städten der Industrienationen sind viele innovative und verrückte Projekte entstanden, an denen sich Architekten, Künstlerinnen, Landschaftsarchitekten, aber auch Bürger, Aktivisten und Pädagoginnen beteiligt haben“, sagt die Kuratorin, Raumplanerin und Politikwissenschafterin Gabriela Burkhalter.

Die Bandbreite an Spielplätzen aus dieser Ära, das zeigt der fast 300-seitige Ausstellungskatalog mehr als deutlich, reicht vom naturbelassenen Robinson-Abenteuerspielplatz über mond- und kapselartige Zitate auf Raumfahrt, Futurismus und Metabolismus bis hin zu aktionistischen Interventionen, die auf semichoreografierte Weise Open-Air-Bühnenbilder mit dem spielenden Kind im Mittelpunkt in Szene setzten. Die Projekte der deutschen Gruppe KEKS (Kunst, Erziehung, Kybernetik, Soziologie), die in der Ausstellung dokumentiert sind, machen neidisch. Man will noch einmal Kind sein.

„Es war eine tolle, lebendige, mit vielen Konventionen brechende Zeit, in der vor allem die mitteleuropäische Architektenschaft ein neues Betätigungsfeld für sich entdeckt hat“, so Burkhalter. „Die Typologie war nicht nur eine Spielwiese für Kinder, sondern auch für planende Erwachsene, die hier ihre ersten beruflichen Gehversuche gemacht haben und zu einem Experimentierthema beigetragen haben.“ Oft schlossen sich Künstler, Museen und industrielle Betriebe dieser Bewegung an. Eines der populärsten Beispiele ist der orangefarbene Lozzi-Wurm (in Anlehnung an den Erfinder und Künstler Yvan Pestalozzi, Foto Mitte), der in Serienproduktion ging und die Schweiz eroberte.

Ersatz für Wald und Wiese

Doch die Ursprünge des Spielplatzes liegen viel weiter zurück. Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts die zunehmende Industrialisierung in Deutschland, Großbritannien und Nordamerika das Grün aus der Stadt mehr und mehr verdrängte, suchten Privatpersonen und Philanthropen nach einem möglichen Ersatz für Wald und Wiese und schufen so die ersten urbanen Sandspielflächen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs entwickelte sich die städtische Spielkultur rasant und gipfelte um 1910 in ausladenden, oft abenteuerlich hohen Holzkonstruktionen.

Ob Industrialisierung, Arbeiterbewegung, zerbombte und kriegszerstörte Innenstädte, die Sehnsucht nach einem neuen Heimatgefühl in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die sozialen Reformen in den Sechzigern oder der ungebremste Traum der Eroberung der Zukunft und des Weltalls: All diese gesellschaftlichen und politischen Tendenzen schlugen sich in formaler, stilistischer und nicht zuletzt pädagogischer Hinsicht in der Gestaltung von Spielplätzen nieder. Anfang der Achtzigerjahre jedoch ändert sich die Situation schlagartig.

„1980 beginnt in den USA die große Haftungsfrage und verändert damit die gesamte Gesellschaft“, sagt Burkhalter. „Plötzlich geht es nicht mehr um den sozialen, körperlichen, pädagogischen Wert von Spielorten, sondern darum, ob die Fallhöhe eingehalten ist und sich das Kind den Kopf einklemmen kann oder nicht. Von da an bestimmen jene Firmen den Markt, deren standardisierte Produkte die strengen Normen und Vorschriften erfüllen.“ Der Verlust ist unwiederbringlich. In der zunehmenden Konsum- und Digitalisierungsgesellschaft in der physische Bewegung und soziale Interaktion bedrohte Werte geworden sind, ist der Bedarf nach dem klassischen Spielplatz als drittem Pädagogen größer denn je.

[ Die Ausstellung „The Playground Project“ im DAM in Frankfurt am Main ist noch bis 21. Juni 2020 zu sehen. ]

Der Standard, Sa., 2020.01.18

03. Januar 2020Wojciech Czaja
Der Standard

„Es wird vollg’stopft und vollg’stopft“

Sigrid Horn ist Sängerin. Mit dem Bauen hat sie nichts am Hut. Stattdessen beobachtet sie die Zersiedelung und Verhüttelung und versingt das Ganze zum Protestlied „Baun“. Eine Kampfansage und ein Wunschkatalog für 2020.

Sigrid Horn ist Sängerin. Mit dem Bauen hat sie nichts am Hut. Stattdessen beobachtet sie die Zersiedelung und Verhüttelung und versingt das Ganze zum Protestlied „Baun“. Eine Kampfansage und ein Wunschkatalog für 2020.

Standard: Vor einem Jahr haben Sie beim FM4-Protestsongcontest erstmals das Lied „Baun“ gesungen. Wissen Sie, wie oft darin das Wort Baun zu hören ist?

Horn: Keine Ahnung.

Standard: Insgesamt 119-mal.

Horn: Echt jetzt? Oh, mein Gott! Viel zu oft. So sehr zu oft, wie wir zu viel baun.

Standard: Haben Sie schon einmal gebaut?

Horn: Als Kind hab ich gern Sandburgen gebaut, am liebsten mit diesem nassen, batzigen Sand, wo man mit einer Hand runtertröpfelnde Stalagmiten baun konnte, herrlich! Das waren dann die sogenannten Batzlburgen. In den letzten Jahren hab ich immer wieder mal ein Zelt aufgebaut. Das fühlt sich manchmal an, als würd man ein Eigenheim baun. Für manche Menschen ist es das leider auch. Am liebsten aber bau ich Luftschlösser.

Standard: Sie sind im Mostviertel geboren und aufgewachsen. Inwiefern hat Sie Ihre Wohn- und Lebensumgebung geprägt?

Horn: Das Ybbstal ist eine echt wunderschöne Gegend! Aber mittlerweile sind alle Wiesn, wo ich als Kind g’spielt hab, auch die verwunschene Sumpfwiesn mit den Sumpfdotterblumen vorm Wald, Eigenheimsiedlungen geworden. Eh klar, die Leut wollen irgendwo z’haus sein. Stattdessen setzen s’ den Kindergarten zwischen Friedhof und Fernwärme, weil sich niemand was denkt dabei, und die Landschaft wird mehr und mehr verkreisverkehrt und verhüttelt mit Tankstellen, Drogeriemärkten und Fastfoodketten.

Standard: In Ihrem Song kritisieren Sie genau das – die Flächenwidmung, fehlende Raumplanung, die Zersiedelung der Landschaft. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Horn: Der Bauer will die Flächen umwidmen, weil der Anbau unrentabel geworden ist und weil er mit seinem Acker mehr Geld verdienen kann, wenn er es als Bauland verkauft. Dann gibt’s den Shoppingcenterbetreiber, der sagt, dass er Arbeitsplätze schaffen will, aber eigentlich nur daran interessiert ist, fette Mieteinnahmen zu haben. Und dann gibt’s den Bürgermeister, der mehr Menschen anlocken will, um seine Steuereinnahmen zu erhöhen, und der immer nur Ja sagt zu allen eing’reichten Häusln, um ja keinen Freund vorn Kopf zu stoßen, um ja die nächste Wahl nicht zu verlieren. Und so hat jeder sein partikulares Eigeninteresse.

Standard: Wie kommen wir aus dieser Spirale wieder raus?

Horn: Das fragen S’ ausgerechnet mich! Jedenfalls ist das ein total brennendes Thema am Land, und es brennt unter den Fingernägeln! Die Leut in den Dörfern haben’s kapiert, und es fuckt sie so richtig an, weil ihnen die Lebensqualität und die Naherholungsräume weggenommen werden. Wie g’sagt: Beim Realisieren seiner eigenen Partikularinteressen denkt keiner an die Folgen. Wie soll er auch? Woher sollen Bürgermeister und Beamte das wissen? Es gibt zwar Leut, die haben Visionen und kennen sich aus, keine Frage, aber die meisten sind mit Stadt- und Raumplanung heillos überfordert. Es braucht ein Gesamtkonzept. Die ganze Organisationsstruktur g’hört dringend umgebaut.

Standard: Wo ansetzen?

Horn: Beim Reden und Zuhören. Für alles auf dieser Welt gibt’s eine Ausbildung. Und für fast alles in Österreich brauchst einen Gewerbeschein. Aber dafür, wie wir mit unserer Natur und gebauten Umwelt umgehen, gibt’s in der Politik keinerlei Training – und leider auch zu wenig Beratung.

Standard: Ein großes Triebmittel für die Verhüttelung ist der Konsum. Wir stehen hier auf einem Kreisverkehr im Gewerbegebiet Stadlau. Wie sehr kann man diesen Reizen heute überhaupt noch widerstehen?

Horn: Gar nicht, fürcht ich. Ein jeder hat seinen Keller, damit er ihn vollräumen kann mit Glumpert, das er net braucht, und es wird vollg’stopft und vollg’stopft und vollg’stopft. Und auch ohne Glumpertsucht entkommst du den Gewerbegebieten und Konsumtempeln kaum, weil die meisten Dörfer am Land schon ausgestorben und die G’schäftln längst weggezogen sind. Und am Ende sperrt dann auch noch die Dorftankstelle zu, die Post, Greißler und Packerlabholstation in einem war.

Standard: Wie haben denn Bürgermeister, Behörden und Fachleute auf Ihren Song reagiert?

Horn: In der Raumplanungscommunity – ja, die gibt es wirklich! – ist das Lied ziemlich eing’schlagen. Es gibt sogar eine Architekturprofessorin, die den Song seitdem immer in ihrer ersten Vorlesung vorspielt. Sie meinte: „Du sprichst uns allen aus der Seele! Das sagen wir schon seit Jahren, aber den Architekten und Raumplanerinnen hört die Politik einfach nicht zu.“

Standard: Gibt es nationale oder internationale Beispiele, wo die öffentliche Hand das Ganze besser im Griff hat?

Horn: Mir sind keine bekannt. Eigentlich furchtbar, oder?

Standard: 2015 hat der deutsche Stadtplaner Daniel Fuhrhop ein Buch unter dem Titel „Verbietet dasBauen“ geschrieben. Die Stadt Velden hat 2016 eine zweijährige Bausperre über das Wörthersee-Ufer verhängt. Und die Niederlande haben vor einigen Jahren eine Gesamtinventur über leerstehende Baudenkmäler im ganzen Land gemacht. Ist das ein möglicher Weg?

Horn: Sehr coole Beispiele! Das macht Hoffnung! Eine Bausperre oder ein Buch mit so einem provokanten Titel sind auf jeden Fall mal der richtige Weg, um den Menschen die Augen zu öffnen. Ich sing im Lied: „Und se baun imma hecha, se widmen imma schnölla. Wo vorher a Wiesn woa, steht auf amoi a Kölla. Planiert is planiert und wird scho betoniert.“ Aber das Problem ist in Wahrheit noch viel größer. Ich persönlich bin ehrlich g’sagt am Verzweifeln, weil ich mich frag: Wann wachen wir endlich auf? Wann reißen wir endlich die Augen auf und werden uns dieses Wahnsinns bewusst, den wir da produzieren!

Standard: Zum Jahresbeginn können Sie sich etwas wünschen.

Horn: Zeit wird’s. Es brennt eh schon.

Standard: Wie lautet Ihr Appell an die Bauwirtschaft?

Horn: Weniger und nachhaltiger bauen!

Standard: Ihr Appell an die Politik?

Horn: Klare Regelungen schaffen und ein Supportsystem für die Entscheidungsträgerinnen am Land einführen!

Standard: Ihr Appell an die Bürgermeister?

Horn: Sich informieren und sich nicht so leicht von persönlichen Anliegen und Partikularinteressen verlocken lassen!

Standard: Ihr Appell an die Raumplanung?

Horn: Offensiver in die Öffentlichkeit hinausgehen und ihr Wissen breiter streuen!

Standard: Appell an die Architektinnen?

Horn: Günstiger werden, weniger g’scheit daherreden, damit sich mehr Leut einen Architekten leisten können und leisten wollen!

Standard: Appell an die Häuslbauer?

Horn: Sich genauer überlegen, wie viel Platz man wirklich braucht, und dringend damit aufhören, die Häusln mit Sondermüll zu dämmen!

Standard: Appell an uns alle?

Horn: Beteiligt euch alle am Diskurs!

Standard: Worum wird’s im neuen Album gehen?

Horn: Klimawandel bleibt ein Thema.

[ Sigrid Horn, Jg. 1990, studierte Musik und Spanisch und ist seit ihrem 16. Lebensjahr als Sängerin tätig. Im März erscheint ihr neues Album „I bleib do“. Liverelease am 29. Februar in der Elbphilharmonie Hamburg sowie am 18. März im Rabenhof-Theater in Wien. ]

Der Standard, Fr., 2020.01.03

21. Dezember 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Griechenland im Burgenland

Architektur mal anders: In der Nähe von Oberpullendorf verwirklichte sich Franz Schubaschitz, seines Zeichens Bankbeamter, ein Vierteljahrhundert lang seinen Traum von der Antike. Ein Besuch in Steinberg-Dörfl.

Architektur mal anders: In der Nähe von Oberpullendorf verwirklichte sich Franz Schubaschitz, seines Zeichens Bankbeamter, ein Vierteljahrhundert lang seinen Traum von der Antike. Ein Besuch in Steinberg-Dörfl.

Man achte stets, sagte er, auf das richtige Verhältnis von Weißzement und Quarzsand. Man gieße den solcherart angemischten Beton in die selbstgebaute Negativgussform aus Kautschuk. Und dann, der wichtigste Schritt von allen, rüttle man die noch zähflüssige Masse so lange durch, bis alle Luftbläschen für immer entwichen sind. „Mit den Jahren“, so der Tempelbauer, „bin ich zur absoluten Erkenntnis gelangt, dass die Schönheit allein Rechtfertigung und Vorschlag genug ist, schön zu bauen.“

Das Resultat dieses 25 Jahre andauernden Schönheitsprozesses steht nicht auf Korfu, nicht in einem Wald in der Nähe von Thessaloniki, sondern mitten im Burgenland. In Steinberg-Dörfl, um genau zu sein, fünf Autominuten von Oberpullendorf entfernt. Und der Herr mit der gelben Kappe und den kräftigen, von jahrzehntelanger Arbeit gestärkten Unterarmen ist kein Architekt, kein Baumeister, kein Antike-Spezialist, sondern ein Lebensmittelkaufmann und Bankbeamter, Franz Schubaschitz sein Name, oder auch Schubaschitz-Franzl, wie sie alle im Dörfl sagten, der sich an einem helllichten Tage Anfang der Siebzigerjahre in den Kopf gesetzt hatte, einen Tempel zu errichten, und sich von diesem geplanten Wahnsinn bis zu seinem 80. Lebensjahr nicht mehr abbringen ließ.

„Wie viele andere auch habe ich ursprünglich ein Wohnhaus im herkömmlichen Sinne bauen wollen“, sagte Schubaschitz zu Lebzeiten in einem ORF-Dokumentarfilm aus der Reihe Unterwegs inÖsterreich, ausgestrahlt anno 1981. „Über die Zeit hinweg jedoch habe ich einen anderen Begriff von Schönheit erfahren, bin gewissermaßen auf den griechischen Baustil gestoßen und bin jetzt bestrebt, die Anlage mehr oder weniger originalgetreu auszuführen. Es sind ja Vorbilder zu Genüge vorhanden.“

Schubaschitz studierte die Wiener Börse, das Parlament, den Theseustempel im Volksgarten und entwickelte sich nach und nach zum Fan des Klassizismus-Architekten Theophil von Hansen. Noch lange vor Internet, Photoshop und all den heute nicht mehr wegzudenkenden CAD-Programmen stöberte er in Büchern über die griechische Antike und sammelte Zettel für Zettel Vorlagen für seine Friese, Plinthen, Voluten, Eierstäbe, Zahnschnitte, Metopen und Triglyphe zusammen. Die Muster für seine mal ionischen, mal korinthischen Kapitelle wurden im Kopierer so lange vergrößert, bis die richtige Dimension für einen ersten Rohling erreicht war.

„Unser Vater war in seinem Leben kein einziges Mal in Griechenland“, erzählen seine Tochter Eva-Sabine Stieber (57) und sein Sohn Klaus Schubaschitz (54), die in ihrer Kindheit und Jugend beim Mauern und Betonmischen mithalfen. „Und doch hat er sich so viel Sensibilität und Wissen über die Materie angeeignet, dass er in der Lage war, so ein Projekt zu stemmen.“ Dazu zählten auch regelmäßige Besuche des Theseustempels. „Eines Tages“, erinnern sich seine beiden Kinder, „war der Tempel eingerüstet, und der Vater war entsetzt, weil er plötzlich keinen Zugang mehr zu seinem Lieblingsgebäude hatte.“

Begonnen hat das burgenländische Epos mit dem Bau eines Einfamilienhauses an der Oberen Hauptstraße 162. Nachdem Schubaschitz nach 15 Jahren Baustelle durch das Stiegenhausloch zehn Meter in die Tiefe stürzte und fortan an auf den Gehstock angewiesen war, ließ er den halbfertigen Rohbau stehen und wich in den Garten aus. Die nächsten 25 Jahre widmete er dem Bau von mehreren griechischen Tempeln, die heute wie verwunschene Zeitzeugen in einem auch von ihm gepflanzten Nadelwäldchen zwischen moosbewachsenen Felsbrocken herumstehen. Eine Mischung aus Staunen und Entsetzen, aus Gänsehaut und Grinsen.

„Genau aus diesem Grund“, sagt Günter Renner, gebürtiger Steinberg-Dörfler, „habe ich der Familie Schubaschitz vor einigen Jahren das Grundstück abgekauft. Über die Sinnhaftigkeit dieser Anlage kann man denken, wie man will. Aber die Liebe, die Leidenschaft, diese Perfektion zum Detail ist wirklich atemberaubend. Ich wohne ein paar Grundstücke weiter, und der Tempelgarten ist unser Kraftort, an dem wir, aber auch unsere Apartment-Mieter und Seminargäste schöne Frühlings-, Sommer- und Herbsttage im Freien verbringen können.“

Sogar der österreichische Architekt Friedrich Kurrent, anno dazumal Professor an der TU München, attestiert dem Werk des 2015 verstorbenen, vielleicht wahnsinnigen, vielleicht geniehaften Tempelbauers ohne jeden Zweifel baukünstlerische Qualitäten: „Es geht um den Zwang, um ein gewisses Ordnungsgefüge, um die Millimeter-Details im Verhältnis zum großen Ganzen. Und hier kommt Franz Schubaschitz mit allen Fragen in Berührung, die für einen Karl Friedrich Schinkel nicht minder wichtig waren.“

Der Standard, Sa., 2019.12.21

19. November 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Gustav Peichl 1928–2019

In den Medien trat er als Zeichner „Ironimus“ auf, in seinem Hauptberuf prägte er die österreichische Baukultur des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer. Am Sonntag ist der Architekt des kleinen Maßstabs in Wien gestorben.

In den Medien trat er als Zeichner „Ironimus“ auf, in seinem Hauptberuf prägte er die österreichische Baukultur des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer. Am Sonntag ist der Architekt des kleinen Maßstabs in Wien gestorben.

I ch bin eine Art Pausenclown, und immer wenn ich den Mund aufmache, steht das sofort irgendwo in der Zeitung“, sagte Gustav Peichl einmal in einem Interview mit dem STANDARD. „Tatsächlich ist Ironie ein wichtiger Bestandteil der Architektur. Ironie ist mein Hang und Drang. Und am meisten taugt es mir, wenn meine Häuser Nicknames verpasst bekommen. Ich freue mich über jeden Spitznamen.“ Am Sonntag ist der Pausenclown, leidenschaftliche Karikaturist („Ironimus“) und Erbauer der Fledermaus-Schule, des Messe-Chamäleons und der vielen Peichl- und Bacher-Torten im Alter von 91 Jahren im Kreise seiner Familie in seinem Erstlingswerk in Wien-Grinzing verstorben.

Peichl, der am 18. März 1928 in Wien geboren wurde, die Bundesgewerbeschule in Wien-Mödling besuchte und zu Beginn als technischer Zeichner im Stadtbauamt in Mährisch-Trübau (heute Moravská Třebová) arbeitete, prägte die Architektur der Sechziger- und Siebzigerjahre auf eine Art und Weise wie kein anderer. Während seine Lehrer und Wegbegleiter wie etwa Clemens Holzmeister, Roland Rainer, Hans Hollein, Wilhelm Holzbauer und der Künstler Walter Pichler dem Großen, dem Futuristischen, dem Megalomanischen frönten, interessierte sich Peichl stets für den kleinen Maßstab, scheute sich nicht davor zurück, klein zu sein und winzige Türen und Fenster in seine Bauten zu setzen.

„Heutzutage ist alles viel zu groß und viel zu unproportioniert. Ich kann mit diesen großen Sachen nichts anfangen. Ich will für den Menschen bauen und nicht für irgendwelche technokratischen Machenschaften“, so Peichl. Die von ihm geplanten ORF-Studios in Eisenstadt, Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck und Dornbirn (1969–1982), die aufgrund der runden Form oft auch als Torten für den ehemaligen ORF-Generalintendanten Gerd Bacher bezeichnet wurden, wirken heute immer noch ansprechend und modern. Kurze Wege, Wohlbefinden und Funktionalität bis zum letzten Millimeter waren die Prämissen seiner Arbeit.

Während eine kleine Volksschule auf dem Wienerberg aufgrund ihrer ungewöhnlichen Hauptfassade von den Schülern den Spitznamen „Fledermausschule“ verpasst bekam, lag dem Grundriss des neuen Messegebäudes im Wiener Prater ein langgestrecktes Chamäleon zugrunde. Der niedrige, gedrungene Turm mit Zipfelmütze daneben ist jedem Wiener ein Begriff. Es folgten der Zubau zum Frankfurter Städelmuseum (1991), die Bundeskunsthalle in Bonn (1992), der Wiener Millennium-Tower (1999, in Kooperation mit Boris Podrecca und Rudolf Weber), das Probengebäude der Münchner Kammerspiele (2001), das Karikaturmuseum Krems (2001) sowie ein paar wenige Wohn- und Bürobauten in Wien und Berlin, die jedoch längst nicht mehr die hohe Qualität von Peichls Frühwerk erreichten.

Mehr als auf die Architektur, scheint es, konzentrierte sich Peichl, dessen Büro direkt neben der Staatsoper lag, zuweilen auf das Zeichnen, auf das karikierende Kommentieren der Landes- und Bundespolitik. Als „Ironimus“ fertigte er viele Jahrzehnte lang Karikaturen für Die Presse und die Süddeutsche Zeitung an – oft täglich. „Er hat uns Innenpolitikjournalisten eigentlich überflüssig gemacht“, sagte Presse-Chefredakteur Rainer Nowak einmal in einer Laudatio. „Wenn man seine gezeichneten Bilder betrachtet, versteht man die Geschichte dazu.“ Unvergessen seine Karikaturen über Sinowatz, Waldheim und Kirchschläger, Schüssel, Klima oder Vranitzky, die er mit Liebe auf die Schaufel nahm.

Hobby als Zweitberuf

„Ich bin ein zeichnender Journalist. Bei mir kommt alles direkt vom Hirn über die Hand in die Zeichnung“, so Peichl, der bis zuletzt die Arbeit am Computer verweigerte und der sich selbst als Doppelgänger zwischen Bauen und Zeichnen bezeichnete. „Die Karikaturen waren ein Hobby, und erst im Laufe der Zeit ist das Hobby zum Zweitberuf geworden. Und der Peichl zum Ironimus.“

Das liebste Utensil war ihm immer der Bleistift, der mit der Zeit immer zittriger gezogen wurde. „Eine Zeichnung gibt Anregung, wie der Entwurf weitergehen soll. Das kann ein Computerbild gar nicht. Heute zeichnet ja niemand mehr. Die sind alle per Mausklick unterwegs.“ Als Schutz der Zeichnung führte die Akademie der bildenden Künste 2014 den Gustav-Peichl-Preis für Architekturzeichnung ein. „Wissen Sie, eitel wie ich bin, gefällt mir das meiste, was ich bisher fabriziert habe, im Großen und Ganzen sehr gut“, erzähle Gustav Peichl an seinem 85. Geburtstag im Gespräch. „Aber wirklich zufrieden bin ich nie. Ich wünsche mir, dass der Architektur generell mehr Respekt entgegengebracht wird, als das heute der Fall ist.“ Der Wunsch hat über seinen Tod hinaus Gültigkeit.

Der Standard, Di., 2019.11.19

16. November 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Auf der Suche nach dem Rot im Himmelblau

Vergangene Woche wurde nach 15 Jahren Pause der erste neue Wiener Gemeindebau fertiggestellt. Wie viel hat der Barbara-Prammer-Hof in Oberlaa mit der einstigen Idee des Roten Wien zu tun? Ein Besuch vor Ort.

Vergangene Woche wurde nach 15 Jahren Pause der erste neue Wiener Gemeindebau fertiggestellt. Wie viel hat der Barbara-Prammer-Hof in Oberlaa mit der einstigen Idee des Roten Wien zu tun? Ein Besuch vor Ort.

Eine Wohnung im zweiten Stock, durch das Küchenfenster am Laubengang dringen Licht und Bohrmaschinengeräusche nach außen. „Ein Reporter also? Das heißt, ich komme in die Zeitung? Na dann kommen Sie herein und machen Sie es sich bequem!“ Željka Mašin, gebürtige Kroatin, ist vor einer Woche eingezogen. Ihr Handwerker, ein Kollege ihres Sohnes, montiert gerade die Oberschränke in der Küche. „Das Haus gefällt mir super“, sagt die 63-jährige Reinigungskraft, „es ist ruhig und so hellblau angemalt, da kann man schlafen wie ein Baby. Vor allem aber ist die Miete billig. Ich zahle 265 Euro für 35 Quadratmeter. Das ist echt okay.“

Mašin ist eine der ersten Bewohnerinnen, die nach 15 Jahren kommunaler Bautätigkeitspause in Wien letzte Woche wieder einen Schlüssel in eine neu errichtete Gemeindewohnung in die Hand gedrückt bekommen hat. Ihre Adresse: Fontanastraße 3, ein paar Gehminuten von der U1-Endstation Oberlaa entfernt. Wie bei den meisten Gemeindebauten des Roten Wien handelt es sich auch hier nicht bloß um ein Wohnhaus, sondern um einen Hof, der nach einer österreichischen Persönlichkeit benannt ist, in diesem Fall nach der 2014 verstorbenen Nationalratspräsidentin Barbara Prammer. Und wie schon damals prangen große rote Lettern über dem Eingang.

Der erste Gemeindebau in der Geschichte Wiens, der Metzleinstaler Hof in Margareten, wurde kurz nach dem Ersten Weltkrieg 1923 von Robert Kalesa und Hubert Gessner fertiggestellt. Der letzte Gemeindebau wurde 2004 in Liesing an seine Mieter übergeben. Von da an deckte die Stadt Wien ihren Bedarf an leistbaren Wohnungen für die breite Masse über die gemeinnützigen Bauträger ab. 2015 kündigte der damalige Bürgermeister Michael Häupl an, den Gemeindebau wieder zum Leben erwecken zu wollen. Die Gemeindewohnungen sind als Ergänzung zu den geförderten Bauträgerwohnungen gedacht – mit dem Unterschied jedoch, dass die Wohnungen im Eigentum der Stadt verbleiben und dass sich die Mieter dadurch den Eigenmittelanteil sparen, der bei manchen Bauträgerprojekten je nach Lage und Wohnungsgröße mitunter auf bis zu 40.000 Euro hochklettern kann.

„So viel? Ich glaube, das hätten wir uns nicht leisten können“, sagt eine Frau, die mit Mann und Tochter im dritten Stock wohnt und aus beruflichen Gründen anonym bleiben möchte. „Wir haben uns schon vor langer Zeit bei Wiener Wohnen um eine geförderte Wohnung beworben. Aufgrund unseres Haushaltseinkommens haben wir ganz gut ins Schema für den Gemeindebau gepasst. Wir zahlen knapp 620 Euro für 83 Quadratmeter. Die Wohnung ist extrem hell, und wir haben sogar eine Loggia und Terrasse.“ Aus ihrem Wohnzimmer blickt man in einen der drei Innenhöfe, um die herum die Anlage mit ihren insgesamt 120 Wohnungen gruppiert ist.

Wie viel Gemeinde im Bau?

„Mit circa 1350 Euro Baukosten pro Quadratmeter haben wir hier am denkbar untersten Budgetlimit gebaut“, sagt Saša Bradiæ, Partner im Wiener Büro NMPB Architekten. „Mehr als eine konventionelle Bauweise mit Stahlbeton, Wärmedämmung und Putzfassade ist da nicht drin. Das architektonische Spiel beschränkt sich auf das Himmelblau und auf ein paar Gestaltungsmittel wie etwa Fensterfaschen und schlossermäßige Balkongeländer.“ Nichts von alledem ist von umwerfender architektonischer Raffinesse, aber es zeugt von einer sozialen Sensibilität, dass NMPB die Energie nicht in technische Leitdetails hineinbutterte, sondern auf ein paar schöne Ideen wie etwa das gläserne Foyer und die drei Innenhöfe mit Parkbänken und Hochbeeten konzentrierte.

Für zwei Kunst-am-Bau-Projekte hat das Geld noch gereicht. Ingeborg Kumpfmüller steuerte eine baulich billige, aber visuell wirksame Arbeit bei, indem sie die Eingangsbereiche verflieste und mit Wortfragmenten aus dem Bereich der sozialen Nachhaltigkeit aufwertete: Erlebnis, Begegnung, Kommunikation, Gemeinschaft und Nachbarschaft. Und der italienische Keramikkünstler Elio Macoritto, ein Wunschkandidat der Stadt Wien, klatschte im Foyer eine feuerrote Hymne an Barbara Prammer von so unterirdischer Qualität an die Wand, dass man anfangen möchte, dem echten Roten Wien nachzuweinen.

Spätestens an dieser Stelle fragt man sich, während man an den Karl-Marx-Hof, an den Reumannhof, an den Sandleitenhof und an all die anderen expressionistischen Glanzlichter der Zwanziger- und Dreißigerjahre denkt, wie viel Gemeindebau im neuen Gemeindebau wirklich drinsteckt. „Ich sehe im Gemeindebau neu einen weiteren Mosaikstein am Wohnungsmarkt, der sich nicht maßgeblich vom bisherigen geförderten Wohnbau unterscheidet, dafür aber an eine spezielle Klientel gerichtet ist – und zwar unbefristet, kautionsfrei, komplett ohne Eigenmittel, und das alles um monatlich 7,50 brutto pro m2“, sagt Ewald Kirschner, Vorstandsdirektor der Gesiba und Geschäftsführer der neu gegründeten Wigeba, einer 100-prozentigen Tochter von Wiener Wohnen und Wien Holding.

Fazit: Mit der einzigartigen Gemeindebaukultur des vorigen Jahrhunderts teilt der neue Gemeindebau bestenfalls seinen Namen. Und seine roten Buchstaben über dem Portal. Ein Bekenntnis zum sozialen Gesamtkunstwerk wie anno dazumal wird man vergeblich suchen. Doch in Zeiten exorbitant steigender Wohnkosten, in denen sich die Einkommensschwächeren nicht einmal mehr den klassischen geförderten Wohnbau leisten können, ist der Gemeindebau neu immerhin ein Bekenntnis zum wirklich billigen Bauen – ganz okay und ohne jeden themenprogrammatischen Firlefanz. Die jungen Bewohner des Barbara-Prammer-Hofs wissen dieses Angebot zu schätzen. Mehr braucht es auch nicht.

Der Standard, Sa., 2019.11.16



verknüpfte Bauwerke
Barbara-Prammer-Hof

09. November 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Haus für Pegasus und Josephine

Gestern, Freitag, wurde der Österreichische Bauherrenpreis 2019 vergeben. Gewürdigt wurden dabei der Mut und die Bestellqualität der Auftraggeber. Einer der Preise ging an einen Wagyu-Stall im Hausruck.

Gestern, Freitag, wurde der Österreichische Bauherrenpreis 2019 vergeben. Gewürdigt wurden dabei der Mut und die Bestellqualität der Auftraggeber. Einer der Preise ging an einen Wagyu-Stall im Hausruck.

Pegasus, freches G’schau, sechs Monate alt, jüngster Überflieger in der Kolonie, spaziert gemütlich durch die matschige Wiese, die Hügelkuppe ist seit den frühen Morgenstunden in eine feuchte Nebelsuppe getaucht, ändert nach ein paar Schritten seine Richtung, steuert schließlich schnurstracks auf seinen Bauern zu, auf den Reindl-Hubert, wie alle im Ort sagen, und auf den Journalisten, der mit Diktiergerät gewappnet direkt neben ihm steht, um dann, plötzlich, wie einen dritten Flügel seine neugierige Zunge durchs Gatter zu strecken und genüsslich das technische Gerät abzuschlecken. Wagyu-Rinder, erste Lektion an diesem Morgen, haben eine ewig lange, anthrazitgraue Zunge.

„Das ist eine der Besonderheiten dieser Rasse“, sagt Hubert Huemer. „Denn Wagyu-Rinder sind eine sehr alte Rasse, die in Japan über viele Jahrhunderte hinweg kaum gekreuzt wurden. Aus diesem Grund konnten sich einige physische Eigenschaften wie der schlanke Körperbau und das schwarze, flauschig glatte Fell erhalten.“ Vor allem aber ist das Japanische Schwarzrind, so der offizielle Name dieser Unterrasse, für sein fettes, reichlich marmoriertes Fleisch bekannt. In Japan werden die Filetsteaks der Kobe-Luxusrinder um bis zu 600 Euro pro Kilo gehandelt.

„Davon sind wir weit entfernt“, sagt der Nebenerwerbsbauer, der den Hof gemeinsam mit seiner Frau Diana und seinen sieben Kindern bewirtschaftet, „aber mit einem Kilogrammpreis von 229 Euro ab Hof ist das Filet auch bei uns kein Schnäppchen. Jedenfalls, wenn wir schon so ein hochwertiges Produkt halten und verkaufen, dann muss auch das Drumherum stimmen – und zwar nicht nur für die Kunden, die uns hier in Atzbach besuchen, sondern auch für uns selbst und nicht zuletzt für die Kühe.“ Eine goldrichtige Entscheidung. Gestern, Freitag, wurde der außergewöhnliche Stall als eines von insgesamt sechs Projekten im Architekturhaus Kärnten, Klagenfurt, mit dem Österreichischen Bauherrenpreis 2019 ausgezeichnet.

2010 kam mit Josephine, heute zehn Jahre alt, die erste Wagyu-Kuh auf den Hof. In der Zwischenzeit ist die japanische Rindertruppe auf gut 40 Stück angewachsen. Für genau diese Anzahl entwarf der Wiener Architekt Herbert Schrattenecker, eine Empfehlung von Freunden aus dem Hausruck-Kreis, letztes Jahr einen Stall, der dem noblen Vieh alle Ehre erweisen sollte. Schratteneckers Antwort auf die Bauaufgabe ist ein rund 25 mal 15 Meter großes und acht Meter hohes Stabwerk aus massiver Fichte, das in seiner außergewöhnlichen Konstruktionsweise die Charakteristika von japanischem Holzbau und historischen Dachstühlen aus dem Sakralbau, wie sie in Oberösterreich immer wieder zu finden sind, in sich vereint.

„Ich habe schon einige historische Kirchen in der Gegend saniert und habe mittlerweile eine große Expertise in dieser Holzbauweise“, sagt der Architekt. „Außerdem war mir wichtig, in Anlehnung an die Herkunft der Tiere, die japanische Holzbautradition in das Gebäude einfließen zu lassen.“ Aus diesem Grund besteht das Erdgeschoß wie in Japan aus vertikalen Stützen mit horizontalen Zangen ohne aussteifende Diagonalbalken, während die Heu- und Strohbühne im Obergeschoß in Dreiecke und aufgeklappte Vordächer aufgelöst ist und somit die europäische Holzbaukultur abbildet.

„Im Gegensatz zu den meisten Holzkonstruktionen, die heute aus industriellen Leimbindern gefertigt werden, haben wir hier bis zu neun Meter lange Vollholzbalken verwendet“, so Schrattenecker. Bis auf wenige ingenieurmäßige Knoten, wo besonders große Kräfte zusammenkommen, handelt es sich bei den meisten Verbindungen um zimmermannsmäßige Zapfen, Zangen, Stirn- und Fersenversatze und klassische Falzüberblattungen. Rundherum ist die offene Konstruktion, an der man sich nicht sattsehen kann, mit Schiebeläden verkleidet, die im Hochsommer zur Querlüftung komplett zur Seite geschoben werden können.

„Für den heurigen Bauherrenpreis wurden etliche Holzbauten nominiert“, erklärt Albert Kirchengast, Vorsitzender der Bauherrenpreis-Jury. „Bei diesem Projekt jedoch gehen Baustoff, Handwerk und die Liebe zum Tier eine besondere Symbiose ein. Das ist eine archaische Wohlfühlarchitektur, in der die hohe Bestellqualität der Bauherrenfamilie deutlich zu spüren ist.“ Der Bauherrenpreis wurde 1967 von der Zentralvereinigung der ArchitektInnen Österreichs (ZV) ins Leben gerufen und wird seitdem jährlich vergeben.

Der Standard, Sa., 2019.11.09



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2019

21. September 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Die Macht der toten Häuser

Endstation oder Baustelle? Thomas Windisch hat verlassene und gottverlassene Orte aufgespürt und diese mit der Kamera festgehalten. Der Verfall der Materie fasziniert aber nicht nur Fotografen, sondern auch Architekten.

Endstation oder Baustelle? Thomas Windisch hat verlassene und gottverlassene Orte aufgespürt und diese mit der Kamera festgehalten. Der Verfall der Materie fasziniert aber nicht nur Fotografen, sondern auch Architekten.

A bgeblätterte Seidentapeten, durchgekrachte Parketts und Plafonds, Jahrhunderte in Schutt und Asche. „Mich zieht die Ästhetik dieser Orte magisch an, ich fühle mich darin auf eine gewisse Weise zu Hause“, sagt der steirische Fotograf Thomas Windisch. „Einerseits ist eine Ruine ein verlorener Ort, weil er vom Menschen aufgegeben, seiner Funktionen beraubt und von der Natur zurückerobert wurde. Andererseits aber wird die Ruine durch die Transformation zu etwas ganz Neuem – zu einem Zeitzeugen, zu einem Mahnmal, vielleicht sogar zu einer Vorwegnahme dessen, wie die Welt in hundert Jahren aussehen wird, wenn wir uns weiterhin so deppert anstellen und uns von diesem Planeten eigenhändig ausradieren.“

Windisch ist Autodidakt, fotografiert erst seit ein paar Jahren, seit er sich, wie er im ΔTANDARD-Gespräch erzählt, zu seinem 30. Geburtstag mit einer professionellen Spiegelreflexkamera beschenkt hat. Schon bald entdeckte er seine Leidenschaft für verlassene Villen, tote Krankenhäuser, niedergewirtschaftete Industrieareale. Was als romantischer Spaziergang durch die Zeit begann, entwickelte sich bald zu einer Abenteuersafari, die nicht nur durch Rost und Spinnennetze führt, sondern dem Fotografen mitunter körperliche Beherrschung und logistische Reiseplanung abverlangt.

„Eine Villa oder ein leerstehendes Fabrikgebäude ist relativ leicht zu fotografieren“, sagt der 36-Jährige, der schon mal drei Wochen in Tschernobyl und Prypjat verbrachte. „Schwieriger wird es bei Ruinen, die man sich erst mühsam erkämpfen muss.“ In einer aufgelassenen Mine in England stieß Windisch 2015 auf einen illegalen Schrottplatz, in dem alte Autowracks einfach in die Tiefe gestoßen wurden. Mit Lampen, Kletterausrüstung und aufblasbarem Schlauchboot gewappnet stieg er in die Tiefe hinab und hielt das atemberaubende Foto mitsamt hellblauem Range Rover für die Ewigkeit fest. Gänsehaut. Seite 50 in seiner soeben erschienenen, 200-seitigen Augenreise zu verlassenen Orten.

Nicht nur in der Fotografie, auch in der Architektur sind verlorene Orte ein bewährtes Fundament für lustvolle Spiele an der Schnittstelle von Schöpfung und Zerstörung. Schon in der Antike wurden Ruinen überbaut und Bausteine davon als sogenannte Spolien in anderen Bauwerken wiederverwendet. In der jüngsten Geschichte spielt der spanische Architekt Ricardo Bofill eine wichtige Rolle. 1973 kaufte er in Sant Just Desvern eine alte Zementfabrik aus dem Ersten Weltkrieg und baute diese zu „La Fábrica“ mit Wohn- und Atelierräumen um. In den letzten fünf Jahren erlebt die Revitalisierung von verrotteten Ruinen einen regelrechten Hype – und produziert Räume mit Demut vor der Zeit.

[ Thomas Windisch, „Wer hat hier gelebt? Augenreise zu verlassenen Orten“. Mit Texten von Thomas Macho und Ilija Trojanow. € 45,– / 216 S. Brandstätter, Wien. Präsentation am 30. September in der Buchhandlung Lia Wolf, Sonnenfelsgasse 3, 1010 Wien ]

Der Standard, Sa., 2019.09.21

21. September 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Ich und Postmoderne? Das hätte ich mir nie gedacht!

Architekt und Denkmalschützer Manfred Wehdorn wohnt überraschenderweise in einem Neubau am Rande des Wienerwalds. Die Wildschweine, sagt er, haben zum Glück schon andere Lieblingsgrundstücke gefunden.

Architekt und Denkmalschützer Manfred Wehdorn wohnt überraschenderweise in einem Neubau am Rande des Wienerwalds. Die Wildschweine, sagt er, haben zum Glück schon andere Lieblingsgrundstücke gefunden.

Offenbar habe ich mich in all den Jahrzehnten zu viel mit der Denkmalpflege beschäftigt, sodass ich es bei meinem eigenen Wohnhaus bevorzugt habe, mich einem Neubauprojekt zu widmen. Der Wehdorn baut für sich neu! Kann man das glauben? Gewiss, ich bin zwar bekannter für die Sanierung denkmalgeschützter Objekte, aber wenn man nach Jahrzehnten merkt, dass die eigene Wohnhülle immer noch passt, obwohl sich die familiären Verhältnisse verändert haben, dann weiß man, dass man damals, Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre, wohl gar nicht so schlechte Arbeit geleistet hat.

Ich wohne hier mit meiner Frau Margaretha, in Hütteldorf, am Rande des Wienerwaldes. Das Schönste ist: Wir gehen durch die Haustür und sehen sofort in den Wienerwald hinein. Wenn wir durch das Hintertürl hinten rausgehen würden, wenn das die grüne Wildnis zuließe, dann könnten wir bis nach Mauerbach wandern.

Wir leben hier mit der Natur: Im Winter kommen immer noch Rehe und Füchse bis vors Haus. Die Wildschweine haben zum Glück schon andere Lieblingsecken gefunden. Als wir das Grundstück gekauft haben, stand hier übrigens eine einfache Siedlungshütte aus den Vierzigerjahren, und mein Wunsch war, dass das neue Haus sich diesem atmosphärischen Bild beugt. Daher haben wir unsere neu geschaffene Siedlungshütte vom ersten Tag an mit Kletterpflanzen, mit Glyzinien, überwuchern lassen. Modern war das damals nicht! Meine Kollegen haben sich gewundert.

Das Haus ist ein klassischer, zweischaliger Ziegelbau mit tragenden Holzdecken und hat auf diese Weise genügend speicherfähige Masse, was im Sommer für ein angenehm kühles, im Winter für ein warmes Raumklima sorgt. Außerdem habe ich ins Kupferdach wasserführende Leitungen integriert, sodass eine elegante, versteckte Solaranlage entstand, mit deren Hilfe wir im Sommer unseren Warmwasserbedarf decken können. Eigentlich lauter Selbstverständlichkeiten, würde man meinen. Heute sagt man dazu Nachhaltigkeit und biologisches Bauen im Einklang mit der Natur.

Ich gebe zu: Das Haus hat einen leichten Postmoderne-Stempel, und das ruft in meiner Seele ein gewisses Lächeln hervor, denn ich hätte mir nie gedacht, dass ich als Denkmalpfleger und Freund der Zeitlosigkeit jemals der Mode einer Stilfrage anheimfallen würde. Doch ich tat es – wiewohl aus wohlüberlegten Gründen, denn die postmodern anmutende, geschwungene Form des Wintergartens in Form eines Klaviers hat einzig und allein damit zu tun, dass ich die hundert Jahre alte Linde auf dem Grundstück erhalten wollte und daher mit dem Haus ausgewichen bin. 30 Jahre später kämpft man gegen den Nimbus der Postmoderne an. Soll sein.

Viele Häuser haben zu einer Scheidung geführt. Bei uns hat das Bauprojekt eigentlich gut funktioniert. Der eine hat etwas vorgeschlagen, der andere hat einen Gegenvorschlag gemacht, und dann gibt es halt einen Kompromiss, der beide ziemlich glücklich macht und beiden halt vielleicht auch ein bissl wehtut. Das bezieht sich auch auf die Einrichtung des Hauses. Und so kommt es, dass wir im Wohnzimmer einen runden Tisch mit originalen Plastikschalendrehstühlen aus den Sechzigerjahren haben, die auch im Museum of Modern Art in New York ausgestellt sind. Die beigen Ledersofas haben wir aus der Knödelhütte mitgenommen, einem Ausflugsrestaurant im Wienerwald, wo wir auch einige Jahre gewohnt haben. Hinzu kommen Souvenirs und Mitbringsel wie etwa Teppiche, Trommeln, Vasen und keramische Köderenten aus Kalifornien, Äthiopien, Aserbaidschan.

Alles in allem, würde ich sagen, ist unser Wohnen durch und durch wohnbar – also inkonsequent gemischt, jedoch geprägt von vielen persönlichen Erinnerungen, auf die wir nicht verzichten wollen. Das alles ist Teil des Lebens.

[ Manfred Wehdorn, geb. 1942 in Wien, studierte Architektur und Violine, er arbeitet heute als Architekt und Denkmalpfleger. Bis 2012 war er Vorstand des Instituts für Kunstgeschichte und Denkmalpflege an der TU Wien. Zu seinen bekanntesten Revitalisierungen zählen die Redoutensäle (1997), die Wiener Gasometer (2001) sowie das Stadtpalais Liechtenstein (2013). Demnächst wird er das denkmalgeschützte Gartenbaukino sanieren. Seine Frau Margaretha, geb. 1939 in Wien, ist Handelsfachfrau und arbeitete lange Zeit in seinem Büro mit. ]

Der Standard, Sa., 2019.09.21

14. September 2019Wojciech Czaja
Der Standard

„Mich ziehen Katastrophen an“

Die pakistanische Architektin Yasmeen Lari hat bislang mehr als 100.000 Hütten für die Ärmsten der Armen gebaut. Ihr Büro schlägt sie überall dort auf, wo die Natur gewütet hat.

Die pakistanische Architektin Yasmeen Lari hat bislang mehr als 100.000 Hütten für die Ärmsten der Armen gebaut. Ihr Büro schlägt sie überall dort auf, wo die Natur gewütet hat.

STANDARD: Wann auch immer man einen Text über Sie findet, heißt es jedes Mal: „Yasmeen Lari ist die erste Architektin Pakistans.“ Wie geht es Ihnen mit diesem Stigma?

Lari: Pakistan befindet sich gerade in einem Umbruch und in einem Prozess der Öffnung. Wir leben in einer Zeit der ersten Ärztinnen, der ersten Pilotinnen, der ersten Bergsteigerinnen. Ich bin halt die angeblich erste Architektin. Es ist Fluch und Segen zugleich.

STANDARD: Warum?

Lari: Segen, weil man zu Vorträgen in aller Welt eingeladen wird. Fluch, weil es so viele Vorträge sind, dass ich kaum noch mit meiner Arbeit nachkomme. Jetzt habe ich gelernt, Nein zu sagen.

STANDARD: Wozu sagen Sie Nein?

Lari: Zu Ruhm und Ehre. Da war ich schon einmal. Das brauche ich heute nicht mehr.

STANDARD: Sie haben viele Jahre für die Schönen und Reichen gebaut und gelten alsdie wichtigste Vertreterin der Moderne und des Brutalismus in Pakistan.

Lari: Oh ja! Die Sechziger- und Siebzigerjahre! Eine tolle Zeit! Le Corbusier war unser aller Guru. Er hat mich und uns alle massiv beeinflusst. Ich habe damals einige wunderschöne Projekte wie etwa Einfamilienhäuser, Luxusvillen und diverse Konzern-Headquarter geplant. Viele meiner Projekte wurden publiziert und gelten bis heute als Maßstab für den Brutalismus in unserem Land.

STANDARD: Vermissen Sie die Zeit?

Lari: Nein. Ich habe damals für das eine oberste Prozent Pakistans gebaut. Da wird das Ego schon ziemlich groß. Es gab eine Zeit, da fühlte ich mich, als wäre ich die Nachbarin Gottes. Ich wusste: So kann das nicht weitergehen. Also bin ich wieder herabgestiegen.

STANDARD: Wo sind Sie heute?

Lari: Am Boden. Ich fühle mich wohl und geerdet. Im Rahmen der Heritage Foundation of Pakistan, die ich gemeinsam mit meinem Mann Suhail Zaheer Lari gegründet habe, praktiziere ich das, was ich gerne als „Barefoot Architecture“ bezeichne.

STANDARD: Das heißt?

Lari: Es gibt viele Menschen, die sich tatsächlich keine Schuhe leisten können, geschweige denn ein einfaches Dach über dem Kopf. Diesen Menschen widme ich meine Arbeit, indem ich sehr einfache Hütten baue, die von Nachbarn und Freunden leicht kopiert werden können: Das Material ist billig und überall vorhanden, die Arbeitsweise simpel, die Bauweise robust. Und das Wichtigste: Meine Projekte kommen zu 100 Prozent ohne Beton aus, denn sobald Zement mit im Spiel ist, ist man auf die Großindustrie angewiesen und in einer Preisspirale gefangen.

STANDARD: Fundamente ohne Zement?

Lari: Ja. Die drei konstruktiven Baustoffe, die ich verwende, sind Lehm, Kalk und Bambus. In manchen Regionen kommen auch Stroh und Kuhdung zum Einsatz. Im richtigen Mischverhältnis schaffen sie ein robustes Fundament und Mauerwerk, das in Hochwasserregionen einer mittelgroßen Flut standhält. Die Langzeiterfahrung mit unseren Konstruktionen zeigt, dass sie sogar Erdbeben aushalten.

STANDARD: Wie ist das möglich?

Lari: Wir mischen Lehm und Kalk in einem speziellen Verhältnis und verwenden vorgefertigte, geschnürte Bambusmatten, die wir ins Mauerwerk setzen, als Bewehrung. Erdbebentests haben ergeben, dass unsere Häuser Erdbeben der Stärke 7 und 8 auf der Richterskala unbeschadet überstehen.

STANDARD: Ihr Büro wandert mit den alljährlichen Naturkatastrophen mit. Wo wohnen und leben Sie denn derzeit?

Lari: Mein Lebensmittelpunkt ist und bleibt Karatschi. Aber es stimmt, ich bin eine Nomadin. 2005: großes Erdbeben in Pakistan. 2010: Überschwemmungen im ganzen Land. 2011, 2012 und 2013: Flut in Sindh. 2013: Erdbeben in Belutschistan. 2014: Hochwasser in Punjab. 2015: Hochwasser und Erdbeben in Khyber Pakhtunkhwa. Erst kürzlich stand Sindh unter Wasser. Mich ziehen die Katastrophen an. Ich habe schon in jedem Desaster gearbeitet.

STANDARD: Wie können wir uns Ihre Arbeit vor Ort vorstellen?

Lari: Als ich 2005 erstmals in die betroffenen Erdbebenregionen aufgebrochen bin, hatte ich 500.000 Pakistanische Rupien in der Tasche, damals nicht einmal 10.000 Euro. Ich wusste: Das muss reichen, um den Menschen zu helfen. Ich entwickle mit den Leuten vor Ort einfache Behausungssysteme, die billig und schnell zu errichten, zugleich aber schöne, hochwertige Bauwerke sind. Das Problem ist nämlich: Architekten bilden sich immer ein, großartige Bauwerke erfinden und errichten zu müssen. Doch sobald sie für arme, bedürftige Menschen planen, degradieren sie ihre Architektur häufig zu etwas Kleinem und Hässlichem. Das macht mich wütend! Die armen 99 Prozent verdienen genauso schöne Häuser wie die wirtschaftliche Elite.

STANDARD: Wie finanziert man Schönheit, wenn die Mittel fast null sind?

Lari: Einspruch bei dieser Frage! Wenn eine internationale Hilfsorganisation in Pakistan ein einfaches Wohnhaus errichtet, dann gibt sie in der Regel 600 bis 800 Euro pro Gebäude aus. Im Durchschnitt werden dabei rund 5000 gebrannte Ziegel verbaut. Das ist teuer, geht am Bedarf der Menschen vorbei und respektiert in der Regel keinerlei lokale Ästhetik. Die Ein-Raum-Hütten, die ich mit lokalen Materialien baue, kosten zwischen 120 und 170 Euro pro Stück. Schönheit hat nichts mit Geld zu tun.

STANDARD: Sie haben letzte Woche einen Vortrag im Rahmen der Vienna Biennale for Change gehalten. Was muss sich ändern?

Lari: Wir müssen endlich anfangen, Barefoot Architecture als gleichberechtigte Disziplin zu verstehen. Das muss sich in der Schule, im Architekturstudium und nicht zuletzt auch in der Politik und Wirtschaft niederschlagen.

STANDARD: Wünsche für die Zukunft?

Lari: Ich bin eine permanent Lernende. Leider weiß ich bis heute nicht, wie man meine Arbeit so weit multiplizieren kann, dass wir damit all die Millionen Menschen erreichen, die keine Toilette, keine Küche, kein Dach über dem Kopf haben. Das muss ich noch lernen.

Der Standard, Sa., 2019.09.14

07. September 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Im Wuchtelwald

Morgen, Sonntag, wird nach medialen Kontroversen die Kunstinstallation „For Forest“ im Klagenfurter Wörthersee-Stadion eröffnet. Was will uns die Architektur aus 299 Bäumen sagen?

Morgen, Sonntag, wird nach medialen Kontroversen die Kunstinstallation „For Forest“ im Klagenfurter Wörthersee-Stadion eröffnet. Was will uns die Architektur aus 299 Bäumen sagen?

D ie ersten Vögel haben sich schon niedergelassen. Es zwitschert ganz leise aus dem Wald heraus. „Denn natürlich“, sagt Klaus Littmann, „ist das nicht nur ein Kunstprojekt, sondern auch ein temporärer Lebensraum für Fauna und Flora.“ Dass die Kunstinstallation For Forest derzeit ausgerechnet dem Menschen, insbesondere der dem Leder hinterherlaufenden Spezies, versperrt bleibt, ist angesichts des Wunders von Wolfsberg, da der Verein WAC im Mai mehr als überraschend in die Qualifikationsrunde der UEFA Europa League aufgestiegen ist und nun nicht einmal ein Heimstadion hat, in dem er seine Spiele austragen kann, sondern bis November ins Grazer Exil ausweichen muss, umso skurriler. „Fußballfeindliches Projekt!“, mokieren sich die Gegner.

Littmann, Schweizer Künstler seines Zeichens, geht mit der Idee, ein Stadion zu bewalden, schon seit fast 30 Jahren schwanger. Damals, 1990 war das, stieß er in einer Ausstellung in Wien auf eine Bleistiftzeichnung des Wiener Künstlers Max Peintner. Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur, so der Titel des 1970 erstellten und in die USA verkauften Werks, das derzeit in der Stadtgalerie Klagenfurt gastiert, wirft einen verstörenden, dystopischen Blick in die Zukunft.

In eine vielleicht gar nicht so ferne Zeit, wie sich auf geopolitischer Ebene zeigt, in der der Wald zum raren Spektakel geworden ist, das man nur noch im geschützten Rahmen im Stadion bewundern kann. Selbiges ist in Max Peintners Zeichnung, die hier Pate stand, im Gegensatz zum Klagenfurter Jörg-Haider-Vermächtnis, das seit der UEFA EM 2008 etwas karg dahinvegetiert, zum Bersten gefüllt, bis auf den letzten Sitzplatz ausverkauft. In den nächsten sieben Wochen bis 27. Oktober, so der Plan, soll es auch hier wieder etwas voller werden, im 33.000-Besucher-Stadion der 100.000-Einwohner-Landeshauptstadt.

„Ich habe jahrelang nach einem Stadion gesucht“, erinnert sich Littmann, „aber wenn ein Fußballclub einigermaßen erfolgreich spielt, ist so viel Geld involviert, dass es eigentlich unmöglich ist, sich für ein paar Monate mit einem Kunstprojekt einzumieten.“ Und dann kamen Klagenfurt und der österreichische Fußball. Dass das von ihm initiierte Megaprojekt derartige landesfürstliche Wunden aufreißen und zum Politikum werden würde, sagt er, hätte er nicht geahnt. Einige Wuchtelfans drohen damit, den Bäumen mit der Kettensäge an den Stamm zu gehen. Die Kunstszene ätzt indes, ob die ganze Angelegenheit überhaupt den Aufwand wert sei – und das obwohl nach Auskunft der Klagenfurter Bürgermeisterin Marie-Luise Mathiaschitz (SPÖ), wie sie betonet, „kein Euro Steuergeld von öffentlicher Hand in dieses Projekt geflossen ist“. Die kolportierten Investitionskosten, die zur Gänze aus privaten Sponsoren- und Mäzenengeldern stammen, belaufen sich auf vier Millionen Euro.

Was die CO2-Bilanz betrifft

Die Sonnenstrahlen arbeiten sich durch das Blätter- und Nadelwerk durch. Zwischen Pappeln und Platanen flattert ein verirrtes Täubchen umher. Insgesamt 299 große, ausgewachsene Bäume mit acht bis 16 Meter Höhe bis zu den Wipfeln wurden in den letzten Wochen ins Stadion verfrachtet. Ursprünglich wollte man die Bäume allesamt aus österreichischen Baumschulen ankaufen, doch daraus wurde nichts. Die Mischung aus 18 verschiedenen Baumspezies, mit der man den Kärntner Mischwald nachahmen will, sei in österreichischen Schulen in dieser Menge nicht verfügbar, hieß es. Und so musste man nach Italien, Belgien und Norddeutschland ausweichen. „Aus Sicht der Konzeptkunst war das schon ein ziemlicher emotionaler Knick“, sagt Enzo Enea. „Für mich als Landschaftsarchitekt aber ist der Transport von Bäumen quer durch Europa mein tägliches Geschäft. Bäume sind nie dort, wo man sie braucht. Was die CO2-Bilanz betrifft, so kann ich insofern beruhigen, als Bäume in diesem Alter und in dieser Wuchsgröße durchaus gute Kompensationsarbeit leisten. Ein solcher Baum produziert rund drei Millionen Liter Sauerstoff pro Jahr.“

Enea, der am Zürichsee sitzt, ein eigenes Baummuseum betreibt und von dort Privatgärten in der ganzen Welt konzipiert, errichtet und mit seinem insgesamt 220-köpfigen Team auch kontinuierlich betreut, ist derjenige, der das temporäre Projekt technisch überhaupt erst möglich machte. Seit vielen Jahren schon ist der Gärtner darauf spezialisiert, bedrohte Bäume zu retten, die Investoren, Verkehrsplanern und Stadtentwicklern im Weg stehen, ihre Wurzelballen zu beschneiden und die Bäume in das von ihm gegründete Museum nach Rapperswil zu transportieren, wo sie schließlich ein Leben nach dem Scheintod fristen.

„Genauso“, sagt Enea, „sind wir auch in Klagenfurt vorgegangen. Wir haben geschulte Bäume mit kleinen, kompakten Wurzelballen aufgekauft, denn aufgrund der bestehenden Rasenheizung im Klagenfurter Stadion, die wir keinesfalls beschädigen dürfen, mussten wir uns in der Höhe auf ein Minimum beschränken.“ Die kompakten Wurzelballen stehen auf einer simplen Unterkonstruktion aus Holzbalken und massiven Aluminiumplatten, an die sie aus Stabilitätsgründen mittels Zuggurten festgezurrt wurden. Am Ende wurde der 7000 Quadratmeter große Wald auf Zeit, der im Unterholz noch mit 6000 Gräsern und Gebüschen nachverdichtet wurde, mit Hackschnitzeln und Rindenmulch aufgeschüttet.

Es piepst und zwitschert im Gehölz. Und da ein Schmetterling! Am Ende der Installation, die in Klagenfurt in ein üppiges Rahmenprogramm und allerhand Merchandising-Produkte eingebettet ist, wird das Kunstwerk um einen Kilometer nach Westen übersiedeln. Auf dem Lakeside-Campus der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt sollen die 299 Bäume in der gleichen Konstellation dauerhaft eingepflanzt werden. Herzog & de Meuron werden einen kleinen Pavillon errichten, in dem das Projekt dokumentiert werden soll.

Temporäres Kunstwerk? Mega-Mahnmal? Aufgebauschtes Medienspektakel in der Klagenfurter Ikone für Korruption und sportliche Machenschaften? Die Frage stellt sich nicht. Zumindest nicht jetzt. Ein brasilianischer Psychopath fackelt den Amazonas ab. Und Max Peintner, Klaus Littmann und Enzo Enea liefern nach Jahrzehnten Vorarbeit eine so punktgenaue und realitätsnahe Glosse, dass einem bang wird.

Der Standard, Sa., 2019.09.07

24. August 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Bahnsteig mit Balkon

Das Wiener Architekturbüro Einszueins hat sich auf die Planung von Partizipationsprojekten spezialisiert. Das neueste Wohnhaus im Baugruppenportfolio wurde vor wenigen Wochen an seine Bewohner übergeben. Die Umzugskartons stehen noch herum. Ein Besuch.

Das Wiener Architekturbüro Einszueins hat sich auf die Planung von Partizipationsprojekten spezialisiert. Das neueste Wohnhaus im Baugruppenportfolio wurde vor wenigen Wochen an seine Bewohner übergeben. Die Umzugskartons stehen noch herum. Ein Besuch.

Eigentlich“, sagt Julia, „wollte ich einfach nur eine schöne Wohnung mit Balkon. Das war mein ursprünglicher und vielleicht wichtigster Wunsch vor vier Jahren. Doch das, was wir heute haben, ist mehr, als ich je zu träumen gewagt hätte. Wir haben’s geschafft, aus dem Haus mehr zu machen als nur die Summe der Quadratmeter.“ Julia Hainz, mitten in der Karenz, den fünfmonatigen Maximilian im Arm, wohnt mit ihrem Mann und ihren beiden Kids auf Top 31, vierter Stock, 88 Quadratmeter. Den Balkon, den hat sie. Und ein ganzes Paket an Hausfreunden und nachbarschaftlichem Miteinander noch dazu.

Die 35-Jährige ist eine von insgesamt 22 Gründerinnen, die sich zwischen Winter 2014 und Frühjahr 2015 für die Baugruppe Gleis 21 im Wiener Sonnwendviertel starkgemacht haben. Wochen- und monatelang trafen sich die 22 künftigen Bewohnerinnen und Bewohner, um sich über ihre Werte, Wünsche, Wohnvorstellungen auszutauschen. Am Ende jedes Workshops, der von Mal zu Mal größer und umfangreicher wurde, ehe die Baugruppe schließlich auf 46 Erwachsene und 20 Kinder anwuchs, wurde diskutiert, debattiert und mit soziokratischen Widerstandspunkten abgestimmt.

Offen leben

„So ein Wohnprojekt in der Gemeinschaft hat nicht nur mit Architektur zu tun, sondern vor allem auch mit der eigenen Persönlichkeitsentwicklung“, sagt Julia. „Heute weiß ich, dass der Balkon ein nettes Feature ist. Aber es gibt wichtigere Dinge im Leben.“ Auch Kati Hellwagner und Sebastian Schublach, Top 25, dritter Stock, 104 Quadratmeter, sie wohnen aus dem Karton, die Küche ist noch immer nicht geliefert, auf dem Tisch steht ein Plastikkorb mit Äpfeln, Zwetschken, Bananen, sehen im Wohnen mehr als bloß die Hardware: „Die Wohnung ist wichtig, keine Frage, aber irgendwann checkt man, dass da mehr dahintersteckt, dass es um gelebte Nachbarschaft, dass es um eine ganz neue Form des alltäglichen Zusammenlebens geht.“

Es ist heiß heute, die Sonne knallt erbarmungslos vom Himmel. Die meisten Fenster zum Laubengang sind gekippt, manche komplett geöffnet, um Querlüftung zu ermöglichen, sogar die eine oder andere Wohnungstür, Top 13, erster Stock, Patrick Herold, ein 34-jähriger Architekt, steht mancherorts sperrangelweit offen und lässt Einblicke ins Wohnen zu. Auf der Bühne des täglichen Lebens wird gekocht, gespielt und telefoniert. „Man lebt hier offen und miteinander“, sagt Patrick, „und wenn man einmal von der nachbarschaftlichen Nähe die Nase voll hat, dann macht man halt die Türen und Fenster zu und ist allein. Das System funktioniert und wird von allen respektiert.“

Gleis 21 mit insgesamt 34 Wohnungen, ein paar Flex-Apartments für Gäste und Flüchtlinge, einer Gemeinschaftsküche auf dem Dach, einer Bibliothek, einem Saunahaus, einer Werkstatt, einem Fitnessraum, einer großzügig verglasten Waschküche, einem leider noch schlummernden Restaurant, einer privaten Musikschule und sogar einem öffentlich nutzbaren Veranstaltungssaal im Erdgeschoß, der unter anderem vom Stadtkino und vom Burgtheater bespielt wird, ist eines der radikalsten Wohnprojekte auf den neu bebauten Gründen des ehemaligen Südbahnhofs, vielleicht sogar in ganz Wien. Und es ist kein Einzelfall. Das planende Büro hinter diesem ungewöhnlichen Ding, Einszueins Architektur, hat sich den partizipativen Wahnsinn nicht zum ersten Mal angetan.

„Von Antun kann keine Rede sein“, sagt Projektleiterin Annegret Haider. „Partizipatives Planen macht die eigene Arbeit schöner. Die Zusammenarbeit mit den Menschen und die Zufriedenheit derer, für die man plant, sind eine der schönsten Befriedigungen, die man als Architektin erleben kann. So ein Prozess ist anstrengend und langwierig, aber am Ende kriegt jeder Einzelne mehr Energie zurück, als er investiert hat.“ Zu den bislang realisierten Baugruppenprojekten zählen das Wohnprojekt Wien (2013), der Seestern Aspern (2015) und das Wohnprojekt Hasendorf (2018). Fünf weitere partizipative Baugruppenhäuser in Wien und Niederösterreich, die „vom Städtebau bis zur Steckdose“ (O-Ton Einszueins) mit den Bewohnerinnen kooperativ geplant werden, sind bereits in Entwicklung.

Wohnen als Lebenskultur

„Wir arbeiten mit Menschen, die Wohnen nicht nur als Ware, sondern in erster Linie als Lebenskultur verstehen“, sagt Architekt Markus Zilker, „und das steht in einem großen Widerspruch dazu, wie Wohnraum heutzutage meist produziert wird.“ Gleis 21, ein Hybridbau aus Holz und Beton, ist mit Sicherheit nicht die günstigste Bauweise, die man auf die grüne Wiese stellen kann. Aber es ist die für diese Bewohnergruppe ethisch passendste. So manches konstruktive Detail würde eher den Weg in die Fibel der Herzen als ins Bauhandbuch für Ingenieure finden.

Entwickelt wurde das 4000 Quadratmeter große Haus mit dem Bauträger Schwarzatal, der es kurz nach Fertigstellung an den Verein Gleis 21 verkaufte, errichtet wurde es vom Kärntner Holzbauunternehmen Weissenseer. Finanziert wurde das Projekt über 20 Prozent Eigenmittel, 20 Prozent Wohnbauförderung und 60 Prozent Kredit. Die Bewohner selbst mieten sich über ein hochkomplexes, kooperativ designtes Entgeltsystem in die Immobilie ein. Nachdem für den Verkauf des Gesamtobjekts eine Vier-Fünftel-Mehrheit des Vereins nötig wäre, ist das Haus für die nächsten Generationen de facto dem spekulativen Immobilienmarkt entzogen.

Dieses Haus wird nicht allen gefallen. Genauso wenig wird die dahintersteckende Partizipationshacke jeden Geschmack treffen. Ist auch nicht nötig. In einem mehr und mehr von Mittelmaß und Belanglosigkeit geprägten Wohnungsmarkt aber stellt Gleis 21 die allerbesten Weichen in eine alternative, selbstwirksame Zukunft mit Zugkraft.

Der Standard, Sa., 2019.08.24

12. August 2019Wojciech Czaja
db

Die Offenheit der Tiefe

An der südnorwegischen Küste wurde eine Betonröhre in die Nordsee gesenkt, um die Gäste eines gehobenen Restaurants mit einem Unterwasser-Erlebnis zu verwöhnen. Die ansprechend gestalteten Innenräume sind auf eine 25 cm dicke Acrylglasscheibe hin ausgerichtet, die den Gastraum von der offenen See trennt, und stellen gängige Vorstellungen von physischer Abgeschlossenheit und gefühlter Offenheit auf den Prüfstand.

An der südnorwegischen Küste wurde eine Betonröhre in die Nordsee gesenkt, um die Gäste eines gehobenen Restaurants mit einem Unterwasser-Erlebnis zu verwöhnen. Die ansprechend gestalteten Innenräume sind auf eine 25 cm dicke Acrylglasscheibe hin ausgerichtet, die den Gastraum von der offenen See trennt, und stellen gängige Vorstellungen von physischer Abgeschlossenheit und gefühlter Offenheit auf den Prüfstand.

Früher leitete der heute 32-jährige Chefkoch Nicolai Ellitsgaard den Gourmettempel Måltid im 70 km entfernten Kristiansand – bis ihn vor etwa zwei Jahren der Hotelbesitzer und Investor Stig Ubostad anrief, um ihm ein abgrundtief unmoralisches Angebot zu unterbreiten. »Als ich die Pläne und die ersten Visualisierungen gesehen habe, ist mir die Spucke weggeblieben. Alles, was ich herausbrachte, war: Wo muss ich unterschreiben?«

Seit wenigen Monaten ist die surreal wirkende, sich nach außen hermetisch abschottende Skulptur nun Wirklichkeit. Im Innern der betonierten Röhre, die wie eine umgekippte Stele im Fjord liegt, befindet sich das erste Unterwasser-Restaurant Europas und das größte seiner Art weltweit. Mit Superlativen hält man sich hier, am Fjord von Båly, rund 90 Autominuten vom nächsten Flughafen entfernt, keineswegs zurück: Der Name »Under« ist mit größter Programmatik und Medienwirksamkeit gewählt und bezieht sich nicht nur auf die hier zur Marke erhobene Lage unter der Wasseroberfläche, sondern ist zugleich auch das norwegische Wort für Wunder.

»Und an diesem Wunder haben wir wirklich intensiv gearbeitet«, erzählt Bauherr Stig Ubostad, der hier vor einigen Jahren ein mehr schlecht als recht funktionierendes Hotel mit 98 Zimmern geerbt hat. Das wunderbare Restaurant, so der Plan, sollte seine Herberge endlich aus den roten Zahlen hinauskatapultieren. »Wissen Sie, diese Region lockt nur einige norwegische Naturliebhaber an und ist international kaum bekannt. Daher habe ich beschlossen, in den Fjord eine Landmarke zu setzen. Ein architektonisches Bauwerk, das weltweit einzigartig ist. Mit wem realisiert man so ein Projekt – wenn nicht mit dem besten Architekturbüro Norwegens!«

Die Architekten von Snøhetta, die sich mit der Bibliothek von Alexandria und der Oper von Oslo bereits international einen Namen machen konnten, entwarfen ein Gebäude, das nicht nur den Faktor Standort neu denken lässt, ­sondern das auch neue Sichtweisen auf Land und Wasser, auf oben und unten, auf innen und außen, auf hell und dunkel, auf offen und geschlossen provoziert. Oder, wie Kjetil Trædal Thorsen, Gründungsvater und Partner von Snøhetta meint: »Dieses Bauwerk ist in jeder Hinsicht ein Hybrid, der mit scheinbar diametralen Positionen spielt und experimentiert. Doch dann merkt man plötzlich, dass dieses hybride Objekt weniger spaltet als vielmehr die vermeintlichen Kontraste und Differenzen in einer neuen, überraschenden Synthese vereint.«

Während der Zugang zur rund 35 m langen, unter 20 Grad versenkten Betonröhre über eine stählerne Gangway erfolgt und die kleine Terrasse vor dem Eingang noch ein wenig an eine mit hochglanzlackierten Eichenbohlen ausgelegte Luxusyacht erinnert, schließt sich die an einer Ecke wie mit einem feinen Skalpell amorph aufgeschabte Skulptur bald zu einem kastenförmigen XXL-Profil und verschwindet mit archaischer Wucht in den mal spiegelglatt ruhigen, mal wütend tosenden Tiefen des Meeres. Auffällig ist die leichte, konvexe Bauchung der Oberfläche, die sich nicht mit nackter, mathematischer Geometrie zufriedenzugeben scheint, sondern in ihrer Anspannung fast schon etwas männlich Muskulöses hat.

»Wir sind an einem besonderen Ort und müssen mit den Kräften der Natur arbeiten, die uns hier auf Schritt und Tritt begegnen und die das Projekt ­maßgeblich mitgeformt haben«, sagt Thorsen. »Die aquadynamische Bauchung haben wir in Simulationen errechnet. Sie garantiert, dass selbst bei stärksten Stürmen das Gebäude niemals wie eine Barriere wirkt. Die großen Wellen werden den Beton weich umspülen und über den Eingangsbereich schwappen.« Schade nur, dass an genau jener Stelle, an der die Gebäudeunterseite die Wasseroberfläche durchsticht, die Illusion der schräg lehnenden Betonröhre massiv gestört wird. Denn rund 30 cm über dem Wasser knickt die Gebäudekontur ab und setzt sich senkrecht nach unten fort. Der morphologische Kompromiss ist verhängnisvoll. »Der Knick war unter der Wasseroberfläche geplant, dann wäre er nicht mehr sichtbar gewesen. Wir haben lange gegen die Statik gekämpft. Schließlich mussten wir uns geschlagen geben.«

Betoniert wurde das Gebäude übrigens auf einem schwimmenden Ponton, der in der Nachbarbucht in 100 m Entfernung vor Anker lag. In einer eintägigen Reise wurde das 1600 t schwere Ungetüm nach monatelanger Aushärtungszeit im Juni 2018 mit Seilen und luftgefüllten Tarierballons an Ort und Stelle gezogen. Dort wurde der massive, doppelwandig betonierte und mit einer innenliegenden Wärmedämmung versehene Hohlkörper, der zu diesem Zeitpunkt bereits verglast und wasserdicht gemacht worden war, mit Gewichten belastet, z. T. mit Wasser geflutet und schließlich mit acht riesigen Ankerbolzen in 5 m Tiefe ans Fundament geschraubt.

5 000 Millimeter unter dem Meer

Auf der obersten Etage der Röhre befinden sich der Empfang mit Garderobe und Zugang zum Lift. Der Fußweg führt Stufe für Stufe in immer dumpfer, immer blauer werdende, sehnsüchtig in die Tiefe saugenden Gefilde hinab. Auf der nächst unteren Etage wartet die Bar mit dem sich elegant an die Fas­sade schmiegenden Lounge-Bereich. Das hier eingeschnittene Acrylglas­fenster, ein vertikaler, schmaler, bis ins 2. UG reichender Schlitz, offenbart die Lage direkt am Übergang zwischen Über- und Unterwasser; die Wellen tanzen an der Glasscheibe, oben fliegen Vögel, unten schwimmt ein Zwergseeskorpion durch das bläulich leuchtende Nass.

Mit dem Fensterschlitz offenbart sich bereits das lang gehütete Geheimnis der Offenheit und Verschlossenheit dieses Gebäudes, denn zu keiner Sekunde wirkt das Under eng oder gar klaustrophobisch, wie man an Land gemeinhin noch vermuten mag. Der Innenraum wirkt luftig und hell und im besten des Wortes in eine nordische Mystik getaucht. Erstaunlicherweise gibt nicht die Lichtmenge, sondern allein die Farbtemperatur Aufschluss über die Unterwasserlage: In den ersten 5 m unter der Wasseroberfläche werden nach und nach die Rotschwingungen aus dem Spektrum herausgefiltert, und je ­tiefer man hinabsteigt, umso bläulicher wird das Rundherum. Kleine LED-Spots im Plafond korrigieren die Wellenlänge und sorgen dafür, dass einem das Date vis-à-vis nicht wie eine blaulippige Wasserleiche erscheint.

Weitere perfekt bis zum letzten Millimeter verarbeitete Holztreppen führen schließlich hinab in die blauesten Tiefen. An der Decke und an den Wänden wird der Raum von sisal-artigen, mit bunten und naturfarbenen Fäden gewebten Paneelen gesäumt. Die akustisch wirksamen Platten sind eine Sonderanfertigung des dänischen Stoffproduzenten Kvadrat. Mittels eines Algorithmus wurde die Produktion der aus nicht brennbarem Trevira-Garn gewebten Matten so programmiert, dass sich mit jedem Tiefenmeter die Fadenfarbe verändert, dass sie von Rot zu Grün und Blau wechselt, dass sie über den gesamten Innenraum betrachtet ein lebendig changierendes Bild erzeugt. Die akustische Maßnahme ist bitter nötig, denn die Geräusche der selbst entworfenen Holzstühle auf dem mit einer Fußbodenheizung ausgestatteten Terrazzo wären ohne die hübschen Paneele wohl noch durchdringender.

Unten angekommen darf man für rund 225 Euro das 18-gängige Menü ge­nießen, das erklärtermaßen die Ressourcen vor Ort nutzt, das Meer und die Wiesen und Wälder rundherum.

Und plötzlich schwimmt wieder ein Zwergseeskorpion vorbei – die gesamte Gastgesellschaft lässt den zweiten Gang links liegen und strömt zum Fenster. Die 11 m breite und 3 m hohe Acrylglasscheibe musste wegen des hohen Wasserdrucks massiv und 25 cm dick (!) dimensioniert werden. Auf dem künst­lichen Riff davor haben sich in den letzten Monaten, zwischen den olivgrünen Kelpblättern Schutz suchend, Venusmuscheln und Seeigel angesiedelt. Am Abend wird es künstlich beleuchtet, worauf sich das Fenster vor den bis zu 40 speisenden Gästen in einen 33 m² großen Lampenschirm verwandelt.

»Das Wasser zu beleuchten klingt nach einem dramatischen Eingriff in die Natur«, erklären die beiden Meeresbiologen Trond Rafoss und Kim Halvorsen, die das Projekt von Anfang an begleitet haben und im Under nicht nur ein Restaurant, sondern auch eine maritime Beobachtungsstation sehen. »Aber die permanente Lichtverschmutzung in den Dörfern und Städten hat weitaus größere Auswirkungen als die sieben Scheinwerfer, die in den Abendstunden die paar Kubikmeter des Meeres ausleuchten. Viele Fische fühlen sich vom Licht angezogen. Und die anderen, die das Licht scheuen, ohnehin fernbleiben.« Ob sich das karge Bild mit dem irgendwie distanziert wirkenden Blick in die maritime Fauna und Flora dann inten­sivieren wird, darf man anzweifeln; die Nordsee ist nicht der Indische Ozean.

Mit rund 7,2 Mio. Euro, die in Forschung, Entwicklung und Errichtung flossen, soll das Unterwasser-Restaurant nicht zuletzt den internationalen Tourismus, der die norwegische Südküste auf dem Weg nach Stavanger, Bergen und auf die Hurtigruten bisher übersprungen hat, ankurbeln. Das Konzept könnte aufgehen – am 2. April wurde das Lokal, das nordischen Matadoren wie Noma (Kopenhagen) und Maaemo (Oslo) Konkurrenz machen soll, eröffnet. Die Tische sind bis November ausgebucht.

db, Mo., 2019.08.12



verknüpfte Zeitschriften
db 2019|07-08 Offen / Geschlossen

10. August 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Als die Zukunft noch orange war

Die Architektur der Siebzigerjahre wird oft unterschätzt. Das hat nun ein Ende. Der Wiener Architekturfotograf Stefan Oláh hat eine Liebeserklärung abgegeben – in Form eines bunten, brutalen, bisweilen berührenden Bildbands.

Die Architektur der Siebzigerjahre wird oft unterschätzt. Das hat nun ein Ende. Der Wiener Architekturfotograf Stefan Oláh hat eine Liebeserklärung abgegeben – in Form eines bunten, brutalen, bisweilen berührenden Bildbands.

Es riecht nach Leder, Cognac und Club 2. Der ganze Saal ist mit edel furnierten, an den Enden leicht abgerundeten Holzplatten verkleidet. Über dem Eingangsbereich hängen Leuchtkästen für die sechs offiziellen Uno-Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch und Arabisch. Und in den Armlehnen der gesteppten Ledersessel befinden sich Steckdose, Lichtschalter und Lautstärkeregler. Sogar ein kleines Fach für die Kopfhörer ist geschickt in die Geometrie des an Komfort unüberbietbaren Sitzmöbels integriert. Man möchte sofort daran drehen und drücken und ein paar Minuten lang Sekretär spielen.

„Obwohl das Gebäude seit 40 Jahren in Verwendung ist, halten sich die Abnutzungsspuren im Rahmen. Vor allem aber fasziniert mich, dass die gesamte Architektur so konzipiert ist, dass sie bis heute die neuesten Licht- und Tontechniken aufnehmen kann, ohne etwas von ihrer Einzigartigkeit einzubüßen.“ Anneliese Heber ist Mitarbeiterin im Informationsdienst der Vereinten Nationen, und das seit dem allerersten Tag, als das Vienna International Centre, umgangssprachlich besser bekannt als Uno-City, am 23. August 1979 seinen Betrieb aufnahm.

Insgesamt hatten sich 183 Architekturbüros am 1970 ausgeschriebenen Wettbewerb beteiligt. Auf den ersten drei Plätzen rangierten Cesar Pelli (Los Angeles), BDP Building Design Partnership (London) sowie das deutsche Architekturbüro Novotny & Mähner. Nachdem sich die Vereinten Nationen jedoch nicht über das auszuführende Siegerprojekt einigen konnten, entschied sich der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky kurzerhand und sehr zum Leidwesen der ÖVP-Opposition und des Nationalrats, der sogar einen Untersuchungsausschuss einberief, dem Viertplatziertem den Zuschlag zu geben. Es sollte das größte und wichtigste Projekt des österreichischen Architekten Johann Staber (1928–2005) werden.

„Die Uno-City ist ein ikonografisches Gebäude auf exterritorialem Boden mit einer eigenen Postleitzahl“, so Heber. „Und obwohl die meisten das Bauwerk nur aus der Entfernung kennen, ist es dennoch jedem Wiener ein Begriff. Die wuchtigen Betonscheiben, die fast schwerelos dazwischen hängenden Geschoße und die beiden Farben Silber und Orange, mit denen sich der Architekt an den Silberpfeil-Wagons der Wiener U-Bahn orientierte, sind zutiefst einprägsam. Von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jedenfalls wird die Atmosphäre dieses Hauses sehr geschätzt.“

Oder, wie Friedrich Achleitner in seinem Österreichischen Architekturführer anmerkt: „Dem Staber’schen Entwurf mit seinen sechs Y-förmigen Türmen wurde unter anderem ein dekorativer Städtebau mit einer für das Umfeld provokanten Maßstabslosigkeit vorgeworfen, andererseits konnte man der bizarren Konzeption gegenüber den anderen Projekten eine gewisse Zeichenhaftigkeit, Merkbarkeit und auch einen konstruktiven Elan nicht absprechen.“

Genau dieser Elan hat es dem Wiener Architekturfotografen Stefan Oláh angetan. Nachdem er sich in sehr schönen und zum Teil längst vergriffenen Büchern den Wiener Tankstellen, den Wiener Würstelständen, den Wiener Stadtbahnbögen und der österreichischen Architektur der Fünfzigerjahre gewidmet hatte, nahm Oláh diesmal die Architektur von Wickie, Slime und Paiper unter die Lupe. Sein Bildband Bunt, sozial, brutal ist eine Ode an die Aufbruchstimmung und die oft kompromisslose bauliche Manifestation dessen, wie man sich damals Zukunft vorstellte.

„In den 1970er-Jahren wurde viel Neues, teils auch Widersprüchliches ausprobiert“, sagt Oláh. „Es war eine Zeit voller technischer Innovationen und poppig-bunter Träume, aber auch eine Dekade mit Ölkrise, Konsumskepsis und einigen politischen Dämpfern. Das alles spiegelt sich auch in der Architektur wider.“ Allein die orange lackierten Liftkabinen und Stiegenhäuser in der Uno-City bezeichnet der Fotograf als einen Optimismus, den man heute kaum noch irgendwo vorfindet. „Ein Repräsentationsgebäude der Vereinten Nationen mit diesen Farben und einer Formensprache wie in Raumstationen und U-Booten … das muss man sich einmal vorstellen!“

Oláhs Bildsprache ist so reduziert und archaisch, dass nichts vom fotografierten Motiv ablenkt. Sein Werkzeug ist die Linhof Technika, eine klappbare Laufbodenkamera, bei der der Fotograf, damit er die Mattscheibe besser sehen kann, unter einem schwarzen Tuch verschwindet. „Ich behübsche nichts, ich retuschiere nichts weg, ich zeige jedes Objekt im Originalzustand mit all seinen Gebrauchsspuren.“ Im Zeitalter der Instagram-Bildinflation ist das fast schon eine Kampfansage.

„Mein Appell ist an die Wahrnehmung gerichtet“, sagt Oláh, der in seinem Bildband rund 30 Bauwerke aus ganz Österreich einfängt: Kirchen, Schulen, Villen, Wohnbauten, Konzerthäuser, Bürogebäude und Infrastrukturbauten in den entlegensten alpinen Regionen. Die Liebe zum Detail und zum Genius Loci ist bisweilen berührend. „Mein Ziel ist, die Wahrnehmung für das visuelle Bild zu schärfen, aber auch jene für den Wert des Gebauten. Die Architektur der Siebzigerjahre verdient es, liebevoll und wohlwollend betrachtet zu werden.“ Dieses Buch hilft dabei.

Der Standard, Sa., 2019.08.10



verknüpfte Publikationen
Bunt, sozial, brutal

06. Juli 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Bauen für ein besseres Leben

Was haben eine alte Zugfabrik, eine stillgelegte Autobahn und ein Algengarten aus dem 3D-Drucker gemeinsam? Sie alle sind Zeugen einer lust- und genussvollen Zukunft – und sind derzeit in einer Ausstellung im Wiener Mak zu sehen.

Was haben eine alte Zugfabrik, eine stillgelegte Autobahn und ein Algengarten aus dem 3D-Drucker gemeinsam? Sie alle sind Zeugen einer lust- und genussvollen Zukunft – und sind derzeit in einer Ausstellung im Wiener Mak zu sehen.

Die alten Farb- und Lackschichten haften an den genieteten Stahlsäulen, mal rot, mal grün, mal magenta, und in der Luft, ist man fast geneigt zu glauben, liegt noch der Duft von Ruß und schwerem Maschinenöl, gerade so, als sei die letzte Lok vor wenigen Minuten erst aus der Halle geschoben worden. Aber das, sagt er Architekt, sei pure Absicht gewesen, denn wenn man schon die Möglichkeit habe, mit so einem Raum zu arbeiten, dann müsse man auch den Mut aufbringen, seinen unverwechselbaren Charakter, so gut es eben geht, zu bewahren.

„Die Lokomotivhalle wurde 1932 errichtet, und wahrscheinlich gibt es in ganz Tilburg keinen einzigen Einwohner, der nicht irgendjemanden kennt, der nicht irgendwann einmal hier gearbeitet oder sich zumindest mal nachts in die Werkstatt der Nederlandse Spoorwegen hineingeschlichen hat“, sagt Gert Kwekkeboom, Partner im holländischen Büro Civic Architects, das das Projekt gemeinsam mit Braaksma & Roos, Petra Blaisse, Mecanoo und Donkergroen auf Schiene gebracht hat. „Diese Halle ist ein emotionales Denkmal, das im kollektiven Gedächtnis dieser Stadt fest verankert ist. Schön, dass sich die Stadtregierung dazu entschieden hat, das Bauwerk zu erhalten und hier die neue Stadtbibliothek anzusiedeln.“

Wo einst Loks geflickt, geschweißt, geschraubt wurden, befindet sich nun eine Werkstatt des Netzwerkens und der Wissensvermittlung. Die vor wenigen Monaten eröffnete LocHal, so der offizielle Titel, beherbergt nämlich nicht nur die städtische Bücherei, sondern auch Café, Coworking-Spaces und anmietbare Event- und Konferenzräume. Im Zuge der Revitalisierungsmaßnahmen wurden die einst 5000 Quadratmeter mittels eingezogener Podeste, umlaufender Galerien und dramatischer Stiegenlandschaften zum Gehen, Sitzen, Lümmeln auf 11.000 Quadratmeter mehr als verdoppelt. „Es war ein sehr lustvolles Projekt, in dem wir intensiv mit Restauratoren und mit der Denkmalschutzbehörde zusammengearbeitet haben“, erinnert sich Kwekkeboom. „Die größte Herausforderung bei alledem war zweifelsohne die Haustechnik, denn so ein einst industriell genutztes Baudenkmal erlaubt es nicht, mit Wärmedämmung, Dreischeibenverglasung und gewohnten Klimakomfortvorstellungen zu agieren – zumindest nicht, wenn man den Genius loci nicht komplett umbringen will.“

Die Lösung: Der Großteil der Halle wurde als witterungsgeschützter Außenraum gedacht, in dem man im Sommer mitunter ins Schwitzen kommt, während einem der Kellner im Stadscafé im Winter bei Bedarf eine Wolldecke serviert. Temporäre Aufenthaltszonen wie etwa Lesebereiche, Bühne und Auditorium können mit riesigen, vom Stahlfachwerk herabhängenden Vorhängen abgetrennt und lokal beheizt oder gekühlt werden. Lediglich ständige Arbeitsbereiche wie etwa Coworking-Büros, Konferenzräume und der gesamte Verwaltungsapparat befinden sich in thermisch abgetrennten Haus-in-Haus-Zonen, die mit gewohntem Innenraumklima aufwarten. Kwekkeboom, lapidar: „Wer die Seele schützen will, muss Kompromisse eingehen.“

Das 18 Millionen Euro teure Bauwerk, das im Mai vom niederländischen Publikum zum „Besten Gebäude des Jahres“ gekürt wurde, ist eines von insgesamt 23 Projekten, die derzeit im Museum für angewandte Kunst (Mak) in der Ausstellung Space and Experience zu sehen sind. Ausgewählt wurden Architekturprojekte und Raumideen, die auf technische, ökologische oder auch soziale Weise innovativ sind und einen gewissen Mehrwert in die aktuelle Architekturdiskussion einzahlen.

„Das gute Leben umfasst leistbares Wohnen, einen anständigen Job und eine funktionierende Infrastruktur“, sagt die Kuratorin und Kulturwissenschafterin Nicole Stoecklmayr. „Aber was zeichnet ein besseres Leben aus? Die Antwort, die diese Ausstellung gibt, beinhaltet einen gewissen Lustfaktor und Abenteuerwert, der sich sowohl in der räumlichen Erfahrung als auch in der Forschung und Entwicklung von Architektur niederschlägt.“ Also eigentlich alles von Alpha bis Omega.

So gesehen ist es auch legitim, dass die Ausstellung mehr in die Breite als in die Tiefe geht. Gezeigt werden 3D-gedruckte Gartenskulpturen, die mit grünem Algengetier für ein besseres Raumklima sorgen sollen (H.O.R.T.U.S. XL Astaxanthin.g, ecoLogicStudio, Claudia Pasquero und Marco Poletto), stillgelegte Autobahnen, die das postfossile Zeitalter einläuten, indem sie zu grünen Parks umfunktioniert werden (Seoul Skygarden, MVRDV) sowie Gartenlandschaften, die von Robotern für Roboter geplant und gebaut werden (Robot Garden, University of Michigan, Ann Arbor, SPAN Architects). Die Zukunft kann und will und soll kommen. Eine abenteuerliche Reise.

[ Die Ausstellung „Space and Experience. Architektur für ein besseres Leben“ im Rahmen der Vienna Biennale im Mak ist noch bis 6. Oktober zu sehen. ]

Der Standard, Sa., 2019.07.06

17. Juni 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Wilhelm Holzbauer 1930–2019

Der Architekt prägte die 1970er- und 1980er-Jahre als wichtiger Visionär – von der Wiener U-Bahn bis zum Bankgebäude

Der Architekt prägte die 1970er- und 1980er-Jahre als wichtiger Visionär – von der Wiener U-Bahn bis zum Bankgebäude

Wir waren arme Schlucker, finanziell ist es uns am Anfang wirklich schlecht gegangen“, sagte er einmal über seine ersten Jahre als Architekt. „Doch jeder, der irgendwann einmal mit Architektur zu tun hat, weiß, dass am allerwichtigsten in diesem Job das Geldverdienen ist.“ Am Samstag ist Wilhelm Holzbauer, der sich selbst stets als Dienstleister und Geschäftsmann bezeichnet hat, im Alter von 88 Jahren in Wien gestorben.

Holzbauer wurde 1930 in Salzburg geboren. Er studierte Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien sowie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Seine ersten Berufsjahre waren von Visionen und Tatendrang geprägt. In der „arbeitsgruppe 4“ forschte er an Weltraumschulen und anderen utopischen Projekten und realisierte bald einige– vor allem sakrale – Bauten wie etwa die Pfarrkirche in Salzburg-Parsch oder das Seelsorgezentrum Steyr-Ennsleiten. Die rund 120 Projektentwürfe der arbeitsgruppe 4 gelten bis heute als Meilensteine der österreichischen Architekturgeschichte.

1964 gründete Holzbauer sein eigenes Architekturbüro. In den Jahren 1970 bis 1973 entwickelte er im Rahmen der Architektengruppe U-Bahn das Design und das bis heute aktuelle Architekturleitbild für die Wiener U-Bahnen, das so konsequent und ikonisch war, dass es zehn Jahre später von der kanadischen Stadt Vancouver übernommen wurde.

Er plante die Fußgängerzone in der Kärntner Straße, das Landhaus Bregenz sowie das Rathaus und die Oper von Amsterdam. Von 1987 bis 1991 war Holzbauer Rektor der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Auf dem positiven Höhepunkt seines Schaffens leistete sich der Hedonist sogar ein eigenes Restaurant. Das von 1979 bis 1989 bestehende Mattes in der Schönlaterngasse im ersten Wiener Gemeindebezirk mit Reinhard Gerer am Herd war das erste Haubenrestaurant Wiens.

In den 1990er-Jahren entwarf Holzbauer lukrative Projekte wie etwa die Ringstraßengalerien, den Andromeda-Tower auf der Donauplatte sowie etliche Bankgebäude entlang der Lassallestraße – und wechselte schließlich von der hellen auf die dunkle Seite der Macht. Bei einigen Wettbewerben wie etwa dem für das Konzerthaus in Konstanz oder das 2006 eröffnete „Haus für Mozart“ in Salzburg entpuppte er sich als schlechter Verlierer. Mit List, Kalkül und politischer Verbandelung gelang es ihm immer wieder, die erstplatzierten Sieger vom Sockel zu stoßen und als Nachrückender entgegen der Juryentscheidung den einen oder anderen Auftrag an Land zu ziehen. „Man muss sich eben wehren können“, sagte er ungeniert in einem STANDARD-Interview. „Das ist ja alles ein abgekartetes Spiel. Ich baue auch dann, wenn ich nicht gewinne. Aber dieses Freispiel hat es immer schon gegeben.“

Im Jahr 2000 wurde er mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet. Er füllte in seinem Leben das gesamte Spektrum des Bauens aus – von konstruktiven Visionen zu Beginn seiner Karriere bis hin zu destruktiven Machenschaften in den letzten Jahrzehnten. „Das ist kein Beruf, in dem Freundschaften geboren werden“, sagte er. „Und ich habe mir ziemlich viele Feinde gemacht.“ Wilhelm Holzbauer war der prägende kontroversielle Kopf einer Epoche, die sich langsam dem Ende zuneigt. Er wurde 88 Jahre alt.

Der Standard, Mo., 2019.06.17



verknüpfte Akteure
Holzbauer Wilhelm

15. Juni 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Grundstücke am Firmament

Die Wiener Weltraumarchitektin Sandra Häuplik-Meusburger arbeitet mit ihren Studenten an Projekten für den Mond. Ihre Mission: neu denken. Denn das Bauland auf dem Erdtrabanten unterliegt anderen Rahmenbedingungen als hier unten auf der Erde.

Die Wiener Weltraumarchitektin Sandra Häuplik-Meusburger arbeitet mit ihren Studenten an Projekten für den Mond. Ihre Mission: neu denken. Denn das Bauland auf dem Erdtrabanten unterliegt anderen Rahmenbedingungen als hier unten auf der Erde.

D er Rover hat soeben den Mooncampus verlassen. In einer Stunde werden die Geologen den Rand des Shackleton-Kraters erreicht haben, wo sie Regolith-Staub einsammeln und zur chemischen Auswertung mitnehmen werden. Während der gesamten Mission werden sie in regelmäßiger Sprechverbindung mit der Mission-Control stehen. Diese befindet sich direkt unter der Kuppelschale, die im 3D-Druckverfahren aus Mondgestein hergestellt wurde und die die Kommandozentrale vor Weltraumstrahlung schützen soll.

Doch der eigentliche Mooncampus, erklären Baris Dogan und Iuliia Oblitcova, die das fiktive, aber detailliert durchdachte Projekt im Rahmen eines Mondsemesters an der TU Wien entworfen haben, befindet sich unterirdisch und umfasst auf insgesamt vier Ebenen Labore, Werkstätten und Wohnräume für bis zu 20 Wissenschafter. Hier sollen die Astronauten mehrwöchige Trainings und Auffrischungskurse über sich ergehen lassen und sich auf diese Weise nach und nach an die neuen Gegebenheiten auf dem Erdtrabanten gewöhnen.

„Wenn sich die Studierenden entschließen, ihr Projekt unter der Oberfläche des Mondes anzusiedeln“, sagt Sandra Häuplik-Meusburger, „können wir dann wirklich noch von unterirdischen Systemen sprechen? Oder müssten wir diese Form der Behausung nicht viel eher als untermondische Architektur bezeichnen?“ Am Mond ist eben alles ein bisschen anders. Und das bezieht sich nicht nur auf physikalische Aspekte wie etwa die deutlich geringere Schwerkraft und die starke, ungeschützt einwirkende Strahlung, sondern auch auf technische, materielle und vor allem logistische Fragen: Wie können wir auf dem Mond Häuser bauen?

Häuplik-Meusburger ist passionierte Weltraumarchitektin. 2011 interviewte sie neun Raumfahrer und analysierte insgesamt sechs Stationen – Apollo, Saljut, Skylab, Spaceshuttle, MIR und ISS – in Bezug auf die Lebensbedingungen außerhalb der Erdatmosphäre. Ihre Forschungsergebnisse sammelte sie in einem 300-seitigen Buch unter dem Titel Architecture for Astronauts. Heute arbeitet sie als Dozentin an der TU Wien und vermittelt Architekturwissen unter einem etwas anderen Blickwinkel. Die von ihr betreuten Mondprojekte sind nicht nur eine Reaktion auf das 50-Jahre-Jubiläum der Mondlandung, sondern beziehen sich auch auf eine dezidierte Vision der Europäischen Weltraumorganisation ESA.

„Alle sprechen von der Reise zum Mars, und das ist definitiv der nächste große Schritt“, sagt ESA-Generaldirektor Jan Wörner. „Doch wir müssen erst wieder zum Mond, um zu lernen und bessere Technologien zu entwickeln. Kein Mensch hat je die Rückseite des Mondes besucht. Und noch nie ist irgendwer in seine Polargebiete vorgedrungen, wo unbemannte Sonden vor einigen Jahren Wassereis im Boden entdeckt haben. All das gilt es zu erforschen. Erst danach können wir weiter zum Mars.“

2016 formulierte Wörner erstmals die Idee, ein Moon Village zu errichten. Dieses könnte nicht nur als Forschungsstation dienen, sondern auch als Zwischenstation für spätere Reisen zum Mars. „Unter Moon Village stelle ich mir aber keine Häuser, Straßen oder Kirchen vor“, so Wörner. „Ich denke dabei eher an das Grundgerüst eines Dorfs, in dem Menschen zusammen leben und arbeiten.“ Im internationalen und interglobalen Moon Village, so der Plan, sollen Know-how und Kompetenzen verschiedener Weltraumnationen wie etwa China, Russland, Indien, USA und ESA bewusst gebündelt werden. Zudem könnten die Protagonisten auf dieser permanenten Mondbasis in ganz unterschiedlichen Feldern aktiv sein – in Wissenschaft und Grundlagenforschung, aber auch im kommerziellen Bereich, etwa im Weltraumtourismus und in der Gewinnung von Rohstoffen.

Ein wichtiges Thema auf dem Mond ist die Grundversorgung mit Energie und Nahrungsmitteln. Alexander Garber und Katharina Lehr-Splawinksi (Foto links u.) haben ein Food Research Lab entworfen, in dem der Anbau von Nahrungsmitteln erforscht und praktiziert werden soll. Die ringförmige Konstruktion, die aus addierbaren Faltmodulen sowie aus aufblasbaren Unterkünften, sogenannten Inflatables, besteht, ist zugleich die Antwort auf eines der größten Probleme der Mondarchitektur – des Transports. Im komprimierten Zustand sollen die einzelnen Elemente in einen Raketenkopf passen.

Günes Aydar, Emirhan Veyseloglu und Gözde Yilmaz hingegen haben sich mit solarer Energiegewinnung beschäftigt und analysiert, welche Teile des Mondes am häufigsten und stärksten von der Sonne beschienen werden. Ihr mobiles Forschungsmodul Sundial Habitat (Foto rechts u.) ist so konzipiert, dass es in konzentrischen Bewegungen dem Sonnenverlauf über Stein und Geröll folgen und sich autark mit Energie versorgen soll.

„Natürlich ist das alles Zukunftsmusik, aber diese Zukunft wird nicht erst übermorgen eintreten“, meint Sandra Häuplik-Meusburger. „Daher müssen wir schon heute das Selbstverständliche unserer Erde verlassen und lernen, uns auf neue, ungewohnte Rahmenbedingungen einzulassen. Bevor wir den Mond besiedeln, müssen wir Fragen der Wasser- und Energieversorgung, des Materialtransports und vor allem des außerirdischen Bauens beantworten. Das sind die ersten Schritte dazu.“

Die Space-Architektin zögert ein wenig. Und spricht am Ende über Kindermärchen und Kunstgeschichte. „Fakt ist: Mit den ersten Moon Villages wird die Dunkelheit des Mondes für immer verschwunden sein. Dann werden wir auch bei Neumond leuchtende Städte und Dörfer im Himmel sehen. Wollen wir das?“

Der Standard, Sa., 2019.06.15

13. Juni 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Holzplektron mit sozialem Herz

Im Grazer Nobelviertel Rosenhain errichtete die Siedlungsgenossenschaft Ennstal einen Holzbau für vor allem einkommensschwächere Familien. Das gemütliche Atrium im Inneren soll die Bewohner zusammenführen.

Im Grazer Nobelviertel Rosenhain errichtete die Siedlungsgenossenschaft Ennstal einen Holzbau für vor allem einkommensschwächere Familien. Das gemütliche Atrium im Inneren soll die Bewohner zusammenführen.

Große Villen, üppig begrünte Grundstücke, ein Wäldchen mit kleinen Fischteichen: Rosenhain im Grazer Bezirk Geidorf zählt zu den nobelsten und teuersten Adressen der steirischen Landeshauptstadt. Kein Wunder, dass das Grazer Immobilienunternehmen Immo Circle in Zusammenarbeit mit dem Fertighaushersteller Griffner genau hier sieben luxuriöse Nobelvillen entwickelt, die um rund 6200 Euro pro Quadratmeter am Markt stehen. Geplante Fertigstellung: Sommer 2020.

„Rosenhain ist eine Wohngegend, in der üblicherweise gewerblicher Wohnbau mit Profitmaximierung entsteht“, sagt der Grazer Architekt Stefan Nussmüller. „Niemand hätte erwartet, dass sich die Stadt Graz entschließt, genau hier einen Übertragungswohnbau für sozial schwache Einkommensschichten zu errichten. Das Bekenntnis zur sozialen Durchmischung in dieser Konsequenz ist ein echter Glücksfall.“

Das Projekt, auf das der Architekt anspielt, befindet sich in der Max-Mell-Allee 6, ein paar Schritte nur vom Uni-Sportzentrum entfernt, und umfasst nach seinen Plänen insgesamt 38 kompakt geschnittene Wohnungen, die in ihrer cleveren Winzigkeit sogar die Wiener Smart-Wohnungen überbieten. Das Spektrum reicht von kleinen Garçonnièren bis hin zu Fünf-Zimmer-Wohnungen auf gerade mal 85 Quadratmetern Nutzfläche. Das Angebot richtet sich an einkommensschwächere, auch kinderreiche Familien, denen die Anzahl der getrennten Schlafzimmer finanziell bedingt wichtiger ist als ein komfortabel dimensioniertes Wohnzimmer. In manchen Wohnungen misst die Wohnküche kaum 20 Quadratmeter.

„Der Bedarf an solchen kompakten Wohnungen ist groß“, sagt Birgit Schauer, Projektleiterin in der gemeinnützigen Siedlungsgenossenschaft Ennstal, die das Projekt im Rahmen eines Bauträgerwettbewerbs mit nachgeschaltetem Architekturwettbewerb entwickelt hat. „Wir verwalten die Anlage nur. Sowohl das Grundstück als auch das Einweisungsrecht liegen nach wie vor in den Händen der Stadt Graz.“ Durch das Baurecht sowie durch behördliche Anreize wie etwa den Entfall der sogenannten Bauabgabe sei es möglich gewesen, die Mietkosten auf 7,85 Euro pro Quadratmeter zu reduzieren – inklusive Umsatzsteuer, Betriebskosten und eingebauter Küchenzeile.

Nicht alltäglich ist auch die Bauweise: Nachdem in der Steiermark 25 Prozent aller geförderten Wohnbauten in Holz errichtet werden müssen, fiel die Entscheidung für das Baumaterial nicht schwer. Die Wahl fiel auf massives Brettschichtholz für die Decken und Innenwände sowie auf eine Riegelkonstruktion mit innenliegender Wärmedämmung für die Außenwände. Durch den platzsparenden Wandaufbau konnten gegenüber einer klassischen massiven Außenwandkonstruktion bei gleichbleibendem Außenvolumen zusätzlich 50 verwertbare Quadratmeter gewonnen werden.

Das Holz kam nicht nur konstruktiv zum Einsatz, sondern prägt das Haus, das im Grundriss wie ein überdimensionales Plektron daherkommt, auch optisch: Jeder Wohnung ist eine breite Balkon- und Loggienschicht vorgelagert, die an der Fassade mit zueinander versetzten Lärchenholzrosten verkleidet ist. Die hölzernen, über zwei Geschoße reichenden Schattenspender dienen zugleich als Sichtschutz und Rankgerüst für Pflanzen. Die Freiräume sind bewusst groß dimensioniert und sollen die oft knappen Wohnflächen kompensieren.

Doch die wahre Besonderheit des Hauses liegt im Innenhof verborgen: Nachdem sämtliche Wohnungen von hier aus – entweder direkt über den Hof oder über einen Laubengang – erschlossen werden, entschied sich Architekt Nussmüller, diesen Flächen eine Zweitfunktion zu geben: „Es ist in Österreich brandschutzrechtlich verboten, brennbare Gegenstände auf den Gang zu stellen. Aber unsere Gänge sind so breit, dass für kleinere Sachen dennoch Platz ist. Wenn man heute durch die Anlage spaziert, sieht man bereits Schuhe, Kräutertöpfe, Sitzbankerln, und ich gehe davon aus, dass diese lebendige Bespielung in den kommenden Jahren noch deutlich zunehmen wird. Hier findet das soziale Leben statt.“

Trotz aller Qualitäten war das Objekt (Baukosten 4,4 Millionen Euro) schwieriger zu verwerten als vergleichbare Häuser in anderen Lagen: „Für einige Familien mit Migrationshintergrund war Rosenhain alles andere als eine begehrte Wohnlage im Grünen“, sagt Schauer, „vielmehr lediglich ein Bezirk mit zu wenig Infrastruktur und zu großer Entfernung zur Innenstadt und zu den vielen kleinen Geschäften in Gries und Lend.“

Und auch der Gemeinschaftsraum muss hier, damit er tatsächlich genutzt wird, von außen programmiert werden: Regelmäßig organisiert die SG Ennstal, die sogar eine eigene Mediationsabteilung hat, Frühstücke, Spielenachmittage und Nachhilfestunden für Kinder und Jugendliche.

Der Standard, Do., 2019.06.13



verknüpfte Bauwerke
Wohnbau Max-Mell-Allee

18. Mai 2019Wojciech Czaja
Der Standard

In das Wohnzimmer passt meine ganze ehemalige Wiener Wohnung hinein

Der Vorarlberger Architekt Lukas Böckle hat ein Herz für leerstehende Häuser. Seit letztem Sommer wohnt er in der Villa Müller in Feldkirch – und betreibt das Haus als Thinktank und öffentliche Kulturplattform.

Der Vorarlberger Architekt Lukas Böckle hat ein Herz für leerstehende Häuser. Seit letztem Sommer wohnt er in der Villa Müller in Feldkirch – und betreibt das Haus als Thinktank und öffentliche Kulturplattform.

Ich liege auf dem alten Samtsofa, in gefühlt 2,80 Metern Höhe über dem Fußboden. Unter mir befindet sich ein Sammelsurium an Möbeln. Und wie ich so nach unten durchs Fenster blicke und am Fuße des Berges die Altstadt von Feldkirch entdecke, denke ich mir: super Blickwinkel! Früher habe ich in Wien gewohnt und wollte nie wieder nach Vorarlberg zurückkehren. Trotzdem bin ich seit Sommer 2018 wieder da, in einer Mission wohlgemerkt, und bewohne vorübergehend eine 750 Quadratmeter große Villa mit einem Wohnzimmer, das so groß ist, dass hier meine ganze ehemalige Wiener Wohnung hineinpassen würde. Die Japaner würden es sogar schaffen, zwei oder drei Wohnungen in diesen Salon hineinzustopfen.

Wie es zu diesem Möbelberg gekommen ist? Letztes Jahr, kurz nachdem ich hierhergezogen bin, habe ich die Vorarlberger Künstlerin Nadine Hirschauer kennengelernt. Sie war gerade dabei, ein Projekt zum Thema Heimat zu planen, und war auf der Suche nach einer geeigneten Location dafür. Ich habe ihr die Villa Müller angeboten, denn genau für solche Aktionen ist dieser Ort konzipiert. Die Villa Müller ist ein Thinktank, ein Seminarort der Extraklasse, eine temporäre Wohn- und Arbeitslocation für Artists in Residence sowie eine Kunst- und Kulturplattform für Musik, Literatur und bildende Kunst.

Anfang des Jahres hat Nadine also begonnen, das Mobiliar im Wohnzimmer Stück für Stück zu inventarisieren und jedes einzelne Möbelstück minutiös aufzulisten – mit der Schreibmaschine, so wie damals. Sobald ein Objekt in die Inventarliste aufgenommen wurde, landete es in diesem Eck des Salons. Und so begab es sich, dass ich eines Tages nach Hause gekommen bin und diesen Möbelberg hier vorgefunden habe. Ich bin von dieser Installation sehr angetan, denn sie veranschaulicht die höchstmögliche Konzentration des Wohnens.

Zu vielen Möbeln gibt es keinen Zugang mehr, der Weg zu den eigenen Sachen ist versperrt, und so ist man plötzlich mit der Frage des Überflusses konfrontiert: Was brauche ich wirklich zum Wohnen? Wie viele Sessel? Wie viele Tische? Wie viele Stehlampen? Immerhin: Die Bar steht ganz vorne griffbereit! Ich selbst bewohne ein kleines Schlafzimmer mit 14 Quadratmetern Fläche und einem eigenen Bad mit grünen Oma-Fliesen an der Wand. Die Villa Müller wurde 1960 von Architekt Walter Bosshart errichtet, und zwar für die Familie Müller-Degerdon, die in Bludesch eine große Textilfärberei betrieb. Das Haus war für ein Ehepaar mit drei Kindern und Personal bemessen.

Vier Jahre lang stand die Villa nun leer. Seit letztem Jahr nutzen wir sie als Kulturlocation und Seminarhotel – und sammeln nebenbei auf empirische Weise Erfahrungen, um festzustellen, wie dieser Leerstand langfristig am besten nachzunutzen wäre. Bis Jahresende wollen wir eine Entscheidung getroffen und mit der Eigentümerfamilie – die uns übrigens mehr als positiv aufgenommen hat – die Zukunft besprochen haben. Ich bezeichne diesen Prozess als alternative Projektentwicklung.

Für mich ist dieser Ort mit all seinen eigenartigen, oft surrealen Momenten ein Zeitzeuge der Sechzigerjahre – und eine Erinnerung daran, mit unseren Ressourcen intelligent und nachhaltig umzugehen. Und nicht sofort alles wegzureißen, nur weil es nicht mehr schön oder funktional ist. Ich bin sehr glücklich hier und erkenne meine Heimat im Gastgeben, Netzwerken und Verknüpfen. Die Villa Müller ist mein ganz persönlicher temporärer Zustand. Der Rest wird sich weisen.

Der Standard, Sa., 2019.05.18

04. Mai 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Autofokus auf Schmäh und Schmach

Gestern, Freitag, wurde in Frankfurt der Preis für Europäische Architekturfotografie vergeben. Trotz des fröhlichen Generalmottos „Joyful Architecture“ ist einem nicht immer zu lachen zumute.

Gestern, Freitag, wurde in Frankfurt der Preis für Europäische Architekturfotografie vergeben. Trotz des fröhlichen Generalmottos „Joyful Architecture“ ist einem nicht immer zu lachen zumute.

Ein Kletterseil ist empfehlenswert, ein Helm aufgrund des sich mitunter lösenden Gerölls absolute Pflicht, und dann kommt er, der sogenannte Stopselzieher, der kleine, schmale Felstunnel, durch den man durchkraxeln muss und der einem schließlich die letzte Passage auf die steil zulaufende Zugspitze offenbart. „Nach fünf bis sechs Stunden Fußmarsch ist man durchgeschwitzt und ausgepumpt“, sagt der Münchner Architekt Dirk Härle, „und dann steht man plötzlich vor dem diesem befremdlich anmutenden Objekt, bei dem man weder weiß, was es ist, noch, wann es errichtet wurde. Am liebsten möchte man anklopfen und sofort eintreten.“

Die Höhenstrahlungsstation in 2962 Meter Seehöhe wurde 1966 für das Fraunhofer-Institut errichtet und besteht aus massiven Aluminiumplatten. Dank der ungewöhnlichen Materialwahl können im Inneren der Station präzise, unverfälschte Messwerte gewonnen werden. Die an eine Mondkapsel erinnernde Form wiederum hat mit der Witterung zu tun und sorgt dafür, dass die enormen Schneemassen an den glatten Flächen spurlos abgleiten können. Die dreieckige Gaupe scheint ein schelmisch zwinkerndes Zitat an das Bauen im alpinen Raum zu sein.

Humorvolle Momente

„Ich habe, egal wohin ich gehe, immer eine klein Fuji-Kamera dabei und notiere damit all das, was ich witzig oder in irgendeiner Art und Weise im Kontext spannend finde“, so Härle. „Ob das nun ein Heimspiel meines Lieblingsvereins 1860 im Grünwalder Stadion in Giesing ist, eine überdimensionale Kupferkrone über der Garage eines Spenglereibetriebs in der Münchner Innenstadt oder eine alte Plastiksitzschale aus dem alten 1860er-Stadion, die sich plötzlich mitten im winterlichen Wald wiederfindet, und das sogar in Sichtweite zur neuen Allianz-Arena.“

Genau diese eigentümlichen, deplatzierten, ganz tief drinnen humorvollen Momente, die nicht unbedingt mit visueller Ästhetik als vielmehr mit der Wahl des Motivs zu tun haben, haben dem 47-jährigen Architekten gestern, Freitag, den Sieg beim Europäischen Architekturfotografie-Preis beschert.

Der biennal vergebene Preis, der vom deutschen Verein Architekturbild e. V. in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Baukultur und dem Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main ausgelobt wird und der heuer unter dem Motto „Joyful Architecture“ stand, hat die Aufgabe, das oft sperrige, oft menschenlose, oft schablonenhafte Medium der Architekturfotografie vor den Vorhang zu holen – und zu zeigen, dass es auch anders geht.

„Uns interessiert nicht die klassische Gebäudedokumentation, sondern die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Architektur“, erklärt die Vereinsvorsitzende Christina Gräwe. „Architektur wird oft sehr ernst und seriös betrachtet. Daher haben wir uns diesmal ganz bewusst dafür entschieden, uns auf die fröhliche, genussvolle Komponente des Bauens zu konzentrieren.“ Zwar gebe es unter den insgesamt 105 eingereichten Fotoserien etliche Spielplätze und lustige Schnappschüsse aus der Welt des Bauens, doch die Mehrheit der Arbeiten, so Gräwe, offenbare hinter der oberflächlichen Fröhlichkeit eine durchaus kritische Tiefenschärfe.

Hässlichkeiten Österreichs

So auch die mit einer Auszeichnung prämierte Serie Bewegtbilder des Tullner Fotografen Rainer Friedl. Hinter den vier bunten, angenehm kolorierten und hübsch anzuschauenden Tableaus verbirgt sich eine der größten Hässlichkeiten Österreichs. „Die Lärmschutzwände entlang der Autobahnen sind eine ziemliche optische Herausforderung. Und je schöner man sie zu tarnen, kaschieren und behübschen versucht, umso schlimmer stemmen sich die hunderte Kilometer langen Trennwände gegen die Landschaft.“

Vor allem aber machen die Lärmschutzwände, die Friedl in den letzten Monaten auf der A1, A2 und A21 aus dem fahrenden Auto heraus fotografiert hat, anschaulich, wie wir in diesem Land mit Mobilität, Wohnraum und Baulandwidmung umgehen: „Wir rasen möglichst schnell irgendwohin, um Ruhe zu haben. Und auf dem Weg dorthin belästigen wir all jene, die sich ihren Traum im Grünen verwirklichen wollten, letztendlich aber der österreichischen Raumplanung und Zersiedelungspolitik zum Opfer gefallen sind, für die wir wiederum mit Steuergeldern akustische Schutzmaßnahmen errichten müssen.“ Ein verschwommenes Foto kann tausend Worte sagen.

[ Die Ausstellung „Joyful Architecture“ im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main ist bis 1. September 2019 zu sehen. ]

Der Standard, Sa., 2019.05.04

27. April 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Der Planet im Emergency-Room

Die Erde ist in einer Krise, und die Menschen und die Baubranche tragen Mitschuld daran. Wie man aus dieser globalen Misere wieder herauskommt, zeigt die Ausstellung „Critical Care“ in Wien.

Die Erde ist in einer Krise, und die Menschen und die Baubranche tragen Mitschuld daran. Wie man aus dieser globalen Misere wieder herauskommt, zeigt die Ausstellung „Critical Care“ in Wien.

Öffnungszeiten 9.00 bis 20.30 Uhr. Sonntags und feiertags ist das Freibad bis 17.30 Uhr geöffnet. 20 Real kostet der reguläre Eintritt, Mitglieder zahlen die Hälfte. Für die umgerechnet zwei bis vier Euro gibt es nicht nur eine nasse Abkühlung unter freiem Himmel, sondern auch einen ungetrübten Blick auf die Skyline von São Paulo. Und auf Wunsch sogar eine dermatologische Untersuchung. Die wahre Besonderheit des 25 mal 25 Meter großen Schwimmbeckens jedoch ist die Lage, denn die Piscina SESC 24 de Maio befindet sich nicht etwa in irgendeinem beschaulichen Wohnviertel am Stadtrand, sondern mitten im Zentrum, rund hundert Meter Luftlinie vom Stadttheater São Paulo entfernt, im 14. Stock eines ehemaligen, heruntergewirtschafteten Sechzigerjahre-Kaufhauses.

„Üblicherweise ist das Freibad auf dem Dach ein Systembild des globalen Reichtums und bedient das eine oberste Prozent der Menschen“, sagt die Wiener Stadtforscherin Elke Krasny, die das außergewöhnliche Projekt letztes Jahr besucht hat. „Doch in diesem Fall richtet sich der Swimmingpool mit Sonnenterrasse in der Tat an die 99 Prozent der städtischen Bevölkerung, die sich genau solche Einrichtungen üblicherweise nicht leisten können.“

Nachdem das Mesbla-Einkaufszentrum jahrelang leer gestanden war, wurde das Gebäude vom Serviço Social do Comércio (SESC) aufgekauft und komplett umgebaut. Die 1946 gegründete Non-Profit-Organisation, die in ganz Brasilien tätig ist und am ehesten mit einem Kammerfonds oder Wohlfahrtstopf zu vergleichen ist, versteht sich als Bildungs-, Kultur- und Freizeitnetzwerk für Arbeiter und Angehörige des handelnden Gewerbes. Allein in São Paulo betreibt die SESC rund 40 Einrichtungen dieser Art.

Das SESC-Zentrum an der Ecke Rua 24 de Maio und Rua Dom José de Barros, das seit zwei Jahren in Betrieb ist, zählt wahrscheinlich zu den schönsten und spektakulärsten und umfasst neben dem Outdoorpool auf dem Dach eine Zahnklinik für die SESC-Mitglieder sowie Theater, Bibliothek, Café, Restaurant, Tanzstudio, Fitnesscenter, Ausstellungsflächen und temporär anmietbare Wohn- und Arbeitsflächen. Verbunden wird die vertikale Ministadt von unzähligen Rampen, auf denen man Meter für Meter in die Höhe wandern kann. Die Planung dafür stammt vom brasilianischen Architekten und Pritzker-Preis-Träger Paulo Mendes da Rocha.

Allen Grund zur Sorge

Das SESC-Schwimmbad im Herzen des brasilianischen Megamolochs ist eines von insgesamt 21 Projekten, die in der neuen Ausstellung im Architekturzentrum Wien (AzW) zu sehen sind. Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise, so der offizielle Titel, wirft einen Blick auf innovative, intelligente und vor allem prototypische Impulse, die als architektonische und stadtplanerische Bedienungsanleitung für den leicht maroden Erdball zu verstehen sind. Kein Wunder also, dass in der englischen Übersetzung nicht bloß von „Krise“, sondern bereits von „broken planet“ die Rede ist. Der Hut brennt.

„Das Wetter wird immer radikaler, die ökologischen Werte geben allen Grund zur Sorge, und die Erderwärmung spüren wir mittlerweile am eigenen Leib“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des AzW. Sie hat die Ausstellung gemeinsam mit der schwimmenden Elke Krasny kuratiert und in den letzten drei Jahren aus aller Welt zusammenrecherchiert. „Die Erde ist in der Notaufnahme. Der menschengemachte Klimawandel droht den Planeten unbewohnbar zu machen. Und diese Ausstellung ist – um im medizinischen Diskurs zu bleiben – eine Intensivstation, in der wir einige Medikationen präsentieren, wie mit dieser Situation umzugehen ist, denn Architektur und Urbanismus sind in diese Krise massiv verstrickt.“

Was tun? Die Reise, auf die man subtil-didaktisch entführt wird (diesmal nicht mit der üblichen Architekturbrille, sondern mit einem ganz anderen, differenzierten Blick voller Aha- und Oje-Momente), umspannt fast alle Kontinente und zeigt Best-Practice-Beispiele im sozialen, ökologischen und wirtschaftspolitischen Kontext. Manche Projekte sind bekannt und werden in der Fachwelt längst schon als heilig hin- und hergereicht. Andere sind neu und machen Gänsehaut.

Das Friendship Centre in Gaibandha, Bangladesch, ist ein Ausbildungszentrum mitten im Überschwemmungsgebiet des Brahmaputra. Während die meisten Bauten in der Region mit viel Erdmaterial teuer und ressourcenintensiv aufgeschüttet werden, um sie vor dem regelmäßigen Hochwasser zu schützen, wurde das Friendship Centre lediglich mit einem Wall umgeben. Mit dem Fluss ist die Anlage aus der Feder von Kashef Mahboob Chowdhury über kommunizierende Gefäße verbunden, die das Gebäude mit Nutzwasser für Toilettenspülung, Fischteiche und natürliche Ventilation versorgen.

In der Sindh-Region entwickelte die pakistanische Architektin Yasmeen Lari ein Lehmhaus, das dank massiv gemauerten Sockels ebenfalls hochwasserresistent ist und dessen Pläne und konstruktive Detaillösungen nun als Open Source zur Verfügung stehen. Das Projekt ist nicht zuletzt als nachhaltige Gegenposition zu den vielen Zelten und Containern internationaler NGOs zu verstehen. Im Gegensatz zu den importierten temporären Fremdbehausungen bleibt die Wertschöpfungskette in der Region. Rund 40.000 Häuser konnten auf diese Weise bereits errichtet werden.

Hinzu kommen großflächige Verkehrsberuhigungen in Barcelona, in dessen Zuge die Straßenblocks zu autofreien, dicht begrünten Superblocks zusammengefasst werden. In San Juan, Puerto Rico, wiederum wurde ein Community Land Trust eingerichtet, um die informellen Favela-Siedlungen am Rande des Financial Districts und somit auch seine Bewohner vor dem total Ausverkauf zu schützen. Und in Frankreich zeigen die Pariser Architekten Lacaton & Vassal schon seit vielen Jahren vor, wie sozial und ökonomisch clever man mit unliebsamen Wohnbauten aus den Sechziger- und Siebzigerjahren umgehen kann.

Einen der schrägsten und zugleich aber sinnvollsten und logischsten Beiträge in der Ausstellung Critical Care liefert die deutsch-indische Architektin Anupama Kundoo. In Pondicherry, Südindien, baute sie ein Kinderheim aus Lehmziegeln, das wie ein Cluster aus gemauerten Iglus um einen großen Innenhof herum gruppiert ist. Um die Festigkeit der Bauten zu erhöhen, wurden die Häuser nach Fertigstellung im wahrsten Sinne des Wortes angezündet und mutierten auf diese Weise vier Tage lang zu gebrannten Ziegelbauten. Zuvor wurden die „Brennöfen“ noch mit Ziegeln und allerlei Keramik- und Töpferware gefüllt.

„Sowohl Architektur als auch die Produktion von Keramik sind sehr energie- und ressourcenintensiv“, sagen die beiden Kuratorinnen Angelika Fitz und Elke Krasny. „Hier werden mit einem ungewöhnlichen Blick auf die Dinge Synergieeffekte geschaffen.“ Architektur ist nicht nur Schöpfung, als die sie von Medien und (männlichen) Stararchitekten immer wieder gepriesen wird, sondern mitunter auch schöpferische Reparatur an unserem Planeten. Pathos hin oder her: Wollen wir die Erde jemals wieder aus dem Emergency-Room hinausrollen, muss diese Erkenntnis milliardenfach zu den Stakeholdern und Entscheidungsträgern gelangen. Jetzt.

„Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise“, Architekturzentrum Wien, bis 9. September 2019

Der Standard, Sa., 2019.04.27

13. April 2019Wojciech Czaja
Der Standard

„Triff niemals einen Investor unter vier Augen!“

Matúš Vallo ist Architekt. Doch da er mit seiner Stadt unzufrieden war, beschloss er, in die Politik zu gehen. Seit drei Monaten ist er nun Bürgermeister von Bratislava. Ein Gespräch.

Matúš Vallo ist Architekt. Doch da er mit seiner Stadt unzufrieden war, beschloss er, in die Politik zu gehen. Seit drei Monaten ist er nun Bürgermeister von Bratislava. Ein Gespräch.

Standard: Wann haben Sie Ihr letztes Haus geplant?

Vallo: Das Timing war ziemlich perfekt, denn an meinem letzten Projekt Nádvorie in Trnava, für das wir schon mit etlichen Preisen ausgezeichnet wurden, habe ich insgesamt sieben Jahre lang gearbeitet. Im Sommer 2018 war das Projekt zu Ende. Zu diesem Zeitpunkt ist der Wahlkampf in die heiße Phase gekommen.

Standard: Fehlt Ihnen Ihr Job als Architekt?

Vallo: Und wie! Ein Architekt ist ein Mensch, der der gebauten Welt kraft seiner Gestaltungsgabe eine Form gibt. Ich bin gerade dabei, mich damit abzufinden, dass ich als Bürgermeister nichts anderes tue. Ich gestalte die Welt. Nur sind meine Werkzeuge jetzt nicht mehr Ziegel und Beton, sondern Dialog, Stadtverfassung und politische Macht, die es sinnvoll einzusetzen gilt.

Standard: Im Büro Vallo Sadovský Architects taucht Ihr Name nach wie vor auf.

Vallo: Operativ habe ich mich bereits zurückgezogen. Nächstes Jahr wird sich dann auch der Büroname ändern. Wir arbeiten gerade am Ausstiegsszenario. Ich habe eine Träne im Auge.

Standard: Wie kommt man als Architekt auf die Idee, Politiker zu werden?

Vallo: Veränderungen sind etwas Schönes! Rem Koolhaas war ursprünglich Journalist und Filmemacher! In meinem Fall habe ich eines Tages erkannt, dass ich als Architekt nur bis zu einem gewissen Grad in der Lage bin, die Stadt zu planen und ihr Schönheit und Funktionalität zu verleihen. Dort, wo man die Politik und Wirtschaft berührt, stößt man an seine Grenzen. Mir persönlich haben diese Grenzen nie gefallen, denn sie haben verhindert, dass sich die Stadt Bratislava, in der ich aufgewachsen bin und die ich sehr liebe, so entfalten konnte, wie es ihr zusteht.

Standard: Das klingt schon fast nach Politikerjargon.

Vallo: Mag sein. Es ist die Wahrheit. Bratislava ist eine großartige Stadt mit vielen Problemen. Ich wünsche mir, dass sie eine großartige Stadt ohne viele Probleme wird. Und ich werde mir den Arsch aufreißen, damit das gelingt.

Standard: Im November 2018 wurden Sie mit einer deutlichen Mehrheit zum neuen Bürgermeister von Bratislava gewählt. Wie ist Ihnen das gelungen?

Vallo: Als der Wahlkampf ein Jahr zuvor anfing, war ich in Bratislava außerhalb der Architekturszene kaum bekannt. Ich hatte einen Bekanntheitsgrad von nicht einmal acht Prozent. Ich wusste: Damit würde ich nichts reißen. Also habe ich beschlossen, Plán Bratislava zu schreiben, darin meine Visionen für diese Stadt zu schildern und das Buch in der Bevölkerung bekannt zu machen. Am Ende habe ich 36,5 Prozent der Wählerstimmen bekommen. Plán Bratislava war, wenn Sie so wollen, mein Werkzeug zum Erfolg.

Standard: Das ist das Wie. Was ist das Was?

Vallo: Bratislava hat viel zu wenige Gemeindewohnungen, nämlich gerade einmal 900 Wohneinheiten. Damit beträgt die Wartezeit auf eine kommunal geförderte Wohnung sieben bis acht Jahre. Das ist zum Schämen. Hinzu kommt, dass Bratislava eine Stadt ist, die als unsicher empfunden wird und die in vielen Teilen in der Tat eine hohe Kriminalität aufweist. Einige besonders traurige Vorfälle haben in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht. Und nicht zuletzt lässt der öffentliche Nahverkehr zu wünschen übrig. Die Busse sind alt und dreckig, sie fahren zu selten und zu unregelmäßig, und es gibt keinen digitalen Echtzeitfahrplan. Mein Was beinhaltet im Wesentlichen die Optimierung dieser drei Bereiche.

Standard: Das klingt nach viel Geld.

Vallo: Es wird nicht von heute auf morgen gehen. Wir werden das Geld gezielt und intelligent einsetzen müssen. Beim Wohnbau werden wir Partnerschaften mit privaten Wohnbauträgern eingehen müssen. Und was den öffentlichen Verkehr betrifft: Wir wollen Park-and-ride-Anlagen errichten und eigene Busspuren schaffen, sodass die Busse an den Staus ungehindert vorbeifahren können.

Standard: Welche Rolle spielt der Fußgänger- und Radverkehr?

Vallo: Danke für diese Frage! Die Gehsteige sind ein Trauerspiel und gehören dringend renoviert. Und das Radwegnetz ist viel zu dünn. In den nächsten vier Jahren wollen wir daher rund 40 Kilometer Radwege bauen. Aber wissen Sie, was das größte Problem ist?

Standard: Was denn?

Vallo: Haben Sie auf dem Weg ins Rathaus alte Leute gesehen?

Standard: Wenige. Es gibt vor allem junge Leute auf der Straße.

Vallo: So ist es! Das Durchschnittsalter in Bratislava liegt bei 39 Jahren. Das ist nur minimal geringer als beispielsweise in Wien. Aber dennoch sind die alten Menschen in Bratislava kaum im Straßenbild präsent. Und wissen Sie, woran das liegt? An den fehlenden Parkbänken! Es gibt in Bratislava viel zu wenige Sitzgelegenheiten. Ein alter Mann, eine alte Frau braucht alle 300 Meter eine Möglichkeit, sich hinzusetzen und sich auszuruhen, ohne dabei gleich ein Cola bestellen zu müssen. Aus Untersuchungen wissen wir, dass viele alte Menschen aus diesem Grund nur selten ihre Wohnung verlassen.

Standard: Was werden Sie tun?

Vallo: In meiner Amtszeit werde ich 10.000 Bäume pflanzen und rund 1000 Parkbänke errichten. Wir werden demnächst einen Ideenwettbewerb starten und das Copyright des Siegerentwurfs ankaufen, sodass wir das Modell beliebig oft zur Ausführung in Auftrag geben können.

Standard: Angenommen, der Bürgermeister Matúš Vallo könnte dem Architekten Matúš Vallo einen Direktauftrag geben: Was für ein Projekt müsste das sein?

Vallo: Ein neues Kulturzentrum. Und tausende leistbare Wohnungen für all jene, die heute Wohnungsnot erleben. Aber das wird es nicht spielen, denn ich bevorzuge die Transparenz.

Standard: Das heißt?

Vallo: Mein Motto lautet: Triff niemals einen Investor oder einen Immobilienentwickler unter vier Augen! Sondern immer in einer größeren Gruppe mit Zeugen. Außerdem haben wir auf der Rathaus-Website eine eigene Rubrik eingerichtet, in der wir die Inhalte und Resultate jedes einzelnen Investorengesprächs protokollieren und öffentlich zugänglich machen.

Standard: Davon höre ich zum ersten Mal.

Vallo: Das ist das, was ich unter Politik verstehe. Ich hoffe aus ganzem Herzen, dass ich mir diese Offenheit und Freigeistigkeit bewahren kann und nicht nach ein paar Jahren zu einem Durchschnittspolitiker verkomme. Ich will den Menschen in Bratislava auch nach vier Jahren noch tief in die Augen schauen können.

Standard: In Wien sprechen die Politiker seit Jahren von der Twin-City Wien und Bratislava. Was halten Sie von diesem Konzept?

Vallo: Bullshit. Das ist ein rein politisches Gedankenkonstrukt. Seit 2006 gibt es den Twin-City-Liner, und das ist eine tolle Verkehrsverbindung auf der Donau. Doch abgesehen davon sind diese 45 bis 60 Kilometer dazwischen so trennend, wie sie nur trennend sein können. Ja, ich würde mir eine Twin-City wünschen. Aber das geht nicht, indem man einfach nur behauptet, dass es so ist. Das bedarf einer intensiven kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Zusammenarbeit. Das ist Zukunftsmusik.

Standard: Ein Architekt wird Bürgermeister. Und erst kürzlich wurde die liberale Juristin und Umweltaktivistin Zuzana Čaputová zur neuen Staatspräsidentin gewählt. Ist das ein neuer politischer Wind in der Slowakei?

Vallo: Wir sind leise Vorboten. Ob in diesem Land wirklich ein neuer Wind weht? Bei den Parlamentswahlen 2020 wird sich die Wahrheit über die Slowakei zeigen.

Standard: Haben Sie einen persönlichen, egoistischen Wunsch für die Zukunft?

Vallo: Derzeit arbeite ich 18 Stunden pro Tag. Ich wünsche mir, dass mir auch in Zukunft noch etwas Freizeit bleibt, um mit meiner Band Para auf Tour zu gehen. Denn ich bin nicht nur Architekt und Bürgermeister, sondern auch leidenschaftlicher Gitarrist.

Der Standard, Sa., 2019.04.13

06. April 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Supermann aus Leidenschaft

Karl Schwanzer hat es verstanden, Visionen mit Ziegel und Beton zu bauen. Zwei neue Bücher würdigen den Architekten auf ungewöhnliche Weise. Einmal als Comic, einmal als Sammlung heimlicher Blicke.

Karl Schwanzer hat es verstanden, Visionen mit Ziegel und Beton zu bauen. Zwei neue Bücher würdigen den Architekten auf ungewöhnliche Weise. Einmal als Comic, einmal als Sammlung heimlicher Blicke.

Seilergasse 16. Am Straßenrand parkt ein roter VW Bulli, die Gewista wirbt gerade mit Bruno Kreisky, im Hintergrund ist noch das alte Haas-Haus, Baujahr 1951, zu sehen. Drei Bilder später steht man bereits in seinem Büro mit grünen Wänden, orangem Teppichboden und Blick auf den Stephansdom. Der Architekt sitzt im Drehstuhl und lässt sich von der Sekretärin zu seiner Gattin durchstellen. „Hilde, ich werd’ am Wochenende ins Büro müssen. Es ist einfach so viel zu tun.“ Und dann wird der Telefonhörer aufgelegt. „Clic!“

Vielreisender, Workaholic, leidenschaftlicher Visionär: Karl Schwanzer, der Herr mit Anzug, Krawatte und gegeltem Seitenscheitel, zählt ohne jeden Zweifel zu den wichtigsten und innovativsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Unter den 300 realisierten Projekten finden sich so weltberühmte, teils unter Denkmalschutz gestellte Ikonen wie das Philips-Haus an der Triester Straße, das 20er Haus im Schweizergarten, der Ziegelzubau zur Universität für angewandte Kunst, die österreichische Botschaft in Brasília sowie der markante Vierzylinder-Turm der BMW-Zentrale in München, dessen kreisrunde Büroetagen auf Zugseilen von oben herabhängen. Allem hochwertigen Schaffen zum Trotz ist der Name Schwanzers außerhalb der Architektur- und Kulturszene jedoch nur wenigen geläufig.

Das dürfte sich nun ändern. Der Wiener Trickfilmer und Illustrator Benjamin Swiczinsky verewigte den Umtriebigen, der seine Disziplin stets als Gesamtkunstwerk betrachtete und sogar Sessel, Barhocker und Türklinken entwarf, in einer Graphic Novel mit 600 Illustrationen. „Wir haben gründlich recherchiert und weltweit gerade mal drei Comics über Architekten gefunden, und zwar über Alvar Aalto, Le Corbusier und Adolf Loos“, sagt der 36-jährige Zeichner. „Hinzu kommen Rem Koolhaas und Frank O. Gehry, die mal einen Gastauftritt bei den Simpsons hatten. Das war’s.“

Ziel dieses so lebhaften wie anekdotenreichen Comicbuchs, das nicht nur durch Schwanzers Berufsleben führt und seine Bauten und Projekte vorstellt, sondern auch Einblick in die einmal manische, einmal depressive Privatperson gewährt, ist die unmittelbare, niederschwellige Begegnung mit einem der einflussreichsten Architekten der Nachkriegszeit. „Ich wollte Schwanzer greifbar machen“, sagt Swiczinsky. „Und das geht nicht mit einem klassischen Architekturbuch mit menschenlosen Architekturfotos und viel zu theoretischen Architekturtexten. Das geht nur, indem man die Erwartungen bricht. Beispielsweise mit einem Comic.“

Initiator hinter dem ungewöhnlichen Projekt ist Karl Schwanzers Sohn, Martin Schwanzer, seines Zeichens Architekt und Immobilienentwickler. „Ursprünglich wollte ich einen Zeichentrickfilm über meinen Vater machen“, so Schwanzer, „aber das hätte Millionen gekostet. Das Comic, das man immerhin als eine Art Storyboard für den bislang nicht realisierten Film auffassen kann, war ein guter, wirtschaftlich machbarer Kompromiss.“ Erst im Mai letzten Jahres, zum 100. Geburtstag seines Vaters, richtete Martin Schwanzer einen Instagram-Account ein, auf dem ein Teil des Schwanzer-Archivs – Hochglanzfotos, Baustellendokumentationen und flüchtige Reiseschnappschüsse aus drei Jahrzehnten – nun öffentlich zugänglich ist.

Ein Perfektionist

„Mein Vater war ein Perfektionist und hat detailgenaue Bestandspläne anfertigen und jedes einzelne seiner Projekte professionell fotografieren lassen“, erinnert sich Martin Schwanzer. „Auf diese Weise hat er uns ein perfektes, fast lückenloses Archiv hinterlassen. Daher gelang es, das Comic sehr nah an der Realität anzusiedeln.“ Die Wahrheitstreue bezieht sich auf die Darstellung der Häuser und Protagonisten, aber auch auf so manch intimen Moment zwischen Einsamkeit und Wutausbruch. Das Comic beschönigt keinen Moment lang. „Mit der Lösung eines Problems ist man verkettet bis zur Selbstaufgabe. Man vergisst alles um sich herum, vergisst zu essen, zu schlafen, zu lieben.“ (Karl Schwanzer, Seite 80.)

Fast zeitgleich zur Graphic Novel erschien ein ebenso berührender, im Blick überraschender Bildband zu Schwanzers in Würde gealterten Bauten. Die Spurensuche des Wiener Fotografen Stefan Oláh macht die im Comic skizzierte Welt in realen Bildern noch greifbarer. Viele der Fotografien erzeugen neue, unentdeckte Sichtweisen auf sein Werk. Sie bestätigen Schwanzers Qualitätsanspruch, der heute mehr denn je als Notruf zu verstehen ist: „Architektur darf sich nicht davon entfernen, künstlerisches Werk zu bleiben. Wenn man sich entschlossen hat, Architekt zu sein, muss man den Mut aufbringen, Visionen erfüllen zu wollen.“

Benjamin Swiczinsky, „Schwanzer. Architekt aus Leidenschaft“. € 29,95 / 96 Seiten. Birkhäuser 2018

Ulrike Matzer und Stefan Oláh, „Karl Schwanzer. Spuren. Eine Bestandsaufnahme“. € 49,95 / 128 Seiten. Birkhäuser 2018

Der Standard, Sa., 2019.04.06



verknüpfte Publikationen
Schwanzer – Architekt aus Leidenschaft

23. März 2019Wojciech Czaja
Der Standard

5000 Millimeter unter dem Meer

An der Südküste von Norwegen liegt ein schräg am Felsen lehnender Betonprügel auf Grund. Im Inneren des archaischen Bauwerks schufen die Architekten von Snøhetta das größte Unterwasser-Restaurant der Welt. „Under“ macht Appetit.

An der Südküste von Norwegen liegt ein schräg am Felsen lehnender Betonprügel auf Grund. Im Inneren des archaischen Bauwerks schufen die Architekten von Snøhetta das größte Unterwasser-Restaurant der Welt. „Under“ macht Appetit.

Da pickt eine Nacktschnecke auf der Glaswand, vielleicht drei oder vier Zentimeter groß, lässt ihre an den Spitzen rot eingefärbten Kiemen im Rhythmus der Wellen hin und her wiegen. Auf dem künstlichen Riff vor dem Fenster haben sich in den letzten Monaten indes, zwischen den fetten, olivgrünen Kelpblättern Schutz suchend, Venusmuscheln und Seeigel angesiedelt. Und plötzlich schwimmt ein kleiner Zwergseeskorpion herbei – die gesamte Gastschaft lässt den zweiten Gang, Fischkopftatar mit Rogen und irgendwelchen cremigen Emulsionen, links liegen und strömt zum Fenster – und beschließt, ihre abendlichen Spazierrunden just vor versammeltem Gourmetpublikum zu drehen.

„Damit sind die drei wichtigsten Zutaten unseres Unterwasser-Restaurants offengelegt“, sagt Nicolai Ellitsgaard Pedersen mit einem breiten Lächeln im Gesicht. „Gutes Essen, spektakuläre Architektur und ein kleiner Einblick in die Weiten der Unterwasserwelt.“ Der 32-jährige Chefkoch, seine Jugend funkelt noch unschuldig in den Augen, leitete früher den Gourmettempel Måltid in Kristiansand, irgendwo an der südlichsten Spitze des fjordzerklüfteten Norwegen, ehe ihn der Hotelbesitzer und Investor Stig Ubostad anrief, um ihm ein abgrundtief unmoralisches Angebot zu unterbreiten. „Als ich die Pläne und die ersten Visualisierungen gesehen habe, ist mir die Spucke weggeblieben. Alles, was ich rausbrachte, war: Wo muss ich unterschreiben?“

Wie ein umgekippter, an den schroffen Felsen lehnender Betonprügel liegt das Gebäude im Wasser, verbindet die eine mit der anderen, die nasse mit der trockenen Welt und stemmt sich den Wogen und Witterungen mit trotzendem Gewicht in den Weg. Während der Zugang zur rund 35 Meter langen, unter 20 Grad versenkten Betonröhre über eine stählerne Gangway erfolgt, während das Portal und die kleine Terrasse vor dem Eingang noch ein wenig an eine mit hochglanzlackierten Eichenbohlen verlegte Luxusjacht erinnern, taucht man, sobald man das Foyer und die Garderobe hinter sich gelegt hat, Stufe für Stufe in immer dumpfer, immer blauer werdende, sehnsüchtig in die Tiefe saugenden Gefilde ab.

Der Name des ungewöhnlichen Restaurants, das wie ein Fisch- und Meeresfrüchtefernseher in den Fjord von Båly hineinragt, 90 Autominuten vom nächsten Flughafen entfernt, ist Programm: Under bezieht sich nicht nur auf die hier zur Marke erhobene Lage unter der Wasseroberfläche, sondern ist zugleich auch das norwegische Wort für Wunder: Es das erste Unterwasser-Restaurant Europas. Und es ist das größte seiner Art weltweit. Alles andere als verwunderlich also sind die optischen Assoziationen auf der Restaurant-Website, die trotz der geringen Tiefe von nur fünf Metern unter dem Meeresspiegel so stürmisch, so abenteuerlich, so aggregatzuständlich befremdlich anmuten, als würde man beim 18-gängigen Dinner Jules Vernes höchstpersönlich gegenübersitzen.

Ungewöhnliche Kräfte

„Die Planung und Errichtung dieses Bauwerks war für uns in der Tat ein kühnes Experiment, denn wir haben es hier mit Kräften zu tun, die in der Architektur nicht ganz alltäglich sind“, sagt Kjetil Trædal Thorsen. Der 60-Jährige ist Gründer und Partner im norwegischen Architekturbüro Snøhetta, das Ateliers in Oslo, Innsbruck, Paris, New York und San Francisco betreibt und schon so atemberaubende Projekte wie die Bibliothek von Alexandria, die Oper von Oslo und das wie funkelnde Blutsteine in den Wüstenhimmel ragende King Abdulaziz Center in Dhahran, Saudi-Arabien, realisierte. Erst vor wenigen Monaten wurde in Wattens, Tirol, die Swarovski-Manufaktur in Betrieb genommen.

„Und mit neuen, ungewöhnlichen Kräften meine ich nicht nur die Macht des Wassers, die uns hier auf Schritt und Tritt begegnet und das Projekt maßgeblich geformt hat, sondern auch statische und konstruktive Lösungen, bei denen wir komplett umdenken mussten.“ Betoniert wurde das Gebäude, dessen Oberfläche aus aquadynamischen Gründen leicht gebaucht ist, auf einem schwimmenden Ponton, der in der Nachbarbucht in gerade mal 100 Meter Entfernung vor Anker lag. In einer eintägigen Reise wurde das 1600 Tonnen schwere Ungetüm nach monatelanger Aushärtungszeit im Juni 2018 mit Seilen und luftgefüllten Tarierballons an Ort und Stelle gezogen.

„Normalerweise sind Fundamente auf Druck beansprucht, weil auf ihnen eine schwere Baukonstruktion lastet“, sagt Thorsen, „doch in diesem Fall war es umgekehrt. Nachdem sich das Restaurant aufgrund seiner inneren Leere wie ein Schiff verhält und ohne Verankerung sofort an die Wasseroberfläche aufschwimmen würde, mussten wir das Fundament auf Zug konstruieren.“ Acht oberarmdicke Schraubbolzen, die von Tauchern festgezogen wurden, sorgen dafür, dass das Restaurant dort bleibt, wo es seinem Namen alle Ehre zu erweisen imstande ist.

Über eine elf Meter breite und drei Meter hohe Acrylglasscheibe, die aufgrund des umgebenden Wasserdrucks massiv in 25 Zentimeter Materialdicke (!) dimensioniert werden musste, gelangt das natürliche Licht, das sich durch das nasse Medium den Weg nach unten kämpft, in den Innenraum. Am Abend wird das dem Restaurant vorgelagerte Riff künstlich beleuchtet, worauf sich das Fenster vor den bis zu 40 speisenden Gästen in einen 33 Quadratmeter großen Lampenschirm verwandelt. Kleine LED-Spots im Plafond korrigieren die Wellenlänge und bereichern das bläulich-grünliche Licht des Wassers um die nötigen Rotschwingungen, die in fünf Metern verlorengegangen sind. Eine ästhetisch überaus wichtige Maßnahme, denn sie sorgt dafür, dass einem das Date vis-à-vis nicht wie eine blaulippige Wasserleiche erscheint.

Bis Oktober ausgebucht

„Das Wasser zu beleuchten klingt nach einem dramatischen Eingriff in die Natur“, erklären die beiden Meeresbiologen Trond Rafoss und Kim Halvorsen, die das Projekt von Anfang an begleitet haben und im Under nicht nur ein Restaurant, sondern auch eine maritime Beobachtungsstation sehen. „Aber die permanente Lichtverschmutzung in den Dörfern und Städten hat weitaus größere Auswirkungen als die sieben Scheinwerfer, die in den Abendstunden die paar Kubikmeter des Meeres ausleuchten. Viele Fische fühlen sich vom Licht angezogen. Und die anderen, die das Licht scheuen, werden uns eh fernbleiben.“

Mit rund 70 Millionen norwegischen Kronen (7,2 Millionen Euro), die in Forschung, Entwicklung und Errichtung flossen, soll das Unterwasser-Restaurant nicht zuletzt den internationalen Tourismus, der die norwegische Südküste auf dem Weg nach Stavanger, Bergen und auf die Hurtigruten bisher übersprungen hat, etwas ankurbeln. Das Konzept könnte aufgehen. Am 2. April wird das Lokal, das nordischen Matadoren wie Noma (Kopenhagen) und Maaemo (Oslo) Konkurrenz machen soll, offiziell eröffnet. Trotz eines Menüpreises von 2250 Kronen (230 Euro) sind die Tische bis Oktober ausgebucht.

Der Standard, Sa., 2019.03.23



verknüpfte Bauwerke
Unterwasser-Restaurant „Under“

09. März 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Der Architekt mit dem Kärcher

Das slowakische Architekturbüro Gutgut sagt mit seinen Projekten klassischen Immobilieninvestoren und Developern den Kampf an. Das revitalisierte Zementwerk Mlynica in Bratislava wird heute bei einem Vortrag in Wien vorgestellt.

Das slowakische Architekturbüro Gutgut sagt mit seinen Projekten klassischen Immobilieninvestoren und Developern den Kampf an. Das revitalisierte Zementwerk Mlynica in Bratislava wird heute bei einem Vortrag in Wien vorgestellt.

An den eckigen Pfeilern haftet noch die Patina der letzten Jahrzehnte: Kratzer, Löcher, Markierungen in Weiß und Neonpink. Die dicke Rippendecke erzählt Geschichten von schweren Lasten und rüttelnden Maschinen. Und die Kabeltrassen an den Wänden sind geführt, als wäre mitten im Betrieb das Geld ausgegangen. Schauplatz ist die sogenannte Mlynica, eine aufgelassene Zementfabrik in der Turbinová am nordöstlichen Stadtrand von Bratislava.

„Die Fabrik wurde Anfang der Siebzigerjahre in Betrieb genommen, als der Kommunismus in seiner Blüte war und der Wohnbedarf in der ČSSR traditionsgemäß mit Plattenbauten gedeckt wurde“, erzählt Architekt Štefan Polakovič. „In der Mlynica wurden Stein und Zement gemahlen. Die daraus gegossenen Betonplatten prägen bis heute das Stadtbild in vielen osteuropäischen Städten.“ Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde das staatlich geführte Werk mangels privater Investitionen geschlossen. Seit damals stand die Anlage leer. „Der Zustand, als wir uns das Werk vor ein paar Jahren angesehen haben, war erbärmlich. Doch dann kamen wir ins Spiel.“

Postkommunistische Zeitgeschichte

Im Auftrag des slowakischen Developers ISE, der offenbar keine Angst vor Abgefucktheit hatte, sollte die ehemalige Mlynica in eine Eventlocation mit vermietbaren Büroflächen und stylishen, rough belassenen Lofts umgebaut werden. „In der Regel werden solche Gebäude so lange renoviert, bis von der alten Atmosphäre fast nichts mehr übrig ist“, erzählt Polakovič. „Doch das ist langweilig. Das interessiert uns nicht. Wir wollten das Gebäude in seinem ursprünglichen Charakter erhalten und nur dort reparieren, konstruktiv verstärken und mit neuen architektonischen Implantaten befüllen, wo dies für die Funktion notwendig war. Ansonsten ist das Gebäude unverändert. Nicht einmal die Wände haben wir ausgemalt.“ Kurze Pause. „Ach ja, den Schmutz haben wir natürlich mit dem Kärcher abgewaschen.“

Das Resultat dieses ungewöhnlichen Ansatzes ist eine dreidimensionale Collage aus Stahl, Beton, Ziegel, Bauholz und Profilitglas, die mitten im Industrieviertel, umgeben von Baumärkten, Chemiewerken und dem zentralen Bratislavaer Heizkraftwerk, eine Art lesbare, nonverbal konsumierbare Lektüre postindustrieller, postkommunistischer Zeitgeschichte formiert. Zugleich ist das Projekt, das man in seiner Unverfrorenheit in Berlin, London, New York, gewiss aber nicht in der Slowakei erwarten würde, eine Kampfansage an Privatisierung und an die Unkultur gewerblicher Investoren und Developer, die das Stadtbild von Bratislava seit 1989 massiv verändert haben.

Heute, Samstag, hält Štefan Polakovič gemeinsam mit seinem Kollegen Tomaš Vrtek einen Vortrag im Rahmen des Architekturfestivals Turn on. Ziel des Kongresses, der zum 17. Mal im großen Sendesaal im ORF-Radiokulturhaus ausgerichtet wird, ist die Vernetzung von Architektur, Politik und Bauindustrie. „Architektur ist eine ästhetische Qualität, die sich auf unterschiedliche Weise manifestieren kann“, sagt die Initiatorin und Organisatorin Margit Ulama. „Das Festival präsentiert vielfältigste thematische Facetten, wie die gebaute Umwelt das Leben auf positive Weise beeinflussen kann.“ Zum Beispiel auch so.

„Historische Identität tut jeder Stadt gut“, sagt Polakovič, der mit seinem Partner Lukáš Kordík das Architekturbüro Gutgut in einem stillen Wohnviertel am Rande der Innenstadt leitet. „Aber im Fall von Bratislava, die zu den am schnellsten wachsenden und sich am stärksten verändernden Hauptstädten Europas zählt, sind Rettung und Erhalt der Geschichte anhand der von ihr produzierten Gebäude nicht nur eine Kür, sondern eine Pflicht. Das Immobilienspiel, das die Investoren und Projektentwickler hier spielen, ohne sich für räumliche und historische Qualität zu interessieren, ist ein rasantes und ein brutales. Dem müssen wir dringend etwas entgegensetzen. Das ist unsere Aufgabe als Architekten.“

Mehr als nur gut

Polakovič, der mit seinem Auftritt und seinem offenen, einsichtigen Arbeitsatelier in der Auslage eine neue, nonchalante Lockerheit verkörpert, tunkt sein Supermarktsemmerl in den Mayonnaisesalat und macht ein paar Bissen lang Pause. Die Architektur wird nicht wegrennen. Zumindest nicht in den nächsten paar Minuten. „Wir sind ein kleiner Fisch. Ein kleines Büro, das Projekte bis zu 5000 Quadratmetern Nutzfläche abwickelt. Aber immerhin, wir leisten unseren Beitrag.“ Warum das Büro Gutgut heißt? „Früher hießen wir Gelb, dann Rot, dann Blau. Aber dann haben wir gemerkt, dass wir auch Farbe bekennen können, ohne bunt zu sein. Und ganz ehrlich? Wir sind mehr als nur gut. Wir sind echt gutgut.“

Wie können Qualität und Innovation in der Architektur unser Leben verbessern? Das ist die Grundfrage des Architekturfestivals Turn on, das heuer zum 17. Mal stattfindet. Auf dem Programm stehen die Themen Wohnbau, Hotels, Kulturbauten, Gesundheitsimmobilien und Quartiersentwicklung. Einleitende Worte von Christian Kühn (Architekturstiftung Österreich) und der Wiener Frauen- und Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál. Mit Vorträgen von Feld72, Einszueins Architektur, Baumschlager Hutter, Alison Brooks Architects, Robertneun, Hermann Czech, Königlarch, Werner Neuwirth, Pool Architektur, Bevk Perović Arhitekti, Fasch & Fuchs, Franz & Sue, Dietger Wissounig, Erich Strolz, Dietrich Untertrifaller, Walter Angonese und dem slowakischen Büro Gutgut. Ergänzt wird der Vortragsnachmittag von einer Podiumsdiskussion mit der Wiener Architektin Bettina Götz (Artec), Bernhard Steger, Abteilungsleiter der MA 21A, sowie dem ehemaligen Direktor des Amtes für Städtebau der Stadt Zürich, Patrick Gmür.

Der Standard, Sa., 2019.03.09

06. März 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Pritzker-Preis geht an Arata Isozaki

Der mit 100.000 US-Dollar dotierte „Nobelpreis der Architektur“ geht zum achten Mal nach Japan

Der mit 100.000 US-Dollar dotierte „Nobelpreis der Architektur“ geht zum achten Mal nach Japan

Es gibt den Raum, und es gibt die Zeit“, sagt der japanische Architekt Arata Isozaki. „Aber noch viel wichtiger als Raum und Zeit in der Architektur sind der Zwischenraum und die Zwischenzeit, also die Dinge zwischen den Elementen. So wie auch Japan nicht nur aus Inseln, sondern auch aus dem Wasser rundherum besteht.“

Das von ihm seit Jahrzehnten propagierte Konzept des Dazwischen hat im Japanischen sogar einen eigenen Namen: Ma. Für genau diese Liebe zum Zwischenraum wird der 87-Jährige, wie am Dienstagnachmittag bekannt wurde, mit dem renommierten Pritzker-Preis 2019 ausgezeichnet.

„Auf der anderen Seite der Bucht wurde die Atombombe auf Hiroshima fallen gelassen“, erinnert sich Isozaki im Gespräch. „Ich bin mitten in diesem Ground Zero aufgewachsen. Die Stadt war eine einzige Ruine. Es gab keine Architektur, keine Gebäude, nur Baracken und Verschläge. Mein erstes Verständnis von Architektur, damals als 14-Jähriger, war also jenes des leeren Zwischenraums. Und so habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie neue Häuser und neue Städte aussehen könnten.“

In vielen seiner Bauwerke, heißt es im Pritzker-Juryprotokoll, sei genau diese Faszination für die Leere zu spüren. Gebäude und Leere fänden dabei stets in einem Gleichgewicht zueinander. Schon einer seiner ersten, allerdings unrealisierten Entwürfe, die sogenannte City in the Air im Jahr 1962, ist ein Vorschlag, eine neue, scheinbar schwebende Stadt über der Stadt zu errichten. Damit greift Isozaki die zu dieser Zeit hoch im Kurs stehende Idee des Metabolismus auf, demnach Architektur und Städtebau einem kontinuierlichen Wachstum und energetischen Austausch mit der Außenwelt unterworfen seien.

Es folgen realisierte Bauten wie etwa die Bibliothek in Oita, die Expo 1970 in Osaka sowie mehrere Museen im ganzen Land. „Als einer der ersten Japaner hat Isozaki auch außerhalb Japans gebaut“, sagt Tom Pritzker, Vorsitzender der Hyatt Foundation, die den Preis seit 1979 jährlich auslobt. „Und das in einer Zeit, in der westliche Gesellschaften eher den Osten beeinflussten als umgekehrt.“

Es folgen Bauten in Los Angeles (Museum of Contemporary Art, 1986), Barcelona (Sporthalle Palau Sant Jordi, 1990), Turin (Eishockey-Stadion, 2005), auf dem Potsdamer Platz in Berlin sowie immer wieder auch in China und im arabischen Raum.

Eines der jüngsten Projekte des Architekten und Universitätsprofessors, der weltweit bereits mehr als hundert Bauten realisiert hat, ist der 202 Meter hohe, 50-geschoßige Allianz-Tower in Mailand. Damit krönt er den sogenannten Citylife-Bezirk, der anstelle des alten Messegeländes rund um einen öffentlichen Park angelegt wurde.

Während seine beiden Kollegen Daniel Libeskind und Zaha Hadid, die 2004 ebenfalls mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, eher laut gestikulierend um sich schlagen, frönt Isozaki mit seinem schlichten Turm einer japanischen, formalen Strenge.

Nur eine Frau bisher

Mit dem Namen Hadid ist auch der mittlerweile kritischste Aspekt des Pritzker-Preises angesprochen. Unter den berühmten Preisträgern seit 1979 – darunter Rem Koolhaas, Norman Foster, Frank O. Gehry, I. M. Pei, Robert Venturi, Oscar Niemeyer sowie der Österreicher Hans Hollein – finden sich bis auf Zaha Hadid ausschließlich Männer beziehungsweise selten auch gemischtgeschlechtliche Teams. Von Jahr zu Jahr steigt die Verwunderung über die einseitige Sichtweise auf die Kunst des räumlichen Gestaltens. Damit droht der als „Nobelpreis der Architektur“ bekannte Preis à la longue seinen außergewöhnlichen Ruf einzubüßen. Das wäre wohl nicht im Sinne seiner Gründer Jay und Cindy Pritzker.

Die mit 100.000 US-Dollar (88.000 Euro) dotierte Auszeichnung nimmt Arata Isozaki im Mai im Schloss Versailles entgegen.

Der Standard, Mi., 2019.03.06

06. März 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Wien-Breitenlee: Wohnen mit Dorfplatznostalgie

In Wien-Breitenlee entstehen Wohnungen, die um einen modernen, horizontal und vertikal begrünten Anger gruppiert sind – mit nachhaltigem Energie- und Mobilitätskonzept

In Wien-Breitenlee entstehen Wohnungen, die um einen modernen, horizontal und vertikal begrünten Anger gruppiert sind – mit nachhaltigem Energie- und Mobilitätskonzept

Bis 1900 war Breitenlee landwirtschaftlich geprägt. Sogar das Grundstück in der Oleandergasse, auf dem die gemeinnützige Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA) 133 Wohnungen errichtete, die am Freitag an ihre Mieter übergeben werden, wurde bis vor kurzem noch als Weizenacker genutzt. Diese geschichtliche Identität des Ortes schwingt auf eine gewisse Weise mit. Denn als Vorbild für die ungewöhnliche Wohnhausanlage, deren Wohnungen um einen schmalen, langen Dorfplatz gruppiert sind, dient ein klassischer Siedlungstypus aus längst vergangenen Tagen.

Inspiriert vom Anger

„Die Dörfer im Weinviertel waren früher oft als längliche Plätze, als sogenannte Anger konzipiert“, erklärt Robert Haranza, Projektleiter bei Querkraft Architekten, die das Projekt in Zusammenarbeit mit Architekt Thomas Moosmann realisiert haben. „Wir haben uns davon inspirieren lassen. Die Wohnungen liegen nun rund um einen langgestreckten Innenhof, den wir in der Fläche mit Sträuchern und Beeten begrünt und in dem wir sogar 37 Bäume gepflanzt haben.“ Die Planung dafür stammt vom Wiener Landschaftsarchitekten Joachim Kräftner.

Doch während das Grünkonzept in den meisten Wohnhausanlagen auf die horizontale Ebene beschränkt ist, wird sich die Natur in ein paar Jahren schon an den in Erd- und Lehmfarben gestalteten Fassaden hocharbeiten. Der Clou dabei: Die um den Innenhof gruppierten Putzflächen sind mit insgesamt 2100 Quadratmeter Stahlgitter verkleidet, die den schon in der Bauphase gesäten Kletterpflanzen – darunter auch wilder Wein – als Rankgerüst dienen. Im begrünten Zustand soll die lebende Fassade nicht nur ein Eyecatcher sein, sondern auch zum Mikroklima innerhalb des Quartiers beitragen. Per Mietvertrag verpflichtet sich jeder Mieter, sich um die Bewässerung der vom Balkon oder von der Terrasse aus zugänglichen Flora zu kümmern. Schnitt und Unkrautentfernung übernimmt der Bauträger.

Wie ein Dorf

Um den dörflichen Charakter im „Wohnen am grünen Anger“ zu wahren, wurden die Wohnungen mal dichter, mal lockerer gruppiert. „Wir haben insgesamt sieben verschiedene Wohnungstypen zwischen 47 und 126 Quadratmetern, die wir nach dem Lego-Prinzip übereinandergestapelt und ineinander verschachtelt haben“, so Haranza. Die sägezahnartige Burgzinnen-Silhouette, hinter der sich ein-, zwei- und dreigeschoßige Wohnungen verbergen, ist schon von weitem sichtbar. „Manche der Wohneinheiten haben fast schon Einfamilien- oder Reihenhauscharakter.“ Die monatliche Miete liegt bei 5,99 Euro pro Quadratmeter (einmaliger Finanzierungsbeitrag 405 Euro pro m2) sowie bei 7,50 Euro (Finanzierungsbeitrag 60 Euro) im Falle der Smart-Wohnungen.

Grün ist aber nicht nur das äußere Erscheinungsbild des Angerprojekts, das ursprünglich als Holzhaus konzipiert war, ehe die Variante der günstigeren Stahlbetonoption gewichen ist, sondern auch das Energie- und Mobilitätskonzept. „30 Prozent der benötigten Energie können wir direkt vor Ort erzeugen“, sagt Michael Gehbauer, Geschäftsführer der Wohnbauvereinigung. „Die Dachlandschaft ist mit Fotovoltaik bestückt, hinzu kommen Luftwärmepumpen, die auf Niedrigenergiebasis die Fußbodenheizung in den Wohnungen zuspeisen.“ Die WBV-GPA ist im Gespräch mit Wien Energie, um für die Verteilung des PV-Stroms („Bewohnerstrom“) den Abrechnungsschlüssel festzulegen.

Auf eine unterirdische Garage wurde aus Kostengründen verzichtet. Stattdessen sind die knapp über 100 Stellplätze auf Straßenniveau angesiedelt. Jeder Stellplatz weist eine Leerverrohrung auf und kann von den Mietern mit einer E-Ladestation nachgerüstet werden. Ergänzt wird das Angebot durch ein E-Car, zwei E-Bikes und zwei E-Roller.

Der Standard, Mi., 2019.03.06



verknüpfte Bauwerke
WHA Oleandergasse

02. März 2019Wojciech Czaja
Der Standard

„Unsquare Dance“ als Pflicht und Kür

Marte.Marte Architekten haben in Krems einen Würfel zum Tanzen gebracht. An diesem Wochenende ist die neue Landesgalerie Niederösterreich, die sich so sehnsuchtsvoll zur Donau neigt, erstmals öffentlich zugänglich.

Marte.Marte Architekten haben in Krems einen Würfel zum Tanzen gebracht. An diesem Wochenende ist die neue Landesgalerie Niederösterreich, die sich so sehnsuchtsvoll zur Donau neigt, erstmals öffentlich zugänglich.

Die Egon Schieles, Oskar Kokoschkas und die zeitgenössischen niederösterreichischen Malerinnen müssen sich bis Ende Mai gedulden. Bis dahin nämlich ist die Zeit der Bernhards. So heißen die 30 mal 30 mal 30 Zentimeter großen Kartonmodelle, 2000 Stück an der Zahl, die in Kooperation mit Kindern, Jugendlichen und der lokalen Bevölkerung in den letzten Monaten im Rahmen von#MyMuseum gebaut wurden und die nun in der neuen Landesgalerie sowie diversen Kremser Ämtern, Schulen und Museen zu sehen sind.

„Die Bernhards, die wir nach dem Architekten dieses Hauses benannt haben und die die unterschiedlichen Interpretationen und persönlichen Wünsche an dieses Museum darstellen, sind ein ganz wichtiger Bestandteil dieses Projekts“, sagt Christian Bauer, künstlerischer Direktor der Landesgalerie Niederösterreich, die an diesem Wochenende nach zweieinhalbjähriger Bauzeit ihr langersehntes und medial trommelbewirbeltes Pre-Opening über sich ergehen lässt.

„Denn die Funktion einer Landesgalerie ist zwar ohne jeden Zweifel eine überregionale und internationale, aber ohne die intensive Einbindung der lokalen Bevölkerung wird so eine Galerie niemals erfolgreich sein. Wir legen viel Wert darauf, dass dieses Haus die Herzen der Menschen erreicht.“ Und der Direktor meint es ernst mit dem, was er sagt: Rund 300 öffentliche und partizipative Veranstaltungen aller Art, die in Zusammenhang mit dem Neubau stehen, gingen in den vergangenen Jahren über die Bühne.

Tänzerin im Paillettenkleid

Jetzt ist er also fertig, der Bernhard. Oder der gedrehte Zinkwürfel. Oder die Tänzerin im Paillettenkleid. Namen für dieses Gebäude gibt es schon viele. „Während der Bauzeit“, erinnert sich Bauer, „war der massiv wirkende Rohbau sehr vordergründig, und viele Kremser haben sich damals gefragt, wie dieser Betonbunker, wie sie meinten, denn eines Tages aussehen würde. Doch dieses Bild ist gewichen, und zwar zugunsten einer Skulptur, eines leichtfüßigen Objekts, das die Kremser Kunstmeile mit einem dynamischen Schlussstein markiert.“

Genau dieser Clou war ausschlaggebend dafür, dass sich das Vorarlberger Architekturbüro Marte.Marte unter der Führung der Brüder Stefan und Bernhard Marte 2015 gegen 78 Kandidaten im EU-weiten, zweistufigen Wettbewerb (Juryvorsitz Elke Delugan-Meissl) einstimmig durchsetzen konnte. Von Anfang an habe die Drehung des 22 Meter hohen Würfels, der sich nach oben hin dreht und verjüngt und sich auch sehnsuchtsvoll nach dem Donauwasser reckt, die Jury überzeugt.

„Es war eine ganz bewusste Entscheidung, das Gebäude so auszurichten, dass es sich stark zur Donau orientiert und die dort ankommenden Besucher mit einer großzügigen Geste empfängt“, sagt Bernhard Marte. „Es ist fantastisch zu sehen, wie die Drehung des Baukörpers die malerischen Altstädte von Krems und Stein mit der umliegenden Naturlandschaft verbindet.“ Als Vorbild für diese waghalsige Drehung, die das Haus an der Südseite meterweit ins Nichts hinaustanzen lässt, diente die „Figura serpentinata“ von Giambologna, jenes manieristische Gestaltungsmotiv also, das ein Objekt von jedem Standpunkt aus unterschiedlich erscheinen lässt.

Von manchen Perspektiven wirkt der Marte-Würfel bedächtig ruhig und schwer, aus anderen erscheint das Ding wie eine sich um ihre eigene Achse drehende Tangotänzerin, eingehüllt in ein Kleid aus 7200 Pailletten in Form von diagonal verlegten Titanzinkschindeln, die kurz davor ist, jede Schwerkraft zu überwinden. Dazu passt auch die eingeschnittene Aussichtsterrasse im dritten Obergeschoß, von der aus man eine perfekte Sicht auf das Stift Göttweig jenseits des Flusses hat.

„Der Rohbau war in konstruktiver Hinsicht eine Herausforderung, denn aufgrund der sphärischen Krümmung und der sich weit hinauslehnenden Außenmauern musste die Schalung sonderangefertigt werden“, erklärt Alexandra Grups, Projektleiterin bei Marte.Marte. „Hier ist jeder Quadratzentimeter anders.“ Sogar die 91 Glasscheiben innerhalb der großen, erdgeschoßigen Bogenfenster folgen der komplexen, verdrehten Geometrie des Gebäudes: Jede Einzelne ist ein 3D-berechnetes Einzelstück, durch das so manches Mal die beinharte Realität Kremser Reihenhäuslichkeit ins Innere des Museums dringt. Eine radikale, wiewohl reizvolle Geste.

Während das Erdgeschoß und das dritte Obergeschoß mit Tageslicht durchflutet sind, bleiben das erste und zweite Obergeschoß sowie das 850 Quadratmeter große Untergeschoß in der Dunkelheit musealer Triple-A-Anforderungen. Damit, meint Chefkurator Günther Oberhollenzer, sei man in der Lage, heikle, lichtempfindliche Kunstwerke und auch wertvolle Leihgaben aus großen internationalen Häusern auszustellen.

„Die Architektur dieses Gebäudes ist eine Freude – und Herausforderung“, so Oberhollenzer, der damit nicht nur auf die schiefen, geneigten Wände, sondern auch auf die räumliche Anordnung der Ausstellungssäle anspielt. „Durch die vier unterschiedlichen Erschließungspunkte aus zwei Liften und zwei Stiegenhäusern sind wir nicht in der Lage, einen klassischen, chronologischen Weg durch die Ausstellung zu planen. Aus Kuratorensicht müssen wir in diesem Haus komplett umdenken. Ich bin neugierig, wie gut uns das gelingen wird.“

Der 35 Millionen Euro teure Bau, dessen Bildhaftigkeit und zugleich bildhafte Sprache unweigerlich an Dave Brubecks Unsquare Dance denken lässt, fasst nun erstmals die niederösterreichische Kunstsammlung an einem Ort zusammen und entlastet damit auch Hans Holleins Mehrspartenmuseum im Regierungsbezirk St. Pölten. Das erste Exponat, die Landesgalerie als kunstfertige Hülle ihrer selbst, zeigt sich ab diesem Wochenende erstmals der Öffentlichkeit. Die Tanzkür ist schön anzusehen. Über die Pflicht der vielgelobten Tänzerin wird man sich ein Urteil bilden können, wenn das Museum Ende Mai offiziell eröffnet wird.

Der Standard, Sa., 2019.03.02



verknüpfte Bauwerke
Landesgalerie Niederösterreich

23. Februar 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Die Welt darf nicht Matera werden

Wie wollen wir in Zukunft mit dem Weltkulturerbe umgehen? Wie lassen sich die Anforderungen der Unesco mit denen einer modernen Stadt in Einklang bringen? Letzte Woche fand dazu eine Konferenz in Wien statt. Resultat: die „Vienna Declaration“.

Wie wollen wir in Zukunft mit dem Weltkulturerbe umgehen? Wie lassen sich die Anforderungen der Unesco mit denen einer modernen Stadt in Einklang bringen? Letzte Woche fand dazu eine Konferenz in Wien statt. Resultat: die „Vienna Declaration“.

Zehn Uhr. Die Kirchenglocken haben es gerade klanghaft gemacht. Im süditalienischen Stundensystem ist dies die turbulenteste Zeit des Tages. Kinder rennen über die Piazza, Donne gehen über den Markt und machen Besorgungen fürs Abendmahl, ältere Signori stehen am Straßenrand und unterhalten sich über den neuesten Tratsch, den sie in der Gazzetta dello Sport gelesen haben. Das Klischeebild, das in vielen Städten in Apulien, Kalabrien und in der Basilicata noch den Alltag prägt, gehört in Matera, Kulturhauptstadt Europas 2019 und eine der ältesten Städte der Welt, jedoch der Vergangenheit an. Es ist still und menschenleer.

In einem der beängstigend ausgestorbenen Corti im Sasso Barisano, im Unesco-geschützten Felsenbezirk, befindet sich eine kleine Baustelle. Ein Hinterhof in der Via Sette Dolori, das Echo hallt durch die steinernen Gassen, ein Bauarbeiter, Jogginghose und Arbeitshandschuhe, saniert eines der uralten Felsenhäuser, das mit einiger Verspätung zum Kulturhauptstadtjahr fertig werden soll. In einem Monat werden die Menschenmassen erwartet, für die man die historische Innenstadt herausgeputzt und eigens Airbnb-Apartments, Wellnesstempel und echte türkische Bäder geschaffen hat.

„Das Problem von Matera ist leider kein Einzelfall“, sagt Denis Ricard, Generalsekretär der Organisation of World Heritage Cities (OWHC) mit Sitz in Québec, Kanada. „Wir kennen viele Städte, in denen es nicht gelingt, die Kür des Unesco-Weltkulturerbes mit den Anforderungen an eine wachsende, dynamische Stadt miteinander zu vereinbaren. Die Folge ist, dass viele Menschen aus den denkmalgeschützten Innenzonen abwandern und sich am Stadtrand niederlassen, während das Zentrum mehr und mehr zu einem touristischen Open-Air-Museum verkommt.“ In Matera, das seit 1993 als Unesco-Weltkulturerbe firmiert, ist dieser Prozess besonders fortgeschritten. Die mehrgeschoßigen Wohnhausanlagen in der Peripherie sind längst Teil der Skyline. Auf den Fotos sind die Betonklötze nie zu sehen.

1092 Welterbestätten

„Es ist ein Unterschied, ob die Unesco ein singuläres Bauwerk, ein kleines Gebäudeensemble oder eine zusammenhängende Innenstadt unter Schutz stellt“, so Ricard. „Daher setzen wir uns dafür ein, diese Unterschiede anzuerkennen und das Weltkulturerbe entsprechend differenziert handzuhaben.“ Das Interesse scheint groß zu sein: Unter den weltweit 1092 Unesco-Welterbestätten gibt es mehr als 300 städtische Gemeinden, die sich der OWHC angeschlossen haben, weil sie sich mit dem Weltkulturerbe nicht nur Glanz und Glorie eingekauft haben, sondern auch so manch operative, logistische, infrastrukturelle Pein.

Die vielleicht prominenteste OWHC-Mitgliedsstadt in der Unesco-Kartei ist Wien. Seit Juli 2017 befindet sich die Wiener Innenstadt, eines der größten Unesco-Schutzgebiete der Welt, auf der Roten Liste. Ausschlaggebend dafür seien der laxe Umgang mit Investoren, der fehlende, wiewohl verpflichtende Managementplan sowie die allzu weit auseinanderklaffenden Systemfehler zwischen Denkmalschutz (singuläre Bauwerke), Wiener Schutzzonen (Straßenzüge und Ensembles) und Unesco-Kern- und Pufferzone (zusammenhängendes Gebiet). Am aktuellen Heumarkt-Projekt verdichten sich die seit dem Unesco-Beitritt 2001 akkumulierten und bislang kaum gelösten Stadtplanungsprobleme zum scheinbar kulturpolitischen Super-GAU.

„Wien ist eine wachsende Stadt, in der viele Dinge im Spannungsfeld zwischen dem historischen Erbe und den Anforderungen an eine moderne Smart City sehr gut gelöst sind“, erklärt Erst Woller, Erster Wiener Landtagspräsident (SPÖ), auf Anfrage des STANDARD. „Es kann doch nicht sein, dass in einem so großen Schutzgebiet ein einziges Projekt imstande ist, das Unesco-Weltkulturerbe zu gefährden. Das steht in überhaupt keiner Relation! Viele Großstädte in aller Welt haben mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Unser politisches Ziel ist es, diese Herausforderungen transparent zu machen und uns anzuschauen, wie wir voneinander lernen können.“

Als Zeichen für dieses schrittweise Aufeinander-Zugehen lud die Stadt Wien in Zusammenarbeit mit der OWHC letzte Woche zu einem Workshop und einer Konferenz ins Wiener Rathaus. Unter dem Titel „Preservation, Development and Management of World Heritage in Dynamic Cities“ diskutierten Experten und Bürgermeisterinnen aus rund 25 Städten aus aller Welt: Prag, Brügge, Dubrovnik, Sankt Petersburg, Baku, Istanbul, Tel Aviv, Puebla, Suzhou und viele mehr. Am Ende der Konferenz wurde die „Vienna Declaration“ präsentiert, ein miteinander ausgearbeitetes Rahmenwerk, in dem die nötige Balance zwischen Erhalt und Entwicklung in 18 Punkten festgehalten ist.

„Weltkulturerbestätten sind lebende Organismen, deren Existenz nur dann erhalten werden kann, wenn man ihnen die Möglichkeit kontinuierlicher Veränderung und einer Ausgewogenheit zwischen Erhalt, Entwicklung und Management einräumt“, heißt es gleich zu Beginn des Papers. „Es gibt dringenden Bedarf an Weiterentwicklung. Die nötigen Stadtplanungsstrategien sollten daher berücksichtigt und mit der historischen Stadtlandschaft in Einklang gebracht werden.“ Im März, so der Plan, will die Organisation of World Heritage Cities die Deklaration in Québec vorstellen und auf institutioneller Ebene zu einer weltweit gültigen OWHC Declaration ausbauen.

Fraglich bleibt, wie die Unesco darauf reagieren wird. Entweder versteht sie die Deklaration als Kommunikationsangebot, um in Kooperation mit Icomos, OWHC und den betroffenen Welterbestädten zukunftsfähige Konzepte auszuarbeiten – oder aber als Kampfansage und Kritik an der bestehenden Unesco-Politik. „Ich habe vorerst noch ein großes Fragezeichen, was nach der Deklaration anders sein soll als davor“, erklärt Mechtild Rössler, Direktorin des Unesco-Welterbezentrums in Paris. „Fakt ist: Wir können die Konvention nicht aufweichen und zwischen Städten und Nichtstädten ein Zwei-Klassen-System einführen. Aber meine Tür steht offen. Ich bin bereit zum Gespräch.“

Die Türen in Matera sind längst zugefallen. Die Einheimischen sind ausgezogen und haben den Kern einer der ältesten Städte der Welt hinter sich gelassen. Die Kulturhauptstadt Europas 2019 wirft wichtige Fragen auf. Und eine Erkenntnis: Die Welt darf nicht Matera werden.

Der Standard, Sa., 2019.02.23

09. Februar 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Zukunft? Zedern und Zypressen!

In Tokio soll bis 2041 das höchste Holzhaus der Welt entstehen. Mit 350 Meter Höhe wird das japanische Architekturbüro Nikken Sekkei damit auf lange Zeit alle Rekorde brechen.

In Tokio soll bis 2041 das höchste Holzhaus der Welt entstehen. Mit 350 Meter Höhe wird das japanische Architekturbüro Nikken Sekkei damit auf lange Zeit alle Rekorde brechen.

Eine grüne Blumenwiese, ein kleiner Nutzgarten mit Obst und Gemüse, ein wild in sich verdrehtes, verschraubtes Bäumchen, das mit seinen knorrigen Ästen skulpturengleich von der draußen liegenden Natur in den Innenraum hineinragt. Doch was in den ersten Sekunden den Anschein erweckt, als säße man in einem schintoistischen Schrein, in einem hölzernen Tempel vielleicht, mit krabbelnden Insekten und zwitschernden Flügelkreaturen rundherum, entpuppt sich bei näherem Hinsehen, sobald man die Augen geöffnet hat, als mitten ins Hochhaus hineingerissenes Atrium, das Lüftchen pfeift einem um die Ohren, irgendwo zwischen der 60. und 70. Etage.

Was heute noch Zukunftsmusik ist, wird sich in den nächsten 22 Jahren, geht es nach dem japanischen Forstunternehmen Sumitomo Forestry, als überaus reale Gegenwart präsentieren. Zu seinem 350-Jahr-Jubiläum nämlich möchte sich das 1691 gegründete Imperium, das sich seit damals um die Bewirtschaftung der japanischen Waldflächen kümmert, mit einer neuen Unternehmenszentrale belohnen. Im Tokioter Bezirk Marunouchi soll ein 350 Meter hohes Holzhochhaus entstehen, das auf den Namen W350 hört. Ein Höhenmeter für jedes bestehende Firmenjahr. Kolportierte Baukosten: 600 Milliarden Yen, rund 4,8 Milliarden Euro. Geplante Fertigstellung: 2041.

„Holz spielt in der japanischen Architektur seit geraumer Zeit eine unverzichtbare Rolle“, sagt Akira Ichikawa, Präsident der Sumitomo Forestry Co. Ltd. „Holzhäuser schaffen eine einzigartige Atmosphäre für den Menschen und eine angenehme Umgebung für Pflanzen und Organismen. Indem wir uns darauf spezialisiert haben, die Materialforschung und die technologischen Entwicklungen und Fertigungstechniken auf diesem Gebiet voranzutreiben, wollen wir das Holz als zukunftsfähigen Baustoff vorantreiben.“

Laut OECD weist Japan – hinter Finnland – den weltweit zweithöchsten Waldanteil auf. 68,5 Prozent der japanischen Landfläche sind von Wald bedeckt. Rund ein Drittel davon wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte künstlich angelegt, wobei sich die Pflanzungen nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem auf die beiden für die japanische Bauwirtschaft wichtigsten Baumarten konzentrieren – auf Zedern und Zypressen. „Dieses Holz ist nun in großen Mengen ausgewachsen und bereit zur Ernte“, so Ichikawa. „Mit dem Projekt W350 wollen wir ein Exempel statuieren.“

90 Prozent Massivholz

Errichtet wird das 70-stöckige Mammutprojekt auf einer Grundfläche von 70 mal 70 Metern, wobei das Haus wie eine innen hohle Röhre, wie eine Art Cannellone, in den Himmel ragen wird. Der Innenhof, der durch große, in die Fassade integrierte Atrien mit der Außenwelt verbunden sein wird, dient nicht nur der Belichtung, sondern auch der Erschließung in Form von Liften und quer durchs Nichts führenden Treppenläufen. 90 Prozent des Wolkenkratzers werden in Massivholz errichtet: Säulen, Pfeiler, Balken, Decken, Böden, Wände, Innenausbau. Ergänzt wird die Konstruktion von einem stählernen, außen liegenden Traggerüst, das dem Haus die nötige Elastizität und Erdbebensicherheit verleihen soll.

„Ein Holzhaus mit 350 Metern Höhe klingt nach Zukunftsmusik“, sagt Architekt Tadao Kamei, CEO und Präsident von Nikken Sekkei. „Aber tatsächlich könnten wir mit dem Bau, wenn der Auftraggeber nicht bis 2041 warten wollen würde, schon heute beginnen.“ Mit 2600 Mitarbeitern zählt das 1900 gegründete Büro zu den größten und ältesten Architekturbüros der Welt.

In seiner 120-jährigen Geschichte realisierte Nikken Sekkei, das heute Dependancen in Asien, in Europa und im Nahen Osten betreibt, bereits mehr als 25.000 Bauwerke. Derzeit widmet ihm die Architekturgalerie München eine Soloausstellung, die die Themen Ethik, Respekt und Nachhaltigkeit in diesem gigantischen Betrieb beleuchtet.

„Japanische Architektur ohne Holz ist nicht denkbar, aber mit dem starken Wachstum der Städte nach 1950 ist das Material fast zur Gänze aus dem Stadtbild verschwunden“, so Kamei. „Wir wollen diese Lücke schließen und Holz auch als urbanen Konstruktionswerkstoff wieder sichtbar machen.“

In dieser Maßstäblichkeit ist der Einsatz jedenfalls einzigartig: Allein die vertikalen Leimbinderpfeiler des Gebäudes werden im Fundamentbereich eine Dimension von 2,30 mal 2,30 Metern aufweisen. Wichtiges Detail am Rande: Schon jetzt, obwohl sich das Projekt noch in der Konzeptionsphase befindet, arbeitet Nikken Sekkei intensiv mit Handwerkern und Zimmermännern zusammen.

Das derzeit höchste Holzhochhaus mit insgesamt 18 Stockwerken befindet sich in Vancouver, Kanada. Schon bald wird den Rekord das 24-geschoßige Hoho in der Seestadt Aspern brechen. „Rohstoff für Holzhäuser gibt es jedenfalls zur Genüge“, sagt Georg Binder, Geschäftsführer von Proholz Austria. „Allein in den österreichischen Wäldern wächst alle 40 Sekunden ein ganzes Einfamilienhaus nach. Bedenkt man, dass der Holzbauanteil in der österreichischen Bauwirtschaft derzeit rund 22 Prozent beträgt, ist das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft.“

Die Ausstellung „Nikken Sekkei. Experience, integrated“ in der Architekturgalerie München ist noch bis zum 1. März 2019 zu sehen.

Der Standard, Sa., 2019.02.09

02. Februar 2019Wojciech Czaja
Der Standard

Wer hat Angst vor Frau Architekt?

Seit 1919 dürfen Frauen in Österreich Architektur studieren. Wir nehmen das 100-Jahr-Jubiläum zum Anlass, über Frauen im Bauen nachzudenken. Ein Gespräch mit der Wiener Architekturforscherin Sabina Riss.

Seit 1919 dürfen Frauen in Österreich Architektur studieren. Wir nehmen das 100-Jahr-Jubiläum zum Anlass, über Frauen im Bauen nachzudenken. Ein Gespräch mit der Wiener Architekturforscherin Sabina Riss.

STANDARD: Wir befinden uns hier im Roten Salon des Hotel Altstadt Vienna.

Riss: Der Raum wirkt schön, warm, gemütlich.

STANDARD: Er wurde von der Kärntner Innenarchitektin Thesi Treichl gestaltet. Oft wird die Frage gestellt, ob Frauen anders planen und entwerfen als Männer. Nervt Sie diese Frage?

Riss: Diese Frage wird immer wieder gestellt, denn die Menschen interessieren sich dafür, ob Frauen anders denken, anders gestalten, Prozesse anders leiten oder vielleicht subtiler und differenzierter an eine Bauaufgabe herangehen als Männer.

STANDARD: Und? Haben Sie eine Antwort darauf?

Riss: Frauen sind in ihrer Gruppe genauso heterogen wie Männer. Ich denke, dass jede Kategorisierung sofort Gefahr läuft, zu einem Klischee zu werden. Aber ich muss sagen: Aus dem Bauch heraus hätte ich die Gestaltung dieses Raumes einer Frau zugeschrieben.

STANDARD: Sie selbst beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit Feminismus und Frauen im Berufsfeld. Ihre Doktorarbeit 2017 befasst sich mit der Impulsgebung von Frauen im Wohn- und Städtebau des 20. Jahrhunderts. Gibt es denn so etwas wie einen weiblichen Impuls in der Planung?

Riss: Beginnen wir mit dem männlichen Impuls! Der österreichische Wohnbau der Nachkriegszeit wurde über viele Jahrzehnte schematisch und oberflächlich abgehandelt. Bedürfnisse und Zusammenhänge zwischen Raum, Wohnung, Gebäude und Wohnumfeld haben kaum Beachtung gefunden. Frauen haben sich dieser Bauaufgabe etwas differenzierter, etwas tiefgreifender gewidmet und haben in ihren Projekten – das kann man wissenschaftlich belegen – die Wohnbedürfnisse der Gesellschaft besser und umfassender abgedeckt.

STANDARD: Wir sind schon mitten im Thema. Wie erklären Sie sich die seit Jahrzehnten thematisierte Dualität und Konkurrenz von Mann und Frau in der Architektur?

Riss: Gute Frage! Ich denke, das liegt an der Tatsache, dass der Prototyp des Architekten immer schon männlich war. Ab dem 19. Jahrhundert wurden Ziviltechniker in ihrer Beurkundungsautorität Staatsorganen gleichgestellt. Otto Wagner, Adolf Loos, Le Corbusier, das Bauhaus und auch die Darstellung des Architekten in den Hollywoodfilmen ... all das stärkt das männliche Architektenbild. Der Allwissende als Schöpfer. Dem gegenüber steht die Architektin, die Anfang des 20. Jahrhunderts plötzlich in die Männerdomäne eindringt.

STANDARD: Österreich feiert heuer ein 100-Jahr-Jubiläum. Kommt das früh oder spät?

Riss: 1919 hat die Technische Hochschule Wiens zum allerersten Mal ordentliche Hörerinnen aufgenommen. Das ist die Geburtsstunde der Architekturausbildung für Frauen in Österreich. Aber in gewisser Weise kommt dieses Jubiläum auch reichlich spät, denn in England, den Niederlanden und Deutschland konnten Frauen schon ab 1900 studieren.

STANDARD: Worauf ist die späte Öffnung in Österreich zurückzuführen?

Riss: Ich sehe die Gründe dafür in der kulturellen, religiösen und gesellschaftspolitischen Verfasstheit der Monarchie und der damit verbundenen Rolle von Frauen. Ganz im Gegensatz zu osteuropäischen Ländern, in denen die Frau im Berufsleben von jeher eine selbstverständlichere Position hatte.

STANDARD: Wie war denn der Start für Architektinnen in diesem Land? Können Sie uns ein kurzes Stimmungsbild dieser Zeit skizzieren?

Riss: Die männliche Domäne dürfte die ersten Architektinnen wie etwa Liane Zimbler, Helene Roth, Ella Briggs-Baumfeld, Friedl Dicker-Brandeis und Margarete Schütte-Lihotzky als große Gefahr wahrgenommen haben. Es war eine Zeit voller Ressentiments. Man hat sehr darauf geachtet, die Frauen in assistierenden Positionen einzusetzen und ihnen kleinere, dekorative und gestalterische Arbeiten zuzuteilen. Hochbau und die direkte Auseinandersetzung mit dem Bauherrn blieb dem Mann vorbehalten.

STANDARD: Gab es Unterstützung von den Interessenvertretungen?

Riss: Ganz im Gegenteil! Lange Zeit wurde auf offizieller Seite gegen den kulturellen Umbruch angekämpft. In der Monatszeitschrift der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs ist 1933 zu lesen: „Um als Architekt guter Berater und Anwalt des Bauherrn zu werden, ist Originalität, Aggression, Strenge und Brutalität notwendig. Frauen sollen sich auf schöpferische und hauswirtschaftliche Inhalte beschränken.“ Ich denke, das sagt alles.

STANDARD: Wie hat sich die öffentliche Hand dazu positioniert?

Riss: Das lässt sich ganz gut in Zahlen fassen: Im Roten Wien wurden 379 Gemeindebauten mit insgesamt 60.000 Wohnungen errichtet. Unter den Planern gab es mehr als 190 Architekten – aber nur zwei Architektinnen, nämlich Ella Briggs-Baumfeld und Margarete Schütte-Lihotzky.

STANDARD: Wann hat sich die Situation gebessert?

Riss: Es ist ein Prozess. Und er ist bis heute nicht abgeschlossen.

STANDARD: 80 Prozent aller befugten und registrierten Architekturschaffenden in Österreich sind heute Männer. Mit lediglich 20 Prozent Frauenquote ist Österreich europäisches Schlusslicht.

Riss: Eine dramatische Zahl, oder? Und das, obwohl wir wissen, dass mehr als 50 Prozent aller Architekturabsolventen Frauen sind! Das Phänomen ist leider nicht nur ein österreichisches, sondern ein internationales. In den USA gibt es die Forschungs- und Vermittlungsinitiative „The Missing 32%: Where Are the Women Architects?“.

STANDARD: Und? Wo sind diese 32 Prozent geblieben?

Riss: Gemeinsam mit Silvia Forlati und Anne Isopp habe ich vor vier Jahren eine Studie unter dem Titel „Vereinbarkeit von Architekturberuf und Familie“ gemacht. Dabei hat sich gezeigt, dass die Rahmenbedingungen wie Prekariat, lange Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung und geringe Karriereperspektiven nicht sehr attraktiv sind. Tatsache ist: Selbstständig tätige Frauen haben vergleichsweise kleinere Büros, die mit kleineren Aufträgen und Einkommen einhergehen.

STANDARD: Dem gegenüber stehen Länder wie etwa Litauen, Kroatien und Bulgarien, in denen der Frauenanteil unter den Selbstständigen 50 bis sogar 65 Prozent beträgt.

Riss: Da spielt sicher die kommunistische Vergangenheit mit. Wir wissen, dass in den Ostblockländern Frauen in der Gesellschaft eine selbstverständliche Rolle als Arbeitskraft einnahmen. Frauen wurden mit großen Projekten betraut und waren in leitenden, öffentlichen Funktionen tätig. Diese Arbeitskultur wirkt bis heute nach.

STANDARD: Was müsste passieren, um das österreichische Ungleichgewicht auszugleichen?

Riss: Es ist ein sehr komplexes System. Auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene müsste man an vielen kleinen Schräubchen drehen.

STANDARD: Sie sind nicht nur Wissenschafterin, sondern arbeiten selbst auch als Architektin. Kommen da nie Emotionen hoch?

Riss: Manchmal. Meist gelingt es mir, eine gesunde Distanz zu wahren und die Energie zu bündeln. Mit meinen Studierenden an der TU Wien widme ich mich der Frage, welchen Beitrag wir alle leisten können, um eines Tages Gender-Equality zu erreichen. Mein Wissen ist eine Verantwortung, damit konstruktiv umzugehen.

Der Standard, Sa., 2019.02.02

07. Dezember 2018Wojciech Czaja
Der Standard

„Meine Blüten sind halt die Fenster“

Die deutsche Architekturhistorikerin Turit Fröbe hat sich an den Schwammerl- und Schmetterlingsbüchern ein Beispiel genommen und nun ein Bestimmungsbuch für moderne Architektur geschrieben. „Alles nur Fassade?“ ist eine Einladung, einen liebevollen Blick auf das Alltägliche zu werfen. Ein Gespräch.

Die deutsche Architekturhistorikerin Turit Fröbe hat sich an den Schwammerl- und Schmetterlingsbüchern ein Beispiel genommen und nun ein Bestimmungsbuch für moderne Architektur geschrieben. „Alles nur Fassade?“ ist eine Einladung, einen liebevollen Blick auf das Alltägliche zu werfen. Ein Gespräch.

STANDARD: Sie haben sich sehr intensiv mit Fassaden aus mehr als einem Jahrhundert beschäftigt. Haben Sie eine Lieblingsepoche?

Fröbe: Ich habe schon seit langer Zeit ein Faible für die Fünfzigerjahre mit ihren Mosaiken, Buntglassteinen und fröhlichen, filigranen Formen. Aber das schlägt sich im Buch in keinster Weise nieder. Ich habe sehr darauf geachtet, allen Epochen mit der gleichen Wertschätzung zu begegnen.

STANDARD: Gibt es eine Nichtlieblingsepoche?

Fröbe: Ich habe gewisse Schwierigkeiten mit den Neunzigern. Das ist die einzige Dekade, in der ich keine materiellen und formalen Vorlieben erkenne. Wenn man den Dekonstruktivismus ausklammert, bleibt von den Neunzigern nicht viel übrig.

STANDARD: In Ihrem Buch „Alles nur Fassade?“ nehmen Sie den Leser an der Hand und geben ihm Werkzeuge mit auf den Weg, mit denen er das Entstehungsdatum eines Gebäudes bestimmen kann. Was sind denn die wichtigsten Elemente?

Fröbe: Den ersten und vielleicht auch besten Anhaltspunkt liefern die Fenster. Weitere Anhaltspunkte für die Bestimmung eines Gebäudes sind Form, Materialgebung und Siedlungsbau. Alles schön knapp und kompakt auf einer Doppelseite abgehandelt.

STANDARD: Warum ausgerechnet Fenster?

Fröbe: Üblicherweise betrachtet man in der Architekturgeschichte als Allererstes den Dekor und den Fassadenstuck. Doch das ist im 20. Jahrhundert schwierig, denn mit der Moderne haben die Architekten begonnen, auf den Dekor zu verzichten. In dem Moment sind die Fenster zu einem eigenständigen Gestaltungsmittel geworden, mit dem man die Errichtung eines Gebäudes sehr genau datieren kann. Jedes Jahrzehnt hat seine eigene Besonderheit und seine eigenen technischen Innovationen.

STANDARD: Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Fröbe: Anhand der Scheibengröße kann man sehr gut auf die Fertigungstechnik und somit auch auf die Entstehungszeit schließen. Das trifft etwa auf Schaufenster zu. Ein weiteres schönes Beispiel ist der Einsatz von quadratischen Fenstern. Zwar wurden auch in den 1920er-Jahren bereits quadratische Fenster eingebaut, aber so richtig in Mode kamen die dann in den Fifties – entweder als Einscheibenfenster oder als mehrteilige Fenster mit einer symmetrischen oder asymmetrischen Teilung.

STANDARD: Quadratische Fenster gab es doch auch in den Achtzigerjahren.

Fröbe: Das stimmt. Aber in den Achtzigern wurden vor allem Mittelkreuzstock-Fenster geplant, also quadratische Fenster mit quadratischen Sprossen. So etwas würde man in den Fünfzigerjahren nie finden!

STANDARD: Kann man das denn immer so genau sagen?

Fröbe: Ausnahmen bestimmen immer die Regel, denn Architekten waren und sind individuelle, künstlerische Wesen. Und die Launen der Bauherren spielen natürlich auch eine Rolle! Aber diese Ausreißer sind in der Tat sehr selten.

STANDARD: Sie sprechen unter anderem von gelutschten Ecken, Badewannenbalkonen und Fenstersprossen in Aspik. Warum diese einfache, fast naive Sprache?

Fröbe: Ich setze auf einen schnellen Lerneffekt. Dazu ist eine eingängige Sprache mit verbalem und visuellem Wiedererkennungswert sehr hilfreich. Das Ziel ist: Wenn man einmal ein Gebäude mit diesem Buch durchdekliniert hat, dann weiß man das für immer, dann erkennt man das nächste Gebäude aus dieser Zeit auch ohne Buch.

STANDARD: Das Buch erinnert sehr stark an ein Bestimmungsbuch, wie man das von Schwammerln und Schmetterlingen kennt. Warum eigentlich?

Fröbe: Weil man mit dem hochgehobenen, pädagogischen Zeigefinger nichts erreicht. Indem das Buch wie eine klassische Bestimmungsfibel aufgebaut ist, erschließt sich die Materie auch einem Fachfremden. Meine Blüten, Pilzformen und Schmetterlingsflügel sind halt die Fenster.

STANDARD: An wen richtet sich das Buch?

Fröbe: An Laien, die sich zuvor noch nie ernsthaft mit Architektur beschäftigt haben.

STANDARD: Und warum sollten sie das jetzt tun?

Fröbe: Weil sie es zu Weihnachten geschenkt bekommen. Ich wünsche mir, dass das Buch in ganz viele Laienhände gerät.

STANDARD: Was ist der Sinn und Zweck der Lektüre?

Fröbe: Architektur führt ein Schattendasein in unserem Bewusstsein. Sie ist das Letzte, was wir im Stadtraum beachten, weil sie immer in Konkurrenz zu den unendlich vielen bewegten, leuchtenden, riechenden, klingenden und haptischen Reizen der Stadt steht. Daher nehmen wir die Architektur meistens nur aus dem Augenwinkel wahr. Aufmerksam werden wir eigentlich nur, wenn Architektur richtig expressiv ist, zum Beispiel bei besonders auffälligen Bausünden, was uns wiederum darin bestätigt, dass das alles einfach nur eine grässliche Grütze ist. Diesen Kreislauf möchte ich unterbrechen, möchte zeigen, dass sich Architektur allein durch das Hinsehen verändert. Deshalb diese kleine Sehschule: Je mehr man weiß, umso mehr sieht man, und je mehr man sieht, umso schöner wird die Umgebung.

STANDARD: Sie veranstalten auch Fassadenführungen durch die Stadt. Wie kann man sich so etwas vorstellen?

Fröbe: Genau so! Ich gehe mit den Leuten spazieren und lasse sie bestimmen, was wir uns ansehen. Dann denken wir laut nach und ordnen gemeinsam die Architektur ein. Es ist ein tolles Format – so habe ich auch die Buchpräsentationen zu Alles nur Fassade? gemacht. Die Leute waren regelrecht euphorisch, weil sie zum ersten Mal erlebt haben, wie interessant es ist, sich in eine Fassade zu vertiefen, und was man dabei alles ablesen kann.

STANDARD: Wann werden Sie Ihre Arbeit als Erfolg bezeichnen?

Fröbe: Wenn die Baukultur im Herzen der Gesellschaft angekommen ist. Dann werde ich arbeitslos sein.

STANDARD: Werden wir das noch erleben?

Fröbe: Das kann schneller gehen, als man denkt! In Finnland ist es innerhalb von 20 Jahren gelungen, Architektur zu einem Herzensanliegen der Gesellschaft zu machen, indem man die Materie in den schulischen Lehrplan aufgenommen hat, indem man gezielt Erwachsenenbildung zu Stadt und Architektur angeboten hat und indem man sogar das Recht auf eine ansprechend gestaltete Lebensumgebung in die Verfassung aufgenommen hat. In Mitteleuropa sind wir davon noch meilenweit entfernt. Aber es geht. Mit dem Buch vielleicht ein bisschen schneller.

Der Standard, Fr., 2018.12.07

24. November 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Lernen von Denise

Sie hat Las Vegas studiert, Hässliches zum Schönen erkoren und neue Blicke auf das 20. Jahrhundert geworfen. Nun ist ihr architektonisches und stadtplanerisches Werk in einer Ausstellung zu begehen: Denise Scott Brown.

Sie hat Las Vegas studiert, Hässliches zum Schönen erkoren und neue Blicke auf das 20. Jahrhundert geworfen. Nun ist ihr architektonisches und stadtplanerisches Werk in einer Ausstellung zu begehen: Denise Scott Brown.

Ob ich diese Stadt schön finde? Natürlich finde ich sie schön! Und wie ich sie schön finde!“ Denise Scott Brown, weiße Haare, weiße Brille, eine kleine Ente als Brosche, die sich in ihrer Wollweste versteckt hat, sitzt in ihrem Büro in Philadelphia und erinnert sich an die 1960er und 1970er, als sie sich mit ihrem Mann Robert Venturi und ihren Studierenden der Yale University nach Las Vegas aufmachte, um die damals wie heute vielleicht eigenartigste Stadt der Welt zu studieren.

„Las Vegas ist eine der kommunikativsten Städte, die ich kenne, weil sie sich ihrem Betrachter inhaltlich mitteilt“, sagt Scott Brown. „In Europa, wo die Stadt zwischen alten Stadtmauern und auf den Fundamenten der Vergangenheit errichtet wird und stets in einen Kontext eingebettet ist, braucht es das nicht. Aber in der Neuen Welt sind die Schriften, Schilder und Leuchtreklamen ein wichtiges Verbindungsmittel zwischen Mensch und Architektur. Man hasst sie, oder man liebt sie. Ich aber liebe sie.“

So sehr sogar, dass sie ihrer Faszination für die Kasinometropole 1972 das (wie sich herausstellen sollte) millionenfach zitierte Buch Learning from Las Vegas widmete. „Man kann von jeder Stadt etwas lernen“, meint Scott Brown, „von den guten und den schlechten, von den schönen und den hässlichen, von den vertrauten und den befremdlichen. Und wenn man offen, interessiert und unvoreingenommen hinschaut, dann wird man auch im Hässlichen etwas Schönes finden. Oh yes! Keep your eyes fresh and horrify yourself! That makes life more joyful!“

Der heute 87-jährigen Liebhaberin des positiv genießerischen Schocks widmet das Architekturzentrum Wien (AzW) in seiner großen Ziegelhalle die weltweit erste umfassende Personale. Downtown Denise Scott Brown, so der Titel der Ausstellung, wirft einen sehr genauen und auch ziemlich humorigen Blick auf das architektonische, stadtplanerische und theoretische Schaffen jener Frau, die sich selbst als „Großmutter der Architektur“ bezeichnet und die der Zeitleiste der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts einen ordentlichen Knick verpasste.

Manche behaupten sogar, sie und ihr erst im September verstorbener Partner Robert Venturi, mit dem sie 50 Jahre lang ein Architekturbüro leitete, hätten die Postmoderne aus der Taufe gehoben. Ein lächelnder Seufzer. „Da kommt er wieder, der Postmoderne-Eintopf! Ich bin eine durchaus postmoderne Frau, was die Literatur, Soziologie und Philosophie der 1960er-Jahre betrifft. Aber in Bezug auf die Architektur würde ich bestenfalls sagen, dass es mit der Postmoderne zwar Berührungspunkte gegeben hat, aber Postmodernisten … Nein, das waren wir nie!“

Die Ausstellung im AzW vermittelt anderes. Während in der Mitte des Raumes ein stilisierter Stadtbrunnen steht, der sich in Anlehnung an Learning from Las Vegas gleich selbst zum Denkmal erklärt (I am a monument), ist die rundherum aufgebaute Indoor-Piazza an den Seiten von zitierten Wiener Geschäftsportalen gesäumt. Jedes Portal – ob nun Buchhandlung, Kaffeehaus oder Ein-Euro-Shop – vermittelt nicht nur sich selbst, sondern auch die in der Auslage passend zusammengeballte Architektur- und Stadtplanungsphilosophie.

So wie sich die Postmoderne an der Architekturgeschichte bediente, so arbeitet man sich in Downtown Denise durch Versatzstücke aus Wien, Las Vegas, Philadelphia. Zu lesen gibt es eine Menge. Lustiges, Wissenschaftliches, Architekturgeschichtliches. Es grenzt an kuratorischen und archivarischen Wahnsinn, dass es sich bei den in der gesamten Ausstellung zu lesenden Texten (inklusive der auf den Tischen liegenden Zeitungen) um eine aus vielen Jahrzehnten zusammengetragene Collage aus O-Ton-Fragmenten der hier porträtierten Architektin handelt.

„Denise Scott Brown lehrt uns, in der Architektur und Stadtplanung niemals Tabula rasa zu machen, sondern immer auf das Vorhandene zurückzugreifen und damit zu arbeiten, was schon da ist“, erklärt AzW-Direktorin Angelika Fitz, die die Ausstellung gemeinsam mit Katharina Ritter und Scott Browns engstem Mitarbeiter Jeremy Tenenbaum kuratiert hat. „Sie ermutigt uns, die Stadt als einen oft hässlichen, komplexen und konfliktbeladenen Ort zu akzeptieren und all das in die Planung miteinzubeziehen.“

Viele zeitgenössische Stadtplanungskonzepte wie Partizipation, Placemaking und sanfte Stadterneuerung basieren auf dieser vor Jahrzehnten vorweggenommenen Doktrin. Auch die Kultur des kollektiven Planens, das lieber auf die Qualität des Heterogenen als auf den Nimbus des Heroischen setzt, lässt sich auf die frühe Denkschule Scott Browns zurückführen. „In einer Zeit, in der jeder heroisch ist, ist es originell, gewöhnlich zu sein“, ist im AzW mit Farbe an die Wand gepinselt.

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass just ihr diese praktizierte Teamkultur 1991 selbst zum Verhängnis wurde. Trotz gleichberechtigter Kooperation in Forschung und Praxis ging der renommierte, von jeher chauvinistisch angehauchte Pritzker-Preis an den Alleinlaureaten Robert Venturi. Denise Scott Brown ging leer aus. Trotz massiven Drucks aus der Szene – mehr als 20.000 Menschen haben die Petition Change.org unterzeichnet – hat die Pritzker-Stiftung diesen Fehler nie behoben. Stattdessen bietet sich nun eine Reise nach Downtown Denise an, wo eine der außergewöhnlichsten Architektinnen und Stadtplanerinnen der Gegenwart vor den Vorhang geholt wird.

[ Bis 18. März 2019. Katalog „Your Guide to Downtown Denise Scott Brown“, 176 Seiten / € 36,–, Park Books ]

Der Standard, Sa., 2018.11.24

10. November 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Innovationen in luftiger Höhe

Jahr für Jahr werden weltweit rund 600 Wolkenkratzer aus dem Boden gestampft. Der Internationale Hochhauspreis 2018 würdigt die besten aller Türme. Sieger ist ein ungewöhnlicher Büroturm in Mexiko-Stadt.

Jahr für Jahr werden weltweit rund 600 Wolkenkratzer aus dem Boden gestampft. Der Internationale Hochhauspreis 2018 würdigt die besten aller Türme. Sieger ist ein ungewöhnlicher Büroturm in Mexiko-Stadt.

Auf den ersten Blick wirkt der Tower abweisend und verschlossen. Wie ein betonierter Schutzschild stemmen sich die beiden Fassadenseiten im Norden und Osten gegen die Stadt. Die wenigen, pixelartigen Perforationen in der massiven Wand erinnern an das aufgerollte, pergamentartige Lochpapier einer historischen Leierorgel.

Erst die Südwestfassade des dreieckigen Turms, sich zum immergrünen Chapultepec-Park öffnend, offenbart Luftigkeit und Transparenz und eine ungebrochene Aussicht auf die Skyline der rapide wachsenden Metropole Mexiko-Stadt.

Letzte Woche wurde der 246 Meter hohe, 2016 errichtete Torre Reforma des mexikanischen Architekten Benjamín Romano im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main mit dem Internationalen Hochhauspreis ausgezeichnet. Der biennal vergebene Preis würdigt gleichermaßen architektonisch ästhetische, städtebaulich intelligente wie auch technisch innovative Hochhäuser in aller Welt und hat sich zur Aufgabe gemacht, die in einer Zeit zunehmender Stadtverdichtung immer wichtiger werdende Bauform gesellschaftlich zu thematisieren und die Entwicklungen und Errungenschaften auf diesem Sektor vor den Vorhang zu holen.

Massive Konstruktion

„Der Torre Reforma ist ein sehr außergewöhnliches Projekt, das seine Besonderheiten allerdings erst auf den zweiten und dritten Blick offenbart“, sagt DAM-Direktor Peter Cachola Schmal, der der Jury als Mitglied beiwohnte. „Denn während die meisten Hochhäuser in Erdbebenregionen als flexibles, elastisches Stahlskelett errichtet werden, entschied sich der Architekt diesmal für eine massive Konstruktion, die wie ein aufgeklapptes Betonbuch auf dem Grundstück steht und 60 Meter tief in den Sumpf- und Felsboden hineingerammt wurde.“ Der erste Test ist überstanden: Im September letzten Jahres hat der Turm ohne jeglichen Schaden ein Erdbeben der Stärke 7,1 auf der Richterskala überstanden.

Die ungewöhnliche Bauweise ist kein Zufall. Erstens konnte das denkmalgeschützte Gebäude an der Ecke des Paseo de la Reforma mit der Calle Río Elba, das während der Bauzeit um 18 Meter verschoben und anschließend wieder zurückgerückt werden musste, erhalten bleiben. Andererseits konnten die 57 Geschoßplatten des Turms mitsamt ihren diagonalen Ausfachungen wie ein dreidimensionales Fachwerk zwischen die beiden Betonschenkel eingehängt werden.

Dank der über die gesamte Breite gespannten Zugkonstruktion kommt der Turm ohne eine einzige Stütze im Innenraum aus. Auf diese Weise war es möglich, im 22. Stock ein riesiges Auditorium mit dramatischer Sicht auf das Stadtpanorama unterzubringen.

„In den letzten zwei Jahren wurden weltweit rund 1200 Hochhäuser über 100 Meter Bauhöhe fertiggestellt“, so Schmal. „Die interessantesten und aufregendsten Projekte entstehen wie auch schon in der Vergangenheit immer noch in Singapur und New York City. Doch die Hälfte aller Wolkenkratzer wird mittlerweile in China errichtet.“ Umso überraschender sei die Tatsache, dass 18 der insgesamt 36 heuer nominierten Projekte von europäischen Architekten geplant wurden.

Hängende Gärten

So zum Beispiel auch die sogenannten Beirut Terraces von Herzog & de Meuron. Das Schweizer Architekturbüro, das seit jeher für ungewöhnliche Baulösungen bekannt ist, setzte ans Ufer des Yachthafens einen wunderschönen, 26-stöckigen Wohnturm mit verglasten Wänden und unterschiedlich weit hinauskragenden Terrassenflächen. Unweigerlich denkt man an eine Neuinterpretation der Hängenden Gärten der Semiramis. „Gestapelt, versetzt und verschoben schaffen die Wohnebenen einen grenzenlosen Übergang von innen nach außen, schützen vor direkter Sonne und bieten Aufenthaltsqualität sowie Ausblicke“, heißt es im Juryprotokoll. „Das ist Wohnen im Hochhaus at its best.“

Zu den weiteren Finalisten zählen der gepixelte und rundum angeknabberte Mahanakhon Tower in Bangkok (Ole Scheeren), das Chaoyang Park Plaza in Peking (MAD Architects) sowie das Oasia Hotel Downtown in Singapur (WOHA Architects).

Das Studium der Projekte lohnt, denn aufgrund der steigenden Urbanisation ist die Hochhauswelle längst auch schon auf Europa übergeschwappt. Auf der letzten Expo Real in München wurden so viele Wolkenkratzerprojekte präsentiert wie nie zuvor.

Die Ausstellung „Best Highrises“ ist noch bis 3. März 2019 im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt/Main zu sehen.

Der Büroturm Torre Reforma (im Vordergrund) in Mexiko-Stadt wirkt auf den ersten Blick abweisend. Er steht in einer Erdbebenregion. Darauf muss die Architektur Rücksicht nehmen.

Der Standard, Sa., 2018.11.10

10. November 2018Wojciech Czaja
Der Standard

El Señor Psychobarock

Der bolivianische Architekt Freddy Mamani hat einen Plan: Er will seine Heimatstadt El Alto bunter machen. Nun sind seine Bauten und Herangehensweisen in einer Ausstellung zu bewundern.

Der bolivianische Architekt Freddy Mamani hat einen Plan: Er will seine Heimatstadt El Alto bunter machen. Nun sind seine Bauten und Herangehensweisen in einer Ausstellung zu bewundern.

Lego? Playmobil? Barbiepuppenhaus? Mit Kreisen, Dreiecken und wilden Zickzacklinien? Mit pastosen Farben, glühenden Neonstreifen und kräftig koloriertem Fensterglas? Doch was sich da am staubigen Straßenrand abzeichnet, ist weder Spielzeug noch visualisiertes Computerspiel, sondern gebaute Realität, die von den einen, wohlgemerkt, verteufelt und belächelt wird, während ihr die anderen Zeitungsberichte, Forschungsarbeiten und zeitgenössische Kunstausstellungen widmen – so wie derzeit in der Fondation Cartier in Paris.

„Auf der Hochebene rund um La Paz gibt es einerseits die karge, felsige Landschaft und andererseits die bunten, kräftig gewobenen Textilien der Aymara-Kultur, die hier oben seit Jahrhunderten gepflegt wird“, sagt Freddy Mamani. Und so ähnlich, meint der 47-jährige Architekt, verhalte es sich auch mit El Alto, der mit rund 800.000 Einwohnern zweitgrößten Stadt Boliviens. „Auch hier ist das Stadtbild von grauen, sandigen, ziegelfarbenen Tönen dominiert. Mit meinen Bauten jedoch will ich etwas Farbe in diese Eintönigkeit bringen, will ich die so schöne Textilkultur der Aymara auf den großen Maßstab der Architektur ausdehnen.“

Bislang hat der ausgebildete Zivilingenieur, der von vielen Architekturexperten in Bolivien aufgrund seines eigenwilligen Stils und seines nicht abgeschlossenen Architekturstudiums immer wieder missgünstig ins Visier genommen wird, in seiner Wahlheimat El Alto mehr als 60 sogenannte Cholets realisiert – hybride, stockweise gestapelte Funktionsgebilde mit Wohnungen, Büroflächen, Geschäftslokalen, Indoorsporthallen und reichlich dekorierten Festsälen. Wer seiner Architektur gesichtig wird, der sollte weder chromophob sein noch irgendeine Furcht vor allzu wütendem Geometriewahnsinn verspüren.

„Die Arquitectura Andina hat immer schon eine gewisse Vorliebe für Texturen und Strukturen gehabt“, erklärt Mamani. „Doch das war mir zu wenig, denn in der traditionellen Andenarchitektur vermisse ich einen gewissen baulichen Niederschlag der ausgelassenen Feierlaune und Zeremonienkultur, die für unsere Gesellschaft so typisch ist.“ Kurze Pause. In seiner Stimme schwingen Freude und Leidenschaft mit, aber auch eine gewisse Gereiztheit angesichts der ihm sooft entgegengebrachten Kritik. „Ich kann gar nicht anders. Ich will mit meinen Farben die Menschen glücklich machen.“

Bei Mamani ist alles bunt: Wände, Fenster, Stuck, Putzflächen, Gesimskanten, Fensterfaschen, Fliesen, Kacheln, Keramikleisten, Dachziegel, Teppichböden, sogar die Glasscheiben sind durchgefärbt, und dank längst schon leistbarer LED-Technologie wird sogar das Licht in die abenteuerlichsten Farbfamilien eingetaucht. Manche Experten bezeichnen Mamanis Stil als Kitsch und psychedelischen Barock. Der Architekt selbst spricht lieber von einer nun Einzug haltenden bolivianischen Postmoderne sowie von einer Neuinterpretation der regionalen Baukunst: Arquitectura Neo-Andina. Nicht zu Unrecht. Denn während Gaston Gallardo, Dekan der Universidad Mayor de San Andrés, in einem Filminterview erklärt, dass sich die architektonische Anstrengung dieser Bauten eher in Grenzen halte und dass Mamanis Häuser vielmehr mit Dekoration als mit Baukunst gleichzusetzen seien, widmen die bolivianischen Studentinnen und Studenten dem bunten Autodidakten bereits Forschungsarbeiten. Und in La Paz und El Alto tauchen sogar schon die ersten Kopien und Mamani-Plagiate auf.

Umso erfreulicher also, dass die Fondation Cartier in Paris dem in Europa fast unbekannten Architekten eine prominente Bühne bietet. Géométries Sud, du Mexique à la Terre de Feu, so der offizielle Titel der Ausstellung, versammelt 70 Künstler aus zwölf Ländern und geht der Frage nach, ob hinter den insgesamt 250 zusammengetragenen Exponaten so etwas wie eine gemeinsame lateinamerikanische DNA zu finden ist. Freddy Mamani bildet mit seinen Projekten sowie einer raumgreifenden, ballsaalartigen Installation einen deutlichen Schwerpunkt dieser schönen, intensiven und behutsam kuratierten Schau.

„Die Geometrie ist seit vielen Jahrhunderten ein identitätsstiftendes Element lateinamerikanischer Kunst“, sagt Kuratorin Marie Perennes. „Wir wollten die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstgattungen bewusst sprengen und herausfinden, wie weit diese Kultur zurückreicht. Und wir waren erstaunt, was für ein weiches, zusammenhängendes Bild sich ergibt, wenn man solchermaßen einen Blick auf diesen Kontinent wirft.“ Das gezeigte Spektrum reicht von der rituellen Körperbemalung der brasilianischen Kadiwéu- und Kayapó-Stämme über Keramikkunst, Kunsthandwerk und naive Alltagsarchitektur bis hin zur südamerikanischen Moderne, zu zeitgenössischen Kunstpositionen sowie zu den filigranen Drahtskulpturen und hängenden Drahtsystemen der deutschen, nach Venezuela ausgewanderten Künstlerin Gego, die sich mit jedem Lufthauch tanzend im Raum bewegen. Zu den ältesten Exponaten der Ausstellung zählen Vasen aus der Zeit 200 vor Christus sowie eine 500 Jahre alte, schachbrettgemusterte Tunika der Inka.

Géométries Sud beweist, dass Freddy Mamani nicht allein ist. Sein mutiger und kompromissloser Psychobarock, den er bis zur Perfektion entwickelt hat, ist eingebettet in eine Kultur, die nun unter einem neuen Blickwinkel betrachtet wird und dem Besucher entsprechende Wow-Momente und Aha-Erlebnisse beschert. Sehr lustvoll.

[ „Géométries Sud, du Mexique à la Terre de Feu“, Fondation Cartier, Paris, bis 24. 2. 2019 ]

Der Standard, Sa., 2018.11.10

06. November 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Architekturhistorikerin Iris Meder gestorben

Meder Rettete mehrere bedeutende Baudenkmäler der Wiener Moderne vor dem Abriss

Meder Rettete mehrere bedeutende Baudenkmäler der Wiener Moderne vor dem Abriss

Sie war eine der wichtigsten und tatkräftigsten Initiatorinnen bei der Rettung bedeutender Baudenkmäler der Wiener Moderne. Ihrem Kampf ist es zu verdanken, dass das von Erich Boltenstern geplante, 1935 errichtete Kahlenberg-Restaurant nicht abgerissen, sondern unter Denkmalschutz gestellt wurde. Nun ist Iris Meder nach schwerer Krankheit am 5. November gestorben. Meder, 1965 in Pforzheim geboren, studierte Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft und zog Anfang der 1990er-Jahre nach Wien, wo sie sich der Wiener Architekturgeschichte widmete. Zu ihren Themen zählten Josef Frank, Oskar Strnad, Otto Wagner, das Hochhaus in der Herrengasse sowie die europäische Badekultur, der sie ein Buch widmete. Meder war Mitglied des Kunstkollektivs H.A.P.P.Y. und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Architektur und kuratierte Ausstellungen für das Wien-Museum sowie für das Jüdische Museum Wien.

Der Standard, Di., 2018.11.06



verknüpfte Akteure
Meder Iris

27. Oktober 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Lernen mit dem Lustprinzip

Vor einer Woche wurde der Österreichische Bauherrenpreis 2018 vergeben. Eines der sechs ausgezeichneten Projekte ist der Schulcampus in der Seestadt Aspern, der so viel Wohlbefinden aus einem herauskitzelt wie schon lange keine Schule mehr.

Vor einer Woche wurde der Österreichische Bauherrenpreis 2018 vergeben. Eines der sechs ausgezeichneten Projekte ist der Schulcampus in der Seestadt Aspern, der so viel Wohlbefinden aus einem herauskitzelt wie schon lange keine Schule mehr.

In der Aula rennen die Kids hin und her. Manche hocken mit der Jause auf den Treppen. Andere flanieren auf den Galerien, als würden sie über einen Catwalk schreiten, und blicken in die Tiefe des schulischen Pausengeschehens. Eine der gläsernen Türen steht sperrangelweit offen. „Eigentlich immer“, meint Schuldirektorin Silvia Böck am Schreibtisch sitzend, lächelt wie ein Sonnenschein, verkörpert die Atmosphäre dieses Hauses mit allen ihr zur Verfügung stehenden Gesichtsmuskeln. „Wenn man einmal hier ist, will man nie wieder weg. Das ist die schönste Schule Wiens. Sie hat etwas Skandinavisches. Kommen Sie! Ich beweise es Ihnen.“

Der Bildungscampus in der Seestadt Aspern ist Resultat eines offenen Wettbewerbs, der Anfang 2013 entschieden wurde. Das pädagogische Raumkonzept, das umgesetzt wurde, war Teil der bewusst offen und experimentell gestalteten Ausschreibung und sollte die teilnehmenden Architekten dazu anspornen, einen noch nie dagewesenen Schultypus zu entwickeln. Im Sommer letzten Jahres wurde die Schule, die im Endausbau 1100 Kinder aufnehmen wird können, fertiggestellt und in Betrieb genommen.

„Wir haben ganz schön große Augen gemacht, als wir die Ausschreibung gelesen haben“, sagt Hemma Fasch. Sie leitet mit ihren beiden Partnern Jakob Fuchs und Fred Hofbauer das Wiener Architekturbüro Fasch & Fuchs und konnte sich im Wettbewerb gegen ihre Mitstreiter durchsetzen. „Das hat nach einem richtig großen Schritt in der pädagogischen Entwicklung geklungen. Das hat uns natürlich angespornt. Im Rückblick, denke ich, haben wir gute Arbeit geleistet, denn das Projekt wurde ohne große Abstriche genauso umgesetzt, wie wir es geplant hatten.“

Die Klassen der Unterstufe sind in sogenannte Cluster unterteilt. Jeder Cluster besteht aus vier über Schiebetüren erweiterbaren Schulklassen und einem zentralen Pausenraum, dem sogenannten Marktplatz. Der Vorteil an diesem Konzept ist, dass die Kinder nicht nur in den Pausen, sondern auch im Unterricht leichter in Kontakt treten und miteinander projektbezogen arbeiten können.

Ein absolutes Novum ist die Organisation der Oberstufe: Jede Schulstufe verfügt im zweiten Obergeschoß über eine Homebase, eine Art Riesen-WG für 70, 80 Kinder gleichen Alters – mit Tischen, Stühlen, Regalen, Schränken, gemütlichen Sofas und Leselampen an der Wand. Der Unterricht findet in sogenannten Departments statt. Ähnlich wie an einer Universität ist jeder Fachgruppe (Sprachen, Naturwissenschaften, Wirtschaft und Informatik) ein eigener Lernbereich, ein eigener Studiensaal zugeordnet.

Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe haben somit keine Stammklassen mehr, sondern wandern je nach Unterrichtsfach von einem Teil des Gebäudes zum anderen. Damit zwingt das System jene zur Bewegung, die in der Vergangenheit oft einen halben Tag lang auf 63 Quadratmetern zusammengepfercht wurden. Zugleich ist es wirtschaftlich und effizient und bietet den Lehrkräften, die an Bücher, Computer und allerlei Unterrichtsmittel gebunden sind, den Komfort, stationär arbeiten zu können.

So gut die Architektur ist, so noch viel wunderbarer ist das räumliche Experiment, das die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) mit diesem Bau gewagt hat. Kein Wunder also, dass der Bildungscampus in der Seestadt Aspern vor einer Woche mit dem Österreichischen Bauherrenpreis 2018 ausgezeichnet wurde. Er ist eines von insgesamt sechs Projekten, die heuer vor den Vorhang geholt wurden, um nicht wie sonst üblich die Architektinnen und Gestalter zu prämieren, sondern die hinter den Kulissen agierenden Bauherren und Auftraggeberinnen – für ihren Mut, für ihre Bestellqualität, für ihre Wahrnehmung einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung.

„Der Bauherrenpreis hat es sich zum Ziel gemacht, diejenigen zu würdigen, die Architektur und Baukultur überhaupt erst ermöglichen, indem sie die Initiative ergreifen und die Gestaltung unserer gebauten Umwelt finanzieren“, sagt Maria Auböck, Präsidentin der Zentralvereinigung der ArchitektInnen Österreichs (ZV), die den Bauherrenpreis seit 1967 jährlich vergibt. „Unter den 106 Einreichungen aus allen Bundesländern hat sich gezeigt, dass die beiden gesellschaftlichen Kernthemen Schulbau und Wohnbau dominieren und dass in diesen beiden Kategorien besonders überraschende, innovative Konzepte zu finden waren.“

Der Österreichische Bauherrenpreis, der auf eine Initiative von Hans Hollein zurückgeht, ist in seiner Art ein weltweites Unikum. In Deutschland, Schweiz und Slowenien wird derzeit an ähnlichen Formaten gearbeitet. „Aber wir“, so Auböck, „sind bereits seit 51 Jahren auf Flughöhe.“ Am 10. Dezember 2018 ist der Landeanflug geplant. Dann werden die siegreichen Projekte im Wiener Ringturm zu sehen sein.

Der Standard, Sa., 2018.10.27



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2018

20. Oktober 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Wohnung als Vehikel des eigenen Lebens

Es gibt Kaffee, ein paar Porträtfotos und 30 Minuten Interview. Doch wie ist das so, wenn man die ganze Zeit fremde Wohnungen betritt und mit den Leuten übers Wohnen spricht? Einige Gedanken zum Wohngespräch.

Es gibt Kaffee, ein paar Porträtfotos und 30 Minuten Interview. Doch wie ist das so, wenn man die ganze Zeit fremde Wohnungen betritt und mit den Leuten übers Wohnen spricht? Einige Gedanken zum Wohngespräch.

I ch habe drei Hobbys, ohne die ich nicht leben kann“, hat die österreichische Schauspielerin und Drehbuchautorin Konstanze Breitebner damals gesagt. „Yoga, Laufen und Arbeiten im Weingarten. Bei allen drei Tätigkeiten schaffe ich es, den Kopf abzuschalten und den rasenden Gedanken, die sich da oben den ganzen Tag abspielen, endlich mal zu entkommen.“

Damals, das war vor genau fünf Jahren, als sich der Autor dieser Zeilen gemeinsam mit der Wiener Fotografin Lisi Specht ins Südburgenland aufmachte und nach zwei Umleitungen und einer halben Stunde Verspätung an Breitebners Haustor anläutete, um eines der im Standard so erfolgreichen, bis heute gern gelesenen Wohngespräche zu führen.

Kaum wurde nach einer Tasse Tee das Diktiergerät eingeschaltet, wurde das soeben Gesagte in körperliche, überaus fotogene Positur gebracht. Und dann hat’s klick gemacht. Das Foto blieb bis dato unveröffentlicht.

Bisher 522 Wohngespräche

„Wie ist das so, wenn man die ganze Zeit fremde Wohnungen betritt und mit den Leuten über ihr eigenes Wohnen spricht?“, wird der Wohngespräch-Interviewer immer wieder von Freunden und Kolleginnen gefragt. Das 30-Jahr-Jubiläum des standard ist, nachdem bisher sage und schreibe 522 Wohngespräche mit Chris Lohner, Dagmar Koller, Erika Pluhar, Elfriede Ott, Ute Bock, Jazz Gitti, Maria Vassilakou, Katharina Stemberger, Christine Nöstlinger, Thomas Brezina, Richard Lugner, Hermann Nitsch, Tex Rubinowitz, Ostbahn-Kurti, Hubert von Goisern, Dompfarrer Toni Faber und vielen, vielen anderen erschienen sind, eine gute Gelegenheit, sich dieser Frage zu widmen.

Lassen wir sie zunächst einmal von der Wiener Künstlerin Barbara Vörös beantworten, die im April 2016 im Interview meinte: „Ich dachte mir schon seit längerer Zeit, wie gern ich meine Wohnung zur Verfügung stellen würde, denn das Wohngespräch ist eine schöne Gelegenheit, über sich selbst und das eigene Wohnen und Leben zu reflektieren.“

Und tatsächlich: Je öfter die Wohngespräche erscheinen, je mehr sie sich nach mittlerweile neun Jahren als immer noch unerschöpflich schreibens- und lesenswert erweisen, desto deutlicher stellt sich mit der Zeit heraus, dass das Wohngespräch nichts anderes ist als ein über die Bande gedachtes Menschenporträt. Die Wohnung und das Haus sind lediglich Vehikel, um die Gedanken leichter in Fahrt zu bringen.

Düringer vor Phettberg

Die top drei Menschen, die bei unseren Leserinnen und Lesern in den letzten Jahren die mit Abstand größte Aufmerksamkeit erregt und somit die meisten Klicks und die längste Onlineverweildauer erwirkt haben, sind Roland Düringer, Hermes Phettberg und die Grande Dame aller Bälle, Lotte Tobisch, die im Übrigen ganz offen eingestanden und damit auch den Titel für die am drittmeisten gelesene Geschichte an dieser Stelle geliefert hat: „Diese Wohnung strotzt nur so vor Scheußlichkeiten.“

Der Grund dafür, so Tobisch, sei ihre Bestechlichkeit. Schon seit Opernballzeiten werde sie regelmäßig „mit Liebe und Freundschaft beschenkt, die die Menschen aber meist in ein Kitschtrumm einpacken. So etwas kann man nicht wegwerfen! Ab und zu jedoch tritt ein Glücksfall ein, und dann fällt das eine oder andere Ding zu Boden und ist kaputt. Meine Haushaltshilfe und ich hatten in letzter Zeit viel Glück.“ Und wir hatten Glück, solche Anekdoten hören und teilen zu dürfen.

Wie ist das also, wenn man die ganze Zeit fremde Wohnungen betritt? Zugegeben spannend. Berührend. Verstörend. Und immer wieder voller Überraschungen.

Es ist nicht der voyeuristische Blick hinter die Kulissen, der das Wohngespräch nach all den Jahren zu einem regelmäßigen Highlight dieses Jobs macht, sondern das kurze Eintauchen in das Leben eines in jeder Hinsicht faszinierenden Menschen. Es gibt Kaffee, ein paar Porträtfotos und 30 Minuten mitgeschnittenes Interview. Die Neugier auf die kommenden Begegnungen ist ungebrochen.

Der Standard, Sa., 2018.10.20

08. Oktober 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Von kontrovers bis konzertant

Heute, Samstag, wird in Innsbruck das neue Haus der Musik eröffnet. Der (fast) schwarze Würfel zwischen Hofburg und Landestheater spaltet die Gemüter – und fügt sich genau deshalb so wunderbar in die einzigartige Planungskultur dieser Stadt.

Heute, Samstag, wird in Innsbruck das neue Haus der Musik eröffnet. Der (fast) schwarze Würfel zwischen Hofburg und Landestheater spaltet die Gemüter – und fügt sich genau deshalb so wunderbar in die einzigartige Planungskultur dieser Stadt.

Schauen Sie sich nur einmal die alte Säuleneiche an, deren Äste und Blätter fast in den Saal hineinwachsen! Ist das nicht wunderbar? Es ist, als hätte der Baum auf dieses Haus geradezu gewartet.“ Johannes Reitmeier, Intendant des Tiroler Landestheaters, ist ganz außer sich, als er den großen, rundum mit Eichenholz getäfelten Konzertsaal betritt. Vor der riesigen Glasfassade mit ihren sieben Meter hohen Fensterscheiben werden gerade die letzten Handgriffe gemacht, die Bühnenelemente eingepasst, die Nachhallvorhänge in Position gebracht, die Orchesterstühle in den Saal hereingetragen. Heute Abend, eine Woche nach Austragung der Straßenrad-WM, die am provisorisch asphaltierten Vorplatz ihre Zieleinfahrt hatte, wird das Innsbrucker Haus der Musik mit Ausschnitten aus Don Giovanni und Barbier von Sevilla sowie mit einem Saxofonkonzert des französischen Komponisten Jacques Ibert feierlich eröffnet.

Mit dem Haus der Musik, das anstelle der in die Jahre gekommenen und teils desolaten Stadtsäle zwischen Landestheater, Hofburg und Jesuitenkirche auf den Platz gestellt wurde, geht eine lange, kontroversiell diskutierte Entstehungsgeschichte einher. Die einen, wie etwa die lokalen Printmedien, stoßen sich an der dunklen Fassade und bezeichnen den Würfel als „schwarzes Monster“, als „Stein des Anstoßes“, als „Kaba von Innsbruck“. Die anderen, allen voran die Innsbrucker FPÖ, halten sich erst gar nicht mit architektonischen Details auf, sondern stellen ganz generell infrage, ob es denn eines solchen Neubaus überhaupt bedürfe.

Polemische Dauerfrage

Der 2013 ausgeschriebene, zweistufige Wettbewerb, an dem sich 126 Architekten aus ganz Europa beteiligt hatten, beantwortet die polemische Dauerfrage der Konservativen mit einem eindeutigen Ja. Mit der Zusammenführung und Verdichtung von einem knappen Dutzend Institutionen – darunter etwa das Mozarteum, das Landeskonservatorium, das Institut für Musikwissenschaft der Universität Innsbruck, die Festwochen der Alten Musik sowie etliche übergeordnete Vereinsverbände – sollte Innsbruck endlich als Musikstadt wahrnehmbar werden. Hinzu kommt, dass das Tiroler Symphonieorchester mit der Fertigstellung des Neubaus seinen jahrzehntelang ersehnten Probenraum erhält.

„Das richtige Raumprogramm war eine echte Herausforderung“, sagt der Innsbrucker Architekt und Wettbewerbssieger Erich Strolz, der das Projekt gemeinsam mit dem Vorarlberger Büro Dietrich Untertrifaller realisierte. „Es ist nicht nur ein Konzerthaus mit insgesamt vier verschieden großen Konzert- und Kammersälen, sondern vielmehr eine Art kulturelles Infrastrukturgebäude, in dem auch unterrichtet und verwaltet wird.“ Aus einigen Musik- und Seminarräumen der in den oberen Etagen angesiedelten Institute blickt man durch das Glasdach direkt nach unten ins Foyer. Köpfe mit hochgesteckten Frisuren und Abendroben werden bald das Sichtfeld dieser Räume prägen.

Auffälligstes und auch heißestdiskutiertes Element des neuen, knapp 13.000 Quadratmeter großen Musikzentrums sind die dunkel glasierten, melanzanig anmutenden Keramiklamellen, die sich von der Fassade bis ins Foyer, bis an die Saaleingangstüren nach innen ziehen. Es ist genau dieses hybride Spiel zwischen innen und außen, zwischen Haus und Stadt, zwischen Weit-weg-Sein und Angreifen-Können, die den Pausenraum mit seinen flachen Auf- und Abgängen trotz aller farbigen und materiellen Unterkühltheit (weiße Dispersion, hellgrauer Fliesenboden, in seiner ganzen Erscheinung absolut unmusikalischer Edelstahl) dennoch so spannend machen.

Guter und wichtiger Prozess

„Wir haben lange nach einem passenden Material für die Fassade gesucht“, erinnert sich Strolz, der zu Beginn mit hellen Keramikplatten und sogar hölzernen Lamellen experimentiert hat. Doch nachdem sich selbst die Chronikredaktionen der lokalen Medien in die Debatte eingeschaltet und danach getrachtet haben, die Bevölkerung nach und nach zu instrumentalisieren, wurde kurzerhand das Bundesdenkmalamt, der Innsbrucker Stadt- und Ortsbildschutzbeirat, der Innsbrucker Gestaltungsbeirat sowie ein eigens ins Leben gerufener Projektbeirat unter der Leitung von Ernst Beneder und Elke Delugan-Meissl zurate gezogen.

„Das war ein guter und wichtiger Prozess“, meint der Architekt, „weil wir dadurch auf sachlicher Ebene über die unterschiedlichen Vor- und Nachteile diskutieren konnten. Ich jedenfalls bin mit dem Resultat zu 95 Prozent zufrieden.“ Drei verschiedene, eigens für dieses Haus produzierte Strangpressprofile wurden so gegeneinander versetzt verbaut, dass der eingeweihte Profi darin baulich manifestierte Terzen und Quarten zu erkennen glauben sollte. So will es das Konzept. Und die restlichen fünf Prozent? „Die sind nicht unbedingt Unzufriedenheit, sondern einzig und allein die Ungewissheit, wie die Generation nach uns diese zeitgenössische Entscheidung des Bauens im historischen Umfeld auffassen wird“, so Strolz.

Damit fügt sich das jüngste Großprojekt der Tiroler Landeshauptstadt (kolportierte Baukosten 62,7 Millionen Euro) perfekt in die für Österreich so einzigartige Planungskultur. Schon seit den Rathaus-Galerien von Dominique Perrault, seit der Bergiselschanze von Zaha Hadid, seit dem Kaufhaus Tyrol von David Chipperfield wird nicht das realisiert, was dem Mittelmaß und dem größten gemeinsamen Geschmacksnenner der Bevölkerung entspricht, sondern schlichtweg das, was eine Gruppe hochkarätiger Profis für die bestmögliche Lösung hält. Die drei eben genannten Projekte waren bei Planung, Errichtung und Fertigstellung Hassobjekte von Mensch und Medien. Heute sind sie heißgeliebte Sehenswürdigkeiten, die niemand mehr vermissen will. Schlussakkord.

Der Standard, Mo., 2018.10.08



verknüpfte Bauwerke
Haus der Musik

03. Oktober 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Kein Albatros neben Adler und Ameise

ÖSW baut neben dem Wiener Gasometer 122 freifinanzierte Wohnungen

ÖSW baut neben dem Wiener Gasometer 122 freifinanzierte Wohnungen

Ursprünglich hätte neben dem Gasometer und dem Bürokomplex „Adler und Ameise“ ein weiterer Bürokomplex mit dem Namen „Albatros“ errichtet werden sollen. Doch mit dem Grundstückskauf durch das Österreichische Siedlungswerk (ÖSW) mutierte das Büro- zum Wohnprojekt mit Miet- und Eigentumswohnungen. Während das ÖSW 74 freifinanzierte Mietwohnungen unter den Namen „Terragon“ errichtet, baut die ÖSW-Tochter WE gleich daneben ein Haus mit 48 Eigentumswohnungen (Kaufpreis bis zu 3600 Euro pro Quadratmeter). Hinzu kommt ein drittes Wohnhaus des gewerblichen Bauträgers 6B47. Ein gemeinsamer Sockelbau mit Geschäftslokalen, Gastronomie und Kindergarten fasst die drei Punkthäuser von Werner Neuwirth, Fink Thurnher Architekten und des Wiener Büros Silber Soyka Silber zu einer gestalterischen Einheit zusammen.

„Wir überlegen uns bei jedem Projekt aufs Neue, wie wir den Wohnungsschlüssel anlegen“, sagt ÖSW-Vorstand Michael Pech. „In diesem Fall haben wir uns entschieden, die beiden Rechtsformen Miete und Eigentum auf einzelne Punkthäuser aufzudröseln. Das erleichtert die Verwaltung und Verrechnung des gesamten Projekts.“ Auch spätere Sanierungs- und Instandhaltungsarbeiten, so Pech, könne man auf diese Weise besser bewerkstelligen.

Beton und Perlmutter

Während der ÖSW-Bauteil mit sichtbaren Betonfertigteilen errichtet wird, entschieden sich Silber Soyka Silber, das benachbarte Eigentumsobjekt für die WE mit schimmernden Putzen und silbrig glänzenden, perlmuttartig schimmernden Brüstungselementen und Rankgerüsten einzuhüllen. „Natürlich ist es wichtig, die Häuser allein schon im Sinne der Vielfalt unterschiedlich zu gestalten und mit verschiedenen Materialien auszuformulieren“, sagt Architekt Georg Soyka. Dafür gebe es beim Grundriss kaum Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsformen: „Die Wohnungen sind sehr hochwertig geplant. Das Wohnbedürfnis ist ja das gleiche – egal ob ich zur Miete oder im Eigentum wohne.“

Der Standard, Mi., 2018.10.03

03. Oktober 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Elf Parzellen, elf getrennte Verwaltungseinheiten

Gemeinsam mit ihrer gewerblichen Tochter errichtet die Sozialbau auf den Siemensäckern in Floridsdorf rund 670 Miet- und Eigentumswohnungen. Hinzu kommen 530 Wohnungen anderer Wohnbauträger.

Gemeinsam mit ihrer gewerblichen Tochter errichtet die Sozialbau auf den Siemensäckern in Floridsdorf rund 670 Miet- und Eigentumswohnungen. Hinzu kommen 530 Wohnungen anderer Wohnbauträger.

Bereits seit 1897 ist die österreichische Niederlassung des deutschen Siemens-Konzerns in Wien-Floridsdorf beheimatet. Während die Siemensgründe mit der Expansion des Unternehmens sukzessive erweitert wurden, waren die im Südwesten angrenzenden Siemensäcker von jeher unbebautes Grünland. 2015 wurde das 8,2 Hektar große Grundstück an die Sozialbau AG verkauft, um darauf mit rund 1200 Neubauwohnungen das Wiener Wachstum abzufangen.

Im Zuge eines europaweit ausgeschriebenen Europan-Wettbewerbs konnte sich das slowakische Büro SLLA Architects gegen seine Mitbewerber durchsetzen und schlug vor, das Areal im Norden gegen die Siemenswerke mit bis zu elfstöckigen Gebäuden abzuschotten, während es im Süden an die benachbarten Einfamilienhäuser mit locker bebauten Stadtvillen anschließen sollte. Zusammengehalten wird das Ganze von einem 15.000 Quadratmeter großen Park, der um den aktuellen Baumbestand herum geplant wurde.

„Natürlich braucht es bei so einem großen Projekt einen maximal möglichen Mix an unterschiedlichen Wohn- und Rechtsformen“, sagt Sozialbau-Chef Josef Ostermayer. „Doch während wir bei größeren Bauten sowohl Miet- und Eigentumswohnungen als auch geförderte und freifinanzierte Wohnungen innerhalb des Hauses mischen, sind wir in den letzten Jahren dazu übergegangen, bei mehreren kleineren Gebäuden die Rechtsformen hausweise zu trennen.“ Grund dafür sei die leichtere juristische und verwaltungstechnische Handhabe.

„Man darf nicht vergessen, dass in den obersten Geschoßen vieler geförderter Projekte nur deshalb hochpreisige, freifinanzierte Eigentumswohnungen errichtet werden, um im Rahmen der förderbaren Baukosten die hohen Grundstückskosten auszugleichen“, sagt Ostermayer. „Doch bei günstigen Grundstücken wie hier ist das nicht nötig.“ Bei insgesamt elf Bauplätzen auf acht Hektar Fläche, versichert der Sozialbau-Chef, müsse man sich um die soziale Durchmischung keine Sorgen machen. Die Vielfalt in den insgesamt 1200 Wohnungen sei enorm.

Viele Architekten und Träger

Das liegt nicht nur an den unterschiedlichen Architekten, die neben den siegreichen Masterplanern SLLA zum Zug kommen (darunter ss plus, Soyka Silber Soyka, Architektensache sowie das spanische Büro Arenas Basabe Palacios), sondern auch an der Aufteilung auf mehrere Wohnbauträger. Die Sozialbau selbst errichtet hier 580 geförderte Wohnungen, manche davon im Rahmen der preislich gedeckelten Wiener Wohnbauoffensive, die gewerbliche Sozialbau-Tochter Imove steuert 87 freifinanzierte Eigentumswohnungen bei. Der Bezug des neuen Quartiers „Am Park“ ist für das Jahr 2020 vorgesehen.

Der Standard, Mi., 2018.10.03

03. Oktober 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Urbanes Wohnen am Wiener Bächlein

Direkt neben dem Liesingbach errichtet die Buwog ein durchmischtes Quartier namens „Rivus“. Die infrastrukturelle Qualität ist auch Resultat des ersten städtebaulichen Vertrags, der in Wien je angewendet wurde.

Direkt neben dem Liesingbach errichtet die Buwog ein durchmischtes Quartier namens „Rivus“. Die infrastrukturelle Qualität ist auch Resultat des ersten städtebaulichen Vertrags, der in Wien je angewendet wurde.

Im Bauträgerfachjargon wird selbst das kleinste Bächlein zum bedeutenden, medial mitreißenden Strom. So geschehen etwa im Falle des beschaulich vor sich hin plätschernden Liesingbachs, über den man mit etwas Anlauf sogar springen könnte und der dem benachbarten Stadtentwicklungsgebiet an der Breitenfurter Straße allen enden wollenden Dimensionen zum Trotz den beeindruckenden Namen „Rivus“ beschert. Obwohl vom aquatischen Flair hundert Flussbreiten von der Liesing entfernt nicht viel zu spüren ist, scheint sich das heterogene Projektgebiet dennoch zu einem gut durchmischten Grätzel zu entwickeln.

Ursprünglich hätte auf den ehemaligen Unilever-Gründen – der Konzern hat den Standort 2002 verlassen – ein Shopping- und Fachmarktzentrum entstehen sollen. Im Zuge diverser Umplanungen und Umwidmungen entschied man sich, das Areal für Wohnen zu nutzen und mit Ganztagsvolksschule, Kindergarten, Supermarkt und gut sortiertem Baumarkt aufzuwerten. Während die einzelnen Wohnhäuser über eine weitläufige Parkfläche verteilt sind, gruppieren sich die punktuellen Gewerbeflächen um eine rund 1500 Quadratmeter große Piazza.

„Das Rivus ist sicherlich eines unser besten Projekte, wenn es um urbane und funktionale Durchmischung geht“, sagt Ingrid Fitzek-Unterberger, Bereichsleiterin Kommunikation der Buwog Group. „Wir durchweben das Areal nicht nur mit städtischer Infrastruktur, die bei einem so großen Areal absolut unverzichtbar ist, sondern kombinieren hier auch unterschiedliche Rechtsformen miteinander.“ 2017 erfolgte der Spatenstich. Während manche Bauteile bereits übergeben sind, ist die Gesamtfertigstellung der Wohnhausanlage für Ende des Jahres vorgesehen.

In Summe errichtet die Buwog 181 Mietwohnungen nach der Wiener Wohnbauinitiative – also niedrige Miethöhen wie in einem geförderten Wohnbau, ohne dass der Mieter dabei auf objektive Förderwürdigkeit angewiesen ist – sowie 130 freifinanzierte Wohnungen mit Quadratmeterpreisen zwischen 2900 und 4500 Euro. Hinzu kommen weitere 154 Wohnungen in Miete, in Eigentum sowie zu günstigen Smart-Konditionen, die der gemeinnützige Bauträger Arwag im östlichsten Zipfel des Grundstücks realisiert. Die Bandbreite umfasst Zwei- bis Vier-Zimmer-Wohnungen zwischen 46 und 124 Quadratmetern.

Wie bei den meisten Kollegen der Branche sind die unterschiedlichen Rechtsformen auch bei der Buwog auf mehrere Gebäude, auf sogenannte „Villen“, aufgeteilt. „Sobald man Miete und Eigentum in einem Bauteil kombiniert, entsteht in der Hausverwaltung ein erheblicher Mehraufwand“, sagt Fitzek-Unterberger. „Daher haben wir uns bei diesem Projekt entschieden, Miete und Eigentum hausweise zu trennen.“ Augenscheinliche Unterschiede werde es in der Ausstattung kaum geben. Vielmehr konzentrieren sich die eigentümlichen Gustostückerln auf versteckte haustechnische Werte wie etwa Fußbodenheizung in den Wohn- und Sanitärräumen.

Hochwertiger Freiraum

„Dass hier eine solch hohe infrastrukturelle Qualität erzielt werden konnte, ist kein Zufall“, erklärt der Architekt Peter Lorenz, der die Anlage gemeinsam mit BEHF Architekten und Hillinger Mayrhofer plante. „Das war der erste städtebauliche Vertrag, der in Wien je zur Anwendung gekommen ist. Zu den geforderten Kriterien gehört nicht nur eine hochwertige Freiraumplanung mit Spielplätzen und luftig gestalteten Garagenaufgängen, sondern auch eine enge Abstimmung des Energiekonzepts mit der Magistratsabteilung 22 (Umweltschutz).“ Teil des Vertrags war auch eine hochwertige Fassadengestaltung zur Breitenfurter Straße, die der Architekt als Lochgitter in unterschiedlichen Lochungen und Lackierungen ausführte.

Was man nicht weiß: Von Rivus nach Mediterranea ist es gar nicht so weit. Als chromatisch gepixeltes Vorbild diente hier nämlich ein Sonnenuntergang in Triest.

Der Standard, Mi., 2018.10.03

22. September 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Renaissance in der Pampa

Hinterstoder lebt vor, wie Baukultur im ländlichen Raum aussehen kann. Am Freitag wurde das 900-Einwohner-Dörfchen in Oberösterreich mit dem Europäischen Dorferneuerungspreis 2018 ausgezeichnet.

Hinterstoder lebt vor, wie Baukultur im ländlichen Raum aussehen kann. Am Freitag wurde das 900-Einwohner-Dörfchen in Oberösterreich mit dem Europäischen Dorferneuerungspreis 2018 ausgezeichnet.

Das ist doch der perfekte Rahmen, um auf den Dachstein zu blicken, oder? Denn eines ist klar“, sagt Robert Oberbichler, während er mit dem Zeigefinger auf das graue Gebirgsmassiv deutet, das sich mit einer ziemlichen Opulenz vor ihm ausbreitet. „Es kann nicht sein, dass nur das gebaut wird, was dem Bürgermeister gefällt.“ Der rote Stahlwürfel, der sich um eine von insgesamt drei Aussichtsplattformen entlang der sogenannten Rundwanderwelt aufspannt, habe damals, 2006, für ziemliche Diskussionen gesorgt. Doch mittlerweile, erzählt der 46-jährige Architekt und Ortsplaner, sei das Objekt kaum aus dem Landschaftspanorama wegzudenken. „Es ist, als wäre der Würfel immer schon da gewesen. Er ist ein essenzieller Teil von Hinterstoder geworden.“

Es gibt nicht viele Gemeinden in Österreich, die sich mit einer derartigen Selbstverständlichkeit an zeitgenössische Architektur heranwagen. Und das nicht nur oben am Berg, sondern auch unten im Dorf, wo in den letzten Jahren etliche Neubauten errichtet und strukturelle Veränderungen vorgenommen worden sind. Um diesen Umstand und unerbittlichen Kampf zu würdigen, wurde die 900-Einwohner-Gemeinde im letzten Eck von Oberösterreich gestern, Freitag, unter 23 Einreichungen aus neun Ländern mit dem Europäischen Dorferneuerungspreis 2018 ausgezeichnet.

20 Jahre harte Arbeit

„20 Jahre harter Arbeit, und jetzt das“, sagt Angelika Diesenreiter. „Ein tolles Gefühl!“ Die 66-Jährige war früher Vizebürgermeisterin und kümmert sich heute als Kulturreferentin um die kulturellen Belange im Dorf – um das Museum, um die regelmäßigen Flohmärkte, um das alljährlich stattfindende Dorffest neben dem Feuerwehrhaus. „Hinterstoder hatte früher weit über tausend Einwohner, und damals noch, in den Achtzigerjahren, stand der Tourismus in seiner Hochblüte. 1986 hat hier das allererste Skiweltcuprennen stattgefunden. Doch in den Neunzigern ging es mit den Bevölkerungs- und Besucherzahlen bergab. Wir hatten keine andere Wahl. Wir mussten einfach handeln.“

In den darauffolgenden Jahren beschloss die Gemeinde, sich zu erneuern. Und zwar von Grund auf. Als erste Maßnahme wurde die Hauptstraße, die durch den Ort führt, auf einer Länge von 300 Metern neu gestaltet. Grund dafür waren die vielen aufbetonierten und aufasphaltierten Schichten, die die Fahrbahn im Lauf der Jahrzehnte immer höher und höher steigen ließen. An manchen Stellen lagen die Hauseingänge bereits 80 Zentimeter unter Straßenniveau. Mit der Nivellierung und der damit verbundenen Verkehrsberuhigung schuf die Gemeinde damals die allererste Begegnungszone Österreichs – mit gleichberechtigten Flächen für Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer.

„Die Menschen haben sich mit Händen und Füßen gewehrt“, erinnert sich Diesenreiter. „Unseren Bürgermeister Helmut Wallner hätte das bei der Wahl fast den Kopf gekostet. Wozu das Ganze! So viel Geld! Das braucht doch keiner!“ Der gestrige Groll, so scheint es, ist längst verschwunden. Zwischen Blumenrabatten und im Halbkreis angeordneten Parkbänken steht ein kleines Wandergrüppchen unbesorgt am Straßenrand, ohne dabei gleich vom nächsten Auto überrollt zu werden. Und die größten Gegner der Nivellierung und Verkehrsberuhigung, die Wirte und Geschäftsleute, nutzen die Begegnungszone heute für ihre Gastgärten und machen damit mehr Umsatz als je zuvor.

Unter den Folgeprojekten befinden sich die Hösshalle von Riepl Riepl Architekten, in der Seminare, Theateraufführungen und Pressekonferenzen für den Skiweltcup stattfinden, das in Holz und Glas errichtete Heimatmuseum Alpineum, das sogar für den Europäischen Museumspreis nominiert war, eine umgebaute Feuerwehrstation, ein neu errichtetes Vereinshaus für die Musikkapelle, die sogenannte Hinterstoder-Lounge mit Reise- und Tourismusbüro sowie ein kleines Biomassekraftwerk, das das Ortszentrum mit Nahwärme versorgt. Und dann natürlich die roten Stahlwürfel oben in 2000 Meter Höhe.

Immaterielle Maßnahmen

„Es hat eine richtige Renaissance stattgefunden, langsam und über viele Jahre verteilt, und mit der Zeit ist das architektonische Niveau in Hinterstoder mehr und mehr gestiegen“, meint Ortsplaner Oberbichler, der nicht nur die planerischen Geschicke der Gemeinde leitet, sondern nebenbei Privatbauherren bei ihren Projektideen berät. Jeder Bauwerber erhält bei ihm standardmäßig eine Beratungsstunde – kostenlos, wohlgemerkt. „Doch das Wichtigste“, sagt er, „sind nicht die baulichen Maßnahmen, sondern eigentlich die vielen unsichtbaren, die vielen immateriellen Maßnahmen im Hintergrund.“

Es geht um die richtige Balance aus Bürgerbeteiligung und Führung, aus Geben und Nehmen, aus Zuckerbrot und Peitsche. Viele Projekte, wie etwa die Rundwanderwelt mit insgesamt 13 Wanderwegen in der Region, wurden partizipativ entwickelt. An anderer Stelle wiederum beschloss die Gemeinde, einige Schlüsselbauwerke im Zentrum bewusst im Gemeindeeigentum zu belassen. Ein noch größerer Tabubruch war die Rückwidmung von bereits gewidmeten Baugrundstücken in Grünland. Und nicht zuletzt ist das Parken in der winzigen Innenstadt neuerdings gebührenpflichtig – doch dafür bietet Hinterstoder seinen Einwohnerinnen und Besuchern kostenlosen Zugang zu Taxi, Bus und ÖBB-Shuttle. Wer will, kann sich auch den kleinen Elektroflitzer Renault Twizy schnappen, der etwas einsam und vergessen vor dem Gemeindeamt parkt.

Voll bobo auf dem Land

„Ich bin hier aufgewachsen, aber mit dem damaligen Hinterstoder ist der heutige Ort kaum noch vergleichbar“, sagt Yvonne O’Shannassy. „Die Menschen sind irgendwie offener und moderner geworden. Es lebt sich echt gut hier.“ Vor ein paar Jahren kaufte die weitgereiste Yacht-Stewardess ein etwas in die Jahre gekommenes Haus an der Hauptstraße auf, richtete darin acht Gästewohnungen ein und baute die ehemalige Fleischerei zu einem kleinen Café mit Torten und Eiskaffee um, das immer noch die alten Fleischerhaken an der Wand und immer noch den alten Namen an der Fassade trägt. Wenn’s sein muss, kann auch die Pampa voll bobo sein.

Hinterstoder ist das, was Landleben gemeinhin bieten sollte. Ein hübsches Dörfchen mit einer irgendwie gut funktionierenden Infrastruktur. Nicht mehr und nicht weniger. Doch solange dieses Mindestmaß an kommunaler, baukultureller Qualität in Österreich nicht selbstverständlich ist, ist der biennal vergebene Dorferneuerungspreis ein wichtiger und unverzichtbarer Katalysator für die Entwicklung des ländlichen Raums.

Der Standard, Sa., 2018.09.22

11. September 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Das große Schwarze: Streit um Haus der Musik in Innsbruck

Vorzeigearchitektur oder Millionengrab? Darüber wird bereits vor der Eröffnung diskutiert. Besonders umstritten: die dunklen Keramiklamellen der Fassade

Vorzeigearchitektur oder Millionengrab? Darüber wird bereits vor der Eröffnung diskutiert. Besonders umstritten: die dunklen Keramiklamellen der Fassade

Schwarzes Monster“, „Stein des Anstoßes“ und „Kaaba von Innsbruck“ sind nur einige der Spitznamen, die das Haus schon heute, wenige Wochen vor der Eröffnung von den lokalen Medien und politischen Fraktionen abbekommen hat.

Es ist eine österreichische Spezialität, Großprojekte – und hier vornehmlich jene aus dem Kulturbereich – durch den wirtschaftlichen und vor allem auch architektonischen Fleischwolf zu drehen, doch im Falle des seit zwölf Jahren diskutierten Hauses der Musik fällt die im Stadtblatt , in der Tiroler Tageszeitung und vor allem in den Reihen der FPÖ geführte Diskussion bisweilen besonders unsachlich aus.

„Das wird wieder ein Millionen-Euro-Grab“, sagt der blaue Stadtparteiobmann Rudi Federspiel und bezeichnet die bis Mai 2018 amtierende Bürgermeisterin und nunmehrige Vizechefin Christine Oppitz-Plörer (ÖVP) als „Schuldenbürgermeisterin und Masseverwalterin der Tiroler Landeshauptstadt“, denn sie „zerstört nicht nur baulich die Innenstadt, sondern treibt die Stadt in den Ruin“.

Um das Ausmaß der Diskussion zu verstehen, muss man wissen, dass Innsbruck seit Mitte der Neunzigerjahre eine überaus strenge Wettbewerbskultur pflegt und – abhängig von Lage und Projektgröße – auch private Bauherren zur Durchführung von Gestaltungsausschreibungen zwingt.

Internationale Kapazunder

Rund 220 Architekturwettbewerbe wurden seitdem durchgeführt. 98 Prozent davon seien realisiert worden, rechnet der ehemalige Planungsstadtrat und nunmehrige Gemeinderat Gerhard Fritz (Grüne) vor. „Das ist eine Zahl, die finden Sie nirgendwo sonst in Österreich.“

Diese über mehr als 20 Jahre eingenommene Haltung hat der Tiroler Landeshauptstadt einige außergewöhnliche Bauten und Platzgestaltungen von sowohl regionalen Architekten als auch internationalen Kapazundern wie etwa Zaha Hadid, Dominique Perrault und David Chipperfield beschert.

„Das Niveau der Architektur und der Architekturdiskussion in Innsbruck hat sich seit den Neunzigerjahren konsequent gesteigert und ist heute vorbildlich“, sagt Arno Ritter, Leiter des Ausstellungs- und Vermittlungshauses Architektur und Tirol.

Dieser Kultur füge sich auch der 2014 entschiedene, zweistufige Wettbewerb um den Neubau des Hauses der Musik, an dem sich 126 Architekten aus ganz Europa beteiligt haben und der von einer hochkarätigen Jury beurteilt wurde. Der Sieg ging an den Innsbrucker Architekten Erich Strolz, der das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Vorarlberger Büro Dietrich Untertrifaller realisierte.

Zu viel Raum, zu wenig Platz

„Die in den Fünfzigerjahren an dieser Stelle errichteten Stadtsäle waren für unseren Betrieb einfach nicht mehr brauchbar“, blickt Johannes Reitmeier, Intendant des Tiroler Landestheaters, zurück.

„Die Anlage war längst zu klein, es gab akustische Probleme, kaputte Lüftungsanlagen, regelmäßige Wasserschäden und sogar so starke Schimmelbefälle, dass wir zuletzt einige Vorstellungen absagen mussten, um unsere Künstlerinnen und Künstler nicht unnötig gesundheitlichen Problemen auszusetzen. Ein Neubau war dringend nötig. Daher verstehe ich nicht, dass einige Leute seit Jahren die Notwendigkeit dieses Gebäudes und die dafür aufzubringenden Kosten infrage stellen.“

Im Gegensatz zu den Stadtsälen, die die Kammerspiele sowie einen Probenraum für die Symphoniker beherbergten, handelt es sich beim neuen Haus der Musik um einen multifunktionalen Hybrid, in dem ein knappes Dutzend Institutionen Einzug gehalten hat, die bislang über die ganze Stadt verteilt waren.

Darunter etwa die Festwochen der Alten Musik, das Mozarteum, das Institut für Musikwissenschaft der Universität Innsbruck, das Landeskonservatorium mit einer eigenen Jazzabteilung sowie etliche Vereinsverbände für Gesang, Blasmusik und Volksmusik. Hinzu kommen vier Kammer- und Konzertsäle mit 512, 208, 110 und 60 Zuschauerplätzen.

Investition in die Kunst

Während manchen Experten die Funktionsbündelung viel zu dicht erscheint („zu großes Raumprogramm auf zu wenig Platz“, Arno Ritter), wird hausintern gerade diese Dichte geschätzt. „Bislang war Innsbruck als Musikstadt kaum wahrnehmbar“, meint Wolfgang Laubichler, Direktor des Hauses der Musik.

„Mit der Zusammenführung und Verdichtung an einem Ort wird diese Qualität nun endlich sichtbar. Die vielen Institutionen sorgen erstens für Synergieeffekte und zwingen die Nutzerinnen zweitens zur Kommunikation. Davon wird dieses Haus profitieren.“

Musik sei ein Kulturgut und ein österreichischer Exportschlager, so Wolfgang Laubichler. In Salzburg etwa habe man das verstanden, in Innsbruck jedoch werde man dafür zur Rechenschaft gezogen.

Die allgemeine Kritik gilt nicht zuletzt den Kosten und der dunklen Farbe. Wurden die Baukosten zu Beginn noch mit 55 bis 58 Millionen Euro beziffert, so liegen sie aktuell bei kolportierten 62,7 Millionen Euro, das ist eine Kostenüberschreitung von rund zehn Prozent. Die endgültige Abrechnung wird frühestens Ende 2018 vorliegen, sagt Georg Preyer, Projektleiter in der Innsbrucker Immobilien GmbH (IIG), die das Haus errichtete und nun an die Nutzer vermietet. Dies sei eine gute Investition in die Kultur.

Schimmernde Fassade

Und dann das Schwarz. „Das ist kein Schwarz, das ist eine dunkle Farbe, die je nach Tageszeit und je nach Wetter von Rot und Braun bis Aubergine schimmert“, erklärt Architekt Erich Strolz, der diese Entscheidung gemeinsam mit dem Innsbrucker Gestaltungsbeirat gefällt und gegenüber den Ortsbild- und Denkmalschützern verteidigt hat. „Wir haben uns bewusst für eine hochwertige Fassade entschieden, die sich hinter den Bäumen zurücknimmt und die die Farben und Lichtstimmungen der Umgebung reflektiert.“

Konkret handelt es sich dabei um teils fixe, teils bewegliche Keramiklamellen, die eigens für dieses Projekt entwickelt und produziert wurden. „Doch ich respektiere, dass die Fassade nicht jedem gefällt, denn Architektur ist und bleibt Geschmackssache“, so Strolz.

Kein heller Kompromiss

Dass das Haus der Musik kein weißer oder heller Kompromiss geworden ist, wie dies in Österreich gang und gäbe ist (Museum der Moderne in Salzburg, Musiktheater in Linz, wo sich laut internen Quellen und entgegen allen Expertenmeinungen letztendlich der damalige Landeshauptmann Josef Pühringer mit seinem Wunsch nach hellem Travertin durchsetzte), ist auf jeden Fall als Erfolg architektonischer und städtebaulicher Kompetenz zu verbuchen.

Architektur darf und soll polarisieren und zu Diskussionen anregen. Und so ist das Haus der Musik vor allem für jene ein „Stein des Anstoßes“ (Tiroler Tageszei tung), die Freunde österreichischen Mittelmaßes sind. Die Eröffnung findet am 6. Oktober statt.

Der Standard, Di., 2018.09.11



verknüpfte Bauwerke
Haus der Musik

08. September 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Vienna Demolition Man

Immer mehr Gründerzeithäuser in Wien werden verschandelt und zerstört. Die Ethik vieler Grundstückseigentümer ist im gesellschaftlichen Keller angekommen. Wie geht es mit der DNA dieser Stadt weiter?

Immer mehr Gründerzeithäuser in Wien werden verschandelt und zerstört. Die Ethik vieler Grundstückseigentümer ist im gesellschaftlichen Keller angekommen. Wie geht es mit der DNA dieser Stadt weiter?

Mariahilfer Straße 166–168: Die Fenster im zweiten Stock wurden rausgerissen. An einigen Fensterachsen haben die Bauarbeiter im noch vermieteten Haus händisch den gründerzeitlichen Stuck abgeschlagen.

Rückertgasse 29: An einer Stelle wurde der Stuck entfernt, um Platz zu machen für Balkonanbauten aus Trapezblech und verzinktem Stahl, die ausschauen wie eine Billigsdorferlösung aus dem Baumarkt.

Unter-Meidlinger Straße 103: In den kommenden Monaten soll das ockerfarbene Eckhaus aufgestockt werden. Auf der vom Makler angeschlagenen Bautafel sieht man, wie der Fassadenschmuck in großen Teilen abgeschlagen werden soll.

Heigerleingasse 20–22: Im Juni wurde innerhalb einer Woche ein ganzes Jugendstilhaus von Architekt Wenzel König abgerissen. Bis zuletzt war das 1906 errichtete Wohnhaus intakt und im Originalzustand erhalten.

Radetzkystraße 24–26: Während noch acht unbefristete Hauptmieter im 170 Jahre alten neugotischen Haus an der Ecke zum Donaukanal wohnen, lässt der Eigentümer das Dach abtragen, die Fenster rausreißen und Teile der Fassade in sich einstürzen. Ein Teil des Hauses steht unter Wasser, die noch verbleibenden Bewohnerinnen haben ihren Möbeln bereits Regenjacken angezogen.

In den vergangenen Monaten hat sich das gründerzeitliche Wien, wie es scheint, zur perfekten Kulisse für ein Sequel des Hollywood-Thrillers Demolition Man gemausert. Die Sylvester Stallones der Immobilienbranche reißen ihre alten Häuser nieder, schlagen Schönheiten ab, picken die Fassaden mit erdölreichem Sondermüll zu, stocken auf, was die Bauordnung gerade noch erlaubt, und schrauben Eisenschrott an die Mauer, um ihre Wohnungen dank privaten Freiraums noch teurer vermieten zu können.

Die wirtschaftlichen Interessen der Grundstückseigentümer und Investoren sind legitim, keine Frage. Die Pflege und Instandhaltung historischer Häuser ist ein Fulltime-Job – und aufgrund des laut Mietrechtsgesetz gedeckelten Richtwert-Mietzinses für Altbauten in vielen Fällen ja nicht einmal ein besonders lukrativer. Doch ist das Grund genug, der Stadt mit Baggerschaufel und Vorschlaghammer Stück für Stück ihre über Jahrzehnte, über Jahrhunderte gewachsene Identität zu rauben? „In der wachsenden Stadt ist die Nachfrage nach Wohnraum massiv gestiegen“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrums Wien (AzW). „Dabei steigt das Spannungsverhältnis zwischen Wohnen als leistbarem Grundrecht und Wohnen als Ware in Form von Anlageprodukten für all jene, die ins Betongold flüchten.“ Grundsätzlich spreche nichts dagegen, das Wien der Gründerzeit oder auch der Nachkriegsmoderne weiterzudenken und zu verändern. Doch wenn man Bestand abreiße, müsse etwas Hochwertigeres nachkommen. „Das ist nicht immer der Fall. Vor allem dort nicht, wo Projekte wie eine gebaute Excel-Tabelle wirken.“

Die gesichtslosen Investorenwohnhäuser, die längst nicht nur auf die Peripherie beschränkt sind, sondern mehr und mehr in die engen Gassen der Innenbezirke vordringen, haben die Stadt schon jetzt massiv verändert. Wurden 2001 in Wien noch 35.000 vor 1919 errichtete Gebäude statistisch erfasst, so betrug die Zahl zehn Jahre später nur noch 32.400 Häuser. In der Kulturgut-Datenbank der Stadt Wien scheinen aktuell nur noch 27.000 Häuser aus dieser Epoche auf. Tendenz weiterhin fallend. Aus den Zahlen lässt sich ein konstantes Abbruchverhalten herauslesen.

300 Abbrüche pro Jahr

„Pro Jahr werden in Wien rund 300 Altbauten abgerissen“, bestätigt Nikola Prajo, Juniorchef im Abbruchunternehmen Prajo’s, auf Anfrage des STANDARD . „Und ja, ich gebe zu, da sind immer wieder wunderschöne Häuser dabei, die in einem so guten Zustand sind, dass einem das Herz zu bluten beginnt.“ In den letzten Wochen vor dem Sommer, erzählt Prajo, habe die Zahl der Anfragen und Abbrüche dramatisch zugenommen. Der Grund: Mit der am 1. Juli 2018 in Kraft getretenen Bauordnungsnovelle benötigen Häuser, die vor 1945 errichtet wurden, ab sofort eine Abbruchbewilligung. Dann entscheiden die Magistratsabteilungen 19 (Stadtgestaltung) und 37 (Baupolizei), ob in Zusammenhang mit dem Gebäude, wie Franz Kobermaier, Leiter der MA 19, formuliert, ein „öffentliches Interesse an der Wirkung auf das örtliche Stadtbild“ besteht oder nicht. Damit ist das Abbrechen von nun an etwas komplizierter als bisher.

„Die Novelle kommt zu spät“, beklagt sich Markus Landerer, Obmann des Vereins Initiative Denkmalschutz, der diese Woche wieder einmal getagt hat, um der Stadt und der Immobilienbranche ein schlechtes, ein sehr schlechtes Zeugnis auszustellen. „Wir fordern schon seit langer Zeit, die Vorschriften zu verschärfen und sensible Stadträume vermehrt als Schutzzonen zu definieren. Zumindest besteht Hoffnung, dass es jetzt besser wird.“

Wird es das wirklich? In der Karolinengasse 13 wurde – kurz bevor die Baupolizei per 1. Juli 2018 einen Abbruchstopp verhängt hat – schnell noch kaputtgemacht, was kaputtzumachen war. Denn je mehr zerstört ist, umso größer die Chance, dass das Haus laut Bauordnungsnovelle keine positive Wirkung mehr auf das örtliche Stadtbild hat. „Hier ist keine Granate eingeschlagen und auch kein Gasherd explodiert“, steht auf einem Zettel, der vor dem halb zerstörten Biedermeierhaus im Wind flattert. „Hier hat sich nur einer ausgetobt, der vom Wohnraummangel profitiert.“

Dem Bundesdenkmalamt seien die Hände gebunden, meint der Wiener Landeskonservator Friedrich Dahm, weil viele Häuser wie etwa jenes neugotische Kleinod in der Radetzkystraße die Kriterien für eine Unterschutzstellung nicht erfüllen. In der Bauordnung wiederum können nur geschlossene Ensembles, nicht aber Einzelobjekte zur Schutzzone erklärt werden. Und die bösartige Zerstörungswut der Eigentümer, die zuletzt so groß war, dass den Wiener Abbruchunternehmen kurzfristig sogar die Bagger ausgegangen sind, lässt für die Zukunft der kulturellen DNA dieser Stadt Schlimmes erahnen.

Tiefer geht’s nimmer

Alles Einzelfälle, keine Frage, und nichts an alledem ist illegal – wiewohl sich im Falle der Radetzkystraße, wo das Haus in bewohntem Zustand angeknabbert wird, wo den letzten verbleibenden Bewohnern in der Nacht die Sicherungen rausgedreht werden, wo Wasserschäden, klatschnasse Tapeten und sich langsam ablösende Wandfarbe bewusst herbeischikaniert werden, das Gegenteil vermuten ließe. Die Ethik und Moral vieler Eigentümer ist im gesellschaftlichen Keller angekommen. Tiefer geht’s nimmer.

Möchte man das Problem lösen, so wird der einzige Weg sein, das längst veraltete Mietrechtsgesetz neu zu schreiben – und den Eigentümern historischer Häuser endlich zu erlauben, angemessene Mieten einzunehmen, um sie auf diese Weise sogleich in die Pflicht zu nehmen, ihre Häuser angemessen zu pflegen und ihrer kulturellen Verantwortung nachzukommen. Jetzt ist die Politik gefragt. Die Rufe der Betroffenen werden immer lauter und lauter. Sollte die Legislative dieser Forderung nicht nachkommen, so ist dies langfristig betrachtet ein Verbrechen an der Stadt.

Der Standard, Sa., 2018.09.08

01. September 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Museum auf eigene Gefahr

Vor wenigen Tagen wurde in Helsinki das Amos-Rex-Museum eröffnet. Während unten zeitgenössische Kunst ausgestellt wird, ist oben einer der lustvollsten Stadträume Europas entstanden – ganz ohne Warnhinweis und Absperrzaun.

Vor wenigen Tagen wurde in Helsinki das Amos-Rex-Museum eröffnet. Während unten zeitgenössische Kunst ausgestellt wird, ist oben einer der lustvollsten Stadträume Europas entstanden – ganz ohne Warnhinweis und Absperrzaun.

Niko konzentriert sich, fokussiert das Gebirge am Horizont und stemmt seinen kleinen Körper schließlich mit aller Kraft in die Pedale. Nach wenigen Sekunden schon ist der Biker mit dem roten Hoody oben auf dem Plateau und rast mit vollem Karacho auf den nächsten Hügel zu. Nochmal rauf, nochmal runter, Vollbremsung. „Voll cool hier“, sagt der 13-Jährige, der den Platz vor wenigen Tagen erst entdeckt hat und seitdem mit seinen beiden Kumpels Andreas und Tuomas regelmäßig beradelt. „Es ist nicht leicht. Du musst echt aufpassen, dass du nicht zu sehr nach rechts abkommst, denn dann wird es echt steil, und dann fängst du an abzurutschen. Aber trotzdem, voll cool hier.“

Der voll coole Ort, von dem Niko spricht, ist der neugestaltete Lasipalatsinaukio, der sogenannte Glaspalastplatz, der dem soeben fertiggestellten Amos-Rex-Museums zugleich als Dachlandschaft dient. Vergangenen Montag wurde das 6000 Quadratmeter große, unterirdische Kunstmuseum, das zuvor in der nahegelegenen Yrjönkatu beheimatet war, vor Presse und Publikum feierlich eröffnet. „Ich freue mich, von nun an ein Museum zu leiten, das in jeder Hinsicht Teil der Stadt ist“, sagte Direktor Kai Kartio, gelbe Socken und Nietenschuhe, bei der Eröffnung. „Unten in den Innenräumen wird zeitgenössische Kunst zu sehen sein, und oben im Außenraum werden die Menschen urbane Alltagskultur zu spüren bekommen.“

Der außergewöhnliche Bauplatz im Herzen Helsinkis blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück. Einst stand hier, nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt, die 1918 im Finnischen Bürgerkrieg zerstörte Militärkaserne. 1936 wurde auf dem Areal der sogenannte Glaspalast errichtet – ein Freizeitkomplex mit Café, Eissalon, Geschäften, prächtigem Art-Déco-Kinosaal und sogar einem eigenen Heizkraftwerk samt Schornstein. Das luftig-leichte Gebäude, das von drei jungen Architekturstudenten entworfen wurde, war ursprünglich als Provisorium gedacht und hätte nach den Olympischen Sommerspielen 1940, die wiederum dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen, abgetragen werden sollen.

Doch es kam anders. Die Anlage blieb erhalten und wurde von 1945 bis in die frühen Neunzigerjahre als städtischer Busbahnhof genutzt. 2009 erstellte das finnische Architekturbüro JKMM für den inzwischen tot gewordenen Platz eine städtebauliche Studie und untersuchte verschiedene Nutzungen für einen unterirdischen Bau. Die Varianten reichten vom Museum bis zur Stadtbibliothek, die nun neben dem Kiasma-Museum errichtet wird und Ende des Jahres eröffnet werden soll. Heute steht der wunderschöne Lasipalatsi, der mit seinem verspielten Kamin, seinen roten Uhren und seinen geschwungenen Neonschriftzügen an unser aller Kindheitstage erinnert, unter Denkmalschutz.

„Dieser Platz ist einer der wichtigsten öffentlichen Freiräume in ganz Finnland“, sagt Asmo Jaaksi, Partner im zuständigen Architekturbüro JKMM, „und ehrlich gesagt wussten wir auch nicht so recht, ob wir uns mit der unsichtbaren Positionierung unter der Erde begnügen wollen oder nicht. Letztendlich haben wir uns dafür entschieden, das Museum auch oberirdisch spürbar zu machen.“ Daher also die fünf mit Betonsteinen gepflasterten Rüssel, die als organische Skulpturen den Platz durchstoßen und das Licht in die darunterliegenden Museumsräume einsaugen.

Blöd nur, dass ausgerechnet bei der Eröffnungsausstellung, einer imposanten und emotional sehr bewegenden Lichtinstallationsorgie des japanischen Künstlerkollektivs Teamlab, die charakteristischen Nozzles verdunkelt und die Räume in Black Boxes umgewandelt werden mussten. Ob das wohl ein gutes Omen ist? Bei vier der schräg nach oben ragenden Fensterrüssel starren die Menschen, sobald sie die steile Höhe erklommen und sich mit allerletzter Kraft bis zur Glaskante hochgezogen haben, auf eine schwarze Folie. Nur bei einem der Lichtschornsteine, jenem über dem Garderobenfoyer, können sie einen Blick ins Innere erhaschen.

Die Böden und Wände sind in gleißendes Weiß gehüllt. An den geschwungenen Decken scheinen perforierte, mit weißem Textil bespannte Akustikteller zu schweben. Die Ausstellungsräume und Korridore wiederum sind mit schwarzlasierten Kieferleisten und ebenso geschwärzten, hoch belastbaren Hirnhölzern ausgekleidet. Im Frühjahr 2019 soll eine große Ausstellung über René Magritte starten. Spätestens dann wird man wissen, ob die Räumlichkeiten auch als Bühne für klassische Kunstformate taugen. Wie sagte doch Magritte? „Ich bemühe mich, das Vertraute ins Fremdartige zurückzuversetzen.“

Doch der wahre Schatz dieses 50 Millionen Euro teuren Hauses – die Errichtung wurde zur Gänze privat finanziert – liegt ohnehin nicht unten in den Hallen, sondern oben auf dem Dach. Während unten noch Lohivoileipiä, Lachsbrötchen, serviert werden, nehmen oben die Finnen den Platz bereits in Besitz. Die Kids, die Gothics, die Halbstarken, die Vollverliebten und die posierenden Selfie-Bloggerinnen. Sie erklimmen die bis zu fünf Meter hohen Rüssel, die weder abgesperrt noch mit Geboten und Verboten ausgeschildert sind, wie Wanderer die Gipfel stürmen. Der Begriff der Haftung scheint im finnischen Baugesetz keine Rolle zu spielen.

„Finnland ist ein Land mit Wasser, Wald und Millionen von Felsen in der Landschaft“, erklärt Freja Ståhlberg-Aalto, Projektleiterin bei JKMM Architects. „Da finden Sie auch keine Warn- und Hinweisschilder, die einen darauf aufmerksam machen, aufzupassen. Warum also hier in der Stadt? Wir gehen davon aus, dass die Menschen imstande sind, das Risiko einzuschätzen und sich ihrer eigenen körperlichen Fähigkeiten bewusst zu sein. Das ist die Mindestvoraussetzung, um sich durch das Leben zu bewegen.“

Die ungewöhnlich liberale Herangehensweise erfolgte im Einvernehmen zwischen Museum, Architekturbüro und Stadtverwaltung. Und das macht neidisch. Vor allem aus österreichischer und mitteleuropäischer Sicht, wo man jede Form der Eigenverantwortung längst niedergelegt hat und vom zunehmenden Haftungswahnsinn plattgerollt wird. Vielleicht ist das Amos Rex ja ein Anlass, urbane Lebenskultur neu zu definieren. Es ist dringend an der Zeit.

Der Standard, Sa., 2018.09.01

11. August 2018Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Volle Ladung, leeres Gut?

Billiger Wohnraum, stapelbares System, individuelles Einzelstück: Recycelte Schiffscontainer sind populär. Doch ist das Wohnen in der Stahlkiste wirklich eine gute Idee? Zwei Positionen.

Billiger Wohnraum, stapelbares System, individuelles Einzelstück: Recycelte Schiffscontainer sind populär. Doch ist das Wohnen in der Stahlkiste wirklich eine gute Idee? Zwei Positionen.

Wojciech Czaja: Komm nur rein! Das ist mein Büro. Da schaust, was?“ Ho Kai Pong sitzt an seinem Schreibtisch, umzingelt von Aktenordnern und Gießkannen in allen möglichen Farben und Formen. Pong ist Projektleiter in der Urban Oasis, einer städtischen Biofarm im Norden von Hongkong, in der tausend Mitglieder aus der ganzen Stadt kleine Gemüseparzellen anmieten, auf denen sie Okra, Melanzani und Bittermelonen anbauen. „Ein klassisches Bürohaus kam für uns nicht infrage“, sagt der 33-Jährige. „Nicht hier in der Oase! Daher haben wir uns entschieden, ein paar alte Container anzukaufen. Das passt viel besser zu unserem ökologischen Gedanken, den wir hier pflegen.“

Das grün lackierte Bürohäuschen in der Urban Oasis ist nur ein Beispiel von mittlerweile Hunderten auf der ganzen Welt: ausrangierte Überseecontainer am Ende ihrer Lebenszeit, die, ihrer eigentlichen Funktion beraubt, ein Dasein als häusliche Hülle fristen – sei es zum Wohnen, zum Arbeiten oder für gewerbliche Zwecke. Die Liste an kreativen Lösungen findet kaum ein Ende.

In Zürich haben die Gebrüder Freitag vor vielen Jahren schon ein erstes Exempel statuiert, indem sie 19 alte Container zu einem Turm gestapelt haben, worin sie nun ihren Flagshipstore betreiben. In Johannesburg wurden 64 Container auf ein altes Getreidesilo gehievt und dienen nun als Boarding House. In Berlin besteht das Studentenheim Frankie & Johnny aus insgesamt 420 solcher Kisten. Und in den Pop-up-Dorms in der Seestadt Aspern wird ein alter, weitgereister Überseecontainer als Bar genutzt. Auf der Metallplakette ist noch deutlich die Aufschrift zu lesen: „Approved for transport under customs seal.“

Sexy, schicker Lifestyle-Faktor

In letzter Zeit kommt der Container vor allem bei Budget-Hotels sowie als bauliche Billiglösung für Flüchtlingsheime zum Einsatz. So geschehen in diversen Städten in Deutschland und in der Schweiz. In Leutschenbach errichtete die Asylorganisation Zürich (AOZ) ein Containerdorf für 250 Asylsuchende. Das dreigeschoßige Haus aus beigen, gelben und orangen Containern wirkt zwar billig und funktional, aber keineswegs unangenehm. Etliche Architektur- und Designblogs haben darüber berichtet.

Am Ende fragt man sich: Wozu der ganze Aufwand? Wozu 20 und 40 Fuß lange Kisten umbauen und mit größter Mühe technisch und funktional ertüchtigen? Das ginge doch viel einfacher! Die Antwort: weil der Container ein wichtiger Katalysator ist, um die breite Masse zum Nachdenken anzuregen – darüber, wie wir heute mit unseren materiellen Gütern umgehen und wie wir das in Zukunft zu tun gedenken.

Der Container als sexy, schicker Lifestyle-Faktor und Cradle-to-Cradle-Objekt XXL ist ein erster Schritt in Richtung Ressourcenschonung und Recycling. Denn Hand aufs Herz, davon ist die Baubranche allen Lobpreisungen zum Trotz in Wahrheit noch meilenweit entfernt.

Maik Novotny: Noch steht er da, wie ein Alien aus der Vergangenheit: der Nakagin Capsule Tower in Tokio, ein Stapel aus vorgefertigten Betonkisten mit kreisrunden Fenstern. 1972 von Kisho Kurokawa erbaut, ist er ein Überbleibsel der 60er-Jahre, als die Gruppe der japanischen Metabolisten von Gebäuden und Städten in ständiger Bewegung träumte. Elemente, die wie Container frei kombinierbar sind! Häuser, die sich den Bedürfnissen anpassen und weiterwachsen können! Ein Kosmos der unendlichen Flexibilität.

Es waren großartige und faszinierende Visionen. Dennoch ist der Metabolismus in der Praxis gescheitert. Häuser wachsen selten, und wenn, dann nicht nach vorgegebenem Plan. Der Mensch ist ein sesshaftes Wesen, er will einfach nicht flexibel werden. Trotzdem träumen Architekten heute noch von modularen Bauklotzsystemen, und in den Medien sind zu Wohnraum umgebaute Schiffscontainer präsenter denn je. Was ist an den Blechkisten so faszinierend?

Der Mensch ist keine Ware

Da hat sich die Menschheit über Jahrtausende Kulturtechniken angeeignet, um ihr Zuhause stabil, behaglich, hell, schön, raubtiersicher und wasserfest auszustatten. All dies soll stattgefunden haben, um dann auf ein willkürliches Standardelement aus dem Transportwesen zurückzugreifen, bei dessen Erschaffung diese Qualitäten gar keine Rolle spielten? Eine Box aus Stahl, 6,06 mal 2,44 mal 2,59 Meter groß: Das soll zivilisatorischer Fortschritt in der Architektur sein?

Sie seien halt so einfach und billig, heißt es. Doch wenn Container zu Wohnraum werden, dann nur mit enormem Aufwand. Fenster und Türen müssen hineingeschnitten werden, und damit man nicht friert oder verglüht, muss die Kiste gedämmt werden, wodurch der enge Raum noch enger wird. Am Ende ist das billige Standardprodukt zur teuren Stahlblechcollage geworden, zum aufwendigen Designer-Einzelstück mit einer Garnitur Industrieoptik. Eh nett. Aber Lösungen für den Wohnraummangel sind beim Basteln mit Containern nicht in Sicht.

Warum sollten sie auch? Man könnte auch fragen: Warum soll eigentlich etwas so Elementares wie Wohnen besonders billig sein? Wenn schon Schiffscontainer recyceln, warum nicht für eine Firmenzentrale oder ein Bankgebäude? Dazu würden die austauschbaren Kisten angesichts der Kurzlebigkeit des hyperflexiblen Finanzsektors doch viel besser passen.

Stattdessen wird bei Bankgebäuden kein Aufwand gescheut. Nach dem nächsten Merger oder der nächsten Pleite werden sie mit ebensolchem Aufwand umgebaut oder abgerissen. Währenddessen diskutiert man beim Wohnen über smarte Miniapartments, Tiny Houses und gestapelte Container, als wäre Wohnen etwas, das man am besten im Diskonter kaufen sollte, als wäre Wohnen nicht etwas Wertiges und Würdevolles, in das man alles Können und Wissen investieren sollte, das man hat. Der Mensch ist keine Ware. Deshalb: Lasst die Container dort, wo sie hingehören!

Der Standard, Sa., 2018.08.11

21. Juli 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Damals, als die Häuser vorwärts gingen

Eine Ausstellung im Wiener Ringturm betrachtet die Architektur als politischen Katalysator und trägt wunderbare historische Details zusammen. Eine Zeigerkunde mit Gessner und Fabiani.

Eine Ausstellung im Wiener Ringturm betrachtet die Architektur als politischen Katalysator und trägt wunderbare historische Details zusammen. Eine Zeigerkunde mit Gessner und Fabiani.

Nach einer Minute macht es klack. „Hier stimmt einfach jedes Detail“, sagt Michaela Maier. „Selbst 108 Jahre nach Fertigstellung weisen die Möbel und Innenräume eine hochwertige, ja außergewöhnliche Qualität auf.“ Noch einmal klack. „In einem so schönen Haus zu arbeiten ist ein Privileg.“ Maier ist Geschäftsführerin des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA). Zwei Stockwerke über ihrem Büro, es macht klack, wieder ist eine Minute vergangen, wieder hat sich der Zeiger um ein paar Zentimeter weiterbewegt, befindet sich das riesige Uhrwerk, das in der Nacht die Zeit in die Dunkelheit hinauskommuniziert, flankiert von zwei goldfarbenen Fahnenmasten und zwei stolz über das Wiental blickenden Betonfiguren. Klack.

Das Druck- und Verlagshaus Vorwärts auf der Linken Wienzeile 97 beinhaltet nicht nur eine der ersten elektronischen Uhren Wiens, 1910 in Betrieb genommen, sondern auch eine einzigartige Entstehungsgeschichte, die die demokratische Entwicklung dieser Stadt entscheidend mitgeprägt hat. Das Haus, Resultat eines umfassenden Umbauprojekts des Otto-Wagner-Schülers Hubert Gessner, war Stammsitz der Arbeiter-Zeitung (AZ), die hier geschrieben, gesetzt und gedruckt wurde. Während im straßenseitigen Hauptgebäude die Redaktion untergebracht war, deren denkmalgeschützte Räumlichkeiten bis heute erhalten sind, befand sich im Innenhof die längst zerstörte Druckerei mit ihren Setzereien und Druckstraßen.

„Um 1900 war Wien die viertgrößte Stadt Europas, es gab hier weit über 20 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von einer Million Exemplaren“, sagt Adolph Stiller. „Allein schon die Zelebrierung eines Massenmediums wie der Arbeiter-Zeitung in einem solchen Hause ist ein Indiz für die Bewegung von einem feudalen, neoabsolutistischen Österreich hin zu einer freien Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht und gleichem Recht für alle.“ Die Zentrale der Vorwärts-Druckerei, so Stiller, sei eines der besten, eines der radikalsten Beispiele für diesen politischen Gesinnungswandel.

Genau diesem Phänomen widmet sich die Ausstellung Fundamente der Demokratie , die derzeit im Wiener Ringturm zu sehen ist. Gemeinsam mit seinem Kollegen Otto Kapfinger recherchierte und analysierte der Architekturwissenschafter und Kurator 105 Einzelprojekte im ganzen Land – darunter Wohnhäuser, Bildungsbauten, Sportstätten, Arbeitsorte und kulturelle Einrichtungen – und überprüfte diese auf ihren gesellschaftspolitischen Beitrag zum 100-Jahr-Jubiläum der Republik.

Neue Qualitäten

„Das Interessanteste“, sagt Stiller, „ist, dass die politische und die architektonische Demokratie zeitlich weit auseinanderklaffen, denn die Demokratisierung im Bauen hat viele Jahre vor dem offiziellen Beginn der Republik stattgefunden.“ Ein Blick auf die Werkstätten der Vorwärts-Druckerei reicht aus, um der neuen Qualitäten für die Arbeiter gewahr zu werden: aufgeräumte Arbeitsorte, große Fensterflächen, umfangreiche Beleuchtung, Lüftungsanlagen in den Maschinenräumen, Einhaltung hygienischer Vorschriften und ein eigenes Zimmer für den Betriebsarzt.

„Ja, wir sind groß geworden, und damit trat an uns auch die Pflicht heran, im eigenen Heim zu erfüllen, was wir immer predigen: die Arbeitsstätten der Menschen weiträumig, luftig, hell zu gestalten, der Staubentwicklung, die jeder Betrieb mit sich bringt, entgegenzuwirken und dem Augen- und Lungenschutz der Arbeitenden, der damit bewirkt wird, auch allen weiteren gesundheitlichen Schutz beizugesellen“, heißt es in der Arbeiter-Zeitung, Sonntag, 24. Juli 1910. „Die Weiträumigkeit und die gute Ventilationsmöglichkeit bringen es zustande, daß auch hier nicht die Arbeit zur Qual werde.“ In einem Brief an Victor Adler schrieb Chefredakteur Friedrich Austerlitz, dessen Schreibtisch bis heute in Verwendung ist, sogar: „Der Organismus des Baus klappt so großartig, als wäre er um das Manuskript gewachsen.“

Auffällig ist, dass es sich bei den in der Ausstellung gezeigten Projekten nicht nur um funktionale, sondern auch um überaus schön gestaltete Bauten handelt. Ganz gleich, ob die Vorwärts-Druckerei, das Arbeiterheim Favoriten, das als „Republik Konge“ bekannt gewordene Kongressbad in Wien-Ottakring oder die von Max Fabiani errichtete Urania als erste manifest gewordene Erwachsenenbildungsstätte Wiens: Die Demokratie in all diesen Einrichtungen äußert sich nicht zuletzt darin, dass sie dem Volk mit ästhetischen Mitteln Respekt erweisen. „Die Architekten haben damals die neuesten Trends und Baustile aufgegriffen“, erklärt Adolph Stiller bei der Führung durch die Ausstellung, vorbei an unzähligen historischen Fotografien, Plänen und Zeichnungen. „Vor allem aber waren die damals errichteten Bauten technische Pioniere, in denen neue Bauweisen und materielle und konstruktive Patente angewandt wurden. Viele davon wurden europaweit in den führenden Architektur- und Konstruktionszeitschriften veröffentlicht.“

Im mittlerweile abgerissenen Festsaal im Arbeiterheim Favoriten, ebenfalls von Hubert Gessner geplant, kam die sogenannte Melan-Bauweise mit gebogenen Stahltraversen, acht Zentimeter Eisenbeton und integrierten Glasbausteinen zum Einsatz. In der Heilig-Geist-Kirche in der Herbststraße 80, einem Frühwerk des slowenischen Architekten Jože Plečnik, konnte der gesamte Kirchenraum aufgrund eines konstruktiven Kniffs stützenfrei ausgeführt werden – ein, so Stiller, „demokratischer Raum ohne jegliche Hierarchie zwischen Haupt- und Seitenschiff“. Und in der Schwarzwald-Mädchenschule in der Herrengasse wurde das ursprünglich geplante Steildach während der Bauarbeiten von Victor Siedek und Adolf Loos kurzerhand zum Flachdach umgeplant. Auf diese Weise hatten die Schülerinnen einen attraktiven Sportplatz mit Blick auf die Wiener Innenstadt.

Die Ausstellung Fundamente der Demokratie verlangt dem Besucher viel Zeit und Engagement ab, um in der Vielzahl der Bauten den gewohnten Blick abzulegen und die uns allen bekannten Häuser auch einmal durch die Brille politischer Evolution zu betrachten. Der Blick lohnt sich. In einer Zeit, in der sich die Zeiger öfter nach rückwärts als nach vorwärts drehen, ist er mindestens genauso wichtig wie vor hundert Jahren.

Der Standard, Sa., 2018.07.21

09. Juni 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Die Quadratur der Töpferscheibe

Vor wenigen Tagen wurde der heimische Brick Award 2018 vergeben. Eines von insgesamt sieben Preisträgerprojekten ist das Terra Cotta Studio für einen vietnamesischen Keramikkünstler.

Vor wenigen Tagen wurde der heimische Brick Award 2018 vergeben. Eines von insgesamt sieben Preisträgerprojekten ist das Terra Cotta Studio für einen vietnamesischen Keramikkünstler.

In der Regenzeit, mitten im Monsun, da kann das Wasser im Thu-Bon-Delta schon einmal bis zum Haus reichen und das Erdgeschoß in schwappenden Wogen überschwemmen. Doch das macht nichts. Denn zum einen kann Le Duc Ha, einer der bekanntesten Keramikkünstler Vietnams, dann eine Pause vom Arbeiten einlegen, und zum anderen braucht er sich um seine getöpferten Artefakte ohnehin keine Sorgen machen. Diese nämlich ruhen, den Fluten enthoben, in eigens dafür gefertigten Bambusregalen in einigen Metern Höhe.

„Früher habe ich neben einem Bambusbusch direkt am Fluss gearbeitet“, erinnert sich Le Duc Ha, eine halbe Stunde Bootsfahrt von der weltberühmten, Unesco-geschützten Provinzhauptstadt Hoi An entfernt. „Ich saß im Schatten, es wehte eine kühle Brise, und das Wasser war zum Greifen nah. Ich habe mir ein Ateliergebäude gewünscht, das alle diese Qualitäten aufrechterhält, in dem ich wie im Freien arbeiten kann, zugleich aber vor Wind und Unwetter geschützt bin.“ Die Antwort auf diesen ungewöhnlichen Wunschkatalog lieferte das in Ho-Chi-Minh-Stadt beheimatete Architekturbüro Tropical Space mit einem sieben mal sieben mal sieben Meter großen Würfel aus handgefertigten Ziegelsteinen. Vor wenigen Tagen wurde das archaisch anmutende Terra Cotta Studio mit dem Wienerberger Brick Award 2018 ausgezeichnet. „Le Duc Ha arbeitet mit Lehm, daher war für uns klar, dass wir diesen Baustoff auch in sein Atelierhaus einfließen lassen“, sagt Architektin Tran Thi Ngu Ngon. „Damit bilden Haus und Kunst eine materielle Einheit.“ Schon auf den ersten Blick fällt die ungewöhnliche, sich immer wieder verändernde Perforation der Fassade auf. Jede Seitenfläche ist in 36, jeweils einen Quadratmeter große Felder unterteilt, die ihrerseits wiederum in verschiedenen Verbänden gemauert sind und auf diese Weise unterschiedlich viel Licht und Luft durchlassen. Die charakteristische Ziegelstruktur, die als Schattenspender und Lüftungsgitter dient, ist ein Zitat der Champa-Tempel, die vor rund 1500 Jahren in dieser Gegend errichtet wurden.

Zarte Stahlkonstruktion

Im Inneren der vierseitigen Ziegelkonstruktion steht – gleich einem Haus im Haus – ein 60 Zentimeter tiefes, bis nach oben reichendes Bambusregal, das auf schmalen Leitern, Treppen und Gerüsten erklommen werden kann. Die hölzerne Matrix, die sich an die rundum verlaufende Ziegelfassade schmiegt, dient als Galerie und Ausstellungsfläche für Le Duc Has Kunstwerke. Über alledem schwebt, um die Vasen, Schüsseln und Tonfiguren vor der Witterung zu schützen, eine zarte Stahlkonstruktion mit Glasdach.

Im Zentrum des mit geringsten finanziellen Mitteln errichteten Gebäudes schließlich befindet sich eine kreisrunde Mulde im Fundament, in der der Künstler an seiner riesigen Töpferscheibe sitzt und auf diese Weise die geometrische wie auch energetische Mitte des Hauses markiert.

„Erstens ist dem Büro Tropical Space hier ein außergewöhnlicher Arbeitsorts gelungen, der in Verbindung mit den hier geschaffenen Werken und Skulpturen steht, und zweitens ist das Terra Cotta Studio ein perfektes Beispiel dafür, wie mit der Planung und dem Bau eines solchen Projekts die Wertschöpfungskette in der Region erhalten werden kann“, sagt Stephan Ferenczy, Architekt im Wiener Büro BEHF und zugleich Mitglied der diesjährigen Brick-Jury. „Gerade in Entwicklungsregionen haben wir heuer einen ungewöhnlichen und innovativen Einsatz von Ziegel beobachtet, der in Industrieländern in dieser Qualität kaum noch anzutreffen ist. Ich finde den hier vorgelebten Umgang mit dem Material nicht nur architektonisch schön, sondern auch emotional berührend.“

Eingereicht wurden fast 600 Projekte aus 44 Ländern. Neben dem Preis für das Terra Cotta Studio in Mittelvietnam gingen sechs weitere Preise nach Belgien, Schweden, Spanien, Argentinien, in die Schweiz und in die Niederlande. In Antwerpen wurden die Westkaai Towers 5 & 6 des Londoner Architekten Tony Fretton ausgezeichnet. Mit den spielerisch vor- und rückspringenden Ziegeln, die durch ihr Relief ein Licht- und Schattenspiel erzeugen, wird die strenge, monumental wirkende Fassade aufgeweicht. In Basel wurde das Kunstmuseum von Christ & Gantenbein prämiert. Die gesamte Fassade besteht aus gebrannten Ziegeln, denen mittels Stickstoff die Rot- und Gelbtöne entzogen wurden. In reliefartigen Rillen integrierte LED-Streifen lassen das Haus erstrahlen und informieren die Passanten über aktuelle Ausstellungen.

In Eindhoven findet sich ein Einfamilienhaus unter den Preisträgern, das im Innen- und Außenraum auf radikale Weise aufzeigt, welche atmosphärischen Qualitäten aus dem Ziegel rauszuholen sind. In Stockholm ging der Preis an ein urbanes Biomassekraftwerk der Värtan Bioenergy CHP, das mit keramischen Fassadenpaneelen verkleidet wurde. In Vilanova de la Barca wurde die Sanierung einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert prämiert, die im spanischen Bürgerkrieg zerstört und nun mit Industrieziegeln behutsam ergänzt wurde. Und in La Playosa wurde eine räumlich raffiniert gelöste Kapelle inmitten des argentinischen Flachlands gewürdigt.

„Bei manchen Bauten waren wir wirklich euphorisch“, so Ferenczy, „denn sie sind beispielgebend dafür, wie Architektinnen und Architekten heute mit diesem so alten, archaischen Baustoff umgehen. Ziegel ist der Inbegriff eines menschlichen Materials, weil er ohne große Hilfsmittel und ohne aufregende Technologien verarbeitet werden kann. Und er ist Sinnbild dafür, wie man gestern, heute und morgen mit kleinen Bausteinen Großes erschaffen kann.“

[ Buchtipp: „BRICK 18. Ausgezeichnete Internationale Zieglarchitektur“. Hg. v. Wienerberger AG. € 48,– / 296 Seiten. Park Books, Zürich 2018 ]

Der Standard, Sa., 2018.06.09

02. Juni 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Der Meister der endlosen Stadt

Der Architekt und Stadtplaner Yona Friedman wird kommenden Dienstag mit dem Österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis ausgezeichnet. Wir haben den Erfinder der „Ville Spatiale“ in seiner Pariser Wohnung besucht.

Der Architekt und Stadtplaner Yona Friedman wird kommenden Dienstag mit dem Österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis ausgezeichnet. Wir haben den Erfinder der „Ville Spatiale“ in seiner Pariser Wohnung besucht.

Standard: Ich habe noch nie so eine Wohnung gesehen. Wo befinden wir uns denn hier gerade?

Friedman: Da sind Sie nicht der Einzige. Ich habe so eine Wohnung auch noch nie gesehen. Wir stehen hier im Wohnzimmer. Zumindest steht das im Plan so drinnen, dass dieser Raum hier ein Wohnzimmer ist. Ich weiß bis heute nicht, was das sein soll. Wohnzimmer …

Standard: Wie würden Sie den Raum denn mit Ihren eigenen Worten beschreiben?

Friedman: Ich glaube nicht an Architektur und Design. Zumindest nicht in dem Sinn, wie die Begriffe heute verstanden werden. Mir ist das alles zu glatt, zu sauber, zu aufgeräumt. Ich brauche den Raum um mich herum als Work in Progress, als eine Werkstatt der freien Gedanken. Und manche dieser Gedanken sind schwebend und schwerelos, wie Sie sehen. Ist das nicht etwas Wunderbares?

Standard: Wie sieht denn so ein freier, schwebender Gedanke aus?

Friedman: Schauen Sie sich doch um! Alles hier! Es sind Raummodelle für Museen, Wohnhäuser und ganze Städte. Manche sagen, das seien Utopien, aber nein! Das sind alles reale Projekte. Manche davon werden realisiert, andere nicht. Erst im Dezember war ich in China, um dort ein Projekt zu realisieren, und zwar eine Ausstellungsarchitektur für ein Museum in Shenzhen. Das Konzept dafür habe ich hier entwickelt, hier in diesem Raum. Sehen Sie das Modell da drüben? Das ist es.

Standard: Sie meinen die Eierkartons mit den Klorollen?

Friedman: Jetzt seien Sie nicht so banal! Etwas mehr Fantasie!

Standard: Wie finden Sie sich in diesem Chaos zurecht?

Friedman: Mein Atelier auf der anderen Seite des Flurs sollten Sie sehen! Dort ist Chaos. Aber das hier, das ist kein Chaos. Hier hat alles seine Ordnung und ist ganz genau durchstrukturiert. Hier die Zeichnungen, da die Fotomontagen und dort die Modelle. In einem Kistchen liegen die Korken, dort die Lämpchen, und schauen Sie hier ... Erst unlängst hat mir jemand diese Plastikverschlüsse geschenkt. Sind das nicht wunderschöne Objekte? Ich denke, das könnte ein Hochhaus werden.

Standard: Woher kommt Ihre Sammelleidenschaft?

Friedman: Ich sammle nicht. Ich kann nur nichts wegschmeißen. Wer weiß, wozu ich das noch brauche! Es sind kleine räumliche Gegenstände, mit denen man große Räume im kleinen Maßstab vergegenständlichen kann.

Standard: Viele Leute sehen in Ihnen weniger einen Architekten als einen Künstler, Philosophen, Utopisten ...

Friedman: Nein, ich bin kein Utopist. Ich bin Realist durch und durch. Ich arbeite seit vielen Jahrzehnten an realen Projekten, die dazu beitragen sollen, reale Probleme dieser Welt zu lösen. Dazu brauche ich keinen Ziegelstein in meiner Hand. Oder haben Sie jemals einen Chefkoch gesehen, der selbst am Herd steht und mit dem Kochlöffel im Topf herumrührt?

Standard: 1958 haben Sie das Konzept einer räumlichen, dreidimensionalen Stadt entwickelt. In welchen Städten ist die Idee dieser „Ville Spatiale“ denn zur Anwendung gekommen?

Friedman: In den Fünfziger- und Sechzigerjahren gab es viele verschiedene Ideen zur Neuerfindung der Stadt. Aber Sie müssen wissen: Le Corbusier, Archigram oder die japanischen Metabolisten hätten die historische Stadt am liebsten abgerissen und komplett neu bebaut. Das wollte ich nicht. Ich habe mit der „Ville Spatiale“ eine Raumstadt entwickelt, die über der bestehenden Stadt hätte errichtet werden können. Schauen Sie sich doch nur mal um! Die Idee der neuen Stadt über der alten finden Sie seit damals schon auf der ganzen Welt realisiert.

Standard: Wo findet man Ihre „Ville Spatiale“ heute?

Friedman: Der Begriff des Raums hat sich grundlegend verändert. Ich würde sagen, die „Ville Spatiale“ ist heute die Cloud, die über der realen, analogen Stadt schwebt. Man arbeitet von zu Hause, man ist örtlich ungebunden, man muss weniger verkehren, und letztendlich brauchen wir heute keine Versammlungspunkte und irgendwann einmal auch kein Stadtzentrum mehr, denn unser Leben verlagert sich mehr und mehr in die Cloud, in die virtuelle Parallelstadt, die über der realen schwebt.

Standard: Das klingt jetzt aber nicht so toll.

Friedman: Eine Frage des Blickwinkels. In den heutigen Stadtzentren sind Sie mit Menschenmassen, zunehmendem Verkehr, steigenden Grundstückskosten, Infrastrukturproblemen, Security-Problemen und auch einem wachsenden Gewaltpotenzial konfrontiert. Wenn man in Zukunft nicht mehr in die Stadt hineinfahren müssen wird, wird ein Teil dieser Schwierigkeiten wegfallen. Ich will den heutigen Wandel nicht beklagen. Ich will mich auf das Positive darin konzentrieren. Machen wir das Beste daraus!

Standard: Wie hat sich diesbezüglich Paris verändert?

Friedman: Durch die wachsende Wolkenstadt über dem analogen Paris beobachte ich eine zunehmend größer werdende Kluft zwischen den alten und den jungen Generationen. Wir entwickeln uns gerade zu einer neuen, gänzlich digital kommunizierenden Spezies.

Standard: 1969 haben Sie vorgeschlagen, eine Maschine zu entwickeln, die selbstständig in der Lage ist, Wohnungsgrundrisse zu entwerfen. Diese Prognose jedenfalls hat sich bewahrheitet.

Friedman: Ja, das ist wohl so. Unglaublich, oder?

Standard: Kommenden Dienstag werden Sie in Wien mit dem Österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis ausgezeichnet. Wo sehen Sie die Parallelen zu Kieslers Arbeit?

Friedman: In der Unendlichkeit. Kiesler widmete sein Leben der Idee der unendlichen Räume und des Endless House. Ich habe mein Leben der unendlichen Stadt gewidmet.

Standard: Haben Sie schon eine Idee, was Sie mit den 55.000 Euro Preisgeld machen werden?

Friedman: Ich habe seit Jahrzehnten kein fixes Einkommen. Das Geld gibt mir die Möglichkeit, weiterzuarbeiten und mir bis an mein Lebensende keine finanziellen Sorgen mehr machen zu müssen.

Standard: Wünsche oder Pläne für die Zukunft?

Friedman: Am Dienstag werde ich 95. In meinem Alter besteht die Zukunft aus den kommenden 24 Stunden.

Standard: Was ist Ihr Wunsch für die kommenden 24 Stunden?

Friedman: Mein Wunsch ist, dass ich mir diesen Wunsch noch viele, viele Male weiterwünschen kann.

Yona Friedman, 1923 in Budapest geboren, flüchtete während seines Architekturstudiums nach Israel und zog später nach Paris weiter, wo er bis heute lebt und arbeitet. 1956 präsentierte er auf dem 10. Congrès International d’Architecture Moderne (Ciam) in Dubrovnik sein Konzept einer mobilen Architektur. Er veröffentlichte das Manifest L’Architecture Mobile, gründete die „Groupe d’etude d’architecture mobile“ (Geam) und entwickelte sein Konzept der „Ville Spatiale“. In den Achtzigerjahren hat er die Unesco beraten und Manuals für Stadtentwicklung ausgearbeitet. Kommenden Dienstag wird er mit dem Friedrich-Kiesler-Preis ausgezeichnet. Architekturzentrum Wien (AzW) im Museumsquartier. Ab 13 Uhr.

Der Standard, Sa., 2018.06.02

02. Juni 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Savoir-vivre mit Zügen im Keller

Paris steht ein enormer Bevölkerungsschub bevor. Die Seine-Metropole wappnet sich für die Zukunft und überbaut ihre Gleisanlagen mit sozialen Wohnbauten.

Paris steht ein enormer Bevölkerungsschub bevor. Die Seine-Metropole wappnet sich für die Zukunft und überbaut ihre Gleisanlagen mit sozialen Wohnbauten.

Als 2007 zehn Architekturteams aus ganz Europa eingeladen wurden, ihre Pläne und Utopien für ein „Grand Paris“ auszuarbeiten, war klar, dass die Stadt der Liebe, die bis 2030 auf bis zu 15 Millionen Einwohner anwachsen soll, wahrlich Großes vorhat. Die daraufhin ausgearbeiteten Projekte von Richard Rogers, Jean Nouvel, Christian de Portzamparc, MVRDV und vielen anderen umfassten innovative Verkehrskonzepte, Leitlinien für ein menschenwürdiges Leben in Kleinstrukturen – aber auch megalomane Wachstumsprognosen, in denen sich Paris bis zum Ärmelkanal ausdehnt.

Die Ideen für „Grand Paris“ waren ein wichtiger Katalysator, um erstmals die große Hürde der bestehenden Bahntrassen und der Ringautobahn Périphérique zu überwinden. Die aktuellen Stadtentwicklungs- und -verdichtungsprojekte, die im sogenannten Plan Local d’Urbanisme (PLU) festgehalten sind, umfassen dreizehn Quartiere entlang wichtiger Straßen- und Schienenachsen und sollen Platz bieten für rund 200.000 Bewohner. Die größten und wichtigsten Areale konzentrieren sich im Norden, Osten und Süden und liegen im Bereich der ehemaligen Stadttore. Um sich ein Bild vom Baufortschritt zu machen, luden die Wohnen-Plus-Akademie und die Zeitschrift Wohnen Plus zu einer Exkursion.

Bevölkerung statt Olympia

Eines der größten und wichtigsten Projekte ist die Auflassung und Überbauung der Gleisanlagen in Clichy-Batignolles. Der ursprüngliche Plan sah vor, hier das Olympische Dorf für die Sommerspiele 2024 zu errichten, doch dann beschloss Bürgermeisterin Anne Hidalgo, das 54 Hektar große Frachtenareal für die Pariser Stadtbevölkerung zu nutzen. Unter einem Teil des Gebiets befindet sich heute eine große Werkstätten- und Waschstraßenhalle der französischen Staatsbahnen.

Herzstück von Clichy-Batignolles ist ein zehn Hektar großer Ökopark mit großen, ausgewachsenen Bäumen, rege genutzten Kleinflächen für Urban-Gardening sowie Auffang- und Sickerbecken für Regenwasser. Um die vielfältig gestaltete Grünfläche (siehe Foto) gruppieren sich rund 3400 Wohnungen unterschiedlicher Rechtsformen – von supergeförderten Kleinst-Garçonnièren bis zu freifinanzierten Eigentumswohnungen – sowie Bürobauten und öffentliche Institutionen mit fast 13.000 Arbeitsplätzen. Der Wohnungsschlüssel beträgt 50 Prozent sozialer Wohnbau, 30 Prozent privater Wohnbau mit Preisgrenze, 20 Prozent freifinanzierter Wohnbau.

Die mit Abstand größte Attraktion ist das neue, 160 Meter hohe Palais de Justice von Renzo Piano, das als PPP-Projekt errichtet wurde und den alten Justizpalast in der Innenstadt seit einigen Monaten ersetzt. „So ein großes Stadtentwicklungsprojekt macht nur Sinn, wenn man es nicht nur als Wohn- und Schlafstadt sieht, sondern sich von Anfang an darum kümmert, öffentliches Leben und Funktionen des täglichen städtischen Bedarfs anzusiedeln“, sagt Architektin Marcia Mendoza, die das Projekt von Anfang an beobachtete und heute hier Führungen anbietet. „Hinzu kommt, dass die vielen hier tätigen Architekturbüros eine Arge gegründet und das Projektgebiet gemeinsam mit den Bauträgern kooperativ entwickelt haben.“ Auch die österreichischen Architekten Querkraft und Baumschlager & Eberle sind mit von der Partie.

Ein Stadtentwicklungsgebiet, das in großen Teilen bereits besiedelt ist, liegt im Südosten der Stadt. Paris Rive Gauche, wo der ehemalige Staatspräsident François Mitterrand 1996 die Bibliothèque Nationale von Dominique Perrault errichtet ließ (die damals noch in der Einöde stand), ist heute ein pulsierender Stadtteil. Das gesamte Areal fasst 130 Hektar. 26 davon liegen im ersten Stock – es ist eine geschickt in die Topografie integrierte Überbauung der bis zu 80 Meter breiten Gleisanlagen, die vom Kopfbahnhof Gare d’Austerlitz ins Umland hinausführen.

Die Entwicklungsgesellschaft Semapa wird hier bis 2025 insgesamt 7500 Wohnungen sowie zwei Millionen Quadratmeter für Büro, Handel und öffentliche Einrichtungen errichtet haben. Da können sich Wiener Totgeburten à la Town Town oder Donauplatte noch was abschauen. Vielleicht dient Rive Gauche ja auch als Inspiration für die städtebauliche Überbauung des Franz-Josefs-Bahnhofs, dessen städtebauliches Konzept demnächst präsentiert werden soll.

Die Reise nach Paris erfolgte auf Einladung der Wohnen-Plus-Akademie.

Der Standard, Sa., 2018.06.02

01. Juni 2018Wojciech Czaja
Bauwelt

Pritzker-Preistrager Balkrishna Doshi im Interview

Erste Arbeitserfahrungen bei Le Corbusier, der ihm zum Mentor und Großvater wurde, eine schaffensreiche Zeit im aufstrebenden Indien und nun, nach 70 Jahren Berufs­leben, der Pritzker-Preis. Ruhestand? Keineswegs. Balkrishna Vithaldas Doshi über die Lehren aus der Zeit in Paris, das Bauen mit geringsten Mitteln und seine Pläne für die Zukunft seines Landes.

Erste Arbeitserfahrungen bei Le Corbusier, der ihm zum Mentor und Großvater wurde, eine schaffensreiche Zeit im aufstrebenden Indien und nun, nach 70 Jahren Berufs­leben, der Pritzker-Preis. Ruhestand? Keineswegs. Balkrishna Vithaldas Doshi über die Lehren aus der Zeit in Paris, das Bauen mit geringsten Mitteln und seine Pläne für die Zukunft seines Landes.

Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Zeitschriften
Bauwelt 2018|11 Architektur im Zentrum

12. Mai 2018Wojciech Czaja
Der Standard

„Dieser Preis ist meine kulturelle Macht“

Am Mittwoch wird der indische Architekt Balkrishna Doshi mit dem Pritzker-Preis 2018 ausgezeichnet. Früher arbeitete er für Le Corbusier. Heute will er den Preis dazu nutzen, die indische Regierung zum Umdenken zu bewegen.

Am Mittwoch wird der indische Architekt Balkrishna Doshi mit dem Pritzker-Preis 2018 ausgezeichnet. Früher arbeitete er für Le Corbusier. Heute will er den Preis dazu nutzen, die indische Regierung zum Umdenken zu bewegen.

Standard: Hätten Sie je gedacht, den Pritzker-Preis zu gewinnen?

Doshi: Ja und nein. Nein, weil man damit einfach nicht rechnet. Es war eine Art positiver Schock mit Genussfaktor. Den Pritzker-Preis zu bekommen ist für einen Architekten wie ein Wunder, das genau einmal im Leben eintritt und dann nie wieder. Und ja, weil ... Ganz ehrlich? Hoffen wir das nicht alle? Letztendlich sind wir doch alle nur Architekten!

Standard: Zum bereits dritten Mal wird ein früheres Mitglied der Pritzker-Jury ausgezeichnet: Shigeru Ban, Fumihiko Maki und nun Sie. Ist das nicht auffällig?

Doshi: Das müssen Sie die Jury fragen! Ich kann nur so viel sagen: Das Jurynetzwerk besteht nach all den Jahren aus mittlerweile sehr, sehr vielen Architekten. Da kommt ein großes Potenzial zusammen.

Standard: In den ersten Berufsjahren haben Sie mit Le Corbusier zusammengearbeitet. Wie kam es dazu?

Doshi: Es war ein Zufall. Ich war 1947 in London und besuchte den CIAM-Kongress in Bridgwater. Dort habe ich Le Corbusier kennengelernt. Darauf dachte ich mir: Jetzt oder nie! Also habe ich den Herrn mit der runden Hornbrille gefragt, ob ich denn für ihn arbeiten könne. Gleich am nächsten Tag habe ich ein handgeschriebenes Bewerbungsschreiben nach Paris geschickt – und wenige Tage später kam die Antwort retour.

Standard: Was war Le Corbusier für ein Typ?

Doshi: Wir konnten uns wirklich gut leiden. Immer wieder nahm er mich an der Hand, hat mich auf die Seite gebeten und das Leben erklärt. „Doshi, komm her!“, hat er dann gesagt. „Da ist dein Sessel! Zeichne!“ Und so ließ er mich wochenlang Menschen, Figuren, Fenster, Parapete, Säulen, Pfeiler und Treppen zeichnen. Er war ein eigenartiger, aber wirklich gutherziger Mensch. Ich habe so unglaublich viel von ihm gelernt. Le Corbusier war mein Guru.

Standard: Nach sechs Jahren haben Sie sich von ihm getrennt.

Doshi: Ja. Von 1950 an arbeitete er an seinem Stadtprojekt Chandigarh im Norden Indiens. Die Idee war, dass ich das Projekt als Projektleiter übernehme. Aber ich war damals krank und schwach. Ich wollte einfach nur nach Ahmedabad zurück und wieder zu Hause ankommen.

Standard: Wie haben Sie die Fünfzigerjahre in Ahmedabad erlebt?

Doshi: Es war eine Zeit des Aufbruchs! Es gab Tausende, ach was, Millionen von Binnenmigranten. Die Menschen kamen aus dem ländlichen Raum und stürmten die Städte in der Hoffnung auf Arbeitsplätze und wirtschaftliche Prosperität. Und sie alle haben plötzlich ein Dach über dem Kopf gebraucht. In diesem Moment war mir klar: Erschaffung von leistbarem Wohnraum ... Das ist der Job, den ich tun muss.

Standard: Die britische Tageszeitung „The Guardian“ hat Sie in einem Artikel als „Architekturcham pion der Armen“ bezeichnet.

Doshi: Ich würde mich nicht als Champion bezeichnen. Das fühlt sich für mich nicht richtig an. Aber ich habe mich von Anfang an tatsächlich für die arme Bevölkerung engagiert und Häuser für ganz wenig Geld errichtet.

Standard: Was waren das für Projekte?

Doshi: Einfache Ziegelbauten für arme, einkommensschwache Menschen, vor allem für Migranten. Zu den bekanntesten Siedlungen dieser Art zählen die Wohnsiedlung für Textilarbeiter in Ahmedabad, die Wohnsiedlung für die Life Insurance Corporation sowie die Aranya-Siedlung in Indore. Das Thema ist über all die Jahre und Jahrzehnte gleich geblieben: Wie schaffe ich es, mit wenig Geld robust, funktional und klimagerecht zu bauen?

Standard: In einem Interview sagten Sie einmal, Low-Cost-Housing brauche mehr als alle anderen Bauaufgaben eine gewisse Würde. Worin zeigt sich diese Würde in Ihren Bauten?

Doshi: In der Schönheit. Im Platzangebot. In einer gewissen räumlichen Würde. Im inszenierten Spiel mit dem Wetter und den Jahreszeiten. Und in der Fähigkeit, zu altern und nach vielen Jahrzehnten immer noch gut in Schuss zu sein – so wie ich. Die wichtigste Würde aber ist, so effizient und intelligent zu bauen, dass die Menschen in der finanziellen Lage sind, sich ihre Wohnung zu leisten, ohne jeden Monat die letzten Rupien zusammenklauben zu müssen. Es gibt kaum etwas Unwürdigeres, als nicht genug Geld zum Wohnen zu haben.

Standard: Was sind die aktuell brennenden Wohnbauthemen in Indien?

Doshi: Durch die ständig wachsende Bevölkerung werden die Städte und Dörfer größer und größer. Was früher eine lokale Kleinstadt war, ist heute mitunter schon eine mittelgroße Wirtschaftsmetropole. Damit verändert sich unser Gesamtverständnis von Stadt und Land. Aktuell merken wir, dass es in den neu entstandenen beziehungsweise gewachsenen Städten noch an sozialer und kultureller Infrastruktur mangelt – und vor allem an Diversität. Das gilt es nachzuholen. Es ist ein enorm riesiger Aufholbedarf, der uns da bevorsteht!

Standard: Was haben Sie vor?

Doshi: Mein Ziel war und ist das Empowerment, also die Befähigung und Bevollmächtigung der Menschen. Das geht nicht mit Ziegel und Beton. Das geht nur mit Bildung, Technologien und einem Umdenken in der Gesellschaft. Und vielleicht mit einem Pritzker-Preis, wer weiß! Sämtliche Leute, sogar Premierminister Narendra Modi, haben mir dazu gratuliert, dass der Preis heuer erstmals nach Indien geht. Das tut etwas mit den Leuten! Dank des Pritzker-Preises habe ich jetzt glücklicherweise eine gewisse kulturelle Macht – und die möchte ich als Werkzeug nutzen und die indische Regierung zum Umdenken bewegen.

Standard: Woran arbeiten Sie im Moment?

Doshi: Die zwei größten Schwerpunkte, die wir haben, sind Sanierungen und Erweiterungen von Townships sowie das Thema energetische Nachhaltigkeit. Ich spreche von Nullenergie. In Indien brauchen wir Häuser, die low-tech und vollkommen autark sind. Andernfalls wird dieses Land früher oder später aus allen Nähten platzen.

Standard: Können Sie uns ein konkretes Beispiel für Nullenergie nennen?

Doshi: Für die Nalanda University in Bihar im Norden Indiens bauen wir als Folge eines internationalen Architekturwettbewerbs einen neuen Campus. Und die Natur hilft uns dabei. Rundherum gibt es etliche Kuhweiden und landwirtschaftliche Betriebe, deren Kuhmist wir für den Betrieb des Campus nutzen werden. Es geht um ein holistisches Zusammenspiel der Kräfte. Kühe gibt es in Indien überall.

Standard: Haben Sie Wünsche für die Zukunft?

Doshi: Mein dringlichster Wunsch lautet: Wie können wir lernen zu teilen? Und zwar nicht nur Wissen, sondern auch Geld und Ressourcen.

Standard: Wissen Sie schon, was Sie mit den 100.000 Dollar machen werden, die Sie nun überreicht bekommen?

Doshi: Ich habe vor 30 Jahren die Vastu Shilpa Foundation gegründet, die sich mit Bildung, Training und Umweltthemen beschäftigt. Um noch mehr Menschen zu erreichen, benötigt die Stiftung dringend eine Geldspritze. Die 100.000 Dollar kommen gerade recht.

Der Standard, Sa., 2018.05.12

21. April 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Die Wiederentdeckung der Pedale

Fahrradfahren ist in. Welche Auswirkungen hat das auf die Stadtplanung? Wie verändert sich unsere Wahrnehmung? Eine Befahrung anlässlich zweier Ausstellungen in Frankfurt und Wien.

Fahrradfahren ist in. Welche Auswirkungen hat das auf die Stadtplanung? Wie verändert sich unsere Wahrnehmung? Eine Befahrung anlässlich zweier Ausstellungen in Frankfurt und Wien.

Der Winter ist schlimm“, sagt Jon Hughes, „dann muss auch ich mich mal geschlagen geben und vom Sattel steigen. Aber jetzt im Frühling, da kommen die Leute in Horden wie noch nie.“

Hughes ist Eigentümer eines Bike-Shops in Ferndale, Detroit, der sich auf den Verkauf von lokal produzierten Fahrrädern spezialisiert hat. Mit Erfolg. Zuerst waren es die Gehaltsgekürzten und Arbeitslosen, die sich ein Auto nicht mehr leisten konnten und gezwungen waren, auf den Drahtesel umzusteigen. Heute ist es eine immer größer werdende Community an vor allem jungen Leuten, die im Radfahren einen neuen Post-Crisis-Lifestyle gefunden hat und damit nun nach und nach die ganze Stadt erobert.

„Im Stadtbild ist die Radkultur heute unübersehbar“, sagt Jon Hughes. „Das wäre früher undenkbar gewesen.“ Auf vielen acht- bis zehnspurigen Avenues, die die einstige, dramatisch verfallende Automobilhauptstadt durchkreuzen, wurden in den letzten Jahren eigene, zum Teil grün markierte Fahrbahnen eingezogen, die ausschließlich von Radfahrern und Skatern benützt werden dürfen.

Die Zahl der Bike-Liker nimmt von Jahr zu Jahr zu. Der 2010 gegründete Verein Wheelhouse bietet sogar Radtouren zu den Themen Architektur, Graffitikunst und Urban Farming an. Detroit ist nur ein Beispiel von vielen. Weltweit erlebt die Fahrradkultur, die 2017 ihr 200-Jahre-Jubiläum feierte, eine Renaissance, die sich nicht nur auf den städtischen Verkehr, sondern letztendlich auch auf das gesamte urbane Erscheinungsbild auswirkt.

Unter den Städten, die in puncto Neuerfindung am kräftigsten in die Pedale treten, finden sich so bekannte Beispiele wie Amsterdam, Kopenhagen und das überaus fahrradfreundlich geplante Münster in Nordrhein-Westfalen, aber auch exotische Exempel wie etwa London, Barcelona, Moskau, Portland und die neuseeländische Großstadt Auckland, in der eine in den 1960er-Jahren errichtete und mittlerweile stillgelegte Autobahnabfahrt als in kräftiges Magenta getauchter Radweg zu neuem Leben erweckt wurde (siehe Foto) .

Höhere Lebensqualität

Der Erfolg der neuralgisch platzierten Verbindung zwischen drei von Autobahnen wild zerschnittenen Stadtvierteln blieb nicht lange aus: Aufgrund des „Te Ara i Whiti“ – so der offizielle Titel der Anlage, an dessen Bau sich hunderte freiwillige Bürgerinnen und Bürger beteiligt hatten – nahm der Radverkehr in den Zubringerstraßen und angrenzenden Quartieren in kürzester Zeit um mehr als 30 Prozent zu. Allein im ersten Jahr nach Fertigstellung konnten in Auckland rund 200.000 zusätzliche Fahrradfahrten gezählt werden.

„In Städten mit einem deutlichen Anteil an Radverkehr beobachten wir eine höhere Lebensqualität mit weniger Lärm, besserer Luftqualität und einem allgemein höheren Lebens- und Gesundheitsstandard in der Bevölkerung“, erklärt Annette Becker, Kuratorin am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main, die die an diesem Samstag angelaufene Ausstellung Fahr Rad! Die Rückeroberung der Stadt mitgestaltete. „Und mit dem steigenden Modal-Split-Anteil von Radfahrern sehen wir, dass plötzlich auch mehr Rollstühle und mehr Rollatoren am Verkehrsgeschehen teilnehmen. Das ist eine, wie ich meine, sehr erfreuliche Nebenerscheinung im Sinne der Inklusion.“

In Portland, Oregon, wurde 2015 die sogenannte Max Orange Line errichtet, die die Downtown auf 11,7 Kilometern Länge mit der umliegenden Metropolregion verbindet (siehe Foto) .

Anders als bei den bisherigen Radwegen, die durch Portland führen, wurde der Stadtraum in diesem Fall bewusst auffallend und identitätsstiftend in ein knalliges Hellgrün getaucht. Besonderes Augenmerk wurde auf die Möblierung entlang des Radwegs sowie auf die Verkehrsanschlüsse an die umliegenden Viertel gelegt.

Mobilitätsdemokratisierung

In New York wird schon seit geraumer Zeit an einer Beruhigung des motorisierten Individualverkehrs gearbeitet. Ein großer Teil der gewonnenen Flächen fällt dem Radverkehr zu. An den großen Avenues sowie an den Uferstraßen in Manhattan, Brooklyn und der Bronx entstand ein zusammenhängendes Geflecht aus pedalritterlichen Wegen. Im Bereich des „Big U“ – so der offizielle Titel der Hochwasser-Prophylaxe an den Ufern Manhattans – übernehmen die neu angelegten Radwege darüber hinaus die Rolle von Dämmen und kontrollierten Überflutungsflächen.

In London gibt es seit einigen Jahren Pläne für den sogenannten SkyCycle. Dabei soll über den bestehenden Gleisanlagen des Grundstückseigentümers Network Rail – ein bislang ungenutzter, aber überaus wertvoller Luftraum – ein 220 Kilometer langes Radnetz mit radialen und konzentrischen Trassen sowie rund 200 Auf- und Abfahrten entstehen. Das neue Verkehrssystem, ein Kooperationsprojekt von Norman Foster und dem auf Landschaftsplanung spezialisierten Büro Exterior Architecture, soll dabei als schnelle und billige Verkehrsalternative dienen und die stetig wachsende Metropole an der Themse entlasten.

Der größte gemeinsame Nenner dieser Projekte ist die Demokratisierung der Mobilität. Mit Rädern und eigens dafür geschaffenen Verkehrsflächen können auch all jene am Verkehrsgeschehen teilnehmen, die es sich bislang nicht oder nur kaum leisten konnten. „Mit dem Siegeszug des Fahrrads hält endlich wieder eine menschliche Dimension in die europäische Großstadt Einzug“, sagt Florian Lorenz, der sich selbst als Urbanist und interdisziplinärer Stadtplaner bezeichnet. Er ist einer der Kuratoren der Ausstellung Bicycles! A Love Story, die kommende Woche in der Wiener Nordbahnhalle eröffnet wird.

„Die Distanzen verändern sich, der Stadtraum wird unmittelbarer spürbar, und mit der allmählichen Verdrängung des Autos an der Spitze der trophischen Kaskade werden die Prinzipien der Großstadt neu gemischt und die Privilegien auf der Straße neu vergeben.“ Anfang dieser Woche hat die Uno den 3. Juni zum World Bicycle Day erklärt.

Der Standard, Sa., 2018.04.21

07. April 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Bühnenreife Stücke

Man kann Großprojekte in der Tat auch ganz ohne Drama realisieren – ohne Skandale, ohne Kostenexplosionen, ohne jahrelange Bauverzögerungen. Eine Ausstellung zeigt die interessantesten Opern- und Theaterhäusern Europas.

Man kann Großprojekte in der Tat auch ganz ohne Drama realisieren – ohne Skandale, ohne Kostenexplosionen, ohne jahrelange Bauverzögerungen. Eine Ausstellung zeigt die interessantesten Opern- und Theaterhäusern Europas.

Die Verfolgung seines Kriegsgegners Pompejus treibt Julius Caesar nach Alexandria. Allein bei seiner Ankunft ist das geplante Mordeswerk bereits vollbracht. Zur Begrüßung überreicht ihm der ägyptische König Ptolomäus eine Suppenschüssel, aus der er des Feindes Kopf mit weit aufgerissenen Augen an den Haaren zieht. Pompejus ist tot. Der erste Akt hat soeben erst angefangen.

Als Carl Heinrich Grauns Stück Cleopatra e Cesare am 7. Dezember 1742 uraufgeführt wurde, war das Hofopernhaus, die heutige Staatsoper Unter den Linden, noch nicht einmal fertiggestellt. Der Auftraggeber Friedrich II. hatte es offenbar eilig. Ganze zehn Monate vor der geplanten Fertigstellung drängte der preußische König ohne Rücksicht auf finanzielle und baulogistische Verluste, das von Architekt Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff geplante Haus provisorisch zu eröffnen, während die Baustelle hinter den Kulissen, so erzählt man sich, noch lange Zeit im Argen lag.

Mit der Nachhaltigkeit, wie sich noch weisen sollte, nahm man es damals nicht so genau. Nachdem sich das schnell errichtete Opernhaus im Betrieb zum Teil als unpraktisch erwiesen hatte, musste es bereits 1788 zum ersten Mal umgebaut werden. Friedrich Wilhelm II., der Nachfolger Friedrichs II., ließ die Bühne und den Zuschauerraum von Carl Gotthard Langhans, dem Architekten des Brandenburger Tors, rigoros umgestalten. Zum ersten Mal nach 46 Jahren hatten nun auch die Besucher außerhalb des Königshauses die Möglichkeit, Platz zu nehmen und den Vorstellungen sitzend beizuwohnen.

„Opern- und Theaterhäuser waren immer schon spezielle Bauaufgaben, die in der Architektur der Stadt eine besondere Rolle einnahmen“, sagt Andrea Jürges, Kuratorin und stellvertretende Direktorin des Deutschen Architekturmuseums (DAM) in Frankfurt am Main. „Und offenbar sind Kostenüberschreitungen, Bauverzögerungen und Skandale auch damals schon an der Tagesordnung gestanden. Doch es geht auch anders, und daher haben wir uns entschieden, einen Blick auf dieses architektonische Genre zu werfen und unterschiedliche Bauten dieser Art miteinander zu vergleichen.“

Der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, die in den vergangenen Jahren generalsaniert und mit einer Anhebung der historischen Saaldecke akustisch ertüchtigt wurde (Foto links), stehen Opernhäuser und Theaterbauten in ganz Europa gegenüber: Gezeigt werden unter anderem der Kulturpalast Dresden, das Düsseldorfer Schauspielhaus, die Elbphilharmonie Hamburg, die Opéra de Lyon, die Philharmonie de Paris, das National Theatre in London, das Shakespeare-Theater in Gdańsk sowie das 2013 nach Plänen des britischen Architekten Terry Pawson sowie der österreichischen Partnerbüros Architektur Consult und Dworschak Mühlbachler Architekten errichtete Musiktheater in Linz (Foto rechts).

„Ein großer Unterschied zwischen damals und heute ist der Kontext zwischen Stadt und fiktiver Welt“, erzählt Jürges. „War es zu Zeiten Wilhelms noch üblich, den Besucher bereits am Haupteingang von der Wirklichkeit abzuschneiden und in eine Fantasiewelt zu entführen, findet der Übergang heute meist erst am Eingang in den Theatersaal statt. Wir beobachten, dass das Foyer und die Pausenräumlichkeiten der neuerrichteten Häuser immer stärker mit dem öffentlichen Raum kommunizieren – manchmal über bewusst gesetzte Stadtfenster, manchmal über großzügig verglaste Fassaden wie etwa im Falle des Linzer Musiktheaters, das selbst schon wie eine Loge in die Stadt wirkt.“

Ein weiterer Wandel liegt im zunehmend größer werdenden Backstagebereich. Früher waren Bühnenraum und Zuschauerbereich meist gleich groß. In den vergangenen Jahrzehnten jedoch wird der für den Besucher unsichtbare Bühnen- und Technikbereich mit Hinter- und Seitenbühnen, die im Betrieb mit wechselndem Repertoire für die Parkierung der Prospekte nötig sind, immer größer und größer. Hinzu kommt, dass ein modernes Opernhaus logistisch reibungslos funktionieren und bereits über diverse Probebühnen und sämtliche Werkstätten verfügen muss.

„Früher, als man Opern- und Theaterstücke noch en suite aufgeführt hat, waren die Theaterwerkstätten meist ausgelagert, oft auch außerhalb der Stadt. So etwas wäre in einem Neubau heute undenkbar. Wer wettbewerbsfähig sein will, der muss den gesamten Betrieb nach Möglichkeit unter einem Dach bündeln.“ Die Berliner Staatsoper beispielsweise wurde im Zuge der Sanierungsarbeiten um eine neue Montage- und Lagerhalle unter dem angrenzenden Bebelplatz erweitert.

Davon kann man sich in der Ausstellung Große Oper, viel Theater? – so der offizielle Titel der kürzlich eröffneten Schau – ein konkretes historisches und zeitgenössisches Bild machen. Anlass für die ungewöhnlich zusammengestellte, lediglich auf Europa fokussierte Ausstellung ist die geplante Neuorganisation der Städtischen Bühnen Frankfurt, die aufgrund ihres teilweise desolaten Zustands hinter den Kulissen in den kommenden Jahren saniert, umgebaut oder auch völlig neu errichtet werden sollen. Über die unterschiedlichen Bauvarianten liegt eine vor wenigen Monaten der Öffentlichkeit präsentierte Machbarkeitsstudie vor, die die Vor- und Nachteile sowie die jeweiligen Bau- und Betriebskosten einander gegenüberstellt.

„Oper, Theater und Bühne sind heute ein viel offenerer und demokratischerer Raum als noch vor zehn oder zwanzig Jahren“, sagt Andrea Jürges. „Es sind öffentliche Gebäude, die den Bürgern der Stadt gehören und auch von ihnen finanziert werden. Daher finde ich die transparente Vorgehensweise der Frankfurter Stadtregierung sehr begrüßenswert. Wir möchten uns an diesem Diskussionsprozess aktiv beteiligen.“ Es ist eine minutiös gestaltete Ausstellung mit Lernpotenzial für Otto Normalverbraucher, aber auch für Auftraggeber und Entscheider.

Nach einigen Termin- und Budgetskandalen rund um deutsche Großprojekte bricht nun eine Zeit der zivilgesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Emanzipation an. So eine bühnenreife Vorgehensweise würde man sich auch für so manch österreichisches Bauvorhaben wünschen.

Der Standard, Sa., 2018.04.07

08. März 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Pritzker-Preis für Architektur geht an Balkrishna Doshi

Mit seinen Wohn-, Kultur- und Bildungsbauten will der 90-jährige Inder nicht zuletzt den Ärmsten in der Gesellschaft dienen

Mit seinen Wohn-, Kultur- und Bildungsbauten will der 90-jährige Inder nicht zuletzt den Ärmsten in der Gesellschaft dienen

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der sogenannte „Nobelpreis der Architektur“, nachdem er 2012 an den chinesischen Architekten Wang Shu vergeben wurde, endlich auch einmal an das zweitbevölkerungsreichste Land der Welt gehen würde. Heuer ist es so weit: Der renommierte, mit 100.000 US-Dollar dotierte Pritzker-Preis 2018 geht an den indischen Architekten Balkrishna Vithaldas Doshi.

Doshi steht seit fast 70 Jahren im Beruf und arbeitete in den 1950er Jahren bereits mit Le Corbusier zusammen. Zahlreiche Fotos aus dieser Zeit – der Schweizer Meister mit Anzug, Hut und Rundbrille, an seiner Seite der noch junge Doshi – zeugen von der intensiven Kooperation. „Ich verdanke diese Auszeichnung nicht zuletzt Le Corbusier, der mich gelehrt hat, Identitäten zu hinterfragen und neue Ansätze für ein ganzheitliches, nachhaltiges Wohnen und Leben zu erarbeiten“, so der Architekt und Stadtplaner, der heute in Ahmedabad lebt.

Doshi ist bekannt für seine an die Moderne angelehnten, oft brutalistischen, in Ziegel und Sichtbeton errichteten öffentlichen Bauten wie Konzerthallen, Universitätsgebäude und Administrationsbauten. Zu seinen wichtigsten Werken zählen das Institut für Indologie (1962, siehe Foto), die Tagore Memorial Hall (1966), die CEPT University (1966), an der er fast 50 Jahre lang weitergebaut hat, die Premabhai Hall (1976), das in grauem Stein errichtete Indian Institute of Management in Bangalore (1977), sein eigenes, 1980 errichtetes Sangath-Studio sowie die unterirdische Kunstgalerie Amdavad Ni Gufa (1994).

Low-Cost-Housing

Gleichzeitig aber, als würden zwei Seelen in seiner Brust schlagen, setzt sich der 90-Jährige, ewig jung Gebliebene schon seit Anbeginn für die Ärmsten in der Gesellschaft ein und entwickelt einfache Konzepte für Low-Cost-Housing – darunter etwa eine Wohnsiedlung für Textilarbeiter in Ahmedabad (1960), eine soziale Wohnhausanlage für die Life Insurance Corporation (1973) sowie die wie ein fröhlicher Punschkrapfen gestrichene Aranya-Siedlung in Indore (1989). „In seinen über 100 realisierten Projekten vereint Doshi die Tradition der indischen Architektur mit lokaler Arbeit, mit Vorfertigung und mit einem Bewusstsein für Geschichte und Kultur“, heißt es im Jury-Statement.

„Meine Arbeit ist eine Art Verlängerung meiner Lebensphilosophie, meines eigenen Körpers, meiner insgeheimen Träume“, sagt Doshi, der von 2005 bis 2007 selbst schon Pritzker-Juror war und den Preis nun vor allem dazu nutzen möchte, die indische Regierung zum Nachdenken anzuregen. „Die Regierung, die Behörden, die Städte und die Entscheidungsträger werden sich nun damit auseinandersetzen müssen, dass es auch so etwas wie gute Architektur gibt.“ Und die, meint der Architekt, der sich selbst 1954 den Eid abgerungen hatte, seine Arbeit nicht nur, aber auch der niedrigsten Einkommensklasse zu widmen, sei essenziell wichtig: „Architektur verwandelt Hütten zu Häusern, Gebäude zu Gesellschaften, und Städte zu Magneten voller Möglichkeiten.“ Der Pritzker-Preis, der bereits seit 1979 jährlich vergeben wird, wird am 16. Mai im Aga Khan Museum in Toronto übergeben.

Der Standard, Do., 2018.03.08

03. März 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn Fremde sich grüßen

Die Markthalle in Gent ist ein sehr ungewöhnlicher Ort: Unter dem weiten Dach hört man Musik und sagt einander „Hallo“. Der dafür verantwortliche belgische Architekt Paul Robbrecht hält einen Vortrag in Wien.

Die Markthalle in Gent ist ein sehr ungewöhnlicher Ort: Unter dem weiten Dach hört man Musik und sagt einander „Hallo“. Der dafür verantwortliche belgische Architekt Paul Robbrecht hält einen Vortrag in Wien.

Am Samstag gibt die Markthalle den Bauern und Verkäuferinnen ein Dach über dem Kopf. Dann füllt sich die 700 Quadratmeter große, gedeckte Fläche neben der Sint-Niklaaskerk mit Verkaufsständen mit Fisch und Fleisch, mit Obst und Gemüse, mit Käse und Schokolade. „Ich mag den Markt sehr, und tatsächlich liegt die Halle, wenn ich am Samstag eine Einkaufsrunde mit dem Rad durch die Stadt mache, genau auf meinem Weg“, sagt Paul Robbrecht, der gemeinsam mit seiner Frau Hilde Daem das belgische Architekturbüro Robbrecht en Daem leitet und das ungewöhnliche Projekt vor ein paar Jahren aus der Taufe gehoben hat.

Bei genauerer Betrachtung jedoch ist die im historischen Zentrum von Gent errichtete Halle weit mehr als nur ein Marktplatz. Die archaische, den umliegenden mittelalterlichen Häusern angepasste Konstruktion mit ihren charakteristischen, auf und ab tanzenden Steildächern dient der Bevölkerung als Treffpunkt, sie dient als Open-Air-Theater, als Bühne für Straßenmusiker und Gaukler, als Live-Übertragungsort für Fußballspiele, als Flohmarkt, als Buchmesse, als Ausstellungsort im Freien. Und sogar einen in den Betonsockel integrierten Kamin gibt es, in dem in der Weihnachtszeit und an besonders kalten Tagen, um den Fußgängern ein warmes Platzerl zu bieten, eingeheizt werden kann.

„Beim flämisch-niederländischen Ministertreffen im November 2016 wurde die Halle einmal als Parkplatz für die schwarzen Audis, BMWs und Mercedes der Regierung genutzt“, erinnert sich Robbrecht. „Mir persönlich ist es aber am liebsten, wenn die Markthalle leer ist und sich einfach nur als Dach über der Stadt, als temporäres Haus für alle präsentiert.“ Ein Phänomen fällt dem Architekten, der das Projekt in Zusammenarbeit mit Marie-José Van Hee Architecten realisierte, besonders auf: „Unter dem Dach passiert es, dass Fremde einander plötzlich grüßen. Und das in einer Großstadt! Ist das nicht wunderbar?“

Paul Robbrecht ist einer der internationalen Gäste beim diesjährigen Architekturfestival Turn On, das kommende Woche am Donnerstag, Freitag und Samstag im ORF-Radiokulturhaus über die Bühne geht. Der heuer bereits zum 16. Mal stattfindende Kongress umfasst mehr als 40 Vorträge und Gesprächsrunden und präsentiert neue Trends und Tendenzen in der Architektur und Stadtplanung – in Österreich, aber auch anderswo. Die Markthalle in Gent steht stellvertretend dafür, wie der öffentliche Raum und das Bauen für die öffentliche Hand im Allgemeinen in den letzten Jahren mehr und mehr an Qualität dazugewonnen haben.

Sensibilität für das Schöne

„In Flandern sind wir in der glücklichen Situation, dass wir auf einem jahrhundertealten Kunst- und Kulturerbe aufbauen können“, sagt Robbrecht. „Wenn man ein Leben lang an Gemälden von Rubens, Bosch, Jan Brueghel, Pieter Bruegel und Jan van Eyck vorbeimarschiert, dann hinterlässt das Spuren, dann entwickelt man notgedrungen eine gewisse Sensibilität für das Schöne – und zwar nicht nur als Architekt, sondern auch als Auftraggeber.“

Bis heute spiele die Kunst in seinem Leben eine große Rolle, meint Robbrecht, der regelmäßig mit nationalen und internationalen Künstlern und Künstlerinnen zusammenarbeitet – etwa mit dem belgischen Maler Benoît van Innis, mit der spanischen Bildhauerin Cristina Iglesias oder mit dem deutschen Maler Gerhard Richter. Eine der schönsten Zusammenarbeiten mit einem Künstler, erinnert sich Robbrecht, war die Planung des Rubensplatzes in der belgischen Nordseestadt Knokke, wo der architektonische Freiraum rund um zwei riesige Lemurenköpfe des Wiener Künstlers Franz West geplant wurde. „Bitte erwähnen Sie dieses Projekt in Ihrem Artikel! Franz West war ein Ausnahmekünstler, und dieser Platz ist von einer inspirierenden, fast überirdischen Schönheit!“

Einer der Gründe für das in Belgien so ausgeprägte Bewusstsein für die Gestaltung der gebauten Umwelt ist nicht zuletzt der sogenannte Vlaams Bouwmeester. Die 1998 eingeführte Instanz – eine Art Staatsarchitekt und fachlicher Bauberater für die öffentliche Hand – kümmert sich um sämtliche mit Steuergeldern finanzierte Bauprojekte und sorgt dafür, dass diese in Form von Wettbewerben nicht nur gesetzes-, sondern auch qualitätskonform realisiert werden. Es liegt in der Verantwortung des Bouwmeesters, für jede Bauaufgabe die jeweils besten und geeignetsten Architekten zu laden und das gesamte Projekt nach bestem Dünken abzuwickeln.

„Die Qualität der öffentlichen Bauten hat in den letzten 20 Jahren dadurch massiv dazugewonnen“, sagt Paul Robbrecht, der die Instanz des Vlaams Bouwmeester mit dem in den Niederlanden eingerichteten Rijksbouwmeester vergleicht. „Aber bei uns sind die Spielregeln noch strenger und die Resultate noch besser. Eigentlich wäre so ein Oberbaumeister in jedem Land wünschenswert. Vielleicht werde ich das beim Turn-On-Festival dazusagen.“ Auch Robbrecht selbst sei schon mal angefragt worden, ob er diese Funktion für ein paar Jahre übernehmen wolle. „Nein, das kommt für mich nicht infrage, denn das wäre ein harter Fulltime-Job. Aber ich … ich will einfach nur bauen.“

Der Standard, Sa., 2018.03.03

27. Februar 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Späte Würdigung der endlosen Stadt

Der Pariser Architekturdenker Yona Friedman erhält den österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis

Der Pariser Architekturdenker Yona Friedman erhält den österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis

In seinem Atelier in der Rue Garibaldi, nur vier Metro-Stationen vom Eiffelturm entfernt, stapeln sich seit Jahrzehnten schon Fotos, Faxe, Zeichnungen, Collagen sowie Draht- und Kartonmodelle utopischer Städte. Es sind Denkmodelle, die dazu beitragen sollen, die Probleme in der oftmals aus allen Nähten platzenden globalen Großstadt in den Griff zu kriegen.

Für die seit 1950 entwickelten Visionen, die in vielen theoretischen Schriften, aber auch in konkreten architektonischen und stadtplanerischen Projekten Niederschlag gefunden haben, wurde der 94-jährige Visionär Yona Friedman mit dem Friedrich-Kiesler-Preis 2018 ausgezeichnet.

„Yona Friedman ist ein Agent auf der Suche nach neuen Lösungen des menschlichen Zusammenlebens im urbanen Raum“, sagt Peter Bogner, Direktor der in Wien beheimateten Friedrich-Kiesler-Stiftung, die den mit 55.000 Euro dotierten Preis biennal vergibt. „Mit seinen Ideen setzt er in unglaublicher Weise in Architektur, Kunst, Soziologie, Ökologie und neuen Medien das fort, womit sich schon Friedrich Kiesler zeit seines Lebens befasste. So wie Kiesler das Endless House in Gedanken errichtete, so baut Friedman seit Ewigkeiten an der endlosen Stadt. Das ist ein enorm essenzieller Beitrag zur Architektur und Stadtplanung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und doch hat Friedman nie den Ruhm bekommen, der ihm eigentlich gebührt.“ Das soll sich nun ändern.

Yona Friedman wurde am 5. Juni 1923 in Budapest geboren, wo er an der technischen Hochschule Architektur studierte. Er flüchtete während des Studiums nach Israel, um seine Ausbildung fortzusetzen. 1956 präsentierte er auf dem Congrès International d’Architecture Moderne in Dubrovnik sein Konzept einer mobilen Architektur. 1957 zog er nach Paris, wo er bis heute lebt. Kurz darauf veröffentlichte er das Manifest L’Architecture Mobile und gründete die Groupe d’etude d’architecture mobile. Zu seinen wichtigsten Projekten zählt die Ville Spatiale.

Über den Dächern

Anders als bei seinen Zeitgenossen Le Corbusier, Archigram und den japanischen Metabolisten, die historische Stadt am liebsten abgerissen und neu gebaut hätten, handelte es sich bei der „Räumlichen Stadt“ – so die wörtliche Übersetzung – niemals um einen Ersatz der historisch gewachsenen Metropole, sondern immer nur um eine Ergänzung, um eine dreidimensionale Struktur über den Dächern.

Damit hat Friedman schon früh vorweggenommen, was sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren in der europäischen Großstadt in Form von Dachgeschoßausbauten und Aufstockungen als Realität erweisen sollte. „Ich glaube, dass Ideen wichtiger sein können als die Objekte selbst“, sagt Friedman, der an der Harvard University, an der Princeton University sowie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) lehrte und bis heute publizistisch tätig ist. „Eine Auffassung, die 2500 Jahre zurückreicht, aber oft vergessen wird.“ Nun wird genau dieser Ansatz gebührend gewürdigt. Der Preis soll am 5. Juni, am 95. Geburtstag Friedmans, in Wien überreicht werden.

Der Standard, Di., 2018.02.27

24. Februar 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Die Illusion des Echten

Vor einer Woche wurde das ehemalige Gschwandner als Reaktor wieder in Betrieb genommen. Die Sanierung des alten Ballsaals ist eine dramaturgische Punktlandung zwischen Sein und Schein.

Vor einer Woche wurde das ehemalige Gschwandner als Reaktor wieder in Betrieb genommen. Die Sanierung des alten Ballsaals ist eine dramaturgische Punktlandung zwischen Sein und Schein.

Es geht um Höflichkeit, sagt er, er wollte einfach nur höflich sein. Das ist alles. Denn das, was alten Räumen oft angetan werde, wenn man behauptet, man saniere und repariere sie, das sei nicht nur unfreundlich, sondern auch respektlos, ja geradezu unverschämt. „Wie kommt das Alte dazu, sich dem Neuen immer nur unterordnen zu müssen?“, fragt der Wiener Filmemacher Bernhard Kammel. „Ich wollte es anders machen. Ich wollte mir anschauen, was dabei herauskommt, wenn man zur Abwechslung einmal das Neue mit dem Alten infiziert, wenn man die Seele eines Gebäudes durchs Umbauen nicht umbringt, sondern – ganz im Gegenteil – ihr noch schmeichelt.“

Das Resultat dieser ungewöhnlichen Herangehensweise lässt sich nun erleben und begutachten. Das 1877 errichtete und mehrmals erweiterte Etablissement Gschwandner in Wien-Hernals, das sich einst in Besitz der gleichnamigen Winzerfamilie befand, wurde in den letzten Monaten saniert und auf diesem Weg nicht nur einer neuen Nutzung, sondern auch gleich einem neuen Namen zugeführt. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, erinnert sich der 55-jährige Regisseur und Produzent, der das alte Gschwandner letztes Jahr noch in seinem Film Elysium Hernalsiense verewigte. „Und da die Immobilie für eine Reithalle doch ein bisschen zu klein war, musste ich mir halt etwas anderes überlegen.“

Der sogenannte Reaktor dient von nun an als Kino, Theater, Konzerthalle, Ausstellungsraum und fremdvermietbare Eventlocation. Kammels Fokus liegt auf den Sparten Film, Musik, Literatur sowie bildende und darstellende Kunst. Die neue Nutzung jedenfalls fügt sich harmonisch in die Geschichte des Hauses ein, denn der mittlerweile 140 Jahre alte, wie eine Basilika geschnittene Ballsaal diente bereits als Heuriger, als Presshaus, als Schrammellokal, als Kulturzentrum, Lagerstätte, Radiostation, Damenboxhalle, Requisitendepot und Ort für Partys, Vorträge und Flohmärkte.

„Viel Geschichte für so ein Haus, und diese Geschichte darf sich ruhig auch bemerkbar machen“, so Kammel, der das Projekt gemeinsam mit Anna Resch und Sebastian Jobst plante und realisierte. Während die alten Mauern und Decken lediglich repariert wurden, sind die neu verputzten Flächen und Wandeinbauten der Patina der letzten Jahrzehnte angepasst. Ein Team aus insgesamt fünf Kulissenmalern rund um den Wiener Bühnenbildner Rudi Czettel ging dem Mauerwerk mit Pinseln, Rollen, Spachteln, Spritzpistolen, diversen Bürsten und Kratzgeräten, ja sogar mit Flammenwerfern, die man üblicherweise für Bitumen-Abdichtungsarbeiten auf dem Dach verwendet, wochenlang an den Kragen.

„Aber Letzteres“, meint Czettel, „klingt dramatischer, als es ist. Die Bunsenbrenner hatten lediglich die Aufgabe, die feuchte Leimfarbe schneller zu trocknen und die darin enthaltenen Farbpigmente möglichst unregelmäßig um ein paar Nuancen zu verdunkeln.“ In Absprache mit dem Bundesdenkmalamt wurde ausschließlich mit Leimfarbe gearbeitet. Auf diese Weise können die darunterliegenden Farb- und Freskoschichten bei Bedarf – sollten die Interessen künftiger Eigentümer anders gelagert sein – ohne großen Aufwand wieder freigelegt werden.

Simpel, fast archaisch

Die baulichen und technischen Eingriffe sind fast unsichtbar und konzentrieren sich in erster Linie auf Licht, Türen und Boden. Bei den Lustern handelt es sich um simple, fast archaische Eisenkonstruktionen, die rundum mit handelsüblichen LED-Röhren bestückt wurden. Und unter der 15 Zentimeter dicken Estrichplatte verbergen sich eine Fußbodenheizung und eine hinter schmalen Schlitzen kaschierte Lüftungsanlage. Die Gesamtinvestitionskosten belaufen sich nach Angaben Kammels auf rund zwei Millionen Euro. In den kommenden Wochen sollen noch das ehemalige Foyer und die daran anschließenden Büroräumlichkeiten ertüchtigt werden.

„Aus denkmalpflegerischer Sicht kann ich nur sagen, dass die Sanierung des Gschwandners ein absolutes Vorzeigebeispiel ist“, erklärt Wolfgang Salcher, Landeskonservator Wien im Österreichischen Bundesdenkmalamt (BDA), auf Anfrage des Standard . „Erstens wurden ausschließlich Einbauten vorgenommen und Maßnahmen ergriffen, die wieder reversibel sind und die die darunterliegenden Schichten mit ökologischen Materialien konservieren. Und zweitens freue ich mich, dass es gelungen ist, ein unter Denkmalschutz stehendes Objekt nicht nur technisch, sondern auch atmosphärisch vollends zu erhalten. Das hat in Österreich Seltenheitswert.“

Als Beispiel für diesen „Shabby-Chic-Denkmalschutz“ nennt Salcher das Hotel Daniel in Wien (2011 von Atelier Heiss umgebaut) sowie das Neue Museum in Berlin (2009 von David Chipperfield revitalisiert). „Natürlich trifft dieser Ansatz einen bestimmten Geschmack, der in gewisser Weise nicht zu hundert Prozent authentisch ist, weil er die neuen, hinzugekommenen Teile retuschiert. Aus denkmalpflegerischer Sicht jedoch ist dieser Ansatz absolut legitim. Und aus architektonischer Sicht finde ich ihn sogar erfrischend anders. Hier ist einer der schönsten und magischsten Räume Wiens entstanden.“

Manche Architekten, hört man, kritisieren das Projekt schon jetzt als manieristisch und unauthentisch. „Authentizität ist immer auch eine Frage des Blickwinkels und des Zeitpunkts“, meint Kammel. „Ich habe mich entschieden, jenem Geist gegenüber authentisch zu sein, den ich vorgefunden habe, als ich das Gschwandner zum allerersten Mal betreten habe. Ich denke, jede Inszenierung ist legitim, wenn sie dazu beiträgt, eine authentische Rezeption zu ermöglichen.“

Das neue, alte Gschwandner ist eines der atemberaubendsten Sanierungsprojekte der letzten Jahre, weil es neue Fragen im Umgang mit Raum und Illusion aufwirft. Wenn man in der Architektur immer nur dem vielbeschworenen Material und nicht auch der Schönheit und Fantasie gegenüber authentisch gewesen wäre, würde sich die Baukunst heute um viele Facetten, um viele Epochen ärmer präsentieren.

Der Standard, Sa., 2018.02.24

17. Februar 2018Maik Novotny
Wojciech Czaja
Der Standard

Franz Josephs Glück und Ende

Der Franz-Josefs-Bahnhof wird schon bald zur größten innerstädtischen Baustelle Wiens mutieren. Die kürzlich gezogene Notbremse im Widmungsverfahren gibt Anlass, die städtebaulichen Chancen dieses Megaareals zu überdenken. Zwei Szenarien.

Der Franz-Josefs-Bahnhof wird schon bald zur größten innerstädtischen Baustelle Wiens mutieren. Die kürzlich gezogene Notbremse im Widmungsverfahren gibt Anlass, die städtebaulichen Chancen dieses Megaareals zu überdenken. Zwei Szenarien.

Maik Novotny: Es hatte wohl so kommen müssen. Den Wienern ein 126-Meter-Hochhaus innerhalb des Gürtels schmackhaft zu machen, nachdem die jahrelange Heumarkt-Debatte alle Nerven blankgelegt hatte, war ein aussichtsloses Unterfangen. Kaum ein Jahr ist es her, dass die Stadt und die Investorengruppe 6B47, die das Gebiet 2015 für kolportierte 115 Millionen Euro erworben hatte, die Pläne für den Franz-Josefs-Bahnhof präsentierten. Althan-Quartier sollte das 2,4 Hektar große Areal heißen, Büro, Gewerbe und rund 750 Wohnungen sollten entstehen. Das Bahnhofsgebäude von 1978 sollte umgebaut, für das Areal dahinter ein städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben werden. Dazwischen, neun Meter über den Gleisen, ein Hochpark.

Doch schon bei der Präsentation vor den Bürgern hörte man laute Dissonanzen. Nicht nur das Hochhaus, auch die mangelnde Transparenz des Verfahrens wurde beklagt. Im Jänner lehnte die Bezirksvertretung die Umwidmung ab. Es sei „nicht Aufgabe der öffentlichen Hand, von öffentlichen Interessen abzurücken, um das Geschäftsrisiko von Privaten zu minimieren“, heißt es in der Stellungnahme.

Alles von vorn also. Das heißt auch: Jetzt ist Gelegenheit, die Sache grundlegend zu überdenken – warum nicht auch den Bahnhof? Seien wir ehrlich: Niemand mag ihn. Der romantische Reiz der Ferne ist hier längst verflogen, anstatt lichtdurchfluteter Halle mit Dampfzug nach Prag eine schummrige, fensterlose Haltestelle für Vorortezüge. Weg damit!

Darüber sieht es nicht viel besser aus. Denn bei aller Liebe zu den unterschätzten Qualitäten der Architektur der 1970er-Jahre: Die Bahnhofsüberbauung, ein Gemeinschaftswerk der Architekten Karl Schwanzer, Harry Glück und anderer, verbindet den städtebaulichen Fehler der Nachkriegszeit – das Verlegen der Fußgängerebenen in den Keller oder in die Höhe – mit der als luxuriös missverstandenen verspiegelten Allerweltsglätte der 1980er. Weg damit!

Welch ein Hindernis in der Stadt diese neun Meter sind, kann man jetzt schon beobachten. Der Traum, mit einem Hochpark den Erfolg des High Line Park in New York kopieren zu können, ist der Versuch, einen Zwang als Errungenschaft zu verkaufen. Der Alsergrund ist nicht Manhattan. Dabei wäre es dringend nötig, den bestens frequentierten Freiraum, den es schon gibt, nämlich den Donaukanal, besser erreichbar zu machen.

Dass der öffentliche Raum der Schlüssel zu einer erfolgreichen Stadtentwicklung ist, wird heute von niemandem angezweifelt. Städte wie Kopenhagen und Barcelona haben sich über ihre Straßen und Plätze auf Dauer revitalisiert. Will man das Althan-Quartier zu einem echten Quartier machen, liegt die Lösung buchstäblich auf der Straße. Daher: Begrabt Franz Joseph! Lasst die Gleise an der Spittelau enden, dort gibt es auch eine U-Bahn.

Zweitens: Repariert die Stadt! Das heißt nicht, dass man die Gründerzeit kopieren muss. Wenn man die bestehende Widmung mit 40 Metern ausnutzt, ist genug Raum für alles, was eine Stadt und ein Investor brauchen. Und wenn es unbedingt ein Hochhaus sein muss, dann ausnahmsweise ein einziges an der Spittelau – und sei es nur, um den vom Maler Hundertwasser dekorierten Schuppen der Müllverbrennungsanlage zu verbergen.

Wojciech Czaja: Der Franz-Josefs-Bahnhof ist ein Wal, ein großer, stinkender, gestrandeter Wal“, sagt Michaela Mischek-Lainer, Geschäftsführerin der JTP Projektentwicklungs GmbH, die sich in den nächsten Jahren um die Sanierung und städtebauliche Neuorganisation des Franz-Josefs-Bahnhofs, des gesamten Althan-Quartiers und des hier anschließenden, vorgelagerten Julius-Tandler-Platzes kümmern wird. 500 bis 600 Millionen Euro will der Grundstückseigentümer 6B47 dafür in die Hand nehmen. Die Assoziation mit dem Wal hat jedoch weniger architektonische Gründe, als vielmehr städtebauliche. Durch die Bahnführung in Hochlage entsteht zwischen Spittelauer Platz und Althanstraße eine schier unüberwindbare Barriere.

Natürlich könnte man diese topografische Hürde planieren und die S-Bahn unterirdisch verlegen oder schon in der Spittelau kappen. Ein Plan, den die Wiener Stadtplaner übrigens schon in den 1950er-Jahren hatten – und wieder verworfen haben. Doch wozu einen innerstädtischen Bahnhof aufgeben? Zumal in Zeiten von bevorstehender Taktverdichtung und immer lauter werdender Bekenntnisse zum öffentlichen Verkehr? Viel sinnvoller ist es, die bevorstehende Überbauung der Bahnanlagen und die Reorganisation des gesamten Areals als urbanes Experimentallabor zu nutzen.

Der durch die Gleisanlagen bedingte Höhenunterschied von neun Metern muss dabei nicht zwangsweise ein Knock-out-Kriterium sein. In Städten wie Lissabon, Porto und Genua hat man gelernt, mit der natürlichen Topografie zu leben. Und in Paris (Viaduc des Arts), Birmingham (Bull Ring), Atlanta (Underground Atlanta), New York (High Line und Hudson Yards) und Hongkong (Elevated Walkways in der Downtown) ist es sogar gelungen, Menschen auf künstlichem Wege zum Stiegensteigen zu bewegen. Warum also nicht auch in Wien?

Fix ist, dass Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) und Josef Weichenberger das monströse Kopfgebäude refurbishen, somit also auch die Spiegelfassade neu gestalten werden – und dass Querkraft Architekten für die Revitalisierung der gesamten Sockelzone verantwortlich zeichnen werden. Was die Überbauung und städtebauliche Eingliederung der Hochparkebene betrifft, so läuft derzeit ein offener, zweistufiger Wettbewerb (Juryvorsitz Florian Riegler und Hemma Fasch). Die erste Stufe wurde vor zwei Wochen entschieden. Acht Projekte sind noch im Rennen. Das endgültige Verfahrensergebnis wird Ende April präsentiert. Mit dem konkreten Resultat soll das Widmungsverfahren wieder neu aufgerollt werden.

Man darf sich an dieser Stelle vom Himmel wünschen, dass die sich hier auftuenden Chancen genutzt werden – mit neuen Bebauungsformen, innovativer Freiraumgestaltung, Einbeziehung der umliegenden Bevölkerung, vor allem aber mit einem gewissen Mut zum Risiko und Experiment. Am wichtigsten jedoch wäre es, auf den hier vorliegenden drei Hektar ein visionäres, zukunftsfähiges Exempel zu statuieren, wie Wien in Zukunft mit dem kontinuierlichen Bevölkerungswachstum und der längst überfälligen inneren Stadtverdichtung umzugehen gedenkt. Hier ist genug Platz für Neues. Das Letzte, was Wien braucht, ist ein weiteres Anti-Stadt-Fiasko à la Donauplatte oder TownTown.

Der Standard, Sa., 2018.02.17

02. Februar 2018Wojciech Czaja
db

Lustvolles Lernen

Das neue Gymnasium, in der Seestadt Aspern im Nordosten Wiens steht beispielhaft für die gelungene räumliche Umsetzung weiterentwickelter pädagogischer Konzepte. Die leichtfüßig anmutende und vielfältige Gestaltung von fasch&fuchs.architekten bietet die besten Voraussetzungen dafür, dass sich Schüler und Lehrer hier wohlfühlen.

Das neue Gymnasium, in der Seestadt Aspern im Nordosten Wiens steht beispielhaft für die gelungene räumliche Umsetzung weiterentwickelter pädagogischer Konzepte. Die leichtfüßig anmutende und vielfältige Gestaltung von fasch&fuchs.architekten bietet die besten Voraussetzungen dafür, dass sich Schüler und Lehrer hier wohlfühlen.

»Ein Meilenstein in der Entwicklung des österreichischen Schulbaus«, hat Christian Kühn im Sommer letzten Jahres in der Tageszeitung Die Presse geschrieben.

»fasch&fuchs.architekten haben für die Seestadt Aspern ein Gymnasium entworfen, das Optimismus und Pioniergeist verströmt.« Beim Vororttermin mit der Schuldirektorin des Gymnasiums steht die gläserne Tür ihres Arbeitszimmers offen. Silvia Böck sitzt an ihrem Schreibtisch, lächelt strahlend und meint: »Es stimmt schon, was da in der Zeitung geschrieben stand. Das hier ist die schönste Schule Wiens.«

Der Bildungscampus in der Seestadt Aspern – Satellitenstadt im Nordosten Wiens und eines der großen Vorzeigeprojekte der Wiener Stadtregierung – ist das Resultat eines offenen, einstufigen Realisierungswettbewerbs, der Anfang 2013 entschieden wurde. Das ungewöhnliche pädagogische Raumkonzept, das hier umgesetzt wurde, war bereits Bestandteil der Ausschreibung und sollte die teilnehmenden Architekten dazu anspornen, einen neuen Schultypus zu entwickeln.

»Wir haben ganz schön große Augen gemacht, als wir die Ausschreibung gelesen haben. Das hat nach einem richtig großen Schritt in der Entwicklung der Schulpädagogik geklungen«, sagt Hemma Fasch. Das Wiener Architekturbüro fasch&fuchs.architekten, das sie zusammen mit ihren beiden Partnern Jakob Fuchs und Fred Hofbauer leitet, konnte sich im Wettbewerb gegen seine Mitstreiter durchsetzen. Beflügelt von der Herausforderung einer derart anspruchsvollen Aufgabe setzten die engagierten Architekten ihre Planung ohne große Abstriche um.

Albino-Rochen oder Schlossgespenst

Von außen betrachtet sieht das Schulgebäude auf den ersten Blick wie eine flache Flunder aus oder vielleicht auch wie ein nach Osten schwimmender Albino-Rochen mit zwei seitlich nach hinten abzweigenden Schwänzen – den beiden Gartentreppen, die zugleich als Fluchtwege dienen.

Während die Fassade im EG robuste Materialien wie Glas und vorgehängte Betonfertigteile prägen, sind den beiden ebenfalls großzügig verglasten OGs an der Nord-, Ost- und Südfassade zusätzlich Balkone vorgelagert, die wiederum von einer weißen, perforierten Membran verhüllt werden. Das textile Material ist leicht transluzent und lässt, je nach Sonnenstand, die dahinterliegenden Bauteile als tanzende Schatten durchschimmern ‒ während der Pausen noch ergänzt durch die Silhouetten spielender Kinder. Die Membran dient nicht nur als Beschattungsmaßnahme für die dahinterliegenden Fenster und Balkone, sondern auch als weiche, emotionale Grenze zwischen Innen- und Außenraum. Die Balkone sind so konzipiert, dass sie in der warmen Jahreszeit als Lernraum-Erweiterung dienen können. Bei Bedarf lassen sich die ausgesparten Bereiche der leichten Hülle in derselben Materialität schließen. Dann verunklärt sich das Haus im Nu zu einer Art Schlossgespenst. Keine unangenehme Geste in dieser noch im Entstehen begriffenen Satellitenstadt, in der die meisten Bauwerke mit knalligen Farben und mehr oder weniger gelungenen Fassadengestaltungen um die Gunst der Betrachter ringen.

Wohnzimmer und Loft

Sobald man das Haus an der Nordseite betreten hat, spürt man eine gelungene Mischung aus Exponiertheit und Geborgenheit. Vor einem eröffnet sich ein riesiges, dreigeschossiges Atrium, hell und lichtdurchflutet, mit freundlichen Farben und einer so großen Luftigkeit und Leichtigkeit, dass man Lust verspürt, tief durchzuatmen und neugierig um sich zu blicken. Die Verwandtschaft mit der Architektur der Hellerup-Schule in Kopenhagen, jenem Best-Practice-Projekt von Arkitema Architects, das seit seiner Errichtung 2011 als eine Art heiliger Gral des pädagogischen Bauens gilt, ist nicht von der Hand zu weisen.

Das rege Treiben für das die zentrale Halle ausgelegt ist, hat sich indes noch nicht eingestellt. Da das Haus im Schuljahrestakt jeweils ausschließlich mit den Klassen der Eintrittsklassenstufe belegt wird, werden hier derzeit nur rund 50 Schüler unterrichtet. Im Herbst werden vier neue erste Klassen dazukommen und in acht Jahren schließlich wird das Schulhaus voll ausgelastet sein. Dann werden hier jeden Tag bis zu 1100 Schüler und rund 120 Lehrer ein- und ausgehen. Bis dahin soll das Gebäude auch als temporäres Ausweichquartier für all jene Wiener Schulen genutzt werden, die von größeren Umbaumaßnahmen betroffen sind.

Die lang gestreckte Halle mit Sheddach bietet auf den ersten Blick eine gute Übersicht und unterstützt so die Orientierung. Die breite Sitztreppe wird wohl so manches Mal als Tribüne für Feste und Theateraufführungen dienen. In den beiden OGs links und rechts entlang der Umgänge reihen sich Unterrichtsräume, die durch schalldämpfende Holzelemente und Glasscheiben von der Halle abgetrennt sind. Das Gebäudeinnere zeigt sich als eine Art Rohbau mit vorgefertigten Betonstützen und sichtbar belassenen, bauteilaktivierten Ortbetondecken (Heizung mit Fernwärme, Kühlung mit Grundwasser), dazwischen immer wieder eingehängte Brücken und Treppenläufe aus Stahl – eine Mischung aus Wohnzimmer und Fabrikloft. Um die Räume im EG möglichst flexibel nutzbar zu machen, haben fasch&fuchs.architekten die Stützen in diesem Bereich auf ein Minimum reduziert und den Großteil der beiden OGs als Hängewerk aus Stahl ausgeführt.

Cluster und Homebase

Die architektonische Gestaltung sei gelungen, meint die Schuldirektorin Silvia Böck. »Aber das wirklich Außergewöhnliche an diesem Haus ist das neue, hier in Teilen erstmals implementierte pädagogische Konzept der Stadt Wien.« Die Unterstufe ist – wie bereits an einigen Wiener Schulen – in sogenannte Cluster unterteilt. Jeder Cluster besteht aus vier, über Schiebetüren ‧erweiterbaren Schulklassen und einem zentralen Raum, dem sogenannten Marktplatz. Der Vorteil an diesem Konzept ist, dass die Kinder – auch unterschiedlicher Klassen – nicht nur während der Pausen, sondern bereits schon im Unterricht leichter in Kontakt treten und miteinander projektbezogen arbeiten können. Ein absolutes Novum am Haus ist jedoch die räumliche Organisation der Oberstufe: Jede Klassenstufe wird im 2. OG eine eigene »Homebase« haben. Die großen Räume werden wie ein Wohnzimmer mit Tischen, Stühlen, Regalen, Schränken, gemütlichen Sofas und etlichen Leselampen ausgestattet sein. Jede der insgesamt vier Homebases wird gleichzeitig bis zu 80 Schülern Platz bieten. Der Unterricht selbst wird in »Departments« stattfinden. Ähnlich wie an einer Universität wird jedem Fach ein eigener Lernbereich, ein eigener Studiensaal zugeordnet. Das System ist laut Architekt Jakob Fuchs nicht nur komfortabel für die Lehrkräfte, da sie dadurch »stationär« arbeiten können, sondern auch wirtschaftlich und flächeneffizient.

Licht und Farbe

Auffällig ist nicht zuletzt der Umgang mit Tageslicht und Farbe. Mitten ins Gebäude ist ein Atrium mit einem »Schulwäldchen« aus Bambus eingeschnitten. Nach Westen zum angrenzenden Park hin treppt sich der Bau ab. Aufgrund der Abgrabung des Geländes entlang dieser Gebäudeseite können auch die im UG untergebrachten Räume wie etwa Werkräume, Zeichensäle und die drei Turnhallen natürlich belichtet werden.

Die beiden Künstler Gustav Deutsch und Hanna Schimek haben den gesamten Schulbau – so unfarbig er sich nach außen auch zeigt – im Innern in ein Wechselbad der hellen und dunklen, der kalten und warmen, der gedeckten und leuchtenden Farben getaucht. Jeder Farbton steht dabei für eine bestimmte Raumfunktion im Haus – Gelb für die Treppenhäuser, Ziegelrot für die Treppen im Atrium, Türkisgrün für die Sanitärräume, Violett für den Garderobenbereich und Hellblau für den Sport. Das Farbsystem sorgt jedoch nicht nur für abwechslungsreiche Raumeindrücke, sondern erleichtert auch ganz beiläufig die Orientierung und Kommunikation im Haus.

Eine fundierte Bewertung des Gymnasiums in der Seestadt Aspern wird erst in einigen Jahren möglich sein ‒ erst wenn es voll belegt sein wird und wenn hier Hunderte Schüler die Möglichkeiten haben werden, eine neue Form des Lernens zu entdecken. Aber das Versprechen ist so groß wie schon lange nicht mehr.

db, Fr., 2018.02.02



verknüpfte Zeitschriften
db 2018|1-2 Bauen für Kinder

27. Januar 2018Wojciech Czaja
Der Standard

„Werde als Schuft und Faschist dargestellt“

Nach dem Tod von Zaha Hadid im März 2015 hat Patrik Schumacher das Büro übernommen. Das Unternehmen expandiert, doch der neue Chef sorgt seit Anbeginn für medialen Wirbel, weil er den sozialen Wohnbau eliminieren und die Stadt privatisieren will. Ein Gespräch mit dem, wer weiß, vielleicht künftigen Londoner Bürgermeister.

Nach dem Tod von Zaha Hadid im März 2015 hat Patrik Schumacher das Büro übernommen. Das Unternehmen expandiert, doch der neue Chef sorgt seit Anbeginn für medialen Wirbel, weil er den sozialen Wohnbau eliminieren und die Stadt privatisieren will. Ein Gespräch mit dem, wer weiß, vielleicht künftigen Londoner Bürgermeister.

Standard: Welches Erbe hat uns Zaha Hadid hinterlassen?
Schumacher: Zaha Hadid hat uns ein riesiges Œuvre an realisierten Bauten hinterlassen, aber ein noch größeres Œuvre an Baustellen und Projekten, die sich derzeit in der Pipeline befinden.

Standard: Das klingt sehr sachlich. Und das immaterielle Erbe?
Schumacher: Zaha Hadid hat die Architektur neu erfunden. Ihre Architektur war und ist ein Durchbruch im Denken. Ich würde ihr Vermächtnis am ehesten so zusammenfassen: Expressivität in der Arbeit, Vielgestaltigkeit der Formensprachen, eine neue Art von Energie und Kompromisslosigkeit im eigenen Denken und Handeln. Sie ist mit ihrer Leidenschaft bis an die Schmerzgrenze gegangen.

Standard: Gab es nach Zaha Hadids Tod jemals den Gedanken, das Büro zu schließen?
Schumacher: Nein. Es war offen ausgesprochen und sogar testamentarisch festgehalten, dass – wenn ihr jemals etwas zustoßen sollte – das Büro auf jeden Fall weitergeführt werden müsse. Wir haben heute mehr Büros und mit 400 Angestellten mehr Mitarbeiter denn je. Neben unserem Hauptbüro in London gibt es Niederlassungen in New York, Mexiko-Stadt, Dubai, Peking und Hongkong.

Standard: Sie planen gerade ein Hochhaus in New York, und zwar das 666 Fifth Avenue.
Schumacher: Mittlerweile heißt das Projekt 660 Fifth Avenue. Die Kushner Companies haben das Hochhaus umbenannt, um gewisse Assoziationen zu vermeiden.

Standard: Zu spät. Wissen Sie, wel chen Spitznamen das Projekt hat?
Schumacher: Nein. Welchen?

Standard: The Devil’s Dildo.
Schumacher: Oh, verdammt. Der muss neu sein ... Gegen Spitznamen in den Medien ist man machtlos.

Standard: Wie geht es Ihnen mit den Medien?
Schumacher: Das war die große Herausforderung nach Zahas Tod, denn das Hinaustreten, der Kontakt mit den Medien war immer ihre Aufgabe, während ich mich vor allem um Internes gekümmert habe. Den Umgang mit den Medien zu lernen und sich in der Öffentlichkeit zu behaupten – das ist schon eine ziemliche Challenge.

Standard: Vor zwei Jahren haben Sie beim World Architecture Festival in Berlin ein Acht-Punkte-Programm vorgestellt, mit dem Sie einen regelrechten Shitstorm ausgelöst haben. Sie meinten, sozialer Wohnbau müsse eliminiert werden, wohingegen der öffentliche Raum privatisiert werden müsse. Was hat Sie denn da geritten?
Schumacher: Wir befinden uns heute in einer Leistbarkeitskrise. Das Wohnen wird immer teurer, und das liegt nicht zuletzt daran, dass die Politik immer stärker eingreift und im Wohnbau immer restriktivere Planungs- und Bauvorgaben macht. Das macht das Bauen teuer und die Wohnungen mittlerweile unleistbar.

Standard: Mit der Privatisierung soll dieser Trend gestoppt werden?
Schumacher: Ja. Eine der guten Sachen der freien Marktwirtschaft ist, dass der Markt sich ganz von allein regelt, dass er wie ein organisches System ist, in dem auf ganz natürlichem Wege eine Balance entsteht.

Standard: Leistbarkeit für den Kunden fängt dort an, wo es für den Investor uninteressant zu werden beginnt.
Schumacher: Das wissen wir nicht. Wir haben uns diesem Experiment nie gestellt. Bis jetzt haben wir das natürliche Gleichgewicht aus Angebot und Nachfrage jedes Mal aufs Neue mit Vorschriften und Regulativen manipuliert.

Standard: Margaret Thatcher hat in den Achtzigerjahren eine Privatisierungswelle ausgelöst, von der sich Großbritannien bis heute nicht erholt hat. Das Leben in den Händen des freien Marktes wurde nicht billiger, sondern teurer.
Schumacher: Thatcher war für mich, als ich noch jung war, ein rotes Tuch. Im Rückblick betrachtet finde ich sie bewundernswert. Sie ist eine Heroin der Politik. Sie hat das UK gerettet. Und was den Wohnbau betrifft: Rund 50 Prozent aller Neubauwohnungen in London werden heute für den sozialen Wohnungsmarkt errichtet. Damit müssen die anderen, freifinanzierten 50 Prozent diese geförderten 50 Prozent wirtschaftlich mittragen. Das macht den Wohnungsmarkt in London verdammt teuer. Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel: Viele private Bauträger melden seit vielen Jahren schon Interesse an, leerstehende oder geringfügig genutzte Bürobauten in Wohnungsbau zu konvertieren. Auch hier sind es politische Regulative, die einen solchen Umbau verhindern und dem Markt tausende Wohnungen entziehen. Vor kurzem hat ein Projekt gestartet, das es geschafft hat, diese Regulative punktuell außer Kraft zu setzen. Wir machen selbst mit.

Standard: Und zwar?
Schumacher: Wir arbeiten an sogenannten Mehrhaushaltseinheiten. Das sind zehn bis 16 Quadratmeter große Miniwohnungen, die durch riesige Wohnbereiche und kollektive Stockwerksküchen miteinander verbunden werden.

Standard: Ein Studentenheim für erwachsene Berufstätige also?
Schumacher: Nein, es geht um ein Wohnhaus mit hochwertigen gemeinschaftlichen Mehrwertbereichen. Und es geht darum zu untersuchen, wie man ungenutzte Bürobauten wieder einer sinnvollen Nutzung zuführen kann. Wir sind derzeit in der Studienphase.

Standard: Das wäre im Rahmen des sozialen Wohnbaus nicht möglich?
Schumacher: Nein. Es gibt zu viele Regeln, die ein solches sozialinnovatives Experiment verunmöglichen. Die Bürokraten nehmen jungen Bürgerinnen und Bürgern zentrale Entscheidungsmöglichkeiten weg.

Standard: Wie und wo wohnen Sie denn selbst?
Schumacher: Ich wohne sehr zentral in Islington.

Standard: Auf wie vielen Quadratmetern?
Schumacher: Das kann ich nicht beziffern.

Standard: Sie sind doch ein Architekt mit einem sehr guten räumlichen Vorstellungsvermögen!
Schumacher: Ich denke, das sind so ungefähr 100 Quadratmeter.

Standard: Sollten Sie jemals zum Londoner Bürgermeister gewählt werden, haben Sie einmal gesagt, würden Sie gerne den öffentlichen Raum privatisieren. Warum?
Schumacher: Der öffentliche Raum ist heute stark normiert, er ist steril und langweilig. Mithilfe privater Investoren wäre es möglich, ein deutlich offeneres Spektrum an Freiraumqualitäten zur Verfügung zu stellen – mit repräsentativen, aber auch subkulturellen Angeboten.

Standard: Ein privater Freiraum ist den Interessen des Privateigentümers untergeordnet.
Schumacher: Ich glaube an Vielfalt und unternehmerische Dynamik. Die Gefahr der Exklusion ist nicht so groß, wie alle glauben.

Standard: Soziologen wie etwa Saskia Sassen und Richard Sennett sprechen sich sehr stark gegen Privatisierung aus. Privatisierung, sa gen sie, sei ein Ausverkauf der Stadt.
Schumacher: Ein Thema, viele Standpunkte.

Standard: Wären Sie Eigentümer oder Miteigentümer des Hyde Park, dürfte ich als Nutzer den Park so benützen, wie ich will? Oder würde es dann Vorschriften und Restriktionen geben?
Schumacher: Der Park ist so groß, dass man ihn beispielsweise in verschiedene Zonen gliedern könnte.

Standard: Was gilt in Zone A und was in Zone B?
Schumacher: Das wird jetzt sehr hypothetisch, oder?

Standard: Wie stehen Sie heute zu Ihren damaligen Aussagen?
Schumacher: Ich werde seit damals immer wieder als Schuft und Faschist dargestellt, weil mich die Menschen und Medien falsch verstanden haben. Aber im Grunde genommen ist meine Einstellung nach wie vor die gleiche.

Standard: War die Provokation eigentlich bewusst inszeniert?
Schumacher: Nein. Ich habe diese Reaktionen weder antizipiert noch vorsätzlich geplant. Vielleicht war der Zeitpunkt, ein solches Thesenpapier kurz nach Zahas Tod zu präsentieren, nicht geschickt gewählt. Man darf Fehler machen, wenn man in solche großen Fußstapfen tritt.

Standard: Wird das Büro Zaha Hadid Architects eines Tages selbst als Immobilieninvestor auftreten?
Schumacher: Nein. Patrik Schumacher bleibt bei seinem Leisten.

Standard: Wann werden Sie als Londoner Bürgermeister kandidieren?
Schumacher: In die Politik hinüberzulaufen halte ich immer für möglich.

Der Standard, Sa., 2018.01.27



verknüpfte Akteure
Schumacher Patrik

20. Januar 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Wabi-Sabi und das Glück des Wohnens

Der Japaner Yasuo Moriyama wohnt in einem außergewöhnlichen Haus am Stadtrand von Tokio. Die Filmemacher Ila Bêka und Louise Lemoine haben ihn begleitet und dokumentieren, wie schön der bewusste Akt des Wohnens sein kann.

Der Japaner Yasuo Moriyama wohnt in einem außergewöhnlichen Haus am Stadtrand von Tokio. Die Filmemacher Ila Bêka und Louise Lemoine haben ihn begleitet und dokumentieren, wie schön der bewusste Akt des Wohnens sein kann.

Elfte Minute. Yasuo Moriyama ist gerade im ersten Stock seines Hauses unterwegs, marschiert zwischen tausenden Büchern hin und her, schiebt Bücherregale nach links und nach rechts, sucht nach einem ganz bestimmten Exemplar, die Fenster stehen offen, der Vorhang ist zur Seite geschoben, als von außen plötzlich eine Stimme in den Raum dringt. „Moriyama-San!“ Der Briefträger ist da. Er steht unten, schaut in den ersten Stock hinauf und überreicht dem bloßfüßigen Bewohner, der sich gerade auf den Boden gesetzt hat, die Beine aus dem Fenster baumelnd, die Arme nach unten streckend, ein blaues Päckchen. „Hai! Arigatou gozaimasu!“ Abgang. Und Schnitt.

Die respektvolle, in Japan gebräuchliche Anrede Moriyama-San ist auch Titel des neuen Dokumentarfilms von Ila Bêka und Louise Lemoine. Der 63-minütige, fast wortlose Film, der in den letzten Monaten auf Filmfestivals in London, Leipzig, Moskau, Chicago und Tel Aviv gezeigt wurde und dabei etliche Preise eingeheimst hat, ist nun erstmals auch als Stream (5,85 Euro) und Download (10,94 Euro) für den Privatgebrauch erhältlich. Die beiden französischen Filmemacher begleiten darin mit ihrer Kamera den 65-jährigen Yasuo Moriyama beim Wohnen, Essen, Duschen, Schlafen, Lesen, Grillen, Aufräumen, Filmschauen, Musikhören und beim Meditieren.

Vier Wohnkisten

Und in gewisser Weise ist Moriyama-San selbst schon ein Gebet, eine lustige, skurrile und bisweilen sehr berührende Würdigung der japanischen Wohnkultur und dieses ziemlich außergewöhnlichen Lebensalltags in Tamata am südlichen Stadtrand von Tokio. Vor einigen Jahren schon hat Moriyama das Einfamilienhaus seiner verstorbenen Mutter geerbt, ist nach reichlicher Überlegung jedoch zu dem Entschluss gekommen, es abzureißen und durch einen kleineren Neubau zu ersetzen, der zugleich symbolischer Übergang in einen neuen Lebensabschnitt sein sollte.

Er kontaktierte Ryue Nishizawa vom Tokioter Architekturbüro SANAA, Pritzker-Preisträger 2010, und dieser machte ihm den Vorschlag, ihm nicht nur ein Haus, sondern gleich ein ganzes Dörfchen auf sein gerade einmal 280 Quadratmeter großes Grundstück zu stellen. Die zehn weißen, teilweise mehrgeschoßigen Quader – darunter zwei Badezimmer-Boxen und eine Küchen-Box – sind durch einen offenen, in der Zwischenzeit üppig bewachsenen Garten miteinander verbunden. Vier Wohnkisten nutzt Moriyama für sich selbst, in den anderen wohnen Fremde zur Untermiete.

„Das Wohnkonzept ist genial und zu hundert Prozent auf diesen einen Bauherrn zugeschnitten“, sagt Filmregisseur Ila Bêka, „denn der Architekt hat Moriyama ein Haus vorgeschlagen, mit dem er nun seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Das heißt, dass er bis an sein Lebensende nie wieder arbeiten müssen wird. Er verbringt den ganzen Tag damit, seinen Leidenschaften nachzugehen. Er liest, er schaut Kunstfilme, er hört japanische Experimentalmusik. Das Wirtschaftsmodell funktioniert. Moriyama ist ein lebender Poet.“

13. Minute. Moriyama wird in vielen verschiedenen Lebens- und Lesepositionen gefilmt. Auf dem Boden, im Liegen, im Sitzen, im Stehen, auf dem Sessel, auf der Bank, im Bett, auf den Stiegen, auf der Galerie, am offenen Fenster, und wieder baumelnde Beine, hinaus in den Garten. Zwei Minuten später liegt Moriyama am Holzboden, direkt neben dem raumhoch geöffneten Fenster. Der Vorhang flattert im Wind, seine Arme sind hinausgestreckt, sein Kopf ist verdreht, das Buch schwebt irgendwo über der Straße. Moriyama-San ist in seinem Element: „Oh, der Vorhang, die Bäume, der blaue Himmel ... ich mag das!“

Komfort ist etwas Subjektives

In der 38. Minute, ein Schwenk zwischen zwei Häuschen hinaus auf die Straße, geht eine Frau mit weißem Kimono, Holzschlapfen und Tabi-Söckchen durchs Bild. „Mich hat die Lebensweise dieses Menschen sehr berührt“, sagt Ila Bêka, der insgesamt sieben Tage lang bei Moriyama Unterschlupf gefunden hat, „weil sie zeigt, wie wenig man braucht, um glücklich zu sein, und wie viel dieses Wenige ausmachen kann.“ Dutzende Male pro Tag verlässt Moriyama ein Haus, um ins nächste zu gelangen, bewegt sich fast den ganzen Tag ohne Schuhe durch den Garten, gießt Pflanzen, rettet Tausendfüßer, wäscht sein Aquarium, zündet Kerzen und Räucherstäbchen für seinen verstorbenen Hund an. Und verlässt bei alledem nur selten sein eigenes Dorf.

„Komfort ist etwas Subjektives. Moriyama-San hat eine sonderbare Empfindung davon, was das ist.“ Die Einblendung in der Mitte des Films ist die perfekte Überleitung zur Frage aller Fragen. Der Regisseur zum Bewohner: „Sie schlafen am Boden, einfach so, ohne Bett und ohne Futon?“ Und Moriyama-San, der ein so spitzbübisches Gesicht und einen scheinbar so gesunden Körper wie ein Jugendlicher hat, antwortet: „Ich brauche einfach nur einen Polster, mehr nicht.“ Wabi-Sabi nennt sich die im 16. Jahrhundert begründete Lebensästhetik, die sich darauf konzentriert, Schönheit in den Unvollkommenheiten des Lebens zu finden und sich mit dem Unbequemen, mit dem Unperfekten im eigenen Sein zu arrangieren.

Mehr als ein Dokumentarfilm, ist Moriyama-San ein bis zur letzten Minute inspirierender Denkbeitrag zum heutigen Bauen und Wohnen – und damit eine mehr als dringend benötigte Alternative zu Fixer Upper, Die Bauretter, Die Schäppchenhäuser, Zuhause im Glück und Unser Traum vom Haus , die derzeit die Medienwelt prägen und das gesellschaftliche Kulturgut Wohnen auf eine kaum wiedergutzumachende Weise verkleinbürgerlichen und verblöden lassen. Oder, wie eine der Festivalbesucherinnen in einem Tweet geschrieben hat: „Diesen Film muss jeder gesehen haben.“

Der Standard, Sa., 2018.01.20

05. Januar 2018Wojciech Czaja
Der Standard

Der Zukunftsmacher

John Portman war einer der erfolgreichsten und bedeutendsten Architekten des späten 20. Jahrhunderts. Er prägte die Skylines vieler asiatischer und amerikanischer Städte und erfand einen neuen Hoteltypus. Nun ist er gestorben.

John Portman war einer der erfolgreichsten und bedeutendsten Architekten des späten 20. Jahrhunderts. Er prägte die Skylines vieler asiatischer und amerikanischer Städte und erfand einen neuen Hoteltypus. Nun ist er gestorben.

Das Marriott Marquis in Downtown Atlanta ist eines der aufregendsten Hotels der Welt. Wenn sich der gläserne Lift in Bewegung setzt und durch die Schlucht der wie eine Lunge geformten Betongalerien nach oben saust, scheinbar immer schneller werdend, scheinbar immer surrealer durch Raum und Zeit sich fortbewegend, dann ist man gefangen zwischen Faszination und Übelkeit, und der Magen beruhigt sich nicht, ehe die Liftkabine im 52. Stock, 143 Meter über der winzig klein erscheinenden Hotellobby wieder zum Stillstand kommt.

„Ein normales Haus bauen und mit Zimmern befüllen, das kann jeder“, sagte John Portman. „Aber das interessiert mich nicht. Ich möchte in den Menschen Enthusiasmus, ein gewisses Feuer entfachen.“ Das ist ihm gelungen. John Portman hat die amerikanische und asiatische Stadt mitgeprägt – in Atlanta, Georgia, in einem Ausmaß wie kein anderer – und hat mit der schwindelerregenden Atriumlobby einen gänzlich neuen, oftmals kopierten Hoteltypus erfunden. Vergangenen Freitag, am 29. Dezember 2017, ist der Pionier und Ausnahmearchitekt im Alter von 93 Jahren gestorben.

Portmans Stil ist ein Bekenntnis zum großen Maßstab, zum Megastädtischen, zum sogenannten Neofuturismus. In Fachkreisen ist sein Werk bis heute umstritten. Die Gebäude seien brutal, sie würden sich von der Stadt abwenden und dem öffentlichen Raum stets den Rücken kehren, heißt es. Architekturkritiker in aller Welt haben in seinen Bauten Festungen und Betonbunker gesehen. Und so mancher international renommierte Architekt wie etwa Ieoh Ming Pei, der Erbauer der Louvre-Pyramide, hat ihn sogar öffentlich an den Pranger gestellt.

Erstaunlicherweise waren es immer schon die Nutzer, die Bewohner, die Spaziergänger, die Städtereisenden, die ganz normalen Architekturlaien, die sich von seinem brutalistischen Werk aus Beton, Beton und Beton angezogen fühlten. Im Onlinekondolenzbuch, das am Wochenende auf der Website des Architekturbüros eingerichtet wurde, ist die Rede von Vision, von Geschenk, von Dankbarkeit. Einmal wird seine Architektur sogar als „Portman-Magie“ bezeichnet.

„Im Grunde genommen ist es ganz einfach, dem Menschen zu dienen“, sagte Portman 2011 in einem Interview mit der britischen Tageszeitung The Times . „Nehmen Sie einmal als Beispiel den gläsernen Lift. In einer geschlossenen Liftkabine schaut jeder beschämt auf den Boden. In einer gläsernen Liftkabine jedoch kann sich der Geist frei entfalten, und die Leute kommen miteinander ins Gespräch. Architektur sollte wie eine Symphonie sein!“ Seine Häuser sind mehr als nur Begleitmusik. Sie bestehen aus Wasserfällen, kilometerlangen Balkonen und sich drehenden Panoramarestaurants auf dem Dach.

1924 in South Carolina geboren, studierte Portman am Georgia Institute of Technology und gründete 1953, im Alter von nur 29 Jahren, sein eigenes Architekturbüro. Die ersten Jahre waren hart und undankbar. Er hielt sich mit kleineren Projekten für die Jugendorganisation YMCA und Apotheken über Wasser. Ende der Fünfzigerjahre beschloss er, seinem Schicksal einen Tritt zu geben, gründete Americas Mart, eine bis heute florierende Möbelkaufhauskette, eine Art Südstaaten-Ikea, und bildete sich im Bereich Finanz- und Immobilienwesen fort. Er kaufte sein erstes Grundstück und agierte von da an als sein eigener Bauherr, verschaffte sich seine eigenen Aufträge, war Architekt und Developer zugleich.

„Man kann die größten, die schönsten Visionen haben, aber wenn man diese Visionen nicht mit der Realität verheiraten kann, dann bleiben sie nur ein Tagtraum“, sagte Portman. „Für mich ist das wie Yin und Yang, wie Künstler und Businessman in Personalunion, eigentlich sehr praktisch!“ Mit dieser Verve entwickelte und errichtete er unzählige Büro- und Hotelkomplexe in New York, Detroit, Los Angeles, San Francisco – und buchstäblich die halbe Innenstadt von Atlanta.

50 Jahre lang baute er in der Hauptstadt von Georgia ein Hochhaus nach dem anderen, zwei Millionen Quadratmeter in Summe, darunter kein einziger Cent an öffentlichen Geldern, wie er in seinen Vorträgen immer wieder betonte, und verband sie nach und nach mit Plätzen, Stiegen und abenteuerlichen Brücken im 20. Stock. Manche sagen, er hätte auf diese Weise den Prototyp der amerikanischen Downtown vor dem Aussterben bewahrt. Dafür bekam er schon zu Lebzeiten eine ganze Straße gewidmet: den John Portman Boulevard, eine Hochhausschlucht mitten durch sein eigenes Lebenswerk.

In den Achtzigerjahren gründete er eine eigene Hotelkette, The Portman, die er bald an Marriott verkaufen musste. Er erlitt mit seinen immer größer werdenden Developments, mit seinen immer höher werdenden Hochhäusern fast Schiffbruch, häufte Schulden in der Höhe von rund zwei Milliarden US-Dollar an und konzentrierte sich von da an auf den asiatischen Immobilienmarkt, auf Jakarta, Schanghai sowie Singapur.

Bis zuletzt verbrachte John Portman, der das Unternehmen 1998 seinem Sohn Jack übergab, fast jeden Tag im Büro. „Ich schaue nicht gern zurück. Ich habe mein ganzes Leben lang damit verbracht, nach vorn zu blicken und nach vorn zu gehen. Das werde ich bis zuletzt tun, denn ein Fisch muss schwimmen, und ein Vogel muss fliegen.“ In der Skyline der Stadt hinterlässt er ein enormes Erbe.

Der Standard, Fr., 2018.01.05

30. Dezember 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Die Macht der Baracke

Wie kann man billig Wohnraum schaffen? Das ist eine dringliche Frage für die Townships Südafrikas. Der Architekt Hubert Klumpner hat ein Haus für 9000 Euro entwickelt – und ist damit für den RIBA Award 2018 nominiert.

Wie kann man billig Wohnraum schaffen? Das ist eine dringliche Frage für die Townships Südafrikas. Der Architekt Hubert Klumpner hat ein Haus für 9000 Euro entwickelt – und ist damit für den RIBA Award 2018 nominiert.

Das Bett steht, der Vorhang ist montiert, die Uhr hängt gut sichtbar gleich neben dem Kalender. Es ist 14.33 Uhr, früher als gedacht. Ein paar Tage lang nur musste die Familie bei den Nachbarn Unterschlupf finden. Gemeinsam mit Freunden, Bekannten und Handwerkern aus der Nachbarschaft wurde gemauert, gesägt und geschraubt. Eine Woche später war das Haus bezugsfertig.

Khayelitsha am südöstlichsten Zipfel von Kapstadt, eingebettet zwischen Küste, Autobahn und Naturschutzgebiet, ist die zweitgrößte Township Südafrikas. Mehr als 400.000 Menschen leben hier, 99 Prozent Schwarzafrikaner, zum überwiegenden Teil in informellen, also illegalen Behausungen. Die meisten davon bestehen aus Wellblech und Pappe und haben keinen Strom, kein fließendes Wasser, keine funktionierende Kanalisation. Seit zehn Jahren schon versucht die Regierung, in verschiedenen Kampagnen die Lebensbedingungen der hier lebenden Menschen zu verbessern, doch die Wartelisten für die neu errichteten und nicht immer billigen RDP-Häuser – die Abkürzung steht für Reconstruction and Development Programme – sind lang.

„Die Khayelitsha-Township ist ein gutes Beispiel für ein irgendwie ganz passabel funktionierendes Settlement“, sagt Hubert Klumpner. „Es gibt Handel und Gewerbe, und der Alltag in der Stadt scheint zu klappen. Die größte Schwierigkeit jedoch ist die extrem enge Bebauung und Verhüttelung, denn einerseits bringt das Hygieneprobleme mit sich, und andererseits kommt es dadurch immer wieder zu Brandzerstörungen. Es gibt weder Löschwasser noch Zufahrtsmöglichkeiten für die Feuerwehr.“

Der „Slum-Architekt“

Der österreichische, in Zürich lebende „Slum-Architekt“, wie ihn das Wirtschaftsmagazin Trend in einem Artikel betitelte, beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Bauen in Entwicklungsländern und hat bereits zahlreiche Dwelling- und Mobility-Projekte in Afrika und Lateinamerika geleitet. Bekannt wurde er vor allem durch die 2003 von ihm initiierte Seilbahnverbindung zwischen der Innenstadt von Caracas, Venezuela, und dem Armenviertel San Agustín, die er mit dem Vorarlberger Seilbahnunternehmen Doppelmayr realisierte. Das Projekt ging um die Welt.

Im Zuge des Forschungsprojekts „Empower Shack“ entwickelte Klumpner mit seinem Kollegen Alfredo Brillembourg und dem von ihm gegründeten Urban Think Tank an der ETH Zürich nun einen flexiblen Wohnprototyp, der in den kommenden Jahren in ganz Südafrika zur Anwendung kommen soll. Im Gegensatz zu den staatlich geförderten RDP-Häusern handelt es sich dabei nicht um perfekt geplante Middle-Class-Einfamilienhäuser, sondern um simple, zweigeschoßige Hütten, die mit den vor Ort üblichen Baustoffen errichtet werden können: Holz, Plastik, Betonstein, Wellblech und Polycarbonat.

„Das Haus ist als Rohling zu verstehen“, erklärt Klumpner. „Wir bauen kein Idealhaus, sondern orientieren uns an der lokalen Baukultur – mit all ihren Mängeln und Möglichkeiten. Bloß machen wir es einen Hauch besser.“ Dazu gehört auch, dass jedes Haus mit WC und Wasseranschluss ausgestattet ist und über einen zweiten Stock mit interner Holztreppe verfügt. Dadurch lässt sich wertvolle Grundfläche einsparen, die die Bewohner als Garten und Anbaufläche nutzen können. Am wichtigsten ist jedoch, dass künftig auch wieder Sammeltaxis und Feuerwehr zufahren können.

Bislang wurden in Khayelitsha 38 Häuser fertiggestellt – zum überwiegenden Teil in Selbstbauweise. Unterstützung kommt dabei von den professionellen NGOs Ikhayalami und Slum Dwellers International (SDI).

Die Kosten pro Haus belaufen sich je nach Größe und Ausstattung auf 6000 bis 11.000 US-Dollar, rund 5000 bis 9300 Euro. Bis Ende 2018 sollen weitere 32 Häuser folgen. Das Gesamtprojektbudget beläuft sich – mit allen Forschungs- und Entwicklungskosten – auf 900.000 US-Dollar, rund 760.000 Euro.

„Empower Shack“ besteht jedoch nicht nur aus Hardware, sondern auch aus Software. Der Urban Think Tank liefert nicht nur Pläne und Baumaterial, sondern kümmert sich auch um die Abwicklung des gesamten Umzugs- und Wiederbesiedelungsprozesses. „Die meisten Menschen leben hier illegal“, so Klumpner, „und die größte Angst bei jedem Neubau- oder Sanierungsprojekt ist der vorübergehende Wegzug während der Bauphase. Viele fürchten, das Grundstück und den jahrelang erworbenen sozialen Status zu verlieren, sobald sie die Township verlassen.“

Anstatt in eine provisorische Unterkunft zu ziehen, sieht das Programm vor, dass die Bewohner während der kurzen Bauzeit bei ihren Nachbarn Obdach bekommen. Diese packen beim Bau gleich mit an und unterstützen die Familie beim Hin- und Hertragen der Möbel. Es ist ein Geben und Nehmen. Früher oder später kommt jeder dran. In der Zwischenzeit haben sich die Menschen sogar zu einer Kooperative zusammengeschlossen und zahlen gemeinsam in eine Kasse ein, um den Gebäudeverband in Zukunft selbstständig weiterentwickeln zu können.

Genau das ist der Plan

„Vonseiten der Regierung und der öffentlichen Hand bekommen wir so ein Angebot nicht“, sagt Spu Dala, Community-Leader und so etwas wie der Bauherrenvertreter und die gute Seele im kleinen Khayelitsha-Straßenblock. „Aber uns ist es gelungen. Wir sind glücklich und beeindruckt. Jetzt werden die Leute zu uns nach Südafrika kommen und sich ein Bild davon machen, was wir hier erreicht haben.“

Genau das ist der Plan. Nicht zufällig heißt das Projekt „Empower Shack“, auf Deutsch so viel wie Ermächtigungsbaracke. „Südafrika hat eine akute Wohnungsnot, es fehlen im Moment rund zwei Millionen Häuser“, sagt Hubert Klumpner. „Und daher sind private wie auch öffentliche Bauträger und Entwickler dringend gefordert, diesen Bedarf zu decken. Mögen uns so viele wie möglich kopieren!“ Die Pläne und der gesamte Entwicklungsprozess werden als Open Source zur Verfügung gestellt.

Über zwei Teilerfolge freut sich Klumpner besonders: Während man die ersten Baracken noch illegal errichten musste, werden die aktuellen Häuser bereits von der öffentlichen Hand geduldet. Mehr noch ist diese daran interessiert, den mittlerweile anerkannten Bautypus weiterzuentwickeln und auf einfache Weise wiederholbar zu machen. „Die Township als einstiger Rechtsfreiraum ist nun offiziell zum Experimentierfeld erklärt worden“, so Klumpner. Und zweitens findet sich das Projekt „Empower Shack“ auf der Longlist zum renommierten RIBA Award – zusammen übrigens mit dem nur 25 Kilometer entfernten Zeitz MOCAA Museum vom britischen Heatherwick Studio. Weiter entfernt könnten die Architekturwelten nicht sein. Anfang 2018 sollen die Gewinner bekanntgegeben werden.

Der Standard, Sa., 2017.12.30

24. Dezember 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Herr Präsident baut sich eine Stadt

Die kasachische Hauptstadt Astana zählt zu den eigenartigsten Retortenstädten der Welt. Seit 20 Jahren wird daran gearbeitet, die Visionen von Nursultan Nasarbajew zu realisieren. Damals wie heute um jeden Preis.

Die kasachische Hauptstadt Astana zählt zu den eigenartigsten Retortenstädten der Welt. Seit 20 Jahren wird daran gearbeitet, die Visionen von Nursultan Nasarbajew zu realisieren. Damals wie heute um jeden Preis.

Um 13.25 Uhr fährt der Schulbus an den Straßenrand heran, ohne Blinken, die Straße ist ohnehin menschenleer, und bleibt mitten im Nirgendwo stehen. Eine Horde von Schulkindern springt heraus, am Rücken große Schultaschen, in der Hand ein paar Beutel, zwängt sich durch die kleinen Luken im silberfarbenen Bauzaun und verschwindet nach wenigen Sekunden hinter den Kulissen der Baustelle Astana.

Der Millenium Bulvar im Südosten der vor 20 Jahren neugegründeten Hauptstadt ist das derzeit größte Stadtentwicklungsgebiet Kasachstans. Hier entsteht eine vollkommen neue Stadt – hier, wo derzeit nur Steppe ist und niemand wohnt –, werde ich am nächsten Tag im Stadtplanungsamt Astana Genplan erfahren. Damit soll der Plan von Präsident Nursultan Nasarbajew, der sich im Norden des Landes mithilfe des Londoner Architekten Sir Norman Foster seine eigene Hauptstadt baut, ein vorläufiges Grande Finale bekommen.

Wohin sind die Kinder verschwunden? Der große Bulvar ist längst asphaltiert, die Gehsteige sind gepflastert, die Zebrastreifen aufgemalt, die Verkehrszeichen in die Erde gerammt, die hübschen Eisengeländer an Ort und Stelle gebracht, ja sogar die Mistkübel und Fußgängerampeln harren bereits ihrer ersten Benützung. Und hinter dem löchrigen Bauzaun, da ist nichts. Nur Massen von Sand und Staub und Erde.

Wohin also? Kaum hat man die ein paar Meter hohen Erdhügel erklommen, eröffnet sich von da oben ein Panoptikum von Häusern, Datschen, Bauernhöfen, gespannten Wäscheleinen und zugewucherten Obst- und Gemüsefeldern. Die meisten Menschen haben sich irgendwann in den 1970er-, 1980er-, 1990er-Jahren angesiedelt, als die Stadt noch Zelinograd hieß und das Zentrum in zehn Kilometern Entfernung lag. Mitten in der Steppe, fernab von Infrastruktur und Bauvorschriften, schufen sie sich ein leistbares Leben auf Selbstversorgerbasis.

„Manche von uns wohnen hier legal, manche illegal, wie das halt so ist“, sagt eine Frau, die gerade ihr kleines Kartoffelfeld beackert und anonym bleiben möchte, da sie sonst fürchtet, Schwierigkeiten zu bekommen. „Wir haben das große Glück, dass es für unser Haus offizielle Pläne gibt, also wird man uns den Marktpreis rückerstatten, aber was wird das schon sein?“ Viele ihrer Nachbarn, meint sie, hätten keine Papiere. Sie werden sich ihrem Schicksal stellen müssen. Sie werden enteignet.

Die Zukunft hat bereits Gestalt angenommen. Am Straßeneck Tauelsizdik Avenue und Nazhimedenov-Straße, 1500 Meter weiter westlich, gleich neben dem Kasachischen Nationalmuseum, hängen Visualisierungen des neuen Millenium Park, so der offizielle Name des Quartiers. Entlang der Straße wird gerade die Betontrasse für die neue Lightrail in Hochlage errichtet. Und hinter der kleinen, abgefuckten Datscha der Kartoffelfrau ragt bereits der neue, gläserne Hauptbahnhof Nurly Zhol in den Himmel.

Die beteiligten Bauunternehmen stammen zum überwiegenden Teil aus China und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Hinter einem der silberfarbenen Bauzäune stehen die Lkws, die Bagger, die Planierraupen. Auf dem Tor sind die chinesischen Schriftzeichen für China, Bauen und Baufirma zu sehen. Als ich ein Foto von den Bürocontainern mache, läuft ein Mann hinaus aufs Grundstück, mir hinterher. Mein Chauffeur ist schneller.

Am nächsten Tag im Stadtplanungsamt Astana Genplan, das überraschenderweise nicht in der Neustadt, sondern im alten Stadtzentrum von Zelinograd untergebracht ist. „Das kann nur ein Zufall gewesen sein“, versichert mir Alibajew Maulet Biljalowitsch, Leiter der Planungswerkstatt bei Genplan. „Tatsache ist: Das, was Sie gesehen haben, sind illegale Häuser, die hier niemals hätten errichtet werden dürfen. Aber das sind nur ganz wenige. Im Grunde genommen wohnt hier niemand.“

In den kommenden Jahren, so Biljalowitsch, soll die „Steppenlandschaft“ konvertiert und zu einem „florierenden Businessquartier mit schönen Wohnhäusern“ ausgebaut werden. Geplant seien Radwege und große Parkanlagen mit Brunnen. Dann werde sich die Stadtbevölkerung von 800.000 Einwohnern, die heute in Astana leben, auf über 1,2 Millionen vergrößern. Und dann werde auch der neue Hauptbahnhof nicht mehr am Stadtrand liegen, sondern quasi mitten im Geschehen.

„Unser Präsident hat uns die Aufgabe gestellt, Astana zu begrünen und noch attraktiver zu machen“, erklärt Biljalowitsch. „Dazu gibt es zwei lokale Schwerpunkte, und zwar zum einen die Gegend rund um den neuen Hauptbahnhof und zum anderen das Gelände im Süden der Stadt, auf dem wir bis September die Expo ausgerichtet haben.“ Die Rede ist von einer Green City, einem Hightechcluster, einem Technology-Hub, von einer Bildungs- und Kulturmetropole, vom neuen internationalen Finanzzentrum Zentralasiens.

Und dann präsentiert Biljalowitsch einen riesigen Stadtplan, auf dem Astana in 129 Sektoren unterteilt ist. Die in der dichtbevölkerten Stadtmitte sind etwas kleiner, die an den dünner besiedelter Stadträndern etwas größer. In jedem einzelnen dieser Quadranten, die von mehrspurigen Straßen und Magistralen eingefasst sind, werden später einmal 10.000 Menschen leben. Die Kartoffelfrau auf dem Erdhügel, die heute keine Adresse mehr hat, wohnt in Sektor 118. In Klammer steht: 134 Hektar.

„Die Planungsweise erinnert ein wenig an die Retortenstädte Brasília, Pretoria, und Chandigarh“, sagt Rolandas Kliučinskas, Geschäftsführer von Vilnius Architects, einem der erfolgreichsten Architekturbüros Kasachstans mit Sitz in der ehemaligen Hauptstadt Almaty, knapp 1000 Kilometer weiter südlich. „Bloß waren all diese historischen Beispiele deutlich besser und lebensqualitativ hochwertiger geplant. Was nützen einem Brunnen, Parkbänke und Radwege, wenn acht Monate im Jahr Winter ist und die Lufttemperatur 40 Grad unter dem Gefrierpunkt liegt?“

Alibajew Maulet Biljalowitsch, der Herr bei Genplan, drückt mir bei der Verabschiedung ein zwei Kilo schweres Buch in die Hand: Der Generalplan von Astana. Auf der ersten Seite befindet sich ein Vorwort von Nursultan Nasarbajew mit eingescannter Unterschrift: „Die Erschaffung einer Hauptstadt ist das Schreiben eines neuen Kapitels in der nationalen Geschichte. Nicht jede Generation hat die Ehre, so einen Text zu schreiben. Wir haben beschlossen, es zu tun.“

Der Standard, So., 2017.12.24

09. Dezember 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Wohnen im Forscherkittel

Das Active Energy Building in Vaduz, Liechtenstein, ist Resultat eines technischen Experiments. Dem Projekt des Wiener Büros Falkeis Architects ging eine jahrelange Forschungs- und Entwicklungsarbeit voraus. Ein Blick in den Wahnsinn.

Das Active Energy Building in Vaduz, Liechtenstein, ist Resultat eines technischen Experiments. Dem Projekt des Wiener Büros Falkeis Architects ging eine jahrelange Forschungs- und Entwicklungsarbeit voraus. Ein Blick in den Wahnsinn.

Es ist, als wäre soeben ein silbrig-schokobraunes Ufo im kleinen Fürstentum gelandet. Während im Hintergrund der neugotische Kirchturm zu St. Florin in den Rheintalhimmel ragt und sich um einen Hauch historischer Präsenz bemüht (ziemlich vergeblich), macht sich in Vaduz am Gerberweg 1 ein hyperfuturistisches Wohnhaus breit, von dem man schon jetzt sicher sein kann, dass es wie ein heiliger Gral durch die internationale Forschungs- und Technologielandschaft gereicht werden wird.

Das Active Energy Building (a.e.b.) in Liechtenstein ist Resultat eines jahrelangen Experiments mit teilweise ungewissem Ausgang, an dem der Wiener Architekt Anton Falkeis und seine Frau Cornelia Falkeis-Senn mit viel Eifer und einer gehörigen Portion Optimismus herumgeforscht und herumgetüftelt haben. Zum Einsatz kamen nicht nur neue Konstruktionsprinzipien und innovative Heiz- und Kühltechnologien, sondern auch eigens entwickelte, hochbelastbare Betonmischungen, selbst entworfene Fotovoltaik-Tracker auf dem Dach sowie sogenannte Phase Change Materials (PCM), die als Speicher fungieren und den technischen Effizienzgrad des Hauses massiv erhöhen.

„Wir hatten einen offenen, neugierigen, innovativen Bauherrn, der uns von der ersten Minute an gefordert hat und der bereit war, sich mit uns auf ein Experiment einzulassen“, sagt Cornelia Falkeis-Senn, die für das a.e.b. eine ganze Parade an Patenten angemeldet hat. „Wir gehen von einem angewandten Forschungsbegriff aus. Das, was wir machen, ist keine rein akademische Forschung, sondern eine, die sich stets aus dem konkreten Objekt und aus den konkreten Anforderungen heraus entwickelt.“

Mehr als 800 Detailpläne waren nötig, um das a.e.b. baubar zu machen. Ganz zu schweigen von der Entwicklungsarbeit und den unzähligen Simulationen und Labortests, die zu einem Großteil in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern erfolgten. Für viele Produkt- und Materialentwicklungen musste lange Zeit nach einem passenden Industriepartner gesucht werden. „Die Baubranche ist tendenziell konservativ, es hat viel Überzeugungsarbeit gebraucht, um Produzenten dafür zu gewinnen, etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes auszuprobieren“, so Falkeis-Senn.

Eine der größten und ungewöhnlichsten Errungenschaften ist der Einsatz von PCM. Phase Change Materials sind Stoffe, die im Bereich der üblichen Umgebungstemperaturen in der Lage sind, ihren Aggregatzustand zu wechseln, also zu vereisen, zu verdampfen oder sich zu verflüssigen. Durch den Übertritt von einem Aggregatzustand in den anderen kann – im Gegensatz zu herkömmlichen Speichermedien wie etwa Wasser oder Salzlösungen – die bis zu fünffache Energiemenge gespeichert werden. Üblicherweise kommen PCM in der Medizin (Kühl- und Wärmekissen) sowie im Automobil- und Anlagenbau (Kühlakkus, Solarthermie) zum Einsatz.

Im Active Energy Building sind insgesamt acht Tonnen Paraffin verbaut. In diesen schwergewichtigen Dimensionen fand PCM noch nie zuvor den Weg in die Baubranche. Es ist eine Weltpremiere. Je nach Sonnenstand, je nach Tages- und Nachtzeit klappen in den obersten zwei Stockwerken mobile Flügel auf, die sich entweder zur Sonne oder zum nächtlichen Sternenhimmel recken und das Paraffin bei 32 Grad Celsius verflüssigen beziehungsweise bei 21 Grad Celsius gefrieren lassen. Im zugeklappten Zustand kann die Wärme- und Kälteenergie über Lufttauscher direkt ins Lüftungssystem gespeist werden. Auf diese Weise kann der Heiz- und Kühlbedarf des Hauses um rund 25 Prozent reduziert werden.

„Die meisten Paraffinhersteller am Markt haben uns davon abgeraten, weil sie meinten, das Gebiet sei kaum noch erforscht und es an Erfahrungswerten mangle“, erinnert sich Anton Falkeis, der mehr als drei Jahre Entwicklungsarbeit in diese Technologie investiert hat. Mit allen Höhen und Tiefen, wie er sagt. Sogar die Abfüllanlage, mittels der die wachsähnliche Masse in die mobilen Flügel eingebracht wurde, musste erst einmal von einem Maschinenbauingenieur aus dem eigenen Team entwickelt werden. Falkeis, lapidar: „Architektur hört niemals auf.“

Neben den beweglichen Paraffinspeichern an der Fassade gibt es Geothermie, Grundwassernutzung sowie aktive und passive solare Nutzung. Die gesamte Südseite sowie ein Großteil der Dachfläche sind mit Fotovoltaikpaneelen verkleidet (Leistungsvolumen 32,4 kW Peak). Um die Stromgewinnung zu erhöhen, sind die PV-Elemente mit einem Solar-Tracker ausgestattet. Dieser ist mit der meteorologischen Station verbunden und hat die exakt errechneten Sonnenstandskoordinaten bis ins Jahr 2117 eingespeichert. Dank der Motoren, die wie eine Sonnenblume exakt dem Sonnenverlauf folgen, indem sie die Paneele drehen, hochklappen und im Fünf-Minuten-Takt hydraulisch nachjustieren, kann die Stromausbeute um fast 300 Prozent gesteigert werden.

Die Liste an Entwicklungen und Erforschungen ließe sich endlos fortsetzen, sie umfasst Neuerungen im Stahlbau, in der Betonqualität und in der Schalungstechnologie. Das schlägt sich freilich auch in den Baukosten nieder, die vom Auftraggeber jedoch streng geheim gehalten werden. „Das ist ein Privatgebäude mit insgesamt zwölf Mietwohnungen, die wir auf dem freien Markt vergeben, und daher sind auch die Errichtungskosten Privatsache“, sagt Bauherr Florian Marxer, der sich in diesem Projekt nicht zuletzt als Förderer und Ermöglicher betrachtet. „Ich kann nur so viel verraten: Das Budget war extrem hoch. Das hängt auch damit zusammen, dass wir hier Entwicklungsarbeit geleistet und einen Prototyp errichtet haben, den es auf der Welt kein zweites Mal gibt.“

Ist das Active Energy Building nun ein manifest gewordenes Forschungsprojekt? Oder doch auch ein baukultureller Beitrag zur Zukunft des Wohnens? Darüber lässt sich streiten. So vielfältig die Reaktionen unter den Passanten sind, so unterschiedlich werden auch die architektonischen Urteile in der Fachwelt ausfallen. Doch unbestritten ist, dass Anton Falkeis und Cornelia Falkeis-Senn kraft ihres Wahnsinns einen Beitrag zur Material- und Bautechnologieforschung geleistet haben, der weltweit einzigartig ist. Genau daran muss das schier unbezahlbare Projekt gemessen werden.

Die Reise nach Vaduz erfolgte auf Einladung von Familie Marxer und Falkeis Architects.

Der Standard, Sa., 2017.12.09



verknüpfte Bauwerke
Active Energy Building Vaduz

25. November 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Panik im Paragrafendschungel

Eigenverantwortung oder Vollkaskomentalität: Die Ausstellung „Form folgt Paragraph“ trägt die absurdesten Normen, Richtlinien und Bauvorschriften zusammen und erklärt auf diese Weise, warum die Welt so ausschaut, wie sie ausschaut.

Eigenverantwortung oder Vollkaskomentalität: Die Ausstellung „Form folgt Paragraph“ trägt die absurdesten Normen, Richtlinien und Bauvorschriften zusammen und erklärt auf diese Weise, warum die Welt so ausschaut, wie sie ausschaut.

Zum Schutz vor negativen Auswirkungen auf die Umgebung durch Schatten von Gebäuden mittlerer bis großer Höhe gibt es gesetzliche Bestimmungen betreffend den Lichteinfall“, heißt es im japanischen Baugesetzbuch, Artikel 56, Absatz 2, und Artikel 136, Absatz 12 bis 13. „Die Regelung sieht vor, dass der Schatteneinfall auf einer waagrechten Fläche in einer bestimmten Höhe in jenem Gebiet, das der Regelung unterliegt, am Tag der Wintersonnenwende zwischen 8.00 und 16.00 Uhr eine festgelegte Zeitdauer nicht überschreitet.“

Das dramatisch beschnittene Wohnhaus im Tokioter Stadtteil Shinagawa-ku, das der japanische Architekt Yasutaka Yoshimura in seinem 2006 erschienenen Buch Super Legal Buildings Zentimeter für Zentimeter analysiert, ist nicht das einzige Gebäude, das kraft des geltenden Gesetzes bis zur Karikatur verformt wird. Weltweit gibt es eine ganze Menge zu lachen und zu staunen. Diesen zum Teil angsteinflößenden, verschachtelten und kaum verständlichen Paragrafen und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Architektur und Stadtplanung widmet sich seit vorgestern, Donnerstag, eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien (AzW).

Form folgt Paragraph, so der Ausstellungstitel, der den weltberühmten Funktionsaphorismus von Louis Sullivan auf die Schaufel nimmt, ist aber keineswegs ein knochentrockener Brainfuck, wie man vermuten würde, sondern eine immer wieder humoristische Zusammenstellung von manifest gewordenen Normen, Richtlinien und Bauvorschriften, die teils sinnvolle, teils haarsträubende bauliche Lösungen mit sich ziehen.

So lernt man beispielsweise, dass österreichische Erde, die zum Bau eines Kellers ausgehoben und abtransportiert wird, nach zwei Kilometern Lkw-Fahrt von Gesetzes wegen zu Abfall mutiert. Dass Kinderlärm hierzulande von den Lärmschutzbestimmungen ausgenommen ist, während in Deutschland mitunter Schallschutzmauern um Kinderspielplätze errichtet werden. Und dass im Guide to Street Vending in New York City ganz genau geregelt ist, wie weit ein Flohmarkttisch vom Randstein und somit von der Fahrbahn entfernt zu stehen hat. Alles hat seine Ordnung. Und jede Ordnung hat ihre Hüter.

Besonders absurd sind die sich regional eklatant unterscheidenden Stufenvorschriften, die keineswegs mit allzu kurzen oder allzu langen Beinen unterschiedlicher Ethnien und Gesellschaften zu tun haben, sondern schlicht und einfach Produkt des Paragrafendschungels sind. Im AzW sind die weltweiten Verschiedenheiten nicht nur erfassbar, sondern auf mannshohen Modellen auch physisch begeh- und erlebbar, und zwar auf eigene Gefahr, wie am Eingang der Ausstellung zu lesen ist, weil, nun ja, die im Ausland legale Treppe im Inland illegal ist.

Während man in Neuseeland mit einer maximal erlaubten Stiegensteigung von 32 Grad die Höhe erklimmen darf, gleicht die japanische Treppe mit bis zu 57 Grad Steigung schon fast einer halsbrecherischen Hühnerleiter, auf der man sich gut und gerne am Geländer festhält. Und dass die US-Amerikaner mit 115 Zentimetern die mit Abstand größte Stiegenmindestbreite für Einfamilienhäuser haben, ist in Anbetracht des dort grassierenden Hamburger-Hungers leider nicht nur ein Treppenwitz.

„Die gebaute Umwelt ist nicht nur von kreativen, sondern auch von ökonomischen und vor allem von juristischen Kräften geformt“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des AzW. „Und all die Normen, Baugesetze, Bauordnungen, Baurichtlinien, Bauvorschriften, Materialrichtlinien, Förderrichtlinien und nicht zuletzt Haftungsfragen prägen die Architektur und Stadt entscheidend mit.“ Die Dichte der oft sinnentleerten Paragrafen zeigt sich in der Ausstellungsarchitektur von Planet Architects, die aus 7000 leeren Aktenordnern aufgebaut wurde. Der Wahnsinn ist augenscheinlich.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist nicht unbedingt die Schuld des Gesetzgebers oder der Industrie, die in den meist intransparenten Normenausschüssen in erster Linie ihre eigenen Partikularinteressen vertritt, sondern hat nicht zuletzt auch mit uns allen zu tun. „Wir leben heute in einer Vollkasko-Gesellschaft, in der wir einerseits über die Regelwut schimpfen, andererseits aber jeden blauen Fleck einklagen und bis zum bitteren Ende ausjudizieren“, so Fitz. „Die Baubranche hat darauf entsprechend reagiert.“

Durchgenormte Welt

Bei der Wiener Internationalen Gartenschau 1974 (WIG 74) wurde im Kurpark Oberlaa der Kinderspielplatz „Erde“ errichtet, der in dieser Form längst nicht mehr realisierbar wäre. Zu gefährlich scheinen die Kugeln, Löcher und Rutschen für den heutigen Kindskopf zu sein. Stattdessen gibt es heute 238 Seiten an Normen, die darum bemüht sind, den Spielplatz zu einer möglichst gefahrenlosen Zone zu erklären. Entsprechend gummiert, gepolstert und uninspiriert fällt die Gestaltung aus. Und dennoch hat die Zahl der Unfälle auf dem Spielplatz in den letzten Jahren rapide zugenommen.

„Vielleicht sind die Eltern heute durch ihre Smartphones abgelenkt“, sagt Martina Frühwirth, die die Ausstellung gemeinsam mit Katharina Ritter und Karoline Mayer kuratiert hat. „Vielleicht aber leben wir heute schon in einer so durchgenormten und durchstandardisierten Welt, dass die Kinder schlichtweg verlernt haben, wie man mit Gefahr umgeht. Jede Norm und jede vorgeschriebene Sicherheitsmaßnahme reduziert uns in unserer Eigenverantwortung. Und ich fürchte, dass dieser Trend noch weiter zunehmen wird.“

Dass die vorauseilende und oftmals verfluchte Bürokratie keineswegs ein österreichisches und keineswegs ein zeitgenössisches Phänomen ist, beweist die international und interdisziplinär zusammengetragene Ausstellung Form folgt Paragraph eindringlich. In einer der Fensternischen lauert der architekturbürokratische Schock: „Wenn du ein neues Haus baust, so mache eine Lehne darum auf deinem Dache, auf daß du nicht Blut auf dein Haus ladest, wenn jemand herabfiele.“ (Das fünfte Buch Moses, Kapitel 22, 900 v. Chr.)

Die Ausstellung „Form folgt Paragraph“ ist bis 4. April 2018 zu sehen. AzW im Museumsquartier, 1070 Wien. Am Mittwoch, dem 29. November, spricht Standard -Mitarbeiter Maik Novotny im Club Architektur mit Silja Tillner, Jakob Dunkl, Irmgard Eder und dem Kabarettisten Ciro de Luca („Vurschrift is Vurschrift“) zum Thema „Freiheit oder Vollkasko?“

Der Standard, Sa., 2017.11.25

04. November 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Vom Knödelsilo zum Klangapparat

München baut ein neues Konzerthaus. Geplant wird der „Schneewittchensarg“ von den Vorarlberger Architekten Cukrowicz Nachbaur, die mit dieser Bauaufgabe auf der Tonleiter ganz nach oben klettern.

München baut ein neues Konzerthaus. Geplant wird der „Schneewittchensarg“ von den Vorarlberger Architekten Cukrowicz Nachbaur, die mit dieser Bauaufgabe auf der Tonleiter ganz nach oben klettern.

Es hat nicht lange gedauert, schon haben die Münchner die ersten Spitznamen gefunden. Die einen sprechen von „Glasscheune“, die anderen von „Gewächshaus“, wiederum andere glauben, in dem vor wenigen Tagen öffentlich gewordenen Entwurf einen „Schneewittchensarg“ zu erkennen. Der Münchner FDP-Stadtrat und Preisrichter Wolfgang Heubisch zeigt sich über diese Entwicklung mehr als zufrieden: „Es ist ein richtiger Streit um Architektur. Das ist großartig in dieser Stadt, in der es beim Bauen sonst immer nur um Gewinn- und Flächenmaximierung geht.“

Die Rede ist vom neuen Konzerthaus, das auf den ehemaligen Pfanni-Gründen im Osten der Stadt, im sogenannten Werksviertel, entstehen soll. Wo einst Kartoffelpüree und Semmelknödel für die Unilever-Gruppe produziert wurden, errichtet der Freistaat Bayern in den kommenden Jahren Münchens neue Musikkathedrale. Der Entwurf dafür stammt vom Bregenzer Architekturbüro Cukrowicz Nachbaur.

In einem EU-weiten Wettbewerb konnten sich die beiden Gsiberger gegen hochrangige Konkurrenten wie etwa Mecanoo, David Chipperfield und Zaha Hadid Architects durchsetzen. Es ist das bislang größte Projekt von Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm, die im Ländle, aber auch in Bayern und in der Schweiz seit gut 20 Jahren Wohnbauten, Sporthallen, Volksschulen, Kirchen, Gemeindeämter und Industriebauten errichten und auf diese Weise vorexerzieren, wie sexy Holzkiste sein kann.

„Es war ein langer Prozess, bis wir die richtige Antwort auf die Bauaufgabe gefunden haben“, erinnert sich Anton Nachbaur-Sturm. „Wir haben organische und kubische Bebauungen ausprobiert, sind aufgrund der Rahmenbedingungen letztendlich aber wieder dort gelandet, wo wir am besten sind. Wir haben uns für eine einfache, prägnante Form entschieden. Das liegt uns mehr als das Spektakuläre.“ Ob man damit gerechnet habe, den Wettbewerb zu gewinnen? „Oh nein! Hoffnung gibt es immer. Aber wir wussten, dass wir mit unserem Projekt polarisieren würden. Und das tun wir auch, wenn man sich die aktuelle öffentliche Diskussion anschaut.“

Doch die hat nicht nur mit der Architektur zu tun. Denn während die beiden Vorarlberger für ihr „Spitzenniveau“ (Bauminister Joachim Herrmann, CSU) in der deutschen Medienlandschaft abgefeiert werden, gibt es andernorts Bedenken ob der mit diesem Entwurf gebrochenen städtebaulichen Leitlinien und Bebauungsvorschriften – aber auch ganz grundlegende Zweifel daran, ob ein Musikzentrum an diesem Ort und unter diesen Rahmenbedingungen wirklich die richtige, zukunftsfähige Entscheidung sei.

Einerseits widersetze sich der Entwurf von Cukrowicz Nachbaur mit seinen 45 Metern Bauhöhe, so die Kritiker, der im Bebauungsplan festgehaltenen Höhenbeschränkung von 26 Metern. Andererseits soll das Haus ausgerechnet auf Pfanni-Land errichtet und um 600.000 Euro jährlich mit Steuergeldern gepachtet werden. Nicht alle zeigen sich mit der Entscheidung zufrieden, sich mit einem wohlgemerkt öffentlich finanzierten und öffentlich betriebenen Kulturbau in Form von Erbpachtrecht auf ewige Zeiten an die industriellen Erben zu binden.

Idee eines Klangspeichers

„Ja, wir sind ein Risiko eingegangen, indem wir die maximal zulässige Bebauungshöhe überschritten haben“, sagt Andreas Cukrowicz. „Nur ist es halt so, dass wir Querdenker sind und dass wir nicht nach der besten Antwort für die Ausschreibung gesucht haben, sondern uns stets um die beste Antwort für die jeweilige Bauaufgabe bemühen. Sämtliche Licht- und Schattenkonsequenzen für die benachbarten Häuser haben wir in unserem Entwurf berücksichtigt.“

Letztendlich hat die Form auch symbolischen Charakter: „Wir sind hier mitten auf einem ehemaligen Industrieareal. Daher haben wir uns von der Idee eines Silos, eines transparenten, lichtdurchlässigen Klangspeichers inspirieren lassen.“ Oder, wie der Juryvorsitzende Arno Lederer dies in seinen Worten ausdrückt: „Dieses Haus ist einprägsam. Jeder, der die Form einmal gesehen hat, kann nach Hause gehen und sie aufzeichnen. In diesem heterogenen Umfeld ist das Gebäude ein nobler Ruhepunkt. Zurückhaltend und ausdrucksstark zugleich, in dieser Form an keinem anderen Ort zu finden.“

Unter dem gläsernen Berg verbirgt sich ein neungeschoßiger Bau mit einem kleinen Saal für 600 bis 900 Personen, einem großen Saal für bis zu 1900 Personen, einer Werkstatt sowie diversen Sonderräumen und Foyers. Im großen Saal, erklären die Architekten, werde kein Sitzplatz weiter als 32 Meter von der ersten Geige entfernt sein. Als akustisches und geometrisches Vorbild gilt der Wiener Musikvereinssaal mit seinen Proportionen von 2:1:1. Die genauen akustischen Berechnungen stehen noch aus und sollen nun im nächsten Schritt ausgeschrieben werden. Die kolportierten Gesamtbaukosten liegen bei 150 bis 300 Millionen Euro.

Früher, sagt Anton Nachbaur-Sturm, sei der städtische Wettbewerb im Kirchenbau ausgetragen worden. Seit Bilbao habe sich der weltweite Image-Kampf auf den Museumsbau verlagert. „In jüngster Zeit jedoch, scheint es, misst man sich mit den Häusern der Musik. Natürlich macht es uns stolz, in diesem heiß umkämpften Genre ein Leuchtturm-Projekt realisieren zu dürfen. Wir sprechen hier von einem Haus und von einem Symbol mit großen und weittragenden Inhalten.“

Alemannische Nüchternheit

Von einem „gelungenen Kompromiss zwischen architektonischem und musikalischem Anspruch“ titelte die Süddeutsche Zeitung vor wenigen Tagen etwas bescheiden. Und in Zeiten von Pomp und Trara, in denen zwischen Aalborg (Coop Himmelb(l)au), Paris (Jean Nouvel), Dallas (Norman Foster), Taichung (Toyo Ito) und Guangzhou (Zaha Hadid) ein regelrechter Kampf um das imposanteste Opern- und Konzerthaus entfacht ist, scheint das ein gar nicht so schlechtes Kompliment zu sein.

Nach einem jahrelangen Spiel um das schönste und größte Spektakel, den zweifelsohne Herzog & de Meurons Elbphilharmonie in Hamburg für sich entschieden hat, ist es umso verwunderlicher, dass in München nun ein Projekt mit alemannischer Nüchternheit und archaischer Tobleronistik punktet. Ist das vielleicht der Beginn einer neuen Bescheidenheit? Man darf gespannt sein auf die neue Tonlagen.

Der Standard, Sa., 2017.11.04



verknüpfte Bauwerke
Konzerthaus München - Wettbewerb

31. Oktober 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Cukrowicz Nachbaur Architekten: Münchens Konzerthaus wird im Ländle geplant

Bregenzer Architekten schlagen massive Kastenform mit Glasfassade vor Letzten Freitag war Andreas Cukrowicz (48) mit seiner Familie auf Urlaub in Umbrien...

Bregenzer Architekten schlagen massive Kastenform mit Glasfassade vor Letzten Freitag war Andreas Cukrowicz (48) mit seiner Familie auf Urlaub in Umbrien...

Bregenzer Architekten schlagen massive Kastenform mit Glasfassade vor Letzten Freitag war Andreas Cukrowicz (48) mit seiner Familie auf Urlaub in Umbrien und besuchte die Eremitage des Franz von Assisi. „Ich dachte mir, genau jetzt wird der Wettbewerb zum neuen Konzertsaal in München juriert. Sollten wir gewinnen, werde ich Francesco noch einmal einen Besuch abstatten.“ Das Schicksal nahm seinen Lauf, und der Architekt löste sein Versprechen noch am Sonntag ein.

Mit seinem Büropartner Anton Nachbaur-Sturm (52) gewann der Bregenzer Planer den Wettbewerb zum Neubau des Konzertsaals in München. Seit 15 Jahren geht die Weißwurstmetropole mit der Idee schwanger, ein neues Musikzentrum zu errichten. Das Konzept, dieses auf dem ehemaligen Fabrikareal des Kartoffelknödelproduzenten Pfanni zu errichten und sich auf diese Weise in Form von Erbpachtrecht auf ewig an die Pfanni-Erben zu binden, macht nicht alle glücklich. Genauso wenig wie das prämierte Architekturprojekt. Von einem gläsernen Sarg sprechen die einen, von einem „nicht so spektakulären, aber auch nicht hässlichen“ Entwurf die anderen.

Da das Haus mitten in einem ehemaligen Industrieareal entstehen soll, haben sich die Architekten von der Idee eines transparenten, lichtdurchlässigen Klangspeichers inspirieren lassen: „Wir haben uns bewusst für eine einfache, prägnante Form entschieden. Das liegt uns mehr als das Spektakuläre.“

Die Zurückhaltung spiegelt sich in den Projekten des 1996 gegründeten Büros Cukrowicz/Nachbaur wider – darunter viele Wohnbauten, Sporthallen, Volksschulen, Kirchen, Gemeindeämter, Industriebauten und sogar Bühnenbilder. Das Einfache siegt über das Komplizierte. Zu den wichtigsten Projekten der letzten Jahre zählen Uni- und Laborgebäude in München sowie das Vorarlberg-Museum in Bregenz, bei dem die Betonfassade mithilfe von ganz normalen PET-Flaschenböden eingeschalt und entsprechend blumig ausformuliert wurde.

Aktuell arbeiten die beiden an einer Bischofsgruft in Rottenburg am Neckar, die mit 1.500 Jahre alter Friedhofserde errichtet wird. „In diesem Lehm sind sogar kleine Knochensplitter drinnen. Dieser Ort hat wirklich Energie!“ Und wo finden die beiden Architekten ihre eigene Energie? „Im Yoga und im einsamen Wandern durch die Berge. In allem, was uns erdet, denn unser Job ist schon aufregend genug.“

Der Standard, Di., 2017.10.31



verknüpfte Bauwerke
Konzerthaus München - Wettbewerb

21. Oktober 2017Wojciech Czaja
Der Standard

„Wie Iggy, barfuß raus und pinkeln“

Gerade ging in Osttirol die sechste Österreichische Leerstandskonferenz zu Ende. Die deutsche Architektin Kerstin Schultz über Pferde, Ideen zur Nachnutzung und den Begriff der Landerwartungshaltung.

Gerade ging in Osttirol die sechste Österreichische Leerstandskonferenz zu Ende. Die deutsche Architektin Kerstin Schultz über Pferde, Ideen zur Nachnutzung und den Begriff der Landerwartungshaltung.

Standard: Sie treten selbstbewusst auf und sagen in Ihren Vorträgen stets: „Ja, ich bin sowohl Architektin als auch Landbewohnerin. Ich lebe in der Odenwaldhölle.“ Was macht den Odenwald zur Hölle?

Schultz: Den Begriff Odenwaldhölle hat die FAZ- Journalistin Antonia Baum geprägt. Sie hat einen Artikel über den Odenwald geschrieben und damit sowohl einen Shitstorm als auch eine Solidarisierungswelle mit der Region ausgelöst. Die Odenwaldhölle ist eine Anspielung auf unser aller Klischeebild vom Land – auf die geistige Verarmung ländlicher Regionen, auf die zum Teil kulturelle Verwahrlosung und auf die herrschende Bautentristesse abseits der Boomregionen.

Standard: Wie viel ist wahr?

Schultz: Einiges, aber nicht alles. Ich bin Optimistin, sonst wäre ich nie aufs Land hinausgezogen. Wir haben früher in Darmstadt gelebt, in einer Architektur- und Kulturhochburg, mitten in einem relativ homogenen Stadtviertel mit Menschen mit ähnlicher Ausbildung, ähnlichem Konsumverhalten und sehr ähnlichen Wertvorstellungen. Fakt ist: Die schönsten Ecken in den Städten sind von Menschen besetzt, die sich das auch leisten können. Hier im Odenwald ist alles anders. Ich lebe in einem Dorf mit 300 Einwohnern, und beim Bäcker unterhalte ich mich über das Wetter und das tägliche Leben – und nicht über meinen Beruf. Das tut gut. Es ist ein Leben mit räumlichen und geistigen Freiräumen. Und mit Kühen und Pferden, die dann plötzlich im eigenen Garten stehen und einen fragend ansehen, was man da tut.

Standard: Beim Vortrag der Leerstandskonferenz meinten Sie, das Land sei heute in einer Identitätskrise. Was heißt das?

Schultz: Wir erleben heute zwei sehr interessante, einander bedingende Phänomene, erstens die Urbanisierung des Landes und zweitens die Verdörflichung der Stadt. Während wir am Land jeden Leerstand mit Galerien, Yoga-Studios und Coworking-Spaces füllen wollen, beobachte ich, wie die Menschen in der Stadt immer gesünder und immer ländlicher leben und sogar damit anfangen, neben der Straße Gurken und Tomaten anzubauen. Damit verändert sich unser komplettes Verständnis von Stadt und Land.

Standard: Gut oder schlecht?

Schultz: Sehr gut sogar! Jeder Impuls, jede Konfrontation und jede ungewöhnliche Herangehensweise – und sei sie auf Dauer noch so unwahrscheinlich und unrealistisch wie die Implementierung eines schicken Fitnesscenters in einen leerstehenden Bauernhof – ist ein Versuch, unsere Köpfe aufzumachen und unsere gewohnten Denkmuster aufzubrechen. Aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass sich mit dem Wandel des Stadt- und Landbildes und mit dem Selbstverständnis, dass man an allen Orten auf der Welt alles kriegt, auch die Erwartungshaltung ändert. Das haben viele noch nicht begriffen.

Standard: Sie haben den Begriff Landerwartungshaltung geprägt. Was bedeutet der?

Schultz: Wenn ich heute aufs Land rausfahre, erwarte ich mir Ruhe, Pferde und Kühe, Kartoffelbauern und die Möglichkeit, Äpfel zu klauen und jeder Zeit gegen den Zaun pinkeln zu dürfen. Iggy Pop macht das auch. In einem Interview hat er mal gesagt, dass er jeden Morgen barfuß rausgeht und in die Natur pinkelt. Das ist unsere Landerwartungshaltung.

Standard: Wird das Land dieser Erwartungshaltung noch gerecht?

Schultz: Nein. Man muss heute schon gezielt nach spezifischen Orten und Höfen suchen, um diese alten Qualitäten noch zu finden. Die Realität sieht anders aus.

Standard: Und zwar?

Schultz: Erstens befindet sich das Land – wie schon erwähnt – in einer zunehmenden Verstädterung. Zweitens ist in den letzten Jahrzehnten viel Wissen verloren gegangen, denn die heutige Landgeneration weiß heute kaum noch, wie man Kühe melkt, Quitten einkocht und einen Wald bewirtschaftet. Und drittens hat sich die Landschaft dramatisch verändert. Was früher die Kornkammer war, ist heute oft nur eine Geld- und Energiemaschine. Wenn Sie durch Norddeutschland fahren, werden Sie sehen, dass es fast nur noch Windbauern, Solarbauern, Maisbauern und Biogasbauern gibt. Einen Kartoffelbauern werden Sie vergeblich suchen. Das sind Strukturen, die es braucht, keine Frage. Aber nicht in diesen Ausmaßen und Monokulturen! Diese Gigantomanie lehne ich ab.

Standard: Das klingt dramatisch.

Schultz: Das ist es auch. Die Stadt hat gelernt, das Land hat verlernt.

Standard: Aufgrund des demografischen Wandels und der zunehmenden Verstädterung wird das Land mehr und mehr ausgedünnt. Die Folge ist Leerstand. Schrumpfende Regionen wie der Odenwald sind betroffen. Was tun?

Schultz: Wenn wir am Land von Leerstand sprechen, dann sind dies entweder Gebäude, die heute keine Funktion mehr haben – wie leerstehende Bauernhöfe, Landwirtschaftsbetriebe oder Bahnhöfe entlang aufgelassener Strecken. Oder aber Bauwerke mitten im Ortskern, die zwar am Land sind, aber im Charakter etwas Städtisches haben – ohne Grünland und ohne Freiraumbezüge. Beide Formen des Leerstandes sind schwierig zu managen. So wie es Leerstandsmanager in der Stadt gibt, würde es meines Erachtens auch entsprechende Manager am Land brauchen. Das fehlt komplett.

Standard: Welche Nutzungen schlagen Sie vor?

Schultz: In Luckenwalde im ehemaligen Ostdeutschland wurde ein ehemaliger Bahnhof in eine Bücherei umgebaut. Im Odenwald haben wir viele gastronomische und touristische Betriebe. Das geht immer. Vor allem aber träume ich von verschiedenen Formen des Miteinanderlebens – beispielsweise von klassischen Wohngemeinschaften, aber auch von Jugend- und Senioren-WGs, die das Thema der Vereinsamung, des Wegsterbens und des kulturellen Verödens aktiv und kreativ in die Hand nehmen. Dieses Wohnangebot fehlt am Land komplett.

Standard: Schrumpfende Gemeinden in Deutschland gehen mittlerweile dazu über, Bauland zu verschenken. Ist das eine Lösung?

Schultz: Das ist eine sehr kurzfristig gedachte Strategie, um Neubürger anzuziehen. Ich lehne das total ab. Es muss den Menschen etwas wert sein, aufs Land zu ziehen. Immerhin sprechen wir hier von Qualitäten. Mit dem Verschenken von Grund und Boden und mit dem Verkauf zu Dumpingpreisen geht das letzte Fünkchen Wertschätzung verloren. Es ist die Aufgabe von uns Architektinnen, Stadtplanern und Raumplanern, aber auch von Investoren, Betreibern und Vermietern, auf diese Qualitäten aufmerksam zu machen und sie nicht zu verschenken. Meine Forderung lautet: Kein Bauen ohne Prozess! Sowohl die Spekulation als auch der Ausverkauf in dörflichen Strukturen gehören dringend verboten!

Standard: Wie lautet Ihre Vision vom Land?

Schultz: Meine Vision wäre, Landschaft und räumliche Freiheit zu einem Alleinstellungsmerkmal und Entscheidungskriterium auszubauen. Derzeit sind wir am besten Weg, das Gegenteil zu erreichen. Da reicht nur ein Blick auf die Baulandbevorratung, Bodenversiegelung und Zunahme von großstrukturellen Betrieben. Das ist der Weg in die Hölle – und zwar nicht nur im FAZ- Jargon.

Standard: Was kommt nach der Hölle?

Schultz: Nach der Hölle geht’s bergauf.

Der Standard, Sa., 2017.10.21

21. Oktober 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Vom Schweinestall zum Kindergarten: Leerstand im Fokus

Konferenz in Osttirol widmete sich Bauernhöfen

Konferenz in Osttirol widmete sich Bauernhöfen

Innervillgraten – In Europa schließen jedes Jahr 350.000 Bauernhöfe. Allein in Österreich sind jährlich rund 2400 Landwirte gezwungen, ihren Betrieb aufzugeben oder zu verkaufen. Die Folge: Während die ländlichen Lebensmittelproduzenten immer größer und größer werden (1970 ernährte ein österreichischer Bauer im Durchschnitt zwölf Menschen, 2016 bereits mehr als 80), nimmt der ländliche Leerstand kontinuierlich zu. Doch was tun mit den leerstehenden Bauernhöfen?

Dieser Frage widmete sich kürzlich die sechste Leerstandskonferenz in Innervillgraten, die unter dem Motto „Leerstand ab Hof! Strategien für einen Umbau in der Landwirtschaft“ stand. Die vom Architekturbüro Nonconform organisierte Veranstaltung lockte fast 200 Besucher in die Osttiroler Berge, wo allein rund um Lienz derzeit mehr als hundert Bauernhöfe leer stehen und auf eine Nachnutzung warten. Im Fokus der Konferenz standen Best-Practice-Beispiele aus den deutschsprachigen Ländern, das gemeinsame Brainstormen zu möglichen Nachnutzungsideen sowie die Analyse funktionaler Möglichkeiten und raumplanerischer und baujuristischer Unmöglichkeiten.

„Aus architektonischer Sicht mag die Umnutzung alter Bauernhöfe sehr stimmig und reizvoll erscheinen, aber aus raumplanerischer Sicht muss man sich sehr genau ansehen, ob das Gebäude im Grünland oder in einem Siedlungsgebiet steht“, erklärte die Wiener Raumordnungsexpertin Gerlind Weber und brachte mit dieser Aussage die größte Krux leerstehender landwirtschaftlicher Betriebe auf den Punkt. „So hart das auch klingen mag, aber wo die nötige Infrastruktur nicht vorhanden ist, haben Wohnen, Tourismus und Gewerbe nichts verloren.“

Dass selbst die schwierigste Lage im Einzelfall zu interessantesten Ergebnissen führen kann, zeigten etwa der zu einem Apartmenthaus umgebaute Giatla-Hof in Innervillgraten, eine revitalisierte alte Hofkäserei in Südtirol oder ein ehemaliger Schweinestall am Münchner Stadtrand, der heute ein Kindergarten ist. Trostpflaster: Wenn die Lage nicht taugt, hilft im Notfall immer noch der Adresswechsel. Nicht wenige Bauernhöfe und Scheunengebäude wurden ab- und an anderer Stelle wieder neu aufgebaut. (woj)

Der Standard, Sa., 2017.10.21

14. Oktober 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Das Haus als mentales Kraftwerk

Vor kurzem wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit vergeben. Die fünf ausgezeichneten Projekte beweisen, dass die Symbiose von Baukultur und sozialen, technischen sowie ökologischen Überlegungen immer selbstverständlicher wird.

Vor kurzem wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit vergeben. Die fünf ausgezeichneten Projekte beweisen, dass die Symbiose von Baukultur und sozialen, technischen sowie ökologischen Überlegungen immer selbstverständlicher wird.

Angefangen hat alles mit der Suche nach neuen, größeren Räumlichkeiten fürs eigene Architekturbüro. Doch dann stieß der Salzburger Architekt Simon Speigner durch Zufall auf ein stillgelegtes Sägewerk am Ortsrand von Thalgau, für das schon seit den 1980er-Jahren eine Bewilligung zur Errichtung eines Kleinwasserkraftwerks bestand. Und so entwickelte sich das Immobilienprojekt zu einem interdisziplinären, umfassenden Energiecluster mit Bürohaus, Turbinenhaus und angrenzender Fischtreppe.

„Hätte ich inseriert, dass ich ein Grundstück suche, auf dem man neben einem Bürohaus auch ein Kraftwerk errichten darf, wäre die Suche gewiss erfolglos geblieben“, sagt Speigner (SPS Architekten). „Aber so fügte sich das eine zum anderen, und ich konnte das Projekt in Personalunion als Investor, Architekt und Nutzer realisieren.“ Entwickelt und errichtet wurde das Projekt mit Fördermitteln im Rahmen des Programms „Haus der Zukunft Plus“.

Hinter der schlichten Lärchenschindelfassade verbirgt sich ein warmes, wohnliches Arbeitsrefugium mit handelsüblichen OSB-Platten, innenliegenden Lehmputzwänden und baulich integrierter Wandheizung. Durch das eigene Wasserkraftwerk, das die nötige Energie für Heizung, Warmwasser und Elektroautos bereitstellt, und die ins Dach eingebettete Photovoltaikanlage erreicht das Haus Plusenergie-Standard. Der überschüssige Strom wird ins öffentliche Netz gespeist.

Letzte Woche wurde das dreigeschossige Experimentallabor namens oh456 – als eines von insgesamt fünf Projekten – mit dem Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Auslober des Preises, der heuer bereits zum fünften Mal vergeben wurde, ist das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft (BMLFUW).

Mehrfach nachhaltig

„Der biennal vergebene Preis richtet sich an gesamtheitlich geplante Bauwerke, die sich sowohl durch hochwertige Architektur als auch durch soziale, funktionale und vor allem ökologische Nachhaltigkeit auszeichnen“, sagt der Juryvorsitzende Roland Gnaiger, Professor an der Kunstuniversität Linz, im Gespräch mit dem Standard . „Der Fokus liegt auf der Symbiose von Baukultur und Technik. Es braucht die höchste Zustimmung von beiden Seiten.“

Unter den 76 Einreichungen finden sich Projekte aus ganz Österreich, wobei Wien, Tirol und Vorarlberg deutlich dominieren. Zum Teil schlägt sich die geografische Verteilung auch in den fünf Preisträgern nieder: Neben dem Bürohaus oh456 in Thalgau sind dies das Obdachlosenwohnheim Neunerhaus in Wien-Landstraße (Pool Architektur), die Sanierung des Gemeindeamts Zwischenwasser (Hein Architekten), die Erweiterung der Volksschule Edlach in Dornbirn (Dietrich Untertrifaller Architekten) sowie das Kultur- und Veranstaltungszentrum Montforthaus in Feldkirch aus der Feder des Berliner Büros Hascher Jehle und der Bludenzer Mitiska Wäger Architekten. Letztere drei Preisträger stammen allesamt aus dem Ländle.

Das für Vorarlberger Verhältnisse ungewöhnlich futuristische, organisch geschwungene Montforthaus vor den Toren der Feldkircher Altstadt besticht nicht nur in funktionaler und städtebaulicher Hinsicht, sondern überzeugte die sechsköpfige Jury vor allem durch seine inneren – weil haustechnischen – Werte. Das umfassende Nachhaltigkeitskonzept beinhaltet ein dichtes Paket an energie- und ressourcenschonenden Maßnahmen, ein eigenes Produkt- und Chemikalienmanagement sowie eine konsequente Abwärme- und Energierückgewinnung. So wird beispielsweise die Bremsenergie der Aufzüge in elektrische Energie umgewandelt und ins hauseigene Stromnetz gespeist.

Auch bei der Sanierung des Gemeindeamts Zwischenwasser spielten ökologische Überlegungen eine große Rolle: Die Energieversorgung kommt vom gemeindeeigenen Biomasseheizkraftwerk sowie von der Photovoltaikanlage auf dem Dach des benachbarten Kindergartens. Statt eines herkömmlichen Wärmedämmverbundsystems wurde das Gebäude innen mit Calziumsilikatplatten und Lehmputz verkleidet. Die Summe der ergriffenen Maßnahmen bescherte dem Projekt bei der Zertifizierung nach dem Vorarlberger Kommunalgebäudeausweis 980 von 1000 möglichen Punkten – die beste Bewertung, die ein Gebäude je erzielt hat.

Auch die Erweiterung der Volksschule in Edlach in Dornbirn erreichte dank Fernwärme, kontrollierter Lüftung mit Wärmerückgewinnung und eigener Photovoltaikanlage, die 22 Prozent des Energiebedarfs der Schule abdeckt, eine sehr hohe Punkteanzahl. Die Anreize im Ländle jedenfalls sind groß: Seit 2011 gibt es in Vorarlberg für kommunale Projekte, die in den Kategorien Prozess- und Planungsqualität, Energie und Versorgung, Gesundheit und Komfort sowie Baustoffe und Konstruktion mindestens 600 von 1000 Punkten erreichen, erhöhte Bedarfszuweisungen vom Land. Je besser der Wert, desto höher der Prozentsatz der Förderung.

Nicht zu vernachlässigen sind zudem die sozialen Aspekte: Während sich die Volksschule durch den Verzicht von Klassen und die Anordnung von Lernclustern auszeichnet, „die förmlich nach Bildungsreform schreien“, wie dies der Juryvorsitzende Roland Gnaiger formuliert, wartet das Neunerhaus in Wien mit insgesamt 73 Kleinstwohnungen auf, mit denen ehemalige Obdachlose wieder eine Starthilfe ins sogenannte normale Leben genießen können.

Ermutigung zur Nachahmung

„In den Anfangsjahren war es noch schwer, Projekte zu finden, die sowohl architektonisch als auch im Bereich der Nachhaltigkeit überzeugen konnten“, sagt Robert Lechner, Jurymitglied und Leiter des Österreichischen Ökologie-Instituts. „In seiner fünften Auflage jedoch hat der Staatspreis deutlich an Reife und Glaubwürdigkeit dazugewonnen. Die Projekte werden immer vielschichtiger und komplexer und leisten einen ernst zu nehmenden Beitrag zu Energieeffizienz und Klimaschutz.“ Da solle noch jemand sagen, dass es einen Widerspruch zwischen Architektur und Ökologie gebe, so Lechner.

Der Standard, Sa., 2017.10.14



verknüpfte Auszeichnungen
Staatspreis Architektur & Nachhaltigkeit 2017

23. September 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Neue Grätzelzellen für Grazer Grätzel

Am Donnerstag wurde der Science Tower eröffnet. Der 60 Meter hohe Büroturm versteht sich als Visitenkarte und Technologielabor für das Forschungsprojekt „Smart City Graz“, das hier bis 2024 realisiert werden soll.

Am Donnerstag wurde der Science Tower eröffnet. Der 60 Meter hohe Büroturm versteht sich als Visitenkarte und Technologielabor für das Forschungsprojekt „Smart City Graz“, das hier bis 2024 realisiert werden soll.

Auf dem Stundenplan stehen heute Englisch, Geschichte und Urban Smartness. Wie jede Woche lernen die Schüler dabei, wie Stadt funktioniert und wie die Zukunft der Stadt im Kontext von Mensch, Verkehr, Baukultur, Wirtschaft und Technologie geplant und optimiert werden kann. Was heute noch utopisch klingt und wie aus einer fernen Schulwelt anmutet, könnte bald Realität sein. Der erste Baustein des Forschungs- und Stadtverdichtungsprojekts „Smart City Graz“ wurde vorgestern feierlich eröffnet.

Unscheinbar und auch befremdlich technoid ragt der 60 Meter hohe Science Tower in den Grazer Himmel. „Der Science Tower ist mehr als nur ein klassischer Büroturm“, sagt der Architekt und Projektinitiator Markus Pernthaler. „Er ist in erster Linie ein Beispiel dafür, wie Architektur in Zukunft nicht nur Energie verbrauchen, sondern auch selbst produzieren kann. Wir haben das Haus mit den neuesten, derzeit am Markt erhältlichen Systemen und Technologien ausgestattet. Und ich kann mir gut vorstellen, dass wir das eine oder andere Detail in ein paar Jahren schon nachrüsten werden.“ Pernthaler sieht das Projekt als eine Art Labor in progress.

Und tatsächlich ist der Turm, der über Geothermie gespeist wird und weder über Heizkörper noch Klimageräte verfügt, die Summe von Innovationen und weltweiten Premieren. Es fängt bei der braun-orangen Glasfassade an, die sich wie ein Gruß aus den Siebzigerjahren um den Turm wickelt und gleich einem geblähten Segel nach oben ragt. Was auf den ersten Blick wie ein mäßig geglücktes Stilzitat anmutet, ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein kleines Kraftwerk, das in der Lage ist, mittels technisch nachgebildeter Fotosynthese Strom zu produzieren.

Im Gegensatz zu herkömmlicher Photovoltaik nämlich wird bei der sogenannten Grätzelzelle das Sonnenlicht nicht etwa über Silizium oder andere Halbleiter absorbiert, sondern über organische und synthetische Farbstoffe. Die von Michael Grätzel 1992 entwickelte und patentierte Technologie, die mit Chlorophyll, Hibiskusextrakten oder Brombeer-Anthocyanen betrieben wird, hat den Vorteil, dass sie auch bei geringem und indirektem Licht – und sogar unabhängig von der Einstrahlrichtung – funktioniert.

„Noch hat die Grätzelzelle einen sehr geringen Wirkungsgrad“, sagt Pernthaler und beziffert diesen mit sechs Prozent. „Aber früher oder später muss man mal anfangen, neue Technologien einzusetzen und empirische Alltagswerte zu sammeln, sonst findet Entwicklung niemals statt.“ Ursprünglich habe man die Grätzelzellen in den obersten Geschoßen des Turms grün färben, also mit Chlorophyll beschichten wollen, aber das wäre in diesen Dimensionen, in denen die Farbstoffsolarzelle übrigens erstmals zum Einsatz kommt, zu teuer gewesen.

Auch in den unteren Etagen hat der 16 Millionen Euro teure Science Tower, in dem unter anderem Forschungsbetriebe und Start-up-Unternehmen aus dem Bereich Green Technologies eingemietet sind, ein Novum zu bieten. Die vom steirischen Unternehmen SFL Technologies entwickelte, doppelschalige Glasfassade besteht aus hauchdünnen, chemisch gehärteten Gläsern. Durch das besondere Verfahren kann die Glasstärke auf zwei Millimeter (!) reduziert werden. Das entspricht der Stärke von 15 Blatt Papier. Der Strapazierfähigkeit und Belastbarkeit durch Wind und Wetter tut dies keinen Abbruch.

„Langfristig lassen sich auf diese Weise Tonnage, Konstruktionsmaterial und letztendlich auch Baukosten einsparen“, sagt Mario Müller, Geschäftsführer und Prokurist bei SFL Technologies. „Doch es geht nicht nur um Effizienz. Wir sehen den Turm vor allem als Forschungsprojekt, an dem wir unsere eigenen Entwicklungen ausprobieren können, und als Aushängeschild für die Smart City Graz, die hier in den kommenden Jahren errichtet werden soll.“

Bis 2024 soll die Smart City Graz, die sich auf mehr als 400 Hektar über die Bezirke Gries, Lend, Eggenberg und Wetzelsdorf erstreckt, in Zusammenarbeit mit privaten Investoren und öffentlicher Hand Stück für Stück realisiert werden. Geplant sind Wohnungen für mehr als 7000 Menschen, Büros, Schulen, Kindergärten und diverse Nahversorger im Bereich Gewerbe und Gastronomie. Mit sämtlichen Grundstückeigentümern wurde die Vereinbarung getroffen, dass 50 Prozent aller Umwidmungsgewinne in soziale und ökologische Nachhaltigkeit investiert werden müssen. Dieser Ansatz ist radikal. Und er beweist, dass die Privatwirtschaft auch ohne städtebauliche Verträge in die Verantwortung genommen werden kann, wenn es um die Errichtung und Finanzierung städtischer Infrastruktur geht.

Das Planungs- und Forschungskonsortium der Smart City besteht aus zwölf nationalen und internationalen Partnern unter der Führung der Stadt Graz. Neben Architekt Markus Pernthaler und SFL Technologies sind das Holding Graz, Energie Graz, Stadtlabor Graz, TU Graz, AVL und Eco World Styria. Das zu erwartende Investitionsvolumen beläuft sich auf 330 Millionen Euro. Gefördert wird das Mammutprojekt von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) und dem Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (bmvit) mit 4,2 Millionen Euro.

Über intelligente Städte und die Sinnhaftigkeit von dünnen Gläsern und bunten Solarzellen lässt sich streiten, keine Frage. Doch der hier gewählte Ansatz, das neue Grätzel als verwegenes Experimentallabor für künftige Technologien zu nutzen, ist überzeugender als viele andere Smart-City-Konzepte, die in den letzten Jahren gestartet wurden. All das, so der Plan, soll die kommende Generation hier eines Tages bereits im Schulunterricht vermittelt bekommen.

„Die drei Schwerpunkte der Smart City Graz sind Forschung und Entwicklung, Kunst und Kultur sowie der große Themenbereich der Education“, sagt Kai-Uwe Hoffer, Grazer Stadtbaudirektor und Projektleiter der Smart City Graz, im Gespräch mit dem STANDARD . „Unsere Vision ist ein Stadtquartier, in dem die Zukunft holistisch gedacht, ausprobiert und vermittelt werden kann. Dazu gehört auch Urban Smartness auf dem Stundenplan.“

Der Standard, Sa., 2017.09.23



verknüpfte Bauwerke
Science Tower Smart City Graz

09. September 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Tom Turbo und die Welt der Wunder

Nach drei Monaten schließt die Expo 2017 ihre Pforten. Angedacht war ein weltumspannender Dialog über einen nachhaltigeren Umgang mit Energie. Das Resultat ist zum Schämen. Österreich aber ist ein fröhlicher Lichtblick.

Nach drei Monaten schließt die Expo 2017 ihre Pforten. Angedacht war ein weltumspannender Dialog über einen nachhaltigeren Umgang mit Energie. Das Resultat ist zum Schämen. Österreich aber ist ein fröhlicher Lichtblick.

Der kleine Zhomart ist begeistert. Die nicht mehr ganz so junge Benazir ebenso. Wie von der Tarantel gestochen treten die beiden in die Pedale und erzeugen auf diese Weise, so lernt man im österreichischen Pavillon, bis zu 100 Watt Leistung. Je schneller die beiden radeln, desto mehr lösen sich die Pixel auf den Bildschirmen vis-à-vis in immer feinere Kristalle auf, bis sie sich schließlich – die ersten Schweißperlen stehen bereits auf der Stirn – zu einem klaren, scharfen Bild aus der Kaiserschmarrnküche fügen. Willkommen auf der Expo 2017 in Astana, die morgen, Sonntag, nach insgesamt drei Monaten zu Ende geht.

„Über Energie ist schon vieles gesagt worden, und wenn 140 Länder und Organisationen sich zu diesem Thema äußern, dann kann man davon ausgehen, dass viele Kommentare sehr ähnlich ausfallen werden“, sagt Johann Moser, Partner bei BWM Architekten. „Gerade auf einer Weltausstellung, auf der sich alles um Hightech und Innovation dreht und auf der man von Zahlen und Informationen erschlagen wird, wollten wir mit Überraschung und positivem Schock arbeiten. Also haben wir beschlossen, uns der Energie spielerisch anzunehmen.“

Unter dem Titel Mit Hirn, Herz & Muskelkraft bauten die BWM Architekten ein hallenfüllendes Fitnesscenter oder, wie Moser meint, ein „bewegungs- und geräuschintensives Energietheater“. Als Vorbild diente die sogenannte Weltmaschine, an der der steirische Bauer Franz Gsellmann die letzten 23 Jahre seines Lebens bastelte. Im Fokus, so Moser, stehe die Produktion von Freude und Energie und nicht so sehr eine unmittelbare Sinnhaftigkeit, wie man dies von Maschinen sonst kenne.

Und so gibt es neben den schweißtreibenden Fahrrädern eine ganze Batterie an Zugseilen und Wippschaukeln, mit denen man allerhand Materie bewegt: Riesenräder mit Schwarzenegger, Stephansdom und glücklichen Lipizzanern, dutzende Windräder und jede Menge Luftpumpen, die über Schläuche und Orgelpfeifen Musik in den unterschiedlichsten Tönen erzeugen. Eingepackt ist die ganze Maschinerie, die ein bisschen an Thomas Brezinas Wunderfahrrad Tom Turbo erinnert, in bunte Bilder und quietschgrelle Neonfarben. Die perfekte Kakocollage.

„Man kann nicht von jedem Expo-Besucher erwarten, dass er über Österreich bestens Bescheid weiß“, erklärt Rudolf Ruzicka, Expo-Projektleiter in der Wirtschaftskammer Österreich (WKO). „Daher fangen wir bei null an, und somit auch bei ein paar Klischeebildern, die vielleicht jeder kennt.“ Sinn und Zweck sei es, Österreich als innovatives, querdenkendes Land zu positionieren und den Leuten zu vermitteln, dass die allererste Veränderung und Energieoptimierung nicht in einer neuen Technologie, sondern bei uns selbst liege. „Wenn wir auf diese Weise in Erinnerung bleiben, dann ist schon ein großer Teil unseres Auftrags erfüllt“, so Ruzicka.

Loblied auf Wind und Sonne

Und das ist schon mehr, als man von der gesamten Expo behaupten kann. Das heurige Motto „Future Energy. Action for Global Sustainability“, mit dem sich die kasachische Hauptstadt als Austragungsort der Weltausstellung beworben hatte, wäre eine Riesenchance gewesen, sich fundamentalen Fragestellungen zu widmen, die bisherige Energiekultur kritisch zu beleuchten und mögliche Modelle für eine planetenfreundliche Zukunft zu diskutieren. Doch so weit sollte es nicht kommen.

Stattdessen rühmen sich die 114 teilnehmenden Länder in besten Superlativen, präsentieren sich als Hochburg nachhaltiger Energieproduktion, frönen dem heutigen Technikstand in Sachen Wind- und Sonnenkraft und deklinieren fröhlich die Mythen der Ersten Welt auf und ab. Deutschland machte einen auf „Wir wissen, wie’s geht“, Tschechien bietet Einblick in seine Kraftwerke und Pumpenindustrie, Italien gedenkt seines Batterieerfinders Alessandro Volta, Iran, Türkei und Turkmenistan rühren die Werbetrommel für ihre Kraftwerksanlagen, Aserbaidschan stellt Modelle seiner Bohrinseln aus, und Saudi-Arabien holt seine behaupteten Schwerpunkte Bildung, Forschung und Entwicklung vor den Vorhang.

Richtig infam wird es, wenn der bisweilen ahnungslose Expo-Besucher als Marionette der Bau- und Energieindustrie instrumentalisiert wird. Etwa in Monaco, das zuerst einen wunderbar gemachten Film über die so perfekte Koexistenz von Festland und Mittelmeer herzeigt, nur um den solcherart mit fliegenden Walen und Mantarochen eingelullten Besucher gleich im Anschluss für die Pläne des drei Hektar großen Landgewinnungsprojekts „Anse du Partier“ empfänglich zu machen, für das ein großer Teil der Meeresfauna und -flora umgesiedelt werden muss. Auch Frankreich lässt keine Unappetitlichkeit aus und bietet seinen Hauptsponsoren Peugeot, Total und Saint-Gobain eine aufwendig gemachte und konkurrenzlos großartige Werbeplattform.

Doch das alles ist nichts im Vergleich zu China und Russland. Das Reich der Mitte drückt auf die Tränendrüse und lässt auf der Leinwand eine Mutter sterben, um sie wenig später mit der Kraft des Atomkerns wieder zu reanimieren. Und Putinland füllt seinen Pavillon mit einer riesengroßen Kugel, die dank Lichtprojektionen zwischen Erdball und Atömchen oszilliert, und bläst die Fanfare für seine ganz und gar klima- und umweltverträgliche, nuklearbetriebene Eisbrecherflotte. Es ist zum Schämen und zum Heulen.

Viele, viele Lebensbäume

Des Horrors gäbe es noch viel zu zitieren. Da tut es schon mal gut, wenn man die schönen, subtil gestalteten Pavillons von Großbritannien, Israel und der Schweiz betritt oder sich alternativ in Ungarn, Vietnam und Malaysia an den zwar naiv, wiewohl friedvoll inszenierten „Lebensbäumen“ ergötzt. Oder man macht es gleich wie Afrika und Lateinamerika und lockt die Besucher mit einem touristischen Bazar voller Masken, Figuren und Kokosnussöl.

Ilya Urazakov jedenfalls, seines Zeichens International Participiants Department Director der Expo, ist mit der globalen Nabelschau zufrieden. Im Gespräch mit dem Standard erklärt er: „Mit 3,8 Millionen Besuchern in drei Monaten, davon 17 Prozent aus dem Ausland, wurden all unsere Erwartungen übererfüllt. Das Echo war sehr positiv, und ich denke, wir haben viel Publikum für das Thema Energie sensibilisieren können.“

Größenwahn und Muskelkraft

Rund vier Milliarden Euro hat sich Kasachstan die Expo kosten lassen. Ein Großteil davon fließt in die Bebauung des 170 Hektar großen Areals, das bis vor drei Jahren noch Steppe war. Die 80 Meter große Kugel, die als kasachischer Pavillon diente und als größte Glaskugel der Welt gilt, soll als Energiemuseum erhalten bleiben. An der Errichtung war auch das österreichische Photovoltaik-Unternehmen Ertex Solar beteiligt. Alle anderen Pavillons sollen zum Teil an die Nasarbajew-Universität übergeben und zum Teil als Center of Green Technologies sowie als internationales Finanzzentrum genutzt werden.

Die Pläne sind ambitioniert und setzen fort, was die Expo vorexerziert hat: Größenwahn und Muskelkraft. Chancen für einen seriösen Dialog mit der Welt hätte es viele gegeben. Österreichs Denkeinladung, in Zukunft mehr Herz und mehr Hirn einzusetzen, kommt wie gerufen.

Der Standard, Sa., 2017.09.09

02. September 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Ahnung von Planung ohne Widerhall

Bei den Alpbacher Baukulturgesprächen sprach man über Weltkulturerbe, Baurecht und Digitalisierung

Bei den Alpbacher Baukulturgesprächen sprach man über Weltkulturerbe, Baurecht und Digitalisierung

„Nairobi ist eine riesige Stadt, hat aber ein kaum funktionierendes öffentliches Verkehrsnetz“, sagte der philippinisch-amerikanische Stadtplaner Benjamin de la Peña. „Aus diesem Grund haben wir die informellen Busse und Taxis, die sogenannten Matatus, vor einigen Jahren digital vernetzt.“ Unter dem Titel Digital Matatu können sich Stadtbewohner und Touristen ein Bild davon machen, auf welchen Routen die Matatus verkehren und wo sich die inoffiziellen Haltestellen befinden.

„Schön und gut“, meinte Adam Greenfield, seines Zeichens Stadtforscher und Autor des Pamphlets Against the Smart City, „aber durch die Registrierung im Netz befinden sich nun sämtliche Matatu-Fahrer auf dem Radar von Steuerbehörde und korrupter Polizei. Das erschwert das Leben einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Der technische Fortschritt hat seinen Preis. Er macht die einen glücklich auf Kosten der anderen.“

Kontroversielle Debatte war das heuer gewählte Format der Alpbacher Baukulturgespräche, die am Freitag zu Ende gingen und traditionellerweise das Europäische Forum Alpbach abschlossen. Unter dem Generaltitel Konflikt und Kooperation diskutierten Befürworter und Gegner über die Sonnen- und Schattenseiten der urbanen Digitalisierung sowie über den Umgang mit Bauvorschriften, Weltkulturerbe und dem immer knapper werdenden Grund und Boden.

„Wir reden immer von Stadtplanung“, sagte Architekt Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au. „Aber dieser Begriff beinhaltet einen fundamentalen Fehler. Er implementiert, dass Planung immer etwas mit Ahnung zu tun hat. In Wahrheit aber haben wir heute viel zu wenig Vorstellung davon, wie wir morgen wohnen und leben wollen.“ Um das herauszufinden, brauche es mehr Mut. Herwig Spiegl (AWG Architekten) plädierte für „mehr Experimente jenseits der Norm. Doch leider sind wir in einer Zeit angelangt, da keine Fehler und Misserfolge mehr geduldet werden.“

Was kontroversiell begonnen hatte, führte nach zwei Tagen zu einem überraschenden Konsens. Die Diskutanten waren sich darin einig, dass es dringend einer neuen Gesprächskultur und Vernetzungsbereitschaft bedarf. Es sei quasi unmöglich, Architekten, Stadtplaner, Forscher, Projektentwickler, Investoren und Politik an einen Tisch zu bekommen. Die Baukulturgespräche waren symptomatisch dafür. Die Entscheider und Gesetzgeber konzentrierten sich auf die Wirtschafts- und Finanzgespräche und blieben – bis auf wenige Ausnahmen – auch heuer wieder der Baukultur fern. Da kann man sich den Mund fusselig reden. Wenn die Verantwortlichen fehlen, verpufft jeder noch so wertvolle Konsens ohne Widerhall über den Tiroler Alpen.

Der Standard, Sa., 2017.09.02

26. August 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Stadt der Angsträume

Nach dem terroristischen Anschlag in Barcelona letzte Woche stellt sich die Frage: Welche Auswirkungen haben Angst und Gewalt auf die Zukunft unserer Städte? Wird der Terror zum Architekten?

Nach dem terroristischen Anschlag in Barcelona letzte Woche stellt sich die Frage: Welche Auswirkungen haben Angst und Gewalt auf die Zukunft unserer Städte? Wird der Terror zum Architekten?

Vor rund einer Woche fuhr ein Attentäter mit einem Lieferwagen über die Fußgängerzone La Rambla und tötete dabei 13 Menschen. Mindestens 119 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Es ist nicht der erste Terroranschlag seiner Art. Auch in Nizza und Berlin raste ein Lkw in eine mal sommerlich ausgelassen, mal weihnachtlich beschaulich feiernde Menschenmenge. Hinzu kommen Terrorattacken in Paris, Brüssel, Stockholm, London, Manchester und Istanbul. Am vorläufigen Ende dieser zwei Jahre dauernden Anschlagserie stellt sich die Frage: Wie können Architekten und Stadtplanerinnen darauf reagieren? Und welche Spuren werden Angst und Terror in der europäischen Stadt langfristig hinterlassen haben?

„Die meisten Städte sind auf die neuen urbanen Terrorangriffe kaum vorbereitet“, sagt Jon Coaffee, Professor für urbane Geografie und Leiter des Resilient Cities Laboratory an der University of Warwick, im Gespräch mit dem STANDARD . „Und das, obwohl der IS schon vor über einem Jahr Leitlinien zum Töten mit Autos und Trucks veröffentlicht hat. Da hilft es auch nicht, die Security an den großen öffentlichen Plätzen zu verstärken. Damit kann man bestenfalls ein, zwei hochfrequentierte Orte einer Stadt sichern. Doch was ist mit dem Rest?“

Die meisten Anschlagsorte werden unmittelbar nach dem Unglück mit Betonblöcken und diversen massiven Rammschutzpollern umzingelt. Meistens, so sind sich Experten einig, ist dies eine vor allem politische Maßnahme, um die Menschen zu beruhigen und das subjektive Sicherheitsempfinden in der Stadt zu stärken. „Kein Terrorist wird am gleichen Ort ein zweites Mal zuschlagen“, so Coaffee, „aber zugleich wird auch keine Stadtregierung diese Garantie abgeben und das Risiko einer ängstlichen und wütenden Bevölkerung auf sich nehmen wollen.“

Die Folge: Immer mehr öffentliche Räume in der Stadt werden mit sichtbaren, tonnenschweren Schutzmaßnahmen umzingelt. Zur „Hostile Vehicle Mitigation“ (HVM), so der Fachausdruck, zählen sogenannte Bremerwände, Jersey-Walls und Texas-Barriers, mobile und immobile Stahlpoller sowie ausfahrbare Rampen, Platten und Nagelsperren. Immer mehr private Anbieter bieten die Antiterrorpoller auch für den Privatbereich an und garantieren, damit einen Lkw mit bis zu 50 km/h aufhalten zu können. Ab 3000 Euro pro Stück ist man mit dabei.

„Ich halte die allmähliche Verpollerung und Betonverkübelung der Stadt für höchst zweischneidig“, erklärt Coaffee. „Einerseits fühlen sich manche Menschen dadurch zwar gut aufgehoben, andererseits aber schrecken mindestens genauso viele Menschen vor diesen Maßnahmen zurück, weil sie damit Angst und Terror assoziieren. Ganz generell stellt sich die Frage, die nicht nur technisch und politisch, sondern auch stadtpsychologisch und gesamtgesellschaftlich beantwortet gehört: Wollen wir wirklich, dass das die Zukunft der westlichen Stadt ist?“

Möbel gegen den Terror

Für die Antiterrorgestaltung auf der Wall Street in New York City – längst haben sich in Fachkreisen die Begriffe „Counterterrorism“ und CPTED („Crime Prevention through Environmental Design“) etabliert – hat das lokale Büro Rogers Partners Architects and Urban Designers eine etwas elegantere Tarnung in Form von kubischen Bronzeskulpturen vorgeschlagen (Foto links) . Die gute Nachricht: Die multifunktionalen Stadtmöbel werden von Brokern und Touristen zum Sitzen, Lehnen und Picknicken verwendet. Die schlechte Nachricht: Ihre primäre Counterterrorism-Funktion vermögen die windschiefen Würfel trotzdem nicht zu verbergen.

Dass es auch anders geht, beweist ein Projekt in Paris: Im Herbst starten die Bauarbeiten für die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Eiffelturm. Entlang der Verkehrsachsen wird der österreichische Architekt Dietmar Feichtinger, der aus einem Wettbewerb als Sieger hervorgegangen ist, Stahlpoller und 200 Meter lange, transparente Wände aus schusssicherem Panzerglas aufstellen. Ein Eingriff in die Aura der Eisernen Dame ist das 20 Millionen Euro teure Projekt, das bis Sommer nächsten Jahres abgeschlossen sein soll, dennoch.

„Tatsache ist: Wir müssen uns dem Terror stellen und darauf auf architektonischer und stadtplanerischer Ebene reagieren, denn diese Attacken werden so bald nicht verschwinden“, sagt Daveed Gartenstein-Ross, Professor an der Georgetown University in Washington D.C. und Terroranalyst der Foundation for Defense of Democracies, im Interview mit dem STANDARD . „Mehr noch: Die Terrorangriffe nehmen nicht nur in der Häufigkeit zu, sondern auch in der Brutalität und Unvorhersehbarkeit.“

Als einzig mögliche Antwort darauf nennt Gartenstein-Ross den Begriff „Crisis Architecture“, also eine Architektur, die zwar dem Terrorismus geschuldet ist, sich aber ohne Stacheldraht und Nagelsperren harmonisch ins Stadtbild fügt. Prominentestes Beispiel dafür ist der sich derzeit in Bau befindliche Neubau der US-Botschaft in London (Visualisierung rechts) . Dass sich hinter dem von Kieran Timberlake Architects geplanten Projekt ein noch nie dagewesener Sicherheitsbunker verbirgt, ist dem Haus kaum anzumerken.

Nach dem Vorbild von mittelalterlichen Burgen steht das zwölfstöckige Gebäude auf einem leicht erhabenen Hügel, der rundum von Teichen und Wassergräben umgeben ist. Um hohe Zufahrtsgeschwindigkeiten zu vermeiden, sind sämtliche Wege und Straßen spiralförmig angelegt. Hinzu kommen diverse Geländesprünge, als Sitzbank getarnte Barrieren sowie mit Stahlseilen bespannte Büsche und Hecken. Die 15 (!) Zentimeter dicken Fassadengläser können sogar Schussbomben standhalten.

„Das ist ein gutes Beispiel für „Crisis Architecture“, die ihr Potenzial keineswegs in Form von Pollern und Barrieren mächtig nach außen kehrt“, meint Gartenstein-Ross. „Das ist ein holistischer Ansatz, wie wir unsere Städte auf stadtplanerischer Ebene ertüchtigen können, ohne sie dabei gleichzeitig zu brutalisieren. Wir befinden uns heute in einer Situation, in der solche Maßnahmen unerlässlich sind. Leider.“

Soll Barcelona London werden?

Die City of London ist seit vielen Jahren von einem hochkontrollierten „Ring of Steel“ umgeben. Das Stadtgebiet Greater London ist mit 500.000 Videokameras das am dichtesten bewachte Flächengebiet der Welt. Und schon heute bezeichnen viele Fachleute die Stadt an der Themse als „Fortress of London“. Die neue US-Botschaft als Pionierprojekt und womöglich normatives Best-Practice-Beispiel fügt sich perfekt in diese längst reale Paranoiopolis. Ist London die neue Vorzeigestadt für Nizza, Berlin und Barcelona?

„Architektur ist der Wille einer Epoche, ausgedrückt in Raum“, hat Ludwig Mies van der Rohe einmal gesagt. Die Frage, ob und inwiefern wir den Terror zum Planer unserer Städte ermächtigen wollen, ist noch nicht beantwortet.

Der Standard, Sa., 2017.08.26

12. August 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Der Turmbau zu Babel

Mitten in den Schweizer Alpen steht ein 30 Meter hoher Theaterturm. Der blutrote Wahnsinnsbau zählt zu den ungewöhnlichsten Projekten der letzten Jahre.

Mitten in den Schweizer Alpen steht ein 30 Meter hoher Theaterturm. Der blutrote Wahnsinnsbau zählt zu den ungewöhnlichsten Projekten der letzten Jahre.

Ich bin der Sieg, ich bin der Sieg, ich bin der Held im Todesritt“, heißt es. „Und dann ging die Sonne hinab, und der Himmel wurde rot wie Blut, und der Himmel verschwand.“ Die zeitgenössische Oper Apocalypse des Schweizer Komponisten Gion Antoni Derungs handelt von Hunger, Krieg und Tod, vom Fall Babylons, vom infernalen Untergang der Welt. Eindringlich prasseln die Noten aufs Trommelfell, sperrig klingen die mal deutschen, mal lateinischen, mal rätoromanischen Worte. „Noli timere! Und die Trümmer der Stadt krachten in sich zusammen.“

Besser hätte man Ort und Oper nicht zusammenbringen können. Schon die Eröffnungspremiere vor einer Woche brachte die Potenziale dieses so unwirklich wirkenden Theaters an das sich langsam zu Ende neigende Tageslicht. Und es ist mitnichten Zufall, dass Text und Zeit fast auf die Minute genau aufeinander abgestimmt waren. Und der Himmel wurde rot wie Blut, nicht nur drüben in Mesopotamien, sondern auch hüben in den Schweizer Bergen, am Julierpass auf 2284 Meter Seehöhe.

Der Postbus kämpft sich mit 30 km/h die Kehren hoch, mit jeder Kurve wird die Luft kühler und die Landschaft karger, und spätestens, als man nach zwanzig Minuten die Baumgrenze passiert, kann man sich kaum noch vorstellen, dass in diesem gottverlassenen Hochland jemals Heidi über Stock und Stein gehüpft sein soll. Sils, Surlej, Silvaplana und das Millionärsstädtchen St. Moritz sind längst hinter den Bergen verschwunden, als am Horizont plötzlich ein ochsenblutroter Turm auftaucht.

Abweisend. Bedrohlich. Geheimnisvoll. Und von so einer ruhigen, minimalistischen Ästhetik gezeichnet, wie sie nur die Schweizer beherrschen. Nicht von ungefähr erinnert das 30 Meter hohe Objekt mit seinen übereinanderliegenden Rundbogenfenstern an den Turmbau zu Babel. Und als wäre das alles nicht schon genug der schauderhaften Mystik, muss man, als man endlich am Tor angekommen ist und kopfüber in den Himmel hochblickt, an den schwarzen Monolithen denken, der dereinst im Kino-Epos 2001: Odyssee im Weltraum den Affen zum Affen machte.

Mit einem Knarren öffnet sich die Tür. Der tiefrote Pinselstrich ist in der Holzoberfläche noch deutlich zu erkennen. Ein wenig braucht das Auge, um sich an die Enge des Innenraums zu gewöhnen. Nach wenigen Sekunden offenbart sich ein zehneckiges Panoptikum mit Nischen und Bogenfenstern hinaus in die Welt. In der Mitte ist ein großes, leeres Nichts, in dem eine kreisrunde Plattform von der Decke hängt. Während der Vorstellungen kann die mobile Bühne mittels Kettenzugs wie ein Lift auf und ab fahren. Die Ähnlichkeit zum elisabethanischen Globe Theatre in London ist nicht von der Hand zu weisen. Bis zu 220 Personen fasst der Saal.

„In jedem anderen Theaterhaus ist man von der Welt abgeschirmt, und zwischen Publikum und Fiktionsraum hängt ein Vorhang, der das Geschehen noch ferner abrückt und noch distanzierter erscheinen lässt“, sagt Giovanni Netzer. „Doch hier verschmelzen Bühne, Kulisse und Landschaft zu einem grenzenlosen Ganzen. Dieser Raum ist alles andere als ein Guckkasten, alles andere als eine Blackbox. Es ist ein Ort, an dem wir üben können, uns den Naturgewalten zu fügen und mit ihnen zu arbeiten.“

Archaische Themen

Netzer ist Intendant des 2005 gegründeten Theaterfestivals Origen. Wie der Name schon sagt, hat man sich zur Aufgabe gemacht, die darstellenden Künste in ihrer Ursprünglichkeit auf die Bühne zu bringen. Gezeigt werden traditionelle Formate aus dem Engadin, regionale Ressourcen aus den Bereichen Oper, Tanz und Theater, aber auch archaische Themen aus der Historie – mit Vorliebe gregorianische Gesänge, Parabeln über die sieben Todsünden, Apokalyptisches aus dem Alten Testament.

„Ich habe Theologie studiert und kann meine Wurzeln nicht leugnen“, sagt der 50-Jährige. „Doch auch ohne diesen Hintergrund wird man hier oben in den Bergen, an diesem so geschichtsträchtigen Julierpass, über den einst die Seidenstraße verlief und an dem heute noch verschiedene Sprach- und Kulturkreise aufeinanderprallen, einer höheren Gewalt gewahr. Hier kann man über das eigene Leben und die Ewigkeit der Steine nachdenken. In den Städten hat man dafür keine Zeit.“

Doch wozu braucht man inmitten dieser wie auch immer gearteten, weltlichen oder geistlichen Gewalten überhaupt Architektur? „Der Julierturm ist weniger ein Haus als vielmehr ein Bühnenbild, das die Funktionen Bühne, Kulisse und Zuschauerraum in sich vereint“, widerspricht der Gesamtkünstler, der in diesem Projekt höchstselbst in die Rolle des Architekten schlüpfte und sich dem Entwurf in hunderten Skizzen und 80 verschiedenen Kartonmodellen näherte. Wie jedes Schaustück ist auch dieses nur ein temporäres. Nach vier Jahren soll der Julierturm, der auf einem bereits bestehenden Parkplatz neben dem Bergsee errichtet wurde und sich als höchstgelegenes Opernhaus Europas rühmt, abgebaut und das Grundstück wieder renaturiert werden.

„Nichts ist ewig. Nicht auf der Bühne. Und schon gar nicht hier oben in den Bergen, wo der Winter brutal hart ist und der Wind mit bis zu 250 km/h über den Pass fegt“, sagt Netzer. „Der Turm wird so unvollendet bleiben wie jener in Babylon. Denn wenn man hier oben Theater macht, dann muss man auch akzeptieren, dass am Ende die Naturgewalten siegen werden.“ Schon bald, hofft der Theatermacher, wird die ochsenblutrote Lasur die erste Patina angelegt haben. Und tatsächlich ist die Konstruktion nicht für die Ewigkeit bestimmt: Der Graubündner Bauingenieur Walter Bieler baute nach den Plänen Netzers eine einschalige Konstruktion aus zwölf Zentimeter dickem Brettschichtholz, die mittels 28.000 Schrauben zusammengehalten wird. Die einzelnen Module wurden mittels Schwertransporter auf den Pass hochgefahren. Die den Himmel und das Gesteinsmassiv reflektierenden Glasscheiben wurden per Autokran an Ort und Stelle eingehängt. Der Rest ist ein Langzeitprovisorium.

Vier Wochen hat die Bauzeit gedauert – von der Fundamentplatte bis zum letzten Scheinwerfer. Ein paar Details wie etwa Aufzug, Heizung und Bühnentechnik werden sich noch bis in den Herbst ziehen. In Summe wird der Julierturm, der sich ausschließlich über Firmensponsoring, Privatspenden und gestiftete Sitzplätze und Fensterlogen finanziert, drei Millionen Schweizer Franken (2,6 Millionen Euro) gekostet haben. „Ego sum alpha et omega, principium et finis“, heißt es am Ende der Apocalypse. Diesen Wahnsinn muss man gesehen haben.

Der Julierturm wird ganzjährig bespielt. Um den Individualverkehr einzudämmen, ist der Besuch der Aufführungen ausschließlich mit Shuttlebus oder öffentlichem Postbusverkehr möglich. Routen ab Chur und St. Moritz. Die Fahrt ist im Eintrittspreis inbegriffen.

Der Standard, Sa., 2017.08.12



verknüpfte Bauwerke
Julierturm

29. Juli 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Reden, retten, reparieren

Auf dem ehemaligen Nordbahnhofareal in Wien sollen Stadtplanung und Stadtentwicklung neu gedacht werden. Die Ausstellung „Care + Repair“ macht konkrete Vorschläge, wie das gehen könnte.

Auf dem ehemaligen Nordbahnhofareal in Wien sollen Stadtplanung und Stadtentwicklung neu gedacht werden. Die Ausstellung „Care + Repair“ macht konkrete Vorschläge, wie das gehen könnte.

Die Wechselkröte ist ein nicht sonderlich hübscher Lurch in militanter Tarnoptik. Doch Bufo viridis hat ein Ass im Schenkel. Das zehn Zentimeter große Tier, eine von rund 700 geschützten, in Wien beheimateten Arten, ist ein regelrechter Baustopper. Schon einmal sorgte es auf den ehemaligen Nordbahnhofgründen, nachdem es sich auf dem sandigen und erdigen Areal bequem gemacht hatte, für eine monatelange Bauverzögerung. Das freute zwar die Naturschützer, mitnichten aber die Baggerfahrer und Bauträgerkonsortien, die hier bis 2025 rund 4500 Wohnungen errichtet wollen.

Wenn das Architekturzentrum Wien (AzW) nun seinen Heimatstandort im Muqua verlässt und in die Leopoldstadt ausrückt, um in der Nordbahnhalle die interaktive Ausstellung Care+Repair zu präsentieren, dann kann das durchaus auch als Rettungsaktion für Quaxi und Konsorten verstanden werden. Sechs Wochen dauert die Aktion, an der sich lokale und internationale Künstler und Architekten beteiligen und in die auch so mancher Bewohner des benachbarten Robert-Uhlir-Hofs miteinbezogen wurde.

„Die produktive Stadt braucht auch etwas Reproduktives“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des AzW. Gemeinsam mit der Wiener Kunsttheoretikerin Elke Krasny kuratierte sie die stetig wachsende Ausstellung, die sie selbst als „Arbeitslabor“ bezeichnet und die nun im Rahmen der Vienna Biennale 2017 und des dreijährigen Forschungsprojekts „Mischung: Nordbahnhof“ zu sehen ist. „In den Politik- und Sozialwissenschaften beschäftigt man sich schon seit langer Zeit mit der Pflege, Reinigung und Reparatur des Bestandes. Im Urbanismus jedoch ist diese Idee noch ziemlich neu.“

Oder, wie Co-Kuratorin Krasny meint: „Üblicherweise baut man die Stadt der Zukunft, indem man zunächst all das zerstört, was schon da ist. Wie schon in der Moderne machen wir Tabula rasa, ohne soziale, kulturelle, materielle, ökologische oder wie auch immer geartete Ressourcen zu berücksichtigen.“

Care+Repair, so der Anspruch, macht sich auf die Suche nach jenem unbezahlbaren Schatz namens Geschichte und Identität, der in der Regel von Baggern und Bulldozern zu Tode planiert wird, sobald der Natur wieder einmal ein Stückchen Land abgerungen wird. Architekten, Stadtplaner, Künstler, Kulturtheoretiker, Biologen, Ornithologen, Schriftsteller und Forscher zogen gemeinsam durch die Büsche, spazierten über Gleise und stillgelegte Kohlerutschen und ließen sich in Tunnels, Unterführungen und aufgelassenen Bahnwärterhäuschen nieder, um das Areal des ehemaligen Nordbahnhofs zu erforschen und sich mit seinen dokumentierten und auch undokumentierten Potenzialen vertraut zu machen.

Zissis Kotionis und Phoebe Giannisi aus Volos (Griechenland) studierten die Sprache der Vögel und führten einen ornithologischen Dialog zwischen Federvieh und Aristophanes auf. Cristian Stefanescu reaktivierte eine der Gleisunterführungen und veranstaltete in der sogenannten Zukunfts-Kwizin einen Galabrunch für Anrainer, Migranten und Kulturschaffende. Meike Schalk aus Stockholm konzentrierte sich auf das Thema Gemeinschaftsräume und fragte sich gemeinsam mit den Bewohnern des Robert-Uhlir-Hofs, warum diese so selten angenommen werden. Und Rosario Talevi von der Urban School Ruhr (USR) suchte vor Ort nach bereits bestehenden baulichen Manifestationen von Stadtraum, Infrastruktur und Bühne.

Das vielleicht interessanteste, weil auch zum jetzigen Zeitpunkt greifbarste Projekt stammt vom Brüsseler Büro Rotor. Das interdisziplinäre Kollektiv zog mit Kalkfarbe eine weiße Linie durch die Landschaft und definierte so die künftige Grenze zwischen urbanem Wohnbiotop und unberührter Natur. Und es ist kein Zufall, dass das solcherart markierte Areal mit der sogenannten „Freien Mitte“ zusammenfällt, wie sie im aktuellen städtebaulichen Masterplan von Studio Vlay vorgesehen ist. Innerhalb dieser zwölf Hektar großen „Freien Mitte“, so der Plan, soll die Gstätten Gstätten bleiben dürfen. „Non-Design-Park“ nennt sich das im Fachjargon.

Zudem begab sich Rotor auf Recherche- und Forschungsexpedition durch den österreichischen Osten – zu Altholzhändlern, Pflastersteinfriedhöfen und nostalgisch veranlagten Baustoffsammlern, in deren Lagerhallen Schätze aus Abbruchhäusern der letzten hundert Jahre schlummern. Das Resultat dieser Suche ist eine mehrere tausend Quadratmeter große Sammlung an Parkettholz, Granitplatten und handkolorierten Zementfliesen von anno dazumal, die zu neuem Leben erweckt werden sollen.

„Unser Projektansatz beschäftigt sich sehr stark mit der urbanen Entropie“, sagt Renaud Haerlingen, Mastermind bei Rotor, „mit der Ungleichheit zwischen Alt und Neu, zwischen Groß und Klein, zwischen System und Singularität. Daher haben wir uns bewusst damit beschäftigt, wie wir wieder das Alte, das Kleinteilige, das Unverwechselbare ins Bauen zurückbringen können. Alte, bereits verwendete Baustoffe haben bereits Geschichte und Identität. Im reinen Neubau ist so eine Qualität kaum zu erzielen.“

Die Sammlung ist ein erster Schritt. Damit weiterzuarbeiten, meint Haerlingen, wäre ein absolutes Umdenken in der gesamten Architektur- und Baubranche. Eine Möglichkeit wäre, die Bauträgerwettbewerbe im Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhof zu nutzen und die Reusing- und Recyclingansätze in der Ausschreibung zu verankern. Eine andere, weitaus realistischere Variante wird sein, Architekten und Bauträger an einen Tisch zu setzen und mit ihnen eine neue Baustoffkultur auszuhandeln.

„Das sind wunderschöne Ansätze, die unserer Planung sehr entgegenkommen“, meint Lina Streeruwitz auf Anfrage des Standard. Gemeinsam mit dem Stadtplaner Bernd Vlay erstellte sie 2012 den ungewöhnlichen Nordbahnhofmasterplan mit dem Nichts in der Mitte. „Dass wir dafür plädieren, zwölf Hektar Land so zu belassen, wie sie sind und mit alten Baustoffen zu arbeiten, hat nicht nur romantische Gründe. Das ist auch billiger und ressourcenschonender.“ Damit werde viel Budget frei, das man andernorts besser und sinnvoller nutzen könne.

„Es ist so naheliegend, und trotzdem bedarf es irrsinnig viel Anstrengung von allen Seiten, um alte, festgefahrene Gewohnheiten der Stadtentwicklung zu überdenken“, sagt Streeruwitz. „So viel Energie, nur, um das zu retten, was schon da ist. Ist das nicht eigenartig?“ So gesehen ist Care+Repair nicht zuletzt auch ein Reparaturappell an die Baubranche und Verwaltung.

Die Ausstellung „Care + Repair“ schließt morgen, Sonntag. Die Kuratorinnen laden um 19 Uhr zum Abschlussgespräch „Wie weiter?“. Nordbahnhalle beim Wasserturm, Leystraße Ecke Taborstraße.

Der Standard, Sa., 2017.07.29

15. Juli 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Allah für alle

Das Werk ist vollbracht: Nach acht Jahren Bauzeit und ewigen Grabenkämpfen vor Gericht ist die Ditib-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld nun endlich in Betrieb. Es soll ein Ort des Dialogs sein, ein Gotteshaus für alle.

Das Werk ist vollbracht: Nach acht Jahren Bauzeit und ewigen Grabenkämpfen vor Gericht ist die Ditib-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld nun endlich in Betrieb. Es soll ein Ort des Dialogs sein, ein Gotteshaus für alle.

Das allererste Freitagsgebet im neuen Kuppelsaal wurde in einem sechsminütigen Youtube-Video festgehalten. Dass die Amateuraufnahme ausgerechnet in der Kategorie „Komödie“ ins Netz gestellt wurde, ist ein fulminanter Seitenhieb auf die achtjährige Bauzeit, die von Baustopps, Baumängeln, Streitigkeiten, gegenseitigen Anschuldigungen und unzähligen Rechtsanwaltskorrespondenzen geprägt war. Nun, fünf Jahre nach der geplanten Eröffnung, kann Allah erstmals angerufen werden – nicht ohne einen leicht fahlen Nachgeschmack, der nach wie vor in der Luft liegt.

Die Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld hätte einst stolzes Symbol für den interkulturellen und interreligiösen Dialog in Deutschland werden sollen. Und die ersten Schritte schienen vielversprechend. Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, kurz Ditib, hatte einen Wettbewerb ausgelobt, den Paul Böhm, Spross einer alten Kölner Kirchenbaudynastie, gewann. Gemeinsam trotzten Bauherr und Architekt den anfänglichen Widerständen der Kölner Konservativen und den in den Folgemonaten aufkeimenden Bürgerprotesten. Immer wieder trat man gemeinsam vor Mikrofone, um den einen Hoffnung zu geben und die anderen zu beschwichtigen.

Doch schon bald tauchten die ersten sprichwörtlichen und buchstäblichen Risse auf. In der Fassade, in der Kuppel, in den Minaretten. Die Fenster wurden morsch, der Betonkanten brüchig, die Stufen am Weg hinauf aufs Plateau wackelig und lose. So mancher Blick aufs Detail ist schauderhaft. Und das bei einer zwar nicht offiziell kommunizierten, aber kolportierten Bausumme von über 40 Millionen Euro.

„Ich werde Ihnen jetzt keine Mängelführung geben, denn dazu ist der Zeitpunkt ein viel zu schöner und viel zu feierlicher“, sagt Ayse Aydin, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Ditib. „Aber lassen Sie mich nur so viel sagen: Die Liste des gerichtlich bestellten Gutachters umfasst rund 2000 Baumängel, von denen ein Teil bereits behoben und ein Teil wohl nie wieder wirklich repariert werden kann. Es ist nicht lustig. Wir prozessieren.“

Im Abseits des juristischen Hickhacks, das wohl noch Jahre in Anspruch nehmen wird und zu dem sich das Architekturbüro Böhm am Telefon nicht äußern möchte, ist die Kölner Zentralmoschee ein in der Tat überwältigender Bau, der weithin sichtbar zelebriert, wie moderner Islam aussehen kann. 35 Meter hoch ragen die in Sichtbeton belassenen Kuppelschalenfragmente in den Himmel und fügen sich zu einer imposanten Skulptur, die ein bisschen an Darth Vader und ein bisschen an die TV-Verkehrspuppe Helmi erinnert. Ergänzt wird der Bau von zwei 55 Meter hohen, luftig gewickelten Minaretten. Die beiden vergoldeten, scheinbar frei schwebenden Serviettenringe sind ein Zitat der üblicherweise umlaufenden Muezzinbalkone.

Kuppel mit Suren und Sternen

Doch die Neudefinition konzentriert sich in erster Linie auf das Äußere: Während in Berlin-Moabit die deutsche Frauenrechtlerin Seyran Ateş erst kürzlich eine auch inhaltlich revolutionäre Moschee mit gemeinsamem Gebetsraum für Frauen und Männer eröffnete, herrscht in Köln-Ehrenfeld nach wie vor strikte Geschlechtertrennung. Die Männer sitzen unten in unmittelbarer Nähe des Minbars, wie die getreppte Kanzel korrekterweise bezeichnet wird, die Frauen oben auf der Galerie.

Zu diesem konservativen Bild passt auch die Gestaltung des Innenraums. Im Gegensatz zum schlichten, fast schon minimalistischen Außenraum nämlich ist der Kuppelsaal, der bis zu 1200 Menschen Platz bietet, innen ganz klassisch mit Sternornamenten und arabischen Koransuren gesäumt. Die Komposition in Gold, Creme und Türkis stammt vom Istanbuler Künstler und Dekorateur Semih Irteş. Immerhin eine schöne, himmlisch anmutende Abwechslung zum sonst vorherrschenden Rotkanon, den man in vielen anderen Moscheen vorfindet.

„Architektur und Technik dieses Hauses sind sehr modern“, sagt Selim Mercan, Leiter der Ditib-Abteilung für Bauwesen und Liegenschaften, beim Rundgang kurz vor dem Freitagsgebet. „Innen jedoch ist von dieser gestockten Betontechnik, von der Fußbodenheizung und von den vielen Erdsonden, die wir in den Boden gerammt haben, nichts zu spüren. Dieser Raum ist ganz und gar der Schönheit des Gebets gewidmet.“ Eine feine, wohlige Wärme macht sich breit, wenn Mercan von seiner Moschee schwärmt. Oben hängt ein zehnstrahliger Stern am Firmament.

„Wissen Sie, die Architektur ist das eine, aber hier geht es nicht nur darum, wie die Moschee aussieht, sondern auch darum, was sie alles leistet“, erklärt Bekir Alboğa. Schon seit 2004 ist er Abteilungsleiter für interreligiöse Zusammenarbeit und Generalsekretär im Bundesvorstand der Ditib. „Wir sind mehr als nur eine Moschee. Wir sind ein kleines Stadtteilzentrum mit Konferenzräumlichkeiten, Geschäften und Gastronomie. Und zwar nicht nur für Muslime, sondern für alle.“

Das Konferenzzentrum im Erdgeschoß bietet Platz für bis zu 700 Menschen. Und in der in Eichenholz und Marmor gehaltenen Einkaufspassage findet man eine clevere Ergänzung zum brummenden Multikultiviertel Ehrenfeld: Boutique, Buchhandlung, ein Geschäft mit Trockenfrüchten, ein Lokal mit Halal-Gerichten und sogar eine Filiale der kuwaitisch-türkischen KT Bank. Zwei Drittel der insgesamt 20 Geschäftslokale sind bereits vermietet. Zum „modernen, quirligen Bazar“, wie die Passage von den hier tätigen Ditib-Angestellten gerne beschrieben wird, ist es zwar noch ein Weg, aber gewiss kein weiter.

„In Köln leben weit über 120.000 Muslime“, sagt Generalsekretär Alboğa. „Und allein in unserem unmittelbaren Einzugsgebiet haben wir 500 bis 600 regelmäßig praktizierende Mitgliedsfamilien. Hinzu kommen die vielen, vielen Menschen, die uns allein deshalb schon besuchen, weil hier Ortsgemeinde, Landesverband und Bundesverband an einem Ort gebündelt sind.“ Besonders stolz ist Alboğa auf die Kölner Touristenbusse: „Mittlerweile machen die auf ihrer Standardroute sogar einen Bogen, um an uns vorbeizufahren. Wir sind ein Wahrzeichen geworden.“

Bleibt abzuwarten, ob die neue Moschee imstande ist, seine Mission zu erfüllen. „Der Wunsch, ein Gotteshaus zu erstellen, das die unterschiedlichen Kulturen zusammenbringen sollte, ist durch die Streiterei ums Geld nicht mehr realisierbar“, beklagt Gustav Menninger, Baumeister beim von der Ditib ebenfalls geklagten Bauunternehmen Nuha. Die Risse im Beton sind gekittet. Und auch die Wogen in den konservativen Kreisen der Kölner Bevölkerung sind in der Zwischenzeit geglättet. Jetzt geht es darum, die Gräben zwischen den Projektbeteiligten zu schließen und den viel beschworenen Dialog zu starten. Die offizielle Eröffnung der Ditib-Moschee ist für Ende 2017 geplant.

Der Standard, Sa., 2017.07.15

08. Juli 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Paolo Piva 1950–2017

Der österreichisch-italienische Architekt und Designer hinterlässt ein umfangreiches Werk im Bereich Möbel- und Industriedesign. In Wien wirkte er seit 1991 auch als Professor an der Universität für angewandte Kunst.

Der österreichisch-italienische Architekt und Designer hinterlässt ein umfangreiches Werk im Bereich Möbel- und Industriedesign. In Wien wirkte er seit 1991 auch als Professor an der Universität für angewandte Kunst.

Er war ein Kämpfer, ein Besessener, ein Eroberer der Materie. „Es geht nicht um ein gemütliches Leben“, sagte er. „Es geht um den ständigen Kampf, jemanden zu überzeugen, dass ein Objekt so und so sein muss. Das ist hart. Aber auch eine Besessenheit von der Freude, etwas zu machen.“ Gestern, Freitag, ist der österreichisch-italienische Architekt und Designer Paolo Piva im Alter von 67 Jahren in Wien gestorben. Piva hinterlässt ein recht kleines Architektur-Œuvre, dafür aber ein umso umfangreicheres Werk im Bereich Möbel- und Industriedesign.

Zu seinen regelmäßigen Kunden zählten italienische Möbelhersteller wie Poliform, De Sede und B&B Italia, der italienische Küchenproduzent Varenna sowie die österreichischen Möbelwerkstätten Wittmann. Seine Entwürfe waren meist klassisch und orientierten sich in der Regel an der Moderne beziehungsweise an der Wiener Werkstätte. Immer wieder blitzte als Zitat der Würfel oder die charakteristische Steppnaht durch. Vor allem bei den für Wittmann entworfenen Sitzmöbeln war der mentale Übervater Josef Hoffmann nicht zu übersehen.

Piva, 1950 in Adria geboren, studierte Architektur bei Carlo Scarpa in Venedig und beschäftigte sich mit Architektur und Baukultur im sozialistischen Wien. 1975 macht er in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte und Architektur in Venedig und der Akademie für angewandte Kunst in Wien die Ausstellung Vienna rossa (Rotes Wien).

Wenige Architekturprojekte

Es folgen einige wenige Architekturprojekte wie etwa ein Wettbewerb für die Wiener Internationale Gartenschau WIG 74, die kuwaitische Botschaft in Katar (1980), die Corporate-Designs für eine italienische Warenhauskette (1981) sowie die Renovierung des Palazzo Remer in Venedig (1986). Im Hintergrund kümmerte er sich zudem um den Ideenwettbewerb der denkmalgeschützten Fiat-Fabrik Lingotto in Turin.

Doch schon bald kehrt Piva dem großen Maßstab den Rücken und widmet sich fortan dem Innenraum. Viele Fauteuils, viele Sofas, viele Couchtische werden durch seinen strengen Strich zum Leben erweckt. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, doch das Werk wird wohl in die Hunderte gehen. „Design“, sagte er, „sei ein kontinuierlicher Prozess, der mit der Bewusstwerdung anfängt. Ein Designer ist jemand, der immer wieder von neuem erfindet. Es geht um eine Art Eroberung des Objekts.“

Seit 1991 war Piva Designprofessor an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Für nächstes Jahr, heißt es, habe er geplant, sich aus dem Unterrichten zurückziehen. Unter seinen Absolventen galt er als streng und fordernd. Nicht selten kommentierte er einen Entwurf, wenn er ihn nicht goutierte, mit italienischem Akzent und beharrlichem Fallfehler mit den Worten: „Machen Sie einfach einen Lampe daraus!“

Piva lebte in Wien, in Biella (Piemont) und in Venedig. „In Italien“, sagte er, „profitiere ich von der Vitalität, Österreich hingegen motiviert mich intellektuell.“ Täglich drehte der Herr mit Schnurrbart seinen Spaziergang durch die Wiener Innenstadt – stets elegant gekleidet und meist mit Zigarre in der Hand – und verbrachte viele Stunden in seinem geliebten Kleinen Café am Franziskanerplatz. In einem STANDARD -Interview meinte er vor vielen Jahren: „Jeder soll versuchen, sich mehr oder weniger zu entwurzeln, um dann wieder Wurzeln zu schlagen, die vielleicht in die Luft wachsen.“

Der Standard, Sa., 2017.07.08

01. Juli 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Der Architekt als Krisenmanager

Wie ist es um die Zukunft des Bauens bestellt? Gar nicht gut. So zumindest sieht es eine aktuelle Ausstellung in Graz, die acht dystopische Perspektiven auf einem Haufen versammelt.

Wie ist es um die Zukunft des Bauens bestellt? Gar nicht gut. So zumindest sieht es eine aktuelle Ausstellung in Graz, die acht dystopische Perspektiven auf einem Haufen versammelt.

Es regnet an diesem Nachmittag in Montreal. Die Häuser sind so grau und so farblos wie der heulende Himmel. Doch plötzlich tut sich vor der Baugrube in der Rue Sainte-Catherine ein kleines Paradies auf. Immobilienentwickler bauen gerade an einem neuen Stückchen Luxus für die Superreichen. Mit Efeu, mit Pool, mit wie zufällig über den Liegestuhl drapiertem Badetuch. Unweigerlich blickt man auf den planschenden Bewohner links im Fenster und möchte sofort in eine Zeitmaschine steigen und dieser hässlich verregneten Realität mit Baukran und Parkometer entfliehen.

„Mich faszinieren diese Bautafeln schon seit vielen Jahren“, sagt der kanadische Foto- und Videokünstler Paul Landon, „denn sie transportieren eine Stimmung und eine künftige Wunschwirklichkeit, die so niemals eintreten wird. In diesem Spagat zwischen Sehnsucht und Realität ist meine Arbeit zu Hause.“ Rund 500 Fotografien aus aller Welt hat der 54-Jährige, dessen Fotozyklus kürzlich von der Future Architecture Platform im Rahmen eines internationalen Calls ausgewählt und ausgezeichnet wurde, zusammengetragen: Wohnungen, Penthouses, Luxusapartments, Bürotürme und exklusive Shoppinggalerien.

„Es geht hier nicht nur um eine visualisierte, computergenerierte Vorwegnahme der Architektur, sondern auch um eine ganz bestimmte Konstruktion von Zukunft“, meint Landon, der in seiner Heimatstadt Montreal vor zehn Jahren die atmosphärischen Tricks der Immobilienbranche zu dokumentieren begann und mittlerweile schon einen ganzen Immo-Weltatlas damit füllen könnte. Dissolving Futures, auf Deutsch am besten mit dem Begriff „Zukunftsauflösungen“ zu umschreiben, nennt sich Landons Kompendium.

Country-Chic und Nostalgie

„Es gibt große geografische Unterschiede, denn je größer und je futuristischer die Stadt, desto traditioneller und nostalgischer werden die künftigen Bauprojekte dargestellt“, erzählt der Fotograf. Am stärksten sei dieser Trend in China zu beobachten, wo das neue Wohnen mit Country-Chic und Gipsstuck beworben wird. „Da ist es manchmal schon schwer zu sagen, was das Neue und was das Alte ist. Im Kontext einer wachsenden, sich ständig verändernden Gesellschaft finde ich diese Entwicklung hochgradig verwirrend.“

Vor allem aber, erklärt Landon, habe sich in letzter Zeit die Darstellungsweise gewandelt. Ging es früher um eine lebendige, städtische Stimmung mit Menschen, Bäumen und Schanigärten (im Fachjargon spricht man auch von People-Washing, Green-Washing und Mood-Washing), so dominieren auf den Bautafeln heute Sicherheitsaspekte und Wohnkomfort. „Offenbar haben die Konsumenten nach den politischen Ereignissen der letzten Jahre genug von sozialer Öffentlichkeit. Sie sehnen sich nach kontrolliertem Rückzug, nach Alarmanlage und Videoüberwachung.“ Und die Immobilienbranche reagiert darauf mit entsprechenden Bildern.

„Genau das ist der Punkt“, sagt die Grazer Kuratorin Ana Jeinić. „Die heutige Architektur befindet sich in einer tiefen Krise, weil sie keine Visionen mehr hat, sondern nur noch auf funktionale und kapitalistisch bedingte Scheinbedürfnisse reagiert. Das ist ein Zusammenbruch jeglicher Zukunftsvorstellungen sowie des Zukunftsbegriffs an sich. Wie es scheint, haben wir heute Angst vor zukunftsorientiertem Denken. Wir stehen still.“

Um auf dieses soziale wie auch kulturelle Defizit hinzuweisen, hat Jeinić im Haus der Architektur (HDA) in Graz vor wenigen Tagen eine zum Nachdenken anregende Ausstellung eröffnet. Architecture after the future, so der Titel der Schau, beschäftigt sich mit der Frage, welche Auswirkungen der Stillstand der postfuturistischen Gesellschaft künftig auf Architektur und Städtebau haben wird. Gezeigt werden acht ganz unterschiedliche, teils aktiv gestaltende, teils kritisch beobachtende Arbeiten, die von der Future Architecture Platform – einem europaweiten Netzwerk, dem auch das HDA angehört – aus insgesamt 330 Projekteinreichungen ausgewählt wurden. Paul Landons Fotodokumentation ist eine davon.

Angst vor Amazon

„Wir schrecken davor zurück, die Zukunft in die Hand zu nehmen“, sagt Jeinić. „Viele Architekten bauen nichts mehr, sondern setzen sich nur noch reflexiv oder im besten Fall provisorisch mit der Welt auseinander.“ Und so gibt es in der Ausstellung temporäre Pop-up-Zelte für Menschen in Not, geopolitische Lösungsansätze für den Territorialkonflikt zwischen Chile und Peru und süffisante Gedankenkonstrukte zu einer Archäologie der Europäischen Union. Man muss schon viel Zeit und viel Hirnschmalz in die Ausstellung mitbringen, um im mitunter verkopften Textdschungel den Überblick zu bewahren.

Spannend, weil so naiv wie auch bösartig hinters Licht führend ist Florian Bengerts Entwurf für einen Paketsilo mitten in der Stadt. Unter dem Titel Space in Time. The Future of Logistic Landscapes liefert der 27-jährige Architekt aus Karlsruhe eine zugleich praktische wie auch zutiefst verstörende Antwort auf den zunehmenden Onlinehandel und auf das damit verbundene, bevorstehende Verschwinden traditioneller Handelsstrukturen aus der Stadt. Seine mit Werbung illuminierten Betonsilos, die sogar über Kapelle und Kapselhotel verfügen, sind eine dystopische Reaktion auf Amazon und Zalando.

Und im sehr kontemplativen Projekt I would prefer not to – ein Zitat aus Herman Melvilles Buch Bartleby, The Scrivener – trägt der slowenische Architekt Miloš Kosec unterschiedliche Fälle aus der Vergangenheit zusammen, in denen sich Architekten verweigert haben zu planen und zu bauen. Da gibt es Fassaden, die bewusst nicht entworfen wurden (Jean Nouvel), Häuser, die bewusst nur zur Hälfte errichtet wurden (Alejandro Aravena), oder Platzgestaltungen, bei denen die Architekten bewusst entschieden haben, alles so zu belassen, wie es ist (Lacaton & Vassal).

So nihilistisch wie die zusammengetragenen Projekte ist auch die Ausstellung an sich. Inmitten der inszenierten Verweigerung kriegt man als Besucher früher oder später selbst unweigerlich die Krise. Wie sagt doch Kuratorin Ana Jeinić? „Wenn es tatsächlich stimmt, dass wir uns in einer Zukunftskrise befinden, dann ist der erste Schritt, sich dieser Krise bewusst zu werden.“

Der Standard, Sa., 2017.07.01

17. Juni 2017Wojciech Czaja
Der Standard

„Keine Konkurrenz zwischen Berater und Beratenen“

Vor zehn Jahren wurde der BIG-Architekturbeirat gegründet. BIG-Geschäftsführer Wolfgang Gleissner und die beiratsvorsitzende Architektin Elsa Prochazka reflektieren über Erfolge und Hoffnungen.

Vor zehn Jahren wurde der BIG-Architekturbeirat gegründet. BIG-Geschäftsführer Wolfgang Gleissner und die beiratsvorsitzende Architektin Elsa Prochazka reflektieren über Erfolge und Hoffnungen.

Standard: Der BIG-Architekturbeirat (BAB) wurde vor genau zehn Jahren gegründet. Was waren die Beweggründe, ihn einzurichten?

Gleissner: Mit der Zeit und mit den Projekten wird man leicht betriebsblind. Dem wirken wir mit dem Beirat entgegen. Er hält uns den Spiegel vor und ist ein Mittel zur Selbstreflexion, damit wir in unseren Prozessen noch besser werden und noch klarer kommunizieren.

Standard: Nach welchen Kriterien und Statuten gehen Sie im BAB vor?

Prochazka: Unsere wichtigste Aufgabe ist, immer wieder daran zu erinnern, dass die BIG als öffentlicher Auftraggeber auch eine gewisse kulturelle und gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt. Dazu gehört auch, dass man die Nutzerinnen und Nutzer schon in der Vorbereitung einbezieht.

Gleissner: Eine wichtige Aufgabe, die der BAB wahrnimmt, ist auch die Überlegung, zu welchem Projekt welches Verfahren der Planerfindung am besten passt.

Standard: Wie viele unterschiedliche Verfahren wendet die BIG denn bei ihren Projekten an?

Gleissner: Insgesamt haben wir seit Bestehen des BAB sechs verschiedene Verfahren angewandt, wobei mehr als die Hälfte aller Projekte über einen offenen, einstufigen Realisierungswettbewerb ausgelobt wurden.

Standard: Die BIG investiert jährlich 500 Millionen Euro in Neubauten und Sanierungen. Wie viel Prozent dieses Budgets marschieren über den Beiratstisch?

Gleissner: Seit 2007 haben wir zu 84 Großprojekten Planer gesucht, bei 68 davon haben wir das über den BAB gemacht.

Prochazka: Was ich generell kritisiere, ist, dass viele Projekte – nicht nur bei der BIG, sondern überhaupt – lediglich technisch saniert werden, wie es so schön heißt. Ich halte rein technische Sanierungen für zu kurz gegriffen. Was nützt es mir beispielsweise, wenn ich ein Schulgebäude technisch auf den neuesten Stand bringe, aber damit veraltete pädagogische Konzepte konserviere? Auch bei solchen Aufgaben darf man die kulturelle Gesamtverantwortung nicht außer Acht lassen.

Gleissner: Über 20 Prozent des Bauvolumens der BIG sind reine Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten, die in unseren 2200 Liegenschaften regelmäßig anfallen. Da sind viele Kleinstaufträge dabei. Dazu brauchen wir keinen Architekturbeirat.

Standard: Können Sie sich an ein konkretes Projekt erinnern, das durch den BAB maßgeblich beeinflusst wurde?

Gleissner: Da gab es viele. Spontan fällt mir das Schulzentrum Wien West ein, wo eine aufgelassene, denkmalgeschützte Kaserne ins Schulkonzept integriert wird. Da war der BAB sehr rigoros. Oder die Auslobung und Jurierung der Erweiterung der Johannes-Kepler-Universität in Linz. Ohne den BAB hätten sich diese zwei Projekte ganz anders entwickelt.

Prochazka: Ich bin nicht streng. Wir sind einfach sehr konsequent in unseren ausdiskutierten Grundhaltungen. Aber ich muss auch sagen, dass die BIG ein sehr guter Gesprächspartner ist, der auch vor Konflikten nicht zurückscheut.

Standard: Bei öffentlichen Bauprojekten passiert es immer wieder, dass Kosten und Zeitrahmen überschritten werden. Kann man diese Gefahr mit einem Architekturbeirat schmälern?

Gleissner: Nein. Ein Beirat ist dazu da, um in der Konzeptions- und Planungsphase eine hohe Architekturqualität zu sichern. Die Handschlag- und Ausführungsqualität auf der Baustelle ist ein anderes Kapitel.

Prochazka: Für mich ist der Beirat kein Konkurrenzkampf zwischen dem Berater und den Beratenen, sondern ein Gremium, in dem gemeinsam und auf Augenhöhe Probleme und Herausforderungen bestmöglich gelöst werden können. Ich denke, dass viele Planer und Architektinnen manchmal ein unscharfes Bild von Beiräten haben.

Standard: In Österreich gibt es gerade einmal 50 kommunale und einige weitere gewerbliche Architekturbeiräte. Warum nicht mehr?

Gleissner: Gute Frage. Ich kann nur so viel sagen: Der qualitative Gewinn aufgrund des Beirats ist klar sichtbar. Die Kosten sind gemessen daran ein verschwindend kleiner Teil.

Standard: Was können Sie den Kommunen und Unternehmen mit auf den Weg mitgeben?

Prochazka: Machen Sie! Tun Sie! Gerade kleinere Gemeinden, in denen der Bürgermeister die oberste Bauinstanz ist, verbunden mit Interessenkonflikten oder fachlicher Unsicherheit, können von einem unabhängigen Beirat – vielleicht im regionalen Zusammenschluss – nur profitieren.

Der Standard, Sa., 2017.06.17

10. Juni 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Tür an Tür mit Robinson

Wie wollen wir in Zukunft wohnen? Eine Ausstellung im Vitra-Design-Museum schlägt konkrete Formen gemeinschaftlichen Wohnens vor und trifft damit nicht nur ins Schwarze, sondern auch ins Herz.

Wie wollen wir in Zukunft wohnen? Eine Ausstellung im Vitra-Design-Museum schlägt konkrete Formen gemeinschaftlichen Wohnens vor und trifft damit nicht nur ins Schwarze, sondern auch ins Herz.

Es ist, als hätte man in einer Hotellobby Platz genommen. Das cognacfarbene Leder knarzt und knautscht, die Deckenlampen haben einen schillernden Messingglanz, und jeden Moment, so scheint es, kommt der Kellner mit Keksen und Café crème vorbei. „Nein, das nicht, aber luxuriös ist dieser Raum allemal“, sagt Res Keller. „Doch unser Luxus ist nichts Exklusives, sondern ganz im Gegenteil etwas sehr Inklusives. Hier laufen sich die Bewohnerinnen und Bewohner über den Weg, hier treten sie miteinander in Kontakt. Es gibt viele Menschen, die uns um diesen Raum beneiden.“

Die Lobby ist nicht der einzige Ort, der das Wohnprojekt Kalkbreite in Zürich-Wiedikon auszeichnet. Darüber hinaus gibt es ein kleines Restaurant, eine große Gemeinschaftsküche auf jeder Etage, diverse Werkstätten, mehrere verglaste Waschküchen, individuell anmietbare Bürozimmer sowie ein integriertes Hotel für den Tantenbesuch aus Luzern und St. Gallen. „Doch am häufigsten“, sagt Keller, einer der Projektinitiatoren und ehemaliger Geschäftsführer der Wohnbaugenossenschaft Kalkbreite, „passiert es, dass die Bewohner das Minihotel selbst nutzen, wenn sie mal mit dem Partner Zoff haben oder den pubertierenden Sohn für ein paar Monate ausquartieren wollen.“

Das Wohnhaus Kalkbreite, das vor drei Jahren fertiggestellt und bereits mit etlichen internationalen Auszeichnungen überhäuft wurde, ist eines von insgesamt 27 Projekten, die seit letztem Wochenende in der Ausstellung Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein zu sehen sind. Und es ist eine fröhliche, eine extrem lustvolle Ausstellung mit fast schon comic- und cartoonhaften Elementen, die es schafft, dem eigenen thematischen Anspruch gerecht und selbst schon zu einem Ort der Sozialisation zu werden.

„Das ist keine klassische Nabelschau“, sagt Andreas Ruby, Direktor des Schweizer Architekturmuseums und einer der vier Kuratoren der Ausstellung. „Wir wollten eine niederschwellige, ansprechende Ausstellung für interessierte Menschen machen. Bei uns kann man herumflanieren und sich inspirieren lassen, als würde man durch einen Ikea gehen. Mit dem Unterschied, dass es keine Möbel und Haushaltsgegenstände mitzunehmen gibt, sondern Ideen für ein alternatives, kollektives Wohnen.“ Selten hat Ausstellung so viel Freude bereitet wie hier.

Allein, die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens – ob in Mitteleuropa, Fernost oder den USA – ist nicht neu. Sie ist ein immer wiederkehrendes Thema, das von Epoche zu Epoche mal mehr, mal weniger dem Diktat der Selbstverwirklichung zu trotzen trachtet. Schon Arthur Schopenhauer erkannte: „Der Mensch für sich allein vermag gar wenig und ist ein verlassener Robinson: Nur in der Gemeinschaft mit den andern ist und vermag er viel.“ Und so verwundert es nicht, dass die ersten Ideen eines kollektiven Miteinander-Wohnens bis ins früher 19. Jahrhundert zurückreichen.

Robert Owen entwarf 1825 eine Mustersiedlung für eine Gemeinschaft ohne Besitz und Eigentumsanspruch. Jean-Baptiste André Godin errichtete in Guise, Frankreich, die sogenannte Familistère, eine rechteckige Wohnhausanlage mit Laubengängen und riesigen Glaskuppeln über den Innenhöfen. Und Samuel und Henrietta Barnett boten in ihrer Toynbee Hall angehenden Akademikern die Möglichkeit, für begrenzte Zeit in einem Armenviertel Londons zu wohnen und sich für die Verbesserung der Wohnverhältnisse der lokalen Bevölkerung zu engagieren.

Hinzu kommen diverse Leuchtturmprojekte des 20. Jahrhunderts wie etwa der Freistaat Christiania in Kopenhagen, die Unité d’Habitation von Le Corbusier in Marseille oder das Edifício Copan von Oscar Niemeyer in São Paulo. Auch Wiener Projekte wie etwa der Karl-Marx-Hof, Harry Glücks Alt-Erlaa oder die kompromisslos orange Sargfabrik, die mit sämtlichen Tabus brach und das Modell Wohnheim ein für alle Mal gesellschaftlich verankerte, haben ihren Platz inmitten der vielen raumfüllenden Wohn- und Gebäudemodelle, in die man am liebsten hineinkriechen und sofort zu wohnen beginnen würde.

Milch und Eier vor der Tür

Das wohl außergewöhnlichste Projekt in dieser Riege ist das 1904 errichtete Wohnhaus The Ansonia am Broadway in New York. Das heute noch bestehende Haus, das vielen anderen Wohnmodellen als Vorbild diente, bestand aus allesamt küchenlosen Apartments. Dafür aber gab es auf jeder Etage große Gemeinschaftsküchen und Gemeinschaftssalons. Auf dem Dach des 15-stöckigen Palais gab es zudem eine Farm mit Enten, Ziegen, Kühen und mehr als 500 Hühnern. Jeden Morgen lieferte ein Hausmeister den Bewohnern Milch und Eier vor die Tür.

Es ist dieser transnationale und transtemporale Blick über das Hier und Jetzt hinaus, der Together! so spannend macht und von bisherigen Ausstellungen über gemeinschaftliches Wohnen unterscheidet. „Ich finde den internationalen Vergleich sehr erkenntnisreich“, so Kurator Ruby. „Denn tatsächlich variiert der Begriff des Gemeinschaftlichen von Land zu Land. In gewisser Weise ist jeder einzelne Ansatz ein wertvolles Lernmodell.“

In japanischen und südkoreanischen Großstädten sind es meist alleinstehende Erwachsene, die immer häufiger Wohngemeinschaften gründen, weil sie weder die hohen Wohnkosten noch die Einsamkeit ertragen. Ganz anders Berlin, wo in den letzten Jahren mehr als hundert Baugruppen entstanden sind, die gemeinsam Grundstücke kaufen und ganze Wohnhausanlagen nach ihren eigenen Plänen und Wohnvorstellungen errichten. Oder etwa Wien, wo die individuelle und partizipative Planung längst zu einem Standardtool im sozialen Wohnbau geworden ist.

„Am meisten jedoch beeindruckt mich die Schweiz“, sagt Ruby. „In einem Land mit einer 100 Jahre alten Wohnbaugenossenschaftskultur ist es gelungen, die eigene Tradition und die eigenen Werte innerhalb von ein, zwei Jahrzehnten völlig neu zu programmieren.“ Das hat nicht zuletzt mit den 68er-Kommunen und der Hausbesetzerbewegung der Achtzigerjahre zu tun. In den meisten Fällen sind es genau diese protestierenden Protagonisten, damals schon für eine leistbarere und lebenswertere Stadt kämpfend, die nun selbst Wohnbaugenossenschaften anführen und damit alternative, innovative Wohnprojekte entwickeln und realisieren. „Und das Schöne“, so Ruby, „ist, dass die Kraft dieser Wohnideen nicht nur auf die Wohnhausanlage beschränkt ist, sondern längst schon in den öffentlichen Straßenraum ausstrahlt. Es tut was mit der Stadt, wenn plötzlich Trauben von Menschen vor dem Haus sitzen und gemeinsam eine Grillparty schmeißen.“ Oder wenn sich, wie im Falle des Wohnhauses Kalkbreite, einige Bewohner zusammentun und einen Koch als Vollzeitkraft einstellen. Dieser schwingt wochentags den Löffel und bereitet Mittags- und Abendmenüs für seine Arbeitgeber zu.

Die Idee Together! ist ein wertvoller Impuls für eine alternde Gesellschaft mit immer mehr Singles und immer mehr Robinsons. Wo die Politik versagt, greift das Kollektiv ein. Das macht Hoffnung.

Der Standard, Sa., 2017.06.10

03. Juni 2017Wojciech Czaja
Der Standard

„Die Spezies Architekt wird aussterben“

Der italienische Architekt und MIT-Forscher Carlo Ratti plädiert für einen offeneren Umgang mit Wissen und Wahrheit. Sein Ziel ist eine kollektiv gelebte Kultur des Teilens. Ein Appell für Open Source Architecture.

Der italienische Architekt und MIT-Forscher Carlo Ratti plädiert für einen offeneren Umgang mit Wissen und Wahrheit. Sein Ziel ist eine kollektiv gelebte Kultur des Teilens. Ein Appell für Open Source Architecture.

Standard: Haben Sie jemals eine Idee geklaut oder gegen das Urheberrecht verstoßen?

Ratti: Das ist eine große Frage für einen Gesprächsbeginn! Intuitiv würde ich sagen: nein. Aber tatsächlich wird es wohl ein Ja sein. Sämtliche Ideen in unserem Büro und auch am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickeln wir im Team. Da kann man nie genau sagen, welche Idee von wem stammt. Ich fürchte, da werden einige Urheberrechtsverletzungen darunter sein.

Standard: Und wie stehen Sie zum Hacken?

Ratti: Hacking ist eine der Kernkompetenzen der MIT-Kultur. Wir alle hacken, und zwar nach Möglichkeit alles. Das ist unser Job. Durch Hacken werden Fehler aufgedeckt und neue Ideen und Mutationen geboren. Hacken und Kreativität sind untrennbar miteinander verbunden. Das ist Evolution!

Standard: Sie machen sich für Crowd Creativity und für eine Öffnung und Lockerung des Copyrights stark. Warum eigentlich?

Ratti: Crowd Creativity hat es immer schon gegeben. Bloß gab es dafür andere Bezeichnungen. In der italienischen Kunstgeschichte sind manche Werke nicht eindeutig einem Meister zuzuordnen. Raffael beispielsweise hatte in seiner Werkstatt so viele Schüler, dass bei einigen Madonnen und Papstbildnissen gar nicht klar ist, was tatsächlich von ihm stammt und was nicht. Und doch sprechen wir immer von Raffael. Eigentlich müssten wir Raffael-Crowd dazu sagen. Das ist Open-Source-Kunst!

Standard: In Ihrem Buch „Open Source Architecture“ schlagen Sie vor, die Architektur und Stadtplanung zu öffnen und ebenfalls in Form von Open Source jedem zugänglich zu machen. Wie genau kann man sich das vorstellen?

Ratti: Ich vergleiche die Idee der Open Source Architecture gerne mit dem Softwareprogramm Linux oder dem Online-Lexikon Wikipedia. Es geht darum, kostenlos und ohne Hürden Wissen zu teilen. Dadurch soll Architektur einer großen Zahl an Menschen zur Verfügung gestellt werden. Auf Wikipedia sind es die User selbst, die Content produzieren.

Standard: Werden wir dann alle zu Architekten?

Ratti: Das ist einer der heikelsten Punkte. Natürlich braucht es hier nicht nur die Wahrheit und Korrektheit von Daten wie im Fall von Wikipedia, sondern auch technisches Know-how und planerische Kompetenz. Ich denke, diese Daten können aus ganz unterschiedlichen Disziplinen kommen – von Architektinnen, Stadtplanerinnen, Soziologen, Ingenieuren und Ökonomen. Aber natürlich braucht es ein gewisses Mindestmaß an Wissen. Die richtige Dosierung zu finden ist eine der großen Herausforderungen für die Zukunft.

Standard: Wo passiert das heute schon?

Ratti: Die bekannteste und medial am häufigsten diskutierte Plattform ist mit Sicherheit WikiHouse. Außerdem gibt es Goteo, Brickstarter, Estate Guru, Open Architecture Network und viele andere. All diese Plattformen bemühen sich um eine Multiplizierung von Wissen und Wahrheit. Es tut sich schon sehr viel, aber noch ist das Thema tabuisiert und zu wenig verbreitet.

Standard: Welche Einsatzgebiete können Sie sich für Open Source Architecture vorstellen?

Ratti: Aus heutiger Sicht sehe ich einen sinnvollen Einsatz im Bereich von Notquartieren, die im Zuge natürlicher und politischer Krisen und Katastrophen benötigt werden. Sehr sinnvoll erachte ich Open Source Architecture im Bereich Entwicklungshilfe. Für die indisch-amerikanische Prajnopaya Foundation haben wir vor einigen Jahren das sogenannte „Tsunami Safe(r) House“ entwickelt. Die Pläne und das technische Know-how werden kostenlos zur Verfügung gestellt. Allein in Sri Lanka wurden auf dieser Basis mehr als 1000 tsunamisichere Häuser errichtet.

Standard: Und was bringt Open Source Architecture außerhalb dieses Katastrophenkontextes?

Ratti: Seit der Industrialisierung und seit der Moderne steigen die Produktionszahlen und der da-mit verbundene wirtschaftliche Druck rasant an – ob das nun im Design, in der Industrie oder in der Baubranche ist. Es wird permanent produziert, und wir haben überhaupt keine Möglichkeit mehr, das Produzierte auf seine Richtigkeit und auf seine Angemessenheit zu überprüfen. Die Öffnung des Wissens wäre für mich ein Mittel zur Reflexion, eine Art Gradmesser, mit dem wir überprüfen könnten, ob wir auf dem richtigen Weg sind.

Standard: Das müssen Sie bitte erklären!

Ratti: Schauen Sie sich nur einmal die Kommentare auf Trip Advisor und die Kundenbewertungen in den vielen Suchmaschinen an, die wir heute im Internet vorfinden! Es ist die Crowd, die beurteilt, ob ein Produkt attraktiv und wettbewerbsfähig ist oder nicht. Diese Qualität, diese interdisziplinäre Kundenkompetenz ist auch auf die Architektur und Stadtplanung übertragbar.

Standard: Und das wird zwangsweise zu besseren Häusern und zu schöneren Städten führen?

Ratti: Ja, davon bin ich überzeugt. Evolution erzeugt Vielfalt und Qualität – und zwar unabhängig davon, ob wir nun von natürlicher oder von künstlicher Selektion sprechen. Diese Evolution würde die gebaute Umwelt massiv bereichern.

Standard: Indem dann jeder sein eigenes Einfamilienhaus in die Landschaft druckt?

Ratti: Gehen Sie davon aus, dass die neuen Technologien in der Baubranche wie etwa Building Information Modeling (BIM), Customized Production und 3D-Druck erst der Anfang sind! Die Entwicklung wird uns noch viele Überraschungsmomente bescheren.

Standard: Laufen wir mit dieser Banalisierung und Egalisierung von Schaffenskraft nicht Gefahr, dass früher oder später die ganze Welt gleich ausschaut?

Ratti: Aber nein! Ganz im Gegenteil. Befragen wir doch einmal Mutter Natur: Wie viele Spezies gab es vor 3,5 Milliarden Jahren? Und wie viele gibt es heute auf der Welt? Na also! Indem wir das Wissen öffnen und die Konsumenten zur Selektion bevollmächtigen, steigern wir die Vielfalt unserer gebauten Umwelt. Es geht ja nicht ums Klonen von einigen wenigen, unveränderlichen – weil urheberrechtlich geschützten – Prototypen, wie uns das die Moderne aufoktroyieren wollte, sondern um Mutation, also um das kontinuierliche, emanzipierte Weiterentwickeln.

Standard: Und was passiert dann mit der Spezies Architekt? Die wird aussterben?

Ratti: Das wird sie sowieso.

Standard: Weil?

Ratti: Gerade mal zwei Prozent des globalen Bauvolumens werden von Architekten geplant. Das ist fast nichts. Es gibt zwar einige wenige Stararchitekten, die Ruhm und Ehre genießen, aber deren Einfluss auf das Bauen ist verschwindend gering. Im Übrigen können wir davon ausgehen, dass durch Robotik und künstliche Intelligenz ein Großteil der heute bestehenden Jobs ohnehin aussterben wird – oder zumindest neu definiert werden wird müssen. Je früher und je aktiver wir das anpacken, desto besser.

Standard: Ihr Buchmanifest „Open Source Architecture“ hat weltweit Beachtung gefunden. Was sind die nächsten Schritte?

Ratti: Ausprobieren und Experimentieren. Die Studierenden und Theoretiker sind von der Abschaffung des Copyrights und der Öffnung im Sinne von Creative Commons sehr angetan. Sie sehen darin einen inspirierenden Handlungsspielraum für die Zukunft. Gleichzeitig jedoch werde ich von Architekten und Professionellen angefeindet, weil sie darin eine Gefährdung ihrer Disziplin sehen. Der nächste Schritt wird sein, zwischen dieser Angst und Euphorie die Wahrheit zu finden.

Standard: Wie lange geben Sie sich dafür Zeit?

Ratti: Bis zur Selbstverständlichkeit von Linux und Wikipedia ist es noch ein weiter Weg.

Der Standard, Sa., 2017.06.03

13. Mai 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Die Zukunftsmacherin

Der Film „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ porträtiert sechs Personen, die beschlossen haben, den Lauf der Dinge selbst zu gestalten. Eine davon ist die Salzburger Lehmbauarchitektin Anna Heringer.

Der Film „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ porträtiert sechs Personen, die beschlossen haben, den Lauf der Dinge selbst zu gestalten. Eine davon ist die Salzburger Lehmbauarchitektin Anna Heringer.

In der 51. Minute springt plötzlich das Rüttelgerät an. Ohrenbetäubender Lärm macht sich im Kinosaal breit. Anna Heringer, eine schlanke Gestalt mit Salzburger Dialekt, Muckis an den Oberarmen, Arbeitsschuhen, zerrissenen Jeans und um die Hüfte geknotetem Pulli, stopft den patzigen, noch feuchten Lehm in die Schalung. Erst wird die Stampflehmwand mit der Maschine verdichtet, später dann noch einmal manuell mit Rüttelstangen nachgestochen.

„Wenn wir so weitertun, wie wir tun, dann sind die Ressourcen bald einmal zu Ende“, sagt Heringer vor der Kamera. „China zum Beispiel hat in den letzten drei Jahren so viel Zement und Beton verbraucht wie die USA im ganzen 20. Jahrhundert. Das sind Dimensionen, die man sich nur schwer vorstellen kann.“ Mit den Sand- und Schottermafias, wie sie beispielsweise in China, Indien und den Vereinigten Arabischen Emiraten tätig sind, hat sich zuletzt sogar ein eigener Berufszweig etabliert, der unentwegt auf der Suche nach chemisch passenden Zuschlagstoffen für die Betonindustrie ist. Und diese werden immer rarer. Damit, so Heringer, müsse man sich dringend befassen.

Die 40-jährige Architektin ist eine von insgesamt sechs Personen, die im soeben angelaufenen Dokumentarfilm Die Zukunft ist besser als ihr Ruf in all ihrem Tun und Machen porträtiert werden. Gezeigt werden Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit, für partizipative Demokratie, für innovative wirtschaftliche Denkmodelle sowie für nachhaltige Lösungen in der Gastronomie und Lebensmittelversorgung engagieren. Der größte gemeinsame Nenner der Protagonisten ist der Glaube und die Überzeugung, den Lauf der Dinge selbst mitgestalten zu können. Die Salzburger Spezialistin für Lehmbau und lokale Rohstoffe ist damit in bester Gesellschaft.

Prominent ignoriert

Ein paar Wasserbüffel, vier Bohrmaschinen, Bambus aus den umliegenden Hainen und der buchstäbliche Dreck unter den Füßen – mit diesen Ressourcen hat Anna Heringer vor 13 Jahren ihr allererstes Projekt realisiert. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Eike Roswag und einem Dutzend Handwerker aus dem Dorf hat sie in Rudrapur, Bangladesch, eine 500 Quadratmeter große Schule aus Lehm hochgezogen. Das Projekt wurde unter anderem mit dem Aga Khan Award, einem der renommiertesten und höchstdotierten Architekturpreise der Welt, ausgezeichnet.

„Fast drei Milliarden Menschen auf der Welt leben in Lehmbauten“, sagt Heringer im Gespräch mit dem Standard. „Hauptsächlich sind dies Menschen in Entwicklungsländern beziehungsweise Menschen aus unteren sozialen Schichten. Aus diesem Grund ist dieser – älteste – Baustoff der Welt leider stark stigmatisiert. Er wird prominent ignoriert. Und das ist in sozialer, ökologischer und auch wirtschaftlicher Hinsicht ziemlich tragisch.“

Im Gegensatz zu Lehm nämlich, sagt Heringer, die an der Kunstuniversität studiert hat und mittlerweile als Unesco-Honorarprofessorin für Lehmbau, Konstruktionskultur und nachhaltige Entwicklung tätig ist, seien die imagemäßig höher situierten und somit häufig angestrebten Baustoffe Ziegel und Beton in der Produktion deutlich energie-, rohstoff- und CO2-intensiver. Doch dieses Argument wird von der globalen Baustoffindustrie und ihren potenten Lobbys massiv überschattet. Die in Bollywood produzierte Traumwelt der Reichen und Schönen tut ihr Übriges.

54. Minute. Anna Heringer wandert über die Baustelle. Greift mit der Hand in die Erde hinein. Zerreibt das Material zu kleinen klebrigen Brocken. „Der eigene Hausbau ist für jede Familie die größte Investition in ihrem Leben. Und das ist ein Potenzial. Das Budget kann man so anwenden, dass irgendwelche Großfirmen davon profitieren, oder man kann es so anwenden, dass möglichst viele Menschen im eigenen Umfeld profitieren. Wenn man das im Kopf behält, dann ist es möglich, mit Architektur viel Veränderung zu bewirken.“

So wie zum Beispiel in Baoxi, Ostchina, rund 400 Kilometer südwestlich von Schanghai. Erst kürzlich stellte Heringer dort im Rahmen der Longquan International Biennale eine Jugendherberge aus Lehm und Bambus fertig. Die drei Bambushäuser, die wie überdimensionale Reiskörbe in der Landschaft stehen, sind nicht nur eine Anknüpfung an die Bautradition der Region, sondern auch ein Beitrag zur lokalen Wertschöpfung. Im Inneren der bis zu 18 Meter hohen Bambushüllen verbergen sich mehrgeschossige zylindrische Lehmtürme. Über eine Wendeltreppe gelangt man direkt zu den Schlafkojen, die wie stoffverkleidete Waben an der Lehmfassade hängen.

„Es gibt in China eine sehr reichhaltige Tradition für Lehm- und Bambusbau“, so Heringer. „Die Longquan International Biennale soll dazu beitragen, diese Kultur zu erhalten und in die Zukunft weiterzutragen. Und ich denke, das macht sie mit Erfolg. Mittlerweile kommen viele Schüler, Studierende und Architekten nach Baoxi, um die Bauten zu besichtigen und zu studieren.“ Und auch, um in einer der hängenden Schlafkojen, die sich im Land längst herumgesprochen haben, zu übernachten.

Langfristig, so der Plan der Architektin und der Biennale-Initiatoren, soll in Baoxi die Lehmbau- und Korbflechtkunst zelebriert werden. Und zwar auf eine Art und Weise, die sicherstellt, dass die damit eingenommenen Gelder in der Region bleiben. 57. Minute: „Man kann etwas Schönes bauen und damit gleichzeitig die lokale Wirtschaft ankurbeln und das Image von lokalen Baumaterialien verbessern. Das macht Mut und stärkt das Selbstvertrauen. Das ist Wertschöpfung in ihrer menschlichsten Form.“

Anna Heringer sitzt in ihrem Studio im Salzburger Oberndorf, direkt an der österreichisch-bayrischen Grenze, drei Gehminuten von der Salzach entfernt. Sie nimmt ein Tonmodell zur Hand, drückt mit dem Finger in die Oberfläche hinein. „Ich will kompostierbare Architektur schaffen“, sagt sie mit strahlenden Augen. „Wenn ein Gebäude nicht mehr gebraucht wird, kann es wieder in die Erde zurück. Von der Idee, dass meine Häuser bis in die Ewigkeit stehen, habe ich mich schon lange verabschiedet. So wichtig sind wir nicht.“

„Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ von Teresa Distelberger, Niko Mayr, Gabi Schweiger und Nicole Scherg ist derzeit im Kino zu sehen. Am Dienstag, den 16. Mai, um 19.30 wird der Film im Wiener Gartenbaukino gezeigt. Mit Livemusik von Federspiel.

Der Standard, Sa., 2017.05.13

06. Mai 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Der Raum vor der Linse

Gestern, Freitag, wurde der Europäische Architekturfotografie-Preis vergeben. Ein Appell an die gebaute (und zerstörte) Umwelt.

Gestern, Freitag, wurde der Europäische Architekturfotografie-Preis vergeben. Ein Appell an die gebaute (und zerstörte) Umwelt.

Fast möchte man ins Foto hineingreifen, sich des Gestrüpps erbarmen und die Lampe wieder ins Lot stellen. Doch irgendetwas an diesem hässlich eingefangenen Blick scheint zu kommunizieren, dass es dafür schon zu spät ist, dass das Business-Center längst nicht mehr in jener messingfarbenen Würde erstrahlt wie dereinst zu gastgewerblichen Zeiten. Es ist eine traurige, deprimierende Subtilität, die sich hier über Flatscreen und Raufasertapete dem Betrachter mitteilt.

Die Vermutung ist wahr: Vor einigen Jahren wurde das Hotel President, ein angegammeltes Best-Western-Hotel mit Vertreter-Charme in allerbester Lage, nur wenige Schritte vom Kudamm entfernt, geschlossen. Heute wird der einstige Klotz als Notunterkunft für geflüchtete Menschen genutzt. Es ist eines von insgesamt vier Orten dieser Art, die der Berliner Fotograf Andreas Gehrke unter dem Titel Arrival eingefangen hat. Gestern Abend wurde die vierteilige Fotoserie im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main mit dem Europäischen Architekturfotografie-Preis 2017 ausgezeichnet.

„Mich interessieren Orte, die von Mangel, Abwesenheit und Unbestimmtheit geprägt sind“, sagt Gehrke im Interview mit dem STANDARD . Seit langer Zeit schon porträtiert der 41-Jährige städtische und ländliche Lebensräume, dokumentiert mit seiner großformatigen Plattenkamera vergängliche und auch längst vergangene Orte. „Das Faszinierende und Berührende an diesem Hotel ist, dass sich seine Nutzung gewandelt hat und dass es heute einer großen Zahl an Menschen als Wohnort dient.“

Für ein paar Sekunden verstummt das Gespräch. „Doch ja, es ist ein artifizieller Blick, den ich da habe. Es ist ein künstlicher Kommentar zu den Lebensumständen der nach Deutschland geflüchteten Menschen. Viele von ihnen haben ihren Lebensmittelpunkt aufgegeben und müssen nun monatelang, oft ohne Aussicht auf mittelfristige Besserung, in einem alten, aufgelassenen Mittelklassehotel in auf engstem Raum zusammengepferchten Stockbetten ausharren. Meine Fotos sind nur der Versuch, mich in die Lage der Flüchtlinge hineinzuversetzen.“

Vier Annäherungsversuche hat Gehrke für den heuer ausgeschriebenen Fotografie-Wettbewerb un-ternommen. Sie sind so unterschiedlich wie auch die von ihm gewählten Farbwelten und Formate. Neben dem aufgelassenen Hotel President sind dies die ehemalige Stasi-Zentrale in der Ostberliner Ruschestraße, eine provisorische Mehrzweckhalle auf dem Flugfeld in Berlin-Tempelhof sowie eine temporäre Unterkunft auf dem Berliner Messegelände. Die palästinensische Flagge, die über der behelfsmäßigen Abzäunung flattert, ist der Beweis dafür, dass auch in der prekärsten Situation die Sehnsucht nach Heimat nicht abreißt.

„Es deutet alles darauf hin, dass Migration eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden wird“, sagt Gehrke. „Meist fokussieren wir unseren Blick zu diesem Thema auf die politischen Grenzen. Doch ein großer Teil der Migration und der damit leider verbundenen Abgrenzung und Abschottung gegen das Fremde findet mittendrin in unseren Städten statt – in meinem Fall mitten in Berlin.“ Das Ausmaß der Entfremdung und der sozialen Härte in Gehrkes Bildern ist beschämend.

„Die europäische, aber auch globalpolitische Diskussion der letzten Jahre und Monate hat sehr stark mit Grenzen – mit Grenzöffnung, Grenzziehung und Grenzschließung – zu tun“, sagt Christina Gräwe, Erste Vorsitzende des Vereins Architekturbild, der den Preis in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Baukultur und dem DAM in Frankfurt seit 1995 biennal vergibt. „Daher haben wir uns entschieden, die Grenze zum diesjährigen Generalthema zu erheben. Die künstlerischen Annäherungen sind sehr unterschiedlich. Doch die Gemeinsamkeit aller 133 eingereichten Arbeiten ist, dass sie nie den anwesenden, sondern fast immer nur den abwesenden und ausgegrenzten Menschen darstellen. Das gibt mir zu denken und beweist, dass das Thema sehr präsent ist.“

Auch Matthias Jungs Fotoserie Revier , die mit einem weiteren Preis ausgezeichnet wurde, dreht sich um den verschwundenen Menschen. Gezeigt werden ausgestorbene Gemeinden im größten Braunkohletagebaugebiet Europas. Rund um die Tagebauwerke Garzweiler, Hambach und Inden im Westen Kölns fallen immer mehr Ortschaften den riesigen Baggern und den von ihnen aufgerissenen, bis zu 400 Meter tiefen Schürflöchern zum Opfer. Insgesamt wurden in den letzten Jahrzehnten bereits 40.000 Menschen enteignet und umgesiedelt.

„Was tut die Menschheit in einem so reichen und demokratischen Land ihrer Bevölkerung an“, sagt Matthias Jung, „dass hier ohne größere Not tausenden Menschen ihre Identität und Heimat geraubt wird?“ Die verbarrikadierten Fenster und Auslagen in den nächtlichen, nur durch Laternenschein erleuchteten Backsteinfassaden zeugen von einer entleerten Tristesse. So mancher Ort in Jungs Fotoserie ist längst schon im unaufhaltsam wachsenden Loch der fossilen Rohstoffgewinnung verschwunden. „Die Tagebauwerke wurden im Kalten Krieg gegründet und hatten damals durchaus ihre Berechtigung. Doch in der heutigen politischen Situation erscheint die Braunkohleförderung auf diese Weise mehr als anachronistisch.“

Es ist genau dieser reflektierte, zum Nachdenken anregende Blick auf die von uns gebaute (und zerstörte) Umwelt, den der Europäische Architekturfotografie-Preis vor den Vorhang holen will. „Hinter der klassischen Auftragsarbeit der Architekturfotografie“, erklärt Gräwe, „lauert ein sensibler künstlerischer Impetus, der für uns alle ein wertvoller Spiegel ist. Diesen anschaulich zu machen ist unsere Aufgabe.“

Die insgesamt 28 ausgezeichneten und gewürdigten Fotoarbeiten zum Thema „Grenzen“ sind bis 6. August im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt zu sehen. Zur Ausstellung ist ein gleichnamiger Katalog erschienen. AV Edition, 128 Seiten, € 24,80.

Der Standard, Sa., 2017.05.06

15. April 2017Wojciech Czaja
Der Standard

„Loos würde verstummen“

Der Wiener Künstler Peter Sandbichler schafft mit seinem „Haus mit Augenbrauen“ ein dramatisches Kunstprojekt im öffentlichen Raum. Und er zeigt auf, wie uninspiriert die heutige Stadt geworden ist. Eine Kampfansage.

Der Wiener Künstler Peter Sandbichler schafft mit seinem „Haus mit Augenbrauen“ ein dramatisches Kunstprojekt im öffentlichen Raum. Und er zeigt auf, wie uninspiriert die heutige Stadt geworden ist. Eine Kampfansage.

Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Ein Haus wie jedes andere auch in dieser Straße. Stuck, Gesims, Voluten, Figürchen und Vasenbalustraden, so weit das Auge reicht. Doch mit jedem Schritt, der einen näherbringt, beginnt das Auge zunehmend zu zweifeln. Die im Kopf mit so großer Sicherheit abgespeicherten Versatzstücke der Gründerzeit wollen sich nicht so recht ins Bild fügen. Die Formen werden immer fragwürdiger, die Konturen immer kantiger, die Schatten immer schnippischer. Am Ende dann die totale Verstörung.

„Ich wollte mich mit großer Subtilität an das scheinbar gängige Bild von Fassade heranschleichen“, sagt der Wiener Künstler Peter Sandbichler. „Mein Wunsch war es, auf den ersten Blick überhaupt nicht aufzufallen. Das Haus sollte sich ganz selbstverständlich in die üppig ornamentierte Straßenzeile des Getreidemarktes und der Mariahilfer Straße fügen. Erst in der Nähe, erst im unmittelbaren Kontakt sollte die Irritation augenscheinlich werden.“

Und das wird sie. Statt der klassizistischen Elemente, die üblicherweise auf einem Gebäude dieses Baujahres prangen, spitzen sich an der 1400 Quadratmeter großen Fassade dramatische Geometrien zu, lassen die zweidimensionale Haut des Hauses zu einer dreidimensionalen, von unzähligen scharfkantigen Pyramiden und Kristallen überzogenen Oberfläche anschwellen und sogleich erstarren. Es ist, als schaute man durch ein Kaleidoskop, das statt der bunten Steinchen, die in der Linse liegen, mit unterschiedlich grauen Licht- und Schattenfragmenten gefüllt ist.

Unweigerlich denkt man an die fetten Medici-Palazzi in Florenz, die mit von oben bis unten bedrohlich hinauswachsenden Bossen den Fußgänger vom Gehsteig zu schieben scheinen wollen, sowie an die expressionistischen kubistischen Villen in der tschechischen Hauptstadt. „Der Prager Kubismus hat mich immer schon fasziniert“, sagt Sandbichler, der sich schon seit Jahren mit modularen Texturen und Strukturen beschäftigt. „In gewisser Weise ist diese kubistische Annäherung eine Neuinterpretation und Neuentwicklung der klassischen Wiener Gründerzeitfassade.“

Neu ist auch die Materialwahl. Anders als in der Vergangenheit nämlich besteht der Stuck nicht aus Gips oder Zement und auch nicht aus Styropor, wie dies bei den meisten Fassadenrekonstruktionen heute praktiziert wird, sondern aus aufgeschäumtem, zu Platten gepresstem und anschließend geschnittenem Glasgranulat, sogenanntem Poraver. Das Material, das gerade mal 190 Kilogramm pro Kubikmeter wiegt, besteht aus recyceltem Altglas.

Hinter dem prominenten Gemäuer, besser bekannt unter dem Namen Varta-Haus, befindet sich das Reich des Investors und Immobilienentwicklers Michael Tojner, der hier mit seiner Firma Wertinvest sowie mit der von ihm geleiteten Industriegruppe Montana Tech Components AG und Varta AG beheimatet ist. Das Kunstprojekt, eines von mehreren, die in den letzten paar Monaten am und im Haus realisiert wurden, dient nicht zuletzt als weithin sichtbare Visitenkarte.

Eine gewisse Leidenschaft

„Die Kunstprojekte am Haus sind Ausdruck einer gewissen Leidenschaft“, sagt Daniela Enzi, Geschäftsführerin der Wertinvest GmbH. „Es geht nicht darum, uns ein Denkmal zu setzen, sondern darum, der Stadt einen gewissen Mehrwert zu geben.“ Neben Peter Sandbichlers „Haus mit Augenbrauen“, so der offizielle Titel des Kunstwerks, gibt es auch den nächtens leuchtenden Tomorrow -Schriftzug von Arnold Reinthaler sowie Roland Kodritschs Skulptur Reasons to believe , eine Figur, die an der Gesimskante steht und wohl kurz davor scheint, sich in den Tod zu stürzen.

„Die schmucklose, im Zweiten Weltkrieg zerstörte Fassade unseres Firmensitzes hat mir nie gefallen“, sagt Tojner auf Anfrage des Standard. „Das aus einem kleinen geladenen Wettbewerb hervorgegangene Siegerprojekt von Peter Sandbichler war so überzeugend, dass ich mich entschlossen habe, nicht nur einen Teil, wie ursprünglich geplant, sondern gleich die gesamte Fassade gestalten zu lassen.“ Die Investitionskosten dafür beziffert Tojner mit „einigen Hunderttausend Euro“. Näheres möchte er nicht verraten.

Mehr als ein Kunstprojekt jedoch – Kunst im öffentlichen Raum ist in Wien glücklicherweise längst keine Seltenheit mehr – ist Peter Sandbichlers urbane Intervention eine wertvolle Anregung, um über Schönheit in der Stadt nachzudenken. Markus Rumelhart, Bezirksvorsteher von Mariahilf, bezeichnet das Projekt als „zeitgemäße Fassade, die den Menschen ein schönes Bild zur Betrachtung gibt“. Hans-Peter Wipplinger, Direktor des Leopold Museums, der vor Kurzem die Eröffnungsrede hielt, vergleicht die Radikalität und Konsequenz des Kunstwerks sogar mit jener, die Adolf Loos einst bei seinem Haus am Michaelerplatz („Haus ohne Augenbrauen“) hat walten lassen: „Loos würde verstummen.“ Starke Worte.

„Neuinterpretierte Gründerzeitfassaden sind oft peinliche Stilkopien, doch dieser Ansatz zeigt, was mit heutigen technischen Mitteln und heutigem Verständnis von Stadt möglich ist“, sagt Robert Kniefacz von der MA19, zuständig für Architektur und Stadtgestaltung. „Vor allem aber sehe ich dieses Projekt als Einladung an Architekten, Bauherren, Bauträger, Investoren und Projektentwickler, nicht nur verwertbare Wohn- und Bürofläche zu bauen, sondern sich auch wieder vermehrt der Fassade als Gesicht der Stadt zu widmen.“ „Haus mit Augenbrauen“ ist ein Gestaltungsansatz von vielen. Ein radikaler gewiss. Und er ist eine Kampfansage an den zunehmenden Analphabetismus von Architekten und Bauherren, die die Stadt mit gesichtslosem Vollwärmeschutzsondermüll vollpfropfen. Mögen sich die Übeltäter angesprochen fühlen.

Der Standard, Sa., 2017.04.15

12. April 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Mit dem Pilzkopf durch die Ziegelwand

Das Biologiezentrum der Universität Wien wird übersiedeln. Ab 2021 sollen zukünftige Forscherinnen und Forscher in einem Neubau in St. Marx ausgebildet werden. Der Bio-Cluster bekommt damit ein neues Puzzlestück. Nun wurden die Pläne präsentiert.

Das Biologiezentrum der Universität Wien wird übersiedeln. Ab 2021 sollen zukünftige Forscherinnen und Forscher in einem Neubau in St. Marx ausgebildet werden. Der Bio-Cluster bekommt damit ein neues Puzzlestück. Nun wurden die Pläne präsentiert.

Wien – Der Bio-Cluster in St. Marx bekommt Zuwachs. Zum Institute of Molecular Biotechnology, dem Gregor-Mendel-Institut, zu den Max F. Perutz Laboratories und zum kürzlich eröffneten Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie gesellt sich ab dem Wintersemester 2021 das neue Biologiezentrum der Universität Wien. Letzte Woche wurden die Pläne der Öffentlichkeit vorgestellt. Der 19.000 Quadratmeter große Neubau gibt sich in massiver Klinkeroptik und bietet mit seinen organischen Rundungen willkommene Abwechslung zur unterkühlten Schwarz-Weiß-Ästhetik, die in den letzten Jahren in Wien dominierte.

„Das bestehende Biologiezentrum in der Althanstraße war schon seit Jahren dringend sanierungsbedürftig“, sagte Heinz W. Engl, Rektor der Universität Wien, dem STANDARD . Kalkulationen hätten aber ergeben, dass ein Neubau viel billiger ausfallen würde. „Dazu kommt, dass die Sanierung bei laufendem Betrieb mit 5000 Studierenden alles andere als optimal ist. Nun bekommen wir für weniger Geld ein komplett neues Gebäude mit modernster Technik, hoher Flexibilität und perfekter Anbindung an den öffentlichen Verkehr und an den Bio-Cluster St. Marx.“ Kurze Pause. „Und ja, mir gefällt das Gebäude gut. Ich bin mir sicher, dass der Klinkerbau zu einer gerngesehenen Landmark in der Gegend wird.“

Der Wettbewerbsentwurf dazu stammt von den Berliner Architekten Marcel Backhaus und Karsten Liebner. Mit ihrem fast 180 Meter langen Ziegelriegel konnten sich die beiden gegen 40 Mitbewerber durchsetzen. „Die Ausschreibung war sehr komplex“, erzählt Liebner. „Allen Forderungen gerecht zu werden war fast eine mathematische Aufgabe mit mehreren Unbekannten.“ Das Resultat der Bemühungen: Zur Schlachthausgasse hin gibt sich der sechsgeschoßige Baukörper wuchtig und städtisch, zu den Wohnhäusern im Osten hin wird das Bauvolumen in quergestellten Riegeln mehr und mehr aufgelockert.

Déjà-vu für Kenner

„Mit der Klinkerfassade wollen wir die historischen Bauten der Umgebung wie die ehemalige Viehmarkthalle aufgreifen“, sagt Liebner. „Damit fügt sich der Bau ins bestehende Ensemble.“ Architekturkenner werden angesichts der Visualisierung ein Déjà-vu haben, erinnert das Haus doch an die 1939 eröffnete Bürozentrale von S. C. Johnson Wax in Racine, Wisconsin. Damals hatte Architekt Frank Lloyd Wright mit Ziegelfassade, schmalen Fensterbändern und unverwechselbaren Pilzkopfsäulen gearbeitet. Das denkmalgeschützte Gebäude zählt heute zu Wrights bekanntesten Objekten.

„Die Ähnlichkeit ist sicher kein Zufall“, sagt Liebner. „Große Universitätsbauten in Europa und in den USA wurden lange Zeit im Stil der klassischen Moderne errichtet. Heute suggerieren diese Bauformen Nachhaltigkeit und Beständigkeit.“ Nicht nur im Außenraum werden die charakteristischen Pilzkopfsäulen das Gebäude tragen, sondern auch innen: Geplant sind – wie schon bei Frank Lloyd Wright – hohe, zweigeschoßige Arbeitsräume, die laut Liebner nicht nur funktional, sondern auch schön und atmosphärisch ansprechend sein sollen.

Das Biologiezentrum soll laut Rektor Engl 5000 Studierenden und 600 bis 700 Forschern und Angestellten Platz bieten. Dank Fernwärme, Erdwärme, Wärmerückgewinnungsanlage, Regenwassernutzung, LED-Beleuchtung, integrierter PV-Anlage und ideal gedämmten Außenwänden will man Niedrigenergiestandard erreichen. Die Ziegelklinker im schlanken Langformat werden die Architekten eigens für dieses Projekt produzieren lassen.

„Ich denke, dass wir mit dem Neubau in St. Marx einen sehr guten Weg einschlagen“, sagt Hans-Peter Weiss, Geschäftsführer der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), die das 146 Millionen Euro teure Gebäude entwickeln und errichten wird.

Funktional angeordnet

„Entscheidend für den einstimmigen Juryentscheid war vor allem die funktionale Anordnung von Bibliothek, Mensa, Verwaltung, Hörsälen und Laborbereichen.“ Und dass das Projekt spätere Umbauten ermögliche. „Wir wissen noch nicht, in welche Richtung sich die Labortechnik in 20, 30 Jahren entwickeln wird.“

Die Verhandlungsgespräche mit den Architekten haben jedenfalls gerade begonnen. Im Sommer 2018 werden die Bauarbeiten gestartet, die Fertigstellung ist für das Wintersemester 2021/22 geplant. Der Altbau in der Althanstraße soll mittelfristig als Ausweichquartier für andere Unis und Fakultäten genutzt werden. Langfristig, heißt es seitens der BIG, sei es nicht unwahrscheinlich, das derzeitige Biologiezentrum durch einen Neubau zu ersetzen – etwa durch ein Studierendenheim.

Der Standard, Mi., 2017.04.12

08. April 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Adresse mit Ablaufdatum

Man nehme ein unbebautes Grundstück, vereinbare mit dem Eigentümer eine Nutzungsdauer und setze darauf ein Studentenheim in Kistenbauweise. Letzte Woche wurden die Pop-up Dorms in der Seestadt Aspern eröffnet.

Man nehme ein unbebautes Grundstück, vereinbare mit dem Eigentümer eine Nutzungsdauer und setze darauf ein Studentenheim in Kistenbauweise. Letzte Woche wurden die Pop-up Dorms in der Seestadt Aspern eröffnet.

A pproved for transport under customs seal“ steht auf einer kleinen Metallplakette, die an die Containertür geschraubt ist. Darunter ist die eingravierte Zahlenchiffre D/GL-1220-62/2000 zu lesen. Der Rost hat dem Schild zugesetzt. „Ich überlege mir manchmal, wo dieser Container schon überall gewesen sein muss“, sagt Benoît Bouchet. „Er ist ramponiert und hat echt viel Charakter. Aber das muss so sein. Ohne Kratzer und Beulen kann ich mir so etwas gar nicht vorstellen.“

Benoît kommt aus Lyon und studiert Material Sciences an der TU Wien. Vor ein paar Wochen erst ist er eingezogen. Er ist einer von insgesamt 86 Studierenden, die im Studentenheim Pop-up Dorms in der Seestadt Aspern im Nordosten Wiens wohnen. Wie die meisten seiner Wohnkollegen sitzt auch er abends an einem der runden Tische in der großen Halle, im atmosphärischen Schlagschatten des ausrangierten 40-Fuß-Containers, und büffelt aus seinen Skripten.

Das wirklich Ungewöhnliche an diesem Ort ist aber nicht der räudige Überseecontainer, sondern sein Rundherum: Benoîts Wohnadresse nämlich hat ein Ablaufdatum. In drei Jahren soll das modular aufgebaute Heim abgebaut und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden. Jede einzelne Studenten-WG lässt sich per Kran auf einen Tieflader verfrachten und kann dann von A nach B gerollt werden. Vor einer Woche wurde das mobile Studentenheim, das Erste seiner Art in Österreich, im Beisein der Projektpartner feierlich eröffnet.

Bauland mit Engpass

„Was Bauland betrifft, haben wir es derzeit mit einem der größten Engpässe und mit entsprechend explodierenden Grundstückspreisen zu tun“, sagte Christoph Chorherr, Wiener Gemeinderat und einer der Initiatoren dieses Projekts, bei der Eröffnung. „Dieses Konzept ist eine gute Möglichkeit, um leerstehende Parzellen, die aus welchen Gründen auch immer erst in einigen Jahren zur Verwertung kommen, temporär zu nutzen.“

Das Konzept dafür stammt von F2 Architekten und Obermayr Holzkonstruktionen. Sie konnten sich vor zwei Jahren im Wettbewerb gegen mehr als 40 Konkurrenten aus ganz Europa durchsetzen. Schon seit 2005 bieten die beiden oberösterreichischen Firmen das selbstentwickelte System an. 35 solcher Projekte konnten bislang realisiert werden. Mit 22 Holzmodulen ist das Studentenheim in der Seestadt Aspern das bislang größte Projekt.

„Die Idee war, ein Fertigteilsystem zu entwickeln, das nicht nach Container aussieht, sondern gewisse wohnliche, architektonische Qualitäten bietet“, sagt Markus Fischer, F2 Architekten. „Es ist, wenn Sie so wollen, die bestmögliche Kombination aus Ästhetik und wirtschaftlicher Vorfertigung.“ Jede Einheit misst exakt 16,80 Meter in der Länge und 5,50 Meter in der Breite. Die Höhe des im Werk komplett vorgefertigten Holzriegelbaus beträgt 3,50 Meter. Die Außenmaße liegen weniger in der Architektur als in der Straßenverkehrsordnung begründet: „Das ist die größtmögliche Größe, die man transportieren kann, ohne dass dabei horrend hohe Kosten für Sondertransporte anfallen“, so Fischer.

Jede einzelne Kiste wiegt rund 30 Tonnen und verfügt über acht Aufhänge- und acht Fundamentpunkte, an denen sie per Autokran aufs Grundstück gehievt werden kann. Die 75 Quadratmeter großen Wohnmodule umfassen jeweils vier Studentenzimmer, zwei Bäder und eine kleine Wohnküche. Dank 36 Zentimeter dick gedämmter Außenwände und einer integrierten Luftwärmepumpe erreicht jedes Modul Passivhausqualität. Auf dem Dach gibt es zudem eine Photovoltaik-Anlage, die Strom zuspeist.

„Mich hat das System von Anfang an fasziniert“, meint Günther Jedliczka, Geschäftsführer der OeAD Wohnraumverwaltung. Gemeinsam mit home4students kümmert er sich um Betrieb und Vermietung. Die Module wurden in Oberösterreich komplett fertig eingerichtet und dann in einem Stück nach Wien gefahren – mitsamt Küchenzeile, Badmobiliar, Schreibtisch, Schrank und Bett. „Am Ende mussten nur noch Bettwäsche und Handtücher ergänzt werden“, so Jedliczka.

175.000 Euro pro WG

„Die 22 Wohnmodule sind in sich so perfekt geplant, dass der Bauaufwand vor Ort auf ein absolutes Minimum reduziert werden konnte“, sagt Sabine Straßer, Geschäftsführerin von home4students. Die Investitionskosten betragen 175.000 Euro pro Wohneinheit beziehungsweise 2300 Euro pro Quadratmeter. „Die geringen Errichtungskosten und die entsprechend niedrige Miete, die wir an den Bauträger zu zahlen haben, können wir eins zu eins an unsere Bewohner weitergeben.“ 355 Euro kostet ein Studentenzimmer pro Monat – Betriebskosten und WLAN inklusive.

„Der günstige Mietpreis war definitiv ein Argument dafür, hierherzuziehen, auch wenn das Heim ziemlich weit draußen liegt“, sagt der 19-jährige bosnische Informatik-Student Lazar Petrović. Seine Klamotten liegen gerade in der Waschmaschine. Die Schleudergeräusche dringen aus dem Inneren des Containers. „Der einzige Nachteil der provisorischen Bauweise ist die Akustik. Man hört überall alles durch. Aber für Studenten ist das eh okay.“

Mit am Tisch sitzt Jaccoline Zegers aus den Niederlanden. Die 21-jährige Studentin deutet auf die komplett verglasten, einsehbaren WG-Küchen, die im Erdgeschoß und ersten Stock die zentrale Halle säumen. „Als Holländerin ist man ja eine gewisse Offenheit und Transparenz gewohnt. Trotzdem ist es am Anfang ziemlich irritierend, beim Nudelkochen quasi in der Auslage zu stehen. Aber man gewöhnt sich daran. Letztendlich schauen beim Kochen alle Menschen gleich aus.“

Das Studentenheim ist für eine technische Nutzungsdauer von 40 Jahren ausgelegt. Jedes einzelne Wohnmodul ist so ausgelegt, dass es theoretisch fünf Umzüge übersteht. „Wir haben uns ausgerechnet, dass sich die Finanzierung nach 20 Jahren amortisiert haben wird“, erklärt Michael Gehbauer, Geschäftsführer der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA), die das Projekt entwickelt und errichtet hat. „Damit haben wir einen gewissen Spielraum für Unvorhergesehenes, und den werden wir auch brauchen, denn noch haben wir keine Erfahrung, wie sich die permanenten Auf- und Abbauten auf die Konstruktion auswirken werden.“

Temporäre Kiste für alle?

Die Pop-up Dorms könnten Schule machen. Vorausgesetzt natürlich, die betroffenen Eigentümer sind bereit, es der Wien 3420 Aspern Development AG gleichzutun und ihre bisweilen unbebauten Grundstücke für bestimmte Zeit kostenlos beziehungsweise günstig zur Verfügung zu stellen. „Meine Vision ist, das Projekt zu einem Best-Practice-Beispiel für sozial Bedürftige und Geflüchtete auszubauen“, sagt Chorherr. „Damit könnte es uns gelingen, die kurzfristigen Wohnungsengpässe zu überbrücken.“

Sollte es die Stadt Wien damit ernst meinen, wäre sie gefordert, sich ein Anreizmodell für Eigentümer zu überlegen und die schamlos grassierende Grundstücksspekulation in der Großstadt charmant auszunützen.

Der Standard, Sa., 2017.04.08



verknüpfte Bauwerke
PopUp dorms

25. März 2017Wojciech Czaja
Der Standard

In Dystopolis herrscht Helmpflicht

Studenten der TU Wien haben dieses Semester die „Baubehörde für totale Sicherheit“ ins Leben gerufen und stellen damit die Frage: Wie sicher wollen wir planen, bauen und leben? Eine Polemik.

Studenten der TU Wien haben dieses Semester die „Baubehörde für totale Sicherheit“ ins Leben gerufen und stellen damit die Frage: Wie sicher wollen wir planen, bauen und leben? Eine Polemik.

Gefahr im Verzug. Wer möchte dafür schon die Haftung übernehmen? Also wird der spitze Taubenschutz am Gesims nutzerinnenkonform nachgerüstet und mit verletzungssicherem Prallschutz aus der Rebensaftindustrie versehen. Zugleich bekommt das Großstadttier einen Bauhelm ums Köpfchen geschnallt. Fertig ist Fall #1045, den Ing. Kurt Sichtig – der Name des Sachbearbeiters wird am Anfang des Films kurz eingeblendet – heute auf dem Tisch liegen hat, nur um sich wenig später der Fallnummer 1356 zu widmen. Diesmal sollen die Turmspitzen des Stephansdoms mit Schaumstoff, Signalfarbe Rot, aufgepolstert werden. Sicher ist sicher.

„Die Stadt entwickelt sich immer mehr zu einer extremen Hochsicherheitszone“, sagt Sylvia Winter, Architekturstudentin an der TU Wien. „Das bezieht sich nicht nur auf immer schärfere Bauvorschriften, sondern greift auch mehr und mehr in den eigenen Privatbereich ein. Als Stadtbewohnerin wird mir damit das instinktive Denken abgenommen. Man wird für unmündig erklärt. Ist es das, was wir wollen?“

Gemeinsam mit ihren beiden Studienkollegen Christoffer Buchebner und Theresa Laber erstellte die 25-Jährige einen provokanten einminütigen Film unter dem dystopischen Titel Baubehörde für totale Sicherheit. Die durchaus bewegenden Bilder, die zurzeit auf der Website des Filmfestivals Diagonale zu sehen sind, sind die Reaktion auf eine bereits lang anhaltende, schwelende Diskussion unter Österreichs Architekten, Fachplanerinnen, Baubeteiligten und Behörden. Entstanden ist der Film im Zuge eines von Gastprofessorin Katja Schechtner (MIT) geleiteten Seminars zum Thema „Data, Tech & the City“ an der TU Wien. Ziel des Semesterprojekts war, über die Stadt der Zukunft nachzudenken und mögliche Auswirkungen von Standardisierung zu skizzieren.

„Als angehende Architektin kann ich den Bedarf von Sicherheitsvorkehrungen auf der Baustelle und im fertigen Gebäude gut nachvollziehen, und der Großteil dieser Maßnahmen ist nützlich und extrem wichtig“, so Winter. „Allerdings frage ich mich: Wie kommt es immer wieder zu den wirklich absurden Ausreißern? Wieso ist ein altes Stiegengeländer heute plötzlich zu niedrig? Wieso müssen Fenster in historischen Häusern nachträglich mit Brüstungen versehen und verbarrikadiert werden? Und wieso dürfen wir schräge und geböschte Wege in der Stadt nicht mehr eigenverantwortlich benützen?“ Der Film ist als Anregung zum Nachdenken gedacht.

„Die totale Sicherheit gibt es nicht, denn es wird immer einen Bereich geben, der in Relation zu anderen Bereichen als unsicher gelten wird“, meint Christian Aulinger, Präsident der Österreichischen Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, im Gespräch mit dem Standard . „Dennoch legen wir schon seit Jahren ein übertriebenes Sicherheitsdenken an den Tag, das nicht nur absurd ist, sondern in einer Kosten-Nutzen-Rechnung – also in der Gegenüberstellung des Ressourcenaufwands und des realen Sicherheitsgewinns – wirklich fraglich ist.“

Schon heute sind sich Experten aus diversen Normen- und Bauvorschriftengremien darin einig, dass man in puncto Sicherheit bereits weit übers Ziel hinausgeschossen habe. „Fakt ist, dass in vielen Gremien die Industrie mitdiskutiert und aufgrund ihrer Eigeninteressen nicht gerade zur Mäßigung der Normen- und Vorschriftenflut aufruft“, so Aulinger. „Also müssen wir Planer und Behörden uns aktiv darum bemühen, hier eine Kehrtwende einzuleiten.“

Mit Erfolg. Im Zuge des sogenannten Dialogforums Bau, einer Initiative der WKO und des Normungsinstituts Austrian Standards, wurden bereits manche Bauvorschriften und Normen gelockert. Vor allem im Bereich des Brandschutzes („In Wien brennen die Häuser schneller und heißer als im Rest der Welt“, ein häufig gehörtes Bonmot) wurden viele überambitionierte Schritte der letzten Jahre wieder rückgängig gemacht oder auf ein vernünftiges Level herabgesetzt.

„Es gibt in Österreich rund 20.000 Normen“, erklärt Heimo Ellmer, der Leiter des Bereichs Bauwirtschaft/Vergabewesen bei Austrian Standards, „und davon sind rund 3000 für die Baubranche relevant. Ich würde sagen, dass wir mit dieser Zahl einen Plafond erreicht haben. Wir sehen, dass die Entwicklung bereits leicht rückläufig ist und dass die zu lesenden Seiten wieder weniger werden.“ Doch das wirklich große Problem, so Ellmer, ist nicht die Fülle an gesetzlichen Vorschriften, Richtlinien und Normen, sondern die Tatsache, dass viele dieser Punkte und Paragrafen einerseits redundant sind und andererseits einander teilweise widersprechen. Da den Überblick zu bewahren ist nicht immer leicht.

„Abgesehen davon, dass wir in einer Normenflut untergehen, haben sich in den letzten zehn Jahren 650 relevante Baunormen durch Novellierungen und neue Kennzahlen verändert“, sagt Peter Bauer, Ingenieurkonsulent für Bauingenieurwesen an der Wiener Architektenkammer. „Das heißt also: Pro Woche gibt es mehr als eine neue Norm zu lesen und zu lernen. Die Definition von Sicherheit verändert sich offenbar im Wochenrhythmus. Das ist absurd.“

Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sich Studierende der TU Wien mit diesen normativen Abgründen beschäftigen. „Wenn wir nicht heute schon aktiv zurückrudern, werden die Architekten von morgen in einem totalen Sicherheitssystem arbeiten müssen“, sagt Rudolf Scheuvens, Professor für örtliche Raumplanung und Stadtentwicklung sowie Dekan der Fakultät für Architektur. „Um das zu verhindern, müssen wir uns alle gegenseitig wachrütteln. Ich appelliere an Gesetzesgeber und Industrie. Etwas mehr Mut zur Gelassenheit wäre angebracht.“

Oder, wie Sylvia Winter, eine der Erfinderinnen der Baubehörde für totale Sicherheit, sagt: „À la longue stiehlt die permanente Übervorsicht dem Lebensraum Stadt die Lust und Lebensfreude. Sie zwingt uns alle in ein System, in das wir nicht hineinwollen. Wir jedenfalls wünschen uns eine Stadt mit Vielfalt und Eigenständigkeit. Es sind diese Widersinnigkeiten, diese Ausnahmen im System, die eine Stadt besonders machen.“

Im Architekturzentrum Wien wird gerade an der kommenden Herbstausstellung gearbeitet: Form folgt Paragraph. Sie widmet sich der Frage, wie sich Sicherheitsnormen und Bauvorschriften auf Stadt und Architektur auswirken. Die Diskussion ist eröffnet.

Der Standard, Sa., 2017.03.25

12. März 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Bauten für den dänischen Way of Life

Seit Jahren bestechen Kopenhagener Architekten mit ungewöhnlichen, innovativen Konzepten. Die „dänische Sichtweise auf die Welt“ sorgt international für Furore und spielt auch bei den Mipim-Awards eine große Rolle.

Seit Jahren bestechen Kopenhagener Architekten mit ungewöhnlichen, innovativen Konzepten. Die „dänische Sichtweise auf die Welt“ sorgt international für Furore und spielt auch bei den Mipim-Awards eine große Rolle.

Wien – Jahrzehntelang hat die dänische Presse auf Papirøen ihre Rohstoffe und Zeitungen gelagert. Doch seitdem die Lagerhäuser 2013 geleert wurden, steht die Papierinsel bis auf wenige Häuser leer. Nun soll das 45.000 Quadratmeter große Areal im Kopenhagener Stadtteil Christiansholm revitalisiert und neu bebaut werden. Das dänische Büro Cobe Architects, das sich in einem Wettbewerb gegen OMA, MVRDV, Henning Larsen, C. F. Møller, Adept und Holscher Nordberg Polyform durchsetzen konnte, plant darauf einen lebendigen Stadtteil mit öffentlich nutzbaren Einrichtungen, Büroräumlichkeiten und Wohnungen.

Großer Wert wurde auf die Landschaftsarchitektur gelegt. Wie auch in der HafenCity Hamburg, die europaweit immer wieder als Best-Practice-Beispiel herangezogen wird, sollen die Freiflächen begrünt und bestuhlt werden und Platz für Flohmärkte und Open-Air-Veranstaltungen bieten. Zum Wasser hin soll die Kante zu Sitztribünen ausgebildet werden. Während in der hohen Erdgeschoßzone eine Schwimmhalle, eine Markthalle, Eventräumlichkeiten und Hallen für Gewerbetreibende und Kreativwirtschaftler untergebracht werden, sind die oberen fünf bis zehn Etagen, die ein wenig an die Häusersilhouetten in der historischen Innenstadt erinnern, für Wohnungen und Büros reserviert.

„Unsere Vision ist, Christiansholm und vor allem Papirøen zu einem First-Class-Beispiel für urbanes Leben auszubauen und Touristen sowie Besucher aus der ganzen Stadt anzuziehen“, erklärt Dan Stubbergaard, Gründer und Chefarchitekt von Cobe, der mit seinem Büro selbst auf der kleinen Insel eingemietet ist und spätestens bei Baustart 2018 seine kreativen Hallen räumen wird müssen. „Das Projekt soll ein Beitrag zum Kopenhagener Way of Life werden.“

Kronjuwel

Jens Kramer Mikkelsen, CEO des Grundeigentümers und Auftraggebers CPH City & Port Development, bezeichnet den Siegerentwurf sogar als „Kronjuwel des inneren Hafens“ und als logische Ergänzung zum benachbarten Königlichen Opern- und Theaterhaus. Kein Wunder also, dass das Stadtentwicklungsprojekt, das in Zusammenarbeit mit Inside Outside, Via Trafik und dem deutschen Klima-Engineering-Büro Transsolar geplant wird, derzeit unter den vier Finalisten für die Mipim-Awards 2017 in der Kategorie „Best Futura Project“ rangiert. In wenigen Tagen wird im Palais des Festivals in Cannes der Gewinner gekürt.

Es ist nicht das erste Mal, dass dänische Architektur weit über ihre Grenzen hinweg Bekanntheit erlangt. Der Kopenhagener Marketingzampano Bjarke Ingels und das von ihm 2005 gegründete Büro BIG (Bjarke Ingels Group) haben der dänischen Hauptstadt mit ungewöhnlichen Wohn- und Büroentwicklungen bereits mehrfach Aufmerksamkeit beschert. Aktuell baut Ingels für den Heizkraftwerkbetreiber Amagerforbrænding eine Müllverbrennungsanlage, deren Dach im Winter als 1,5 Kilometer lange Ski- und Snowboardpiste dienen wird. Noch heuer, so der Plan, soll das 800 Millionen Euro teure Pionierprojekt in Betrieb gehen.

BIG ist längst schon international tätig. Im Herbst letzten Jahres wurde in der West 57th Street in New York ein 142 Meter hohes Wohnhaus fertiggestellt, dessen geböschte Fassade sich wie ein dreieckiges Segel gegen den angrenzenden Hudson River stemmt. Aktuell arbeitet der 42-jährige Bjarke Ingels am neuen World Trade Center 2 sowie an „The Big U“ entlang des gesamten Ufers von Manhattan. Die Hochwasserschutzanlage soll den Big Apple künftig vor Hurrikans und steigendem Meeresspiegel schützen. „Es geht in der Architektur darum, unsere Träume zu realisieren“, so Ingels, der sogar schon einmal vom Magazin Rolling Stone interviewt wurde. Auch das kommt nicht alle Tage vor. „Und ja, vielleicht haben wir Dänen eine etwas offenere, unvoreingenommenere Sichtweise auf die Welt.“

Dänische Vorherrschaft

Damit erklärt sich auch, warum auf der Liste der heurigen Mipim-Awards-Finalisten gleich noch zwei weitere dänische Projekte auffallen: In Slagelse, 100 Kilometer westlich von Kopenhagen, planten Karlsson Arkitekter für die Region Sjælland das psychiatrische Krankenhaus GAPS (nominiert in der Kategorie „Best Healthcare Development“). Das 44.000 Quadratmeter große, überaus warm und angenehm gestaltete Haus, das mit DGNB Silber zertifiziert wurde, besticht durch Tageslicht, farbige Kunstlichtführung und viel helles Holz.

Eines der vielleicht aufregendsten Projekte unter den Finalisten ist jedoch der Neubau des Parkhauses Lüders im Nordhavn, Kopenhagen. Anders als bei den meisten Hochgaragen nämlich handelt es sich dabei nicht um einen monofunktionalen Klotz in der Stadt, sondern um eine im wahrsten Sinne des Wortes verspielte, begehbare Skulptur: Das gesamte Dach im achten Stock wurde als knapp 2000 Quadratmeter großer, öffentlich zugänglicher Spielplatz ausgebildet. Mit ihrem Park ’n’ Play – so der offizielle Titel der ungewöhnlichen Revitalisierung – haben JaJa Architects und Rama Studio die Messlatte für städtische Infrastruktur hochgelegt. Das rote Park- und Spielhaus ist sogar für den Mies-van-der-Rohe-Award 2017 der EU nominiert.

Der Standard, So., 2017.03.12

02. März 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Der Nobelpreis der Architektur erfindet sich neu

Der Pritzker-Preis geht an das spanische Architekten-Trio Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramon Vilalta

Der Pritzker-Preis geht an das spanische Architekten-Trio Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramon Vilalta

Die Überraschung war groß. Zum dritten Mal in der Geschichte des Pritzker-Preises, der seit 1979 jährlich vergeben wird, wurde nicht eine Einzelperson, sondern ein Büro gewürdigt. Und zum allerersten Mal fällt der Lorbeer auf ein Trio: Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramon Vilalta sitzen im 30.000-Einwohner-Städtchen Olot in den katalanischen Pyrenäen, irgendwo zwischen Andorra und Barcelona, in ihrem Büro RCR Arquitectes.

Auf den ersten Blick wirken die drei Gestalten, die sich bislang vor allem in der Fachwelt einen Namen gemacht haben, freundlich und unscheinbar. Doch die Projekte, die RCR – die Bürobezeichnung steht für die Vornamen – bislang realisiert hat, sind gewaltige, visuell und atmosphärisch beeindruckende Gratwanderungen zwischen Archaik, regionaler Verbundenheit und materieller Frechheit. Mal ducken sich die Bauten mit Stein und Stahl in das ländliche Katalonien, mal fallen die an Skulpturen erinnernden Baukörper nur durch ihre Glasflächen und Spiegelungen auf, dann wieder werden die Häuser mutig mit Kunststoff, recycelten Baustoffen und grellen Neonfarben collagiert. Die Kombinationsgabe schockiert.

Zu den bekanntesten Projekten der drei durchschnittlich 56-Jährigen zählen das Weingut Bell-Lloc in Palamós (2007), das hochelegante Senioren- und Bibliothekszentrum Sant Antoni in Barcelona (2007), der Kindergarten El Petit Comte in Besalú (2010), das Soulage Museum in Rodez (2014) sowie das Cuisine Art Center in Nègrepelisse (2014).

Für Furore sorgte vor allem das 2011 eröffnete Open-Air-Theater La Lira in Ripoll. Wie ein rostiges, dreigeschoßiges Skelett aus Corten-Stahl prangt der urbane Bühnenplatz rotzig und kompromisslos zwischen den Feuermauern und Wäscheleinen der angrenzenden Wohnhäuser.

Auch das Büro von RCR ist sehenswert, handelt es sich doch um eine revitalisierte Gießerei, die sogenannte Espai Barberí, im historischen Stadtzentrum von Olot. Da treffen kaputtes Mauerwerk und neuer Beton aufeinander, aus alten Innenhöfen sprießt ein urbaner Dschungel, eine meterlange Glasfassade wird vor kunstvoll ornamentierte gusseiserne Säulen gestellt. Allein für das Erlebnis dieser atemberaubend sakralen Räume möchte man im Sommer sofort als Volontär anheuern. Wie steht doch auf der Homepage von RCR geschrieben? „Univers de la creativitat compartida“ – Universum der gemeinsamen Kreativität.

Angst vor Werteverlust

„Wir leben in einer globalisierten Welt, in der wir auf internationale Geschäfte, Einflüsse und Diskussionen angewiesen sind“, heißt es im Statement der Jury unter Vorsitz des australischen Architekten und 2002-Pritzker-Preisträgers Glenn Murcutt. „Und immer mehr Menschen haben Angst vor genau dem, denn wir sind dabei, nach und nach unsere lokalen Werte zu verlieren. Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramon Vilalta jedoch sagen uns mit ihrer Arbeit, dass man diese Gegensätze auch vereinen kann.“ Die von der Jury zitierte Schönheit und Poesie von RCR erschließt sich einem in jedem einzelnen, auch noch so kleinen Projekt.

Dass der mit 100.000 Dollar dotierte Preis heuer an eine gemischtgeschlechtliche Gruppe vergeben wird, ist wohl kein Zufall. Immer wieder wird die geldgebende Hyatt Foundation dafür kritisiert, Architektinnen zu ignorieren, meist nur Männer vor den Vorhang zu holen. Zaha Hadid (2004) und Kazuyo Sejima (2010) waren in 40 Jahren die einzigen Preisträgerinnen. Sogar die Nachnominierung einiger Frauen, die Seite an Seite mit ihren preisgekrönten Männern arbeiten, aber beim Pritzker-Preis leer ausgingen, wurde bereits diskutiert, von der Stiftung aber abgelehnt.

Vielleicht ist der wichtigste Preis, der als „Nobelpreis der Architektur“ bezeichnet wird, in der Gegenwart angekommen. Vergeben wird die Auszeichnung an Aranda, Pigem und Vilalta am 20. Mai im Akasaka-Palast in Tokio.

Der Standard, Do., 2017.03.02



verknüpfte Akteure
RCR Arquitectes

01. März 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Smarte Wohnung, unsmarte Etikette

Wien – „Wenn wir von jungem Wohnen sprechen“, sagt Ewald Kirschner, Generaldirektor der Gesiba, „dann vor allem von Smart-Wohnungen, also von der Kombination...

Wien – „Wenn wir von jungem Wohnen sprechen“, sagt Ewald Kirschner, Generaldirektor der Gesiba, „dann vor allem von Smart-Wohnungen, also von der Kombination...

Wien – „Wenn wir von jungem Wohnen sprechen“, sagt Ewald Kirschner, Generaldirektor der Gesiba, „dann vor allem von Smart-Wohnungen, also von der Kombination aus kompakten Grundrissen und verträglichen Bruttomieten.“ Die von der Gesiba entwickelten Wohnbauten auf den Parzellen G2 und G3 umfassen 138 geförderte Mietwohnungen, 61 Smart-Wohnungen sowie 46 Gemeindewohnungen neu. Die monatliche Miete für die 47 bis 73 Quadratmeter großen Wohneinheiten liegen unter 7,50 Euro pro Quadratmeter.

Der Gesiba-Bauteil zeichnet sich schon jetzt durch soziale Kompetenz aus, handelt es sich doch um ein kooperativ entwickeltes Projekt der Architekten Georg Reinberg, Huss Hawlik, Sophie und Peter Thalbauer sowie des Wiener Büros Superblock. Das Programm umfasst nicht nur Wohnungen, sondern auch Gemeinschaftsräume, Geschäftsflächen und Arztpraxen. Sogar drei nächteweise anmietbare Gästezimmer für den Tantenbesuch aus Vorarlberg sind geplant. Ein bestehender Altbau, in dem sich einst die Dienstwohnungen der Gaswerkmitarbeiter befanden, soll revitalisiert und ins Gesamtkonzept einbezogen werden. In Erinnerung an die ehemalige Nutzung soll er gelb und resedagrün gestrichen werden.

„Die größte Besonderheit ist die gute, intelligente Flächenwidmung auf diesem Areal“, erklärt Architekt Andreas Hawlik. „Pro Bauplatz durften wir deutlich mehr Kubatur als Wohnnutzfläche entwickeln. Das hat die Bauträger angespornt, die Dichte nicht komplett auszureizen, sondern auch alternative Nutzungen einzuplanen. Es ist eine schöne Wohnhausanlage – und keine Paragrafenorgie mit Gaupen, Erkern und Balkonen.“

Einen Schönheitsfehler gibt es dennoch. „Der Bauträger-Wettbewerb hat vorgesehen, dass die hier tätigen Architekten Arbeitsgruppen bilden und gemeinsam Ideen für Städtebau, Freiraumplanung und alternative Energiegewinnung entwickeln“, erzählt Reinberg. „Es sind komplexe, ausgetüftelte Konzepte entstanden. Wir wollten ein Forschungsprojekt in die Praxis umsetzen und mithilfe solarer Energie umweltfreundlich Gas produzieren. Doch kurz vor Ende wurde das Projekt von Wien Energie und Wiener Netze gestoppt.“

Grund: Die Anlage sei unwirtschaftlich, denn russisches Gas sei derzeit sehr billig. „Das ist eine vertane Chance“, so Reinberg. „Erst lässt man die Architekten unentgeltlich arbeiten und lädt sie ein, Pionierarbeit zu leisten, und dann sagt man Danke. Das ist nicht nachhaltig, sondern frustrierend.“

Der Standard, Mi., 2017.03.01

01. März 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Wohnhaus für Exhibitionisten

In Neu-Leopoldau entsteht ein Wohnhaus mit komplett verglasten Wohnungseingängen. Die offenen Schaufensterräume sind als Kreativzone für Selbstverwirklichung der jungen Mieter gedacht.

In Neu-Leopoldau entsteht ein Wohnhaus mit komplett verglasten Wohnungseingängen. Die offenen Schaufensterräume sind als Kreativzone für Selbstverwirklichung der jungen Mieter gedacht.

Wien – Die Niederländer, sagt man, wohnen in der Auslage. Das calvinistische Wohnverständnis ohne Scham und ohne Vorhänge mutet hierzulande in der Tat seltsam an. In Kürze wird auch Wien sein erstes extrovertiertes Haus haben. Am südwestlichen Zipfel von Neu-Leopoldau, Parzelle H1, entsteht ein Wohnbau mit 65 geförderten Wohnungen, die zum Stiegenhaus hin raumhoch verglast sind. Sämtliche Wohneinheiten werden über eine Glastür mit anschließendem Fenster erschlossen. Die ersten Visualisierungen verheißen einen Hauch von urbaner Setzkasten-Atmosphäre.

„Dieses Haus richtet sich speziell an junge Leute, die sich danach sehnen, kreativ zu sein und einen Teil der Wohnung als Schaufenster in den sozialen, halböffentlichen Raum zu nutzen“, erklärt Richard Scheich, Projektleiter im Wiener Architekturbüro feld72. Angedacht sind Ateliers, Hobbyräume, Hausbibliotheken, ausgefallene Sammlungen oder kleine gewerbliche Einheiten wie etwa Minifriseur oder Tätowierstudio. „Es geht um Selbstverwirklichung“, so Scheich. „Und wenn es nur der eigene Weinkeller oder ein kleiner Hausflohmarkt ist, den man einmal in der Woche veranstaltet.“

Züricher Vorbild

Was in Österreich exotisch anmutet, ist in der Schweiz All- tag. Viele innovative Wohnbaugenossenschaften praktizieren genau das: Offenheit gegenüber den Nachbarn. Und die Mieter scheinen das Angebot zu lieben. Am Hunzikerareal in Zürich, mit dem das Projekt feld72 große Ähnlichkeit aufweist, sieht man die ausgiebige Experimentierlust der Bewohnerinnen – und weit und breit weder Vorhänge noch Jalousien.

„Das ist progressiv und sicher nicht jedermanns Geschmack“, meint der Architekt, der den fünf bis acht Quadratmeter großen, verglasten Vorraum als „Plusbereich“ bezeichnet. „Auch der Wohnfonds Wien hat in der Entwicklungsphase Bedenken gehabt. Aber es reicht schon, wenn wir aus ganz Wien ein paar Dutzend Junge und Junggebliebene für diese Idee begeistern können.“ Hinter dem „Plusbereich“ wird es übrigens einen baulich fix eingeplanten, undurchsichtigen Vorhang geben. Dahinter darf sich dann jeder in klassischer Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit üben.

Hinter dem ungewöhnlichen Projekt, das mit dem Architektursoziologen Jens Dangschat entwickelt wurde, steckt die Wohnbaugenossenschaft Schwarzatal. Mit außergewöhnlichen Wohnprojekten hat der gemeinnützige Bauträger bereits Erfahrung. Das als Baugruppe entwickelte Wohnprojekt Wien am Nordbahnhofareal wurde bereits mit etlichen Preisen überhäuft – darunter auch mit dem Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit.

„Wir wollen etwas Neues ausprobieren“, sagt Benjamin Heinrich, Projektmanager bei Schwarzatal. „Und das heißt, dass man sich auch trauen muss, experimentell zu arbeiten und ein gewisses Risiko einzugehen. Wir sind davon überzeugt, dass wir Menschen finden werden, die sich für genau diese Form des Wohnens interessieren.“ Der Großteil der Wohnungen hat zwischen 39 und 75 Quadratmeter und wird bei knapp acht Eure Miete pro Quadratmeter liegen. Hinzu kommen ein paar Wohnungen mit zwei separaten Eingängen – für Homeoffices, Airbnb-Kandidaten und renitente Pubertierende. „Den Mietern wird schon was einfallen“, meint Heinrich. „Hier ist Kreativität gefragt.“

Der Standard, Mi., 2017.03.01

01. März 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn das Gaswerk unter Strom steht

Die beiden Bauträger Frieden und BWS errichten in der Mitte von Neu-Leopoldau 266 Wohnungen mit irgendwie energetischer Thematik. Besonders spannend: Den Mix aus Eigenmitteln und Miethöhe wird jeder Mieter selbst bestimmen können.

Die beiden Bauträger Frieden und BWS errichten in der Mitte von Neu-Leopoldau 266 Wohnungen mit irgendwie energetischer Thematik. Besonders spannend: Den Mix aus Eigenmitteln und Miethöhe wird jeder Mieter selbst bestimmen können.

Wien - Bis 1969 wurde im Gaswerk Neu-Leopoldau in Wien-Floridsdorf aus Kohle Stadtgas hergestellt. Im Zuge von Produktion, Kriegsbeschädigung und Auflassung der Anlage kam es auf dem 42 Hektar großen Areal zur Kontaminierung des Untergrunds. Nachdem die Fläche von den Wiener Netzen saniert wurde, sollen hier ab Ende des Jahres – aufgeteilt auf mehrere Bauträger und Architekturbüros – rund tausend geförderte Wohnungen errichtet werden. Das Gesamtinvestitionsvolumen beträgt 121 Millionen Euro.

Zentrum der Anlage bildet der Bauplatz P, wo die beiden gemeinnützigen Bauträger Frieden und BWS-Gruppe 189 geförderte Wohnungen und 77 Smart-Wohnungen realisieren werden. Hinzu kommen ein Heim für Kinder und Jugendliche, ein Studentenwohnheim sowie ein Wohnheim mit kurzfristig anmietbaren Startwohnungen. Wie auf dem gesamten restlichen Areal steht das Projekt unter dem Generalmotto des jungen Wohnens. Die Idee ist fürwahr elektrisierend.

„Das Angebot umfasst vor allem leistbares Wohnen und richtet sich an Jungfamilien sowie an Interessenten, die sich in einem jungen, urbanen Umfeld wohlfühlen“, sagt Christoph Scharinger, Prokurist und Leiter der technischen Abteilung der Baugenossenschaft Frieden. „Dazu gehört auch, dass sich die Mieter den Mix aus Eigenmittelanteil und Miete individuell aussuchen können werden.“ Das Modell funktioniert nicht anders als bei einem Leasingwagen: Je höher das Startkapital, desto niedriger die Leasingrate – und umgekehrt.

„Wir haben uns an der Geschichte des Ortes orientiert und definieren unseren Bauplatz als Energiebündel“, erklärt Architektin Regina Freimüller-Söllinger. Gemeinsam mit ihrem Büro plant sie drei Wohnbauten, die unter einem energetischen Motto stehen. „Die drei Häuser heißen Gleichstromgebäude, Wechselstromgebäude und Energietwist und spielen mit genau jenen Bildern, die sie evozieren.“ Mal ist es die gleichförmige Belichtung von allen Seiten, mal die wechselnde, hin und her springende Erschließung, mal die sich verdrehende Struktur des gesamten Hauses. Der Kurzschluss ist vorprogrammiert. Ob die Metaphern über die Konzeptionsphase hinaus Bestand haben und von den künftigen Bewohnerinnen entsprechend verstanden werden, sei dahingestellt.

Mit Brücken verbunden

Ungewöhnlich ist jedenfalls, dass die einzelnen Bauteile mittels Brücken miteinander verbunden werden und über eine ganze Batterie an quartiersübergreifenden Gemeinschaftsräumen verfügen, die den Bewohnerinnen und Bewohnern des gesamten Planungsareals zur Verfügung gestellt werden sollen. Ergänzt wird das Angebot von sogenannten Pop-up-Boxen im Erdgeschoß. „Hier werden die Bewohner die Möglichkeit haben, auch sehr kurzfristig Räume und Gewerbeflächen anzumieten“, so Freimüller-Söllinger. „Ganz gleich, ob das nun ein Büro, ein kleiner Imbissstand oder eine Punsch- und Glühweinhütte ist.“

Drei weitere Bauten, die die BWS errichtet, stammen aus der Feder der group of young architects (goya). Auch hier folgen die einzelnen Häuser mit Wohnungen zwischen ein und vier Zimmern mehr oder weniger spannungsgeladenen Ideen. Highlight ist sicherlich das zwölfgeschoßige Hochhaus mit einem breiten Spektrum an ganz unterschiedlich konfigurierten Wohnungen. „Wir kombinieren Wohnungen mit einer minimalen Trakttiefe von nur fünf Metern mit solchen, die bis zu zwölf Meter tief sind“, erklärt Architekt Paul Preis von goya. „Auf diese Weise können wir innerhalb eines Bauteils einen maximalen Mix an Wohnungscharakteren anbieten.“ Bonuszuckerl für junge Paare: In puncto Fensteraufteilung und Vorinstallation sind die meisten Wohnungen so konzipiert, dass sich ein Teil des Wohnzimmers eines Tages für ein kleines Kabinett abzwacken lässt.

Der Standard, Mi., 2017.03.01

25. Februar 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Alle sind Architekten

Das Bildungszentrum Pestalozzi in Leoben blickt auf eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte zurück. Die Schulsanierung ist das Produkt vieler unterschiedlicher Ideen aus Fachwelt und lokaler Bevölkerung.

Das Bildungszentrum Pestalozzi in Leoben blickt auf eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte zurück. Die Schulsanierung ist das Produkt vieler unterschiedlicher Ideen aus Fachwelt und lokaler Bevölkerung.

Es war im Oktober 2013. Nach vier Tagen intensivster Ideenwerkstatt fischte Caren Ohrhallinger die anonymen Wunschzettel aus dem Ideenglas. Auf einem der Zettel war zu lesen: „Jeder hat das Recht auf eine schöne Schule.“ Die Schrift, erinnert sich die Architektin, war die eines Kindes. „Mich hat dieser Satz so berührt, dass wir beschlossen haben, dem Ideengeber diesen Wunsch zu erfüllen.“ Nach drei Jahren Entwicklungs-, Planungs- und Bauzeit startet dieser Tage das zweite Semester im neuen, rundum revitalisierten Bildungszentrum Pestalozzi in Leoben.

„Das war keine klassische Schulbauplanung, sondern ein intensiver Planungsprozess, dem zu Beginn ein Bürgerbeteiligungsverfahren zuvorgegangen war“, erklärt Ohrhallinger, Partnerin im Wiener Architekturbüro nonconform. „Vier Tage lang haben wir mit Lehrerinnen, Direktoren, Eltern, Schülerinnen und Schülern, Behörden, Bundesdenkmalamt und Pädagoginnen diskutiert und Ideen gesammelt. Am Ende ist der Großteil der Visionen in eine erste Entwurfsstudie eingeflossen.“

Eine der wichtigsten Entscheidungen war, mehrere Schulstandorte und Schultypen zusammenzufassen und an den Standort der ehemaligen, denkmalgeschützten Pestalozzi-Schule in Leoben-Donawitz zu übersiedeln, denn aufgrund der demografischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte sind die Kinder weniger und die Schulen leerer geworden. „Doch so eine Zusammenlegung“, so die Architektin, „ist nicht einfach nur die Summe der notwendigen Klassenzimmer. Das ist ein Hybrid mit fließenden Übergängen und möglichen Synergien, die sorgfältig vorbereitet und begleitet werden müssen.“

Acht Uhr. Nach der Schulglocke spitzt man die Ohren vergeblich. Längst hat sich das Schulgebäude, in dem nun Volksschule, Neue Mittelschule und Polytechnische Schule unter einem Dach vereint sind und sich sogar ein gemeinsames Lehrerzimmer teilen, mit einigen hundert Kindern und Jugendlichen gefüllt. „So viele Schülerinnen und Schüler habe ich hier seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt“, sagt Volksschuldirektorin Petra Kail. Als sie 1976 zu unterrichten begonnen hat, gab es 32 Klassen: „In den letzten Jahren konnten wir gerade acht Klassen füllen. Hinzu kommt, dass das Haus desolat und abgelebt war. Das war ein Geisterschloss.“

Die Zeit des Fürchtens, als die leeren Terrazzokorridore an eine Mischung aus Schlachthof und psychiatrischer Anstalt erinnerten, ist vorbei. Wo bei Eröffnung des Hauses 1927 Mädchen und Buben streng voneinander getrennt und noch mit Rohrstock gezüchtigt wurden, entfaltet sich nun eine heterogene Lernlandschaft mit Stufen, Nischen, Glaswänden, Filzpölstern, aufklappbaren Kommoden und riesigen Bullaugen in der Wand.

„Das sind unsere Leselöcher“, sagen Amy (11), Jamie (11) und Adam (10). „Da können wir uns von beiden Seiten reinsetzen – einmal in der Klasse und einmal am Gang – und uns beim Lesen durch die Glasscheibe zuschauen. Das ist voll lustig.“ Und der Lieblingsplatz der 15-jährigen Diana sind die beweglichen Sitzmöbel am Gang. „In den Strandkörben verbringen meine beste Freundin und ich die Pause. Da sind wir dann mittendrin und doch auch ganz allein.“ Statt einen Teil des Sanierungsbudgets in eine kostspielige kontrollierte Klassenraumbelüftung zu investieren, wie dies ursprünglich vorgesehen war, entschieden sich die Planer, auf ganz normale, händisch öffenbare Fenster zurückzugreifen und das Geld lieber für eine „Verwohnraumlichung“ (nonconform) des historischen Schulgebäudes auszugeben. Dazu zählen nicht nur die verspielten Kernbohrungen in den Wänden, sondern auch der Einsatz von Parkettböden, selbst entwickelten Schulmöbeln und abgehängten Schaumstoffbaffeln, die wie Baumstämme von der Decke baumeln. Schallschutz kann auch schön sein.

Das war ein Geisterschloss

Dass die ungewöhnliche Sanierung (Gesamtinvestitionskosten 14 Millionen Euro) überhaupt möglich war, sei vor allem dem steirischen Schulbaugesetz zu verdanken. „Die Steiermark ist das einzige Bundesland, wo es bis heute keine Schulbauverordnung gibt“, sagt Michael Zinner, Schulbauforscher an der Kunstuniversität Linz. „Entsprechend frei sind die wenigen Richtlinien und Vorschriften zu interpretieren. Wenn man so will, ist dieses Schulhaus ein ursteirisches Pilotprojekt.“

Das trifft auch auf die gesamte Abwicklung des Projekts zu. Anstatt die Planung und Sanierung laut Bundesvergabegesetz auszuschreiben, entschied sich der Leobener Baudirektor Heimo Berghold, den gesamten Planungsprozess zu tranchieren und an mehrere unterschiedliche Architektinnen, Einreich- und Detailplaner, Innenraumgestalterinnen, Projektsteuerer und lokale Vertreter zu vergeben. Auch die Kunstuni Linz war beratend mit von der Partie – und begleitet den Schulbetrieb nun ein Jahr lang in Form von Nachbetreuung und Evaluierung. Das ist ein Novum im deutschsprachigen Raum.

Viele Köche verderben den Brei, heißt es. In diesem Fall jedoch haben viele kommunikative Köche nicht nur Schule, sondern auch Furore gemacht. „Partizipation ist Beziehungsarbeit“, sagt Zinner, „und diese Kultur hat sich auch auf die Planungs- und Bauphase übertragen. Das Projekt war ein einziges kommunizierendes Gefäß, in dem sich jeder mit seiner jeweiligen Expertise eingebracht hat. In einem klassischen Wettbewerb wäre diese feinstoffliche Qualität niemals zu erreichen gewesen.“

Alles paletti? Von wegen. Die Lehrer und Direktorinnen klagen über den bis heute nicht funktionierenden Server, über die ungeschickt platzierten Turnsaalgarderoben sowie über die manuell umsteckbaren Kreidetafeln, die sich die Architekten eingebildet hätten und die vor allem kleinere Lehrerinnen vom ersten Tag an verfluchen. So manches Detail ist nervig. Wie bei jedem anderen Projekt auch.

Fragt sich am Ende: Warum also soll man sich so einen komplizierten Partizipationsprozess antun? „Weil die Schulplanung noch immer nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist“, meint Michael Zinner. „Weil es immer noch formale Systeme gibt, die die Schulplanung auf ein Pauschalrezept reduzieren und neue pädagogische Lernformen erfolgreich ignorieren. Angesichts der Tatsache, dass die Gesellschaft immer differenzierter wird, ist die Schulplanung von der Stange nicht genügend.“ Jeder hat das Recht auf eine schöne Schule.

Der Standard, Sa., 2017.02.25



verknüpfte Bauwerke
Bildungszentrum Pestalozzi

18. Februar 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Vom Luftschloss zur Luftmaschine

Diese Woche präsentierten Chris Müller und Coop Himmelb(l)au ihre gemeinsamen Pläne für ein Gesundheitsresort für Mukoviszidose-Patienten. Das Luxusresort am Meer soll kranken Menschen Atem spenden.

Diese Woche präsentierten Chris Müller und Coop Himmelb(l)au ihre gemeinsamen Pläne für ein Gesundheitsresort für Mukoviszidose-Patienten. Das Luxusresort am Meer soll kranken Menschen Atem spenden.

Gute Architektur, sagt man, sei atemberaubend. „In diesem Fall aber“, meint Chris Müller, „wünsche ich mir ein atemspendendes Projekt, bei dessen Anblick jedem der Mund offen bleibt. Wir möchten einen Ort bauen, den es in dieser Form noch nie zuvor gegeben hat. Einen biomechanischen Musentempel, der in der Lage ist, nicht nur geistige Kreativität, sondern auch körperliche Gesundheit zu fördern. Ja, es ist ein Kampf mit den Elementen. Und nein, niemand hat gesagt, dass das leicht werden wird. Gott ist ja kein Magistrat.“

Die Rede ist von Atmos, einem sogenannten Selfness-Resort direkt an der Meeresküste. Im Gegensatz zu den meisten Anlagen dieser Art jedoch ist der hier angestrebte Urlaubsluxus kein Selbstzweck, sondern vielmehr Mittel zum Zweck, um kranken Menschen auf die Sprünge zu helfen. Dank der exponierten Lage, vor allem aber dank der speziellen Bauweise und Haustechnik des Resorts sollen Mukoviszidose- Patienten – in Österreich ist die Krankheit besser als Cystische Fibrose (CF) bekannt – tief durchatmen und sich auf diese Weise eine Verschnaufpause von ihren Strapazen gönnen können.

Chris Müller, Leiter des Theaters Hausruck und künstlerischer Direktor der auf Kreativwirtschaft spezialisierten Tabakfabrik Linz, initiierte die rund 30 Hektar große Luftmaschine aus gutem Grund. Seine sechsjährige Tochter leidet selbst an Mukoviszidose. So wie rund 20 weitere Kinder, die in Österreich mit der tödlichen, bis dato unheilbaren Erbkrankheit jährlich auf die Welt kommen. Mit Atmos, so Müller, möchte er die Welt für das Thema sensibilisieren und Partner und Unterstützer finden.

Einer davon ist Wolf Prix vom Wiener Architekturbüro Coop Himmelb(l)au. „Ich bin ein Fan der kretisch-minoischen Kultur, und wie der weit verzweigte Königspalast auf Knossos soll sich auch Atmos über die Landschaft erstrecken und einen Lebensort kreieren“, sagte Prix am Dienstag bei einer Pressekonferenz, bei der das Projekt erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. „Wichtig bei diesem Palast ist lediglich, dass er sich in einer gestaffelten Höhenlage über dem Meer befindet, damit die Winde und die solcherart mit Salz angereicherten Aerosole über die offenen Häuser streifen und die Menschen mit salzhaltiger Luft versorgen.“

Mukoviszidose ist eine angeborene Stoffwechselkrankheit, bei der der Wasser- und Salzhaushalt der Schleimhäute gestört ist. Dadurch werden Lunge und Bauchspeicheldrüse permanent mit zähem Schleim verklebt. Regelmäßige Salzinhalationen helfen dabei, den Schleim zu verdünnen und abzutransportieren. Dadurch wird auch die Zahl der im Schleim nistenden Lungenbakterien reduziert. Atmos ist nichts anderes als eine Inhalationsmaschine im Maßstab XXL.

Die charakteristische Tonnenform der zum Teil frei stehenden Häuser soll die thermische Luftzirkulation verstärken und den Luftwechsel auf diese Weise erhöhen. Durch eigens aufgesetzte Luftkamine – eine Konstruktion, die sich Prix offenbar von den in der arabischen Welt typischen Lufttürmen abgeschaut hat – soll die frische Meeresbrise ins Haus gesaugt werden. Salzwasserhaltige Pools zwischen den Häusern sollen die Luft durch Verdunstung zusätzlich mit Salz anreichern und das Mikroklima auf diese Weise verbessern. Sogar ein salzhaltiger Wasserfall ist geplant.

„Ich sage nicht, was ich mir das erste Mal gedacht habe, als ich von dieser Idee gehört habe“, erinnert sich Arzt Franz Eitelberger, Leiter der CF-Ambulanz der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am Klinikum Wels. „Das Projekt ist ambitioniert und muss extrem sorgfältig geplant und gebaut werden, damit es medizinische Wirkung zeigt. Auf jeden Fall aber kann ich aus meiner Erfahrung bestätigen, dass eine mit Salz angereicherte Luft für CF-Patienten krankheitsmildernd ist.“

Eine physiologische Kochsalzlösung, so Eitelberger, habe einen Salzgehalt von 0,9 Prozent. Meeresluft hingegen liege mit einem Salzgehalt von drei bis vier Prozent in einem durchaus Symptome lindernden und gesundheitsfördernden Bereich. Studien belegen, dass Menschen am Meer einen verzögerten Krankheitsverlauf und somit auch eine deutlich höhere Lebenserwartung haben. „Atmos ist ein großartiges Projekt und ein schöner Hoffnungsschimmer, den ich von ganzem Herzen unterstütze. Bloß die Sache mit dem Salzwasserfall ist mehr eine emotionale als eine medizinische Angelegenheit.“

Aktuell ist Projektinitiator Chris Müller auf der Suche nach Projektpartnern und Investoren. Sie sollen das bisherige Team rund um das oberösterreichische Consulting-Unternehmen Delta, den Hotel- und Tourismusberater PKF sowie die auf Immobilienberatung spezialisierte Soravia Group ergänzen und gemeinsam eine Lösung finden, wie Atmos zu einem sich selbst finanzierenden Betreibermodell entwickelt werden kann.

„Der Bau soll keinen einzigen Cent aus dem Spendentopf der Mukoviszidose-Forschung kosten“, versichert Müller. „Ganz im Gegenteil. Das Resort soll sich als Destination für Ruhe- und Kreativitätssuchende selbst finanzieren können. Und zwar so gut, dass wir aus den Gewinnen einen Teil der Anlage Mukoviszidose-Patienten und ihren Familien kostenlos zur Verfügung stellen möchten.“ Diesen Deal, so Müller, werde man mit den Betreibern und Projektbeteiligten vertraglich einzementieren.

Ziel ist eine rund 15.000 Quadratmeer große Anlage mit 132 Apartments und diversen Annehmlichkeiten wie Pool und Spa-Bereich sowie etlichen Notwendigkeiten wie etwa Therapiezentrum und medizinischen Einrichtungen. Das Investitionsbudget soll sich ersten Berechnungen zufolge auf rund 35 Millionen Euro belaufen. Fehlt nur noch das nötige Stückchen Land.

Man sei bereits mit einigen Bürgermeistern im Gespräch, heißt es auf Anfrage des Standard . Zur Auswahl stehen derzeit sechs konkrete Grundstücke in Italien, Kroatien und Portugal sowie in Israel und Gambia. Für weitere Vorschläge sei man offen. Doch die Initiatoren sind zuversichtlich. „Unsere Aufgabe ist es, den Turmbau zu Babel fertigzustellen“, sagt Architekt Wolf Prix in den für ihn so typischen Worten. „Diese Vision ist es, die mich antreibt.“ Und Chris Müller appelliert zum Schluss der Präsentation an die versammelte Presse: „Wir möchten das Unmögliche wagen. Gehen wir gemeinsam dorthin, wo noch nie jemand war.“

Es ist eine schöne, aber womöglich strapaziöse Reise. Man wird einen langen Atem brauchen. Damit die Luftmaschine am Ende nicht zum Luftschloss wird.

Der Standard, Sa., 2017.02.18

17. Februar 2017Nina Egger
Viola John
Wojciech Czaja
TEC21

Altruist

Sieht so die Zukunft aus? Weil Architekten zu Forschern wurden und ein Gebäude zum ­selbstlosen Energieversorger, entstanden allerlei technische ­Neuerungen. Das Wohnhaus ist ein Ideenpool für künftige Energiesysteme.

Sieht so die Zukunft aus? Weil Architekten zu Forschern wurden und ein Gebäude zum ­selbstlosen Energieversorger, entstanden allerlei technische ­Neuerungen. Das Wohnhaus ist ein Ideenpool für künftige Energiesysteme.

Viele Jahre vergehen für Planung und Bau, getragen von Akteuren, die man nicht unbedingt erwarten würde: Im Zentrum von Vaduz entsteht derzeit das Active Energy Building von Falkeis Architects – Anton Falkeis und Cornelia Falkeis-Senn und einem Team von Forschern, Entwicklern, ­Schlossern, Maschinenbauern, Robotikern und vielen mehr. Das Gebäude setzt sich aus zwölf Wohneinheiten zusammen und produziert mehr erneuerbare Energie für Heizung und Kühlung, als es selbst verbraucht. Dabei versorgt es gleichzeitig sich selbst und bildet einen Versorgungsknoten für die Nachbargebäude. Das Energiekonzept des Gebäudes basiert einerseits auf bewährten Prin­zipien und Systemen, beispielsweise Geothermie zur Bereitstellung von Wärmeenergie sowie Photovoltaikzellen für Strom. Andererseits sind einige der ein­gebauten Technologiekomponenten eigens für dieses Gebäude entwickelte Prototypen, deren Anwendung für zukünftige Energiesysteme als Vorlage dienen kann, etwa jene für die Klimaregulierung.

Gebaut wird im Energy Cluster

Das Areal, auf dem das Bauwerk errichtet ist, beinhaltet Wohn- und Bürogebäude, Grünanlagen und überbaute Tiefgaragen. Hier soll durch die ausschliessliche Verwendung von erneuerbaren Energiequellen sowie durch die Verknüpfung mit einem Pumpspeicherwerk und E-Mobility die CO2-Bilanz künftig auf vorbildlich niedrigem Niveau gehalten werden. Das Active Energy Building steht im Verbund mit den anderen Gebäuden des Areals und bildet mit ihnen einen sogenannten ­Energy Cluster (Abb.). Der Vorteil: Die dezentrale Energieversorgung kann innerhalb dieses Netzwerks besser genutzt werden als von einem Einzelobjekt. Denn je nach Nutzung der Wohn- und Büroräume entstehen zu unterschiedlichen Tageszeiten Energiebedarfsspitzen. In Summe sind sich die Energieverbräuche auf dem Areal am Vormittag und Abend dadurch viel ähnlicher, als dies im Einzelfall für Wohngebäude oder Büros zutrifft, wo sich der Bedarf im Tagesverlauf von tiefen Tälern zu hohen Spitzen und wieder talwärts schwingt.

Bewährte Systeme weisen den Weg zu Innovationen in der Energietechnik

Für die Nutzung von Geothermie wird dem Erdreich an zwei Stellen Wärme entnommen bzw. zugeführt. Einmal mit einer Entnahmetiefe von 13 m und einer Förder­leistung von 900 l/min, im anderen Fall mit einer ­Entnahmetiefe von 15 m und einer Förderleistung von 1800 l/min. Die Verteilung der thermischen Energie im Cluster erfolgt je nach Aktivität der Nutzungen.

Für die Bereitstellung von PV-Strom sind die schmale Südseite und das gesamte Dach als aktive Flächen ausgebildet. Um bei jedem Sonnenstand für einen maximalen Energieertrag zu sorgen, spielt die ideale Ausrichtung der PV-Zellen zur Sonne eine grosse Rolle. Daher wurden die energiegewinnenden Elemente so konzipiert, dass sie sich mit dem Sonnenstand mit­drehen (Abb.). Die Photovoltaikflügel wurden speziell für dieses Projekt entwickelt. Die Solarzellen selbst sind zwar weitläufig erhältlich, doch für die ­Konstruktion der gebäudeintegrierten, dreiachsigen Nachführung wurde das Planungsteam um Robotik­ingenieure und Maschinenbauer erweitert.

Für die Klimaregulierung an der Ost- und Westseite des Gebäudes wurden in Zusammenarbeit mit Forschern der Hochschule Luzern spezielle Fassadenmodule mit Latentwärmespeicher entwickelt. Die Tests und Simulationen mit den mit einem Phase-Change-Material (siehe Kasten «Phase Change Materials» unten) auf Paraffinbasis gefüllten Flügelelementen nahmen fast drei Jahre in Anspruch. Die Recherche gestaltete sich schwierig, denn die meisten PCM-Hersteller am Markt rieten von dieser noch kaum erforschten Technologie ab. Nachdem sich keine Partner aus der Industrie gefunden hatten, musste die erforderliche Kompetenz für Forschung, Entwicklung und Umsetzung von falkeis.architects selbst aufgebaut werden.

Als Vorbild dient die Natur

Um die im obersten Geschoss angebrachte Energie- und Klimatechnik aufzunehmen, entwickelten die Planer ein Tragwerk aus Stahl, das sie auf das Gebäude setzten. Die Konstruktion umspannt das Dachgeschoss sowie Teile der Ostfassade und ermöglicht zudem die elf Meter lange, südseitige Auskragung des Attikageschosses.

Die Stahlstruktur basiert auf einem Vorbild aus der Natur: dem Voronoi, das organischen Zellen ähnelt. Zum Beispiel bestehen die Flügel einer Libelle aus einer solchen Struktur aus einzelnen Feldern, die so zusammengesetzt sind, dass sie bei geringem Gewicht eine sehr hohe Stabilität aufweisen. Nur so kann die Libelle fliegen. Als Voronoi-Algorithmus bezeichnet man eine Zerlegung des Raumes in bestimmte Regionen. Jede Region wird durch genau ein Zentrum bestimmt und umfasst alle Punkte des Raumes, die näher am Zentrum der Region liegen als an jedem anderen Zentrum.

Die Voronoi-Tragstruktur besteht aus einzelnen zusammengeschweissten Blechträgern. Hierzu wurden die Einzelteile entweder über Kopfplatten mit Schraubverbindungen gefügt oder an ihren Flanschen mit V-Nähten zusammengeschweisst. Alle Träger weisen eine gleichbleibende Höhe von 80 cm auf, bei variabler Neigung der Stege von bis zu 42°. Sie sind im Stahl­betonverbund mit der Gebäudehülle verschnitten. Die Dach- und Fassadenelemente sind über Metalllaschen untereinander verbunden.

Wie Blütenköpfe drehen sich die PV-Elemente zur Sonne

In die polygonalen Felder der Voronoi-Struktur fügen sich Fenster, Oberlichter und alle beweglichen Elemente ein. Darunter sind mehrere Arten von PV- und PCM-Modulen. An der Lamellenfassade im Süden und auf den Balkonelementen im Osten sind polykristalline Zellen installiert, die zusammen 11 kWp liefern. Elf mit monokristallinen Modulen ausgestattete Oberlichter kommen auf 5.4 kWp. Der Grossteil des PV-Ertrags kommt aber von 13 dreiachsig nachgeführten Photovoltaikflügeln mit Flächen von bis zu 12 m², die in der Voronoi-Struktur des Dachs untergebracht sind. Sie folgen, ähnlich den Blütenköpfen von Blumen, während des Tages dem Sonnenverlauf.

Mit einem seit 2014 installierten Mock-up konnten Forscher der HSLU einen Ertragsfaktor von 2.9 nachweisen. Die 34.79-kWp-Anlage wird somit den jährlichen Solarertrag einer gleich grossen, fix ­montierten Solaranlage nahezu verdreifachen. Damit soll das gesamte Areal mit Solarstrom versorgt werden können. Überschüsse, die nicht genutzt werden, nimmt die Kraftwerks AG ab.

Die Klimaregulierung funktioniert phasenweise verschoben

Sieben mit einem Phase Change Material (PCM) als Latentwärmespeicher ausgestattete Klimaflügel sind an der Ost- und Westseite des Gebäudes in die polygonalen Zwischenräume der Voronoi-Struktur eingepasst. In ihrer Ruheposition liegen die Flügel flach in der Trag­struktur und dienen dem Schutz vor sommerlicher Überwärmung. Mit von Solarstrom betriebenen Spindelmotoren, die die Flügel bis zu 110° aufklappen und dem Himmel beziehungsweise der Sonne entgegenstrecken, wird das Potenzial des Phase Change Materials maximal ausgeschöpft.

Die vier Heizflügel (Abb.) befinden sich an der Westfassade des Gebäudes und klappen in den Morgenstunden auf, während das darin enthaltene PCM noch fest ist. Dank der Ausrichtung zur Sonne wird das Paraffin im Material erhitzt und verflüssigt sich bei einer Temperatur von 32 °C. Sobald das geschmolzene PCM am Ende des Tages den maximalen Wärmeeintrag erreicht hat, schliessen sich die Flügel automatisch und docken mittels eines Ventils an das Lüftungssystem an. Über einen Wärmelufttauscher wird die freigegebene Energiemenge an das Haus abgegeben. Die PCM-Flügel decken rund 10 % der gesamten Heizlast ab.

Genau umgekehrt verhält es sich bei den drei ostseitigen Kühlflügeln (Abb.). Diese liegen untertags plan in der Fassade und klappen sich nachts auf, wenn das Material aufgrund der absorbierten Gebäudewärme vollständig geschmolzen ist. In den Nachtstunden wird die überschüssige Energie abgestrahlt. Bei 21 °C verfestigt sich das Paraffin und erstarrt. Noch vor Sonnenaufgang klappen die abgekühlten und erstarrten PCM-Module wieder ein und tragen zur Kühlung der zweigeschossigen Attikawohnung bei. Auf diese Weise können 16 % der Gesamtkühllast des Hauses eingespart werden.

Sowohl bei den Heiz- als auch bei den ­Kühl­flügeln handelt es sich um polygonale Carbon­faserrahmen, die mit waagerecht montierten Alu­minium­lamellen bestückt sind. Der Querschnitt der stranggepressten Lamellen erinnert an jenen von Flugzeugflügeln: Die Wölbung kann sich leicht verformen und nimmt auf diese Weise die zehnprozentige Volumen­änderung auf, die das darin enthaltene Paraffin zwischen flüssigem und festem Zustand aufweist.

Bei der Konstruktion zählt die digitale Innovation

Für das Tragwerk des Gebäudes kamen zwei verschiedene Stützenmodelle zum Einsatz: eine gleichschenk­lige symmetrische Betonfreiformstütze sowie ein asymmetrisches Modell mit einem diagonalen und einem ­vertikalen Schenkel (Abb.). Durch die mal A-, mal V-förmige Verbauung verdoppelt sich das Repertoire auf insgesamt vier Varianten.

Die genaue Position jeder einzelnen A- und V-Stütze wurde in einem iterativen digitalen Berechnungsverfahren, gesteuert durch einen genetischen Algorithmus, so lange optimiert, bis eine Synthese aus minimalem Materialeinsatz und maximalem Sonneneintrag über die Ost-, Süd- und Westfassaden erreicht war ­(siehe Kasten «Digitaler Entwurf» unten).

Die Stützen verbinden sich untereinander zu komplexen Baumgebilden mit Verästelungen und Verzweigungen. Mit jeder Etage nimmt nicht nur die abzutragende Eigen- und Nutzlast ab, sondern auch die Zahl der dafür verantwortlichen Stützen. Die Spannweiten zwischen den Fuss- beziehungsweise Kopfpunkten betragen bis zu 12 m.

Die Freiformgeometrie mit der gedrehten Naht verleiht den Säulen ein weiches, organisches Erscheinungsbild. Zu verdanken ist die hohe Zeichnungsfähigkeit des ­Materials dem selbstverdichtenden High-Performance-­Beton (HP-Beton) mit hohem Quarzanteil, harter Gesteinskörnung und beigemischten Polypro­pylen­fasern (PP-Fasern). Entwickelt wurde die Betonrezeptur ­namens «alphapact P080» in Kooperation mit Holcim Schweiz.

Für den ungleichmässigen Querschnitt der ­Stütze wurde eine dreiteilige Gussform als Schalung entwickelt, die auf Basis der 3-D-Daten aus Epoxidharz gegossen wurde und keinerlei Hinterschneidungen enthält. ­Eingeschweisste und einbetonierte Anker- und Anschlussplatten mit integrierten Messpunkten erleichterten nicht nur die Montage vor Ort, sondern sorgten auch dafür, dass die geringe Bautoleranz von zwei Millimetern sogar noch unterschritten werden konnte.

Ein interessantes Experiment

Das Active Energy Building ist zweifellos interessant hinsichtlich seiner technischen Funktionen und Entstehungsgeschichte. Seine Erstellung erforderte einen hohen planerischen und bautechnischen Aufwand, was nur durch die finanzielle Unterstützung der Bauherren möglich wurde, die als Forschungsmäzene wirkten.

Das Ehepaar Marxer, das den Auftrag für das Bauwerk erteilte, appellierte an den Erfindungsreichtum der Architekten und bot ihnen die Chance, die Grenzen des technisch Möglichen auszureizen. Das ­Active Energy Building ist nicht als klassisches Architekturprojekt zu verstehen, sondern als ein Experiment, das zur Architektur- und Wohnbauforschung beiträgt. Nach dem Bezug des neuen Gebäudes wird über einen Zeitraum von zwei Jahren ein externes Monitoring zur weiteren Optimierung der Energieproduktion und -einsparung eingesetzt werden. Schon jetzt gibt es dank dem Active Energy Building einige neue Patente für Bauelemente. Es bleibt spannend und abzuwarten, wie sich die Forschungsergebnisse zukünftig auf die Baubranche auswirken werden.

TEC21, Fr., 2017.02.17



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|07-08 Mein Haus ist mein Kraftwerk

08. Februar 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Des Architekten neue Denkbausteine

Wie wird Architektur unterrichtet? Das europäische Forschungsprojekt NeST analysiert die EU-weite Vereinheitlichung des Studiums seit der Bologna-Reform und stellt neue, innovative Denkschulen vor. Österreich ist ganz vorne mit dabei.

Wie wird Architektur unterrichtet? Das europäische Forschungsprojekt NeST analysiert die EU-weite Vereinheitlichung des Studiums seit der Bologna-Reform und stellt neue, innovative Denkschulen vor. Österreich ist ganz vorne mit dabei.

Vaduz/Wien – „Die Bologna-Reform ist ein angekündigter Unfall mit Fahrerflucht“, sagte der Hamburger Universitätspräsident Dieter Lenzen kürzlich im Gespräch mit der deutschen Tageszeitung Die Welt . Seine Kritik: „Die Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge statt des Diploms und Magisters war vor allem ein Zugeständnis an die Briten.“

Immer noch sei die Kompatibilität des Studiums in verschiedenen Ländern nicht so reibungs- los wie dereinst versprochen. Vor allem aber mangle es durch die Segmentierung des Studiums an Persönlichkeitsbildung. Die-ser Umstand hat die Universität Liechtenstein dazu bewogen, die europäische Architekturausbildung nach der 1999 eingeführten Hochschulreform zu untersuchen und in einem Forschungsprojekt über Alternativen zum klassischen Studium nachzudenken.

„Wir haben die Beobachtung gemacht, dass die Bologna-Reform über die Jahre zu einer Homogenisierung der europäischen Architekturausbildung geführt hat“, sagt Peter A. Staub, Professor für Architektur an der Universität Liechtenstein in Vaduz. „Das hat eine gewisse Frustration erzeugt. Daher haben wir beschlossen, uns das genauer anzuschauen.“

Entstanden ist das für die Dauer von zwei Jahren anberaumte Forschungsprojekt New Schools of Thoughts (NeST), was man am ehesten wohl mit „Schule neu denken“ übersetzen könnte. Das 2015 gestartete Projekt wird mit 200.000 Euro vom Forschungsförderungsfonds Liechtenstein finanziert und soll im April vorgestellt werden. Hinzu kommen weitere 250.000 Euro an Eigen- und Drittmitteln. Als Kooperationspartner fungieren die renommierte Architectural Association (AA) in London, die Umeå University School of Architecture in Schweden, die Universität Antwerpen sowie die Universität der bildenden Künste in Wien.

Es fehlt an Lokalkolorit

„Die reformierte Architekturausbildung in Europa umfasst sehr klassische Fächer wie etwa Architekturgeschichte, Konstruktion, Bautechnik und Entwurfslehre“, sagt der 39-jährige Projektinitiator Staub. „Doch diese Vereinheitlichung, die den didaktischen Erfolg in ECTS-Punkten misst, hat nicht nur Vorteile. Es fehlt das Lokalkolorit, es fehlt das Reagieren auf aktuelle Tendenzen wie etwa Digitalisierung, Architekturpolitik und neue Bautechnologien, vor allem aber wird die Disziplin sehr klassisch im Sinne einer Auftraggeber-Auftragnehmer-Dienstleistung gelehrt.“

Alternative Kooperationsmodelle wie etwa Baugruppen, Bürgerinitiativen und partizipative Entwicklungsmodelle mit Kindern, Jugendlichen, Bürgerinnen und spezifischen Benutzergruppen, die in den vergangenen Jahren immer öfter anzutreffen sind und häufig als Best-Practice-Beispiele zitiert und mit Preisen überhäuft werden, blieben in den Bologna-Richtlinien und EU-Direktiven unberücksichtigt. Und damit, so Staub, habe man es verpasst, auf Trends und innovative Entwicklungen reagieren zu können.

Geht es nach NeST, soll sich das nun ändern. „Wir haben vier alternative Lehrmodelle beziehungsweise innovative Institutionen unter die Lupe genommen und analysiert, was diese anders machen und welche Ideen und Methoden auch auf klassische Hochschulen und Universitäten anwendbar wären“, sagt Staub. Die vier ausgewählten und hier beispielhaft untersuchten Exempel sind im Bereich Vorbildung, Ausbildung, Weiterbildung und Fernbildung angesiedelt.

Die Kunst- und Architekturschule Bilding im Innsbrucker Rapoldipark, die aufgrund ihrer außergewöhnlichen Architektur mit dem Österreichischen Bauherrenpreis 2016 ausgezeichnet wurde (siehe Foto) , richtet sich an Kinder und Jugendliche von vier bis 19 Jahren und unterstützt sie im kreativen Denken. Der Anspruch macht sich auch in der Gestaltung des Hauses bemerkbar.

Hochschule ohne Professor

Das Confluence Institute for Innovation and Creative Strategies in Architecture in Lyon ist eine private Hochschule, die auf die Initiative der Pariser Architektin Odile Decq zurückgeht. Hier lernen die Studierenden nicht nur Architektur, sondern auch Selbstorganisation, denn die Schule, die derzeit noch nicht zertifiziert ist, kommt ohne Professoren aus. Diese werden – projektbezogen – aus aller Welt eingeflogen.

Beim Aedes Campus in Berlin handelt es sich nicht nur um einen Ausstellungs- und Galerien-Cluster, sondern auch um eine niederschwellige Diskussionsplattform, die sich an Architektinnen und Laien gleichermaßen richtet. Noch lange vor der Ausstellung Blumen für Kim Il Sung im Mak in Wien war Aedes das erste Haus in Europa, das sich diskursiv mit Kunst und Architektur aus dem tabuisierten Nordkorea beschäftigte. Innochain, die letzte der vier Institutionen, ist eine dezentral organisierte Forschungsstätte mit elf Standorten in sechs Ländern.

„Noch können wir keine endgültigen Resultate vorwegnehmen“, sagt der Wiener Architekt Wolfgang Tschapeller, der das Forschungsprojekt NeST an der Universität der bildenden Künste mitbetreut. „Nur so viel: Wir haben erkannt, dass es in der Ausbildung wieder mehr Bekenntnis zu Forschung und Experiment geben muss.“ Vor allem aber zeichnen sich die untersuchten – und sehr positiv evaluierten – Ausbildungsstätten dadurch aus, ergänzt Staub, dass didaktischer Inhalt und Form eine kohärente Einheit bilden. „Diese Schulen leben genau das vor, was sie lehren. Das klingt so selbstverständlich, ist aber eine Seltenheit in Europa.“

Prozesse mit Partizipation

Das Neudenken der Architekturausbildung ist kein Einzelfall. An der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn wurde im April 2016 das Institut für Prozessarchitektur (IPA) gegründet. Das interdisziplinäre Programm, das vom deutschen Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung mit 750.000 Euro gefördert wurde und an dem sich etwa auch der österreichische Baukulturverein LandLuft beteiligt, lehrt nicht klassische Architektur, sondern widmet sich dem Prozess und dem Management – mit einem Schwerpunkt auf Bürgerbeteiligung und Partizipation.

In Wien arbeitet das Architekturbüro nonconform, das sich einen Namen im Bereich Partizipation und etwas unorthodoxer Vor-Ort-Planung mit Bürgerinnen und Bürgern machte, an einer nonconform akademie, an der die Erkenntnisse und Erfahrungen aus zehn Jahren Bürgerbeteiligungsarbeit vermittelt werden sollen. Das Projekt wird von der Wirtschaftsagentur Wien mit 70.000 Euro gefördert. Das Going-public ist für nächstes Jahr anvisiert.

Der Standard, Mi., 2017.02.08

04. Februar 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Die Wunderstadt als Prophylaxe

Der dänische Stadtplaner Jan Gehl hat sein neues Buch „Leben in Städten“ präsentiert. Der Meister der Fußgängerzonen im Interview. Ein Gespräch über Gummireifen, Cappuccino und Reanimation am toten Patienten.

Der dänische Stadtplaner Jan Gehl hat sein neues Buch „Leben in Städten“ präsentiert. Der Meister der Fußgängerzonen im Interview. Ein Gespräch über Gummireifen, Cappuccino und Reanimation am toten Patienten.

Standard: Sie reisen viel. In wie vielen Städten waren Sie bereits beruflich tätig?

Gehl: Es werden wohl an die 200 Städte sein. Böse Menschen unterstellen mir, ich würde jeden Stop-over mitzählen. Das tue ich nicht. Ich bin 80. Da kommt schon was zusammen im Leben.

Standard: Und? Haben Sie eine Lieblingsstadt?

Gehl: Definitiv meine Heimatstadt. Kopenhagen hat schon sehr früh damit begonnen, selbstkritisch zu sein und die Entwicklung des 20. Jahrhunderts zu hinterfragen. Seit den Sechzigerjahren schon legt die Stadt Wert darauf, ihren Einwohnern eine hohe Lebensqualität zu bieten – und zwar nicht nur durch nachträgliche Korrekturen, wie dies andernorts passiert, sondern als Prophylaxe. Beispielsweise werden jedes Jahr drei Prozent der Parkplätze eliminiert, ohne dies öffentlich an die große Glocke zu hängen. Schon die amerikanische Stadtplanerin Jane Jacobs hat gesagt: „Wenn wir die Planung den Autos überlassen, dann ist dies das Ende der öffentlichen Stadt.“

Standard: Was passiert mit dem gewonnenen Platz?

Gehl: Vieles! Von 1960 bis 1980 stand das Gehen im Vordergrund. Es ging in erster Linie um das Erreichen der Shops und um die Nutzung der Stadt als Einkaufszentrum. Die nächsten 20 Jahre wurde vor allem gesessen und den ganzen Tag lang Cappuccino getrunken. Es ist unglaublich, wie viel Cappuccino ein einzelner Mensch trinken kann! Heute sind wir in der dritten Phase. Seit 2000 wird die Stadt mehr und mehr als Aktivitätszone genutzt. Es ist wie beim menschlichen Organismus. Wenn man früh genug dafür sorgt, dass der Herzschlag passt und die Blutgefäße gut durchströmt werden, dann bleibt das Herz gesund. Kopenhagen zählt heute zu den lebenswertesten Städten der Welt.

Standard: Das war jetzt der Heimatbonus.

Gehl: Auf Platz zwei würde ich Melbourne sehen. Melbourne hat vor 15 Jahren damit begonnen, sich neu zu erfinden und einen kompletten Turnaround zu machen. Es wurden Autos verbannt, es wurden acht Meter breite Gehsteige angelegt, Gastgärten errichtet, Bäume gepflanzt, neue Straßenmöbel ausgesucht, und es wurde beschlossen, die Straßen im Stadtzentrum mit Kunst- und Kulturinitiativen zu füllen. Außerdem wurden besonders behutsame, privat initiierte Gebäudesanierungen steuerbefreit. Das Resultat all dieser Maßnahmen ist eine Art Wohnzimmer für alle. Und es ist eines der schönsten und innovativsten Wohnzimmer, die ich kenne.

Standard: Das klingt nach einer Luxussanierung.

Gehl: Ja. Aber dieser Luxus sollte Standard sein.

Standard: Was haben die Maßnahmen gebracht?

Gehl: Heute leben in der Innenstadt von Melbourne zehnmal so viele Menschen wie vor zehn Jahren. 60 Supermärkte sind nach Downtown zurückgezogen. Und es gibt mehr als 15.000 Schanigarten-Sitzplätze. Muss man noch mehr sagen?

Standard: Was braucht es, um so ein umfassendes Projekt durchzuziehen?

Gehl: Es braucht ein Gesicht. Es braucht einen starken Charakter, der mit aller Kraft dahintersteht und so ein Projekt verteidigt und auch durch schwierige Momente durchboxt. Das kann ein Bürgermeister, ein Stadtplaner, ein Investor sein. Im normalen Beamtenalltag ist so etwas nicht durchführbar.

Standard: Sie haben die „Partitur des öffentlichen Raums“ in der Seestadt Aspern in Wien erstellt. Hatten Sie in Wien einen solchen starken Ansprechpartner?

Gehl: Nein.

Standard: Wie hat sich das Projekt seit damals entwickelt?

Gehl: Das weiß ich nicht. Ich war schon lange nicht mehr dort.

Standard: In Ihrem Vortrag haben Sie eine Studie für die Wiener Innenstadt präsentiert. Davon haben wir noch nie etwas gehört.

Gehl: Ja, das war eine Studie im Auftrag des grünen Stadtplanungsressorts 2015. Unsere Aufgabe war es, die Ringstraße zu untersuchen und die Zugänge und Zufahrten in die historische Innenstadt zu analysieren.

Standard: Was kam dabei heraus?

Gehl: Es könnte besser sein. Die Straßen und Fußgängerzonen innerhalb des Rings sind wunderschön, aber die Portale und Schnittstellen sind absolut unterverkauft. Fakt ist: Entlang der Ringstraße gibt es sehr wenig Abwechslung und Verweilqualität. Außerdem gibt es eine sehr schwache und nicht ausgearbeitete Interaktion zwischen Fußgänger und Baudenkmal. Es ist schade, dass die Potenziale dieses so wunderbaren Ortes nicht genutzt werden.

Standard: Sie werden oft eingeladen, um Fehler zu korrigieren und tote Stadtquartiere zu reanimieren. Waren Sie jemals schon zu spät beim Patienten?

Gehl: Den perfekten Zeitpunkt gibt es nicht – und den zu späten auch nicht. Zwei Städte beweisen, dass man auch dann noch etwas bewirken kann, wenn alle der Meinung sind, dass der Patient längst schon tot und absolut unwiederbelebbar ist: Moskau und New York. In New York haben wir uns beteiligt, als der Times Square verkehrsberuhigt wurde. Niemand hätte das in dieser Stadt je für möglich gehalten. „Das ist doch der Big Apple“, haben alle gesagt. „Unmöglich!“ Doch es war möglich. Und der Times Square hat sogar Schule gemacht. Mittlerweile gibt es am Broadway einige Verkehrsberuhigungen, und es werden mehr.

Standard: Und in Moskau?

Gehl: Als ich das erste Mal in Moskau zu Besuch war, war ich absolut schockiert. Die Großartigkeit dieser Stadt war in Abgasen verpufft. Die Stadt war ein einziger Parkplatz. Überall standen Autos. Es war entsetzlich.

Standard: Und dann?

Gehl: 2013 wünschte sich Bürgermeister Sergei Semjonowitsch Sobjanin, dass Moskau wieder vermenschlicht wird. Wir haben Fußgängerzonen, Verkehrsberuhigungen und neues Stadtmobiliar wie etwa Bänke, Beete, Blumen, Bäume und Laternen vorgeschlagen. In den zwei Jahren danach wurden etliche Fußgängerzonen nach unserem Vorbild angelegt. Heute ist die Stadt voller Menschen. Es ist ein Wunder!

Standard: Wie bewirkt man so ein Wunder?

Gehl: Entweder durch sehr effiziente Demokratie wie am Beispiel Russland. Oder aber – und das ist das, was ich allen empfehle – durch einen Mix aus Verboten, Geboten und Anreizen. Wo auch immer Sie einem Autofahrer etwas wegnehmen, müssen Sie dem Fußgänger, Radfahrer und Öffi-Benutzer etwas zurückgeben. Mit Verboten allein wird es nicht gehen – aber ohne Verbote auch nicht.

Standard: Weil?

Gehl: Weil Autofahrer ziemlich resistente Gewohnheitstiere sind. Sobald man einem Menschen vier Gummireifen gibt, verblödet er. In Mexiko-Stadt verbringen die Menschen durchschnittlich 3,5 Stunden pro Tag im Auto. Was für eine wunderbare Art, die eigene Zeit zu vergeuden!

Standard: Wie nutzen Sie selbst den öffentlichen Raum?

Gehl: Ich habe in meinem Leben schon zu viel Cappuccino getrunken. Das Sitzen ist vorbei. Ich nutze die Stadt vor allem zum Gehen und Fortbewegen. Mein Arzt sagt immer: 10.000 Schritte pro Tag. Mindestens!

Standard: Und? Hilft’s?

Gehl: Und wie! 10.000 steps a day keeps the doctor away. Oder haben Sie schon einmal einen fettleibigen Venezianer gesehen? Das ist Stadtplanung!

Der Standard, Sa., 2017.02.04

21. Januar 2017Wojciech Czaja
Der Standard

„Diese verdammte Küche!“

Die Wiener Architektin und Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky setzte sich ihr Leben lang für eine soziale und menschenwürdige Welt ein. Zum 120. Geburtstag wird nun ihrer gedacht.

Die Wiener Architektin und Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky setzte sich ihr Leben lang für eine soziale und menschenwürdige Welt ein. Zum 120. Geburtstag wird nun ihrer gedacht.

Kommen Sie rein, kommen Sie rein!“ Kaum ist die Wohnungstür geöffnet, ist die 100-jährige Margarete bereits in der Küche verschwunden. „Nehmen Sie schon mal Platz, ich bin gleich da.“ Wenig später kommt sie mit einem Tablett mit Kaffee und Kuchen ins Wohnzimmer getrappelt. „Wo sind Sie denn? Ich sehe ja fast nichts mehr.“ Setzt sich aufs Sofa, schnauft einmal durch und legt los. „Nun sagen Sie! Was wollen Sie denn wissen?“

Margarete Schütte-Lihotzkys wechselhaftes Leben überdauerte ein Jahrhundert. 1897 geboren, 2000 im Alter von stattlichen 103 Jahren verstorben, gilt sie bis heute als unangefochtener Mythos der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Nachschlagewerke rühmen sie als „erste Architektin Österreichs“, als „Pionierin der sozialen Architektur“, als „Erfinderin der Frankfurter Küche“, als „Aktivistin der Frauenbewegungen“, als „Heldin des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur“. Morgen, Sonntag, wird sie anlässlich ihres 120. Geburtstags mit einer Lesung im Wiener Filmcasino geehrt.

Die Architektin, Stadtplanerin und Widerstandskämpferin Schütte-Lihotzky ist mit Adolf Loos, Béla Bártok und Max Reinhardt befreundet. Sie arbeitet in Wien und Frankfurt, wo sie sich vor allem im sozialen Wohnbau engagiert, in Rotterdam, Paris, Sofia, Moskau und Magnitogorsk. Sie unternimmt Reisen nach Chicago, nach Japan und nach China, wo sie für das chinesische Unterrichtsministerium Richtlinien für den Bau von Kindergärten erstellt. 1939 wird sie an die Académie des Beaux Arts nach Istanbul berufen.

„Es war schön“, sagt sie im Interview. „Ich habe Herbert Eichholzer kennengelernt und mich seiner antifaschistischen Widerstandsgruppe angeschlossen. Doch ich konnte dort einfach nicht bleiben.“ In ihren 1985 erschienenen Erinnerungen aus dem Widerstand schreibt sie dazu: „Oft fragten mich nach 1945 verschiedenste Leute, auch solche, die keineswegs Nazis waren, warum ich denn aus dem sicheren Ausland nach Wien gefahren bin. Immer wieder empört mich diese Frage, immer wieder bin ich entsetzt über die mir so fremde Welt, in der diese Frage überhaupt eine Frage ist.“

Nach nur wenigen Wochen in Wien, wo sie im Untergrund gegen das Nazi-Regime zu kämpfen beginnt, wird Schütte-Lihotzky verhaftet. Sie wird ins Gestapo-Hauptquartier am Morzinplatz gebracht. Sie wird verhört, geschlagen und gefoltert. Nach einigen Monaten in der Gefängniszelle muss sie sich vor dem Berliner Volksgericht verantworten. „Endlich betraten die Mitglieder des Volksgerichtshofes den Saal. Es waren sieben Gestalten, wie sie für einen Film nicht hätten typischer ausgewählt werden können“, schreibt sie in ihren Memoiren. „Hinter diesen gespenstischen Gestalten prangte ein großes Hitlerbild.“

Schütte-Lihotzky wird zu Tode verurteilt. Der Enthauptung, die ihren Kollegen widerfahren ist, entkommt sie nur knapp, indem ihr Mann Wilhelm Schütte im türkischen Unterrichtsministerium in Ankara für sie einen Arbeitsvertrag mit Briefpapier und Stempel fälscht. Nachdem das Nazi-Deutschland damals um die Gunst der neutralen Türkei buhlte, wird Schütte-Lihotzkys Todesurteil zu 15 Jahren Zuchthaus umgewandelt. „Eine Lebensrettung aus lauter glücklichen Umständen und Zufällen. Wäre ein einziger dieser Umstände ausgefallen … ich wäre seit Jahrzehnten tot.“

Margarete Schütte-Lihotzky sitzt auf der Couch, erzählt aus ihrem Leben, nimmt einen Schluck Kaffee. Über ihre unzähligen Wohnbauten und Kindergärten in Deutschland und Russland, über ihre Tätigkeit in Kuba, in der DDR sowie für die Uno, über die ihr aufgrund ihrer kommunistischen Vergangenheit entgegengebrachte Ignoranz im Österreich der Nachkriegsjahre spricht sie wenig. Die stets mit ihr in Verbindung gebrachte Frankfurter Küche jedoch, die mit ihren kurzen Wegen, ausgewählten Materialien und wohl überlegten Handgriffen den Alltag vieler Frauen revolutionierte und die in den Frankfurter Wohnsiedlungen der späten Zwanzigerjahre rund 10.000 Mal gebaut wurde, erwähnt sie mit keinem einzigen Wort.

Die unausweichliche Frage. Es muss sein. Wie sind Sie eigentlich damit umgegangen, dass Ihre Arbeit so oft auf die Frankfurter Küche reduziert wird? Das beschwingte und beredte Lächeln erstarrt. Kurz wird der Kopf geschüttelt. Dann wird lauter Ärger in die Stimme gepresst: „Wenn ich gewusst hätte, dass alle immer nur davon reden, hätte ich diese verdammte Küche nie gebaut!“ Schweigende Sekunden der Reue.

„Margarete Schütte-Lihotzky war nicht nur eine großartige und unverzichtbare Architektin“, sagt die Wiener Schauspielerin Katharina Stemberger, „sondern vor allem auch eine Pionierin im Widerstand gegen böse Kräfte. Sie war frei von jedem Dogma und hat mit Mut und Vitalität in die Zukunft geblickt – auch in solchen Momenten, wo es für sie kaum noch eine Zukunft zu geben schien.“ Stemberger wird am morgigen Sonntag aus Schütte-Lihotzkys Memoiren lesen. Die Jubiläumsveranstaltung geht auf eine Initiative der Bezirksvertretung Margareten zurück.

„Angesichts der politischen Situation, die heute in vielen Teilen der Erde zu beobachten ist und die die Demokratie mehr und mehr zu untergraben droht“, so Stemberger, „ist Schütte-Lihotzkys Erbe hochaktuell. Die Nationalstaatlichkeit blüht, der Rassismus und Rechtsextremismus nimmt zu, und wenn ich mir die weltweit zynischen Ungenauigkeiten über angebliche Wirtschaftsmigration ansehe, die vor laufender Kamera breitgetreten werden, dann komme ich aus dem Speiben nicht mehr heraus.“

Wie dereinst die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, meint Stemberger, müsse uns klar werden, dass wir alle einen aktiven und realen Beitrag für jene Welt leisten müssen, in der wir leben wollen. „Das ist in nur wenigen Köpfen und Herzen angekommen. Die neoliberale Biedermeier-Blase, in der wir heute leben, wird bald platzen.“

„Und jetzt? Zum 120. Geburtstag von Margarete Schütte-Lihotzky“, Sonntag, 22. Jänner, um 11 Uhr. Begleitet wird die Veranstaltung von Kurzdokus (Robert Rotifer, Uwe Bolius, Robert Angst) und Musik (Maren Rahmann). Filmcasino, Margaretenstraße 78, 1050 Wien.

Der Standard, Sa., 2017.01.21

07. Januar 2017Wojciech Czaja
Der Standard

Der schöne Klang der Elbdisharmonie

Kommenden Mittwoch wird nach fast zehn Jahren Bauzeit und einer Vervielfachung der Kosten die Hamburger Elbphilharmonie eröffnet. Eine Geschichte voller Stolz und Skandale.

Kommenden Mittwoch wird nach fast zehn Jahren Bauzeit und einer Vervielfachung der Kosten die Hamburger Elbphilharmonie eröffnet. Eine Geschichte voller Stolz und Skandale.

Schon die erste Minute hat es in sich. Auf der 80 Meter langen Rolltreppe, die erst steil ansteigt, um in einer sanften Kurve nach und nach zu verflachen, ehe sie am Ende fast schon einem stufenlosen Förderband gleicht, zeigt sich bereits die kompositorische Anstrengung und Außergewöhnlichkeit des ganzen Hauses. Die Höhenüberwindung könnte dramatischer nicht sein. Denn während der Winkel der elektrisch dahingleitenden Treppe immer flacher und flacher wird, offenbaren sich im groben Putz an den Tunnelwänden runde, eingelassene Glasscheiben. Immer wieder klopfen die Fahrgäste mit den Fingerknöcheln dagegen. Die Fahrt lässt sie ehrfürchtig um sich blicken und verstummen.

Ehrfurchtsgebietend ist nicht nur die architektonische Wirkung des Bauwerks, sondern auch seine skandaldurchtränkte Entstehungsgeschichte. Einst hätte die Elbphilharmonie, Hamburgs jüngstes und stolzestes Wahrzeichen, 77 Millionen Euro kosten sollen. Die Bauzeit war damals für vier Jahre anberaumt. Heute steht fest, dass das in den Himmel ragende Konzerthaus der Schweizer Architekten Herzog & de Meuron nach zehn Jahren Bauzeit und einem zwischenzeitlich verhängten Baustopp samt gerichtlicher Vertragsaufkündigung mit 866 Millionen Euro zu Buche schlägt. 789 Millionen Euro davon trägt die öffentliche Hand, weitere 77 Millionen Euro lukrieren sich aus Privatinvestitionen und Spenden.

„Die in den Medien kolportierten Kosten sind verzerrend und ärgerlich“, korrigiert Ascan Mergenthaler, Partner bei Herzog & de Meuron, im Gespräch mit dem Standard . „Tatsache ist, dass die Stadt Hamburg die erste Kostenschätzung gegen unseren Rat viel zu früh veröffentlicht hat. Unsere erste Ausschreibung hat ergeben, dass mit Baukosten in der Höhe von mindestens 240 Millionen Euro zu rechnen sei. Heute liegen wir bei 576 Millionen Euro, also durchaus im Bereich internationaler Konzerthäuser.“

Die restlichen 190 Millionen Euro, die die Differenz auf die so oft veröffentliche Horrorsumme ausmachen, entfallen auf Hotel und Gastronomie, auf Wohnungen und Garage, auf die gesamten Planungs- und Entwicklungskosten sowie auf einen Facility-Management-Vertrag für die nächsten 20 Jahre. Nun hat die ausgiebig ausgetragene Zahlen- und Ziffernschlacht, die die Hamburger Bevölkerung längst schon in euphorische Musikliebhaber und enttäuschte Wutbürger gespalten hat, ein Ende. Kommenden Mittwoch, den 11. Jänner, wird die Hamburger Elbphilharmonie mit einem bislang unter Verschluss gehaltenen Konzertprogramm feierlich eröffnet.

„Das Außergewöhnliche an diesem Gebäude“, sagt Mergenthaler, „ist seine Öffnung zur Stadt. Das ist kein elitäres Haus für Klassik, keine hermetische Schmuckschatulle mit samtbezogenen Sitzen, sondern eine Bühne für jeden Geschmack.“ Einerseits plant Intendant Christoph Lieben-Seutter, vormals zuständig fürs Wiener Konzerthaus und Opernhaus Zürich, eine Bandbreite von Jazz über World Music bis hin zu experimentellen Klängen. Andererseits richtet sich das Haus auch an konzertfremde Besucher. Die Aussichtsplattform in 37 Meter Höhe ist öffentlich zugänglich.

„Das Plateau, das wir auf dem Dach des alten Kaispeichers errichtet haben, ist ein Stückchen Stadt mit Treppen, Gassen, Plätzen, gläsernen Vorhängen und rundumlaufender Empore“, so Mergenthaler. Mit Stolz verweist man auf die dramatisch inszenierten Blickbeziehungen zur Nikolaikirche und zum Hamburger Michel, die sich in der 20.000 Quadratmeter großen, raffiniert gebauchten und spielerisch gepunkteten Glasfassade spiegeln. Die schwersten Glaselemente wiegen 1,2 Tonnen und kosteten bis zu 20.000 Euro pro Stück.

110 Meter misst das Haus an seiner höchsten und zugleich geografisch exponiertesten Stelle. Als würden sich die Wogen hier oben zu einer gefährlichen Brandung aufschaukeln, markiert die Elbphilharmonie unmissverständlich den Auftakt zur dahinterliegenden, Unesco-geschützten Speicherstadt. Die charakteristische wellenartige Kontur ist kein Zufall. Nicht von ungefähr erinnert die Linie an die 1963 eröffnete Philharmonie in Berlin, die seinerzeit einen radikalen Umbruch in der Konzerthausarchitektur markierte.

Eine Haut wie Krokoleder

„In der Berliner Philharmonie von Hans Scharoun wurden die Zuschauertribünen erstmals in der Geschichte rund um die Bühne gruppiert“, erzählt Ascan Mergenthaler. „Diese sogenannte Weinbergarchitektur haben auch wir uns zunutze gemacht.“ Und tatsächlich: Als hätte jemand Weinterrassen in den Beton geschlagen, steigt der Große Saal, der bis zu 2100 Menschen fasst, rund um die Bühne in asymmetrisch angeordneten Tribünen hoch.

Trotz der schier riesigen Größe wirkt der 25 Meter hohe Saal warm und gemütlich. Das liegt auch an seiner ausgetüftelten Akustik. „Wir wollten den Menschen möglichst nah an den Musiker bringen“, sagt der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota, der den Saal rundum in eine, wie er sagt, „weiße Haut“ hüllte. Die hochverdichteten Gipsfaserpaneele, 10.000 Stück an der Zahl, weisen zig Millionen Mulden auf. Die ersten Tests erfolgten noch mit Luftballons, die in flüssigen Zement gedrückt wurden. Später dann generierte der Computer einen sogenannten Voronoi-Algorithmus. Die Struktur, die an einen Krokoleder-Negativabdruck erinnert, lässt den Schall ähnlich brechen wie in einem stark ornamentierten Barocksaal.

Symphonie mit Hartgummi

Um Brahms und Mendelssohn Bartholdy gegen vorbeischippernde Schiffshörner abzuschotten, wurde die gesamte Betonstruktur vom Rest des Gebäudes schalltechnisch komplett entkoppelt. Der Musikgenuss ruht und schwingt nun auf 60 Zentimeter großen Feder- und Hartgummi-Paketen. Allein dafür schon musste der in den Sechzigerjahren errichtete Backsteinbau, in dem einst Tee, Tabak und Kakao gelagert wurden, mit 600 Pfählen statisch ertüchtigt werden.

Die Initiative zum Bau der Hamburger Elbphilharmonie geht auf den New Yorker Projektentwickler Alexander Gérard und die Linzer Kunsthistorikerin Jana Marko zurück. Es war ihre Idee, Herzog & de Meuron zu einer Studie einzuladen und den alten, ungenutzten Kaispeicher zwischen Sandtorhafen und Grasbrookhafen – ohne internationalen Wettbewerb, wohlgemerkt – mit einem Konzerthaus aufzustocken.

Die eine Wahrheit ist: Die Elbphilharmonie ist ein Skandalprojekt mit Direktvergabe, Kostenexplosionen und unzähligen Bauverzögerungen. Die andere Wahrheit ist: Hinter dem kolossalen Jahrhundertbau standen jahrelang starke Frauen und Männer, die den medialen und politischen Angriffen mit beachtlichem Rückgrat Widerstand leisteten. Oder, wie Hamburgs Bürgermeister meint: „Zur großen Welle der Zustimmung, die das Projekt heute trägt, gehört, dass wir das schlingernde Schiff wieder auf Kurs gebracht haben.“ Und das ist der eklatante Unterschied zu anderen deutschen Baublamagen wie Stuttgart 21 und Flughafen Berlin.

[ Eröffnungsfestival am 11. und 12. Jänner 2017. Die Reise erfolgte auf Einladung von Hamburg Marketing. ]

Der Standard, Sa., 2017.01.07



verknüpfte Bauwerke
Elbphilharmonie Hamburg

07. Januar 2017Wojciech Czaja
Der Standard

„Eine urtypisch wienerische Geschichte“

Nach der „Nachdenkpause“ ist das Projekt auf dem Areal Intercont und Eislaufverein in Wien geschrumpft. Reicht das, um die Unesco milde zu stimmen? Ein Gespräch mit dem Schweizer Städtebauer Christoph Luchsinger, der das monatelange Vermittlungsverfahren zwischen Stadt und Investor leitete.

Nach der „Nachdenkpause“ ist das Projekt auf dem Areal Intercont und Eislaufverein in Wien geschrumpft. Reicht das, um die Unesco milde zu stimmen? Ein Gespräch mit dem Schweizer Städtebauer Christoph Luchsinger, der das monatelange Vermittlungsverfahren zwischen Stadt und Investor leitete.

Standard: Durch Ihre Leitung im Vermittlungsverfahren wurde der Turm auf dem Areal Intercont-Hotel und Eislaufverein um zehn Meter gestutzt. Ist das Projekt dadurch wirklich besser geworden?

Luchsinger: Deutlich besser sogar. Der Turm ist mit 66 Metern nun niedriger und hat auch eine maßvolle Verschlankung erlebt. Die übrigen Baukörper wurden neu arrangiert. Dadurch wirkt das gesamte Ensemble rund um Intercont, Heumarkttrakt, Eislaufverein und Konzerthaus stadträumlich kompakter.

Standard: Das Projekt des brasilianischen Architekten Isay Weinfeld hat unter anderem deshalb gewonnen, weil es das Intercont-Hotel erhalten und sanieren wollte. Nach der Überarbeitung soll das Gebäude abgerissen werden.

Luchsinger: Die vertieften Studien der Gebäudestruktur haben ergeben, dass vom Originalbestand lediglich zehn bis 15 Prozent erhalten werden könnten, nämlich Teile des Rohbaus. Diese wären auch bei der von ihm geplanten Sanierung nicht sichtbar gewesen. Entscheidend ist nicht der Erhalt der Originalsubstanz, sondern des städtebaulichen Arrangements. Diese Qualität war auch für Weinfeld ausschlaggebend.

Standard: Wird sich die Umplanung auf die Realisierbarkeit des Bauvorhabens auswirken?

Luchsinger: Ich denke ja. Erstens: Auf der Ebene der Flächenwidmung und der behördlichen Einreichung spricht nun nichts mehr gegen das Projekt. Die allermeisten Bedenken wurden aus dem Weg geräumt. Zweitens: Die Stadt Wien wollte eine Pause, um nachzudenken, und diese wurde auch effizient genutzt. Daher sehe ich auch hier keinen Einwand.

Standard: Und drittens?

Luchsinger: Und drittens gibt es noch die Unesco und ihr Weltkulturerbe. In diesem Punkt ist die Realisierbarkeit des Projekts am schwierigsten einzuschätzen. Das hängt davon ab, wie die Unesco die Umplanungen beurteilen wird und wie Wien die Stellungnahme der Unesco aufgreifen wird.

Standard: Eva Nowotny, Präsidentin der Österreichischen Unesco-Kommission, hat sich in einer Presseaussendung gegen das Resultat der Umplanung ausgesprochen. Sie meinte, das Höhenlimit liege nach wie vor bei 43 Metern.

Luchsinger: Und das ist auch meine größte Kritik. Sowohl Unesco als auch Icomos haben sich in dieser Position eingebunkert und sich in den letzten viereinhalb Jahren keinen Deut bewegt. Beide Institutionen arbeiten nach einem Prinzip: No centimeter more! 43 Meter sind ein quantitatives und kein qualitatives Kriterium. Das ist keine Diskussionsgrundlage. Auf dieser Basis kann man nicht verhandeln.

Standard: Was wünschen Sie sich stattdessen?

Luchsinger: Ich wünsche mir, dass auch einmal über die konkrete Aufwertung der gesamten Anlage diskutiert wird. Weder Unesco noch Icomos haben je auch nur mit einem Wort erwähnt, dass durch das geplante Bauvorhaben mitsamt Sport- und Kongresszentrum das gesamte Areal funktional und gesellschaftlich enorm aufgewertet wird.

Standard: Wie wird es weitergehen?

Luchsinger: Aufgrund unterschiedlicher Mängel wird die Unesco in ihrer nächsten Sitzung im Sommer, die in Krakau stattfinden wird, Wien auf die Rote Liste setzen. Das hat sie schon bei ihrer letzten Sitzung in Istanbul angekündigt.

Standard: Wien ist kein Einzelfall. Auch im Umgang mit anderen Orten ist die Unesco unzufrieden.

Luchsinger: Weltweit gibt es ein gutes Dutzend Städte und Denkmale, die bereits verwarnt wurden und die demnächst auf die Rote Liste gesetzt werden könnten – darunter auch Liverpool und Venedig. In Liverpool hegt man Bedenken ob eines geplanten Hochhauses, denn dieses soll in jenem Uferbereich errichtet werden, von dem aus früher Sklaven nach Amerika verschifft wurden. Das sei mit der Geschichte der Stadt nicht vereinbar. Und Venedig soll auf die Rote Liste gesetzt werden, weil es dort mittlerweile zu viele Touristen gibt, die die Stadt nach und nach zerstören.

Standard: Es war die Unesco, die Venedig 1987 zum Weltkulturerbe ernannt und den touristischen Zustrom damit verstärkt hat.

Luchsinger: Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Da merkt man, wie technokratisch und unreflektiert die Unesco agiert.

Standard: Wie meinen Sie das?

Luchsinger: Ich vergleiche die Unesco gerne mit der Fifa. Da wie dort sprechen wir von einem Machtinstrument einer nicht wirklich demokratisch legitimierten Compagnie, die mit einer derartigen Präzision an offenen Diskussionen vorbeientscheidet, dass es einfach absurd ist. Es lohnt sich übrigens, die Rote Liste des gefährdeten Welterbes zu studieren. Ohne zynisch sein zu wollen: Das liest sich wie ein alternativer Reiseführer.

Standard: Was tun? Haben Sie einen Ratschlag für die Stadt Wien?

Luchsinger: Im Jänner wird es einen Bericht darüber geben, ob das Projekt Intercont und Heumarkt das Weltkulturerbe gefährdet oder nicht. Unabhängig davon würde ich Wien empfehlen, die Wartezeit bis Sommer zu nutzen, um einen Managementplan aufzusetzen, in dem ganz genau festgehalten ist, wie Wien in Zukunft mit dem städtebaulichen und kulturellen Erbe umzugehen gedenkt. Ein solches – aktives – Bekenntnis vermisse ich. Bislang hat Wien immer nur passiv und defensiv auf das reagiert, was Unesco und Icomos so von sich geben.

Standard: Gesetzt den Fall, Wien landet auf der Roten Liste, was dann?

Luchsinger: Dann wird man der Stadt spätestens mit Baubeginn des Intercont-Projekts den Titel Weltkulturerbe aberkennen. Das ist das, was die Unesco angekündigt hat.

Standard: Und wäre das schlimm?

Luchsinger: Nein.

Standard: Was wäre dann anders?

Luchsinger: Nichts. Es gibt viele andere, auch dynamischere Methoden, mit dem kulturellen Erbe einer Stadt umzugehen. Schauen Sie sich nur einmal das Beispiel Innsbruck an! Innsbruck hat sich immer schon gegen eine Unterschutzstellung ausgesprochen, weil es der Meinung ist, selbst entscheiden zu können, was möglich ist und was nicht. Das Resultat dieser jahrzehntelangen Eigenverantwortung ist eine historisch wunderbar bewahrte Altstadt mit ein paar sehr guten zeitgenössischen Impulsen.

Standard: Eine gute Stadtplanung braucht also keine Unesco?

Luchsinger: Genau das heißt es. Eine Stadtplanung, die keinerlei Kompromisse eingeht und die mit Investoren, Projektentwicklern und Architekten in erster Linie nicht über Quantität, sondern über Qualität diskutiert, kann selbst gestalten und braucht dazu keine Unesco.

Standard: Auf Expertenseite hört man immer wieder, die Stadtplanung in Wien sei zu wenig präzise.

Luchsinger: Ganz generell muss ich sagen, dass in Wien die Dinge mit extrem großem Aufwand seriös abgewickelt werden. Die Wiener Stadtplanung nimmt ihre Aufgabe sehr ernst. Das Problem liegt nicht in einer fehlenden Präzision, sondern schlicht und einfach darin, dass in Wien zu viele Instanzen mitmischen.

Standard: Mit Instanzen meinen Sie die Magistratsabteilungen?

Luchsinger: Ja. Und mittlerweile gibt es nicht nur die MA 21, die Stadtentwicklung betreibt, sondern auch die MA 18, MA 19, MA 20, MA 22, MA 25, MA 28, MA 37 und MA 50 – und vielleicht noch ein paar andere. Und oft weiß die eine Magistratsabteilung nicht, was die andere macht. Diese Zerstückelung von Zuständigkeit ist ein Problem. Ich würde der Stadt empfehlen, ihre Kompetenzen zu bündeln und den Apparat zu verschlanken.

Standard: Ist das realistisch?

Luchsinger: Kaum. Wien ist historisch eine Stadt der Stände, und ich fürchte, der Stadtplanungsapparat wird noch viel komplexer werden. Wien hat immer schon gesudert und eine Art produktiven Durchwurstelns praktiziert. Sudern und Durchwursteln ist eigentlich ein zutiefst produktiver Prozess. So – und zwar nur genau so – ist Wien zu dem geworden, was es heute ist.

Standard: Auch dem Wiener Hochhauskonzept, das im Rahmen des Stadtentwicklungsplans 2025 erstellt wurde und an dem Sie maßgeblich mitgewirkt haben, wird von Experten nachgesagt, es wirke durchgewurstelt. Manche Passagen darin wirken schwammig.

Luchsinger: Eine aggressiv proaktive Stadtplanung in einer jahrhundertelang gewachsenen Stadt ist ein Ding der Unmöglichkeit. In einer Stadt wie Wien darf man nicht nur offensiv sein. Man muss an die Sache auch reaktiv herangehen.

Standard: Genau das ist auch das Problem beim Intercont-Projekt. Die fehlende Schärfe und Präzision haben dazu geführt, dass die Wogen hochgegangen sind.

Luchsinger: Das kann man so nicht sagen. Die Emotionen kommen, weil sich das Projekt in einer prominenten, sensiblen Lage befindet. Der Turm steht genau in der Achse zwischen Belvedere und Innenstadt und nimmt im sogenannten Caneletto-Blick eine zentrale Position ein. Nicht zuletzt sind die meisten von uns im Eislaufverein schon einmal eisgelaufen. Das macht natürlich nostalgisch und sentimental.

Standard: Sind die Emotionen angemessen?

Luchsinger: Nein, das sind sie nicht. Es gibt in Österreich viele Projekte, bei denen weniger transparent gearbeitet wird. Die Emotionen, die hier sichtbar wurden, sind Stellvertreteremotionen.

Standard: Denken Sie, dass das Projekt Intercont und Eislaufverein realisiert wird?

Luchsinger: Wenn dieses Bauvorhaben realisiert wird, dann so, wie es jetzt geplant ist.

Standard: Und wenn nicht?

Luchsinger: Plan B ist, dass alles so bleibt, wie es ist. Das wäre dann eine urtypisch wienerische Geschichte.

Der Standard, Sa., 2017.01.07

31. Dezember 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Indianer, Fatalist und Rebell

23 Jahre lang war Dietmar Steiner Direktor des Architekturzentrums Wien. Heute, Samstag, tritt der Gründer der weltweit renommierten Institution zurück. Über rasante Züge, explosiven Lehm und die Wichtigkeit von Guerilla.

23 Jahre lang war Dietmar Steiner Direktor des Architekturzentrums Wien. Heute, Samstag, tritt der Gründer der weltweit renommierten Institution zurück. Über rasante Züge, explosiven Lehm und die Wichtigkeit von Guerilla.

Standard: Heute ist Ihr letzter Arbeitstag. Wie geht es Ihnen?

Steiner: Ab morgen bin ich in Pension. Ein eigenartiges Gefühl. Ich muss zugeben, dass ich im Zuge des Abschiednehmens ein paar schlaflose Nächte hatte.

Standard: Warum gerade jetzt?

Steiner: Ich hatte 2014 einen medizinisch geforderten neuen Lebensbeginn. Da wurde mir klar, dass ich mein bisheriges Leben zu beenden hatte. Nun habe ich das juristische Pensionsalter erreicht, und damit ist es Zeit, meinen Sessel zu räumen. Danke, es war sehr schön und hat mich sehr gefreut!

Standard: Nach 23 Jahren Architekturzentrum Wien (AzW): Was ist hängengeblieben?

Steiner: Ein unglaubliches Glück, dass dieser Job und meine Person sich gefunden haben. Ich bin wirklich dankbar dafür, dass mir damals die Chance geboten wurde, dieses Haus zu gründen und ein Wissenszentrum zu etablieren, das mittlerweile international bekannt und reputiert ist.

Standard: Auf welche Erfolge blicken Sie zurück?

Steiner: Wir haben eine umfangreiche Sammlung und ein fundiertes Archiv aufgebaut. Und wir haben es geschafft, das AzW als internationales Podium für zeitgenössische Architektur zu etablieren. Die Indianer haben gesagt: Du kannst eh nichts anderes tun, als einfach nur dein Ohr auf die Schienen zu legen und möglichst früh den herannahenden Zug zu hören. Zwei Ausstellungen, die Furore gemacht und einen wertvollen Beitrag zur Kultur- und Architekturszene geleistet haben, waren Rural Studio und Sowjetmoderne . Mit der Präsentation des Rural Studio (2004) aus Alabama haben wir die sozial engagierte Design-Build-Bewegung angestoßen. Sowjetmoderne (2013) war ein umfangreiches Forschungsprojekt zur Moderne in den ehemaligen Sowjetrepubliken zwischen 1955 und 1991. Diese Ausstellung hat die Wiederentdeckung des Brutalismus befördert.

Standard: Und auf welche Misserfolge blicken Sie zurück?

Steiner: Generell nicht genügend Kenntnisse über Architektur und Stadtplanung vermittelt zu haben. Der Diskurs ist hierzulande noch immer nicht sachlich begründet.

Standard: Österreichische Architektur 1993 und heute: Was hat sich in dieser Zeit verändert?

Steiner: In den 1990ern gab es eine Aufbruchstimmung. Mit Helmut Zilk, Ursula Pasterk und Hannes Swoboda gab es in Wien drei Politiker, die extrem architekturaffin waren und diese Kultur auch gefördert haben. Österreichische Architektur hatte damals ein sehr gutes Standing. International gesehen war das eine Marke! Diese Qualität ist – auch mangels politischen Engagements – verlorengegangen. Heute ist österreichische Architektur nicht besser oder schlechter als anderswo. Pionierarbeit allerdings findet anderswo statt: in der Schweiz, in Deutschland und Flandern, wo es eine bemerkenswerte Architekturpolitik gibt.

Standard: Das klingt traurig für Österreich.

Steiner: Ist es auch. Ich orte eine zunehmende Respektlosigkeit gegenüber der architektonischen Arbeit. Man verlangt immer mehr für immer weniger Geld. Und die Architekten sagen Ja, weil der Konkurrenzdruck ganz enorm geworden ist.

Standard: Wo stehen wir heute?

Steiner: Die Architektur hat viele Kompetenzen abgegeben und an Techniker, Manager, Bauingenieure und Generalplaner verloren. Nun wäre sie gefordert, diese Felder wieder zurückzuerobern.

Standard: Wird das gelingen?

Steiner: Ich fürchte, Diversifizierung und Technisierung werden weiter zunehmen. Schuld daran sind das immer strenger werdende Kosten- und Zeitmanagement, das die Immobilienwirtschaft vorschreibt, das neue Planungsinstrument Building Information Modeling (BIM) sowie immer schärfere Vorschriften und Planungsrichtlinien. Wer heute Architektur macht, muss von Jus und Wirtschaft mehr Ahnung haben als vom Bauen. Mit Architektur im klassischen Sinne hat das alles bald nicht mehr viel zu tun.

Standard: Was tun?

Steiner: Ich bin Fatalist. Das einzig positive Symbol für mich ist Lehm. Das ist das älteste, archaischste und in gewissen Teilen der Welt am weitesten verbreitete Baumaterial mit der größten globalpolitischen Sprengkraft. Lehmbau, Bottom-up-Projekte und Guerilla-Strömungen sind eine sehr wertvolle und auch dringend benötigte Gegenbewegung zur Technokratisierung und Vereinheitlichung. Rebellen gegen das Imperium: Bitte mehr davon!

Standard: In Ihrem 400-Seiten-Wälzer „Steiner’s Diary“, den Sie sich jüngst von der Seele geschrieben haben, verschriftlichen Sie die Architekturgeschichte von fast sechs Jahrzehnten. Haben Sie eine Lieblingsepoche?

Steiner: Die intensive Theoriedebatte der 1970er-Jahre war schon etwas sehr Besonderes. Das gab es in diesem Ausmaß nie wieder und ist auch nicht mehr rekonstruierbar. Nicht von ungefähr werde ich oft mit einem meiner wohl häufigsten Sätze zitiert: „Das hamma schon in den Siebzigerjahren gemacht.“

Standard: Einer Ihrer berühmtesten Texte, der auch im Buch zu finden ist, trägt den Titel „Von Huren und Heiligen. Thesen zur Praxis zukünftiger Architektur“. Wer von beiden hat denn heute das Sagen?

Steiner: 1992 hat der Text viele aufgeregt. Er handelt davon, dass man als angehender Architekt auf der Uni als Heiliger ausgebildet wird, während man im Berufsleben die schmerzhafte Erfahrung macht, eine Hure geworden zu sein. Es gibt Ausnahmen. Und diese Ausnahmen sind meist nicht einmal gute Architekten, sondern in erster Linie gute Strategen, die die Medien- und Marketingklaviatur perfekt beherrschen.

Standard: Seit zehn Jahren setzen Sie sich für die Gründung eines österreichischen Architekturmuseums ein. Bislang vergeblich. Woran scheitert es?

Steiner: Das AzW ist bereits ein Architekturmuseum und wird auch weltweit als solches anerkannt. Das ist endlich auch politisch zur Kenntnis zu nehmen.

Standard: Das klang schon mal feuriger. Sie haben sich lange Zeit dezidiert für ein Architekturmuseum im Semperdepot ausgesprochen, weil das AzW diese Aufgaben nicht abdecken könne. Sind diese Pläne nun ad acta gelegt?

Steiner: Vor zehn Jahren gab es ein historisches Zeitfenster, wo das möglich gewesen wäre. Doch aktuell stehen in der Universität der bildenden Künste, die ja Mieterin des Semperdepots ist, so viele Umbauten und Renovierungen an, dass an ein Architekturmuseum mittelfristig nicht zu denken ist. Ich kann nur sagen: Das wäre das schönste Architekturmuseum der Welt.

Standard: Ihre Nachfolgerin ist die Kulturtheoretikerin Angelika Fitz. Über welchen frischen Wind durch die neue Direktorin würden Sie sich besonders freuen?

Steiner: Diese Frage zu beantworten wäre falsch. Ich habe mich über die Ernennung von Angelika Fitz riesig gefreut. Sie ist sehr kompetent und kann selbst entscheiden, welche neuen Impulse dem AzW guttun werden. Ich muss und will mich überraschen lassen. Einzumischen habe ich mich nicht mehr.

Standard: Wird das gelingen? Sie sind ja doch jemand, der regelmäßig Kommentare und offene Briefe schreibt und das aktuelle Geschehen in diversen Medien und Kanälen kommentiert.

Steiner: Wenn die Architektur in Bedrängnis kommt, werde ich sie immer verteidigen.

Standard: Vor kurzem ist Andrea Maria Dusls „Zeitreisen: Ein Film über Dietmar Steiner“ erschienen. Im Vorspann hört man Sie auf einer Tastatur tippen. Ein Ausblick auf Ihre Zukunft?

Steiner: Ich werde mich aus Wien zurückziehen und möchte in den kommenden Monaten mein Archiv und meine Bibliothek ordnen. Ich brauche eine Pause von der zeitgenössischen Architekturproduktion. Ich will Zeit zum Nachdenken haben. Das Tippen wird später wiederkommen.

Standard: Der 31. Dezember 2016 ist nicht nur Ihr letzter Arbeitstag, sondern auch Ihr 65. Geburtstag. Gibt es einen Geburtstagswunsch?

Steiner: Nein. Ich bin so ziemlich wunschlos glücklich. Um bei der Metapher des Films zu bleiben: Ich habe in meinem Leben einen Stein ins Wasser geworfen. Und dieser Stein hat hoffentlich ein paar Wellen bewirkt.

Der Standard, Sa., 2016.12.31



verknüpfte Akteure
Steiner Dietmar

24. Dezember 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Aladins Animationsmaschine

Wie viel Realität sickert durch die Mauern der All-inclusive-Clubs und feuchtfröhlichen Resorts? Eine Ausstellung in Innsbruck befasst sich mit den touristischen Folgen der Terroranschläge und Putschversuche in Tunesien, Ägypten und der Türkei.

Wie viel Realität sickert durch die Mauern der All-inclusive-Clubs und feuchtfröhlichen Resorts? Eine Ausstellung in Innsbruck befasst sich mit den touristischen Folgen der Terroranschläge und Putschversuche in Tunesien, Ägypten und der Türkei.

Um 11.00 Uhr startet die Aquagymnastik. 38 Menschen wurden hier kaltblütig ermordet. Von 14.30 bis 17.30 Uhr steht Box-Animation auf dem Programm. Ein tunesischer Student hatte die Urlauber und Sonnenbaderinnen damals am Strand erschossen. Und um 17.00 Uhr lädt die Hoteldirektion zum feuchtfröhlichen Wasserpolo. Das Maschinengewehr vom Typ Kalaschnikow hatte der Attentäter unter einem Sonnenschirm versteckt, den er beim Strandspaziergang bei sich trug.

Die beiden Orte von Jubel, Trubel, Heiterkeit und einem weiteren Unglück in der Serie unzähliger Anschläge, zu denen sich der IS bekannt hat, liegen nur weniger Meter voneinander entfernt. Doch im ewigen Sommer, so scheint es, vergisst man schnell. Auf den Schicksalstag am 26. Juni 2015, der dem tunesischen Tourismusstädtchen Port El-Kantaoui eine Katastrophe bescherte, ist kaum ein Hinweis, geschweige denn eine erinnernde Gedenktafel zu finden. Heute wie damals wird geplanscht, geplätschert und gerutscht.

Massiv getroffen

„Die Anschläge im arabischen Raum sowie die politischen Unruhen und Putschversuche in Nordafrika und Kleinasien haben die klassischen Urlaubsdestinationen der Europäer massiv getroffen“, sagen Andreas Zißler, Pia Prantl und Anna Lerchbaumer, die in Wien und Innsbruck Architektur, Videokunst und Arts and Science studieren und im letzten Halbjahr immer wieder in Badehose und Bikini geschlüpft sind. „Wir wollten uns anschauen, welche Auswirkungen die Ereignisse auf den Tourismus haben und wie Hotels, Regionen und ganze Länder darauf reagieren.“

Dreimal stiegen die angehenden Architektinnen in den Charter-Flieger, dreimal hatten sie Notizbücher, Diktiergerät und Fotoapparate im Gepäck, dreimal recherchierten sie an Ort und Stelle über Aladdins Aquaparks und Animationshotels, über den politisch und wirtschaftlich einschneidenden Moment des Terrors sowie über die potenzielle Neuerfindung und Neupositionierung am Tag danach. Das Ergebnis dieser Foto- und Sound-Dokumentation aus Tunesien, Ägypten und der Türkei ist nun in Form einer Ausstellung im Innsbrucker Architekturhaus aut zu sehen.

„Es passiert nicht jeden Tag“, sagt Anna Lerchbaumer, „dass jemand mit einer Hasselblad-Mittelformatkamera samt Stativ im Swimming-Pool oder am Rutschturm steht und das Auf-Urlaub-Sein der anderen fotografiert. In einem All-inclusive-Club, in dem sonst jede Minute durchgetaktet und durchchoreografiert ist, wirkt dieses Bild wahrscheinlich ziemlich verstörend.“ So manches Mal, erinnert sie sich, seien die drei Invasoren zum Hoteldirektor zitiert worden.

„Jede Aktion, die nicht ins Konzept von Ferienstimmung und All-inclusive passt, wird sofort unterbunden“, meint Andreas Zißler. „Kaum haben wir die Kamera ausgepackt, wurden wir schon von Animateuren gestürmt, die uns um jeden Preis in ein belangloses Feriengespräch verwickeln wollten. Aber auch Beleuchtung, knarrende Lautsprecher und schlechte Schlagermusik in Endlosschleife wurden immer wieder eingesetzt, um uns zu vertreiben und unsere Arbeit zu behindern.“

Es sind dies, erklärt Zißler, die ganz normalen Werkzeuge, mit denen auch der Hotelgast von A nach B durchgelotst wird: Licht, Musik, Buffet, Happy Hour und Animationsprogramm. „Auf diese Weise wird die große Masse im Revier Ferienanlage zusammengehalten und kontrolliert. Ein Ausbrechen aus diesem System ist quasi unmöglich. Jeder Fluchtversuch wird mit aller Kraft zu stoppen versucht.“ Und ja, es sei erstaunlich, wir rasch man sich als Außenstehender und kritischer Beobachter diesem absolutistischen, zentralistischen Regime beuge und selbst zur Marionette des oktroyierten Glücklich-Seins verkomme.

Neben dem El-Mouradi Palm Marina in Port El-Kantaoui reisten die drei Kuratoren auch ins Happy Life Village in Sharm-el-Sheikh, Ägypten, sowie ins Dream World Aqua in Antalya, Türkei. „Wir waren an drei vollkommen unterschiedlichen Orten, doch die Hotelanlagen mit ihren zentralen Pool-Landschaften waren jedes Mal zum Verwechseln ähnlich“, sagt Pia Prantl.

„Es spielt keine Rolle, wo welches Hotel steht. Es spielt nur eine Rolle, welche Aufgabe es zu erfüllen hat.“ Das All-inclusive-Hotel sei nichts anderes als ein programmatischer Filter, der für die Touristen die Realität des Ortes aussiebt. Ganz so wie in Disneyland oder im 1998 erschienenen Kinoklassiker Truman Show.

„Und das Erschreckende ist“, so Andreas Zißler, „dass wir diese künstliche Parallelwelt, die uns einen bestimmten Verhaltens-code vorschreibt, längst nicht nur im Pauschalurlaub vorfinden. Sie ist überall. Jeder Bahnhof, jeder Flughafen, jeder Supermarkt, jedes Shoppingcenter, ja sogar jede Einkaufsstraße in der Stadt ist darauf ausgerichtet, unsere Wege zu kontrollieren und unser Konsumverhalten zu beeinflussen.“

Ohne Ort, ohne Kontext

Es reicht allein schon ein Blick in die Stadtkultur turbokapitalistischer Gesellschaften: China, USA, Vereinigte Arabische Emirate. „Städte wie Dubai und Las Vegas entbehren einer jeden Vergangenheit und jeder Realität. Sie sind Fabriken der Sehnsuchtsproduktion und der Wunscherfüllung – ohne Ort, ohne Kontext, ohne Vergangenheit. Und diese Nichtorte, in denen nur noch das ästhetisierte Abbild einer Wirklichkeitskonstruktion zählt, werden immer mehr.“

Auf genau diese Fehlentwicklung will die Innsbrucker Ausstellung – über ihre eigenen ästhetischen Bilder hinaus – aufmerksam machen. Die Fotografien, die Tagesabläufe mit Boccia, Volleyball und Wasseraerobic und das Stück Plastikrutsche, das wie ein ausgetrocknetes Relikt im Raum steht, sind demaskierend.

Die Ausstellung „LSF 50. Entspannung pauschal im arabischen Sommer“ ist im aut noch bis 12. Februar 2017 zu sehen. Am 13. Jänner 2017 findet ein Diaabend zum Thema Wasser statt.

Der Standard, Sa., 2016.12.24

16. Dezember 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Der Industriepark als kleines Universum

Der Steinmetzbetrieb Kampichler in Theresienfeld wurde mit dem Österreichischen Bauherrenpreis ausgezeichnet. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass der Industriebetrieb zu einem Firmenpark mit anmietbaren Betriebsflächen ausgebaut wurde.

Der Steinmetzbetrieb Kampichler in Theresienfeld wurde mit dem Österreichischen Bauherrenpreis ausgezeichnet. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass der Industriebetrieb zu einem Firmenpark mit anmietbaren Betriebsflächen ausgebaut wurde.

Wien – Lkws, Lagerhallen, Logistikzentren. Und immer wieder tauchen dazwischen, als hätte jemand unabsichtlich das falsche Objekt aufs falsche Grundstück gestellt, Einfamilienhäuser und weihnachtlich dekorierte Carports auf. Das Industriegebiet Theresienfeld zwischen Leobersdorf und Wiener Neustadt gehört wahrlich nicht zu den schönsten Landschaftsecken Niederösterreichs. Hier zählt die Produktionseffizienz mehr als jedes noch so kleine Bekenntnis zur Baukultur.

Doch plötzlich wachsen am Straßenrand ein paar vereinzelte Betonskulpturen aus dem Feld. Die schrägen Wandscheiben und schief eingeschnittenen Fensterschlitze lassen Großes, lassen Ungewöhnliches erahnen. Was auf den ersten Blick aussieht wie eine Museumsdependance für zeitgenössische Kunst, entpuppt sich bei der Lektüre der frei aufgestellten Adress- und Werbepylonen als Gewerbepark und Firmenareal des Steinmetzbetriebs Kampichler.

„Der Betrieb ist hier schon seit langer Zeit angesiedelt“, sagt Matthias Raiger, Partner und Projektleiter im für die Planung zuständigen Architekturbüro gerner gerner plus. „Unsere Aufgabe war, die unterschiedlichen Hallen und Ausbaustufen zu einem großen Ganzen zusammenzufassen und um neue Flächen zu erweitern.“ Das Ergebnis ist eine 7000 m² große Halle mit Büro- und Produktionsflächen. Vor kurzem wurde der ungewöhnliche Industriepark von der Zentralvereinigung der ArchitektInnen (ZV) mit dem Österreichischen Bauherrenpreis 2016 ausgezeichnet.

Unterschiedliche Mieter

„Den Architekten ist es gelungen, die wirklich großen Volumina, die für so einen Gewerbebetrieb typisch sind, mit bestechend einfachen Mitteln zu einer faszinierenden Gesamtkomposition zu verbinden“, erklärt der Wiener Architekt und Bauherrenpreisjuror Martin Kohlbauer. „Vor allem aber hat uns fasziniert, wie ein Bauherr mit Vision und Qualitätsbewusstsein an ein Projekt herangeht und den eigenen Flächenbedarf mit dem Ausbau zu einem kleinen Firmenpark mit fremdeingemieteten Unternehmen ausbaut. Hinter den skulpturalen Betonscheiben verbergen sich raffinierte Lagerplätze, die von außen zwar nicht einsehbar, dafür aber mit dem Gabelstapler befahrbar sind. Hier ist ein kleines Universum entstanden.“

Von außen betrachtet, sind die unterschiedlichen Bauphasen und Funktionsgrenzen kaum wahrnehmbar. Erst im Inneren des Gebäudes geben sich Hallengröße, Tragstruktur und unterschiedliche Mieternutzungen verräterisch redselig. Während ein Teil des Areals (knapp 4000 m²) von Kampichler selbst für Lagerung, Zuschnitt und Feinbearbeitung von Naturstein – vom Bodenpflaster über Küchenarbeitsplatten bis hin zu mal schönen, mal weniger schönen Grabsteinen – genutzt wird, sind andernorts Glaserei, Dreherei und Motorenhersteller eingemietet.

„Als wir das Projekt gestartet haben, hatte ich die Idee, vielleicht eine, maximal zwei kleine Hallen fremdzuvermieten“, erklärt Bauherr Josef Kampichler auf Anfrage des Standard . „Doch nachdem sich in der Planungs- und Bauphase mehr und mehr Betriebe nach Miethallen erkundigt haben, entstand quasi spontan die Idee, das Bauprojekt zu erweitern. Jedes Mal, wenn ein neuer Mietinteressent dazugekommen ist, bin ich gedanklich wieder eine Halle weitergezogen.“ Am Ende belief sich die Gesamtinvestition in den Bau auf rund 4,5 Millionen Euro.

Konstruktion und Brandabschnitte sind so gestaltet, dass der 180 Meter lange Bau in 1000 m² große Hallenabschnitte gegliedert werden kann. Jeder Abschnitt wiederum hat jeweils einen Zugang von Nord und Süd. Damit ist auch diese kleine Mieteinheit noch einmal quer unterteilbar. In einer Nische hinter schwarz lasierter Holzfassade kann jeder Mieter, falls betrieblich nötig, seine eigene Haustechnikanlage aufstellen. Auf diese Weise entsteht maximale Flächenflexibilität. Von dieser wird Josef Kampichler allerdings, wie es aussieht, länger nicht Gebrauch machen müssen. Der Firmenpark ist mit sechs Betrieben vollvermietet. Schon jetzt befinden sich zahlreiche Mietinteressenten auf der Warteliste.

In einer der Hallen ist der Motorenhersteller Cummins Diesel Kögler Antriebstechnik eingemietet. Die Halle ist lichtdurchflutet und hell. Überall stehen knallrot und tiefschwarz lackierte Motorblöcke auf Holzpaletten. Im hinteren Teil der Halle befindet sich das großzügig verglaste Meisterhäuschen. Als stünde man auf einer Dachterrasse, die mit einer seitlichen Treppe zu erreichen ist, befinden sich darüber Pausenfläche, Toiletten und Duschen für die Mitarbeiter. Rundum ist alles offen.

Kein Kitsch-Schönbrunn

„Aufgrund der Betonbrüstung sieht man von unten eh nicht hinauf“, sagt Projektleiter Matthias Raiger. „Aber dafür hat man von oben eine fantastische Aussicht auf das Geschehen in der Halle. Man verbringt die Pause mit Licht und Luft und Panoramaausblick.“ Das ist nur eine der vielen schönen Kleinigkeiten, die dem Gewerbepark Kampichler eine Auszeichnung und nicht zuletzt einen Platz in der aktuellen Ausstellung im Wiener Ringturm gesichert haben. „Und auch“, ergänzt Kampichler, „dass wir alle eine gewisse Disziplin an den Tag gelegt und dafür gesorgt haben, dass ein der Bauaufgabe angemessener, schöner Ort entstanden ist – und keine seelenlose Halle oder irgendein Kitsch-Schönbrunn wie überall sonst.“

Der Standard, Fr., 2016.12.16



verknüpfte Bauwerke
KAMP - Firmengebäude

15. Dezember 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Architekt von der Wiege bis zur Bahre

Eislaufen war er noch nie. Das würde er gern einmal ausprobieren, sagt der 64-Jährige, der in São Paulo ein Büro mit knapp 40 Mitarbeitern betreibt und...

Eislaufen war er noch nie. Das würde er gern einmal ausprobieren, sagt der 64-Jährige, der in São Paulo ein Büro mit knapp 40 Mitarbeitern betreibt und...

Eislaufen war er noch nie. Das würde er gern einmal ausprobieren, sagt der 64-Jährige, der in São Paulo ein Büro mit knapp 40 Mitarbeitern betreibt und einer der bekanntesten und umtriebigsten Architekten Südamerikas ist.

Zu seinen Projekten zählen Bars, Boutiquen, Bibliotheken, Hotels, Museen, Galerien, Restaurants, viele, viele Einfamilienhäuser – und vor allem Wohntürme. Mit einem solchen hat sich der sympathisch grinsende Mann mit Halbglatze und Hornbrille auch in Österreich einen Namen gemacht.

Isay Weinfeld ist jener Mann, der sich im Februar 2014 gegen 140 Architekten aus aller Welt durchsetzen konnte und für den Wiener Investor Michael Tojner (Wertinvest) einen Vorschlag für die Bebauung des Areals Eislaufverein und Hotel Intercontinental machte. Er punktete vor allem mit einer bedächtigen, sensiblen Architektursprache sowie mit dem Vorschlag, das bestehende Hotel zu erhalten und zu sanieren. So wie in seinem Eröffnungsjahr 1964 sollte das alte Intercont wieder als „Ikone von globaler Eleganz“ erstrahlen. Daraus wird nichts.

Weinfeld, der die Ruhe eines jüdischen Mischpoche-Papas ausstrahlt, nimmt die jüngste Entwicklung neben dem Stadtpark mit Gelassenheit. „Man kann nie allen gefallen. Befürchtungen, Ängste und Anfeindungen sind immer da, und diese gilt es zu respektieren. Ich bin offen für Dialog.“

Mit genau dieser Einstellung ist es ihm gelungen, eine so große Tätigkeitsbandbreite wie kaum ein anderer abzudecken. Zu seinen Auftraggebern zählen die brasilianische Hautevolee, Schönheitschirurgen, weltweit bekannte Konzerne wie der Flipflop-Produzent Havaianas, aber auch NGOs und öffentliche Kulturinstitutionen. Er hat schon Wiegen und Särge designt. Und sogar als Filmregisseur hat er sich bereits verdingt. In seiner Komödie Fogo e Paixão (Feuer und Leidenschaft) lässt er eine Horde von Touristen eine Großstadt erkunden.

Auch dem Essen und der Musik ist der passionierte Cineast nicht abgeneigt. Er hört Mozart, Beethoven und Arvo Pärt und lernt die Destinationen, an denen er tätig ist, am liebsten über den Magen kennen. „Wenn das Essen gut ist, dann habe ich auch großen Appetit auf Architektur.“ Und wie ist es um den Appetit auf Eis bestellt? „Die ersten Eislaufschuhe würde ich mir natürlich am liebsten in meinem eigenen Projekt in Wien anziehen“, so Weinfeld. „Mal schauen, wann das möglich sein wird.“

Der Standard, Do., 2016.12.15



verknüpfte Akteure
Weinfeld Isay

03. Dezember 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Schule macht Schule

Das Schul- und Kulturzentrum in Feldkirchen an der Donau wurde kürzlich mit dem Österreichischen Bauherrenpreis ausgezeichnet. Das liegt zum einen an der Architektur von fasch & fuchs, zum anderen am ungewöhnlichen pädagogischen Ansatz.

Das Schul- und Kulturzentrum in Feldkirchen an der Donau wurde kürzlich mit dem Österreichischen Bauherrenpreis ausgezeichnet. Das liegt zum einen an der Architektur von fasch & fuchs, zum anderen am ungewöhnlichen pädagogischen Ansatz.

Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr.

Diese Ansprache zum Schulbeginn stammt aus dem Jahre 1968. Erich Kästners Worte haben bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Kaum hat man das Schulhaus betreten, entdeckt man in der Aula Textfragmente daraus in Form von silberfarben applizierten Buchstaben auf der Empore im ersten und zweiten Stock. Die Kunst-am-Bau-Arbeit stammt vom Wiener Künstler Hermann Staudinger.

Der Lehrer ist kein Schulwebel und kein lieber Gott. Er weiß nicht alles, und er kann nicht alles wissen. „Aber wir haben viel gelernt“, sagt Brigitte Rechberger, Direktorin des neuen Schul- und Kulturzentrums im oberösterreichischen Feldkirchen. „Die Bauphase und das Gebäude, in dem wir nun arbeiten, haben uns so geprägt, das ich mit Stolz sagen kann: Unsere Lehrer sind keine Einzelkämpfer wie in vielen anderen Schulen, sondern Teamplayer. Hier arbeitet jeder mit jedem. Das liegt nicht nur, aber auch an der außergewöhnlichen Architektur.“

Misstraut euren Schulbüchern!

Für genau diesen einzigartigen Ansatz wurde die Marktgemeinde Feldkirchen an der Donau, nur ein paar Steinwürfe von Linz entfernt, kürzlich mit dem Österreichischen Bauherrenpreis 2016 ausgezeichnet. Der Preis, der jährlich von der Zentralvereinigung der ArchitektInnen Österreichs (ZV) vergeben wird, möchte genau jene Menschen vor den Vorhang holen, die die hohe Kunst guter Architektur überhaupt erst ermöglichen – die Auftraggeberinnen und Auftraggeber.

Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern. Sie sind nicht auf dem Berge Sinai entstanden. Hinter dem Lernlabor für rund 400 Schülerinnen und Schüler verbirgt sich ein Hybrid aus Neubau und Sanierung aus der Feder des Wiener Architekturbüros fasch & fuchs. Während die alte Volksschule abgerissen und neu aufgebaut wurde, handelt es sich bei der Neuen Mittelschule um eine sehr schöne, gut funktionierende Hallenschule aus den Siebzigerjahren, die thermisch saniert und in den Neubau integriert wurde. Der angrenzende Turnsaal wurde generalsaniert und erweitert. Ein ganz neues Element ist die Musikschule mit angrenzendem Kulturzentrum.

„Der österreichische Schul- und Bildungsbau hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt“, sagt Hemma Fasch. „Es sind viele innovative Projekte entstanden. Oft ist es aber so, dass die architektonischen und pädagogischen Konzepte nicht ganz zusammenpassen, weil das eine dem anderen irgendwie hinterherhinkt, weil Architekt und Nutzerin nicht miteinander kommunizieren. Bei diesem Projekt jedoch war es anders. Wir haben miteinander gearbeitet, wir haben alle an einem Strang gezogen, und das sieht man dem Haus auch an.“

Seid nicht zu fleißig!

Seid nicht zu fleißig! Bei diesem Ratschlag müssen die Faulen weghören. Er gilt nur für die Fleißigen, aber für sie ist er sehr wichtig. „Das Schöne ist, dass wir uns gemeinsam mit der Schulleitung und den Lehrenden austoben konnten. Von Anfang an war ein Haus gefordert, das räumlich in der Lage ist, auf die Erfordernisse neuer pädagogischer Konzepte zu reagieren“, ergänzt Jakob Fuchs. „Damit werden alle Klischees von Schule hintangestellt.“

Wie eine rote Zunge klappt vom ersten Stock eine breite Treppe herab, die mit ihren gebeizten Sitzbohlen als Tribüne für Schulaufführungen und diverse Veranstaltungen genutzt werden kann. Die boomerangförmigen Lampen, die wie leuchtende Ufos im Raum zu schweben scheinen, lösen im Betrachter den kindlichen Reflex des Hingreifenwollens aus. Und die nackten Betonwände mit ihren rot und violett gepolsterten Lümmellandschaften erwecken den Eindruck, als sei man in einem Wissens- und Spaßlabor à la MIT und Apple-Campus – und nicht in einer öffentlichen Schule irgendwo in Oberösterreich.

Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch. Statt klassischer Schulklassen gibt es unterschiedliche, kombinierbare und auch voneinander abtrennbare Lernzonen, die sich um einen sogenannten Marktplatz gruppieren. Während die Lernbereiche mit mobilen, rollbaren Einzeltischen ausgestattet sind, bricht die Gestaltung des Marktplatzes mit allen schulischen Konventionen: Round Tables, Bullaugen im Boden, Computer-Terminals zum Stehen, Teeküchen mit ausklappbaren Tischchen, fahrbare Schrankmöbel mit abschließbaren Privatfächern und rundum Zugänge auf Terrasse und Balkon.

Manche von euch rutschen unruhig hin und her, als säßen sie auf Herdplatten. Andere hocken wie angeleimt auf ihren Plätzen. Einige kichern blöde, und der Rotkopf in der dritten Reihe starrt, Gänsehaut im Blick, auf die schwarze Wandtafel, als sähe er in eine sehr düstere Zukunft. Allein schon die Tatsache, dass sich hinter den schicken, weißen Designer-Hockern nichts anderes als auf den Kopf gestellte Kunststoffmistkübel vom Ikea verbergen, gibt einen Einblick in die unorthodoxe Genese dieses Projekts.

Lösung aus der Notlösung

Ungewöhnlich war auch die Bauphase. Ursprünglich wollte die Gemeinde für die Zeit der Sanierung Container ankaufen und den Schulbetrieb auslagern. Schließlich jedoch hatte man die glorreiche – und auch weitaus billigere – Idee, die Klassenzimmer auf den gesamten Immobilienleerstand im Ort zu verteilen. Fündig wurde man in diversen leer stehenden Geschäftslokalen, im Sitzungssaal der Gemeinde, in der Samariter-Rettungsdienststelle sowie im Pfarrhaus, direkt unter der Bedienstetenwohnung des Gemeindepfarrers.

Haltet das Katheder weder für einen Thron noch für eine Kanzel. „Es war eine lustige Zeit, in der wir viel improvisieren mussten“, erinnert sich Schuldirektorin Brigitte Rechberger. Die Zeit im Ausnahmezustand habe Lehrerinnen und Kinder zusammengeschweißt. „Im Rückblick kann ich sagen, dass aus der Notlösung die beste Lösung aller Zeiten geworden ist. Und sie beweist, dass Lehren und Lernen überall stattfinden kann.“

Eure Stunde X hat geschlagen. Der Unterricht in Elektrogeschäften und Pfarrsälen während der Bauphase zeigt bis heute Wirkung. Der Anteil klassischen Frontalunterrichts im Schul- und Kulturzentrum Feldkirchen beträgt nach Auskunft der Lehrerinnen und Lehrer aktuell nur noch zehn Prozent. Erst kürzlich wurde in der Volksschule und Neuen Mittelschule Feldkirchen die Pausenglocke abgeschafft.

Die einfachen Dinge sind schwer begreiflich zu machen. Sehr gut.

Der Standard, Sa., 2016.12.03



verknüpfte Bauwerke
Schul- und Kulturzentrum Feldkirchen an der Donau

26. November 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Ich bin ver­narrt in ro­te Per­ser­tep­pi­che

Diet­mar Stei­ner, Di­rek­tor des Ar­chi­tek­tur­zen­trums Wien, wohnt in ei­nem Vier­kan­ter in Nie­de­rös­ter­reich, bei des­sen Um­bau Blut und Schweiß ge­ron­nen sind. Re­sul­tat von 20 Jah­ren Bau­stel­le: ein ar­chi­tek­tur­frei­er Raum.

Diet­mar Stei­ner, Di­rek­tor des Ar­chi­tek­tur­zen­trums Wien, wohnt in ei­nem Vier­kan­ter in Nie­de­rös­ter­reich, bei des­sen Um­bau Blut und Schweiß ge­ron­nen sind. Re­sul­tat von 20 Jah­ren Bau­stel­le: ein ar­chi­tek­tur­frei­er Raum.

Diet­mar Stei­ner, geb. 1951 in Wels, stu­dier­te Ar­chi­tek­tur an der Aka­de­mie der bil­den­den Kün­ste in Wien. Er war lang­jäh­ri­ger Mit­ar­bei­ter Fried­rich Ach­leit­ners und Re­dak­teur des in­ter­na­tio­na­len De­si­gnma­ga­zins Do­mus in Mai­land. 1993 grün­de­te er das Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (AzW) im Mu­se­ums­quar­tier, das er seit­dem als Di­rek­tor lei­tet. Mit En­de De­zem­ber geht er in Pen­si­on. Sei­ne Nach­folg­erin ist An­ge­li­ka Fitz. So­eben er­schien sein Buch Stei­ner’s Dia­ry (Park Books) so­wie An­drea Ma­ria Dusls Do­ku­men­ta­ti­on Zeit­rei­sen: Ein Film über Diet­mar Stei­ner.

Das Haus war ei­ne Rui­ne, ein hoff­nungs­lo­ser Fall. Aber zu­rück zum An­fang. Dass ich mich über­haupt nach ei­nem Haus auf dem Land um­ge­schaut ha­be, hat­te ei­nen sehr ein­fa­chen Grund: Ar­beits­tie­re, die wir sind, ha­ben mei­ne Frau Mar­ga­re­te Cu­fer und ich in da­mals 20 Jah­ren nur zwei­mal Ur­laub ge­macht. Das ist nicht viel. Ei­nes Ta­ges ha­be ich dann ge­sagt: „Wir ar­bei­ten das gan­ze Jahr durch. Ich glaub, wir brau­chen ein Stückl nas­ses Gras, das uns zwingt ab­zu­schal­ten!“

Ei­gent­lich woll­te ich ins Mühl­vier­tel, da­hin, wo es kalt und ne­be­lig ist, das war aber doch zu weit weg von Wien. Ei­nes Ta­ges bin ich dann auf ein In­se­rat ge­sto­ßen: „Alt, aber schön ge­le­gen.“ Da wuss­te ich, dass es sich um ei­ne Bruch­bu­de han­delt. Aber da­für hat es nur 400.000 Schil­ling ge­kos­tet. Frü­her war das ein Vier­kan­ter, ir­gend­ein Vor­be­sit­zer hat die Süd­sei­te in die Wie­se run­ter­ge­bag­gert, weil sie nicht mehr zu ret­ten war. Da­her se­hen wir an kla­ren Ta­gen Dach­stein, Trauns­tein, das gan­ze be­ste Stück des Al­pen­pa­no­ra­mas.

Ei­gent­lich woll­te ich nur das Not­wen­digs­te her­rich­ten, ein bissl was ma­chen, da­mit ein Teil des Hau­ses be­wohn­bar ist. Doch dann ist das Pro­jekt zur ewi­gen Bau­stel­le aus­ge­ar­tet. Das Geld hat sich im Lau­fe der Jah­re ver­dün­ni­siert, und ir­gend­wann war ich al­len Gul­den- und Fran­ken­kre­di­ten zum Trotz so ziem­lich am Exis­tenz­mi­ni­mum – auch des­halb, weil ich wahr­schein­lich der dümm­ste Ös­ter­rei­cher bin und al­les mit Pro­fes­sio­nis­ten – oh­ne ei­ne ein­zi­ge Pfu­schers­tun­de – rea­li­siert ha­be.

Wir ha­ben Zwi­schen­de­cken raus­ge­ris­sen, ei­ne klei­ne Ga­le­rie ein­ge­zo­gen, die gan­ze Elek­trik neu ge­macht, die Hei­zung in­stal­liert, Kü­che und Bad ge­macht, neue Kas­ten­fens­ter ein­ge­baut und das Dach sa­niert. Im er­sten Win­ter, als das al­les hier Bau­stel­le war, muss­ten wir noch mit Strom hei­zen, da­mit nichts ein­friert. Ir­gend­wann hat mich die EVN an­ge­ru­fen und ge­meint: „Wir ha­ben da wohl ei­nen Re­chen­feh­ler. Ih­re Strom­kos­ten be­tra­gen 40.000 Schil­ling!“

In die­sen Um­bau sind buch­stä­blich Blut und Schweiß ge­ron­nen. Ein­mal bin ich von vier Me­tern von der Lei­ter run­ter­ge­fal­len, di­rekt auf den Be­ton­bo­den. Über­all war Blut. Ich hab mir ei­ne Tschick an­ge­zün­det, und ir­gend­wann sind wir ins Kran­ken­haus ge­fah­ren. Trotz­dem muss ich sa­gen: Die­se ewig lan­ge Bau­stel­le hat mein Le­ben ge­ret­tet. Oh­ne die­sen al­ter­na­ti­ven Ort hät­te ich die letz­ten 20 Jah­re mei­nes Le­bens nicht der­packt. Er ist Fit­nesss­tu­dio und Psy­cho­the­ra­pie zu­gleich.

Das Re­sul­tat nach 20 Jah­ren Bau­stel­le ent­spricht mei­ner Ar­chi­tek­tur­phi­lo­so­phie der Bri­co­la­ge. Zu­fäl­li­ges und Stö­ren­des wird wohl­wol­lend mit­ein­an­der kom­bi­niert: So­fas, Ti­sche, Stüh­le, Fau­teu­ils, Kastln und Lam­pen al­ler Epo­chen und Cou­leurs. Wir ha­ben vie­le De­signk­las­si­ker aus dem 20. Jahr­hun­dert – von Jo­sef Frank über Her­mann Czech und Adolf Kri­scha­nitz bis zu Je­an Nou­vel, Phi­lip­pe Starck und Ja­sper Mor­ri­son. Man­che Be­su­cher fra­gen: „Sagts mal, könnts ihr euch kei­ne ein­heit­li­chen Ses­sel leis­ten?“

Und über­all lie­gen Tep­pi­che. Wir ha­ben an die 25 Stück, und sie ma­chen mir gro­ße Freu­de, ih­re Mus­ter er­zäh­len wun­der­ba­re Ge­schich­ten. Was soll ich sa­gen? Ich bin ver­narrt in ro­te Per­ser. Je­den­falls passt hier nichts zu­sam­men. Ich brau­che das. Ich ha­be mich in mei­nem Le­ben so viel mit Ar­chi­tek­tur be­schäf­tigt, dass ich mich hier nach ei­nem ar­chi­tek­tur­frei­en Raum jen­seits von Sty­le und Sau­ber­keit ge­sehnt ha­be. Die Bri­co­la­ge geht wei­ter. Ak­tu­ell ha­be ich den Plan, die Noch­ga­ra­ge zu ei­ner Bi­blio­thek und zu ei­nem Raum für mein Ar­chiv aus­zu­bau­en. Ich fürch­te, das wird noch Jah­re dau­ern.

Der Standard, Sa., 2016.11.26



verknüpfte Akteure
Steiner Dietmar

26. November 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Die er­sten zwei von zehn Schrit­ten

Vor ei­ner Wo­che wur­de der Le­bens­zy­klus-Award 2016 ver­ge­ben. Die bei­den Preis­trä­ger­pro­jek­te in Wien-Leo­pold­stadt und Ernst­brunn sind Re­sul­tat ei­ner ganz­heit­li­chen, über den üb­li­chen Ho­ri­zont hin­aus­ge­dach­ten Pla­nung.

Vor ei­ner Wo­che wur­de der Le­bens­zy­klus-Award 2016 ver­ge­ben. Die bei­den Preis­trä­ger­pro­jek­te in Wien-Leo­pold­stadt und Ernst­brunn sind Re­sul­tat ei­ner ganz­heit­li­chen, über den üb­li­chen Ho­ri­zont hin­aus­ge­dach­ten Pla­nung.

Wien – „Die Le­bens­zy­klus­kos­ten“, er­zählt Ar­chi­tekt Georg Rein­berg, „wa­ren bei die­sem Pro­jekt von der er­sten Mi­nu­te an ex­trem wich­tig. Der Bau­herr hat ei­ne Hand­voll Ar­chi­tek­ten zum Wett­be­werb ge­la­den und be­reits in der Ent­wurfs­pha­se je­des ein­zel­ne Pro­jekt in Hin­blick auf En­er­gie- und Be­triebs­kos­ten durch­rech­nen las­sen. Die gro­ben Ana­ly­sen ha­ben be­reits ei­nen er­sten Vor­ge­schmack auf die mög­li­che Zu­kunft ge­ge­ben.“

Für die­sen un­ge­wöhn­li­chen, in der Im­mo­bi­lien­bran­che ein­zig­ar­ti­gen An­satz wur­de das von Rein­berg rea­li­sier­te Pro­jekt letz­te Wo­che als ei­ner von ins­ge­samt zwei Preis­trä­gern mit dem Le­bens­zy­klus-Award 2016 aus­ge­zeich­net. Die Re­de ist vom Ver­wal­tungs- und Be­triebs­ge­bäu­de der Wind­kraft Si­mons­feld AG in Ernst­brunn, Nie­de­rös­ter­reich.

Der Hy­brid­bau aus Holz und Be­ton, der in Zu­sam­men­ar­beit mit M.O.O.CON und dem Ös­ter­rei­chi­schen In­sti­tut für Bau­bio­lo­gie und Bau­öko­lo­gie (IBO) ent­wi­ckelt wur­de, ist seit An­fang 2014 in Be­trieb und wird seit­dem re­gel­mä­ßig über­prüft und aus­ge­wer­tet.

Wäh­rend die Werks- und Mon­tag­ehal­le, in der Wind­kraft­ele­men­te ge­war­tet und re­pa­riert wer­den, als rei­ner Holz­bau aus­ge­führt wur­de, zieht sich durch den Bü­ro­trakt ei­ne lehm­ver­putz­te Be­ton­wand als spei­cher­fä­hi­ge Mas­se. Die Fass­ade be­steht aus Mas­siv­holz mit Zell­stoff­däm­mung.

Die Haus­tech­nik des 1500 m² gro­ßen Hau­ses um­fasst Grund­was­ser­ther­mie, So­lart­her­mie, Fo­to­vol­taik, Wind­kraft so­wie ei­ne kon­trol­lier­te Lüf­tungs­an­la­ge mit Wär­me­rück­ge­win­nung. Üp­pi­ge Be­pflan­zun­gen in den All­ge­mein­flä­chen un­ter­stüt­zen die Feuch­te­re­gu­lie­rung der In­nen­räu­me. Sechs haus­ei­ge­ne Elek­tro­au­tos, die mit der über­schüs­si­gen En­er­gie des Hau­ses ge­speist wer­den, die­nen als Puf­fer­spei­cher.

„Die Qua­li­tät der ein­ge­reich­ten Pro­jek­te war durch die Bank sehr hoch“, sagt der Ju­ry­vor­sit­zen­de Christ­oph Acham­mer von ATP Ar­chi­tek­ten und In­ge­ni­eu­re. „Die bei­den Haupt­prei­se, die wir ver­ge­ben ha­ben, spiegeln nicht nur ein sehr um­fas­sen­des Ver­ständ­nis des Le­bens­zy­klus wi­der, son­dern sind auch der Be­weis da­für, dass ein ganz­heit­li­cher An­satz bei hoch­wer­ti­ger Pla­nung ei­ne sehr, sehr ho­he Ge­stal­tungs­qua­li­tät zur Fol­ge hat.“

Noch, so Acham­mer, sei es kei­ne leich­te Auf­ga­be, den Pro­ta­go­nis­ten der Im­mo­bi­lien­bran­che die Wich­tig­keit ei­ner le­bens­zy­klus­orien­tier­ten Pla­nung be­greif­lich zu ma­chen. „Mit Aus­nah­me der Nut­zer den­ken die meis­ten sehr kurz­fri­stig. Der Ho­ri­zont vie­ler De­ve­lo­per und In­ves­to­ren reicht nicht wei­ter als bis zur Op­ti­mie­rung der mo­ne­ta­ri­sier­ten Quar­tals­er­geb­nis­se. Das ist nicht be­rühmt.“

Pla­nung mit 67 Er­wachs­enen

Dass der Blick auch wei­ter in die Zu­kunft schwei­fen kann, be­weist das Wohn­pro­jekt Wien von eins­zu­eins Ar­chi­tek­tur, das ex ae­quo eben­falls mit dem Le­bens­zy­klus Award 2016 prä­miert wur­de. Das vom ge­mein­nüt­zi­gen Bau­trä­ger Schwarz­atal er­rich­te­te Haus auf dem ehe­ma­li­gen Nord­bahn­ho­fa­re­al ist Re­sul­tat ei­nes ganz­heit­li­chen Par­ti­zi­pa­ti­ons­pro­jekts.

„Dass es hier ge­lun­gen ist, 67 Er­wachs­ene zu ge­win­nen, die vom Städ­te­bau bis zur Steck­do­se mit­ge­dacht und mit­ge­plant ha­ben, ist au­ßer­ge­wöhn­lich“, sagt Mar­kus Zil­ker, Part­ner bei eins­zu­eins. „Bei die­sem Pro­jekt war es selbst­ver­ständ­lich, die Le­bens­zy­klus­kos­ten mit­zu­den­ken. Um­fas­sen­der als in die­sem Bei­spiel kann man Nach­hal­tig­keit kaum den­ken.“

Doch, so Zil­ker, in der Be­trach­tung der Bran­che sei das The­ma viel zu we­nig prä­sent. „Ge­ne­rell steckt die Sen­si­bi­li­tät für den Le­bens­zy­klus noch ziem­lich in den Kin­der­schu­hen. Auf ei­ner Ska­la von null bis zehn wür­de ich sa­gen, sind wir ge­ra­de mal bei zwei an­ge­kom­men.“ Viel­leicht hat der Award da­zu beige­tra­gen, die näch­sten acht Schrit­te schmack­haf­ter zu ma­chen.

Der Standard, Sa., 2016.11.26

12. November 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Meis­ter der Ir­ri­ta­ti­on

Her­mann Czech ist ein welt­be­kann­ter Na­me. Zu­min­dest in der Ar­chi­tek­tur­welt. Im brei­ten Pu­bli­kum je­doch, meint er, ken­ne ihn fast nie­mand. Dem wol­len wir zum 80. Ge­burts­tag ab­hel­fen.

Her­mann Czech ist ein welt­be­kann­ter Na­me. Zu­min­dest in der Ar­chi­tek­tur­welt. Im brei­ten Pu­bli­kum je­doch, meint er, ken­ne ihn fast nie­mand. Dem wol­len wir zum 80. Ge­burts­tag ab­hel­fen.

Stan­dard: Sie ha­ben sich ge­wünscht, vor un­se­rem Ge­spräch ei­nen Blick auf mei­ne Fra­gen zu wer­fen. Jetzt sind Sie un­glü­cklich.

Czech: Auf vie­le die­ser Fra­gen fin­de ich kei­nen Ein­stieg. Ich bin et­was rat­los.

Stan­dard: Sie ha­ben Ge­burts­tag. Wün­schen Sie sich ei­ne Ein­stiegs­fra­ge!

Czech: In ei­ner Ih­rer Fra­gen ist von der Ir­ri­ta­ti­on in mei­ner Ar­beit die Re­de. Da­rü­ber wür­de ich ger­ne spre­chen.

Stan­dard: Bit­te!

Czech: Ich hö­re oft, dass man­che Men­schen von mei­ner Ar­chi­tek­tur ir­ri­tiert sind. Das ist ei­ne be­grün­de­te Be­ob­ach­tung. Das ist aber kein Selbst­zweck. Die Ir­ri­ta­ti­on kommt ja nicht da­her, dass ich da­rü­ber nach­den­ke, wo­mit ich ir­ri­tie­ren könn­te. Sie ist viel­mehr ei­ne un­aus­weich­li­che Ne­ben­wir­kung mei­nes Ent­wurfs­an­sat­zes, mei­ner Ver­fol­gung von ver­schie­de­nen Ge­dan­ken­gän­gen auf ver­schie­de­nen Ebe­nen.

Stan­dard: Zum Bei­spiel?

Czech: Das kön­nen ganz prag­ma­ti­sche Über­le­gun­gen sein – sa­gen wir auf­grund des Ge­brauchs oder der Kos­ten­er­spar­nis. Das kön­nen aber auch be­ab­sich­tig­te Raum­wir­kun­gen oder As­so­zia­tio­nen sein. Manch­mal sind das auch Zi­ta­te aus der Ar­chi­tek­tur­ge­schich­te oder aus der tri­via­len All­tags­welt.

Stan­dard: Als ich das er­ste Mal das von Ih­nen ge­plan­te Klei­ne Ca­fé am Fran­zis­ka­ner­platz be­tre­ten ha­be, ha­be ich mir den Kopf da­rü­ber zer­bro­chen, aus wel­cher Epo­che das Lo­kal stam­men mag.

Czech: Das hö­re ich im­mer wie­der.

Stan­dard: Sie spie­len ger­ne mit der Zeit. Sie zi­tie­ren, ver­fäl­schen und füh­ren den Be­trach­ter mit Ih­ren Räu­men und Häus­ern an der Na­se he­rum.

Czech: Die Zeit ist ei­ne Di­men­si­on, die man in der Ar­chi­tek­tur an­spie­len kann. Ich ar­bei­te ger­ne mit Mö­beln, mit Bau­tei­len, mit Räu­men, bei de­nen man nicht weiß oder bei de­nen es zu­min­dest nicht ganz klar ist, ob sie schon vor­her oder erst nach­her da wa­ren. Die­se Wir­kun­gen bie­ten sich oft ganz von selbst an. Man muss sie sich nur be­wusst ma­chen.

Stan­dard: Sie ha­ben so­gar schon ein­mal den LC2-Stuhl von Le Cor­bu­sier zi­tiert und wei­ter­ent­wi­ckelt.

Czech: Das war im Aus­tria Trend Ho­tel im Pra­ter. Der Mö­bel­her­stel­ler Cas­si­na hat mich da­rauf­hin ver­klagt, weil Rechts­an­wäl­te das rou­ti­ne­mä­ßig für ei­nen Pla­gi­ats­fall ge­hal­ten ha­ben. Da­von war kei­ne Re­de! Der Fau­teu­il war als LC2 er­kenn­bar, aber mit höl­zer­nen Hand­grif­fen zum leich­te­ren Auf­ste­hen ver­se­hen. In Ih­rer Ar­chi­tek­tur­kri­tik ha­ben Sie das da­mals iro­ni­scher­wei­se als „klit­zek­lei­nes De­tail­chen“ be­zeich­net.

Stan­dard: Wie ging die Ge­schich­te aus?

Czech: In der drit­ten In­stanz sind die fi­nanz­iel­len Klags­for­de­run­gen ab­ge­wie­sen wor­den. Die Fra­ge der Pa­ro­die, der künst­le­ri­schen Über­ar­bei­tung ist in un­se­rer Recht­spre­chung nicht aus­rei­chend er­fasst. Doch die Stüh­le sind jetzt ein­ge­la­gert.

Stan­dard: Was ist das Reiz­vol­le an die­sem Spiel mit der His­to­rie?

Czech: Al­les, was wir heu­te ma­chen, war schon ein­mal da. Ich weiß gar nicht, ob es un­be­dingt so reiz­voll ist, mit der Ge­schich­te zu ar­bei­ten. Es ist ganz ein­fach un­um­gäng­lich. Es ist wich­tig, dass kei­ne De­tails un­ter den Tep­pich ge­kehrt wer­den, dass Wi­der­sprü­che so lan­ge be­ar­bei­tet wer­den, bis al­les passt.

Stan­dard: Ich er­in­ne­re mich an das aus­ge­tüf­tel­te De­tail ei­nes Hand­laufs, bei dem Sie im Wand­putz ei­ne Mul­de aus­ge­spart ha­ben.

Czech: Ja, das war im Ur­ba­ni­haus Am Hof in Wien. Hät­te man den Hand­lauf so weit von der Wand ent­fernt, dass die Fin­ger­knö­chel nicht den rau­en Putz strei­fen, dann wä­re das auf Kos­ten der Stie­gen­brei­te ge­gan­gen. Das woll­te ich nicht. Al­so ha­be ich klei­ne Aus­neh­mun­gen in den Putz ma­chen las­sen. Es funk­tio­niert.

Stan­dard: Sehr Czech!

Czech: Sol­che De­tails gibt es seit vie­len Hun­dert Jah­ren. Aber ja, man freut sich über ei­nen in­tel­li­gen­ten Ein­fall.

Stan­dard: Ein be­freun­de­ter Ar­chi­tekt mein­te ein­mal: Je­des Mal, wenn er in ei­nem Haus von Her­mann Czech steht, füh­le er sich be­ob­ach­tet, denn ir­gend­wo laue­re si­cher ei­ne ver­steck­te Ka­me­ra, durch die der Czech die Be­su­cher be­ob­ach­tet.

Czech: Das lässt sich in­stal­lie­ren! Ich wür­de den Men­schen ger­ne beim Zu­schau­en zu­schau­en. Das wä­re sehr amü­sant.

Stan­dard: An wie vie­len Punk­ten wür­de so ei­ne Ka­me­ra Sinn ma­chen?

Czech: Ich den­ke, ein bis zwei Ka­me­ras pro Pro­jekt wer­den es schon sein.

Stan­dard: Der „Fal­ter“ be­zeich­net Sie als heim­li­chen Sta­rar­chi­tek­ten, den kei­ner kennt. Wie geht es Ih­nen da­mit?

Czech: Da ist was dran. Der deut­sche Kunst­ver­mitt­ler Ka­sper Kö­nig hat kürz­lich über den Be­griff „Ar­tists’ Ar­tists“ ge­schrie­ben, al­so von Künst­lern, die nur Künst­lern be­kannt sind. Und er mein­te, ich sei ein „Ar­chi­tects’ Ar­chi­tect“. Ar­chi­tek­ten ken­nen mich, auch in­ter­na­tio­nal, aber für Me­dien und Pu­bli­kum ist der Czech un­be­kannt.

Stan­dard: Ar­chi­tek­ten ver­ge­ben kei­ne Auf­trä­ge.

Czech: Eben! Aber mit Ar­chi­tek­tur kann man eh nicht wirk­lich reich wer­den. Phi­lip John­son mein­te ein­mal, als Ar­chi­tekt müs­se man von vorn­her­ein reich sein oder ei­ne rei­che Frau ha­ben.

Stan­dard: Und?

Czech: We­der noch.

Stan­dard: Wie hat sich der Job des Ar­chi­tek­ten ver­än­dert? Ist er leich­ter oder schwe­rer ge­wor­den?

Czech: Schwe­rer. Und vor al­lem läs­ti­ger. Manch­mal sind Bau­vor­schrif­ten und Nor­men un­nö­tig läs­tig.

Stan­dard: Sind es nicht die Zwän­ge, die ...

Czech: ... doch, doch, Zwän­ge sind in­spi­rie­rend und kön­nen zu in­no­va­ti­ven Lö­sun­gen füh­ren. Aber wenn man nur mehr ge­ra­de Trep­pen und 80 Zen­ti­me­ter brei­te WC-Tü­ren bau­en darf, dann hört sich die Ar­chi­tek­tur auf. Dann be­ginnt die räum­li­che Ver­ar­mung.

Stan­dard: Wo ist die Ar­chi­tek­tur heu­te?

Czech: Die heu­ti­ge Ar­chi­tek­tur ist zu ei­nem er­heb­li­chen Teil ver­recht­licht. Man kann kaum noch et­was ent­schei­den, oh­ne an Haf­tung und recht­li­che Kon­se­quen­zen zu den­ken. Das lähmt na­tür­lich auch sinn­vol­le In­no­va­ti­on.

Stan­dard: Und wie ist es um die Stadt be­stellt?

Czech: Der Pla­nungs­theo­re­ti­ker Georg Franck for­dert, die neue Stadt sol­le ei­ne gu­te Adres­se pro­du­zie­ren. Ich wä­re schon zu­frie­den, wenn sie ei­ne auf­find­ba­re Adres­se fer­tig­bräch­te! Wenn Sie heu­te ei­nen Be­kann­ten in ei­nem Neu­bau­ge­biet be­su­chen wol­len, dann müs­sen Sie 20 Mi­nu­ten drauf­schla­gen, bis Sie die rich­ti­ge Haus­tür fin­den. Ich fin­de das be­denk­lich. Oder schau­en Sie sich die Ma­ria­hil­fer Stra­ße an! Ich kann aus ei­nem Ver­kehrs­netz ei­nen Fa­den raus­neh­men. Ich kann so­gar je­den zwei­ten Fa­den raus­neh­men. Auch das wä­re kein Pro­blem. Aber ich kann nicht auch noch die kreu­zen­den Quer­fä­den durch­schnei­den, denn dann ha­be ich plötz­lich zwei Tüchln. Das ist wie Ber­lin nach dem Mau­er­bau. Es gibt kei­ne Vor­stel­lung mehr von Stadt­struk­tur.

Stan­dard: Kann man das noch kor­ri­gie­ren? Oder ist es eh schon zu spät?

Czech: Es ist nie zu spät. An­de­rer­seits: Wenn Feh­ler groß ge­nug sind, nennt man sie ei­nes Ta­ges Stadt­ent­wi­cklung.

Stan­dard: Ei­ne Ih­rer be­rühmt­es­ten und wohl auch meist­zi­tier­ten Aus­sa­gen lau­tet, Ar­chi­tek­tur sol­le nur spre­chen, wenn sie ge­fragt wer­de.

Czech: Das ist die For­mel der schwar­zen Pä­da­go­gik. Wolf Prix hat das ge­nau ver­stan­den und hat da­rauf­hin ge­sagt: „Un­se­re Kin­der spre­chen auch un­ge­fragt!“ Kin­der sind aber et­was an­de­res.

Stan­dard: Wa­rum soll Ar­chi­tek­tur die Klap­pe hal­ten?

Czech: Weil nicht im­mer et­was zu sa­gen ist. Au­ßer­dem kann ei­ne Ar­chi­tek­tur, die mit ei­nem Pau­ken­schlag auf­tre­ten will, von da ab nur schwä­cher wer­den. Soll je­mand glau­ben, so et­was noch nie ge­se­hen zu ha­ben? Oder will ich das Be­ste, das mög­lich ist? Das sind zwei ver­schie­de­ne Din­ge.

Stan­dard: Sie sind vor­ge­stern 80 Jah­re alt ge­wor­den. Wo­rauf bli­cken Sie zu­rück?

Czech: Auf vie­le Feh­ler stra­te­gi­scher Art. Hans Hol­lein hat Stra­te­gien be­herrscht, aber um das zu ler­nen, muss man ver­an­lagt sein.

Stan­dard: Gibt es ei­nen Ge­burts­tags­wunsch?

Czech: Kei­ne Bü­cher!

Stan­dard: Weil?

Czech: Das hat mir der Sta­ti­ker ver­bo­ten. Ich ha­be schon an die 15.000 Bän­de im Bü­ro. Zwar wur­de das Haus frü­her als Staats­druck­erei ge­nutzt, und die Stahl­trä­ger hal­ten schon was aus, aber ir­gend­wann ist Schluss.

Stan­dard: Was wün­schen Sie sich statt­des­sen?

Czech: Noch ein­mal 80 Jah­re.

Der Standard, Sa., 2016.11.12



verknüpfte Akteure
Czech Hermann

05. November 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Noch ein­mal Blu­men­wie­se

Ge­stern, Frei­tag, wur­de der Ös­ter­rei­chi­sche Bau­her­ren­preis ver­ge­ben. Ei­nes der ins­ge­samt sechs aus­ge­zeich­ne­ten Pro­jek­te ist das Pfle­ge­wohn­heim in Wien. Es be­schert Ma­ria Z., Franz P. und Ro­sa­lia W. ei­nen schö­nen, son­ni­gen Le­bens­herbst.

Ge­stern, Frei­tag, wur­de der Ös­ter­rei­chi­sche Bau­her­ren­preis ver­ge­ben. Ei­nes der ins­ge­samt sechs aus­ge­zeich­ne­ten Pro­jek­te ist das Pfle­ge­wohn­heim in Wien. Es be­schert Ma­ria Z., Franz P. und Ro­sa­lia W. ei­nen schö­nen, son­ni­gen Le­bens­herbst.

Maria Z. ist 93 und schwer pfle­ge­be­dürf­tig. Sie liegt im Bett, starrt die meis­te Zeit an die De­cke, nur ab und zu ent­kommt ihr ein kur­zes, lie­be­vol­les Zwin­kern. In den meis­ten Pfle­ge­hei­men wür­de Ma­ria Z. den Groß­teil des Tags al­lein in ih­rem Zim­mer ver­brin­gen – nicht hier. Ma­ria Z. ist um­ge­ben von Be­su­che­rin­nen und Be­treu­ern, von Kol­le­gen und ge­ra­de sich auf Rei­se be­find­li­chen Spa­zier­gän­ge­rin­nen. Im Hin­ter­grund läuft der Fern­se­her, da­ne­ben ein Ra­dio, ir­gend­wo wird lauts­tark Kar­ten ge­spielt. Je­mand reißt ei­nen Witz, je­mand an­de­rer lacht, ei­ne Schüs­sel mit Kai­ser­schmarrn fliegt zu Bo­den. Krach.
„Es war ei­ne be­wuss­te Ent­schei­dung, die Wohn­grup­pen so zu or­ga­ni­sie­ren, dass sich die 15 Ein­zel­zim­mer je­der Wohn­grup­pe je­weils um ei­nen ge­mein­sa­men Be­reich grup­pie­ren“, sagt Bern­hard Wein­ber­ger, ei­ner der drei Part­ner von wup wim­me­rund­part­ner ar­chi­tek­tur. „Da­durch kön­nen Be­woh­ner den Groß­teil des Ta­ges, wenn sie möch­ten, ge­mein­sam ver­brin­gen.“ Und ja, das tun sie. Und mit ih­nen die Töch­ter, Söh­ne, En­kel, die an die­sem son­ni­gen Nach­mit­tag zu Be­such sind.

Gän­ge sind im Ing­rid-Leo­dol­ter-Haus, wie das Pfle­ge­wohn­heim am Kar­di­nal-Rau­scher-Platz im 15. Wie­ner Ge­mein­de­be­zirk of­fi­ziell heißt, pas­sé. Es herrscht das Prin­zip Markt­platz. Und der Be­griff ist durch­aus wört­lich zu ver­ste­hen. „Wie in ei­nem Dorf ha­ben wir die Pri­vat­zim­mer als Häus­er­zei­le be­trach­tet. Vor je­dem Pri­vat­haus gibt es, wie es sich ge­hört, ei­ne klei­ne ge­schütz­te, halb­öf­fent­li­che Zo­ne, in der man auf ei­nem Bank­erl Platz neh­men und das Ge­sche­hen be­ob­ach­ten kann. Wer will, kann sich auch di­rekt zum Dorf­an­ger be­ge­ben und den Tag am Markt­platz ver­brin­gen“, so Wein­ber­ger.

Für das un­ge­wöhn­li­che Raum­kon­zept, das be­reits Teil der Wett­be­werbs­aus­schrei­bung war, wur­den der ge­mein­nüt­zi­ge Bau­trä­ger Ge­si­ba und der Wie­ner Kran­ken­an­stal­ten­ver­bund (KAV) ge­stern, Frei­tag, mit dem Ös­ter­rei­chi­schen Bau­her­ren­preis aus­ge­zeich­net. Das vor ei­nem Jahr er­öff­ne­te Pfle­ge­wohn­heim (In­ves­ti­ti­ons­vo­lu­men 72 Mio. Eu­ro) ist ei­nes von ins­ge­samt sechs Pro­jek­ten, die von der Zen­tral­ver­ei­ni­gung der Ar­chi­tek­tIn­nen Ös­ter­reichs (ZV) ge­kürt wur­den. Der jähr­lich ver­ge­be­ne Preis ver­steht sich als Wür­di­gung der Auf­trag­ge­be­rin­nen und Auf­trag­ge­ber.

„Das Ni­veau der Ein­rei­chun­gen war sehr hoch“, sagt Ju­ry­mit­glied Mar­tin Kohl­bau­er. „Und das Pfle­ge­wohn­heim in Ru­dolfs­heim-Fünf­haus ist ein be­son­ders be­hut­sam ge­plan­tes Haus. Es ist nicht nur ein mit Ver­ve und En­ga­ge­ment be­auf­trag­tes und be­glei­te­tes Pro­jekt, son­dern auch ein wun­der­ba­res Bei­spiel da­für, wie man al­te, ge­brech­li­che und mit­un­ter an De­menz er­krank­te Men­schen an ei­nem ge­sell­schaft­li­chen Le­ben teil­ha­ben lässt. Mich per­sön­lich hat das Ge­bäu­de sehr be­rührt.“

Franz P. und Ro­sa­lia W. bie­gen um die E­cke. Tür auf, Tür zu, und wei­ter geht’s. Die bei­den ha­ben, wie die meis­ten de­men­ten Men­schen, ei­nen ho­hen Be­we­gungs­drang und ver­brin­gen ih­re Frei­zeit am liebs­ten im Ge­hen. Da­zu ha­ben sie im 328-Bet­ten-Haus schier un­end­lich vie­le Op­tio­nen. „Sämt­li­che Tü­ren ste­hen of­fen“, sagt Pro­jekt­lei­ter Wein­ber­ger. „Durch die vier gro­ßen In­nen­hö­fe, die wir in den gro­ßen Stra­ßen­block ein­ge­schnit­ten ha­ben, hat je­der die Wahl, ob er die ganz gro­ße Run­de dre­hen will oder lie­ber ei­ne et­was kür­ze­re Ach­ter­schlau­fe geht.“

Lang­wei­lig ist die Rei­se für Franz P. und Ro­sa­lia W. kei­nes­wegs. Im­mer wie­der gibt es Bän­ke, im­mer wie­der gibt es Lüm­me­le­cken und Lehn­bo­ards, an de­nen man ei­ne Rast ma­chen und die spie­len­den Kin­der im Kin­der­gar­ten­hof (EGKK Land­schafts­ar­chi­tek­tur) be­ob­ach­ten kann. Kur­ze Pau­se, und wei­ter geht’s. „De­men­te Men­schen nei­gen da­zu, op­ti­sche Brü­che und all­zu ab­rup­te Wech­sel in den Ma­te­ria­li­en als Bar­rie­re zu ver­ste­hen“, er­klärt Ar­chi­tekt Hel­mut Wim­mer. „Dann blei­ben sie ste­hen und ge­hen nicht wei­ter. Und das wä­re doch ewig scha­de, oder?“

Der hier er­ziel­te Kom­pro­miss aus Kal­kül und Krea­ti­vi­tät gip­felt in ei­nem har­mo­nisch zu­sam­men­ge­wür­fel­ten Flie­sen­bo­den in Gelb, Rot, Grün und Blau. Mit dem leicht un­schar­fen Ker­zen­blick, den man im ho­hen Al­ter dank vie­ler Di­op­trien wohl oh­ne­hin ent­wi­ckelt, er­gibt sich in der grob ge­pi­xel­ten Struk­tur ein Bild von fast zau­ber­haf­ten Di­men­sio­nen. „Ein paar Be­woh­ner ha­ben uns schon rück­ge­mel­det, was für ei­ne Freu­de sie mit der bun­ten Blu­men­wie­se ha­ben“, so Wim­mer.

Im Erd­ge­schoß ist ge­ra­de ei­ne Ge­sangs­vor­stel­lung zu En­de. Schon strö­men die er­sten Geh­hil­fen und Rol­la­to­ren aus dem Fest­saal. „Die­ses Haus bie­tet uns al­le Mög­lich­kei­ten, um hier neue Wohn- und Pfle­ge­kon­zep­te um­zu­set­zen“, sagt die lei­ten­de Di­rekt­orin Hil­de­gard Men­ner. „Wir ha­ben viel Platz für Ver­an­stal­tun­gen, vor al­lem aber ha­ben die Be­wohn­er­in­nen und Be­woh­ner bei uns ein brei­tes Spek­trum an Mög­lich­kei­ten, wie sie den Tag ver­brin­gen möch­ten – ob das nun im Zim­mer, am Markt­platz oder drau­ßen auf der Log­gia ist.“

Im­mer öf­ter, er­zählt Men­ner, kom­men Kin­der und Ju­gend­li­che zu Be­such, be­tei­li­gen sich An­rai­ner aus der Um­ge­bung an Ver­an­stal­tun­gen. Vor dem Ca­fé im Erd­ge­schoß sit­zen ge­ra­de Ju­gend­li­che mit Ke­bab in der Hand. Und erst kürz­lich ha­be sich an ei­nem son­ni­gen Herbst­tag ein Nach­bar im Hof breit­ge­macht und sei­nen mit­ge­brach­ten Elek­trog­rill an die Out­door-Steck­do­se an­ge­schlos­sen. Pri­vat­ham­mel gab’s dann doch kei­nen. So weit ist es nicht ge­kom­men.

„Wir re­den da­von, dass die Ge­sell­schaft im­mer äl­ter wird“, sagt Ar­chi­tekt Hel­mut Wim­mer. „Ja dann ma­chen wir doch bit­te end­lich was aus die­ser Tu­gend! Zum Bei­spiel, in­dem wir den al­ten und pfle­ge­be­dürf­ti­gen Men­schen Räu­me ge­ben, in de­nen wir uns selbst ei­nes Ta­ges wohl­füh­len wer­den. Das ist un­se­re so­zia­le Ver­ant­wor­tung. Das ist un­ser Ho­ri­zont.“

Der Standard, Sa., 2016.11.05



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2016

05. November 2016Wojciech Czaja
db

Zum goldenen Würstel

Einen banalen Würstchenstand in ein von alteingesessenen Geschäften geprägtes Umfeld einzufügen, ist keine leichte Aufgabe. Mit viel Verständnis für die Bauaufgabe und einem Händchen für die Materialauswahl geriet die Würstelbude zum Schmuckstück – ein überaus appetitlicher Beitrag zu dieser sonst wenig beachteten, in ­ihrer Komplexität oft unterschätzten Sparte des Bauens.

Einen banalen Würstchenstand in ein von alteingesessenen Geschäften geprägtes Umfeld einzufügen, ist keine leichte Aufgabe. Mit viel Verständnis für die Bauaufgabe und einem Händchen für die Materialauswahl geriet die Würstelbude zum Schmuckstück – ein überaus appetitlicher Beitrag zu dieser sonst wenig beachteten, in ­ihrer Komplexität oft unterschätzten Sparte des Bauens.

»Einen Kasäkrainer bitte, mit a bissl an Schoafn«, sagt die Dame in Abend­garderobe. Ob sie wohl von einer Vernissage kommt – oder vielleicht nach dem ersten Akt aus der Staatsoper geflüchtet ist? »Und a Gurkerl noch dazu.« Man kann die Kundin gut verstehen, nicht nur, dass dieser Imbiss zu den besten der Innenstadt gehören soll, auch die auf dem Grill präsentierte Ware sieht mehr als appetitlich aus. Vorausgesetzt natürlich, man hat etwas übrig für die Jahrhunderte alte, in dieser Stadt von jeher besonders ausschlachtend zelebrierte Verwurstungskultur. Die Wiener und ihre Würstel. Ein Kapitel für sich.
»Ich kann echt keine Würstel mehr sehen«, sagt indes die Architektin Johanna Schuberth. »So ein kleines Projekt ist extrem komplex, bedarf vieler Bauherrenbesprechungen und v. a. unzähliger Abstimmungen mit den städtischen Magistratsabteilungen, und bei jedem einzelnen Termin wurden uns fürwahr wunderbare Würstel kredenzt. Aber jetzt reicht’s.«

Das Wurstveto ist freilich mit Vorsicht zu genießen.

Zum Portfolio des Büros, das die Architektin gemeinsam mit ihrem Bruder Gregor betreibt, zählen nicht nur geförderte Wohnungsbauten, sondern auch Einfamilienhäuser, Objektsanierungen, Gastronomiebetriebe – und eben Imbissstände. Der kleine Wurstpalast am Graben ist das mittlerweile vierte realisierte Projekt dieser Art. Weitere Anfragen sind bereits in Bearbeitung.

»Ich liebe es, mit solchen Bauaufgaben umzugehen«, sagt Schuberth. »So ein Würstelstand ist ein Bauwerk mit unendlich vielen Zwängen und de facto sehr geringen Gestaltungsmöglichkeiten. In diesem formalen, technischen, logistischen und letztlich auch gesetzlichen Korsett« – in Wien gilt ein Imbissstand als ein auf Pachtgrund errichtetes und bis auf Widerruf genehmigtes, temporäres Bauwerk – »gedeihen oft die besten, spannendsten Ideen.« Das tun sie.

Durchgeplant

Mit seiner strukturellen und materiellen Selbstverständlichkeit passt sich das nur 12 m² große und 2,80 m hohe Häuschen der historischen Umgebung an. Die Geometrie der Außenhülle scheint mit der historischen Curtain-Wall-Fassade des benachbarten Geschäfts förmlich zusammenzufließen. Und die Details und Oberflächen wirken, als seien sie der denkmalgeschützten Traditionsboutique Braun & Co. gleich nebenan entlehnt. Durch das Glasdach, das täglich gereinigt wird, blickt man hoch in die Geschichte der Wiener Baukunst.

»Die Magistratsabteilung für Stadtgestaltung (MA 19) hat gefordert, dass wir uns der Umgebung unterordnen«, erzählt Johanna Schuberth. »Über fehlende Inspirationsquellen können wir uns in dieser hochsensiblen Innenstadtlage wirklich nicht beklagen.« Fast wie eine elegante, formal neu interpretierte Dependance von Braun & Co. steht der kleine Gastronomiepavillon am Rande der Fußgängerzone. Das grünlich hinterleuchtete, massiv geschichtete Glas, das als Lockmittel aus der Spiegelgasse hinausleuchtet, verleiht ihm einen Hauch von kupfernem Glanz.

Mit geschickter Hand und dem Materialpotpourri aus Stahl, hochglänzendem Edelstahlblech, Glas, künstlichem Marmor – echter Stein hätte der aggressiven Kombination aus Hitze und Fett farblich nicht standgehalten – und bronzefarben lackiertem, ein wenig an Hammerschlag erinnernden Reliefblech ist es gelungen, eine Mischung aus Jugendstil und Eklektizismus zu erschaffen. Hie und da scheint sogar Adolf Loos aus dem Innern hervorzuwinken.

»Wir haben die Funktionen wie bei Loos’ Raumplan in der Tat dreidimen­sional geordnet – solange, bis sich alles perfekt ausgegangen ist.« Die Schwierigkeit des richtigen Arrangements liege nicht nur in der Beachtung des Lieferverkehrs und der Feuerwehrzufahrten sowie den ­damit verbundenen Breiten und maximal erlaubten Dachüberständen, sondern v. a. auch in der Komposition des Innenlebens. Dieses, meint Gül Fethi, sei gelungen. »Ich habe schon in vielen Imbissbuden gearbeitet«, sagt der Mitarbeiter, »aber diesen Würstelstand mag ich wirklich sehr. Die Arbeitsabläufe sind perfekt geplant. Und ­obwohl ich die ganze Schicht hindurch stehe, er­müde ich weniger als in anderen Buden.«

Grillplatte, Kocher und allerlei heiße Geräte stehen auf engstem Raum neben Kühlschränken, -laden und -vitrinen. Zwar handelt es sich dabei um Standardware der Großkücheneinrichter. »Aber in dieser Platzknappheit«, so Schuberth, die das gesamte Projekt in 3D abgewickelt hat, »muss man dann doch Wärmedämmelemente vorsehen und etliche Anschlüsse im Millimeterbereich umplanen.« Bei manchen Details habe man um jeden einzelnen ­Kabelquerschnitt kämpfen und dafür Platz finden müssen.

Zu sehen ist von diesem Kampf nicht das Geringste. Ganz im Gegenteil: Der Betrieb »Zum Goldenen Würstel« kommt überaus komfor­tabel und wandelbar daher. Während die Stehpulte im Winter ­beheizbar sind, lässt sich für die heißen Sommer über den Köpfen der Gäste eine Sprühnebelanlage installieren. Auf der Längsseite, auf der sich auch die beiden Verkaufs- und Übergabefenster befinden, lässt sich bei Sonne und Regen eine farbig angepasste Mar­kise ausfahren. Die oben angebrachten Feuchtraumsteckdosen sind eine vorausschauende Maßnahme für Weihnachts­beleuchtung und diverse andere temporäre Lichtinstallationen. Und die gesamte Fassade ist so konzipiert, dass sich Verteilerkasten, Wasseranschluss und Küchengeräte von mal innen, mal außen durch leicht zugängliche Revi­sionsöffnungen warten lassen.

»Die Arbeit nimmt bei so einem Projekt kein Ende«, blickt Johanna Schuberth­ auf die Planungs- und Bauphase zurück. Mehr als 1 200 Arbeitsstunden flossen in den rund 300 000 Euro teuren Imbissstand. Allein die Küchentechnik schlug mit 70 000 Euro zu Buche. »Kaum hat man die wichtigsten konstruktiven Details fertig gezeichnet, findet man sich beim Abmessen von Getränkeflaschen und Hot-Dog-Brötchen wieder und beim Entwerfen einer Display-Choreografie für die in den Vitrinen präsentierten Lebensmittel.« Dazu gehört auch die richtige Lichtplanung. Wie bei Fleischtheken im Supermarkt kommt im Wurstbereich warmes, rötliches LED-Licht zum Einsatz. Das rückt die hier brutzelnden Fettspeisen ins richtige Licht. Oberste Prämisse in der Würstelstand-Architektur: »Keine Fotos von Speisen. Das macht die beste Lichtplanung kaputt.«

Konstruktiv, lernt man am Ende der Lektion bei Bratwurst und Senf: Bei ­einem Würstelstand handelt es sich um einen reinen Stahlbau, der im Werk bis zur letzten Schraube vorgefertigt wird. Der Grund dafür, meint die Architektin, liege nicht so sehr in der Mobilität, die sich bei den heiß gehandelten Pachtgrundstücken mit gewerblicher Konzession sowieso in Grenzen hält, sondern vielmehr in den strengen Bau- und Montagevorschriften in der Wiener Innenstadt. »Das gesamte Ding wurde in einer Nacht mit ­einem Sondertransport an Ort und Stelle gebracht. Und schon in den frühen Morgenstunden war der Würstelstand angeschlossen und einsatzbereit.« Einzig für die wenigen Minuten, die das Goldene Würstel an einem Haken vom Autokran baumelte, musste der Stahlbau nicht nur auf Druck, sondern auch auf Zug berechnet und ausgeführt werden. Das machte das konstruktive Tragwerk mit seinen stützenlosen Ecken und seinem tonnenschweren Innenleben entsprechend aufwendig und teurer. »An so etwas denkt man natürlich nicht, wenn man in seinen Käsekrainer beißt«, scherzt die Architektin.

Es ist spät geworden. Der letzte Kunde ist verschwunden. Kurz vor Sperrstunde wird der 50-KW-Betrieb nach und nach heruntergefahren, mit Fettlösern gereinigt, so für den nächsten Tag vorbereitet und verschlossen. »Jetzt verrate ich ­Ihnen noch ein Geheimnis«, sagt Johanna Schuberth: »Eigentlich wollten wir den Schriftzug oben auf dem Dach aus Messingblech herstellen lassen. Aber das wäre technisch sehr schwierig gewesen. Letztlich haben wir die ­extrudierten Blechbuchstaben blattvergolden lassen. Ist das nicht großartig?« Das Projekt »Zum Goldenen Würstel« wurde in aller Konsequenz zu Ende gedacht.

db, Sa., 2016.11.05



verknüpfte Zeitschriften
db 2016|11 Kleine Bauten

22. Oktober 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Die gro­ße Chan­ce?

Bau­en für Flücht­lin­ge ist das hei­ße The­ma der letz­ten Mo­na­te. So viel­fäl­tig die po­li­ti­schen und kul­tu­rel­len Aus­rich­tun­gen der Län­der, Bau­trä­ger und In­sti­tu­tio­nen, so un­ter­schied­lich fal­len auch die ge­plan­ten und ge­bau­ten Re­sul­ta­te aus. Ei­ne Rei­se durch mehr oder we­ni­ger Will­kom­men-Ös­ter­reich.

Bau­en für Flücht­lin­ge ist das hei­ße The­ma der letz­ten Mo­na­te. So viel­fäl­tig die po­li­ti­schen und kul­tu­rel­len Aus­rich­tun­gen der Län­der, Bau­trä­ger und In­sti­tu­tio­nen, so un­ter­schied­lich fal­len auch die ge­plan­ten und ge­bau­ten Re­sul­ta­te aus. Ei­ne Rei­se durch mehr oder we­ni­ger Will­kom­men-Ös­ter­reich.

Die Ge­schich­te ist wahr­lich kei­ne schö­ne. Wie auch an­de­re Bun­des­län­der zer­brach sich Nie­de­rös­ter­reich in den letz­ten zwölf Mo­na­ten den Kopf da­rü­ber, wie man die in Ös­ter­reich auf­ge­nom­me­nen Flücht­lin­ge un­ter­brin­gen konn­te. Ein cle­ve­res, kos­ten­güns­ti­ges und rasch zu er­rich­ten­des Sys­tem muss­te her. Doch als der ehe­ma­li­ge nie­de­rös­ter­rei­chi­sche Wohn­bau­lan­des­rat Wolf­gang So­bot­ka (VP) An­fang des Jah­res sei­ne Plä­ne für ei­ne Wohn­bau-Spar­schie­ne prä­sen­tier­te, ging ein Rau­nen durch die Ar­chi­tek­ten­schaft.

Der er­son­ne­ne Mo­dul­bau in Holz­rie­gel­bau­wei­se mit je­weils acht Klein­woh­nun­gen soll­te in hun­dert­fa­cher Aus­fer­ti­gung über ganz Nie­de­rös­ter­reich ver­streut wer­den. Das An­ge­bot mit Son­der­för­de­rung und au­ßer Kraft ge­setz­ten För­der­richt­li­ni­en rich­te­te sich an 800 Flücht­lings­fa­mi­li­en und fi­nanz­iell schwa­che Ös­ter­rei­cher. Blöd nur, dass das Pro­jekt an ei­ne pri­mit­ive Kis­te er­in­ner­te. Die au­ßen lie­gen­den Trep­pen vor den oh­ne­hin schon klei­nen Fens­tern ver­sperr­ten die Aus­sicht. Und auch die vor dem Haus si­tui­er­ten Park­plät­ze für ins­ge­samt acht Pkws ver­stärk­ten den Ein­druck, dass man das Pro­jekt in Mo­bi­li­täts- und Wohl­stands­be­lan­gen nicht so ganz er­fasst ha­ben könn­te.

„Die Bau­qua­li­tät in Nie­de­rös­ter­reich ist in den letz­ten 15, 20 Jah­ren be­schei­den ge­wor­den“, meint Christ­oph Mayr­ho­fer, Sekt­ions­vor­sit­zen­der der Ar­chi­tek­ten­kam­mer für Wien, Nie­de­rös­ter­reich und Bur­gen­land, im Ge­spräch mit dem STAN­DARD . „Doch die vor­ge­schlag­ene Bil­lig­schie­ne in Blau-Gelb ist der Hö­he­punkt. Die Häu­ser er­in­nern an Stall- und La­ger­flä­chen und sind in mei­nen Au­gen skan­da­lös. Kos­ten ein­zu­spa­ren, in­dem man die Qua­li­tät auf null re­du­ziert, sind ein ziem­lich ein­deu­ti­ges Sta­te­ment, was man von je­nen Men­schen hält, für die man ei­gent­lich baut.“

Der Tsu­na­mi an Kri­tik führ­te da­zu, dass So­bot­ka und sei­ne Nach­folg­erin Jo­han­na Mikl-Leit­ner das Pro­jekt über­ar­bei­ten lie­ßen. Die bei­den Ar­chi­tek­tur­bü­ros amm und Franz Gschwant­ner ha­ben die Au­ßen­trep­pe ins In­ne­re des qua­dra­ti­schen Hau­ses ver­legt, die Grund­ris­se neu ar­ran­giert und fran­zö­si­sche Fens­ter bis zum Bo­den vor­ge­se­hen. Um sich vom un­glü­ckli­chen Pro­jekt­start zu dis­tan­zie­ren, be­kam die Wohn­bau- Of­fen­si­ve mit Wohn.Chan­ce NÖ ei­nen neu­en Na­men.

Pa­ral­lel zur Über­ar­bei­tung durch amm und Gschwant­ner be­tei­lig­te sich auch die TU Wien an ei­ner Evo­lu­ti­on des Pro­jekts. Ire­ne Ott-Rei­nisch und Paul Ra­ja­ko­vics vom In­sti­tut für Wohn­bau ar­beit­eten mit ih­ren Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten ein Se­mes­ter lang an ei­ner mög­li­chen Neu­aus­rich­tung der Flücht­lings­häu­ser. Das Re­sul­tat, so der De­al, soll­te in die Wohn.Chan­ce NÖ mit­ein­flie­ßen. Doch da­von will man beim Land nun nichts wis­sen.

250 Eu­ro Mie­te. Und sonst?

„Es gibt be­reits an die 70 Ge­mein­den, die ein gro­ßes In­te­res­se be­kun­det ha­ben, an die­sem Pro­gramm teil­zu­neh­men“, sagt Hel­mut Frank, Chef der nie­de­rös­ter­rei­chi­schen Wohn­bau­för­de­rung, auf An­fra­ge des STAN­DARD . „Aber es dau­ert, bis so ei­ne Ma­schi­ne­rie ins Lau­fen kommt. Die Aus­schrei­bungs­pha­se ist ab­ge­schlos­sen. Nun star­ten die Ver­hand­lungs­ge­sprä­che. Ich ge­he da­von aus, dass die er­sten Pro­jek­te in den kom­men­den Wo­chen be­wil­ligt wer­den könn­ten.“ Zu den er­sten Ge­mein­den, in de­nen die Mo­dul­bau­ten rea­li­siert wer­den, zäh­len et­wa Bi­sam­berg, Lang­en­lo­is, Lo­ich, Lan­gau und Un­ter­stin­ken­brunn.

Und ja, meint Frank, die Ent­wür­fe der TU Wien sei­en durch­aus in­spi­rie­rend ge­we­sen, aber auch nicht wirk­lich für den Mas­sen­wohn­bau ge­eig­net. Am Pro­jekt wer­de sich da­her nichts än­dern. Die­ser Zug ist ab­ge­fah­ren. Das Gu­te da­ran: „Durch die nie­dri­gen Bau­kos­ten kön­nen wir die Net­to­mie­te für ei­ne 60 Qua­drat­me­ter gro­ße Woh­nung auf 250 Eu­ro sen­ken. Und der Ei­gen­mit­tel­an­teil, der sonst sehr hoch aus­fal­len kann, ist mit 2000 Eu­ro pro Woh­nung ge­de­ckelt“, so Frank.

Bil­lig geht man auch an­dern­orts an die Sa­che he­ran: Ti­rol will in den kom­men­den drei Jah­ren ei­ni­ge Hun­dert Bil­lig­woh­nun­gen auf den Markt brin­gen. Mög­lich wird dies durch ein Zu­rück­schrau­ben der An­sprü­che bei Aus­stat­tung und Bau­wei­se. Und in Ober­ös­ter­reich wird ak­tu­ell nach dem so­ge­nann­ten „Stan­dard­aus­stat­tungs­ka­ta­log“ ge­baut, der ge­mein­nüt­zi­ge Wohn­bau­trä­ger zum Bil­ligst­bau­en ge­ra­de­zu aus­weg­los zwingt.

Dass es auch an­ders geht, be­weist das Bun­des­land Vor­arl­berg. „Ich hal­te es für ei­nen Feh­ler, an ir­gend­wel­chen Orts­rän­dern ei­ne bil­li­ge Not­fal­lar­chi­tek­tur hin­zu­stel­len“, sagt der Rank­wei­ler Ar­chi­tekt An­dre­as Post­ner. „Die Bil­lig­schie­nen, die der­zeit in Ös­ter­reich in Um­lauf sind, be­wei­sen, dass wir uns in ei­nem ge­sell­schaft­li­chen Back­lash be­fin­den. Mich stimmt das, ehr­lich ge­sagt, trau­rig.“

Sein Vor­schlag: Flücht­lin­ge nicht an den Orts­rand zu drän­gen, denn das schaf­fe nur Ghet­to­bil­dun­gen. Statt­des­sen soll­te man klein­räu­mig den­ken und die Men­schen in ge­misch­ten Struk­tu­ren un­ter­brin­gen. Das sei der Schlüs­sel zur In­teg­ra­ti­on. „Noch bes­ser wä­re es, die Flücht­lin­ge am Haus­bau zu be­tei­li­gen – so wie das auch in je­nen Län­dern Usus ist, aus de­nen vie­le der Men­schen ge­flo­hen sind. Aber das ist im Au­gen­blick noch Uto­pie.“

Ak­tu­ell ar­bei­tet das Te­am Post­ner, Kauf­mann und Du­el­li an vier Wohn­pro­jek­ten in Feld­kirch, Rank­weil, Mei­nin­gen und Göt­zis. „Das Wich­tigs­te ist, dass wir güns­tig, aber hoch­wer­tig bau­en. Es bringt nichts, wenn wir für die Ge­flüch­te­ten die Stand­ort- und Bau­qua­li­tät run­ter­schrau­ben. Was ist das für ein Zei­chen? Und vor al­lem: Wie nach­hal­tig ist das? Un­se­re Häu­ser sind so be­schaf­fen, dass sie fle­xi­bel und in glei­cher Wei­se auch für die ös­ter­rei­chi­sche Be­völ­ke­rung at­trak­tiv sind.“ Die er­sten Woh­nun­gen wer­den im Som­mer 2017 über­ge­ben.

Das Prin­zip Lust und Freu­de

Wie so ei­ne schö­ne, an­spre­chen­de Mensch­lich­keit aus­se­hen kann, zeigt ein ak­tu­el­les Pro­jekt in Wien-Ru­dolfs­heim-Fünf­haus. Für die Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on Ca­ri­tas wan­del­ten die PPAG Ar­chi­tek­ten ei­ne ehe­ma­li­ge Se­nio­ren­pfle­ge­sta­ti­on in ein Flücht­lings­heim für un­be­glei­te­te Kin­der und Ju­gend­li­che um. Vor zehn Ta­gen wur­de die Ca­ri­tas-WG für ins­ge­samt 35 Kin­der in Be­trieb ge­nom­men. Die Um­bau­kos­ten: Be­lie­fen sich auf 300.000 Eu­ro für knapp 1000 Qua­drat­me­ter.

„An der bau­li­chen Sub­stanz muss­ten wir nicht viel än­dern, das meis­te Geld floss in den Mö­bel­bau so­wie in den Aus­bau der Kü­chen- und Sa­ni­tä­rein­rich­tun­gen“, sagt Chris­ti­an We­ge­rer, Pro­jekt­lei­ter bei PPAG. Ge­baut wur­de mit den bil­ligs­ten Bau­stof­fen am Markt – mit MDF, OSB und un­be­han­del­ten Drei­schicht­plat­ten. Der Wie­ner Künst­ler Ste­fan Ness­mann ent­wi­ckel­te Mus­ter für Stof­fe und Vor­hän­ge. Der Rest ist Ikea. „Die­ses Pro­jekt hat Lust und Freu­de ge­macht“, sagt We­ge­rer. „Ich hof­fe, dass zu­min­dest ein Teil da­von auf die hier Woh­nen­den über­sprin­gen wird.“

Die Ein­bet­tung in die ur­ba­ne In­fras­truk­tur sei ein sehr wich­ti­ger Fak­tor, er­klärt Ca­ri­tas-Te­am­lei­te­rin Ta­ma­ra Maj­nek. Auf die­se Wei­se hät­ten die Kin­der und Ju­gend­li­chen Zu­gang zu Ver­ei­nen, Deutsch­kur­sen und be­ruf­li­cher Aus­bil­dung. „Na­tür­lich ha­ben auch Wohn­pro­jek­te auf dem Land ei­ne ge­wis­se Qua­li­tät – al­ler­dings nur, wenn die da­für not­wen­di­gen Rah­men­be­din­gun­gen und die nö­ti­ge Ver­kehrs­in­fras­truk­tur ge­schaf­fen wer­den. Das ist lei­der nicht im­mer der Fall.“

Ar­chi­tek­tur kann nicht hei­len, auch nicht al­ler­be­ste Ar­chi­tek­tur. Aber viel­leicht kann sie ei­nen klit­zek­lei­nen Hauch lin­dern. Die er­sten Kin­der sind be­reits ein­ge­zo­gen. Sie kom­men mit ei­nem Kof­fer – und vie­len Er­leb­nis­sen und Traum­ata im Ge­päck.

Der Standard, Sa., 2016.10.22

22. Oktober 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Ich möch­te das Woh­nen in mei­nen Hän­den spü­ren

Der Gra­zer Ar­chi­tekt Mar­kus Pernt­ha­ler wohnt in ei­nem selbst­ge­plan­ten Wohn- und Bü­ro­haus, das vie­le als smart be­zeich­nen. Doch die wah­re Smart­ness, sagt er, liegt nicht in der Elek­tro­nik, son­dern im täg­li­chen Le­ben.

Der Gra­zer Ar­chi­tekt Mar­kus Pernt­ha­ler wohnt in ei­nem selbst­ge­plan­ten Wohn- und Bü­ro­haus, das vie­le als smart be­zeich­nen. Doch die wah­re Smart­ness, sagt er, liegt nicht in der Elek­tro­nik, son­dern im täg­li­chen Le­ben.

Mar­kus Pernt­ha­ler, ge­bo­ren 1958 in Ju­den­burg, stu­dier­te Ar­chi­tek­tur in Graz und To­kio. Seit 1990 lei­tet er ein Gra­zer Ar­chi­tek­tur­bü­ro. Von 1987 bis 1990 war er Vor­stand des HDA Haus der Ar­chi­tek­tur Graz, von 1996 bis 1999 Prä­si­dent der Zen­tral­ver­ei­ni­gung der Ar­chi­tek­ten Ös­ter­reichs, Lan­des­ver­band Stei­er­mark. Das Wohn- und Bü­ro­haus Ron­do stell­te er 2007 fer­tig. Ak­tu­ell baut er u. a. den Gra­zer Scien­ce-To­wer, der An­fang 2017 fer­tig wird. p www.pernt­ha­ler.at

Ich fin­de den Be­griff Smart Li­ving in­te­res­sant, aber am­bi­va­lent. Es hat für mich da­mit zu tun, wo ich woh­ne, wie die In­fras­truk­tur aus­schaut, wie der öf­fent­li­che Ver­kehr be­schaf­fen ist und wie leicht die Ein­rich­tun­gen des täg­li­chen Be­darfs er­reich­bar sind. Die meis­ten Men­schen – und auch die Me­dien – set­zen Smart Li­ving mit di­gi­ta­len Tech­no­lo­gien und elek­tro­ni­schen Spie­le­rei­en gleich. So ge­se­hen woh­ne ich gar nicht smart, ob­wohl ich per­sön­lich das schon fin­de.

Frü­her ha­be ich mit mei­ner Fa­mi­lie in St. Pe­ter ge­wohnt. Un­se­re Kin­der wa­ren klein, und die Um­ge­bung war grün. Es war die rich­ti­ge Ent­schei­dung. Doch das stän­di­ge Pen­deln ins Ar­chi­tek­tur­bü­ro ist mir zu­neh­mend auf die Ner­ven ge­gan­gen. Al­so ha­be ich nach ei­nem Ort ge­sucht, wo ich zu­gleich woh­nen und ar­bei­ten kann. Am Mühl­gang ha­ben wir das pas­sen­de Grund­stück ge­fun­den.

Mit dem Wohn- und Bü­ro­haus Ron­do, das wir an­stel­le ei­ner al­ten Müh­le er­rich­tet ha­ben, ist ein Pass­iv­haus mit Er­dre­gis­tern zum Hei­zen und Küh­len so­wie ei­ner So­la­ran­la­ge am Dach und an der Fass­ade ent­stan­den. Im Erd­ge­schoß ist mein Bü­ro, im sech­sten Stock be­fin­det sich un­se­re 140 m² gro­ße Woh­nung. Doch das Wich­tigs­te ist: In fuß­läu­fi­ger Um­ge­bung ist al­les, was wir zum täg­li­chen Le­ben be­nö­ti­gen. Das ist für mich smart.

Die ein­zi­ge elek­tro­ni­sche Smart­ness, die wir nut­zen, ist ein BUS-Sys­tem, mit dem man Licht und Ja­lou­sien zen­tral steu­ern kann. Das fin­de ich prak­tisch. Dann muss ich nicht durch je­des Zim­mer ren­nen und je­den Schal­ter ein­zeln be­tä­ti­gen, wenn ich die Woh­nung ver­las­se oder die Son­ne in die Woh­nung knallt. Das war’s dann mit den elek­tro­ni­schen Gim­micks.

Das Haus wur­de 2007 fer­tig­ge­stellt. Es war ein er­ster Ver­such, mit ver­nünf­ti­gen Mit­teln ei­nen gut ak­zep­ta­blen Pass­iv­haus­stan­dard zu er­rei­chen, oh­ne da­bei Kopf­stän­de ma­chen zu müs­sen. Mitt­ler­wei­le ist die Ent­wi­cklung viel wei­ter. Es gibt Leu­te, die ih­ren Kühl­schrank von un­ter­wegs kon­trol­lie­ren, ih­re Wasch­ma­schi­ne übers Han­dy ein­schal­ten und die Espres­so­ma­schi­ne über ei­ne App ak­ti­vie­ren. Das fin­de ich eher ent­behr­lich. Es braucht dann doch den di­rek­ten Kon­takt, das hap­ti­sche Er­leb­nis, das Kli­cken des Schal­ters. Ich muss den Ge­gen­stand an­grei­fen kön­nen. Ich möch­te das Woh­nen in mei­nen Hän­den spü­ren.

Ich den­ke, da­raus er­klärt sich, wie wir woh­nen und ein­ge­rich­tet sind. Die Woh­nung ist schlicht und of­fen. Wir schau­en hin­aus auf den Volks­gar­ten und den Schloss­berg im Hin­ter­grund. An der Ein­rich­tung zeigt sich die Her­kunft mei­ner Frau Su­san­na Ah­vo­nen. Sie stammt aus Finn­land und ist eben­falls Ar­chi­tek­tin. Und so um­ge­ben wir uns na­tür­lich mit Mö­beln von Al­var Aal­to, mit fin­ni­schen Ma­ri­mek­ko-Stof­fen, mit di­ver­sen De­signk­las­si­kern aus der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts.

Und ja, wir ha­ben auch ei­nen Ea­mes-Loun­ge-Chair. Das ge­hört wohl da­zu, wenn man sich ein Le­ben lang mit Ar­chi­tek­tur und De­sign, mit der Ge­schich­te des Mö­bel­baus, mit der Ge­stal­tung von Le­bens­räu­men be­schäf­tigt. Ich fin­de un­se­re Mö­bel schön. Ich fin­de sie prak­tisch. Und ich fin­de sie für uns sehr pas­send. Letz­tend­lich ist ja Ge­schmack nichts an­de­res als das Pro­dukt der ei­ge­nen Ge­schich­te.

Lie­blings­mö­bel ha­be ich nicht. Mein Lie­blings­stück ist im­mer das, was ich mir als Näch­stes vor­stel­le. Es gibt nichts Schö­ne­res als Vor­freu­de. Ak­tu­ell gilt sie ei­nem klei­nen Bild, das ich mit mei­ner Frau in ei­ner Ga­le­rie in Graz ent­deckt ha­be. Wir ge­nie­ßen die Vor­freu­de und wer­den da bald zu­schla­gen.

An­sons­ten ha­be ich kei­ne Wün­sche of­fen. Ich mag Graz, ich mag mein Le­ben, und un­se­re Be­dürf­nis­se sind mit die­ser Woh­nung gut ab­ge­deckt. Ich brau­che kein tol­les Haus am Meer. Schö­ne Si­tua­tio­nen muss man nicht not­wen­di­ger­wei­se be­sit­zen. Man kann sie auch als Gast, als Rei­sen­der ge­nie­ßen. Ich den­ke, das ver­ges­sen wir all­zu oft.

Der Standard, Sa., 2016.10.22



verknüpfte Akteure
Pernthaler Markus

08. Oktober 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Das Ei in den Wol­ken

Vor kur­zem wur­de in Shenz­hen, Chi­na, das Mu­se­um für zeit­ge­nös­si­sche Kunst und Stadt­pla­nung er­öff­net. Coop Him­melb(l)au hat sei­ne Kür er­füllt. Nun man­gelt es an der Pflicht des Hau­ses – den Ex­po­na­ten.

Vor kur­zem wur­de in Shenz­hen, Chi­na, das Mu­se­um für zeit­ge­nös­si­sche Kunst und Stadt­pla­nung er­öff­net. Coop Him­melb(l)au hat sei­ne Kür er­füllt. Nun man­gelt es an der Pflicht des Hau­ses – den Ex­po­na­ten.

Und plötz­lich steht man vor ei­nem rie­sen­gro­ßen Ei. Nein, das ist kein Ei, das ist ein Del­fin­kopf, sa­gen die Chi­ne­sen. Das ist kein Del­fin­kopf, das ist ei­ne zwei­ach­sig ge­krümm­te Skulp­tur, sagt der Pro­jekt­lei­ter. Das ist nicht ein­fach nur ei­ne Skulp­tur, das ist die Wie­der­ge­burt von Cons­tan­tin Brân­cuși, sagt der Ar­chi­tekt. Oder, noch bes­ser, das ar­chi­tek­to­ni­sche Eben­bild des Sa­turn­mon­des Phoe­be, der sei­nen Zen­tral­kör­per ent­ge­gen al­len as­tro­no­mi­schen Be­rech­nun­gen über­ra­schen­der­wei­se ge­gen­läu­fig um­kreist.

„Ich möch­te nie­man­dem vor­schrei­ben, was er in die­sem Ob­jekt zu se­hen hat“, sagt Ar­chi­tekt Wolf Prix vom Wie­ner Bü­ro Coop Him­melb(l)au. „Denn un­se­re Auf­ga­be ist es, die Form neu zu er­fin­den. Un­se­re Auf­ga­be ist es, die Ar­chi­tek­tur bis an ih­re Gren­zen aus­zu­rei­zen und das Un­mög­li­che mög­lich zu ma­chen.“ Der Herr mit der wie im­mer prot­zig in­sze­nier­ten Zi­gar­re in der Brust­ta­sche sei­nes Sak­kos blickt um sich und deu­tet mit dem Fin­ger auf das Ei, das kein Ei ist: „Ich has­se die Schwer­kraft, und ich lie­be die Wol­ken. Und die­ses Haus ist ei­ne be­son­ders freund­li­che Wol­ke.“

Das Mo­ca­pe – die Ab­kür­zung steht für Mu­se­um of Con­tem­po­ra­ry Art and Plan­ning Ex­hi­bi­ti­on – ist nicht nur Coop Him­melb(l)aus jüngs­ter Wurf, son­dern auch ei­nes der größ­ten Kunst­mu­se­en der Welt. Un­über­seh­bar prangt das me­tal­lisch ver­klei­de­te Rie­sen­ding im Stadt­zen­trum von Shenz­hen und bil­det – ge­mein­sam mit dem Ci­vic Cen­ter, der Book Ci­ty, dem Kul­tur­zen­trum und dem Kon­zert­haus des ja­pan­is­chen Ar­chi­tek­ten Ara­ta Iso­za­ki – so et­was wie das kul­tu­rel­le Herz der süd­chi­ne­si­schen Me­ga­me­trop­ole. Vor we­ni­gen Ta­gen wur­de das Haus fei­er­lich er­öff­net.

„Bis in die Acht­zi­ger­jah­re war Shenz­hen ei­ne klei­ne Markt­stadt, die auf Fi­sche­rei und Land­wirt­schaft spe­zi­a­li­siert war“, er­zählt Xu Chong Gu­ang. Der stell­ver­tre­ten­de Ge­ne­ral­se­kre­tär der Stadt­re­gie­rung war ei­ner der Fans und Fä­den­zie­her der al­ler­er­sten Stun­de. Ihm ist zu ver­dan­ken, dass das 2007 aus ei­nem Wett­be­werb re­sul­tie­ren­de Pro­jekt die Fi­nanz­kri­se über­stan­den hat und mit ei­ni­gen Jah­ren Ver­zö­ge­rung doch noch rea­li­siert wer­den konn­te.

„Wis­sen Sie, wir hat­ten da­mals 30.000 Ein­woh­ner“, sagt Gu­ang. „Doch durch die Nä­he zu Hong­kong und die 1979 ein­ge­führ­te Son­der­wirt­schafts­zo­ne ist Shenz­hen in all den Jah­ren auf weit mehr als zehn Mil­lio­nen Men­schen her­an­ge­wach­sen. In so ei­ner gro­ßen Stadt braucht es eben auch Kunst und Kul­tur. Das Mo­ca­pe ist der wun­der­schö­ne Schluss­stein in un­se­rem Kul­tur-Mas­ter­plan für Shenz­hen.“

Ab durch die Schirm­kap­pe

Auf den er­sten Blick wirkt das 160 Me­ter lan­ge und 140 Me­ter brei­te Ge­bäu­de ab­wei­send und her­me­tisch. Erst bei nä­he­rem Hin­se­hen er­kennt man hin­ter dem Ket­ten­hemd aus dreie­ckig ge­form­ten Edel­stahl-Git­ter­kas­set­ten ei­ne gläs­er­ne Haut, die das In­nen­le­ben um­schmiegt und zwi­schen den bei­den Mu­se­ums­hälf­ten für Stadt­pla­nung und zeit­ge­nös­si­sche Kunst so et­was wie ei­nen über­dach­ten Markt­platz de­fi­niert. Mit Ein­bruch der Dun­kel­heit wer­den die Me­tall­kas­set­ten be­leuch­tet, und das Mu­se­um ver­wan­delt sich auf Knopf­druck in ei­nen glit­zern­den Kris­tall von gi­gan­ti­schen Aus­ma­ßen.

So lan­ge will man an die­sem 33 Grad hei­ßen, schwü­len Er­öff­nungs­tag frei­lich nicht war­ten. Um 15 Uhr schon be­stei­gen Hun­der­te von Men­schen die Roll­trep­pen, die un­ter ei­nem ge­schwun­ge­nen, schirm­kap­pe­nar­ti­gen Vor­dach di­rekt ins In­ne­re ge­lei­ten. Kaum hat man das Foy­er be­tre­ten, bäumt sich vor ei­nem schon das rie­sen­gro­ße Ei auf. Nicht von un­ge­fähr er­in­nert das hoch­glanz­po­lier­te Edel­stahl­ob­jekt, das sich über drei Stock­wer­ke bis un­ters Dach er­streckt, an An­ish Ka­poors Cloud Ga­te im Chi­ca­go­er Mil­len­ni­um Park. Und auch die Re­ak­ti­on der Fest­gäs­te ist die glei­che: Wäh­rend im Hin­ter­grund auf ei­ner Knöp­ferl­har­mo­ni­ka Wal­zer und Pol­ka er­klin­gen, wer­den schon eif­rig die er­sten spiegel­glat­ten Selbst­por­träts ge­schos­sen.

„Na­tür­lich ha­ben wir da­mit spe­ku­liert, dass die Men­schen das Ob­jekt als Ein­la­dung und als Fo­to­mo­tiv ver­ste­hen“, er­klärt Mar­kus Pross­nigg, Pro­jekt­lei­ter bei Coop Him­melb(l)au. „In ge­wis­ser Wei­se aber soll die Skulp­tur auch den Geist des Mu­se­ums wi­der­spiegeln. Die Räu­me und Aus­stel­lungs­flä­chen sind so groß und so frei, dass sie Platz für al­les Mög­li­che bie­ten.“ Al­lein die Whi­te Box für zeit­ge­nös­si­sche Kunst ist mehr als 100 Me­ter lang und zwölf Me­ter hoch. Hier – so der Plan – sol­len ei­nes Ta­ges Skulp­tu­ren und aus­la­den­de Raum­in­stal­la­tio­nen aus­ge­stellt wer­den.

Und da­mit ist der mit Ab­stand sen­si­bel­ste Punkt des Mo­ca­pe an­ge­spro­chen. Denn wäh­rend die über­aus be­ein­drucken­de Kür der Ar­chi­tek­tur be­reits ab­ge­schlos­sen ist, man­gelt es aus­ge­rech­net an der Pflicht des Hau­ses – an den Ex­po­na­ten. „Es gibt noch kein Pro­gramm für die Aus­stel­lung“, sagt Xu Chong Gu­ang. „Wir sind ge­ra­de auf der Su­che nach ei­nem Ku­ra­tor und nach ei­ner für uns pas­sen­den Samm­lung. Aber das braucht noch Zeit.“ An­ge­dacht ist ei­ne Mi­schung aus lo­ka­ler, na­tio­na­ler und in­ter­na­tio­na­ler Kunst. An­fang näch­sten Jah­res soll das 1,6 Mil­li­ar­den Yu­an teu­re Mu­se­um (rund 214 Mil­lio­nen Eu­ro) in Be­trieb ge­hen – frü­hes­tens.

Hül­le hui, drin­nen leer

„Pe­king, Schang­hai und Hong­kong sind be­reits mit al­ler­lei kul­tu­rel­ler In­fras­truk­tur aus­ge­stat­tet und ha­ben ei­nen In­vest­ment- Ze­nit er­reicht“, er­klärt Franz Röss­ler. Der ös­ter­rei­chi­sche Wirt­schafts­de­le­gier­te in Hong­kong ist ei­ner der Fest­gäs­te an die­sem Tag. „Nun macht man sich an die gro­ßen Se­kun­därs­täd­te wie et­wa Chong­qing, Cheng­du, Gu­ang­zhou, Xi’an und Shenz­hen he­ran. Es wer­den Kul­tur­bau­ten von gi­gan­ti­schen Aus­ma­ßen ge­baut. Nur lei­der wird oft da­rauf ver­ges­sen, dass sol­che Bau­ten auch ein Pro­gramm und ei­ne ent­spre­chen­de Pfle­ge brau­chen.“

Ein ir­gend­wie chi­ne­si­sches Pro­blem. Wolf Prix sieht die Sa­che ent­spann­ter. „Es gibt ei­ne tol­le Kunst-, Kul­tur- und De­signs­ze­ne in Shenz­hen. Und die wird man sich hier hof­fent­lich zu ei­gen ma­chen. Au­ßer­dem wird in Hong­kong und Shenz­hen die Bi-Ci­ty Bien­na­le of Ur­ba­nism and Ar­chi­tec­tu­re aus­ge­tra­gen. Was die Nut­zung be­trifft, ma­che ich mir al­so kei­ne Sor­gen.“ Bis es so weit ist, so Prix, wer­de sich das Haus eben selbst aus­stel­len. Zu se­hen gibt es wahr­lich ge­nug. Denn das Mo­ca­pe ist nicht nur ein Mu­se­um, son­dern auch so et­was wie der bis­he­ri­ge Hö­he­punkt in der von Coop Him­melb(l)au so ex­zes­siv be­trieb­enen Neu­er­fin­dung der Form.

„Re­li­giö­se Bau­ten und Sig­na­tu­re-Build­ings wird es im­mer ge­ben“, sagt der Mann mit Zi­gar­re. „Denn die Ge­sell­schaft braucht drei­di­men­sio­na­le Sym­bo­le. Das liegt in un­se­rer Na­tur. Wir ha­ben un­se­ren Part er­füllt. Jetzt ist Shenz­hen an der Rei­he.“ An der Zu­kunft des Mo­ca­pe wird sich wei­sen, ob die Stadt­re­gie­rung das Kon­zept Kunst­mu­se­um ver­stan­den hat – oder ob das For­mat bloß den gro­ßen Kul­tur­me­trop­olen ab­ge­kup­fert wur­de.

Die Rei­se er­folg­te auf Ein­la­dung des Stadt­pla­nungs­in­sti­tuts Shenz­hen.

Der Standard, Sa., 2016.10.08

01. Oktober 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Die Ar­chi­va­rin der Räu­me

Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de Marg­her­ita Spi­lut­ti­ni mit dem Ös­ter­rei­chi­schen Staats­preis für künst­le­ri­sche Fo­to­gra­fie aus­ge­zeich­net. Wir ha­ben sie zum In­ter­view ge­trof­fen. Ein Ge­spräch über schwar­ze Tü­cher, dep­per­te Äng­ste und das We­sen gu­ter Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie.

Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de Marg­her­ita Spi­lut­ti­ni mit dem Ös­ter­rei­chi­schen Staats­preis für künst­le­ri­sche Fo­to­gra­fie aus­ge­zeich­net. Wir ha­ben sie zum In­ter­view ge­trof­fen. Ein Ge­spräch über schwar­ze Tü­cher, dep­per­te Äng­ste und das We­sen gu­ter Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie.

Stan­dard: Die meis­ten sa­gen: „Na end­lich!“ Was sa­gen Sie?

Spi­lut­ti­ni: Da­mit hät­te ich nie ge­rech­net. Als ich die Nach­richt be­kom­men ha­be, bin ich fast raus­ge­fal­len aus mei­nem Roll­stuhl.

Stan­dard: Wie ka­men Sie zur Fo­to­gra­fie?

Spi­lut­ti­ni: Ich ha­be frü­her als me­di­zi­nisch-tech­ni­sche As­sis­ten­tin ge­ar­bei­tet. Ich sa­ge im­mer: Mei­ne er­sten Fo­tos wa­ren ra­dio­ak­ti­ve und ra­dio­lo­gi­sche In­nen­raum­fo­to­gra­fien vom Kör­per! Nach der Ge­burt mei­ner Toch­ter 1972 ha­be ich den Job auf­ge­ge­ben. Nach und nach ha­be ich dann auch au­ßer­halb des Kran­ken­hau­ses zu fo­to­gra­fie­ren be­gon­nen. Das wa­ren ganz ei­ge­ne, per­sön­li­che Sa­chen, wo ich mich beim Ko­chen und Auf­räu­men selbst do­ku­men­tiert ha­be. Bei den er­sten Ar­bei­ten han­del­te es sich um Se­rien – um Ver­su­che, die Welt in ge­wis­sen Zeit­ab­stän­den zu be­grei­fen. Nie­mals hat­te ich da­ran ge­dacht, das je­mals pro­fes­sio­nell zu ma­chen.

Stan­dard: Da­mals gab es in Ös­ter­reich ge­ra­de mal Re­por­ta­ge- und Ge­wer­be­fo­to­gra­fie. Wie ha­ben Sie in die­sem Mi­lieu be­stan­den?

Spi­lut­ti­ni: Die Bran­che war tra­di­tio­nell und ver­krus­tet. Fo­to­gra­fie als zeit­ge­nös­si­sche Kunst­form war ein Fremd­wort. Und die Mag­num-Fo­to­gra­fie, die al­le be­wun­dert ha­ben, war mir zu an­ek­do­tisch. Es gab kei­ner­lei Vor­bil­der. Al­les war mög­lich. Doch ge­nau des­halb war das ei­ne span­nen­de Zeit! Wich­tig wa­ren die Fo­to­kur­se, Sym­po­sien und Works­hops der Ca­me­ra Aus­tria im Fo­rum Stadt­park in Graz. Die ha­ben mich sehr ge­prägt. Zu­nächst ha­be ich mich in mei­nen Fo­tos mit der Ge­sell­schaft be­schäf­tigt, mit der Frau­en­be­we­gung, mit der Ver­gäng­lich­keit des Au­gen­blicks. Ich ha­be Men­schen, Mo­men­te und Land­schaf­ten fo­to­gra­fiert.

Stan­dard: Die Land­schafts­fo­tos ha­ben et­was Kal­tes, et­was Her­bes. Wie kam es da­zu?

Spi­lut­ti­ni: Das war bei Gott kei­ne Tou­ris­mus­fo­to­gra­fie! Ich den­ke, das hat nicht nur, aber auch bio­gra­fi­sche An­tei­le. Ich bin im Pon­gau auf­ge­wach­sen, mit­ten in den Al­pen. Mein Va­ter war Baum­eis­ter, und in mei­ner Er­in­ne­rung ist er im­mer wie­der vor Roh­bau­ten, Brü­cken, Tun­neln und tech­ni­schen Bau­ten ge­stan­den und hat sie be­wun­dert. Mei­ne gan­ze Kind­heit war ge­prägt von die­sen be­droh­li­chen Ber­gen und die­sen tech­ni­schen Ein­grif­fen, mit de­nen die Men­schen das Gi­gan­ti­sche und Un­wegs­ame der Al­pen über­win­den wol­len. Das war ei­ne Art Hass­lie­be. Das Dis­tan­zier­te hat sich ge­hal­ten.

Stan­dard: Sind Sie ein­fach her­um­ge­fah­ren und ste­hen­ge­blie­ben, wo es ge­ra­de gut war? Oder wur­den die Fo­tos ge­plant und kon­zi­piert?

Spi­lut­ti­ni: Nein, ge­plant war das nicht. Das meis­te ist im Vor­bei­fah­ren pas­siert. Aber von Schnapp­schüs­sen kann man auch nicht wirk­lich spre­chen. Ich ha­be meist mit ei­ner Plat­ten­ka­me­ra fo­to­gra­fiert. Das ist ein Rie­sen­trumm mit ei­nem schwar­zen Tuch oben­drü­ber, das Bild auf der Matt­schei­be stand auf dem Kopf und war sei­ten­ver­kehrt, ein je­des Fo­to hat in der Ein­stel­lung Ewig­kei­ten ge­dau­ert. Die tech­ni­sche Rou­ti­ne ist erst im Lau­fe der Zeit ent­stan­den.

Stan­dard: Ei­nes Ta­ges kam auch die Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie da­zu.

Spi­lut­ti­ni: Ei­nes Ta­ges wur­de ich ge­be­ten, für die Ös­ter­rei­chi­sche Ge­sell­schaft für Ar­chi­tek­tur (ÖG­FA) Fo­tos für ei­nen Wie­ner Ar­chi­tek­tur­füh­rer zu ma­chen. Spä­ter ha­be ich dann mit Lei­den­schaft Häuslb­au­er-Aus­for­mu­lie­run­gen so­wie Häu­ser mit Eter­nit­schin­deln fo­to­gra­fiert. Das Schö­ne und das Poe­ti­sche, das Häss­li­che und Kit­schi­ge. Al­les war gleich viel wert. Mit der Zeit ent­wi­ckelt sich ein Fai­ble für das De­tail, für das Ge­stal­te­te, für das Kom­po­nier­te und das Zu­fäl­li­ge. Und plötz­lich ist man Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fin.

Stan­dard: Ab den Neun­zi­ger­jah­ren wa­ren Sie Haus-und-Hof-Fo­to­gra­fin für die Schwei­zer Ar­chi­tek­ten Her­zog & de Meu­ron.

Spi­lut­ti­ni: Der reins­te Zu­fall! Ich war mit dem Au­to nach Rom un­ter­wegs, ha­be ei­nen Zwi­schen­stopp in Ba­sel ge­macht, wo Her­zog & de Meu­ron ge­ra­de ei­nen Vor­trag ge­hal­ten ha­ben, und nach dem Vor­trag ha­ben mich die bei­den ge­fragt, ob sie mir nicht schnell die neue Ri­co­la-La­ger­hal­le in Lau­fen zei­gen kön­nen. Ich ha­be ein paar Fo­tos mit der Klein­bild­ka­me­ra ge­macht. Die dürf­ten ih­nen so gut ge­fal­len ha­ben, dass da­raus ei­ne Zu­sam­men­ar­beit über vie­le Jah­re ent­stan­den ist.

Stan­dard: Was macht gu­te Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie aus?

Spi­lut­ti­ni: Das ist ei­ne der Fra­gen, die man nie in ei­nem Satz be­ant­wor­ten kann. Da gibt es vie­le un­ter­schied­li­che Glau­bens­sät­ze. Aber für mich ist Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie nichts an­de­res als ei­ne auf­merk­sa­me Kennt­nis­nah­me der Welt. Ich neh­me Ar­chi­tek­tur so­zio­lo­gisch als Re­prä­sen­ta­ti­on der Mensch­heit wahr. Das kann ei­ne Baum­eis­ter­vil­la im tos­ka­ni­schen Stil sein, ein preis­ge­krön­tes Ein­fa­mi­li­en­haus, ein spek­ta­ku­lä­res Macht­sym­bol ei­nes Ver­si­che­rungs­un­ter­neh­mens. Das zwei­di­men­sio­nal ab­zu­bil­den fin­de ich span­nend.

Stan­dard: Was ist das Span­nen­de da­ran?

Spi­lut­ti­ni: Es fehlt nicht nur die drit­te Di­men­si­on, es feh­len auch al­le an­de­ren Sin­nes­wahr­neh­mun­gen wie Tas­ten, Rie­chen, Schme­cken, Hö­ren. Aber das Schö­ne ist: Weil das al­les fehlt, kann man es nach frei­em Er­mes­sen hin­ei­nin­ter­pre­tie­ren.

Stan­dard: Ab wann kann man bei Fo­to­gra­fie von Kunst spre­chen?

Spi­lut­ti­ni: Ab dann, wenn sie in ei­nem Mu­se­um oder ei­ner Ga­le­rie hängt und man da­für viel Geld ver­lan­gen kann.

Stan­dard: Vor 20 Jah­ren wur­de bei Ih­nen mul­ti­ple Skle­ro­se dia­gno­sti­ziert. Seit 2006 sind Sie auf den Roll­stuhl an­ge­wie­sen. Wie kön­nen wir uns Ih­ren Ar­beits­all­tag vor­stel­len?

Spi­lut­ti­ni: Mei­nen letz­ten Fo­to­auf­trag ha­be ich vor zwei Jah­ren ge­macht. Ich hat­te groß­ar­ti­ge As­sis­ten­tin­nen, und das Fo­to­gra­fie­ren war ei­ne Mi­schung aus Ein­stel­lung wäh­len, An­wei­sun­gen ge­ben, über­prü­fen, wie­der An­wei­sun­gen ge­ben, wie­der über­prü­fen und ab­drü­cken. Wir wa­ren ein ein­ge­spiel­tes Te­am – auch wenn das manch­mal skur­ril aus­ge­se­hen ha­ben muss. Stel­len Sie sich ein­mal ei­ne Fo­to­gra­fin im elek­tri­schen Roll­stuhl mit in­te­grier­ter Steh­funk­ti­on, ei­nem Ka­me­rast­ativ und über al­lem drü­ber ein gro­ßes schwar­zes Tuch vor. Wir ha­ben oft lus­ti­ge Bli­cke ge­ern­tet.

Stan­dard: In­wie­fern hat sich die Fo­to­gra­fie durch die Krank­heit ver­än­dert?

Spi­lut­ti­ni: Mein gan­zes Le­ben hat sich da­durch ver­än­dert. So ei­ne Krank­heit ist ei­ne gro­ße Zä­sur, aber ir­gend­wann ak­zep­tiert man sei­ne ei­ge­ne End­lich­keit, und die­ses Be­wusst­sein bringt auch viel Ru­he. Man übt sich in Ge­las­sen­heit, in ei­nem Neu­sor­tie­ren der ei­ge­nen Wich­tig­kei­ten. Man sieht al­les ru­hi­ger, dis­tan­zier­ter, ana­ly­ti­scher. Ich den­ke, das spiegelt sich auch in den Fo­tos wi­der.

Stan­dard: Wo­ran ar­bei­ten Sie heu­te?

Spi­lut­ti­ni: Fo­to­gra­fie­ren geht gar nicht mehr. Da­zu kann ich die Fin­ger zu we­nig be­we­gen. Aber durch die Krank­heit ha­be ich er­kannt, dass ich mich mit mei­nem Ar­chiv be­schäf­ti­gen muss – in­halt­lich und auch bio­gra­fisch. Das ist ei­ne Er­kennt­nis, die mir als ge­sun­der Mensch wohl vor­ent­hal­ten ge­blie­ben wä­re. Es hat al­so auch was Gu­tes.

Stan­dard: Wie schaut die­se bio­gra­fi­sche Be­schäf­ti­gung aus?

Spi­lut­ti­ni: Ich schaue mir die al­ten Fo­tos an und wun­de­re mich aus der his­to­ri­schen Dis­tanz her­aus da­rü­ber, wie dep­pert ich da­mals war. Ich kann mich an vie­le Äng­ste er­in­nern. Und ich se­he, wie sich mei­ne Fo­to­gra­fie im Lau­fe der vie­len Jah­re ver­än­dert hat. Tat­säch­lich aber ar­bei­te ich das Ar­chiv durch und er­gän­ze es durch das Er­ken­nen von neu­en in­halt­li­chen Zu­sam­men­hän­gen und um feh­len­de Da­ten und Fak­ten.

Stan­dard: Wie groß ist Ihr Ar­chiv?

Spi­lut­ti­ni: Cir­ca 120.000 Dia­po­si­ti­ve und Ne­ga­ti­ve. Mitt­ler­wei­le ha­ben wir das meis­te auch schon di­gi­ta­li­siert. Ich bin sehr froh da­rü­ber, dass das Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien mei­nen Vor­lass über­nom­men hat. Das ist ei­ne gro­ße Er­leich­te­rung.

Stan­dard: Der Staats­preis ist mit 22.000 Eu­ro do­tiert. Gibt es schon Plä­ne, was da­mit pas­sie­ren soll?

Spi­lut­ti­ni: Pelz­män­tel kau­fen! Ach was. Ich ha­be mir aus­ge­rech­net, dass das Geld in et­wa aus­reicht, um mit al­lem Drum und Dran ein Jahr lang über die Run­den zu kom­men. Der Staats­preis schenkt mir ein Jahr schö­ne Le­bens­zeit.

Marg­her­ita Spi­lut­ti­ni , ge­bo­ren 1947 in Schwarz­ach im Pon­gau, mach­te ei­ne Aus­bil­dung als me­di­zi­nisch-tech­ni­sche und ra­dio­lo­gi­sche As­sis­ten­tin und ar­beit­ete zu­nächst im Wie­ner AKH. Da­nach mach­te sie sich als Fo­to­gra­fin selbst­stän­dig. Sie un­ter­rich­te­te an der Kunst­uni­ver­si­tät Linz und an der Uni­ver­si­tät für an­ge­wand­te Kunst in Wien und war bis 2011 Vor­stands­mit­glied in der Wie­ner Se­ces­si­on. 2015 hat sie ihr Ar­chiv dem AzW ver­macht. Zu­letzt er­schien ihr Buch „Marg­her­ita Spi­lut­ti­ni: Ar­chiv der Räu­me“ (Fo­to­hof Edi­ti­on).

Der Standard, Sa., 2016.10.01



verknüpfte Akteure
Spiluttini Margherita

24. September 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Wie viel Watt kos­tet die Stadt?

Ge­ra­de fand in Linz das Ar­chi­tek­tur­sym­po­si­um „Woh­nen im Herbst“ statt. Ei­ner der Vor­tra­gen­den war der Ber­li­ner Ar­chi­tek­tur­den­ker Mat­thi­as Bött­ger. Ein Ge­spräch über Ki­wis, Flug­zeu­ge und Ein­fa­mi­li­en­häu­ser.

Ge­ra­de fand in Linz das Ar­chi­tek­tur­sym­po­si­um „Woh­nen im Herbst“ statt. Ei­ner der Vor­tra­gen­den war der Ber­li­ner Ar­chi­tek­tur­den­ker Mat­thi­as Bött­ger. Ein Ge­spräch über Ki­wis, Flug­zeu­ge und Ein­fa­mi­li­en­häu­ser.

Stan­dard: Wie viel Watt hat Sie der Flug von Ber­lin nach Linz ge­kos­tet?

Bött­ger: Das weiß ich lei­der nicht ge­nau. Aber er war wohl ziem­lich teu­er. Im Ver­gleich zu an­de­ren Leu­ten ha­be ich ein sehr stra­pa­zier­tes Watt­kon­to.

Stan­dard: In Ih­rem kürz­lich er­schie­ne­nen Buch „Spe­ku­la­tio­nen Trans­for­ma­tio­nen“ skiz­zie­ren Sie ei­ne al­ter­na­ti­ve Zu­kunft für die Stadt, in der man nicht mehr mit Eu­ro, son­dern mit Watt be­zahlt. Kann man sich als Nor­mal­ster­bli­cher Mo­bi­li­tät über­haupt noch leis­ten?

Bött­ger: Das Buch ist Re­sul­tat ei­ner For­schungs­ar­beit, die wir im Auf­trag des deut­schen Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Bau­en ge­macht ha­ben. Das Watt­land, das wir da­rin als ei­nes von drei mög­li­chen Zu­kunftss­ze­na­ri­os ent­wi­ckelt ha­ben, ist kei­ne Prog­no­se, son­dern ein Ge­dan­ken­ex­pe­ri­ment. Hoch­ge­schwin­dig­keits­mo­bi­li­tät wird in die­sem Sze­na­rio je­den­falls zu ei­nem Pri­vi­leg der wat­trei­chen Ge­sell­schaft. Das Flie­gen wird ge­ne­rell neu ge­dacht wer­den müs­sen – nicht nur, was die Häu­fig­keit der kon­su­mier­ten Flü­ge be­trifft, son­dern auch in Hin­blick auf die Dich­te der Flug­ha­fen­ver­tei­lung. Da ha­ben wir in Eu­ro­pa be­reits den Ze­nit er­reicht.

Stan­dard: Wo­rauf müss­te Ot­to Nor­mal­ver­brau­cher im Watt­land ver­zich­ten?

Bött­ger: Je frü­her wir un­se­ren Le­bens­stil kor­ri­gie­ren und je mehr wir uns heu­te schon in Vor­aus­sicht üben, de­sto we­ni­ger ein­ge­schränkt wird die Zu­kunft sein. Ich per­sön­lich schre­cke vor ei­ner Zu­kunft, in der wir mit Watt be­zah­len, zu­rück. Doch mitt­ler­wei­le ist die Be­völ­ke­rung so gut sen­si­bi­li­siert, dass En­er­gie ein gu­tes, pro­ba­tes Mit­tel ist, um die Fast-Aus­weg­lo­sig­keit, in der wir uns be­fin­den, zu ver­an­schau­li­chen.

Stan­dard: Ma­chen Sie es bit­te an­schau­lich!

Bött­ger: Es könn­te die­je­ni­gen ge­ben, sie sehr wat­treich sind. Die­se wer­den wahr­schein­lich ir­gend­wo im Grü­nen le­ben, di­gi­tal ver­netzt sein, ih­ren ei­ge­nen Strom pro­du­zie­ren und es sich leis­ten kön­nen, Ki­wis und Ba­na­nen zu es­sen und das ei­ge­ne Haus im Win­ter zu be­hei­zen und im Som­mer zu küh­len. Und dann wird es die­je­ni­gen ge­ben, die – um ihr Watt­kon­to in Ba­lan­ce zu hal­ten – auf ur­ba­nes Le­ben, lo­ka­le Pro­duk­te, lo­ka­le Nah­rungs­mit­tel, un­mit­tel­ba­re so­zia­le Kon­tak­te und kur­ze, fuß­läu­fi­ge We­ge an­ge­wie­sen sein wer­den. Wer nicht ge­nug Watt hat, der wird sich in ho­her Dich­te in der Stadt, in Clus­tern, in Mi­kro­öko­no­mien or­ga­ni­sie­ren müs­sen.

Stan­dard: Zu­rück zum Ur­sprung?

Bött­ger: Fakt ist: Der heu­ti­ge Le­bens­stil, den wir in stark ent­wi­ckel­ten Län­dern pfle­gen, ist ei­gent­lich ein Lu­xus­gut. Wir le­ben über un­se­re Ver­hält­nis­se. Und wir le­ben auf Kos­ten an­de­rer.

Stan­dard: Der durch­schnitt­li­che Ös­ter­rei­cher, Deut­sche und Schwei­zer ver­braucht in sei­nem Wohn- und Le­bens­all­tag rund 6500 Watt. Das ist das Drei­fa­che des­sen, was uns res­sour­cen­tech­nisch zu­ste­hen wür­de.

Bött­ger: Das hat vie­le Fa­cet­ten. Das be­trifft die Mo­bi­li­tät, den Kon­sum, vor al­lem aber auch den Flä­chen­be­darf und den da­mit ver­bun­de­nen En­er­gie­ver­brauch in der Er­rich­tung und im Be­trieb. In den deutsch­spra­chi­gen Län­dern le­ben wir mit 40 bis 45 Qua­drat­me­tern pro Kopf auf be­son­ders gro­ßem Fuß. Das ist an sich nicht schlecht. Wer will schon auf ge­rin­ger Flä­che le­ben, wenn er auch mehr ha­ben kann? Die Fra­ge ist nur: Muss ich wirk­lich das ge­sam­te Haus be­hei­zen? Kann ich Tei­le der pri­va­ten Wohn­räu­me viel­leicht mit an­de­ren tei­len? Kann ich mir nicht über­haupt ein al­ter­na­ti­ves Wohn­mo­dell über­le­gen? Da­mit lie­ße sich viel En­er­gie spa­ren.

Stan­dard: In Ös­ter­reich wer­den je­des Jahr zwi­schen 14.000 und 18.000 Ein­fa­mi­li­en­häu­ser ge­baut. Und sie wer­den im­mer grö­ßer und grö­ßer.

Bött­ger: Ja, und ei­nes Ta­ges zie­hen die Kin­der aus, der Ehe­part­ner stirbt, und dann sitzt man al­lein da auf 200 Qua­drat­me­tern. Das ist auch nicht schön.

Stan­dard: Die Schweiz hat sich zum Ziel ge­nom­men, bis zum Jahr 2050 ei­ne 2000-Watt-Ge­sell­schaft zu wer­den. Das wur­de 2008 in ei­ner Volks­ab­stim­mung be­schlos­sen. Ist das ein gang­ba­rer Weg?

Bött­ger: Ich fin­de den Schwei­zer Weg sehr am­bi­tio­niert. Und die Schwei­zer mei­nen es auch wirk­lich ernst! Es gibt vie­le in­no­va­ti­ve, ja fast schon ra­di­ka­le Wohn­mo­del­le und sehr pro­gres­si­ve Wohn­bau­ge­nos­sen­schaf­ten, die dem Be­woh­ner nicht nur ei­ne Woh­nung an­bie­ten, son­dern ei­gent­lich ein Ge­samt­le­bens­mo­dell, das Woh­nen, Mo­bi­li­tät und In­fras­truk­tur gleich­er­ma­ßen be­rück­sich­tigt.

Stan­dard: In Linz ha­ben Sie vor­ge­stern ei­nen Vor­trag un­ter dem Ti­tel „We­ge aus der Wohn­kri­se. Neue Stan­dards“ ge­hal­ten. Was kön­nen die­se Stan­dards zu ei­ner bes­se­ren Wohn­zu­kunft bei­tra­gen?

Bött­ger: Bau­vor­schrif­ten, Richt­li­ni­en und Nor­men sind Re­gel­wer­ke, mit de­nen sich je­der Ar­chi­tekt her­um­plagt, weil sie ei­nem auf tau­sen­den Sei­ten die ei­er­le­gen­de Woll­milch­sau ab­ver­lan­gen. Das ist müh­sam. Es ist qua­si un­mög­lich. Wir woll­ten das The­ma an­ders den­ken und ha­ben zehn Ar­chi­tek­tur­bü­ros ge­be­ten, je­weils ei­nen Stan­dard zu ver­fas­sen, der in Zu­kunft be­ach­tet wer­den soll­te. Al­ler­dings han­delt es sich da­bei nicht um quan­ti­ta­ti­ve Nor­men wie bis­her – son­dern um qua­li­ta­ti­ve. Das Er­geb­nis er­scheint im Ok­to­ber als Aus­stel­lung.

Stan­dard: Wie kann man sich ei­ne sol­che Norm vor­stel­len?

Bött­ger: Die Ber­li­ner Ar­chi­tek­ten Prae­ger Rich­ter bei­spiels­wei­se ha­ben vor­ge­schla­gen, Woh­nun­gen nicht mehr im kom­plett aus­ge­stat­te­ten End­aus­bau zu ver­mie­ten oder zu ver­kau­fen, son­dern im Roh­bau. Die Wohn­kos­ten wä­ren da­durch bil­li­ger, und die Be­woh­ner könn­ten für sich selbst ent­schei­den, wann und wie sie die Woh­nung selbst aus­bau­en. Da­mit wä­ren sie fi­nanz­iell fle­xi­bler. Das ist ein span­nen­des Mo­dell.

Stan­dard: Ein wei­te­res Bei­spiel?

Bött­ger: Die Wie­ner Ar­chi­tek­tin Sa­bi­ne Pol­lak sagt: „Den­ke nicht in Kor­ri­do­ren!“ Sie for­dert ei­nen of­fen­eren Um­gang mit Gang­flä­chen in Wohn­bau­ten und regt an, die­se auch als kol­lek­ti­ve Wohn­zim­mer zu nut­zen. Da­mit könn­ten Le­bens­qua­li­tät und Nach­bar­schaft stei­gen. Und ge­ne­rell ist bei den meis­ten Ar­chi­tek­ten, die wir be­fragt ha­ben, zu er­ken­nen, dass wir im Sin­ne ei­ner le­bens­wer­ten, durch­misch­ten Stadt mehr Cha­os und mehr Ne­ben­ein­an­der un­ter­schied­li­cher Men­schen, Le­bens­sti­le und Wert­evor­stel­lun­gen brau­chen. Das ist si­cher ei­ne der größ­ten und auch schöns­ten Her­aus­for­de­run­gen für die Zu­kunft.

Stan­dard: Ste­fan Berg­heim, Di­rek­tor des Frank­fur­ter Zen­trums für ge­sell­schaft­li­chen Fort­schritt, hat ein­mal ge­sagt: „Die gro­ße Fra­ge für die Bau­kul­tur ist, ob sich die ge­sell­schaft­li­che Er­zäh­lung wan­deln wird – ent­we­der durch ei­nen brei­ten Dis­kurs oder erst nach ei­ner noch tief­eren wirt­schaft­li­chen Kri­se in Eu­ro­pa.“

Bött­ger: Als Op­ti­mist hof­fe ich na­tür­lich, dass wir al­le die Dis­kurs­va­ri­an­te ein­schla­gen. Man kann nicht ge­nug über die Zu­kunft von Ar­chi­tek­tur, Bau­kul­tur und Le­bens­vor­stel­lun­gen dis­ku­tie­ren. Doch gleich­zei­tig er­ken­ne ich, dass wir längst schon von Kri­sen um­ge­ben sind. Die größ­te Her­aus­for­de­rung die­ser Kri­sen ist, dass die sehr kurz­fri­sti­gen Pro­ble­me und Pro­blem­lö­sun­gen meist die lang­fri­sti­gen Zie­le über­la­gern. Hier durch­zu­ma­növ­rie­ren ist nicht ein­fach – auch nicht für die Po­li­tik.

Stan­dard: Al­so?

Bött­ger: Wir dür­fen nicht nur die Bäu­me se­hen. Wir müs­sen im­mer auch den Wald im Blick­feld be­hal­ten. Sonst stimmt die Ba­lan­ce nicht. An­sons­ten fürch­te ich, dass uns die ganz tie­fe Kri­se nicht er­spart bleibt.

Mat­thi­as Bött­ger (42) stu­dier­te Ar­chi­tek­tur und Städ­te­bau in Karls­ru­he und Lon­don. Mit sei­nem Ber­li­ner Bü­ro Raum­tak­tik forscht er zu den The­men Stadt, Mig­ra­ti­on und öf­fent­li­cher Raum. Er lei­tet das Deut­sche Ar­chi­tek­tur Zen­trum (DAZ) in Ber­lin und ist Pro­fes­sor an der Kunst­uni­ver­si­tät Linz. Sein Buch „Spe­ku­la­tio­nen Trans­for­ma­tio­nen“ ist bei Lars Mül­ler Pu­blis­hers er­schie­nen. Am 27. Ok­to­ber wird im DAZ „Neue Stan­dards. 10 The­sen zum Woh­nen“ er­öff­net. Zur Aus­stel­lung er­scheint ein Ka­ta­log (Jo­vis-Ver­lag).

Der Standard, Sa., 2016.09.24



verknüpfte Akteure
Böttger Matthias

23. September 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Kon­flikt um Bau ne­ben Karl­skir­che

Das Zu­rich-Bü­ro­haus zwi­schen Karl­skir­che und Wien-Mu­se­um soll sa­niert und auf­ge­stockt wer­den. Da­ge­gen pro­tes­tie­ren Bürg­er­ini­tia­ti­ven, An­rai­ner und die FPÖ. In der Fach­welt sieht man das Pro­jekt po­si­tiv. Ei­ne grü­ne „Nach­denk­pau­se“ ist nicht ge­plant.

Das Zu­rich-Bü­ro­haus zwi­schen Karl­skir­che und Wien-Mu­se­um soll sa­niert und auf­ge­stockt wer­den. Da­ge­gen pro­tes­tie­ren Bürg­er­ini­tia­ti­ven, An­rai­ner und die FPÖ. In der Fach­welt sieht man das Pro­jekt po­si­tiv. Ei­ne grü­ne „Nach­denk­pau­se“ ist nicht ge­plant.

Wien – Nach der Auf­re­gung um die ge­plan­te Neu­ge­stal­tung des Wie­ner Heu­markts in­klu­si­ve 73-Me­ter-Hoch­haus ge­hen bei ei­nem wei­te­ren in­ners­täd­ti­schen Bau­pro­jekt die Wo­gen hoch. Seit Wo­chen wett­ern An­rai­ner und Bürg­er­ini­tia­ti­ven ge­gen die ge­plan­te Auf­sto­ckung des Zu­rich-Bü­ro­ge­bäu­des am Karl­splatz di­rekt ne­ben der Karl­skir­che. Am Mitt­woch fand am Karl­splatz ei­ne De­mon­stra­ti­on statt: Un­ter den ei­ni­gen Dut­zend De­mons­tran­ten wa­ren auch Vi­ze­bürg­er­meis­ter Jo­hann Gu­de­nus (FPÖ) so­wie Par­tei­kol­le­gin Ur­su­la Sten­zel, Ex-Be­zirks­vor­ste­he­rin der In­ne­ren Stadt und ak­tu­ell nicht amts­füh­ren­de Stadt­rä­tin. „Schluss mit der Zers­tö­rung des Karl­splat­zes“, war auf Ta­feln zu le­sen. Ein Ban­ner for­der­te „Nein zum Glas­mons­ter“. Ne­ben der FPÖ sprach sich auch die Be­zirks-ÖVP ge­gen das Pro­jekt aus.

Doch zu­rück zum An­fang: Als Re­ak­ti­on auf die ge­plan­te Er­wei­te­rung des Wien-Mu­se­ums durch Čer­tov Wink­ler Ruck Ar­chi­tek­ten ( der STAN­DARD be­rich­te­te) be­schloss Zu­rich Ver­si­che­rung, ihr fremd­ver­mie­te­tes Bü­ro­ge­bäu­de zu sa­nie­ren und um zwei Eta­gen und ein Staf­fel­geschßs auf­zu­sto­cken. Hen­ke Schrei­eck Ar­chi­tek­ten, die aus ei­nem Ar­chi­tek­tur­wett­be­werb ein­stim­mig als Sie­ger her­vor­gin­gen, schlu­gen ei­ne be­hut­sa­me Fort­füh­rung des 1971 er­rich­te­ten Georg-Lip­pert-Baus vor.

„Die aus der Fuß­gän­ger­per­spek­ti­ve wahr­ge­nom­me­ne Ge­bäu­de­hö­he liegt un­ter der Hö­he des neu­en Wien-Mu­se­ums“, er­klärt der Ju­ry­vor­sit­zen­de Rü­di­ger Lai­ner. „Vor al­lem aber ord­net sich das Pro­jekt der be­nach­bar­ten, pro­mi­nen­ten Karl­skir­che un­ter. Das ist in den Plä­nen und Vi­su­ali­sie­run­gen deut­lich zu er­ken­nen.“ Nicht je­doch in de­nen, die von der Kro­nen Zei­tung ver­öf­fent­licht wur­den. „Die­se sind ma­ni­pu­liert und falsch“, so Lai­ner.

Das be­stä­tigt auch Her­bert Ra­sin­ger, Ob­mann des Ver­eins Ini­tia­ti­ve Stadt­bild­schutz Wien: „Es sind un­ter­schied­li­che Bil­der in Um­lauf, die de­fi­ni­tiv nicht über­ein­stim­men. Ge­ne­rell den­ke ich aber, dass es kei­ne gu­te Idee ist, je­dem Haus in Wien ei­nen Gupf auf­zu­set­zen. Georg Lip­pert war ein sehr gu­ter Ar­chi­tekt. Der braucht nie­man­den, der ihn kor­ri­giert.“

Christ­oph Luch­sin­ger, Städ­te­bau-Pro­fes­sor an der TU Wien, sieht die Sa­che an­ders: „Das Pro­jekt ist ei­ne sinn­vol­le Er­gän­zung zum Wien-Mu­se­um und wird den Karl­splatz, der an die­ser Stel­le nach wie vor un­fer­tig scheint, ab­schlie­ßen und stadt­räum­lich auf­wer­ten.“

Den Geg­nern – da­run­ter An­rai­ner, Ra­sin­gers Bürg­er­ini­tia­ti­ve so­wie die Platt­form ret­tet­die­karl­skir­che.at – möch­te er sa­gen: „Ich ver­ste­he, dass es ver­schie­de­ne Mei­nun­gen gibt. Doch ei­nem hoch­qua­li­ta­ti­ven Pro­jekt mit ei­ner der­ar­ti­gen Po­le­mik zu be­geg­nen, ist ein Ar­muts­zeug­nis für die Stadt Wien.“

Im Res­sort von Pla­nungs­stadt­rä­tin Ma­ria Vas­si­la­kou (Grü­ne) be­trach­tet man die Auf­sto­ckun­gen des Wien-Mu­se­ums und des Zu­rich-Hau­ses als ge­mein­sa­mes Pla­nungs­ge­biet. Im Be­reich der Wid­mung wer­de man die bei­den Pro­jek­te in der Un­esco-ge­schütz­ten Welt­kul­tur­er­be-Kern­zo­ne als Ein­heit be­ar­bei­ten.

Kein Pla­nungs­stopp

Droht auch hier ein Pla­nungs­stopp ge­gen das „Glas­fu­run­kel“ (O-Ton Kro­ne ) oder ei­ne Nach­denk­pau­se wie im Fal­le des Eis­lauf­ver­ein-In­ter­cont-Are­als in­klu­si­ve Turm im Mai 2016? „Man muss schon un­ter­schei­den zwi­schen dem, was auf fach­li­cher Ebe­ne breit dis­ku­tiert und an sach­li­chen Be­den­ken im Lau­fe des Ver­fah­rens ge­äu­ßert wird, und dem, was ver­ein­zelt als Mei­nung ge­äu­ßert wird“, so Pa­trik Volf, Spre­cher von Vas­si­la­kou. Ei­ne Ge­fähr­dung sei nicht ge­ge­ben. Das Ju­ry­er­geb­nis spre­che für sich. „Aus ak­tu­el­ler Sicht se­he ich kei­ne Ge­fahr für un­ser Pro­jekt“, sag­te Sil­via Em­rich, Vor­stands­mit­glied bei Zu­rich Ver­si­che­rung. „Wir hof­fen, dass wir im zwei­ten Halb­jahr 2017 die Bau­ge­neh­mi­gung be­kom­men.“

Der Standard, Fr., 2016.09.23

10. September 2016Wojciech Czaja
Der Standard

„Wir sind in ei­ner Wohn­raum-Kri­se“

Die Wohn­bau­for­sche­rin Or­na Ro­sen­feld hielt ei­nen Vor­trag bei den Bau­kul­tur-Ge­sprä­chen in Alp­bach. Ih­re Bot­schaft: Woh­nen ist zu teu­er, die glo­ba­le Stadt ist nicht smart, die Schaf­fung von bil­li­gen Flücht­lings­woh­nun­gen wä­re ei­ne Idee.

Die Wohn­bau­for­sche­rin Or­na Ro­sen­feld hielt ei­nen Vor­trag bei den Bau­kul­tur-Ge­sprä­chen in Alp­bach. Ih­re Bot­schaft: Woh­nen ist zu teu­er, die glo­ba­le Stadt ist nicht smart, die Schaf­fung von bil­li­gen Flücht­lings­woh­nun­gen wä­re ei­ne Idee.

Stan­dard: Wie viel Geld ge­ben Sie per­sön­lich fürs Woh­nen aus?

Ro­sen­feld: Un­ter­schied­lich! Ich bin kein ty­pi­sches Bei­spiel. Ich ha­be schon in vie­len Län­dern ge­lebt, da­run­ter et­wa in Groß­bri­tan­nien, Spa­nien, Un­garn, Ser­bien, Kroa­tien, in den USA und im Mitt­le­ren Os­ten. Der­zeit le­be ich in Frank­reich. Je nach Kul­tur­kreis und Im­mo­bi­lien­markt ha­be ich mich an­ge­passt, war mal Mie­te­rin, mal Ei­gen­tü­me­rin. Aber mit Si­cher­heit kann ich sa­gen: Ich bin de­fi­ni­tiv nicht so reich, dass ich mir in je­der Stadt, in der ich schon ge­wohnt ha­be, ei­ne Woh­nung hät­te kau­fen kön­nen.

Stan­dard: In Ih­rem Vor­trag beim Eu­ro­päi­schen Fo­rum in Alp­bach ha­ben Sie er­wähnt, dass es auf der Nord­halb­ku­gel seit der Fi­nanz­kri­se 2008 mehr als 100 Mil­lio­nen Men­schen gibt, die sich das Woh­nen kaum noch leis­ten kön­nen. Was heißt das ge­nau?

Ro­sen­feld: Die Zahl be­zieht sich auf die 56 Mit­gliedss­taa­ten der UN­ECE – der Uni­ted Na­ti­ons Eco­no­mic Com­mis­si­on for Eu­ro­pe. Da­zu zäh­len auch Nord­ame­ri­ka so­wie die ehe­ma­li­ge UdSSR. Und sie be­deu­tet: In die­sen 56 Län­dern gibt es mehr als 100 Mil­lio­nen Men­schen, die ge­zwun­gen sind, für das Woh­nen mehr als 40 Pro­zent ih­res Haus­halts­ein­kom­mens aus­zu­ge­ben. Das ist be­sorg­nis­er­re­gend.

Stan­dard: In der Re­gel rech­net man da­mit, dass ma­xi­mal ein Drit­tel des Ein­kom­mens fürs Woh­nen auf­ge­wen­det wer­den soll­te.

Ro­sen­feld: Das ist ein gu­ter Richt­wert. Oder, an­ders for­mu­liert: Wenn man das meis­te Geld für den Im­mo­bi­lien­sek­tor auf­wen­det, dann bleibt we­ni­ger üb­rig, um es in den an­de­ren Sekt­oren aus­zu­ge­ben. Das ist ei­ne ein­fa­che Mil­chmäd­chen­rech­nung. Das heißt al­so, dass die Aus­ga­ben für Es­sen, für Klei­dung, für Mo­bi­li­tät ex­trem re­du­ziert wer­den müs­sen. In Län­dern wie den USA bei­spiels­wei­se be­deu­tet es auch, dass we­ni­ger Geld für Bil­dung, Ver­si­che­run­gen und So­zi­al­leis­tun­gen zur Ver­fü­gung steht. Lang­fri­stig be­trach­tet ist das nicht nur ein Scha­den fürs In­di­vi­du­um, son­dern auch für die Wirt­schaft.

Stan­dard: Was ist mit den En­er­gie­kos­ten?

Ro­sen­feld: Dan­ke für den Hin­weis! Das ist ein enor­mer An­teil, der in vie­len Län­dern ste­tig wächst. In ei­ni­gen Wirt­schaf­ten, vor al­lem im Os­ten der UN­ECE-Re­gi­on, ha­ben sich die En­er­gie­kos­ten in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­dop­pelt bis ver­drei­facht.

Stan­dard: Was tun?

Ro­sen­feld: Wir soll­ten schleu­nigst da­rü­ber nach­den­ken, was wir tun kön­nen, um wie­der mehr frei­es Geld zum Ma­növ­rie­ren üb­rig zu ha­ben. Lon­don, wo die Durch­schnitts­mie­te weit über 2000 Eu­ro pro Mo­nat liegt, oder Pa­ris, wo man für ei­ne 25-Qua­drat­me­ter-Woh­nung 800 bis 1200 Eu­ro aus­gibt, sind kei­ne gu­ten Bei­spie­le.

Stan­dard: Und doch gel­ten die­se Städ­te als be­liebt und er­stre­bens­wert.

Ro­sen­feld: Die Wohn­prei­se in den glo­ba­len Städ­ten sind im letz­ten Jahr­zehnt mas­siv in die Hö­he ge­gan­gen. Das for­dert nicht nur nie­dri­ge­re Ein­kom­mens­schich­ten her­aus, son­dern mehr und mehr auch die Mit­tel­klas­se. Ei­nes der ex­trems­ten Bei­spie­le da­für ist Van­cou­ver. Da sind die Prei­se der­ma­ßen nach oben ge­klet­tert, dass es kaum noch Men­schen gibt, die sich dort ei­ne Woh­nung leis­ten kön­nen. In der Re­gel heißt es: Je mehr Ta­len­te ei­ne Stadt an­zu­zie­hen ims­tan­de ist, de­sto hö­her ih­re Po­si­ti­on im Ran­king. Das ist die For­mel für Er­folg. Van­cou­ver hat so vie­le Ta­len­te an­ge­zo­gen, dass die In­dus­trie da­rauf kaum noch rea­gie­ren kann. Ei­ne Stadt kann nicht smart sein, wenn die smar­ten Men­schen es sich nicht mehr leis­ten kön­nen, dort zu le­ben.

Stan­dard: Das klingt ziem­lich hoff­nungs­los.

Ro­sen­feld: Ja und nein. Ich sa­ge noch et­was zum Ja: In Lon­don war­ten 350.000 Men­schen drin­gend auf ei­ne leist­ba­re So­zi­al­woh­nung. In New York sind es 450.000 Men­schen und in Pa­ris 550.000. Und in Russ­land war­tet man durch­schnitt­lich 20 Jah­re, bis man vom Staat bei Be­darf ei­ne leist­ba­re So­zi­al­woh­nung zur Ver­fü­gung ge­stellt be­kommt. So viel zum The­ma der Aus­weg­lo­sig­keit. Doch das Gu­te ist: In je­der Kri­se – und in die­ser be­fin­den wir uns der­zeit oh­ne je­den Zwei­fel – lie­gen auch gro­ße Chan­cen.

Stan­dard: Wie wür­den Sie die Kri­se und die da­mit ver­bun­de­nen Chan­cen be­nen­nen?

Ro­sen­feld: Es man­gelt welt­weit an leist­ba­ren Woh­nun­gen. Die Mie­ten, die Hy­po­the­ken und die En­er­gie­kos­ten sind sehr teu­er. Lan­ge Jah­re hat­ten wir in den UN­ECE-Län­dern das Phä­no­men, dass der Ei­gen­tums­an­teil steigt, wäh­rend die Miet­woh­nun­gen stark zu­rück­ge­hen – vor al­lem in den post­so­zia­lis­ti­schen Län­dern im Os­ten. Ak­tu­ell be­fin­den wir uns in ei­nem Um­bruch, in dem die­se Ver­tei­lung völ­lig neu de­fi­niert wird. In vie­len Län­dern ver­sucht man, die Fol­gen der Pri­va­ti­sie­rung wie­der rück­gän­gig zu ma­chen. Die Wohn­märk­te er­fin­den sich ge­ra­de neu. Es könn­te sich vie­les än­dern. Das ist die Chan­ce.

Stan­dard: Kon­kre­ter?

Ro­sen­feld: Ge­nau das her­aus­zu­fin­den ist mein Job. Wir soll­ten die Ar­beit nicht un­ter­schät­zen. Fra­gen Sie mich in ein paar Mo­na­ten!

Stan­dard: Sie for­schen sehr in­ten­siv zu den UN­ECE-Län­dern. Wie steht Ös­ter­reich da?

Ro­sen­feld: Ös­ter­reich ist ein Schla­raf­fen­land, was die Leist­bar­keit und auch die Zu­gäng­lich­keit zu leist­ba­rem Wohn­raum be­trifft. Es hat ei­nes der be­sten So­zi­al­woh­nungs­sys­te­me der Welt. Das ist ein­zig­ar­tig.

Stan­dard: Ei­ne gro­ße Her­aus­for­de­rung in Ös­ter­reich ist die kurz­fri­sti­ge Schaf­fung von leist­ba­rem Wohn­raum für Flücht­lin­ge. Nie­de­rös­ter­reich ant­wor­tet da­rauf mit ei­nem bil­li­gen Stan­dard-Wohn­mo­dul, das 800-mal ko­piert und quer über das gan­ze Bun­des­land ver­streut wer­den soll. Bau­start ist im Jän­ner.

Ro­sen­feld: Es ist ein Zei­chen hu­ma­ni­tä­rer Qua­li­tät, dass es mög­lich ist, in­ner­halb von zwölf bis 18 Mo­na­ten ein der­art um­fang­rei­ches Pro­jekt zu ma­chen und bis zur Schlüs­sel­fer­tig­keit zu rea­li­sie­ren. Hier sind Tem­po und Ef­fi­zienz ge­fragt. Ich ken­ne das kon­kre­te Nie­de­rös­ter­reich-Pro­jekt nicht im De­tail, aber in man­chen Si­tua­tio­nen ist ei­ne ra­sche Not­maß­nah­me viel­leicht wich­ti­ger als ei­ne per­fek­te, nach­hal­ti­ge Ar­chi­tek­tur, die viel Zeit in An­spruch nimmt und letz­tend­lich auch be­dingt, dass die Men­schen um­so län­ger in Flücht­lings­hei­men und Not­quar­tie­ren aus­har­ren müss­ten. Ich war­ne da­vor, sich in so ei­ner Aus­nah­me­si­tua­ti­on ein vor­schnel­les Ge­samt­ur­teil zu bil­den, oh­ne dies in ei­nem – auch zeit­li­chen – Ge­samt­kon­text zu be­trach­ten.

Stan­dard: Das heißt?

Ro­sen­feld: Wir be­fin­den uns in ei­ner welt­wei­ten Ge­samt­kri­se. Es man­gelt mas­siv an Wohn­raum. Und im Ge­gen­satz zum vor­herr­schen­den Irr­glau­ben wis­sen wir aus un­se­rer For­schungs­ar­beit: Nicht die Flücht­lings­wel­len der letz­ten zwei Jah­re sind schuld da­ran, dass wir zu we­nig Wohn­raum ha­ben, son­dern die Nach­we­hen der Welt­fi­nanz­kri­se, die wir al­le nicht ernst ge­nug ge­nom­men ha­ben – und wenn, dann zu spät.

Stan­dard: An wen rich­tet sich die­se Kri­tik?

Ro­sen­feld: Feh­ler sind pas­siert. Es ist un­mög­lich, auf ir­gend­je­man­den mit dem Fin­ger zu zei­gen. Die Kri­se ist nicht die rich­ti­ge Zeit, um zu kri­ti­sie­ren. Die Kri­se ist die rich­ti­ge Zeit, um ge­mein­sam Lö­sun­gen zu fin­den.

Stan­dard: Zum Bei­spiel?

Ro­sen­feld: Ei­ne er­ste Lö­sung wä­re, den Be­griff „Pro­blem“ durch „Her­aus­for­de­rung“ zu er­set­zen. Pro­ble­me sind da­zu da, den Kopf in den Sand zu ste­cken. Her­aus­for­de­run­gen je­doch wol­len ge­meis­tert wer­den. Hier ist die Po­li­tik ge­for­dert. Das ist viel­leicht nur ein er­ster Trop­fen auf den hei­ßen Stein. Und doch er­öff­net sich da­durch ei­ne voll­kom­men neue Welt.

Der Standard, Sa., 2016.09.10

10. September 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Zehn Schrit­te vom Ar­bei­ter zum Chef

Das Be­triebs­ge­bäu­de Ho­er­bi­ger in der Sees­tadt Aspern in Wien ist nicht nur neu, son­dern auch neu­ar­tig: For­schung, Ent­wi­cklung, Pro­duk­ti­on und Ver­wal­tung sind un­ter ei­nem Dach. Das soll die Kom­mu­ni­ka­ti­on und letz­tend­lich auch die Ef­fi­zienz för­dern.

Das Be­triebs­ge­bäu­de Ho­er­bi­ger in der Sees­tadt Aspern in Wien ist nicht nur neu, son­dern auch neu­ar­tig: For­schung, Ent­wi­cklung, Pro­duk­ti­on und Ver­wal­tung sind un­ter ei­nem Dach. Das soll die Kom­mu­ni­ka­ti­on und letz­tend­lich auch die Ef­fi­zienz för­dern.

Im Foy­er läuft ein lauts­tar­kes Film­chen über das Im­pe­ri­um Ho­er­bi­ger. Be­gon­nen hat al­les 1895, lernt man da, mit ei­nem in­no­va­ti­ven Stahl­plat­ten­ven­til, das sich Ur­va­ter Hanns Hör­bi­ger pa­ten­tie­ren ließ und mit des­sen Li­zen­zen er sich ein Fun­da­ment auf­bau­en konn­te. 120 Jah­re spä­ter zählt das Un­ter­neh­men mit Sitz in der Schweiz zu den be­deu­tend­sten Pro­du­zen­ten im Be­reich der Hy­drau­lik so­wie der Kom­pres­sor- und An­trieb­stech­nik.

Hin­ter den dreh­ba­ren Screens mit dem im­po­sant an­imier­ten PR-Film, der die gan­ze Ein­gangs­hal­le in ei­nen elek­tro­ni­schen Klang­tep­pich hüllt, gibt es ein paar schma­le, lan­ge Fens­ter, durch die man di­rekt in die Mus­ter­werks­tatt hin­ein­bli­cken kann. Die CNC-Frä­sen und Spritz­guss­ma­schi­nen hin­ter der Glas­schei­be die­nen nicht nur dem Ex­pe­ri­ment und der Ent­wi­cklung von Kom­po­nen­ten, son­dern auch der Se­rien­pro­duk­ti­on.

„Ei­nen bes­se­ren Syn­er­gie­ef­fekt kann man sich nicht vor­stel­len“, sagt Pe­ter Stein­rück, He­ad of Bu­si­ness-De­ve­lop­ment und Pro­jekt­lei­ter des neu­en Ho­er­bi­ger-Stand­orts in der Sees­tadt Aspern in Wien. „Ge­nau das war auch die Idee die­ses Ge­bäu­des. Wir woll­ten For­schung und Ent­wi­cklung, Pro­duk­ti­on und Ver­wal­tung an ei­nem ein­zi­gen Ort zu­sam­men­füh­ren und die Men­schen auf die­se Wei­se ins Ge­spräch brin­gen.“

Aus­blick für al­le

Ge­ra­de in solch gro­ßen Un­ter­neh­men, so Stein­rück, wis­se die lin­ke Hand oft nicht, was die rech­te tut. Hier je­doch lau­fe man sich tag­täg­lich über den Weg: Ar­bei­ter, Hand­wer­ker, Bü­ro­an­ge­stell­te und Vor­stands­mit­glie­der der Hol­ding, 500 Mit­ar­bei­ter ins­ge­samt. Ganz an­ders üb­ri­gens, als am al­ten Stand­ort in Wien-Sim­me­ring, wo Ver­wal­tung und Pro­duk­ti­on durch ei­ne öf­fent­li­che Stra­ße vo­nei­nan­der ge­trennt wa­ren.

„Die Zu­sam­men­füh­rung von Kopf und Hand war uns da­her be­son­ders wich­tig“, sagt der Ho­er­bi­ger-Chef. „Nach dem pas­sen­den Grund­stück ha­ben wir lan­ge Zeit ge­sucht.“ Der Wie­ner Or­ga­ni­sa­ti­ons- und Stra­te­gie­be­ra­ter M.O.O.CON war in die­ser Pha­se in die Ent­wi­cklung und Aus­rich­tung des Pro­jekts stark ein­ge­bun­den und be­glei­te­te so­gar den in­ter­na­tio­nal aus­ge­schrie­be­nen Ar­chi­tek­tur­wett­be­werb. Auf Platz drei lan­de­te der Pa­ri­ser Ar­chi­tekt Diet­mar Feich­tin­ger, den zwei­ten Platz be­leg­ten ATP Ar­chi­tek­ten In­ge­ni­eu­re, der Sieg ging schließ­lich an das Wie­ner Bü­ro quer­kraft.

„Für uns war das höch­ste Ziel, das Ge­mein­sa­me über das Tren­nen­de zu stel­len“, er­klärt Ja­kob Dunkl von quer­kraft ar­chi­tek­ten. Man steht vor dem neu­en Haus und er­kennt nicht, wo die Bü­ros lie­gen und wo die Fa­brik­hal­len un­ter­ge­bracht sind. „Ja, das war Ab­sicht. Das ge­sam­te Haus ist ein­heit­lich ge­stal­tet und mit ei­ner durch­ge­hen­den Band­fass­ade um­wi­ckelt. Da­durch ha­ben nicht nur die Bü­ro­leu­te, son­dern auch die Fa­brik­ar­bei­ter ei­nen un­ge­hin­der­ten Aus­blick ins Freie. Das ist in die­ser Spar­te kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit.“

12.000 Qua­drat­me­ter Nutz­flä­che ent­fal­len auf die Ver­wal­tung, wei­te­re 12.000 auf die Pro­duk­ti­on. Da­mit ist die Ge­samt­flä­che – bei ge­stie­ge­ner Ef­fi­zienz – so­gar klei­ner als am al­ten Stand­ort in Sim­me­ring. Soll­te der Flä­chen­be­darf ei­nes Ta­ges stei­gen, hat sich Ho­er­bi­ger bei der zu­stän­di­gen Be­treib­er­ge­sell­schaft Wien 3420 Aspern De­ve­lop­ment AG ein Vor­kaufs­recht am be­nach­bar­ten Grund­stück ge­si­chert.

„Kein Gramm Fett“

Das Film­chen ist zu En­de. Es ist wie­der still im Foy­er. Rund­um do­mi­nie­ren die Far­ben Weiß, Grau und Sil­ber. Letz­te­res ist vor al­lem den gal­va­ni­sier­ten Stahl­bau­tei­len zu ver­dan­ken, die im ge­sam­ten Ge­bäu­de im­mer wie­der auf­blit­zen: an Stie­gen, Ge­län­dern, Tritt­po­de­sten und von der De­cke ab­ge­häng­ten Zugs­tan­gen, an de­nen die Ste­ge und Kor­ri­do­re baum­eln. Vor al­lem im Pro­duk­ti­ons­be­reich ist da­von viel zu se­hen. Die gro­be, in­dus­tri­el­le Be­hand­lung, meint Dunkl, pas­se durch­aus ins Kon­zept ei­nes sol­chen Un­ter­neh­mens, das sich auf die Pro­duk­ti­on von per­for­man­ce­be­stimm­ten Me­tall­tei­len spe­zi­a­li­siert hat.

Bloß in den Bü­ros und auf den Frei­flä­chen trau­te sich der Vor­stand, in den Farb­topf zu grei­fen. Wäh­rend die Bü­ros mit ne­on­grü­nen Bü­ro­mö­beln und la­ven­del­far­be­nen Sitz­ge­le­gen­hei­ten be­stückt sind, schim­mern durch die gro­ßen Glas­flä­chen auf der Dach­ter­ras­se und in der Be­triebs­kan­ti­ne im­mer wie­der Far­ne, Thy­mi­an, Chi­na­schilf, Erd­bee­ren und Hor­ten­sien in den Raum. Die Frei­raum­ge­stal­tung auf dem Vor­platz, im In­nen­hof und auf der frei zu­gäng­li­chen Mit­ar­bei­ter­ter­ras­se im er­sten Stock stammt von der Wie­ner Land­schafts­ar­chi­tek­tin Do­ris Haid­vogl.

Mit knapp 30 Mil­lio­nen Eu­ro Ge­samt­bau­kos­ten (1200 Eu­ro pro Qua­drat­me­ter) muss­te der Bau über­aus straff ge­stal­tet wer­den. „Kein Gramm Fett“, wie Dunkl dies aus­drückt. Auf Ober­flä­chen­ve­re­de­lun­gen wur­de ver­zich­tet, statt der ur­sprüng­lich ge­plan­ten Holz-Alu-Fens­ter wur­de auf her­kömm­li­che Kunst­stoff­fens­ter um­ge­sat­telt, und Stem­mar­bei­ten im Roh­bau wa­ren ein Ta­bu. Die ge­sam­te Tech­nik ist sicht­bar ge­führt. Die ka­bel­lo­sen Licht­schal­ter ver­fü­gen über ei­ne Bat­te­rie und kom­mu­ni­zie­ren mit der Licht­quel­le über Funk. Auf die­se Wei­se konn­te viel Geld ein­ge­spart wer­den.

Rück­kehr in die Stadt

„Mit dem Ab­schluss des Pro­jekts fei­ern wir nicht nur die er­ste In­dus­trie­an­sied­lung in der Sees­tadt Aspern, son­dern auch ein Vor­zei­ge­pro­jekt in punc­to Raum für In­no­va­ti­on“, meint Mar­tin Kä­fer, Se­ni­or Con­sul­tant und Pro­jekt­lei­ter bei M.O.O.CON. Da­mit folgt Ho­er­bi­ger dem welt­wei­ten Trend des so­ge­nann­ten Ur­ban Ma­nu­fac­tu­ring – al­so der Rück­kehr des pro­du­zie­ren­den Ge­wer­bes in die Stadt.

„Ur­ban Ma­nu­fac­tu­ring klingt toll, aber ich wür­de den Be­griff nicht über­be­wer­ten“, meint Ho­er­bi­ger-Chef Pe­ter Stein­rück. „Tat­säch­lich han­delt es sich ein­fach nur um die An­sie­de­lung von Pro­duk­ti­ons­stät­ten in der Stadt. Nichts an­de­res als das, was wir schon in der Grün­der­zeit­stadt um 1900 ge­macht ha­ben, nur ge­ben wir dem heu­te ei­nen neu­en Na­men.“

Vom Vor­stands­bü­ro in die Fa­brik­hal­le sind es nur we­ni­ge Schrit­te. Si­cher­heits­schu­he mit Stahl­kap­pe müs­sen an­ge­zo­gen wer­den. Das ist Vor­schrift. So will es der Ar­beits­in­spek­tor. Und schon steht man in­mit­ten kla­ckern­der, boh­ren­der, dril­len­der Ma­schi­nen.

Am Mon­tag, dem 19. Sep­tem­ber 2016, fin­det bei Ho­er­bi­ger das On-Sta­ge-Se­mi­nar „Ho­er­bi­ger: Das Pro­jekt in Wien Aspern“, ei­ne Ko­ope­ra­ti­ons­ver­an­stal­tung von M.O.O.CON, Über­bau Aka­de­mie, Über­all Sce­ne und Platt­form für In­no­va­ti­ons­ma­nage­ment (PFI), statt. Sees­tadts­tra­ße 25, 1220 Wien. Ab 16 Uhr.

Der Standard, Sa., 2016.09.10

02. September 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Baukultur-Gespräche: Appell an „enkeltaugliche“ Zukunft

Metropolen ziehen Menschen magnetisch an. „Doch nicht hinter jeder großstädtischen Dichte verbirgt sich auch wirklich ein öffentlicher Raum“, gab die US-amerikanische...

Metropolen ziehen Menschen magnetisch an. „Doch nicht hinter jeder großstädtischen Dichte verbirgt sich auch wirklich ein öffentlicher Raum“, gab die US-amerikanische...

Metropolen ziehen Menschen magnetisch an. „Doch nicht hinter jeder großstädtischen Dichte verbirgt sich auch wirklich ein öffentlicher Raum“, gab die US-amerikanische Soziologin Saskia Sassen in ihrem Einführungsvortrag zu bedenken. „Hinter der vermeintlichen Urbanität verbergen sich oft ganze Stadtviertel, die sich in privater Hand befinden.“

London und New York sind dabei die Paradebeispiele für diesen Ausverkauf der Stadt. Allein in Manhattan, so Sassen, werden bereits ganze 54 Prozent aller Immobilienkäufe – jenseits der Fünf-Millionen-Dollar-Grenze – von Briefkastenfirmen getätigt. Das einzige Interesse der meist ausländischen Investoren ist die entsprechende Wertanlage. Das, was wir als Stadt bezeichnen, werde dadurch mehr und mehr ausgehöhlt.

So dramatisch und vielversprechend die diesjährigen Baukultur-Gespräche in Alpbach begonnen hatten, so flau gingen die eineinhalb Tage, die traditionell das Europäische Forum Alpbach beschließen, schließlich zu Ende. Das Generalmotto des Forums – also „Neue Aufklärung“ – blieb dabei gänzlich unberührt. Und sogar die einzelnen Panels vermochten die im Programm gestellten Fragen nicht zu beantworten. Da konnte noch so viel von „direktem Urbanismus“, „Paradigmenwechsel“ und „kontextabhängigen Faktoren“ die Rede sein.

Kaum leistbares Wohnen

Schade eigentlich. Denn tatsächlich befindet sich die – auch städtische – Welt in einem Umbruch von fürwahr globalen Ausmaßen. „Mehr als 100 Millionen Menschen auf der nördlichen Hemisphäre können sich das Wohnen kaum noch leisten“, erklärte dazu Orna Rosenfeld, Wohnbauexpertin und Beraterin der UN-Wirtschaftskommission für Europa.

„Und in einer Stadt wie Paris wartet bereits eine halbe Million Menschen dringend auf eine geförderte Sozialwohnung. Das ist dramatisch.“ Eines der dringendsten Themen ist die Migration – nicht nur die politisch bedingte. In den vergangenen 15 Jahren ist der weltweite Migrationsanteil um 40 Prozent gestiegen. „244 Millionen Menschen leben nicht in jenem Land, in dem sie geboren wurden“, meint Rosenfeld. „Dabei handelt es sich nur zu einem geringen Teil um Flüchtlinge.“ Da wie dort werde der bestehende Integrationsanspruch an den Wohnbau nicht immer erfüllt.

Umdenken nötig

„Dabei wäre es wahnsinnig einfach, wenn wir nur bereit wären umzudenken“, meinte Hubert Klumpner, Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich. „Allein in der Schweiz gibt es so viele leerstehende Gebäude, dass wir rein theoretisch im Handumdrehen 350.000 Menschen aufnehmen können – und dies, ohne auch nur eine Wohnung neu bauen zu müssen.“

Genau diesem Thema widmete sich der Vorarlberger Architekt Andreas Postner, der mit seinen technisch wie auch sozial intelligenten Wohnprojekten für Flüchtlinge und finanzschwache Österreicher zugleich eines der wenigen Highlights der diesjährigen Veranstaltung war. In seinem brennenden Vortrag, den er gemeinsam mit der vor einem Jahr aus Afghanistan geflüchteten Ärztin und IT-Expertin Zainab Murtazawi hielt, plädierte er für mehr soziale Qualität im kostengünstigen Wohnsegment.

Mehr als Notfallarchitektur

„Integration funktioniert nur dann, wenn wir erstens kleinräumig, also auch in dörflichen Strukturen, denken und zweitens den Flüchtlingen nicht immer nur Katastrophen- und Notfallarchitektur vorlegen.“ Andreas Postners Vision für die Zukunft: Die Baukultur müsse wieder „enkeltauglich“ werden. Es braucht ein Forum Alpbach, um sich dieser Notwendigkeit auch bewusst zu werden.

Der Standard, Fr., 2016.09.02

20. August 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Die Macht des Fast-Nichts

Das nor­we­gi­sche Bü­ro Ty­in Teg­nes­tue ist sehr jung, sehr klein und mitt­ler­wei­le welt­be­rühmt. Die Bau­ten in In­do­ne­sien und Thai­land be­wei­sen, wie viel Ar­chi­tek­tur man um wie we­nig Geld ma­chen kann.

Das nor­we­gi­sche Bü­ro Ty­in Teg­nes­tue ist sehr jung, sehr klein und mitt­ler­wei­le welt­be­rühmt. Die Bau­ten in In­do­ne­sien und Thai­land be­wei­sen, wie viel Ar­chi­tek­tur man um wie we­nig Geld ma­chen kann.

Es riecht nach Zimt und Weih­nach­ten. Un­ter dem gro­ßen Du­ri­an­baum im Atri­um steht ein Was­ser­büf­fel, pau­siert für ein Stünd­chen im Schat­ten. Er wird hier als Last­tier ein­ge­setzt und muss Tag für Tag ton­nen­wei­se Baum- und Rin­den­ma­te­ri­al hin­ter sich herz­ie­hen. In der Re­gel wird das süß­lich duf­ten­de Ge­würz ge­mah­len oder in kü­chen­ge­recht ge­schnitt­enen Stan­gen in die gan­ze Welt ver­schifft. In die­sem Fall je­doch wur­de der nach­wach­sen­de Roh­stoff zu Stüt­zen und Dach­lat­ten ver­ar­bei­tet. Ein Teil da­von dient als Sichts­chutz in den Öff­nun­gen des di­cken Lehm­zie­gel­mau­er­werks.

Die Zimt­wäl­der in der Re­gi­on Ke­rin­ci zäh­len zu den größ­ten und wich­tigs­ten Ge­würz­re­gio­nen Su­ma­tras. Ins­ge­samt deckt die Zimt­pro­duk­ti­on auf der in­do­ne­si­schen In­sel rund 85 Pro­zent des welt­wei­ten Be­darfs ab. Al­ler­dings sind vie­le Zimt­bau­ern un­ter­be­zahlt und ar­bei­ten un­ter schlech­ten, bis­wei­len ge­fähr­li­chen Be­din­gun­gen. Mit dem Cas­sia Coop Trai­ning Cen­ter, ei­ner Ein­rich­tung des fran­zö­si­schen Un­ter­neh­mers Pa­trick Bart­he­le­my, soll da­mit Schluss sein. Hier be­kom­men die Bau­ern ei­ne fach­li­che Aus­bil­dung, Ge­sund­heits­vor­sor­ge und Zu­gang zu Schu­le und Wei­ter­bil­dung.

Er­rich­tet wur­de die Zimt­schu­le im Rah­men ei­nes Ent­wi­cklungs­hil­fe­pro­jekts. Das nor­we­gi­sche Ar­chi­tek­tur­bü­ro Ty­in Teg­nes­tue, das für die ge­sam­te Ab­wi­cklung des Pro­jekts ver­ant­wort­lich ist, zeich­ne­te nicht nur die Plä­ne, son­dern reis­te mit all sei­nen Mit­ar­bei­tern vor Ort, um den Bau zu ma­na­gen und auf der Bau­stel­le selbst mit Hand an­zu­le­gen. Ins­ge­samt wa­ren mehr als 70 Per­so­nen, da­run­ter Fach­ar­bei­ter und Lai­en, am Bau be­tei­ligt. Von der Grund­stein­le­gung bis zur Er­öff­nung ver­gin­gen nicht ein­mal zwei Mo­na­te.

Sinn­li­cher Prag­ma­tis­mus

„Ar­chi­tek­tur auf dem Pa­pier in­te­res­siert uns nicht“, sagt An­dre­as Grøntvedt Gjert­sen. „Wir wol­len das Bau­en in der Pra­xis ver­ste­hen. Wir wol­len so ein­fach und so klar pla­nen, dass wir in der La­ge sind, die Plä­ne ei­gen­hän­dig in die Rea­li­tät um­zu­set­zen. Das klingt ei­ner­seits sehr prag­ma­tisch, ist an­de­rer­seits aber auch ei­ne rich­tig er­den­de, ja fast schon sinn­li­che Er­fah­rung, die den meis­ten Ar­chi­tek­ten vor­ent­hal­ten bleibt.“

Ge­mein­sam mit sei­nem Part­ner Yas­har Hans­tad lei­tet der 35-Jäh­ri­ge das klei­ne Ar­chi­tek­turs­tu­dio Ty­in Teg­nes­tue. Zum Port­fo­lio des 2008 ge­grün­de­ten Trond­hei­mer Bü­ros zäh­len Spiel­plät­ze, Ba­de­häu­ser, Bi­blio­the­ken, Bus­war­te­häus­chen, Wai­sen­häu­ser, schu­li­sche Ein­rich­tun­gen so­wie In­ter­ven­tio­nen im öf­fent­li­chen Raum. Die meis­ten da­von wur­den an der West­küs­te Nor­we­gens so­wie in In­do­ne­sien und Thai­land rea­li­siert. Meist han­delt es sich um exo­ti­sche Stand­or­te fer­nab von Groß­stadt und In­fras­truk­tur.

„Wir ha­ben nie ge­plant, im Ent­wi­cklungs­be­reich tä­tig zu sein“, sagt Gjert­sen. „Das hat sich eher zu­fäl­lig er­ge­ben, weil uns vor Jah­ren ein­mal Freun­de von Freun­den an­ge­fragt ha­ben, ob wir sie nicht bei ei­nem Pro­jekt in Thai­land un­ter­stüt­zen wol­len. Der Rest war Mund­pro­pa­gan­da. Man muss ein­fach nur auf­merk­sam sein und sich mit of­fe­nen Au­gen durch die Welt trei­ben las­sen. Am En­de poppt im­mer wie­der et­was Neu­es auf.“

Nach zwei Dut­zend rea­li­sier­ten Pro­jek­ten, mehr als 60 Vor­trä­gen auf al­len Kon­ti­nen­ten und Hun­der­ten in­ter­na­tio­na­len Pu­bli­ka­tio­nen zählt Ty­in Teg­nes­tue, das in ei­nem nur 25 Qua­drat­me­ter gro­ßen In­sti­tuts­zim­mer an der Nor­we­gi­schen Tech­nisch-Na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Uni­ver­si­tät (NTNU) in Trond­heim ein­ge­mie­tet ist, zu den be­kann­tes­ten Ar­chi­tek­tur­bü­ros der Welt. Hin­zu kom­men zahl­rei­che Prei­se wie et­wa der Eu­ro­pe­an Pri­ze for Ar­chi­tec­tu­re 2012, der Glo­bal Award for Sus­tai­na­ble Ar­chi­tec­tu­re 2012, der Green Pla­net Award 2013 so­wie No­mi­nie­run­gen zum Brick Award, zum Aga-Khan-Preis und zum Mies van der Ro­he Award.

„Wenn man we­nig Bud­get zur Ver­fü­gung hat, muss man nicht un­be­dingt bil­lig und be­lang­los bau­en“, sagt Gjert­sen. „Ich neh­me an, es ist un­ser über­aus an­spruchs­vol­ler Low-Bud­get-An­satz, der Schön­heit und Funk­tio­na­li­tät ver­eint und der die Leu­te und die Me­dien be­rührt.“ Die 600 Qua­drat­me­ter gro­ße Cas­sia-Coop-Zimt­schu­le auf Su­ma­tra kos­te­te um­ge­rech­net rund 30.000 Eu­ro. An­de­re Pro­jek­te wie et­wa ein Wai­sen­haus im thai­län­di­schen Ban Tha Song Yang oder ein Sport- und Spiel­platz im Bang­ko­ker Slum­vier­tel Khlong To­ei be­lau­fen sich oft nur auf ei­nen Bruch­teil da­von.

„Wir sind Äs­the­tik-Nerds“

„Un­se­re Phi­lo­so­phie ist: Je we­ni­ger Geld man hat, de­sto mehr Men­schen muss man da­mit er­rei­chen“, sagt der jun­ge NTNU-Pro­fes­sor mit selbst be­druck­tem T-Shirt, Shorts und Flip-Flops an den Fü­ßen. Das Kon­zept des sich mul­ti­pli­zie­ren­den Fast-Nichts scheint auf­zu­ge­hen: „Ja, um ein paar Tau­send Eu­ro kann man ei­ne Ar­chi­tek­tur ma­chen, über die so­gar Wall­pa­per , El­le De­co­ra­ti­on und das For­bes Ma­ga­zi­ne schrei­ben. Ist das nicht groß­ar­tig?“

Fi­nan­ziert wer­den die Pro­jek­te üb­ri­gens von den Bau­her­ren selbst so­wie über öf­fent­li­che För­de­run­gen. Spon­so­ren­gel­der sind ta­bu. „In den er­sten Jah­ren ha­ben wir mit der Pri­vat­wirt­schaft schlech­te Er­fah­run­gen ge­macht. Al­so ha­ben wir be­schlos­sen, un­ab­hän­gig zu sein und ei­ne Ar­chi­tek­tur schaf­fen, die den Men­schen und nicht der Wer­bung dient. Das fühlt sich ir­gend­wie bes­ser an.“

Die Mis­si­on, die al­le Pro­jek­te mit­ein­an­der ver­bin­det: Die Ar­chi­tek­tur­kul­tur muss wie­der bes­ser wer­den. „Ei­ne häss­li­che Um­welt ist das Schlimm­ste, was wir der näch­sten Ge­ne­ra­ti­on über­las­sen kön­nen“, so Gjert­sen. „Die­ser Ge­fahr sind sich lei­der nur die We­nigs­ten be­wusst. Aber zum Glück sind wir Ge­eks, Nerds, ab­so­lu­te Fa­na­ti­ker, wenn es da­rum geht, Schön­heit im Pro­zess und im Re­sul­tat ab­zu­bil­den. Ich kann nicht an­ders. Ich bin süch­tig nach dem Reiz des Äs­the­ti­schen, des so­zi­al Nach­hal­ti­gen, des rund­um Be­glü­cken­den. Das klingt jetzt echt kit­schig, oder?“

Die näch­sten Mo­na­te ver­brin­gen An­dre­as Gjert­sen und Yas­har Hans­tad am Uni-Cam­pus in Trond­heim. „Wir ma­chen jetzt ein paar Ein­fa­mi­li­en­hau­spro­jek­te, die wir in Zu­sam­men­ar­beit mit den Fa­mi­li­en in Ei­gen­bau er­rich­ten wer­den. Nach all den Jah­ren im war­men, exo­ti­schen Kli­ma Asiens wird’s end­lich mal Zeit, dass wir uns auch mit den kli­ma­ti­schen Be­din­gun­gen und den bau­li­chen An­for­de­run­gen bei uns zu Hau­se aus­ein­an­der­set­zen.“ Doch die Fer­ne lässt nicht lan­ge auf sich war­ten. In der Pi­pe­li­ne be­fin­den sich ein Kul­tur- und Aus­bil­dungs­zen­trum in Chia­pas (Me­xi­ko) so­wie ein Com­mu­ni­ty-Cen­ter in der Nä­he von Hi­ros­hi­ma.

Der Standard, Sa., 2016.08.20

13. August 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Zu­rück in die Zu­kunft

Wie hat ge­stern noch das Über­mor­gen aus­ge­se­hen? Die Ant­wort da­rauf lie­fert ei­ne Aus­stel­lung im Deut­schen Ar­chi­tek­turm­useum. Rück­blick auf Ar­chig­ram, Fu­tu­re Sys­tems und ei­ne Welt der Sehn­süch­te

Wie hat ge­stern noch das Über­mor­gen aus­ge­se­hen? Die Ant­wort da­rauf lie­fert ei­ne Aus­stel­lung im Deut­schen Ar­chi­tek­turm­useum. Rück­blick auf Ar­chig­ram, Fu­tu­re Sys­tems und ei­ne Welt der Sehn­süch­te

Flie­gen­de Fil­me. Au­dio­vi­su­el­le Spiel­zeu­ge. Ein Zelt­dach, das vom Him­mel hängt. Jetzt ist Gla­mour! Die In­stant Ci­ty , ein Ent­wurf aus dem Jahr 1969, war die Stadt, die zum Men­schen kam. Wie ein Wan­der­zir­kus soll­te die mo­bi­le Po­lis, ein­ge­packt in Pa­ke­te, durch Groß­bri­tan­nien rei­sen und den länd­li­chen Be­wohn­ern Bil­dung, Frei­zeit und Un­ter­hal­tung bie­ten. Das trag­ba­re Groß­stadt­er­leb­nis war als Aus­gleichs­mit­tel ge­dacht, denn in Zei­ten sich aus­brei­ten­der Te­le­vi­si­on be­ka­men die Men­schen auch die Ge­wiss­heit da­rü­ber, dass zwi­schen Stadt und Land ein star­kes kul­tu­rel­les Ge­fäl­le exis­tier­te. Das schür­te Äng­ste und Sehn­süch­te.

„Na­tür­lich war die In­stant Ci­ty als rea­lis­ti­sches Pro­jekt ge­dacht“, sagt Pe­ter Cook, Ur­he­ber der Fer­tigs­tadt, zum STAN­DARD . „Ich ha­be mich nie für Scien­ce-Fic­ti­on in­te­res­siert. Sie mö­gen das für naiv hal­ten, doch die­se Welt, Sie kön­nen sie nen­nen, wie Sie wol­len, war da­mals mei­ne Rea­li­tät.“

Ge­mein­sam mit Da­vid Gree­ne, Ron Her­ron, War­ren Chalk, Mi­cha­el Webb und Den­nis Cromp­ton ar­beit­ete Cook da­mals an der Re­or­ga­ni­sa­ti­on der Welt. Un­ter dem Na­men Ar­chig­ram – der Be­griff ist ei­ne Wort­ver­schmel­zung aus „ar­chi­tec­tu­re“ und „te­le­gram“ – ent­stan­den von 1961 bis 1974 Pro­jek­te, Kon­zep­te und zahl­rei­che Pu­bli­ka­tio­nen. „Wir wa­ren da­von über­zeugt, dass die­se Zu­kunft rea­lis­tisch ist“, blickt der heu­te 80-jäh­ri­ge Lon­do­ner Ar­chi­tekt des Kunst­hau­ses Graz und des In­sti­tuts­ge­bäu­des auf dem Wie­ner WU-Cam­pus, zu­rück. „Lei­der ha­ben wir als Ar­chig­ram nie et­was in die Rea­li­tät um­ge­setzt. Wie gern hät­te ich das al­les ge­baut!“

Die In­stant Ci­ty ist, als ei­nes von knapp 90 Ex­po­na­ten, zur­zeit im Deut­schen Ar­chi­tek­turm­useum (DAM) in Frank­furt zu se­hen. Un­ter dem Ti­tel Zu­kunft von ge­stern wer­den die vi­sio­nä­ren Ent­wür­fe der bei­den Lon­do­ner Bü­ros Ar­chig­ram und Fu­tu­re Sys­tems ein­an­der ge­gen­über­ge­stellt. Da­run­ter fin­den sich auch vie­le Pro­jek­te, die nur ein­ge­fleisch­ten Fans und Ar­chi­tek­tur­pro­fis be­kannt wa­ren.

„In den Ent­wür­fen von Ar­chig­ram spiegelt sich die ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Ent­wi­cklung der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts wi­der“, sagt der Po­li­to­lo­ge und Aus­stel­lungs­ku­ra­tor Phi­lipp Sturm. „Da­her sind die Ar­bei­ten, auch wenn sie nie­mals rea­li­siert wur­den, für die Ar­chi­tek­tur­ge­schich­te von gro­ßer Be­deu­tung.“ Nicht nur das Fern­se­hen, auch die Er­obe­rung des Welt­raums, des Mon­des und der bis­lang kaum er­schloss­enen Ge­bie­te der Er­de, die auf­kom­men­de Pop­kul­tur, das Swin­ging Lon­don, die Er­rich­tung der Ber­li­ner Mau­er und des Ei­ser­nen Vor­hangs so­wie der lang an­dau­ern­de Kal­te Krieg ha­ben die Ar­beit von Ar­chig­ram ge­prägt.

Ant­wort auf den Kal­ten Krieg

Wal­king Ci­ty et­wa, ein Pro­jekt aus dem Jahr 1964, kann als Ant­wort auf die Zers­tö­rung der Er­de durch Um­welt­ver­schmut­zung und atom­are Ver­seu­chung ver­stan­den wer­den. Wie ein rie­si­ges In­sekt be­wegt sich ei­ne 50-stö­cki­ge Stadt durch Was­ser, Wü­ste und ewi­ges Eis. Auch Oa­sis , Air Hab , Cap­su­le To­wer , Un­der­wa­ter Ci­ty und Self De­struct En­vi­ron Po­le ge­ben Ein­blick in die me­dia­len The­men und in die Stim­mung der Sech­zi­ger- und Sieb­zi­ger­jah­re. „Un­be­wohn­bar ge­wor­de­ne Or­te wa­ren wäh­rend des Kal­ten Krie­ges ei­ne la­ten­te Ge­fahr“, sagt Pe­ter Cook. „Die neu­en Wohn- und Le­bens­mo­del­le wa­ren un­se­re Ant­wort da­rauf.“

Wäh­rend Ar­chig­ram mit sei­nen Me­gast­ruk­tu­ren ei­nem fast schon fa­ta­lis­ti­schen tech­ni­schen Fort­schritt hul­dig­te, be­schäf­tig­te sich Fu­tu­re Sys­tems mit In­ter­ven­tio­nen in meist klei­nem Maß­stab. Der aus der Tsche­chos­lo­wa­kei stam­men­de und 2009 ver­stor­be­ne Emig­rant Jan Ka­plický ar­beit­ete zu­nächst für Ren­zo Pia­no und Ri­chard Ro­gers und wirk­te maß­ge­blich am Ent­wurf des Cen­tre Pom­pi­dou in Pa­ris mit. 1979 grün­de­te er das Lon­do­ner Bü­ro Fu­tu­re Sys­tems, das er zu­nächst mit Da­vid Ni­xon, spä­ter mit sei­ner Le­bens­ge­fähr­tin Aman­da Le­ve­te lei­te­te.

„Un­se­re Ar­beit leb­te von der Ge­gen­wart und vom Mo­ment“, blickt Aman­da Le­ve­te zu­rück. „Das Span­nen­de war, ge­gen die Pro­ble­me da drau­ßen an­zu­kämp­fen und sie zu über­win­den.“ Zu den viel­leicht ty­pisch­sten Ent­wür­fen von Fu­tu­re Sys­tems zäh­len Bub­ble , Ve­hic­le , Une pe­ti­te mai­son und Haus für ei­nen He­li­kop­ter­pi­lo­ten . Im­mer wie­der wer­den klei­ne fu­tu­ris­ti­sche Fremd­kör­per – fast schon mit ei­ner Lie­be zum Schock – in wun­der­schö­ne, meist un­be­rühr­te Land­schaf­ten hin­ein­ge­setzt. Im Pea­nut , ei­ner erd­nuss­för­mi­gen Wohn­ka­bi­ne für zwei Per­so­nen, kann man sich, um dem All­tag im Kal­ten Krieg für ei­nen Au­gen­blick zu ent­kom­men, auf ei­nem hy­drau­li­schen Arm in die Luft hie­ven las­sen. Die Col­la­gen drü­cken die Sehn­sucht nach ei­ner Zu­kunft aus, die nie kom­men woll­te.

Doch sie kam. 1994 bau­te Fu­tu­re Sys­tems die Floa­ting Brid­ge in Lon­don, 1999 das Me­dia Cen­tre auf dem Lon­do­ner Lord’s Cri­cket Ground und 2003 das Sel­frid­ges-Kauf­haus in Bir­ming­ham. Das war der Hö­he­punkt der Blob-Ar­chi­tek­tur. „Jan hat es nicht aus­ge­hal­ten, die ech­ten Bau­ten zu be­sich­ti­gen. Bei der Er­öff­nung von Sel­frid­ges ist er ge­flo­hen, weil das fer­ti­ge Bau­werk nicht so pur war wie der Ori­gi­na­lent­wurf“, er­in­nert sich Aman­da Le­ve­te. „Jan wä­re glü­cklich ge­we­sen oh­ne Bau­en. Er wuss­te, dass er sei­nen Platz in der Ge­schich­te si­cher hat­te durch sei­ne Zeich­nun­gen.“

Die Aus­stel­lung im DAM lässt den Er­wachs­enen noch ein­mal Kind sein. „Die Wer­ke von Fu­tu­re Sys­tems ha­ben et­was Kind­haf­tes“, so Ku­ra­tor Sturm. „Sie bie­ten der Fan­ta­sie viel Raum und zei­gen ein Den­ken jen­seits al­ler Kon­ven­tio­nen.“ Nicht zu­letzt neh­men die Zeich­nun­gen, Col­la­gen und Mo­del­le vor­weg, was im Au­to­mo­bil­bau, in der Luft- und Raum­fahrt, auf Öl­bohr­platt­for­men und in For­schungs­sta­tio­nen in der An­tark­tis längst Rea­li­tät ge­wor­den ist.

Ge­nau das, meint Pe­ter Cook, ma­che die Ar­beit von Fu­tu­re Sys­tems und Ar­chig­ram auch heu­te noch so wert­voll. „Wir ha­ben ex­pe­ri­men­tiert, uns aus­ge­tobt frei von al­len Hem­mun­gen. Wir wa­ren zwar ge­fes­selt in un­se­ren Ängs­ten und Emo­tio­nen, aber im Kopf, da wa­ren wir frei. Die­ses One-Way Ti­cket in die Zu­kunft ver­mis­se ich heu­te. Wir ha­ben be­schlos­sen, in der Ge­gen­wart blei­ben zu wol­len. Das ist trau­rig.“

Der Standard, Sa., 2016.08.13

06. August 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Neues Nationalmuseum Schweiz: Ein Knick ist kein Klacks

Am Montag wurde in Zürich das Schweizerische Nationalmuseum eröffnet. Die Architekten Christ & Gantenbein spielen im spektakulären Erweiterungsbau mit der Geschichte. Da kann man sich was abschauen

Am Montag wurde in Zürich das Schweizerische Nationalmuseum eröffnet. Die Architekten Christ & Gantenbein spielen im spektakulären Erweiterungsbau mit der Geschichte. Da kann man sich was abschauen

Nackte Betonwände. Alles ist kühl und grau. Fast so, als hätte das Museum alle Farbnuancen, alles Prächtige zwischen Gelb und Violett, aufgesaugt wie ein schwarzes Loch. Doch plötzlich hängt ein Renaissancebild an der Wand, eine Votivtafel von Paul Lautensack dem Älteren. Es zeigt ein Schiff in Seenot, dramatisches Gewitter, ein Christuskind über dem Wolkenband. Die Farben leuchten kräftig und lebendig in den Raum hinein.

„Man würde vermuten, dass Beton und kunsthistorische Artefakte nicht wirklich gut zusammengehen“, sagt Heidi Amrein, Chefkuratorin im Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich. „Aber das Gegenteil ist der Fall. Die massiven Betonwände mit ihren sprechenden Schatten und Spuren der Holzverschalung sind ein wunderbarer Untergrund für unsere Exponate. Eine kühle, minimalistische White Box, wie sich das manche gewünscht hätten, wäre an dieser Stelle absolut kleingeistig und popelig gewesen.“

Nur we­ni­ge Me­ter wei­ter ste­hen auf ei­nem So­ckel, hoch über den Köp­fen der Be­su­cher, der ge­flü­gel­te Mer­kur von Gi­am­bo­log­na aus dem Jahr 1600 so­wie ei­ne mehr als 500 Jah­re al­te Ma­don­na mit Kind. Über den zar­ten Kon­tu­ren der bei­den Sta­tu­et­ten of­fen­ba­ren sich Bli­cke auf Lüf­tungs­ka­nä­le, Kli­ma­ge­rä­te, Ka­bel­tas­sen, Schein­wer­fer und adams­kos­tü­mier­te Sprink­ler.

„Der Ver­lauf der Ge­schich­te ist nie et­was Li­nea­res“, sagt Ar­chi­tekt Ema­nu­el Christ. „Und Evo­lu­ti­on konn­te im­mer auch des­halb nur statt­fin­den, weil man das ge­stern Ge­mach­te zwar als Vor­bild her­ge­nom­men, da­mit aber ir­gend­wie auch ziem­lich bru­tal um­ge­gan­gen ist. Sonst hät­te sich wohl nie et­was ge­än­dert auf die­ser Welt. So ge­se­hen fü­gen wir uns ganz be­wusst und wahn­sin­nig ger­ne in die Tra­di­ti­on des ge­schicht­li­chen Ver­laufs.“

Fast 15 Jah­re hat­te die lau­ni­sche Ent­ste­hungs­ge­schich­te die­ses Hau­ses ge­dau­ert. Ver­gan­ge­nen Mon­tag schließ­lich, recht­zei­tig zum Schwei­zer Na­tio­nal­fei­er­tag, konn­te der 7000 Qua­drat­me­ter gro­ße Zu­bau von Christ & Gan­ten­bein Ar­chi­tek­ten fei­er­lich er­öff­net wer­den. 23.000 Be­su­cher folg­ten der Ein­la­dung, das ex­pres­sio­nis­ti­sche Be­ton­we­sen mit sei­nen mehr als 80 Zen­ti­me­ter di­cken Wän­den erst­mals zu be­tre­ten.

Als Bun­des­rat, Di­rek­tor, Ar­chi­tek­ten und Ku­ra­to­rin­nen im­mer wie­der von „emo­tio­na­len Mo­men­ten“ spra­chen und ein­an­der – ganz in eid­ge­nös­si­scher Ma­nier – mit Dank und Wert­schät­zung über­bo­ten, schien der Hor­ror der Ge­ne­se längst ver­ges­sen und ver­drängt. Dem 2001 aus­ge­schrie­be­nen, eu­ro­pa­wei­ten Wett­be­werb näm­lich, aus dem das da­mals noch blut­jun­ge Ba­se­ler Bü­ro Christ & Gan­ten­bein als Sie­ger her­vor­ge­gan­gen war, folg­te ein jah­re­lan­ger Kampf mit Fi­nanz­kri­se, Volks­ent­schei­den und bun­des­ge­richt­li­chen Pro­zes­sen.

Be­ton­cock­tail mit Tuff

„Ein Na­tio­nal­mu­se­um ist kein Klacks“, er­in­nert sich Ar­chi­tekt Christ. „Plötz­lich steht man mit­ten in Zü­rich, sieht sein ei­ge­nes Por­trät­fo­to auf Pla­ka­ten und merkt, dass man zum po­li­ti­schen The­ma ge­wor­den ist.“ Am En­de ließ man gar die Zür­cher Stadt­be­völ­ke­rung ent­schei­den, ob die Stadt die Kre­di­te für den ge­plan­ten Zu­bau auf­neh­men sol­le oder nicht. Die Ant­wort steht nun, un­über­seh­bar, an der Rück­sei­te des 1898 von Gus­tav Gull er­rich­te­ten Alt­baus zwi­schen Platz­spitz­park und den bei­den Flüs­sen Lim­mat und Sihl.

Wie ei­ne Trutz­burg aus Be­ton blickt das grau­brau­ne Be­ton­ge­bil­de hin­ter den dicht ge­wachs­enen Baum­grup­pen her­vor. Die Far­be der mit Was­ser­strahl ge­stock­ten Ober­flä­che er­gibt sich aus der be­son­de­ren Be­ton­mi­schung. Die Re­zep­tur orien­tiert sich an den bei­den Ma­te­ria­li­en, mit de­nen auch das Gull-Haus vor mehr als 100 Jah­ren er­baut wur­de: Kalk­stein und Tuff. Ein gan­zes Jahr lang dau­er­ten die Ex­pe­ri­men­te und Tests mit dem Tuff­stein, der noch nie zu­vor in ei­nem Be­ton­cock­tail ver­wen­det wur­de.

Doch dann, kaum ist man ein paar Schrit­te ge­gan­gen, ver­än­dert sich die Per­spek­ti­ve des eben noch schwe­ren Baus. Als hät­te das Chris­tus­kind aus dem Re­nais­san­ce­bild, hoch oben in den Wol­ken sit­zend, das Bau­werk an ei­nem durch­sich­ti­gen Fa­den nach oben ge­zo­gen, löst sich das Mu­se­um schein­bar schwe­re­los vom Bo­den. Un­ter dem zehn Me­ter ho­hen Knick er­gibt sich ein ge­deck­ter Frei­platz mit Durch­bli­cken und öf­fent­li­chen Spa­zier­we­gen.

„Die Kon­tur des Hau­ses ist ei­ne Fort­füh­rung all der Er­ker, Tür­me und wild ver­schach­tel­ten Gie­bel des his­to­ris­ti­schen Gull-Baus“, er­klärt Pro­jekt­lei­tern Mo­na Fa­rag. „Das ist zwar ei­ne sehr freie In­ter­pre­ta­ti­on, aber den­noch ent­steht so et­was wie ein Dia­log aus Alt und Neu.“ Leicht zu be­werks­tel­li­gen war die­ser Ge­sprächs­auf­bau aber nicht. Im Fun­da­ment des Hau­ses, das als räum­li­ches Trag­werk kon­zi­piert ist, ver­lau­fen hun­der­te Stahl­sei­le, die das fla­che Drei­eck zu­sam­men­zie­hen. „An­sons­ten wür­de der ge­knick­te Be­ton­bo­gen wie bei ei­ner Grät­sche in sich zu­sam­men­sa­cken.“

Ge­heizt wird mit Fern­wär­me, ge­kühlt mit dem Was­ser aus den bei­den be­nach­bar­ten Flüs­sen. Der Licht­ein­trag wird ge­ring ge­hal­ten. Bloß ein paar run­de Bul­lau­gen, die mit­tels Kern­boh­rung in die Wand hin­ein­ge­fräst wur­den, ge­ben den Be­su­che­rin­nen und Be­su­chern ab und zu Orien­tie­rung und Aus­blick in Park, oh­ne dass da­bei all­zu viel Ta­ges­licht auf die meist sehr sen­si­blen Ex­po­na­te fällt.

Ant­wort auf die Ge­schich­te

Dank den öko­lo­gi­schen und emis­si­ons­frei­en Ma­te­ria­li­en, die hier zum Ein­satz ka­men, er­reicht das Mu­se­um den Öko-Stan­dard Mi­ner­gie-P-Eco, was in Ös­ter­reich in et­wa ei­nem gu­ten Pass­iv­haus mit Kli­ma-ak­tiv-Zer­ti­fi­kat ent­spre­chen wür­de. 111 Mil­lio­nen Schwei­zer Fran­ken (rund 103 Mil­lio­nen Eu­ro) ließ man sich den Neu­bau mit Aus­stel­lungs­flä­chen, Bi­blio­thek und ge­ne­ral­sa­nier­tem, his­to­ri­schem Foy­er kos­ten.

„Doch das Wich­tigs­te ist die Funk­tio­na­li­tät die­ses Hau­ses“, sagt Chef­ku­ra­to­rin Am­rein. „Wir woll­ten ei­ne fle­xi­ble, frei be­spiel­ba­re Hal­le, und die ha­ben wir be­kom­men. Dass sie nicht so aus­schaut wie ei­ne Kis­te und wie wir uns das halt so vor­stel­len, ist der Fä­hig­keit der Ar­chi­tek­ten zu ver­dan­ken, die es ge­schafft ha­ben, die Ge­schich­te zu ver­ste­hen und da­rauf ei­ne Ant­wort zu ge­ben.“ Bis zu zwei Ton­nen schwe­re Ex­po­na­te kön­nen von der De­cke ab­ge­hängt wer­den. Im­mer wie­der blitzt ei­ne Zeich­nung oder ein Ge­mäl­de auf, das per Licht an die nack­te Be­ton­wand pro­ji­ziert wird.

Fra­ge an den Ar­chi­tek­ten: Wä­re so ein Bau auch in ei­nem an­de­ren Land mög­lich? „Nein, wahr­schein­lich nicht. Ich den­ke schon, dass wir Schwei­zer ei­ne ge­wis­se Auf­trag­ge­ber- und Be­stell­qua­li­tät ha­ben, dass wir wis­sen, was wir wol­len, und dass wir auch wis­sen, dass das, was wir wol­len, ei­nen Preis hat.“ 111 Mil­lio­nen Fran­ken sei­en zwar viel Geld, aber auf viel­leicht 100, 200, 300 Jah­re auf­ge­teilt, so Christ, viel­leicht auch wie­der nicht.

„Wis­sen Sie, wir le­ben in ei­ner Zeit und in ei­ner Ge­sell­schaft, die von kom­mer­ziel­len In­ves­to­ren be­herrscht und von ei­ner Scheiß-Weg­werf­men­ta­li­tät ge­prägt ist. Da­ge­gen wol­len wir an­kämp­fen.“ Das Re­nais­san­ce-Vo­tiv­bild mit dem Chris­tus­kind über den Wol­ken stammt aus dem Jahr 1511. Es zeigt ein Schiff in See­not, knapp vor dem Un­ter­gang des Abend­lan­des.

Der Standard, Sa., 2016.08.06



verknüpfte Bauwerke
Schweizerisches Landesmuseum - Erweiterung

30. Juli 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Der Ar­chi­tekt als Schirm­herr

Die heu­ri­ge Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le in Ve­ne­dig steht un­ter dem Mot­to „Re­por­ting from the Front“. Der Ös­ter­reich-Bei­trag spielt sich tat­säch­lich di­rekt vor Ort ab, und zwar in drei Flücht­lings­hei­men und Not­quar­tie­ren in Wien. Ein Lo­ka­lau­gen­schein.

Die heu­ri­ge Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le in Ve­ne­dig steht un­ter dem Mot­to „Re­por­ting from the Front“. Der Ös­ter­reich-Bei­trag spielt sich tat­säch­lich di­rekt vor Ort ab, und zwar in drei Flücht­lings­hei­men und Not­quar­tie­ren in Wien. Ein Lo­ka­lau­gen­schein.

Wann kom­men die Com­pu­ter?“ Ei­ne Hor­de Kids um­zin­gelt den Lei­ter des Not­quar­tiers in der Pfeif­fer­gas­se und fragt ihm Lö­cher in den Bauch. „Und wann wer­den die Com­pu­ter ans WLAN an­ge­schlos­sen? Wann, wann, wann?“ Kur­ze Pau­se. „Was? Erst mor­gen? Wa­rum erst mor­gen?“ Kur­ze Pau­se. „Ah, mor­gen früh schon! Ju­huuu!“ Und weg sind sie, ver­schwun­den hin­ter me­ter­wei­se Stoff, um die fro­he Bot­schaft un­ter den rund 260 Be­wohn­er­in­nen und Be­wohn­ern im Haus zu ver­brei­ten.

Das Ca­ri­tas-Not­quar­tier für Flücht­lin­ge war einst ein ganz nor­ma­les Bü­ro­haus im 15. Wie­ner Ge­mein­de­be­zirk, ei­ne Trutz­burg mit Wasch­be­ton­fas­sa­de und nie­dri­ger Raum­hö­he, er­rich­tet zu Be­ginn der Neun­zi­ger­jah­re. Nun wird das Haus bis Jah­re­sen­de von Flücht­lin­gen aus Sy­rien, Af­gha­nis­tan, Iran und dem Irak be­wohnt. Ein Teil der nun­mehr un­ter dem Son­nen­schirm Schla­fen­den stammt auch aus Ne­pal, Tschet­sche­nien, Tad­schi­kis­tan.

Das Pro­jekt geht auf ei­ne Ini­tia­ti­ve der dies­jäh­ri­gen Bien­na­le-Kom­mis­sä­rin El­ke De­lu­gan-Meissl zu­rück. An­statt das Bud­get für den ös­ter­rei­chi­schen Bei­trag wie sonst üb­lich in Ve­ne­dig aus­zu­ge­ben, ent­schied sich die mit dem Ös­ter­rei­chi­schen Staats­preis aus­ge­zeich­ne­te Ar­chi­tek­tin, das Geld dies­mal in Wien zu be­las­sen und für drin­gend be­nö­tig­te Flücht­lings­pro­jek­te zu nut­zen.

Un­ter dem Ti­tel „Or­te für Men­schen“ sind rea­le, sinn­vol­le und voll funk­ti­ons­taug­li­che Le­bens­or­te für Men­schen ent­stan­den. Ge­mein­sam mit den Ar­chi­tek­ten Ca­ra­mel und The Next Ent­er­pri­se so­wie dem Wie­ner De­si­gnbü­ro Eoos wur­den drei leer ste­hen­de Bü­ro­bau­ten rund um die In­nens­tadt aus­fin­dig ge­macht und mit di­ver­sen Ein­bau­ten, Im­plan­ta­ten und bau­li­chen Adap­tie­run­gen ver­se­hen.

Zum Bei­spiel mit knall­grü­nen Son­nen­schir­men wie im Fall von Ca­ra­mel. Mit Stoff­bah­nen, die zu ki­lo­me­ter­lan­gen Vor­hän­gen zu­sam­men­ge­näht wur­den, mit bil­li­gen PVC-Ab­was­ser­roh­ren, die nun von der De­cke baum­eln und als Gar­di­nen­stan­ge die­nen, mit Stoff­ta­schen für Topf­blu­men, mit klei­nen Le­se­lam­pen, mit ei­ge­ner Steck­do­se zum Auf­la­den des iPho­nes so­wie mit tau­sen­den, ja aber­tau­sen­den Ka­bel­bin­dern.

Die­ses so ge­schaf­fe­ne ab­so­lu­te Mi­ni­mum an Wohn­kom­fort soll von den Grau­sam­kei­ten der po­li­ti­schen Si­tua­ti­on ab­len­ken und das War­ten auf den Asyl­be­scheid et­was schö­ner, et­was men­schen­wür­di­ger ma­chen.

„Ich fin­de die Son­nen­schir­me und Vor­hän­ge sehr lus­tig“, sagt Mar­zir Kho­we­ri. Die 20-jäh­ri­ge Fri­seu­rin ist aus Af­gha­nis­tan ge­flüch­tet und hat sich an der Nä­hak­ti­on tat­kräf­tig be­tei­ligt. „Zwei gan­ze Mo­na­te ha­ben wir da­ran ge­näht! Aber zu­min­dest kön­nen wir die gro­ßen Bü­ro­räu­me jetzt wie ei­ne klei­ne Woh­nung nut­zen. Mit Wohn­be­reich, mit Schlaf­zim­mer und mit ei­gens ab­ge­trenn­ten, un­ter­schied­li­chen Zo­nen für die Kin­der. So hat je­der von uns ein biss­chen Pri­vat­sphä­re.“ Nicht sel­ten wer­den die Roh­re und Schir­me zwe­ckent­frem­det und als Wä­sche­lei­ne, Wä­sche­spin­ne ge­nutzt. Al­les ist mög­lich.

Ein Hauch von Wohn­zim­mer

Ge­nau das sei der Plan ge­we­sen, meint Gün­ter Kat­herl von Ca­ra­mel. „Die Si­tua­ti­on in ei­nem Not­quar­tier ist bru­tal, weil es in der Re­gel da­rum geht, Grund­rech­te zur Ver­fü­gung zu stel­len und den Men­schen ei­nen Platz zum Es­sen und zum Schla­fen zu ge­ben. Für Schön­heit und Wohn­kom­fort ist meist kein Platz. Wir woll­ten ge­nau das nach­ho­len. Wir woll­ten den Men­schen ei­nen Hauch von Wohn­zim­mer­ge­fühl ver­mit­teln.“

Of­fen­bar mit Er­folg. Es wird ge­spielt, ge­le­sen, ge­ges­sen, ge­schla­fen und ge­schnarcht. Man hört al­les, was der bil­li­gen, text­ilen Bau­wei­se (50 Eu­ro Ma­te­ri­al­kos­ten pro Raum) ge­schul­det ist, doch man sieht nie mehr als sei­nen ei­ge­nen Pri­vat­be­reich.

„Wis­sen Sie, hier zu sein, mit­an­zu­pa­cken und die­se Zim­mer mit­ge­stal­ten zu kön­nen ist ein Ge­schenk“, sagt Amir Has­san Schah­ri­war. Der 48-jäh­ri­ge Ma­ler, Tisch­ler und In­stal­la­teur stammt aus Te­he­ran. Sei­ne Fa­mi­lie soll nach­kom­men, so­bald der po­si­ti­ve Asyl­be­scheid vor­liegt. „Mei­ne ak­tu­el­le Le­bens­si­tua­ti­on ist, wie sie ist. Aber jetzt ist das mein Zu­hau­se, zu­min­dest für die näch­sten Wo­chen und Mo­na­te. Und in ei­nem Zu­hau­se soll man es schön ha­ben.“

Orts­wech­sel. In Wien-Erd­berg ste­hen jun­ge Män­ner mit Koch­löf­fel in der Hand rund um ei­nen frei ste­hen­den Kü­chen­block aus knall­gel­ben Scha­lungs­ta­feln. Das Ma­te­ri­al­spon­so­ring des Markt­füh­rers Do­ka ist evi­dent. Der Do-it-your­self-Aspekt der durch­aus schön pro­por­tio­nier­ten Mö­bel eben­so.

„Die Idee war, kei­ne Stan­gen­wa­ren aus dem Ka­ta­log oder dem Mö­bel­markt zu kau­fen, son­dern die Be­wohn­er­in­nen und Be­woh­ner in den Fer­ti­gungs­pro­zess mit­ein­zu­be­zie­hen“, sagt Ha­rald Gründl von Eoos. „Da­her ha­ben wir di­rekt im Haus ei­ne Mö­bel­werks­tatt auf­ge­baut, in der die Be­woh­ner nun selbst ih­re Ho­cker, Stüh­le, Ti­sche und Kü­chen­mö­bel bau­en.“

Bis­her wur­den in Erd­berg drei Kü­chen so­wie ei­ni­ge Hun­dert Mö­bel­stü­cke für die pri­va­ten Wohn- und Schlaf­zim­mer her­ge­stellt. Bis Jah­re­sen­de soll das Port­fo­lio auf ins­ge­samt 30 Kü­chen auf­ge­stockt wer­den. Au­ßer­dem soll das 21.000 Qua­drat­me­ter gro­ße und für ins­ge­samt 600 Be­woh­ner di­men­sio­nier­te Flücht­lings­heim – die Miet­ver­trä­ge lau­fen bis 2030 – bis Jah­re­sen­de bau­lich adap­tiert wer­den.

Die Ent­de­ckung des So­zia­len

Der drit­te und letz­te Bien­na­le-Streich fin­det sich auf dem ehe­ma­li­gen Sie­mens-Are­al in Fa­vor­iten. Wäh­rend ein Teil des Ge­bäu­des be­reits vom AMS für Schu­lungs­zwe­cke ge­nutzt wird, ent­steht auf zwei Eta­gen ein Wohn­heim für Flücht­lin­ge und Stu­die­ren­de. Die Kom­bi­na­ti­on ist neu. The Next Ent­er­pri­se ent­warf mo­bi­le Raum­mo­du­le, die auf we­ni­gen Qua­drat­me­tern sämt­li­che Funk­tio­nen des pri­va­ten Woh­nens ver­ei­nen. Kom­men­de Wo­che star­tet die Be­sie­de­lung.

Der heu­ri­ge ös­ter­rei­chi­sche Bien­na­le-Bei­trag ist un­ge­wöhn­lich und setzt auf ei­nem ver­hält­nis­mä­ßig tie­fen Le­vel an. Mit Ver­laub, das ar­chi­tek­to­ni­sche Ni­veau war schon mal hö­her. Mit Schir­men, Scha­lungs­ta­feln und klapp­ba­ren Schrank­bet­ten wird man kei­nen Pritz­ker-Preis ge­win­nen kön­nen. Aber da­rum geht es nicht. Das ist nicht der Punkt. Es geht um ein Be­kennt­nis zur Soft­wa­re­qua­li­tät, zur Ent­de­ckung und Ent­wi­cklung der so­zia­len Kom­po­nen­te.

„Ge­ra­de in schwie­ri­gen Le­bens­la­gen wie et­wa in Zei­ten der Flucht und Neu­ori­ent­ie­rung ist es wich­tig, den Men­schen Hand­lungs­spiel­räu­me für kul­tu­rel­le Co­des und kol­lek­ti­ve Ri­tua­le zu er­öff­nen“, sagt die deut­sche So­zio­lo­gin Ya­na Mi­lev. „Da­zu zäh­len Re­li­gi­on, Mu­sik, Tausch­ge­schäf­te, Dienst­leis­tun­gen so­wie Zu­gang zu di­gi­ta­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­dien. Die Pfle­ge der Kul­tur, die Auf­recht­er­hal­tung ei­nes ge­wis­sen All­tags macht die Men­schen psy­chisch im­mun. Und sie sorgt da­für, dass die Men­schen nach ein paar Wo­chen nicht durch­dre­hen und sich nicht ge­gen­sei­tig um­brin­gen.“

Be­such aus al­ler Welt

Das Kon­zept scheint auf­zu­ge­hen. „Pri­vat­sphä­re ist wich­tig, für je­den Ein­zel­nen von uns, und um­so mehr in heik­len, pre­kä­ren Si­tua­tio­nen“, sagt Fay­ad Mul­la-Kha­lil, Lei­ter des Not­quar­tiers Pfeif­fer­gas­se, der Mann mit dem WLAN. „Die Bien­na­le war ein gu­tes und wich­ti­ges Zug­pferd, um ge­nau da­rauf auf ei­ner brei­ten me­dia­len Ebe­ne auf­merk­sam zu ma­chen. Es gibt ein rie­si­ges In­te­res­se. Wie oft kommt es schon vor, dass Jour­na­lis­ten aus al­ler Welt nach Wien kom­men, um sich ein al­tes Bü­ro­haus mit Son­nen­schir­men aus dem Bau­markt an­zu­se­hen?“

Der Standard, Sa., 2016.07.30

23. Juli 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Zu Hau­se hin­term Vor­hang

1964 hat er Ös­ter­reich ver­las­sen. In den USA wur­de er zu ei­nem der be­kann­tes­ten Ar­chi­tek­ten der Welt. Dem Ost­ti­ro­ler Rai­mund Ab­ra­ham wid­met das Schloss Bruck in Lienz nun ei­ne Aus­stel­lung.

1964 hat er Ös­ter­reich ver­las­sen. In den USA wur­de er zu ei­nem der be­kann­tes­ten Ar­chi­tek­ten der Welt. Dem Ost­ti­ro­ler Rai­mund Ab­ra­ham wid­met das Schloss Bruck in Lienz nun ei­ne Aus­stel­lung.

Ich ha­be vie­le Pro­jek­te ge­macht, die ich gar nicht bau­en will“, sagt Rai­mund Ab­ra­ham, schwar­zer Hut, ro­ter Schal, die Zi­gar­re in der Hand. „Über­haupt bin ich der Mei­nung, dass Ar­chi­tek­tur nicht un­be­dingt ge­baut wer­den muss. Pa­pier, Bleis­tift und die Sehn­sucht nach dem Raum rei­chen voll­kom­men aus, um Ar­chi­tek­tur zu ma­chen. Das Bau­en ist ei­gent­lich nur der letz­te Schritt im Pro­zess, das Ge­zeich­ne­te zu über­set­zen und die phy­si­sche Be­nutz­bar­keit und Be­wohn­bar­keit zu er­mög­li­chen.“

Rai­mund Ab­ra­ham, 1933 in Lienz ge­bo­ren, ge­hört zu den wich­tigs­ten ös­ter­rei­chi­schen Ar­chi­tek­ten des 20. Jahr­hun­derts. Ge­mein­sam mit Ri­chard Neu­tra, Ru­dolf M. Schind­ler und Fried­rich Kies­ler zählt er zu je­ner Ge­ne­ra­ti­on, die Ös­ter­reich den Rü­cken kehr­te, um im Ame­ri­ka der Sech­zi­ger­jah­re das nach­zu­ho­len, was hier­zu­lan­de nicht oder nur be­dingt ge­lun­gen war – sich ei­ne Exis­tenz auf­zu­bau­en, sich ei­nen Na­men zu ma­chen, ei­nen welt­be­kann­ten so­gar.

Dem gries­grä­mi­gen Ost­ti­ro­ler, der mit kri­ti­schen Au­gen durchs Le­ben lief und nicht sel­ten die Welt und Ar­chi­tek­ten­schaft be­schim­pfte und ver­fluch­te, wid­met das Lien­zer Mu­se­um im Schloss Bruck nun ei­ne Aus­stel­lung, die sich nicht nur auf Ab­ra­hams ge­bau­tes Werk, son­dern auch auf sei­ne Zeich­nun­gen, Mo­del­le und ide­al­ty­pi­schen, ja fast uto­pi­schen Ent­wür­fe und Wett­be­werbs­bei­trä­ge der Sieb­zi­ger- und Acht­zi­ger­jah­re kon­zen­triert. Back Ho­me , so der Ti­tel der Schau, ist die er­ste Aus­stel­lung seit Ab­ra­hams Tod im Jahr 2010. Sie ent­stand in Ko­ope­ra­ti­on mit dem Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (AzW), das auch die rund 60 Ex­po­na­te aus Ab­ra­hams kürz­lich auf­ge­ar­beit­etem Nach­lass bei­steu­er­te.

„Ich ging mit Mun­di ge­mein­sam zur Schu­le, er war fünf Jah­re äl­ter“, er­zählt Wil­helm Ber­nard, Freund und lang­jäh­ri­ger Weg­be­glei­ter des Ar­chi­tek­ten, der bei der Aus­stel­lungs­er­öff­nung letz­te Wo­che ein paar Mi­nu­ten in die Ver­gan­gen­heit schweif­te. „Er hat viel ge­schimpft, er hat vie­les nicht aus­ge­hal­ten, und bei sei­nem be­rühmt­es­ten Pro­jekt, dem Aus­tri­an Cul­tu­ral Fo­rum in New York (AC­FNY), hat er den Bau so­gar kurz­fri­stig ge­stoppt, weil er mit der Qua­li­tät des Be­tons der New Yor­ker Bau­fir­men nicht zu­frie­den war. Ein Bau­stopp mit­ten in New York, das muss man sich ein­mal vor­stel­len!“

Akri­bisch und kom­pro­miss­los

Hin­ter der Un­zu­frie­den­heit und un­ent­weg­ten Ver­biss­en­heit Ab­ra­hams je­doch steck­te ei­ne De­tail­lie­be bis zum letz­ten Mil­li­me­ter. „Ich ha­be nie zu­vor je­man­den ge­trof­fen, der so ge­nau, so akri­bisch, so kom­pro­miss­los an das Bau­en her­an­ging wie er“, er­in­nert sich Ber­nard. „Die Bau­ar­bei­ter und Hand­wer­ker ha­ben ihn ge­liebt, weil er es ver­stand, mit ih­nen zu kom­mu­ni­zie­ren. Und gleich­zei­tig ha­ben sie ihn ver­teu­felt, weil er nicht ein­mal den ge­ring­sten Feh­ler dul­de­te und vie­le De­tails dut­zen­de Ma­le um­plan­te und be­reits Ge­bau­tes im­mer wie­der um­bau­en ließ.“

Sei­ne er­sten bei­den Ein­fa­mi­li­en­häu­ser – da­run­ter das Haus Pless in Wien so­wie das Haus für den Salz­bur­ger Fo­to­gra­fen Jo­sef Da­pra – ent­stan­den An­fang der Sech­zi­ger­jah­re, als Ab­ra­ham noch in Wien leb­te. Die Kom­mu­ni­ka­ti­on vor Ort war ei­ne ein­fa­che. Als das Haus Del­la­cher in Ober­wart er­rich­tet wur­de, weil­te Ab­ra­ham je­doch be­reits in den USA. Der Le­gen­de nach schick­te er die De­tails und De­tail­kor­rek­tu­ren per Post. Manch­mal so­gar täg­lich. Beim Haus Ber­nard Lanz in Ti­rol (1985) und bei der mitt­ler­wei­le denk­mal­ge­schütz­ten Hy­po-Bank am Lien­zer Haupt­platz (1996) wur­den die per Hand ge­zeich­ne­ten und oft mehr­mals ko­pier­ten und er­gänz­ten De­tail­plä­ne und De­tail­plan­kor­rek­tu­ren be­reits per Fax über­mit­telt. Und das Fax, er­zählt man sich, das krach­te und druck­te in ei­ner Tour fort.

„Ab­ra­ham hat ger­ne mit un­ter­schied­li­chen Me­dien ge­ar­bei­tet“, sa­gen die bei­den Ku­ra­to­ren der Aus­stel­lung, Christ­oph Frey­er und An­na Stuhl­pfar­rer. „Zu sei­nen liebs­ten Werk­zeu­gen zähl­ten Pa­pier, Bleis­tift, Bunt­stift, Fo­to­ap­pa­rat und Ar­chi­tek­turm­odell. Doch ei­ne Zeit­lang galt sei­ne Lie­be der Ko­pie.“ Wie auch schon Jo­seph Beuys und Hei­dulf Gerng­roß fer­tig­te Ab­ra­ham vie­le Col­la­gen, Ar­chi­tek­tur­zeich­nun­gen und uto­pis­ti­sche Ent­wür­fe mit dem Ko­pier­ge­rät an. Ei­ni­ge da­von, Be­stand des AzW-Nach­las­ses, wer­den nun erst­mals der Öf­fent­lich­keit prä­sen­tiert.

Ne­ben dem The­ma Stie­ge, das Ab­ra­ham zeit sei­nes Le­bens for­mal ze­le­brier­te, und dem Bau­en in be­eng­ten Ver­hält­nis­sen – so­wohl die Hy­po-Bank in Lienz als auch das 20-stö­cki­ge AC­FNY in der 52. Stra­ße in Man­hat­tan muss­ten in ei­ne Bau­lü­cke mit nur 7,50 Me­ter Brei­te hin­ein­ge­quetscht wer­den – wid­met sich die in­tel­lek­tu­el­le, scharf­sin­nig ku­ra­tier­te Aus­stel­lung je­doch vor al­lem dem Nicht­ge­bau­ten – dem stets „La­ten­ten“, wie Ab­ra­ham die ge­dach­te Ar­chi­tek­tur be­zeich­ne­te.

Zu se­hen sind frü­he Mo­del­le von Fan­ta­sie­ge­bil­den, die Ab­ra­ham mit dra­ma­ti­schen Licht- und Schat­ten­kon­tras­ten fo­to­gra­fier­te. Zu­sam­men­ge­setzt bil­den das Haus oh­ne Räu­me , das Haus mit Blu­men­wän­den , das Haus mit per­ma­nen­tem Schat­ten , das Haus mit zwei Ho­ri­zon­ten und das Haus mit Vor­hän­gen ei­ne fik­ti­ve, ja fast Angst ein­flö­ßen­de Stadt. Nir­gend­wo ma­ni­fes­tiert sich die Kom­pro­miss­lo­sig­keit des Zi­gar­re paf­fen­den, Fes­te schmei­ßen­den und Aben­des­sens­ge­la­ge ver­an­stal­ten­den He­do­nis­ten mehr als in die­sen 1975 ent­stand­enen Haus­land­schaf­ten , in die­sen un­heim­li­chen, ein­ge­fro­re­nen Mo­ment­auf­nah­men, de­ren Un­ech­theit man zu­gleich be­ju­belt und be­dau­ert.

Er­gänzt wird die Aus­stel­lung von ei­ner neun­tei­li­gen Fo­to­se­rie von Mar­kus Obern­dor­fer. Der ös­ter­rei­chi­sche Fo­to­graf stu­dier­te das Werk Ab­ra­hams und such­te nach Ana­lo­gien zu des­sen for­mal-äs­the­ti­schen Wel­ten in der ba­na­len, ganz all­täg­li­chen Ge­gen­wart in den USA. An der E­cke South Main Street und East 5th Street in Los An­ge­les bann­te Obern­dor­fer ei­nen Zaun mit we­hen­dem Bau­stel­len­vor­hang auf Zel­lu­lo­id.

Es ist das Stra­ßen­eck, an dem Rai­mund Ab­ra­ham am 4. März 2010 kurz nach sei­nem Ab­schieds­vor­trag am Sout­hern Ca­li­for­nia In­sti­tu­te of Ar­chi­tec­tu­re in Los An­ge­les mit ei­nem Bus zu­sam­men­stieß und da­bei töd­lich ver­un­glück­te. Letz­tend­lich wur­de sein ganz per­sön­li­ches Haus mit Vor­hän­gen doch noch ge­baut.

Der Standard, Sa., 2016.07.23

15. Juni 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Das Au­ge ei­nes Bot­schaf­ters des 21. Jahr­hun­derts

Das Schaf­fen des Uto­pis­ten und Uni­ver­sal­künst­lers Fried­rich Kies­ler ist nun in ei­ner Gren­zen über­schrei­ten­den Re­tro­spek­ti­ve im Mak zu se­hen. „Le­bens­wel­ten“ ist nicht nur ei­ne Aus­stel­lung, son­dern ei­ne Ver­or­tung jahr­zehn­te­al­ter Vi­sio­nen im Heu­te.

Das Schaf­fen des Uto­pis­ten und Uni­ver­sal­künst­lers Fried­rich Kies­ler ist nun in ei­ner Gren­zen über­schrei­ten­den Re­tro­spek­ti­ve im Mak zu se­hen. „Le­bens­wel­ten“ ist nicht nur ei­ne Aus­stel­lung, son­dern ei­ne Ver­or­tung jahr­zehn­te­al­ter Vi­sio­nen im Heu­te.

„Nein, das ist kein Ei. Das ist ein end­lo­ses Haus mit end­lo­sen Nut­zungs­mög­lich­kei­ten.“ Fried­rich Kies­ler, dis­tin­guiert mit Sei­ten­schei­tel und Flie­ge, sitzt vor der Ka­me­ra und er­klärt mit stoi­scher Ru­he und rol­len­dem R sei­ne Vi­si­on des End­less Hou­se . Das bio­mor­phe Ide­en­kons­trukt aus den spä­ten Fünf­zi­ger­jah­ren, das wie ei­ne über­di­men­sio­na­le Mu­schel über dem Bo­den zu schwe­ben scheint, fas­zi­nier­te nicht nur den Mo­de­ra­tor der Sen­dung Ca­me­ra Three , son­dern ging auch als nie rea­li­sier­ter, aber un­ver­zicht­bar wich­ti­ger Bei­trag in die in­ter­na­tio­na­le Ar­chi­tek­tur­ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts ein.

Dem weit­den­ken­den Uto­pis­ten und Uni­ver­sal­künst­ler, den Ha­ni Ras­hid, Vor­sit­zen­der der Fried­rich-Kies­ler-Stif­tung, gar als „Bot­schaf­ter des 21. Jahr­hun­derts“ be­zeich­net, wid­met das Mu­se­um für an­ge­wand­te Kunst (Mak) nun ei­ne Aus­stel­lung, die die zu­gleich größ­te je­mals ge­zeig­te Re­tro­spek­ti­ve ist. Das End­less Hou­se , das Kies­ler bis zu sei­nem Tod 1965 be­schäf­tig­te, bil­det mit Skiz­zen, Plä­nen und Mo­del­len un­ter den knapp 600 Ex­po­na­ten ei­nen der in­halt­li­chen Schwer­punk­te .

Un­ter dem Ti­tel Fried­rich Kies­ler. Le­bens­wel­ten sind nicht nur Ar­chi­tek­tur- und Mö­bel­ent­wür­fe aus­ge­stellt, son­dern auch vie­le Aus­stel­lungs­ge­stal­tun­gen und Büh­nen­bil­der, die vor al­lem in den 1930er- und 1940er-Jah­ren in New York ent­stan­den, so­wie Pro­jek­te an der Schnitt­stelle zwi­schen Raum, Kunst, Mo­de, Mu­sik, Film, Thea­ter und Li­te­ra­tur, die sich nur schwer in ei­nen dis­zi­pli­nä­ren Ka­non fas­sen las­sen.

„Und ge­nau das macht Fried­rich Kies­ler so span­nend“, sagt Ku­ra­tor Die­ter Bog­ner. „Er­stens war Kies­ler ein ganz­heit­li­cher Den­ker, der an der Gren­ze zwi­schen den Küns­ten ge­ar­bei­tet hat. Zwei­tens in­te­res­sier­te er sich nie für das Ge­samt­kunst­werk als äs­the­ti­sches Pro­dukt, son­dern be­trach­te­te den Nut­zer stets als Mit­tel­punkt des Be­zie­hungs­ge­fü­ges. Und drit­tens ver­stand er sei­ne Ar­beit im­mer als Wech­sel­be­zie­hung zwi­schen Kunst und Wis­sen­schaft.“ All das, so Bog­ner, ma­che Kies­ler hoch­ak­tu­ell.

Ela­sti­scher Büh­nen­raum

Kies­ler, 1890 in Czer­no­witz in der heu­ti­gen Ukrai­ne ge­bo­ren, stu­dier­te Ar­chi­tek­tur, Mal­erei und Kup­fer­stech­erei. Nach dem er­sten Welt­krieg reist er re­gel­mä­ßig nach Ber­lin, wo er sei­nen er­sten do­ku­men­tier­ten Auf­trag er­hält. Es geht um ein Büh­nen­bild für Ka­rel Čapeks Stück W.U.R. Die Büh­nen­ge­stal­tun­gen prä­gen ihn vie­le Jah­re, für das Wie­ner Kon­zert­haus et­wa, aber auch die Ju­il­lard School of Mu­sic, das Bilt­mo­re Thea­tre und die Me­trop­oli­tan Ope­ra in New York. „Die Büh­ne ist kei­ne Kis­te mit ei­nem Vor­hang als De­ckel, in die Pa­no­ra­men ein­ge­schach­telt wer­den“, so Kies­ler. „Die Büh­ne ist ein ela­sti­scher Raum. Sie ist ein selbst­stän­di­ger Or­ga­nis­mus mit den Ge­set­zen der Tech­nik un­se­rer Zeit.“

Viel Raum hat in der Mak-Aus­stel­lung Kies­lers Bruch mit der ge­rad­li­ni­gen, recht­win­ke­li­gen Mo­der­ne (gip­felnd in ei­ner raum­fül­len­den Re­kons­truk­ti­on der 1925 ent­stand­enen Raum­stadt ), der ihn zur bio­mor­phen Spra­che der wei­chen, un­end­li­chen Li­ni­en führ­te, die von nun an men­ta­le Grund­la­ge für sei­ne Ar­beit wer­den soll­te. Oder, wie Mak-Di­rek­tor Christ­oph Thun-Ho­hens­tein es aus­drückt: „Kies­ler hat vie­le The­men des 21. Jahr­hun­derts vor­weg­ge­nom­men: Woh­nen, Stadt­pla­nung, neue Tech­no­lo­gien, Mensch und Ma­schi­ne. So ge­se­hen könn­ten wir vie­le Ant­wor­ten der heu­ti­gen Zeit fin­den, in­dem wir uns mit Kies­lers Fra­gen be­schäf­ti­gen.“

Dass Künst­ler und Schü­ler­in­nen im Rah­men der Schau ein­ge­la­den wur­den, sich mit Kies­lers Er­be zu be­schäf­ti­gen, stellt nicht nur das Ge­zeig­te in ei­nen zeit­ge­nös­si­schen Kon­text, son­dern setzt auch je­nen trans­dis­zi­pli­nä­ren Blick fort, der den Vi­sio­när aus­zeich­ne­te. Mit Mon­sieur Kies­ler I am wea­ring your End­less Hou­se. How do­es it su­it me? re­du­ziert Li­li Rey­naud-De­war – ganz im Sin­ne der ak­tu­el­len ge­sell­schafts­po­li­ti­schen De­bat­te – die drit­te Haut (Ar­chi­tek­tur) auf die zwei­te (Klei­dung). Und bei End­less Match , ei­nem Lehr­lings­pro­jekt von Kul­tur­Kon­takt Aus­tria, darf man nie­mals auf­hö­ren zu spie­len, sonst kommt das Le­der am tief­sten Punkt des ei­för­mi­gen Fuß­ball­ti­sches zum Still­stand. Man muss am Ball blei­ben. Das macht die Aus­stel­lung mit Bra­vour. Bis 2. 10.

Der Standard, Mi., 2016.06.15

11. Juni 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Mit Bau­wut ge­gen Kac­zyńs­ki

Am Don­ners­tag wur­de im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien die Aus­stel­lung „Eu­ro­pas be­ste Bau­ten“ er­öff­net. Am pol­ni­schen Sie­ger­pro­jekt in Stet­tin ma­ni­fes­tiert sich die En­er­gie ei­nes gan­zen Lan­des. Ob das so bleibt?

Am Don­ners­tag wur­de im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien die Aus­stel­lung „Eu­ro­pas be­ste Bau­ten“ er­öff­net. Am pol­ni­schen Sie­ger­pro­jekt in Stet­tin ma­ni­fes­tiert sich die En­er­gie ei­nes gan­zen Lan­des. Ob das so bleibt?

Rund­he­rum Plat­ten­bau­ten, mehr­spu­ri­ge Stra­ßen und rie­si­ge un­be­bau­te Park­flä­chen. Vom ein­sti­gen Char­me die­ser di­sper­sen, vom kom­mu­nis­ti­schen Wie­der­auf­bau ge­zeich­ne­ten Stadt ist hier im Os­ten, nur we­ni­ge Schrit­te von der Oder ent­fernt, nicht mehr viel zu spü­ren. Doch dann taucht, wie aus dem Nichts, ein wei­ßes, glei­ßen­des, leuch­ten­des Et­was auf. Hin­ter der ab­strak­ten Glas­hül­le, die di­rekt ne­ben der Lan­des­po­li­zei­zen­tra­le Nacht für Nacht zur mehr­ge­scho­ßi­gen Stra­ßen­la­ter­ne mu­tiert, ver­birgt sich die 2014 er­öff­ne­te Miec­zys­ław-Kar­ło­wicz-Phil­har­mo­nie.

„Stet­tin war frü­her von ei­ner Viel­zahl go­ti­scher Bau­ten ge­prägt“, sagt Mar­ta Grządziel, Ar­chi­tek­tin und Pro­jekt­lei­te­rin im spa­ni­schen Ar­chi­tek­tur­bü­ro Bar­oz­zi/Vei­ga. „Nach­dem der Groß­teil der Alts­tadt im Zwei­ten Welt­krieg zers­tört wur­de, woll­ten wir die Pracht von da­mals auf neu in­ter­pre­tier­te Wei­se nach­stel­len – aber na­tür­lich nicht mit ei­ner Ko­pie, son­dern mit ei­ner mo­der­nen, zeit­ge­nös­si­schen Spra­che.“ Die spit­zen Fass­ade­gie­bel, so Grządziel, könn­ten al­les Mög­li­che sein. Viel­leicht auch der lei­se, ver­bli­che­ne Schat­ten ei­nes al­ten, go­ti­schen Kauf­manns­hau­ses.

Letz­tes Jahr wur­de der un­ge­wöhn­li­che Bau, der welt­weit für Fu­ro­re sorg­te und den das nie­der­län­di­sche Ar­chi­tek­turm­aga­zin Mark ein­mal als „städ­ti­schen Eis­berg“ be­zeich­ne­te, mit dem bien­nal aus­ge­lob­ten Mies van der Ro­he Award 2015 aus­ge­zeich­net. Seit Don­ners­tag ist der Haupt­preis­trä­ger, ei­ner von ins­ge­samt 420 ein­ge­reich­ten Pro­jek­ten aus ganz Eu­ro­pa, in der Wan­der­aus­stel­lung Eu­ro­pas Be­ste Bau­ten. Preis der Eu­ro­päi­schen Uni­on für zeit­ge­nös­si­sche Ar­chi­tek­tur im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (AzW) zu se­hen.

Leuch­ten­des Cha­mä­leon

„Egal, wel­chen Kul­tur­bau wir er­rich­tet hät­ten, er wä­re in je­dem Fall in ei­nem vi­su­el­len und kul­tu­rel­len Ge­gen­satz zur heu­ti­gen Plat­ten­bau-Um­ge­bung ge­stan­den“, sagt Grządziel. „Al­so ha­ben wir be­schlos­sen, den Kon­trast be­wusst zu ver­stär­ken.“ 25.000 LED-Leuch­ten be­fin­den sich hin­ter der bis zu 15 Me­ter ho­hen Milch­glas­fass­ade. Je nach Ta­ges­licht und mu­si­ka­li­schem Pro­gramm kann das Haus in mal wei­ßes, mal grell­bun­tes Licht ge­hüllt wer­den. Al­lein schon die Hand­yfo­tos, die im In­ter­net kur­si­eren, ge­wäh­ren Ein­blick in die Be­lieb­theit des leuch­ten­den Cha­mä­leons.

Im In­ne­ren der schweig­sa­men Hül­le lau­ert ein wei­ßes Foy­er mit an­schlie­ßen­den Aus­stel­lungs- und Pau­sen­flä­chen so­wie ei­ner rie­si­gen Wen­del­trep­pe, die sich wie ein Kor­ken­zie­her nach oben schraubt. Von dort ge­langt man in die bei­den Kon­zert­sä­le. Die kan­ti­ge Wand- und De­cken­ge­stal­tung in Schwarz und Mess­ing, ei­ne akus­ti­sche Maß­nah­me, folgt dem geo­me­tri­schen Prin­zip der Fi­bo­nac­ci-Zah­len­rei­he.

Die Phil­har­mo­nie in Stet­tin ist ein schö­ner Bau, der in der Aus­stel­lung im AzW deut­lich auf­fällt. Aber er ist bei wei­tem kein Ein­zel­fall. In den letz­ten Jah­ren ist in Po­len ei­ne Viel­zahl au­ßer­ge­wöhn­li­cher Bau­ten ent­stan­den, die sich hin­ter den Ar­chi­tek­tur-Ran­go­be­ren wie et­wa Spa­nien, Por­tu­gal, Dä­ne­mark und Nie­der­lan­de längst nicht mehr zu ver­ste­cken braucht. Wo­ran das liegt?

„Ich be­ob­ach­te, dass die letz­ten zwölf Jah­re seit dem EU-Bei­tritt Po­lens ei­nen dra­ma­ti­schen An­stieg der Ar­chi­tek­tur­qua­li­tät mit sich ge­bracht ha­ben“, sagt AzW-Di­rek­tor Diet­mar Stei­ner. „Ob das nun Ein­fa­mi­li­en­häu­ser, Wohn­bau­ten, Kul­tur­bau­ten, In­ter­ven­tio­nen im öf­fent­li­chen Raum oder Um­nut­zun­gen von al­ten In­dus­trie-Area­len sind – un­ter den neu­en EU-Län­dern in Ost- und Süd­ost­eu­ro­pa hat Po­len wahr­schein­lich die größ­te bau­kul­tu­rel­le Ent­wi­cklung durch­ge­macht und ei­ne völ­lig neue Ge­ne­ra­ti­on von Ar­chi­tek­ten mit sich ge­bracht.“ Die ho­he Qua­li­tät, so Stei­ner, zei­ge sich nicht zu­letzt in Ju­rien, Gre­mien so­wie in der Durch­füh­rung in­ter­na­tio­na­ler Wett­be­wer­be.

Re­ge Bau­tä­tig­keit

Das Gra­zer Bü­ro Rieg­ler Rie­we stell­te 2014 das Schle­si­sche Mu­se­um in Ka­to­wi­ce fer­tig. Die Re­vi­ta­li­sie­rung der al­ten Koh­leg­ru­be dient nun als groß­teils un­ter­ir­di­scher Hort mo­der­ner Kunst. Das Mit­ein­an­der aus ge­ätz­tem Glas und ori­gi­nal be­las­se­nen Schacht­tür­men wirkt fast sur­re­al. Im glei­chen Jahr wur­de das Mu­se­um der Ge­schich­te der pol­ni­schen Ju­den in War­schau er­öff­net. Das Pro­jekt des fin­ni­schen Bü­ros Lah­led­ma & Mah­la­mä­ki bil­det im In­ne­ren amor­phe Ge­steins­for­ma­tio­nen nach, die an Mo­ses’ Tei­lung des Schilf­meers er­in­nern sol­len.

2015 wur­de das Sha­ke­spea­re-Thea­ter in Dan­zig er­öff­net. Ar­chi­tekt Re­na­to Riz­zi setz­te ein mäch­ti­ges Schiff aus fast schwar­zem Klin­ker­zie­gel in die In­nens­tadt. Das Dach des Thea­ter­saals, dem Lon­do­ner Glo­be nach­emp­fun­den, lässt sich bei Schön­wet­ter öff­nen. Und erst kürz­lich fei­er­te man Pre­mie­re im Jor­dan­ki-Au­di­to­ri­um in To­ruń. Der ka­na­ri­sche Ar­chi­tekt Fern­an­do Me­nis metz­te mit­ten in die Un­esco-ge­schütz­te In­nens­tadt ei­nen rie­si­gen Fel­sen samt feu­rig-stein­er­nem In­nen­le­ben.

„Die Bau­kul­tur in Po­len spiegelt die Auf­bruch­stim­mung der letz­ten 26 Jah­re seit dem Fall des Ei­ser­nen Vor­hangs wi­der“, sagt der pol­ni­sche De­sig­ner und Kul­tur­theo­re­ti­ker Ja­kub Szczęsny. „So ge­se­hen ist die re­ge und hoch­wer­ti­ge Bau­tä­tig­keit nicht nur rei­ne Be­darfs­de­ckung, son­dern auch ei­ne ge­wis­se Kom­pen­sa­ti­on der Zeit des kom­mu­nis­ti­schen Re­gi­mes. Die Dy­na­mik der NGOs, der Krea­ti­ven und der Zi­vil­ge­sell­schaft ist ein­fach groß­ar­tig.“

Doch die Eu­pho­rie hat ein Ab­lauf­da­tum. Was man heu­te se­he, sei das Echo ei­ner pro­spe­rie­ren­den Zeit. „Der na­tio­nal­kon­ser­va­ti­ve Rechts­ruck wird sämt­li­chen For­men zeit­ge­nös­si­schen Kul­tur­schaf­fens frü­her oder spä­ter ei­nen Rie­gel vor­schie­ben“, ist Szczęsny über­zeugt. „Und auch die EU-För­der­gel­der für Mit­tel­ost­eu­ro­pa wer­den 2020 aus­lau­fen. Spä­tes­tens dann, fürch­te ich, wer­den Ja­ros­ław Kac­zyńs­ki und Kon­sor­ten ei­ne Ära der grie­chi­schen Tem­pel und so­zia­lis­ti­schen Protz­pa­läs­te ein­läu­ten.“

Po­len ist der Be­weis da­für, dass Ar­chi­tek­tur auch Aus­druck po­li­ti­schen Den­kens ist. Je of­fe­ner die Po­li­tik, de­sto frei­er der krea­ti­ve Geist. So ge­se­hen steht die ge­samt­eu­ro­päi­sche Bau­kul­tur vor ei­ner gro­ßen Prü­fung.

Der Standard, Sa., 2016.06.11

28. Mai 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Von Gold­rausch bis Gän­se­haut

Die 15. Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le in Ve­ne­dig steht un­ter dem Ti­tel „Re­por­ting from the front“. Und ei­ni­ge we­ni­ge Län­der ha­ben sich auch wirk­lich der Her­aus­for­de­rung ge­stellt, nach vor­ne zu pre­schen und aus der er­sten Rei­he fuß­frei zu be­rich­ten.

Die 15. Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le in Ve­ne­dig steht un­ter dem Ti­tel „Re­por­ting from the front“. Und ei­ni­ge we­ni­ge Län­der ha­ben sich auch wirk­lich der Her­aus­for­de­rung ge­stellt, nach vor­ne zu pre­schen und aus der er­sten Rei­he fuß­frei zu be­rich­ten.

Kniend am Bo­den, den Kopf in der Mit­te des wei­ßen Krei­ses, un­ent­weg­tes Kopf­schüt­teln, 800 Se­kun­den lang. Was man hier un­ten im Schot­ter, mit­ten in den Gi­ar­di­ni, zu se­hen be­kommt, ist ein Stac­ca­to an in der Tat scho­ckie­ren­den Bil­dern im Se­kun­den­takt, 800 Stück da­von, ei­nes für je­des Jahr, seit­dem in Eng­land die Mag­na Car­ta, die „Gro­ße Ur­kun­de der Frei­hei­ten“, un­ter­zeich­net wur­de.

„Die ei­nen ha­ben sich Frei­heit ge­nom­men, die an­de­ren ha­ben da­run­ter ge­lit­ten“, sagt Ku­ra­tor Pier­re Bé­lan­ger in An­spie­lung auf die Ma­chen­schaf­ten der ehe­ma­li­gen bri­ti­schen Kron­ko­lo­nie. „Die­se aus­beu­te­ri­sche Vor­ge­hens­wei­se Ka­na­das hat sich bis heu­te nicht ge­än­dert. Die mitt­ler­wei­le welt­wei­te Su­che nach Bo­den­schät­zen, bei der Ka­na­da die Fin­ger im Spiel hat, ist ei­ne Ver­skla­vung der Ur­ein­woh­ner und ein bru­ta­ler Miss­brauch von Land.“

Noch nie war ein Bei­trag auf der Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le in Ve­ne­dig so nah am Re­al­kri­mi wie heu­er. Re­por­ting from the front lau­tet das dies­jäh­ri­ge Ge­ne­ral­the­ma der 15. Na­bel­schau in­ter­na­tio­na­len Ar­chi­tek­tur­den­kens, un­ter dem der aus Chi­le stam­men­de Bien­na­le-Di­rek­tor und Pritz­ker­preis­trä­ger Ale­jan­dro Ara­ve­na zum Per­spek­ti­ven­wech­sel auf­ruft. „Ich möch­te auf die­se Wei­se je­ne Men­schen zu Wort kom­men las­sen, die di­rekt von der Front be­rich­ten und uns ei­ne neue Sicht auf das Bau­en ge­ben kön­nen.“

Und Ka­na­da, oh ja, Ka­na­da ist ein hei­ßes Ei­sen aus al­ler­er­ster Rei­he fuß­frei. Der Bei­trag von Pier­re Bé­lan­ger, der in To­ron­to und Ot­ta­wa das Land­schafts­pla­nungs­bü­ro Op­sys be­treibt und an der Har­vard Gra­dua­te School of De­sign in Cam­brid­ge un­ter­rich­tet, ist so­gar so heiß, dass sich die Re­gie­rung da­ran nicht die Fin­ger ver­bren­nen woll­te – und den Ku­ra­tor kur­zer­hand aus dem Pa­vil­lon ver­bann­te.

„Als be­kannt wur­de, dass wir in­ves­ti­ga­tiv vor­ge­hen möch­ten und die Bo­den­aus­beu­tung Ka­na­das the­ma­ti­sie­ren wol­len“, er­klärt Bé­lan­ger im Ge­spräch mit dem Stan­dard , „wur­de uns un­ter­sagt, den ka­na­di­schen Pa­vil­lon zu be­tre­ten.“ Aus die­sem Grund sei man nun drau­ßen in der frei­en Na­tur. „Of­fi­ziell heißt es, dass man den Pa­vil­lon nun drin­gend re­no­vie­re“, sagt Bé­lan­ger, der das Pro­jekt zur Gän­ze mit pri­va­ten Spen­den fi­nan­zie­ren muss­te.

29 Sä­cke mit je ei­ner Ton­ne Gold­erz ste­hen nun wie ei­ne mah­nen­de Mau­er vor dem lee­ren Pa­vil­lon. Das Ma­te­ri­al stammt von ei­ner kon­ta­mi­nier­ten Gold­mi­ne in Sar­di­nien, die von ei­nem ka­na­di­schen För­de­run­ter­neh­men be­trie­ben und nach der glo­ba­len Fi­nanz­kri­se auf­ge­las­sen wur­de. Es ist ein bis auf die Spit­ze ge­trieb­ener Zy­nis­mus, dass man das 800 Se­kun­den lan­ge Mi­kro­film­chen mit Bil­dern von zers­tör­ten Land­schaf­ten und glü­ckli­chen Er­öff­nungs­ze­re­mo­ni­en samt Blitz­licht­ge­wit­ter und durch­ge­schnitt­enem Band just durch ei­ne mas­siv gold­ene Lin­se er­späht.

Kri­sen­ge­biet Bien­na­le

Nach so viel Schock braucht man Er­ho­lung. Und die fin­det man auf der 15. Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le zur Ge­nü­ge. Ein Teil der Län­der­bei­trä­ge und der von Di­rek­tor Ara­ve­na di­rekt be­auf­trag­ten Wer­ke, die im Ar­se­na­le und in den Gi­ar­di­ni zu se­hen sind, ras­seln be­lang­los und vor­her­seh­bar durch den Fil­ter. Auf­fäl­lig sind die drei gro­ßen The­men­be­rei­che, de­nen sich die meis­ten Teil­neh­mer ver­schrie­ben ha­ben. Und ir­gend­wie han­deln al­le drei vom Um­gang mit der Kri­se.

Er­stens er­lebt man ei­ne Re­nais­san­ce des Emer­gen­cy De­sign samt Kis­ten, Zel­ten und Con­tai­nern. Zwei­tens lernt man die Ar­chi­tek­ten­schaft als ei­ne Grup­pe mit ei­nem Sen­so­ri­um für So­zia­les und Ethni­sches ken­nen. Und drit­tens – und das ist der mit Ab­stand in­te­res­san­te Fo­kus von al­len – be­kommt man als Be­su­cher Ein­blick in ei­ne Welt der en­den wol­len­den Res­sour­cen.

Is­ra­el denkt über die Zu­kunft des Bau­ens nach und stellt die The­se auf, dass auf die di­gi­ta­le Re­vo­lu­ti­on, in der wir uns ge­ra­de be­fin­den, ei­ne in­ten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit der Bio­lo­gie fol­gen müs­se. Bah­rain ze­le­briert sich als klei­ne In­sel­na­ti­on mit der neunt­größ­ten Alu­mi­ni­um­hüt­te der Welt. Und stellt da­mit nicht nur Licht, son­dern auch Schat­ten­sei­ten dar. Ser­bien stellt das Be­rufs­sys­tem an den Pran­ger und be­klagt die Job­si­tua­ti­on jun­ger Ar­chi­tek­ten, die oft nur Aus­sicht auf Gra­ti­sar­beit ha­ben. Was für ei­ne Res­sour­cen­ver­schwen­dung! Und Skan­di­na­vien will erst gar nicht an­fan­gen, ein­zel­ne Pro­ble­me auf­zu­zäh­len, und schickt sich gleich selbst in Psy­cho­ana­ly­se, di­rekt auf Freuds Couch.

So­zia­le Ghet­tos

Im aus­tra­li­schen Pa­vil­lon taucht man in die Ge­schich­te des Ba­dens und Plät­scherns ein. „Aus­tra­lien hat die welt­weit höch­ste Swim­ming­pool­dich­te pro Kopf“, sagt Ku­ra­to­rin Isa­bel­le To­land. „Da­her woll­ten wir den Pool als Ort der So­zia­li­sa­ti­on und der na­tio­na­len Iden­ti­tät, aber auch als Aus­lö­ser für öko­lo­gi­sche Pro­ble­me dar­stel­len.“ Im Hin­ter­grund kom­men Sän­ger, Au­to­ren, Mo­de­de­sig­ner und Land­schafts­ar­chi­tek­ten zu Wort.

Ei­ne be­son­ders wich­ti­ge Res­sour­ce ist nicht zu­letzt das so­zia­le Ghet­to. Die­ser Mei­nung ist man im deut­schen Pa­vil­lon. Un­ter dem Ti­tel Ma­king Hei­mat. Ger­ma­ny, Ar­ri­val Coun­try wur­de un­ter­sucht, wel­che Chan­cen je­ne Grät­zel und Quar­tie­re ha­ben, die oft ei­nen ho­hen Mig­ran­te­nan­teil und sel­ten ei­nen gu­ten Ruf ha­ben. Dar­ge­stellt wer­den acht Or­te in Deutsch­land, so­ge­nann­te Ar­ri­val Pla­ces, in de­nen sich ei­ne funk­tio­nie­ren­de Mi­kro­öko­no­mie, ei­ne Art Pa­ral­lel­uni­ver­sum eta­bliert hat.

„Sta­tis­tisch ge­se­hen sind die Ar­ri­val Pla­ces mie­se Or­te mit nie­dri­gem Ein­kom­men, aber auch ei­ner sehr ho­hen Fluk­tua­ti­on, weil die Men­schen sehr bald wie­der wei­ter­zie­hen, so­bald es ih­nen bes­ser geht“, sagt Ku­ra­tor Oli­ver El­ser vom Deut­schen Ar­chi­tek­turm­useum (DAM). „Tat­säch­lich sind dies Or­te, von de­nen wir viel ler­nen kön­nen. Ich möch­te mit die­sem Bei­trag ganz laut sa­gen: Fürch­tet euch nicht! Ein ho­her Mig­ran­te­nan­teil ist ein Se­gen und kein Fluch. Und nicht je­des Vier­tel mit ei­nem ho­hen Ar­muts- und Ar­beits­lo­se­nan­teil ist so­fort ein Pro­blem­ge­biet.“

Der deut­sche Pa­vil­lon ist ei­ne schö­ne the­ma­ti­sche Er­gän­zung zum ös­ter­rei­chi­schen Bei­trag, der in Ve­ne­dig nur ei­nen Bruch­teil sei­nes Um­fangs ver­rät. Un­ter dem Ti­tel Or­te für Men­schen ließ Ku­ra­to­rin El­ke De­lu­gan-Meissl in Zu­sam­men­ar­beit mit Li­quid Fron­tiers drei leers­te­hen­de Bü­ro­bau­ten aus den Acht­zi­ger­jah­ren wohn­bar ma­chen – mit Mö­beln, In­stal­la­tio­nen und be­helfs­mä­ßi­gen Not­kons­truk­ten von Eoos, Ca­ra­mel Ar­chi­tek­ten und The Next Ent­er­pri­se.

Und dann Al­ba­nien. Das geht un­ter die Haut. Die bei­den Ku­ra­to­ren Si­mon Bat­tis­ti und Le­ah Whit­man-Sal­kin wid­men sich der aus­ster­ben­den Res­sour­ce der Iso-Po­ly­pho­nie, auch Kën­ge Kur­be­ti ge­nannt. Der au­ßer­ge­wöhn­li­che mehrs­tim­mi­ge Ge­sangs- stil han­delt meist von Heim­weh, Ab­schied und weg­ge­zo­ge­nen Kin­dern und ist im­ma­te­riel­les Un­esco-Welt­kul­tur­er­be.

„Doch nach­dem im­mer mehr Men­schen in die Stadt aus­wan­dern und gan­ze Dör­fer aus­ster­ben, droht auch die Kul­tur des Kën­ge Kur­be­ti zu ver­schwin­den“, sagt Whit­man-Sal­kin im Ge­spräch mit dem STAN­DARD . Im Pa­vil­lon ist ei­ne wun­der­schö­ne Sound-In­stal­la­ti­on zu hö­ren, in der man ge­dank­lich nach Al­ba­nien schweift. Die Tex­te han­deln ganz tra­di­tio­nell von Mig­ra­ti­on. Al­ler­dings sind es dies­mal nicht die Töch­ter, die weg­hei­ra­ten, und die Söh­ne, die ins Mi­li­tär zie­hen, son­dern Tex­te von nam­haf­ten Ar­chi­tek­ten und Stadt­pla­nern, die ins Al­ba­ni­sche über­setzt wur­den und die vom Wachs­tum der Stadt und vom Ver­schwin­den der länd­li­chen Ge­bie­te han­deln. Gän­se­haut. Das macht den Gold­rausch wie­der wett.

Der Standard, Sa., 2016.05.28

21. Mai 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Greis mit aus­ge­zeich­ne­ten Krü­cken

Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de in Wien der Brick Award 2016 über­ge­ben. Ei­nes der sechs Sie­ger­pro­jek­te ist die Ca­sa Ma­rí­lia in São Pau­lo. Das al­te Wohn­haus aus dem Jahr 1915 wur­de auf ra­di­ka­le Wei­se sa­niert.

Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de in Wien der Brick Award 2016 über­ge­ben. Ei­nes der sechs Sie­ger­pro­jek­te ist die Ca­sa Ma­rí­lia in São Pau­lo. Das al­te Wohn­haus aus dem Jahr 1915 wur­de auf ra­di­ka­le Wei­se sa­niert.

Die Zie­gel­fass­ade hat wahr­lich schon bes­se­re Zei­ten er­lebt. Der Putz hat sich ver­ab­schie­det, so man­cher Stein rie­selt vor sich hin, und die hand­gro­ßen Ze­ment­lö­cher tra­gen zum kons­truk­ti­ven Ver­trau­en auch nur be­dingt bei. Un­ter nor­ma­len Um­stän­den hät­te man ein Haus wie die­ses längst ab­ge­ris­sen, zu­mal hier, nur we­ni­ge Blocks von der Ave­ni­da Pau­lis­ta ent­fernt, die das Zen­trum dia­go­nal durch­quert und mitt­ler­wei­le zu den teu­ers­ten Adres­sen der gan­zen Stadt zählt.

„Die In­nens­tadt von São Pau­lo hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten so stark ge­wan­delt, dass ei­ni­ge Stra­ßen kaum wie­der­zu­er­ken­nen sind“, sagt der bra­si­lia­ni­sche Ar­chi­tekt Jo­sé Lu­is. „Man­che Vier­tel sind wie aus­ge­tauscht. Wo frü­her hüb­sche Stadt­vil­len stan­den, ra­gen nun mo­der­ne Bü­ro­hoch­häu­ser und Lu­xus­wohn­tür­me in den Him­mel. Die­se las­sen sich ge­winn­brin­gen­der ver­mark­ten. Die al­te Iden­ti­tät der Stadt wird so Stück für Stück ver­nich­tet. Ich fin­de das be­dau­er­lich.“

Die Ca­sa Ma­rí­lia, ei­ne grei­se Pracht mit rui­nö­sem Char­me, ist ein Bei­trag, um die­ser schlei­chen­den Iden­ti­täts­auf­lö­sung São Pau­los ent­ge­gen­zu­wir­ken. Auf fast sym­bol­träch­ti­ge Wei­se wur­de das rund 100 Jah­re al­te Zie­gel­haus in ein Kor­sett aus Stahl­krü­cken ge­pfercht. Das Bild ist ein­prägs­am, viel­leicht so­gar ein biss­chen scho­ckie­rend. Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de die un­ge­wöhn­li­che Re­vi­ta­li­sie­rung im Her­zen der bra­si­lia­ni­schen Me­ga­me­trop­ole als ei­nes von ins­ge­samt sechs Pro­jek­ten mit dem Wie­ner­ber­ger Brick Award 2016 aus­ge­zeich­net.

„Mit Zie­geln wird be­reits seit mehr 2000 Jah­ren ge­baut, und der Bau­stoff kommt nicht und nicht aus der Mo­de“, sag­te der Lon­do­ner Ar­chi­tekt Al­fred Mun­ken­beck, der in der Ju­ry saß und aus über 600 Ein­rei­chun­gen und 50 Pro­jek­ten auf der Short­list die sechs Sie­ger aus­er­kor, im Rah­men der Preis­ver­lei­hung. „Das Ma­te­ri­al ist im­mer noch im Ein­satz, es ist im­mer noch lang­le­big, und es wer­den da­mit im­mer noch In­no­va­tio­nen ge­macht. Es ist er­staun­lich, auf wie un­ter­schied­li­che Wei­se der Zie­gel­stein heu­te ein­ge­setzt wird.“

Ge­nau die­se Viel­falt ist auch der Grund, wa­rum der bien­na­le Brick Award heu­er be­reits zum sie­ben­ten Ma­le ver­ge­ben wur­de. „Wir sind das welt­weit füh­ren­de Zie­ge­lun­ter­neh­men“, meint Uwe Scheuch, CEO der Wie­ner­ber­ger AG. „Und ich er­ach­te es als un­se­re Ver­ant­wor­tung, die Ent­wi­cklun­gen auf die­sem Ge­biet zu wür­di­gen und in­ter­na­tio­nal sicht­bar zu ma­chen.“ An­hand der Ge­win­ner­pro­jek­te (sie­he un­ten) kön­ne man sehr gut nach­voll­zie­hen, wie zeit­los der Bau­stoff Zie­gel sei.

Stäh­ler­nes Ge­rüst

„Dass die Ca­sa Ma­rí­lia heu­te so aus­sieht, wie sie aus­sieht, ist kein Zu­fall“, sagt Ar­chi­tekt Jo­sé Lu­is vom bra­si­lia­ni­schen Ar­chi­tek­tur­bü­ro Su­per­Limão. „Das Haus war ganz nor­mal ver­putzt und bis vor kur­zem ro­sa­rot gest­ri­chen. Man könn­te sa­gen, es war un­auf­fäl­lig alt. Wir ha­ben uns da­zu ent­schie­den, ihm zum 100. Ge­burts­tag das Putz­kleid ab­zu­neh­men und die nack­te Kons­truk­ti­on sicht­bar zu ma­chen, mit all ih­ren Schön­heits­feh­lern und bau­li­chen Mut­ter­ma­len, so­zu­sa­gen als Ode an ei­ne tra­di­tio­nel­le Bau­wei­se, die mehr und mehr in Ver­ges­sen­heit ge­rät.“

Zwi­schen den un­ver­putz­ten Zie­gel­stei­nen, zwi­schen all den fein ge­schmie­de­ten, rot la­ckie­ren Ei­sen­git­tern und höl­zer­nen Fens­ter­lä­den, die in ih­rer auf­ge­klapp­ten Ma­nier an Ur­groß­mut­ters Zei­ten er­in­nern, prangt nun ein stäh­ler­nes Ge­rüst aus han­dels­üb­li­chen feu­er­ver­zink­ten, mit­ein­an­der ver­schraub­ten und ver­schweiß­ten I-Trä­gern, die das Haus wie ein et­was grob­schläch­ti­ges Exos­ke­lett um­hül­len, Bau­markt­char­me in­klu­si­ve.

„Die be­ste­hen­de Zie­gel­wand war zwar in der La­ge, sich selbst zu tra­gen, doch da­mit war die ma­xi­ma­le Be­la­stung be­reits er­reicht“, er­klärt der Ar­chi­tekt. „Für die zwei­ge­scho­ßi­ge Auf­sto­ckung je­doch brauch­te es ei­ne zu­sätz­li­che Trag­kons­truk­ti­on. Wir ha­ben das Ge­stell sicht­bar nach au­ßen ge­stülpt. Das Al­te ist vom Neu­en ge­trennt. Das Mo­der­ne darf ne­ben dem His­to­ri­schen ko­exis­tie­ren. Kei­nes der bei­den ist bes­ser, kei­nes schlech­ter. Ich fin­de die­ses Bild der Ge­ne­ra­tio­nen wun­der­schön.“

Das In­nen­le­ben des Hau­ses wur­de ent­kernt und kom­plett neu or­ga­ni­siert. Die al­ten Wand­zie­gel wur­den de­mon­tiert, num­me­riert, ka­ta­lo­gi­siert, von Mör­tel und Bau­schutt be­freit und an­schlie­ßend an­hand der neu­en Grund­ris­splä­ne wie­der Stück für Stück auf­ge­mau­ert. Um die Schwin­gun­gen zwi­schen in­nen und au­ßen, zwi­schen stäh­ler­nem Ske­lett­bau und mas­si­vem Zie­gel­mau­er­werk zu re­du­zie­ren, la­gern die Ver­bin­dungs­ele­men­te nun auf so­ge­nann­ten Elast­ome­ren. Üb­li­cher­wei­se kom­men die Gum­mi­mat­ten im Brü­cken­bau zum Ein­satz.

An­ders als in der Ver­gan­gen­heit ver­birgt sich hin­ter der ge­heim­nis­vol­len Zie­gel­fass­ade heu­te kei­ne Pri­vat­woh­nung, son­dern das Bü­ro des IT-Dienst­leis­ters Pla­ta­for­ma­tec. Das jun­ge Start-up-Un­ter­neh­men nutzt das ei­gen­wil­li­ge Haus als Vi­si­ten­kar­te, um die ver­steck­ten Pro­zes­se, um die kons­truk­ti­ven di­gi­ta­len Ele­men­te, wie es meint, sicht­bar zu ma­chen. So­wohl im Alt­bau als auch auf den bei­den ober­sten Eta­gen, die dem Haus in Stahl, Glas und Be­ton­fer­tig­tei­len auf­ge­setzt wur­den, las­sen sich die bau­li­chen Schich­ten der Ca­sa Ma­rí­lia wie ein of­fe­nes Buch le­sen.

„Die Be­hör­den wa­ren mit die­sem Pro­jekt ziem­lich über­for­dert, und der Um­bau des Hau­ses hat sich über vie­le Jah­re ge­zo­gen“, er­klärt Lu­is. „Aber es hat sich aus­ge­zahlt. Die Ca­sa Ma­rí­lia ist kein sin­gu­lä­res Ein­zel­pro­jekt, son­dern ei­ne Re­vi­ta­li­sie­rung mit ei­ner enor­men sym­bo­li­schen Strahl­kraft. Ich wür­de mir wün­schen, dass das Haus die Art und Wei­se, wie wir in Bra­si­lien mit al­ten, his­to­ri­schen Bau­ten um­ge­hen, nach­hal­tig ver­än­dern wird.“ Sehr er­fri­schend. Tief­gang noch da­zu. Mö­ge die hier zi­tier­te Strahl­kraft Mit­tel­eu­ro­pa er­rei­chen.

Der Standard, Sa., 2016.05.21

07. Mai 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Oma­ma mit Chip und PIN

Vom Se­nio­ren­wohn­haus Ko­ti­sa­ta­ma in Hel­sin­ki kann man was ler­nen. Die 85 Be­woh­ner ent­sor­gen ih­ren Müll mit Chip­kar­te und or­ga­ni­sie­ren ih­re Sau­na-Auf­güs­se und Rad­tou­ren über ein di­gi­ta­les In­ter­fa­ce.

Vom Se­nio­ren­wohn­haus Ko­ti­sa­ta­ma in Hel­sin­ki kann man was ler­nen. Die 85 Be­woh­ner ent­sor­gen ih­ren Müll mit Chip­kar­te und or­ga­ni­sie­ren ih­re Sau­na-Auf­güs­se und Rad­tou­ren über ein di­gi­ta­les In­ter­fa­ce.

Und tippt. Und schiebt. Und zoomt. „Man wür­de ja an­neh­men, dass sol­che Pro­gram­me ir­gend­wann ein­mal lü­cken­los funk­tio­nie­ren“, är­gert sich Tert­tu Fält. „Aber nein! Im­mer dann, wenn man et­was vor­füh­ren will, gibt es wie­der ei­nen Hän­ger.“ Loggt sich aus. Und noch ein­mal ein. „Jetzt ge­be ich mei­nen Be­nut­zer­na­men und den PIN-Co­de ein. Jetzt müs­sen Sie bit­te kurz weg­schau­en. Na end­lich! Jetzt geht’s.“

Tert­tu Fält ist ei­ne von ins­ge­samt 85 Be­wohn­er­in­nen des Se­nio­ren­hau­ses Ko­ti­sa­ta­ma im neu­en Stadt­teil Ka­la­sa­ta­ma, nur vier U-Bahn-Sta­tio­nen vom Haupt­bahn­hof Hel­sin­ki ent­fernt. Mit ih­ren Nach­barn ist sie in re­gem Kon­takt. Ent­we­der man trifft ein­an­der so­wie­so um 17 Uhr zum Abend­es­sen im Spei­se­saal. Oder aber man kom­mu­ni­ziert über ein ei­gens ent­wi­ckel­tes In­ter­fa­ce, das nicht nur über E-Mail-Pro­gram­me und ge­mein­sa­me Ser­ver­ord­ner ver­fügt, son­dern auch Ar­beits-zeit­plä­ne, Ver­an­stal­tungs­ka­len­der und so­gar ein Bu­chungs­pro­gramm für die Gäs­te­zim­mer be­in­hal­tet. Falls ein­mal die Schwie­ger­söh­ne und En­ke­lin­nen auf Be­such kom­men.

„Ich ha­be oft er­lebt, wie Men­schen alt wer­den und ein­sam und al­lein ster­ben. Das ist nicht mei­ne Vor­stel­lung für die näch­sten Jah­re. Ich will mei­ne Zeit als Rent­ne­rin ak­tiv ge­stal­ten.“ Frü­her war Fält Im­mo­bi­lien­mak­le­rin, hat zu­letzt so­gar ei­ne ei­ge­ne Mak­ler­kanz­lei ge­lei­tet. Mit die­ser Er­fah­rung hat sie mit meh­re­ren Gleich­ge­sinn­ten vor ei­ni­gen Jah­ren den Ver­ein „Ak­tii­vi­set se­nio­rit“ ins Le­ben ge­ru­fen.

„Wir ha­ben on­li­ne nach In­te­res­sen­ten ge­sucht und uns ge­mein­sam zwei Se­nio­ren­wohn­hei­me in Ber­lin und auch ein ver­gleich­ba­res Pro­jekt hier in Hel­sin­ki an­ge­se­hen. Das wa­ren sehr schö­ne Er­fah­run­gen. Und so ha­ben wir dann be­schlos­sen, die Sa­che selbst in die Hand zu neh­men und ein ähn­li­ches Haus zu bau­en. Ja, es ist ei­ni­ges an Ar­beit. Aber es geht.“

Ge­mein­sam mit ih­ren da­mals mitt­ler­wei­le 85 Kol­le­gen und Kol­le­gin­nen hat Fält ei­ne Ei­gen­tü­mer­ge­mein­schaft ge­bil­det, ein Grund­stück im neu­en Smart-Ci­ty-Quar­tier Ka­la­sa­ta­ma ge­pach­tet und das fin­ni­sche Ar­chi­tek­tur­bü­ro Kirs­ti Si­vén & As­ko Ta­ka­la mit an Bord ge­zo­gen. „Kirs­ti Si­vén hat in Hel­sin­ki schon ei­ni­ge Se­nio­ren­wohn­hei­me ge­baut“, er­zählt Fält mit ei­nem brei­ten Lä­cheln. „Aber das hier ist ein­deu­tig ihr bis­lang be­stes Pro­jekt.“

Auf den er­sten Blick ist dem neuns­tö­cki­gen Haus nichts Un­ge­wöhn­li­ches an­zu­se­hen. Ganz nor­ma­le Back­stein­fass­ade, ganz nor­ma­le Bal­ko­ne, ganz nor­ma­le Fens­ter. Dass sich da­hin­ter ein bar­rie­ref­rei­es Nie­dri­ge­ner­gie­haus mit Fern­wär­me­an­schluss und al­ler­lei smar­ten Fea­tu­res ver­birgt, merkt man erst im Foy­er. Ne­ben dem Lift hängt der rie­si­ge Touch­screen, der eben noch ge­streikt hat­te. Zu Show­zwe­cken wur­de nun für ei­ne Nacht ei­nes der bei­den Gäs­te­zim­mer ge­bucht. Dies­mal mit Er­folg.

Im Spei­se­saal ne­ben­an sit­zen ei­ni­ge äl­te­re Da­men und Her­ren mit ih­ren iPads und tip­pen ir­gend­was ins Glas. Dem­nächst, hört man, wer­de es ei­nen Vor­trag im Haus ge­ben, bei dem ei­ne Ver­suchs­rei­he, ein Ko­ope­ra­ti­ons­pro­jekt der Aal­to-Uni­ver­si­tät und der Uni­ver­si­tät Tam­pe­re, vor­ge­stellt wird. Es geht um Ro­bo­tik. Man ist auf der Su­che nach Se­nio­ren, die ei­nen ro­bo­te­run­ters­tütz­ten Wohn­all­tag er­pro­ben sol­len.

„Na­tür­lich hö­re ich mir das an. Und viel­leicht wer­de ich mich auch be­wer­ben, um da mit­zu­ma­chen“, sagt Lee­na Vah­te­ra. Den smar­ten Tech­no­lo­gien ist die 69-Jäh­ri­ge ja nicht ge­ra­de ab­ge­neigt. Ne­ben dem Licht­schal­ter zu ih­rem Bad, wird man spä­ter se­hen, hängt ein klei­nes Dis­play, das den wö­chent­li­chen Was­ser­ver­brauch an­zeigt. 179 Li­ter sind’s bis zu die­sem Mitt­woch. „Ich bin ein­fach neu­gie­rig, wel­che Res­sour­cen ich ver­brau­che.“

Vah­te­ra wohnt in ei­ner 47 Qua­drat­me­ter gro­ßen Woh­nung im drit­ten Stock. Der durch­schnitt­li­che Kauf­preis der Woh­nun­gen im Haus liegt bei 4370 Eu­ro pro Qua­drat­me­ter. Die Ein­rich­tung ist ei­ne Mi­schung aus Fif­ties und An­ti­qui­tä­ten, das Bett ist le­dig­lich über ein kur- zes Wand­stück vom Wohn­be­reich ge­trennt, ein­zig der blaue Schau­kel­stuhl in der Raum­mit­te ver­rät ein biss­chen was über den schwung­vol­len Le­bens­ab­schnitt der hier Woh­nen­den.

„Mein Mann ist vor ei­ni­gen Jah­ren ver­stor­ben. Ir­gend­wann ein­mal war für mich klar, dass ich nicht al­lei­ne wei­ter­le­ben will. Die­ses Pro­jekt kam mir wie ge­ru­fen.“ Es sind vor al­lem die Ge­mein­schafts­flä­chen, die sie schätzt: den ho­hen Spei­se­saal im Erd­ge­schoß, die of­fe­ne Bi­blio­thek mit Blick in die Kü­che, die Werks­tatt, die Dach­ter­ras­se und na­tür­lich die bei­den Sau­nas im letz­ten Stock. „Das Dach­ge­schoß ist su­per, weil die meis­ten hier ih­re Blu­men und Kräu­ter an­pflan­zen. Aber das ist nicht so mei­nes. Ich hab’s mehr mit Rad­fah­ren und Ski­fah­ren.“

Rohr­post, aber smart

Ei­nes der Highl­ights im Haus ist die Müll­ent­sor­gungs­an­la­ge un­ten auf der Stra­ße. In der Leon­ka­tu an der Süd­sei­te des Hau­ses steht ei­ne der Be­wohn­er­in­nen und hält ih­ren Chip an den Sen­sor. Es öff­net sich ei­ne Art Wasch­ma­schi­nen­bul­lau­ge oh­ne Glas, in die der Müll­sack hin­ein­fällt. Beim Schlie­ßen der Tür wird im In­ne­ren der An­la­ge ein Un­ter­druck er­zeugt, der den Müll wie in ei­nem Rohr­post­sys­tem ins Müll­zen­trum des neu­en Stadt­teils Ka­la­sa­ta­ma saugt.

„Für Pa­pier, Kar­ton­pro­duk­te, Bio­ab­fäl­le und Rest­müll gibt es un­ter­schied­li­che Tü­ren und so­mit auch un­ter­schied­li­che Ka­nal­sys­te­me“, er­klärt Kai­sa Spil­ling, De­ve­lop­ment Ma­na­ge­rin beim Pro­jekt­dienst­leis­ter Fo­rum Vi­ri­um Hel­sin­ki, der das Pi­pe­li­ne-Sys­tem in der Smart Ci­ty Ka­la­sa­ta­ma mit­ent­wi­ckelt hat. „Die Elek­tro­nik­chips an den Müll­tü­ren hel­fen uns auch da­bei ab­zu­schät­zen, wo zu wel­chem Zeit­punkt wel­che Art von Müll an­fällt.“ Auf die­se Wei­se wol­le man die Pi­pe­li­ne-Sys­te­me in Zu­kunft noch bes­ser kon­zi­pie­ren und di­men­sio­nie­ren.

„Al­so, von sol­chen groß­ar­ti­gen Fea­tu­res kön­nen mei­ne Kin­der nur träu­men“, sagt ein Be­woh­ner im Haus. „Die Tech­no­lo­gien sind nicht nur ei­ne wich­ti­ge öko­lo­gi­sche Maß­nah­me wie et­wa bei der Müll­ent­sor­gung, son­dern auch ein gu­tes Werk­zeug, um mit an­de­ren Men­schen in Kon­takt zu tre­ten und sich im Le­bens­all­tag zu or­ga­ni­sie­ren.“ Ge­nau das ist die ur­sprüng­li­che Idee des Smart-Ho­me-Kon­zepts, das mit der Di­gi­ta­li­sie­rung und Com­pu­te­ri­sie­rung der Haus­tech­nik vor et­wa zehn Jah­ren den Markt flu­te­te.

„Ich weiß nicht, ob un­ser Ko­ti­sa­ta­ma ein smar­tes Haus ist“, sagt Tert­tu Fält. In ih­rer Bril­le spiegelt sich der Touch­screen im Foy­er. Die Gäs­te­zim­mer-Bu­chung hat sie mit ei­nem Klick so­eben wie­der stor­niert. „Je­den­falls war ich sehr smart, weil ich hier ein­ge­zo­gen bin.“

Der Standard, Sa., 2016.05.07

01. Mai 2016Wojciech Czaja
db

Der Tanz des Lattenzauns

Der Citygate Tower im äußersten Norden von Wien ist eine eigenwillige Erscheinung. Das 35-geschossige Wohnhochhaus vereint Ästhetik und Banalität, Opulenz und Wirtschaftlichkeit, silbernschimmernde Eleganz und kostengünstigen Baumarkt-Chic.

Der Citygate Tower im äußersten Norden von Wien ist eine eigenwillige Erscheinung. Das 35-geschossige Wohnhochhaus vereint Ästhetik und Banalität, Opulenz und Wirtschaftlichkeit, silbernschimmernde Eleganz und kostengünstigen Baumarkt-Chic.

Autohäuser, Reifenhändler, Tankstellen, Lagerhallen, Erotiksupermärkte, XXL-Discounter, Hundefutter- und Katzenstreugeschäfte und mittendrin ein dunkelblauer Ikea. Doch plötzlich ragen aus dem peripheren Gewerbe- und Fachmarktsumpf, als hätte jemand ein Stückchen Erdkruste extrudiert, zwei monumentale Hochhausstelen in den Himmel. Auf den ersten Blick wirken die beiden, zugegebenermaßen nicht uneleganten Turmbrüder wie fehlgelandete Versatzstücke aus Hongkong, Benidorm oder Las Vegas.

Tatsächlich ist die Existenz des 100 m hohen Citygate Towers und des etwas kleineren Leopoldtowers einer urwienerischen Verkettung von stadtplanerischen Umständen zu verdanken. Durch die Verlängerung der U-Bahn-Linie 1 wurde der Norden Wiens, beinahe 10 km vom Stadtzentrum entfernt, unmittelbar aufgewertet. Die Immobilienbranche witterte ihre Chance und machte sich schon bald für eine lukrative Umwidmung der letzten noch ungenutzten Freiflächen im Quartier stark. Luxuriöse Bürotürme mit Blick auf ganz Wien. Das war die Vision.

Wohnungen statt Büros

Im Zuge der Finanzkrise 2008 musste der Investor und Immobilienentwickler Georg Stumpf, der sich mit der Errichtung des 202 m hohen Millennium Towers 1999 einen Namen gemacht hatte, jedoch umdenken und beschloss, die umgewidmeten Grundstücke mit den großen zugelassenen Gebäudehöhen nun für Wohnzwecke zu nutzen. Keine schlechte Idee angesichts steigender Einwohnerzahlen, dachte sich die Stadt Wien und gab für die Pläne grünes Licht.

Ursprünglich wollte der Bauherr, nachdem die Turmpläne anderer Büros vom Grundstücks- und Fachbeirat bereits zweimal abgelehnt worden waren, von dem international etablierten Architekturbüro querkraft lediglich einen Fassadenentwurf. Dies lehnten die Architekten jedoch ab und erhielten schließlich den Auftrag für die gesamte Planung, und nun ist das Resultat der fast zehn Jahre andauernden Genese endlich gebaute Materie.

»Wenn schon Hochhaus, dann aber wirklich«, sagt Jakob Dunkl, Partner bei querkraft. »Ein Hochhaus muss nicht nur alle Funktionen wie normale Gebäude erfüllen, sondern stellt darüber hinaus ein weithin sichtbares Zeichen in der Stadt dar. Wir wollten diesen skulpturalen Charakter aus der Struktur heraus entwickeln, und so sind die tanzenden Linien an der Fassade Abbild der Funktion und des Innenlebens.« Im Klartext: Der Turm ist über die gesamte Höhe mit Balkonbändern umfasst. Zu jeder Wohnung gehört zumindest ein Bereich, an dem sich der 1,20 m tiefe, lineare Freiraum punktuell auf 2,10 m weitet. Die Ausbuchtung, die Frühstückstisch und Sonnenliege aufnehmen kann, wandert pro Geschoss um ein paar Zentimeter und führt auf diese Weise zum charakteristischen, aus der Ferne wirksamen, linearen Relief.

Üppig und sparsam zugleich

»Ja, natürlich ist die Geste opulent, aber immerhin ist es uns gelungen, diese Opulenz mit den einfachsten und billigsten Mitteln herzustellen«, erklärt der Architekt. Zwar habe man sich auch hochwertige Materiallösungen überlegt, letztendlich fiel die Wahl jedoch auf einen handelsüblichen Lattenzaun, den man auch im Baumarkt bekommt. Mehr als 38 000 Aluminiumlatten wurden im Citygate Tower verbaut, 4,2 km in Summe, wobei die Höhe und Dichte der Elemente im Bereich der runden Ausbuchtung sichtbar zunimmt. Hier sollte auch im 30. Stock noch ein Gefühl von Geborgenheit entstehen können. In gewisser Weise hat sich querkraft mit dieser hocheleganten Low-Budget-Lösung der pulsierenden, tanzenden Adern seine Alleinstellungsphilosophie der ersten ­Bürostunde erhalten: »Big wow for little money«.

Das an dieser Stelle eingesparte Geld – ein konventioneller Lattenzaun belastet das Baubudget weniger als jedes andere Brüstungsmaterial – sollte der sozialen Nachhaltigkeit zugutekommen. An der Nordseite des Turms setzten die Architekten einen haushohen, vertikalen Schnitt an. Statt Wohnungen sind hier Gemeinschaftsräume und Infrastruktureinrichtungen für die Allgemeinheit untergebracht. Wie Schubladen schweben die Funktionsboxen in unterschiedlichen Etagen, mal ein-, mal zweigeschossig, mal weiter vorne, mal leicht eingerückt. Die dazwischen liegenden Lufträume dienen als Gemeinschaftsterrassen und Belichtungsschotten für den weit im Gebäudeinnern ­liegenden Erschließungskern.

Soweit die Theorie. Die Praxis ist eine andere. Wo bis zuletzt Skygarten, Heimkino, Kletterhalle und Tischtennisraum geplant waren, befinden sich nun trostlose Mehrzweckräume mit Spannteppich und Alibimobiliar. Lediglich Yogaraum und Waschküche dürften den Transfer von der Vision in die Realität einigermaßen unbeschadet überstanden haben. »Wir haben vier Kinder und wir würden die Kinderspielräume gerne öfter nutzen«, sagt Farsana Nuuri, wohnhaft im sechsten Stock. »Aber das sind leere Räume mit nichts drin. Was sollen wir da machen? Ab und zu treffe ich dort andere Mütter, aber da wäre wirklich mehr möglich gewesen.«

Auch die Architekten sind enttäuscht, dass ihre Idee der »vertikalen Dorf­straße« nicht konsequent verfolgt wurde. Dominik Bertl von querkraft, der in das Projekt von Anfang an involviert war, erklärt »Wir haben die Räume im Kostenrahmen geplant, aber letztendlich beschloss der Investor, den Rotstift anzusetzen und die soziale Nachhaltigkeit gegen kurzfristige Wirtschaftlichkeit einzutauschen.« Besonders bitter ist das für den geplanten ­Fitnessraum im 30. und 31. Stock. Statt mit Sportgeräten wurde die Skybox mit Lagerabteilen wie in einem Keller zugestellt. Den Blick ins Weinviertel gibt’s gratis dazu. Einen luxuriöseren und ressourcenfeindlicheren Hort für Einmachgläser und leere Kartons gibt es in ganz Europa nicht.

Charmant kaschiert

Sinnvollerweise überaus luxuriös und geradezu vereinnahmend ist hingegen das Farbkonzept des Wiener Künstlers Heimo Zobernig. Es beruht auf einer Studie mit 1 888 Männern und Frauen und bildet ab, mit welcher Farbe die Befragten jeweils den Begriff »Geselligkeit« assoziieren. Das Resultat der Umfrage ist nun als prozentuales Farbspektrum auf die Höhe des gesamten Turms aufgeteilt: Treppenhaus, Korridore, Mehrzweckräume, Fassadeneinschnitt an der Nordseite. Ein Glück, dass nur 8 % der Befragten einen Braunton favorisierten. »Ich habe das Glück, in einem grünen Geschoss zu wohnen, aber ich finde die Idee mit den Farben auch grundsätzlich sehr schön«, meint Branko Pavlovsky aus dem 21. Stock. »Das ist mir allemal lieber als weiße, gesichtslose Flure, denn tatsächlich ist das Innere eines solchen Hochhauses recht eintönig und repetitiv.«

Die Farben verleihen dem Turm, der in konventioneller Bauweise und Struktur errichtet wurde, eine zusätzliche Qualität. Viel Effekt für wenig Geld eben. Alles andere als üppig und opulent nämlich ist das konstruktive und technische Innenleben des Wohnturms, der mit insgesamt 309 geförderten und frei finanzierten, durchwegs geschickt strukturierten und modular aufgebauten Wohnungen bestückt ist: Stahlbetonbauweise, Vollwärmeschutzfassade, Fernwärme, einfachste technische Details. Man sehe schon, dass an einigen Stellen gespart wurde, sagt ein Bewohner im raschen Vorbeigehen im Treppenhaus. Aber es sei auch das Bemühen sichtbar, die Wirtschaftlichkeit charmant zu kaschieren. Das Konzept scheint gelungen. Viele Bewohner haben an den Alulatten auf ihren Balkonen großen Gefallen gefunden. Dass es dabei um ein preisgünstiges Ready-made handelt, ist nur den wenigsten bewusst.

Der Citygate Tower, dieses Gebilde über dem nordwienerischen Gewerbeteppich, ist ein eleganter Turm, dessen tanzende Linien man von Weitem gerne betrachtet. Die Architekten haben beste Arbeit geleistet, doch solange der gewinnmaximierungsorientierte Investor an der sozialen Qualität des Projekts spart, bleibt man besser auf Distanz. Soeben hat querkraft eine Petition mit ­einer Gratis-Postwurfsendung an die 309 Haushalte des Turms gestartet. In ­einem kleinen Büchlein wird das ursprüngliche Konzept des Hauses erläutert. Darin erfährt man z. B. über die zunächst geplante Nutzung der »Kellerab­teile« im 30. und 31. Stock und dass die Skygärten mit Bäumen bestückt werden sollten. Vielleicht, so Jakob Dunkl, finde sich ja eine Gruppe von Bewohnern, die die Gemeinschaftsräume einrichtet und das nachholt, was der Investor versäumt hat – mit etwas mehr sozialer und funktionaler Opulenz.

db, So., 2016.05.01



verknüpfte Bauwerke
CGLA Wohnhochhaus



verknüpfte Zeitschriften
db 2016|05 Opulent

09. April 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Er­otik in Schwarz-Weiß

Bei Kunst ver­ste­hen die Schwei­zer kei­nen Spaß. Oder et­wa doch? Ein be­weg­ter Spa­zier­gang durch die sinn­li­che Welt des neu­en Bas­ler Kunst­mu­se­ums.

Bei Kunst ver­ste­hen die Schwei­zer kei­nen Spaß. Oder et­wa doch? Ein be­weg­ter Spa­zier­gang durch die sinn­li­che Welt des neu­en Bas­ler Kunst­mu­se­ums.

Man fühlt sich wie ein Sta­tist in ei­nem Schwarz-Weiß­fo­to. Das Au­ge kennt sich nicht aus. Das Hirn so­wie­so nicht. Kom­plet­te Über­for­de­rung. „Es ist fast so, als hät­te je­mand im Pho­tos­hop das Bild de­sa­tu­riert, als wä­ren al­le Farb­nu­an­cen ver­schwun­den“, sagt Ema­nu­el Christ, Ar­chi­tekt des Hau­ses, wei­ßes Hemd, dun­kel­grau­er An­zug, hel­ler Teint, per­fekt ins mo­noch­ro­me Bild pas­send. „Ge­nau das war un­se­re Ab­sicht. Die Büh­ne gilt der Far­ben­viel­falt der Kunst der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts. Wir ha­ben uns ent­schie­den, die­sen Wer­ken räum­li­chen Vor­rang zu ge­ben.“

Ja, wenn es bloß so wä­re. Tat­säch­lich wan­delt man sin­nes­be­rauscht und glück­trun­ken durch die Räu­me, schweift mit der Hand über den grau­en Kratz­putz und er­wischt sich beim Strei­cheln und Lieb­ko­sen der mar­mor­nen Stie­gen­brüs­tung, die mit ei­ner ge­wis­sen Spe­ckig­keit so et­was wie Soft-Por­no-Er­otik in die Ar­chi­tek­tur­welt hin­ein­zau­bert. Viel Ge­dan­ken­spiel­raum für die Mu­se der Kunst, scheint es auf den er­sten Blick, bleibt da nim­mer.

Es ist ei­ne ge­wis­se Be­ru­hi­gung zu wis­sen, dass man of­fen­bar nicht der Ein­zi­ge ist, der hier­orts von text­ur­el­len, ma­te­riel­len Wal­lun­gen heim­ge­sucht wird. Die Da­men und Her­ren, die Jour­na­lis­tin­nen und Re­dak­teu­re, die sich bei die­ser Ex­klu­siv-Pre­view im neu­en Zu­bau zum Kunst­mu­se­um Ba­sel vor we­ni­gen Ta­gen an­ge­schlos­sen ha­ben, steht bei der Be­rüh­rung des Hau­ses der­sel­be Hauch von Glücks­elig­keit ins Ge­sicht ge­schrie­ben. Kom­men­den Don­ners­tag, den 14. April, wird das schon jetzt preis­ver­däch­ti­ge Bau­werk fei­er­lich er­öff­net. Die Öf­fent­lich­keit darf sich freu­en.

„Dass wir das Kunst­mu­se­um Ba­sel er­wei­tern konn­ten, ist zu ei­nem sehr gro­ßen Teil dem En­ga­ge­ment und der Groß­zü­gig­keit der Pri­vat­wirt­schaft zu ver­dan­ken“, sagt Guy Mo­rin, Bürg­er­meis­ter und Re­gie­rungs­prä­si­dent des Kan­tons Ba­sel-Stadt. 50 Pro­zent der ins­ge­samt 100 Mil­lio­nen Schwei­zer Fran­ken (92 Mil­lio­nen Eu­ro) stam­men vom Kan­ton Ba­sel, die rest­li­chen 50 Pro­zent so­wie auch die Kos­ten für das Grund­stück steu­er­te die Ro­che-Er­bin und Mä­ze­nin Ma­ja Oe­ri über die von ihr ins Le­ben ge­ru­fe­ne Lau­renz-Stif­tung bei. „Die­ses Zu­sam­men­spiel von Mä­ze­na­ten­tum und Öf­fent­lich­keit ist für das Kunst­mu­se­um iden­ti­täts­stif­tend.“

100 Mil­lio­nen Fran­ken, die in der Schweiz nur so aus dem Füll­horn flie­ßen, sind kein Klacks. Schon gar nicht für ein 8000 Qua­drat­me­ter klei­nes Haus mit be­schei­de­nen 3300 Qua­drat­me­tern Aus­stel­lungs­flä­che. Das macht, ganz im Geis­te eid­ge­nös­si­scher Re­chen­kul­tur, fast 12.000 Eu­ro Bau­kos­ten auf den Qua­drat­me­ter. „Ja, aber das geht gar nicht an­ders“, meint Ste­fan Char­les, kauf­män­ni­scher Di­rek­tor. „Qua­li­tät kos­tet. Au­ßer­dem bau­en wir ja nicht für uns al­lei­ne, son­dern in er­ster Li­nie für die Ge­sell­schaft und für die Men­schen nach uns.“ Die­ser Weit­blick, die­ses tief in den Kno­chen ste­cken­de kul­tu­rel­le, ge­ne­ra­tio­nen­über­grei­fen­de Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein lässt den Ös­ter­rei­cher vor Scham er­rö­ten.

Schon heu­te be­sitzt das Kunst­mu­se­um Ba­sel ei­ne der be­deu­tend­sten Ge­mäl­de­samm­lun­gen der Welt. Die Ti­mes lis­tet die In­sti­tu­ti­on so­gar un­ter den fünf be­sten Kunst­mu­se­en der Welt. Der Aus­bau des Hau­ses ist ein Quan­ten­sprung. In den neu­en Räum­lich­kei­ten, die an das denk­mal­ge­schütz­te Stamm­haus von 1936 über ei­ne un­ter­ir­di­sche Un­ter­füh­rung un­ter der Du­fours­tra­ße ver­bun­den sind, sol­len ne­ben lau­fen­den Wech­sel­aus­stel­lun­gen vor al­lem Wer­ke ame­ri­ka­ni­scher Künst­ler seit 1960 aus­ge­stellt wer­den – Roy Liech­tens­tein, An­dy War­hol, Ja­sper Johns, Mark Roth­ko, Frank Stel­la, Do­nald Judd oder Cy Twom­bly. „Aus ku­ra­to­ri­scher Sicht kann ich sa­gen, dass sich das sehr gut ver­trägt und dass sich die Räu­me wun­der­bar zum Ar­bei­ten eig­nen“, meint Ni­na Zim­mer, Ku­ra­to­rin und Vi­ze­di­rekt­orin im Hau­se. „Die Ar­chi­tek­tur ist zwar brand­neu, aber sie hat schon jetzt so et­was wie ei­ne Au­ra, wie ei­ne See­le, und man kann gar nicht er­war­ten, dass sich in die­sen Räum­lich­kei­ten bald ei­ne Pa­ti­na bil­den wird. Dann wird die­ses Ge­bäu­de noch mehr, noch deut­li­cher zu uns spre­chen.“

Pass­iv­haus­qua­li­tä­ten

Tat­säch­lich ist der Dia­log schon jetzt ein reich­hal­ti­ger. Das Stie­gen­haus ist in küh­len, grau­en, hap­tisch an­spre­chen­den Kratz­putz ge­hüllt. Die Me­tho­de ist auf­wen­dig und hand­werk­lich her­aus­for­dernd, weil der Putz zu­nächst ein we­nig an­zieht, be­vor der Trock­nungs­pro­zess un­ter­bro­chen und die Ober­flä­che mit ei­ner Na­gel­bür­ste wie­der auf­ge­kratzt wird. Die Ris­se, die sich da­bei bil­den, ver­lei­hen ihm auf die­se Wei­se ähn­li­che bau­phy­si­ka­li­sche Ei­gen­schaf­ten wie Lehmp­utz. Tau­sen­de Qua­drat­me­ter da­von zie­ren Wand und De­cke. „Die­ser Putz kann so viel Feuch­tig­keit und Wär­me ab­sor­bie­ren, dass die Un­ter­schie­de zwi­schen Tag und Nacht, zwi­schen Som­mer und Win­ter, zwi­schen vie­len und we­ni­gen Be­su­chern gut ka­schiert wer­den“, er­klärt Ema­nu­el Christ, Part­ner im Bas­ler Ar­chi­tek­tur­bü­ro Christ & Gan­ten­bein. Das ent­la­stet die Hei­zung, Küh­lung und Kli­ma­ti­sie­rung der Räu­me so sehr, dass das Ge­bäu­de un­term Strich Pass­iv­haus­qua­li­tät er­reicht. „Die Ku­ra­to­ren dach­ten am An­fang so­gar, dass die Kli­ma- und Luft­mess­ge­rä­te ka­putt sei­en“, so Christ. „Un­ab­hän­gig von Wet­ter, Tem­pe­ra­tur und An­zahl der Men­schen im Raum war die an­ge­zeig­te Luft­qua­li­tät im­mer die glei­che.“

Hoch­wer­tigs­ter Lu­xus­putz al­so. Da­zu ge­schmei­dig grau­er Bar­dig­lio-Mar­mor aus Car­ra­ra. Ge­wachst – und nicht po­liert, wie der Ar­chi­tekt be­tont, denn das hät­te al­les ka­putt­ge­macht. Ver­kleb­tes Ei­chen­par­kett mit hoch be­last­ba­ren Fül­lun­gen aus Holz­ze­ment­mör­tel – be­ste ös­ter­rei­chi­sche Hand­ar­beit. Und dann ei­ne far­blos-graue Fass­ade aus ge­brann­ten Zie­geln, de­nen mit­tels Stick­stoff das Gelb und Rot ent­zo­gen wur­de. Die in­teg­rier­te, in­di­rek­te LED-Be­leuch­tung im um­lau­fen­den Fries hoch oben, die das Kunst­mu­se­um in be­weg­li­che Schrif­ten und Or­na­men­te hüllt, lässt den Be­su­cher zum wie­der­hol­ten Ma­le vor Be­geis­te­rung in die Knie ge­hen. Gro­ße Ar­chi­tek­tur.

Doch plötz­lich grinst Christ in die Run­de. Den eben noch ver­zück­ten, vor Ehr­furcht er­starr­ten Jour­na­lis­ten und Re­dak­teu­rin­nen steht nun der Schock ins Ge­sicht ge­schrie­ben. Tü­ren, Hand­lauf und Lam­pen­ein­fas­sun­gen sind aus han­dels­üb­li­chem, fle­ckig gal­va­ni­sier­tem Stahl­blech zu­sam­men­ge­schweißt, wie man sie in je­dem x-be­lie­bi­gen Bau­markt auf der gan­zen Welt er­hält. Ein Pla­nungs­feh­ler? Ei­ne Fehl­be­stel­lung? Ein Bau­stel­len­pro­vi­so­ri­um gar? „Ein Mu­se­um ist nicht zu­letzt ei­ne La­ger­stät­te“, sagt Christ. „Auch die­sen in­dus­tri­el­len, un­be­schö­nig­ten Touch woll­ten wir herz­ei­gen, sonst wä­re die­ses Haus viel zu pro­per, zu cle­an und zu vor­her­sag­bar schwei­ze­risch ge­wor­den. Es braucht das Nor­ma­le. Das ist schon auch se­xy, oder?“

Der Standard, Sa., 2016.04.09



verknüpfte Bauwerke
Kunstmuseum Basel - Erweiterung

02. April 2016Wojciech Czaja
Der Standard

„Ich will die Welt seis­mo­gra­fisch er­fas­sen“

Die Aus­stel­lung „Zoom!“ im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien zeigt Stadt­bil­der aus der Sicht nam­haf­ter Fo­to­gra­fen. Ju­li­an Rö­der wid­me­te sich den in­fras­truk­tu­rel­len Er­schüt­te­run­gen in der ni­ge­ria­ni­schen Me­ga­me­trop­ole La­gos.

Die Aus­stel­lung „Zoom!“ im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien zeigt Stadt­bil­der aus der Sicht nam­haf­ter Fo­to­gra­fen. Ju­li­an Rö­der wid­me­te sich den in­fras­truk­tu­rel­len Er­schüt­te­run­gen in der ni­ge­ria­ni­schen Me­ga­me­trop­ole La­gos.

Stan­dard: Gel­be, aus­ran­gier­te Bus­se, Well­blech­hüt­ten bis zum Ho­ri­zont, ein ein­zi­ges Meer aus Smog und Staub. Was emp­fin­det man als Fo­to­graf bei so ei­nem An­blick?

Rö­der: Ich bin mir selbst wie ein Fremd­kör­per vor­ge­kom­men. Als Fo­to­graf ist man au­to­ma­tisch im­mer auch Be­ob­ach­ter und Voy­eur, aber in die­sem Fall wa­ren die Kon­tra­ste sehr hart. Ich fühl­te mich als Ein­dring­ling in ei­ne Dys­to­pie, von der ich nichts ver­ste­he. Hin­zu kommt, dass das Fo­to­gra­fie­ren in La­gos nicht ein­fach ist, weil es mit viel bü­ro­kra­ti­schem Auf­wand ver­bun­den ist und man für fast je­des Fo­to ei­ne Be­wil­li­gung be­nö­tigt.

Stan­dard: Wa­rum emp­fin­den Sie La­gos als Dys­to­pie, als Hor­ror­bild ei­ner Stadt?

Rö­der: La­gos ist hart und her­aus­for­dernd. Die Stadt ver­langt ei­nem viel Krea­ti­vi­tät und Ei­gen­en­ga­ge­ment ab. Und sie hat kaum et­was, was ei­ne Groß­stadt zu ei­nem funk­tio­nie­ren­den So­zi­al­raum macht – zu­min­dest nicht in mei­nem Ver­ständ­nis. Es gibt sehr we­ni­ge Stra­ßen, aber sehr vie­le Au­tos. Mor­gens fah­ren al­le in die Stadt rein, nach­mit­tags wie­der raus. Über­all ist Stau, so­ge­nann­ter Slow-Go. Es ist ex­trem. An man­chen Ta­gen ha­be ich von ei­nem En­de der Stadt zum an­de­ren acht Stun­den ge­braucht.

Stan­dard: Die größ­ten Her­aus­for­de­run­gen von La­gos sind Strom, Was­ser und öf­fent­li­che Mo­bi­li­tät. In wel­chem Zu­stand be­fin­det sich die In­fras­truk­tur?

Rö­der: Was die Mo­bi­li­tät be­trifft: Es gibt Sam­mel­ta­xis und gel­be Nah­ver­kehrs­bus­se. Vor kur­zem wur­de nun ein Schnell­bus­sys­tem, ein so­ge­nann­ter Bus Ra­pid Trans­port (BRT), ein­ge­führt. Das ist ei­ne gro­ße Be­rei­che­rung für die Stadt. So­viel ich weiß, ist das das ein­zi­ge BRT-Sys­tem süd­lich der Sa­ha­ra.

Stan­dard: Was ist mit dem Rest?

Rö­der: Im­mer wie­der bricht die öf­fent­li­che Strom­ver­sor­gung zu­sam­men. Wer es sich leis­ten kann, hat ei­nen ei­ge­nen Ge­ne­ra­tor. Ei­ni­ge sind klein wie Kof­fer, an­de­re groß wie ein Lkw. Das Ge­räusch der Ge­ne­ra­to­ren ist an je­der E­cke zu hö­ren.

Stan­dard: Wie fin­den sich die Men­schen da­rin zu­recht?

Rö­der: Wer in La­gos lebt, ist ge­zwun­gen, zu bas­teln und sich selbst zu or­ga­ni­sie­ren. Die Stadt ist ei­ne ein­zi­ge Werks­tatt. Die gel­ben Bus­se auf dem Bus­park­platz, die ich fo­to­gra­fiert ha­be, be­le­gen das sehr gut. Man­che war­ten auf Pass­agie­re, an­de­re wer­den ge­ra­de ge­war­tet. In La­gos ist je­der Ein­woh­ner zu­gleich Im­pro­vi­sa­ti­ons­künst­ler und In­ge­ni­eur.

Stan­dard: Ih­re Bild­se­rie, die nun in der Aus­stel­lung „Zoom!“ zu se­hen ist, heißt „La­gos Trans­for­ma­ti­on“. Wo­rin be­steht die­se Ver­wand­lung?

Rö­der: Das ist ein stadt­be­kann­tes Schlag­wort, ein Slo­gan des frü­he­ren Gou­ver­neurs und heu­ti­gen Mi­nis­ters für En­er­gie, In­fras­truk­tur und Woh­nen, Ba­ba­tun­de Fas­ho­la. Er möch­te La­gos kom­plett um­krem­peln und in ei­ne le­bens­wer­te Stadt trans­for­mie­ren. Zu­min­dest ist das sei­ne Vi­si­on. Mir schien der Be­griff sehr pas­send, denn tat­säch­lich be­fin­det sich La­gos im Um­bruch. Vie­le Bli­cke, die ich da­mals in mei­nen Fo­tos ein­ge­fan­gen ha­be, exis­tie­ren heu­te nicht mehr. Vie­le Be­woh­ner wur­den ab­ge­sie­delt, und an­stel­le der frü­he­ren Slums und in­for­mel­len Sett­le­ments gibt es heu­te Parks, Wohn­häu­ser und lu­kra­ti­ve Bü­ro­bau­ten.

Stan­dard: La­gos zählt zu den teu­ers­ten Im­mo­bi­lien­märk­ten Afri­kas.

Rö­der: La­gos liegt zwi­schen Meer und La­gu­ne ein­ge­zwängt und hat mit rie­si­ger Platz­not zu kämp­fen. Ich ha­be den Ein­druck, dass das ein sehr har­ter und un­re­gu­lier­ter Im­mo­bi­lien­markt ist.

Stan­dard: Mit rund 18 Mil­lio­nen Ein­woh­nern ist der Groß­raum La­gos heu­te die größ­te Stadt Afri­kas und die schnell­stwach­sen­de Stadt der Welt. Laut Prog­no­sen der UN wird La­gos 2020 die dritt­größ­te Stadt der Welt sein. Wird La­gos die­sem Wachs­tum stand­hal­ten kön­nen?

Rö­der: Ich glau­be schon. La­gos hat ge­lernt, mit Cha­os und Plan­lo­sig­keit um­zu­ge­hen, und ir­gend­wie scheint sich die Stadt mit die­sem Know-how gut er­hal­ten zu kön­nen. Ich kann mir nicht vor­stel­len, dass sie ei­nes Ta­ges kol­la­bie­ren wird. Die Men­schen sind gut vor­be­rei­tet.

Stan­dard: Ist die Groß­stadt, die Sie in Ih­ren Bil­dern im­mer wie­der ein­fan­gen, ein ge­rech­ter Le­bens­ort?

Rö­der: Nein. Auf kei­nen Fall. Die Groß­stadt ist der Raum, in dem sich Chan­cen öff­nen kön­nen und der aus die­sem Grun­de auch vie­le Leu­te, sehr vie­le Leu­te an­zieht. Das führt je­doch un­wei­ger­lich zu Macht­ver­hält­nis­sen, zu Kämp­fen um Be­haup­tung von Raum und Ver­tei­lung von Res­sour­cen. Und das ist meist al­les an­de­re als ge­recht.

Stan­dard: Pe­dro Ga­dan­ho, Ku­ra­tor am Mu­se­um of Mo­dern Art in New York, hat ein­mal ge­sagt: „Je­de ein­zel­ne Groß­stadt ist be­schis­sen. Es geht nur da­rum her­aus­zu­fin­den, wel­che der be­schis­se­nen Städ­te am be­sten funk­tio­niert.“ Stim­men Sie dem zu?

Rö­der: Schwer zu sa­gen. Ich den­ke, Groß­städ­te sind ei­gent­lich ei­ne wun­der­ba­re Sa­che. Al­ler­dings sind die Pro­ble­me ei­ner Ge­sell­schaft in der Stadt ein­fach viel sicht­ba­rer. Die Fra­ge ist, ob man das der Stadt als Sied­lungs­form in die Schu­he schie­ben kann und darf.

Stan­dard: Sie ha­ben fast drei Wo­chen in La­gos ver­bracht. Wie ver­än­dert sich in die­ser Zeit der Blick des Fo­to­gra­fen?

Rö­der: Nor­mal­er­wei­se hat man nach zwei Wo­chen schon ein ver­trau­tes Ver­hält­nis zu ei­nem Ort auf­ge­baut. Das ist mir in La­gos nicht ge­lun­gen. Die Stadt ist be­rau­schend und hat mich bis zum letz­ten Tag per­ma­nent über­wäl­tigt.

Stan­dard: Sie sind be­ruf­lich viel in Afri­ka un­ter­wegs. Was reizt Sie an Gam­bia, Ni­ge­ria, Ägyp­ten?

Rö­der: Die Er­dung der Men­schen. Das Er­ler­nen des Frem­den. Der Kon­trast zu mei­nem ei­ge­nen Le­ben.

Stan­dard: Sie be­schäf­ti­gen sich in Ih­rer Ar­beit prin­zi­pi­ell viel mit po­li­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Macht und mit Un­gleich­heit und Un­gleich­ge­wich­ten.

Rö­der: Ich be­schäf­ti­ge mich mit in mei­ner Fo­to­gra­fie mit Macht und Öko­no­mie. In die­sen Wi­der­sprü­chen und Un­ge­rech­tig­kei­ten, scheint es, kann ich mich am be­sten ent­fal­ten. Ich brau­che die­se Reib­flä­che für mei­ne Ar­beit. Ich möch­te die­se Span­nun­gen und Un­ge­rech­tig­kei­ten ab­bil­den und the­ma­ti­sie­ren.

Stan­dard: Was sa­gen uns Ih­re Bil­der?

Rö­der: Der Mensch macht, was er kann und wo­zu er ims­tan­de ist, wenn man ihn nicht da­ran hin­dert.

Stan­dard: Wel­chen Bei­trag kann die Fo­to­gra­fie leis­ten, um die­se „Dys­to­pie“, um dies mit Ih­ren ei­ge­nen Wor­ten aus­zu­drü­cken, zu lin­dern?

Rö­der: Mit mei­ner Ar­beit möch­te ich Men­schen die Mög­lich­keit bie­ten, sich beim Be­trach­ten Ge­dan­ken über die Welt zu ma­chen. Manch­mal kommt es mir vor, als sei­en mei­ne Fo­tos ei­ne Mög­lich­keit, die Er­schüt­te­run­gen in der Welt seis­mo­gra­fisch zu er­fas­sen.

Ju­li­an Rö­der ist 1981 in Er­furt ge­bo­ren.

Er stu­dier­te Fo­to­gra­fie an der Hoch­schu­le für Gra­fik und Buch­kunst in Leip­zig so­wie an der Hoch­schu­le für an­ge­wand­te Wis­sen­schaf­ten in Ham­burg und lebt heu­te als frei­schaf­fen­der Fo­to­graf in Ber­lin. 2014 ist sein Buch „World Wi­de Or­der“ (Hat­je Cantz) er­schie­nen.

Die Aus­stel­lung „Zoom! Ar­chi­tek­tur und Stadt im Bild“ im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (AZW) um­fasst Fo­to­gra­fien zu Wohn­or­ten und Le­bens­um­stän­den von Men­schen auf der gan­zen Welt, da­run­ter auch Ar­bei­ten von Ju­li­an Rö­der. Ge­zeigt wer­den u. a. Neu­bau­sied­lun­gen in Me­xi­ko, Im­mo­bi­lien­geis­ter­städ­te in Spa­nien und il­le­ga­le Dorf­struk­tu­ren auf den Dä­chern von Hong­kong. Zu se­hen bis 17. Mai. www.azw.at

Der Standard, Sa., 2016.04.02

01. April 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Za­ha Ha­did 1950–2016

Za­ha Ha­did zähl­te zu den wich­tigs­ten Ar­chi­tek­tin­nen der Ge­gen­wart. Die Pritz­ker-Preis-Trä­ge­rin setz­te auch in Ös­ter­reich Zei­chen – et­wa mit der Berg­isel­schan­ze oder der Bi­blio­thek auf dem WU-Cam­pus. Ge­stern, Don­ners­tag, ist sie 65-jäh­rig in Mia­mi ge­stor­ben.

Za­ha Ha­did zähl­te zu den wich­tigs­ten Ar­chi­tek­tin­nen der Ge­gen­wart. Die Pritz­ker-Preis-Trä­ge­rin setz­te auch in Ös­ter­reich Zei­chen – et­wa mit der Berg­isel­schan­ze oder der Bi­blio­thek auf dem WU-Cam­pus. Ge­stern, Don­ners­tag, ist sie 65-jäh­rig in Mia­mi ge­stor­ben.

„Die Kri­ti­ker spre­chen sich oft ge­gen mei­ne Pro­jek­te aus, weil sie ih­nen zu in­no­va­tiv sind und weil sie sol­che Geo­me­trien in der Ar­chi­tek­tur noch nie zu­vor ge­se­hen ha­ben“, sag­te Za­ha Ha­did vor ei­ni­gen Jah­ren in ei­nem In­ter­view. „Aber wis­sen Sie: Wenn ich mich je durch die in­ter­na­tio­na­le Mei­nung über mei­ne Ar­beit hät­te be­ein­flus­sen las­sen, dann hät­te ich den Job schon vor zwan­zig Jah­ren hin­ge­schmis­sen.“

Das hat sie nicht. Mit rund 950 Pro­jek­ten welt­weit war Ha­did nicht nur ei­ne der meist­bau­en­den, son­dern auch ei­ne der wich­tigs­ten zeit­ge­nös­si­schen Ar­chi­tek­tin­nen des 20. und 21. Jahr­hun­derts. Als er­ste Frau, die mit dem Pritz­ker-Preis (2004) aus­ge­zeich­net wur­de, galt sie zu­dem als Avant­gar­dis­tin, Gal­li­ons­fi­gur und Weg­be­rei­te­rin ei­nes neu­en Selbst­ver­ständ­nis­ses in der Ar­chi­tek­turs­ze­ne.

Am Don­ners­tag ist sie in ei­nem Kran­ken­haus in Mia­mi, wo sie we­gen ei­ner Bron­chi­tis be­han­delt wur­de, an den Fol­gen ei­nes Herz­in­farkts ge­stor­ben.

Ha­did wur­de 1950 in Bag­dad ge­bo­ren und ent­warf als Kind ihr ei­ge­nes Kin­der­zim­mer, das in der ira­ki­schen Haupt­stadt von der Haut­evo­lee et­li­che Ma­le ko­piert wur­de. Sie be­such­te ei­ne ka­tho­li­sche Klos­ter­schu­le in Bag­dad so­wie In­ter­na­te in der Schweiz und Groß­bri­tan­nien. Be­reits mit elf Jah­ren wuss­te sie, dass sie Ar­chi­tek­tin wer­den woll­te.

In­ter­na­tio­na­le Stu­di­en

Sie stu­dier­te Mat­he­ma­tik an der Ame­ri­can Uni­ver­si­ty of Bei­rut und Ar­chi­tek­tur an der Ar­chi­tec­tu­ral As­so­cia­ti­on School in Lon­don. Die zu­nächst er­lern­te Welt der Zah­len, Vek­to­ren und hoch­gra­di­gen Funk­ti­ons­kur­ven ließ sie nie wie­der los. Be­reits die Col­la­gen und Ar­chi­tek­tur­zeich­nun­gen der frü­hen Jah­re, mit de­ren Ver­kauf sie ih­re er­sten Be­rufs­jah­re fi­nan­zier­te, ga­ben ei­nen viel­ver­spre­chen­den Aus­blick auf ihr spä­te­res Schaf­fen. 1988 wur­de sie, noch oh­ne je et­was ge­baut zu ha­ben, in der Aus­stel­lung De­cons­truc­ti­vist Ar­chi­tec­tu­re am New Yor­ker Mu­se­um of Mo­dern Art (Mo­MA) por­trä­tiert.

Al­lein, bis zu ih­rem er­sten rea­li­sier­ten Pro­jekt soll­ten noch vie­le Jah­re ver­ge­hen. 1993 schließ­lich, nach ei­nem lan­gen Kampf um ih­re Po­si­ti­on in der da­mals männ­lich do­mi­nier­ten Ar­chi­tek­ten­schaft, wur­de auf dem Are­al des Mö­bel­her­stel­lers Vi­tra in Weil am Rhein ih­re ex­tra­va­gan­te Feu­er­wehr­sta­ti­on er­öff­net.

„Wir müs­sen uns end­lich von der Schach­tel und vom al­les be­stim­men­den 90-Grad-Win­kel ver­ab­schie­den“, mein­te sie da­mals. Und sie mein­te es ernst. Die Win­kel im Feu­er­wehr­haus wa­ren so spitz, dass die Feu­er­wehr­au­tos im Not­fall nicht oh­ne Re­ver­sie­ren hin­aus­fah­ren konn­ten. Heu­te dient das an­ek­do­ten­rei­che Ge­bäu­de als Mu­se­um und Aus­stel­lungs­haus.

In den da­rauf­fol­gen­den zwei Jahr­zehn­ten leg­te Ha­did, die sich – qua­si als Ab­bild ih­rer ei­ge­nen Ar­chi­tek­tu­ri­dee – ger­ne mit Stil­et­tos und mit Stü­cken des ja­pan­is­chen Mo­de­de­sig­ners Is­sey Mi­ya­ke klei­de­te, ei­ne ein­zig­ar­ti­ge Kar­rie­re hin, die sie zur be­kann­tes­ten und be­deu­tend­sten Ge­gen­wart­sar­chi­tek­tin mach­te. „Nie­mand hat­te auf das zeit­ge­nös­si­sche Bau­en der letz­ten Jahr­zehn­te mehr Ein­fluss als Za­ha Ha­did“, sagt Kol­le­ge und Freund Ri­chard Ro­gers.

Zahl­rei­che be­kann­te Pro­jek­te

Zu Ha­dids be­kann­tes­ten Bau­ten zäh­len das Ro­sen­thal Cen­ter for Con­tem­po­ra­ry Arts in Cin­cin­na­ti (2003), das Wis­sen­schafts­mu­se­um phæ­no in Wolfs­burg (2005), das MAX­XI-Mu­se­um in Rom (2010), das Opern­haus in Gu­ang­zhou (2010), das Ri­ver­si­de Mu­se­um in Glas­gow (2011), das Hey­dar Ali­yev Cen­tre in Ba­ku (2014) so­wie das letz­ten Som­mer fer­tig­ge­stell­te Mess­ner Moun­tain Mu­se­um in Süd­ti­rol.

In Ös­ter­reich bau­te Ha­did, die von 2000 bis 2015 an der Uni­ver­si­tät für An­ge­wand­te Kunst in Wien un­ter­rich­te­te, die spek­ta­ku­lä­re Ski­sprungs­chan­ze am Berg­isel, die Inns­bru­cker Hun­ger­burg­bahn, die Wohn­haus­an­la­ge über den Ot­to-Wag­ner-Bö­gen in Wien-Spit­te­lau so­wie das Li­bra­ry and Le­ar­ning Cen­ter auf dem neu­en WU-Cam­pus im Wie­ner Pra­ter.

Da­rü­ber hin­aus ent­warf sie Mö­bel, Lam­pen, Büh­nen­bil­der, Schu­he für Me­lis­sa und Uni­ted Nu­de so­wie ei­ne Wein­fla­sche für den ös­ter­rei­chi­schen Win­zer Leo Hil­lin­ger. Kri­ti­siert wur­de sie zu­letzt vor al­lem da­für, dass sie für Auf­trag­ge­ber aus dik­ta­to­ri­schen Staa­ten ar­beit­ete und sich zu­neh­mend selbst zi­tie­re.

„Nei­der hat­te ich im­mer schon“, sag­te Za­ha Ha­did. „Das stört mich nicht. Das ist nur Aus­druck da­für, dass die Men­schen ver­lernt ha­ben, an die Mög­lich­keit des Phan­tas­ti­schen zu glau­ben. Ich will mei­ne Phan­ta­sie aus­rei­zen. Bis zu­letzt.“ Das ist ihr ge­lun­gen.

Der Standard, Fr., 2016.04.01



verknüpfte Akteure
Hadid Zaha M.

05. März 2016Wojciech Czaja
Der Standard

„Ich baue Lee­re, ich baue Geo­gra­fie“

Die bei­den Irin­nen Yvon­ne Far­rell und Shel­ley McNa­ma­ra lei­ten seit 1978 das welt­weit tä­ti­ge Bü­ro Graf­ton Ar­chi­tects. Am Sams­tag hält Yvon­ne Far­rell ei­nen Vor­trag in Wien. Ein Ge­spräch über das Frau-Sein in ei­ner Män­ner­do­mä­ne.

Die bei­den Irin­nen Yvon­ne Far­rell und Shel­ley McNa­ma­ra lei­ten seit 1978 das welt­weit tä­ti­ge Bü­ro Graf­ton Ar­chi­tects. Am Sams­tag hält Yvon­ne Far­rell ei­nen Vor­trag in Wien. Ein Ge­spräch über das Frau-Sein in ei­ner Män­ner­do­mä­ne.

Stan­dard: Wie oft pas­siert es Ih­nen, dass ein In­ter­view mit Frau­en­kli­schees und Eman­zi­pa­ti­ons­the­men be­ginnt?

Far­rell: Im­mer wie­der, aber zum Glück im­mer sel­te­ner. Mitt­ler­wei­le rea­li­sie­ren die Leu­te, dass zwei Frau­en durch­aus in der La­ge sind, ein gro­ßes Ar­chi­tek­tur­bü­ro zu lei­ten.

Stan­dard: Und was ant­wor­ten Sie, wenn die­se Fra­ge kommt?

Far­rell: Ich zi­tie­re sehr ger­ne die iri­sche Schrift­stel­le­rin Ea­van Bo­land, die meint, Ge­sell­schaft sei ei­ne Ba­lan­ce aus Männ­lich­keit und Weib­lich­keit. Das ei­ne geht nicht oh­ne das an­de­re. Es geht um die Syn­the­se, um die Gleich­zei­tig­keit von Yin und Yang. So ge­se­hen hat je­der und je­de von uns sei­nen und ih­ren Bei­trag zu leis­ten.

Stan­dard: Wo­ran liegt es, dass Frau­en in der Bau­bran­che noch im­mer in der Min­der­zahl sind?

Far­rell: An vie­len ver­schie­de­nen Din­gen, aber auch an Ih­nen als Jour­na­list. Ei­ne gro­ße Ver­ant­wor­tung an die­ser Ver­zer­rung der Rea­li­tät tra­gen die Me­dien, die weib­li­che Ar­beits­kräf­te in die­ser Bran­che im­mer noch als et­was Un­ge­wöhn­li­ches dar­stel­len. So wie wir ge­ra­de die­ses In­ter­view hier füh­ren, weil Sie mir ge­sagt ha­ben, dass Sie in Ih­rer Zei­tung an die­sem Wo­che­nen­de ei­nen Schwer­punkt zum The­ma Ge­schlech­ter­ver­hält­nis­se in der Ge­sell­schaft be­han­deln.

Stan­dard: Der männ­li­che Über­hang in der Bau­bran­che ist ein Fak­tum.

Far­rell: Ja, das schon. Aber ge­nau­so we­nig wie man die Bo­eing 747 ver­lässt, nur weil man kurz vor dem Start die Frau­en­stim­me aus dem Cock­pit ver­nimmt, spielt die­ses The­ma auch in der Ar­chi­tek­tur noch ei­ne Rol­le. Män­ner, Frau­en … egal. Was zählt, ist die Fä­hig­keit, ei­ne Idee Rea­li­tät wer­den zu las­sen. Und ei­ne gu­te, ei­ne ver­dammt gu­te Ma­na­ge­rin zu sein.

Stan­dard: Sie und Ih­re Part­ne­rin Shel­ley McNa­ma­ra ha­ben das Bü­ro 1978 ge­grün­det. Da­mals war das Mi­lieu noch ein an­de­res.

Far­rell: Ich ha­be es im­mer ge­liebt und es auch im­mer als Pri­vi­leg emp­fun­den, die­sen Job aus der Sicht der Frau aus­zu­üben. Wir ha­ben uns von An­fang an mit Fra­ge­stel­lun­gen be­schäf­tigt, die im männ­lich do­mi­nier­ten Mi­lieu da­mals noch nicht so en vo­gue und so selbst­ver­ständ­lich wa­ren wie heu­te: So­zia­les, Kom­mu­ni­ka­ti­on, mensch­li­che Be­zie­hun­gen, Ver­hält­nis des ei­ge­nen Kör­pers im Raum, die Lie­be zum klei­nen Maß­stab und die Fä­hig­keit, sich an Be­ste­hen­des, an be­reits exis­tie­ren­de Wer­te und Ge­schich­ten an­zu­pas­sen.

Stan­dard: Ist das et­was Frau­en­spe­zi­fi­sches?

Far­rell: Das war es da­mals. Aus­nah­men gab es im­mer. Je­ne Män­ner sind in die Ge­schich­te ein­ge­gan­gen.

Stan­dard: Die Uni­ver­si­tà Lui­gi Boc­co­ni in Mai­land, die Sie 2008 fer­tig­ge­stellt ha­ben, ist nicht ge­ra­de fein und gra­zil. Das ist ein ziem­lich mas­si­ver Stein­bro­cken, den Sie da hin­ge­stellt ha­ben.

Far­rell: Boc­co­ni war ei­nes un­se­rer er­sten gro­ßen Pro­jek­te im Aus­land. Wir wa­ren – als ei­nes von ins­ge­samt acht oder zehn Ar­chi­tek­tur­bü­ros – zu ei­nem eu­ro­pa­wei­ten Wett­be­werb ein­ge­la­den. Wir und Ita­li­en! Shel­ley und ich ha­ben uns da­mals sehr in­ten­siv über das The­ma un­ter­hal­ten und wuss­ten: Das wird ein Maß­stabs­sprung in un­se­rer Ar­beit! In­ter­na­tio­nal ge­se­hen war das un­ser gro­ßer Durch­bruch.

Stan­dard: Zu die­ser Zeit hat in Ir­land die Wirt­schafts­kri­se be­gon­nen. Wie war die Si­tua­ti­on da­mals?

Far­rell: Es war ei­ne sehr trau­ri­ge Zeit. Vor der Kri­se ha­ben wir in Ir­land vie­le schö­ne Pro­jek­te rea­li­sie­ren kön­nen: Schu­len, Uni­ver­si­täts­ge­bäu­de, öf­fent­li­che Kul­tur­bau­ten. 2008 war das al­les mit ei­nem Schlag vor­bei. Die Wirt­schafts­kri­se lag wie ei­ne schwar­ze Wol­ke über dem Land.

Stan­dard: Wie ha­ben Sie all die Jah­re über­lebt?

Far­rell: Wir muss­ten das Bü­ro ver­klein­ern, Leu­te kün­di­gen und Ge­häl­ter kür­zen. Es war hart. Shel­ley und ich wuss­ten: Pro­jek­te in Ir­land kön­nen wir in den näch­sten Jah­ren ver­ges­sen. Al­so ha­ben wir be­gon­nen, sehr ak­tiv an in­ter­na­tio­na­len Wett­be­wer­ben teil­zu­neh­men.

Stan­dard: Ei­ni­ge da­von ha­ben Sie ge­won­nen.

Far­rell: Ja, wir hat­ten ei­ne wirk­lich gu­te Sie­ger­quo­te in die­ser Zeit. Und als Fol­ge des­sen ha­ben wir kurz da­rauf in Lon­don und Pa­ris ge­baut. Das wa­ren gro­ße Pro­jek­te. Ich den­ke, dass uns das ge­ret­tet hat.

Stan­dard: Wenn man sich die Pro­jek­te der letz­ten Jah­re an­schaut, merkt man, dass die Bau­ten tat­säch­lich im­mer grö­ßer und im­mer wuch­ti­ger wer­den. Wo­ran liegt das?

Far­rell: Das ist al­les re­la­tiv. Der spa­ni­sche Ar­chi­tekt Ale­jan­dro de la So­ta, ei­ne der Schlüs­sel­fi­gu­ren der ibe­ri­schen Mo­der­ne, hat ein­mal ge­sagt, die Auf­ga­be von Ar­chi­tek­ten sei es, so viel Nichts wie mög­lich zu bau­en. Schau­en Sie sich nur ein­mal ei­ne ja­pan­is­che Tee­scha­le an! Die Lip­pen be­rüh­ren nur ei­nen Hauch von mil­li­me­ter­dün­nem Ma­te­ri­al. Es ist der lee­re Raum in­ner­halb der Scha­le, der die Schön­heit die­ses Ge­fä­ßes aus­macht. So ist es auch mit un­se­ren Ge­bäu­den.

Stan­dard: Sie sind ei­ne Ar­chi­tek­tin der Lee­re?

Far­rell: Und ich bin ei­ne gro­ße An­hän­ge­rin der Wie­ner Se­ces­si­on. Seit ich die­sen gol­de­nen Kraut­kopf an der Wien­zei­le zum er­sten Mal ge­se­hen ha­be, fas­zi­niert mich die Ele­ganz die­ser mi­ni­ma­len Hül­le um den ma­xi­ma­len Raum he­rum.

Stan­dard: Ih­re ei­ge­ne Ar­beit be­zeich­nen Sie im­mer wie­der als ge­bau­te Geo­gra­fie. Was mei­nen Sie da­mit?

Far­rell: Der An­teil der städ­ti­schen Welt­be­völ­ke­rung wird, wie wir al­le wis­sen, im­mer grö­ßer und geht auf die 60, 70 Pro­zent zu. Das be­deu­tet, dass sich – pa­ral­lel zur na­tür­li­chen Geo­gra­fie ei­nes Lan­des – zu­neh­mend ei­ne ge­bau­te, ei­ne ur­ba­ne Geo­gra­fie ent­wi­ckelt, die es auch zu ge­stal­ten gilt.

Stan­dard: Heißt das, dass die von Men­schen­hand er­rich­te­te Stadt zu­neh­mend zum Er­satz für die Na­tur wird?

Far­rell: Rea­lis­tisch ge­se­hen, ja. Für vie­le Men­schen ist es so. Es geht nicht da­rum, ob ich das gut fin­de oder nicht. Es geht da­rum, dass wir als Ar­chi­tek­tin­nen un­se­ren Bei­trag leis­ten möch­ten, um die­sen Zu­stand best­mög­lich mit­zu­ge­stal­ten. Der Uni­ver­si­täts­cam­pus UTEC in Li­ma (Pe­ru) ist für mich ein wun­der­ba­res Bei­spiel für das, was ich mei­ne. Das ist ein ver­ti­ka­ler, of­fe­ner Cam­pus mit Höh­len, Platt­for­men und auf­re­gen­den Struk­tu­ren, die sich am kon­kre­ten Stand­ort orien­tie­ren. Ein paar Hun­dert Me­ter wei­ter ver­läuft die schrof­fe, bis zu 30 Me­ter ho­he Fels­küs­te, die die Stadt am Pa­zi­fik ab­rupt en­den lässt. Wir ha­ben uns von die­sem Um­stand räum­lich in­spi­rie­ren las­sen.

Stan­dard: Ab­schluss­fra­ge …

Far­rell: Jetzt darf ich mir was wün­schen, oder?

Stan­dard: Möch­ten Sie das denn?

Far­rell: Un­be­dingt! Es spricht die Frau aus dem Cock­pit … Wis­sen Sie, es gab und gibt so vie­le groß­ar­ti­ge Ar­chi­tek­tin­nen auf die­ser Welt: De­ni­se Scott Brown, Aman­da Le­ve­te, Ju­lia Mor­gan, Loui­sa Hut­ton, Odi­le Decq, Be­ne­det­ta Tag­lia­bue, Li­na Bo Bar­di, um nur ei­ni­ge zu nen­nen. Sie al­le ha­ben Wun­der­ba­res ge­leis­tet. Ich fin­de es scha­de, dass die­sen Per­so­nen we­ni­ger Auf­merk­sam­keit zu­teil­wird, als ih­nen ge­bührt. Ich wün­sche mir, dass sich das bald än­dert. Und ich wün­sche mir, dass end­lich der Pay-Gap zwi­schen Mann und Frau ver­schwin­det. In je­der Bran­che ver­dient ei­ne Frau deut­lich we­ni­ger als ein Mann mit glei­cher Aus­bil­dung, mit glei­chen Fä­hig­kei­ten, mit glei­cher Leis­tung. Das ist scho­ckie­rend. Das geht in mein Hirn nicht rein.

Yvon­ne Far­rell (65) grün­de­te 1978 ge­mein­sam mit ih­rer Part­ne­rin Shel­ley McNa­ma­ra das Bü­ro Graf­ton Ar­chi­tects. Sie un­ter­rich­te­te be­reits an der Ya­le Uni­ver­si­ty und an der Har­vard Gra­dua­te School of De­sign in Bos­ton und hat der­zeit ei­ne Pro­fes­sur an der Ac­ca­de­mia di ar­chi­tet­tu­ra in Men­dri­sio der Schweiz in­ne.

Der Standard, Sa., 2016.03.05

02. März 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Ei­ne Oa­se für Al­te und al­le

In Wien-Stad­lau er­rich­te­te die Ge­si­ba ge­mein­sam mit dem stu­dio uek die Oa­se 22. Das Pro­jekt be­in­hal­tet be­treu­ba­re Woh­nun­gen, Flücht­lings­woh­nun­gen, ein ge­ria­tri­sches Ta­ges­zen­trum so­wie ei­nen Sky­walk über den Dä­chern der Don­aus­tadt.

In Wien-Stad­lau er­rich­te­te die Ge­si­ba ge­mein­sam mit dem stu­dio uek die Oa­se 22. Das Pro­jekt be­in­hal­tet be­treu­ba­re Woh­nun­gen, Flücht­lings­woh­nun­gen, ein ge­ria­tri­sches Ta­ges­zen­trum so­wie ei­nen Sky­walk über den Dä­chern der Don­aus­tadt.

53 Run­den. So vie­le bräuch­te man, um auf dem 800 Me­ter lan­gen Sky­walk, auf dem in der Über­gangs­zeit re­gel­mä­ßig jog­gen­de Sil­hou­et­ten zu er­bli­cken sind, ei­nen klas­si­schen Ma­rat­hon zu lau­fen. Der Loop im Dach­ge­schoß mit Blick auf ganz Don­aus­tadt ist ei­ner der Be­stand­tei­le des um­fas­sen­den und auch bau­teil­über­grei­fen­den Frei­raum­kon­zepts in der ge­för­dert er­rich­te­ten Wohn­haus­an­la­ge Oa­se 22. Er dient nicht zu­letzt als sym­bo­li­sche Klam­mer, um die drei Bau­tei­le der Bau­trä­ger Ge­si­ba, Bu­wog und ÖSW zu­sam­men­zu­fas­sen.

Pro­ble­ma­ti­sches Grund­stück

Einst be­fand sich hier das Fir­men­ge­län­de des Stahl­bau­ers Waag­ner-Bi­ro. 2007 wur­de das 14.000 Qua­drat­me­ter gro­ße Are­al an der Adel­heid-Popp-Gas­se 5 auf­ge­las­sen und ei­nem Eu­ro­pan-Wett­be­werb un­ter­zo­gen. Das Aus­wahl­ver­fah­ren ist die größ­te eu­ro­päi­sche Wohn- und Städ­te­bau­wett­be­werb-Ini­tia­ti­ve für Jung­ar­chi­tek­ten und wird al­le zwei Jah­re aus­ge­schrie­ben. Die be­ste Lö­sung für das pro­ble­ma­ti­sche Stad­lau­er Grund­stück, das zwi­schen S-Bahn-Glei­se, Ein­fa­mi­li­en­häu­ser und rie­si­ge Ge­wer­be­bau­ten ein­ge­zwickt ist, fand da­mals das Wie­ner Ar­chi­tek­tur­bü­ro stu­dio uek.

„Un­se­re Idee war, ei­nen ring­för­mi­gen Loop zu bau­en und da­mit ei­nen gro­ßen, in­nen lie­gen­den Frei­be­reich zu de­fi­nie­ren“, sagt Ar­chi­tekt Ben­ni Eder von uek. „Da­mit len­ken wir ein biss­chen von der he­te­ro­ge­nen, zum Teil in­dus­tri­el­len Um­ge­bung ab.“ Um das wie­der wett­zu­ma­chen, gibt es auf dem Dach ei­nen um­lau­fen­den Sky­walk, der die un­ter­schied­li­chen Bau­tei­le und Häu­ser mit­tels Brü­cken und Stie­gen mit­ein­an­der ver­bin­det. Aus bau­recht­li­chen Grün­den muss­ten die Ver­bin­dungs­ste­ge so aus­ge­führt wer­den, dass sie je­der­zeit auf Wi­der­ruf wie­der de­mon­tier­bar sind.

„Ach, das wird hof­fent­lich nie pas­sie­ren“, sagt Ewald Kir­schner, Ge­ne­ral­di­rek­tor der Ge­si­ba, „denn die Über­brü­ckung der Bau­plät­ze auf der Dach­ebe­ne ist ei­ne wun­der­schö­ne und auch ein­zig­ar­ti­ge Ge­ste. Au­ßer­dem fin­den hier oben wich­ti­ge so­zia­le Ak­ti­vi­tä­ten statt.“ Nach ei­nem Land­schafts­pla­nungs­kon­zept von Ra­jek Bar­osch gibt es auf den Dä­chern Aus­sichts­punk­te, Grün­flä­chen, wind­ge­schütz­te Ni­schen, klei­ne Plät­ze mit Sitz­grup­pen so­wie Hoch­be­ete zum An­bau­en von Kräu­tern und Ge­mü­se. Ein­zi­ger Wer­muts­trop­fen: Aus haf­tungs­tech­ni­schen Grün­den müs­sen ei­ni­ge Tei­le des Sky­walks im Win­ter ge­sperrt wer­den.

„Vor al­lem aber fas­zi­niert mich der Nut­zungs­mix, den wir in der Oa­se 22 er­reicht ha­ben“, so Kir­schner, der 171 der ins­ge­samt 319 Woh­nun­gen er­rich­te­te. „Ne­ben ganz klas­si­schen Wohn­ein­hei­ten ha­ben wir näm­lich 30 be­treu­ba­re, bar­rie­ref­reie Woh­nun­gen so­wie ein ge­ria­tri­sches Ta­ges­zen­trum.“ Be­trie­ben wer­den die bei­den Ein­rich­tun­gen von der Ca­ri­tas so­wie vom Fonds So­zia­les Wien. Hin­zu kom­men di­ver­se Win­ter­gär­ten, Wasch­kü­chen, Ge­mein­schafts­räu­me so­wie ein Haus­be­treu­ungs­zen­trum der Ge­si­ba. Auf der Nach­bar­par­zel­le des ÖSW gibt es zu­dem ei­nen Sport­raum, den die AS­KÖ be­treibt.

Die Ein­stiegs­mie­te liegt bei knapp sie­ben Eu­ro pro Qua­drat­me­ter, der Ei­gen­mit­tel­bei­trag für Bau- und Grund­kos­ten be­läuft sich auf 450 Eu­ro pro Qua­drat­me­ter. Der Mig­ran­te­nan­teil be­trägt nach Aus­kunft der Ge­si­ba ak­tu­ell rund 20 Pro­zent, und in ei­ni­gen der Woh­nun­gen in der Oa­se 22 sind seit kur­zem so­gar sy­ri­sche Flücht­lings­fa­mi­li­en un­ter­ge­bracht.

„In­teg­ra­ti­on ist für mich ein ge­sell­schafts­po­li­ti­scher Auf­trag, dem wir als ge­mein­nüt­zi­ges Bau­un­ter­neh­men nach­zu­kom­men ha­ben“, so Krisch­ner. „Un­se­re Phi­lo­so­phie: So­lan­ge wir Men­schen – Ös­ter­rei­cher oder Mig­ran­ten – in ih­rer ver­trau­ten, an­ge­neh­men Um­ge­bung, in ih­ren ei­ge­nen vier Wän­den be­hal­ten kön­nen, ist das ein so­zia­ler, in­teg­ra­ti­ver Mehr­wert, der sich zu­dem volks­wirt­schaft­lich ren­tiert.“

Der Standard, Mi., 2016.03.02

02. März 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Die Ba­lan­ce von Ur­ein­wohn­ern und ethni­schem Mix

In der Sees­tadt Aspern er­rich­te­te die So­zi­al­bau rund 700 Woh­nun­gen für in­ter­kul­tu­rel­les Woh­nen. Da­mit so ein Kon­zept auf­geht, braucht es Ko­ope­ra­ti­on, Kom­mu­ni­ka­ti­on und ei­ne ge­wis­se Ma­növ­rier­mas­se.

In der Sees­tadt Aspern er­rich­te­te die So­zi­al­bau rund 700 Woh­nun­gen für in­ter­kul­tu­rel­les Woh­nen. Da­mit so ein Kon­zept auf­geht, braucht es Ko­ope­ra­ti­on, Kom­mu­ni­ka­ti­on und ei­ne ge­wis­se Ma­növ­rier­mas­se.

„In­teg­ra­ti­on, das ist ei­ne Grat­wan­de­rung, ei­ne be­son­de­re Mi­schung aus Soft­wa­re und Hard­wa­re, aus der Qua­li­tät der Be­treu­ung und der Qua­li­tät der Ar­chi­tek­tur“, sagt Her­bert Ludl. Der Chef der So­zi­al­bau AG hat mit dem „Glo­ba­len Hof“ in Wien-Lie­sing im Jahr 2000 schon ein­mal ein in­ter­na­tio­nal viel­be­ach­te­tes In­teg­ra­ti­ons­pro­jekt rea­li­siert. Da­mals noch wa­ren Mig­ran­te­nan­tei­le von 30 bis 50 Pro­zent in ei­ner Wohn­haus­an­la­ge ei­ne Sel­ten­heit. „Heu­te aber sind wir in ei­ner eu­ro­pa­po­li­ti­schen Si­tua­ti­on, die es er­for­dert, dass so ein Mix in Stadt­ver­dich­tungs- und Stadt­er­wei­te­rungs­pro­jek­ten Selbst­ver­ständ­lich­keit ist.“

Ort des Ge­sche­hens ist die Sees­tadt Aspern. Ge­mein­sam mit der Wien 3420 Aspern De­ve­lop­ment AG ent­wi­ckel­te die So­zi­al­bau in der er­sten Tran­che 1300 Woh­nun­gen, von de­nen sie rund 700 selbst rea­li­sier­te. Ei­nes die­ser Pro­jek­te ist das Wohn­haus in der Ja­nis-Jo­plin-Pro­me­na­de 6–8, er­rich­tet nach Plä­nen von Pe­ter Schei­fin­ger. Die knall­gel­ben, licht­durch­läs­si­gen Ter­ras­sen­strei­fen am grau-wei­ßen Haus sind schon von wei­tem sicht­bar – das er­ste Bild, das An­kom­men­de mit der U2 beim Ein­fah­ren in die End­sta­ti­on er­bli­cken.

„Wir ha­ben hier die bil­ligs­te Bau­wei­se, die man sich nur vor­stel­len kann, Stahl­be­ton und Voll­wär­me­schutz“, sagt Schei­fin­ger. „Doch da­für ha­ben wir fi­nanz­iel­le Res­sour­cen mo­bi­li­sie­ren kön­nen, mit de­nen wir nun ein Schwimm­bad auf der Wie­se und ei­nes auf dem Dach rea­li­sie­ren konn­ten. Das mag sich zu­nächst nach ei­nem über­schwäng­li­chen Lu­xus an­hö­ren. Aber ge­ra­de in ei­nem so dicht­be­sie­del­ten Pro­jekt wie hier, mit vie­len Ge­ne­ra­tio­nen und vie­len so­zia­len und ethni­schen Mi­lie­us un­ter ei­nem Dach emp­fin­den es vie­le Be­woh­ner als Vor­teil, ei­ne Wahl zu ha­ben und sich auch ein­mal zu klein­eren Grüpp­chen zu for­mie­ren.“

Mög­lich ge­macht wur­den die vie­len Ge­mein­schafts­ein­rich­tun­gen, weil ein Teil der Sees­tadt als so­ge­nann­tes ko­ope­ra­ti­ves Ver­fah­ren ab­ge­wi­ckelt wur­de: Kon­kur­rie­ren­de Wohn­bau­trä­ger ha­ben sich an ei­nen Tisch zu­sam­men­ge­setzt und ei­ne ge­mein­sa­me Lö­sung er­ar­bei­tet. Das blaue Nass ist nur ein Teil da­von. Hin­zu kom­men Ge­mein­schafts­wasch­kü­chen, Kin­der­spiel­räu­me, Fit­ness­räu­me und so­gar ei­ne kurz­fri­stig ver­miet­ba­re Gäs­te­woh­nung.

„Die Ar­chi­tek­tur ist wich­tig, aber ge­nau­so be­deu­tend ist die Art und Wei­se, wie ich als Bau­trä­ger und Haus­ver­wal­ter so ei­ne gro­ße Wohn­haus­an­la­ge be­treue“, meint Ludl. „Und so ver­an­stal­ten wir hier Ad­vent- und Som­mer­fes­te, Fuß­ball­mat­ches und di­ver­se Mie­ter­tref­fen. Wenn bei so ei­nem Zu­sam­men­kom­men auch nur zwei Be­woh­ner mit­ein­an­der ins Ge­spräch kom­men, die ein­an­der zu­vor noch nicht ge­grüßt ha­ben, dann ist das be­reits ein Er­folg.“

Der ro­te Knopf ver­staubt

Zur so­zia­len Soft­wa­re ge­hört auch ein Haus­be­treu­er di­rekt vor Ort. „Wir ha­ben in je­der Stie­ge ei­nen ro­ten Knopf ein­ge­baut, mit dem man sich di­rekt an den Haus­be­treu­er wen­den kann, so­bald man ein An­lie­gen hat. Aber wahr­schein­lich war die Far­be Rot zu ab­schre­ckend, weil die Men­schen da­mit nur Not­fäl­le ver­bin­den.“ Der Knopf ist längst ver­staubt. Statt­des­sen ha­be je­der Be­woh­ner die Mo­bil­num­mer des Haus­be­treu­ers im Han­dy ein­ge­spei­chert.

„Ich bin kein Freund von gro­ßen Plat­ten­sied­lun­gen, aber ich bin ehr­lich ge­sagt auch ein kein An­hän­ger die­ser klein­tei­li­gen und su­per­in­di­vi­du­el­len Struk­tu­ren, die heu­te so tren­dig sind“, sagt Her­bert Ludl. „Tat­sa­che ist: Wenn man den Be­wohn­ern ei­ne ho­he so­zia­le und bau­li­che Qua­li­tät bie­ten will, dann braucht man auch ei­ne ge­wis­se Ma­növ­rier­mas­se. In der gro­ßen Men­ge sind au­ßer­or­dent­li­che An­sät­ze leich­ter rea­li­sier­bar.“

Der Er­folg lie­ge je­doch nicht zu­letzt da­ran, so Ludl, „dass wir da­rauf ge­ach­tet ha­ben, ethni­sche Kon­zen­tra­tio­nen zu ver­mei­den und die Ur­ein­woh­ner und die neu Hin­zu­ge­zo­ge­nen mög­lichst viel­fäl­tig zu­sam­men­zu­wür­feln. Die­se Viel­falt be­darf ei­ni­ges an Ar­beit, aber sie si­chert ein gu­tes, aus­ge­gli­che­nes Mit­ein­an­der.“

Der Standard, Mi., 2016.03.02

02. März 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Die Pfle­ge zah­len al­le mit

In der Salz­bur­ger „Ro­sa Zu­kunft“ tei­len sich Jun­ge und Al­te die Kos­ten der Be­treu­ung

In der Salz­bur­ger „Ro­sa Zu­kunft“ tei­len sich Jun­ge und Al­te die Kos­ten der Be­treu­ung

Wenn es um In­teg­ra­ti­on geht, dann spricht man in Salz­burg we­ni­ger von Mig­ran­ten als viel­mehr von Se­nio­ren und Pfle­ge­be­dürf­ti­gen. „Wenn Sie mich fra­gen, ist die Ro­sa Zu­kunft, die wir ge­mein­sam mit den Bau­trä­gern die salz­burg und Le­bens­welt Woh­nen er­rich­tet ha­ben, un­ser wich­tigs­ter Bei­trag zum The­ma In­teg­ra­ti­on“, sagt Chris­ti­an Stru­ber, Ge­schäfts­füh­rer von Salz­burg Wohn­bau. „Die Be­völ­ke­rung al­tert, und es zeigt sich im­mer mehr, wie im­mens wich­tig es ist, auch mit den Se­nio­ren und Hoch­be­tag­ten in Kon­takt zu blei­ben.“

Im Wohn­pro­jekt „Ro­sa Zu­kunft“ in Salz­burg-Tax­ham scheint die Zu­kunft der hier Le­ben­den in der Tat ro­sa: Ne­ben 39 Ei­gen­tums- und 58 her­kömm­li­chen Miet­woh­nun­gen gibt es 32 be­treu­ba­re Miet­kauf­woh­nun­gen, die von Salz­burg Wohn­bau er­rich­tet und in La­ge, Zu­schnitt und Aus­stat­tung de­zi­diert für Se­nio­ren zu­ge­schnit­ten wur­den. Be­treut und ge­ma­nagt wer­den die­se Son­der­woh­nun­gen von der Dia­ko­nie Salz­burg. Die­se war auch schon in die Aus­wahl der Be­wohn­er­in­nen und Be­woh­ner in­vol­viert.

„Wir ha­ben uns mit den ge­sell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen sehr in­ten­siv be­schäf­tigt“, sagt Mi­cha­el Kö­nig vom Evan­ge­li­schen Dia­ko­nie­werk Salz­burg. „Und wir ha­ben fest­ge­stellt, dass ober­fläch­li­che Kon­tak­te im Netz oder in der un­mit­tel­ba­ren Wohn­um­ge­bung nicht in der La­ge sind, die be­stän­di­ge­ren Be­zie­hun­gen in der Nach­bar­schaft, im Freun­des­kreis und in der Fa­mi­lie zu er­set­zen.“ Um­so wich­ti­ger sei­en da­her at­trak­ti­ve und un­mit­tel­ba­re so­zia­le Nah­mi­lie­us im Haus­ver­band – vor al­lem zwi­schen den Ge­ne­ra­tio­nen.

Das so­zia­le Netz in der vom Hal­lei­ner Ar­chi­tek­ten Karl Thal­mei­er ge­plan­ten Wohn­haus­an­la­ge funk­tio­nie­re sehr gut, meint Stru­ber. Und auch die tech­ni­sche Aus­stat­tung der Se­nio­ren­woh­nun­gen, zu der bei­spiels­wei­se auch ei­ne Vi­deo­ge­gen­sprech­an­la­ge zählt, sei gut auf das Ziel­pu­bli­kum ab­ge­stimmt. Ent­täuscht ist man bloß da­rü­ber, wie we­nig das von uns er­ar­beit­ete Mo­bi­li­täts­an­ge­bot an­ge­nom­men wird. Die Idee des Cars­ha­rings sei man­gels Nach­fra­ge ge­schei­tert.

Pro­blem Mo­bi­li­täts­an­ge­bo­te

„Und seit­dem wir im Vor­gän­ger­pro­jekt Frei­raum Max­glan die Er­fah­rung ge­macht ha­ben, dass ei­ni­ge Be­woh­ner die von uns zur Ver­fü­gung ge­stell­te, kos­ten­lo­se Jah­res­kar­te für den öf­fent­li­chen Nah­ver­kehr bei den Salz­bur­ger Ver­kehrs­be­trie­ben ge­gen Bar­geld ein­tau­schen woll­ten, bie­ten wir auch die­ses Ser­vi­ce nicht mehr an“, so Stru­ber. „Of­fen­bar ist man für neue tech­no­lo­gi­sche Kon­zep­te im un­mit­tel­ba­ren Wohn­um­feld of­fe­ner als im Be­reich Mo­bi­li­tät.“

Über­aus fair und auch durch­aus funk­tio­nie­rend hin­ge­gen ist das An­ge­bot im Be­reich des be­treu­ten und be­treu­ba­ren Woh­nens, denn im Pro­jekt „Ro­sa Zu­kunft“ leis­ten al­le ih­ren fi­nanz­iel­len Bei­trag. Die Brut­to­mie­ten be­tra­gen zwi­schen 8,50 und neun Eu­ro pro Qua­drat­me­ter. Hin­zu kommt ei­ne mo­nat­li­che Be­treu­ungs­pau­scha­le, die al­le Be­woh­ner zu zah­len ha­ben: Die Jun­gen zah­len 30 Eu­ro Pau­scha­le pro Mo­nat, für die tat­säch­lich Pfle­ge­be­dürf­ti­gen oder sons­ti­ge so­zia­le Dien­ste Kon­su­mie­ren­den schlägt das An­ge­bot mit mo­nat­lich 45 Eu­ro zu Bu­che. „Es gibt ei­ne so­zia­le Durch­mi­schung, und in die­sem Be­reich wird un­ser An­ge­bot zum The­ma In­teg­ra­ti­on von den Be­wohn­ern gut an­ge­nom­men.“

Der Standard, Mi., 2016.03.02

02. März 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Nach dem Es­sig­gur­kerl kommt das Woh­nen

Auf den ehe­ma­li­gen Maut­ner-Mark­hof-Grün­den er­rich­te­ten ÖSW und Fa­mi­li­en­wohn­bau ein Holz­ver­bund­haus für Se­nio­ren und Mig­ran­ten. Die Ma­te­ri­al­wahl hat at­mo­sphä­ri­sche und auch funk­tio­na­le Grün­de.

Auf den ehe­ma­li­gen Maut­ner-Mark­hof-Grün­den er­rich­te­ten ÖSW und Fa­mi­li­en­wohn­bau ein Holz­ver­bund­haus für Se­nio­ren und Mig­ran­ten. Die Ma­te­ri­al­wahl hat at­mo­sphä­ri­sche und auch funk­tio­na­le Grün­de.

Frü­her wur­den hier Senf und Es­sig­gur­kerln pro­du­ziert. Heu­te be­fin­det sich auf dem 80.000 Qua­drat­me­ter gro­ßen Are­al des 1841 ge­grün­de­ten Tra­di­ti­ons­be­triebs Maut­ner Mark­hof ein Wohn­park mit rund 750 Woh­nun­gen. Mit ein biss­chen Fan­ta­sie könn­te man be­haup­ten, dass ein paar da­von die Idee der Gur­kerl­pro­duk­ti­on bis zum heu­ti­gen Ta­ge auf ma­te­riel­le Wei­se wei­ter­le­ben las­sen. Doch der Rei­he nach.

Nach­dem das Fa­mi­li­en­un­ter­neh­men 2002 sei­nen Be­trieb ein­ge­stellt hat­te und teil­ver­kauft wor­den war, stand plötz­lich ein wert­vol­les Stü­cken Stadt für ei­ne Neu­nut­zung zur Ver­fü­gung. Im Zu­ge ei­nes vom Wohn­fonds Wien aus­ge­lob­ten Bau­trä­ger­wett­be­werbs un­ter dem Ti­tel „Woh­nen mit kul­tu­rel­ler Viel­falt“ ka­men sie­ben Ar­chi­tek­ten und sie­ben ge­mein­nüt­zi­ge Bau­trä­ger zum Zug. Das Ös­ter­rei­chi­sche Sied­lungs­werk (ÖSW) und der Bau­trä­ger Fa­mi­li­en­wohn­bau er­rich­te­ten mit dem Wie­ner Ar­chi­tek­tur­bü­ro Till­ner & Wil­lin­ger zwei Haus­skulp­tu­ren mit 60 klas­si­schen Woh­nun­gen, 25 be­treu­ba­ren Wohn­ein­hei­ten und ei­ner Se­nio­ren-WG, die vom Wie­ner Hilfs­werk be­trie­ben wer­den.

Schö­nes Holz

„Man­che sa­gen, das ist das schöns­te Haus auf dem gan­zen Are­al“, sagt Ar­chi­tekt Al­fred Wil­lin­ger. „Und das freut uns sehr, denn wir ha­ben uns da­für stark­ge­macht, das Pro­jekt in Holz­ver­bund-Bau­wei­se zu er­rich­ten.“ Die bei­den Höl­zer Fich­te und Lär­che sind an der Fass­ade gut er­sicht­lich und las­sen das Pro­jekt von man­chen Blick­win­keln aus wie ei­ne bal­kon­um­rank­te Holz­scha­tul­le er­schei­nen.

Das Holz dient nicht nur der Op­tik und der At­mo­sphä­re, son­dern hat auch funk­tio­na­le Grün­de. „Wir woll­ten ein fle­xi­bles Haus pla­nen, das je­der­zeit auf kul­tu­rel­le Be­dürf­nis­se und un­ter­schied­li­che Wohn­vor­stel­lun­gen rea­gie­ren kann“, so Wil­lin­ger. „Da­her ha­ben wir ei­ne schlan­ke Trag­kons­truk­ti­on aus Stahl­be­ton er­rich­tet, die mit vor­ge­fer­tig­ten und je­der­zeit leicht ver­än­der­ba­ren Holz­ele­men­ten aus­ge­facht wur­de.“

Die Mehr­kos­ten für das deut­lich teu­re­re Holz konn­ten auf in­di­rek­te Wei­se wie­der wett­ge­macht wer­den: Nach­dem die Au­ßen­wän­de dank der Leicht­bau­kons­truk­ti­on um zehn bis 15 Zen­ti­me­ter dün­ner als ei­ne klas­sisch ge­dämm­te Stahl­be­ton­wand aus­fie­len, wur­de im glei­chen Vo­lu­men mehr ver­miet­ba­re Wohn­nutz­flä­che ge­schaf­fen. Die Bau­kos­ten pro Qua­drat­me­ter sind un­term Strich die glei­chen.

„Die In­teg­ra­ti­on bei die­sem Pro­jekt be­trifft aber nicht nur die un­ter­schied­li­chen Ethnien, Kul­tu­ren und Le­bens­um­stän­de“, meint ÖSW-Vor­stand Mi­cha­el Pech, „son­dern auch die Tat­sa­che, dass die In­te­res­sen­ten und künf­ti­gen Be­wohn­er­in­nen be­reits in den Pla­nungs­pro­zess ein­ge­bun­den wur­den.“ Über ei­ne Pro­jekt-Web­si­te konn­ten da­mals Wohn­wün­sche und Woh­nungs­at­tri­bu­te kund­ge­tan wer­den, die in die Pla­nung der Ar­chi­tek­ten ein­flos­sen.

„Mit 33 Pro­zent Mig­ra­ti­ons­an­teil funk­tio­niert die In­teg­ra­ti­on in die­ser Wohn­haus­an­la­ge sehr gut, al­ler­dings braucht es bei so vie­len Men­schen mit Be­treu­ungs­be­darf und Mig­ra­ti­ons­hin­ter­grund von An­fang an ei­ne gu­te so­zi­al­wis­sen­schaft­li­che Be­ra­tung und Be­treu­ung“, so Pech. Und die Sa­che mit dem Gur­kerl? Holz braucht man eben nicht nur zum Bau­en, son­dern auch, um Es­sigs­äu­re herz­us­tel­len. Er­ste­res ist nach­hal­ti­ger.

Der Standard, Mi., 2016.03.02

02. März 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Zim­mer, ein Puz­zle­stück

Ein Nord­bahn­hof-Wohn­bau ver­eint klas­si­sche Mie­ter und Flücht­lin­ge un­ter ei­nem Dach

Ein Nord­bahn­hof-Wohn­bau ver­eint klas­si­sche Mie­ter und Flücht­lin­ge un­ter ei­nem Dach

„Da muss ich nicht lan­ge nach­den­ken“, sagt Al­fred Pe­tritz, Ge­schäfts­füh­rer des ge­mein­nüt­zi­gen Wohn­bau­trä­gers Mig­ra. „Wenn Sie mich nach un­se­rem be­sten In­teg­ra­ti­ons­pro­jekt der letz­ten Jah­re be­fra­gen, dann muss ich auf un­ser Wohn­haus auf dem Wie­ner Nord­bahn­hof-Are­al ver­wei­sen.“ 30 der ins­ge­samt 99 Woh­nun­gen im 2013 fer­tig­ge­stell­ten Ge­bäu­de sind für Flücht­lin­ge be­stimmt. Das In­teg­ra­ti­ons­haus, das die­se Woh­nun­gen be­treibt, hat im Erd­ge­schoß so­gar ei­ne ei­ge­ne Be­ra­tungs­stel­le ein­ge­rich­tet.

„Auf­grund un­se­res the­ma­ti­schen Schwer­punkts ha­ben wir hier ei­nen über­pro­por­tio­nal ho­hen An­teil an Ein-Zim­mer-Woh­nun­gen zwi­schen 35 und 40 Qua­drat­me­ter“, so Pe­tritz. „Die­ses An­ge­bot rich­tet sich an an­er­kann­te Asy­lan­tin­nen und Asy­lan­ten, aber auch an sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te.“ Hin­zu kom­men ei­ne Fa­mi­li­en­be­ra­tungs­stel­le und ei­ne Wohn­ge­mein­schaft für Kin­der und Ju­gend­li­che zwi­schen sechs und 16 Jah­ren, die von der MAG ELF be­treut wird. „Ein wich­ti­ges Puz­zle­stück im Pro­jekt“, wie der Mig­ra-Chef be­tont.

„Wir wuss­ten, dass die ur­sprüng­li­che Be­ra­tungs­stel­le des In­teg­ra­ti­ons­hau­ses schon längst viel zu klein war, da­her ha­ben wir die­se In­sti­tu­ti­on be­reits im Bau­trä­ger­wett­be­werb mit an Bord ge­nom­men“, er­in­nert sich Paul Drakl, Pro­jekt­lei­ter bei Hoff­mann Janz Ar­chi­tek­ten. „Na­tür­lich ha­ben wir im Woh­nungs­mix ganz spe­ziell da­rauf ge­ach­tet, dass es vie­le klei­ne, leist­ba­re Gar­çon­niè­ren gibt. Ab­ge­se­hen da­von je­doch, muss ich ganz ehr­lich ge­ste­hen, ha­ben wir auf das The­ma des in­ter­kul­tu­rel­len Woh­nens nicht be­son­ders Rück­sicht ge­nom­men.“ Wenn schon In­teg­ra­ti­on und In­klu­si­on, so Drakl, dann eben auch auf ar­chi­tek­to­ni­scher Ebe­ne.

Von au­ßen ist dem Wohn­haus sei­ne be­son­de­re Nut­zung in keins­ter Wei­se an­zu­se­hen: Stahl­be­ton­bau, wei­ßer Voll­wär­me­schutz, lan­ge, li­nea­re Bal­ko­ne. Die gel­be Loch­blech­ver­klei­dung, die et­was un­re­gel­mä­ßig über die Fass­ade ver­teilt ist, soll das stren­ge Er­schei­nungs­bild des lan­gen Rie­gels et­was auf­lo­ckern. Fass­aden­plat­ten in Holz­op­tik ha­ben nach Aus­kunft des Ar­chi­tek­ten die Auf­ga­be, et­was Wär­me, et­was Ge­bor­gen­heit an­schau­lich zu ma­chen.

Miet­zins von 7,55 Eu­ro

Die Bau­kos­ten bei die­sem Pro­jekt konn­ten auf un­ter 1300 Eu­ro pro Qua­drat­me­ter re­du­ziert wer­den. Da­von pro­fi­tie­ren auch die Mie­ter: Der Miet­zins liegt bei 7,55 Eu­ro pro Qua­drat­me­ter, und wäh­rend der Ei­gen­mit­tel­an­teil bei ge­för­der­ten Miet­woh­nun­gen mit Kau­fop­ti­on in die­ser La­ge in der Re­gel zwi­schen 400 und 500 Eu­ro pro Qua­drat­me­ter kur­si­ert, konn­te er hier auf 398 Eu­ro ge­senkt wer­den. Ei­ne Haus­be­treue­rin, die frü­her selbst im In­teg­ra­ti­ons­haus in der En­gerths­tra­ße wohn­te, küm­mert sich nun um die all­täg­li­chen Be­lan­ge der Mul­ti­kul­ti­be­wohn­er­in­nen.

Der Standard, Mi., 2016.03.02

27. Februar 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Herr Treichl sitzt im Groß­raum­bü­ro

Heu­te, Sams­tag, über­sie­deln die letz­ten Mit­ar­bei­ter auf den neu­en Er­ste-Cam­pus in Wien. Das Pro­jekt zeigt, was da­bei her­aus­kommt, wenn Auf­trag­ge­ber und Ar­chi­tek­tin ge­mein­sam über den Be­griff Ar­beit nach­den­ken.

Heu­te, Sams­tag, über­sie­deln die letz­ten Mit­ar­bei­ter auf den neu­en Er­ste-Cam­pus in Wien. Das Pro­jekt zeigt, was da­bei her­aus­kommt, wenn Auf­trag­ge­ber und Ar­chi­tek­tin ge­mein­sam über den Be­griff Ar­beit nach­den­ken.

Da hängt ein nack­ter Mann im zwölf­ten Stock. To­mis­lav Go­to­vac, ei­ner der be­kann­tes­ten Per­for­mer und Kon­zept­künst­ler Kroa­tiens, hat sich hier selbst por­trä­tiert, kom­plett ent­blößt, auf dem Dach ste­hend und auf Zag­reb hin­un­ter­bli­ckend. Die Vor­stän­de der Er­ste Bank, der Spar­kas­se und der Im­mo­rent, die hier oben auf der Exe­cut­ive-Eta­ge ta­gen, müs­sen re­gel­mä­ßig an die­ser evi­den­ten, ja ge­ra­de­zu pla­ka­ti­ven fi­nanz­po­li­ti­schen Sym­bol­kri­tik vor­bei­mar­schie­ren.

Die über­le­bens­gro­ße In­stal­la­ti­on des nack­ten, al­ten, sich nicht son­der­lich über­äs­the­tisch prä­sen­tie­ren­den Man­nes ist nicht zu­letzt Sinn­bild da­für, wie selbst­kri­tisch, wie un­be­quem, wie ernst die Er­ste Group das Pro­jekt des neu­en Er­ste-Cam­pus auf dem Ge­län­de des ehe­ma­li­gen Süd­bahn­hofs ge­nom­men hat – vom Wett­be­werb im Jah­re 2007 bis zur al­ler­letz­ten Mi­nu­te. Mit dem heu­ti­gen Tag, Sams­tag, über­sie­delt mit 1200 An­ge­stell­ten die letz­te Tran­che der ins­ge­samt 5000 Mit­ar­bei­ter ins neue He­ad­quar­ter mit Blick auf Haupt­bahn­hof, Schwei­zer­gar­ten und Obe­res Bel­ve­de­re.

„Bis­lang wa­ren wir auf mehr als 20 Wie­ner Stand­or­te ver­teilt“, sagt Mi­cha­el Ha­mann, Pro­jekt­lei­ter der Er­ste Group Im­mo­rent AG, bei der Füh­rung durch den neu­en Cam­pus. „Jetzt wird das ge­sam­te Un­ter­neh­men erst­mals an ei­nem ein­zi­gen Stand­ort ge­bün­delt, was vor al­lem die Kom­mu­ni­ka­ti­on und die in­ter­nen Pro­zes­se ver­ein­fa­chen soll.“ Man weiß schon, was das in der Re­gel zu be­deu­ten hat, wenn sol­che Wor­te fal­len: Flä­chen­ef­fi­zienz, Geld­er­spar­nis, Re­chen­stift. Da muss man schon die Na­se rümp­fen.

Und tat­säch­lich, in den Na­sen­haa­ren kit­zelt es. Das schwar­ze Lehmk­asein, mit dem die Wän­de hier oben ver­spach­telt sind, ist noch nicht ganz aus­ge­dampft, hat noch ei­ne leich­te, aber deut­lich wahr­nehm­ba­re No­te von Milch und Top­fen. „Wir ha­ben uns sehr da­rum be­müht, mit mög­lichst vie­len na­tür­li­chen Ma­te­ria­li­en zu bau­en“, sagt Mar­ta Schrei­eck, die mit ih­rem Part­ner Die­ter Hen­ke am EU-wei­ten Wett­be­werb teil­nahm und den Sieg un­ter mehr als 200 Bü­ros für sich be­an­spru­chen konn­te.

„Und wenn wir von na­tür­li­chen Ma­te­ria­li­en spre­chen, dann mei­nen wir Lehm, Kalk­putz, ge­öl­tes Ei­chen­holz, Be­ton mit na­tür­li­chen Farb- und Zu­schlags­tof­fen so­wie lo­ka­len Schot­ter, der aus­schließ­lich aus der Do­nau kommt. Denn exo­ti­sche, wie auch im­mer ge­ar­te­te bun­te Stei­ne aus ganz Eu­ro­pa hier­her­zu­kar­ren, das hät­te zu die­sem Pro­jekt ein­fach nicht ge­passt.“

Ja so­gar die Fass­ade spricht ei­ne bo­den­stän­di­ge Spra­che, die man im In­ves­to­ren­jar­gon sonst nur sel­ten zu hö­ren be­kommt: Lär­chen­holz-Kons­truk­ti­on mit raum­ho­hen Fens­ter­flü­geln, die man in­di­vi­du­ell nach Lust und Lau­ne öff­nen kann, oh­ne dass da­bei gleich das ge­sam­te Haus­tech­nik­sys­tem kol­la­biert. In man­chen Bü­ros wird trotz win­ter­li­cher Tem­pe­ra­tu­ren kurz Frisch­luft in den Raum ge­las­sen.

Al­les an­de­re als Bü­ro­wü­ste

„Bü­ro­kon­zep­te und Trends im Of­fi­ce-Be­reich än­dern sich so oft und so rasch, dass es am be­sten ist, wenn die Ar­chi­tek­tur so fle­xi­bel bleibt, dass sie all die kurz­fri­sti­gen Mo­deer­schei­nun­gen mit­ma­chen kann“, sagt Schrei­eck. „Und das be­zieht sich nicht nur auf die sich stän­dig än­dern­de All­tags­kul­tur in den Ar­beits­zim­mern, son­dern auch auf die Art und Wei­se, wie das Bü­ro ein­ge­rich­tet, wie das Haus ge­nutzt wird, ob ich es nun mit Raum­zel­len voll­pfer­che oder als Groß­raum­bü­ro be­las­se.“

Ak­tu­ell sind wir im Zeit­al­ter des so­ge­nann­ten Open Spa­ce, des gro­ßen Bü­ros oh­ne Trenn­wän­de und oh­ne ver­schließ­ba­re Zel­len­tü­ren. Die Mö­blie­rung im Er­ste-Cam­pus hilft da­bei, den Raum nicht als graue Bü­ro­wü­ste wahr­zu­neh­men, son­dern als bun­te, sym­pa­thi­sche, ab­wech­slungs­rei­che Land­schaft mit tex­til be­spann­ten La­ter­nen und bunt mö­blier­ten Pflan­zen­in­seln im In­ne­ren. Das Grün­kon­zept, das an man­chen Ecken wie ei­ne ve­ge­ta­ti­ve Oa­se aus der Ge­bäu­de­mit­te sprießt, stammt vom Wie­ner Land­schafts­pla­nungs­bü­ro Au­böck+Ká­rász.

„Die meis­ten Mit­ar­bei­ter ha­ben bei uns kei­nen fi­xen Ar­beits­platz mehr, son­dern kön­nen je­den Tag frei wäh­len, wo sie sich für wel­che Art der Ar­beit am liebs­ten hin­set­zen möch­ten“, sagt Im­mo­rent-Pro­jekt­lei­ter Mi­cha­el Ha­mann. Da ist sie al­so, die be­reits be­fürch­te­te Ein­spa­rungs­maß­nah­me. Die schö­nen, er­go­no­misch ein­wand­frei­en Mö­bel und die ver­schließ­ba­ren Käst­chen mit Fil­zop­tik sol­len den Ver­lust des ei­ge­nen Ar­beits­plat­zes et­was ver­kraft­ba­rer ma­chen. Doch im­mer­hin: „Das Open-Spa­ce-Kon­zept zieht sich bei uns bis zur Vor­stands­ebe­ne hoch“, sagt Ha­mann. „Und ja, auch Herr Treichl sitzt mit sei­nen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen im Groß­raum­bü­ro.“

Dach­gar­ten mit WLAN

Herz­stück des sich so lo­cker da­hin­schlän­geln­den Cam­pus ist das 4000 Qua­drat­me­ter gro­ße Atri­um im Erd­ge­schoß. Pi­az­za sagt man heu­te da­zu, doch die öf­fent­lich zu­gäng­li­che Hal­le zwi­schen den nie­ren­för­mi­gen Ge­bäu­de­trak­ten er­in­nert in der Tat an ei­nen quir­li­gen Stadt­platz ir­gend­wo in Ita­li­en. Und so­gar Sitz­ge­le­gen­hei­ten nach ei­nem Ent­wurf von Hen­ke und Schrei­eck Ar­chi­tek­ten, 40 Stück an der Zahl, sind quer über den ge­deck­ten Platz ver­teilt. Die glit­zernd be­spann­ten Ele­men­te, die in ih­rer Form den Kon­tu­ren der Cam­pus­ge­bäu­de nach­emp­fun­den sind, wer­den von den Mit­ar­bei­tern schon längst „Schrei­xis“ ge­nannt. Auf dem Dach des Atri­ums ist üb­ri­gens ein 10.000 Qua­drat­me­ter gro­ßer Gar­ten an­ge­legt – mit Ahorn, Föh­ren, Kirsch­bäu­men, Bän­ken und flä­chen­de­cken­dem WLAN.

Ei­ne schö­ne­re Bü­ro­si­tua­ti­on, die nach of­fi­ziel­len An­ga­ben der Er­ste Bank Group „mit ma­xi­mal 300 Mil­lio­nen Eu­ro“ zu Bu­che schlug, wird man so schnell in ganz Wien nicht fin­den. Statt Macht­de­mon­stra­ti­on und Ein­schüch­te­rungs­ge­ha­be, wie man dies aus dem Bank- und Fi­nanz­we­sen kennt, orien­tiert sich der Er­ste-Cam­pus dank ei­ner mit höch­ster Se­rio­si­tät wahr­ge­nom­me­nen Rol­le von Auf­trag­ge­ber und Ar­chi­tek­ten­schaft am Maß­stab Mensch. Der Preis da­für bleibt letzt­lich hoch. Fragt man sich doch, wa­rum Bau­kul­tur auf die­sem Ni­veau den Ban­ken vor­be­hal­ten bleibt.

Der Standard, Sa., 2016.02.27



verknüpfte Bauwerke
Erste Campus

18. Februar 2016Wojciech Czaja
Der Standard

An­ge­li­ka Fitz wird Ar­chi­tek­tur­zen­trum-Che­fin

2017 folgt die Kul­tur­theo­re­ti­ke­rin dem jet­zi­gen Di­rek­tor Diet­mar Stei­ner nach

2017 folgt die Kul­tur­theo­re­ti­ke­rin dem jet­zi­gen Di­rek­tor Diet­mar Stei­ner nach

33 Be­wer­bun­gen aus Ös­ter­reich, Eu­ro­pa und den USA sind seit der öf­fent­li­chen Aus­schrei­bung im Ju­li 2015 im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (AZW) ein­ge­langt. Vier da­von wur­den schließ­lich zu Hea­rings ein­ge­la­den. „Ich ha­be den Aus­wahl­pro­zess als ei­nen sehr in­ten­si­ven und dia­lo­gi­schen er­lebt und freue mich, dass ich das AZW als Fan der er­sten Stun­de in die Zu­kunft füh­ren darf“, er­klär­te die sieg­rei­che An­ge­li­ka Fitz bei der gest­ri­gen Pres­se­kon­fe­renz.

Kul­tur­mi­nis­ter Jo­sef Os­ter­may­er (SP), Kul­tur­stadt­rat An­dre­as Mai­lath-Po­kor­ny und Grü­nen-Stadt­rä­tin Ma­ria Vas­si­la­kou lob­ten Fitz als „hoch­ka­rä­ti­ge Fach­frau“ und „in­ter­na­tio­nal an­er­kann­te Aus­stel­lungs­ku­ra­to­rin, Wis­sen­schaf­te­rin und Au­to­rin“. Han­nes Swo­bo­da, Prä­si­dent des AZW-Vor­stands, wies zu­dem da­rauf hin, dass die fi­na­le Ent­schei­dung des acht­köp­fi­gen Vor­stan­des in­klu­si­ve zwei­er ex­ter­ner Be­ra­ter ei­ne ein­stim­mi­ge war.

An­ge­li­ka Fitz, 1967 in Ho­he­nems ge­bo­ren, stu­dier­te ver­glei­chen­de Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft mit dem Schwer­punkt Kul­tur­wis­sen­schaft. Schon kurz nach Grün­dung ih­res ei­ge­nen Bü­ros lan­de­te die Au­to­rin und Aus­stel­lungs­ku­ra­to­rin En­de der 90er-Jah­re in Mum­bai und Neu-Del­hi, wo sie drei Jah­re ver­brach­te und zum The­ma Me­gast­adt forsch­te. In die­ser Zeit brach­te sie auch In­diens al­ler­er­stes Kunst­pro­jekt im öf­fent­li­chen Raum auf Schie­ne.

„Das The­ma Stadt hat mich seit­dem nie wie­der los­ge­las­sen, und ich bin der Mei­nung, dass es ei­nen viel stär­ke­ren Zu­sam­men­hang zwi­schen ur­ba­nem Le­ben, Stadt­ge­sell­schaft und Ar­chi­tek­tur gibt, als den meis­ten von uns be­wusst ist“, sag­te Fitz, die im Bei­rat Ar­chi­tek­tur und De­sign des Bun­des­kanz­ler­amts sitzt so­wie 2003 und 2005 als Kom­mis­sä­rin für den ös­ter­rei­chi­schen Bei­trag zur Ar­chi­tek­tur­bien­na­le São Pau­lo tä­tig war, dem STAN­DARD . So er­klä­ren sich auch ih­re be­ab­sich­tig­ten Schwer­punk­te: Stadt­ge­sell­schaft, Nach­hal­tig­keit so­wie die po­li­ti­sche Kom­po­nen­te von Pla­nung und Städ­te­bau. „Und ich wür­de ger­ne auch mehr und auch brei­te­res Pu­bli­kum ins AZW lo­cken.“

Der bis­he­ri­ge Di­rek­tor Diet­mar Stei­ner, der das AZW 1993 im da­mals ma­ro­den und sa­nie­rungs­be­dürf­ti­gen Mess­epa­last, dem heu­ti­gen MQ, grün­de­te, geht mit En­de des Jah­res in Pen­si­on. 23 Jah­re lang präg­te er die ös­ter­rei­chi­sche Ar­chi­tek­turs­ze­ne mit in­ter­na­tio­nal be­ach­te­ten Aus­stel­lun­gen, Kon­gres­sen und Ver­mitt­lungs­tä­tig­kei­ten ent­schei­dend mit.

Der Standard, Do., 2016.02.18

13. Februar 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Baum­eis­ter mit Pen­ne und Pat­tex

Ar­chi­tek­tur ist kein Kin­der­spiel. Oder doch? Im­mer mehr In­sti­tu­tio­nen bie­ten ein hoch­wer­ti­ges Aus­bil­dungs- und Ver­mitt­lungs­pro­gramm für Kin­der und Ju­gend­li­che an.

Ar­chi­tek­tur ist kein Kin­der­spiel. Oder doch? Im­mer mehr In­sti­tu­tio­nen bie­ten ein hoch­wer­ti­ges Aus­bil­dungs- und Ver­mitt­lungs­pro­gramm für Kin­der und Ju­gend­li­che an.

Es geht um die Nu­del. Zsom­bor, Schü­ler, neun Jah­re alt, steckt und schraubt die Mac­che­ro­ni und Pen­ne zu ei­nem 60 Zen­ti­me­ter ho­hen Turm zu­sam­men. Die Ver­bin­dungs­kno­ten wer­den mit­tels Pat­tex-Heiß­kle­ber ver­klebt. Dia­go­na­le Ver­stre­bun­gen aus Spag­het­ti sol­len den Teig­wa­ren­wol­ken­krat­zer sta­bi­ler ma­chen. „Ja, so ha­ben wir das ge­lernt. Das sind die Druck- und das sind die Zugs­tä­be, und die Dia­go­na­len sor­gen da­für, dass das Gan­ze nicht wie ein Kar­ten­haus ein­knickt“, er­klärt Zsom­bor. „Aber mein Turm wird be­son­ders sta­bil wer­den. Wa­rum? Na, ganz ein­fach, weil ich in die Hohl­räu­me der Nu­deln über­all Heiß­kle­ber hin­ein­ge­be. So wird al­les noch fes­ter.“

60 Zen­ti­me­ter Bau­hö­he sind er­reicht. Der Kle­ber ist aus­ge­kühlt und ge­här­tet. Jetzt wer­den die Tür­me der an­ge­hen­den Baum­eis­te­rin­nen und Baum­eis­ter dem Be­la­stungs­test un­ter­zo­gen. Mit Te­tra­packs. Mit Sech­ser­packs Mi­ne­ral­was­ser. Mit rand­voll was­ser­ge­füll­ten Kü­beln. Schon nach we­ni­gen Ki­lo­gramm be­gin­nen sich die Nu­deln zu bie­gen, schon bald ist das er­ste Kna­cksen zu hö­ren. Die meis­ten Nu­del­hoch­häu­ser stür­zen bei 10 bis 15 Ki­lo­gramm ein. Zsom­bors Ver­bund­kons­truk­ti­on je­doch ent­lockt den an­de­ren Kin­dern im­mer wie­der ein stau­nen­des „Das gibt’s doch nicht!“, ehe der Turm bei ei­ner Be­la­stung von 29,5 Ki­lo­gramm schließ­lich kol­la­biert und zu sprö­den Split­tern zer­schellt.

„Im ak­tu­el­len Bil­dungs­sys­tem wird Wert auf Kunst und Mu­sik ge­legt, aber das Er­leb­nis der Raum­er­fah­rung und des bau­li­chen, ar­chi­tek­to­ni­schen For­schens und Ent­de­ckens bleibt in der Schu­le auf der Stre­cke“, sagt Mi­chae­la Sau­er, Lei­te­rin des kürz­lich ge­grün­de­ten Ar­chi­tek­turC­lubs Wien. „In un­se­ren Kur­sen wol­len wir die­ses Man­ko nach­ho­len und den Kin­dern und Ju­gend­li­chen ein ge­wis­ses Ge­spür für Raum und Stadt so­wie für die ge­bau­te Um­welt ver­mit­teln.“

Wie be­grei­fe ich den Raum?

Der Ar­chi­tek­turC­lub bie­tet Works­hops in Kin­der­gär­ten und Schu­len an, or­ga­ni­siert aber auch lau­fen­de Kur­se, Mu­se­ums­be­su­che und Stadt­spa­zier­gän­ge zu un­ter­schied­li­chen Schwer­punktt­he­men. Im Ge­gen­satz zum oh­ne­hin schon sehr dich­ten An­ge­bot an Bau­kul­tur­ver­mitt­lung in di­ver­sen In­sti­tu­tio­nen wie et­wa dem Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (AZW), dem Haus der Ar­chi­tek­tur (HDA) in Graz oder dem aut in Inns­bruck, sol­len die Kin­der und Ju­gend­li­che hier nicht an ei­ner ein­ma­li­gen Ver­an­stal­tung teil­neh­men, son­dern ei­nen lang­fri­sti­gen, mal zehn­wö­chi­gen, mal se­mes­ter­lan­gen Kurs ab­sol­vie­ren. Im Fo­kus ste­he das lang­sa­me Ler­nen, der lang­fri­sti­ge Auf­bau ei­nes Raum­ver­ständ­nis­ses, so Sau­er.

„Mein Ziel ist es, die Kin­der und Ju­gend­li­chen so vor­zu­be­rei­ten, dass sie in der La­ge sind, mit Raum um­zu­ge­hen und ein Grund­ver­ständ­nis für den ei­ge­nen Le­bens­be­reich zu ent­wi­ckeln. Und wenn es nur da­rum geht, dass sie spä­ter ein­mal ih­re Wohn­vor­stel­lun­gen for­mu­lie­ren kön­nen und nicht nur das als gott­ge­ge­ben hin­neh­men, was ih­nen der Woh­nungs­markt vor­setzt.“

Ei­nen Schritt wei­ter als die der­zeit noch mo­bi­le In­sti­tu­ti­on des Ar­chi­tek­turC­lubs ist das so­ge­nann­te bil­ding in Inns­bruck. Die Ein­rich­tung, die in ei­nem ex­pe­ri­men­tel­len Holz­bau im Ra­pol­di­park ne­ben dem städ­ti­schen Hal­len­bad un­ter­ge­bracht ist, wur­de En­de 2014 ge­grün­det und um­fasst Kur­se und Works­hops im Be­reich Kunst und Ar­chi­tek­tur. Pro Wo­che neh­men rund 150 Schü­ler­in­nen und Schü­ler da­ran teil.

„Wir ar­bei­ten aus­schließ­lich mit Ar­chi­tek­tin­nen und Künst­lern so­wie Krea­ti­ven, die mit­ten im Be­rufs­le­ben ste­hen“, sagt bil­ding-Lei­te­rin Mo­ni­ka Abend­stein. Schon seit vie­len Jah­ren en­ga­giert sie sich für Ar­chi­tek­tur­ver­mitt­lung für Kin­der und Ju­gend­li­che. Mit dem bil­ding im Ra­pol­di­park ha­be das An­ge­bot nun end­lich ei­ne bau­li­che Ma­ni­fes­ta­ti­on ge­fun­den. „Es heißt im­mer, der Raum sei der drit­te Pä­da­go­ge, doch bei uns steht der Raum ab­so­lut im Vor­der­grund. Al­lein schon am bil­ding selbst, das mit Ar­chi­tek­turs­tu­den­ten ent­wi­ckelt und er­rich­tet wur­de, se­hen die Kin­der, was al­les mög­lich ist.“

Vi­si­on, Neu­gier, Kom­pe­tenz

Das Jah­res­bud­get be­läuft sich auf knapp 100.000 Eu­ro, wo­bei zwei Drit­tel da­von durch För­de­run­gen von Stadt, Land und Bund ab­ge­deckt wer­den. Bei den letz­ten 30 Pro­zent ist Abend­stein auf Spen­den und Spon­so­ren­gel­der an­ge­wie­sen. Die Kur­se selbst sind da­für kos­ten­los. Ge­heizt wird der tem­po­rä­re Pa­vil­lon üb­ri­gens mit­hil­fe des an­gren­zen­den Hal­len­bads. Das oh­ne­hin schon warm auf­be­rei­te­te Was­ser dient hier als ei­ne Art Mi­kro-Fern­wär­me­netz.

„Wir spre­chen im­mer von Vi­sio­nen, ver­ges­sen da­bei aber, dass es die Kin­der sind, die ei­nen ent­schei­den­den Bei­trag zu die­sen Vi­sio­nen leis­ten, denn ih­re Sicht­wei­se ist noch of­fen und vol­ler Neu­gier“, so Abend­stein, die einst selbst als Ar­chi­tek­tin tä­tig war. „Die­se Krea­ti­vi­tät und die­se Ge­stal­tungs­kraft gilt es zu för­dern. Am En­de des Ta­ges ha­ben wir es mit jun­gen Er­wachs­enen zu tun, die er­kannt ha­ben, dass sie ge­stal­ten kön­nen, dass sie ei­nen ge­wis­sen Mehr­wert leis­ten kön­nen, dass sie sich in Stadt­pla­nungs- und Bürg­er­be­tei­li­gungs­pro­zes­se kom­pe­tent ein­brin­gen kön­nen.“

Das The­ma der Ar­chi­tek­tur­ver­mitt­lung, ob in­ner- oder au­ßer­schu­lisch, hiel­ten die meis­ten für im­mens wich­tig, er­klärt Ba­ba­ra Fel­ler, Ob­frau der Ini­tia­ti­ve Bau­kul­tur­ver­mitt­lung für jun­ge Men­schen (bink). „In dem Mo­ment aber, wo es da­rum geht, die­se Ver­mitt­lung zu fi­nan­zie­ren und in die Rea­li­tät um­zu­set­zen, wird es schwie­rig. In An­be­tracht die­ser Um­stän­de sind die Ini­tia­ti­ven in Ös­ter­reich tip­top!“

Gro­ßes Vor­bild sind nach wie vor die skan­di­na­vi­schen Län­der. In Finn­land wur­de be­reits 1993 die Ark­ki School of Ar­chi­tec­tu­re for Chil­dren and Youth ge­grün­det. Die In­sti­tu­ti­on, die in Hel­sin­ki star­te­te und be­reits De­pen­dan­cen in Espoo und Van­taa so­wie Fran­chi­se-Ein­rich­tun­gen in At­hen und Thes­sa­lon­iki be­treibt, be­fin­det sich in ei­ner ehe­ma­li­gen Ka­bel­fa­brik am Ran­de der In­nens­tadt und ver­an­stal­tet rund 50 ver­schie­de­ne Kur­se mit mehr als 600 Schü­ler­in­nen und Schü­lern pro Wo­che.

„1993 gab es in Finn­land ei­nen Re­gie­rungs­be­schluss, der be­sag­te, dass künf­tig auch Kunst­spar­ten wie Zir­kus, Thea­ter und Ar­chi­tek­tur in den Schul­plan mit­ein­be­zo­gen wer­den müs­sen“, er­in­nert sich Ark­ki-Di­rekt­orin Pih­la Mes­ka­nen im Ge­spräch mit dem STAN­DARD. „Das war die Ge­burts­stun­de von Ark­ki. Und wis­sen Sie, was mich da­zu mo­ti­viert? Men­schen, die kei­ne Ah­nung von Ar­chi­tek­tur und Bau­kul­tur ha­ben, tref­fen in der Po­li­tik und Bau­wirt­schaft schwer­ge­wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen, die Kon­se­quen­zen auf das ge­sam­te Land und auf vie­le wei­te­re Ge­ne­ra­tio­nen ha­ben. Ich möch­te da­zu bei­tra­gen, die Ent­schei­der von mor­gen aus­zu­bil­den und zu sen­si­bi­li­sie­ren.“

Heu­te bau­en die Kids noch mit Pen­ne und Pat­tex, mit Zu­cker­wür­feln und Kek­sen, mit Le­gos­tei­nen und Kar­ton. Mor­gen schon mit Zie­gel, Stahl und Be­ton. Und viel­leicht mit et­was mehr Hirn und Herz.

Fast al­le in­sti­tu­tio­nel­len Ar­chi­tek­tur­häu­ser in Wien so­wie in den Bun­des­län­dern bie­ten Kur­se und Works­hops für Kin­der und Ju­gend­li­che an. Hin­zu kom­men di­ver­se Pri­vat­ini­tia­ti­ven, die meist mehr­wö­chi­ge Kur­se an­bie­ten.

Der Standard, Sa., 2016.02.13

30. Januar 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Der Ma­ril­len­mar­me­la­de­krap­fen-Ef­fekt

Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de in Wien der Bau­kul­tur­ge­mein­de-Preis 2016 ver­ge­ben. Die drei Preis­trä­ger Lus­te­nau, Krum­bach und Ybb­sitz zei­gen vor, wie man Ar­chi­tek­tur lebt und die Aus­höh­lung des länd­li­chen Raums stoppt.

Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de in Wien der Bau­kul­tur­ge­mein­de-Preis 2016 ver­ge­ben. Die drei Preis­trä­ger Lus­te­nau, Krum­bach und Ybb­sitz zei­gen vor, wie man Ar­chi­tek­tur lebt und die Aus­höh­lung des länd­li­chen Raums stoppt.

Ikea muss war­ten. Ikea, das kann nicht ei­ne Ge­mein­de im Al­lein­gang ent­schei­den. Ikea, das muss ei­ne in­ter­kom­mu­na­le Dis­kuss­ion sein, an der sich die ge­sam­te Re­gi­on be­tei­ligt. Wäh­rend sich an­de­re Bürg­er­meis­ter bei so ei­ner lu­kra­ti­ven An­fra­ge wohl al­le zehn Fin­ger ab­schle­cken und so­fort mit dem Bag­ger an­rü­cken wür­den, schickt der Lus­te­nau­er Ge­mein­de­chef Kurt Fi­scher den schwe­di­schen Mö­bel­gi­gan­ten erst ein­mal auf die War­te­bank. Man möch­te nach­den­ken und die Kon­se­quen­zen stu­die­ren.

Die Stra­te­gie der Vor­arl­ber­ger Rhein­tal­ge­mein­de, die in den letz­ten Jah­ren mit tem­po­rä­ren Bau­ten im öf­fent­li­chen Frei­raum, mit zahl­rei­chen Bürg­er­be­tei­li­gungs­pro­jek­ten und mit ei­nem erst­klas­si­gen Ge­wer­be­kon­zept auf sich auf­merk­sam mach­te, ist bei Wei­tem kein Ein­zel­fall. Die Lis­te an vi­sio­nä­ren und über­aus selbst­kri­ti­schen Ge­mein­den, die sich ernst­haft mit Ar­chi­tek­tur, Raum­pla­nung, Ver­kehrs­po­li­tik und nach­hal­ti­ger Bo­den­be­wirt­schaf­tung be­schäf­ti­gen und da­mit ge­gen die Aus­höh­lung und kul­tu­rel­le Zers­tö­rung des länd­li­chen Raums an­kämp­fen, wird im­mer län­ger.

Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­den die in­no­va­tivs­ten Or­te Ös­ter­reichs im Pa­lais Eschen­bach in der Wie­ner In­nens­tadt mit dem Bau­kul­tur­ge­mein­de-Preis 2016 aus­ge­zeich­net. Nach 2009 und 2012 wur­de die vom Ver­ein Land­Luft ini­ti­ier­te Aus­zeich­nung da­mit be­reits zum drit­ten Mal über­ge­ben. Aus ins­ge­samt 23 Be­wer­bun­gen wähl­te ei­ne 17-köp­fi­ge Ju­ry in ei­nem mehrs­tu­fi­gen Ver­fah­ren mit­samt Vor­ort­be­su­chen drei Preis­trä­ger. Kurt Fi­scher, Lus­te­nau, ist ei­ner da­von. Eben­falls freu­en dür­fen sich Krum­bach (Vor­arl­berg) und Ybb­sitz (Nie­de­rös­ter­reich).

„In den letz­ten Jah­ren ha­ben wir in Lus­te­nau ei­ni­ge ziem­lich am­bi­tio­nier­te Bau­ten rea­li­siert und auf Schie­ne ge­bracht“, sagt Ma­ri­na Häm­mer­le, ih­res Zei­chens ex­ter­ne Zen­trums­ko­or­di­na­to­rin. Und zählt auf: Re­vi­ta­li­sie­rung des Na­her­ho­lungs­ge­biets Al­ter Rhein, Er­öff­nung des So­zi­al­zen­trums mit be­treu­ten Woh­nun­gen und Se­nio­ren­ca­fé, Mas­ter­plan-Er­stel­lung und Er­wei­te­rung des Ge­wer­be­ge­biets Mil­len­ni­um Park, Er­rich­tung ei­nes neu­en Leicht­ath­le­tik- und Fuß­ball-Sta­di­ons, und dann gibt es noch den Ska­ter-Platz Ha­be­de­re und das so­ge­nann­te Feld­ho­tel. Der tem­po­rä­re Re­cyc­ling­bau des Ar­chi­tek­tur­kol­lek­tivs Kom­pott bot et­li­chen kul­tu­rel­len Events ei­ne Büh­ne und mach­te den Som­mer 2014 auf die­se Wei­se zum Ur­laub in der Stadt.

Die Rück­er­obe­rung des Raums

„Der wich­tigs­te Schritt wird jetzt sein, den Orts­kern zu stär­ken und den von Au­tos be­setz­ten Raum zu­rück­zu­er­obern. Wie bis­her wol­len wir auch hier sehr stark auf Bürg­er­be­tei­li­gung set­zen“, so Häm­mer­le. „Ge­mein­sam mit den Bürg­er­in­nen und Bürg­ern wer­den wir ei­nen Teil der In­nens­tadt zur Be­geg­nungs­zo­ne aus­bau­en. Aber das ist nur der An­fang, denn lang­fri­stig wird es da­rum ge­hen, die Alt­las­ten der vor­an­ge­gan­ge­nen Jah­re und Jahr­zehn­te zu be­rei­ni­gen und wie­der mehr Woh­nen, Han­del und Frei­zeit ins Zen­trum zu brin­gen.“

Ma­ri­na Häm­mer­le wird kurz still, denkt nach. Das In­ne­hal­ten und Ref­lek­tie­ren scheint in Lus­te­nau Tra­di­ti­on zu ha­ben. Nach ei­ner Wei­le schließ­lich: „Der Bau­kul­tur-Preis 2016 ist ei­ne Be­stä­ti­gung da­für, dass wir am rich­ti­gen Weg sind, und nimmt uns in die Pflicht dran­zu­blei­ben und wei­ter­zu­tun.“

Ge­nau das ist auch die Mo­ti­va­ti­on des Ver­eins Land­Luft. „Es tut sich be­reits wahn­sin­nig viel, und ich spü­re ein ver­stärk­tes Be­wusst­sein im Um­gang mit Bau­en, mit Raum­pla­nung, mit Orts­ent­wi­cklung, mit En­er­giet­he­men, mit al­len mög­li­chen Fa­cet­ten von Nach­hal­tig­keit“, meint der Ver­eins­vor­sit­zen­de Ro­land Gru­ber. „Un­se­re Auf­ga­be ist es, all die­se Im­pul­se vor den Vor­hang zu ho­len und da­für zu sor­gen, dass sich auch an­de­re Ge­mein­den in Ös­ter­reich da­ran ein Bei­spiel neh­men.“

Seit der Nach­kriegs­zeit ha­be man al­les da­ran ge­setzt, den länd­li­chen Raum zu mo­bi­li­sie­ren und das Au­to­mo­bil zum Gott zu er­he­ben. Die Kon­se­quen­zen wer­de man noch vie­le Jahr­zehn­te lang aus­ba­den müs­sen. „Der Do­nut-Ef­fekt macht die Ge­mein­den ka­putt. Er zieht den Or­ten ih­ren Bo­den und ih­re Iden­ti­tät weg, und er macht sie für kom­men­de Ge­ne­ra­tio­nen fad und un­at­trak­tiv. Es ist drin­gend an der Zeit, aus den Do­nuts wie­der Krap­fen zu ma­chen. So rich­tig fet­te Oma­krap­fen mit saug­uter Ma­ril­len­mar­me­la­de im Zen­trum.“

Je­ne hoch­wer­ti­ge Kon­fi­tü­re ist es auch, die die bei­den Preis­trä­ger-Ge­mein­den Krum­bach und Ybb­sitz ins Ram­pen­licht stel­len. Be­reits in den Neun­zi­ger­jah­ren er­ar­beit­ete die Vor­arl­ber­ger Ge­mein­de Krum­bach ein ba­sis­de­mo­kra­ti­sches Leit­bild für Neu­bau, Sa­nie­rung, Bau­land­wid­mung und Orts­ent­wi­cklung. „Fakt ist, dass wir in den letz­ten 60 bis 70 Jah­ren – wie über­all in Ös­ter­reich – viel zu viel Bau­land ge­wid­met ha­ben“, er­klärt Bürg­er­meis­ter Ar­nold Hirsch­brühl im Ge­spräch mit dem STAN­DARD . „Jetzt ru­dern wir wie­der zu­rück und kon­zen­trie­ren uns auf mo­der­ne, in­no­va­ti­ve, zum Teil kol­lek­ti­ve Wohn­mo­del­le im Orts­kern.“

Schmie­de der Sen­si­bi­li­tät

Dass es die 1000-See­len-Ge­mein­de im Bre­gen­zer­wald mit sei­ner Orts­kern­stär­kung ernst meint, be­weist das Pro­jekt Bus:Stop, das 2014 rea­li­siert wur­de. Sie­ben a­tem­be­rau­ben­de Bus­war­te­häus­chen von Ar­chi­tek­ten aus al­ler Welt wur­den da­bei quer über den Ort ver­streut. Das War­ten auf den Land­bus mu­tiert seit­dem zu ei­nem bis zu 30-mi­nü­ti­gen Stu­di­um zeit­ge­nös­si­scher Ar­chi­tek­tur. „Als Bürg­er­meis­ter se­he ich es als mei­ne Auf­ga­be, mit gu­tem Bei­spiel vor­an­zu­ge­hen und die Sen­si­bi­li­tät für Bau­kul­tur zu stär­ken. Und wenn es nur ei­ne Bus­hal­tes­tel­le ist.“

Des­sen ist man sich auch in Ybb­sitz be­wusst. Von je­her zählt die Me­tall­ver­ar­bei­tungs­ge­mein­de mit ih­rer Jahr­hun­der­te al­ten Schmie­de­tra­di­ti­on, die die Un­esco als na­tio­na­les, im­ma­te­riel­les Kul­tur­er­be ver­zeich­net, zu den wohl­ha­ben­de­ren Or­ten Nie­de­rös­ter­reichs. „Wer, wenn nicht wir! Wir ha­ben das gro­ße Glück, auf wert­vol­le kul­tu­rel­le Res­sour­cen zu­rück­grei­fen zu kön­nen, und die­sen Wert müs­sen wir un­be­dingt wei­ter­ent­wi­ckeln“, er­klärt Bürg­er­meis­ter Jo­sef Hof­mar­cher. „Und ja, Bau­kul­tur ist ein Be­kennt­nis zu Qua­li­tät, die Zeit, Geld und En­ga­ge­ment kos­tet. Aber wenn wir im­mer nur al­les da­ran ge­mes­sen hät­ten, was die bil­ligs­te Va­ri­an­te ist, dann wä­ren wir heu­te nicht da, wo wir sind.“

Die dra­ma­ti­schen Wor­te des Chefs ha­ben ei­ne Ent­spre­chung im Bau­li­chen und Or­ga­ni­sa­to­ri­schen, die mehr als be­ein­druckend ist. Fast über­all im Ort drän­gen sich mo­der­ne, bis­wei­len so­gar ra­di­ka­le Stahl­bau­ten ins Orts­bild – ob das nun ein Car­port, ein Wohn­haus, ein Ho­tel mit tem­po­rä­ren Apart­ments, ein Fuß­gän­gers­teg über den Prol­ling­bach oder ei­ne Klär­schlam­man­la­ge ist, die auf den er­sten Blick so­gar als Mu­se­um für zeit­ge­nös­si­sche Kunst durch­ge­hen wür­de.

Vor we­ni­gen Mo­na­ten erst wur­de die Re­vi­ta­li­sie­rung des al­ten Schmie­de­hau­ses fer­tig­ge­stellt. Das denk­mal­ge­schütz­te Haus wur­de mit Zim­mern, Schlaf­sä­len und öf­fent­li­chen Werks­tät­ten aus­ge­stat­tet und dient nun als Lo­gis für Gäs­te aus al­ler Welt, die in Ybb­sitz ei­ne Leh­re oder auch nur ei­nen Frei­zeit-Schmie­de­kurs ab­sol­vie­ren. „Ja, ich bin stolz da­rauf, dass wir un­se­re Tra­di­ti­on wei­ter­pfle­gen. Der Bau­kul­tur­ge­mein­de-Preis ist ein wert­vol­les Prä­di­kat, das uns stärkt, um mo­ti­viert wei­ter­zu­ma­chen.“

Der Standard, Sa., 2016.01.30

23. Januar 2016Wojciech Czaja
Der Standard

85 Mi­nu­ten Glück und Neid

Der Film „The In­fi­ni­te Hap­pi­ness“ von Ila Bê­ka und Loui­se Le­moi­ne ist mehr als nur ein Do­ku­men­tar­film über ir­gend­ein Wohn­haus in Ko­pen­ha­gen. Er ist ei­ne Ode an die so­zia­le Macht von Ar­chi­tek­tur – und hof­fent­lich ei­ne An­re­gung für Po­li­tik und Bau­wirt­schaft.

Der Film „The In­fi­ni­te Hap­pi­ness“ von Ila Bê­ka und Loui­se Le­moi­ne ist mehr als nur ein Do­ku­men­tar­film über ir­gend­ein Wohn­haus in Ko­pen­ha­gen. Er ist ei­ne Ode an die so­zia­le Macht von Ar­chi­tek­tur – und hof­fent­lich ei­ne An­re­gung für Po­li­tik und Bau­wirt­schaft.

In der 21. Mi­nu­te wan­dert Schaf Nr. 00214 durchs Bild, macht laut Mää­äh, als wür­de es die Ka­me­ra weg­blö­ken wol­len, und tum­melt sich dann mit sei­nen drei Dut­zend Woll­freun­den durchs Gat­ter, um hier drau­ßen auf der Step­pe das Abend­mahl zu sich zu neh­men. Das tau­send­fach pu­bli­zier­te Haus, das im Hin­ter­grund in die Hö­he ragt und um das sich die gan­ze Welt schon seit Jah­ren reißt, ist Nr. 00214 herz­lich egal. Senkt den Kopf, wid­met sich dem Fut­ter, und Schnitt.

The In­fi­ni­te Hap­pi­ness ist nicht nur ein fil­mi­sches Por­trät des 2011 er­rich­te­ten und mehr­fach preis­ge­krön­ten Wohn­hau­ses „Eight Hou­se“ in Øres­tad, ir­gend­wo am äu­ßers­ten Stadt­rand von Ko­pen­ha­gen, son­dern auch ein un­ge­wöhn­lich tie­fer Ein­blick in das all­täg­li­che Le­ben der hier woh­nen­den Men­schen mit­samt ih­ren Hob­bys, Ri­tua­len und do­mes­ti­zier­ten Tie­ren.

So hält sich dann auch die Ver­wun­de­rung in Gren­zen, wenn in Mi­nu­te 39 plötz­lich Erik auf die Büh­ne tritt und sei­nem künf­ti­gen, der­zeit noch gra­sen­den Rin­der­steak zärt­lich und auch ir­gend­wie ap­pe­ti­tan­ge­regt auf den Bauch klopft. Erik ist Mit­glied der Vieh­zucht-Ge­nos­sen­schaft hier im Hau­se und so­mit ei­ner von rund 100 Haus­hal­ten, die zu­sam­men 20 Bio­kü­he un­ter­hal­ten, um sie am En­de des Jah­res zu schlach­ten und das Fleisch auf die Ge­nos­sen­schaft auf­zu­tei­len. „Ja, in die­sem Haus ist al­les an­ders. Es ist wie ein Berg­dorf ge­baut. Das lässt uns al­le nä­her rü­cken. Wir sind ir­gend­wie so­zia­ler.“

Es ist ge­nau die­ses ge­mein­schaft­li­che Woh­nen und Han­deln, das im Film The In­fi­ni­te Hap­pi­ness den Zu­schau­er 85 Mi­nu­ten lang so wun­der­bar be­rührt. Wäh­rend sich die Dis­kuss­ion über die Zu­kunft des Wohn­baus in Ös­ter­reich meist in der Mö­bel­aus­stat­tung un­de­fi­nier­ter Mehr­zweck- und Ge­mein­schafts­räu­me er­schöpft, ga­lop­piert das Eight Hou­se des dä­ni­schen Ar­chi­tek­tur­bü­ros Bjar­ke In­gels Group (BIG) mit sei­nen 476 Woh­nun­gen und sei­nem mehr als ei­nen Ki­lo­me­ter lan­gen Rad­weg, der sich bis in den zehn­ten Stock hoch­schraubt, schnur­stracks in den Olymp der viel­zi­tier­ten so­zia­len Nach­hal­tig­keit. Und man starrt mit ei­ner or­dent­li­chen Por­ti­on Neid auf die Lein­wand.

„Ich muss ge­ste­hen: Zu Be­ginn war es die Ar­chi­tek­tur, die Äs­the­tik die­ses Hau­ses, die uns fas­zi­niert hat“, sagt die Pa­ri­ser Film­ema­che­rin Loui­se Le­moi­ne. Ge­mein­sam mit ih­rem Part­ner Ila Bê­ka macht sie Do­ku­men­tar­fil­me, sehr lus­ti­ge so­gar, über meist pro­mi­nen­te, welt­be­kann­te Bau­ten. Nach ih­rem De­büt Ko­ol­haas Hou­se­li­fe im Jahr 2009, in dem sie ein be­rühmt­es Ein­fa­mi­li­en­haus des Pritz­ker­preis­trä­gers Rem Ko­ol­haas aus der Sicht der Putz­frau Gua­da­lo­pe vor­stellt, folg­ten Fil­me über das Gug­gen­heim-Mu­se­um in Bil­bao so­wie über Mu­se­en, Kir­chen und Feu­er­wehr­sta­tio­nen von Ren­zo Pia­no, Ri­chard Mei­er und Her­zog & de Meu­ron.

„Doch bei die­sem Film war al­les an­ders“, er­in­nert sich Le­moi­ne. „Wir sind für ei­nen Mo­nat hier ein­ge­zo­gen, ha­ben mehr oder we­ni­ger Woh­nung ge­tauscht mit ei­ner hier le­ben­den Fa­mi­lie und ha­ben das Haus in die­ser Zeit auf ei­ne Art und Wei­se er­lebt, die nicht nur lus­tig, in­ten­siv, aben­teu­er­lich, son­dern auch sehr be­rüh­rend war.“ Nach die­ser Er­fah­rung, meint die 34-jäh­ri­ge Film­ema­che­rin, ha­be man das Eight Hou­se nicht nur als in­no­va­ti­ves Bau­werk, son­dern in er­ster Li­nie als so­zia­les Kraft­werk ver­stan­den.

Er­mü­den­de Schön­heit

In 30 kur­zen Epi­so­den wird Bjar­ke In­gels’ Eight Hou­se mi­nu­ti­ös un­ter die Lu­pe ge­nom­men. Da gibt es den blin­den Chris­ti­an, der im Kel­ler al­te Kla­vie­re res­tau­riert, stimmt und für den Wei­ter­ver­kauf rüs­tet. Da gibt es Pal­le, sei­nes Zei­chens lei­den­schaft­li­cher Er­fin­der­geist, der je­den Tag mit dem Ein­rad die Ram­pe auf und ab fährt. Da gibt es Fa­mi­lie Zhu, die im Ne­bel steht und so wie je­den Tag ne­ben dem Haus Tai-Chi prak­ti­ziert. Da gibt es Git­te und Ma­ria, die zwei Blog­ge­rin­nen und In­stag­ram-Fo­to­gra­fin­nen, die in ih­rer Ar­beit die pu­re Ma­gie die­ses Bau­werks fest­zu­hal­ten ver­su­chen.

Und dann gibt es Je­sper, die­sen un­er­müd­li­chen Gärt­ner mit Kap­pe und Oh­ren­schutz, der mit sei­nem Ra­sen­mä­her je­de Bö­schung und je­den stei­len Te­le­tub­by-Hü­gel im In­nen­hof des Eight Hou­se zähmt. „Das Gärt­nern ist wirk­lich er­mü­dend hier“, sagt er, sicht­lich au­ßer A­tem, nach­dem er die Ma­schi­ne die me­ter­ho­hen Hü­gel Dut­zen­de Ma­le hin­auf­ge­scho­ben und hin­un­ter­ge­zo­gen hat. „Aber das Haus, das ist schön.“

Doch es ist nicht al­les ro­sig im Eight Hou­se, in die­sem Mek­ka der Ar­chi­tek­tin­nen und Stu­den­ten, die das Ge­bäu­de seit Er­öff­nung vor vier Jah­ren bus- und me­tro­wei­se strö­men. Claus und Vir­gi­nia ste­hen in ih­rem Pent­hou­se im letz­ten Stock und bli­cken et­was bö­se in die Ka­me­ra. „Manch­mal kom­men 70, 80 Men­schen die Ram­pe hoch, blei­ben vor un­se­rem Vor­gar­ten ste­hen und schau­en uns ins Wohn­zim­mer rein. Man­che von ih­nen be­tre­ten die Ter­ras­se und pflü­cken ein­fach un­se­re Ro­sen. Ich füh­le mich hier wie in ei­nem Zoo. Und ich bin rich­tig bö­se, denn vor sechs Mo­na­ten hat­te ich ei­nen Herz­in­farkt, und nun muss ich die Woh­nung aus ge­sund­heit­li­chen Grün­den ver­las­sen.“ En­de der Epi­so­de.

Bjar­ke, du ver­rück­ter Hund!

„Das Schö­ne an un­se­rer Ar­beit ist, dass wir mit der Rea­li­tät ar­bei­ten“, sagt die Re­gis­seu­rin. „Das ist et­was ganz an­de­res als ein Film über ei­ne frei er­fun­de­ne Sa­che. Mit je­dem Film, mit je­dem Zu­sam­men­kom­men mit den Men­schen ler­ne ich viel da­zu. Die Ar­beit öff­net mir die Sin­ne! Wenn Sie so wol­len, ist so ein Film – egal ob im Dre­hen, im Schnei­den oder ein­fach nur im Be­trach­ten – ein gu­tes Werk­zeug, um Vor­ur­tei­le und vor­ge­fass­te Ide­en und Mei­nun­gen ab­zu­bau­en. Mit je­der Mi­nu­te mehr.“

Und was sagt der Ar­chi­tekt höch­stselbst zu die­sem Film? „500 Woh­nun­gen, 1000 Be­woh­ner, das ist schon was“, meint Bjar­ke In­gels auf An­fra­ge des STAN­DARD . „Und so un­gleich wie die Woh­nun­gen sind auch die hier le­ben­den Men­schen. Der Film von Ila Bê­ka und Loui­se Le­moi­ne ist in mei­nen Au­gen ein Kunst­werk, das die so­zia­le Macht un­se­rer ge­bau­ten Um­welt so schön sicht­bar macht.“

13. Mi­nu­te. Bo­ris steht mit sei­ner Frau An­ne im Wohn­zim­mer, schwärmt vom Rad­weg vorm Fens­ter, von den of­fe­nen Woh­nungs­grund­ris­sen, von den Nach­barn, de­nen man hier auf Schritt und Tritt be­geg­net. Zu spä­ter Stun­de – drau­ßen ist es schon dun­kel ge­wor­den – gibt er vor lau­fen­der Ka­me­ra ein Ge­ständ­nis ab: „Hal­lo Bjar­ke, du ver­rück­ter Hund! Du hast hier et­was Un­glau­bli­ches ge­schaf­fen! Ich füh­le mich pri­vi­le­giert, an so ei­nem Ort le­ben zu dür­fen. Bjar­ke, ver­dammt noch mal, ich wünsch­te, ich könn­te mir dein ge­nia­les Hirn aus­bor­gen!“ So ein Kom­pli­ment soll­te, ver­dammt noch mal, als Ap­pell an die ös­ter­rei­chi­sche Wohn­bau­po­li­tik und Wohn­bau­bran­che ver­stan­den wer­den.

„The In­fi­ni­te Hap­pi­ness“ wird der­zeit auf in­ter­na­tio­na­len Film­fes­ti­vals in Ko­pen­ha­gen, New York, Chi­ca­go, Tel Aviv und Syd­ney ge­zeigt.

Der Standard, Sa., 2016.01.23

14. Januar 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Chilenischer Architekt Alejandro Aravena bekommt Pritzker-Preis

„Es sind die einfachsten Begriffe und Tätigkeiten wie schlafen, lernen, essen, sich ausruhen, die unser Leben prägen“, sagt der chilenische Architekt Alejandro...

„Es sind die einfachsten Begriffe und Tätigkeiten wie schlafen, lernen, essen, sich ausruhen, die unser Leben prägen“, sagt der chilenische Architekt Alejandro...

„Es sind die einfachsten Begriffe und Tätigkeiten wie schlafen, lernen, essen, sich ausruhen, die unser Leben prägen“, sagt der chilenische Architekt Alejandro Aravena. „Die Begriffe sind Teil des kulturellen Erbes. Die Architektur hat die Kraft, dieses Erbe in eine entsprechende bauliche Form zu bringen. Das ist meine Vision.“ Wie Mittwochnachmittag bekannt wurde, ist der 48-Jährige heuer Preisträger der jährlich vergebenen und mit 100.000 US-Dollar dotierten Pritzker-Auszeichnung. „Alejandro Aravena ist Ausdruck für eine neue Generation von Architekten, die ein holistisches, umfassendes Verständnis der gebauten Umwelt haben“, lautet die Erklärung der diesjährigen Pritzker-Jury. „Seine Fähigkeit, soziale Verantwortung, wirtschaftliche Anforderungen, menschliche Bedürfnisse und das Wesen Stadt zu vereinen, hat er bereits mehrfach unter Beweis gestellt.“ Nur wenigen sei es bisher gelungen, Architektur als kunstvolles Unterfangen und zugleich als Antwort auf heutige soziale Anforderungen zu praktizieren. Freude für Brutalisten Auf der einen Seite gibt es die „schönen“ Projekte, um die sich die internationalen Blogs und Medien reißen, die Schulen, Universitätsgebäude, Museen und Forschungseinrichtungen. Das vielleicht beeindruckendste Beispiel aus dieser Tätigkeitssparte der gespaltenen Architektenpersönlichkeit ist das archaisch anmutende, 2014 fertiggestellte UC Innovation Center Anacleto Angelini am Campus der Universidad Católica in Santiago de Chile (Foto). Der massive Betonbau ist ein räumliches Wechselspiel aus Öffnung und Verschlossenheit, das nicht nur die Herzen von Brutalismus-Liebhabern höher schlagen lässt, sondern auch auf die entsprechenden Tageslicht-Anforderungen in den Innenräumen reagiert. Auf der anderen Seite engagiert sich der 1967 in Santiago de Chile geborene Allrounder für hochwertige, aber sozial verträgliche Projekte im Bereich Infrastruktur, öffentlicher Freiraum und kostengünstiger Wohnbau. Die 2001 von ihm gegründete Institution Elemental, die Aravena selbst in Anlehnung an die sonst so häufig anzutreffenden „Think-Tanks“ als „Do-Tank“ bezeichnet (hier wird nicht nur gedacht, sondern auch gehandelt), realisierte bereits Bauten in Chile, Mexico, China, in den USA sowie in der Schweiz. Zu den häufigsten Low-Cost-Projekten von Elemental zählen Wohnbauten und Reihenhaussiedlungen für einkommensschwache Schichten, die wunderbar beweisen, dass man auch mit wenig Budget und einfachsten materiellen Ressourcen nicht nur publikations-, sondern auch lebenswerte Architektur schaffen kann. Die farben- und lebensfrohen Siedlungen wie etwa Quinta Monroy in Iquique, Chile (2004), Monterrey Housing in Monterrey, Mexiko (2010) und Villa Verde Housing in Constitución, Chile (2013) können es mit jedem schicken Kulturbau aufnehmen. Ersatz für Sessel Nicht nur im großen Maßstab, auch in tragbaren Größenordnungen engagierte sich Aravena bereits mit Erfolg. Für den Möbelhersteller Vitra entwarf er 2010 das Alltagsutensil „Chairless“. Der leichte, strapazierfähige Gurt, den man sich um Rücken und Knie schnallt, ist ein ergonomisch fast gleichwertiger Ersatz für Sessel, um auch am Boden sitzend bequem Mahlzeiten zu sich nehmen zu können. Der schlaksige Alltagsarchitekt mit seiner Rockröhrenfrisur ist nicht nur einer der jüngsten Pritzker-Preis-Träger aller Zeiten, sondern nach Lius Barragán (1980), Oscar Niemeyer (1988) und Paulo Mendes da Rocha (2006) der erst vierte Lateinamerikaner, der mit diesem Preis gewürdigt wird. Die Preisverleihung findet am 4. April im UNO-Hauptquartier in New York statt. Kurz darauf wird Alejandro Aravena seine vielleicht größte Probe in der Ambivalenz zwischen Hochkultur und sozialem Engagement bestehen müssen: Für die Architektur-Biennale in Venedig, die im Juni eröffnet wird, wurde er zum diesjährigen Direktor bestellt. Die internationale Nabelschau steht heuer unter dem Generalmotto „Reporting from the Front“ (Berichterstattung von der Front). Damit hat er Erfahrung.

Der Standard, Do., 2016.01.14

02. Januar 2016Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Haus fürs letz­te Stünd­lein

Auf der Pal­lia­tivs­ta­ti­on im Kli­ni­kum Kla­gen­furt ist ein Gar­ten­pa­vil­lon ent­stan­den. Hier sol­len die Pa­ti­en­ten noch ein­mal der Na­tur na­he sein kön­nen. Un­ge­wöhn­lich: Das ge­sam­te Pro­jekt wur­de von Stu­den­ten ab­ge­wi­ckelt.

Auf der Pal­lia­tivs­ta­ti­on im Kli­ni­kum Kla­gen­furt ist ein Gar­ten­pa­vil­lon ent­stan­den. Hier sol­len die Pa­ti­en­ten noch ein­mal der Na­tur na­he sein kön­nen. Un­ge­wöhn­lich: Das ge­sam­te Pro­jekt wur­de von Stu­den­ten ab­ge­wi­ckelt.

Ein­mal noch die Son­nen­strah­len auf der Haut spü­ren. Ein­mal noch die Re­gen­trop­fen pras­seln hö­ren. Ein­mal noch den Schnee rie­chen. „So ein­fach kann ein letz­ter Wunsch sein“, sagt Bar­ba­ra Traar, Vor­stand des Ver­eins Pal­lia­tiv Kärn­ten. „Wir be­glei­ten die Men­schen auf ih­rem letz­ten Le­bens­weg, in ih­ren letz­ten Wo­chen und Mo­na­ten, und be­mü­hen uns, ih­nen ei­nen an­ge­neh­men, schmerz­frei­en Ab­schied zu er­mög­li­chen. Im be­sten Fall be­rei­ten wir die Pa­ti­en­ten da­rauf vor, nach Hau­se zu ge­hen und im Krei­se der Fa­mi­lie zu ster­ben.“

Aber manch­mal, da kommt der Tod auch frü­her. Und ja, er kommt ins Kran­ken­haus. Ins Kli­ni­kum Kla­gen­furt zum Bei­spiel. In den Sieb­zi­ger­jah­re-Bau in den drit­ten Stock, um ge­nau zu sein, dort, wo sich die Pal­lia­tivs­ta­ti­on be­fin­det, wo sich un­heil­bar kran­ke Men­schen da­rauf ein­stel­len, in Be­glei­tung von The­ra­peu­ten und Psy­cho­lo­gin­nen aus dem Le­ben zu schei­den. Mit Ne­on­licht, ab­ge­häng­ter De­cke und au­to­ma­ti­sier­ter Luft­um­wäl­zung. Es stinkt nach Des­in­fek­ti­ons­mit­tel. Im neu­en, klei­nen Holz­pa­vil­lon, ein paar Me­ter nur vom Ne­ben­ein­gang der Pal­lia­tivs­ta­ti­on ent­fernt, kann man dem ho­spi­ta­len All­tags­ap­pa­rat für ei­ne Wei­le ent­flie­hen.

An­fang De­zem­ber wur­de der Pa­vil­lon fer­tig­ge­stellt und in Be­trieb ge­nom­men. Ge­plant und er­rich­tet wur­de der 65 Qua­drat­me­ter gro­ße Bau von Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten der Fach­hoch­schu­le Kärn­ten in Spit­tal an der Drau. Zwölf Ent­wür­fe wur­den zu Be­ginn an­ge­fer­tigt. In ei­nem zweis­tu­fi­gen Ver­fah­ren wur­de das Spek­trum erst auf vier, dann auf ein ein­zi­ges Pro­jekt re­du­ziert. Der Ent­wurf von Da­ni­ela Pa­nos­ka und Mi­cha­el Pal­le schließ­lich wur­de in die Tat um­ge­setzt – vom er­sten Strich bis zur letz­ten fest­ge­zo­ge­nen Schrau­be.

Zu ver­dan­ken ist die­ser un­ge­wöhn­li­che Pla­nungs­pro­zess der Ini­tia­ti­ve der Kärnt­ner Lan­des­kran­ken­an­stal­ten-Be­triebs­ge­sell­schaft KA­BEG so­wie dem Ver­ein Pal­lia­tiv Kärn­ten. „Ich sa­ge ganz ehr­lich: Wir fi­nan­zie­ren uns über Spen­den­gel­der, und ei­nen fer­tig aus­ge­bil­de­ten Ar­chi­tek­ten hät­ten wir uns ein­fach nicht leis­ten könn­ten“, so Traar. „Das war zu Be­ginn der Haupt­be­weg­grund, mit un­se­rem Wunsch an die FH her­an­zu­tre­ten. Heu­te kann ich sa­gen, dass das ei­ne sehr gu­te Ent­schei­dung war, denn die Stu­die­ren­den wa­ren en­ga­giert, ha­ben die Bau­auf­ga­be sehr ernst ge­nom­men und wa­ren in der La­ge, sich in die Si­tua­ti­on der Pal­lia­tiv­pa­ti­en­ten hin­ein­zu­ver­set­zen.“

Ver­ti­ka­le Lat­ten aus frisch ge­schnitt­ener Lär­che. Sä­ge­rau. So rau, dass man sich ei­nen Schie­fer ein­zie­hen kann, wenn man zu schnell über die Ober­flä­che streicht. Na­tur halt. Es riecht wie auf dem Holz­platz, be­son­ders die­ser win­ter­li­chen Ta­ge, da die Luft feucht und ne­be­lig ist und die Har­ze und ät­her­ischen Öle leicht in die Na­se auf­stei­gen. Es ist, nach all den Ta­gen hoch oben im drit­ten Stock, ein Rausch der Sin­ne.

Die schräg ver­dreh­te La­ge der La­mel­len blen­det das häss­li­che Kran­ken­haus aus, da­für er­hascht man in den Zwi­schen­räu­men im­mer wie­der ein Stück­chen Na­tur, Schilf­gras oder ein Ge­strüpp, das sich im Früh­jahr wo­mög­lich als Stern­mag­no­lie her­aus­stel­len wird. In den bei­den Ni­schen, die je ei­nen Raum an der fri­schen Luft de­fi­nie­ren – der ei­ne ge­deckt, der an­de­re nach oben hin of­fen –, gibt es ei­ne Sitz­bank mit in­di­rek­ter Be­leuch­tung und ei­ner wett­er­fes­ten Out­door-Steck­do­se. Fürs Kran­ken­bett, für die Beat­mungs­ma­schi­ne, für was auch im­mer.

„Soll ich Ih­nen was sa­gen? Ich ha­be ge­se­hen, wie sehr die Stu­den­ten bei der Sa­che wa­ren, wie viel Be­geis­te­rung sie in die Er­rich­tung ge­steckt ha­ben. Ich fin­de es toll, was da pas­siert ist.“ Rein­hard Bahr ist 78 Jah­re alt. Er hat Krebs im End­sta­di­um, wie er selbst sagt. „Da drau­ßen in der Na­tur zu sein, das gibt mir et­was Be­ru­hi­gen­des. Für kur­ze Zeit schal­tet man von sei­nen Schmer­zen, von sei­nen Ängs­ten, von sei­nem Schi­cksal ab. Ich glau­be, man fin­det in die­sem Raum ein biss­chen Ru­he. Das ist ja auch Sinn und Zweck der Sa­che, oder?“

60.000 Eu­ro hat das Pro­jekt ge­kos­tet. Die Hälf­te da­von stammt von Spen­den­geld­ern von Pal­lia­tiv Kärn­ten, die an­de­re Hälf­te hat die KA­BEG zur Ver­fü­gung ge­stellt. Die Haupt­pro­fi­teu­re die­ses als Pa­vil­lon ge­tarn­ten Ge­schenks sind oh­ne Zwei­fel die Pa­ti­en­ten. Nicht zu­letzt aber ist die Ko­ope­ra­ti­on zwi­schen Uni­ver­si­tät und rea­ler Auf­trag­ge­ber­schaft auch ei­ne wich­ti­ge, un­be­zahl­ba­re Er­fah­rung für die Stu­die­ren­den.

„Wir ha­ben al­le De­tails vom Fun­da­ment bis zum Dach selbst ent­wi­ckeln müs­sen, und zwar so, dass es prak­tisch und wirt­schaft­lich ist“, sagt Da­ni­el Pe­rei­ra-Arn­stein, ei­ner der in der Aus­füh­rungs­pla­nung und Bau­pha­se be­tei­lig­ten FH-Stu­den­ten. „Und wir muss­ten den Pa­vil­lon so pla­nen, dass wir ihn – mit der Un­ter­stüt­zung ei­ni­ger we­ni­ger Fir­men – selbst bau­en kön­nen. Ich fin­de es gut, dass den Stu­den­ten pra­xis­na­he Er­fah­rung na­he­ge­bracht wird. Da­durch lernt man viel mehr als nur in der Theo­rie.“

Ge­nau das ist auch die Ab­sicht der FH, Stu­di­en­gang für Ar­chi­tek­tur und Bau­in­ge­ni­eur­we­sen. „In Ent­wi­cklungs­ge­bie­ten wie et­wa in Tei­len Süd­afri­kas ha­ben wir schon öf­ter rea­le Pro­jek­te rea­li­siert“, er­klärt Eli­as Mo­lit­schnig, wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter der FH und grü­ner Ge­mein­de­rat für den Be­reich Pla­nung und Bau­kul­tur in Kla­gen­furt. „In Ös­ter­reich je­doch sind sol­che Zu­sam­men­ar­bei­ten zwi­schen Stu­die­ren­den und rea­lem Auf­trag­ge­ber noch ei­ne Sel­ten­heit. Ei­gent­lich sehr scha­de, denn der Ler­nef­fekt – nicht nur der tech­ni­sche und wirt­schaft­li­che, son­dern vor al­lem auch der so­zia­le – ist enorm.“

Die Stu­den­ten muss­ten ih­ren Ent­wurf nicht nur pla­nen und de­tail­lie­ren und sich an­schlie­ßend ei­nem Hea­ring des Kli­ni­kums Kla­gen­furt und des Ver­eins Pal­lia­tiv Kärn­ten stel­len. Sie muss­ten auch die Bau­kos­ten be­rech­nen, den Sta­ti­ker be­auf­tra­gen und die Ver­hand­lungs­ge­sprä­che mit Baum­eis­ter und Zim­mer­mann füh­ren. Und sie muss­ten die Bau­stel­le bis zur letz­ten Schrau­be ko­or­di­nie­ren. „In Zu­kunft“, meint Stu­di­en­gangs­lei­ter Pe­ter Nigst, „möch­ten wir die­se Pra­xis­er­fah­rung zu ei­nem ver­pflich­ten­den Fach un­se­res Stu­di­ums und so­mit auch zu ei­nem Al­lein­stel­lungs­merk­mal in der ös­ter­rei­chi­schen Ar­chi­tek­tu­raus­bil­dung ma­chen.“

Es gibt in die­sem Land tau­sen­de Pla­nungs- und Bau­auf­ga­ben, für die ex­trem ho­her Be­darf be­steht, ob­wohl in der Pra­xis lei­der nur we­nig fi­nanz­iel­le Mit­tel da­für zur Ver­fü­gung ste­hen. Ar­chi­tek­tin­nen und Bau­in­ge­ni­eu­re in der Aus­bil­dung, die sich mit No­ten, ECTS-Punk­ten und prak­ti­scher Er­fah­rung be­reits zur Ge­nü­ge ho­no­riert füh­len, wä­ren da­für ei­ne sinn­vol­le Pla­nungs­dis­zi­plin.

„Es war ei­ne Zu­sam­men­ar­beit auf Au­gen­hö­he“, blickt Bar­ba­ra Traar, Ver­ein Pal­lia­tiv Kärn­ten, auf das Pro­jekt zu­rück. „Die Stu­die­ren­den ha­ben hoch­wer­tigs­te Ar­beit ge­leis­tet, und ich wür­de mir wün­schen, dass sol­che aka­de­mi­schen Po­ten­zia­le öf­ter aus­ge­schöpft wür­den.“ Rein­hard Bahr blickt vom Fens­ter im drit­ten Stock auf den Pa­vil­lon hi­nab. „So ein schö­nes Häus­chen ist das ge­wor­den. Da will man sich ein­fach nur rein­set­zen und Ru­he ha­ben.“

Der Standard, Sa., 2016.01.02

19. Dezember 2015Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Kons­truk­ti­ve Her­bergs­su­che

Ös­ter­reich stellt sich auf der Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2016 dem The­ma Flücht­lin­ge. Doch Ge­dan­ken da­rü­ber ha­ben sich die Ar­chi­tek­ten schon län­ger ge­macht. Da­bei geht es nicht um Hoch­glanz-Meis­ter­wer­ke, son­dern um ganz ein­fa­che Din­ge.

Ös­ter­reich stellt sich auf der Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2016 dem The­ma Flücht­lin­ge. Doch Ge­dan­ken da­rü­ber ha­ben sich die Ar­chi­tek­ten schon län­ger ge­macht. Da­bei geht es nicht um Hoch­glanz-Meis­ter­wer­ke, son­dern um ganz ein­fa­che Din­ge.

Manch­mal hilft es, sich aufs We­sent­li­che zu be­sin­nen, auch wenn die­ses We­sent­li­che auf den er­sten Blick ba­nal er­scheint. „Or­te für Men­schen“, der Ti­tel des Ös­ter­reich-Bei­trags für die Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le 2016 ist so ein Fall. Or­te für Men­schen – das ist im Grun­de ei­ne Tä­tig­keits­be­schrei­bung für das, was Ar­chi­tek­ten tun.

Doch das All­ge­mei­ne re­sul­tier­te aus dem Aku­ten: „Im Som­mer, als wir beim Brains­tor­ming zum Bien­na­le-Bei­trag sa­ßen, hat uns das The­ma Flücht­lin­ge stark be­wegt“, er­klär­te Bien­na­le-Kom­mis­sä­rin El­ke De­lu­gan-Meissl bei der Prä­sen­ta­ti­on des Kon­zepts An­fang die­ser Wo­che. Die 2016 in Ve­ne­dig aus­ge­stell­ten Or­te für Men­schen wer­den da­her drei kon­kre­te Stand­or­te in Wien sein, an de­nen sich die Te­ams Ca­ra­mel Ar­chi­tek­ten, the Next Ent­er­pri­se und Eoos in den näch­sten Mo­na­ten zur neu­en Hei­mat für Flücht­lin­ge wer­den las­sen.

So om­ni­prä­sent war und ist das The­ma in die­sem Jahr, dass es kaum wun­dert, dass auch an­de­re Bien­na­le-Na­tio­nen sich sei­ner an­ge­nom­men ha­ben: Deutsch­lands Bei­trag steht un­ter dem be­wusst pro­vo­kan­ten Mot­to: „Ma­king Hei­mat. Ger­ma­ny, Ar­ri­val Coun­try.“ Ganz im Sin­ne des Mer­kel’schen „Wir schaf­fen das!“ sol­len da­bei deut­sche An­kunfts­städ­te un­ter­sucht und die Er­geb­nis­se ei­nes „Call for Pro­jects“ vor­ge­stellt wer­den, den das Deut­sche Ar­chi­tek­turm­useum Frank­furt (DAM) im No­vem­ber aus­sand­te, um Bau­ide­en für Flücht­lin­ge zu sam­meln.

Dass dies kei­ne Schau der Hoch­glanz­vi­sio­nen wird, ist ab­zu­se­hen, denn die Bei­trä­ge, die Ar­chi­tek­ten bis­her zur kons­truk­ti­ven Nots­tands­hil­fe ge­leis­tet ha­ben, sind be­wusst prag­ma­tisch. Schon 2014 fan­den sich in Wien die IG Ar­chi­tek­tur und die NGO „Ar­chi­tek­tur oh­ne Gren­zen“ zu­sam­men, um sich un­ter dem Mot­to „Kein Ort. Nir­gends“ in Ar­beits­grup­pen auf die Su­che nach Lö­sun­gen zu ma­chen. Ei­ne da­von ist die In­nen­ge­stal­tung der Asyl­be­wer­be­run­ter­kunft Haus Da­ria, das die Ca­ri­tas in Wien-Fa­vor­iten be­treibt. Der Be­darf, so die be­tei­lig­ten Ar­chi­tek­ten uni­so­no, sei eben vor al­lem die Mo­bi­li­sie­rung des Leers­tands. Ein schi­ckes De­sig­ner-Flücht­lings­heim auf dem Prä­sen­tier­tel­ler wür­de wohl bei al­len Be­tei­lig­ten für Ma­gen­grim­men sor­gen.

An­ge­sichts des sen­si­blen The­mas war Ös­ter­reichs Bien­na­le-Te­am be­müht, zu be­to­nen, es ge­he ge­ne­rell um Räu­me für Hilfs­be­dürf­ti­ge, ob Flücht­lin­ge oder nicht. Auch ein Sym­po­si­um un­ter dem Ti­tel „Ho­me not Shel­ter“ am vo­ri­gen Wo­che­nen­de fass­te den Rah­men wei­ter, bis hin zum leist­ba­ren Woh­nen. „Ho­me not Shel­ter“ ist ei­ne Ko­ope­ra­ti­on der TU Wien mit vier deut­schen Hoch­schu­len zum The­ma „Ge­mein­sam le­ben statt ge­trennt woh­nen.“ Die Er­geb­nis­se wer­den 2016 zu se­hen sein. „Es geht bei der Auf­ga­be da­rum, so pro­gram­ma­tisch zu den­ken, dass die Me­tho­de auch an­dern­orts an­ge­wen­det wer­den kann“, sagt Ale­xan­der Hag­ner von Gau­pen­raub Ar­chi­tek­ten, der die Wie­ner Stu­den­ten be­treut.

Eben­falls Teil des Te­ams ist die Leib­niz-Uni­ver­si­tät Han­no­ver, dort ent­war­fen Ar­chi­tek­turs­tu­den­ten schon im Rah­men ei­nes Wett­be­werbs Woh­nun­gen für Flücht­lin­ge. Der Ti­tel: „The Peo­ples Pro­ject“. Mit­te die­ser Wo­che wur­den die be­sten Pro­jek­te von ei­ner Ju­ry aus­ge­wählt. Bis Fe­bru­ar 2016 sol­len die Ent­wür­fe wei­ter­ent­wi­ckelt und an­schlie­ßend auf dem Ge­län­de vor der Fa­kul­tät für Ar­chi­tek­tur und Land­schaft in Han­no­ver-Her­ren­hau­sen ge­baut und be­wohnt wer­den.

Men­schen­wür­di­ger Wohn­raum

„Die schein­bar so gro­ßen Hin­der­nis­se wie die Ein­hal­tung tech­ni­scher und äs­the­ti­scher Stan­dards so­wie die Be­zahl­bar­keit durch die öf­fent­li­che Hand sind über­wind­bar, wie die Pra­xis un­miss­ver­ständ­lich zeigt“, sagt Mar­kus Gild­ner, Ini­ti­ator und Ent­wi­ckler des Pro­jekts. „Es ist mög­lich, Flücht­lin­gen ei­nen men­schen­wür­di­gen Wohn­raum in­mit­ten un­se­rer Ge­sell­schaft zu bie­ten. Es braucht nur ech­ten Wil­len, mu­ti­ge In­ves­to­ren, wil­li­ge Be­hör­den­lei­ter und ehr­gei­zi­ge Po­li­ti­ker.“

Und manch­mal auch die Pri­vat­ini­tia­ti­ve ei­ni­ger we­ni­ger Pro­ta­go­nis­ten. Im Inns­bru­cker Stadt­vier­tel Sag­gen, nur ei­nen Stein­wurf von der In­nens­tadt ent­fernt, wur­de En­de No­vem­ber die „HER­ber­ge“ fer­tig­ge­stellt. Das Pro­jekt um­fasst 45 Wohn­ein­hei­ten für ins­ge­samt 131 Flücht­lin­ge. Die Re­vi­ta­li­sie­rung des ehe­ma­li­gen Klos­ter­schu­len-Mäd­chen­wohn­heims, das 1960 er­rich­tet wur­de und seit 2008 leers­tand, geht auf ei­ne Ini­tia­ti­ve des Or­dens der Barm­her­zi­gen Schwes­tern zu­rück.

„Tat­sa­che ist, dass die Kir­che über ei­ni­ge leers­te­hen­de Bau­ten ver­fügt“, sagt Schwes­ter Pia Re­gi­na im Ge­spräch mit dem Stan­dard . Die 71-Jäh­ri­ge ist Pro­vinz­vi­ka­rin der Barm­her­zi­gen Schwes­tern und war in das Pro­jekt stark in­vol­viert. „Nach­dem es un­se­re Auf­ga­be als Or­den ist, Men­schen in der Not zu hel­fen, war für uns klar, dass wir die Zur­ver­fü­gungs­tel­lung des ehe­ma­li­gen Wohn­heims auf un­se­rem Grund­stück als Auf­trag se­hen müs­sen. Wir sind zwar schon alt, und ei­ni­ge von uns kön­nen nicht mehr rich­tig zu­pa­cken, aber das war der Bei­trag, den wir leis­ten kön­nen.“

Das Ge­bäu­de wur­de ge­dämmt, mit neu­en Sa­ni­tär- und Elek­tro­ins­tal­la­tio­nen aus­ge­stat­tet so­wie mit ei­ner neu­en Hei­zung ver­se­hen. Pro Ge­schoß gibt es nun ein bis zwei Bal­ko­ne, die als Frei­raum, Wä­sches­tän­der und Open-Air-Rauch­kam­merl die­nen. Da­rü­ber hin­aus wur­de das ge­sam­te Haus mö­bliert und mit Son­der­räu­men wie et­wa Spiel­zim­mer, Näh­zim­mer und Fit­ness­raum aus­ge­stat­tet. Zu den Be­wohn­ern zäh­len Fa­mi­li­en und jun­ge Män­ner aus Sy­rien, Af­gha­nis­tan, Irak, Aser­baid­schan, So­ma­lia und Ni­ge­ria.

Güns­ti­ge Bau­stof­fe

„Der Um­bau zur Her­ber­ge war ein ab­so­lu­tes Low-Bud­get-Pro­jekt“, sagt die zu­stän­di­ge Ar­chi­tek­tin Bar­ba­ra Po­ber­schnigg, Part­ne­rin im Inns­bru­cker Bü­ro Stu­dio Lo­is. „Vor dem Pro­jekt­start ha­ben wir zu­nächst ein­mal ei­ne Um­fra­ge ge­star­tet, wel­che Un­ter­neh­men Aus­lauf­mo­del­le und Fehl­be­stel­lun­gen ab­zu­ge­ben ha­ben. Auf Ba­sis die­ses Ka­ta­logs an güns­tig zu­kauf­ba­ren Bau­stof­fen ha­ben wir dann erst mit der ei­gent­li­chen Pla­nung be­gon­nen.“ Man­che Fir­men, so Po­ber­schnigg, hät­ten ih­re Pro­duk­te und Ma­te­ria­li­en so­gar kos­ten­los oder zum Ein­kaufs­preis wei­ter­ge­ge­ben.

Das Ge­samt­bud­get für Um­bau und Sa­nie­rung be­läuft sich auf 2,5 Mil­lio­nen Eu­ro. Zu­sätz­lich da­zu schlägt die Mö­blie­rung mit 1700 Eu­ro pro Zim­mer zu Bu­che. „Die Ein­rich­tung der pri­va­ten Wohn- und Schlaf­räu­me be­steht zu ei­nem gro­ßen Teil aus Fer­tig­mö­beln, die wir vor Ort mit rund 200 frei­wil­li­gen Hel­fern zwei Ta­ge lang zu­sam­men­ge­schraubt ha­ben“, er­klärt die Ar­chi­tek­tin. Die Mö­bel für die ge­mein­schaft­li­chen Wohn­be­rei­che ha­be man aus di­ver­sen Alt­be­stän­den und Woh­nungs­auf­lö­sun­gen zu­sam­men­ge­tra­gen. Ein Teil der Vin­ta­ge-Ein­rich­tung stam­me von di­ver­sen Dach­bö­den der Barm­her­zi­gen Schwes­tern.

„Wis­sen Sie, ei­ni­ge der Schwes­tern hat­ten Angst, als wir das Pro­jekt ge­star­tet ha­ben“, er­in­nert sich Schwes­ter Pia Re­gi­na. „Aber ich den­ke, die Men­schen brau­chen sich nicht zu fürch­ten. Die Er­fah­rung zeigt, dass es al­len bes­ser geht, so­bald sie nicht mehr hung­rig und hei­mat­los sind. Und wir ha­ben die­sen Men­schen ei­ne Her­ber­ge ge­ge­ben. Ei­ne Her­ber­ge, die kei­ne Hal­le ist und auch kein Zelt.“

Ein Ort für Men­schen eben. Ei­ne neue Hei­mat für die Hei­mat­lo­sen und ei­ne Frisch­zel­len­kur für die Ar­chi­tek­tur, die sich ein­mal mehr ih­rer ur­ei­ge­nen Auf­ga­be ver­ge­wiss­ern kann.

Der Standard, Sa., 2015.12.19

05. Dezember 2015Maik Novotny
Wojciech Czaja
Der Standard

Ein neu­es al­tes Haus am Platz

Vor kur­zem wur­de der Wett­be­werb „Wien-Mu­se­um neu“ ent­schie­den. Da­mit ge­hen jah­re­lan­ge Stand­ort­fra­gen und Denk­mal­schutz-Dis­kuss­io­nen zu En­de. Das Sie­ger­pro­jekt von Čer­tov, Wink­ler+Ruck lie­fert er­freu­li­che Ant­wor­ten.

Vor kur­zem wur­de der Wett­be­werb „Wien-Mu­se­um neu“ ent­schie­den. Da­mit ge­hen jah­re­lan­ge Stand­ort­fra­gen und Denk­mal­schutz-Dis­kuss­io­nen zu En­de. Das Sie­ger­pro­jekt von Čer­tov, Wink­ler+Ruck lie­fert er­freu­li­che Ant­wor­ten.

Der Karl­splatz, so das be­kann­te und noch gül­ti­ge Bon­mot von Ot­to Wag­ner, ist we­ni­ger ein Platz als ei­ne Ge­gend. Ein Durch­ein­an­der von We­gen und In­seln, um­stellt von bau­li­chen Schwer­ge­wich­ten. Vie­le ha­ben ver­sucht, die­se Ge­gend in den Griff zu be­kom­men. Ge­wor­den ist da­raus ei­ne Grab­stät­te un­ge­bau­ter Ide­en – auch je­ner von Ot­to Wag­ner selbst, der mit sei­nem Ent­wurf für ein neu­es Stadt­mu­se­um 1902 der Lö­sung schon sehr na­he kam. Sei­nem Bau wä­re es im­mer­hin ge­lun­gen, der do­mi­nie­ren­den Karl­skir­che kei­ne Kon­kur­renz zu ma­chen und trotz­dem selbst­be­wuss­ter Stadt­bau­stein zu sein. Kei­ne leich­te Auf­ga­be.

Dem jet­zi­gen Wien-Mu­se­um von Os­wald Ha­erdtl, er­öff­net 1959, ist das nicht ge­lun­gen – trotz al­ler Fif­ties-Ele­ganz im De­tail. Zu nie­drig, zu un­ent­schlos­sen, zu ver­huscht gibt es sich nach au­ßen, eher den An­schein des Ver­wal­tungs­baus ei­ner un­gla­mou­rö­sen Ge­werk­schaft er­we­ckend als den ei­nes stol­zen Mu­se­ums. Georg Lip­perts 1971 er­bau­tes Win­ter­thur-Haus, in un­be­hol­fe­ner Ver­mitt­lungs­ge­ste wie ein lang­ge­zo­ge­ner Kau­gum­mi zwi­schen Kir­che und Mu­se­um ge­klebt, mach­te die Sa­che auch nicht bes­ser.

Die Auf­ga­be für die Ar­chi­tek­ten beim Wett­be­werb „Wien-Mu­se­um neu“, der An­fang die­ses Jah­res aus­ge­lobt wur­de, war al­so nicht nur die Ent­wi­cklung neu­er Räu­me für das be­eng­te Mu­se­um, son­dern auch ein Sta­te­ment zum Ha­erdtl-Bau, zum Win­ter­thur-Haus, zur Karl­skir­che, zur Ge­gend Karl­splatz. Die 274 welt­wei­ten Ein­rei­chun­gen der er­sten Run­de und die da­raus aus­ge­wähl­ten 14 Pro­jek­te für die zwei­te Run­de zeig­ten dann auch die gan­ze Band­brei­te: Vie­le rück­ten den Ha­erdtl-Bau in die zwei­te Rei­he und stell­ten ei­nen neu­en So­li­tär auf den Karl­splatz, mal form­ver­liebt über­bor­dend, mal spie­le­risch, mal streng. Man­che spiegel­ten die Platz­kan­te des TU-Ge­bäu­des, um die Karl­skir­che sym­me­trisch zu rah­men. An­de­re zerr­ten und zupf­ten am Ha­erdtl-Bau he­rum oder mach­ten ihn zu ei­ner auf­ge­pump­ten XL-Ver­si­on sei­ner selbst – ei­ne Do­ping­sprit­ze fürs Selbst­be­wusst­sein. Die drit­te Grup­pe blieb mit dem Mu­se­ums­zu­bau ganz be­schei­den im Un­ter­grund und de­fi­nier­te die Er­wei­te­rung als Teil des Plat­zes.

Lo­gi­sche Auf­sto­ckung

Dass die Wahl der Ju­ry um den Vor­sit­zen­den Ema­nu­el Christ (Ba­sel) an die­sem Ort nicht auf ei­ne bom­bas­ti­sche Gug­gen­heim-Lö­sung fiel, die wild we­delnd vor der Karl­skir­che her­um­steht, ist zu be­grü­ßen. Mit dem Sie­ger­pro­jekt der Kärnt­ner Ar­chi­tek­ten Wink­ler+Ruck und des Gra­zer Ar­chi­tek­ten Fer­di­nand Čer­tov hat ei­ne lo­gisch und selbst­ver­ständ­lich wir­ken­de Auf­sto­ckung des be­ste­hen­den Mu­se­ums den Vor­zug be­kom­men.

Die ver­glas­te Fu­ge, in der der „Wien-Raum“ zu Hau­se sein wird, hält zum Ha­erdtl-Bau ei­nen re­spek­ta­blen Ab­stand und ver­leiht ihm so mehr stadt­räum­li­che Sub­stanz, oh­ne ihn da­bei kom­plett zu ver­frem­den. Vor den Bau setz­ten Čer­tov, Wink­ler+Ruck ei­nen schma­len Tor­bau – halb Bau­werk, halb Pa­vil­lon – als ein­la­den­des Sig­nal, dass es sich hier um ein Mu­se­um han­delt. Ein Mu­se­um, für das die „Ge­gend“ Karlsplatz ge­nau der rich­ti­ge Ort ist und das an die­sem Platz endlich an­ge­kom­men ist und da­ran teil­neh­men kann.

Ein neu­es al­tes Haus am Platz, 2. Teil
(Interview: Woj­ciech Cza­ja)

Den Bau­ten der ös­ter­rei­chi­schen Nach­kriegs­mo­der­ne man­gelt es an Fröh­lich­keit und Freu­de, sagt Ar­chi­tekt Ro­land Wink­ler von der AR­GE Čer­tov, Wink­ler+Ruck. Beim Wien-Mu­se­um kom­me nun im­mer­hin so et­was wie all­ego­ri­scher Spaß ins Spiel.

Stan­dard: Der Wie­ner Kul­tur­stadt­rat An­dre­as Mai­lath-Po­kor­ny hat Sie bei der Pres­se­kon­fe­renz vor kur­zem als jun­ges Kärnt­ner Te­am be­zeich­net. Ist das ein Kom­pli­ment?

Wink­ler: Ich bin froh, dass er das ge­tan hat, und froh, dass das nicht stimmt. Wir sind Mit­glied der Grup­pe „Jun­ge Ar­chi­tek­tur Kärn­ten“. Die Grup­pe ha­ben wir vor 20 Jah­ren ge­grün­det. Wir fei­ern ge­ra­de Ju­bi­lä­um.

Stan­dard: Ihr Ent­wurf ist ei­ne sehr stil­le, be­hut­sa­me Er­gän­zung zum Ha­erdtl-Bau. War die­ser zu­rück­hal­ten­der An­satz von An­fang an klar?

Wink­ler: In der Aus­schrei­bung war es ver­bo­ten, den Ha­erdtl-Bau auf­zu­sto­cken. Wir ha­ben es trotz­dem ge­macht, und zwar um zwei Ge­scho­ße bzw. um knapp zehn Me­ter, weil wir der Mei­nung sind, dass die Karl­skir­che da­mals – viel­leicht war es vor­aus­ei­len­der Ge­hor­sam – ei­nen zu schwa­chen Nach­barn be­kom­men hat. In ge­wis­ser Wei­se hat der Bau jetzt je­ne Ra­di­ka­li­tät, die dem Karl­splatz bis­lang ge­fehlt hat.

Stan­dard: Vie­le an­de­re Bü­ros ha­ben auf die Pau­ke ge­haut und ein auf­fäl­li­ges Denk­mal à la Gug­gen­heim vor­ge­schla­gen.

Wink­ler: Und das ha­ben wir zu Be­ginn auch! Da wa­ren vie­le, auch sehr wil­de Ent­wurfs­sta­dien da­run­ter. Doch die ha­ben wir al­le wie­der fal­len­ge­las­sen. Denn wenn man be­ginnt, die Schwä­che des Ha­erdtl-Baus aus­zu­glei­chen, in­dem man ihm ei­nen star­ken Bru­der da­ne­ben­stellt, dann er­zeugt man da­mit wo­mög­lich ei­nen Be­lei­dig­ten, der es ei­nem aus der zwei­ten Rei­he her­aus übel­neh­men kann. Das woll­ten wir nicht. Wir ha­ben den Ha­erdtl stark ge­macht.

Stan­dard: Ganz all­ge­mein scheint es, dass der Bau­sub­stanz aus den Nach­kriegs­jah­ren in Ös­ter­reich we­nig Lie­be ent­ge­gen­ge­bracht wird. Das Wien-Mu­se­um ist da ei­ne gro­ße Aus­nah­me. Wo­ran liegt das?

Wink­ler: Es gibt die­se ganz spe­ziel­le Qua­li­tät der 1959/60er, die wir heu­te so sehr lie­ben. Das ist das Bun­te, Lus­ti­ge, Frisch-Fröh­li­che. Das gibt es über­all auf der Welt, nur nicht bei uns. Bei der Nach­kriegs­mo­der­ne in Ös­ter­reich schwingt et­was Trau­ri­ges, et­was Schmerz­vol­les mit. Nur we­ni­ge Bau­ten aus der Wie­der­auf­bau­zeit ma­chen Spaß.

Stan­dard: Kommt jetzt ein biss­chen Spaß mit dem Wien-Mu­se­um neu?

Wink­ler: Na hof­fent­lich! Am stärk­sten wird sich das wohl an der Vor­platz­ge­stal­tung mit dem Ent­ree, dem Kaf­fee­haus und den Sitz­ge­le­gen­hei­ten vor dem Mu­se­um äu­ßern. Mein per­sön­li­cher Fa­vo­rit ist das ver­glas­te Zwi­schen­ge­schoß rund um den Wien-Raum, von dem aus man auf den Karl­splatz wird hin­aus­schau­en kön­nen. In all­ego­ri­schem Sin­ne ist das ei­ne ähn­li­che Raum­fu­ge, wie sie der Karl­splatz für Wien ist.

Stan­dard: Wie wird sich der Karl­splatz ab 2019/2020 mit dem Wien-Mu­se­um neu wei­ter­ent­wi­ckeln? Gibt es ei­ne Zu­kunfts­vi­si­on?

Wink­ler: Ich bin schon froh, wenn ich es schaf­fe, die näch­sten fünf Jah­re zu vi­sio­nie­ren! Nein, ich ha­be kei­ne Ah­nung, wie sich der Karl­splatz wei­ter­ent­wi­ckeln wird. Die­se Un­vor­her­seh­bar­keit ist mei­nes Er­ach­tens ei­ne gro­ße Qua­li­tät die­ses Or­tes – noch nie wuss­te man im Vor­hin­ein, was ei­nem der Karl­splatz als Näch­stes auf­tischt. Aber ich bin froh, dass wir mit un­se­rem Pro­jekt ei­nen klei­nen Bei­trag zum Dia­log mit un­ge­wis­sem Aus­gang lie­fern dür­fen.

Der Standard, Sa., 2015.12.05

28. November 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Form folgt Fahr­en­heit

Der Pa­ri­ser Ar­chi­tekt Phi­lip­pe Rahm baut flie­gen­de Ba­de­wan­nen und Gär­ten als Hight­ech-La­bor. Da­bei kon­zen­triert er sich auf un­sicht­ba­re ther­mi­sche, kli­ma­ti­sche Phä­no­me­ne. Sein wich­tigs­ter Bau­stoff: Luft.

Der Pa­ri­ser Ar­chi­tekt Phi­lip­pe Rahm baut flie­gen­de Ba­de­wan­nen und Gär­ten als Hight­ech-La­bor. Da­bei kon­zen­triert er sich auf un­sicht­ba­re ther­mi­sche, kli­ma­ti­sche Phä­no­me­ne. Sein wich­tigs­ter Bau­stoff: Luft.

Kal­te Luft fällt zu Bo­den, war­me Luft steigt auf, das weiß je­des Kind“, sagt Phi­lip­pe Rahm. „Und den­noch bau­en wir heut­zu­ta­ge so, als wüss­ten wir über das phy­si­ka­li­sche Ein­mal­eins, das uns im täg­li­chen Le­ben um­gibt, nicht das Ge­ring­ste.“ Das kli­mal­ose Bau­en, wie er es aus­drückt, ist dem Pa­ri­ser Ar­chi­tek­ten zu we­nig. Die Form sei­ner Bau­ten und Land­schafts­pro­jek­te folgt näm­lich nicht nur der viel­zi­tier­ten Funk­ti­on, son­dern in er­ster Li­nie kli­ma­ti­schen Ge­ge­ben­hei­ten wie Tem­pe­ra­tur, Luft­feuch­tig­keit, Luft­druck, Wind und Kon­vek­ti­on. Da kann es schon ein­mal pas­sie­ren, dass die Ba­de­wan­ne knapp un­term Pla­fond pickt.

So ge­sche­hen in Ly­on, Quai Per­ra­che, nur ein paar Schrit­te vom Bahn­hof ent­fernt. Für ein jun­ges Ärz­te­paar bau­te Rahm 2011 ein vier Me­ter ho­hes Fa­brik­loft aus, be­stück­te es mit „Räu­men“ (wo­bei die­ser Be­griff in sei­nen Pro­jek­ten ei­ner neu­en De­fi­ni­ti­on un­ter­zo­gen wer­den muss), ar­ran­gier­te da­rin un­ter­schied­li­che Funk­tio­nen wie et­wa Woh­nen, Ko­chen, Es­sen, Le­sen, Schla­fen, Du­schen und Ba­den und ver­band die­se Räu­me schließ­lich mit den nö­ti­gen We­gen in Form von Stie­gen, Lei­tern und schwe­ben­den Platt­for­men.

Fürs Schla­fen, so Rahm, emp­feh­le sich küh­le, tro­cke­ne Luft – al­so run­ter, weit weg vom Ba­de­zim­mer. In der Bi­blio­thek sol­le es an­ge­nehm warm und auf­grund der ge­hor­te­ten Bü­cher eben­falls sehr tro­cken sein – al­so rauf, noch wei­ter weg von den Sa­ni­tär­räu­men. Wenn man in der Ba­de­wan­ne sitzt, brau­che man, da­mit der Kopf nicht ab­kühlt, mög­lichst war­me Luft rund­he­rum – al­so rauf bis an die De­cke da­mit. Und in der Du­sche sol­le es nicht nur warm, son­dern auch feucht sein, mö­ge sich die Luft­feuch­tig­keit um den nack­ten, nas­sen Kör­per schmie­gen – al­so be­sten­falls di­rekt über dem Herd, wo beim Ko­chen so­dann mul­ti­funk­tio­na­le Koch­dämp­fe zum Du­schen­den em­por­stei­gen.

„Wir be­rück­sich­ti­gen beim Pla­nen so vie­le un­ter­schied­li­che Pa­ra­me­ter, von Sta­tik und Ma­te­ri­al­qua­li­tät über Sa­ni­tär- und Elek­tro­tech­nik bis hin zu Brands­chutz, Erd­be­ben­schutz und un­zäh­li­gen bau­recht­li­chen An­for­de­run­gen“, sagt der 48-jäh­ri­ge Ar­chi­tekt, der an der Gra­dua­te School of De­sign in Har­vard un­ter­rich­tet. „Aber bei der Ther­mik setzt un­ser Plan­sinn ein­fach aus. Dann ord­nen wir die Funk­tio­nen so, dass sich das ge­sam­te Le­ben im Be­reich von 40 Zen­ti­me­tern bis 1,80 Me­ter über dem Fuß­bo­den ab­spielt. Den kli­ma­tisch wert­vol­len Raum da­run­ter und da­rü­ber las­sen wir un­be­rück­sich­tigt.“

Je­des ein­zel­ne sei­ner Pro­jek­te wird kom­pli­zier­ten Rech­nun­gen und Si­mu­la­tio­nen un­ter­zo­gen. Am En­de, so der Plan, pro­fi­tiert man mit heiz­tech­nisch ef­fi­zien­ten Wohn- und Ar­beits­räu­men, die – an­statt da­ge­gen – mit dem Kli­ma ar­bei­ten und die ge­sam­te Pa­let­te der Wohl­fühl­zu­stän­de ab­de­cken – wenn man denn auch be­reit ist, wie der Lyo­ner Arzt auf Tü­ren und Wän­de zu ver­zich­ten und, statt auf Par­kett­bo­den zu wan­deln, über Git­ter­ro­ste und Lei­ter­spros­sen zu ba­lan­cie­ren.

Ge­baut hat Rahm, der sich selbst als Hy­brid aus Ar­chi­tekt, In­ge­ni­eur und Wis­sen­schaf­ter be­zeich­net, bis­lang nur we­nig. Sein Fo­kus rich­te­te sich stets auf das Künst­le­ri­sche, auf das Theo­re­ti­sche, auf das Me­te­or­olo­gi­sche. Bis er 2011 den in­ter­na­tio­na­len Wett­be­werb für die Er­rich­tung des Ja­de Eco Park in Tai­chung ge­won­nen hat. Mit dem sie­ben Hek­tar gro­ßen Park will sich die Drei-Mil­lio­nen-Ein­woh­ner-Me­trop­ole an der West­küs­te Tai­wans ein tech­ni­sches Denk­mal set­zen.

„Die Luft in Tai­chung ist ex­trem feucht und sti­ckig“, sagt Rahm. „Ge­ra­de im Som­mer ha­ben ei­ni­ge Parks und grö­ße­re Frei­flä­chen feind­li­che Be­din­gun­gen, die den Auf­ent­halt an der fri­schen Luft un­an­ge­nehm und schwie­rig ma­chen.“ Das liegt nicht nur am Smog und am sub­tro­pi­schen Kli­ma, son­dern auch am lo­ka­len Heiz­kraft­werk, das mit 37 Mil­lio­nen Ton­nen pro Jahr den welt­weit größ­ten Koh­len­di­oxid­aus­stoß sei­ner Art hat.

Im Ja­de Eco Park, des­sen Bau An­fang 2014 be­gon­nen hat und der näch­stes Jahr in Be­trieb ge­nom­men wird, soll die Luft mit­tels tech­ni­scher und na­tür­li­cher Maß­nah­men et­was wirt­li­cher ge­macht wer­den. Orien­tie­rungs­punkt für die er­rech­ne­te, er­sehn­te Luft­qua­li­tät ist die kli­ma­tisch ge­mä­ßig­te und dünn be­sie­del­te Ost­küs­te Tai­wans. Da macht es nichts, wenn die punk­tu­el­le Sym­ptom­be­hand­lung der Be­he­bung der ei­gent­li­chen Ur­sa­chen vor­ge­zo­gen wird. Da macht es auch nichts, dass Rahm im Auf­trag der Stadt kur­zer­hand zum De­us ex Ma­chi­na mu­tiert.

Das Ba­tail­lon an Ma­schi­nen um­fasst Was­ser­zers­täu­ber, die für Ver­duns­tungs­käl­te sor­gen, künst­li­che an­ge­leg­te Ver­duns­tungs­be­cken ent­lang der We­ge so­wie ei­ne Viel­zahl von Feuch­tig­keits­ab­sor­bern, die die sol­che­rart an­ge­rei­cher­te Luft so­dann wie­der tro­cken ma­chen. Hin­zu kom­men ei­gens aus­ge­such­te Grä­ser, Sträu­cher und Bäu­me, die ims­tan­de sind, Feuch­tig­keit und Schmutz­par­ti­kel aus der Luft zu fil­tern.

Park mit Kli­maan­la­ge

Doch das ist noch lan­ge nicht al­les. Über künst­li­che Ne­bel­an­la­gen, über Was­ser­dü­sen, die quer über den Park ver­streut sind, so­wie über ab und zu un­ter­ir­disch in­stal­lier­te Küh­lan­la­gen – ei­ne Art um­ge­kehr­te Fuß­bo­den­hei­zung für Mut­ter Na­tur – wird nicht nur die un­mit­tel­ba­re Park­luft ge­kühlt, son­dern auch für ther­mi­schen Luft­aus­tausch zwi­schen den ein­zel­nen Hoch- und Tief­druck­in­seln ge­sorgt. Das Re­sul­tat ist ei­ne Art Wind im Wes­ten­ta­schen­for­mat.

Über fünf Me­ter ho­he Ge­gen­schall­lauts­pre­cher, die sich als mo­der­ne Skulp­tu­ren tar­nen, wird an ei­ni­gen Stel­len im Park der städ­ti­sche Um­ge­bungs­lärm neu­tra­li­siert. Hier soll man zur Ru­he kom­men. Doch die „Well-being-Oa­se“, wie der Park in Prä­sen­ta­ti­ons­fil­men Tai­chungs be­zeich­net wird, ist längst nicht für al­le da. Ul­tra­schall­lauts­pre­cher im Be­reich der Was­ser­flä­chen sol­len läs­ti­ge Mos­ki­tos und an­de­res Mü­cken­ge­tier fern­hal­ten.

Ist das un­se­re Zu­kunft? „Die­ses Pro­jekt ist ein Ex­pe­ri­ment“, sagt Phi­lip­pe Rahm. „Wir wol­len da­mit un­ter­su­chen, in­wie­fern man heu­te schon mit dem Bau­stoff Kli­ma bau­en kann. Viel­leicht ge­lingt uns da­mit ei­ne Art Syn­er­gie aus künst­li­chem und na­tür­li­chem Mi­kro­kli­ma. Wir wer­den se­hen, ob das Kon­zept auf­geht.“

Flie­gen­de Ba­de­wan­ne? Hight­ech-La­bor na­mens Gar­ten? Die Ar­chi­tek­tur hat die Macht des Kli­mas für sich ent­deckt. Ob dies ein Aus­blick auf die Zu­kunft un­se­rer Le­bens­raum­ge­stal­tung ist oder bloß ein kur­zes Aus­rei­zen der Mög­lich­kei­ten und Gren­zen, wird sich erst wei­sen.

Phi­lip­pe Rahm hielt kürz­lich ei­nen Vor­trag auf der Ex­po 2015 in Mai­land. Die Teil­nah­me an die­sem zwei­tä­gi­gen Cli­ma­tec­tu­re-Sym­po­si­um im Ös­ter­reich-Pa­vil­lon er­folg­te auf Ein­la­dung des In­sti­tuts für Ar­chi­tek­tur und Land­schaft, TU Graz.

Der Standard, Sa., 2015.11.28

21. November 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Er­wei­te­rung und Auf­sto­ckung für „Wien-Mu­se­um neu“

Kon­zept von Wink­ler+Ruck und Čer­tov setzt sich durch

Kon­zept von Wink­ler+Ruck und Čer­tov setzt sich durch

Um sich die sechs Pro­jek­te der Schluss­run­de räum­lich bes­ser vor­stel­len zu kön­nen, er­zähl­te der Ju­ry­vor­sit­zen­de Ema­nu­el Christ, sei man am Don­ners­tag zur fi­na­len Dis­kuss­ions­run­de an die fri­sche Luft ge­tre­ten. „In die­sem Mo­ment“, so Christ, „war ei­gent­lich klar, wie wir uns zu ent­schei­den ha­ben.“ Frei­tag wur­de die Ent­schei­dung der 15-köp­fi­gen Ju­ry im Wien-Mu­se­um prä­sen­tiert.

Das „Wien-Mu­se­um neu“ am Karl­splatz wird kein schril­ler Zu­bau, kei­ne hy­per­mo­der­ne Land­mark à la Gug­gen­heim, son­dern ei­ne be­hut­sa­me Er­wei­te­rung und Auf­sto­ckung des be­ste­hen­den, denk­mal­ge­schütz­ten Os­wald­Ha­erdtl-Baus aus dem Jahr 1959, des er­sten Mu­se­ums­baus der Zwei­ten Re­pu­blik. Ins­ge­samt soll die Flä­che von der­zeit 8000 um mehr als 6000 Qua­drat­me­ter er­wei­tert und so­mit fast ver­dop­pelt wer­den.

Auf­fäl­ligs­tes Ele­ment ist die dunk­le Be­ton-Box, die der recht zu­rück­hal­ten­den Iko­ne der Mo­der­ne wie ein schwe­ben­des Et­was auf­ge­setzt wird. Die­se wird in Zu­kunft die gro­ßen Wech­sel­aus­stel­lun­gen be­in­hal­ten. Im rund­um ver­glas­ten Zwi­schen­ge­schoß zwi­schen Alt­bau und Neu­bau wird der so­ge­nann­te „Wien-Raum“ mit Ca­fé, rund­um­lau­fen­der Ter­ras­se und ver­miet­ba­ren Ver­an­stal­tungs­flä­chen un­ter­ge­bracht sein.

Vor dem Ein­gang ist ein Por­tal­bau ge­plant, den der neue Wien-Mu­se­um-Chef Mat­ti Bunzl schon jetzt als ei­ne „Ge­ste der Hand­rei­chung“ be­zeich­net. Da­run­ter ent­steht – da­zu wird der Platz vor dem Mu­se­um groß­flä­chig auf­ge­gra­ben – ein un­ter­ir­di­sches De­pot, das das bis­he­ri­ge La­ger in Him­berg ent­las­ten und die Lo­gis­tik im Haus ver­ein­fa­chen soll.

Re­spekt­vol­ler Ein­griff

Der Ent­wurf für die­ses Re­zept, das in den näch­sten Mo­na­ten aus­ge­ar­bei­tet und Ba­sis für ein Ver­hand­lungs­ver­fah­ren wer­den soll, stammt vom Kla­gen­fur­ter Bü­ro Wink­ler+Ruck und vom Gra­zer Ar­chi­tek­ten Fer­di­nand Čer­tov. Wink­ler+Ruck, die sich im Wett­be­werb ge­gen ins­ge­samt 273 in­ter­na­tio­na­le Mit­strei­ter durch­set­zen konn­ten, ha­ben im Be­reich Sa­nie­rung und im Um­gang mit denk­mal­ge­schütz­ter Bau­sub­stanz be­reits lang­jäh­ri­ge Er­fah­rung.

„Die his­to­ri­sche Sub­stanz ist fan­tas­tisch, da­her bleibt un­ser Ein­griff re­spekt­voll und zu­rück­hal­tend“, so Ar­chi­tekt Ro­land Wink­ler. Die Be­ton­fas­sa­de wird struk­tu­rell zu ei­nem Licht- und Schat­ten­re­lief ge­stal­tet, der Frei­raum vor dem Mu­se­um wird zu­guns­ten ei­ner bes­se­ren Sicht­bar­keit und Er­reich­bar­keit ent­rüm­pelt. Das Bud­get für den Um- und Zu­bau liegt nach Aus­sa­ge von Kul­tur­stadt­rat An­dre­as Mai­lath-Po­kor­ny bei 70 bis 100 Mil­lio­nen Eu­ro. Der Spa­ten­stich ist für 2017 ge­plant. 2019/2020 soll das „Wien-Mu­se­um neu“ in Be­trieb ge­hen.

Der Standard, Sa., 2015.11.21

02. November 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Wolf D. Prix entwarf Alban-Berg-Denkmal

Alban Bergs Vermächtnis, darunter etwa die Opern Wozzeck und Lulu sowie die Einführung der Zwölftonmusik, ist weltberühmt. Und doch ist der Wiener Komponist...

Alban Bergs Vermächtnis, darunter etwa die Opern Wozzeck und Lulu sowie die Einführung der Zwölftonmusik, ist weltberühmt. Und doch ist der Wiener Komponist...

Alban Bergs Vermächtnis, darunter etwa die Opern Wozzeck und Lulu sowie die Einführung der Zwölftonmusik, ist weltberühmt. Und doch ist der Wiener Komponist (1885-1935) in seiner Heimatstadt bislang unterrepräsentiert. Das soll sich nun ändern. Gestern, Montag, präsentierte die Alban-Berg-Stiftung im Kulturministerium in Anwesenheit von Kulturminister Josef Ostermayer (SP) die Pläne für das Alban-Berg-Denkmal, das im kommenden Frühjahr auf dem Herbert-von-Karajan-Platz vor der Wiener Staatsoper aufgestellt werden soll. „Eigentlich hasse ich die Metapher von Architektur und gefrorener Musik, weil sie ein Blödsinn ist“, sagt Wolf Prix, der für den Entwurf – eine abstrakte Variation über vier Notenbilder – verantwortlich zeichnet. „Aber in diesem Fall stimmt es wirklich.“ Der Chef des Architekturbüros Coop Himmelb(l)au hat nicht nur eine persönliche Vorliebe für die Musik Bergs und seiner Zeitgenossen Arnold Schönberg und Anton Webern, sondern auch eine familiäre Beziehung: „Mein Großonkel Klaus Maetzl war Mitglied im ersten Alban-Berg-Streichquartett.“ Die Kosten der sechs Meter hohen Skulptur, die laut Präsident Maximilian Eiselsberg „höchstwahrscheinlich in Nirosta errichtet werden soll“, trägt die Stiftung selbst. Rund fünf Prozent der eingenommenen Tantiemen bis 2005 (70 Jahre nach dem Tod des Komponisten) und somit des derzeitigen Stiftungsvermögens werden in die Planung und Errichtung des Denkmals investiert.

Der Standard, Mo., 2015.11.02

02. November 2015Wojciech Czaja
db

Das Museum der unsichtbaren Absichten

Das bereits unter Denkmalschutz stehende Privatmuseum in Kärnten wurde um Präsentationsräumlichkeiten sowie zusätzliche Depotflächen erweitert. Allesamt liegen eingegraben unter der Erdoberfläche, weil sich dadurch Bau- und Unterhaltskosten minimieren ließen. Zudem bleibt das liebliche Landschaftsbild unangetastet. Durch Rohbaucharme und die Inszenierung natürlicher Lichtquellen entsteht ein höhlenartiger, archaischer, bisweilen sakraler Charakter, dessen Sinnhaftigkeit sich jedoch nicht überall erschließt.

Das bereits unter Denkmalschutz stehende Privatmuseum in Kärnten wurde um Präsentationsräumlichkeiten sowie zusätzliche Depotflächen erweitert. Allesamt liegen eingegraben unter der Erdoberfläche, weil sich dadurch Bau- und Unterhaltskosten minimieren ließen. Zudem bleibt das liebliche Landschaftsbild unangetastet. Durch Rohbaucharme und die Inszenierung natürlicher Lichtquellen entsteht ein höhlenartiger, archaischer, bisweilen sakraler Charakter, dessen Sinnhaftigkeit sich jedoch nicht überall erschließt.

Es ist, als würde man im römischen Pantheon stehen. Massiver Boden, massive Wände, massive Kuppelkonstruktion. In der Mitte der Decke ein rundes Loch, durch das ein kontrolliertes Bisschen Sonnenschein in den Raum fällt. Unweigerlich, als hätte man bereits eine Vorahnung, muss man in die Hände klatschen. Und dann zählen. Noch einmal. Diesmal laut schreien. Und zählen. Fünf Sekunden beträgt die Nachhallzeit. Sakrale, ja fast einschüchternd göttliche Dimensionen tun sich hier auf.

Umso erstaunlicher, dass der kreisrunde, archaisch betonierte Raum zunächst als privater Lagerraum für Plastiken und auch Landmaschinen genutzt wurde. Heute ist der einstige Abstellraum, dessen Geometrie und Bauweise 2010 im Rahmen einer »kleinen Erweiterung« traditionellen Gärungsbehältern nachempfunden wurde und der sich an der Oberfläche wie ein überdimensionaler Maulwurfshügel durch den Grasteppich wölbt, erstmals öffentlich zugänglich. Allerdings wagt man sich als Besucher kaum, das Skulpturendepot zu durchschreiten. Zu mächtig, zu erhaben stehen die bronzenen Figuren umher und beanspruchen die gesamte Halle als Aura für sich. Mit angehaltenem Atem versucht man, bloß nichts zu berühren.

Das 2008 eröffnete Museum Liaunig in der zweisprachigen Gemeinde Neuhaus/Suha in Kärnten, nur wenige Kilometer von der slowenischen Grenze entfernt, zählt zu den aufregendsten privaten Ausstellungsräumen Österreichs. Selten findet man ein Museum mit so viel nacktem, unbeschönigtem Beton, selten eine so kompromisslos zusammengestellte, auf österreichische Gegenwartskunst konzentrierte Privatsammlung wie die des Großindustriellen und Kunsthedonisten Herbert Liaunig. Das Projekt, Resultat eines geladenen Wettbewerbs, aus dem das Wiener Architekturbüro querkraft als Sieger hervorgegangen war, ging damals durch sämtliche Blogs und Gazetten. Und sogar für den Mies van der Rohe Award 2009 wurde es seinerzeit nominiert.

Nicht nur die Raumqualität, auch die ungewöhnliche Entscheidung, die Architektur in die Erde einzugraben und nur an ein paar Ecken ans Tageslicht treten zu lassen, machten den Bau zur Ikone. Das einprägsame Bild der stahlbekleideten Betonröhre, die aus dem Hang über die Bundesstraße B81 zischt, schaffte es als reduzierte Strichzeichnung sogar auf eine Briefmarke – in prominenter Gesellschaft mit dem Kunsthaus Bregenz (Peter Zumthor), dem Kunsthaus Graz (Peter Cook und Colin Fournier), dem Lentos Kunstmuseum in Linz (Weber & Hofer Architekten) und dem Schindler House in Los Angeles (Rudolph Schindler).

Im Dezember 2012 wurde das Museum, nur vier Jahre nach Fertigstellung, als jüngstes österreichisches Objekt aller Zeiten unter Denkmalschutz gestellt. Liaunig höchstpersönlich hatte sich um die Unterschutzstellung bemüht. »Schon beim Steinhaus von meinem mittlerweile verstorbenen Freund Günther Domenig war ich in Sorge, dass es verfallen und in Vergessenheit geraten könnte. Der Denkmalschutz ist ein gewisser Schutz, damit das nicht passiert, damit die Substanz erhalten bleibt. Eines Tages auch hier in Neuhaus.«

Im vorletzten Sommer wurden die Räumlichkeiten, auf die nun die Augen des Bundesdenkmalamts gerichtet sich, von 5 000 auf rund 7 500 m² vergrößert. Kein leichtes Unterfangen, bedenkt man die strengen behördlichen Auflagen, mit denen sich Hausherr Liaunig und querkraft Architekten auseinanderzusetzen hatten. Es sei schon ein eigenartiges Gefühl, das eigene Projekt zu erweitern und dabei zu berücksichtigen, dass man am Altbestand eigentlich kaum mehr etwas verändern darf, meint Jakob Dunkl, einer der drei Partner bei querkraft. »Worauf wir besonders viel Wert legen wollten, aber auch mussten, war die Beibehaltung des rohen, sakralen, unterirdischen Ambientes.«

Zu den neu errichteten beziehungsweise adaptierten Räumlichkeiten zählen neben dem umgewidmeten, nun erstmals öffentlich zugänglichen Traktorenpantheon ein Ausstellungsraum für die Glassammlung Liaunigs (1500 bis 1850) und für Porträtminiaturen aus aller Welt (1590 bis 1890) sowie ein großer, dreieckiger Raum für Wechselausstellungen, in dem zurzeit Arbeiten des irischen Künstlers Sean Scully zu sehen sind. Mit seinen pastosen, schwarz-weiß-grauen und gedeckt bunten Streifen und Balken, die er auf die Leinwand bannt, bringt er Farbe in den sonst nur weiß-grauen Raum. »Weltaneignung« nennt Scully diese Verschmelzung von Licht und Melancholie.

5 m über dem hell beschichteten Boden durchdringen sich gegenseitig riesige, bis zu 35 m lange Stahlbetonträger und umfassen mal dreieckige, mal trapezförmige Waben. Die Bauweise ist ein Zugeständnis an geänderte OIB-Richtlinien (Österreichisches Institut für Bautechnik), nach denen ein Raum, dessen Fußboden-Niveau sich unterhalb der Erdoberfläche befindet, keine primärkonstruktiven Stahlbauteile mehr aufweisen darf. Brandbeständigkeit F90 ist Vorschrift.

Ein bisschen erinnert diese rohe, unverblümte Megastruktur mit ihren bedrohlichen Hohlräumen, in denen chaotisch eingehängte Leuchtstoffröhren (vergeblich) etwas Leichtigkeit und Schwerelosigkeit hineinzubringen suchen, an die Bauten von Peter Eisenman, Louis Kahn, Le Corbusier. »Wir wollten den Raum nackt und unverkleidet belassen«, sagt Jakob Dunkl. »Damit kommt der archaische Charakter dieses Gebäudes, das ja fast zur Gänze in der Erde drinsteckt, besser zur Geltung. Es gibt keinen Unterschied zwischen Rohbau und fertigem Haus. What you see is what you get. Alles ist alles zugleich.« Er hält inne, um dann, nach einer kurzen Kunstpause den bereits vielzitierten querkraft-Slogan zum Besten zu geben: »Kein Gramm Fett.«

Doch warum wird die Kunst in die Erde eingebuddelt? Warum darf sich das so wertvolle Werk des Menschen nicht an der Oberfläche abzeichnen? Der ureigentliche Grund, der 2008 zu dieser Entscheidung geführt hatte, war ein zutiefst pragmatischer. 1 500 Euro/m², hatte Auftraggeber Liaunig damals in der Wettbewerbsausschreibung gefordert, durfte das Gebäude kosten – und keinen Cent mehr. Sogar Architekt Dietmar Eberle, der seinerzeit den Juryvorsitz innehatte, meinte, um diesen Preis könne man nie und nimmer ein Museum bauen. Querkraft hat bewiesen, dass man doch kann.

»Die billigste Außenwand, die man nach heutigem Stand der Technik produzieren kann, ist eine Kellerwand«, sagt Jakob Dunkl. »Genau so ist das gesamte Museum konzipiert. An den paar Stellen, an denen das Bauwerk den Hang durchbricht, haben wir uns ganz normaler Industriebauweise bedient, wie man sie in jedem Gewerbegebiet vorfindet.« Die Kombination machts. Obwohl an der Außenseite Wellblech, Trapezblech, handelsübliche Lichtkuppeln und 08/15-Stahlbauteile zum Vorschein kommen, wirken diese im Dialog mit der sanften, samtig weich dahinfließenden Landschaft um ein paar Nuancen verfeinert und veredelt.

Das Licht wird, wo benötigt, durch entsprechend in die Höhe oder in die Länge verlängerte Lichtrüssel eingefangen. Einzig in der Goldkammer und in den neuen Glas- und Miniatur-Ausstellungsräumen macht man sich die Eigenheiten der unterirdischen Bauweise zunutze und lässt das Tageslicht gar nicht erst ins Innere dringen. Hier erst entfaltet sich der Nimbus des Unterirdischen, des Unsichtbaren und verleiht dem Museum – indem es die volle Konzentration auf die funkelnden, in Summe millionenschweren Exponate richtet – einen Hauch von dramaturgisch durchaus ins Konzept passender Klaustrophobie und Katakombenhaftigkeit.

Kosten wurden durch die unterirdische Bauweise gleich doppelt gespart. Nicht nur durch die Senkung des Baubudgets, sondern auch die Betriebskosten ließen sich durch das umliegende Erdreich, das als wertvolle speicherfähige Masse mit entsprechender Trägheit fungiert, auf ein Minimum reduzieren. »Wir brauchen keine fossilen Brennstoffe«, sagt Reinhold Jamer, zuständiger Haustechniker im Museum. »Gekühlt und geheizt wird bei uns mittels Erdwärme und Wärmepumpe, wobei die Energie über eine Fußbodenheizung in die Räume geschleust wird. Der wirklich große Vorteil gegenüber öffentlichen Einrichtungen jedoch ist, dass wir die Ausstellungsräume nicht rund um die Uhr temperieren und lüften müssen, sondern die Anlage je nach Bedarf ein- und ausschalten können.«

Im Haustechnikraum hinter den Sean-Scully-Gemälden sind heute Stühle, Kartons und Holzkisten geschichtet – Reservematerial für Lesungen und andere Veranstaltungen sowie für die Rückspedition der großformatigen Werke. Eines Tages, so der Plan von querkraft, könne man die Haustechnik ohne Schwierigkeit aufrüsten, sollte das Museum noch einmal erweitert werden. »Das ist aber nicht mein Plan«, sagt Hausherr Herbert Liaunig. »Das Museum ist jetzt groß genug. Es wird keine weitere Ausbaustufe mehr geben.« Nur noch der in die Landschaft eingelassene Skulpturengarten, heute ein Krater in der Wiese, soll kommendes Frühjahr eröffnet werden. Die Baustelle läuft bereits. Das, versichert Liaunig, wird der letzte Akt gewesen sein.

Das Museum Liaunig lebt von einem Paradoxon: Einer der wohlhabendsten Industriellen und Kunstsammler Österreichs hat auf brutale, ja fast kaum zu realisierende Weise den Architekten die Daumenschraube angelegt und das Baubudget bis zum äußersten Minimum gesenkt. Die unterirdische Bauweise – so glücklich sie in der Ausgestaltung auch sein mag, so welt- und neubauoffen sie die Gutachter des österreichischen Bundesdenkmalamts anrücken ließ – ist damit Produkt von Rotstift und härtester, unternehmerischer Ökonomie. Museale Absichten, konzeptionelle Überlegungen und Maßnahmen zum Landschaftsschutz sind nicht mehr als willkommene Begleiterscheinungen, die querkraft hier so wunderbar als Kür ins Projekt zu implementieren wusste. Wie heißt es doch so schön? Zwänge und Einschränkungen beleben den Geist des Architekten. Es bleibt ein Hauch von Irritation.

db, Mo., 2015.11.02



verknüpfte Bauwerke
Museum Liaunig



verknüpfte Zeitschriften
db 2015|11 Unter der Erde

24. Oktober 2015Wojciech Czaja
Der Standard

So muss Wohn­zim­mer

Ge­stern, Frei­tag, wur­de der Bau­her­ren­preis 2015 ver­ge­ben. Un­ter den sechs Preis­trä­gern fin­det sich auch ei­ne al­le Maß­stä­be spren­gen­de Wohn­haus­an­la­ge im Wie­ner Sonn­wend­vier­tel. Da kann man glatt vor Neid er­blas­sen

Ge­stern, Frei­tag, wur­de der Bau­her­ren­preis 2015 ver­ge­ben. Un­ter den sechs Preis­trä­gern fin­det sich auch ei­ne al­le Maß­stä­be spren­gen­de Wohn­haus­an­la­ge im Wie­ner Sonn­wend­vier­tel. Da kann man glatt vor Neid er­blas­sen

Darf ich Ih­nen ein klei­nes Ge­heim­nis an­ver­trau­en? Aber schrei­ben Sie das dann auch so in die Zei­tung?“, fragt Ishrat Za­far. „Ach, ist doch egal.“ Sie bleibt in der Woh­nungs­tü­re ste­hen. Es riecht nach Cur­ry und in­di­schen Ge­wür­zen. „Ich bin jetzt 40 Jah­re alt, aber ich ha­be mein gan­zes Le­ben lang nie­mals schwim­men ge­lernt. Ich kom­me aus Dha­ka, der Haupt­stadt von Bang­la­desch, und da gibt es kaum Ba­de­mög­lich­kei­ten. Da muss ich erst nach Wien kom­men, um end­lich zu schwim­men an­zu­fan­gen!“

Die Ein­la­dung zur sport­li­chen Er­tüch­ti­gung im Schwe­be­zu­stand ist in der Tat mehr als ver­lo­ckend. Auf Stie­ge 1 gibt es ein Kel­ler­schwimm­bad mit Sau­na, Dampf­bad und Fit­ness­raum. Ein­tritt vier Eu­ro, na­tür­li­ches Ta­ges­licht von oben, zwei Au­to­ma­ten für Co­la und Kaf­fee, und so­gar ei­ne Süd­see­ku­lis­se mit Pal­mens­trand und azur­blau­em Was­ser ist da. Je­den Mon­tag ist Frau­en­tag. Vor al­lem von den mus­li­mi­schen Be­wohn­er­in­nen und An­rai­ne­rin­nen aus der Um­ge­bung wird das An­ge­bot re­ge ge­nutzt. An man­chen Ta­gen, sagt Fa­ti­ma, die zehn­jäh­ri­ge Toch­ter, die be­reits ins Gym­na­si­um geht, ste­hen die Frau­en Schlan­ge bis nach drau­ßen. „Manch­mal ge­he ich mit. Ich fin­de das Frau­en­schwim­men voll cool.“

Ge­stern, Frei­tag, wur­de das „Wohn­zim­mer Sonn­wend­vier­tel“, so der of­fi­ziel­le Na­me des Wohn­bau­pro­jekts im Hin­ter­land des neu­en Wie­ner Haupt­bahn­hofs, als ei­nes von ins­ge­samt sechs Ge­bäu­den (sie­he un­ten) mit dem Ös­ter­rei­chi­schen Bau­her­ren­preis 2015 aus­ge­zeich­net. Die Preis­ver­lei­hung fand im Werk­raum Bre­gen­zer­wald in An­dels­buch statt. Der Ort ist kein Zu­fall, schließ­lich ist Pe­ter Zum­thors Hand­werk­er­haus ei­ner der Preis­trä­ger des letz­ten Jah­res. „Üb­li­cher­wei­se ge­hen Ar­chi­tek­tur­prei­se an die Ar­chi­tek­tin­nen und Ar­chi­tek­ten“, sagt Mar­ta Schrei­eck, Prä­si­den­tin der Zen­tral­ver­ei­ni­gung der Ar­chi­tek­tIn­nen Ös­ter­reichs (ZV). „Mit die­sem Preis je­doch möch­ten wir all je­ne Men­schen vor den Vor­hang ho­len, die die­se Leis­tun­gen über­haupt erst er­mög­li­chen, ja so­gar ein­for­dern. Es ist ei­ne Wür­di­gung der of­fe­nen, qua­li­täts­be­wuss­ten Bau­her­ren und Auf­trag­ge­be­rin­nen. Oh­ne die­se wä­re die Ar­chi­tek­tur in Ös­ter­reich nicht da, wo sie heu­te ist.“

15 Me­ter lan­ge Ta­fel

Drei lan­ge Rie­gel, viel Be­ton, ver­zink­ter Stahl an der Fass­ade und je­de Men­ge durch­geo­me­tri­sier­te Ar­chi­tek­tur­kom­po­si­ti­on im Be­reich der Log­gien und Bal­ko­ne. Auf­ge­lo­ckert wird die stren­ge Er­schei­nung der Wohn­haus­an­la­ge von drei ro­ten, acht­ge­scho­ßi­gen Skulp­tu­ren im In­nen­hof. Mit­tels gum­mi­en­ten­gel­ber Brü­cken, die im drit­ten und vier­ten Stock durch die Luft pfei­fen, wer­den die ins­ge­samt 427 Woh­nun­gen zu ei­ner zu­sam­men­hän­gen­den Stadt in der Stadt ver­bun­den.

Zu so ei­ner Stadt ge­hö­ren aber nicht nur pri­va­te Wohn­räu­me, son­dern auch öf­fent­li­che und halb­öf­fent­li­che Ein­rich­tun­gen. Und da­von gibt es im Wohn­zim­mer Sonn­wend­vier­tel je­de Men­ge: Schwimm­bad, Well­ness-Cen­ter, Fit­ness­raum, Ju­gend- und Mu­sik­zim­mer, ei­ne Aus­stel­lungs­ga­le­rie, ein klei­nes Thea­ter mit Büh­ne und öf­fen­ba­rer Glas­fass­ade, ein Mäd­chen­zim­mer, ei­ne Klet­ter­hal­le, ei­nen drei­ge­scho­ßi­gen In­door-Spiel­platz mit Rut­schen­la­by­rinth (Selbst­ver­such, Tem­po, Hal­le­lu­ja), ei­ne Ge­mein­schafts­kü­che mit Spei­se­saal, ei­nen Grill­platz mit ei­ner 15 Me­ter lan­gen Ta­fel, ja so­gar ei­nen fix ein­ge­bau­ten Open-Air-Markt­stand, der sams­tags von 8 bis 15 Uhr mit Bio­pro­duk­ten aus den Bun­des­län­dern be­stückt wird, zäh­len zum Aus­stat­tungs­ka­ta­log die­ses viel­leicht un­ge­wöhn­lich­sten Wohn­hau­ses Wiens.

Das Highl­ight je­doch, das sa­gen vie­le, ist der Ki­no­saal, der wie ei­ne winds­chie­fe Box im Be­ton­wirr­warr des Stie­gen­hau­ses zu hän­gen scheint. Im On­li­ne-Ka­len­der ist un­schwer zu er­ken­nen, dass das Ho­me-Ci­ne­ma mit sei­nen zwölf Sitz­plät­zen die näch­sten drei Mo­na­te mehr oder we­ni­ger rest­los aus­re­ser­viert ist. Vor al­lem die UE­FA Cham­pi­ons Lea­gue hat es den Vä­tern und Ehe­män­nern an­ge­tan. Ins­ge­samt, heißt es, be­tra­gen die Ge­mein­schafts­flä­chen rund sie­ben Pro­zent der Ge­samt­wohn­flä­che. Kein Wun­der, dass das Pro­jekt in der ak­tu­el­len Aus­ga­be des Wirt­schafts­ma­ga­zins brand eins (Schwer­punkt Im­mo­bi­lien) als „Lu­xus­apart­ment-An­la­ge“ mit „Voll­kom­mu­ni­ka­ti­on“ be­zeich­net wird.

„Ich ha­be noch nie zu­vor so ei­ne Wohn­haus­an­la­ge be­treut“, sagt Ge­rhard Weiß­kir­cher. Der 48-Jäh­ri­ge ist Ge­schäfts­füh­rer von IFSM und Fa­ci­li­ty-Ma­na­ger vor Ort. Par­don, Con­cier­ge heißt es hier, wird man bei ei­ner Füh­rung durch die Räum­lich­kei­ten kor­ri­giert. „Je­den­falls war für mich von An­fang an klar, dass die­ses Pro­jekt ei­nen, wenn nicht gleich meh­re­re Prei­se ab­kas­sie­ren wird. Es ist ein­fach per­fekt.“

Auch Christ­oph Nimm­rich­ter, sei­nes Zei­chens Gar­ten­ge­stal­ter, der mit sei­ner Fa­mi­lie ei­ne 64 Qua­drat­me­ter gro­ße Woh­nung mit 60 Qua­drat­me­ter (!) gro­ßer Ter­ras­se be­wohnt, ist vom Wohn­zim­mer vor dem Wohn­zim­mer mehr als an­ge­tan. „Ich ha­be das Ge­fühl, dass man die Nach­barn in die­sem Pro­jekt ra­scher ken­nen­lernt als in an­de­ren Wohn­haus­an­la­gen. Es hat fast ei­ne Art Dorf­cha­rak­ter. Und das sa­ge aus­ge­rech­net ich, der im­mer in Alt­bau­ten ge­lebt hat und dem Neu­bau so skep­tisch ge­gen­über­stand!“ Die Ar­chi­tek­ten hin­ter dem vor ei­nem Jahr fer­tig­ge­stell­ten Wohn­zim­mer Sonn­wend­vier­tel sind die drei Bü­ros Klaus Ka­da, Stu­dio Vlay mit Le­na Stree­ru­witz und Riepl Kauf­mann Bam­mer Ar­chi­tek­tur. Der hier wohl­weis­lich aus­ge­zeich­ne­te Bau­trä­ger nennt sich win4wien, ein Zu­sam­men­schluss der vier Wohn­bau­trä­ger Neu­es Le­ben, Neue Hei­mat, EBG und Mi­schek.

„Ich freue mich über den Preis, und ich hof­fe, dass das Pro­jekt in Zu­kunft vie­le In­ves­to­ren und Bau­trä­ger in­spi­rie­ren wird“, sagt Mi­chae­la Mi­schek-Lai­ner von win4wien. „Es war ei­ne ziem­li­che Her­aus­for­de­rung, das al­les un­ter ei­nen Hut zu brin­gen, und wir muss­ten in­tel­li­gent und ef­fi­zient pla­nen, aber es ist sich aus­ge­gan­gen.“ Von den 55 Mil­lio­nen Eu­ro Ge­samt­bau­kos­ten wur­den von An­fang an 1,9 Mil­lio­nen Eu­ro fürs Schwimm­bad und wei­te­re 300.000 Eu­ro für die Aus­stat­tung der Ge­mein­schafts­flä­chen re­ser­viert. „Die­ses Bud­get war vom er­sten Tag an sa­kro­sankt“, so Mi­schek-Lai­ner. „In die­sem Be­reich durf­te kein ein­zi­ger Cent ein­ge­spart wer­den.“ So muss Woh­nen.

Der Standard, Sa., 2015.10.24



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2015

21. Oktober 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Lift me up!

Beim Leo­pold­to­wer in Wien-Don­aus­tadt ver­zich­te­te Bau­trä­ger ÖSW auf För­der­mit­tel und schlich­te­te den Woh­nungs­mix nach ei­ge­nem Er­mes­sen zu ei­nem 85 Me­ter ho­hen Turm. Bloß für die nö­ti­ge An­zahl an Lif­ten reich­te das Geld schein­bar nicht mehr aus.

Beim Leo­pold­to­wer in Wien-Don­aus­tadt ver­zich­te­te Bau­trä­ger ÖSW auf För­der­mit­tel und schlich­te­te den Woh­nungs­mix nach ei­ge­nem Er­mes­sen zu ei­nem 85 Me­ter ho­hen Turm. Bloß für die nö­ti­ge An­zahl an Lif­ten reich­te das Geld schein­bar nicht mehr aus.

„Der Aus­blick aus un­se­rer Woh­nung ist ein­fach ein Traum“, sagt No­di­ra Aza­no­va. „Wir schau­en nach Sü­den, di­rekt auf die In­nens­tadt, und so­gar den Ste­phans­dom kön­nen wir von un­se­rem Wohn­zim­mer aus se­hen.“

Die 27-Jäh­ri­ge stammt aus Us­be­kis­tan. Ge­mein­sam mit ih­rem Mann, der in der Uno ar­bei­tet, und ih­ren bei­den Klein­kin­dern wohnt sie in ei­ner Ei­gen­tums­woh­nung im zehn­ten Stock. Drei Zim­mer mit Bal­kon für 275.000 Eu­ro, das sei durch­aus okay. „An­de­re Wohn­pro­jek­te wa­ren deut­lich teu­rer“, so Aza­no­va.

Ei­nen Stock un­ter ihr wohnt die Psy­cho­lo­gie-Stu­den­tin Christ­ine Pu­fitsch. Die 23-Jäh­ri­ge hat­te es auf ei­ne Woh­nung mit gu­ter öf­fent­li­cher An­bin­dung zur Uni ab­ge­se­hen. „Die U1 fährt prak­tisch an der Woh­nungs­tür vor­bei, und auch sonst ist mit den Ge­schäf­ten im Ein­kaufs­zen­trum Ci­ty­ga­te al­les da, was man zum täg­li­chen Le­ben braucht.“ 55 Qua­drat­me­ter be­wohnt sie in Mie­te. Da­zu gibt es ei­nen rund zehn Qua­drat­me­ter gro­ßen Bal­kon. Die ein­ma­li­ge Miet­vor­aus­zah­lung in der Hö­he von 30.000 Eu­ro – ja, so heißt der Be­trag im Bau­trä­ger­fach­jar­gon – be­kommt sie bei Aus­zug wie­der zu­rück­er­stat­tet. „Das passt al­les ganz gut. Nur die Ge­gend … na ja, In­dus­trie und Ge­wer­be halt.“

Der Leo­pold­to­wer mit sei­nen 26 Stock­wer­ken und ins­ge­samt 302 Woh­nun­gen wur­de im Som­mer an die Be­wohn­er­in­nen und Be­woh­ner über­ge­ben. Der 85 Me­ter ho­he Turm in der Sey­rin­ger Stra­ße 5, der schon von wei­tem sicht­bar aus der Ebe­ne des be­gin­nen­den March­felds em­por­schießt, ist nicht nur die bau­li­che Ant­wort auf den stei­gen­den Wohn­be­darf in Wien, son­dern auch ei­ne Al­ter­na­ti­ve zu den im­mer schwie­ri­ger zu fi­nan­zie­ren­den Bau­grün­den, die den ge­mein­nüt­zi­gen Bau­trä­gern zur Ver­fü­gung ste­hen. Das kom­plet­te Haus wur­de frei­fi­nan­ziert – oh­ne ei­nen ein­zi­gen Cent För­der­geld.

„Als ge­mein­nüt­zi­ger Bau­trä­ger kommt man heu­te kaum noch an leist­ba­re Grund­stü­cke he­ran“, sagt Mi­cha­el Pech, Vor­stand des Ös­ter­rei­chi­schen Sied­lungs­werks (ÖSW), im Ge­spräch mit dem STAN­DARD . „In Zu­sam­men­spiel mit den ge­stie­ge­nen tech­ni­schen und bau­recht­li­chen An­for­de­run­gen gibt es manch­mal kei­ne an­de­re Mög­lich­keit, als so ein Pro­jekt au­ßer­halb des eng­ge­steck­ten Rah­mens der För­der­bar­keit zu er­rich­ten.“

Un­ter­schied­li­che Ty­po­lo­gien

Leist­bar im her­kömm­li­chen Sin­ne, meint Pech, sei­en die Woh­nun­gen den­noch – zu­min­dest ein gro­ßer Teil da­von. Denn schließ­lich wer­den im Leo­pold­to­wer vie­le un­ter­schied­li­che Wohn­ty­po­lo­gien mit­ein­an­der ver­mischt, wo­durch sich die Mög­lich­keit er­gibt, güns­ti­ge­re Miet­woh­nun­gen, die Mie­ten im durch­aus för­der­ba­ren Be­reich auf­wei­sen, mit hoch­wer­ti­ge­ren Ei­gen­tums­woh­nun­gen und mö­blier­ten Apart­ments auf Zeit quer­zu­fi­nan­zie­ren. Un­term Strich er­gibt sich ein wirt­schaft­li­ches Null­sum­men­spiel für den ei­nen, ein Mix an güns­ti­gen und hoch­wer­ti­gen Wohn­räu­men für den an­de­ren.

„Wir ge­hen schon lan­ge mit der Idee schwan­ger, ein frei­fi­nan­zier­tes Wohn­hoch­haus zu er­rich­ten“, so Pech. „Vor vier Jah­ren schon hat­te ich die­ses Pro­jekt erst­mals auf dem Schreib­tisch, aber da­mals hat­te ich mich noch nicht drü­ber­ge­traut. Mitt­ler­wei­le se­he ich drin­gen­den Hand­lungs­be­darf. Wien wächst ra­sant, die Ge­sell­schaft ver­än­dert sich, und mitt­ler­wei­le sind 45 Pro­zent al­ler Woh­nun­gen in Wien Sing­le­haus­hal­te.“

Ent­spre­chend viel­fäl­tig sieht das Spek­trum der an­ge­bo­te­nen Woh­nun­gen aus: In den un­ter­sten fünf Ge­scho­ßen gibt es 107 voll­mö­blier­te Kurz­zeit­apart­ments, die man für zwei Mo­na­te bis zwei Jah­re mie­ten kann. Be­treib­erin die­ser rund 40 Qua­drat­me­ter gro­ßen Woh­nun­gen, die sich an Ex­pats, Aus­lands­stu­die­ren­de und Men­schen in ver­zwick­ten fa­mi­liä­ren Ver­hält­nis­sen wie et­wa Tren­nung und Schei­dung rich­ten, ist die ÖSW-Toch­ter room4rent.

Fa­ti­ma Afs­har ist ei­ne von ih­nen. Die 40-jäh­ri­ge Stu­den­tin aus dem Iran wohnt mit ih­rem Sohn im fünf­ten Stock. „Es war al­les da, nur das Ge­schirr und den Tep­pich ha­be ich selbst kau­fen müs­sen“, sagt Afs­har, die in Wien Ame­ri­can Stu­dies und Eng­lish Li­te­ra­tu­re stu­diert. „Ich mie­te die Woh­nung für zwei bis drei Mo­na­te. Auf die­se Wei­se ha­be ich ge­nü­gend Zeit, um mich nach ei­ner pas­sen­den Woh­nung um­zu­schau­en, oh­ne Druck und oh­ne Stress.“

In den Stock­wer­ken sechs bis neun gibt es 36 kom­pak­te Smart-Woh­nun­gen auf Miet­ba­sis (ÖSW), vom zehn­ten bis zum 17. Stock­werk 72 frei­fi­nan­zier­te Ei­gen­tums­woh­nun­gen (Bau­trä­ger Woh­nungs­ei­gen­tum), da­rü­ber schließ­lich ex­klu­si­ve Ei­gen­tums­woh­nun­gen und Pent­hou­ses, die die bei­den Bau­trä­ger 360°, eben­falls ei­ne ÖSW-Toch­ter, und 6B47 Re­al Es­ta­te In­ves­tors ver­mark­ten. Die Qua­drat­me­ter­prei­se hier oben in den Wol­ken lie­gen be­reits bei 4300 bis 5500 Eu­ro. Ein Pent­hou­se ist be­reits weg, drei sei­en noch zu ha­ben, so Pech.

„Ma­xi­mal fle­xi­bel“

Nicht von un­ge­fähr er­in­nert die Ar­chi­tek­tur­spra­che ein we­nig an den be­nach­bar­ten 100 Me­ter ho­hen Ci­ty­ga­te-To­wer, den die Stumpf AG er­rich­te­te. Bei­de Hoch­häu­ser wur­den vom Wie­ner Ar­chi­tek­tur­bü­ro quer­kraft ge­plant. „Das Re­zept ist ganz ein­fach“, meint Ar­chi­tekt Gerd Er­hartt. „Es gibt tra­gen­de Au­ßen­wän­de, ei­nen tra­gen­den Stie­gen­haus­kern, al­les an­de­re da­zwi­schen ist in Leicht­bau er­rich­tet – auch die Woh­nungs­trenn­wän­de.“ Auf die­se Wei­se sei das Hoch­haus ma­xi­mal fle­xi­bel. „Vom Loft bis zur Kleinst­woh­nung ist al­les mög­lich“, so Er­hartt. Das zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen ge­wöh­nungs­be­dürf­ti­ge Farb­kon­zept in den Gän­gen stammt von Hei­mo Zo­ber­nig. In düs­ter dun­kel­grün und vor­letzt­klas­sig vio­lett aus­ge­pin­sel­ten Kor­ri­do­ren heim­zu­kom­men ist nicht je­der­manns Sa­che.

Ein­zi­ger Knack­punkt des Leo­pold­to­wers ist aus­ge­rech­net je­nes Ding, mit dem das Funk­tio­nie­ren ei­nes Hoch­hau­ses steht und fällt. „Wis­sen Sie, es lebt sich hier wirk­lich gut“, sa­gen Ka­rin und Ibra­him Yil­diz, die im 14. Stock woh­nen. „Aber dass es für die Woh­nun­gen im Hoch­haus nur zwei Lif­te gibt, ist ei­ne Ka­ta­stro­phe. Manch­mal ste­hen wir in der Früh fünf, sechs, sie­ben Mi­nu­ten lang da und war­ten, bis der Auf­zug da ist. Da über­legt man sich drei­mal, ob man in die Woh­nung zu­rück­fährt, wenn man et­was ver­ges­sen hat.“ Sieht so Le­bens­qua­li­tät aus?

Nach Aus­kunft Pechs be­trägt das In­ves­ti­ti­ons­vo­lu­men „et­was über 50 Mil­lio­nen Eu­ro“. Ein paar Pro­mil­le drauf, und der Leo­pold­to­wer wä­re ein hoch­wer­ti­ges, in sich schlüs­si­ges Hoch­haus mit ei­ner ent­spre­chend hoch­wer­ti­gen Er­schlie­ßung ge­wor­den. Die Kür des 85 Me­ter ho­hen Turms, des­sen In­nen­le­ben auf meh­re­re Bau­trä­ger und meh­re­re Wohn­mo­del­le auf­ge­teilt wur­de, ist ge­lun­gen und ein gu­tes Bei­spiel für al­ter­na­ti­ve Fi­nan­zie­rung im teu­er ge­wor­de­nen Wien. Wa­rum aus­ge­rech­net an der Pflicht ge­spart wur­de, bleibt ein Rät­sel. Den rund 600 Be­wohn­ern des Hau­ses ist man ei­ne Er­klä­rung (oder noch bes­ser ein paar Auf­zü­ge) schul­dig.

Der Standard, Mi., 2015.10.21



verknüpfte Bauwerke
CGLA Wohnhochhaus

03. Oktober 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Woh­nen als die Sum­me der Teil­chen

Auf dem Hun­zi­ker-Are­al in Zü­rich wur­de das Zu­sam­men­le­ben in der WG völ­lig neu er­fun­den. Statt in klei­nen, ab­ge­schot­te­ten Zim­mern ko­exis­tiert man nun in ei­ner rie­si­gen Clus­ter-Woh­nung mit ein paar klei­nen Ein­lie­ger­woh­nun­gen. Das hat was.

Auf dem Hun­zi­ker-Are­al in Zü­rich wur­de das Zu­sam­men­le­ben in der WG völ­lig neu er­fun­den. Statt in klei­nen, ab­ge­schot­te­ten Zim­mern ko­exis­tiert man nun in ei­ner rie­si­gen Clus­ter-Woh­nung mit ein paar klei­nen Ein­lie­ger­woh­nun­gen. Das hat was.

Komm rein in die Stu­be!“, sagt Mar­co Gäh­ler, 27 Jah­re alt, ge­fühl­te 2,10 Me­ter groß bis zu sei­nem Schei­tel, rollt laut­los ins Wohn­zim­mer und plat­ziert sich mit ei­ner hal­ben Pi­rou­et­te rück­lings auf die Couch. „Die Woh­nung ist so groß, dass ich manch­mal Lust ha­be, ein paar Run­den zu dre­hen und neue Fi­gu­ren aus­zu­pro­bie­ren, ein­fach so.“ An sei­nen Fü­ßen hat er ein Paar Ska­ter­schu­he fest­ge­schnallt, sol­che, die man nor­mal­er­wei­se in ei­ner Half­pi­pe vor­fin­det, ge­wiss nicht zwi­schen Vor­zim­mer und Kü­che. „Ich weiß, das sind un­ge­wöhn­li­che Haus­schu­he. Man ge­wöhnt sich dran.“

Mar­co ist Phy­si­ker, Che­mi­ker und IT-Pro­gram­mie­rer und wohnt im so­ge­nann­ten Clus­ter-Haus auf dem neu be­bau­ten Hun­zi­ker-Are­al im Nor­den Zü­richs. Frü­her wur­den hier Be­ton­fer­tig­tei­le für die gan­ze Schweiz her­ge­stellt, heu­te ste­hen hier 13 Wohn­häu­ser mit ins­ge­samt 450 Woh­nun­gen, die un­ter dem viel­ver­spre­chen­den Ti­tel „Mehr als Woh­nen“ fir­mie­ren. Ne­ben den Du­plex Ar­chi­tek­ten, die das in Zie­gel und Be­ton er­rich­te­te Clus­ter-Haus ge­plant ha­ben, sind noch ei­ni­ge an­de­re Zür­cher Ar­chi­tek­tur­bü­ros mit von der Par­tie. Die Mi­schung könn­te wil­der nicht sein.

„Mehr als Woh­nen“ be­deu­tet: Die Be­wohn­er­in­nen und Mit­glie­der der Ge­nos­sen­schaft ver­zich­ten auf ihr ei­ge­nes Au­to und so­mit auch auf ei­nen in der Re­gel kost­spie­li­gen Ga­ra­gen­platz. Im Ge­gen­zug wird ih­re As­ke­se mit mehr oder we­ni­ger lu­xu­riö­sen Ser­vi­ce-Zu­ckerln be­lohnt. Das An­ge­bot er­streckt sich von Cars­ha­ring und Elek­tro­mo­bi­li­tät über Ge­mein­schafts­kü­chen, Glas­häu­ser, Kräu­ter­be­ete bis hin zu im Haus in­te­grier­ten Ho­tel­zim­mern für den Tan­ten­be­such aus Über­see. Vor al­lem aber be­sticht die Wohn­haus­an­la­ge, an der sich mehr als 60 Zür­cher Wohn­bau­ge­nos­sen­schaf­ten be­tei­ligt ha­ben, durch ein enor­mes Pot­pour­ri an neu­en Wohn- und Grund­riss­ty­po­lo­gien.

„Ich fin­de die­se Woh­nung klas­se“, sagt Mar­co. „Ich ha­be zwar schon mal in ei­ner Wohn­ge­mein­schaft ge­lebt, aber hier hat je­der sei­nen ei­ge­nen Rück­zugs­be­reich, und es gibt kein An­stel­len am WC und kei­ne Strei­te­rei­en we­gen der Zahn­pas­ta­tu­be.“ Je­der Clus­ter be­steht aus ei­nem rund 200 Qua­drat­me­ter gro­ßen Wohn­be­reich für al­le, da­zwi­schen lie­gen – wie Häu­ser rund um ei­nen Dorf­platz – klei­ne, au­tar­ke Ein­lie­ger-Mi­ni­woh­nun­gen mit Wohn- und Schlaf­be­reich, Tee­kü­che und ei­ge­nem Dusch­bad. Die Tü­ren ste­hen die meis­te Zeit of­fen. Ab und zu nur ver­kriecht sich je­mand und ward ei­nen gan­zen Tag lang nim­mer ge­se­hen.

„400 Qua­drat­me­ter zu zehnt, mit ei­ner rie­si­gen Wohn­kü­che, ei­nem 30 Me­ter lan­gen Wohn­zim­mer, das uns ehr­lich ge­sagt viel zu groß ist, ei­ner über­durch­schnitt­lich gro­ßen Log­gia, auf der man mit Freun­den gril­len und Par­tys fei­ern kann, und das al­les mit­ten in Zü­rich …“, er­zählt Mar­co mit ei­nem im­mer brei­ter wer­den­den Grin­ser und ei­ner ge­wis­sen Süf­fi­sanz in sei­ner schwy­zer­düt­schen Stim­me, „al­so ich wür­de das schon als so­zia­len Lu­xus be­zeich­nen.“

Zwei Eta­gen über ihm wohnt Karl Klisch. Der 49-jäh­ri­ge Tier­arzt stammt aus Ham­burg und lebt nun seit knapp über ei­nem Jahr in Zü­rich. „Wenn ich schon ei­nen Ta­pe­ten­wech­sel vor­neh­me, dann will ich auch ei­ne neue Art des Woh­nens aus­pro­bie­ren“, sagt er. „Ich fin­de die­ses Pro­jekt und die­se Form des Zu­sam­men­le­bens ex­trem be­rei­chernd. Ich ge­nie­ße das Mit­ein­an­der.“ Vis-à-vis wohnt An­na Ham­bit­zer, 28 Jah­re alt, Phy­si­ke­rin und Elek­tro­me­di­zi­ne­rin. „Hier zu sein ist wirk­lich mehr als nur woh­nen“, sagt sie. „Die­ses Haus ist ein Bei­trag für ein zu­künf­ti­ges, ge­sell­schafts­über­grei­fen­des Ko­exis­tie­ren, weit über die klas­si­sche Stu­den­ten-WG hin­aus.“

Miet­ver­trag nach sechs Mo­na­ten

Un­ge­wöhn­lich ist je­doch nicht nur der Woh­nungs­grund­riss, son­dern auch das Ver­mie­tungs­mo­dell. „Be­reits ei­ne klei­ne Grup­pe von nur drei Leu­ten kann sich bei uns für ei­ne Woh­nung an­mel­den“, sagt An­dre­as Ho­fer, Ge­schäfts­füh­rer der ei­gens für die­ses Pro­jekt ge­grün­de­ten Su­per-Bau­ge­nos­sen­schaft Mehr als Woh­nen. „Da­nach ha­ben die Leu­te ein hal­bes Jahr Zeit, um in Ei­gen­ini­tia­ti­ve ei­ne grö­ße­re Wohn­ge­mein­schaft zu for­mie­ren. In die­ser Zeit un­ter­stüt­zen wir sie fi­nanz­iell, da­mit sie die Ge­samt­mie­te nicht al­lein auf­brin­gen müs­sen.“

Erst nach Ab­lauf die­ser Frist star­tet der Miet­ver­trag mit der Ge­nos­sen­schaft. Die WGs sind von nun an au­tark und küm­mern sich selbst­stän­dig um die Be­le­gung und Nach­ver­mie­tung ih­res Woh­nungs­clus­ters. „In­dem man Ver­ant­wor­tung ab­gibt, stärkt man bei den Be­wohn­er­in­nen und Be­wohn­ern ein Stück weit auch den Ge­dan­ken ei­nes Mit­ein­an­ders“, so Ho­fer. „Man­che Ge­nos­sen­schaf­ten ha­ben die­ses Mo­dell be­reits seit über zehn Jah­ren im Port­fo­lio. Es funk­tio­niert per­fekt.“

Die Mie­ten im Clus­ter­haus lie­gen je nach Grö­ße, Stock­werk und Him­mels­aus­rich­tung zwi­schen 4000 und 6000 Fran­ken, rund 3700 bis 5500 Eu­ro. Ob­wohl je­der ein­zel­ne Mie­ter ei­nen ei­ge­nen Miet­ver­trag be­kommt, obliegt es der Wohn­ge­mein­schaft zu ent­schei­den, wie die­se für die mo­nat­li­che Mie­te auf­kom­men will. Man­che WGs ha­ben den Ge­samt­preis ein­fach nur durch die An­zahl der Be­woh­ner di­vi­diert, an­de­re ha­ben kom­pli­zier­te For­meln ent­wi­ckelt, die die Grö­ße der pri­va­ten Ein­lie­ger­woh­nung so­wie ei­ne an­tei­li­ge, mal ge­sieb­tel­te, mal ge­ach­tel­te, mal ge­neun­tel­te Nut­zung der Ge­mein­schafts­flä­chen be­rück­sich­tigt. Schweiz halt.

„Die Wohn­form der Zu­kunft“

„Ich den­ke, dass sich die­se groß­städ­ti­sche Wohn­form in Zu­kunft noch dra­ma­tisch wei­ter­ent­wi­ckeln wird“, sagt Dan Schürch, Pro­jekt­lei­ter im zu­stän­di­gen Ar­chi­tek­tur­bü­ro Du­plex. „Das Clus­ter-Woh­nen ist für mich die mo­der­ne Va­ri­an­te der Groß­fa­mi­lie mit all ih­ren ge­sell­schaft­li­chen Ab­si­che­run­gen wie Kin­der­be­treu­ung, Kran­ken­pfle­ge und ganz all­täg­li­cher Hil­fe im Al­ter, so wie man das von Bau­ern­hö­fen von frü­her kennt. In die­sem Fall bloß ha­ben wir das so­zia­le Pro­gramm auf ei­ne mo­der­ne, 400 Qua­drat­me­ter gro­ße Pass­iv­haus­woh­nung um­ge­münzt.“

In Ös­ter­reich, und da vor al­lem in und um Wien, ha­ben sich in den letz­ten Jah­ren schon et­li­che Bau­grup­pen for­miert, die be­reits Er­fah­rung mit Au­tar­kie, Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on und der gro­ßen Bür­de und Wür­de der Ei­gen­ver­ant­wor­tung ma­chen konn­ten. Al­ler­dings be­schränkt sich die­ses Mo­dell auf Woh­nen im Ei­gen­tum. Der näch­ste Schritt wird sein, auch Mie­te­rin­nen und Mie­tern die­se Frei­hei­ten zu­zu­ge­ste­hen. Um ein so in­no­va­ti­ves Pro­jekt wie „Mehr als Woh­nen“ auch hier­zu­lan­de zu rea­li­sie­ren – da­zu braucht es nicht nur mu­ti­ge Bau­trä­ger, frisch durch­lüf­te­te Be­hör­den, son­dern auch ein völ­li­ges Um­den­ken der Bau­ord­nung, der För­der­richt­li­ni­en und nicht zu­letzt des sprö­den, ver­al­te­ten Miet­rechts­ge­set­zes.

Über das Clus­ter-Haus in Zü­rich wur­de ein Do­ku­men­tar­film ge­dreht. „Mit den Au­gen der an­de­ren“ ist noch bis 17. Ok­to­ber in der Ar­chi­tek­tur­ga­le­rie Ber­lin zu se­hen. www.ar­chi­tek­tur­ga­le­rie­ber­lin.de

Die Aus­stel­lung „Da­heim. Bau­en und Woh­nen in Ge­mein­schaft“ im Deut­schen Ar­chi­tek­turm­useum (DAM) in Frank­furt am Main wid­met sich in­no­va­ti­ven Wohn­bau­ten in Eu­ro­pa und der gan­zen Welt. 26 über­aus in­spi­rie­ren­de Pro­jek­te wer­den da­bei un­ter die Lu­pe ge­nom­men. Zu se­hen bis 28. Fe­bru­ar 2016. www.dam-on­li­ne.de

Der Standard, Sa., 2015.10.03

26. September 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Brett vorm Kopf

Ja, auch in Wien gibt es Holz. Ei­ne Ju­ry hat die be­sten Holz­bau­ten der letz­ten zehn Jah­re un­ter die Lu­pe ge­nom­men und prä­miert. Am Don­ners­tag­abend wur­de der wien­wood 15 über­ge­ben.

Ja, auch in Wien gibt es Holz. Ei­ne Ju­ry hat die be­sten Holz­bau­ten der letz­ten zehn Jah­re un­ter die Lu­pe ge­nom­men und prä­miert. Am Don­ners­tag­abend wur­de der wien­wood 15 über­ge­ben.

400 Qua­drat­me­ter Frei­heit. So groß ist die Flä­che der insge­samt vier Hort­grup­pen oben im er­sten Stock. 100 Kin­der zwi­schen sechs und zehn Jah­ren to­ben hier all­nach­mit­tags hin und her und kreuz und quer und wild durch­ein­an­der, oh­ne dass man je so ge­nau sa­gen kann, wer ei­gent­lich wo hin­ge­hört. Das mag wohl auch da­ran lie­gen, dass es im ge­sam­ten Hort­be­reich kei­ne ein­zi­ge Tür, kei­ne ein­zi­ge Trenn­wand, kei­ne ein­zi­ge räum­li­che Ein­schrän­kung gibt. Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de der Kin­der­gar­ten Schu­ko­witz­gas­se in Wien-Don­aus­tadt als ei­nes von ins­ge­samt sechs Pro­jek­ten mit dem Holz­bau­preis wien­wood 15 ausgezeichnet.

„Ich muss ge­ste­hen, dass die of­fe­ne Hort­grup­pe auf so gro­ßer Flä­che ein ziem­li­ches Um­den­ken war“, er­in­nert sich die Kin­der­gar­ten­lei­te­rin Ger­tru­de Meis­ter. „Es dau­ert vie­le Mo­na­te, ja viel­leicht so­gar Jah­re, bis man sich da­ran ge­wöhnt und da­mit zu ar­bei­ten be­gon­nen hat, dass so ei­ne Öff­nung al­ter, ein­ze­men­tier­ter Mus­ter nicht nur Nach­tei­le, son­dern auch sehr vie­le Vor­tei­le mit sich bringt.“

Stu­di­en be­le­gen, dass Kin­der in gro­ßen Grup­pen ten­den­zi­ell ru­hi­ger sind und we­ni­ger Ag­gres­si­ons­po­ten­zi­al ha­ben. Hin­zu kom­me, so Meis­ter, das Er­ler­nen von Frei­heit und Wahl­mög­lich­keit: „Na­tür­lich bin ich als Hort­kind ei­ner be­stimm­ten Grup­pe und ei­ner be­stimm­ten Pä­da­go­gin zu­geord­net. Aber in so ei­ner Kin­der­ta­ges­stät­te oh­ne Mau­ern ler­ne ich, dass ich letz­tend­lich selbst Ver­ant­wor­tung über­neh­men und mir den Tag auch nach mei­nen ei­ge­nen Vor­lie­ben ge­stal­ten kann.“

Der Ein­satz von Holz spielt in die­sem Raum, dem viel­zi­tier­ten drit­ten Pä­da­go­gen, ei­ne wich­ti­ge Rol­le. Ei­ner­seits deckt das Holz sämt­li­che hier be­nö­tig­ten An­for­de­run­gen an Akus­tik und Raum­be­hag­lich­keit ab. An­de­rer­seits – auch das be­le­gen Un­ter­su­chun­gen der letz­ten Jah­re – wirkt sich ei­ne höl­zer­ne Um­ge­bung auf Kin­der und Ju­gend­li­che be­ru­hi­gend im Sin­ne der Herz­fre­quenz und för­der­lich im Sin­ne der Kon­zen­tra­ti­on aus. Mit an­de­ren Ma­te­ria­li­en wä­re ein sol­ches pä­da­go­gi­sches Kon­zept zwar nicht un­mög­lich, aber schwie­ri­ger in der Um­set­zung.

700 Eu­ro Heiz­kos­ten pro Jahr

„Was mir bei die­sem Pro­jekt so gut ge­fällt, ist der gu­te Al­te­rungs­pro­zess des Hau­ses“, sagt Cle­mens Kirsch, Sie­ger des 2009 aus­ge­schrie­be­nen, EU-wei­ten Wett­be­werbs und Er­bau­er des Kin­der­gar­tens, der nun sei­ne sech­ste Sai­son be­strei­tet. „Das Holz al­tert schön und wür­de­voll. Die fünf Jah­re seit Er­öff­nung sind dem Haus kaum an­zu­se­hen.“ Was den Wie­ner Ar­chi­tek­ten be­son­ders freut: Die in der Pla­nungs­pha­se kal­ku­lier­ten Be­triebs­kos­ten konn­ten – fast, al­so mit ei­ner ge­rin­gen Über­schrei­tung – ein­ge­hal­ten wer­den. Im Schnitt be­lau­fen sich die Heiz- und Kühl­kos­ten die­ses mit ei­ner Wär­me­pum­pe aus­ge­stat­te­ten 1200 Qua­drat­me­ter gro­ßen Hau­ses auf ge­ra­de mal 700 Eu­ro pro Jahr. Das er­füllt selbst Be­woh­ner ei­ner mit­tel­gro­ßen Neu­bau­woh­nung mit Neid.

Er­rich­tet wur­de der Kin­der­gar­ten Schu­ko­witz­gas­se als so­ge­nann­ter Holz­hy­brid­bau. Das heißt: Meh­re­re Ma­te­ria­li­en wie et­wa Be­ton, Stahl und Holz wur­den je nach sta­ti­scher und bau­phy­si­ka­li­scher An­for­de­rung mit­ein­an­der kom­bi­niert, wo­bei der Holz­an­teil mit mehr als 50 Pro­zent deut­lich über­wiegt. Kirsch: „Bo­den­plat­te, De­cke, Säu­len und Stie­ge sind aus Stahl­be­ton. Der Rest be­steht aus Holz­ele­men­ten, die im Bre­gen­zer­wald halb vor­ge­fer­tigt und an­schlie­ßend per Tief­la­der nach Wien trans­por­tiert wur­den.“ In nur 14 Ta­gen war die zim­mer­manns­mä­ßi­ge Mon­ta­ge der Ele­men­te vor Ort ab­ge­schlos­sen.

„Da ist noch Luft nach oben“

Knapp ein Vier­tel al­ler heu­te Jahr für Jahr in Wien ein­ge­reich­ten Pro­jek­te sind be­reits Holz­bau­ten. „Da hat sich in den letz­ten 20 Jah­ren schon sehr viel ge­tan“, meint Al­fred Tei­schin­ger, Pro­fes­sor für Holz­tech­no­lo­gie und nach­wach­sen­de Roh­stof­fe an der Bo­ku Wien, der al­le fünf Jah­re um­fang­rei­che bun­des­wei­te Er­he­bun­gen zu die­sem The­ma macht. „Ge­mes­sen an Ge­samt­ös­ter­reich, wo auf­grund sei­nes ho­hen Wald- an­teils be­reits 43 Pro­zent al­ler Neu­bau­ten in Holz er­rich­tet wer­den, ist das aber noch im­mer ziem­lich we­nig. Da ist noch Luft nach oben.“

Auf die­se Ent­wi­cklungs­po­ten­zia­le hin­zu­wei­sen und die­se Luft nach oben aus­zu­nut­zen, das ist die Mis­si­on des wien­wood 15, der als Ge­mein­schafts­pro­jekt von pro­Holz Aus­tria, Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien und Stadt Wien heu­er zum zwei­ten Mal ver­ge­ben wur­de. „Mit die­sem Preis“, sagt Georg Bin­der, Ge­schäfts­füh­rer von pro­Holz Aus­tria, „möch­ten wir Holz der Be­völ­ke­rung, vor al­lem aber den Be­hör­den ins Ge­dächt­nis ru­fen. Mei­ne Vi­si­on ist, Holz in der Stadt als voll­wer­ti­gen und gleich­be­rech­tig­ten Bau­stoff zu eta­blie­ren.“

Die­sen Zu­stand gab es in der Ver­gan­gen­heit be­reits des Öf­te­ren. Die his­to­ri­schen Fach­werk­häu­ser in Deutsch­land und Frank­reich prä­gen bis heu­te das Er­schei­nungs­bild gan­zer Groß­städ­te. Und hier­zu­lan­de? „Al­lein das grün­der­zeit­li­che Wien wä­re oh­ne Holz ab­so­lut un­denk­bar“, sagt Ar­chi­tekt Cle­mens Kirsch und ver­weist auf die in Holz er­rich­te­ten Tram­de­cken und Dach­stüh­le die­ser Bau­ten. Bes­ser als an­hand die­ser mehr als hun­dert Jah­re al­ten Häu­ser kann man Nach­hal­tig­keit nicht dar­stel­len.“

Der Standard, Sa., 2015.09.26



verknüpfte Auszeichnungen
wienwood 15

19. September 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Und wenn es nur ein Tep­pich ist

Die deut­sche So­zio­lo­gin Ya­na Mi­lev be­schäf­tigt sich mit Emer­gen­cy De­sign, al­so mit Ent­wurfs­stra­te­gien in Zei­ten der Kri­se. Gibt es die per­fek­te No­tun­ter­kunft für Flücht­lin­ge? Ja. Man muss nur die kul­tu­rel­len Co­des re­spek­tie­ren.

Die deut­sche So­zio­lo­gin Ya­na Mi­lev be­schäf­tigt sich mit Emer­gen­cy De­sign, al­so mit Ent­wurfs­stra­te­gien in Zei­ten der Kri­se. Gibt es die per­fek­te No­tun­ter­kunft für Flücht­lin­ge? Ja. Man muss nur die kul­tu­rel­len Co­des re­spek­tie­ren.

Stan­dard: Sie ha­ben bul­ga­ri­sche Wur­zeln und sind in der DDR auf­ge­wach­sen. Wie ha­ben Sie die Flücht­lings­de­bat­te und die da­mit ver­bun­de­ne Asyl­quar­tier­kri­se der letz­ten Wo­chen mit­er­lebt?

Mi­lev: Es hat mich emo­tio­nal sehr mit­ge­nom­men. Wenn auch aus am­bi­va­len­ten Grün­den. Ei­ner­seits hat es mich be­rührt zu se­hen, wel­che Zi­vil­cou­ra­ge die Ös­ter­rei­cher und Deut­schen ent­wi­ckelt ha­ben, um sich für die Flücht­lin­ge aus Sy­rien zu en­ga­gie­ren. An­de­rer­seits ha­be ich be­ob­ach­tet, wel­chen Na­tio­na­lis­mus und wel­che Här­te die Län­der in so ei­ner Not­si­tua­ti­on an den Tag le­gen. Ich ha­be die Sou­ver­äni­tät des Wohl­fahrtss­taa­tes ver­misst. Hier ist das Mo­dell schein­bar an sei­ne Gren­zen ge­sto­ßen.

Stan­dard: In Ös­ter­reich wer­den die Flücht­lin­ge in Zel­te und Con­tai­ner ge­steckt.

Mi­lev: So­fern ein Land nicht über per­fekt auf­be­rei­te­te La­ger samt der nö­ti­gen In­fras­truk­tur ver­fügt, kann ich nur sa­gen: Zelts­täd­te und im­pro­vi­sier­te Con­tai­ner­sied­lun­gen sind prin­zi­pi­ell ei­ne sehr gu­te und ef­fi­zien­te Me­tho­de, um rasch auf Not zu rea­gie­ren und in kür­zes­ter Zeit zehn­tau­sen­de Men­schen auf­zu­neh­men – so­fern ge­wis­se Spiel­re­geln be­ach­tet wer­den. Das zei­gen die UN-Flücht­lings­la­ger in Jor­da­nien, aber auch Ja­pans prompt or­ga­ni­sier­te No­tun­ter­künf­te nach Fu­kus­hi­ma.

Stan­dard: Wie lau­ten denn die­se Spiel­re­geln?

Mi­lev: Ob­dach, In­fras­truk­tur wie et­wa Du­schen und WC so­wie Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten von au­ßen mit Nah­rungs­mit­teln, Klei­dung und Me­di­ka­men­ten. Das ist ein­mal die Hard­wa­re. Die Soft­wa­re al­ler­dings ist min­des­tens ge­nau­so wich­tig. Und da­mit mei­ne ich ei­ner­seits Be­we­gungs­spiel­räu­me wie et­wa ein Tep­pich, ein Blu­men­beet vor dem Zelt, aus­rei­chend Platz zum Ko­chen, Es­sen, Schla­fen so­wie Sport­flä­chen. An­de­rer­seits Hand­lungs­spiel­räu­me für kul­tu­rel­le Co­des, et­wa für kol­lek­ti­ve Ri­tua­le, für Re­li­gi­on, für Mu­sik, für ein­fa­che Tausch­ge­schäf­te, für Dienst­leis­tun­gen im tem­po­rä­ren All­tag – und sei es nur ein Fri­seur, der ei­nem nach ein paar Wo­chen die Haa­re schnei­det.

Stan­dard: Ganz all­täg­li­che Din­ge al­so …

Mi­lev: Im Grun­de ge­nom­men muss ein Auf­fang­la­ger für Flücht­lin­ge all je­ne Mög­lich­kei­ten bie­ten, die sich in in­for­mel­len Sied­lun­gen al­ler Art – so wie et­wa in Slums – ganz von al­lein ent­wi­ckeln, wenn man sie nur lässt. Die Er­fah­rung zeigt, dass die­se Spiel­räu­me ex­trem wich­tig sind.

Stan­dard: Weil?

Mi­lev: Weil die Men­schen ih­re ei­ge­ne Krea­ti­vi­tät aus­le­ben kön­nen müs­sen, da­mit sie sich, wenn sie schon kein mo­ne­tä­res Ka­pi­tal ha­ben, zu­min­dest auf ihr so­zia­les und kul­tu­rel­les Ka­pi­tal stüt­zen kön­nen, da­mit sie nach ein paar Wo­chen nicht durch­dre­hen und sich nicht ge­gen­sei­tig um­brin­gen. Die Pfle­ge der Kul­tur, die Auf­recht­er­hal­tung ei­nes ge­wis­sen All­tags ma­chen die Men­schen psy­chisch im­mun.

Stan­dard: Ha­ben Sie das Ge­fühl, dass die­se Min­dest­stan­dards in den Er­stauf­nah­me­zen­tren und Asyl­quar­tie­ren ein­ge­hal­ten wer­den?

Mi­lev: Da traue ich mir kein Ur­teil zu. In den Me­dien hat man die­sen Ein­druck je­den­falls nicht ver­mit­telt be­kom­men.

Stan­dard: In Ih­rem Buch „Emer­gen­cy De­sign“ schrei­ben Sie, dass ge­si­cher­te in­ne­re Wohn­raum­ver­hält­nis­se am An­fang al­ler Ar­chi­tek­tur- und De­sign- stra­te­gien stün­den. Ab wann kann man von ei­nem sol­chen ge­si­cher­ten in­ne­ren Wohn­raum spre­chen?

Mi­lev: So­bald die Men­schen ei­nen Hauch von Hoff­nung und Si­cher­heit spü­ren und an­fan­gen, sich wohl­zu­füh­len. Da­zu braucht es ei­gent­lich gar nicht viel. Ha­ben Un­garn, Ös­ter­reich und Deutsch­land das bie­ten kön­nen? Da bin ich mir nicht si­cher …

Stan­dard: Sind Ih­nen po­si­ti­ve Bei­spie­le für No­tun­ter­künf­te be­kannt, wo es ge­lun­gen ist, rasch, bil­lig, ef­fi­zient und den­noch hoch­wer­tig zu han­deln?

Mi­lev: Da gibt es vie­le gu­te Bei­spie­le. Ich den­ke et­wa an den Wie­der­rauf­bau von New Or­le­ans nach dem Hur­ri­kan Ka­tri­na, an die Flücht­lings­la­ger der UN, an ein Kunst­pro­jekt von Da­ni­el Ker­ber in Saa­ta­ri, das größ­te Flücht­lings­camp der Welt, oder et­wa an den Flat Pack Shel­ter, den Ikea für die UNHCR ent­wi­ckelt hat. Die Er­fah­rung ist da, das Know-how ist da, man soll die Men­schen nicht un­ter­schät­zen.

Stan­dard: Es gibt ei­ni­ge Un­ter­neh­men, die sich da­rauf spe­zi­a­li­siert ha­ben, schnel­len, kos­ten­güns­ti­gen, mo­du­lar auf­ge­bau­ten Wohn­raum zu schaf­fen, der sich spä­ter sehr leicht für an­de­re Nut­zun­gen adap­tie­ren lässt. Wä­re das nicht nach­hal­ti­ger?

Mi­lev: Ich fin­de es be­ein­druckend, wie sich hier im Lau­fe der Zeit ein ei­ge­ner Markt­zweig ent­wi­ckelt hat. Nur all­zu ver­ständ­lich! Die An­mie­tung von Con­tai­nern ist ja auf Dau­er auch nicht ge­ra­de bil­lig. Und ich den­ke, dass sich hier in den kom­men­den Jah­ren ei­ne ei­ge­ne neue In­dus­trie mit Mehr­weg­häus­ern und re­cy­cel­ba­ren Ein­we­gun­ter­künf­ten eta­blie­ren wird.

Stan­dard: Noch mehr, als das heu­te schon der Fall ist?

Mi­lev: Ja. Und zwar aus ei­nem ganz ein­fa­chen Grund – weil der Not­fall kei­ne ein­ma­li­ge Sa­che mehr ist. Seit den Neun­zi­ger­jah­ren sind wir mit Na­tur­ka­ta­stro­phen und po­li­ti­schen und wirt­schaft­li­chen De­sas­tern in ei­ner wahr­nehm­bar er­höh­ten Fre­quenz kon­fron­tiert. Not­fäl­le und Emer­gen­cies ste­hen mitt­ler­wei­le auf der Ta­ges­ord­nung. Wir bräuch­ten längst schon ei­ne In­dus­trie, die sich auf Con­tai­ner- und Zelt­sied­lun­gen spe­zi­a­li­siert, die auf Knopf­druck auf­ge­baut und ak­ti­viert wer­den kön­nen.

Stan­dard: Was ist mit Im­mo­bi­lien­leers­tand? Laut ei­ner Un­ter­su­chung der bri­ti­schen Ta­ges­zei­tung „The Gu­ar­di­an“ ste­hen in der EU mehr als elf Mil­lio­nen Häu­ser und Woh­nun­gen leer. Al­lein in Deutsch­land sind es über 1,8 Mil­lio­nen un­ge­nutz­te Ob­jek­te.

Mi­lev: Das ist mehr, als ich zu glau­ben ge­wagt hät­te. Schwie­rig! Die Zu­rück­hal­tung von leers­te­hen­den Im­mo­bi­lien ist ein enor­mes Pro­blem der Ka­pi­tal­ge­sell­schaft. Lei­der wird das Zu­rück­hal­ten der pri­va­ten Res­sour­cen um­so stär­ker, je pre­kä­rer die Si­tua­ti­on, je grö­ßer die Kri­se ist. Bei den Pri­va­ten se­he ich al­so schwarz.

Stan­dard: Und was ist mit der öf­fent­li­chen Hand? Wä­re es nicht volks­wirt­schaft­lich sinn­vol­ler, sich kurz­fri­stig in die­sen Leers­tand ein­zu­mie­ten, an­statt das Geld für Zel­te und Con­tai­ner aus­zu­ge­ben? Lässt sich so ein Sys­tem nicht ent­wi­ckeln?

Mi­lev: Theo­re­tisch ist das mög­lich. Hier muss man an die po­li­ti­sche Ebe­ne so­wie an die NGOs ap­pel­lie­ren. Doch prak­tisch hal­te ich die Ak­ti­vie­rung von Im­mo­bi­lien­lees­tand für ei­nen sehr lan­gen, stei­ni­gen Weg. Lei­der. Der be­ste An­satz wä­re hier noch die Nut­zung leers­te­hen­der Ka­ser­nen. Da­von gibt es in Ös­ter­reich und Deutsch­land ja ei­ne Men­ge.

Stan­dard: Ab­schluss­fra­ge: Was ist Ihr Wunsch für hier und jetzt?

Mi­lev: Dan­ke für die­se Fra­ge! Ich wün­sche mir, dass wir uns auf­raf­fen, die In­sti­tu­tio­nen – vor al­lem die po­li­ti­schen – zu über­ge­hen, denn die­se ha­ben auf wei­ter Flur ver­sagt. Wir müs­sen selbst los­ge­hen und han­deln. Jetzt so­fort. Und wir müs­sen an­fan­gen, Ei­gen­ka­pi­tal zu in­ves­tie­ren. Und wenn es nur ein biss­chen un­se­res Reich­tums ist. Das ist un­se­re Ver­ant­wor­tung.

Ya­na Mi­lev, ge­bo­ren in Leip­zig, ist Kul­tur­phi­lo­so­phin, So­zio­lo­gin und Ku­ra­to­rin. Sie ist For­sche­rin am Se­mi­nar für So­zio­lo­gie (SFS) so­wie Do­zen­tin an der School of Hu­ma­ni­ties und So­ci­al Scien­ces (SHSS) an der Uni­ver­si­tät St. Gal­len. 2015 grün­de­te sie das Kyp­ton3000 In­sti­tut für Ge­sell­schafts- und Zu­kunfts­for­schung. 2011 er­schien ihr Buch „Emer­gen­cy De­sign“ (Mer­ve-Ver­lag).

Der Standard, Sa., 2015.09.19

13. September 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Die Schrumpfungsmeisterin

Raumordnungsexpertin Gerlind Weber fordert, nicht immer nur von Wachstum zu sprechen. In strukturschwachen Regionen plädiert sie für „aktive Sterbehilfe“

Raumordnungsexpertin Gerlind Weber fordert, nicht immer nur von Wachstum zu sprechen. In strukturschwachen Regionen plädiert sie für „aktive Sterbehilfe“

Baukulturgespräche 2015 in Alpbach: Gerlind Weber, Wissenschafterin für Raumplanung und Raumordnung, fordert, nicht immer nur von Wachstum zu sprechen. In strukturschwachen Regionen plädiert sie im Gespräch mit Wojciech Czaja für kontrollierte Schrumpfung und aktive Sterbehilfe.

STANDARD: Stadtmensch oder Landei?

Gerlind Weber: Ich bin durch und durch ein Landei. Wenn auch mit starken städtischen Einsprengseln. Ich bin am Land aufgewachsen, am Attersee, und obwohl ich den Großteil meines Lebens in der Stadt verbracht habe, fühle ich mich dem Land auch heute noch stark verbunden. Allein schon aus beruflichen Gründen bin ich mehr oder weniger gezwungen, in Wien zu leben. Die Verbindung von beiden empfinde ich als große Bereicherung.

STANDARD: Mehr und mehr entwickelt sich zwischen Großstadt und manchen Landregionen eine Ungleichbehandlung, was Infrastruktur, Arbeitsplätze und Mobilitätsangebot betrifft. Wie geht die Regionalentwicklung mit dieser Ungleichheit um?

Weber: In der Vergangenheit hat sich die Regionalentwicklung immer bemüht, einen Ausgleich zwischen Stadt und Land zu schaffen und Geld von den strukturstarken in die strukturschwachen Regionen zu verlagern. Dennoch ist es nicht gelungen, das Abrutschen dieser schwachen Regionen zu verhindern. Jede finanzielle Hilfe ist eine Tablette, die Linderung bringt. Aber sie bringt keine Heilung.

STANDARD: Von welchen strukturschwachen Regionen sprechen wir hier eigentlich?

Weber: Die Muster sind seit Jahrzehnten immer noch die gleichen. Wir sprechen in erster Linie von den ländlichen Regionen entlang des Eisernen Vorhangs, sofern diese nicht von Ballungsräumen wie etwa Wien und Graz unterbrochen sind, sowie von einer alpinen Zunge, die sich von Osttirol über den Alpenhauptkamm bis in die Bucklige Welt in Niederösterreich erstreckt.

STANDARD: Wer trägt Schuld daran, dass diese Regionen so stark vernachlässigt wurden?

Weber: Niemand und alle zugleich. Niemand, weil: Es kann nicht jede Region in Österreich eine boomende, florierende sein. Faktoren wie periphere Lage, dünne Besiedelung, zeitintensive Erreichbarkeit, fehlende soziale Infrastruktureinrichtungen, Mangel an guten Erwerbsmöglichkeiten und so weiter benachteiligen diese Regionen. Und alle zugleich, weil wir uns tendenziell dort niederlassen, wo wir uns bessere Chancen versprechen.

STANDARD: Was tun?

Weber: Sich nicht gegen das Schrumpfen erfolglos stemmen, sondern es zulassen und aktiv gestalten! Aber wie gesagt: Finanzielle Hilfe allein ist, wie wir gesehen haben, zu wenig. Wir haben wie auch viele andere Länder ein Verteilungsproblem.

STANDARD: Macht es einen Sinn, diese Regionen überhaupt noch zu retten beziehungsweise zu unterstützen? Die Schweiz etwa ist dafür bekannt, dass sie unter bestimmten Gesichtspunkten Dörfer und Regionen abbaut und kontrolliert verfallen lässt.

Weber: Die Schweizer sind uns in dieser Hinsicht um einiges voraus. Ob so etwas möglich oder auch nur denkbar ist, hängt von der politischen Akzeptanz ab, vom Konsens zwischen Individuum und Kollektiv, letztendlich auch von der demokratischen Reife eines Volkes, das in der Lage ist, das Allgemeinwohl und den volkswirtschaftliche Benefit über die individuellen Interessen zu stellen. Um Dörfer und ganze Regionen wirklich aufzugeben, dazu braucht es verdammt viel Kraft und Ausdauer. Ja, es ist möglich. Aber ich würde den Aufwand und den Gegenwind nicht unterschätzen. Erklären Sie einmal einer Bauernfamilie, dass ihr Grund und Boden, das ihr Leben in dieser Form keine Zukunft mehr hat!

STANDARD: Aber genau damit setzen Sie sich in Ihrer Arbeit ja auseinander!

Weber: Und ich wurde für meine Überlegungen lange Zeit kritisiert. Am liebsten hätte man mich von so manchem Rednerpult weggezogen, als ich davon gesprochen habe, nicht immer nur das Wachstum zu beschwören, sondern auch die kontrollierte Schrumpfung mancher Regionen in Erwägung zu ziehen. Die einen haben mir aktive Sterbehilfe unterstellt, die anderen haben gemeint, ich sei ein Pompfüneberer der Raumordnungspolitik.

STANDARD: Woher nimmt man die Energie, um diesen Buhrufen standzuhalten?

Weber: Aus einer fachlichen Überzeugung und aus dem Glauben, dass auch das Schwierige ausgesprochen werden muss.

STANDARD: Mit welchen Argumenten?

Weber: Schauen Sie, die Regionalpolitik wie auch die Wirtschaft spricht vom permanenten Wachstum. Das ist quasi systemimmanent. Allein, die Realität sieht anders aus: Wir haben eine Studie über Gemeinden in Niederösterreich gemacht, in denen die Schlüsselparameter Einwohner und Arbeitsplätze schon seit Jahrzehnten rückläufig sind. In manchen Fällen beträgt das Bevölkerungssaldo bis zu 45 Prozent! Und trotzdem sprechen die Bürgermeister und Planer immer noch von Infrastrukturausbau, Zuwanderungspotenzial und Gewerbeansiedlung. Da kann ich nur sagen: Wacht auf! Mit den Wachstumsversprechen und Rezepte für den erhofften Turn-around vom Niedergang zum Wachstum ist es vorbei, allein schon, weil es vor Ort gar nicht mehr die Menschen gibt, die diesen Zuwachs erzeugen könnten.

STANDARD: Manche wachen auf.

Weber: Ja, zum Glück! Und ich gebe zu, das ist nicht leicht, denn so eine Gemeinde wird, sobald von Schrumpfung und rückläufiger Entwicklung die Rede ist, in ihrer Würde gekränkt. Manche von ihnen verkommen zu einer zähen, gallertartigen Masse.

STANDARD: Wie sehen die konkreten Schritte aus, wenn es darum geht, einen Schrumpfungsprozess einzuleiten?

Weber: Das wichtigste ist, dass so ein Prozess nicht nur von oben, sondern vor allem auch auf Gemeindeebene abgewickelt wird. Ich rate dazu, im Einvernehmen mit der Bevölkerung und den direkt davon Betroffenen intensiv zu arbeiten. Erst wenn für die Letztverbleibenden Ersatzstandorte gefunden sind, erst dann kann man dazu übergehen, einen Standort aufzugeben, indem man dort dann nicht mehr investiert, keine Reparaturen mehr vornimmt und beginnt, den Ort sich selbst zu überlassen.

STANDARD: Das klingt nach einem schmerzvollen Prozess.

Weber: Das ist er auch. Da werden ganze Familiengeschichten unterbrochen und müssen woanders ihre Fortsetzung suchen.

STANDARD: Wie groß muss der Leidensprozess sein, damit man zu handeln beginnt?

Weber: Der muss enorm sein.

STANDARD: Gibt es positive Beispiele, wo dieses Auflassen und Aufgeben von Land gut funktioniert hat?

Weber: Ein wunderbares Beispiel dafür ist Ostdeutschland. Dort hat man es geschafft, die Städte nicht nur zu schrumpfen, sondern ihnen dadurch auch eine neue Lebensqualität zu verleihen. Häuser wurden abgerissen, und zwar nicht planlos, sondern stets so, dass sich nun von der Stadtgrenze bis in den Kern grüne Lungen durch die Stadt ziehen. Dank diesen neuen Naherholungsgebieten sind wunderbare, lebenswerte Stadträume entstanden. Es geht!

STANDARD: Wird Raumordnung Ihrer Meinung nach in Österreich zu wenig ernst genommen?

Weber: Und wie! Ein Lied könnte ich Ihnen davon singen! Bei den Baukulturgesprächen in Alpbach habe ich von Finanzminister Hans Jörg Schelling das erste Mal gehört, dass man nun endlich überlegt, Raumplaner in die Finanzausgleichsverhandlungen einzuladen. Das habe ich schon vor vielen Jahren vorgeschlagen. Damals hat man mich noch ausgelacht.

STANDARD: Inwiefern müssen Schrumpfungsprozesse auch beim Finanzausgleich berücksichtigt werden?

Weber: Der Finanzausgleich begünstigt die ohnehin wachsenden Zentralräume. Dort buttern wir ständig Geld hinein. Hier würde ich mir stattdessen wünschen, etwas differenzierter an die Sache heranzugehen. Ja, ein ordentlicher, behutsam begleiteter Schrumpfungsprozess kostet Geld, und diese Gelder müssten eigentlich auch im Finanzausgleichsgesetz (FAG) berücksichtigt werden. Das ist derzeit nicht der Fall. Die Landgemeinden haben zwar keine zentralen Aufgaben zu erfüllen, aber durch die geringe Bevölkerungsdichte müssen sie Kosten für weite Infrastruktursysteme tragen.

STANDARD: Wenn Sie die Macht hätten, ein neues Raumordnungsgesetz zu erlassen: Was wären die drei wichtigsten Punkte, die darin auf jeden Fall enthalten sein müssten?

Weber: Wenn ich die Macht hätte? Nun… Erstens würde ich einen sorgfältigeren Umgang mit Bodenressourcen verlangen: weniger Bodenversiegelung, mehr Nachverdichtung und Revitalisierung von Leerständen. Zweitens würde ich ein Instrumentarium für kontrollierte Schrumpfung schaffen, damit solche Prozesse professionell abgewickelt werden könnten. Das ist ein neues Berufsfeld, das sich hier herauskristallisiert. Und drittens vermisse ich in der Raumordnung, die ja ihre Wurzeln im Städtebau hat, ein Bekenntnis zur Ernährungssicherung. Ich würde fordern, dass die Bodengüte und die Agrarstruktur bei den Entscheidungen über die Siedlungsentwicklung stärker berücksichtigt werden. Spontan fallen mir diese als diese drei wichtigsten Punkte ein.

STANDARD: Wie wird Österreich im Jahr 2100 aussehen?

Weber: Wenn es so weiter geht wie in den 70 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, dann wird das für Österreich fatale Folgen haben. Manche Teile wären stark zersiedelt, andernorts wäre man mit verlassenen Landstrichen konfrontiert. Dann wird man Österreich im Jahr 2100 nicht wiedererkennen. Wir sollten daher stärker die Dezentralisierung auf regionaler Ebene betreiben und auf örtlicher Ebene die Zersiedelung unserer Landschaft nicht weiter sorglos vorantreiben. (Langfassung des Interviews)

Der Standard, So., 2015.09.13

22. August 2015Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Der Mann hinter der runden Brille

Le Corbusier ist einer der bedeutendsten Baukünstler des 20. Jahrhunderts. Am 27. August jährt sich sein 50. Todestag. Ein Rückblick auf das teils großartige, teils beängstigende Schaffen des Schweizer Architekten und Stadtplaners

Le Corbusier ist einer der bedeutendsten Baukünstler des 20. Jahrhunderts. Am 27. August jährt sich sein 50. Todestag. Ein Rückblick auf das teils großartige, teils beängstigende Schaffen des Schweizer Architekten und Stadtplaners

Pro: Ein Philosoph des Wohnens
von Wojciech Czaja

Stundenlang könnte man an die Fassade starren, das Gelb-Rot-Blau des Betons studieren, die Unregelmäßigkeiten in der Regelmäßigkeit erkunden, und niemals wird man das Haus in seiner Gänze bis zum letzten Millimeter begriffen haben. Hinter der 138 Meter langen Unité d'Habitation in Marseille, einer von insgesamt fünf Wohnmaschinen, die Le Corbusier in den Jahren zwischen 1947 und 1967 geplant hat, verbirgt sich nicht nur eine halbe Kleinstadt mit 337 Wohnungen, Kindergarten, Hotel und diversen Geschäften, sondern auch ein vollkommen neues Wohnmodell, das trotz Serienproduktion und hohen Vorfertigungsgrades bis heute maximalen Wohnkomfort für die breite Masse bietet.

„Ich liebe es, hier zu wohnen“, sagt eine alte Dame, eine der wenigen noch lebenden, allerersten Mieterinnen im Haus. „Die Lebensqualität in diesen vier Wänden ist mit nichts vergleichbar, was heute im Bereich des sozialen Wohnbaus auf den Markt geworfen wird. Am 14. Oktober 1952 habe ich den Schlüssel entgegengenommen, und selbst nach all diesen Jahrzehnten merkt man, wie intelligent und wie emotional Le Corbusier diese Wohnungen entworfen hat. Ich führe Sie gerne durch, aber bitte drucken Sie meinen Namen nicht ab, sonst läuten wieder so viele Leute an und fragen, ob sie sich als Nachmieter auf die Liste setzen dürfen. Ich will ja noch ein paar Jahre weiterleben.“

Hinunter in den dritten Stock. Hotel Le Corbusier. Die Zeit scheint hier stehen geblieben. Das Mobiliar ist noch wie von Charles-Édouard Jeanneret-Gris, wie der Architekt mit seiner unverwechselbaren Rundbrille mit bürgerlichem Namen hieß, aufs Papier gezeichnet. Hochglanzparkett und Kunststoffboden zu Füßen. Ja, das lässt sich kombinieren. An der Decke prangen Holzdielen, mal längs, mal quer in den Beton geschraubt. Dazwischen offenbart sich ein kontrastreicher Möbelreigen, perfekt konserviert aus den Fünfzigerjahren.

„Jedes noch so kleine Detail hier versprüht Leidenschaft und Geschichte in einer Art und Weise, wie sie heute nur noch selten zu finden ist“, meint Alban Gérardin, der das Hotel Le Corbusier im dritten, vierten und achten Stock gemeinsam mit seiner Frau Dominique leitet. 21 Zimmer und Suiten gibt es insgesamt. „Auch in den Zimmern haben wir uns sehr bemüht, den Geist Le Corbusiers weiterleben zu lassen. Manche können es kaum glauben, dass die Räume noch im Originalzustand erhalten sind.“ Obligates Stück, das in keinem der Zimmer fehlen darf: die Stahlrohrliege LC4, entworfen vom Meister höchstpersönlich.

Die Unités d'Habitation in Marseille, Rezé, Briey, Firminy und Berlin (von Letzterer distanzierte sich Le Corbusier nach Fertigstellung, da der Bau anders ausgeführt wurde als geplant) sind mehr als nur Wohnhäuser. Mit ihren durchgesteckten Maisonette-Wohnungen, mit ihren zweigeschoßigen Lufträumen und vor allem mit ihrem Modulor-Maß von 2,26 Meter Raumhöhe, basierend auf einem von Le Corbusier definierten Normmenschen mit ausgestrecktem Arm, haben den Wohnbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt.

Le Corbusiers architektonischer und programmatischer Mut war eine Art Turbo-Boost der Moderne. Der unbeugsame Weitblick des strengen Schweizers, der in Europa, Russland, Tunesien, Indien, Brasilien, Argentinien und in den USA unzählige Wohn-, Büro- und Kulturbauten realisierte, würde der heutigen Baukultur guttun.


Kontra: Ein Feind der Stadt
von Maik Novotny

Nichts gegen Schweizer Kleinstädte! Und, ja, das Werk eines Menschen aus dessen Geburtsort zu erklären ist vermessen. Aber betrachtet man das urbanistische Werk von Le Corbusier, geboren 1887 im Uhrmacherstädtchen La-Chaux-de-Fonds, kann man den Verdacht nicht abschütteln, dass den Architekten die innere Provinz nie so ganz verlassen hat.

Nun waren in den 1920ern hochfliegende Visionen neuer Millionenstädte keine Seltenheit. Dem tuberkuloseverseuchten Elend der Altstadtslums und Gründerzeitbauten galt es zu entkommen: Licht, Luft und Sonne, Metropolen der Hygiene und Vernunft! Doch keiner der Kollegen begegnete der Großstadt und ihrer jahrtausendealten Geschichte mit solch hasserfüllter Verachtung wie Corbusier. Im Text zu seinem berühmten „Plan Voisin“, der 1925 das alte Paris mit einem Raster aus Wolkenkratzern ersetzen sollte, ereiferte er sich über die Straßen der damaligen Städte. Unterschiedlich aussehende Häuser, wie unästhetisch! Die Enge, der Lärm, all die anderen Menschen, unerträglich! New Yorks Straßenschluchten? „Schreckliche Albträume!“ Nur ein visionäres Genie könne hier den Ausweg finden: gerasterte Glasfassaden, dazwischen grün wogende Landschaften und Stadtautobahnen für die kommende Ära des Automobils. Alles schön sauber und ordentlich, wie eine ins Monströse skalierte Schweizer Kleinstadt. Die Stadt als Widerspruch und Konfrontation, als Verdichtung baulichen und kulturellen Schaffens blieb Le Corbusier sein Leben lang fremd.

Vom Plan Voisin ist Paris bekannterweise verschont geblieben, doch das Erbe Le Corbusiers eroberte bald die Welt. Das moderne Stadtlabyrinth in Jacques Tatis Film Playtime (1967), in dem sich Paris und London nur noch durch einsame Wahrzeichen wie Triumphbogen und Big Ben in einem Meer aus immergleichen Spiegelfassaden unterscheiden, war von der Realität nicht weit entfernt.

Man würde Corbusier seine der damaligen Zeit entsprungenen Visionen eher nachsehen, hätte er sie und sich nicht mit solchem Nachdruck inszeniert, vom Künstlernamen über die Branding-Brille bis zur penibel kontrollierten Dokumention des Schaffens. Arroganz, Besserwissertum und Opportunismus (seine unrühmliche Rolle im Vichy-Regime wurde erst in den letzten Jahren beleuchtet) – bis heute kämpfen Architekten mit diesen Vorurteilen, die ihnen der ikonische Schweizer eingehandelt hat. Selbst posthum ist die Inszenierung noch erfolgreich: Scharen von ergebenen Corbusier-Jüngern und die Fondation Corbusier achten darauf, dass das Denkmal des Architektengenies nur ja keinen Kratzer abbekommt.

Den Rang im Pantheon hat Le Corbusier verdient, Bauten wie die Villa Savoye (1931) und das Kloster Sainte-Marie-de-la-Tourette (1960) sind zeitlose Meisterwerke, die die Architektur ins 20. Jahrhundert katapultierten, und das Innere der Kapelle in Ronchamp (1955) bietet eines der ergreifendsten Raumerlebnisse, die man überhaupt haben kann.

Doch es ist kein Zufall, dass all diese Bauten mitten im Grünen entstanden und sich selbst seine Wohnmaschinen nur an die Stadtränder von Berlin und Marseille vorwagten: Die sich ihm zum Trotz nicht unterkriegen lassende chaotische Stadt blieb ihm immer suspekt. Besiegen konnte er sie nicht.

Der Standard, Sa., 2015.08.22

01. August 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Ele­fan­ten und an­de­re Luft­schlös­ser

Ele­phant & Cast­le ist das neue Hoff­nungs­ge­biet der In­ves­to­ren. Hier ent­ste­hen bis 2025 5000 Woh­nun­gen und gro­ße Re­tail­flä­chen. Doch wel­che Fol­gen hat die Gen­tri­fi­zie­rung auf das letz­te noch leist­ba­re Lon­do­ner Stadt­vier­tel?

Ele­phant & Cast­le ist das neue Hoff­nungs­ge­biet der In­ves­to­ren. Hier ent­ste­hen bis 2025 5000 Woh­nun­gen und gro­ße Re­tail­flä­chen. Doch wel­che Fol­gen hat die Gen­tri­fi­zie­rung auf das letz­te noch leist­ba­re Lon­do­ner Stadt­vier­tel?

Krä­ne und Bag­ger, so weit das Au­ge reicht. Vom al­ten Ima­ge des Lon­do­ner Quar­tiers Ele­phant & Cast­le, frü­her be­kannt für Pubs, La­ger­hal­len und Be­ton­wohn­bur­gen aus den Sech­zi­ger- und Sieb­zi­ger­jah­ren, ist kaum noch et­was zu spü­ren. Nach­dem ein Groß­teil der be­ste­hen­den Ge­bäu­de, oft so­zia­le Ghet­to-Schmelz­tie­gel mit tech­ni­schen und bau­li­chen Män­geln, in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ab­ge­ris­sen wur­de, to­ben sich nun pri­va­te Bau­trä­ger aus, um das Are­al in ein „le­ben­di­ges, pul­sie­ren­des Wohn­vier­tel in Cen­tral Lon­don“ zu ver­wan­deln, „in dem es je­der liebt, da­zu­zu­ge­hö­ren“, wie Rob He­as­man, Pro­ject Di­rec­tor von Ele­phant & Cast­le, dies aus­drückt.

Nach ei­ni­gen klein­eren Wohn­haus­an­la­gen von der Stan­ge, die be­reits zwi­schen 2003 und 2009 er­rich­tet wur­den, war der 2010 fer­tig­ge­stell­te Stra­te To­wer die er­ste ar­chi­tek­to­nisch auf­fal­len­de Land­mark, die das Stadt­ent­wi­cklungs­ge­biet Ele­phant & Cast­le erst­mals auf die Land­kar­te der In­ves­to­ren ka­ta­pul­tier­te. Der Pro­jekt­ent­wi­ckler Brook­field Mul­ti­plex schuf nicht nur ein Wohn­hoch­haus mit 408 Wohn­ein­hei­ten, son­dern auch ein Wind­kraft­werk mit ins Ge­bäu­de in­te­grier­ten Wind­rä­dern in den letz­ten Eta­gen.

Kaum so­zia­ler Wohn­bau

Es reg­net und win­det an die­sem Tag, die Rä­der ste­hen still, doch der Ver­mark­tung des Ob­jekts hat das High-Tech-Gim­mick Rü­cken­wind be­schert, von dem vie­le Kon­kur­ren­ten nur träu­men kön­nen. Die ober­sten Woh­nun­gen wa­ren be­reits nach 24 Stun­den ver­kauft, die rest­li­chen konn­ten bin­nen vier Ta­gen kom­plett ver­wer­tet wer­den. Ein Vier­tel der Woh­nun­gen fir­miert als „af­for­da­ble hou­sing“, was dem so­zia­len Wohn­bau, wie er in Ös­ter­reich de­fi­niert ist, aber nur va­ge ent­ge­gen­kommt.

Die Mie­ten für ei­ne durch­schnitt­li­che Drei-Zim­mer-Woh­nung lie­gen bei 300 bis 500 Pfund, al­so rund 400 bis 700 Eu­ro – pro Wo­che, wohl­ge­merkt.

Zu den ak­tu­el­len In­ves­to­ren, die ihr Geld höchst lu­kra­tiv ver­be­to­nie­ren, ge­hö­ren Oak­may­ne, De­lan­cey, APG und Ma­ce & Es­sen­ti­al Li­ving. Ein paar Wohn­tür­me mit 30 bis 40 Stock­wer­ken und frei­fi­nan­zier­te Woh­nun­gen um 8000 Pfund (rund 11.300 Eu­ro) auf­wärts sind eben­falls da­bei. Den Lö­we­nan­teil je­doch trägt das aus­tra­li­sche Bau­un­ter­neh­men Lend Lea­se. Auf ei­ner Flä­che von knapp zehn Hek­tar, wo frü­her die Hey­ga­te and Rod­ney Es­ta­tes stan­den, sol­len bis 2025 rund 2500 Woh­nun­gen in un­ter­schied­li­chen Preis­klas­sen ent­ste­hen. Das Fi­lets­tück von Lend Lea­se ist der 37-stö­cki­ge „One Ele­phant“ mit 284 Woh­nun­gen. Die Ar­bei­ten sind voll im Gan­ge. Die Fer­tigs­tel­lung des Turms ist für 2016 ge­plant.

„Wir le­gen gro­ßen Wert da­rauf, dass hier ein neu­er, at­trak­ti­ver Stadt­teil mit ei­ner ge­wis­sen so­zia­len Durch­mi­schung ent­steht“, er­klärt Ale­xan­der Do­na­do, Se­ni­or Sa­les Con­sul­tant De­ve­lop­ment, in sei­nem Bü­ro mit Blick auf die um­lie­gen­den Bau­stel­len. Die An­ge­stell­ten, dicht an dicht an ih­ren Schreib­ti­schen ge­drängt, sind um­ge­ben von Ele­fan­ten, grü­nen Blät­tern und al­ler­lei an­de­ren in­spi­rie­ren­den Ele­men­ten. „Aus die­sem Grund wer­den wir un­ter­schied­li­che Ty­po­lo­gien wie ,af­for­da­ble‘, ,in­ter­me­dia­te‘ und ,pri­va­te hou­sing‘ auf dem ge­sam­ten Are­al mit­ein­an­der kom­bi­nie­ren.“ Hin­zu kom­men ei­ne gro­ße Par­kan­la­ge mit so­zia­len und kul­tu­rel­len Ein­rich­tun­gen so­wie knapp 17.000 Qua­drat­me­ter Re­tail­flä­che.

Die Wohn­mie­ten wer­den bei 500 Pfund (rund 700 Eu­ro) pro Wo­che lie­gen, die Kauf­prei­se bei et­wa 1000 Pfund (14.000 Eu­ro) pro Qua­drat­me­ter. Mit Stolz ver­wei­sen Im­mo­bi­lie­nex­per­ten wie An­to­nio Ma­rin-Ba­tal­ler, zu­stän­dig für UK Re­si­den­ti­al In­vest­ments bei der deut­schen Pa­tri­zia Im­mo­bi­lien AG, auf die güns­ti­ge La­ge: „Das ist das ein­zi­ge Vier­tel in­ner­halb der Ver­kehrs­zo­ne 1, in dem sich der Mit­tel­stand noch das Woh­nen leis­ten kann.“

Wunsch und Wirk­lich­keit

Al­lein, nicht al­le sind mit der Ent­wi­cklung von Ele­phant & Cast­le zu­frie­den. „Ich le­be schon seit 20 Jah­ren in Lon­don, und Ele­phant & Cast­le war mit sei­nen La­ger­hal­len, In­dus­trie­bra­chen und sei­nen schä­bi­gen Wohn­bau­ten so et­was wie das so­zia­le Ab­stell­gleis im Her­zen der Stadt“, er­zählt Se­bas­ti­an De­an. Er be­treibt die Long­wa­ve Bar, ei­nen mit Holz­bret­tern be­hübsch­ten Bau­con­tai­ner am Ran­de des Bau­stel­len­are­als. Sein Miet­ver­trag läuft in vier Jah­ren aus. „Das war zwar ei­ner­seits pro­ble­ma­tisch, an­de­rer­seits aber auch ei­ne Art Hin­ter­tür für je­ne, die zwar zen­tral le­ben woll­ten, sich aber hoch­prei­si­ge Woh­nun­gen nicht leis­ten konn­ten. Das ist jetzt vor­bei.“

Die Woh­nun­gen, die am Markt an­ge­bo­ten wer­den, wür­den im­mer teu­rer, die Ge­schäf­te im­mer ex­klu­si­ver, die Res­tau­rants im­mer hoch­prei­si­ger, kri­ti­siert De­an, Lo­cken, Bart und Tat­toos am Kör­per. „Für Rand­grup­pen, für un­te­re Ein­kom­mens­schich­ten, für Leu­te wie dich und mich wird Ele­phant & Cast­le in ei­ni­gen Jah­ren tot sein. Ich wer­de weg­zie­hen müs­sen. Das war’s dann.“ Es spre­che nichts ge­gen wirt­schaft­li­che Ent­wi­cklung, so De­an. „Aber hier geht die Gen­tri­fi­zie­rung dann doch ein biss­chen schnell.“

In acht bis zehn Jah­ren wer­den die­se Sor­gen ver­ges­sen sein. Glaubt man den Ren­de­rings, wer­den glü­ckli­che Men­schen Arm in Arm durch die Stadt spa­zie­ren, Kin­der­wa­gen vor sich her­schie­ben und ge­nüss­lich Lat­te Mac­chia­to schlür­fen. Dass die ar­chi­tek­to­ni­sche Qua­li­tät des neu­en Wohng­het­tos zu wün­schen üb­rig lässt, dass die an­ge­peil­te so­zia­le Durch­mi­schung nach heu­ti­ger Ein­schät­zung mehr Wunsch als Wirk­lich­keit zu sein scheint und dass das ge­sam­te Are­al trotz sei­ner Grö­ße oh­ne Mas­ter­plan und Wett­be­werb ab­ge­wi­ckelt wer­den konn­te, wird dann nie­man­den mehr küm­mern.

„Echt? In Ös­ter­reich braucht man Stu­di­en und Wett­be­wer­be, muss die Pro­jek­te von Bei­rä­ten ab­seg­nen las­sen und städ­te­bau­li­che Ver­trä­ge mit der Stadt ein­ge­hen?“, fragt ein Ken­ner der Lon­do­ner Im­mo­bi­lien­bran­che, der nicht ge­nannt wer­den möch­te, er­staunt. „Aber das ist ziem­lich kom­pli­ziert für In­ves­to­ren, oder?“

Der Standard, Sa., 2015.08.01

01. August 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Elefanten und andere Luftschlösser in London

Elephant & Castle ist das neue Hoffnungsgebiet der Investoren. Doch welche Folgen hat die Gentrifizierung auf das letzte noch leistbare Londoner Stadtviertel?

Elephant & Castle ist das neue Hoffnungsgebiet der Investoren. Doch welche Folgen hat die Gentrifizierung auf das letzte noch leistbare Londoner Stadtviertel?

Kräne und Bagger, so weit das Auge reicht. Vom alten Image des Londoner Quartiers Elephant & Castle, früher bekannt für Pubs, Lagerhallen und Betonwohnburgen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, ist kaum noch etwas zu spüren. Nachdem ein Großteil der bestehenden Gebäude, oft soziale Ghetto-Schmelztiegel mit technischen und baulichen Mängeln, in den vergangenen Jahren abgerissen wurde, toben sich nun private Bauträger aus, um das Areal in ein „lebendiges, pulsierendes Wohnviertel in Central London“ zu verwandeln, „in dem es jeder liebt, dazuzugehören“ , wie Rob Heasman, Project Director von Elephant & Castle, dies ausdrückt.

Nach einigen kleineren Wohnhausanlagen von der Stange, die bereits zwischen 2003 und 2009 errichtet wurden, war der 2010 fertiggestellte Strate Tower die erste architektonisch auffallende Landmark, die das Stadtentwicklungsgebiet Elephant & Castle erstmals auf die Landkarte der Investoren katapultierte. Der Projektentwickler Brookfield Multiplex schuf nicht nur ein Wohnhochhaus mit 408 Wohneinheiten, sondern auch ein Windkraftwerk mit ins Gebäude integrierten Windrädern in den letzten Etagen.

Kaum sozialer Wohnbau

Es regnet und windet an diesem Tag, die Räder stehen still, doch der Vermarktung des Objekts hat das High-Tech-Gimmick Rückenwind beschert, von dem viele Konkurrenten nur träumen können. Die obersten Wohnungen waren bereits nach 24 Stunden verkauft, die restlichen konnten binnen vier Tagen komplett verwertet werden. Ein Viertel der Wohnungen firmiert als „affordable housing“, was dem sozialen Wohnbau, wie er in Österreich definiert ist, aber nur vage entgegenkommt.

Die Mieten für eine durchschnittliche Drei-Zimmer-Wohnung liegen bei 300 bis 500 Pfund, also rund 400 bis 700 Euro – pro Woche, wohlgemerkt.

Zu den aktuellen Investoren, die ihr Geld höchst lukrativ verbetonieren, gehören Oakmayne, Delancey, APG und Mace & Essential Living. Ein paar Wohntürme mit 30 bis 40 Stockwerken und freifinanzierte Wohnungen um 8000 Pfund (rund 11.300 Euro) aufwärts sind ebenfalls dabei. Den Löwenanteil jedoch trägt das australische Bauunternehmen Lend Lease. Auf einer Fläche von knapp zehn Hektar, wo früher die Heygate and Rodney Estates standen, sollen bis 2025 rund 2500 Wohnungen in unterschiedlichen Preisklassen entstehen. Das Filetstück von Lend Lease ist der 37-stöckige „One Elephant“ mit 284 Wohnungen. Die Arbeiten sind voll im Gange. Die Fertigstellung des Turms ist für 2016 geplant.

500 Pfund pro Woche

„Wir legen großen Wert darauf, dass hier ein neuer, attraktiver Stadtteil mit einer gewissen sozialen Durchmischung entsteht“, erklärt Alexander Donado, Senior Sales Consultant Development, in seinem Büro mit Blick auf die umliegenden Baustellen. Die Angestellten, dicht an dicht an ihren Schreibtischen gedrängt, sind umgeben von Elefanten, grünen Blättern und allerlei anderen inspirierenden Elementen. „Aus diesem Grund werden wir unterschiedliche Typologien wie ,affordable', ,intermediate' und ,private housing' auf dem gesamten Areal miteinander kombinieren.“ Hinzu kommen eine große Parkanlage mit sozialen und kulturellen Einrichtungen sowie knapp 17.000 Quadratmeter Retailfläche.

Die Wohnmieten werden bei 500 Pfund (rund 700 Euro) pro Woche liegen, die Kaufpreise bei etwa 1000 Pfund (14.000 Euro) pro Quadratmeter. Mit Stolz verweisen Immobilienexperten wie Antonio Marin-Bataller, zuständig für UK Residential Investments bei der deutschen Patrizia Immobilien AG, auf die günstige Lage: „Das ist das einzige Viertel innerhalb der Verkehrszone 1, in dem sich der Mittelstand noch das Wohnen leisten kann.“

High-Speed-Gentrifizierung

Allein, nicht alle sind mit der Entwicklung von Elephant & Castle zufrieden. „Ich lebe schon seit 20 Jahren in London, und Elephant & Castle war mit seinen Lagerhallen, Industriebrachen und seinen schäbigen Wohnbauten so etwas wie das soziale Abstellgleis im Herzen der Stadt“, erzählt Sebastian Dean. Er betreibt die Longwave Bar, einen mit Holzbrettern behübschten Baucontainer am Rande des Baustellenareals. Sein Mietvertrag läuft in vier Jahren aus. „Das war zwar einerseits problematisch, andererseits aber auch eine Art Hintertür für jene, die zwar zentral leben wollten, sich aber hochpreisige Wohnungen nicht leisten konnten. Das ist jetzt vorbei.“

Die Wohnungen, die am Markt angeboten werden, würden immer teurer, die Geschäfte immer exklusiver, die Restaurants immer hochpreisiger, kritisiert Dean, Locken, Bart und Tattoos am Körper. „Für Randgruppen, für untere Einkommensschichten, für Leute wie dich und mich wird Elephant & Castle in einigen Jahren tot sein. Ich werde wegziehen müssen. Das war's dann.“ Es spreche nichts gegen wirtschaftliche Entwicklung, so Dean. „Aber hier geht die Gentrifizierung dann doch ein bisschen schnell.“

Wunsch und Wirklichkeit

In acht bis zehn Jahren werden diese Sorgen vergessen sein. Glaubt man den Renderings, werden glückliche Menschen Arm in Arm durch die Stadt spazieren, Kinderwagen vor sich herschieben und genüsslich Latte Macchiato schlürfen. Dass die architektonische Qualität des neuen Wohnghettos zu wünschen übrig lässt, dass die angepeilte soziale Durchmischung nach heutiger Einschätzung mehr Wunsch als Wirklichkeit zu sein scheint und dass das gesamte Areal trotz seiner Größe ohne Masterplan und Wettbewerb abgewickelt werden konnte, wird dann niemanden mehr kümmern.

„Echt? In Österreich braucht man Studien und Wettbewerbe, muss die Projekte von Beiräten absegnen lassen und städtebauliche Verträge mit der Stadt eingehen?“, fragt ein Kenner der Londoner Immobilienbranche, der nicht genannt werden möchte, erstaunt. „Aber das ist ziemlich kompliziert für Investoren, oder?“

Der Standard, Sa., 2015.08.01

19. Juli 2015Wojciech Czaja
Der Standard

See­gur­ke im Wun­der­land

Der dies­jäh­ri­ge Ser­pen­ti­ne-Pa­vil­lon von Sel­gas­Ca­no spal­tet die Ge­mü­ter. Es ist gei­ßelnd hell und brü­tend heiß. Je­doch: Das bun­te Bau­werk ge­fällt ge­ra­de je­nen, für die es kon­zi­piert wur­de – der Lon­do­ner Be­völ­ke­rung.

Der dies­jäh­ri­ge Ser­pen­ti­ne-Pa­vil­lon von Sel­gas­Ca­no spal­tet die Ge­mü­ter. Es ist gei­ßelnd hell und brü­tend heiß. Je­doch: Das bun­te Bau­werk ge­fällt ge­ra­de je­nen, für die es kon­zi­piert wur­de – der Lon­do­ner Be­völ­ke­rung.

Es hat 37 Grad an die­sem Tag. Aus­nah­me­zu­stand in Lon­don. Und wäh­rend die In­fras­truk­tur zu­sam­men­bricht und die Zü­ge und U-Bah­nen auf­grund des kom­plett über­la­ste­ten Net­zes nur noch mit Tem­po 30 durch den Un­ter­grund zu­ckeln, scheut die bri­ti­sche See­le, leicht un­ter­kühlt in ih­rer kli­ma­ti­schen Na­tur, nicht da­vor zu­rück, sich an ei­nen noch hei­ße­ren, ei­nen noch un­er­träg­li­che­ren Ort zu be­ge­ben.

„Oh, es ist ein­fach wun­der­voll“, sagt San­dra Mil­ler. Die Pen­sio­nis­tin trifft sich ein­mal im Mo­nat mit ih­ren Freun­din­nen zum Frau­en­zir­kel, je­des Mal an ei­nem an­de­ren Ort, die­ses Mal ist es der Ser­pen­ti­ne-Pa­vil­lon in den Ken­sing­ton Gar­dens. Der Schweiß rinnt in Strö­men über ih­re Schmin­ke, über die Haut legt sich ein mal grün­li­cher, mal pin­ker Schlei­er. „Es gibt Ge­bäu­de, die las­sen ei­nen die­sen Som­mer in ge­wis­ser Wei­se wür­di­ger und stil­vol­ler er­tra­gen, das kann ich nicht leug­nen. Aber trotz­dem macht mich die­ses Ding, so­bald ich es be­tre­te, auf ei­ne ganz ei­ge­ne Wei­se glü­cklich. Ich füh­le mich hier an mei­ne Kind­heit er­in­nert.“

Jahr für Jahr lädt die Ser­pen­ti­ne Gal­le­ry Ar­chi­tek­ten und Ar­chi­tek­tin­nen aus al­ler Welt ein, für ei­ne Sai­son ei­nen tem­po­rä­ren, öf­fent­lich zu­gäng­li­chen Pa­vil­lon auf das his­to­ri­sche An­we­sen zu stel­len. Man möch­te dem bri­ti­schen Pu­bli­kum zeit­ge­nös­si­sche Ar­chi­tek­tur, ja ein biss­chen so­gar das un­or­tho­do­xe Den­ken von Räu­men nä­her­brin­gen. Nach wohl­klin­gen­den und be­stens ver­trau­ten Na­men wie et­wa Za­ha Ha­did, Frank Geh­ry, Oscar Nie­mey­er, Da­ni­el Li­be­skind, Je­an Nou­vel und Pe­ter Zum­thor hat man be­reits 2013 be­gon­nen um­zu­den­ken und auch we­ni­ger eta­blier­ten Ar­chi­tek­ten ei­ne Büh­ne zu ge­ben. Mit dem spa­ni­schen und in­ter­na­tio­nal kaum be­kann­ten Bü­ro Sel­gas­Ca­no be­strei­tet man nun das 15-jäh­ri­ge Ju­bi­lä­um der Re­nais­san­ce der Pa­vil­lon-Kul­tur.

Far­ben­fro­hes Sel­fie-Pa­ra­dies

„Wir ha­ben uns da­zu ent­schie­den, in Zu­kunft mit ei­ner jün­ge­ren Ge­ne­ra­ti­on von Ar­chi­tek­ten zu­sam­men­zu­ar­bei­ten. Das macht das Spek­trum der Ge­stal­tung rei­cher und brei­ter“, sagt Em­ma En­der­by, zu­stän­di­ge Ku­ra­to­rin in der Ser­pen­ti­ne Gal­le­ry, die die Pa­vil­lons oh­ne För­de­rung ein­zig und al­lein mit Spon­so­ren­geld­ern fi­nan­ziert. „Die fri­sche und in­no­va­ti­ve Her­an­ge­hens­wei­se an das The­ma Licht, Far­be und Ma­te­ri­al, die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Na­tur und nicht zu­letzt die Ex­pe­ri­men­tier­freu­de zeich­nen die­ses, wie ich mei­ne, ein­zig­ar­ti­ge Ar­chi­tek­tur­bü­ro aus.“

Von au­ßen be­trach­tet liegt der dies­jäh­ri­ge Pa­vil­lon mit sei­nen vier wur­mar­ti­gen Ein- und Aus­gän­gen wie ein wei­ches, amor­phes X, wie ei­ne dop­pelt sia­me­si­sche See­gur­ke aus Ali­ce’ Wun­der­land in der Wie­se. Far­bi­ge, kreis­chend re­gen­bo­gen­bun­te Fo­lien aus ET­FE, ei­ni­ge da­von ge­tupft, an­de­re mit Me­tal­lic-Ef­fekt, schmie­gen sich über weiß la­ckier­te, ge­krümm­te und ge­knick­te Stahl­rah­men. An man­chen Stel­len so­gar ist die Stahl­kons­truk­ti­on mit an Pa­ket­kle­be­band ge­mah­nen­den Plas­tik­schlei­fen um­wi­ckelt. Ein Sel­fie-Pa­ra­dies für Fa­ce­boo­ker und In­sta­gram­mer.

„Mir ge­fällt das Zu­fäl­li­ge, das Un­vor­her­seh­ba­re an die­sem Ge­bil­de“, meint die eng­li­sche Kunst­kri­ti­ke­rin Han­nah Lan­cas­ter. „Es geht von nir­gend­wo nach nir­gend­wo. Man weiß nie, wo der Ein­gang ist, man weiß nie, wo man wie­der her­aus­kommt. Die Pro­jek­te in den Vor­jah­ren wa­ren lang­wei­li­ger. Das heu­ri­ge Pro­jekt je­doch lie­fert den Be­weis, dass Ar­chi­tek­tur rich­tig Spaß ma­chen kann.“ Ver­schwin­det wie­der im Wurm­loch psy­che­de­li­scher Farb­tän­ze und po­si­tio­niert das Smart­pho­ne am En­de des aus­ge­streck­ten Arms. Und klick.

Al­lein, an­ders als in den Vor­jah­ren darf man kei­nen ar­chi­tek­to­ni­schen Blick auf den Pa­vil­lon wer­fen, be­trach­tet es rat­sa­mer­wei­se vom Stand­punkt des Lai­en, des städ­ti­schen Be­woh­ners, des in die­ser sonst so grau­en Stadt nach Far­ben­rausch trach­ten­den Glücks­rit­ters. Ver­ges­sen sol­len sie sein, all die ge­bas­tel­ten De­tails, all die zu­ge­knif­fe­nen Au­gen im gei­ßeln­den Licht der tau­send­fach ref­lek­tier­ten Son­ne, all die schweiß­trei­ben­den Mi­nu­ten un­ter dem Bal­da­chin des Plas­tik­fo­lie­nin­fer­nos.

„Ich mag mei­nen Job, aber hier zu ar­bei­ten ist ei­ne rich­ti­ge Her­aus­for­de­rung“, sagt Kit­ty Roe. Sie steht an der Bar und ver­kauft Ge­trän­ke an Be­su­che­rin­nen und Be­su­cher. Die Was­ser­fla­schen ge­hen in die­sem Jahr hek­to­li­ter­wei­se über die Schank. „Ich muss zu­ge­ben, dass ich heu­er sehr ent­täuscht bin“, meint An­drew Sta­ple­hurst, der aus den Mid­lands ex­tra nach Lon­don ge­reist ist, um den Pa­vil­lon zu be­su­chen. „Das gan­ze Ding sieht schä­big aus, so als ob man es not­dürf­tig re­pa­riert hät­te. Muss denn Tem­po­rä­res wirk­lich so tem­po­rär aus­se­hen?“ Und The Gu­ar­di­an schreibt in sei­ner Kri­tik gar: „Es ist, als hät­te man ei­nen Clown für ei­ne Kin­der­par­ty or­ga­ni­siert, und dann stellt sich her­aus, dass die­ser gar nicht so lus­tig ist, wie man dach­te.“

Ex­pe­ri­men­tie­ren muss sein

Die Ar­chi­tek­ten Sel­gas­Ca­no stört die­se Kri­tik nicht im Ge­ring­sten. „Das ist kein fer­ti­ges Ge­bäu­de, son­dern mehr ei­ne Skiz­ze für et­was, das sich da­raus ei­nes Ta­ges ent­wi­ckeln könn­te“, er­klärt Jo­sé Sel­gas, der das Bü­ro ge­mein­sam mit sei­ner Part­ne­rin Lu­cía Ca­no be­treibt. „Wir ar­bei­ten ger­ne mit neu­en Ma­te­ria­li­en und neu­en Fer­ti­gungs­me­tho­den. Fort­schritt und über den Tel­ler­rand bli­cken ... das ist un­se­rer Mei­nung nach ei­ne der es­sen­ziel­len Auf­ga­ben der Ar­chi­tek­tur.“

Auch die an­de­ren Pro­jek­te von Sel­gas­Ca­no – da­run­ter et­wa ein Ska­te­park und Ju­gend­zen­trum in Mé­ri­da, ein Kon­fe­renz­zen­trum in Pla­sen­cia so­wie ihr ei­ge­nes, halb im Wald­bo­den ein­ge­grab­enes Ar­chi­tek­tur­bü­ro in der Nä­he von Ma­drid – sind im­mer wie­der Ex­em­pel für das Neue, für das noch nie da Ge­we­se­ne in der Ar­chi­tek­tur. Plas­tik in all sei­nen che­mi­schen und for­ma­len Er­schei­nungs­for­men spielt da­bei ei­ne wich­ti­ge Rol­le. „Ex­pe­ri­men­tie­ren ist der Schlüs­sel in die Zu­kunft“, sagt Sel­gas. Auch wenn das Er­geb­nis, wie The Gu­ar­di­an schreibt, wie ein mü­der, zu­sam­men­ge­sack­ter Luft­bal­lon da­her­kommt.

Der dies­jäh­ri­ge Ser­pen­ti­ne-Pa­vil­lon spal­tet die Ge­mü­ter. Es ist ei­ne Ar­chi­tek­tur, die dem Kol­lek­tiv gut ge­fällt, wäh­rend sie das ar­chi­tek­to­ni­sche, hoch­kul­tu­rel­le Es­ta­blish­ment schau­de­rhaft zu ver­stö­ren weiß. Und das ist gut so. Ge­ra­de in ei­ner Stadt wie Lon­don, die sich tra­di­tio­nell und mehr denn je seit That­cher dem Dik­tat der Pri­va­ti­sie­rung, des Aus­ver­kaufs des öf­fent­li­chen Raums und der mit­un­ter bru­ta­len Ab­kehr je­des Wohl­fahrts­ge­dan­kens un­ter­wor­fen hat, kommt die­ses lus­ti­ge, hu­mor­vol­le und auch ir­gend­wo ge­nuss­vol­le Gu­te-Lau­ne-Na­tur­ell gut zu ste­hen. Die Lon­do­ner Be­völ­ke­rung hat be­wie­sen, dass das Kon­zept auf­geht.

Der Standard, So., 2015.07.19

27. Juni 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Hin­ter Dis­ne­ys Gar­di­nen

Kon­zern­chef statt Bürg­er­meis­ter. Ein Re­gel­buch fürs Bau­en und Woh­nen. Und 100 Dol­lar Stra­fe für den fal­schen Vor­hangs­toff im Fens­ter. Zu Be­such in Walt Dis­ne­ys to­tal über­wach­ter Re­tor­tens­tadt Ce­le­brat­ion, Flo­ri­da.

Kon­zern­chef statt Bürg­er­meis­ter. Ein Re­gel­buch fürs Bau­en und Woh­nen. Und 100 Dol­lar Stra­fe für den fal­schen Vor­hangs­toff im Fens­ter. Zu Be­such in Walt Dis­ne­ys to­tal über­wach­ter Re­tor­tens­tadt Ce­le­brat­ion, Flo­ri­da.

„Es ist gut, hier zu le­ben“, sagt Kat­hy Carl­son. „Die Stadt ist fuß­gän­ger­freund­lich und sehr si­cher, es gibt vie­le Kir­chen, ei­nen hüb­schen See in der Mit­te und ei­ne wun­der­ba­re At­mo­sphä­re in den Stra­ßen. Doch am meis­ten schät­ze ich un­se­ren aus­ge­präg­ten Ge­mein­schafts­sinn, der uns al­le ver­bin­det.“ Erst un­längst ha­be die Com­mu­ni­ty ei­ner Be­wohn­erin zum 100. Ge­burts­tag ein elek­tri­sches Vier­rad ge­schenkt. Die La­dy sei ganz au­ßer sich ge­we­sen. Jetzt kön­ne sie end­lich wie­der ak­tiv am All­tag teil­ha­ben.

Ce­le­brat­ion, nur we­ni­ge Mei­len von der Walt Dis­ney World Or­lan­do ent­fernt, ist ei­ne Bil­der­buch­klein­stadt, ein So­zi­al­ex­pe­ri­ment, ei­ne uto­pi­sche Re­tor­te aus der Fe­der des Trick­film­kon­zerns Dis­ney. Wer hier woh­nen möch­te, der muss sich den Spiel­re­geln des pri­vat­wirt­schaft­li­chen Gi­gan­ten un­ter­ord­nen. Und die­se se­hen nicht nur vor, in wel­cher Far­be das Haus gest­ri­chen ge­hört, son­dern auch, wie hoch der Ra­sen ge­mäht sein muss und wie die Vor­hän­ge und Gar­di­nen aus­zu­se­hen ha­ben. Schließ­lich sind auch die­se Teil der un­er­bitt­lich nach­hal­ti­gen, op­ti­schen Har­mo­nie. Dem­nächst be­geht Ce­le­brat­ion sein 20-Jahr-Ju­bi­lä­um. Die Fei­er­lich­kei­ten sind be­reits in Pla­nung.

„Wis­sen Sie, das ist kei­ne Stadt für je­den Ge­schmack“, sagt Kat­hy, die in der Ce­le­brat­ion Ave­nue ein Mak­ler­bü­ro be­treibt. Ima­gi­na­ti­on Re­al­ty heißt ih­re Im­mo­bi­lien­welt. Sie ist kurz an­ge­bun­den. In we­ni­gen Mi­nu­ten muss sie wie­der los, um ih­rer Kun­din ein Haus auf­zu­sper­ren. „Wer hier­her­zieht, der weiß ganz ge­nau, wo­rauf er sich ein­lässt. Und das ist auch gut so, denn so bleibt der schö­ne Cha­rak­ter der Stadt, so blei­ben die tra­di­tio­nel­len Wer­te er­hal­ten. Sa­gen Sie selbst! Sieht es hier nicht aus wie in Sa­van­nah oder wie in Charles­ton?“

Un­kraut ent­fernt?

Über der Mar­ket Street, der zen­tra­len, wie­wohl nur 100 Me­ter lan­gen Fuß­gän­ger­zo­ne in der Downt­own, hän­gen Dut­zen­de von Ka­me­ras. Ver­trau­en ist gut, Vi­deoü­ber­wa­chung ist bes­ser. Täg­lich rückt ein so­ge­nann­tes Com­pli­an­ce Te­am aus, um in den Stra­ßen und Vor­gär­ten nach dem Rech­ten zu se­hen: Ist das Haus sau­ber? Ist das Un­kraut ent­fernt? Sitzt die Lat­te wie­der pro­per im Zaun? Ist die Fass­ade, nach­dem die Süd­sei­te so stark aus­ge­bli­chen war, nun end­lich frisch gest­ri­chen?

Die Da­men und Her­ren, die mit Ar­gu­sau­gen durch die eng ge­kurv­ten Stra­ßen rol­len, sind Teil der Ce­le­brat­ion Re­si­den­ti­al Ow­ners As­so­cia­ti­on (CROA). Sie no­tie­ren Auf­fäl­lig­kei­ten, do­ku­men­tie­ren Schä­den und for­dern im Be­darfs­fall die Be­wohn­er­in­nen und Be­woh­ner zur In­stands­et­zung auf.

Wer die­ser Ein­la­dung bis zu ei­ner ver­trag­lich fest­ge­setz­ten Frist nicht Fol­ge leis­tet, wird zur Kas­se ge­be­ten. Pro Tag in Ver­zug sind 100 Dol­lar Stra­fe fäl­lig. Nach 50 Ta­gen und er­go 5000 Dol­lar Schul­de­nan­häu­fung ist Schluss. Dann wird das Ge­richt ein­ge­schal­tet.

„Kei­ne Sor­ge, das pas­siert nicht oft“, meint Scott Nelms, Ar­chi­tekt im ört­li­chen Bü­ro Loo­ney Ricks Kiss (LRK). Er ist ei­ner der Ma­cher der Häu­ser im vik­to­ria­ni­schen, fran­zö­si­schen, me­di­ter­ra­nen, ko­lo­nia­len oder ein­fach nur klas­si­schen Stil. Die­se fünf Bau­kas­ten­sys­te­me sind es, die dem Käu­fer zur Wahl ste­hen. Fass­ade, Holz­lat­ten­brei­te und Fens­ter­rah­men­de­sign sind im Ce­le­brat­ion Pat­tern Book, ei­ner Art Bau­bi­bel, ge­nau fest­ge­hal­ten. „Na­tür­lich ist der Gar­ten manch­mal nicht sehr ge­pflegt, na­tür­lich tanzt mal je­mand aus der Rei­he, in­dem er sein Haus pink oder blau streicht, aber mei­ne Er­fah­rung ist, dass man sich in der Re­gel zu ei­ni­gen ver­sucht. Die Aus­brü­che hal­ten sich in Gren­zen.“

In der Mar­ket Street rie­seln idyl­li­sche Spa- und Kla­vier­klän­ge aus den Bo­xen. Der mu­si­ka­li­sche Schlei­er soll da­rü­ber hin­weg­täu­schen, dass die Stadt seit der Fi­nanz­markt­kri­se 2008 kon­ti­nui­er­lich schrumpft. Es wa­ren schon mal 11.000 Ein­woh­ner, jetzt sind es 7000. Rea­ding Trout Books, der ein­zi­ge Buch­la­den weit und breit, hat be­reits dicht­ge­macht. Auch das Ki­no, das sich wie die ge­sam­te In­nens­tadt seit 2004 in Be­sitz der New Yor­ker Be­treib­er­fir­ma Le­xin Ca­pi­tal LLC be­fin­det, muss­te schlie­ßen. Man schaut sich be­reits nach ei­ner lu­kra­ti­ven Al­ter­na­tiv­nut­zung um, heißt es auf An­fra­ge bei Ima­gi­na­ti­on Re­al­ty.

Je­des Mit­tel ist recht, um neue Kon­su­men­ten nach Ce­le­brat­ion zu lo­cken. Von Be­wohn­ern kann man in ei­ner Stadt, die kei­nen Bürg­er­meis­ter hat, son­dern von De­le­gier­ten des Dis­ney-Kon­zerns ge­lenkt und über­wacht wird, kaum spre­chen. Zu Weih­nach­ten schneit es über der Fuß­gän­ger­zo­ne Flo­cken von Ra­sier­schaum auf den Bo­den. Der ein­zi­ge Schnee weit und breit. „Ce­le­brat­ion. Der Ort, nach dem Ih­re See­le ge­sucht hat“, steht auf ei­ner Im­mo­bi­lien­schau­ta­fel an der Stadt­ein­fahrt. Un­wei­ger­lich fühlt man sich an Die Frau­en von Step­ford und an den all­mäh­lich Ver­dacht schöp­fen­den, Un­bill ah­nen­den Jim Car­rey ali­as Tru­man Bur­bank in der Tru­man Show er­in­nert.

„Na­tür­lich han­delt es sich da­bei um ei­ne Il­lu­si­on“, schreibt Nao­mi Klein in ih­rem 500-sei­ti­gen Best­sel­ler No Lo­go! . „Die Fa­mi­li­en, die Ce­le­brat­ion zu ih­rem Wohn­ort er­ko­ren ha­ben, sind die Er­sten, die ein Le­ben im Zei­chen der Mar­ke füh­ren.“ Und die Wie­ner So­zio­lo­gin An­et­te Bal­dauf meint gar, Ce­le­brat­ion sei das „wahr­schein­lich in­fams­te Stadt­pla­nungs­ex­pe­ri­ment des aus­lau­fen­den 20. Jahr­hun­derts“. Doch wa­rum seh­nen sich so vie­le Men­schen nach ei­nem Le­ben in der Lü­ge? In der Hand der Mäch­ti­gen? Im Dik­tat der om­ni­prä­sen­ten US-ame­ri­ka­ni­schen und längst schon glo­bal agie­ren­den Pri­vat­wirt­schaft?

„Die kom­mer­ziell über­wach­ten Mo­nos­truk­tu­ren sind nichts an­de­res als die lo­gi­sche Fol­ge der Sub­urbs und der jahr­zehn­te­lan­gen Stadt­pla­nung, die je­de kul­tu­rel­le Iden­ti­tät der Pe­ri­phe­rie in den Or­bit des Plu­to ver­bannt hat“, sagt der ka­li­for­ni­sche So­zio­lo­ge und His­to­ri­ker Mi­ke Da­vis im Ge­spräch mit dem Stan­dard . „Wir sind es schon längst ge­wohnt, uns der Kon­trol­le und Über­wa­chung durch an­de­re un­ter­zu­ord­nen. Das macht die Kom­ple­xi­tät der Stadt sim­pler und leich­ter ver­ständ­lich.“

Die ei­gent­li­che Ge­fahr der Di­gi­ta­li­sie­rung, der Ro­bo­ti­sie­rung und der zu­neh­men­den Da­ten­spei­che­rung welt­weit, so Da­vis, sei nicht die künst­li­che In­tel­li­genz oder der Kampf zwi­schen Mensch und Ma­schi­ne. „Um das zu glau­ben, bin ich wohl zu alt und zu stark im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert ver­haf­tet. Die ei­gent­li­che Ge­fahr näm­lich, der wir aus­ge­lie­fert sind, ist die Dua­li­tät der im­mer mäch­ti­ger wer­den­den Me­dien und Kon­zer­ne und der im­mer schwä­cher wer­den­den per­sön­li­chen po­li­ti­schen Stim­me.“

Vom Über­wa­chungs­kon­zern zum Über­wa­chungs­staat ist es nur ein klei­ner Schritt. Die welt­weit höch­ste Dich­te an Vi­deo­ka­me­ras gibt es in Lon­don. Die meis­ten Au­gen lau­ern im vir­tu­el­len Raum. Ce­le­brat­ion ist über­all. „Ach, die Ka­me­ras da oben … Nein, da ma­che ich mir kei­ne Sor­gen. Die die­nen nur zu un­se­rer per­sön­li­chen Si­cher­heit“, meint ei­ne Mut­ter, die ih­ren Kin­der­wa­gen durch die Mar­ket Street schiebt. „Das ist es, was ich an die­ser Stadt schät­ze. Man ist un­ter sich, und es ist al­les in Ord­nung.“

Der Standard, Sa., 2015.06.27

13. Juni 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Kein Gramm Fett

Das un­ter­ir­di­sche Mu­se­um Li­au­nig im kärnt­ne­ri­schen Neu­haus ist um ein paar Räu­me rei­cher. Es re­giert die nack­te Ge­walt von Licht und Be­ton – und von fünf Se­kun­den Echo.

Das un­ter­ir­di­sche Mu­se­um Li­au­nig im kärnt­ne­ri­schen Neu­haus ist um ein paar Räu­me rei­cher. Es re­giert die nack­te Ge­walt von Licht und Be­ton – und von fünf Se­kun­den Echo.

Rau­chen strengs­tens ver­bo­ten. Kunst dul­det kei­nen Qualm. Doch die Na­sen­här­chen sind ein we­nig ir­ri­tiert an­ge­ruchs der hier vor­ge­fun­de­nen Ta­bak­kon­zen­tra­ti­on. Über das ge­sam­te Mu­se­um legt sich ein be­tö­ren­der Schlei­er von ku­ba­ni­schem Zi­gar­ren­rauch. Her­bert Li­au­nig ist zu­ge­gen. Er sitzt im Foy­er und ge­nießt den gei­ßeln­den Son­nen­schein an die­sem früh­som­mer­li­chen Nach­mit­tag auf sei­ne Art und Wei­se. „Mit dem Es­sen kommt der Ap­pe­tit“, sagt Li­au­nig. „Die Samm­lung wur­de im­mer grö­ßer und grö­ßer, und so war es un­aus­weich­lich, dass das Mu­se­um ei­nes Ta­ges er­wei­tert wer­den muss­te.“

Vor rund ei­nem Mo­nat ging das nun­mehr von 5000 auf 7500 Qua­drat­me­ter ver­grö­ßer­te, un­ter­ir­di­sche Pri­vat­mu­se­um in Neu­haus/Su­ha in Be­trieb. Wo sich frü­her Kä­fer und Re­gen­wür­mer durch das Er­dreich fra­ßen, hän­gen nun Aqua­rel­le und Öl­ge­mäl­de des iri­schen Ma­lers Se­an Scul­ly. Mit sei­nen pas­to­sen, schwarz-weiß-grau­en und ge­deckt bun­ten Strei­fen und Bal­ken, die er auf die Lein­wand bannt, bringt er Far­be in den Raum. „Welt­an­eig­nung“ nennt Scul­ly die­se Ver­schmel­zung von Licht und Me­lan­cho­lie.

Mit dem dreie­cki­gen Raum, der gleich ne­ben dem Foy­er ab­zweigt, hat Li­au­nig nun erst­mals auch ei­ne Büh­ne für Leih­ga­ben und Wech­sel­aus­stel­lun­gen – und für Le­sun­gen, Kon­zer­te, di­ver­se Ver­an­stal­tun­gen wel­chen For­mats auch im­mer. „Wir möch­ten uns jetzt et­was brei­ter auf­stel­len und ei­nen viel­fach nutz­ba­ren Raum zur Ver­fü­gung stel­len, in dem Kul­tur statt­fin­den kann“, so Li­au­nig. Die Akus­tik ist wun­der­bar. Wenn hier ei­nes Ta­ges Pe­ter Hand­ke aus ei­nem sei­ner Bü­cher le­sen wer­de, so der Plan, dann wird er dies oh­ne Ver­stär­kung tun kön­nen.

Fünf Me­ter über dem Bo­den pfei­fen rie­si­ge, bis zu 35 Me­ter lan­ge Stahl­be­ton­trä­ger durch den Raum. Ein biss­chen er­in­nert die­se ro­he, un­ver­blüm­te Me­gast­ruk­tur an der Drau an die Bau­ten von Pe­ter Ei­sen­man, Lou­is Kahn, Le Cor­bu­sier. „Wir woll­ten den Raum nackt und un­ver­klei­det be­las­sen“, sagt Ja­kob Dunkl von quer­kraft ar­chi­tek­ten. „Da­mit kommt der ar­chai­sche Cha­rak­ter die­ses Ge­bäu­des, das ja fast zur Gän­ze in der Er­de drins­teckt, bes­ser zur Gel­tung. Es gibt kei­nen Un­ter­schied zwi­schen Roh­bau und fer­ti­gem Haus.“ Hält kurz in­ne. Und dann, druck­reif: „Kein Gramm Fett.“

Die ma­te­riel­le Ab­spe­ckungs­kur hat nicht nur räum­li­che und ge­stal­te­ri­sche Grün­de, son­dern ist nicht zu­letzt dem Por­te­mon­naie ge­schul­det. Der Un­ter­neh­mer und Kunst­samm­ler Li­au­nig ist kei­ner, der sich all­zu oft in sei­nen Spen­dier­ho­sen zeigt. Und so ver­wun­dert es nicht, dass die Net­to­bau­kos­ten für den Er­wei­te­rungs­bau mit 1500 Eu­ro pro Qua­drat­me­ter kei­nen Cent über dem ur­sprüng­li­chen, 2008 er­rich­te­ten Ur­mu­se­um lie­gen durf­ten. Das Ge­samt­in­ves­ti­ti­ons­vo­lu­men be­läuft sich auf 5,5 Mil­lio­nen Eu­ro.

Wa­rum bloß drei E­cken?

Doch wa­rum bloß drei E­cken? „Wir wa­ren zu Be­ginn auch ein we­nig skep­tisch“, meint Dunkl. Dreie­cki­ge Aus­stel­lungs­räu­me sei­en nicht ge­ra­de all­täg­lich im Mu­se­ums­bau. „Al­ler­dings hat ein Drei­eck bei gleich blei­ben­der Flä­che un­ter den ein­fa­chen euk­li­di­schen Grund­for­men den größ­ten Um­fang. So ge­se­hen kann man bei gleich blei­ben­den Bau­kos­ten mehr Bil­der an die Wand hän­gen.“ Das hat den Haus­herrn über­zeugt.

Orts­wech­sel. Et­was wei­ter drin im Berg. Über ei­nen mehr als 50 Me­ter lan­gen Kor­ri­dor ge­langt man in die neue Glas- und Mi­nia­tur­samm­lung. Ram­pen ge­hen auf und ab, man ver­liert nicht nur die Orien­tie­rung im Raum, son­dern auch das Ge­fühl für die be­reits zu­rück­ge­leg­ten Hö­hen­schicht­li­ni­en. Die In­stal­la­ti­on der ös­ter­rei­chi­schen Künst­le­rin Est­her Sto­cker, die den Gang an Bo­den, Wand und De­cke schwarz-weiß ge­pi­xelt hat, tut ein Üb­ri­ges. Um­so er­nüch­tern­der sind dann die bei­den Aus­stel­lungs­räu­me mit Tep­pich­bo­den und Vi­tri­nen, in de­nen Glas­ar­bei­ten und im Mil­li­me­ter­be­reich aqua­rel­lier­te Por­träts aus dem Zeit­raum von 1500 bis 1800 prä­sen­tiert wer­den.

Ein Highl­ight ist da­für die Skulp­tu­ren­hal­le ne­ben­an. Der kreis­run­de, ar­chaisch be­to­nier­te Raum, der be­reits 2011 er­rich­tet wur­de, dien­te bis zu­letzt als La­ger­raum für Plas­ti­ken und Land­ma­schi­nen und Trak­to­ren. Heu­te ist der ein­sti­ge Ab­stell­raum, des­sen Geo­me­trie und Bau­wei­se tra­di­tio­nel­len Gä­rungs­be­häl­tern nach­emp­fun­den ist und der sich an der Ober­flä­che wie ein über­di­men­sio­na­ler Maul­wurfs­hü­gel durch den Gras­tep­pich wölbt, öf­fent­lich zu­gäng­lich.

Fünf Se­kun­den Nach­hall­zeit

Zeit­ge­nös­si­sche Fi­gu­ren ste­hen frei im Raum. Fast pant­heong­leich strömt von oben das Licht in den Be­häl­ter. „Spä­ter ein­mal“, sagt Haus­tech­ni­ker Rein­hold Ja­mer, er kennt das Haus in- und aus­wen­dig, „sol­len hier Kon­zer­te und Ge­sangs­aben­de auf­ge­führt wer­den. Das wird wirk­lich dra­ma­tisch wer­den, da­rauf freue ich mich schon.“ Fünf Se­kun­den be­trägt die Nach­hall­zeit. Sa­kra­le Di­men­sio­nen tun sich da auf. Im De­zem­ber 2012 wur­de das Mu­se­um Li­au­nig, nur vier Jah­re nach Fer­tigs­tel­lung, als jüngs­tes ös­ter­rei­chi­sches Ob­jekt al­ler Zei­ten un­ter Denk­mal­schutz ge­stellt. Die Grün­de da­für mö­gen viel­fäl­tig ge­we­sen sein. Als sei­ne per­sön­li­che Mo­ti­va­ti­on je­doch nennt Haus­herr Li­au­nig den Schutz des Hau­ses über sei­nen Tod hin­aus: „Nach­dem Günt­her Do­me­nig ge­stor­ben ist, war mei­ne größ­te Be­fürch­tung, dass das von ihm ge­plan­te Stein­haus am Os­sia­cher See in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten könn­te. Das wä­re scha­de ge­we­sen. Der Denk­mal­schutz ist ei­ne ge­wis­se Ge­währ, dass das nicht pas­siert.“

Schon jetzt wach­te das Bun­des­denk­mal­amt mit Ar­gu­sau­gen über das Er­wei­te­rungs­pro­jekt der mit dem Pro­jekt wohl be­stens ver­traut ge­we­se­nen Haus- und Ho­far­chi­tek­ten quer­kraft. Wei­te­re Zu­bau­ten wer­den nur un­ter größ­ter An­stren­gung mög­lich sein. „Das wird nicht nö­tig sein“, sagt der Zi­gar­re paf­fen­de Kunst­samm­ler. „Das Mu­se­um ist jetzt groß ge­nug.“ Näch­stes Jahr soll der in die Land­schaft ein­ge­las­se­ne Skulp­tu­ren­gar­ten er­öff­net wer­den. Die Bau­stel­le hat be­reits be­gon­nen. Da­mit wird das Werk Li­au­nig ab­ge­schlos­sen sein.

Be­sich­ti­gungs­zei­ten:
Mitt­woch bis Sonn­tag 10 bis 18 Uhr.

Ge­öff­net bis 31. Ok­to­ber

Der Standard, Sa., 2015.06.13



verknüpfte Bauwerke
Museum Liaunig

06. Juni 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Ba­de­ho­se und Bau­stel­le

In Lon­don fällt neu­er­dings nicht nur das Wet­ter ins Was­ser. Im King’s Cross Pond kann man in­mit­ten von Bag­gern und Krä­nen ein Bad in ei­nem Kunst­werk von Mar­je­ti­ca Potrč neh­men. Ein frös­teln­der Lo­ka­lau­gen­schein.

In Lon­don fällt neu­er­dings nicht nur das Wet­ter ins Was­ser. Im King’s Cross Pond kann man in­mit­ten von Bag­gern und Krä­nen ein Bad in ei­nem Kunst­werk von Mar­je­ti­ca Potrč neh­men. Ein frös­teln­der Lo­ka­lau­gen­schein.

Kalt. Ver­dammt kalt. 14,2 Grad Cel­si­us kalt, um ge­nau zu sein. Und wäh­rend der ge­sam­te Kör­per lang­sam von ei­ner pri­ckeln­den Taub­heit über­zo­gen wird, dre­hen sich im Him­mel ein Dut­zend Bau­krä­ne im Kreis, mit an den Ha­ken baum­eln­den Stahl­trä­gern, Be­ton­fer­tig­tei­len und glä­sern glit­zern­den Fass­ade­ne­le­men­ten. Grü­ne Gras­hal­me, die wa­cker dem stür­mi­schen Lon­do­ner Sau­wet­ter trot­zen, brin­gen et­was Grün in die­ses von Lärm, Staub und Ze­ment durch­wühl­te Am­bien­te. Ir­gend­wo da­zwi­schen, quak, hört man im Schilf die Hei­mat der jüngs­ten Be­woh­ner.

King’s Cross, die­ses ab­ge­schnitt­ene, von Glei­sen durch­zo­ge­ne Stück Stadt hin­ter dem gleich­na­mi­gen Bahn­hof im Nor­den der In­nens­tadt, ist ei­nes der größ­ten Stadt­ent­wi­cklungs- und Stadt­ver­dich­tungs­ge­bie­te Lon­dons. Wo einst Gas­ome­ter, Fa­bri­ken und La­ger­hal­len stan­den, ent­steht nun ein Grät­zel mit Kunst und Kul­tur, mit Uni­ver­si­tät, Woh­nen, Bü­ros und vie­len schö­nen Frei­räu­men ent­lang des Re­gent’s Ca­nal. Die Ini­tia­ti­ve da­für kommt nicht et­wa von der öf­fent­li­chen Hand, son­dern von pri­va­ten, ge­winn­orien­tier­ten In­ves­to­ren, die seit Mar­ga­ret That­cher in Lon­don das Sa­gen ha­ben. Auf ins­ge­samt 27 Hek­tar Flä­che to­ben sie sich mit ih­ren Pro­jek­ten aus.

Ein paar Tem­pi noch. End­lich spürt man wie­der sei­ne ei­ge­nen Glied­ma­ßen im Nass. Ei­ner der hier um­trie­bigs­ten Im­mo­bi­lien­ent­wi­ckler, die 1981 ge­grün­de­te Ar­gent LLP, die kur­zer­hand selbst ei­ne der erst kürz­lich von ihr re­vi­ta­li­sier­ten Fa­briks­hal­len in King’s Cross be­zog, wünsch­te sich für die Mit­te des neu­en Stadt­quar­tiers et­was Be­son­de­res und lud die slo­we­ni­sche Künst­le­rin Mar­je­ti­ca Potrč da­zu ein, ihr die­sen Wunsch zu er­fül­len. Potrč, ei­ne Meis­te­rin des Ver­stö­rens, zö­ger­te nicht lan­ge und schlug ih­ren Auf­trag­ge­bern ei­nen öko­lo­gi­schen, na­tur­be­las­se­nen Schwimm­teich vor. Mit­te Mai wur­de die feucht-fröh­li­che At­trak­ti­on „Of So­il and Wa­ter: King’s Cross Pond Club“, so der of­fi­ziel­le Ti­tel, er­öff­net.

„Ich fin­de es span­nend, die Na­tur zu in­sze­nie­ren“, sagt die 62-Jäh­ri­ge. „Vor al­lem hier, in King’s Cross mit sei­nem Ka­nal und sei­nen vie­len Bau­stel­len, spie­len Was­ser und Er­de ei­ne wich­ti­ge Rol­le. In ge­wis­ser Wei­se ist die­ses Pro­jekt in­mit­ten des Bau­stel­len­thea­ters ei­ne Art leicht er­ho­be­ne Büh­ne für die Na­tur und für die Schwim­mer. Das Haupt­au­gen­merk gilt der Ba­lan­ce und der Ko­exis­tenz die­ser bei­den Pro­ta­go­nis­ten.“

230 Qua­drat­me­ter misst das nie­ren­för­mi­ge Be­cken, ei­ne Art rot-weiß ge­streift um­ran­de­te Boh­ne in­mit­ten von Bag­gern und Krä­nen. Teich­ro­sen, Bach­min­zen, Was­ser­ster­ne, Stern­mie­ren, Laich­kraut, Was­ser­kraut, Zy­perng­ras und Tan­nen­we­deln sor­gen da­für, dass das Was­ser auf na­tür­li­chem We­ge ge­fil­tert und mit Sau­er­stoff ver­sorgt wird. Al­gen, Phy­to­plank­ton und di­ver­se an­de­re Mi­kro­or­ga­nis­men er­le­di­gen den Rest. Auf die­se Wei­se kann auf Chlor und che­mi­sche Fil­tra­ti­on des Was­sers gänz­lich ver­zich­tet wer­den.

Vor der Kunst bit­te du­schen

Klir­rend kalt. Das Blut schießt ei­nem durch die Adern. Die Re­zep­tur für das Bio-Schwimm­be­cken stammt von King­com­be Aqua­ca­re, dem bri­ti­schen Part­ner des ös­ter­rei­chi­schen Un­ter­neh­mens Bio­top. „Das Öko­sys­tem ist sehr fra­gil“, sagt John Col­ton, Ge­schäfts­füh­rer von King­com­be. „In ge­wis­ser Wei­se ver­su­chen wir, in die­sem künst­li­chen, mit Re­cyc­ling-Plas­tik­pla­nen aus­ge­klei­de­ten Teich die Spiel­re­geln von Mut­ter Na­tur nach­zu­emp­fin­den. Wenn man auch nur ei­nen Bruch­teil da­ran ve­rän- dert, könn­te das ge­sam­te Sys­tem kip­pen.“

Da­mit das nicht pas­siert, ist die An­zahl der Be­su­cher li­mit­iert. „Ma­xi­mal 40 Men­schen im Was­ser, mehr geht nicht“, sagt Ga­vin Roo­ney (33) ro­tes Bay­watch-T-Shirt am Leib, im tief­sten Cock­ney. Er ist Li­fe-Gu­ard und küm­mert sich da­rum, dass die Dos and Don’ts ein­ge­hal­ten wer­den. „In ei­nem Mu­se­um darf man auch nicht je­des Bild an­grei­fen, wenn ei­nem da­nach ist, oder? Zu den Be­nimm­re­geln für die­ses Kunst­werk ge­hört eben, dass man vor dem Schwim­men du­schen muss. Und bit­te auch nicht rein­pin­keln! Man muss Kunst und Na­tur ja nicht gleich über­for­dern.“

Pro Tag kom­men an die 100 bis 120 Schwim­mer zum Pond. Auch bei Wind und Wet­ter wie zu die­ser un­er­bitt­li­chen Stun­de. Es stürmt. „Die meis­ten un­se­rer Be­su­cher sind Bu­si­ness­leu­te vor Ar­beits­be­ginn oder in der Mit­tags­pau­se, Stu­den­ten, Pen­sio­nis­ten und ab­ge­brüh­te Eis­bä­ren, die sich vor dem kal­ten Was­ser nicht scheu­en“, er­zählt Ga­vin. Manch­mal kom­men auch die Bau­ar­bei­ter von ne­ben­an, tau­schen für ein paar Mi­nu­ten Blau­mann ge­gen Ba­de­ho­se. „Und im­mer öf­ter ha­ben wir Be­such von den Eu­ros­tar-Ge­schäfts­rei­sen­den aus Deutsch­land und Frank­reich, die in St. Pan­cras an­kom­men, nur we­ni­ge Schrit­te von hier.“

Paul Whi­te­he­ad ist ei­ner von ih­nen. Der 60-Jäh­ri­ge trägt Po­los­hirt und Son­nen­bril­le. Vol­ler Op­ti­mis­mus blickt er in die dun­kel­grau­en Wol­ken hoch. „Ich woh­ne an der Küs­te und bin 365 Ta­ge im Jahr im Meer“, sagt er. Das sei gut fürs Im­mun­sys­tem. „Jetzt ha­be ich end­lich auch in Lon­don die Mög­lich­keit, mei­nem täg­li­chen Ri­tu­al nach­zu­ge­hen. Ich fin­de den King’s Cross Pond groß­ar­tig. Das ist ei­ne für Lon­don ganz neue Out­door-Kul­tur, die hof­fent­lich noch vie­le Nach­ah­mer fin­den wird.“ Und er ver­schwin­det in der rot-weiß ge­streif­ten Um­klei­de­ka­bi­ne.

Die nack­te De­mo­kra­tie

Der King’s Cross Pond ist der er­ste künst­lich ge­schaf­fe­ne Na­tur­teich in ganz Groß­bri­tan­nien. Ei­ne er­fri­schen­de Pre­mie­re. Doch was ist der künst­le­ri­sche Aspekt an die­sem Pro­jekt? „Es geht um den Kon­text“, sagt Eva Pfan­nes vom Rot­ter­da­mer Bü­ro Oo­ze Ar­chi­tects. Schon seit vie­len Jah­ren un­ter­stützt sie Mar­je­ti­ca Potrč in der Pla­nung ih­rer Kunst­pro­jek­te. „In der Ba­de­ho­se zeigt man sich nackt und ver­letz­lich, und das in­mit­ten ei­ner der größ­ten Bau­stel­len Lon­dons, mit all den lau­ten Ma­schi­nen rund­he­rum. Es ist span­nend, hier so ei­nen Raum zu öff­nen. Das ist nicht all­täg­lich.“

Die größ­te Qua­li­tät die­ses Kunst­pro­jekts im öf­fent­li­chen Raum – über die ge­nau­en Bau­kos­ten schweigt sich der In­ves­tor Ar­gent LLP lei­der aus – ist sei­ne so bo­den­stän­di­ge De­mo­kra­tie. Es rich­tet sich an Künst­le­rin­nen und Kunst­lieb­ha­ber, an Schwim­mer, Öko-Fre­aks und Nach­hal­tig­keits­ak­ti­vis­ten, an An­zug-und-Kra­wat­ten-Trä­ger so­wie an ganz nor­ma­le Be­su­cher von Kunst im öf­fent­li­chen Raum. Im Was­ser sind al­le Men­schen gleich.

Der King’s Cross Pond ist als tem­po­rä­res Zwi­schen­nut­zungs­pro­jekt kon­zi­piert. Zwei Jah­re lang soll es Be­stand ha­ben. Da­nach, wenn das Vier­tel mit all sei­nen Im­mo­bi­lien­ent­wi­cklun­gen be­kannt ge­wor­den ist, so der Plan, soll es ab­ge­baut wer­den und ei­nem lu­kra­ti­ve­ren Pro­jekt Platz ma­chen. Am En­de wird wie­der die Ren­di­te sie­gen. Das ist Gen­tri­fi­ca­ti­on in Rein­kul­tur. Doch die Künst­le­rin und die Ar­chi­tek­ten zei­gen sich op­ti­mis­tisch: „Das ist ein ur­ba­nes Ge­mein­schafts­pro­jekt. Es ist ein Werk­zeug, das da­bei hel­fen soll, ei­ne re­si­lien­te und le­bens­wert­ere Stadt ent­ste­hen zu las­sen.“ Mö­gen sich die In­ves­to­ren von die­sem Glau­ben an­ste­cken las­sen. Nach dem Sprung ins kal­te Was­ser wird ei­nem ganz warm ums Herz.

[ Die Rei­se nach Lon­don er­folg­te auf Ein­la­dung von Bio­top. ]

Der Standard, Sa., 2015.06.06

02. Juni 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Architektin Françoise-Hélène Jourda gestorben

Die französische Architektin Françoise-Hélène Jourda hat sich zeit ihres Lebens einer neuen Form des menschlichen und nachhaltigen Bauens gewidmet. Mit...

Die französische Architektin Françoise-Hélène Jourda hat sich zeit ihres Lebens einer neuen Form des menschlichen und nachhaltigen Bauens gewidmet. Mit...

Die französische Architektin Françoise-Hélène Jourda hat sich zeit ihres Lebens einer neuen Form des menschlichen und nachhaltigen Bauens gewidmet. Mit ihren Bauten, darunter soziale Wohnbauten sowie zahlreiche Rathäuser und Universitäten, hat sie die europäische Passivhaus-Architektur mitgeprägt. In Wien hat sie ein Bürohaus in der Dresdner Straße realisiert. Zuletzt war Jourda Professorin an der TU Wien, wo sie den internationalen Blue Award für nachhaltige Architektur ins Leben rief. Am Montag ist sie nach langer Krankheit in Paris gestorben.

Der Standard, Di., 2015.06.02



verknüpfte Akteure
Jourda Françoise-Hélène

01. Juni 2015Wojciech Czaja
db

Demut vor Omamas Mobiliar

Das »magdas hotel« im Wiener Prater ist eine Oase abseits von Konsumsucht und ethnischen Vorurteilen. Das Social-Business-Projekt der Caritas ist ein Experiment, bei dem Touristen und Asylbewerber unter einem Dach wohnen. Die Architektur von AllesWirdGut orientiert sich an diesem ungewöhnlichen Programm und tischt dem Besucher so manchen Grund zum Schmunzeln auf. Der Luxus dieses Hauses liegt im neuen Blick auf alte Dinge.

Das »magdas hotel« im Wiener Prater ist eine Oase abseits von Konsumsucht und ethnischen Vorurteilen. Das Social-Business-Projekt der Caritas ist ein Experiment, bei dem Touristen und Asylbewerber unter einem Dach wohnen. Die Architektur von AllesWirdGut orientiert sich an diesem ungewöhnlichen Programm und tischt dem Besucher so manchen Grund zum Schmunzeln auf. Der Luxus dieses Hauses liegt im neuen Blick auf alte Dinge.

Die Wände in den Korridoren erinnern an Omamas Wohnsalon. Auf taubenblauem Hintergrund hat ein Maler mit weiß-grauer Farbwalze propellerartige, längst vergessene Ornamente aufgebracht. Auch in den Zimmern dieses offiziell mit null Sternen ausgezeichneten Hotels taucht so manches Déjà-vu aus alten Tagen auf. Da steht eine alte Stehleuchte mit Stoffbespannung, da werden Opas Koffer zu einem Nachtkästchen voller Historie gestapelt, da scheint ein halber, ganz offensichtlich überlackierter Holzstuhl aus der Wand zu wachsen. Eine Ablage? Vielleicht.

»Das ist genau diese Art von Hotel, die man immer sucht und niemals findet«, sagt ein Ehepaar aus Deutschland. »Es gibt hier so viele schöne Details zu entdecken! In Wien waren wir schon öfter, aber nachdem wir von diesem Haus gehört haben, dachten wir uns, es sei wieder mal an der Zeit, die Stadt aus einem ganz neuen Blickwinkel kennenzulernen.« Im magdas, nur wenige Gehminuten vom Riesenrad entfernt, ist diese neue Perspektive garantiert. Und zwar nicht nur auf eine unkonventionelle und freche Hotellerie, sondern auch auf einen neuen Umgang mit baulichen, finanziellen und nicht zuletzt kulturellen Ressourcen.

Das magdas, der Name leitet sich von »ich mag das« ab, ist kein alltägliches Hotel. Es ist ein Social-Business-Projekt der römisch-katholischen Hilfsorganisation Caritas Österreich. An der Rezeption und in der Küche steht kein jahrelang ausgebildeten und auf aalglatt getrimmtes Personal, sondern Flüchtlinge und Asylbewerber aus insgesamt 16 Ländern. »Hier bekommen die Menschen die Chance, nach vielen Jahren im Wartezimmer des Lebens, ohne Job und ohne Aussichten, eine neue Aufgabe wahrzunehmen und sich für den Arbeitsmarkt zu wappnen«, sagt Michael Landau, Präsident von Caritas Österreich. »Unsere Vision ist, dass das Hotel ein Ort der Begegnung wird, an dem Vorurteile abgebaut werden.« Nationalflaggen von Algerien, Afghanistan, Guinea-Bissau, Syrien, Somalia, Iran und Irak, die im Treppenhaus und an den Balkonbrüstungen hängen, machen das ungewöhnliche Programm manifest.

Ein früher oder später zufälliges Gespräch zwischen Tourist und Asylbewerber scheint hier fast unausweichlich, denn man begegnet einander nicht nur an der Rezeption, man wohnt auch Tür an Tür: Der südliche Bauteil dieses ehemaligen Seniorenheims, das in den 60er Jahren errichtet wurde, steht den Mitarbeitern zur Verfügung, in den anderen beiden Trakten befinden sich die Zimmer und die Einrichtungen für die Gäste. 78 Zimmer gibt es insgesamt. Die Übernachtungspreise liegen zwischen 60 und 110 Euro. Für die Honeymoon-Suite im 4. OG mit Blick auf den Prater muss man etwas tiefer in die Tasche greifen – es ist für einen gleich mehrfach guten Zweck.

Die außergewöhnlichen Eckdaten dieses Projekts schlagen sich auch auf die Gestaltung nieder. Dem Wiener Architekturbüro AllesWirdGut (awg) ist es gelungen, die im Trend liegenden Ansätze Vintage und Recycling nicht nur als pseudo-soziales Feigenblatt zu interpretieren, wie dies allzu oft der Fall ist, sondern als ökonomische Notwendigkeit – und auch als Fundgrube für eine neue Form der Ästhetik. Sie animiert zu einer gewissen Demut.

»Das war ein außergewöhnliches Projekt, mit dem man als Architekt nicht alle Tage konfrontiert wird« sagt Herwig Spiegl, Generalplaner bei awg. »Wir mussten viel improvisieren und mit dem arbeiten, was da ist. Gelandet sind wir schließlich bei einem ziemlich wilden, aber doch stimmigen Stilmix aus Mid-Century, was zu diesem Haus sehr gut passt. Das ist weitaus nachhaltiger als der ganze modische Deko-Kitsch, den man in urbanen Hotels heute meist vorfindet.« Zu den alten Resopalmöbeln gesellen sich Stühle, Tische, Schränke und Betten aus dem Caritas-Archiv. Ein Teil der Einrichtung wurde privat gespendet. Und bei so manchem Möbelstück – wie etwa bei der alten Stahlgitter-Garderobe, die nun als skulpturales Betthaupt herhalten darf – erkennt man, welch riesiges Universum sich hinter der Idee des Upcycling auftut.

»Mit dem schonenden Umgang der Ressourcen haben wir einerseits das Budget reduzieren können, andererseits zeigen wir den Besucherinnen und Besuchern, welche Möglichkeiten es gibt, Altes und Vorhandenes wiederzuverwenden«, erklärt Projektleiterin Johanna Aufner. In gewisser Weise ist das magdas ein Appell an uns alle, uns unserer eigenen sozialen Verantwortung bewusst zu werden und ein Stückchen weit den Konsum zu unterbrechen und den Lebenszyklus der Gegenstände zu nutzen. Das Investitionsvolumen für die Revitalisierung des Hotels beläuft sich auf 1,5 Mio. Euro. Die Möbel und Einrichtungsgegenstände schlagen mit gerademal 10 bis 15 % der Gesamtkosten zu Buche. Von so einem niedrigen Anteil können andere Hotelbetreiber nur träumen.

Zahlreiche Details, die zum Schmunzeln anregen, lassen sich bei einem Rundgang entdecken. Viele davon sind quasi Null-Euro-Maßnahmen. So etwa die witzig gestalteten Piktogramme und Orientierungshinweise der Wiener Grafikagentur We Make. Schwarze Strichzeichnungen auf weißer Wand weisen einem den Weg zum Humor. Oder etwa die künstlerische Gestaltung der Suiten, in denen Studierende der Akademie der Bildenden Künste die Wandoberflächen als Leinwand nutzten. Auch die hölzerne Terrasse mit Tulpen- und Zwiebelbeeten, gestaltet nach einem Konzept von 3:0 Landschaftsarchitektur, überrascht als robust gezimmertes Langzeit-Provisorium. Wenig Geld, viel Nutzen. Das ist übrigens auch das Motto für die mittels Crowdfunding finanzierte Verschönerung des außen kaum veränderten 60er-Jahre-Hauses: Die beiden Künstler Marc Werner und Christian Gattringer laden die Hotelgäste dazu ein, quadratische Kupferplatten zu erwerben und die Loggien und Balkone auf diese Weise Stück für Stück zu veredeln. Architektur und Engagement gehen hier Hand in Hand.

Das magdas hotel ist ein temporäres Zwischennutzungsprojekt, anberaumt für fünf Jahre. Danach soll das Haus einem modernen Bau für pflegebedürftige Senioren weichen. Ob das wirklich der Fall sein wird? »Schauen wir mal«, sagt José Rodas, der Rezeptionist aus Kolumbien.

db, Mo., 2015.06.01



verknüpfte Bauwerke
HOP - magdas Hotel



verknüpfte Zeitschriften
db 2015|06 Suffizienz

11. Mai 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Lorbeeren für die kantigste Architektin

Die Wiener Architektin Elke Delugan-Meissl ist Trägerin des Großen Österreichischen Staatspreises und Kommissärin der Architekturbiennale 2016

Die Wiener Architektin Elke Delugan-Meissl ist Trägerin des Großen Österreichischen Staatspreises und Kommissärin der Architekturbiennale 2016

Sie ist ein Fan von Yohji Yamamoto. „Mich fasziniert, wie er mit Schnitt und Materialität umgeht“, sagt die Wiener Architektin Elke Delugan-Meissl, die nicht wenige Stücke des japanischen Designers besitzt. „Indem man seine Kleidungsstücke anzieht, entsteht am Körper eine neue, eine ganz unbekannte Form.“ So ähnlich könnte man auch ihr Architekturmotto in Worte fassen. Die Bauten der 55-jährigen Linzerin sind nicht nur „fesch“ und „gut geshaped“, wie sie selbst meint, sondern hüllen den Bewohner in ein großes Ganzes, in ein fließendes Raumkontinuum mit bisweilen messerscharf abgehackten Kanten.

Für genau diesen Ansatz, den der Kunstsenat als „radikal“ bezeichnet, wird sie heuer - mit ihrem Partner Roman Delugan - mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet. „Das ist eine wunderschöne Anerkennung für unsere Arbeit“, sagt Delugan-Meissl. „Vor allem in einer Zeit, da sich viele Dinge zum Wirtschaftlichen wenden und Architektur oft nur als Beiwerk und Dekoration aufgefasst wird, bin ich sehr froh darüber, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, dass der gebaute Raum in unser aller Leben eine große Rolle spielt.“ Auch in ihrem eigenen. Gegenüber dem Büro am Mittersteig in Wien-Wieden entstand vor einigen Jahren auf dem Dach eines Sechzigerjahre-Baus das vielfach ausgezeichnete Penthouse „Ray 1“, in dem nun Delugan-Meissls Tochter wohnt. Das Projekt war ein ästhetischer und konstruktiver Kraftakt. Und wahrscheinlich kein leichter. Anders kann man sich kaum erklären, warum die Architektin auf ihrer Website in einem A-bis-Z-Glossar junge Architekten davor warnt, ihre Karriere mit einem Dachboden-Ausbau zu beginnen.

Dann schon lieber große Wohn- und Kulturbauten, die das 1993 gegründete Büro nach einem Raketenstart vom ersten Tag an plante. „Wir waren nie jung, wir waren nie lustig“, so die leidenschaftliche Golferin, die auch Mitglied im Gestaltungsbeirat Regensburg ist. Ein Wunsch für die Zukunft? „Ich will etwas auf die Bremse steigen. Ich will mehr im Büro sitzen und über meinen Projekten brüten.“ Dazu wird es in den kommenden Monaten genügend Gelegenheit geben.

Wie gestern bekannt wurde, wird Delugan-Meissl als Kommissärin den Österreich-Pavillon auf der Architektur-Biennale in Venedig 2016 kuratieren. „Das hat mich sehr überraschend getroffen. Ich bin grad am Brainstormen. Das Konzept gibt's dann in ein paar Wochen.“

Der Standard, Mo., 2015.05.11



verknüpfte Akteure
Delugan-Meissl Elke

11. Mai 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Großer Österreichischer Staatspreis an Architekten Delugan Meissl

Elke Delugan-Meissl ist österreichische Kommissärin der Architekturbiennale 2016

Elke Delugan-Meissl ist österreichische Kommissärin der Architekturbiennale 2016

Den großen internationalen Durchbruch hatten sie 2008 mit dem Porsche-Museum in Stuttgart. 35.000 Tonnen Gebäudemasse brachten sie auf drei Stützen zum Balancieren. Das Ergebnis ist ein Autotempel, der einem im optischen Turbo-Boost um die Ohren fliegt. „Wie oft baut man schon ein Porsche-Museum?“, sagten Roman Delugan und Elke Delugan-Meissl damals. „Wir wollten diesen Umstand feiern und haben zu diesem Zweck 80 Sportwagen einfach in die Höhe gehoben.“

Seit gestern haben die Wiener Architekten, die mit ihrem Porsche-Tempel für Furore sorgten, einen weiteren Grund zum Feiern: Kulturminister Josef Ostermayer erklärte, dass sie, die mit ihrem Büro Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) „zu den international erfolgreichsten Architekten Österreichs“ zählen, mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet werden. Begründet wurde die mit 30.000 Euro dotierte Auszeichnung mit den „vielschichtigen, zum Teil radikalen Arbeiten“ sowie der „dezidiert gesprochenen Formensprache“.

Scharfsinnig designte Bauten

Nirgendwo zeigt sich diese besser als im Eye-Filmmuseum in Amsterdam sowie im neuen Festspielhaus in Erl (beide 2012). Als wäre die Architektur mit scharf gewetzten Messern zurechtgeschnitten worden, fallen die kantigen, mitunter scharfsinnig designten Bauten in der Masse des Gebauten auf. Sogar das kleinste, jemals von DMAA realisierte Objekt, eine Türklinke für den deutschen Hersteller Hewi, präsentiert sich in einer so außergewöhnlichen Dynamik, dass man gar nicht widerstehen kann zuzugreifen.

Neben den zahlreichen Design- und Kulturprojekten, wie etwa dem kürzlich gewonnenen Wettbewerb für die Revitalisierung des Badischen Staatstheaters in Karlsruhe, sind es vor allem die sozialen, die alltäglichen Projekte, mit denen sich das Büro von jeher befasst: etwa das Geriatriezentrum Donaustadt, der Zubau Rudolfstiftung, das Bürogebäude und Kundenzentrum für die Bestattung Wien sowie die vielen sozialen Wohnbauten in Wien. Großes Los für das kommende Jahr: Elke Delugan-Meissl wurde als Österreich-Kommissärin der Architektur-Biennale in Venedig 2016 nominiert.

Der Standard, Mo., 2015.05.11



verknüpfte Akteure
DMAA

09. Mai 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Ei­ne Welt aus Co­la und Scho­ko­la­de

Vor ei­ner Wo­che öff­ne­te die Ex­po in Mai­land ih­re Pfor­ten. Un­ter dem Ge­ne­ral­the­ma „Den Pla­ne­ten er­näh­ren. En­er­gie für das Le­ben“ wä­re Welt­be­we­gen­des mög­lich ge­we­sen. Die­se Chan­ce wur­de ver­spielt. Der ös­ter­rei­chi­sche Pa­vil­lon lädt zu ei­ner kur­zen Ver­schnauf­pau­se vom Schock.

Vor ei­ner Wo­che öff­ne­te die Ex­po in Mai­land ih­re Pfor­ten. Un­ter dem Ge­ne­ral­the­ma „Den Pla­ne­ten er­näh­ren. En­er­gie für das Le­ben“ wä­re Welt­be­we­gen­des mög­lich ge­we­sen. Die­se Chan­ce wur­de ver­spielt. Der ös­ter­rei­chi­sche Pa­vil­lon lädt zu ei­ner kur­zen Ver­schnauf­pau­se vom Schock.

Spa­nien lädt zu ei­ner Aro­ma­rei­se der Sin­ne. Ka­tar prä­sen­tiert sich mit ei­nem dreis­tö­cki­gen Ein­kaufs­korb. Un­garn ze­le­briert sich als kup­fer­be­schlag­enes Holz­fass mit Dach­ter­ras­se. Oman macht ei­nen auf über­di­men­sio­na­le Sand­burg mit Markt­ge­schrei aus der Kon­ser­ven­do­se. Turk­me­nis­tan tarnt sich als tem­po­rä­rer Suk mit Plas­tik­oran­gen und Tep­pi­chen. Deutsch­land, mit dem größ­ten Pa­vil­lon von al­len, übt sich als mul­ti­me­dia­ler Auf­klä­rer, der dem Be­su­cher klar­macht, dass Ho­nig gut und ge­sund ist. Und in den „USA“, Glanz­stück der Bi­gott­erie, kann man glü­ckli­chen, sub­ur­ba­nen Fa­mi­li­en da­bei zu­se­hen, wie sie im Sti­le der Fünf­zi­ger­jah­re im häus­li­chen Rah­men Teig kne­ten, Brot ba­cken und kol­lek­tiv dem müh­sam zu­be­rei­te­ten Mahl frö­nen.

„Den Pla­ne­ten er­näh­ren. En­er­gie für das Le­ben“ lau­tet das Mot­to der glo­ba­len Na­bel­schau Ex­po, die am 1. Mai in Mai­land er­öff­net wur­de. Welt­weit, so lau­tet ei­ne grau­en­vol­le sta­tis­ti­sche Zahl, geht rund ei­ne Mil­li­ar­de Men­schen abends hung­rig ins Bett. Ein nicht en­den wol­len­der Fra­gen­ka­ta­log tut sich hier auf. Doch an­statt Kon­zep­te für ei­ne ge­rech­te, ef­fi­zien­te und vor al­lem nach­hal­ti­ge Er­näh­rung der Welt­be­völ­ke­rung auf­zu­ti­schen, ist die Welt­aus­stel­lung, die mit 2,65 Mil­li­ar­den Eu­ro und et­li­chen Schmier­geld­af­fä­ren zu Bu­che schlägt, ein Rei­gen an ver­klär­ten, ro­man­ti­sie­ren­den Wunsch­bil­dern, der den Be­su­cher wis­sens­dur­stig und in­halts­hung­rig ster­ben lässt. Da­ran kön­nen auch die schö­nen Pa­vil­lon­bau­ten von Da­ni­el Li­be­skind und Her­zog & de Meu­ron nichts än­dern.

Food-Kon­zer­ne als Spon­so­ren

Mehr noch als dass die Ex­po von den ei­gent­li­chen The­men der näch­sten Jah­re und Jahr­zehn­te ab­lenkt, holt sie sich je­ne Food-Kon­zer­ne als Part­ner und Spon­so­ren ins Boot, die für die Mi­se­re und das Ge­schäft mit der Not mit­ver­ant­wort­lich sind: McDo­nald’s, Co­ca-Co­la und Nest­lé. Ganz zu schwei­gen von den zahl­rei­chen Pa­vil­lons und Ver­kaufs­stän­den von Uni­le­ver, Lindt, Fer­re­ro und Co, die Scho­ko­la­de und Nu­tel­la-Cre­me als Grund­nah­rungs­mit­tel der Zu­kunft zu prei­sen schei­nen.

Zwar hat­ten sich die Ex­po-Ver­an­stal­ter im Vor­feld, so hört man, da­ge­gen ab­ge­si­chert, dass die Spon­so­ren (350 Mil­lio­nen Eu­ro Ge­samt­wert) die Welt­aus­stel­lung als Wer­be­platt­form und Um­satz­pa­ra­dies nut­zen, in­dem sie hier ih­re Stan­dard­pro­duk­te an­bie­ten, doch wo mehr als 20 Mil­lio­nen Be­su­che­rin­nen und Be­su­cher er­war­tet wer­den, da lässt auch die Krea­ti­vi­tät der Pro­fis nicht lan­ge auf sich war­ten. So wie et­wa am Mag­num-Stand, wo man zwar kein Mag­num, sehr wohl aber ein nack­tes Eis am Stiel er­wer­ben und die­ses im Self­ma­de-Ver­fah­ren vol­len­den kann, in­dem man es ei­gen­hän­dig in flüs­si­ge Scho­ko­la­de tunkt. Fünf Eu­ro das Stück.

Die Dreist­heit und Ver­lo­gen­heit die­ser Ex­po zeigt sich nir­gend­wo bes­ser als im Schweiz-Pa­vil­lon, wo man mit dem Lift in den Olymp des Le­bens­mit­tel­mark­tes hoch­fährt und so­dann durch ei­nen Si­lo-Par­cours des Haupt­spon­sors Nest­lé ge­schleust wird. Hier darf man sich be­die­nen, bis ei­nem die Ho­sen­ta­schen rei­ßen – mit Ne­sca­fé in Plas­tik­tüt­chen, mit luft­dicht ver­schweiß­ten Ap­fel­rin­gen, mit Salz aus den Schwei­zer Sa­li­nen so­wie mit hek­to­li­ter­wei­se Was­ser aus Plas­tik­be­chern. Was das al­les mit der viel zi­tier­ten Nach­hal­tig­keit und Res­sour­cen­scho­nung zu tun hat? Da­rauf wis­sen auch die hübsch ge­klei­de­ten Hosts und Hos­tes­sen kei­ne Ant­wort.

Aus­ver­kauf der Et­hik und Mo­ral

Viel­leicht er­klärt sich vor die­sem Hin­ter­grund, der vom Aus­ver­kauf un­ser al­ler Et­hik und Mo­ral an die welt­wei­ten Kon­zer­ne zeugt, wa­rum aus­ge­rech­net der ös­ter­rei­chi­sche Bei­trag als in­tel­lek­tu­el­le und emo­tio­na­le Oa­se wahr­ge­nom­men wer­den darf, in der man ger­ne ei­ne Pau­se ein­legt, um zu ver­schnau­fen und nach all die­sen haar­sträu­ben­den In­ter­pre­ta­tio­nen des Ex­po-Mot­tos wie­der tief Luft zu ho­len.

Und zwar im wört­li­chen Sin­ne, denn „bre­at­he.aus­tria“ – so der of­fi­ziel­le Ti­tel des ös­ter­rei­chi­schen Bei­trags – ist nichts an­de­res als ein 560 Qua­drat­me­ter gro­ßes Wald-Im­plan­tat, das ims­tan­de ist, 1800 Men­schen pro Stun­de mit fri­schem, wohl­tem­pe­rier­tem Sau­er­stoff zu ver­sor­gen. Zu ver­dan­ken ist dies 12.800 Stau­den, ei­ni­gen Hun­dert klein­eren Ge­höl­zen so­wie 56 Bäu­men, ei­ni­ge da­von bis zu 15 Me­ter hoch, die hier nun die kom­men­den sechs Mo­na­te be­strei­ten wer­den. Nach Ab­lauf der Ex­po sol­len die Bäu­me zur Auf­fors­tung an die Stadt Bo­zen ver­schenkt wer­den.

Zwar gibt es auch in Ös­ter­reich kei­ne Ant­wort da­rauf, wie wir in Zu­kunft un­se­ren Pla­ne­ten er­näh­ren sol­len, sehr wohl aber so man­chen Lö­sungs­vor­schlag für den re­spekt­vol­len Um­gang mit je­nem Mit­tel, das un­ver­zicht­bar ist, das uns in ge­wis­ser Wei­se al­le nährt – mit der Luft. „Der Wald ist ei­ne der wich­tigs­ten Res­sour­cen Ös­ter­reichs“, sa­gen An­dre­as Go­rit­schnig und Karl­heinz Boi­ger, Pro­jekt­lei­ter des te­am.bre­at­he.aus­tria. „Er spielt nicht nur im Ima­ge, in der Kul­tur und im Tou­ris­mus ei­ne wich­ti­ge Rol­le, son­dern letz­tend­lich auch im ge­sam­ten Wirt­schafts- und Le­bens­zy­klus die­ses Lan­des.“

Low­tech-Bio-Kli­maan­la­ge

Al­le paar Mi­nu­ten schal­ten sich die Ne­bel­dü­sen ein, die den Pa­vil­lon an hei­ßen Ta­gen in ei­ne küh­le, feuch­te Bri­se hül­len. 27 Ven­ti­la­to­ren set­zen sich so­dann mit ih­ren ge­zack­ten Rot­or­blät­tern in Be­we­gung – die Form ist den Flü­geln der Eu­le, dem lei­ses­ten Tier der Vo­gel­welt, nach­emp­fun­den – und ver­tei­len die er­fri­schen­de Feuch­te im ge­sam­ten Wald. Um fünf bis sie­ben Grad Cel­si­us kann der Pa­vil­lon auf die­se Wei­se ge­kühlt wer­den. Das Kon­zept für die Low­tech-Bio-Kli­maan­la­ge stammt vom Kli­ma­spe­zi­a­lis­ten Trans­so­lar.

„Der­zeit ist die Stadt ei­ne Ma­schi­ne, die En­er­gie und Sau­er­stoff ver­braucht“, sagt der Ar­chi­tekt und Pa­vil­lon-Pla­ner Klaus K. Lo­en­hart. „Viel­leicht wird es in Zu­kunft ge­lin­gen, die­ses Ver­hält­nis um­zu­dre­hen. Un­ser Bei­trag be­weist, dass die­se Tech­nik-Na­tur-Per­for­manz nicht un­mög­lich ist. So ge­se­hen bin ich froh da­rü­ber, dass es uns ge­lun­gen ist, hier ein Best-Prac­ti­ce-Bei­spiel zu bau­en und ein Ex­em­pel für die Zu­kunft zu sta­tuie­ren. Ich den­ke, dass die­se Idee über die Ex­po hin­aus Be­stand ha­ben wird.“ Der ös­ter­rei­chi­sche Bei­trag bleibt als Licht­schim­mer und Ide­en­ge­ber in Er­in­ne­rung. Viel­leicht als Ein­zi­ger.

Welt­aus­stel­lun­gen wa­ren noch nie der Nähr­bo­den für kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung. Das kön­nen an­de­re For­ma­te bes­ser. So ist auch die­se nun­mehr zum 99. Mal aus­ge­tra­ge­ne Ex­po in Mai­land ein mas­sen­taug­li­cher Rum­mel­platz der Na­tio­nen, der für kur­ze Zeit die gan­ze Welt auf klein­stem Raum zu­sam­men­trom­melt. Das wä­re nicht wei­ter schlimm. Mit dem heu­er auf­er­leg­ten und mehr als bri­san­ten The­ma der glo­ba­len Er­näh­rung al­ler­dings hät­te man sich ei­ne der stärk­sten Schau­en der ver­gan­ge­nen Jah­re er­war­tet – und nicht die mit Ab­stand geist- und ge­schma­cklo­ses­te. Die­se Chan­ce wur­de ver­spielt.

Der Standard, Sa., 2015.05.09

24. April 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Pro­test mit Tie­fen­schär­fe

Ge­stern, Frei­tag, wur­de in Frank­furt am Main der Eu­ro­päi­sche Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie­preis ver­lie­hen. Im Fo­kus der Ge­winn­erin steht kein sli­ckes, hoch­äs­the­ti­sier­tes Bau­werk, son­dern die Do­ku­men­ta­ti­on des Raums als po­li­ti­sche Büh­ne.

Ge­stern, Frei­tag, wur­de in Frank­furt am Main der Eu­ro­päi­sche Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie­preis ver­lie­hen. Im Fo­kus der Ge­winn­erin steht kein sli­ckes, hoch­äs­the­ti­sier­tes Bau­werk, son­dern die Do­ku­men­ta­ti­on des Raums als po­li­ti­sche Büh­ne.

Feu­er, Rauch und Trä­nen­gas. Man hört das Fo­to förm­lich schrei­en. Im Fit­nes­scen­ter des Mar­ma­ra-Ho­tels ste­hen, mit Fo­to­ap­pa­rat und Ent­set­zen dicht an die Glas­fass­ade ge­bannt, Ho­tel­be­su­cher und star­ren hi­nab auf den Tak­sim-Platz. Was sie se­hen, das sieht man nicht, aber was sie se­hen, das weiß man. Die deut­sche Fo­to­künst­le­rin Pe­tra Ger­schner hat die Bil­der der Un­ru­hen, die welt­weit Wel­len schlu­gen, mit ih­rer Klein­bild­ka­me­ra fest­ge­hal­ten. Ge­stern, Frei­tag, wur­de sie für ih­re vier­tei­li­ge Se­rie Ge­zi ge­gen Gen­tri­fi­zie­rung in Frank­furt am Main mit dem Eu­ro­päi­schen Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie­preis aus­ge­zeich­net.

„Ich war da­mals, im Ju­ni 2013, ge­ra­de in der Ost­tür­kei, in der kur­di­schen Stadt Wan, als ich in der Ho­tel­lob­by die Bil­der von den Ge­zi-Un­ru­hen im Fern­se­hen ge­se­hen ha­be“, er­in­nert sich Ger­schner im Ge­spräch mit dem STAN­DARD . „Hun­dert­tau­sen­de käm­pften da­mals ge­gen die Ent­eig­nung des öf­fent­li­chen Raums und ge­gen die Im­mo­bi­lien­pro­jek­te Re­cep Tayyip Er­doğans. Kurz da­rauf bin ich nach Is­tan­bul ge­flo­gen. Ich konn­te gar nicht an­ders.“

Im Ge­gen­satz zu den Bil­dern, die in den Me­dien wo­chen- und mo­nat­elang zu se­hen wa­ren, ist der Blick Ger­schners kein di­rek­ter, son­dern viel­mehr ein Ab­bild des Ab­bilds. „Ich ver­fol­ge mit mei­nen Fo­to­gra­fien kei­ne vor­der­grün­di­ge Re­pro­duk­ti­on der Er­eig­nis­se“, sagt die 1960 in Mün­chen ge­bo­re­ne Künst­le­rin, „son­dern woll­te viel­mehr dar­stel­len, wie die Pro­tes­te me­di­al trans­por­tiert und wie sie bei den Nach­barn, Be­ob­ach­tern und Pro­tes­tie­ren­den emo­tio­nal wahr­ge­nom­men wur­den. Über die­sen Kon­text näm­lich war in den Nach­rich­ten und Ta­ges­zei­tun­gen nichts zu er­fah­ren.“

Was hat das al­les mit Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie zu tun? Sehr viel, meint Ger­schner. „Ar­chi­tek­tur ist die ge­bau­te Welt, in der wir uns be­we­gen. Und wenn der tür­ki­sche Mi­nis­ter­prä­si­dent im Is­tan­bu­ler Tar­la­başi-Vier­tel die dort an­säs­si­gen Sin­ti, Ro­ma und Kur­den ver­trei­ben will, in­dem er es gen­tri­fi­ziert und dort spe­ku­la­ti­ve Bü­ro­bau­ten und Shop­ping­cen­ter er­rich­tet, dann ist das ein ganz grund­le­gen­der An­griff auf die so­zia­len Struk­tu­ren der Mar­gi­na­li­sier­ten, aber auch auf die Stadt, auf die Ar­chi­tek­tur, die uns al­len ge­hört.“

Ge­nau die­ser kri­ti­sche, nicht im­mer nur schö­ne Blick ist der An­triebs­mo­tor des Eu­ro­päi­schen Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie­prei­ses, der seit 1995 al­le zwei Jah­re ver­lie­hen wird. Der vom Ver­ein Ar­chi­tek­tur­bild und vom Deut­schen Ar­chi­tek­turm­useum (DAM) aus­ge­lob­te Preis ist „ei­ne Er­gän­zung zur klas­si­schen Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie, die das Bau­werk im be­sten Licht dar­stellt, die die Um­ge­bung ig­no­riert und die meist auch die Men­schen aus­blen­det“, er­klärt Ver­eins­vor­sit­zen­de Si­mo­ne Hü­be­ner. „Wir wol­len mit un­se­rem Preis die künst­le­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Ge­bau­ten för­dern.“

Vor al­lem das heu­er aus­ge­schrie­be­ne The­ma „Nach­bar­schaft“, ei­ne in­tel­lek­tu­el­le Fund­gru­be an In­ter­pre­ta­tio­nen, sei gut an­ge­nom­men wor­den. Ins­ge­samt gab es mehr als 260 Ein­rei­chun­gen aus 14 Län­dern. Die 28 be­sten, die von ei­ner Ju­ry aus­ge­wählt wur­den, da­run­ter auch der mit 4000 Eu­ro do­tier­te Haupt­preis, sind nun in Form ei­ner Buch­pu­bli­ka­ti­on so­wie im Rah­men ei­ner Aus­stel­lung im DAM zu se­hen.

„Der Pro­test ist ein es­sen­ziel­ler Be­stand­teil je­der Ge­sell­schaft“, sagt Pe­tra Ger­schner, die mit ih­rer Ar­beit Ge­zi ge­gen Gen­tri­fi­zie­rung die Nach­bar­schaft als ei­nen so­zia­len, nicht zu­letzt po­li­ti­schen Zu­sam­men­halt dar­ge­stellt hat. „We­der der Acht-Stun­den-Ar­beits­tag noch das Frau­en­wahl­recht noch das Recht auf Bil­dung und ge­sund­heit­li­che Ver­sor­gung hät­ten sich oh­ne Pro­test durch­ge­setzt. Noch nie in der Ge­schich­te wur­de dem Men­schen die De­mo­kra­tie ge­schenkt. Im­mer hat er sie sich erst er­kämp­fen müs­sen.“

Ge­zi ge­gen Gen­tri­fi­zie­rung ist ein Auf­ruf zur Ref­le­xi­on. Ger­schner: „Bil­der sind im­mer auch Tei­le von kol­lek­ti­ver Er­in­ne­rung. Wenn sie öf­fent­lich wer­den, tra­gen sie da­zu bei, das Er­eig­nis zu stüt­zen und den da­mit er­reich­ten ge­sell­schaft­li­chen Wan­del zu do­ku­men­tie­ren.“

Der Standard, Fr., 2015.04.24

18. April 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Hauch von Gruß aus der Kü­che

Am 1. Mai wird in Mai­land die Ex­po 2015 er­öff­net. Die 99. Welt­aus­stel­lung steht un­ter dem Mot­to „Den Pla­ne­ten er­näh­ren. En­er­gie für das Le­ben“. Ös­ter­reich tischt ein grü­nes Luft­kraft­werk auf.

Am 1. Mai wird in Mai­land die Ex­po 2015 er­öff­net. Die 99. Welt­aus­stel­lung steht un­ter dem Mot­to „Den Pla­ne­ten er­näh­ren. En­er­gie für das Le­ben“. Ös­ter­reich tischt ein grü­nes Luft­kraft­werk auf.

Schon ein­mal fand in Mai­land ei­ne Welt­aus­stel­lung statt, und zwar vor über hun­dert Jah­ren. Die Espo­si­zio­ne In­ter­na­zio­na­le 1906 stand un­ter dem Ge­ne­ral­the­ma Ver­kehr. Ge­zeigt wur­den Au­to­mo­bi­le, Luft­schif­fe und fu­tu­ris­ti­sche Ei­sen­bahn­vi­sio­nen. Ei­ne elek­tri­sche Hoch­bahn ver­band die un­ter­schied­li­chen Aus­stel­lungs­flä­chen mit­ein­an­der. Und noch wäh­rend der Ex­po wur­de der 20 Ki­lo­me­ter lan­ge Sim­plon­tun­nel zwi­schen der Schweiz und Ita­li­en in Be­trieb ge­nom­men. So sah da­mals Zu­kunft aus.

Ver­hält­nis­mä­ßig be­äng­sti­gend und apo­ka­lyp­tisch nimmt sich da­ge­gen das The­ma der glo­ba­len Na­bel­schau 2015 aus: „Den Pla­ne­ten er­näh­ren. En­er­gie für das Le­ben“ lau­tet das Mot­to, zu dem 142 Län­der aus al­ler Welt ih­ren Bei­trag leis­ten wer­den. Ob das Er­näh­rungs­pa­ra­dies bis zur Er­öff­nung am 1. Mai recht­zei­tig fer­tig­ge­stellt wer­den wird, ist je­doch frag­lich. Zu lan­ge stand die Bau­stel­le auf dem Mess­ege­län­de Rho/Pe­ro im Nor­den der Stadt still, zu of­fen­sicht­lich wa­ren die Schmier­geld­af­fä­ren der ka­la­bri­schen Ma­fia­or­ga­ni­sa­ti­on ’Ndrang­he­ta.

„Es gibt ei­ni­ge we­ni­ge aus­län­di­sche Pa­vil­lons, die ein biss­chen Ver­spä­tung ha­ben“, sag­te Ex­po-Chef Giu­sep­pe Sa­la kürz­lich in ei­nem In­ter­view mit der ARD. „Ge­wiss, wir ha­ben Feh­ler ge­macht, und es hat schwie­ri­ge Pha­sen ge­ge­ben, in de­nen es Be­ste­chungs­ver­su­che gab. Doch die Be­su­cher wer­den schon am er­sten Tag die Mög­lich­keit ha­ben, al­les zu se­hen.“ Dass es – ne­ben den Bei­trä­gen aus Russ­land und der Tür­kei – aus­ge­rech­net der ita­lie­ni­sche Pa­vil­lon ist, der noch am meis­ten ei­ner Bau­stel­le gleicht, scheint nicht wei­ter er­wäh­nens­wert. 300 Bau­ar­bei­ter sind Tag und Nacht vor Ort, um den fünf­stö­cki­gen Pracht­bau aus Mar­mor fer­tig­zu­stel­len.

Der 1,4 Ki­lo­me­ter lan­ge Ex­po-Bou­le­vard „De­cu­ma­nus“, an dem die meis­ten Pa­vil­lons auf­ge­fä­delt sind, wur­de von Da­ni­el Li­be­skind ge­stal­tet. Hin­zu kom­men di­ver­se Teil­pro­jek­te von Jac­ques Her­zog, Ri­chard Bur­dett und Ste­fa­no Boe­ri. Letz­te­rer, sei­nes Zei­chens Ar­chi­tekt und ehe­ma­li­ger, weil ge­schass­ter Ex­po-Kon­sul­ent der Stadt Mai­land, war fe­der­füh­rend an den Richt­li­ni­en für den Mas­ter­plan be­tei­ligt, die nach lan­gem Hin und Her von der Stadt ins Nir­wa­na ge­schickt wur­den.

„Wir woll­ten aus den Feh­lern der ver­gan­ge­nen Welt­aus­stel­lun­gen in Han­no­ver, Se­vil­la und Za­ra­go­za ler­nen und es bes­ser ma­chen“, sagt Boe­ri im Ge­spräch mit dem STAN­DARD . „Da­her ha­ben wir ei­nen gro­ßen bo­ta­ni­schen Gar­ten mit leich­ten, tem­po­rä­ren Auf­bau­ten vor­ge­schla­gen. Pas­send zum über­geord­ne­ten The­ma der Nah­rung war un­se­re Idee, das Are­al nach Ab­lauf der Ex­po in Acker­land zu ver­wan­deln. Die­ses Kon­zept je­doch war der Stadt Mai­land zu we­nig lu­kra­tiv.“

Was mit dem Ex­po-Ge­län­de ei­nes Ta­ges pas­sie­ren soll, ist un­ge­wiss. Bis heu­te lie­ge für das 1,7 Qua­drat­ki­lo­me­ter gro­ße Ge­län­de kein ent­spre­chen­des Nach­nut­zungs­kon­zept auf dem Tisch, so Boe­ri. Wahr­schein­lich ist, dass das Are­al dem be­ste­hen­den Rho/Pe­ro-Mess­ege­län­de zu­ge­schla­gen wird. Ge­naue Aus­sa­gen da­zu feh­len. 1,3 Mil­li­ar­den Eu­ro lässt sich der ita­lie­ni­sche Staat das Er­eig­nis kos­ten. Hin­zu kom­men ei­ne wei­te­re Mil­li­ar­de von den Teil­neh­mer­län­dern so­wie 350 Mil­lio­nen Eu­ro von pri­va­ten In­ves­to­ren. Um die­sen Preis wür­de man sich mehr als nur ei­ne tou­ris­tisch-wirt­schaft­li­che Nach­hal­tig­keit für die Lom­bar­dei wün­schen.

Über­aus nach­hal­tig, ja ge­ra­de­zu luf­tig er­scheint hin­ge­gen das Kon­zept des ös­ter­rei­chi­schen Pa­vil­lons. Ar­chi­tekt Klaus K. Lo­en­hart, der aus ei­nem zweis­tu­fi­gen Aus­wahl­ver­fah­ren als Sie­ger her­vor­ging, schöpft aus dem Schoß von Mut­ter Na­tur und schafft mit sei­nem Bei­trag „bre­at­he.aus­tria“ ein Stück­chen Wald in­mit­ten der sonst künst­li­chen Ex­po-Land­schaft.

Fri­sche Frisch­luft

„Oh­ne Es­sen kön­nen wir fünf Wo­chen aus­hal­ten, oh­ne Was­ser fünf Ta­ge, aber oh­ne Luft kei­ne fünf Mi­nu­ten“, er­zählt Klaus K. Lo­en­hart im Ge­spräch mit dem STAN­DARD . „So ge­se­hen ist Luft die wich­tigs­te Nah­rungs­quel­le für uns al­le.“ Er­zeugt wird die­se von ei­nem 560 Qua­drat­me­ter gro­ßen Wald, der aus der Mit­te des groß­teils of­fe­nen ös­ter­rei­chi­schen Pa­vil­lons her­aus­wu­chert. 1200 Stau­den, 120 Qua­drat­ma­ter Moos und fast 90 Bäu­me er­zeu­gen mit ver­ein­ten Kräf­ten 63 Ki­lo­gramm Sau­er­stoff pro Stun­de, ge­nug, um 1800 Men­schen zu ver­sor­gen. Fri­scher kann Frisch­luft nicht sein.

Doch wo­zu das Gan­ze? „Wis­sen Sie, es ist schon fast schi­zo­phren, ei­ne Ex­po un­ter dem Ti­tel Nah­rung und Nach­hal­tig­keit zu ma­chen und dann je­dem ein­zel­nen tem­po­rä­ren Pa­vil­lon ei­ne Kli­maan­la­ge aufs Dach zu knal­len“, er­klärt Lo­en­hart. „Un­ser Pa­vil­lon je­doch wird selbst im Som­mer oh­ne Kli­maan­la­ge aus­kom­men, denn die Küh­lung über­nimmt bei uns der Wald.“ Mit­tels Ven­ti­la­to­ren wird ein Sprüh­ne­bel über die Pflan­zen ver­teilt, die Tröpf­chen set­zen sich auf den Blät­tern fest, die Ver­duns­tung schließ­lich führt zu ei­ner wahr­lich er­kle­ckli­chen Ab­küh­lung des Rau­mes. Mit­hil­fe des 43.000 Qua­drat­me­ter gro­ßen Luft­kraft­werks – so groß ist die Sum­me der Blat­to­ber­flä­chen – kann der Pa­vil­lon im Hoch­som­mer um fünf bis sie­ben Grad Cel­si­us ge­kühlt wer­den.

Ös­ter­rei­chi­sche Luft­kom­pe­tenz

„Die Ex­po ist ein Mul­ti­pli­ka­tor für Wis­sen und Ide­en“, sagt der Ar­chi­tekt. „

Und ob­wohl der Pa­vil­lon am En­de wie­der ver­schwin­den wird, kann un­ser Bei­trag als Stel­lung­nah­me für ein kli­ma­be­wuss­tes und res­sour­cen­scho­nen­des Han­deln wei­ter­be­ste­hen.“ Wich­tig sei es, dass mit „bre­at­he.aus­tria“ kei­ne As­ke­se und kein res­tau­ra­ti­ves Ver­ständ­nis von Na­tur ver­mit­telt wer­de, so Lo­en­hart, son­dern ein in­teg­ra­ti­ver, ko­ope­ra­ti­ver und nicht zu­letzt ge­nuss­vol­ler An­satz. „Wir müs­sen um­den­ken, kei­ne Fra­ge. Es pres­siert. Aber müs­sen wir dem Kli­ma­wan­del nur mit Ver­zicht und Feh­ler­kor­rek­tur be­geg­nen?“

Der ös­ter­rei­chi­sche Bei­trag, meint auch Ru­dolf Ru­zi­cka, Ex­po-Pro­jekt­lei­ter in der Wirt­schafts­kam­mer Ös­ter­reich (WKÖ), sei ei­ne In­spi­ra­ti­on, um über die Zu­kunft von Ar­chi­tek­tur und Tech­nik nach­zu­den­ken. „Ös­ter­reich ist be­kannt für sei­ne Luft­kom­pe­tenz. Und das, was das Blatt tut, ist ein wich­ti­ger Dienst, auf den man in Zu­kunft öf­ter wird zu­rück­grei­fen müs­sen. Die­se Mess­age ist es, die wir – fer­nab von ir­gend­wel­chen na­tio­na­len Kli­schee­bil­dern – auf die­ser Ex­po trans­por­tie­ren möch­ten.“

Die Bau­kos­ten für „bre­at­he-aus­tria“ schla­gen mit 4,8 Mil­lio­nen Eu­ro zu Bu­che, Moos und Baum­schu­len­ma­te­ri­al in­klu­si­ve. Nach dem Ab­bau des Pa­vil­lons wer­den die Stau­den und bis zu 15 Me­ter ho­hen Bäu­me, da­run­ter ei­ne Hain­bu­che, die al­le an­de­ren Pa­vil­lons über­ragt – was für ei­ne sym­bol­träch­ti­ge Ge­ste für die­se Welt­aus­stel­lung – nach Bo­zen trans­por­tiert und zur Auf­fors­tung der Stadt ver­wen­det. Der Kreis schließt sich.

Wa­ren es frü­her Tech­nik und Ma­schi­ne, Vi­si­on und Uto­pie und nicht zu­letzt der Kon­kur­renz­kampf der Na­tio­nen, die den Welt­aus­stel­lun­gen ih­ren Stoff ga­ben, so mu­tiert die Ex­po mehr und mehr zu ei­ner glo­ba­len Jah­res­kon­fe­renz, auf der man über je­ne The­men dis­ku­tiert, die un­aus­weich­lich sind, und da­für im Kol­lek­tiv nach Lö­sun­gen sucht. Es geht im­mer­hin um die Er­näh­rung des Pla­ne­ten. Am 1. Mai wird sich wei­sen, ob Mai­land die­se Chan­ce wahr­ge­nom­men hat oder nicht.

Der Standard, Sa., 2015.04.18

11. April 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Der Turm­bau zu Vals

In der 1000-Ein­woh­ner-Ge­mein­de in der Schweiz soll Thom May­ne ei­nen 381 Me­ter ho­hen Wol­ken­krat­zer bau­en. Das Pro­jekt hat in we­ni­gen Ta­gen viel Po­le­mik aus­ge­löst. Die wich­tigs­te Fra­ge je­doch lau­tet: Wie wol­len wir in Zu­kunft mit un­se­ren Ber­gen um­ge­hen?

In der 1000-Ein­woh­ner-Ge­mein­de in der Schweiz soll Thom May­ne ei­nen 381 Me­ter ho­hen Wol­ken­krat­zer bau­en. Das Pro­jekt hat in we­ni­gen Ta­gen viel Po­le­mik aus­ge­löst. Die wich­tigs­te Fra­ge je­doch lau­tet: Wie wol­len wir in Zu­kunft mit un­se­ren Ber­gen um­ge­hen?

Das höch­ste Ge­bäu­de Eu­ro­pas steht in Mos­kau. Mit 338 Me­tern ist der 2012 er­öff­ne­te Mer­cu­ry Ci­ty To­wer die al­les über­ra­gen­de Hö­hen­mar­ke auf dem Al­ten Kon­ti­nent. Das könn­te sich bald än­dern. In der Schwei­zer Ge­mein­de Vals, mit­ten im Kan­ton Grau­bün­den, am En­de ei­ner 20 Ki­lo­me­ter lan­gen Sack­gas­se, die ins letz­te Zip­fel des Val­ser­tals hin­ein­führt, pla­nen die bei­den In­ves­to­ren Re­mo Stof­fel und Pi­us Truf­fer ei­nen 82-stö­cki­gen Wol­ken­krat­zer, der 381 Me­ter in den Val­ser Him­mel ra­gen soll. Vor zwei Wo­chen wur­den die Plä­ne der Öf­fent­lich­keit vor­ge­stellt.

Und ja, das mit dem Him­mel war ei­ne ge­woll­te Ein­la­dung an die Ar­chi­tek­ten ge­we­sen, die sich an die­sem ge­la­de­nen Wett­be­werb un­ter Ju­ry­vor­sitz des ja­pan­is­chen Ar­chi­tek­ten Ta­dao An­do be­tei­ligt hat­ten. „Ich weiß, wir grei­fen hier nach den Ster­nen“, hat­te Truf­fer da­mals zu den neun ge­la­de­nen Pla­nern ge­sagt, da­run­ter so klin­gen­de Na­men wie Max Dud­ler, Nie­to So­be­ja­no, Ken­go Ku­ma, Ste­ven Holl und Thom May­ne. „Aber trotz­dem: Be­gin­nen Sie zu träu­men! Al­lein der Him­mel soll die Gren­ze sein für die­ses Pro­jekt!“

Nun, um ge­nau zu sein, wa­ren es nur acht Ar­chi­tek­ten, denn der eben­falls ge­la­de­ne Pritz­ker­preis­trä­ger Pe­ter Zum­thor, den meis­ten be­kannt als Ver­tre­ter ei­nes sanf­ten Tou­ris­mus und Er­bau­er der welt­be­rühmt­en, mitt­ler­wei­le denk­mal­ge­schütz­ten Fel­sen­ther­me Vals, wies die Ein­la­dung zu­rück. „Mich zu ei­nem Wett­be­werb ein­zu­la­den, nach all dem, was ich für Vals ge­tan ha­be, emp­fand ich als Spit­ze“, er­klär­te Zum­thor ge­gen­über der Wo­chen­zei­tung Die Zeit . „Mich macht die­ses Pro­jekt trau­rig.“

Mit­tel­fin­ger ge­gen die Re­gi­on

Von Trau­er ist in der Schweiz nicht die ge­ring­ste Spur. Zu in­tro­ver­tiert, zu lei­se ist die­se Ge­fühls­re­gung, um das zu be­schrei­ben, was in den letz­ten Ta­gen me­di­al ab­ge­gan­gen ist. Die ei­nen fei­ern das Ho­tel­hoch­haus als Ent­wi­cklungs­mo­tor und in­no­va­ti­ve Maß­nah­me für die Schwei­zer Ber­ge, die an­de­ren ver­ur­tei­len das Mam­mut-Bau­vor­ha­ben als „ab­surd“, „hirn­ris­sig“ und „un­auss­teh­lich“. Die bri­ti­sche Ta­ges­zei­tung The Gu­ar­di­an spricht so­gar von ei­nem „gi­gan­tic mir­ror-clad midd­le fin­ger ai­med at the re­gi­on“, von ei­nem gi­gan­ti­schen Mit­tel­fin­ger ge­gen die ge­sam­te Re­gi­on.

Ob das die Ab­sicht der Pro­jekt­ent­wi­ckler ist? „Ich ver­ste­he, dass die­ses Pro­jekt die Ge­mü­ter spal­tet“, sagt Pi­us Truf­fer, De­le­gier­ter des Vor­stan­des der zu­stän­di­gen 7132 AG, die sich die Val­ser Post­leit­zahl in den Fir­men­na­men ein­ver­leib­te, im Ge­spräch mit dem STAN­DARD . „Aber Tat­sa­che ist, dass sich drin­gend et­was än­dern muss. Der al­pi­ne Tou­ris­mus ist in ei­ner tie­fen Kri­se. Man ver­dient nichts mehr. Neue Ide­en müs­sen her.“

Das Stac­ca­to des 59-jäh­ri­gen Stein­bruch­un­ter­neh­mers geht durch Mark und Bein. Der Mann weiß, was er will. Sei­ne Vi­sio­nen spre­chen Bil­der. „Wis­sen Sie, sanf­ter Tou­ris­mus ist ei­ne gu­te Sa­che, dann sind wir al­le na­tur­ver­bun­den und trin­ken den gan­zen Tag Tee. Aber da­mit kann man in den ent­le­ge­nen Berg­ge­mein­den kei­ne Wert­schöp­fungs­ket­te auf­recht­er­hal­ten. Jetzt geht es da­rum, sich zu über­le­gen, wie man wie­der Leu­te in die Ber­ge lo­cken kann.“

In ge­wis­ser Wei­se, so Truf­fer, knüp­fe man mit dem Ho­tel­turm und dem be­nach­bar­ten, vier Hek­tar gro­ßen ja­pan­is­chen Gar­ten von Ta­dao An­do an die gro­ßen Vi­sio­nen der vor­letz­ten Jahr­hun­dert­wen­de an, als in den Al­pen die er­sten Cha­lets und Grand­ho­tels ent­stan­den sind. „Auch da­mals hat man nichts an­de­res ge­macht, als ei­ne ur­ba­ne Bau­ty­po­lo­gie in ei­nen neu­en Kon­text, näm­lich in die un­be­rühr­te Na­tur­land­schaft zu set­zen. Ich fra­ge mich da­her: Wa­rum sol­len Hoch­häu­ser heut­zu­ta­ge nur der Stadt vor­be­hal­ten sein?“

Gia­co­met­ti, wag­hal­si­ger­wei­se

Ein Hoch­haus wie die­ses, das wird bald klar, fin­det man be­sten­falls in Man­hat­tan, wo in den letz­ten Jah­ren plötz­lich hauch­dün­ne, schier un­leist­ba­re Wohn- und Bü­ro­na­deln in die Wol­ken hin­ein­ge­sto­chen wur­den. Der sieg­rei­che Ent­wurf des ka­li­for­ni­schen Ar­chi­tek­ten Thom May­ne, Lei­ter des Bü­ros Mor­pho­sis, orien­tiert sich an die­sen mi­ni­ma­lis­ti­schen Ent­wür­fen der Me­ga­lo­po­lis und schuf ein schlan­kes, ver­spiegel­tes Ge­bil­de auf ei­ner Grund­flä­che von nur 30 mal 16 Me­tern. Die Kons­truk­ti­on ist wag­hal­sig.

„Es geht um ei­ne er­ha­be­ne, phi­lo­so­phi­sche Idee, die ei­ne Schön­heit ge­biert, die weit über die mensch­li­che Vor­stel­lung hin­aus­geht“, schreibt Ar­chi­tekt Thom May­ne in sei­nem Pres­se­text und be­zieht sich da­bei auf Im­ma­nu­el Kant, Ca­spar Da­vid Fried­rich und Al­ber­to Gia­co­met­ti, dem er mit dem Pro­jekt­ti­tel Fem­me de Vals in An­leh­nung an die Skulp­tur Fem­me de Ve­ni­se Re­ver­enz er­weist. „Auch wir wol­len den Be­su­chern, gleich Gia­co­met­tis dra­ma­ti­schem Meis­ter­stück, ein äs­the­ti­sches Er­leb­nis bie­ten.“ Noch sind die Wor­te mäch­tig zwar, aber va­ge. Ei­ne kon­kre­te In­ter­view-An­fra­ge des STAN­DARD lehnt May­ne ab. Man wol­le sich zum Pro­jekt zu die­sem Zeit­punkt nicht äu­ßern.

107 Zim­mer und Sui­ten, vie­le da­von mit ei­nem 360-Grad-Rund­um­blick, sol­len hier Platz fin­den. Mehr ist nicht ge­plant, denn im Ho­tel 7132, so der of­fi­ziel­le Na­me des Turm­baus zu Vals, setzt man nicht auf die Quan­ti­tät der Zim­mer, son­dern viel­mehr auf je­ne der Wohn­flä­che. Bis zu 500 Qua­drat­me­ter, bis­wei­len auf zwei Eta­gen ver­teilt, sol­len sich auf­tun, so­bald man die Zim­mer­kar­te in den Schlitz ge­scho­ben hat. Die Zim­mer­prei­se va­riie­ren, ab­hän­gig von Grö­ße und Stock­werk, zwi­schen 1000 und 25.000 Schwei­zer Fran­ken (950 bis 24.000 Eu­ro) pro Nacht.

Per He­li­kop­ter nach St. Mo­ritz

„Ja, das ist teu­er, aber ge­nau auf die­ses hoch­prei­si­ge Seg­ment zie­len wir ab“, meint Truf­fer. „Es darf nicht in Rich­tung Mas­se ge­hen. Wir müs­sen über Qua­li­tät nach­den­ken.“ Über­aus ex­klu­siv ist auch das Mo­bi­li­täts­kon­zept, das im Ho­tel 7132 an­ge­bo­ten wer­den soll. Die Tou­ris­ten, vor­nehm­lich je­ne aus Asien und dem ara­bi­schen Raum, wer­de man per He­li­kop­ter ein­flie­gen. Auf die­sem Luft­we­ge, so die In­ves­to­ren, er­rei­che man auch die be­rühmt­e Lu­xus­enk­la­ve St. Mo­ritz in nur 15 Mi­nu­ten. Das Din­ner ruft.

„Wir hal­ten an un­se­ren Plä­nen fest und ar­bei­ten der­zeit an der be­hörd­li­chen Bau­ein­ga­be“, sagt Pi­us Truf­fer auf An­fra­ge des STAN­DARD . „Im Herbst wol­len wir die Val­ser Be­völ­ke­rung über das Bau­vor­ha­ben und die da­mit ver­bun­de­ne Zo­nen­pla­nän­de­rung ab­stim­men las­sen. Es braucht den Dia­log mit den Men­schen vor Ort. Ge­wiss, es wird Res­sen­ti­ments ge­ben, aber am En­de ver­traue ich auf die Zu­kunfts­fä­hig­keit von uns al­len.“

Dem Pro­jekt ste­hen noch vie­le Hür­den be­vor, nicht zu­letzt der kan­to­na­le Richt­plan, der „Vor­ha­ben mit ge­wich­ti­gen Aus­wir­kun­gen auf Raum und Um­welt“ ab­zu­seg­nen hat, das Raum­pla­nungs­ge­setz (RPG) so­wie die noch aus­stän­di­ge Um­welt­ver­träg­lich­keits­prü­fung. 300 Mil­lio­nen Schwei­zer Fran­ken will die 7132 AG in das Pro­jekt in­ves­tie­ren. Fer­tigs­tel­lung „so in fünf Jah­ren, wenn al­les gut­geht“, so Truf­fer.

Bei al­ler Po­le­mik, die der ge­plan­te Ho­tel­turm aus­ge­löst hat, darf ei­ne Sa­che nicht ver­ges­sen wer­den: Das Pro­jekt regt ei­ne längst über­fäl­li­ge Dis­kuss­ion da­rü­ber an, wie wir in Zu­kunft ge­ne­rell mit der ster­ben­den Ent­wi­cklung ab­ge­le­ge­ner Berg­re­gio­nen um­ge­hen wol­len. Mehr noch als ein ar­chi­tek­to­ni­scher und bau­kul­tu­rel­ler Bei­trag ist das Ho­tel 7132, ob es nun ge­baut wird oder nicht, po­li­ti­scher und raum­pla­ne­ri­scher Zünd­stoff. Und der ist längst über­fäl­lig. Nicht nur bei den Eid­ge­nos­sen, son­dern auch in Ös­ter­reich.

Der Standard, Sa., 2015.04.11

11. März 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Posthumer Pritzker-Preis an Frei Otto: Baumeister der Luftschlösser ist tot

Der Architekt des Münchner Olympiaparks und Erfinder der hängenden Dächer ist im Alter von knapp 90 Jahren verstorben. Der Pritzker-Preis 2015 wird ihm damit posthum verliehen

Der Architekt des Münchner Olympiaparks und Erfinder der hängenden Dächer ist im Alter von knapp 90 Jahren verstorben. Der Pritzker-Preis 2015 wird ihm damit posthum verliehen

Der mit 100.000 US-Dollar dotierte Pritzker-Preis, oft auch als Nobelpreis der Architektur bezeichnet, geht heuer an den deutschen Architekten Frei Otto, der am Montag im 90. Lebensjahr gestorben ist. Aufgrund des plötzlichen Todes zog die Hyatt Foundation die geplante Verkündung des Preises um zwei Wochen vor. Damit wird der 1979 ins Leben gerufene und alljährlich mit großer Spannung erwartete Preis, der als die wichtigste Auszeichnung der Branche gilt, erstmals posthum vergeben.

Frei Otto, 1925 in Chemnitz (vormals Siegmar) geboren, gilt als Erfinder der sogenannten leichten Flächentragwerke, besser bekannt als „hängende Dächer“. Das beste Beispiel dafür, mit dem er auch berühmt wurde, ist das 1972 errichtete Olympiastadion in München. Wie ein Zelt, wie ein schwebendes Spinnennetz spannt sich die transparente Membran über das Stadion und den benachbarten Olympiapark. Damit hat Otto (gemeinsam mit Günther Behnisch) nicht nur den Leichtbau revolutioniert, sondern auch die Entwicklung der Architektur entscheidend mitgeprägt. Das Magazin „Häuser“ wählte den Olympiapark 2003 sogar zum wichtigsten deutschen Gebäude aller Zeiten.

Frühes Interesse an Modellbau

Die Vorliebe für die fast schwerelos wirkenden Konstruktionen kam nicht von irgendwo. Schon in der Schule kam Otto mit Segelfliegen und Modellbau in Kontakt, noch vor seinem Architekturstudium erwarb er den Segelflugschein und setzte sich mit Flugzeugbau und rahmengespannten Membranen auseinander. Im Zweiten Weltkrieg schließlich wurde der angehende Architekt als Kampfpilot eingesetzt. Die Faszination für das Leichte, für das leicht Bewegliche ließ ihn nie wieder los.

Anders als heute konnten die von ihm entwickelten Konstruktionen noch nicht berechnet werden. Die organische, amorphe Form sprengte damals die Grenzen der statischen Berechenbarkeit. Otto gab nicht auf und experimentierte mit Gitterschalen und Seilnetzen sowie mit Drahtmodellen, die er in Seifenlauge tauchte und anschließend genau dokumentierte. Den Glockenturm in Berlin-Schönow (1960) gestaltete er nach dem Vorbild des Skeletts der Kieselalge. Bei der Fußgängerbrücke in Mechtenberg im Ruhrgebiet wiederum orientierte er sich an den Strukturen von Bäumen und Blättern. Ähnlich wie der spanische Architekt Antoni Gaudí (Sagrada Família in Barcelona) leitete Otto auf diese Weise seine Architektur eins zu eins von der Natur ab.

„Ich habe wenig gebaut, ich habe viele Luftschlösser ersonnen“, hat Otto einmal in einem Interview gesagt. Und tatsächlich sind in seinen letzten Lebens- und Arbeitsjahren, die der Architekt fast ohne Augenlicht bezwang, nur noch wenige Bauten entstanden, unter anderem Zeltdachkonstruktionen im islamischen Raum.

Doch dafür hinterlässt Frei Otto viele Zusammenarbeiten, viele theoretische Projekte sowie einen eklatanten Beitrag zur universitären Architektur- und Konstruktionslehre. Neben seinen zahlreichen Büchern gründete er die Forschungsgruppe „Biologie und Bauen“ sowie das Institut für Leichte Flächentragwerke an der TU Stuttgart. Genau für diese Balance aus Architektur und Wissensvermittlung, teilte die Pritzker-Jury mit, wolle man den „Architekten, Visionär, Utopisten“, den „Erfinder der Leichtigkeit“ auszeichnen.

Frei Otto ist nach Gottfried Böhm (1986) der zweite deutsche Architekt, der mit dem renommierten Preis gewürdigt wird. Der bislang einzige österreichische Pritzker-Preisträger ist der vor einem Jahr verstorbene Hans Hollein (1985).

Der Standard, Mi., 2015.03.11



verknüpfte Akteure
Otto Frei

01. März 2015Wojciech Czaja
db

Klammer aus Kratzputz

Die Wohnhausanlage »PAN Interkulturelles Wohnen« in Wien ist der kulturellen Vielfalt ihrer Bewohner gewidmet, die sich bei der Vergabe geförderter Mietwohnungen ganz von selbst einstellt. So beschloss Architekt Werner Neuwirth, das Projekt nicht allein abzuwickeln, sondern Partnerarchitekten aus Zürich und London einzuladen. Gestalterischen Zusammenhalt findet das gelungene Architekturensemble nicht zuletzt über seine wertigen Kratzputzfassaden.

Die Wohnhausanlage »PAN Interkulturelles Wohnen« in Wien ist der kulturellen Vielfalt ihrer Bewohner gewidmet, die sich bei der Vergabe geförderter Mietwohnungen ganz von selbst einstellt. So beschloss Architekt Werner Neuwirth, das Projekt nicht allein abzuwickeln, sondern Partnerarchitekten aus Zürich und London einzuladen. Gestalterischen Zusammenhalt findet das gelungene Architekturensemble nicht zuletzt über seine wertigen Kratzputzfassaden.

»Das Haus, in dem ich wohne, ist so richtig 70er Jahre!«, sagt Sennur Aslantürk missbilligend. »Aber mich hat das Projekt sofort angesprochen. Ich habe mich hier um eine Wohnung beworben, weil ich die Ideen, die hier realisiert wurden, sehr gut finde.« Die türkische Hausfrau wohnt im Haus der Architekten von Ballmoos Krucker aus Zürich. Auch der kaufmännische Angestellte Michael Lenz wohnt hier und stellt ebenfalls die äußere Erscheinung der beige-braunen Häuser infrage, findet jedoch die Wohnungen »super«.

Die Wohnhausanlage »PAN Interkulturelles Wohnen« auf dem Areal des ehemaligen Wiener Nordbahnhofs spaltet die Gemüter. Sie zählt zu den beachtlichsten und eigenwilligsten geförderten Wohnbauprojekten der letzten Jahre. Schon seit 1995 gibt es in Wien das Modell des Bauträger-Wettbewerbs, bei dem ein Bauträger stets in Zusammenarbeit mit einem Architekturbüro ein Konzept ausarbeitet und sich damit um eine Förderung der Stadt Wien bewirbt (s. db 1/2012, S. 24). Und obwohl die Qualität dieser Bauten traditionell sehr hoch ist, bereichert das Kooperationsprojekt PAN des gemeinnützigen Bauträgers Neues Leben und des Architekten Werner Neuwirth die Reihe dieser Wettbewerbe nun noch zusätzlich.

Für Werner Neuwirth war von Anfang an klar, dass – wenn es um Wohnungsbau speziell für unterschiedliche Kulturen geht – auch Planer aus anderen Kulturen eingeladen werden müssen, um sich gemeinsam des Themas anzunehmen. Man könne nicht von einem einzigen Architekten erwarten, sich in verschiedene Kulturen hineinzudenken, sonst geriete das bauliche Resultat solch eines Unterfangens zur Karikatur.

Neuwirth überzeugte den Bauträger, für die Bebauung des Grundstücks nicht nur ihn, sondern noch zwei weitere Architekturbüros aus anderen Ländern zu engagieren. Und so konnte er schließlich gemeinsam mit von Ballmoos Krucker Architekten aus Zürich und Sergison Bates architects aus London ein heterogenes Gebäudeensemble mit insgesamt 90 sehr unterschiedlich gestalteten Wohnungen entstehen lassen. Die nationalen Handschriften aus Österreich, der Schweiz und Großbritannien sind dabei unverkennbar.

Doch warum gerade diese beiden Länder? Neuwirth schätzt die besondere Wohnkultur in der Schweiz, die dort seit der Nachkriegszeit gepflegt wird und die seiner Meinung nach mit ihren einzigartigen Grundrissen zum Weltbesten gehört. Großbritannien habe aufgrund seiner geografischen Distanz zu Kontinentaleuropa ebenfalls seine eigenen Gesetzmäßigkeiten beim Bauen und Wohnen entwickelt. Hier, am ehemaligen Wiener Nordbahnhof, wird man der Zusammenführung der architektonischen Welten mit all ihren einzigartigen Schnitten, Schiebetüren und Split-Levels gewahr.

In diesem gelungenen architektonischen Miteinander soll auch die Nachbarschaft der Nutzer, die bereits wie ein zartes Pflänzchen zwischen den Wohnungstüren gedeiht, weiterhin gestärkt werden. Dafür findet als aktive Unterstützung in regelmäßigen Abständen ein mehrstündiges Mediationsverfahren statt, zu dem alle Bewohner eingeladen sind; Ziel ist es dabei, Vorbehalte abzubauen und die Menschen miteinander bekannt zu machen.

Vielfalt und Einheit

Der Unterschied im Charakter der drei verputzten Stahlbeton-Bauten ist zwar augenfällig, aber nicht aufdringlich. So manches Detail erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Eine gewisse Heterogenität war den Planern wichtig. Um die Individualität nicht zu übertreiben, sollte das Ensemble jedoch auch ein gewisser Zusammenhalt auszeichnen, gerade in einer Stadt wie Wien mit ihrer typischen Blockrandbebauung und ihren zahllosen Putzfassaden. So unterschiedlich die drei Gebäude bei genauerer Betrachtung sind, so sehr sind sie durch die Kratzputzfassaden am Ende wieder vereint. Für den Architekten ist Kratzputz eine »zutiefst österreichische«Technik, weil sie sehr robust und langlebig ist. Umso mehr bedauert er, dass sie in den letzten Jahrzehnten aufgrund ihrer Arbeitsintensität in Vergessenheit geriet. Im Gegensatz zu normalem Dünnputz, der meist organisch gebunden und nicht dicker als 2-3 mm ist, handelt es sich beim eingesetzten Material um einen mineralischen, sehr grobkörnigen Dickputz mit 15-20 mm Dicke. Man sieht den Unterschied nicht nur, man hört ihn auch: Die Fassade klingt dumpf und schwer.

Gegenüber organischen Putzen hat der mineralische Kratzputz auch bauphysikalische Vorteile. Er bildet keine geschlossene Haut, sondern eine offene, poröse Textur mit unendlich vielen Mikrorissen. »Bei organischen Putzen entstehen in der Regel lange, große Risse, wenn die zusammenhängenden Flächen zu groß dimensioniert sind, da die geschlossene Oberfläche nur bis zu einem gewissen Grad Spannung aufnehmen kann«, erklärt Neuwirth. »Hier jedoch wird diese Spannung bereits vom Putzkörper aufgenommen.«

Die Verarbeitung des Kratzputzes fand in zwei Phasen statt. Zunächst wurde er auf die Mineralwolle- bzw. XPS-Platten aufgetragen und verrieben. Am darauffolgenden Tag, sobald er zur Hälfte eingetrocknet war, wurde er dann mit einem Nagelspachtel nochmals aufgerissen. Das ergibt die charakteristische, unverwechselbare »Elefantenhaut«-Oberfläche, die je nach Tageszeit und Lichteinstrahlung mal weich und ineinander fließend, mal hart und voller Kontraste erscheint.

Anspruchsvolle Handarbeit

Soll die materielle Qualität der Oberflächen stimmen, kommt es beim Aufkratzen des halb »angezogenen« Putzes auf die richtige Temperatur, die richtige Luftfeuchtigkeit und nicht zuletzt den richtigen Zeitpunkt an. Ein abrupter Witterungswechsel mit Schnee und Regen während der Trocknungsphase kommt einer Katastrophe gleich, daher wird der Winter für diese Tätigkeit tunlichst gemieden. Hinzu kommt, dass der Vorgang des Aufkratzens möglichst gleichmäßig und in einem Zug ohne größere Unterbrechungen erfolgen soll. Ein mobiler Autokran ist für diese Arbeit dienlicher als ein Baustellengerüst, das die geschossweise Bearbeitung der Fassade erzwingt und zumeist zu horizontalen Streifen führt.

»Ein paar Grad Unterschied, das falsche Wetter am nächsten Morgen und vielleicht zu viele Handwerker, die alle eine unterschiedliche Handschrift haben, und die Schäden sind nicht mehr wegzubringen«, so berichtet Neuwirth, der sich die Putzexpertise selbst angeeignet und bei diesem Projekt erstmals angewandt hat. Das macht die Methode aufwendig und kostspielig – gut das Doppelte der Kosten für einen handelsüblichen Dünnputz.

Abgesehen von der Tatsache, dass es kein einfaches Unterfangen war, Firmen zu finden, die diese Putztechnik überhaupt noch beherrschen, bereitete das Fassadenmaterial auch den Behörden und Ausführenden Schwierigkeiten: Kratzputz wiegt ein Vielfaches von Materialien, die in Österreich heute marktüblich und somit auch in der Norm berücksichtigt sind. Die nötige Tragfähigkeit pro Fassadenanker (bei 18 cm Stahlbeton, 16 cm Wärmedämmung) war daher weitaus höher als die in der Norm festgehaltene Maximallast. Dies führte dazu, dass die Tragwerksplaner die Lasten individuell berechnen mussten, die Behörden hatten Genehmigungen zu erteilen und die Baufirmen mussten die Haftungsrichtlinien der Putzarbeiten mit Bauträger und Architekt individuell vereinbaren. ›

Durchgefärbt

Die Kritik vieler Bewohner an der Architektur gilt v. a. der vermeintlich einheitlichen Farbgebung der drei Gebäude. Tatsächlich jedoch sind es drei unterschiedliche Beigetöne, die nah beieinander liegen: einmal mit etwas höherem Grauanteil, einmal mit einem Braunstich und einmal mit mehr Grün. Dabei bleibt die Farbgebung bewusst sehr nah an natürlichen Erd- und Lehmfarben, um den körperlichen Eindruck der Architektur zu betonen, statt einen kolorierten Eindruck zu hinterlassen. Dazu trägt auch bei, dass der Kratzputz durchgefärbt wurde. Ein Anstrich kam nicht infrage, um nicht die mühsam hergestellte offenporige Oberfläche wieder zu versiegeln. Der Architekt meint sogar: »Einen Kratzputz anzumalen, wäre ein Fauxpas.«

Als wären die ungewöhnliche Putzfassade und die vielfältigen Wohnungszuschnitte nicht schon genug des Überdurchschnittlichen, verfügen die drei Niedrigenergiehäuser über Fußbodenheizung und Dreischeiben-Verglasung. Das ist ein beinahe schon luxuriöses Gesamtpaket. Ob der hohe Aufwand und die entsprechend hohen Kosten in Relation zu der Idee des geförderten und zu bezahlenden Wohnens stehen, ist für Werner Neuwirth nicht die Frage, da es bei den Baukosten gelang, innerhalb des förderbaren Budgetrahmens zu bleiben.

Wenn ein Bauwerk sozialen und kulturellen Wert hat, wenn es über so etwas wie Charakter und Identität verfügt, wenn es darüber hinaus auch noch Ästhetik und Sinnlichkeit besitzt, dann wird es die nächste Generation gerne übernehmen und weiternutzen. Davon kann man beim Projekt »PAN Interkulturelles Wohnen«, in dem Bewohner aus mehr als 20 Nationen zu Hause sind, ohne jeden Zweifel ausgehen.

db, So., 2015.03.01



verknüpfte Bauwerke
PaN-Wohnpark



verknüpfte Zeitschriften
db 2015|03 Putz

28. Februar 2015Wojciech Czaja
Der Standard

„Stundenlang über meine Fehler sprechen“

Der Mailänder Architekt Stefano Boeri hält am Freitag einen Festvortrag in Wien. Er wird über Versagen und Misserfolg referieren. Das macht neugierig. Wir haben ihn gefragt, was seine Erfahrung mit diesem zünftigen Tabu ist.

Der Mailänder Architekt Stefano Boeri hält am Freitag einen Festvortrag in Wien. Er wird über Versagen und Misserfolg referieren. Das macht neugierig. Wir haben ihn gefragt, was seine Erfahrung mit diesem zünftigen Tabu ist.

Zutritt verboten, ein Bauzaun ohne Anfang und ohne Ende, eine Schutthalde mitten im Weg, die Eingangstür steht halb offen, von oben hängen Aluminiumteile hinab, scheppern im Wind, klopfen gegen die Glasfassade. „Es ist schon traurig“, sagt Stefano Boeri. Er ist der Architekt dieses mehr als 150.000 Quadratmeter großen Riesengebäudes. „Aber so ist das in Italien. Jahrelang wird geplant und gebaut, mehr als 300 Millionen Euro werden investiert, das Haus steht kurz vor der Fertigstellung, und dann kommt Berlusconi daher, und alles ist anders.“

Das Kongresszentrum in La Maddalena, Sardinien, wurde für den G-8-Gipfel im Juli 2009 errichtet. Drei Monate zuvor wurde das Gipfeltreffen kurzerhand ins erdbebengezeichnete L'Aquila verlegt. Voyeurismus in Schutt und Asche, das sei medientauglicher und entsprechend lukrativer als ein kleines Hafenstädtchen am Ende der Welt, hat man damals zwischen den Zeilen vernommen. Der Bau steht seitdem leer und verfällt. Eine moderne Ruine.

Kommende Woche hält Boeri im Rahmen des Architekturfestivals „Turn on“ im ORF-Radiokulturhaus einen Festvortrag über sein niemals fertiggestelltes Kongresszentrum. Unter dem Titel „Architecture Fiasco“ will er sich dem Scheitern widmen. „Misserfolg und Versagen gehören zu diesem Job dazu wie zu jedem anderen auch“, meint Boeri. „Aber gerade in der Architektur, wo es darum geht, etwas zu erschaffen, ist das Missglückte mitunter noch viel unglücklicher.“

STANDARD: Wann waren Sie zum letzten Mal in La Maddalena?

Boeri: Im Jänner. Es ist ein eigenartiges Gefühl. Immer noch. Und immer mehr.

Im Dokumentarfilm „La Maddalena“ von Ila Bêka and Louise Lemoine machen Sie einen Spaziergang durch das Gebäude und kommentieren den Lauf der Dinge. Wie geht es Ihnen, wenn Sie da durchmarschieren?

Boeri: Nicht gut. Es ist traurig. Irgendwie fühlt man sich als Architekt mitverantwortlich, dass das Haus nun leersteht, auch wenn das natürlich reichlich absurd ist. Vor allem aber empfindet man so etwas wie Scham.

Warum ist es so schwer, über Fehler zu sprechen?

Boeri: In unserer Profession gibt es viele Quellen möglicher Fehler. Man macht ein Projekt, und es wird niemals realisiert. Ein Versagen. Man realisiert ein Projekt, und irgendein technisches Detail funktioniert nicht so, wie man es sich vorgestellt hat. Ein Versagen. Und man macht ein Projekt mit all den technischen Raffinessen, die es gibt, und dann steht es am Ende leer. Und wieder ein Versagen. Irren ist menschlich. Aber in unserem Beruf ist Irren ein Tabu.

Nicht der Architekt hat sich geirrt, sondern der Politiker. Wie hat sich Berlusconi zu diesem Projekt geäußert?

Boeri: Silvio Berlusconi war drei- oder viermal vor Ort. Jedes Mal war er enttäuscht. Beim ersten Mal meinte er: Warum machen Sie das nicht so? Und das so? Und das dort vielleicht so? Beim zweiten Mal hat er uns Innenmobiliar nach seinem Geschmack vorgeschlagen. Da hätte man schon ahnen können, dass wir auf eine Sackgasse zusteuern. Zuletzt hat er festgestellt, dass ihm das Projekt nicht gefällt. Ihm fehle die Ornamentik, die Grandezza, die Monumentalität, die Symbolik der politischen Macht.

Warum ist es so schwer, sich von den alten Bildern einer politischen Architektur zu verabschieden?

Boeri: Raum und Politik ... das ist ein schwieriges, sensibles Thema. Im Laufe der Geschichte hat politische Architektur immer ihre ganz spezifische Form gehabt. Wir wollten diese Form neu interpretieren und haben den politischen Raum als einen Ort der Offenheit und Transparenz gedeutet. Im Kongresszentrum La Maddalena scheinen die lichtdurchfluteten Räume in die Landschaft, ins Meer hinauszufließen. Das war unser Bild einer neuen politischen Architektur. Die sardische Regierung war von dieser Idee sehr angetan. Berlusconi war es nicht.

Der Gipfel hätte auch bloß wenige Tage gedauert. Was ist mit der Zeit danach? Warum ist es bis heute nicht gelungen, eine geeignete Nachnutzung für das Projekt zu finden?

Boeri: Wir hatten von Anfang an ein Konzept für die Nachnutzung, für eine Art Second Life nach dem G-8-Gipfel - mit Sporthafen, Hotel, Freizeiteinrichtungen und so weiter. Da das Land, auf dem das Kongresszentrum heute steht, früher militärisch genutzt worden war und entsprechend kontaminiert war, haben wir eine Reinigung in Auftrag gegeben. Die Baufirma hat das Geld kassiert, den Grund und Boden aber niemals gesäubert. Sämtliche geplante Nachnutzungen sind damit gestorben. Ein Fiasko.

Was passiert nun mit dem Areal?

Boeri: Das ist schwer zu sagen, denn die Eigentumsverhältnisse sind sehr komplex. Wir sind gerade im Gespräch mit der Regierung. Auch wenn es paradox klingt: Eine Idee ist, in La Maddalena den nächsten Weltwirtschaftsgipfel abzuhalten. Das wäre nachhaltig.

Wie definieren Sie den Begriff „Nachhaltigkeit“?

Boeri: Langlebigkeit.

Im Mai startet die Expo in Mailand. Sie haben die Richtlinien für den Masterplan entwickelt. Was soll passieren, damit das Expo-Gelände nicht so endet wie jenes in Hannover nach der Expo 2000?

Boeri: Wir haben den Expo-Menschen einen großen botanischen Garten mit leichten, temporären Aufbauten vorgeschlagen. Wir wollten aus den Fehlern der vergangenen Weltausstellungen in Hannover, Sevilla und Zaragoza lernen und es besser machen. Unsere Idee war, das Areal anschließend in Ackerland zu verwandeln. In der Zwischenzeit hat sich die Balance aus permanenten und temporären Bauwerken auf dem Expo-Gelände dramatisch verändert. Aus unserem Nachnutzungskonzept wird wohl nichts werden. Das war der Stadt Mailand zu wenig lukrativ.

Was kommt stattdessen?

Boeri: Die Expo hat sich im Laufe der letzten Monate mehr und mehr zu einer sehr klassischen, konservativen Weltausstellung entwickelt. Meinen Job als Expo-Konsulent der Stadt Mailand bin ich mittlerweile los. Ich wurde abgesägt. Was mit dem Expo-Gelände nach Ablauf der Expo passieren soll, ist ungewiss. Bis heute liegt kein entsprechendes Nachnutzungskonzept auf dem Tisch. Ich habe Vorschläge unterbreitet. Sie wurden nicht gemocht. Ich muss aufhören, immer wieder in die gleichen Fallen hineinzutappen.

Sie meinen?

Boeri: Der Architekt als halber Politiker.

Werden wir jemals aufhören, Fehler zu machen?

Boeri: Niemals. Ich könnte stundenlang über meine Fehler sprechen ...

Wie bekommen wir unsere Fehler besser in den Griff?

Boeri: Wir müssen endlich kapieren, dass Fehler unvermeidlich sind und dass sie eine immens wichtige Ressource für unser Leben sind. Die offene, tabulose Kultur vermisse ich. Vor allem aber müssen wir lernen, dass unser Job als Architekt nicht mit der Fertigstellung des Bauwerks aufhört. Unsere Verantwortung reicht Jahrzehnte, ja vielleicht sogar Jahrhunderte in die Zukunft. Dessen sind sich die wenigsten bewusst. Sie bauen und bauen und bauen. Und bauen. Und bauen.

Stefano Boeri (58) ist Architekt und Stadtplaner in Mailand. Er war Chefredakteur der internationalen Design-Magazine „Domus“ und „Abitare“ und ist nun Leiter der Forschungsgruppe Multiplicity, die sich mit dem Wandel von Bauland und Landnutzung beschäftigt. 2013 baute er für die Europäische Kulturhauptstadt Marseille das Centre Régional de la Méditerranée in Marseille. Letztes Jahr stellte er in Mailand das Wohnhochhaus „Bosco Verticale“ mit 800 Bäumen und mehr als 20.000 Sträuchern, Büschen und Pflanzen fertig. Das Projekt wurde vielfach ausgezeichnet. Für die Expo 2015 in Mailand erstellte er gemeinsam mit Jacques Herzog, Richard Burdett und William MacDonough die Richtlinien für den Masterplan. Das Architekturfestival „Turn on“ findet vom 5. März, 16.30 Uhr bis zum 7. März, 22 Uhr statt. Mit zahlreichen Nonstop-Vorträgen. Der Festvortrag von Stefano Boeri findet am Freitag, den 6. März, um 10.30 Uhr statt. ORF-Radiokulturhaus, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien. Eintritt frei (www.turn-on.at)

Der Standard, Sa., 2015.02.28

14. Februar 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Zauberformel zum Glück

Am 20. Februar feiert der Wiener Architekt Harry Glück, Vater der Wohnhausanlage Alt-Erlaa, seinen 90. Geburtstag. Wir haben ihn gebeten, eine Zwischenbilanz über sein Werk zu ziehen. Ein Gespräch über Glück und Sünde in der Architektur.

Am 20. Februar feiert der Wiener Architekt Harry Glück, Vater der Wohnhausanlage Alt-Erlaa, seinen 90. Geburtstag. Wir haben ihn gebeten, eine Zwischenbilanz über sein Werk zu ziehen. Ein Gespräch über Glück und Sünde in der Architektur.

Standard: Kommenden Freitag werden Sie 90. Sind Sie glücklich?

Glück: Jünger wär ich glücklicher. Aber das bin ich nicht. Was mein jetziges Glück betrifft: Ich arbeite immer noch, wenn auch nicht so intensiv wie früher, und ich bin nach fast 60 Jahren immer noch mit derselben Frau verheiratet. Das ist für mein Glück durchaus zuträglich.

Standard: Wie werden Sie Ihren Geburtstag verbringen?

Glück: Vielleicht wird es regnen.

Standard: Warum?

Glück: Ich fürchte, auf eine Feier eingeladen zu sein, die mir die Bewohner im Wohnpark Alt-Erlaa zugedacht haben. Einerseits freut mich das, aber ich feiere nicht gerne. Ich bin kein Gesellschaftsmensch.

Standard: Wie lautet Ihre Zwischenbilanz, wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben zurückblicken?

Glück: Als Architekt kann man von Wien aus nicht viel erreichen. Von dem jedoch, was man erreichen kann, habe ich mein Potenzial ganz gut ausgeschöpft. Ich denke, dass ich einen wichtigen Beitrag zum Wiener Wohnbau geleistet habe. Reinhard Seiß hat unlängst sogar ein Buch über meine Wohnbauten herausgegeben.

Standard: In Ihrer Karriere haben Sie rund 18.000 Wohnungen geplant. Das ist eine Menge. Sind die alle gut?

Glück: Es ist niemals alles gut, was man macht.

Standard: Sie wenden für Ihre Bauten die „Grundsätze der Reichen“ an, wie Sie selbst meinen. Was sind diese Grundsätze?

Glück: Die Grundsätze der Reichen sind ganz einfach: Licht, Luft, Sonne, Nähe zu Natur, Nähe zu Wasser, Mobilität und Möglichkeiten zur Kommunikation. Das klingt einfacher, als es ist. Wenn man sich aber umschaut, wie die Nichtreichen wohnen, wird man merken, dass meist nicht einmal diese einfachen Faktoren positiv erfüllt werden. In meinen Wohnbauten versuche ich, so viel als möglich von diesen Parametern einfließen zu lassen. Ich nenne das immer - frei nach Jeremy Bentham, dem Begründer des klassischen Utilitarismus - „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“.

Standard: Ist das Wohnen in diesen riesigen Maßstäben legitim?

Glück: Die Menschheit soll in den nächsten 20 Jahren auf 8,5 Milliarden Menschen anwachsen. Mit Einfamilienhäusern und kleinen Wohnhausanlagen wird das nicht zu machen sein. Die gesellschaftliche Situation hat sich geändert. Der Markt und die Menschen haben so hohe Wohnansprüche kreiert, dass sich die Erfüllung dieser Sehnsüchte nur dann erzielen lässt, wenn man sie im Kollektiv anbietet - so wie in Alt-Erlaa.

Standard: Sie sprechen vom gemeinsamen Swimmingpool auf dem Dach?

Glück: Zum Beispiel. Den Luxus für alle kann man nur dann machen, wenn er für eine große Zahl konsumierbar ist. Sonst ist er flächen- und ressourcentechnisch nicht realisierbar. Am Pool trifft man den Generaldirektor in der Badehose. Das schafft Begegnung auf Augenhöhe. Das ist ein Katalysator für Sozialisation und Kommunikation.

Standard: Ein Pool auf dem Dach ist ja nicht gratis. Wie schaffen Sie es, in Ihren geförderten Wohnbauten immer wieder Luxus zu integrieren?

Glück: Zauberformel haben wir keine. Für jeden Bau beginnen wir den Kampf von neuem.

Standard: Ihre Wohnbauten werden manchmal als „Betonburgen“ beschimpft. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?

Glück: Meine Häuser sind Betonburgen. Das stimmt. Aber ich behaupte: Es sind zumindest schöne Betonburgen, einige davon sind attraktiver als so manche Nichtbetonburg.

Standard: Wie zufrieden sind Sie mit dem, was heute in Wien gebaut wird?

Glück: Von den Behörden kommen viele Behinderungen. Die baulichen Anforderungen an Statik, Erdbebensicherheit, Brandschutz, Schallschutz und Barrierefreiheit sind zum Teil überzogen und haben mit der österreichischen Realität nichts mehr zu tun. Das kostet nur viel Geld. Die Folge davon ist, dass das Geld dort fehlt, wo man es eigentlich dringender brauchen würde.

Standard: Wie wird es weitergehen?

Glück: Es wird nur weitergehen, wenn die Architekten aufhören, alles kritiklos hinzunehmen, und endlich anfangen, sich gegen die immer schärfer werdenden baulichen Anforderungen zu wehren. Diesen Impetus vermisse ich.

Standard: Ich muss Ihnen noch eine Frage zu Ihren Bausünden stellen.

Glück: Machen Sie!

Standard: Das Hotel Marriott am Parkring gilt als eine der größten Bausünden Wiens. Was ist da passiert?

Glück: Das war der Höhepunkt der Postmoderne. Wir standen unter Zeitdruck, die terminlichen Anforderungen waren extrem, und der Bezirksvorsteher hat uns seinen Geschmack aufs Auge gedrückt. Das Marriott ist, was es ist. Ich gebe zu, das ist keine Glanztat ... wir hätten diesen Auftrag zurückgeben sollen. Aber es funktioniert als Hotel immer noch. Das ist das Wichtigste.

Standard: Und was ist mit dem Franz-Josefs-Bahnhof?

Glück: Bei diesem Auftrag waren wir nur in die technische Abwicklung involviert. Aber Fakt ist: Man war damals in einer Identitätskrise und hat sich auf die Suche nach neuen Formen begeben. Der Franz-Josefs-Bahnhof war ein Versuch, diese Form zu finden. Heute wissen wir, dass der Fund kein sonderlich guter war.

Standard: Das von Ihnen geplante Rechenzentrum neben dem Rathaus soll demnächst abgerissen werden. Wie geht es Ihnen damit?

Glück: Das Rechenzentrum wurde detailliert nach dem Layout der Computerfirmen geplant. Wie ich gehört habe, wäre das Haus mit geringen Mitteln adaptierbar gewesen. Doch da ich in diese Interna nicht einmal aus Höflich- keit eingebunden wurde, kann ich darüber keine Aussage machen. Ich wache in der Nacht nicht schluchzend auf. Da gibt es andere Kollegen, die das eher müssten.

Standard: Woran denken Sie am liebsten zurück?

Glück: Am liebsten ... das weiß ich nicht. Aber sehr gerne denke ich an meine Anfänge zurück. Während des Zweiten Weltkriegs habe ich Theater gemacht und mich am Reinhardt-Seminar beworben. Wieso die mich aufgenommen haben, ist mir bis heute ein Rät- sel. Aber es war ein guter Start. Über die Bühnenbildnerei bin ich schließlich zur Architektur gekommen. Das ist auch eine Art Bühnenbild, nur größer und wichtiger.

Standard: Woran arbeiten Sie derzeit?

Glück: Dreimal dürfen Sie raten!

Standard: An einem Wohnbau.

Glück: Korrekt. Wir arbeiten aktuell an mehreren Wohnhäusern, unter anderem an einer Wohnhausanlage auf den ehemaligen Coca-Cola-Gründen in Wien. Das Grundkonzept ist die grüne Stadt.

Standard: Was wird Ihnen in Zukunft noch Glück bereiten?

Glück: Mit Paula, meiner zweijährigen Hündin, in den Prater spazieren gehen und hoffen, dass es nicht regnet, zumindest nicht an diesen Tagen, an denen ich sonst keine Verpflichtungen habe.

Harry Glück, geboren 1925 in Wien, studierte Bühnenbild und absolvierte das Reinhardt-Seminar. Er machte mehrere Bühnenbilder, u. a. für das Theater in der Josefstadt und das Renaissance-Theater in Berlin. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er als Innenarchitekt und Möbelplaner, später dann vor allem als Architekt tätig. Er plante vor allem sozialen Wohnbau. Sein bekanntestes Projekt ist der zwischen 1973 und 1985 errichtete Wohnpark Alt-Erlaa. Vor zwei Wochen hat er das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien 2015 erhalten.

Der Standard, Sa., 2015.02.14

31. Januar 2015Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Ein Baustoff namens Erde

Lehmbau ist ein exotisches Nischenprodukt. Völlig zu Unrecht, denn Lehm gilt als einer der besten und billigsten Klimaregulatoren, die es gibt. Allmählich erlebt das Lowtech-Material eine Renaissance.

Lehmbau ist ein exotisches Nischenprodukt. Völlig zu Unrecht, denn Lehm gilt als einer der besten und billigsten Klimaregulatoren, die es gibt. Allmählich erlebt das Lowtech-Material eine Renaissance.

Ich wundere mich manchmal über das schlechte Image von Lehm", sagt Martin Rauch, graumelierte André-Heller-Locken, ein Lächeln wie ein Sonnenschein. „In unseren Breitengraden gilt Lehm, vor allem Stampflehm, immer noch als Armeleutebaustoff, doch im Grunde genommen ist es ein großartiges und vielfältiges Material und einer der wichtigsten Baustoffe der Welt.“

Mehr als ein Drittel der Menschheit leben in Lehmhäusern. Besonders verbreitet ist die Bauweise in Nord- und Zentralafrika, auf der gesamten Arabischen Halbinsel sowie im Iran. Doch die Tage dieses vielleicht ältesten Baustoffs der Menschheitsgeschichte sind bereits gezählt, denn in seinen Ursprungsländern gerät Lehm nach und nach in Vergessenheit. Wo Geld ist, da sind kurze Zeit später auch Stahl, Glas, Ziegel und Beton.

Da kommt Martin Rauch, Geschäftsführer der Lehm Ton Erde Baukunst GmbH, gerade recht. Der Vorarlberger Architekt, der mittlerweile auf dem halben Erdball tätig ist und mit so namhaften Büros wie Marte.Marte, Matteo Thun, Herzog & de Meuron, Snøhetta und Olafur Eliasson zusammenarbeitet, ist ein Lehmbau-Lobbyist im besten Sinne. „Gerade in jenen Ländern, aus denen die Lehmbaukultur ursprünglich stammt, gibt es oft kein Know-how“, sagt Rauch. „Die Leute wissen nicht mehr, wie man mit Stampflehm baut. Dann springen wir ein, fliegen in den Süden und bilden die Handwerker und Bauarbeiter aus. Ist das nicht absurd?“

Zu den bisherigen Lehmbauten, die Rauch mit seinen Mitarbeitern stets eigenhändig errichtet, zählen Einfamilienhäuser, Schulen, Museen, Bürogebäude, Gewerbehallen, Kirchen, Friedhofsbauten und Hotels. Erst letztes Jahr stellte Rauch in Hirschegg, Steiermark, für den Vorarlberger Architekten Hermann Kaufmann das Naturhotel Chesa Valisa fertig. Und 2012 baute er - gemeinsam mit den Schweizern Jacques Herzog und Pierre de Meuron - für den Schweizer Kräuterzuckerlkönig Ricola eine Lagerhalle.

Ideale Lagerbedingungen

Das „Ricola Kräuterzentrum“ in Laufen bei Basel ist eine archaische, 110 Meter lange, 30 Meter breite und elf Meter hohe Halle aus Stahlbeton und Stampflehm. Nicht ohne Grund: „Nachdem der Lehm ein perfekter Klimaregulator ist, brauchen wir in dieser Lagerhalle keine Be- und keine Entfeuchtungsanlage. Die Luftfeuchtigkeit reguliert sich ganz von selbst.“ Die Ricola-Experten sind glücklich: Je nach Jahreszeit und Witterung beträgt die Luftfeuchte zwischen 50 und 60 Prozent. Ohne Technik und ohne Maschine, versteht sich. Ideale Lagerbedingungen für die Lutschbonbons in spe.

Und jetzt Saudi-Arabien. Schon seit einigen Jahren werkelt Rauch - gemeinsam mit dem Osloer Büro Snøhetta - am King Abdulaziz Center for World Culture (siehe Foto). Der riesige, futuristisch anmutende Bau in Dhahran, benannt nach dem vor einer Woche verstorbenen saudischen König Abdullah Ibn Abdulaziz Al Saud, ist ein Konglomerat aus Kulturzentrum, Theater, Kino, Veranstaltungshalle, Galerien und Büro-Tower. In der 120 mal 80 Meter großen Plaza, die all die unterschiedlichen Bauteile miteinander verbindet, sowie im Eingangsbereich kam auf mehr als 10.000 Quadratmeter Wandfläche Stampflehm zum Einsatz.

„Die Luftfeuchtigkeit am Persischen Golf schwankt enorm“, so Rauch. „Mal ist die Luft nass wie ein Schwamm, mal ist es trocken heiß bei 45 bis 50 Grad Celsius. Der Lehm fungiert hier als Regulator zwischen den Extremen. Wie wir aus der traditionellen Architektur in diesem Kulturraum nur zu gut wissen, kann man dank dicker Lehmwände auf so man- che Klimaanlage verzichten.“ Im Herbst dieses Jahres soll das King Abdulaziz Center nach fünfjähriger Bauzeit eröffnet werden.

Weniger königlich-feudale Bauherren sind die Spezialität von Anna Heringer. Die Liebe zum Lehm begann bei der mit dem Aga Khan Award ausgezeichneten Architektin bei einem einjährigen Entwicklungshilfe-Aufenthalt in Bangladesch. Seitdem ist sie immer wieder dorthin zurückgekehrt, ihre Diplomarbeit - die METI Handmade School in Rudrapur - wurde 2006, gemeinsam mit einer Heerschar Freiwilliger, erdige Realität. Der Selbstbau mit der Hand am Material ist dabei bis heute Heringers Grundüberzeugung geblieben.

Lehmende Erkenntnis

„Ein Haus aus Lehm kann man nicht aus der Ferne planen, man muss selbst vor Ort sein.“ Dass der Wissenstransfer beim Bauen keine Einbahnstraße ist, zeigen die Projekte, die Heringer in der westlichen Hemisphäre realisiert: An der Elite-Uni Harvard entstand gemeinsam mit Studenten eine „Mud Hall“, an der ehemaligen Berliner Mauer eine „Mud Wall“, und letztes Jahr brachte sie sogar westafrikanisches Lehmbau-Wissen nach Westösterreich.

Für den Hauptsitz des Energieversorgungsunternehmens Omicron Electronics in Klaus, Vorarlberg, entwickelte Heringer gemein-sam mit Martin Rauch Mitarbeiterräume, die mit der sonst üblichen Neonlicht-Nadelfilz-Konferenzraum-Tristesse wenig zu tun haben. Ein leichter, schwebender „Zeppelin“ in Gestalt eines mit indischen Textilien bespannten Holzskelettes und ein erdschwerer, archaischer, kartoffelartig wir-kender „Monolith“ aus Lehm mit einem ausgehöhlten Inneren. In diese sanftraue Geborgenheit dürfen sich in Kürze die Omicron-Elektroniker embryonal knotzend zum entspannten Brainstorming zurückziehen. Vorbild für dieses Projekt war eine Lehmbautechnik aus Ghana. Dank österreichischer Bauvorschriften musste der handgefertigte Kuppelbau mit Stahlringen verstärkt werden.

Die lehmende Erkenntnis: Ganz ist man in Europa noch nicht für den Import des so billigen wie klimatisch vorteilhaften Baustoffes gerüstet. Dabei ist dieser in unseren Breiten ein alter Bekannter, der auch den weltweiten wechselnden Witterungen tadellos trotzen kann. Im deutschen Weilburg an der Lahn steht ein sechsgeschoßiges Stampflehmhaus aus dem Jahr 1836. Der Bau ist gut beieinander und wird immer noch bewohnt. Und in der jemenitischen Stadt Schibam gibt es acht- und neunstöckige Lehmhochhäuser, die bis zu 500 Jahre alt sind. Sie stehen noch immer.

Der Standard, Sa., 2015.01.31

31. Januar 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Äs schöns Huus met Recht und Pflicht

Der Schweizer Wohnbau ist bereits im Übermorgen angekommen. Vor allem Zürcher Genossenschaften legen mit autofreiem Wohnen, exotischen Grundrissen und jeder Menge infrastruktureller Anreize die Latte hoch.

Der Schweizer Wohnbau ist bereits im Übermorgen angekommen. Vor allem Zürcher Genossenschaften legen mit autofreiem Wohnen, exotischen Grundrissen und jeder Menge infrastruktureller Anreize die Latte hoch.

Das Bild ist gewöhnungsbedürftig. Direkt vor dem Haus fährt jede Viertelstunde die Sihltalbahn vorbei, dann senkt sich der Bahnschranken, dann bleiben alle stehen und warten geduldig ab, bis der dunkelrote Zug vorbeigefahren ist. Und tatsächlich stehen hier, am sogenannten Sihlbogen, die Zeichen auf öffentlichen Verkehr, denn die Vergabe der 140 Wohnungen in den beiden langgestreckten Bauteilen entlang der Gleise war an eine unumstößliche Forderung geknüpft: Es gibt keine Garage. Wer hier wohnen möchte, der erklärt sich bereit, auf ein eigenes Auto zu verzichten. Im Gegenzug bekommt er - als Teil der Miete - eine Jahreskarte für Zug, Bus und Tram.

Was sich mit unseren österreichischen, wohnbaurechtlich und marktkonform geschulten Ohren anhört wie eine Utopie, ist andernorts Realität. Am nördlichen Stadtrand von Zürich plante das Büro Dachtler Partner Architekten dieses ungewöhnliche Passivhaus, das bis auf die betonierten Stiegenhauskerne komplett aus Holz erbaut wurde. Es ist das erste siebenstöckige Holzgebäude der Schweiz.

Bauweise und Verkehrskonzept sind ein Beitrag zum energiepolitischen Programm „2000-Watt-Gesellschaft“, das im November 2008 per Volksabstimmung beschlossen wurde und das bis 2050 im Großraum Zürich realisiert werden soll. Hinter dem ungewöhnlichen Projekt Sihlbogen steckt kein gemeinnütziger Wohnbauträger, sondern eine der rund 1700, größtenteils kleinen Wohnbaugenossenschaften, die es in der Schweiz gibt.

Wohnbauexempel

„Die Genossenschaft ist eine sehr innovative und hat uns zu neuen baulichen Lösungen regelrecht gezwungen“, sagt Micha Vogt, Projektleiter bei Dachtler Partner Architekten. Die österreichischen Architekten, Fachplaner und Bauträgerchefs auf einem von Wohnen Plus, Wohnen Plus Akademie und raum & kommunikation veranstalteten Praxischeck staunen nicht schlecht. Gezwungen? „Ja, die Vorgabe lautete, wir sollen experimentieren und ein Exempel statuieren, das es in dieser Form in der Schweiz noch nie zuvor gab.“ Neidvolle Blicke. So sieht Applaus mit den Augen aus.

Noch einen Schritt radikaler ist der im Herbst vergangenen Jahres fertiggestellte Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich-Wiedikon. Nur ein paar Tramstationen vom Hauptbahnhof entfernt entstand hier ein 23.000 m² großer Mix aus Wohnen, Gewerbe, Hotel, Kino und allerlei exotischen Einrichtungen und Dienstleistungen. Im Gegensatz zum Sihlbogen gibt es hier nicht nur klassische Wohnungen, sondern auch Wohngemeinschaften und Cluster-Wohnungen mit bis zu zehn individuellen Wohn-Units.

„Nach EU-Gesetz haben wir hier nur 55 Wohnungen“, sagt Res Keller, Geschäftsführer der Genossenschaft Kalkbreite. „Tatsächlich aber gibt es knapp hundert Einheiten, die in individuellen Wohnverbänden zusammengefasst sind. Das Angebot wird gut angenommen. Wir sind voll, würden wir eine Warteliste führen, wäre sie elendslang.“ Entstanden ist das Projekt, das mit seiner gelb-orange-hellblau gesprenkelten Putzfassade mehr als auffällt, als Folge eines dreitägigen Intensiv-Workshops vor einigen Jahren, an dem jeder Zürcher teilnehmen durfte. Auf Basis des erarbeiteten Entwurfs wurde dann eine Genossenschaft gegründet und Geld auf die Beine gestellt.

Der Verzicht auf ein eigenes Auto versteht sich von selbst. Wer diese Regel bricht, der fliegt. Darüber hinaus gibt es Baby- und Kinderbetreuung, Yoga- und Tanzräume, Wohngemeinschaften samt angestellten Köchen und sogar ausgelagerte „Wohn-Joker“ - das sind kleine Wohnzellen, die die Bewohner entweder für Langzeitgäste oder kurzfristig für Rosenkriege oder pubertierende Jugendliche anmieten können.

„Wir haben die inzwischen gebaute Vision von Anfang an gemeinsam mit vielen entwickelt“, sagt Keller. „Wie sich die vielen Ideen nun im Alltag bewähren, wird sich zeigen. Baulich haben wir zumindest die Voraussetzungen dafür geschaffen, hier eine neue Art von Gemeinschaft leben zu können.“ Die Wohnungen sind unterschiedlich ausgestattet und kosten demnach unterschiedlich viel. Um eine Wohnung mieten zu können, muss man Mitglied der Genossenschaft sein. 100 Quadratmeter Wohnfläche kosten im Schnitt 2000 Franken - das ist für einen Neubau in Zürich günstig.

„Entweder man baut weiter Schuhschachteln dort, wo es teuer ist“, erklärt Peter Schmid, Präsident des Regionalverbands Zürich der Wohnbaugenossenschaften Schweiz, auf Anfrage des STANDARD. „Oder aber man zieht an günstigere Standorte und experimentiert dort und bietet dem Mieter schließlich eine Qualität, die den nicht ganz so zentralen Standort wieder wettmacht. Ich bin mir sicher, dass diese Strategie die richtige ist, denn Monotonie gibt es schon zur Genüge.“ Jetzt sei die Zeit für Projekte mit Strahlkraft da. Vielleicht strahlen sie ja bis Österreich.

Der Standard, Sa., 2015.01.31

17. Januar 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Preisgekrönt vergittert

Vor kurzem wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit verliehen. Unter den Siegerprojekten befindet sich eines, das die gesellschaftspolitische Verantwortung besonders ernst nimmt.

Vor kurzem wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit verliehen. Unter den Siegerprojekten befindet sich eines, das die gesellschaftspolitische Verantwortung besonders ernst nimmt.

Ich kenne den Unterschied zu dem, wie's früher war, damals noch im alten Haus", sagt ein junger Mann, nennen wir ihn Max. „Und jetzt ist es eindeutig besser. Die Räume sind sauber, hell und angenehm gestaltet. Jedes Zimmer hat ein kleines Bad mit Dusche und WC. Und irgendwie ist hier im Laufe der Zeit eine Gemeinschaft entstanden. Wir sind wie Nachbarn zueinander.“ Max ist einer von rund 25 Männern in seiner Wohngruppe. Max geht gerade am Gang spazieren. Max hat noch zwei Monate.

Letzten Dienstag wurde das Gefängnis Korneuburg, das unfreiwillig temporäre Zuhause von derzeit knapp 270 Insassen, mit dem Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Das außergewöhnliche Justizzentrum mit Gerichtsgebäude und Strafvollzugsanstalt ist damit einer von insgesamt fünf Preisträgern (siehe rechts), die allesamt unter Beweis stellen, dass gestalterische, funktionale und ökologische Aspekte längst keine Gegensätze mehr bilden, sondern durchaus vorbildlich in Einklang zu bringen sind.

„Das Gebäude ist ein Passivhaus, aber man sieht es ihm beim besten Willen nicht an“, meint Wolfgang Turner, Leiter der Vollzugsanstalt, dunkelblaue Justizwachemontur, Wappen mit Adler auf dem Ärmel. „Die Energiekosten sind dramatisch zurückgegangen, das Klima in den Innenräumen hat sich, nachdem wir das System zwei Saisonen lang fein hin und her justieren mussten, gut eingependelt.“ In Zahlen: Der Heizwärmebedarf beträgt 5,2 kWh/m²a. In Buchstaben: Zertifizierung A++. Das ist ein Spitzenwert.

Zu verdanken sei dies der kompakten Bauform und dem im Vergleich zu einem Wohnhaus etwas geringeren Glasanteil in der Fassade, erklärt Architekt Conrad Messner, einer der Planer der Tiroler ARGE Dieter Mathoi & DIN A4 Architektur. „Eigentlich mussten wir in den Innenräumen nur noch eine kontrollierte Belüftung ergänzen. Das war's. Insofern war es ein Leichtes, das Justizministerium und die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) davon zu überzeugen, dass es sinnvoll wäre, Gerichtsgebäude und Gefängnis als Exempel für ressourcenschonendes Bauen zu errichten.“

Das Resultat ist ein helles und in vielerlei Hinsicht offenes Haus, in dem sich die Insassen bei guter Führung untertags frei bewegen können. Bei sehr guter Führung werden die Zellen innerhalb der Wohngruppen gar nicht mehr abgeschlossen. Es ist zehn Uhr morgens. Die meisten Türen stehen sperrangelweit offen. Die Hafträume sind leer. Auf dem Bett liegt Strickzeug, lila Angorawolle, an der Wand hängen Bilder und Fotografien, wer weiß, vielleicht von den Liebsten, ein bisschen erinnert das Ganze an ein kleines, sehr kleines Wohnzimmer.

Absehbare Ausmaße

„Es ist ziemlich cool hier drin. Ich sage oft: Das ist mein Hotel Trivago“, meint eine Frau, die ihre Freiheitsstrafe ebenfalls im offenen Strafvollzug abbüßt. „Aber was soll ich sagen? Natürlich hat das alles nur auf den ersten Blick mit Hotel und Zuhause zu tun, draußen vor dem Fenster sind Gitterstäbe und Stacheldraht.“

Die atmosphärische Nähe zum eigenen Lebensmittelpunkt, erklärt Gefängnisleiter Wolfgang Turner, ist Programm: „Die Insassen in dieser Anstalt haben Strafzeiten bis zu 18 Monaten. Das sind absehbare Ausmaße. Daher legen wir Wert darauf, das Leben hier drinnen so normal wie möglich zu gestalten. Letztendlich ist es Aufgabe der Justiz, dafür Sorge zu tragen, dass Menschen so früh und so rasch wie möglich auf ihre Resozialisierung vorbereitet werden.“ Die Haftanstalt Korneuburg ist nicht nur ein ökologisches Vorzeigebeispiel, sondern auch ein soziales. Die Menschen sind ausgeglichener und gesünder. „In der alten Haftanstalt am Hauptplatz gab es mehr Gewalt, mehr Raufereien und mehr verbale Attacken“, erinnert sich Turner. „Gegenüber damals sind die Disziplinarvorfälle um circa 30 Prozent zurückgegangen.“ Noch dramatischer ist der Rückgang bei den Medikamenten. Der Bedarf an Schlafmitteln und Psychopharmaka, rechnet Turner vor, sei um mehr als 75 Prozent gesunken.

„Vor zehn Jahren war Nachhaltigkeit ein Außenseiterthema“, sagt Roland Gnaiger, Juryvorsitzender und Staatspreisbeauftragter des Lebensministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft. „Heute zeigt sich, wie groß und breit dieser Begriff geworden ist. Nachhaltigkeit hat nicht nur mit ökologischem Bauen zu tun, sondern auch mit einem generellen, gesellschaftspolitischen Verständnis von Lebensraumgestaltung.“ Wie sagte doch Leo Tolstoi, preisverdächtig fürwahr? „Um einen Staat zu beurteilen, muss man seine Gefängnisse von innen ansehen.“

Der Standard, Sa., 2015.01.17



verknüpfte Auszeichnungen
Staatspreis Architektur & Nachhaltigkeit 2014

10. Januar 2015Wojciech Czaja
Der Standard

Rodin und das Gürteltier

Das Filmmuseum Fondation Jérôme Seydoux-Pathé ist nicht nur eine neue Sehenswürdigkeit inmitten von Paris, sondern auch ein ebenso sehenswerter Beitrag im Umgang mit Denkmalschutz. Film ab.

Das Filmmuseum Fondation Jérôme Seydoux-Pathé ist nicht nur eine neue Sehenswürdigkeit inmitten von Paris, sondern auch ein ebenso sehenswerter Beitrag im Umgang mit Denkmalschutz. Film ab.

Die Avenue des Gobelins ist ein prächtiger Boulevard im 13. Arrondissement, nur wenige Schritte von der Place d'Italie entfernt. Zwischen all den Cafés, Patisserien und wohlfeilen Meeresfrüchte-Restaurants, die beiderseits den Weg säumen, stand einst das Théâtre des Gobelins. 1869 errichtet, wurde hier unter anderem das Theaterstück Reise um die Erde in 80 Tagen uraufgeführt.

Der letzte Vorhang in diesem geheimnisvollen Gebäude mit der Hausnummer 73 ist längst gefallen. Das Drama alter Tage jedoch ist in Form zweier Figuren in Stein gemeißelt: links die Tragödie in männlicher Gestalt, rechts die Komödie in Form einer sich bequem über den Torbogen lehnenden Frau. Bildhauer der beiden Plastiken ist niemand geringerer als Auguste Rodin, der sich nicht weit von hier an der Manufacture des Gobelins sein geschmeidiges Können angeeignet hatte.

Seit kurzem spielt sich hinter der denkmalgeschützten Fassade ein neues Drama ab. Nachdem das Gebäude nach etlichen, durchaus zerstörerischen Umbauten jahrelang leer stand und allmählich vor sich hinrottete, wurde das alte Gemäuer durch einen Neubau von Renzo Piano ersetzt. Das futuristische Gehabe ist dem 77-jährigen Architekten, Planer des Centre Pompidou, nicht abhandengekommen. Wie ein fremdes Wesen taucht aus dem Innenhof des Straßengevierts plötzlich ein silbrig schimmernder Buckel auf und gibt den beiden Protagonisten Rodins neuen Gesprächsstoff.

Und nicht nur diesen. „Das Haus hat von uns, aber auch von der Bevölkerung bereits eine Handvoll bildhafte, tierische Spitznamen verpasst bekommen“, sagt Thorsten Sahlmann, Projektleiter und Associate Architect im Renzo Piano Building Workshop Paris. Die einen reden von Buckelwal, die anderen von Elefant, doch wohl kein Animal dieser Welt gleicht dem Hause besser als das Gürteltier. Wie ein überdimensionales 25-Meter-Exemplar mit Aluminiumschuppen scheint es in der kleinen, engen Baulücke eingeklemmt festzusitzen.

„Der Innenhof zwischen den bestehenden Wohnhäusern war so eng, so verwinkelt und so unregelmäßig, dass wir mit herkömmlichen geometrischen Formen gescheitert sind“, so Sahlmann. „Irgendwann einmal haben wir das klassische Formenrepertoire abgelegt und versucht, die Bauaufgabe mit einer weichen, amorphen Gestalt zu meistern. Für uns war das die einzige Möglichkeit, um in diesem heterogenen Ambiente zu bestehen.“

Im Innern dieses eigenwilligen Gemäuers, das sich in seiner Farbe und Materialität wie eine behutsam eingesetzte Stadtintarsie in das historische Paris Baron Hausmanns integriert, verbirgt sich die Fondation Jérôme Seydoux-Pathé. Die 2006 gegründete Stiftung befasst sich mit dem Erbe jenes französischen Filmhauses, das in seinen Vorspännen stets einen Gockel mit Sprechblase über die Leinwand spazieren lässt.

Verschmelzung mit der Stadt

War es einst die darstellende Kunst auf der Bühne, der das Gebäude gewidmet war, so ist es nun die Archivierung und Aufarbeitung der Geschichte des bewegten Bildes, der hinter der Adresse 73, Avenue des Gobelins mit größter Sorgfalt und Akribie gefrönt wird. Das siebenstöckige Haus beherbergt ein Ausstellungsfoyer, ein kleines Museum mit hauseigenen Grammophonen, Kameras und Filmprojektoren der letzten hundert Jahre sowie einen Kinosaal für historische Stummfilmvorführungen mit Live-Klavierbegleitung. Zudem gibt es zwei Geschoße mit brandschutztechnisch entkoppeltem Filmrollenarchiv und ein rundum und kopfüber verglastes Forschungsbüro mitsamt spektakulärem Ausblick auf die umliegenden Häuser.

„Man hat hier förmlich das Gefühl, mitten in den Dächern zu sitzen“, sagt Sophie Seydoux, Präsidentin der Fondation Jérôme Seydoux-Pathé. „Die Verschmelzung mit der Stadt ist gigantisch. Das ist meine ganz persönliche Lovestory.“ Nicht zuletzt passe die moderne, zeitgenössische Architektursprache zu einer auf die Historie dermaßen bedachten Stiftung. Denn: „Film gibt es seit mehr als 120 Jahren. Und eine der wichtigsten Eigenschaften von Film ist, dass dieser seiner Zeit stets weit voraus war. Insofern“, so Seydoux, „fügt sich das Gebäude perfekt in die von uns gepflegte und gewürdigte Tradition.“

Gewagt und der Gegenwart weit voraus ist nicht nur die Form von Renzo Pianos Fondation, sondern auch die Bauweise, die sich dahinter verbirgt. Entgegen allen Vermutungen besteht der eiförmige Bau nicht aus geschaltem Stahlbeton, wie dies üblicherweise gemacht wird, sondern wurde mit Stahlmatrizen vorgebaut und anschließend so lange mit zähflüssigem Beton bespritzt, bis die Konstruktion zu einer dicken, massiven Wand erhärtet ist. Ein Novum in diesen Dimensionen.

Die oberen zwei Geschoße wurden aus Holz und Glas gefertigt. 32 Holzleimbinder und 150 zweiachsig gekrümmte Glasscheiben kamen hier zum Einsatz. Während der Raum unter der Glaskuppel von außen kaum einsehbar ist, scheinen sich die charakteristischen mehr als 7000 Aluminiumschuppen des Gürtelgetiers von innen betrachtet in Luft aufgelöst zu haben. Zu verdanken ist das der kaum sichtbaren Perforation, die das Innere des Hauses mit Tageslicht versorgt und zugleich, wo nötig, verschattet.

Geheizt und gekühlt wird die Fondation Seydoux-Pathé mittels Geothermie. Zudem verfügen die Räume über eine auf Querlüftung basierende Nachtlüftung. Nur an den drei, vier heißesten Tagen im Jahr wird die Klimaanlage in Betrieb genommen. Ein Backup sozusagen. Doch von alledem ist nicht viel zu spüren. Ganz anders als beim Centre Pompidou oder dem kürzlich fertiggestellten „The Shard“ in London nämlich wird die Technik hier nicht zur Schau gestellt, sondern dem Gürteltierwesen quasi als Selbstverständlichkeit ohne Pomp und Trara einverleibt.

Das Resultat ist nicht nur ein modernes, vielfach nutzbares Gebäude im Herzen von Paris, das sich bei Filmliebhabern und Cineasten nach einem Jahr in Betrieb bereits als heimliche Sehenswürdigkeit etabliert hat, sondern auch ein vorbildliches Beispiel für den Umgang mit Denkmalschutz. Man kann das silbergraue Gürteltier hinter Rodins Fassade hübsch finden oder nicht - in jedem Fall aber ist die Fondation Pathé kein sich an den Denkmalschutz anbiedernder Parasit, sondern ein selbstbewusster Bau, der das Neue neben dem Alten gleichwertig erscheinen lässt. Leinwand.

Der Standard, Sa., 2015.01.10



verknüpfte Bauwerke
Fondation Pathé

27. Dezember 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Die Welt von B bis Ypsilon

Der brasilianische Architekt Isay Weinfeld, Planer des Intercont-Eislaufverein-Areals in Wien, ist derzeit in aller Munde. Der Investor Michael Tojner und das Architekturzentrum Wien widmen ihm nun eine Ausstellung.

Der brasilianische Architekt Isay Weinfeld, Planer des Intercont-Eislaufverein-Areals in Wien, ist derzeit in aller Munde. Der Investor Michael Tojner und das Architekturzentrum Wien widmen ihm nun eine Ausstellung.

STANDARD: Auf Youtube gibt es ein Video mit dem Titel „Der Architekt, den wir am meisten bewundern: Isay Weinfeld“. Kennen Sie den Film?

Weinfeld: Wow, echt? Nein, den kenne ich nicht! Aber ich finde es schön, dass ich mit meiner Arbeit Menschen erreichen und berühren kann. Das sagt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Was genau ist denn an Ihrer Arbeit bewundernswert?

Weinfeld: Das müssen Sie die Macher dieses Films fragen. Aber ich fürchte, ich komme nicht um eine Antwort umhin, oder? Na gut ... Ich denke, die Besonderheit, die mich ausmacht, ist die Feinheit, die Sensibilität, die Balance, die Unaufgeregtheit, die stille Leidenschaft meiner Architektursprache, in erster Linie aber das Zuhören-Können.

Das heißt?

Weinfeld: Wissen Sie, ich halte nichts von Architektur, bei der sich der Urheber als Star oder Genie sieht. Ich bin einfach nur ein guter Zuhörer, der die Fähigkeit besitzt, das Gehörte in etwas Gebautes zu verwandeln. Und ja, ich bin ein verdammt guter Zuhörer. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, ich sei ein besserer Zuhörer als Architekt.

Was sagen Sie zu alledem, was Sie derzeit in Wien zu hören bekommen? Stichwort: Hotel Intercontinental und Eislaufverein.

Weinfeld: Ich verstehe das. Das ist Ihre Stadt, das ist Ihr Lebensraum, das ist Ihr Lebensmittelpunkt, mit dem Sie sich auseinandersetzen und der in all seinen Facetten Gutes und nicht so Gutes birgt. Da kommen viele Emotionen hoch. Im Rahmen des Architekturwettbewerbs habe ich einen ersten Vorschlag gemacht, jetzt geht es darum, zuzuhören und unterschiedliche Meinungen zu diesem Projekt einzuholen. Je differenzierter ein Projekt betrachtet wird, desto besser wird das Resultat sein.

In welche Richtung wird sich das Projekt weiterentwickeln?

Weinfeld: Das kann ich noch nicht sagen. Wir stehen jetzt ganz am Anfang des Planungsprozesses. Was ich Ihnen allerdings versichern kann: Egal, wie sich das Projekt entwickeln wird, es wird niemals alle Meinungen respektieren und alle Menschen gleichermaßen zufriedenstellen können. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Derzeit ist im Architekturzentrum Wien (AzW) eine Ausstellung über Ihr bisheriges Werk zu sehen. Der Titel der Ausstellung lautet „A bis Z“. Das ist ein hehrer Anspruch.

Weinfeld: Das ist eine Ausstellung, die bereits in New York und São Paulo zu sehen war. A bis Z ist eine Installation mit mehreren Exponaten und Entwurfsaufgaben zwischen B und Ypsilon, die mich tangieren und die mir als Architekt zu denken geben. Architektur, also die Gestaltung des Lebensraums, ist eine Sache, die das ganze Leben begleitet. Deswegen zeige ich in der Ausstellung auch eine von mir gestaltete Wiege - das ist das A - sowie einen von mir entworfenen Sarg, das Z.

A und Z schauen einander sehr ähnlich.

Weinfeld: Ja, das ist Absicht. Beide Möbel sind aus unbehandeltem Holz und weißer Baumwolle, und beide weisen eine Architektur mit weichen, fließenden Formen auf. In gewisser Weise sind Wiege und Sarg fast das Gleiche. Das sind Gegenstände beziehungsweise Behausungen für die beiden gegenüberliegenden Enden des menschlichen Lebens.

Liegt Ihnen die Gesamtgestaltung des Lebens am Herzen?

Weinfeld: Ja. Ich bin Architekt. Ich liebe das Leben. Warum fragen Sie?

Von manchen Menschen werden Sie dafür kritisiert, dass Sie in Ihrer Arbeit sehr selektiv vorgehen und lediglich „Kunstgewerbe für die brasilianische Millionärsoberschicht“ produzieren, wie unlängst in einem Beitrag zu lesen war. Wie geht es Ihnen mit diesen Vorwürfen?

Weinfeld: Es darf sich jeder seine eigene Meinung über meine Arbeit bilden. Das ist okay. Tatsache ist: Ja, ich arbeite für die brasilianische Oberschicht, genauso gut wie ich auch für Investoren, für Kulturinstitutionen, für die öffentliche Hand und für sozial und wirtschaftlich Benachteiligte arbeite. Ich lasse mich in kein Schema pressen. Für eine einzige Bevölkerungsgruppe zu arbeiten ist mir zutiefst zuwider. Und fad ist es auch.

Wo fühlen Sie sich denn wohler?

Weinfeld: Vor einigen Wochen wurde ich eingeladen, in den Favelas von Belo Horizonte im Bundesstatt Minas Gerais ein Gemeinschaftshaus und einen Kindergarten zu planen. Es ist ein schönes Projekt. Es ist nicht besser und nicht schlechter als eine Villa für einen wohlhabenden Auftraggeber in Rio de Janeiro. Es ist anders. Ich werde Ihnen jetzt nicht antworten, bei welcher Aufgabe ich mehr Freude und Leidenschaft empfinde.

Und bei welcher Aufgabe empfinden Sie die größere Herausforderung?

Weinfeld: Die größte Herausforderung für mich ist immer das Projekt, das ich zum ersten Mal angreife, das ich noch nie zuvor gemacht habe.

Eine absolute Tätigkeitspremiere war Ihr Film „Fogo e Paixão“ („Feuer und Leidenschaft“, 1988), bei dem Sie Produktion, Drehbuch und Regie übernommen haben. Der Architekt als Gesamtkünstler?

Weinfeld: Warum nicht! Fogo e Paixão ist eine Filmkomödie über eine Gruppe Touristen, die eine Großstadt erkunden. In gewisser Weise hat auch das mit Architektur zu tun, und zwar mit der Rezeption des Systems Lebensraum.

Wenn ich das Bild aufgreifen darf: Was wird passieren müssen, damit in den kommenden Jahren auch beim Hotel Intercontinental und Eislaufverein „Fogo“ und „Paixão“ aufkommen?

Weinfeld: Lassen Sie es mich so sagen: Bis jetzt haben die Wiener für ordentlich viel „Fogo“ gesorgt. Meine Arbeit liegt nun darin, etwas mehr „Paixão“ in die Sache zu bringen.

Isay Weinfeld (62) ist Architekt in São Paulo und plante bereits Projekte in Südamerika und Europa, u. a. ein Hotel in Belgrad und ein Restaurant in London. Er ist Sieger des internationalen Wettbewerbs zur Neubebauung des Intercont-Eislaufverein-Areals und betreut das Projekt für die Wertinvest. Geplante Fertigstellung 2018. Foto: Dimo Dimov

„A bis Z. Die Welt von Isay Weinfeld“ im AzW, Museumsquartier, 1070 Wien. Zu sehen bis 23. Februar 2015. www.azw.at

Der Standard, Sa., 2014.12.27

20. Dezember 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Des Mammuts neue Kleider

Heute, Samstag, wird in Lyon das Musée des Confluences eröffnet. Coop Himmelb(l)au verpasste der Naturhistorie am Zusammenfluss zwischen Rhône und Saône eine durchaus zukunftsfähige Montur.

Heute, Samstag, wird in Lyon das Musée des Confluences eröffnet. Coop Himmelb(l)au verpasste der Naturhistorie am Zusammenfluss zwischen Rhône und Saône eine durchaus zukunftsfähige Montur.

Und plötzlich steht man vor einem Mammut. Das fast vier Meter hohe Tier wurde 1859 bei Bauarbeiten in der Innenstadt gefunden und ist seitdem der größte Stolz Lyons. Das 600 Kilogramm schwere Skelett in der Exposition „Origines, les récits du monde“ ist imposant, keine Frage. Aber noch viel beeindruckender ist das Gebäude, in dem Mammuthus intermedius de Choulans sein neues Zuhause hat: Heute, Samstag, wird das Musée des Confluences nach fast vierjähriger Bauzeit offiziell eröffnet.

Dass es sich bei diesem futuristischen Gebilde in der Form einer auffrisierten, aufgeblasenen Hightech-Amöbe um ein naturhistorisches Museum handelt, sieht man ihm beim besten Willen nicht an. Die Klischeebilder solcher Räumlichkeiten, die einem in den Sinn kommen, schauen anders aus: Holzvertäfelung, knarrender Parkettboden, Vitrinen mit aufgespießten Schmetterlingen.

„Das ist kein unübersichtliches Lager ausgestopfter Tiere, kein reines Storage-Museum, wie das so oft der Fall ist, sondern ein Haus, in dem Wissen und Wissenszusammenhänge vermittelt werden“, sagt Wolf Prix vom Wiener Architekturbüro Coop Himmelb(l)au. „Und nachdem es etwas Vergleichbares unserer Recherche nach nicht gab, nachdem wir auf keine typologischen Erfahrungswerte zurückgreifen konnten, mussten wir für diese Art Museum eine vollkommen neue Form finden.“

180 Meter ist es lang, 90 Meter breit und fast 40 Meter hoch. An der Fassade dominieren 14.000 Quadratmeter glasperlengestrahlter Edelstahl, nackter Beton und Glas. Es ist, als würde sich der Bau gegen die A7 stemmen und die stets zu schnell fahrenden Autofahrer mit seiner auffällig rhythmisierten Form, mit seinen wild hinausragenden Trichtern an die Möglichkeit der Geschwindigkeitsreduktion gemahnen. „Der Reiz des Gegenteils“, so Prix.

Unter dem Gebäude, das an einigen Stellen 20, 30 Meter ins himmelblaue Nichts hinauszischt, tun sich aufregende öffentliche Räume auf. An schönen Tagen, wenn nicht gerade der eisige Winterwind unterm Haus durchpfeift, kann man sich bereits die Zukunft imaginieren. Das Wasser, das hier als Reflexionsbecken und indirekte Beleuchtung dient, wird dann wohl als Planschbecken und Abenteuerspielplatz herhalten müssen.

Und rein ins Haus. Den Auftakt macht ein rundum gläsernes Foyer, der sogenannte Kristall. Nicht die Leere wird hier zum Inhalt stilisiert, sondern die Bewegung der Besucherinnen und Besucher. „Anders als meine Freunde Rem und Frank und Zaha“, so Prix in nicht wenig ausschweifenden Gesten, „halte ich nichts vom Void Space. Ich will, dass die Menschen den Raum über Brücken, Rampen und Spiralen ergehen und erfahren können.“

Als wäre der Kristall an seinem höchsten Punkt geschmolzen, fällt ein gläserner Tropfen zu Boden. Die Stahlkonstruktion, die diese räumliche Geste ermöglicht, ist nichts anderes als eine dreidimensionale, mehrachsige Lastabtragung des Daches. Auf diese Weise konnte ein Drittel des Stahls eingespart werden. Rundherum verläuft eine scheinbar schwebende, von oben herabgehängte Spirale, auf der man - Höhenangst ausgeschlossen - den Weg vom ersten in den zweiten Stock beschreiten kann. „Das ist das intensivste und komplexeste Gebäude, das wir je gebaut haben“, wird Prix später sagen. 37 unterschiedliche Geometrien knallen hier aufeinander.

Bei den Ausstellungsräumen selbst handelt es sich um schlichte Black Boxes, die wie in einer gründerzeitlichen Wohnung links und rechts entlang eines breiten Ganges aufgefädelt sind. Große Zahlen deuten einem den Weg ins Innerste, zum Mammut und all seinen ausgestorbenen Zeitgenossen. Die meisten Tiere werden in einer Art und Weise inszeniert (Corian, Stahl, Gitterkäfige, Rampen, Glaskästen und dramatische LED-Beleuchtung), als handle es sich dabei um teure Konsumobjekte, um Schmuck und Ferraris.

„Wir haben die Räume so gestaltet und so organisiert, dass sie laufend temporär bespielt werden können“, erklärt Projektleiter Markus Prossnigg. „Sobald eine Ausstellung ab- und wieder neu aufgebaut wird, schließt man einfach den Zugang, und der Rest des Museums bleibt intakt.“ Mehrere Lastenlifte, die vom Keller hochfahren, ermöglichen einen getrennten Zugang.

„Das ist mehr als nur ein klassisches Museum“, sagt Direktorin Hélène Lafont-Couturier. „Üblicherweise wird Geschichte entsprechend rückwärtsgewandt erzählt. Hier nicht. Hier verschmelzen Natur und Architektur zu einer neuen Geschichte, die nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft erzählt.“ Nur den Fingerprint als Eintrittskarte in die einzelnen Ausstellungssäle, den sich Prix gewünscht hatte, musste man vorerst noch ad acta legen. „Wer weiß, vielleicht beim ersten Relaunch?“

Vom Stiegenhaus im zweiten Stock, nicht weit von Mammuts neuer Heimstätte entfernt, blickt man direkt auf jenen Punkt, an dem sich die beiden Flüsse Rhône und Saône am Ende der Lyoner Halbinsel vereinen. Damit ist auch das Rätsel um den geheimnisvollen Namen Musée des Confluences, Museum der Zusammenflüsse, gelüftet. Von der Dachterrasse, auf der die darunterliegenden Räume wie stählerne Schuppen und Warzen nach oben ragen, sieht man sogar auf die Lyoner Innenstadt und die schneeweiße Basilika Nôtre Dame de Fourvière.

Das 170 Millionen Euro teure Projekt ist damit Auftakt eines Stadtentwicklungsgebiets, in dem in den kommenden Jahren noch viele Wohn- und Bürobauten folgen sollen. Bis vor kurzem war Perrache trotz seiner spektakulären Lage und Nähe zur historischen Innenstadt eine Industriebrache mit Fabriken, Lagerhallen und Gleisanlagen. Heute erwacht es mit neuen, teils sehr bunten Einsprengseln von Odile Decq, Christian de Portzamparc und Jakob+MacFarlane Architectes zu neuem Leben. Damit ebnet die Naturhistorie der urbanen Zukunft den Weg.

Die Reise erfolgte auf Einladung von Coop Himmelb(l)au.

Der Standard, Sa., 2014.12.20



verknüpfte Bauwerke
Musée des Confluences

22. November 2014Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Licht und Schatten über den Gleisen

Die Hauptbahnhöfe in Salzburg und Wien sind nahezu gleichzeitig startklar. Mit unterschiedlichen Fahrplänen. Im Westen stehen die Signale auf leichte Eleganz, die Hauptstadt hingegen schaltet auf Durchzug.

Die Hauptbahnhöfe in Salzburg und Wien sind nahezu gleichzeitig startklar. Mit unterschiedlichen Fahrplänen. Im Westen stehen die Signale auf leichte Eleganz, die Hauptstadt hingegen schaltet auf Durchzug.

[Wojciech Czaja] Wie würden Sie den Salzburger Bahnhof in einem Satz beschreiben? „Great, your train is late!“, tönt es sofort aus den Mündern von Klaus Kada, Kilian Kada und Gerhard Wittfeld. Gemeinsam mit einem Team von mittlerweile hundert Mitarbeitern betreiben sie in Aachen das Büro Kada Wittfeld Architektur und gewannen 1999 den Wettbewerb zur Sanierung und Neubebauung des Hauptbahnhofs Salzburg. Lange hat es gedauert, denn „große öffentliche Projekte brauchen viel Zeit, und eine Evolution tut solchen Mammutbauwerken gut.“ Nun wurde der Bau nach fünfjähriger Bauzeit vor zwei Wochen offiziell eröffnet.

Der Hauptbahnhof Salzburg ist ein schönes Beispiel dafür, was Architekten so gerne als „Dialog zwischen Alt und Neu“ bezeichnen. Die Bahnhofshalle wurde freigelegt, zum Vorschein kamen alte Jugendstilornamente und längst verfallen geglaubte Fliesenmosaike. Dem gegenüber steht eine moderne, lichtdurchflutete Passage mit Shops und breiten Einschnitten in der Decke, durch die man in den Himmel blicken kann. Oben findet man sich unter der historischen Bahnsteighalle aus Eisen und Glas, an die ein paar schlanke, weiche Bahnsteigdächer mit einer Neuinterpretation von Glas anschließen: Über Bahnsteigen und Gleisen spannt sich eine transparente Luftkissenmembran aus PTFE-Folie.

„Wir haben lange darüber gegrübelt, und mit lange meine ich Jahre, wie wir die historische, denkmalgeschützte Halle in unseren Entwurf am besten einbeziehen können“, sagt Wittfeld. „Letztendlich haben wir uns dafür entschieden, dem Original den Vorzug zu geben.“ Unter den vielen Farbschichten der zuletzt grauen, schlammfarbenen Konstruktion kam die Ursprungsfarbe zum Vorschein: Eierschalenweiß. Dem Ambiente, so Wittfeld, komme der helle Originalfarbton durchaus zugute: „Schaut nicht aus wie ein Bahnhof, sondern wie ein Sakralbau. In gewisser Weise ist das eine Wertschätzung gegenüber den Menschen, die dieses Bauwerk benutzen.“

Rund 80 Millionen Euro haben Sanierung und Umbau gekostet. Das Gesamtinvestitionsvolumen des Projekts beläuft sich - mitsamt Brücken, Gleisbau und Signalanlagen - auf das Dreifache. Neu ist, dass es Kada Wittfeld gelungen ist, die ÖBB davon zu überzeugen, die Bahnhofspassage bis nach Schallmoos durchzubrechen und auf diese Weise einen Nebeneingang zu schaffen, wo sich auch eine Radgarage für 550 Fahrräder befindet. „Ich hasse Bahnhöfe, die den Passagieren nur das Geld aus der Tasche ziehen“, sagt Klaus Kada. „Ein Bahnhof ist kein Einkaufszentrum, sondern ein Ort der Bewegung, eine öffentliche Fußgängerzone.“ Shops gibt es, keine Frage, doch die Bühne dient hier dem Fortfahren und Ankommen.

[Maik Novotny] Architektonisch ist ein Bahnhof ja eigentlich nichts Kompliziertes. Traditionell besteht er meist aus zwei Teilen - einem Eingangsgebäude und einem Dach. Das eine verankert die weite Welt in der Stadt, das andere schützt vor Regen.

Beide Teile, das haben Architekten und Ingenieure in den letzten 180 Jahren gezeigt, lassen sich zu Spektakulärem veredeln. Manchen Bahnhöfen gelingt es, das Ankommen (wie der Westbahnhof mit seinem großen Fenster auf die Stadt) und Abfahren (wie der alte Südbahnhof mit seinen Süd-Ost-Verschlingungen) zu inszenieren, wenigen sogar, den Durchfahrenden zum Aussteigen zu bewegen.

Die Aufgabe, einen neuen Hauptbahnhof für eine alte Hauptstadt zu bauen, sollte also reichlich Chancen für Spektakuläres bieten. Sollte man meinen. Von Albert Wimmer, Ernst Hoffmann und Theo Hotz entworfen und von Stadt und ÖBB eher als rein infrastruktureller Durchlaufposten von städtebaulichem Masterplan und Immobilienverwertung behandelt denn als architektonisches Einzelstück, wurde der Wiener Hauptbahnhof von Anfang an als „Bahndamm mit Dach“ beworben, und an dieser Reduktion krankt er jetzt nach der schrittweisen Eröffnung.

Dabei ist die Grundidee des Daches keine schlechte: Die ineinander verschränkten Rauten oszillieren bildhaft zwischen Durchfahren und Abbremsen. Doch was von oben besehen dynamisch wirkt, verschmilzt von unten zu einer einzigen, dezent angerissenen Platte, die schwer über den Bahnsteigen lastet, sodass man sich besonders im nächtlichen Neonlicht wie in einer stahlverarbeitenden Fabrik wähnt.

Die Kunst der Fuge

Das Eingangsgebäude wiederum ist kein solches, sondern eine ausgefüllte Restfläche zwischen dem Bogen der Trasse und dem geplanten 88 Meter hohen Bürokomplex auf dem Baufeld A01 (Signa Holding) am Gürtel, der kleinstmögliche ÖBB-Restposten der Grundstücksverwertung. Zwar könnte man auch die „Kunst der Fuge“ architektonisch zu etwas Besonderem machen, doch dazu sind die Anschlüsse der Glasfassaden an die Glasbrüstung des Bahndamms zu unentschlossen verbastelt. Immerhin sorgt die von zwei Seiten (und viermal am Tag beidseits korrekt) lesbare Bahnhofsuhr für Aufheiterung.

Der Kern des Bahnhofs steckt ohnehin weder im Dach noch im Eingang, sondern im Damm: Dieser verknüpft die lang getrennten Bezirke vier und zehn, indem er möglichst viele Passanten durch die Einkaufspassage saugt und die kommerzfreien Durchgänge daneben als finstere Angsträume belässt. Wir lernen: Heute besteht ein Bahnhof nicht aus Dach und Eingang, sondern aus Haltestelle und Shoppingcenter.

Der Standard, Sa., 2014.11.22

15. November 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Sinai aus Stahl und Spritzbeton

Das Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau ist ein Versuch, zerstörte Kultur zu rekonstruieren. Ob die hohl klingende Architektur den Ansprüchen eines so sensiblen Themas gerecht wird?

Das Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau ist ein Versuch, zerstörte Kultur zu rekonstruieren. Ob die hohl klingende Architektur den Ansprüchen eines so sensiblen Themas gerecht wird?

Einmal durch die Glastür, und schon ist man mitten auf dem Berg Sinai. Wie von Wind und Wasser weichgespült, ragen links und rechts die geschmeidigen, sandsteinfarbenen Felswände empor. Der Himmel ist nicht zu sehen. Sanft lediglich schimmert von oben, man kann die Sonnenquelle nur erahnen, das Licht in die Tiefe der Schlucht. Fast ist man geneigt, an das Alte Testament zu denken, als Moses der Legende nach das Schilfmeer entzweite, um den Israeliten die Flucht vor den Ägyptern zu ermöglichen.

„Wir sind von einem Canyon ausgegangen, der das Gebäude in der Mitte teilt“, sagt Maritta Kukkonen, Projektleiterin im finnischen Architekturbüro Lahledma & Mahlamäki. „Aber sobald Religion und jüdische Geschichte im Spiel sind, sehen die meisten in diesem räumlichen Zitat, das uns so fasziniert hat, sofort Moses und den Marsch durch das Rote Meer. Das war zwar kein vordergründiger Gedanke, und ich bin der Meinung, dass Symbolik in der Architektur ein prinzipiell schwieriges Kapitel ist, aber wenn man diese Geste so interpretieren will, dann ist uns das nur recht. Geografisch liegen die beiden Motive ja nicht weit auseinander.“

Ende Oktober wurde das Museum der Geschichte der polnischen Juden feierlich eröffnet (der STANDARD berichtete). Letzte Woche wurde der Bau, dessen Wassermassen-Assoziationen bereits über die gesamte Medienwelt schwappten, von der Finnish Association of Architects (SAFA) mit dem renommierten Finlandia Prize for Architecture ausgezeichnet. „Die Jury hat das Museum als großartiges Gebäude bezeichnet“, meint Kukkonen mit einem Zwinkern im Gesicht. „Und sie hat dieses Urteil gefällt, ohne auch nur ein einziges Mal Moses erwähnen!“

Es hat sieben Grad Celsius. Nebel liegt über der Stadt. Über den Skwer Willy'ego Brandta, wo einst das Warschauer Ghetto war, da wo der deutsche Bundeskanzler am 7. Dezember 1970 als Zeichen der Demut und der Vergebung für den Zweiten Weltkrieg vor den Polen auf die Knie fiel, weht ein kantiger Wind. In der Mitte das schwarze Denkmal der Helden des Ghettos. Rundherum die Konturen der Plattenbauten aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Der Sinai ist weit, weit weg.

Von außen gibt sich das Museum der Geschichte der polnischen Juden - kurz Polin, benannt nach dem jüdischen Namen für das Land Polen, zugleich die Übersetzung für „Bleib hier!“ und „Verweile!“ - schroff und abweisend. Eisig schimmern die vertikalen Glasschuppen, reflektieren ein bisschen Wolken, ein bisschen Himmel hie und da. Muss denn jedes jüdische Museum auf dieser Welt so hart und unnahbar brutal sein wie jenes in Berlin?

„Nein, dieses Haus ist das Gegenteil von Holocaust-Architektur“, erklärt die zuständige Programmdirektorin Barbara Kirshenblatt-Gemblett. Und Dariusz Stola, Direktor des Polin, fügt, als wolle er sich von diesen klischeehaften Bildern über Architektur im jüdischen Kontext distanzieren, hinzu: „Bei uns ist der Holocaust nur ein Teil des Museums. Wir präsentieren hier fast tausend Jahre polnische jüdische Geschichte, und der Holocaust ist nur eine Unterbrechung. Er ist weder ihr Anfang noch ihr Ende.“

Drinnen erst, in diesem Canyon, der von den wenigsten nur als amorphe Gesteinsformation verstanden werden will, weil das 2. Buch Mose schwerer wiegt als jeder architektonische Grundgedanke, werden die Worte der beiden Hausverantwortlichen manifest. Dramatische Blicke, dramatische Räume tun sich hier auf. Es ist dies die angeblich größte zweiachsig gekrümmte, monolithisch zusammenhängende Wandoberfläche, die je gebaut wurde: 63 Meter lang, fast 25 Meter hoch, wenn man die bauchige Fundamentbasis im Untergeschoß, wo sich die 4000 Quadratmeter große Hauptausstellung befindet, miteinbezieht.

Echte Herausforderung

„Das Design der gekurvten Wände war eine echte Herausforderung“, erklärt Marcin Ferenc, Projektleiter im zuständigen Warschauer Partnerbüro Kurylowicz & Associates. „Eigentlich wollten wir die Wand massiv aus Beton ausführen, aber das wäre schalungstechnisch so aufwändig und so teuer gewesen, dass wir das Foyer in technischer Hinsicht komplett umplanen mussten.“ Sogar mit Schalungsballons und aufblasbaren Hilfskonstruktionen habe man zwischenzeitlich geliebäugelt, so Ferenc.

Heute verbirgt sich hinter dem vermeintlich massiven Canyon eine Unterkonstruktion aus insgesamt 60 individuell geformten Stahlstützen, die mit Platten beplankt und anschließend mit Spritzbeton versehen wurden. Man kann es durch Klopfen, gefolgt von einem sehnsüchtig weichen, die Enttäuschung hinwegfegen wollenden Streicheln der Oberfläche, erahnen: Der Klang ist ein hohler. Das ist schade. Gerade bei einem Museum, das sich um die Rekonstruktion einer an Ort und Stelle fast vollständig zerstörten Geschichte bemüht, hätte man sich mehr Substanz, mehr unantastbare Authentizität gewünscht.

Das Jüdische Museum in Berlin (2001, Daniel Libeskind) und Yad Vashem in Jerusalem (2005, Moshe Safdie) haben die architektonische Latte hoch gelegt. Das Polin-Museum in Warschau (Baukosten 160 Millionen Zloty, rund 45 Millionen Euro) wird diesen hohen Erwartungshaltungen leider nur oberflächlich gerecht. Die anfänglich dramatische Kulisse hält der tiefen Auseinandersetzung mit dem Thema nicht stand.

Umso mehr lohnt ein Besuch der privat finanzierten Dauerausstellung im Untergeschoß, die - jahrelang minutiös zusammengestellt und solide geplant - schon fertig konzipiert war, als der Architekturwettbewerb noch nicht einmal ausgelobt war. Tausend Jahre Geschichte werden hier mit allen möglichen Mitteln visualisiert. Beim Nachbau der längst zerstörten, hölzernen Synagoge Gwozdziec in 80-prozentiger Größe wird zumindest offengelegt, dass hier nichts ist, wie es scheint.

Der Standard, Sa., 2014.11.15



verknüpfte Bauwerke
Jüdisches Museum Warschau

08. November 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Weil man sich eben nicht nur bettet

Am Donnerstag wurde der Staatspreis Architektur, Tourismus und Freizeit verliehen. Siegerprojekte aus Ischgl, Krumbach und Wien zeigen: Gastgeber und Gäste werden anspruchsvoller, was der Qualität zugutekommt.

Am Donnerstag wurde der Staatspreis Architektur, Tourismus und Freizeit verliehen. Siegerprojekte aus Ischgl, Krumbach und Wien zeigen: Gastgeber und Gäste werden anspruchsvoller, was der Qualität zugutekommt.

Ischgl ist das, was man salopp als Opfer von Wintertourismus bezeichnen könnte. Das Ortsbild ist geprägt von Hotels, von aufgeblasenen Pseudo-Holzhäusern, sogenannten Lederhosen mit insgesamt 11.000 (!) Gästebetten, und das Ambiente ist fest in der Hand der Skifahrerinnen und Besucher. Seit letztem Jahr jedoch gibt es in der 1600-Seelen-Gemeinde, die von der Muse der Ästhetik und modernen Architektur bislang ungeküsst blieb, so etwas wie einen mustergültigen Hoffnungsschimmer. Das Innsbrucker Architekturbüro parc setzte mitten ins ohnehin schon viel zu voll bepackte Ortszentrum ein teils unterirdisches Kulturzentrum.

Am Donnerstag wurde das Projekt mit dem Staatspreis Architektur in der Kategorie „Freizeit“ ausgezeichnet.

„In touristisch geprägten Regionen wird meist alles für den Touristen und nichts für den Einheimischen gemacht“, erklärt Georg Pendl, einer von acht Juroren, die aus insgesamt 86 Einreichungen die heurigen Preisträger auswählten. Jene Projekte, die nominiert wurden und es in die zweite Stufe schafften, wurden sogar direkt vor Ort besichtigt. „Die Besonderheit an diesem Projekt ist jedoch, dass es gelungen ist, in einem städtebaulich längst schon implodierten Chaos so etwas wie einen hochwertigen, gestalterischen Ruhepol zu schaffen, der in erster Linie den Ischglern zur Verfügung steht.“

Kein Dialog mit Lederhosen

Der in den Hang eingegrabene Bau umfasst diverse Vereinsräume, einen Musikproberaum, Büros und Verwaltung sowie Garderoben, Lagerräume und Sanitäranlagen. Die Architektursprache ist bewusst reduziert. Auf den Dialog mit den vielen Lederhosen will man sich gar nicht erst einlassen. Das Dach der Anlage, die direkt an den Dorfanger anschließt, wurde nach dem Bau begrünt und lockt in der warmen Jahreszeit - wenn die Touristen längst über alle Berge sind - Kühe und Schafe zum Grasen.

„Es geht uns mega“, sagt Architektin Barbara Poberschnigg von parc. „Wir sind ein junges Büro, da war es schon eine Freude, dass wir für den Staatspreis überhaupt nominiert wurden. Und jetzt sind wir sogar Preisträger. Das ist gigantisch! Es ist schön, dass diese Form des Bauens in Tirol einen immer größeren Stellenwert einnimmt.“

In der Kategorie „Tourismus“ ging der Staatspreis an das Hotel Daniel in Wien. Der Bau, so Jurymitglied Pendl, steht stellvertretend für einen selten gesehenen, respektvollen und sensiblen Umgang mit der nicht besonders beliebten Architektur der Sechzigerjahre. Lange Zeit stand das 1962 errichtete Stahlbetonhaus mit Curtail-Wall-Fassade, das Georg Lippert und Roland Rohn für das Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche planten, leer. Bis sich schließlich der Grazer Hotelier Florian Weitzer und das Wiener Architekturbüro Atelier Heiss der Sache annahmen. „Es hat einiger Kunstgriffe bedurft, um die alte Bausubstanz technisch fit zu machen und an die heutigen Vorschriften und Anforderungen anzupassen, und das war nicht immer leicht“, sagt Architekt Christian Heiss. „Es ist eine riesige Freude, dass unsere Bemühungen und auch die Vision des Hotelbetreibers mit dem Staatspreis belohnt wurden.“

Und noch ein drittes Projekt hat es aufs Stockerl geschafft: Der Sonderpreis ging heuer an die sieben Bushaltestellen im Bregenzerwald, besser bekannt unter dem Namen „Bus:Stop Krumbach“ (DER STANDARD berichtete).

„Das Niveau der Tourismusbauten steigt kontinuierlich“, sagt Barbara Feller von der Architekturstiftung Österreich, die den Staatspreis biennal in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft, der Wirtschaftskammer Österreich, der Gemeinnützigen Privatstiftung und der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten auslobt. „Es reicht nicht mehr, einfach nur ein Hotelzimmer und eine Seilbahnstation zu errichten. Sowohl Touristen als auch Einwohner werden zunehmend anspruchsvoller. Und das ist gut so.“

Der Standard, Sa., 2014.11.08



verknüpfte Auszeichnungen
Staatspreis Architektur 2014 für Tourismus und Freizeit

31. Oktober 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Drei kleine Kapuzen, eine große Vision

In Raiding wurde kürzlich das Miniprojekt „Drei Wanderer“ eröffnet. Der Radfahrunterstand des japanischen Architekten Hiroshi Hara beweist, wie groß die Leidenschaft bei kleinen Bauten sein kann. Man trete in die Pedale.

In Raiding wurde kürzlich das Miniprojekt „Drei Wanderer“ eröffnet. Der Radfahrunterstand des japanischen Architekten Hiroshi Hara beweist, wie groß die Leidenschaft bei kleinen Bauten sein kann. Man trete in die Pedale.

„Warum ist es so wichtig, Funktion mit Kunst zu verbinden?“, fragte der österreichische Künstler und Kurator Roland Hagenberg. Und bevor das versammelte Dorfpublikum, ORF inklusive, eine Antwort auf diese rhetorische Frage zu formulieren wagte, ratterte ein vollbeladener Kartoffeltraktor an Hiroshi Haras besagtem Funktions- und Kunstprojekt vorbei. „Weil damit der Bekanntheitsgrad einer Gemeinde wie Raiding steigt und sie damit plötzlich nicht mehr nur Dorf, sondern auch internationales Diskussionsthema ist.“ Und kollektives Kopfnicken, Applaus.

Schon einmal trommelte Hagenberg zu einer Eröffnung ins mittelburgenländische Raiding. Das war im November 2012. Damals wurde das Storchenhaus des japanischen Architekten Terunobu Fujimori, eine Art Wohn- und Atelierhaus für Touristen und Artists in Residence, eingeweiht. Letzten Samstag war es wieder einmal so weit. Und weil Raiding mit seinen 800 wissbegierigen Seelen an der Exotik aus Nippon Gefallen fand, durfte und musste es wieder ein japanischer Architekt sein, der der neuen Bauaufgabe Form und Metaphorik überstülpte. Das neue Objekt - nur ein weiteres Puzzlestück in einer Folge aus vielen, vielen Architekturpreziosen, die noch folgen werden, wie sich im Laufe des Nachmittags noch weisen sollte - ist ein Radfahrunterstand, der auf den poetischen Namen „Drei Wanderer“ hört. Genau hier, muss man wissen, kreuzen einander die beiden Radwege B40 und R47. Und wo eine Kreuzung, da auch Rast- und Kontemplationsbedarf. Ganz zu schweigen vom ebenso gebotenen Witterungsschutz.

„Ein Radfahrunterstand muss einwandfrei funktionieren, das ist ein öffentliches Bedürfnis“, sagte Dominik Petz, seines Zeichens Ingenieur, der Entwurfsskizzen und Reispapiermodelle des japanischen Architekten Hiroshi Hara in eine plan- und baubare Form verwandelte, in seiner Eröffnungsrede. Der lautstarke Traktor war längst über alle Hügel. „Doch bei diesem Radfahrunterstand fühlt man sich nicht nur physisch geschützt, sondern auch regelrecht emotional geborgen. Das räumliche Erlebnis ist beeindruckend.“

„Drei Wanderer“ (Baukosten 25.000 Euro) ist eine Konstruktion aus 16 Einzelplatten aus Fichtenschichtholz. An der Innenseite wurden die drei selbststehenden Kapuzen mit Lärchenholz furniert, an der Außenseite mit einer speziellen wasserabweisenden Beschichtung versehen. Die Baugenauigkeit des Häuschens mit seinen Tropfnasen und verdübelten Schraubenköpfen - das ist gewiss ein Verdienst japanischer Kooperation - hat nichts mit den hierzulande bekannten Zimmermannskonstruktionen zu tun, sondern grenzt an die Akribie eines Vorarlberger Möbeltischlers.

„Es gab mehrere thematische Ausgangspunkte für den skulpturalen Unterstand“, erklärt der 78-jährige Hiroshi Hara aus der japanischen Ferne. „Ich dachte an die Komposition Années de Pèlerinage (Pilgerjahre) des gebürtigen Raidingers Franz Liszt, wo er seine Reiseerfahrungen verarbeitete. Jeder, der unterwegs ist, macht Zwischenstopps, reflektiert, sammelt sich, positioniert sich neu.“

Die Pilgerreise der Gemeinde Raiding ist bereits vorgezeichnet: Im kommenden Juni soll Hiroshi Hara ein weiteres Wohnhaus nach dem Vorbild des Storchenhauses eröffnen. In den kommenden fünf Jahren, versichert Bürgermeister Markus Landauer, wolle man zehn japanische Häuser fertiggestellt haben. „Damit Raiding eines Tages mehr Architekturpilger als Musiktouristen hat.“

Der Standard, Fr., 2014.10.31

25. Oktober 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Vorhang auf in pinker Mission

Die Architekten von UN Studio haben einer niederländischen Kleinstadt ein umstrittenes Theater ins Zentrum hineingepflanzt. Nicht nur die Architektur ist auffällig, sondern auch der damit verbundene, geschickt getarnte Bildungsauftrag.

Die Architekten von UN Studio haben einer niederländischen Kleinstadt ein umstrittenes Theater ins Zentrum hineingepflanzt. Nicht nur die Architektur ist auffällig, sondern auch der damit verbundene, geschickt getarnte Bildungsauftrag.

„Ich liebe dieses Haus, und ich liebe diese satten, knalligen Farben“, sagt Reggy Barra. Der 63-Jährige, graumeliertes Haar und beschwingter Doppelschritt auf der Fluchtwegtreppe hinauf in den Bühnenturm, ist Direktor des neuen Theater de Stoep in Spijkenisse, einer Art Schlafretorte am südwestlichen Stadtrand von Rotterdam. „Das Theater de Stoep als Institution gibt es schon seit den Siebzigerjahren, aber die bisherigen Spielstätten waren nicht besonders attraktiv. Jetzt haben wir endlich ein schönes, dramatisches Zuhause.“

Was üblicherweise in samtiges Theaterrot getüncht ist, erleuch- tet hier in kräftigen Him- und Brombeerfarben: Vorhang, Saal, Bestuhlung, Teile des Foyers, ja sogar die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen hier in fluglotsenhafter Manier Pink, Magenta, Violett. Nachts erleuchtet das weiße Theatergebäude, dessen 22 Meter hoher Bühnenturm sich unter einem geschmeidigen Buckel versteckt, in einem - wie könnte es anders sein - leuchtenden Rosa. Kreisrunde Ausschnitte in der Fassade und eine entsprechende Beleuchtung und Lackierung machen's möglich.

„Wissen Sie, das ist auch einer der Gründe, warum wir uns für dieses Projekt entschieden haben“, erklärt Barra, der dem futuristischen, vom Wind gezeichneten Entwurf des Amsterdamer Büros UN Studio im Rahmen eines EU-weiten Verfahrens den Vorzug gab. „Spijkenisse ist eine nicht besonders schöne Stadt mit wenig Farbe. Das Leben hier ist nicht gerade das bunteste.“

Oder, um es weniger metaphorisch auszudrücken: Mit seinen fast 80.000 Einwohnern weist Spijkenisse die niedrigste Bildungsrate der gesamten Niederlande auf. Kulturelle Einrichtungen haben es hier schwer. Mit der modernen, unterschwelligen Gestaltung des Hauses und dem breiten Repertoire an Gastspielen - die Aufführungen reichen von Kasperltheater und The Sound of Music bis hin zu klassischen Konzerten und Tschaikowskys Nussknacker - will man wieder mehr Publikum ins Theater locken.

„Ich bin davon überzeugt, dass das gelingen wird“, sagt Ben van Berkel, Chefarchitekt bei UN Studio. „Denn es gibt nichts Magischeres als diese lebendige, undefinierbare Energie zwischen Publikum und Bühne.“ Was für die beiden Säle mit 650 und 200 Sitzplätzen zählt, das wird auch in den drei Foyers mit visuellem Pathos zelebriert: Parkettboden, aalglatt geschleckte Wände und loungige Kaffeehaustische am unteren Ende der Rampen und Treppen geben den Blick auf Wasser und Theatervorplatz frei. Vor zwei Wochen war die offizielle Eröffnung.

Das Theater de Stoep (Baukosten 25,9 Millionen Euro) ist eine sehr clevere Neuinterpretation eines klassischen Theaterbetriebs. Das zeigt sich allein schon daran, wie die traditionellen Elemente eines solchen Hauses gestaltet wurden. Zurück in den Bühnenturm, Herrn Barra auf den Fersen. Statt immernächtlicher Schwärze dringt über große Fenster Tageslicht auf den Bühnenboden. „Wir haben nicht immer nur Aufführung, es wird bei uns auch ganz normal gearbeitet und geprobt“, erklärt der Direktor. „Warum sollen die Schauspieler, Sänger und Techniker also nicht auch ein bisschen Sonne haben? Am Abend machen wir die Schotten dann dicht.“

Unter den Einwohnern Spijkenisses wird das Haus mit gemischten Gefühlen wahrgenommen. „Die Gemeinde ist eh schon pleite, und jetzt auch noch so ein unnötiges Ding mitten in der Stadt“, sagt eine Passantin, die anonym bleiben will, mit ziemlich erboster Stimme. „Eine Konditorei oder ein Supermarkt wären besser gewesen.“ Auch andere rümpfen immer wieder die Nase, wenn sie am neuen de Stoep vorbeigehen. Die Stadtregierung hat sich mit ihrer Bildungsoffensive ein hehres Ziel gesetzt. „Keine Sorge, das wird schon“, sagt Barra. Er muss es ja wissen, schließlich leitet der ehemalige Pop-Manager den Betrieb schon seit 22 Jahren. „Unser Trick ist: Wir tarnen Kultur als Unterhaltung. Das knallige Pink unterstützt uns in unserer Mission.“

Der Standard, Sa., 2014.10.25

18. Oktober 2014Wojciech Czaja
Der Standard

„Ich bevorzuge die Fußgängerzone in der Stadt“

Am kommenden Freitag startet die Doku „Global Shopping Village“ in den heimischen Kinos. Regisseurin Ulli Gladik über Schlupflöcher im Raumordnungsgesetz, Recherche-Schocks und die Zukunft des Shoppens.

Am kommenden Freitag startet die Doku „Global Shopping Village“ in den heimischen Kinos. Regisseurin Ulli Gladik über Schlupflöcher im Raumordnungsgesetz, Recherche-Schocks und die Zukunft des Shoppens.

Trotz der Konkurrenz durch den Onlinehandel ist die Shoppingcenter-Dichte Europas so hoch wie noch nie. Mit 320 m² Retailfläche pro 1000 Einwohner hat Österreich - nach Slowenien - die zweihöchste Dichte in Europa. Das belegen aktuelle Zahlen von RegioData. Die Spitzenposition ist alles andere als ein Grund zur Freude, meint die Wiener Filmemacherin Ulli Gladik, die von 2011 bis 2014 an ihrem filmischen Opus Magnum „Global Shopping Village“ arbeitete. Der 80-minütige Dokumentarfilm, der am 24. Oktober in Wien Premiere hat, bietet traurige Bilder aus Österreich, Deutschland, Kroatien und Bulgarien. Vor allem aber schockiert er mit Informationen und Originalstatements aus den Abgründen der Immobilienwirtschaft. Diese - und nicht zuletzt die allzu beugsame österreichische Raumplanung - ist schuld daran, dass die Speckgürtel wachsen und die Innenstädte aussterben.

STANDARD: Wie kam die Idee zustande?

Gladik: Ich bin in Murau aufgewachsen. In den letzten 20 Jahren sind dort mehrere Kreisverkehre und Fachmarktzentren entstanden, gleichzeitig ist das kleinstädtische Leben im Ortskern verlorengegangen. Heute ist Murau tot. Das hat mich inspiriert, über die Thematik nachzudenken.

Wussten Sie zu Beginn des Projekts bereits, worauf Sie sich da einlassen?

Gladik: Die wahren Ausmaße habe ich erst erkannt, als ich auf der Real Vienna, auf der Expo Real in München und auf der Mapic in Cannes Einblick in die Immobilienwirtschaft bekommen habe. Da wird ein Shoppingcenter nach dem anderen beworben. Hier wird eine Illusion aufrechterhalten, denn in vielen ehemaligen Ostblockländern ist der private Verschuldungsgrad mittlerweile so hoch, dass die Investitionen am Marktbedarf vorbeiführen. Die Resultate sind unübersehbar. Viele Shoppingcenter sind fast leer, sind wieder geschlossen oder wurden niemals fertiggestellt.

Was war Ihr größter Schock während der Recherchen?

Gladik: Mein größter Schock war, wie offen auf den Immobilienmessen darüber gesprochen wird, auf welche Art und Weise man am schnellsten Geld machen kann. Der einzige Motor ist die hohe Rendite.

Die größte Bühne in Ihrem Film bieten Sie dem Shoppingcenter Arena in Fohnsdorf. Obwohl Fohnsdorf ein kleiner Ort ist, hat das Einkaufszentrum bereits an die 50.000 Quadratmeter Retailfläche. Wie ist das passiert?

Gladik: In einem Ort wie Fohnsdorf sind laut regionalem Entwicklungsplan 5000 Quadratmeter zusammenhängende Shoppingcenter-Fläche möglich. Mittlerweile hat die Arena wahrscheinlich schon mehr als 50.000 Quadratmeter, und sie wächst weiter. Eine Antwort war, dass es sich bei der Straße, die durch das EKZ führt, um eine öffentliche Straße handelt, und so ist die Arena per Definition kein 50.000 Quadratmeter großes Shoppingcenter, sondern eine Ansammlung von vielen Retail-Gebäuden links und rechts der Straße. So wie ich das verstanden habe, muss das ein Schlupfloch im Raumordnungsgesetz gewesen sein, das von vifen Juristen ausgelotet und ausgenutzt wurde. Jedenfalls wird die Arena als ein Shoppingcenter vermarktet. An der Einfahrt steht ein Pylon mit den Worten: „100 Geschäfte, 1 Adresse“.

Im Film ist ersichtlich, dass Sie sich um eine Stellungnahme der Raumordnungsbehörde bemüht haben, was allerdings abgelehnt wurde.

Gladik: Mich hätte die offizielle Begründung zur Größe der Arena sehr interessiert. Und ich nehme an, die Zuschauerinnen und Zuschauer auch.

Wie kommt so eine Schlupflochpolitik zustande?

Gladik: Da fehlt offensichtlich der politische Wille. Außerdem, denke ich, mangelt es an einer gewissen Aufklärung, denn die Bürgermeister, die so ein Projekt begleiten und bewilligen, machen das im Gegensatz zum Shoppingcenter-Entwickler meist nur einmal im Leben, und verfügen oft nicht über das nötige Fachwissen und die nötige Erfahrung, um die Konsequenzen mitzubedenken: Zersiedelung, Abwanderung der Arbeitsplätze, hohe Infrastrukturkosten, und so weiter.

Würde Österreich anders aussehen, gäbe es mehr Aufklärung?

Gladik: Ich denke: ja. Ich glaube an Aufklärung.

Einige Shoppingcenter-Entwickler wie etwa die deutsche ECE haben sich auf Shoppingcenter in Innenstadtlagen spezialisiert. Ist das die Lösung zum Problem?

Gladik: Aus meiner Sicht nicht. Denn meist werden auch die innerstädtischen Shoppingcenter sehr groß dimensioniert und bilden ein eigenes Universum. Laut Stadtplaner Walter Brune, der als der deutsche Victor Gruen bezeichnet wird, ist ein Innenstadtcenter nur dann legitim, wenn das Shop-Angebot eine Ergänzung und keine Verdoppelung des Innenstadtsortiments ist. Das ist meistens nicht der Fall.

Nach all der Kritik: Gibt es für Sie persönlich auch positive Shoppingcenter-Beispiele?

Gladik: Ich finde Shoppingcenter spannend im Sinne künstlich geschaffener Orte. Und ich finde es spannend, die Menschen darin zu beobachten. Aber mir fällt kein Beispiel ein, wo ich persönlich sagen könnte: Hier fühle ich mich wohl, hier will ich mich eine Zeit lang aufhalten. Zum Einkaufen bevorzuge ich die Fußgängerzone in der echten Stadt.

Gibt es Wünsche für die Zukunft?

Gladik: Ich wünsche mir mehr Diskussion und mehr kritische Auseinandersetzung. Die Shoppingcenter-Entwicklung hat unsere Städte in den letzten 20 Jahren massiv verändert, und es gab wenig Diskussion darüber, wie wir in Zukunft leben und einkaufen wollen. Das würde ich gerne nachholen. Wenn das nicht passiert, dann werden die Leute die öffentlichen Räume in der Stadt verlassen und sich immer mehr in die eigenen vier Wände zurückziehen - was sie ohnehin schon tun. Stichwort: Online-Handel. Ist das die Zukunft, in der wir leben wollen?

ULLI GLADIK (44) absolvierte die Schule für künstlerische Fotografie bei Friedl Kubelka und studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Seit 2003 ist sie freischaffende Fotografin und Filmemacherin. Premiere ist am 24. 10. im Filmcasino Wien (19 Uhr). Am 26. 10. und 2. 11. (13 Uhr) findet ebenda eine Matinee in Anwesenheit der Regisseurin und anschließender Podiumsdiskussion statt.

Der Standard, Sa., 2014.10.18

18. Oktober 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Baukultur ist der Schiefer in der Stadt

Wiens Planungswerkstatt lädt Besucher ein, über ihr Lieblingsgrätzel nachzudenken und gemeinsam neue Nutzungen für urbane Räume zu schaffen. Es ist eine Ausstellung zum Mitarbeiten - und Mitmarschieren.

Wiens Planungswerkstatt lädt Besucher ein, über ihr Lieblingsgrätzel nachzudenken und gemeinsam neue Nutzungen für urbane Räume zu schaffen. Es ist eine Ausstellung zum Mitarbeiten - und Mitmarschieren.

„Baukultur beschreibt die Summe menschlicher Leistungen, natürliche oder gebaute Umwelt zu verändern“, heißt es nüchtern und trocken auf Wikipedia. „Baukultur geht über die architektonische Gestaltung von Gebäuden weit hinaus und betrifft nicht nur professionelle Planer, sondern alle Menschen, da sie mit gebauter Umwelt konfrontiert sind.“ Das erschließt sich einem nur mit größtem Widerwillen.

Es geht auch anders, dachten sich Volker Dienst, Robert Temel, Barbara Feller und Antje Lehn - und schufen eine Ausstellung, die dem Begriff seine Sperrigkeit nehmen soll, indem sie sich auf Emotionales, Haptisches sowie auf ein paar konkrete Beispiele aus Wiener Grätzeln stützt. Baukultur. Denke Deine Stadt anders ist derzeit in der Wiener Planungswerkstatt zu sehen.

„Baukultur ist kein Projekt und auch kein Endresultat, sondern ein Prozess“, sagt Dienst, seines Zeichens Sprecher der Plattform Baukultur, während er durch die Schauräume führt, die nach harzigem, frisch geschnittenem Fichtenholz duften. „Daher haben wir eine Ausstellung konzipiert, die mit jedem Tag weiterwächst und erst durch die Besucher, durch die vielen Schülerinnen und Schüler komplettiert wird.“

Zu Beginn noch glich die Planungswerkstatt einem Holzlager. Balken für Balken bäumte sich da ein Stadl bis zum Ansatz des Gewölbebogens auf, Schiefergefahr und Naturnähe inklusive. Und immer wieder kleine Figürchen, kluge Sprüche, satirische Bilder. Im Laufe der Zeit jedoch füllte sich der zu Beginn noch spärlich bestückte Schauraum. Hier geht es unmissverständlich um Partizipation, um den Prozess. Übrigens: Die 20 Kubikmeter Holz, die mehr und mehr hinter einer Zettelwirtschaft verschwinden, sind nur geliehen und werden nach Ende der Ausstellung verbaut. Der Rohdachboden wartet schon.

Zu Wort kommen Wienerinnen und Bewohner konkreter Gebäude, konkreter Stadtviertel. „Transdanubien ist für uns kein Schimpfwort, sondern eine Auszeichnung.“ Und: „Das gibt's nur in Wien, wo ich mit den Badelatschen vom 23. Stock in fünf Minuten zu Fuß zum Baden an die Alte Donau gehen kann.“ Noch besser: „Das gibt's nur in Wien, dass eine Universität zur Touristenattraktion wird.“ Wie ein älterer Herr, regelmäßiger Besucher der Mensa am neuen WU-Campus, beweist: „Die glauben, das hier ist nur für die jungen Leute, aber ich bin hier auch sehr gern, ich mag die Atmosphäre.“

Auch Kritik und Vorschläge werden immer lauter, wobei der Wunsch nach einer Vergrünisierung der Stadtverwaltung unüberhörbar durch die handgeschriebenen Zeilen sickert: Man wünscht sich mehr Rad, mehr Fußgänger- und weniger Autoverkehr, mehr öffentlichen Freiraum und weniger Stellplätze, längere Grünphasen für die Fußgänger, mehr Farben und insgesamt eine fröhlichere Stimmung in der Stadt, mehr Grünflächen, frei zugängliche Dachterrassen und vor allem: „Mehr alte Häuser renovieren und weniger Neubauten.“

Viele Köche, viele Zutaten

Wie all diese Wünsche baulich manifest werden können, zeigt sich anhand von Best-Practice-Beispielen in Wien-Mitte, Favoriten, Meidling, Kagran und Stuwerviertel-Plus, dem Areal rund um den neuen WU-Campus. Ergänzt wird die Theorie von ein paar Workshops und professionell geführten Stadtspaziergängen wie etwa „Urbanes Flanieren in Meidling“ (24. 10.). Vieles ist wunderbar und respektvoll im Ansatz. Das Einzige, was man der Ausstellung vorwerfen kann, ist vielleicht ihr Pluralismus. Viele Köche, viele Zutaten, der Durchblick kommt erst beim Dessert.

„Wir möchten die Besucher animieren, sich ihr Lebensumfeld aktiv anzuschauen“, so Dienst. „Ob das nun das Ins-Gedächtnis-Rufen der vielen schönen Dinge ist oder das bewusste Beleuchten von städtischen Scheußlichkeiten. Wir alle können die Stadt aktiv mit- und umgestalten.“

Die Summe dieser Überlegungen nennt sich dann Baukultur.

Der Standard, Sa., 2014.10.18

11. Oktober 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Der Meister und sein Marienkäfer

Am 27. Oktober wird in Paris die Fondation Louis Vuitton eröffnet. Damit schuf der kalifornische Architekt Frank Gehry ein weiteres Denkmal für sich und das Luxuslabel LVMH - aber auch einen Meilenstein für die durchaus lukrative Zukunft des Entwerfens in 3-D.

Am 27. Oktober wird in Paris die Fondation Louis Vuitton eröffnet. Damit schuf der kalifornische Architekt Frank Gehry ein weiteres Denkmal für sich und das Luxuslabel LVMH - aber auch einen Meilenstein für die durchaus lukrative Zukunft des Entwerfens in 3-D.

Er ist ein riesiger Eishockey-Fan, ein Eishockeypokal-Designer, ein Lebemann und Genießer, er ist enger Freund von Daniel Barenboim und der US-Künstler Claes Oldenburg und Richard Serra. Und er ist das, was die Medien so gerne als Stararchitekt bezeichnen. Das war nicht immer so. „Als ich denen in Bilbao damals meine Modelle und Entwürfe gezeigt habe, wollten die mich umbringen“, erzählte er unlängst in einem Interview. "Da war ein baskischer Künstler, der schrie: „Tötet diesen amerikanischen Architekten!“ Es war beängstigend."

Die Eröffnung des Guggenheim-Museums, es konnte ohne Mordfall realisiert werden, ist fast auf den Tag genau 17 Jahre her, und Frank O. Gehry, eigentlich Frank Owen Goldberg, heute 85 Jahre alt, ist seitdem ein gefragter Mann für Museen, Konzerthäuser und staniolpapiergeknüllte Luxusbauten aller Art. Zu seinen letzten großen Würfen zählen die Walt Disney Concert Hall in Los Angeles, der Novartis-Campus in Basel sowie der 76-stöckige Wohnwolkenkratzer „New York by Gehry“ in Lower Manhattan.

Und jetzt die Fondation Louis Vuitton. Schuld daran ist der Bilbao-Effekt, dem Bernard Arnault, Vorsitzender des Pariser Mode-Koffer-Champagner-Cognac-Luxushauses LVMH, vollends erlegen ist. So etwas wolle er auch haben, meinte er damals, direkt nach seinem Guggenheim-Besuch in der baskischen Hauptstadt. Und weil Monsieur Louis Vuitton nicht nur ein Mann der großen Worte, sondern vor allem der großen Taten ist, wie auch die sukzessive Einverleibung der Luxusmarken Fendi, Donna Karan, Marc Jacobs, Bulgari, Hublot und aktuell 22,6 Prozent am Konkurrenten Hermès beweist, griff er zum Telefonhörer, lud Gehry zu sich ins Büro und gründete 2006 die Fondation Louis Vuitton, die die private Leidenschaft des Kunstsammelns nun auf eine größere, öffentlich zugängliche Plattform heben soll.

In Neuilly-sur-Seine, auf halbem Wege zwischen Paris und La Défense, liegt der Central Park der Pariser, der Bois de Boulogne. Direkt an der Avenue du Mahatma Gandhi, nur wenige Schritte vom einstigen Kinderzoo Jardin d'Acclimatation entfernt, stand bis vor wenigen Jahren eine Bowlinghalle, die, wie sich Bernard Arnault sicher war, niemand vermissen würde, wenn sie nicht mehr da wäre.

„Ich hatte Tränen in den Augen“, erinnert sich der eingeflogene Frank O. Gehry, als er zum ersten Mal das Grundstück betrat. Nicht der abgerissenen Bowlinghalle, sondern der Geschichte dieses Ortes wegen. „Wir standen mitten im Jardin d'Acclimatation, und ich musste an all die außergewöhnlichen Menschen denken, die in diesem Garten früher als Kinder gespielt haben. Vor allem aber dachte ich an Marcel Proust.“ Hier ließ der französische Schriftsteller einige Episoden seiner Suche nach der verlorenen Zeit spielen.

Ein Zitat verlorener Häuser

Gehry fand, was Proust suchte. Er ließ sich von den gläsernen Ingenieursbauten inspirieren, die hier im 19. Jahrhundert errichtet wurden und lange Zeit den Garten krönten, vom Planarium und vom nicht minder beeindruckenden Palais d'Hiver. Eine gläserne Konstruktion also müsse es sein, ein Zitat der verlorenen Häuser, darin waren sich der Bauherr und sein Architekt bald einig, und so wurde jenes Riesending aus dem Erdboden gestampft, das heute einen ganzen Hektar groß ist und imposante 46 Meter in den Himmel ragt.

Auf den ersten Blick wirkt die Fondation Louis Vuitton wie ein explodiertes Palmenhaus. Wie ein Albino-Marienkäfer, der den Panzer geöffnet hat und nun zum Flügelschlag ansetzt, um vom Erdboden abzuheben, was ihm aufgrund des Gewichts jedoch verwehrt bleibt. Oder aber, um mit den Worten Gehrys zu sprechen, wie ein Segelboot mit zwölf riesigen Glassegeln, die sich aufspannen und sich mächtig im Winde blähen. Im Rumpf, „in diesem weißen Zeug, in diesen Eisbergen“ (O-Ton Gehry), befinden sich die eigentlichen Ausstellungsflächen und Galerieräume, elf Stück an der Zahl, ein Eingeständnis an die Banalität des Funktionierens, denn: „Glas ist gut, aber man kann keine Kunst an eine Glaswand hängen.“

Ohne die gläsernen Segel würde das Haus entblößt wirken. Wie ein Bilbao ohne Staniolpapier. Mit den Segeln jedoch, die mittels atemberaubender Stahlträger und Holzleimbinder vom Haus auf Distanz gehalten sind, präsentiert sich das Privatmuseum in voller Pracht. Alles andere ist Luft, ist Show, ist Konstruktion.

„Nein, nicht nur“, sagt eine Pressesprecherin des Hauses. „Die Glassegel dienen in erster Linie der Bauphysik, denn sie verschatten das Gebäude und sammeln auf einer großen Fläche Regenwasser ein.“ Dank Wassernutzung und Geothermie konnte der Energiebedarf des Gebäudes um 25 Prozent reduziert werden. Unterm Strich steht die Zertifizierung HQE (Haute Qualité Environmentale), ein Äquivalent zum amerikanischen LEED Gold.

Rund 3600 gekrümmte und gewölbte Glasplatten, deren Form in Gehrys hauseigenem Software-Programm „Digital Project“ ermittelt wurde, waren nötig, um die riesigen Segel zu hissen. Aufgedruckte, kaum sichtbare Pünktchen verleihen dem Glas seinen leicht trüben, wolkigen Schleier. Die weißen Eisberge hingegen sind mit Ductal ummantelt, einem Betonwerkstoff, der mit Mikrosilikaten und millimeterlangen Stahlspänen bewehrt und auf diese Weise hochfest ist. Und hochteuer. 19.000 dieser Ductal-Platten zieren die Fondation.

Die kolportierten Gesamtbaukosten belaufen sich auf über 110 Millionen Euro. Über Kosten jedoch wolle man lieber nicht sprechen. Kein Kommentar. Auch zu den künftig ausgestellten Exponaten sowie zur gesamten Sammlung der Stiftung, wozu etwa Werke von Richard Prince, Jeff Koons und Ellsworth Kelly zählen sollen, hüllt man sich vor Eröffnung des Museums in eisernes Schweigen. Ein Museum von 1945 bis zur Gegenwart wolle man sein, so viel ist sicher. Das Spiel der Verknappung, der Verexklusivierung von Ware und Wissen beherrscht die Maison LVMH wie aus dem Effeff.

Die Fondation Louis Vuitton, die per Vertrag 2062 ins Eigentum der Stadt Paris übergehen wird, ist ein weiterer Meilenstein für Frank Gehry, der, obwohl er sich schon längst davon distanziert hat, von den meisten immer noch als Dekonstruktivist bezeichnet wird. Tatsächlich aber entwickelte sich Gehry zuletzt zum Haute-Couture-Architekten, der seine zerknüllten, komplizierten Kollektionen geschickt an große Firmen und Mäzene zu verkaufen weiß.

Erfolgreicher Nebenjob

Seine Trümpfe spielt der ehemalige Truck-Fahrer und Pritzker-Preis-Träger, der es als einziger Architekt der Welt geschafft hat, einen gelben Gastauftritt bei den Simpsons hinzulegen, längst nicht mehr als Entwerfer aus, sondern als Konstrukteur, als Techniker, als Ermöglicher von Visionen und Utopien. Für den Bau des Guggenheim-Museums in Bilbao ließ er eine Design-Software, die in der Flugzeug- und Automobilindustrie verwendet wird, zu seinen Zwecken adaptieren. Das war ihm nicht genug. Und so gründete er 2002 sein Imperium Gehry Technologies (GT), das sich auf die Entwicklung und Berechnung von komplizierten Bauwerken spezialisiert hat. Zu seinen Kunden zählen Zaha Hadid, Jean Nouvel und Coop Himmelb(l)au. Erst im September verkaufte er GT für eine unbekannte Summe an das US-Technologieunternehmen Trimble.

Das nächste Entwurfsprojekt ist noch unter Verschluss. Es ist eine Handtasche. Für Louis Vuitton.

Der Standard, Sa., 2014.10.11

04. Oktober 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Bauanleitung zur gemeinsamen Sache

Der Sieg beim kürzlich im Palais Schwarzenberg verliehenen Superscape Award ging an den Tiroler Architekten Florian Niedworok. Er entwickelte ein vielschichtiges Anreizmodell für eine lebenswerte, dichte Stadt.

Der Sieg beim kürzlich im Palais Schwarzenberg verliehenen Superscape Award ging an den Tiroler Architekten Florian Niedworok. Er entwickelte ein vielschichtiges Anreizmodell für eine lebenswerte, dichte Stadt.

Eine Stadt über der Stadt - davon hat schon der österreichische Filmregisseur und Drehbuchautor Fritz Lang geträumt. In seinem 1927 erschienenen Monumentalstummfilm Metropolis kann man sich in verschiedenen Ebenen von einem Hochhaus zum nächsten bewegen - ob nun zu Fuß, im Auto oder auf Schienen. Metropolis war nicht nur der weltweit erste Science-Fiction-Film in Spielfilmlänge, sondern auch eine der teuersten Produktionen der damals noch kurzen Filmgeschichte. Das waren halt noch Visionen.

Sozialer Austausch

Um genau die geht es auch beim Superscape Award 2014, der letzte Woche im Wiener Palais Schwarzenberg verliehen wurde. Beim Siegerprojekt „Pocket Mannerhatten Ottakring“ kann man sich wie zu Langs Zeiten von einem Gebäude zum nächsten begeben - nicht nur auf der Straße, sondern auch hoch oben jenseits der Gesimskante. Anders als im SW-Epos jedoch geht es ums Zu-Fuß-Gehen, ums Joggen, um den sozialen Austausch beim Kräuterzupfen und Kinderwagenschieben.

„Wien wird um 300.000 Einwohner wachsen, und das bedeutet, dass die Stadt nicht nur erweitert werden darf, sondern auch in bestehenden gründerzeitlichen Vierteln verdichtet werden muss“, sagt Florian Niedworok. Mit seinem Ottakringer Vorschlag konnte sich der Tiroler Architekt bei insgesamt 45 Einreichungen - sechs davon haben es in die zweite Runde geschafft - durchsetzen.

„Wir können die Errichtung von Wohnraum und öffentlichen Regenerationsflächen der öffentlichen Hand und den Wohnbauträgern und Investoren überlassen“, so Niedworok. „Oder aber wir finden eine Möglichkeit, wie wir die Verantwortung für Nachverdichtung und Städtebau dezentralisieren und auch private Grundstückeigentümer zum Investieren und Entwickeln animieren können.“

Und die sieht so aus: „Pocket Mannerhatten Ottakring“, eine in verbaler Hinsicht vielleicht etwas zu viel wollende Anspielung auf eine Art Mannerschnittenmanhattan im Ottakringer Taschenformat, ist eine Einladung zur Zusammenarbeit zwischen Grundstückseigentümern. Statt jedes Haus mit dem üblichen, von Bauordnung und Förderrichtlinien geforderten Ausstattungskonvolut doppelt und dreifach zu bestücken, untersucht das Projekt, wie man geschickte, auch finanziell interessante Reduktionen vornehmen könnte.

„Warum muss jedes Haus eine Tiefgarage, ein Stiegenhaus, einen Lift und einen ohnehin fast nie genutzten Gemeinschaftsraum haben?“, fragt Niedworok und schlägt vor, sich zusammenzutun und Synergieeffekte zu schaffen. Über sogenannte Servitutsrechte, die im Grundbuch fixiert wären, könnte man sich darauf einigen, gewisse Räume und Freiräume eines Hauses im Kollektiv zu nutzen. Das spart Geld und Fläche und macht auf diese Weise neue Ressourcen frei - zum Beispiel für eine gemeinsame, straßenblockübergreifende Gartenlandschaft über den Dächern der Stadt. Gemeinsame Sache statt Grundstücksgrenzenegois- mus. Die Visualisierungen sind unmissverständlich.

Warum sollte man das haben wollen sollen? Der Clou liegt im Detail. Als Dankeschön für die Initiative könnte sich die Stadt beim Grundstückseigentümer beispielsweise in Form einer etwas ausgedehnten Flächenwidmung bedanken - etwa indem man das maximal bebaubare Volumen geringfügig nach oben korrigiert. Viele Fliegen auf einen Streich: 1. Die Bevölkerung nimmt ihre Ei-genverantwortung wahr. 2. Die Stadt wird lebenswerter und vielfältiger. 3. Die öffentliche Hand kann einen Teil ihres Mammutprojekts anderen übergeben, indem diese die Stadt mitverdichten. 4. Ankurbelung der Bauwirtschaft. 5. Wesentlicher Beitrag zum bevorstehenden Wohnungsengpass, der einen weiteren Anstieg der Immobilienpreise befürchten lässt.

Ob das alles so realistisch ist? „Natürlich müsste man hie und da an juristischen Schräubchen drehen, aber irgendwie müssen wir uns dem bevorstehenden Wachstum sowieso stellen“, meint der 32-jährige Architekt. „Wenn die Stadt Wien und die Bauträger und Investoren das wollen, dann wird sich auch ein Weg finden.“

20.000 Euro Siegerprämie

Auslober des mit 20.000 Euro Siegerprämie dotierten Awards ist der Wiener Immobilienentwickler JP. „Für ein gutes Wohn- und Lebensgefühl in der Stadt braucht es mehr als nur die eigenen vier Wände“, sagt JP-Geschäftsführer Martin Müller. „Es braucht auch Visionen und Utopien. Nur so kann man die Entwicklung vorantreiben. Deshalb wollen wir hier einen Beitrag leisten.“

Das weit in eine soziowirtschaftliche, kollektiv intelligente Zukunft vorgreifende Konzept, das von der Jury (Wolfgang Kos, Peter Mörtenböck, Jana Revedin und Laura Spinadel) auserkoren wurde, könnte schon bald Wirklichkeit werden. Denn wenn man dem Unternehmen glaubt, so will es mit dem Wettbewerbsgewinner mögliche Schritte zur Realisierung andenken. Man darf gespannt sein. Der Superscape Award soll biennal ausgelobt werden. 2016 geht's weiter.

Der Standard, Sa., 2014.10.04

04. Oktober 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Gestern noch Siegerpodest, heute schon Lagune

Beim Solar Decathlon 2013 in Los Angeles wurde das österreichische Ökohaus Lisi, ein Forschungsprojekt unter Federführung der TU Wien, mit Gold prämiert. Nun geht der grüne Bungalow im Fertighauspark Blaue Lagune vor Anker - und kann auch gekauft werden.

Beim Solar Decathlon 2013 in Los Angeles wurde das österreichische Ökohaus Lisi, ein Forschungsprojekt unter Federführung der TU Wien, mit Gold prämiert. Nun geht der grüne Bungalow im Fertighauspark Blaue Lagune vor Anker - und kann auch gekauft werden.

Es passiert nicht alle Tage, dass ein preisgekröntes Projekt aus den euphorischen Wogen der Wissenschaft und akademischen Forschungselite in den seichten Hafen des Publikumsmarktes überführt wird. Schon gar nicht ohne größere Qualitätseinbußen. Meist nämlich gehen die wertvollsten und innovativsten Aspekte einer solchen technischen Errungenschaft im bisweilen stürmischen Gewässer der Marktfitmachung verlustig. Sie werden einfach über Bord geworfen.

Nicht so bei Lisi, jenem hübsch benamsten Ökohaus-Bungalow, der beim Solar Decathlon, dem größten Green-Building-Wettbewerb der Welt, letztes Jahr in Los Angeles den ersten Preis einheimsen konnte. Projektleiterin Karin Stieldorf von der TU Wien kümmerte sich schon früh um eine sinnvolle Weiternutzung des nur 60 m² kleinen, aber feinen Nullenergiehauses und wurde in den Gefilden des Fertighausmarktes fündig. Am Mittwoch wurde Lisi im Beisein von Innovations- und Technologieminister Alois Stöger schwimmenderweise wiedereröffnet - und zwar als Leuchtturmprojekt in der Blauen Lagune in der Shopping City Süd.

„Es ist das erste Projekt in der Geschichte der Blauen Lagune, das nicht auf festem Boden steht, sondern in unserer kleinen, künstlich angelegten Lagune auf einem Ponton platziert wurde“, sagt Erich Benischek, Geschäftsführer des Fertighauszentrums. „Ich sehe das durchaus als symbolische Geste, denn damit wollen wir die Besonderheit dieses Projekts hervorheben. Fertighäuser gibt es viele. Lisi gibt es nur eine.“

In Containern nach L.A.

Tatsächlich handelt es sich bei Lisi, an deren Geburt die TU Wien, die FH St. Pölten, die FH Salzburg und das Austrian Institute of Technology (AIT) beteiligt waren, um ein Fertighaus. Denn das in Österreich gefertigte Haus wurde seinerzeit in handelsüblichen Hochseecontainern - sechs Stück an der Zahl - nach Los Angeles geschippert, wo es auf dem Areal eines ehemaligen Flugplatzes sodann entfaltet, sprich aufgestellt und zusammengeschraubt wurde.

Lisi - das Akronym steht für Living Inspired by Sustainable Innovation - ist ein nachhaltiges Haus, das diesen Anspruch nicht nur marketingtechnisch ausschlachtet, sondern auch wirklich hieb- und stichfeste Beweise liefert, wie energie- und ressourcenschonendes Wohnen in Zukunft aussehen kann. Die Konstruktion besteht zu 96 Prozent aus Holz, vor allem aus Fichte, Weißtanne, Eiche, Thermoesche und überaus schicken Rindenplatten, einem gepressten Abfallprodukt aus der Holzindustrie, die im Bad und Schlafkammerl zum Einsatz kommen.

Auf dem Dach gibt es eine 100 m² große Fotovoltaikanlage, die 8,9 kWPeak erreicht. Geheizt und gekühlt wird mittels Wärmepumpen, die je nach Bedarf kaltes oder warmes Wasser durch den speziell entwickelten Klimalevel-Boden leiten. Die darin verlegten Betonplatten dienen zugleich als speicherfähige Masse. Und sogar in der Küche hat man sich etwas Spezielles einfallen lassen. Der Kühlschrank kommt ohne Elektrizität aus und wird nur über Verdunstungskälte temperiert.

„Marktkonforme“ Variante

„Möchte man das Haus so kaufen, wie es hier steht, muss man an die 400.000 Euro berappen“, sagt Christof Müller, Geschäftsführer der Weissenseer Holz-System-Bau GmbH, die das Lisi-Haus unter Lizenz der TU Wien als Generalunternehmer produzieren wird. „Ich bin mir dessen bewusst, dass das für den österreichischen Fertighausmarkt noch zu teuer ist. Daher haben wir einige Optionen entwickelt, wie man das Haus auch ohne Einbußen in Qualität und Technik marktkonform etwas reduzieren kann.“

Es wird dann wohl ein normaler Kühlschrank mit Kabel und Stecker werden. Auch auf den Teflon-Vorhang, der vor der Terrasse in der herbstlichen Lagunengischt flattert, und auf die von den Studenten der FH Salzburg entwickelten Küchenstühle aus Naturharz und zusammengepressten Pellets-Hackschnitzeln wird man dann wohl verzichten müssen.

„Das macht nichts, es geht ja schließlich um die Idee“, sagt Benedikt Welz. Der 32-jährige Architekturstudent der TU Wien ist gerade vor Ort, um die letzten Handgriffe zu machen. Hier ein bissl schrauben, dort ein bissl schleifen, Türen einjustieren. „Ich würde das Haus ja auch nicht im klassischen Fertighauskundenkreis angesiedelt sehen. Ich denke, das ist ein Gustostückerl für ein Publikum mit besonderen Interessen“, so Welz.

„Wir verkaufen das Haus gerne auch genauso, wie es jetzt hier auf dem Ponton steht“, meint Lagunenkapitän Benischek. „Aber das wird nicht realistisch sein. Wir müssen uns dem Markt etwas anpassen. Als Richtwert kann ich sagen, dass das Produkt je nach Ausstattung und Materialausführung wohl zwischen 250.000 und 350.000 Euro brutto kosten wird. Nur so zur Orientierung.“ Bis Jahresende wird in Zusammenarbeit zwischen TU Wien und Weissenseer ein Online-Konfigurator entwickelt, der Lisi in vier Größen, in einer zweigeschoßigen Variante sowie mit unterschiedlichen Ausstattungspaketen anbietet. Der Kaufpreis wird in Echtzeit berechnet. Sämtliche Adaptierungen in Hinsicht auf eine optimierte Industrialisierung kommen von den Studenten, denn das Haus - aber auch das Copyright daran - ist nach wie vor Eigentum der akademischen Forschungsgruppe.

„Ich rechne damit, dass wir im ersten Jahr zwischen acht und zehn Häusern absetzen werden“, meint Müller. In den Folgejahren, fügt Benischek hinzu, rechne man mit 20 bis 25 Stück pro Jahr. „Das ist realistisch, denn das Produkt ist innovativ und ansprechend und trifft genau den Puls der Zeit.“

Karin Stieldorf ist mit der Entwicklung mehr als zufrieden. „In der Regel landen solche innovativen Prototypen auf irgendeinem Uni-Campus oder werden an einen Liebhaber verkauft, und damit verschwindet das Projekt von der Bildfläche. In diesem Fall ist es uns gelungen, einen Schritt zu setzen, damit das Haus einer breiten Öffentlichkeit zugänglich ist.“

Die Blaue Lagune zählt rund 150.000 Besucher pro Jahr und wickelt nach eigenen Angaben rund 50 Prozent des österreichischen Fertighausmarktes ab. Die Lisi wird noch berühmt.

Der Standard, Sa., 2014.10.04

20. September 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Bitte betreten!

In einem Wohnbau in der Wiener Leopoldstadt kann man nun die Vergangenheit des Ortes studieren. Martina Montecuccoli und Lena Fasching haben die Historie ausgegraben und in roten Grundrissplänen auf dem grauen Asphalt verewigt. Alle Rätsel sind noch nicht gelöst.

In einem Wohnbau in der Wiener Leopoldstadt kann man nun die Vergangenheit des Ortes studieren. Martina Montecuccoli und Lena Fasching haben die Historie ausgegraben und in roten Grundrissplänen auf dem grauen Asphalt verewigt. Alle Rätsel sind noch nicht gelöst.

Architekten und Bauträger greifen bekanntermaßen nicht sonderlich gerne zum Farbtopf. Zu spezifisch. Zu gefährlich. Zu geschmäcklerisch. Die meisten Wohnbauten sind demnach weiß verputzt, ein bisschen Grau und Anthrazit als i-Tüpfelchen ist da schon das höchste der chromatischen Gefühle. Im Falle des Wohnbaus in der Oberen Donaustraße 15a in Wien-Leopoldstadt darf man Architekt Josef Knötzl für diese branchenangeborene Zurückhaltung jedoch nur dankbar sein. Umso besser kommt das neue, auf den Asphalt gepinselte Kunst-am-Bau-Projekt zur Geltung.

In den Innenhöfen und öffentlichen Durchgängen, die sich durch die mehr als 500 Wohnungen fassende Anlage ziehen, sind abstrakte, kräftig aufgebrachte Farbflächen zu erkennen. Immer wieder tauchen auf dem Boden zumeist rote, manchmal auch gelbe und blaue geometrische Formen auf. Da eine Drei, dort eine etwas wackelige Sieben, am Eck ein kariertes Etwas, das dem Connaisseur als Kaminsymbol ins Auge springen könnte.

Geschichte oft verborgen

Tatsächlich handelt es sich bei der flächigen Collage um Grundrisse, und zwar jener Gebäude, die in der Vergangenheit das Grundstück zwischen Donaukanal und Augarten okkupierten. RAUMgeSCHICHTEN 1723 bis 2014. Eine Gebäudearchäologie nennt sich dieses Kunstprojekt von Lena Fasching und Martina Montecuccoli, dem eine wochenlange Recherche im Wiener Landesarchiv sowie im Staats- und Kriegsarchiv vorausging. Es ist Resultat eines 2011 von der Wiener Kunstschule ausgeschriebenen Studentenwettbewerbs.

„Es wird so viel neu gebaut, und in den meisten Fällen sind wir uns nicht bewusst, welche Geschichte sich unter den Orten verbirgt“, sagt Montecuccoli bei einer Führung, bei einer der seltenen Gelegenheiten in der bildenden Kunst, die es dem Betrachter erlauben, die Kunst nicht nur anzugreifen, sondern auch zu betreten. „Also haben wir beschlossen, uns in diesem Fall mit der Historie auseinanderzusetzen und einen inhaltlichen Bezug zum Grundstück herzustellen.“

Das Kramen in der Geschichte stellte sich als fruchtbare Angelegenheit heraus. Denn da, wo heute gewohnt wird, stand von 1723 bis 1863 eine Kaserne. Baumeister des Riesendings, das nun in einem roten Zeitschatten verewigt wurde, war niemand Geringerer als Jakob Prandtauer, der Erbauer des Stifts Melk. Man möchte förmlich durch die Räume schreiten, durch das Wachtmeisterzimmer („1“), durch die Gemeinzimmer („3“), durch die kleinen Sattel- und Monturkammern („5“). Auch die Lage der späteren Brotfabrik (gelb) und des noch viel späteren Umspannwerks (blau), die hier einst standen, kann man betreten studieren.

Bei den Bewohnern kommt das Kunstprojekt mit gemischten Gefühlen an. „Das soll Kunst sein?“, sagt eine der Bewohnerinnen. „Das sind doch nur übereinandergelegte Grundrisse von irgendwas.“ Dem Kunstprojekt gegenüber etwas besser gesinnt ist Petra Fritsch, ihres Zeichens Trainerin in Karenz: „Ich finde, dass der farbliche Akzent der ganzen Anlage guttut. Mir gefällt das Projekt gut. Noch schöner hätte ich es gefunden, wenn wir Mieterinnen und Mieter in den Prozess mit eingebunden worden wären.“

Rätselhafte Symbole

Wenig später marschiert der Pensionist Gustav Hammerschmied über die Kunst. „Ich halte das für ein g'scheites Projekt, das uns bewusst macht, dass wir nicht immer nur die Ersten sind, die etwas tun. Jeder Ort hat eine Geschichte. Und hier kriegt man eine Idee davon, was sich an dieser Stelle schon alles abgespielt haben muss.“ Abgesehen davon, so Hammerschmied, wirken die RAUMgeSCHICHTEN der grassierenden Anonymität in der zeitgenössischen Architektur entgegen.

Die Baukosten für das Kunstwerk, das von den vier Bauträgern Neue Heimat, Österreichisches Volkswohnungswerk, ÖVW und at home getragen werden, belaufen sich auf rund 80.000 Euro. „Die Identifikation mit dem eigenen Wohnort erzeugt Heimatgefühl, Sicherheit und gelebte Nachbarschaft“, sagt Tobias Wegner, Projektleiter beim ÖVW. Und Sabine Dorazin (Neue Heimat) meint: „Die Zusammenarbeit mit der Wiener Kunstschule war sehr intensiv. Das Siegerprojekt schafft es, die Transformation des ehemaligen Betriebsgebietes ins Gedächtnis der Bewohner zu rufen. Das ist eine enorme Leistung.“

Martina Montecuccoli, die den Lehrgang an der Kunstschule in der Zwischenzeit absolviert hat, hat selbst noch nicht alle Fragen beantwortet, die sie mit ihrem Projekt aufgeworfen hat: „In den historischen Grundrissplänen der Kaserne kommen einige Schraffuren und Symbole vor, die wir selbst noch nicht entschlüsselt haben. Bei manchen Dingen habe ich keine Ahnung, was sie bedeuten sollen.“ Die Verwirrung liegt den Passanten nun zu Füßen.

Eröffnung des Kunstprojekts heute, Samstag, ab 16 Uhr

Der Standard, Sa., 2014.09.20

20. September 2014Wojciech Czaja
Der Standard

300.000 Gründe für ein Neudenken von Architektur

Crowd-Projekte und Bürgerbeteiligung bringen frischen Wind in die Stadt. Doch mit den heutigen Bebauungsbestimmungen wird Wien den Bevölkerungszuwachs von 300.000 Menschen kaum meistern können. Darin sind sich Experten einig.

Crowd-Projekte und Bürgerbeteiligung bringen frischen Wind in die Stadt. Doch mit den heutigen Bebauungsbestimmungen wird Wien den Bevölkerungszuwachs von 300.000 Menschen kaum meistern können. Darin sind sich Experten einig.

Mit rund 26.000 Einwohnern pro Quadratkilometer ist Margareten der mit Abstand dichtest besiedelte Bezirk Wiens. In keinem anderen Gemeindebezirk quetschen sich so viele Menschen auf so wenig Raum. Wie soll da noch Wien wachsen können? Doch der Schein trügt. In einigen Pariser Arrondissements wohnen bis zu 40.000 Menschen pro Quadratkilometer, in manchen spanischen Städten sogar bis zu 70.000.

„In Wien gibt es noch genug Luft nach oben, aber nicht, wenn die Stadt nicht schleunigst die Bauordnung und die Bebauungsbestimmungen überdenkt“, sagt Volker Dienst, Sprecher der Plattform Baukultur. „Denn die heutigen Gesetze und Grundlagen verbieten mehr als sie ermöglichen. Unter diesen Bedingungen kann ich mir nicht vorstellen, wie Wien in den kommenden 20 Jahren um die prognostizierten 300.000 Einwohner zunehmen soll. Wo sollen all die Menschen hin? Da hilft auch die beste Architektur nicht weiter.“

Immer noch liegt das Wiener Limit bei Bauklasse 5, also bei 26 Metern Traufhöhe. Alles, was darüber liegt, gilt als Hochhaus und muss damit strengste technische Auflagen erfüllen, mit denen man andernorts schon einen Wolkenkratzer aus dem Boden stampfen kann. „Der Fokus wird in den kommenden Jahren nicht nur auf Stadterweiterung, sondern auch auf Innenstadtverdichtung liegen müssen“, erklärt Marion Gruber, Sprecherin der IG Architektur. „Doch mit den veralteten Hochhausregelungen macht man eine nachträgliche Verdichtung der bestehenden Viertel, um die wir früher oder später nicht herumkommen werden, fast unmöglich.“

Immerhin, meint Franz Kobermaier, Leiter der MA19 (Architektur und Stadtgestaltung), gebe es noch genügend Reserven oberhalb der Gesimskante. Mehr als 20.000 Dachböden (Erhebung 2012) warten darauf, ausgebaut und bewohnt zu werden. „Einige Jahre lang waren die Dachgeschoßprojekte rückläufig“, so Kobermaier zum STANDARD. „Doch nach der letzten Novelle der Bauordnung, die viele Erleichterungen mit sich gebracht hat, nimmt die Zahl der Bauansuchen wieder stark zu.“

Es ist nicht alles so düster und beengt. Spricht man mit Experten, so hat die Wiener Stadtregierung in den letzten Monaten und Jahren eine Stoßrichtung vorgegeben, die das Gesicht der Stadt langfristig massiv verändern wird. „In Wien sind jetzt die ersten Projekte entstanden, die auf Partizipation, Sozialraumanalyse und Bürgerbeteiligungsverfahren basieren“, so Kobermaier und nennt als prominentestes Beispiel die Verbegegnungszonierung der Mariahilfer Straße. „Und dieser Trend wird noch deutlich zunehmen. Als Nächstes steht die Neugestaltung des Schwedenplatzes an. Dabei könnten die neuen Tools ebenfalls zur Anwendung kommen.“

Mit diesen jüngst entwickelten Planungsmodellen werde sich der Begriff Architektur in Wien grundlegend ändern, sagt Thomas Madreiter, Planungsdirektor der Stadt Wien. „Das System Stadt wird dynamischer. Es nehmen immer mehr Leute die Verantwortung in die Hand, die Planungen werden kommunikativer und prozessorientierter, und es entstehen immer neuere Planungsaufgaben für Architekten.“

Rückbau von Straßen

Wichtigstes Beispiel: Der Motorisierungsgrad bei den unter 40-Jährigen nimmt kontinuierlich ab. Früher oder später, so Madreiter, werde sich das auch in der Architektur niederschlagen. „Ich könnte mir vorstellen, dass der Rückbau von Straßen zu Fußgängerzonen und Parkanlagen in 20, 30 Jahren ein intensives Betätigungsfeld für Planer sein wird.“

Wie diese neuen Aufgaben konkret aussehen könnten, zeigt der im November 2013 ausgeschriebene Ideenwettbewerb „Superscape“. Gefordert waren Konzepte für die Stadt von morgen. 44 Projekte wurden eingereicht. Von den sechs Finalisten, die nun auf der Shortlist stehen, handelt es sich fast ausschließlich um Crowd-Projekte, Nachverdichtung und Neunutzung des öffentlichen Raumes. Am kommenden Freitag, dem 26. September, wird im Palais Schwarzenberg der Sieger gekürt.

Die Stoßrichtung stimmt schon mal. Jetzt muss die Theorie in die Praxis umgesetzt werden. 300.000 neue Bewohner sprechen als Gründe dafür.

Der Standard, Sa., 2014.09.20

13. September 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Der Krumbach-Effekt

Das mit dem Warten ist so eine Sache. 30 Minuten verlorene Zeit für nichts und wieder nichts. Dass diese Zeitspanne jedoch nicht qualvoll sein muss, sondern sinnvoll gestaltet und sogar von einem gewissen kulturhedonistischen Genuss erfüllt sein kann, beweist das Projekt „Bus:Stop Krumbach“ im Bregenzerwald.

Das mit dem Warten ist so eine Sache. 30 Minuten verlorene Zeit für nichts und wieder nichts. Dass diese Zeitspanne jedoch nicht qualvoll sein muss, sondern sinnvoll gestaltet und sogar von einem gewissen kulturhedonistischen Genuss erfüllt sein kann, beweist das Projekt „Bus:Stop Krumbach“ im Bregenzerwald.

Sieben individuelle Wartehäuschen stehen da am Straßenrand, entworfen von sieben ebenso unterschiedlichen Architekten zwischen Chile und der Volksrepublik China, und bieten dem Wartenden nicht nur Obdach (sofern sie diesen Aspekt überhaupt erfüllen), sondern auch Stoff für ethnologisches Studium. Man muss nicht unbedingt den Vorarlberger Landbus abwarten: Ab kommenden Donnerstag sind die Entwürfe und Modelle der Wartehäuschen im Architekturzentrum Wien (AzW) zu bewundern.

„Das Warten auf den Bus hat eine räumliche Faszination“, sagt Dietmar Steiner, Kurator des Haltestellenprojekts und Direktor des AzW. „Mitten im Nirgendwo entsteht plötzlich eine kollektive Identität alleine dadurch, dass man gemeinsam dasitzt oder dasteht und nichts tut. Und in der Regel - natürlich nicht in Vorarlberg - kommt der Bus dann auch noch mit Verspätung.“

Dass in das Projekt keine Vorarlberger Architekten einbezogen wurden, habe einen guten Grund. „Die Vorarlberger Baukünstler der dritten Generation sind bereits so verfeinert und fast schon so dekadent in ihrer Perfektion, dass wir uns dachten, ein bissl Schmutz und Irritation von außen wird ihnen schon guttun“, so Steiner - und verweist etwa auf den archaisch wirkenden Warteturm von Alexander Brodsky, der sich mit schnell hingefetzten Skizzen statt millimetergenauer Detailpläne und Kabelbindern aus dem Baumarkt statt flächenbündig versenkten Designer-Kreuzschlitzschrauben begnügt.

Ebenfalls mit von der Partie: De Vylder Vinck Taillieu (dvvt) aus Gent mit einer Skulptur aus dreieckigen zusammengeschweißten Stahlplatten, Rintala und Eggertson (Bodø, Norwegen) mit einem Hochsitz samt Blick auf den benachbarten Tennisplatz, Ensamble Studio (Madrid) mit einem Konglomerat aus Brettern, das ein wenig an einen Haufen gestapelter Europaletten erinnert, der chinesische Pritzker-Preisträger Wang Shu mit einer überdimensionalen Camera obscura, in der man wie in einer alten Linhof-Ziehharmonika-Kamera Platz nehmen kann, sowie der chilenische Architekt Smiljan Radic mit einem gläsernen Raum, einer - wie er meint - transparenten Neuinterpretation der Bregenzerwälder Stube. Der Prototyp steht im Museumsquartier und lädt zum Warten im Maßstab 1:1 ein.

Der einzige Bus-Stop, der seine Wartenden mitunter im Regen stehen lässt, ist das Projekt des japanischen Architekten Sou Fujimoto - eine acht Meter hohe, filigrane Stangenskulptur aus Holz und Stahl, die man auf wackeligen Stufen erklimmen kann. Schönwetter muss man halt haben. Mehr Schutz als unter den Stufen ist nicht. Die Baukosten für „Bus:Stop Krumbach“ belaufen sich auf rund 350.000 Euro. Das Projekt wurde ausschließlich privat sowie über Sponsoring finanziert.

Der Standard, Sa., 2014.09.13

06. September 2014Wojciech Czaja
Der Standard

„Squatten? Das klingt so illegal!“

Die Belgrader Architektin Iva Cukic will die Stadt vor der kompletten Privatisierung bewahren. Deshalb gründete sie vor einigen Jahren das „Ministarstvo prostora“, das Raumministerium. Wojciech Czaja traf die „Premierministerin“ letzte Woche in Alpbach.

Die Belgrader Architektin Iva Cukic will die Stadt vor der kompletten Privatisierung bewahren. Deshalb gründete sie vor einigen Jahren das „Ministarstvo prostora“, das Raumministerium. Wojciech Czaja traf die „Premierministerin“ letzte Woche in Alpbach.

STANDARD: Lesen Sie gerne Comics?

Cukic: Und wie! Sehr gern sogar. Ich bin nur etwas verwirrt über den Gesprächsbeginn.

STANDARD: Es gibt eine Science-Fiction-Comic-Serie von Warren Ellis und Chris Weston aus dem Jahr 2001. Die heißt „Ministry of Space“.

Cukic: Na echt? Die kenne ich gar nicht! Jetzt verstehe ich.

STANDARD: 2010 haben Sie das „Ministry of Space“ gegründet. Was genau kann man sich darunter vorstellen?

Cukic: Das „Ministarstvo prostora“ heißt nicht nur so, sondern ist auch tatsächlich ein Raumministerium. Wir sind ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Belgrad, und wir übernehmen all jene Agenden, die die serbische Regierung mangels Interesse, Sensibilität und Kompetenz in den letzten Jahren verabsäumt hat. Wir setzen uns mit öffentlichem Raum auseinander, erforschen und entdecken, wo es ungenutzte Ressourcen gibt, nutzen diese und geben der Bevölkerung ihren städtischen Raum zurück.

STANDARD: Wie das?

Cukic: Leute, kommt, das ist euer Raum! Nutzt und verwendet ihn! Das ist unsere Message.

STANDARD: 2011 haben Sie die alten Belgrader Inex-Filmstudios gesquattet.

Cukic: Squatten klingt so illegal. Sagen Sie das nicht! Wir haben die alte, abgefuckte Betonruine, in der früher Inex-Film beheimatet war, ausgemistet, renoviert und wieder instand gesetzt. Heute befinden sich darin Ausstellungsräume und sogar ein paar ganz einfache Wohnungen, die wir an bedürftige Menschen vergeben. Außerdem veranstalten wir auf dem Inex-Areal immer wieder Festivals und Feste.

STANDARD: Weiß der Grundstückseigentümer darüber Bescheid?

Cukic: Mittlerweile ja. Eines Tages ist plötzlich ein fremder Mann aufgetaucht, hat sich das Haus angesehen und hat sich sehr genau nach allem erkundigt. Erst am Ende hat er seine Identität gelüftet. Seitdem mögen wir uns. Wir haben ein Übereinkommen, dass wir das Grundstück so lange nutzen dürfen, bis er dafür eine andere Nutzung gefunden hat.

STANDARD: Arbeitet das Raumministerium denn legal oder illegal?

Cukic: Beides. Schreiben Sie das so rein? Ach, ist doch egal. Das wissen eh schon alle. Aber ganz im Ernst: Wo es geht, bemühen wir uns auf ganz offiziellem Wege um Bewilligungen für Projekte und Veranstaltungen sowie um Sponsorengelder. Und wo es nicht geht, legen wir eine Art freundliche Guerillataktik an den Tag.

STANDARD: Die wie aussieht?

Cukic: Hingehen, aufbauen, Strom anzapfen und loslegen.

STANDARD: Welche Taktik ist Ihnen lieber?

Cukic: Ganz ehrlich? Guerilla-Style! Wir sind vier Minister, wobei ich die Premierministerin bin, wenn Sie so wollen, aber wir haben dutzende bis hunderte Helfer - abhängig vom jeweiligen Projekt. Auf illegale Weise geht alles viel schneller. Auf diese Weise hatten wir bisher am meisten Erfolg.

STANDARD: Sind Sie schon einmal in Schwierigkeiten gekommen?

Cukic: Nein, noch nie. Außer dass mich ein Grundstückseigentümer schon einmal verprügeln wollte.

STANDARD: Arbeiten Sie auch mit dem einen oder anderen echten Ministerium zusammen?

Cukic: Wir sind ein echtes Ministerium! Wir haben zwar schon einmal versucht, mit einem anderen Ministerium zu kooperieren, aber daraus wurde nichts.

STANDARD: Nehmen sich die anderen Ministerien des Leerstandes in Belgrad bzw. allgemein in Serbien an?

Cukic: Nein. Ganz und gar nicht.

STANDARD: Wie viele Gebäude stehen denn seit der Wende 1989 leer?

Cukic: Genaue Zahlen habe ich nicht. Um nicht zu sagen: Genaue Zahlen existieren nicht, weil sie niemals erhoben wurden. Ich würde den enormen Leerstand in Serbien aber nicht so sehr auf 1989 zurückführen, sondern eher auf den Jugoslawienkrieg und auf den Zerfall des Landes Anfang der Neunzigerjahre. Durch den Krieg, durch die Sanktionen, durch die damals enorme Korruption und nicht zuletzt durch die Privatisierung, die wie eine turbokapitalistische Keule auf das Land eingeschlagen hat, kam es zu einer großen Veränderung auf dem Immobilienmarkt.

STANDARD: Was passiert mit den leeren Gebäuden heute?

Cukic: Sie stehen leer und verfallen vor sich hin. Nur um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Allein in Belgrad stehen derzeit 14 traditionelle Kinos, die nach dem Zerfall Jugoslawiens privatisiert wurden, leer. Das sind klassische Spekulationsobjekte. Sie stehen so lange leer, bis ein attraktives, unschlagbares Angebot kommt.

STANDARD: Ein solches unschlagbares Angebot ist der Bau der neuen Belgrader Waterfront an der Save.

Cukic: Hinter dem Projekt verbirgt sich der arabische Investor und Projektentwickler Eagle Hills (Tochterunternehmen von Emaar Properties, Anm.) mit Sitz in Abu Dhabi. Die Menschen mögen das Projekt, weil sie erstens die Pläne für die Uferpromenade mitsamt dem 200 Meter hohen Belgrade Tower und dem größten Einkaufszentrum auf dem Balkan schön finden. Und zweitens herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass es gut sei, wenn ein Investor wie Muhammad al Abar Geld nach Belgrad bringt. Immerhin reden wir da von etwa vier Milliarden Euro.

STANDARD: Das Raumministerium kämpft gegen das Projekt an. Warum?

Cukic: Weil es eine große Gefahr birgt. 14.000 Quadratmeter Land, die direkt an der Save liegen und die in Belgrad heute zu den letzten öffentlichen Wassergrundstücken zählen, würden damit auf einen Schlag privatisiert werden. Dessen und auch all der damit verbundenen Konsequenzen sind sich die meisten Belgrader nicht bewusst.

STANDARD: Wie schaut Ihre Aufklärungskampagne aus?

Cukic: Wir machen öffentliche Veranstaltungen und laden die Menschen zu moderierten Gesprächen ein. Eines der Themen, die wir immer wieder anreißen: Wer braucht schon Luxuswohnungen, wenn es in Belgrad nicht an Luxuswohnungen mangelt, sondern an leistbaren Billigwohnungen?

STANDARD: Leistbar bedeutet?

Cukic: Im Durchschnitt kostet eine klassische Wohnung in Belgrad 1400 Euro pro Quadratmeter, und das bei einem durchschnittlichen Einkommen von 500 Euro pro Monat. Das ist eine „mission impossible“. Ganz zu schweigen von den Wohnungen im Belgrade Tower. Wir brauchen keine Wohnungen um ein paar Tausend Euro pro Quadratmeter. Wir brauchen Wohnungen um 500 Euro pro Quadratmeter! Dafür versuchen wir die Menschen zu sensibilisieren.

STANDARD: Klappt das?

Cukic: Aufklärung und Sensibilisierung brauchen Zeit.

STANDARD: Denken Sie, dass das Projekt jemals realisiert wird?

Cukic: Nein. Nicht in dieser Form. Ich denke, dass sich die Regierung mit Emaar Eagle Hills darauf einigen wird, das Land für 99 Jahre zu verpachten. Der Belgrade Tower mit seinen Luxuswohnungen und Luxusbüros ist in erster Linie ein medientaugliches Lockmittel. Ob er jemals realisiert wird oder nicht, ist nebensächlich. In erster Linie geht es darum, das Grundstück zu blockieren und daraus dann Kapital zu schlagen.

STANDARD: Sie legen sich mit ganz schön großen Kapazundern an. Woher nehmen Sie Ihre Energie?

Cukic: Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich dazu beitragen will, Belgrad zu retten und vor der kompletten Privatisierung zu bewahren. Wenn die Regierung nicht schleunigst umdenkt und auch weiterhin bei jedem großen Kaufangebot mit den Ohren schlackert, weil hinter dem Dollar-Zeichen so viele Nullen stehen, dann wird die Stadt bald komplett ausverkauft sein. So weit darf es nicht kommen.

STANDARD: Wird es das Raumministerium in der nächsten Legislaturperiode noch geben?

Cukic: Daran besteht kein Zweifel.

Der Standard, Sa., 2014.09.06

06. September 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Baukultur denken ohne jedes Tabu

Die heurigen Baukulturgespräche widmeten sich der lebenswerten und gerechten Stadt. Dazu gehört auch die viel zitierte und selten eingelöste Leistbarkeit von Wohnraum

Die heurigen Baukulturgespräche widmeten sich der lebenswerten und gerechten Stadt. Dazu gehört auch die viel zitierte und selten eingelöste Leistbarkeit von Wohnraum

Vor wenigen Tagen gingen im hübschen Tiroler Kleinod Alpbach die Europäischen Baukulturgespräche zu Ende. Das übergeordnete Thema lautete heuer: „At the Crossroads. Lebenswerte und gerechte Städte schaffen“. Präsentiert wurden Initiativen und künstlerische Quartiersimpulse zwischen Ljubljana und Rio de Janeiro, Überlegungen zu einer neuen Form von urbaner Nachbarschaft sowie architektonische und stadtplanerische Reaktionen auf die stetig wachsende Stadt.

Und dann war da noch die Leistbarkeit, die in vielen Vorträgen und Diskussionen angeschnitten wurde. Denn leistbar - darin waren sich fast alle Diskutanten einig - ist das Wohnen in den Ballungsräumen schon lange nicht mehr. „Einen hohen, ernstzunehmenden Grad an Leistbarkeit zu erreichen erfordert Fokus und Durchhaltevermögen in der Willensbildung“, sagte Michael Wagner-Pinter, CEO der Synthesis Forschung Gesellschaft in Wien. „Das kann man nicht einfach an die Politik delegieren. Da muss die Privatwirtschaft mit anpacken.“

Teure Stadtzentren

Leichter gesagt als getan. Denn tatsächlich werden die Zentren immer teurer und teurer. Schuld daran sind nicht nur Grundstückspreise, sondern auch die kontinuierlich steigenden Anforderungen an den Wohnbau.

„Wenn wir von leistbarem Wohnen sprechen, dann müssen wir die Häuser für Menschen in Zukunft von jenen für Autos trennen“, forderte Verkehrspapst Hermann Knoflacher. „Wenn wir uns dazu nicht überwinden, wird das nicht klappen, denn ein großer Teil unserer Wohnkosten fließt in unterirdische Garagen.“ Und Georg Pendl, Präsident der Bundes-Architektenkammer, meinte: „Wir alle zitieren immer wieder die wunderbaren Wohnbauten der Pariser Architekten Lacaton & Vassal, wenn es um leistbares Wohnen geht. Völlig zu Recht! Doch die Wahrheit ist: Wenn ich so ein Haus in Österreich baue, dann lande ich im Gefängnis.“

Zu streng seien die Förderrichtlinien und Sicherheitsvorschriften hierzulande. Das verunmögliche es auch, sich der Anforderung an leistbaren Wohn- und Nutzraum in Österreich so zu nähern, wie dies andernorts der Fall ist. Beispielsweise in Amsterdam, wo der Vorarlberger Architekt Dietmar Eberle für einen privaten Investor 2010 ein 32.000 Quadratmeter großes Haus unter dem Titel „Solids Ijburg“ realisierte - und zwar ohne schon zuvor zugewiesene Funktion.

Gewünschter Funktionsmix

Das Mixed-Use-Objekt, das die konservative Immo-Wirtschaft vor ein schier unlösbares Rätsel zu stellen vermochte, wurde kurzerhand über Ebay versteigert. Mitbieten konnte jeder Interessent für Flächen zwischen 70 und 800 m². Das Ergebnis dieser ungewöhnlichen Verwertungskampagne ist eine Melange aus Minihotel, Montessori-Kindergarten, diversen Büros und 25 Prozent Sozialwohnungen für sieben Euro pro Quadratmeter. So sieht er aus, jener „lebenswerte und gerechte“ Funktionsmix, über den zwar alle sprechen, den jedoch niemand so richtig anzupacken wagt.

Wie man das Unmögliche auch hierzulande möglich machen kann, darüber wurde auf den Baukulturgesprächen in einem „World Café“ sinniert. Die erfrischend radikalen Lösungsvorschläge: Förderungen für die Errichtung von Multifunktions-Objekten sowie ein grundlegendes Überdenken von Bauordnung und Mietrechtsgesetz. Ein weiterer Wunsch war die Einführung von Leerstandssteuern und Strafen für spekulativ vom Wohnungsmarkt zurückgehaltene Objekte. Damit wurde ein riesiges Tabu in der Immobilienvorschrift tangiert. Applaus.

Der Standard, Sa., 2014.09.06

30. August 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Du sollst übers Wasser gehen

Nach drei Jahren Bauzeit ist die Brücke zum Mont Saint-Michel fertiggestellt und soll demnächst eingeweiht werden. Der romanische Abteiberg darf endlich wieder Insel werden. Von Wojciech Czaja

Nach drei Jahren Bauzeit ist die Brücke zum Mont Saint-Michel fertiggestellt und soll demnächst eingeweiht werden. Der romanische Abteiberg darf endlich wieder Insel werden. Von Wojciech Czaja

Ach, weißt du noch, damals in den Siebzigern? Bei Ebbe konntest du mit dem Auto über den Damm fahren und direkt vor dem Mont Saint-Michel parken. Mitten im Watt! Das war echt lustig!" Es waren die Gezeiten, die die Länge des Besuchs vorgegeben haben. Mit der abendlichen Flut mussten die Autos verschwinden, wenn sie denn nicht vom steigenden Wasser hinweggerafft wurden, und der Klosterberg durfte sich seine untertags aufgegebene maritime Aura wieder zurückerobern.

Die oft gehörten Urlaubsanekdoten rund um den Mont Saint-Michel sind nun Geschichte - zumindest jene mit dem Auto im klatschnassen Sand. Am 22. Juli wurde nach dreijähriger Bauzeit eine fast 800 Meter lange Stelzenbrücke eröffnet, die das denkmalgeschützte Kloster nicht nur visuell, sondern vor allem auch ökologisch wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückführen soll. Im September wird das ungewöhnliche Brückenbauwerk eingeweiht. Der Weihwassertransport wird kein übermäßig langer sein.

„Ich bin sehr glücklich mit der neuen Passerelle“, sagt Père André Fournier. Der Pater mit Brille und Glatze gehört dem Orden von Jerusalem an, der die einstige Benediktinerabtei verwaltet, und ist einer von insgesamt 27 Einwohnern des Mont Saint-Michel. „Die Fußgängerbrücke ist nämlich nicht nur ein funktionales Bauwerk, sondern erlaubt den Besuchern auch einen neuen Zugang mit ganz neuen, wunderbaren Blicken auf den Berg. Für mich ist dieses Projekt ein Wunder.“

Seine Schwärmerei hört sich an wie ein Stoßgebet an Mutter Natur. Nun, da die Brücke fertiggestellt sei, so Père André, könne der Mont endlich wieder seine volle Schönheit entfalten - hier, an der Kreuzung von Wasser, Wolken, Himmel, Wind und Gestein - und wieder zur Insel zurückmutieren. „Den Damm abzubrechen und die Autos aufs Festland zu verbannen, war eine überaus gute Idee“, so André.

Und sie war nicht nur gut, sondern auch von allerhöchster Dringlichkeit. „Früher war der Mont Saint-Michel nur per Boot erreichbar, die Errichtung des Straßendamms vor rund 150 Jahren war so gesehen also keine schlechte Idee“, meint Dietmar Feichtinger. Der nach Paris emigrierte Wiener Architekt hat den 2001 ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen und das Projekt bis zur Fertigstellung betreut. „Bloß konnte damals noch niemand ahnen, dass der Damm im Laufe der Jahrzehnte maßgeblich zur Versandung und Verlandung der gesamten Bucht beitragen würde.“

War der heilige Michael einst noch vier Kilometer vom Festland entfernt, sind es nun gerademal ein paar hundert Meter, die das Eiland von der Küste trennen. Durch den Damm konnte das Wasser des zäh fließenden Couesnon, der sich hier in einem breiten Delta ins Meer ergießt, nicht mehr ungehindert den Klosterberg umspülen. Die angeschwemmten Sedimente wurden immer und mehr, die Ebbezeiten immer trockener.

„Wenn wir nichts unternommen hätten, wäre der Mont Saint-Michel in spätestens 40, 50 Jahren von öden, trockenen Salzwiesen umgeben“, erklärt Patrick Morel, Bauherrenvertreter und Vorstandsdirektor des Syndicat Mixte Maître d'Ouvrage, im Gespräch mit dem STANDARD. „Damit wäre das im elften Jahrhundert errichtete Kulturdenkmal, das seit 1979 als Unesco-Weltkulturerbe firmiert, stark bedroht gewesen. Das wiederum hätte enorme Folgen für den Tourismus und somit für die Wirtschaft der gesamten Region“, ganz zu schweigen vom Untergang eines so sensiblen maritimen Ökoreservats mit all seinen Sandkrabben, Napfschnecken und Wattwürmern.

„Stimmt nachdenklich“

Père André blickt mit einem seligen Lächeln über die Bucht, als würde er sich im Schoße Gottes wiegen, hinaus auf den Steg. Krabben, Schnecken, Wurmgetier - allesamt gerettet. Seine einzige Sorge gilt dem etwas längeren Weg als zuvor, denn anstatt schnurgerade auf den Mont zuzugehen, muss er nun einen etwas längeren, s-förmig geschwungenen Weg in Kauf nehmen. Rund 45 Minuten dauert der Fußmarsch vom Parkplatz, langsamen Schrittes und fotografierend wohlgemerkt. „Für Pilger und Touristen ist das schon okay, aber für uns Brüder und Schwestern, die wir hier wohnen? Das stimmt mich nachdenklich.“

Dass man den von manch Geistlichem täglich zurückgelegten Weg verlängert habe, sei einer der zentralen Aspekte dieses Projekts, meint Feichtinger. „Früher hat man sich dem Mont in einer geraden Achse genähert und hat dabei immer nur die Straße mit ihren Autos, Shuttlebussen und tausenden Passanten gesehen. Durch den Schwung können sich nun Blicke auf einen fast freistehenden Klosterberg entfalten, ohne dass einem unentwegt Touristen vor die Kamera hüpfen.“

Und klick. Ohne jeden Zweifel gilt die Hauptaufmerksamkeit dem romanischen Mont Saint-Michel, der sich nach einer leichten Linkskurve auf halbem Wege in seiner vollen Pracht vor der Passerelle aufbäumt. Die Brücke wird zu diesem Zeitpunkt unsichtbar. Unauffällig duckt sie sich ins Naturschutzgebiet und begnügt sich bei all ihrer Schönheit und konstruktiven Ästhetik wohlwollend mit dem zweiten Platz.

„Diese Brücke ist wie ein Werkzeug Gottes“, sagt Pater André. Von einer sehr sensiblen Verschmelzung von Stahl und heimischer Eiche indes spricht Architekt Feichtinger. Zwar hätte man auch tropische Hölzer verwenden können, die womöglich eine etwas längere Lebensdauer haben, doch dies wäre in diesem sensiblen Ort ein allzu fremder Eingriff gewesen. Nach 40 bis 80 Jahren, zeigt die Erfahrung, werde man die Eichenbohlen unter den Füßen der Fußgänger - das Material findet sich übrigens auch auf der Außenhaut der Shuttlebusse wieder - austauschen müssen.

Der Querschnitt der Brücke ist asymmetrisch. Auf der einen Seite gibt es einen schmalen, 1,50 Meter breiten Fußweg für Alleinmarschierende und vielleicht auch für verliebt dahinschlendernde Pärchen, so Feichtinger. Auf der anderen Seite hingegen, mit Blick auf den offenen Atlantik, stehen 4,50 Meter Breite zur Verfügung, um jene sommerlichen Horden aufzunehmen, die den Weg per pedes dem motorischen Dahingeshuttle vorziehen. Und davon wird es eine Menge geben. Mit rund 2,5 Millionen Besuchern pro Jahr gilt die Abtei nach Paris als beliebtestes Touristenziel Frankreichs.

Knapp 140 Stahlpfähle stützen den flach über dem Boden schwebenden Steg, wobei jeder einzelne Bohrpfahl bis zu 30 Meter tief ins Watt gerammt werden musste. Aufgrund der großen Stützendichte im Untergrund konnte diesseits der Wasseroberfläche auf dicke, mächtige Brückenkonstruktionen oder gar Fachwerke verzichtet werden. Und tatsächlich: Mit 1800 Tonnen Gesamtgewicht ist die Passerelle zum Mont Saint-Michel geradezu ein Brückenleichtgewicht. Die Gesamtnettobaukosten belaufen sich auf 31 Millionen Euro brutto.

„Wissen Sie“, meint Père André Fournier zum Abschluss, „gut Ding braucht Weile, sehr viel Weile. Jetzt einmal ist die Brücke fertig, und damit ist schon der größte Weg zurückgelegt. In den kommenden Monaten wird nun der alte Damm abgebrochen.“ Im April nächsten Jahres soll das Projekt abgeschlossen sein. Bis 2025, so die Prognose, soll das Ökosystem in der Bucht wieder intakt sein. Die Flutwassertiefe wird dann 70 Zentimeter betragen.

Der Standard, Sa., 2014.08.30



verknüpfte Bauwerke
Mont Saint Michel - La Jetée

30. August 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Gebrauchsanweisung zum dichten Stadtleben

Die Erkenntnis der Baukulturgespräche in Alpbach: Die Stadt ist ein viel besserer Lebensort als gedacht

Die Erkenntnis der Baukulturgespräche in Alpbach: Die Stadt ist ein viel besserer Lebensort als gedacht

Alpbach - Vergessen Sie alles, was Sie bisher über das Thema Stadt zu wissen glaubten! So könnte man die Essenz der heurigen Baukulturgespräche beim Europäischen Forum Alpbach beschreiben. Unter dem Motto „At the Crossroads. Lebenswerte und gerechte Städte schaffen“ wurden viele bekannte Bilder und Statistiken hinterfragt, vor allem aber befassten sich die Vorträge, Podiumsdiskussionen und Workshops mit ungewöhnlichen und bisweilen recht radikalen Ansätzen zum Thema Leistbarkeit und Wohngenuss.

Es dürfe nicht alles als Kollektiv betrachtet werden. „Ein gewisser Egoismus kann die Stadt und Nachbarschaft durchaus befruchten“, erklärte die an der Columbia University lehrende Soziologin Saskia Sassen. „Ein Migrant kommt, macht einen Shop auf, weil er selbstständig sein und von irgendetwas leben muss, und am Ende profitiert die gesamte Nachbarschaft davon.“ Kleine, informelle Strukturen seien wichtig. Große, spekulative, womöglich sogar leerstehende Quartiere, so Sassen im Gespräch mit dem STANDARD, würden die Stadt auf lange Sicht „deurbanisieren“.

Das war's dann mit der viel zitierten Dichte und Lebendigkeit. Doch genau diese ist, wie Architekt Dietmar Eberle in seinem Vortrag unterstrich, unverzichtbar. In einer von ihm in Wien, München, Berlin und Zürich durchgeführten Studie stellte er fest: Je höher die Bebauungsdichte in einem Quartier, desto höher ist die Qualität und Pflege der öffentlichen Freiräume und desto besser ist das Viertel fußläufig und mit öffentlichem Verkehr an die restliche Stadt angeschlossen.

„Es ist ein Paradoxon, doch in den letzten Jahrzehnten haben wir in Mitteleuropa den Fehler gemacht, dass wir die Neubaugebiete viel zu dünn bebaut haben, zumal sich Politik, Wohnbauträger und Investoren häufig mit großer Luftigkeit rühmen.“ Auch in der Wiener Satelliten-Seestadt Aspern, so Eberle, sei die Bebauungsdichte viel zu niedrig angesetzt. „Das ist eine Siedlung. Hier wird niemals Stadt entstehen.“ Dass es mitunter gelingt, sogar in extrem dicht bevölkerten Städten so etwas wie Lebensqualität zu sichern, erklärte Ljiljana Blagojevic, Professorin an der Universität Belgrad. „Dichte ist nie das Problem, auch nicht in einer Stadt mit so vielen städtebaulichen Schwächen und Fehlern wie Belgrad, wo wir heute mit abgewohnten sozialistischen Wohnbauten zu kämpfen haben. Es geht nur darum, was man mit dieser Dichte macht. Wir müssen lernen, die Potenziale zu erkennen. Und die gibt es immer.“ Als Fazit der diesjährigen Baukulturgespräche könnte man sagen: 1. Dichte bringt Leben. 2. Dichte sorgt für geringeren ökonomischen Druck und ist somit ein Garant für Leistbarkeit. Und 3. Selbst im baulichen Bestand lässt sich die Dichte erhöhen, indem man die bisweilen hohen Leerstände in Wohnhäusern (Stichwort Spekulation) eliminiert. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, wäre die Einführung von Leerstandssteuern und Strafen für spekulativ vom Wohnungsmarkt zurückgehaltene Objekte. Das ergaben die Workshops der Teilnehmer. Selten zuvor waren die Baukulturgespräche radikaler und erfrischender. Da kann man ansetzen.

Der Standard, Sa., 2014.08.30

23. August 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Schule macht Schule

Der Ernst des Lebens kann auch Spaß machen. Zum Beispiel im neuen Bildungscampus am Wiener Hauptbahnhof, der in einer Woche in Betrieb gehen wird. Erster Spaziergang durch einen räumlichen Vorboten, der den Wiener Schulbau auf den Kopf stellen wird.

Der Ernst des Lebens kann auch Spaß machen. Zum Beispiel im neuen Bildungscampus am Wiener Hauptbahnhof, der in einer Woche in Betrieb gehen wird. Erster Spaziergang durch einen räumlichen Vorboten, der den Wiener Schulbau auf den Kopf stellen wird.

Am 1. September ist Schulbeginn. Und damit startet für viele nicht nur der Ernst des Lebens, sondern auch eine neue Ära im österreichischen Schulbau. Erstmals seit Jahrzehnten werden die Jüngsten unserer Gesellschaft nicht mehr in neun mal sieben Meter große Standardklassen gequetscht, sondern können sich zwischen individuell gestalteten Ausbildungsräumen frei bewegen, können über sogenannte Marktplätze schlendern, können je nach Belieben mal drinnen, mal draußen lernen.

Ort dieser pädagogischen Revolution, an die vor wenigen Jahren noch niemand so richtig glaubte, ist der Bildungscampus im Sonnwendviertel im Hinterland des neuen Wiener Hauptbahnhofs. Die letzten Handgriffe werden gerade gemacht. Die einen tragen höhenverstellbare Drehstühle durchs Haus und polieren die Edelstahlküchen auf Hochglanz, die anderen machen die letzten Verwaltungsrochaden und drucken die Stundenpläne aus. Bald kommen die Horden.

„In den letzten 15 Jahren haben wir so gut wie jede einzelne österreichische Schulausschreibung gelesen und studiert“, erinnert sich Georg Poduschka, PPAG Architekten. „Doch diese eine Ausschreibung hat uns mehr als überrascht. Da waren keine räumlichen Vorgaben aufgelistet, sondern pädagogisch-funktionale Wünsche. Viele unserer Kolleginnen und Kollegen haben gar nicht glauben wollen, was die Magistratsabteilungen und der Stadtschulrat da hineingeschrieben haben.“

Erstmals, seit er denken kann, habe sich Poduschka ernsthaft und tiefgreifend mit dem Thema Schulbau auseinandersetzen dürfen. Mit Erfolg. Von den insgesamt 102 Teilnehmern kamen neun Büros in die zweite Bewerbungsstufe. Gewonnen hat schließlich der eckig zusammengewürfelte Cluster von PPAG, der sich - im Grundriss betrachtet - wie ein Commodore-Pac-Man durch das Schulgelände frisst.

Die ungewöhnliche Form hat inhaltliche Gründe. Denn anders als in allen bisher bekannten Schulen werden hier keine Normklassen mit Normtafeln und Normwaschbecken an Normgänge mit Normbrandlast und Normfluchtwegen gefädelt. Stattdessen gruppieren sich jeweils vier Unterrichtsklassen um einen zentralen Marktplatz, der den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung steht - und zwar nicht nur in den Pausen, sondern auch in den Schulstunden.

Über vier Meter breite Glasfalttüren lassen sich die einzelnen Klassenräume zu einem riesigen Dorfplatz zusammenfassen. Wenn gewünscht, können auf diese Weise bis zu 100 Kids gleichzeitig - und zwar fächer- und auch schulstufenübergreifend - unterrichtet werden. An jede Klasse und jeden Cluster anschließend gibt es zudem Freiluftklassen, die mal witterungsgeschützt und mal mit einer schattenspendenden Pergola versehen sind. Projektunterricht bekommt damit eine vollkommen neue Dimension.

Oder, wie Georg Poduschka sagt: „Das ist ein Schulhaus für alle Kinder zwischen null und 14 Jahren, von Kindergarten über Volksschule bis hin zur Mittelschule. Ich finde das super. Als Kindergartenkind kann ich auf dem gesamten Gelände frei herumlaufen und meinen pubertierenden Bruder in seiner Schulklasse besuchen, wenn ich das will.“ Diese Offenheit und Transparenz ist Neuland in Österreich.

„Das ist ein Schulgebäude, das es in dieser Form bislang noch nie zuvor gegeben hat“, erklärt Claudia Koch, Direktorin der Volksschule. „Die offene Bauweise ist ein baulicher Anspruch an das Lernen, dem man erst einmal gerecht werden muss. Doch unse- re Pädagoginnen und Pädagogen sind aufgeschlossen und entwicklungsfreudig. Ich persönlich freue mich schon auf den Schulbetrieb.“

Auch Andreas Gruber, Direktor der Neuen Mittelschule (NMS), meint: „Das ist eine ziemliche Umstellung, eine ziemliche Herausforderung, wie ich meine. Aber in erster Linie sehe ich den Bildungscampus als Chance, denn das ist genau das, wonach wir Pädagoginnen und Pädagogen uns in all den Jahren gesehnt haben. Ich denke, es ist eine Frage der Zeit, vielleicht sogar der Generationen, aber früher oder später wird diese Offenheit auch auf die Kinder überspringen.“

Als ob das alles nicht schon neu genug wäre, verfügt jede Klasse über eine rund 15 Quadratmeter große Raumnische. Hierher können sich die Kinder zum Lesen oder Schlafen zurückziehen. Es sei jener abgeschiedene Privatbereich, so Architekt Poduschka, der als Ausgleich zum stundenlangen Unterricht so unglaublich wichtig sei, üblicherweise jedoch hinter einer selbst zusammengebastelten Schrankwand versteckt werde. Hier muss sich die Muße nicht maskieren.

Die Neuerungen auf dem 1100 Schüler fassenden Bildungscampus, der leider nicht so bunt ist wie sein räumlich innovatives Konzept, sondern sich hinter einem Farbkonzept aus Schwarz, Weiß und militärischer Schlammtarnfarbe zurücknimmt, gehen bis ins kleinste Detail. So entwickelten die PPAG Architekten sogar einen neuen, sechseckigen Schultisch, an dem bis zu drei Schüler sitzen können. Drehstühle mit höhenverstellbarer Fußstütze machen's möglich. Bei Bedarf ist sogar noch Platz für eine Lehrperson.

Und anstatt grüner Schiefertafeln gibt es sogenannte Whiteboards. Diese können den händisch geschriebenen Text nicht nur speichern, sondern auch in ein digitales Word-Dokument umwandeln. Auf diese Weise lässt sich mit anderen Klassen virtuell kommunizieren. Möge die bessere Lehrmethode gewinnen. Das enervierende Quietschen und Kreischen der Kreide ist damit Geschichte.

Von den veranschlagten 47 Millionen Euro Baukosten (Gesamtinvestitionskosten 79 Millionen Euro) wurden nur 37 Millionen verbaut. Das ist eine Reduktion um mehr als 20 Prozent. Für diese rechnerische Leistung gebührt den PPAG Architekten ein glattes „Sehr gut“. Schade nur, dass von den einst geplanten Vogelbrutkästen, Brieftaubenstationen, Bienenhäusern und frei herumlaufenden Igeln und Katzentieren nichts geworden ist. So weit traut sich die österreichische Bürokratie dann wohl doch nicht aus dem Fenster zu lehnen.

„Kompromisse muss man immer eingehen, und es kann sein, dass sich der Bildungscampus am Hauptbahnhof in den letzten Jahren von der ersten Konzeptskizze bis zur Fertigstellung da und dort auch architektonisch verändert hat“, meint Karin Schwarz-Viechtbauer, Direktorin des Österreichischen Instituts für Schul- und Sportstättenbau (ÖISS). „Räumlich jedoch ist der Campus exakt so geworden, wie PPAG ihn entworfen hat. Damit markiert die Pilotschule einen Wendepunkt im Wiener Schulbau und definiert die Stoßrichtung für die kommenden Jahre.“

Die folgenden Bildungscampus-Bauten sind bereits in Planung und in Bau. Unter dem Arbeitstitel „Campus plus“ verfolgt die Stadt Wien das Konzept weiter und errichtet in der Seestadt Aspern und in Kagran weitere Projekte, die hoffentlich Schule machen werden. Auch ohne Normschüler und ohne Normkatalog. „Die nächsten Pilotprojekte werden für die Zukunft des Wiener Schulbaus ausschlaggebend sein“, so Schwarz-Viechtbauer.

Der Standard, Sa., 2014.08.23

08. August 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Kämpferin für Freiheit und Komfort

Die Wiener Architektin und Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky hat mehr geleistet als nur diese eine, verhasste „Frankfurter Küche“ zu bauen. In der Sowjetunion wirkte sie etwa an dutzenden Wohnbauten und auch Stadtplanungskonzepten mit.

Die Wiener Architektin und Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky hat mehr geleistet als nur diese eine, verhasste „Frankfurter Küche“ zu bauen. In der Sowjetunion wirkte sie etwa an dutzenden Wohnbauten und auch Stadtplanungskonzepten mit.

„Jetzt seien Sie doch bitte nicht albern!“, soll sie mal einen netten Aufseher bei einer Ausstellungseröffnung im Museum für angewandte Kunst abgemahnt haben, als er der mittlerweile weit über 100-Jährigen einen Sessel vor die Füße stellte. „Schaue ich wirklich so alt aus, dass ich die 20 Minuten nicht mehr derstehen kann? Ich bitte Sie, tun sie das weg!“

Margarete Schütte-Lihotzky, 1897 in Wien geboren, ist eine Galionsfigur der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie war mit Adolf Loos und Bruno Taut befreundet. Sie plante tausende Wohnungen, entwarf unzählige Wohn- und Einrichtungstypen, arbeitete in Deutschland, in Russland, in der Türkei, in Bulgarien, in den USA und auf Kuba.

Im Gegensatz zu vielen männlichen Kollegen entwickelte Margarete Schütte-Lihotzky, die im Alter von nur 21 Jahren ihren Studienabschluss an der Wiener Kunstgewerbeschule machte, von Anfang an einen intensiven Kontakt zu den Menschen, zum Proletariat.

Kurz nach ihrem Studium fuhr sie nach Holland und betreute dort Wiener Arbeiterkinder, die nach dem Ersten Weltkrieg in der Stille der Deiche Erholung finden sollten. Der Dialog mit dem Gegenüber würde sich durch ihr gesamtes OEuvre ziehen.

Ab 1921 arbeitete sie für die erste gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft der Kriegsinvaliden Österreichs. Sie wirkte unter anderem an der Planung der Reformsiedlung „Eden“ mit und entwickelte in dieser Zeit ein Interesse für die scheinbar kleinen und nichtigen Bereiche des Wohnens. Schütte-Lihotzky entwarf Möbel, beschäftigte sich mit der industriellen Serienproduktion und widmete sich verstärkt jenem Raum der Wohnung, der sie bis an ihr Lebensende klischeehaft verfolgen würde: der Küche.

In ihren Frankfurter Jahren entwickelte sie eine ergonomische Einbauküche der kurzen Wege und wenigen Handgriffe. Rund 10.000-mal wird die von ihr konzipierte Küche im sozialen Massenwohnbau Frankfurts eingebaut. „Ewig Küchen, die sind mir schon beim Hals herausgehangen!“, erzählte sie später einmal in einem TV-Interview.

Zeit in der Sowjetunion

1927 heiratete sie ihren Frankfurter Architekturkollegen Wilhelm Schütte, mit dem sie in die Sowjetunion auswandert und dort dutzende Wohnbauten und Kindereinrichtungen plant, ja sogar Stadtplanungskonzepte für Nowosibirsk, Magnitogorsk und Moskau entwickelt.

Und dann der Zweite Weltkrieg. Nachdem die Kommunistin und brennende Widerstandskämpferin nur knapp der Todesstrafe entging, landete sie 1941 im Frauenzuchthaus Aichach.

Nie wieder sollte es ihr gelingen, in Österreich Fuß zu fassen; nicht als ehemaliges Mitglied der KPÖ. Erneut verließ sie Wien, floh ins Ausland, nach Sofia, Peking, New York, Havanna, Berlin. Erst in den späten 1960er-Jahren kehrte die Pensionistin wieder zurück zu ihren Wurzeln, suchte sich eine kleine Wohnung im fünften Bezirk und blieb dort bis zu ihrem Lebensende. Erst im hohen Alter wurde der großen Tochter öffentlicher Respekt zuteil.

Küchenexplosion

Wenige Monate vor ihrem Tod lud Schütte-Lihotzky eine Gruppe von Schüler(inne)n und Studierenden zu sich nach Hause, um aus ihrem Leben zu erzählen. Vorsichtig wagte der Autor dieser Zeilen die Frage, wie es denn sei, als Architektin immer nur auf ein einziges Projekt reduziert zu werden. Weit kam er nicht. Kaum waren die beiden Worte „Frankfurter“ und „Küche“ gefallen, explodierte die 103-Jährige und schlug ihm um die Ohren: „Ich habe in meinem Leben sehr viel mehr gemacht als nur das. Wenn ich gewusst hätte, dass alle immer nur davon reden, hätte ich diese verdammte Küche nie gebaut!“

Der Standard, Fr., 2014.08.08



verknüpfte Akteure
Schütte-Lihotzky Margarete

26. Juli 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Pack die Stadt bei den Hörnern!

Der Mies van der Rohe Award prämiert „Europas beste Bauten“. Und nicht selten leisten die Projekte einen nachhaltigen Beitrag für die ganze Stadt. Derzeit gastiert die gleichnamige Ausstellung in Wien.

Der Mies van der Rohe Award prämiert „Europas beste Bauten“. Und nicht selten leisten die Projekte einen nachhaltigen Beitrag für die ganze Stadt. Derzeit gastiert die gleichnamige Ausstellung in Wien.

Das Gute daran: Menschen mit einer Rot-Grün-Sehschwäche werden sich hier in einer adrett geputzten, fein säuberlich gemähten Parklandschaft wähnen. Das Schlechte daran: Auf ein Vögelchen oder gar herbeigehuschtes Eichhörnchen wird man hier länger warten müssen. Aber das ist bei der Bjarke Ingels Group (BIG) keine Seltenheit, denn von jeher liebt es das dänische Architekturbüro, mit einer gewissen, zelebrierten Künstlichkeit zu schockieren, ob nun auf dem Lande oder in der Stadt.

Doch die Menschen lieben das charmante, schelmische Augenzwinkern dieses wohl frechsten Architekturbüros der Welt, vor allem hier am Superkilen im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro. Traditionell leben hier viele Migranten. Fast 30 Prozent aller Einwohner sind Ausländer, darunter etwa Araber, Türken, Pakistanis und Somalis. Und nachdem die Kultur der südlichen Länder - ganz im Gegensatz zu uns mitteleuropäischen Dauerkonsumenten und Hausmuffeln - eine ist, die es versteht, den öffentlichen Raum zu nutzen und ihn zu bewohnen, ist es nicht verwunderlich, dass es kaum eine Tageszeit gibt, zu der Superkilen nicht von unterschiedlichsten Farben und Sprachen bevölkert wird.

„Das Rot ist kein Zufall, sondern hat gute Gründe“, erklärt Daria Pahhota vom Büro BIG. „Wir haben die Leute befragt, wie sie den Platz am liebsten nutzen möchten, und der Großteil der Einwohner sehnte sich nach einem Ort für Sport und Freizeitaktivitäten. Also haben wir uns am klassischen Sportplatz orientiert und die Stadt in diesem Bereich rot gefärbt.“ Die Gebrauchsspuren seien nicht zu übersehen. Inzwischen, meint Pahhota, könnte der Platz an einigen Stellen einen Neuanstrich gebrauchen.

Superkilen in Kopenhagen, ein Gemeinschaftsprojekt von BIG, Superflex und Topotek 1, ist eines von insgesamt 40 Projekten, die derzeit im Architekturzentrum Wien (AzW) zu sehen sind. Ausgestellt werden jene Preisträger und Finalisten, die beim letztjährigen Mies van der Rohe Award 2013, bei dem herausragende Projekte aus ganz Europa prämiert wurden, auf der Shortlist waren. Seit damals tourt die Wanderausstellung durch die EU und macht Werbung für etwas mehr Mut in der Architektur.

In natura

„Architekturpreise und Auszeichnungen im Bauwesen gibt es wie Sand am Meer“, sagt AzW-Direktor Dietmar Steiner. Doch der Mies van der Rohe Award, der seit 1988 vergeben wird, sei in zweifacher Hinsicht etwas Besonderes: „Erstens sind es nicht die Architekten, die die Projekte aus Eigeninteresse nominieren, sondern unabhängige Juroren wie etwa Kulturschaffende, Kuratoren und Journalisten. Und zweitens werden die shortgelisteten Projekte nicht nur anhand von Fotos und Plänen beurteilt, sondern anhand des konkreten Bauwerks.“ Sprich: Die Jury fährt direkt vor Ort und schaut sich das Ding in natura an. Damit werde in der Beurteilung eine Qualität erzielt, von der andere Awards nur träumen können.

„In all den 25 Jahren“, meint Antoni Vives, Präsident der Fundació Mies van der Rohe, die den Award seitdem in regelmäßigen Abständen vergibt, „hatten wir bereits 335 Projekte auf der Shortlist. Und all diese Projekte haben massiv dazu beigetragen, die europäische Stadt weiterzuentwickeln, und zwar mit einem gewissen Savoir-faire und einer Qualität auf internationalem Niveau.“

Dass dieser Beitrag kein dauerhafter und auch kein unendlich kostspieliger sein muss, beweist das Projekt „Red Bull Music Academy 2011“ in Madrid, das mit dem „Emerging Architect Special Mention Award“ ausgezeichnet wurde. Ursprünglich hätte das Flügel verleihende Musikfestival in Tokio stattfinden sollen. Doch nachdem das Erdbeben und der Tsunami die Prioritäten in Japan in diesem Jahr anders gesetzt hatten, musste das Festival kurzfristig abgesagt und übersiedelt werden. Die Wahl fiel auf Madrid.

„Niemand hat für möglich gehalten, dass dieses Projekt realisiert werden kann“, erinnert sich Architektin María Langarita im Gespräch mit dem STANDARD. „Wir hatten zwei Wochen Konzeptphase, zwei Wochen Planungsphase und acht Wochen Bauzeit. Danach musste alles stehen. Und noch dazu war das nicht irgendwann unterm Jahr, sondern im Hochsommer, Bauzeit August, also genau dann, wenn die spanischen Baufirmen und Konzerne auf Urlaub sind und das Land auf Sparflamme funktioniert.“

Aus der Not wurde eine Tugend gemacht. Auf komplizierte Bausysteme, aufwändige Konstruktionen und etablierte Markenware musste verzichtet werden. Stattdessen griffen Langarita und ihr Partner Víctor Navarro zu billigem, handelsüblichem Sperrholz. Nachdem der Baustoff nicht sonderlich wetterfest und somit auch nicht resistent gegen aufsteigende Bodenfeuchte ist, mussten die Büros, Garderoben, Technikräume, Bühnenelemente und Tribünen aufgeständert werden. Für den nötigen Schutz von oben sorgt das bestehende Dach der einstigen Großmarkthalle Matadero, die der Red Bull Music Academy Obdach gab.

Dramatisch und abenteuerlich

„Es ist sich alles irgendwie ausgegangen, aber niemals im Leben hätte ich damit gerechnet, dass wir mit diesem billigen Projekt zwei Jahre später den Mies van der Rohe Award gewinnen würden“, meint Langarita. „Das beweist für mich einmal mehr, dass auch temporäre Bauten keine Projekte zweiter Klasse sind, sondern durchaus eine gewisse architektonische, bauliche und kulturelle Qualität haben können. Und das ist gut so, denn nicht alles im Leben ist für die Ewigkeit bestimmt.“

Randnotiz: Die Red Bull Music Academy stieß bei den Madrilenen auf so große Resonanz, dass die Sperrholzlandschaft nicht - wie ursprünglich geplant - nach dem Festival wieder abgebaut wurde, sondern nach wie vor in Verwendung ist. Heute wird sie von der Stadt Madrid bespielt und hört auf den Namen „Nave de Música“.

Einem gläsernen Schiff nicht unähnlich ist jedenfalls das Harpa Concert Hall and Conference Centre im Hafen von Reykjavík, das beim Mies van der Rohe Award 2013 den Hauptpreis einheimsen durfte (DER STANDARD berichtete). Dem wohl stolzesten Projekt Islands der letzten Jahre, für das die Architekten Batteríid und Henning Larson sowie der isländische Künstler Olafur Eliasson verantwortlich zeichnen, ist im Architekturzentrum Wien der größte und prominenteste Platz gewidmet. Die kleinen Modelle vermitteln eine Idee davon, wie dramatisch und abenteuerlich die dreidimensional geformte, prismatische Glasfassade in Richtung Stadtzentrum blickt.

„Das Harpa Centre ist nicht nur ein Konzerthaus, sondern auch ein Konferenzzentrum mit perfekter Ausstattung und Dolmetschkabinen für bis zu neun Sprachen“, sagt Harpa-Chef Ásgeirsson im Interview mit dem STANDARD. „Island hat sich damit auf die internationale Landkarte katapultiert. Denn nun können wir nicht nur spektakuläre Landschaft anbieten, sondern auch eine hochrangige Konzert- und Architekturszene. So gesehen leistet zeitgenössische Architektur einen enormen Beitrag zur Aufwertung eines Ortes, und den haben wir dringend benötigt.“ Ganz gleich, ob das nun in Reykjavík ist - oder in einem einst sogenannten Problembezirk in Kopenhagen.

Der Standard, Sa., 2014.07.26

20. Juli 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Die Sonnenkönigsdisziplin

Letzten Samstag ging der Solar Decathlon 2014 zu Ende. Prämiert wurden innovative Projekte im Umgang mit solarer Energie

Letzten Samstag ging der Solar Decathlon 2014 zu Ende. Prämiert wurden innovative Projekte im Umgang mit solarer Energie

„Jetzt hör auf zu fotografieren und komm endlich her! Aber Cookies gibt's keine, nur dass du's weißt!“ Und schon steht man mitten in Holland, in einem Garten mit viel Grünzeug und Gemüse rundherum. Neben der Natur wächst eine Art Gewächshaus in den Himmel, die gesamte Fensterreihe im Obergeschoß ist aufgeklappt, der Luftzug zu dieser Tages- und Jahreszeit ein durchaus gewollter und bis zum letzten Komma kalkulierter.

Denn „Prêt-à-Loger. Home with a Skin“, eine Art Sofortwohnangebot für Grüne und solche, die es werden wollen, ist ein von der ersten Skizze bis zur buchstäblichen Schlüsselübergabe konzipiertes Plusenergiehaus, das die Energie- und CO2-Bilanz in den niederländischen Reihenhaussiedlungen am Stadtrand in kürzester Zeit und bei ebenso knapper Kasse auf ein absolutes Minimum runterdrücken soll.

Thermisch sanierungsbedürftig

„In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den Niederlanden einen regelrechten Häuslbauerboom“, sagt Dennis Ijsselstijn, seines Zeichens Student an der TU Delft und Projektleiter dieses löblichen, ressourcenschonenden Unterfangens. Er sitzt auf der Hollywoodschaukel und winkt kurz rüber nach Frankfurt, Nantes und Barcelona. „Heute sind wir damit konfrontiert, dass diese Häuser katastrophale energetische Werte haben und dringend nachgerüstet werden müssen.“

Rund 110.000 dieser thermisch sanierungsbedürftigen Habitate gibt es in den Niederlanden. „Prêt-à-Loger. Home with a Skin“ zeigt vor, was man mit dieser ungeliebten Bausubstanz machen kann. Zum Beispiel. Letzten Samstag wurde das rekordverdächtige, hässliche Ziegelentlein mit der drübergestülpten Glashaube beim internationalen Solar Decathlon Paris mit dem Grand Prize in Bronze ausgezeichnet.

Ort des Geschehens: Cité du Soleil, ein temporär aufgebautes Messegelände, nur wenige Schritte vom Schlosspark Versailles entfernt. Wo einst Sonnenkönig Ludwig XIV. geherrscht hatte, ging nun zum zehnten Mal der solare Zehnkampf über die Bühne. Es ist der größte Architektur- und Ingenieurswettbewerb dieser Art weltweit. Teilnahmeberechtigt sind Studentengruppen in Zusammenarbeit mit Forschungs- und Industrieunternehmen.

Energetisch berechnet

„Dritter Preis! Nicht schlecht, was?“ Ijsselstijn erklärt die Funktionsweise des gläsernen Bausatzes, der wie eine zweite Fassade um so gut wie jedes normale Backsteinhaus gewickelt werden kann. „Das Prinzip ist ganz einfach: Im Winter dient der Wintergarten als Pufferraum und Isolierung, im Sommer entsteht auf diese Weise ein erweitertes Wohnzimmer, das aufgrund von Querlüftung und thermischer Luftzirkulation das Haus mit kühler Luft umspült.“

Zudem ist die zum Teil offenbare Konstruktion mit Photovoltaik-Zellen verkleidet. Ein unter dem Wintergarten eingebauter, flach liegender Tank dient als Wasserspeicher. Eine Wärmerückgewinnungsanlage sorgt dafür, dass kaum ein Watt abhandenkommt. Jedes einzelne Detail dieses Hauses wurde nicht nur geplant, sondern auch energetisch berechnet. Unterm Strich - und davon kann man sich auch hierzulande ein Scheibchen abschneiden - produziert das Haus im Betrieb mehr Energie, als es verbraucht.

„Our Solar King“

„Das allererste Mal hat der Solar Decathlon vor zwölf Jahren in Washington, D.C., stattgefunden, und ich hätte mir niemals gedacht, dass dieser Wettbewerb eines Tages so hohe Wellen schlagen wird“, sagt Richard King, Gründer und Direktor des internationalen Wettkampfs um die Sonnenergie, der nächstes Jahr erstmals auch in Südamerika ausgefochten werden soll. „Doch am meisten freut mich, dass sich der Preis professionalisiert und so weit entwickelt hat, dass nun die erwachsenen, berufstätigen Architekten von den jungen, innovativen, zielstrebigen Studenten lernen können, und nicht umgekehrt.“

Diese respektvolle Geste wissen die rund 600 Studenten, die sich heuer am Solar Decathlon beteiligt haben, zu schätzen. Niemand von ihnen nennt den Prinzipal des 2002 ins Leben gerufenen Wettbewerbs bei seinem eigentlichen Namen. Alle spähen sie hinüber zu den geometrisch zurechtgezupften Bäumen im Schlossgarten des einstigen Sonnenkönigs und stimmen sodann im Chor an: „Richard, our Solar King!“

Nicht nur Architektur wird bewertet

Das größte Verdienst des Solar Decathlon: Nicht allein die Architektur wird bewertet, sondern auch die Wirtschaftlichkeit, bauliche Logistik und bauphysikalische Eigenschaft des Gebäudes. Überall stehen Messgeräte. Jeder einzelne Raum wird aufgezeichnet, und das rund um die Uhr: Temperatur, Luftfeuchtigkeit, CO2-Gehalt, Behaglichkeit, Raumklima bei Stromausfall, eine nicht enden wollende Liste. In der Zentrale werden die Datensätze ausgewertet. Sie bilden die Basis für den Preis, der in insgesamt zehn Unterkategorien vergeben wird. Daher auch der Name.

Aufbruch. Wir spazieren nach Nantes und Rom. Ein wenig erinnert die provisorische Cité du Soleil in Versailles an einen Kirtag, an ein Wiesenfest der Ingenieure. 20 Studententeams aus aller Welt, einige von ihnen sind interdisziplinär und auch transnational zusammengewürfelt, haben sich heuer beteiligt. Die Resultate der insgesamt zwei Jahre dauernden Planungs- und Bauphase beweisen, wie vielfältig das Thema Passivhaus und Plusenergiehaus sein kann.

Speicherfähige Masse

Nantes. Hier sind die Preisträger in Silber zu Hause. „Philéas. Atlantic Challenge“ nennt sich ihr Projekt. Und auch hier wieder reagieren die Studentinnen auf eine reale Situation, ja sogar auf ein bestehendes, sanierungsbedürftiges Industriegebäude im Loire-Hafen. Dem 1895 errichteten Stahlbetonklotz setzen sie eine gläserne Haube aufs Dach. Die transparente Hutpracht dient den darunterliegenden Wohnräumen als Wärmepuffer, aber auch als Agraroase inmitten der städtischen Betonwüste.

Rom. Das Projekt „Rhome for Dencity“ hat heuer den Grand Prize in Gold nach Italien getragen. Das in Zusammenarbeit mit Rubner Haus entwickelte Projekt, eine schlichte Holzkiste in Rot und Natur, wirkt zunächst unauffällig. Erst auf den zweiten Blick entfalten sich die Features: Die Photovoltaik-Paneele sind zugleich klappbarer Sonnenschutz. Die in Leichtbauweise errichteten Wände sind zugunsten eines ausgeglichenen Raumklimas mit Sandkanistern gefüllt, die die Rolle der speicherfähigen Masse übernehmen. Und überall Querlüftungsfenster, soweit das Auge reicht.

„Wie ein gut funktionierendes Haus aufgebaut sein soll, weiß in Italien jede Oma“, erklärt Nicola Moscheni, Student an der Universität Roma Tre. „Und eigentlich haben wir nichts erfunden, sondern nur das optimiert, was uns unsere Großmütter schon beigebracht haben.“ Dem watscheneinfachen Rezept kann man seinen Erfolg nicht abstreiten.
„Noch eine Vision“

„Für mich ist dieser Wettbewerb ein Statement für die Zukunft“, sagt Robert Schild, Habitat-Manager für Österreich und Deutschland bei Saint-Gobain. Der weltweit tätige Baustoffproduzent hat beim diesjährigen Decathlon tonnenweise Isoliermaterial, Baufolien und Putze beigesteuert. „Und ich verfolge mit Begeisterung, wie innovativ die Studenten die Materialien einsetzen. Da kann sich die gesamte Baubranche etwas abschauen.“

Das italienische Studententeam hält seine wohlverdiente Glastrophäe in die Höhe, „Und jetzt tragen wir alle unsere Ideen nach Hause, denn das Land, aus dem wir kommen, kann frische Impulse gut gebrauchen“, sagt eine der Studentinnen im Taumel des Siegs. „Noch ist der Solar Decathlon eine Vision“, sagt Sonnenkönig Richard King. „Doch ich wünsche mir, dass der Preis eines Tages nicht mehr ein Blick in die Zukunft, sondern eine Zwischenbilanz über die Gegenwart sein wird.“

Der Standard, So., 2014.07.20

05. Juli 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn die Kunst im Kreis verkehrt

Meist ist es bepflanzt, oft sogar ganz grausam bekunstet. Doch bei näherer Betrachtung bietet das kreisrunde, der Landschaft abgerungene Restgrundstück Potenzial für Nachdenken, Bauen und Wohnen.

Meist ist es bepflanzt, oft sogar ganz grausam bekunstet. Doch bei näherer Betrachtung bietet das kreisrunde, der Landschaft abgerungene Restgrundstück Potenzial für Nachdenken, Bauen und Wohnen.

Weintrauben, Weingläser, Birnenfiguren, korinthische Säulen, Kampfflugzeuge, Kühe, Krüge, Rosenbögen und allerlei angewandte Floristik: Das ist das zermürbende Bild der rund 260 Kreisverkehre im Land Niederösterreich, das damit - und zwar mit großem Vorsprung - bundesweiter Spitzenreiter des dauerlinks eingeschlagenen Lenkrads ist. „Jedoch ist der Kreisverkehr“, schreiben die beiden Kulturtheoretiker Marc Ries und Bernhard Keller in ihrem gleichnamigen Essay, „nicht nur ein verkehrstechnisches Arrangement, er ist auch eine Gestalt, ein Körper in der Landschaft.“

Und zwar einer, der niemals leer bleiben darf, der immer gestaltet und mit Kunst oder ähnlichen, dazu ernannten Stücken zu bestücken gehört. „In den meisten Fällen“, erklärt Katharina Blaas-Pratscher, Leiterin der Abteilung Kunst im öffentlichen Raum (KÖR) der Niederösterreichischen Landesregierung, „verwenden die Gemeinden den Kreisverkehr als Werbetafel und Marketinginstrument. Und manchmal darf sich auch der eine oder andere, ortsansässige Künstler darin austoben. Doch die künstlerische Qualität lässt bisweilen zu wünschen übrig.“

Um diesen Zustand zu ändern, fordert und fördert Blaas-Pratscher mit einer für drei Jahre einberufenen Jury - nicht nur, aber auch - musische Impulse für ausgerechnet jene kreisrunden Restgrundstücke, die der zunehmende Automobilverkehr der Landschaft und zu Fuß gehenden Menschheit ringsum abgerungen hat. Kunst im Kreisel, das ist vor allem auch eine Kunst der Dynamik und Distanz.

Zirkulare Ehrenrunden

Donnerstag, acht Uhr morgens. Der Pendler- und Güterverkehr hat Rush Hour. Auch hier, am erst kürzlich eröffneten und eingeweihten Kreisverkehr an der Autobahn-Ausfahrt Leobendorf bei Wien. Und trotz allmorgendlicher Hektik passiert es zu dieser Tageszeit nicht wenige Male, dass ein Autofahrer, anstatt den Ausfahrtsblinker zu betätigen, im Kreise bleibt und zugunsten der Kunstrezeption eine, manchmal sogar zwei zirkulare Ehrenrunden dreht. Das dazu anspornende Motiv, eine Skulptur der costa-ricanischen Künstlerin Priscilla Monge, hört auf den Namen The House.

„Ich war hier einige Male zu Besuch, und mich hat fasziniert, wie viele Leute rund um Wien das traditionelle, auf den ersten Blick offen erscheinende, letztendlich aber abweisende, verschlossene Wohnmodell Haus mit Garten für sich in Anspruch nehmen“, sagt Monge. „Und das trotz eines sehr großen Nationen- und Migrantenspektrums. Mich hat das fasziniert, in gewisser Weise auch irritiert.“

Die Verstörtheit an der österreichischen Raumplanung und Besiedelungspolitik ist mehr als offensichtlich. The House ist kein hübsches und auch kein konformistisches Domizil, sondern ein windschiefes Etwas, das einerseits an die expressionistischen Filme der 1920er-Jahre, andererseits an Alfred Hitchcocks Psycho-Haus hoch oben auf der Hügelkuppe erinnert. Die beiden in die Faserzementfassade eingravierten Worte unterstreichen die nicht ganz eindeutig zuordenbare Beziehung zum trauten Heim: „Heimlich“ prangt es auf der morgens beschienenen Fassade, „Unheimlich“ hingegen beansprucht die Schattenseite für sich.

Während das Haus im Kreisverkehr hierzulande eine unzugängliche künstlerische Botschaft für die schnell Vorbeifahrenden ist, wird es andernorts als genau das genutzt: als abgeschiedene, vom Umraum abgeschnittene Wohninsel für Obdachlose. „Ich habe einige Monate in Brasilien verbracht“, erzählt Leo Schatzl, der sich ebenfalls schon im Kreise gedreht hat. Im niederösterreichischen Zwiebeldorf Unterstinkenbrunn baute er in den Kreisverkehr sein fast sieben Meter hohes, leuchtendes Großes Zwiebelchen (2007, siehe Foto). „Und wenn man die Potenziale eines Kreisverkehrs zwischen hier und dort miteinander vergleicht, dann kommt man unweigerlich ins Grübeln.“

Gemeinsam mit seinen Studenten auf der Kunstuniversität Linz startete er vor einigen Jahren das Projekt Island Hopping, indem er die Kreisverkehre Österreichs zu einem artifiziellen Inselstaat von schützenden Landflecken inmitten des rauschenden Verkehrsstroms ernannte und mit seinen Studiosi sodann von Insel zu Insel hüpfte. „Kreisverkehre sind Inseln, die zu gewissen Inselträumen anregen können“, so Schatzl. „Bloß sind diese Flächen meist ausgeblendet und vergessen.“

Was man auf so einer Insel alles machen kann und machen könnte, beweist Ulrike Lienbacher mit ihrem Kreisverkehr, so der Titel der Arbeit, in Gänserndorf (2010, siehe Foto). Die Künstlerin bleibt der Fortbewegung treu und installiert auf der nur sieben Meter großen Insel eine Sportanlage mit vier nicht besonders langen und wohl auch nicht besonders leicht zu bestreitenden Laufbahnen. Die Ironie rennt mit.

Schon absurd

„Im Kreis zu laufen und nicht rauszukönnen, das hat schon etwas Absurdes“, meint Lienbacher im Gespräch mit dem STANDARD und verweist dabei auf den leistungsorientierten Wettkampf, dem wir in unserem täglichen Leben ausgesetzt sind. „Und in gewisser Weise ist der Kreisverkehr ja auch eine Laufbahn - zwar nicht für Karrieren und auch nicht für Sportler, aber für Autos.“

Und in Hainburg steht inmitten des Kreisverkehrs auf der B9 ein Grüppchen von Menschen. Die fünf Damen und Herren, die sich hier Ende 2013 zur Baubesprechung (Foto) eingefunden haben, sind eine Art verstecktes Denkmal für den niederösterreichischen Altlandeshauptmann Andreas Maurer, der für den Bau der Hainburger Donaubrücke verantwortlich zeichnet und nicht selten, mehr oder weniger genau hier, mit Ordnern und Planunterlagen gestanden sein soll.

Die Darstellung des Grüppchens im Maßstab 1:1, für das neben Maurer vier Hainburger Pate standen, wirkt so realistisch, dass Autofahrer immer wieder irritiert sind und nochmals eine Runde drehen, um den geheimnisvollen Gestalten im Kreise auf den Grund zu gehen. Damit ist den beiden Künstlern Hubert Lobnig und Iris Andraschek das gelungen, wovon die Verkehrsplanung so oft schwärmt.

„Man würde annehmen, dass ein Kunstwerk im Kreisverkehr von der Konzentration aufs Autofahren ablenkt“, erklärt der Wiener Verkehrsplaner Werner Rosinak. „Doch das Gegenteil ist der Fall. Untersuchungen haben ergeben, dass ein Irritationsmoment entlang der Straße die Geschwindigkeit reduzieren kann und dass die Autofahrer langsamer in einen Kreisverkehr einfahren, wenn die Sicht auf das Gegenüber verstellt ist.“ Zum Beispiel durch eine Zwiebel, zum Beispiel durch ein Haus.

Wie schreiben Marc Ries und Bernhard Keller über den Autofahrer? „Vielleicht empfindet er ein gewisses Unbehagen angesichts der mehr oder weniger einfallsreichen Ausgestaltung des inneren Kreises, jenes toten Gebietes, das er umfährt. Trotz aller Irritation wird er, wenn er den Kreis endlich verlässt, zufrieden darüber sein, dass er nur bremsen und nicht wie an einer Kreuzung anhalten musste.“

Der Standard, Sa., 2014.07.05

05. Juli 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Zur Untermiete im Teilzeitsommerhaus

Timesharing hat viel Unglück über die Immobilienwelt gebracht. Doch nun mehren sich auch hierzulande die Projekte, bei denen man sich ins Ferienhaus nicht wochenweise einkauft, sondern einmietet - in Weiden am See etwa, wo vor kurzem ein Projekt fertiggestellt wurde.

Timesharing hat viel Unglück über die Immobilienwelt gebracht. Doch nun mehren sich auch hierzulande die Projekte, bei denen man sich ins Ferienhaus nicht wochenweise einkauft, sondern einmietet - in Weiden am See etwa, wo vor kurzem ein Projekt fertiggestellt wurde.

Babou hat einen alles andere als einfachen Job. Der von Isabelle Huppert gespielte, arbeitslose Paradiesvogel steigt in Paris ins Auto und landet, von chronischer Geldnot getrieben, im belgischen Oostende, um dort, ausgerechnet dort, Timesharing-Apartments zu verkaufen. Was in Urlaubsländern wie Spanien eine Zeitlang hoch im Kurs war, entpuppt sich an der kalten Nordseeküste als schweres, fast aussichtsloses Unterfangen. Umso dramatischer klingt in diesem Zusammenhang der Filmtitel des 2010 erschienenen Melodrams: Copacabana.

Abseits der Cinematografie jedoch ist Timesharing ein Stichwort, das in den letzten Jahren immer seltener auftaucht. Nach der Immobilienkrise in Spanien, die dieses Modell der auf mehrere Eigentümer verteilten Ferienwohnung überhaupt erst gebar und einigermaßen marktfähig machte, sind Timesharing-Immobilien fast vollständig von der Bildfläche verschwunden. Das Stigma des unseriösen, bisweilen aggressiven Geschäfts hängt dem Teilzeiteigentum bis heute nach.

„Die Projekte, die es in der Vergangenheit gegeben hat, sind fast alle baden gegangen“, sagt Stefan Eder von der Rechtsanwaltskanzlei Benn Ibler. „Soviel ich weiß, gibt es in Südeuropa, vor allem in Spanien, und hier mit Fokus auf Mallorca, sowie in den USA in Florida noch vereinzelte Timesharing-Immobilienprojekte. Aber der Trend ist eindeutig vorbei. Der Konsument ist vorsichtiger und kritischer geworden.“

Auch die wenigen Versuche, Teilzeiteigentum in Österreich zu etablieren, sind längst Geschichte. Als Beispiel nennt Eder ein Timesharing-Wohnhaus, das ein britischer Betreiber vor einigen Jahren in Schladming vermarkten wollte. Schwarze Zahlen waren nicht in Sicht. „Doch dafür hat sich anstelle des Miteigentums in Europa ein etwas gemäßigteres Modell entwickelt, das man eher als Timesharing-Miete oder Timesharing-Leasing bezeichnen könnte“, so Eder.

Der Vorteil daran: „Man ist nicht mehr finanziell auf viele Jahrzehnte gebunden und kann wie bei einem Mietvertrag jederzeit aussteigen“, erklärt Jutta Repl von der Wiener Arbeiterkammer, zuständig für Konsumentenschutz im Bereich Reise, auf Anfrage des STANDARD und empfiehlt, eine Online-Tauschplattform einzurichten, wo die Mieterinnen und Mieter auf unkomplizierte Weise Mietzeitfenster tauschen können.

„Anders als beim Timesharing-Eigentum, wo in den letzten Jahren viele Fälle zur Bearbeitung im Europäischen Verbraucherzentrum (VBZ) gelandet sind, weil es kaum möglich war, aus einem bestehenden Vertrag auszusteigen, ist man bei der Timesharing-Miete viel flexibler.“ Und das bei weitaus geringeren Geldsummen. Der tatsächliche Unterschied zum Miteigentum - bei dem aufgrund fehlender Parifizierung, wie Anwälte warnen, einem das Objekt ohnehin niemals gehören wird - ist gering.

Projekt am Neusiedler See

Eines dieser neuen Miet-Timesharing-Modelle, die in Österreich allmählich das Licht der Welt erblicken, befindet sich in Weiden am See. Unter dem Titel „We share our home“ haben die beiden Kreativwirtschafter Albert Handler und Ulrike Tschabitzer-Handler unter der Adresse Markt 67 erst kürzlich ein Haus fertiggestellt, das sie in Form von Timesharing an gleichgesinnte Interessenten weitervermieten wollen. Vor wenigen Tagen hat die Vermarktung begonnen.

„Wir hatten schon längere Zeit nach einem Zweitwohnsitz am Neusiedler See gesucht und sind dann auf dieses Grundstück im historischen Ortskern gestoßen“, erzählt Tschabitzer-Handler. „Ursprünglich wollten wir das Haus sanieren und innen etwas modernisieren. Doch als uns dann mitten im Bau die Außenmauer zusammengefallen ist, war klar, dass wir neu bauen müssen.“

Das Resultat dieser neuen, von Architektin Claudia Cavallar entwickelten Strategie ist ein 70 Quadratmeter großes Häuschen in Ziegelbauweise, das sich so unauffällig in den Ortsbestand duckt, als wäre es immer schon dagewesen. Innen gibt es unterschiedliche Zimmer und Zonen in Holzbauweise, die Platz für bis zu vier Personen bieten. Bestückt ist das Ganze mit Vintage-Möbeln vom Flohmarkt. Alles sehr loftig.

„Wir sind mit unserem Haus sehr zufrieden, doch Tatsache ist, dass man so ein Haus als Eigentümerin nur wenige Wochen und Wochenenden im Jahr nutzen kann“, so Tschabitzer-Handler. „So ist die Idee entstanden, das Haus in all den anderen Wochen geblockt an Interessenten weiterzuvermieten.“ Konkret: Für einen jährlichen Beitrag in der Höhe von 4000 Euro kann man sich für insgesamt acht Wochen einmieten, aufgeteilt auf mehrere Zeitfenster in unterschiedlichen Saisonen.

„So ein Modell ist zwar nicht neu, aber doch interessant“, sagt Rechtsanwalt Nikolaus Vasak. „Auf jeden Fall schlage ich für beide Parteien, also für Mieter und Vermieter vor, einen Mietvertrag aufzusetzen, um mögliche Unklarheiten zu klären.“ Der Grund: Laut Mietrechtsgesetz (MRG) sind „Wohnungen oder Wohnräume, die vom Mieter bloß als Zweitwohnung zu Zwecken der Erholung oder der Freizeitgestaltung gemietet werden“ (Paragraf 1, Absatz 2) vom bundesweiten MRG ausgenommen. Hier gilt es, eine individuell abgestimmte Vereinbarung bezüglich Pflichten und Rechte zu treffen.

Und Oliver Koch, auf Immobilienrecht spezialisierter Anwalt, erklärt: „Gegen Timesharing auf Mietbasis ist nichts einzuwenden. Ich empfehle lediglich, im Mietvertrag gewisse Aspekte wie Instandhaltung und Umgang mit Sachbeschädigung abzuklären, und zwar unabhängig davon, ob man sich für eine Woche oder für ein halbes Jahr einmietet. Auf diese Weise kann man einem etwaigen Streit vorbeugen.“

Ein Haus mit Eigenleben

Das sei kein Problem, meint Markt-67-Vermieterin Ulrike Tschabitzer-Handler. Es sei vertraglich alles ganz genau festgelegt. „Wir sind und bleiben die Eigentümer des Objekts, es gibt eine Haushaltsversicherung, und sollte jemand ein Häferl zerschlagen, so werden wir ihn bitten, am Flohmarkt einen passenden Ersatz zu besorgen. Auf diese Weise wird das Haus ein gewisses, von uns nicht immer beeinflussbares Eigenleben entwickeln.“

Timesharing hat sich von Eigentum auf Miete verlagert. Die unguten Methoden des Konsumenten-um-den-Finger-Wickelns, die Babou noch anwenden musste, um zu einem positiven Abschluss zu kommen, sind vorbei. ?

p www.markt67.at

Der Standard, Sa., 2014.07.05

28. Juni 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Was immer schon Turm war, wird auch Turm bleiben

Einem gründerzeitlichen Stadthaus in Innsbruck setzte Architekt Daniel Fügenschuh einen Hut auf. Das Dachgeschoß beweist, wie exakt die Gratwanderung zwischen Alt und Neu sein kann.

Einem gründerzeitlichen Stadthaus in Innsbruck setzte Architekt Daniel Fügenschuh einen Hut auf. Das Dachgeschoß beweist, wie exakt die Gratwanderung zwischen Alt und Neu sein kann.

Innsbruck - Beirat und Baubehörde waren zu Beginn alles andere als begeistert. Etliche Male mussten Architekt und Bauherr vor der elfköpfigen Jury antanzen, um das Bauvorhaben zu verteidigen. „Dieses Gebäude war schon immer ein Turm, und es wird ein Turm bleiben“, lautete das bestechende Argument des Innsbrucker Architekten Daniel Fügenschuh. „Wir setzen da ja kein Ufo und keinen Fremdkörper drauf, sondern verstärken nur den bereits bestehenden Charakter des Gründerzeithauses.“ Das reichte zur Überzeugung.

Drei Jahre dauerte die Baustelle, was vor allem daran liegt, dass das Projekt von Anfang so konzipiert war, dass der Bauherr selbst Hand anlegen und Vieles in Eigenleistung komplettieren kann. „Vor allem bei der Bauweise und bei der Größe der einzelnen Bauelemente habe ich darauf geachtet, dass man nicht auf hochprofessionelle Arbeitskräfte und Maschinen angewiesen ist, sondern auch mit geringen Mitteln selbst weiterbauen kann“, erklärt Fügenschuh. „Auf diese Weise konnten die Baukosten erheblich reduziert werden.“

Der gesamte Rohbau besteht aus Holz, was konstruktive, aber auch statische Vorteile hatte. Dadurch mussten Haus und Keller in keinster Weise verstärkt werden. Die große Spannweite der Holzelemente ermöglichte zudem, dass die Ecken in Glas aufgelöst sind und die Aufstockung nun wie eine etwas eckige Hutpracht über dem sich schon seit Generationen in Familienbesitz befindlichen Haus zu schweben scheint. Selbst im Angesichte der historischen Bauten nebenan muss man schon zweimal über den Inn blicken, um das Neue inmitten des Alten zu erkennen.

„Genau das war der Plan“, sagt der Architekt. „Schließlich handelt es sich hier um einen Privatbau. Alles andere wäre stadtbildlich anmaßend gewesen.“ Zu verdanken ist die Tarnung dem Fassadenmaterial. Denn der gesamte Dachgeschoßhut ist mit großflächigen, aber dünnen Fertigteilen aus Sichtbeton verhängt. „In Verbindung mit dem Sockelgebäude wirkt der mineralische Baustoff recht homogen“, so Fügenschuh. „Fast so, als hätten wir das Haus mit einigen Jahrzehnten Verspätung einfach weitergebaut.“

Und was meint der Bauherr? „Was den Alltag betrifft, kann ich noch nicht viel sagen, denn wir sind erst kurz davor einzuziehen“, erzählt der 42-Jährige Musikinstrumentebauer, der auf die Fertigung von klassischen Klarinetten und Querflöten spezialisiert ist. „Ich weiß nur: Mein erster Eindruck, als mir Daniel den Entwurf präsentiert hat, war: radikal und gut! Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich freue mich jetzt schon auf die tolle Aussicht.“

Vor allem im Sitzen wird man von der erhöhten Lage viel haben. Wie ein Band zieht sich der Glasstreifen 360 Grad um Wohnzimmer, Küche und Dachterrasse. Der schmale Streifen ist mehr als nur ein ästhetisches Mittel: Durch die geringe Höhe und die Dicke der Außenwand wird ein Teil der sommerlichen Sonne abgebremst.

Der Standard, Sa., 2014.06.28



verknüpfte Bauwerke
Stadthaus St. Nikolaus - Aufstockung

28. Juni 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Der Gorilla lernt das Gehen

Los Angeles trägt das Stigma der Highway-Hölle. Völlig zu Recht. Doch nun, erklärt Stadtplanungsdirektor Michael J. LoGrande, soll der Straßenmoloch auf Diät gesetzt werden.

Los Angeles trägt das Stigma der Highway-Hölle. Völlig zu Recht. Doch nun, erklärt Stadtplanungsdirektor Michael J. LoGrande, soll der Straßenmoloch auf Diät gesetzt werden.

STANDARD: Sie waren mit der Delegation der Wirtschaftskammer Österreich einige Tage zu Besuch in Wien. Was ist Ihnen in Erinnerung geblieben?

LoGrande: Die alte, historische Architektur! Das gibt es in Kaliforniern nicht. Wir sind schon happy, wenn wir ein Haus aus den Zwanzigerjahren sehen. Noch mehr beeindruckt hat mich allerdings das öffentliche Verkehrsnetz. Besonders angetan hat es mir die Straßenbahn. Überall fahren Straßenbahnen!

STANDARD: In welchen Punkten kann Los Angeles von Wien lernen?

LoGrande: Lernpotenzial haben wir beim kulturellen Angebot und bei der Art und Weise, wie man hier mit öffentlichem Freiraum umgeht. Man nimmt die Straße den Autos weg und gibt sie wieder den Fußgängern und Radfahrern zurück, so wie das ja im Bereich der Mariahilfer Straße passiert ist. Was die Emanzipation des Fußgängers betrifft, sind wir in L.A. erst am Anfang.

STANDARD: Aber es tut sich was. In Hollywood und Santa Monica entstehen bereits die ersten Fußgängerzonen.

LoGrande: Ja, das sind die ersten Versuche. Auch beim Broadway in Downtown L.A. diskutieren wir über eine Verkehrsberuhigung. Wir sehen das als eine Abmagerungskur des Verkehrs und nennen das „Road Diet“: weniger Fahrstreifen für Autos, stattdessen mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer.

STANDARD: Wird das Angebot angenommen?

LoGrande: Ja, aber nur langsam. Unser größtes Potenzial und somit unsere größte Hoffnung sind die jungen Menschen. Sie ziehen wieder zurück ins Stadtzentrum und genießen das, was man gemeinhin unter urbanem Leben versteht: Dichte, Infrastruktur, Gehdistanzen, Nachbarschaft und soziale Bindungen.

STANDARD: Wie viel Straße wurde schon abgespeckt? Wie viel Diät steht Ihnen noch bevor?

LoGrande: Die genauen Zahlen müssen wir erst erheben. Aber in Summe geht es darum, dass wir lernen, mit dem öffentlichen Gut namens Stadtraum kreativ umzugehen. Der neueste Trend ist die Schließung der Straßenkreuzungen, so wie das beispielsweise auf dem Times Square in New York gemacht wurde. Wo früher Autos waren, sitzen nun Leute im Freien. Außerdem werden immer mehr „Parklets“ errichtet. Das ist das, was man in Wien, glaube ich, als Schani-Garden bezeichnet. Für Sie mag das ganz normal erscheinen, aber für einen Angelino ist es keine Selbstverständlichkeit, im öffentlichen Raum zu sitzen und zu konsumieren. Wir sind es gewohnt, so etwas nur in klimatisierten Räumen zu machen.

STANDARD: Ist es Ihr Ziel, das Auto langfristig unattraktiver zu machen, so wie das in einigen europäischen Großstädten passiert?

LoGrande: Ja, das werden wir machen müssen, da haben wir einfach keine andere Wahl. Die Metropolitanregion L.A. hat 17 Millionen Einwohner, und die meisten Haushalte besitzen drei, vier Autos, also mindestens eines für jedes Familienmitglied. Das kann unmöglich das Rezept für die Zukunft sein.

STANDARD: Wie viele Autos haben Sie?

LoGrande: Vier Familienmitglieder, drei Autos. Was soll ich Ihnen sagen? Ich bin ein Durchschnittsamerikaner. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich manchmal öffentlich, also mit der Lightrail, einer Art Straßenbahn, in die Arbeit fahre.

STANDARD: Was wird passieren müssen, damit Sie in Zukunft öfter die Lightrail nehmen, um in die Arbeit fahren?

LoGrande: In den kommenden Jahren wollen wir das öffentliche Netz massiv ausbauen. Geplant sind weitere Subway- und Lightrail-Linien in Downtown, West Los Angeles, Hollywood, Long Beach, Santa Monica und Culver City. Dafür nehmen wir über 30 Milliarden US-Dollar (22 Milliarden Euro, Anm.) in die Hand. Insgesamt wollen wir 500 Kilometer Straßenbahn errichten. Und was für mich das Interessante ist: Nachdem das Vorhaben unsere Kasse extrem belasten wird, haben sich die Einwohner von Downtown L.A. sogar bereiterklärt, einige Jahre lang eine höhere Steuerbelastung zu akzeptieren.

STANDARD: Das heißt, hier muss der Steuerzahler das Versagen der öffentlichen Hand ausbaden?

LoGrande: Letztendlich stammt jeder einzelne Steuercent auf der ganzen Welt vom Steuerzahler.

STANDARD: Wird die Straßenbahn alleine genügen, um 18 Millionen Menschen vom Auto wegzubringen?

LoGrande: Ich fürchte nicht. Seit 1970 gibt es in der Metropolitanregion Los Angeles das sogenannte „Centers Concept“. Das ist die Idee einer polyzentralen City mit vielen dichten Clustern innerhalb der Stadt. Die möchten wir in den kommenden Jahren weiter ausbauen. Das heißt: mehr Parks, mehr Nahversorgung, mehr Hotspots des täglichen Lebens. In manchen Stadtteilen und Wohnvierteln muss man heute noch eine halbe Stunde lang zu Fuß gehen, um zu einem Supermarkt zu kommen. Wir wollen diese Distanz auf zehn Minuten reduzieren.

STANDARD: Also zwei Minuten mit dem Auto ...

LoGrande: Nicht unbedingt. Es findet eine Werteverschiebung statt. Früher war es ganz normal, mit 16 Jahren den Führerschein zu machen und mit 18 Jahren ein Auto geschenkt zu bekommen. Das hat sich geändert. Viele junge Leute denken gar nicht mehr daran, sich ein Auto zuzulegen. Aktuell liegt der Anteil der jungen Erwachsenen mit eigenem Auto bei unter 30 Prozent. Das ist ein Rekordwert für die USA.

STANDARD: Bis jetzt haben wir von Autos, U-Bahnen und Supermärkten gesprochen. Doch welche Mittel gibt es, das Wachstum der Stadt auch stadtplanerisch einzudämmen?

LoGrande: Die Wachstumsrate im Großraum Los Angeles beträgt circa ein Prozent. Besonders schnell wächst die Downtown. Immer mehr junge Menschen ziehen hierher. Derzeit werden in Downtown L.A. etliche neue Wohnhochhäuser errichtet. Doch der wichtigste Punkt wird sein, den Planning and Zoning Code (Stadtentwicklungsplan, Anm.) zu überarbeiten. Der jetzige stammt aus dem Jahr 1946.

STANDARD: 1946?

LoGrande: Ja, ich weiß.

STANDARD: In knapp 70 Jahren hat sich L.A. ja doch ein wenig verändert.

LoGrande: Und deshalb gehen wir jetzt den neuen Zoning Code, den sogenannten „Recode L.A.“, sehr radikal an. Wir wollen die Bau- und Entwicklungsvorschriften für die gesamte Stadt überarbeiten und ihr eine neue DNA einverleiben. Da geht es in erster Linie um Bauhöhe, Bebauungs- und Bevölkerungsdichte. Außerdem wollen wir das Wachstum auf die neuralgischen Punkte und Achsen konzentrieren. Das Ausufern der Stadt soll damit eingedämmt werden. Der Umplanungsprozess ist für vier Jahre anberaumt und soll rund 50 Millionen US-Dollar (knapp 37 Millionen Euro) kosten.

STANDARD: Die Stadt Los Angeles selbst hat nur 3,8 Millionen Einwohner. Das tatsächliche Stadtgebiet ist um ein Vielfaches größer. Wie leicht oder wie schwer gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den anderen Gemeinden?

LoGrande: Ohne Netzwerk wäre langfristige Stadt- und Verkehrsplanung nicht machbar. Aber es funktioniert gut. Es gibt die Southern California Association of Governance (SCAG), die all die Entwicklungen im Auge behält und koordiniert. Trotzdem: So reibungslos und homogen wie in der EU wird unsere Stadtplanung niemals sein.

STANDARD: Aus wie vielen Gemeinden besteht der Großraum L.A.?

LoGrande: Aus rund 80. Aber fragen Sie mich jetzt bitte nicht, wie die alle heißen!

STANDARD: Hat man je darüber nachgedacht, die einzelnen Gemeinden zu einer großen politischen Einheit zusammenzulegen?

LoGrande: Schon oft. Gerade was die infrastrukturelle Planung betrifft, wäre das eine gute Idee. Leider wehren sich einige kleinere Gemeinden gegen eine Zusammenlegung. Da sprechen wir in erster Linie von sehr reichen und touristisch stark frequentierten Städten innerhalb L.A.s. Ich gebe zu: Mit einem einzigen Big Gorilla statt mit 80 kleinen Fragmenten wäre es leichter, die Zukunft in die Hand zu nehmen.

STANDARD: Gibt es eine Vision?

LoGrande: Allmählich erkennen die Angelinos die Vorteile von öffentlichem Raum und öffentlichem Verkehr. Sie sind so gesprächsbereit und offen für Veränderung wie nie zuvor. Und sie sehnen sich nach dem europäischen Modell. Meine Vision ist, dass L.A. eines Tages zu einem Prozent so werden wird wie Wien.

STANDARD: Ich habe Sie zu Beginn gefragt, wo L.A. von Wien lernen kann.

LoGrande: Rochade?

STANDARD: Ja. Was darf sich denn Wien von L.A. abschauen?

LoGrande: Wien ist eine sehr schöne, aber auch sehr homogene, sehr konformistische Stadt. Vor allem innerhalb des Rings sehen alle Häuser gleich aus, wenn ich das so sagen darf. Da würde ich mir mehr Kontraste beziehungsweise mehr Mut zu Neuem wünschen. Ohne Erneuerung wird die Stadt zum Museum.

Der Standard, Sa., 2014.06.28

21. Juni 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Zur Miete in Rapunzels Nachbarschaft

Im niederösterreichischen Steinabrunn baute Architekt Michael Schwaiger einen barocken Wehrturm in ein nicht ganz alltägliches Wohnhaus mit vier Mietwohnungen um.

Im niederösterreichischen Steinabrunn baute Architekt Michael Schwaiger einen barocken Wehrturm in ein nicht ganz alltägliches Wohnhaus mit vier Mietwohnungen um.

Man nehme ein Stück Historie, vermenge dieses mit einem Hauch von Loft und füge ein paar materielle Kontraste hinzu. So ähnlich könnte man die Rezeptur für die Revitalisierung des Barockschlosses Steinabrunn beschreiben. In rund zehn Monaten Bauzeit nämlich wurde dieses in ein nicht ganz alltägliches Mietshaus mit insgesamt vier Mietwohnungen umgebaut. Zuständig für die Planung des ungewöhnlichen Projekts ist der Wiener Architekt Michael Schwaiger.

„Genau genommen handelt es sich hier nur um ein barockes Geviert mit vier Ecktürmen und einem Schüttkasten“, sagt Schwaiger, „denn das eigentliche Barockschloss wurde 1829 abgerissen, als Joseph II. die sogenannte Dachsteuer einführte. Um Geld zu sparen, wurden damals viele historische Bauwerke aufgegeben.“ Einer glücklichen Fügung ist zu verdanken, dass immerhin die vier Ecktürme erhalten geblieben sind. In einem davon befinden sich nun die vier rund 115 Quadratmeter großen Wohnungen.

Der historische sogenannte Ladenboden wurde erhalten beziehungsweise stellenweise mit breiten Brettern ergänzt. Die charakteristischen Stuckelemente an der Decke wurden restauriert, die Fassaden und Kastenfenster in Absprache mit dem Bundesdenkmalamt behutsam saniert. Außerdem wurde eine mit Flüssiggas betriebene Zentralheizung eingebaut. „Was den Bestand betrifft, haben wir uns lediglich um eine Reparatur bemüht“, so Schwaiger.

Optisch auffälliger hingegen ist der Neubau. Wie künstliche Implantate wachsen mal hinter den Säulen, mal aus den Nischen die neuen Trennwände und Einbauten hervor. Meist wurde weiß gestrichener Gipskarton verwendet. An einigen wenigen Stellen griff Schwaiger zu unbehandeltem, lediglich entfettetem und gewachstem Industriestahl. „Das Neue hebt sich bewusst vom Altbau ab, und zwar sowohl in den Baustoffen und Formen als auch in den Raumhöhen. So kommt das eine dem anderen nicht in die Quere.“

So ein Projekt, meint der Auftraggeber Hans-Gregor Koller, seines Zeichens Landwirt, „ist eine Herzblutsache. Da darf man nicht zu rechnen anfangen, sonst wird einem übel. Wenn ich nach 40 Jahren Vermietung mit null aussteige, bin ich schon glücklich.“ Dass die vier Wohnungen (zwei davon sind bereits vermietet) nicht der herkömmlichen Kategorie A mit Lift entsprechen, sei auch klar. „Hier hat die Historie eindeutig Vorrang. Wenn man in so einem alten Wehrturm klassische Zimmeraufteilungen macht sowie Aufzug und allen erdenklichen Luxus einbaut, dann macht man das Objekt nur kaputt. Dann lasse ich es lieber bleiben.“

Die Bauphase, die Koller als „spannenden, blanken Horror“ in Erinnerung hat, habe sich dennoch ausgezahlt, zumal die Zusammenarbeit mit dem Architekten eine sehr intensive auf einer Augenhöhe gewesen sei. Einer, der von der monatelangen Mühsal profitiert, ist Christian Ludwig. Gemeinsam mit seiner Freundin und zwei Katzen bewohnt er den zweiten Stock. „Es lebt sich hier wunderbar. Fünf Meter hohe Räume, historisches Ambiente, einen riesengroßen Barockgarten und noch dazu diesen Wohnkomfort ... wo hat man das schon?“

Der Standard, Sa., 2014.06.21

14. Juni 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Unser Wohnzimmer ist die Rua

Moloch Megacity: Welche Konzepte gibt es, um das Leben in großen Ballungsräumen lebenswert zu machen? Dieser Frage widmete sich diese Woche ein Workshop in Wien. Ein Gespräch mit den Rua Arquitectos aus Rio de Janeiro.

Moloch Megacity: Welche Konzepte gibt es, um das Leben in großen Ballungsräumen lebenswert zu machen? Dieser Frage widmete sich diese Woche ein Workshop in Wien. Ein Gespräch mit den Rua Arquitectos aus Rio de Janeiro.

Aus der Stadt gibt es kein Entkommen. Die Prognosen für die kommenden Jahrzehnte, wonach 60, bald sogar 70 Prozent der Weltbevölkerung in Großstädten leben werden, sind wohlbekannt. „2030 wird es gigantische acht Milliarden Menschen auf der Welt geben“, sagt Pedro Gadanho, Chefkurator des Museum of Modern Art in New York (Moma). „Zwei Drittel davon werden in Städten leben, die meisten werden arm sein und nur begrenzte Ressourcen haben.“ Um dieses unausgewogene Wachstum in den Griff zu bekommen und eine soziale und politische Katastrophe zu verhindern, so Gadanho, werden Behörden, Stadtplaner und Wirtschaftsexperten künftig besser zusammenarbeiten müssen. „Nur so werden wir sicherstellen können, dass die wachsenden Megacitys bewohnbar bleiben.“

Ein Schritt in diese Richtung wurde diese Woche im Museum für angewandte Kunst (Mak) in Wien gesetzt. Architekten und Stadtplaner aus aller Welt trafen einander am Stubenring 5, um Zukunftskonzepte auszuarbeiten. „Uneven Growth. Tactical Urbanisms for Expanding Megacities“ nennt sich der Kongress, den das Mak in Zusammenarbeit mit dem Moma abhielt. Dabei richtet sich der Fokus nicht auf die üblichen, immer wieder im Rampenlicht stehenden Megastädte wie Tokio, Jakarta, São Paulo und Mexiko-Stadt, sondern auf die großen Ballungsräume in der zweiten Reihe: Istanbul, Lagos, Mumbai, Hongkong, New York und Rio de Janeiro. Heute, Samstag, werden die Ergebnisse präsentiert. Mit Pedro Rivera und Pedro Évora vom brasilianischen Büro Rua Arquitectos sprach DER STANDARD über Rio im WM-Fieber, über Favelas, fehlende Infrastruktur und die wertvolle Ressource namens Straße.

STANDARD: Spielen Sie Fußball?

Évora: Ich spiele ganz gern Fußball. Aber ich könnte besser sein. Rivera: Ich bin schrecklich darin. Eine Null.

STANDARD: Am Donnerstag hat die Fußball-WM begonnen. Wie ist die Stimmung?

Évora: Fußball ist ein größeres Thema denn je. Aber ich verstehe das. Fußball ist ein Tor in die große, weite Welt da draußen. Vor allem in den Favelas wird viel Fußball gespielt. Manchen gelingt es, sich aus der Armut zu kicken.

STANDARD: Klingt doch sehr positiv. In den Medien hat man anderes gelesen.

Évora: Klar. Viele sind enttäuscht, dass so viel Geld in den World Cup hineingebuttert wird, wo wir doch so dringend Schulen, Krankenhäuser, soziale Infrastruktur und öffentlichen Verkehr benötigen würden. Stattdessen wurden damit unzählige Stadien errichtet, die für die jeweilige Stadt, in der sie stehen, viel zu groß dimensioniert sind. Eine adäquate Nachnutzung ist fraglich.

Rivera: Im Zuge der WM wurden viele Versprechen gemacht. Man hat versprochen, dass die Flughäfen modernisiert werden. Man hat versprochen, dass in Rio in eine zweite U-Bahn-Linie gebaut wird. Man hat versprochen, dass in einigen brasilianischen Städten ein BRT-System (Bus Rapid Transit, Bus auf eigenen Busspuren mit U-Bahn-ähnlichen Intervallen und Stationslängen, Anm.) implementiert wird. All das ist nicht passiert. Das ist auch der Grund dafür, warum es in den letzten Monaten so viele Proteste gab.

STANDARD: Was fehlt?

Évora: Die Basics.

STANDARD: Das heißt?

Évora: Es fehlt das, was eigentlich selbstverständlich sein sollte für eine Stadt dieser Größe. Ein effizientes Gesundheitssystem, ein öffentliches Verkehrsnetz, das einer Metropolitanregion mit zwölf Millionen Einwohnern gerecht wird. Und das ist mehr als nur eine U-Bahn-Linie. Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser ... Basics halt! Rivera: Rio de Janeiro ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Die Stadtregierung ist immer noch damit beschäftigt, das nachzuholen, was bislang verabsäumt wurde. Und ich beobachte, dass das mit einer gewissen Schizophrenie passiert. Man kann sich nicht entscheiden, ob man ins Stadtzentrum investiert und damit die Stadt nachträglich verdichtet - oder aber, ob man sich auf die Peripherie konzentriert und damit der Stadt erlaubt, immer größer und größer zu werden. Es gibt keinen Masterplan.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Rivera: Hilfe von außen. Fakt ist: Rio ist bereits groß genug. Immerhin sprechen wir hier von einer Stadt mit 30 Kilometern Ausdehnung und 159 Bezirken, sogenannten Bairros.

STANDARD: Eine große Rolle in den Bairros spielen die Favelas. Denn im Gegensatz zu jeder anderen Megacity liegen die Slumsiedlungen nicht am Stadtrand, sondern mitten in der Stadt.

Rivera: 23 Prozent aller Cariocas (Einwohner von Rio de Janeiro, Anm.) leben in Favelas. Die Tatsache, dass der Großteil dieser Favelas mitten in der Stadt liegt, ist ein enormer Qualitätsgewinn für die Stadt. So werden die armen Bevölkerungsgruppen nicht aus der Stadt verbannt, sondern tragen dazu bei, dass es zu einer sozialen Durchmischung kommt. Und ja, wir wissen, dass diese soziale Durchmischung besser sein könnte. Aber immerhin: Sie ist da.

Évora: Die höchste Qualität in Rio ist, dass die Reichen den Armen nicht aus dem Weg gehen können.

STANDARD: Investiert die Stadt irgendetwas in die Verbesserung der Favelas?

Évora: Immer wieder, aber in Summe zu wenig.

Rivera: Es gab ein paar gute Projekte und Ansätze, zum Beispiel Morar Carioca oder Favela Bairro. Das war eine Art Urbanisierungs-Upgrade, im Zuge dessen manche Favelas in reguläre Stadtviertel umgewandelt wurden. Das erste Projekt fand 1995 bis 2000 statt, das zweite von 2000 bis 2004. Und dann gibt es immer wieder kulturelle und künstlerische Initiativen wie etwa die Favela-Bemalung der holländischen Künstler Haas & Hahn (Jeroen Koolhaas und Dre Urhahn, Anm.) im Jahr 2010. Es tut sich was.

Évora: Nur nicht zurzeit. Weil WM.

STANDARD: In Ihren eigenen Projekten arbeiten Sie auch immer wieder mit beziehungsweise in Favelas.

Rivera: Wir haben schon Ateliers, Galerien, Kunstzentren und Jugendclubs geplant. Einige davon stehen mitten in den Favelas. Bei unserem jüngsten Projekt haben wir ein Gebäudeskelett, das niemals fertiggestellt wurde, in eine Galerie umgebaut: 1550 Galeria Babilonia. Es ist ein lustiges Projekt, denn es steht ganz oben auf der Hügelkuppe. Man muss tausende Stufen emporklimmen, irgendwann einmal kommt man dann völlig außer Atem oben an, um von der Kunst wieder zum Leben erweckt zu werden. Ist das nicht schön?

STANDARD: Woher kommt diese Vorliebe für die Favela?

Rivera: Die Favela macht ein Viertel der gesamten Stadt aus. Nicht damit zu arbeiten hieße, ein Viertel der Stadt zu ignorieren.

STANDARD: Ihr Architekturbüro heißt Rua. Das ist das portugiesische Wort für Straße. Woher der Name?

Évora: Ja, Rua ist die Straße. Aber Rua ist noch weit mehr. Für den Carioca ist die Rua das Zuhause. In der Rua treffen wir uns, um zu plaudern, um zu feiern, um Fußball zu spielen. Hier findet das Leben statt, hier fühlen wir uns daheim. Die Rua ist, wenn Sie so wollen, die Synthese von Rio de Janeiro. Und diese Synthese fließt in all unseren Projekten mit ein.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass die Rua hier mehr genutzt wird als in anderen Megacitys?

Évora: Ich denke ja. Ohne die Rua wäre die Stadt längst schon zu einem Moloch verkommen. Wir wären längst schon alle tot.

STANDARD: Die gesamte letzte Woche haben Sie im Mak verbracht. Was sind die Resultate Ihres Workshops?

Rivera: Wir haben mit der Rua gearbeitet, was sonst! Wir haben eine Stadtverdichtungsstrategie erarbeitet, die wir wie ein Netz über die Favelas gelegt haben. Die Idee dahinter ist, dass wir die einzelnen Gebäude in den Favelas miteinander verbinden und dass wir über der Straße noch eine weitere Verbindungs- und Kommunikationsebene errichten. Aufgrund der schönen Aussicht haben wir das Projekt Varanda City genannt.

Évora: Wenn wir einen Beitrag für ein künftiges Rio de Janeiro leisten wollen, dann müssen wir das respektieren, was bereits an wertvollen Ressourcen da ist. Und die wertvollste Ressource Rios ist die Kommunikation. Diese räumliche Kommunikation muss um jeden Preis erhalten bleiben.

STANDARD: Was sind die nächsten Schritte?

Évora: Jetzt müssen wir die WM überstehen. Danach können wir uns wieder auf die Kommunikation auf der Straße konzentrieren.

Der Standard, Sa., 2014.06.14

07. Juni 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Wo ist der politische Raum?

Die 14. Architektur-Biennale in Venedig ist eröffnet. Entgegen dem Konzept von Rem Koolhaas haben sich einige Länder entschieden, sich mit den politischen, auch wirtschaftspolitischen Handlungsräumen auseinanderzusetzen.

Die 14. Architektur-Biennale in Venedig ist eröffnet. Entgegen dem Konzept von Rem Koolhaas haben sich einige Länder entschieden, sich mit den politischen, auch wirtschaftspolitischen Handlungsräumen auseinanderzusetzen.

Willkommen zur Fair Enough, der Expo der Ideen! Bitte registrieren Sie sich", sagt die Dame an der Rezeption, mit leicht russischem Akzent. „Hier ist Ihre Eintrittskarte!“ Weit mehr als nur leicht akzentuiert ist ihre pink-violette Montur, die so gar nicht biennalekonform ist, sondern an ein intergalaktisches Stewardess-Kostüm aus den Sechzigerjahren erinnert, als die Zukunft noch Zukunft war, Augenaufschlag und aufreizende Pose inklusive. Nun denn, hört man die innere Stimme sagen, der russische Pavillon auf der Architektur-Biennale in Venedig war ja noch nie ein Meisterstück in Zurückhaltung und Eleganz.

Weit gefehlt. Nach wenigen Schritten kommt die große Überraschung. Kaum haben sich Auge und Hirn an das Kaleidoskop des Unmöglichen, an das Spektrum der dargebotenen Peinlichkeiten gewöhnt, erkennt man die Parodie, die die drei Kuratoren Anton Kalgaev, Brendan McGetrick und Daria Paramonova konsequent in ihr raumgreifendes Gesamtkunstwerk hineinstricken.

20 übel gestaltete Messestände, die die schlimmste Bau- und Immobilienmesse auf Investors Erden in den Schatten stellen, buhlen um die Aufmerksamkeit der mitunter schockierten Expo-Besucher. Da werden millionenfach realisierte Plattenbauwohnungen angepriesen (Pre Fab Corp, siehe Foto), da wird die Werbetrommel für des Russen kleines Sommerhäuschen gerührt (Dacha Co-op), da wird nach Lust und Laune die Historie russischen und sowjetischen Bauens zu fiktiven Produktions- und Consulting-Unternehmen verwurstet (Russian Council for Retroactive Development, Lissitzky Company und Estetika Ltd.). Die mit dem baukulturellen Gedankengut des 20. Jahrhunderts jonglierenden Ausstellerkojen nehmen kein Ende.

Sogar der richtige - und durch nichts aus seiner Rolle zu bringende - Kreditplaner steht bereits mit Brille, Krawatte und gegelter Haarpracht in seiner Box (Financial Solutions) und rückt einem nicht mehr von der Pelle, ehe man sich davon hat überzeugen lassen, dass es besser und effizienter sei, das historische Baudenkmal in der Moskauer Schutzzone abzureißen und durch einen identisch aussehenden Neubau mit Beton, Glasfaser-Verkabelung und Tiefgarage zu ersetzen. Motto auf dem Firmenplakat: „The same, but better!“

Wer am lautesten schreit

„Auf den ersten Blick mag unser Beitrag wie eine Parodie erscheinen“, sagt Daria Paramonova. „Doch tatsächlich ist das die Realität, die der russischen Architektur und Baukultur in den letzten hundert Jahren bedauerlicherweise widerfahren ist. Wir befinden uns heute in einem servicegetriebenen Markt, in dem sich alles nur um Geld und Image dreht. Es gewinnt, wer am lautesten schreit.“ Die Message sitzt.

Das Prinzip der lautesten Schreie lässt sich auf die gesamte Architektur-Biennale übertragen, die heuer zum 14. Mal stattfindet (bis November 2014). Biennale-Kommissär Rem Koolhaas - Theoretiker, Buchautor (Delirious New York) und Architekt namhafter Bauten (Casa da Música in Porto, CCTV-Tower in Peking) - stellte die heurige Architekturschau unter das Gesamtmotto „Fundamentals“ und lud die einzelnen Länder ein, den Fokus auf die Moderne zwischen 1914 und 2014 zu richten. Das kuratorische Korsett ist sehr eng. Vielleich zu eng.

Die meisten Länder folgten dieser Einladung und präsentieren nun traditionell konzipierte Themenausstellungen, die viel Muße und Leselust erfordern und die man eher in einem Museum erwarten würde, aber nicht im Arsenale, nicht in den Giardini. Die Redundanz und Fantasielosigkeit mancher Beiträge ist fatal. Wie oft an einem Tag will man schon „hundert Bauten aus hundert Jahren“ (Serbien, Brasilien, arabische Länder etc.) konsumieren? Die USA toppen das sogar und brummen einem gleich 1000 Häuser auf, durch die man sich Grundriss studierend und Texte lesend hindurchmanövrieren möge. Elend.

In Erinnerung bleiben daher ausgerechnet jene Pavillons, die sich über Koolhaas' Vorgabe weitestgehend hinwegsetzen und stattdessen ihre eigene Interpretation von „Fundamentals“ an den Tag legen. Dazu gehört auch Österreich. Der Beitrag des Kommissärs Christian Kühn trägt den Titel Plenum. Places of Power und widmet sich der formalen Manifestation von politischer Macht. Und das weltweit. 196 Parlamente aus 196 Ländern und autonomen Regionen werden in Form kleiner, weißer Modelle präsentiert und laden dazu ein, sich der mitunter enormen Interpretationsunterschiede von Demokratie gewahr zu werden (DER STANDARD berichtete).

„Parlamente sind eine Art bauliche Repräsentation der politischen Repräsentation“, er- klärt Ausstellungskurator Harald Trapp. „Und wenn ich mich hier so umsehe, so stelle ich fest, dass wir uns in einer tiefen Krise befinden. So unterschiedlich die Bauwerke auch sein mögen, so ähnlich und austauschbar ist das Prinzip des politischen Raumes, in dem wir uns alle bewegen.“ Gibt es ein Parlament, das einer neuen, womöglich innovativen Idee von Repräsentation gerecht wird? „Nein, eigentlich nicht. Zumindest nicht in baulicher Form.“

Aus dem Hintergrund dröhnen Schreie und Parolen. Es sind dies Wortfetzen, die wir bereits von #Occupy, #Gezi, #Taksim und #Euromaidan kennen und die nun als akustische Collage der Wiener Künstlergruppe Kollektiv/Rauschen aus den Lautsprechern und Megafonen dringen. Der neue, politische Raum, der in Form von Demos und Hashtag-Protesten aufgespannt wird, ist nicht zu überhören. Jeder wird zum Politiker. Über #Placesofpower kann man mittwittern. 20 Sekunden später erscheint die eigene Message als Klangkulisse im Garten des österreichischen Pavillons. Das geht unter die Haut.

So wie übrigens auch die vier riesigen Sanddrucker, die im israelischen Pavillon aufgebaut sind und die stundenlang irgendwelche Landkarten, Stadtpläne, Siedlungsstrukturen und Wohnungsgrundrisse ins Sandbett zeichnen. Kaum ist eine Zeichnung fertiggeritzt, wird sie gelöscht, und das Ganze geht von Neuem los. The Urburb der drei Kuratoren Ori Scialom, Roy Brad und Keren Yeala-Golan ist nicht zuletzt eine Persiflage auf die Siedlungspolitik der Israelis, die weder Stadt noch Land ist, sondern irgendwo in der Suburbanität steckengeblieben ist.

„Die gesamte Planung Israels findet Top-down statt“, erklärt Scialom. „Es werden ausgerechnet jene Masterpläne umgesetzt, die schon seit Jahrzehnten veraltet sind und die keinerlei Aktualität mehr haben. Ich habe das Gefühl, dass Israel das einzige Land weltweit ist, das heute noch am Bauhaus festhält - und das, obwohl wir längst wissen, dass die Moderne eine Utopie und alles andere als dauerhaft und demokratisch war.“

Es sind die politischen und gesellschaftskritischen Beiträge solcher großer, mitunter mutiger Protagonisten, die diese 14. Architektur-Biennale in Venedig auszeichnen. Den wenigen Ländern, die nicht davor zurückscheuen, das System Politik zu hinterfragen und die Machenschaften der Mächtigen zu durchleuchten, wird Rem Koolhaas verdanken, dass die diesjährige, ohne Zweifel prominenteste Architekturausstellung der Welt in Erinnerung bleiben wird. Heute, Samstag, wird die Biennale-Jury den Goldenen Löwen vergeben.

Der Standard, Sa., 2014.06.07

31. Mai 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Hohe Häuser

Kommende Woche startet die Architektur-Biennale in Venedig. Der österreichische Beitrag befasst sich mit unserem Bild von Politik - und präsentiert 196 Parlamentsbauten aus aller Welt

Kommende Woche startet die Architektur-Biennale in Venedig. Der österreichische Beitrag befasst sich mit unserem Bild von Politik - und präsentiert 196 Parlamentsbauten aus aller Welt

Das Bauwerk soll aus Ziegel sein und folgende Räume beinhalten: ein Sitzungszimmer sowie einen Saal für die Abgeordneten für jeweils 300 Personen, eine Lobby mit anschließendem Antichambre, einen Raum für den Senat mit 1200 Quadratfuß sowie zwölf Zimmer zu je 600 Quadratfuß für Beamtenschaft und Gremium. Erwartet werden Grundrisse und Schnitte, Ansichten aller Fassaden sowie eine Schätzung des Ziegelvolumens der Masse aller Wände."

So lautete die Ausschreibung für den Neubau des Kapitols in Washington, D.C., die am 24. März 1792 im Dunlap's American Daily Advertiser veröffentlicht wurde. Den Wettbewerb gewann der schottische Arzt William Thornton mit einer - wie Jurymitglied George Washington damals befand - Neuinterpretation des französischen Klassizismus des 18. Jahrhunderts voller „Grandeur, Einfachheit und Komfort“.

Ein Jahr später war Baubeginn. Zwar litt das Haus zu Beginn unter einem undichten Dach, bröckelndem Putz und schimmelnden Fußböden. Zudem erwies sich das Gebäude schon bald nach seiner Fertigstellung als viel zu klein, woraufhin es massiv erweitert werden musste. Und auch die charakteristische, 82 Meter hohe Kuppel kam erst ein halbes Jahrhundert später hinzu. Dennoch: Kein anderes politisches Bauwerk der letzten 200 Jahre prägte unser Bild des demokratischen Raumes so stark wie das sich über viele Jahrzehnte allmählich aufplusternde Flickwerk am Capitol Hill.

Genau diesem Phänomen widmet sich der österreichische Pavillon in Venedig, der kommenden Freitag im Rahmen der 14. Architektur-Biennale eröffnet wird. Plenum. Places of Power nennt sich der Beitrag des diesjährigen Kommissärs Christian Kühn, der anlässlich der bevorstehenden Sanierung des österreichischen Parlaments eigentlich eine Chronologie sowie einen Ausblick auf die Zukunft von Theophil Hansens Tempelbauwerk skizzieren wollte, letztendlich aber einen globaleren Weg einschlug.

Das Resultat dieser ausufernden Reise ist ein mächtiges Kompendium, in dem die Parlamentsbauten aller Herren Länder präsentiert und miteinander verglichen werden. 196 Regierungssitze von A wie Andorra bis Z wie Zimbabwe geben Aufschluss über Architekt, Baujahr, Errichtungskosten, Größe, Form, architektonischen Stil, Regierungsform, Bevölkerungsdichte, Bruttoinlandsprodukt (BIP), Human Development Index (HDI) und Democracy Index (DI). Es ist die angeblich erste Studie dieser Art weltweit.

Politik muss alt ausschauen

„Wir haben monatelang geforscht, was gar nicht so einfach war, weil die meisten Staaten einige der Informationen wie etwa Grundriss, Raumaufteilung und Entstehungsgeschichte nicht gerne aus der Hand geben, sofern sie denn überhaupt dokumentiert sind“, erzählt Kühn. Fündig wurde man letztendlich vor allem in Zeitungen und alten Fachzeitschriften. „Ich muss gestehen, dass mich das Sammelsurium am Ende enorm überrascht hat. Damit hätte ich niemals gerechnet.“

Die größte Überraschung: Nur ein kleiner Bruchteil der weltweiten Parlamentsgebäude ist älter als 100 Jahre. Drei Viertel aller Regierungshäuser wurden erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts errichtet. Nach zeitgenössischer Architektur und neuen, womöglich sogar innovativen Bildern muss man dennoch lange suchen, denn wenn es um Politik geht, wiegt die Vergangenheit mehr als die Zukunft. Das zeigen die kleinen, weißen Modelle an der Wand des österreichischen Pavillons ganz ohne Zweifel.

„Es geht um Stabilität, Zentralität, Repräsentation und Macht“, sagt Christian Kühn im Gespräch mit dem Standard. „Und offenbar wird die Architektur mitunter schamlos missbraucht, um Assoziationsfelder wie Französische Revolution, Aufklärung und Neoklassizismus zu eröffnen - auch dort, wo die vorgesetzte Architektursprache dieser Idee ganz offensichtlich näher ist als die Politik des jeweiligen Landes.“

Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Regierungssitze in Helsinki, Finnland, und Pjöngjang, Nordkorea, einander zum Verwechseln ähnlich sehen. Das ist den Kims nicht unrecht. Und der Umstand, dass sich William Thorntons Kapitol in Washington, D.C., am Erdball dutzende Male wiederfindet, hängt wohl damit zusammen, „dass sich in unseren Köpfen ein formal-politisches Muster eingeprägt hat, von dem wir uns nicht mehr so leicht trennen können“, so Kühn.

In Abuja, Nigeria, tagt die Regierung in einem weiß-grünen Ding, dem die Ähnlichkeit zum Washingtoner Vorbild kaum abzusprechen ist. In Luanda, Angola, steht eine tomatencremesuppenrosarote Kapitol-Kopie, die erst vor wenigen Jahren aus dem autoritären Erdboden gestampft wurde. Und in Melekeok im mikronesischen Inselstaat Palau ragt ein hölzerner Kapitol-Nachbau aus dem Regenwald, der zugleich das einzige Bauwerk der neu gegründeten Hauptstadt ist. Rundherum nur Dschungel. Das Bild ist irritierend.

Dass man den Blick auch in die Zukunft richten kann, beweist ein Wettbewerbsentwurf von Coop Himmelb(l)au. Für die albanische Hauptstadt Tirana plante das Wiener Büro 2011 eine auffällige, in jeder Hinsicht reminiszenzlose Skulptur mit einem gläsernen Sitzungssaal, der vom öffentlich zugänglichen Dach Einblicke ins Regierungsgeschehen offenbaren sollte. Nachdem man dafür jedoch das Mahnmal für den einstigen Diktator Enver Hoxha hätte abreißen müssen, wurde das Projekt wieder verworfen. Realisiert wird nun eine kleinere Version dieser Idee als Annex zum historischen Gebäude des ehemaligen Geheimdienstes, ebenfalls von Coop Himmelb(l)au. Geplanter Baubeginn ist Herbst 2014.

Von Um- und Neubauplänen ist man in Österreich indes so weit entfernt wie Pjöngjang von freien Wahlen. Obwohl es im Hohen Haus in Wien wie anno dazumal in Washington, D.C., bereits an allen Ecken und Enden bröckelt und rieselt (und bisweilen auch reinregnet), war ein offener, transparenter Neubau, wie er von vielen Architekten gefordert wurde, niemals mehr als nur eine hypoethische Vision.

Das 1883 fertiggestellte Parlament - und somit eines der ältesten Regierungsgebäude der Welt - soll in den kommenden Jahren einer sogenannten „nachhaltigen Sanierung“ unterzogen werden. Kolportiertes Investitionsbudget: 360 Millionen Euro. Darauf hatte sich die 25-köpfige Kommission unter Führung von Architekt Ernst Beneder vor einem Jahr geeinigt. Nach langem Hin und Her, das bisweilen den Anschein erweckte, man sei in Schilda und nicht in Wien, steht seit 25. April 2014 der Generalplaner fest. Derzeit werden - unter Ausschluss der Öffentlichkeit - die Verhandlungsgespräche geführt.

Wien? Verpasste Chance

„Es gab einen interfraktionellen Konsens“, verrät Parlamentssprecher Alexis Wintoniak. „Der Rest unterliegt der Verschwiegenheitspflicht. Wir rechnen mit einer Entscheidung bis Herbst.“ So lautet das vorläufige Ergebnis des „Auswahlverfahrens mit wettbewerbsähnlichem Charakter“, das alle zuvor getätigten Studien und Planungsschritte - und davon nicht wenige an der Zahl - zunichtemacht. Transparente Prozesse sehen anders aus.

„Ich kann nicht verstehen, dass das Parlament in erster Linie als historische Sanierung eines Ringstraßenjuwels gesehen wird“, sagt Biennale-Kommissär Christian Kühn mit einer gewissen Unzufriedenheit in seiner Stimme, „und nicht als Jahrhundertchance, um im Medium Architektur über heutige Auffassungen von Demokratie zu diskutieren.“ In Venedig wird das nachgeholt, was in Wien verabsäumt wurde.

Der Standard, Sa., 2014.05.31

17. Mai 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Ziegel zeigen

Vor einer Woche wurde in Wien der Brick Award 14 vergeben. Und es zeigt sich: In Sachen Ziegelarchitektur hinkt Österreich dem Rest der Welt weit hinterher.

Vor einer Woche wurde in Wien der Brick Award 14 vergeben. Und es zeigt sich: In Sachen Ziegelarchitektur hinkt Österreich dem Rest der Welt weit hinterher.

Sengende Hitze, sommerlich flimmernde Luft, ein tropisch müder Blick in den Augen. Das große, ziegelrote Haus im Garten ist Opfer jenes thermisch-physikalischen Phänomens, das alles Betrachtete in sanften, leicht verschwommenen Schwingungen erscheinen lässt. Doch mit jedem Schritt wird der Zweifel größer. Und plötzlich erkennt man, dass es nicht die Natur ist, die einem ein Schnippchen geschlagen hat, sondern die Architektur höchstselbst.

Das Kantana Film and Animation Institute in der Provinz Nakorn Prathom, rund 45 Kilometer von Bangkok entfernt, ist ein Ausbildungszentrum für Filmschaffende und Animationskünstler. An den bauchigen Wänden, die bis zu acht Meter hoch in den Himmel ragen, treffen Licht und Schaffen aufeinander. Die mal hellen, mal dunklen, sich rhythmisch abwechselnden Flächen scheinen das Gebäude in Bewegung zu versetzen. Fast so, als würde eine 36-Millimeter-Filmrolle langsam, ganz langsam durch den Filmprojektor rattern.

Vergangene Woche wurde das Aufsehen erregende Bauwerk im Architekturzentrum Wien mit dem Wienerberger Brick Award 2014, Grand Prize, ausgezeichnet. Vier weitere Juryprojekte in den Kategorien Wohnen, öffentliches Gebäude, Umbau/Sanierung und Umgang mit vorhandener Stadtstruktur (siehe unten) sowie zwei Wienerberger Special Awards gingen nach China, Deutschland, Belgien, Spanien, Kroatien und Finnland. „Ich hätte mir niemals gedacht, dass so ein kleines, lokales Projekt jemals so große Aufmerksamkeit in aller Welt bekommen würde“, sagt Boonserm Premthada, Architekt der thailändischen Filmschule, im Gespräch mit dem Standard. „Ich wollte niemals ein berühmtes Haus bauen. Ich wollte einfach nur das machen, was ich immer mache: Architektur, die man mit allen Sinnen begreifen kann. Architektur, die man sehen, tasten, hören, riechen und ja, von mir aus auch schmecken kann, wenn's sein muss.“

Womöglich ist diese mehr als nur visuelle Qualität, die in der Architektur oft beansprucht und selten eingelöst wird, auf den Umstand zurückzuführen, dass Premthada selbst äußerst schlecht sieht und sein Hörvermögen auf 25 Prozent reduziert ist. „Architektur hat mehr als nur mit der Optik zu tun. Nachdem ich selbst nicht minder Spaß an meinem Job haben will, bin ich auf Baustoffe und Bauweisen angewiesen, die entsprechend mehr zu bieten haben, als nur schön zu sein. Ich denke, von diesem multiperzeptiven Ansatz profitieren auch die anderen.“

Vielsinnig und vielschichtig ist auch die Baugenese, denn die Rezeptur des 2000 Quadratmeter großen Gebäudes ist bei aller Sinnlichkeit, die seine Samba tanzenden Wände ausstrahlen, eine sehr einfache: Man nehme Lehm, einige Holzrahmen, viele helfende Hände und Füße, die die feuchte Erde in Form bringen, und baue mit der Bevölkerung einen Brennofen, in dem man die 600.000 in Handarbeit gefertigten Ziegelsteine schließlich brennen und für die nächsten Jahrhunderte haltbar machen kann.

Hohles Innenleben

„Meist kommen bei öffentlichen Projekten nur die großen, überregionalen, wenn nicht sogar globalen Baustoffproduzenten und Baufirmen zum Zug“, erklärt Premthada. „Doch für mich war wichtig, dass die Dorfbewohner an diesem Projekt mitarbeiten können und dass die Wertschöpfungskette so weit wie möglich in der Region bleibt. Nur wenn diese Kriterien gesichert sind, darf die Architektur von sich behaupten, nachhaltig zu sein.“ Der manuelle Arbeitsprozess ist übrigens nicht zu übersehen. Immer wieder kommen an der Ziegeloberfläche Hand- und Fußabdrücke zum Vorschein.

Die Nachhaltigkeit des Kantana Film and Animation Institute im Hinterland Bangkoks hat nicht nur mit dem Einsatz lokaler Ressourcen zu tun, sondern vor allem auch mit dem Klima. Nachdem sich die Ziegel zum Teil selbst verschatten, bleibt die Mauer kühl. Dank ihres hohlen Innenlebens funktioniert sie wie ein auf den Kopf gestellter Kamin. Die im Mauerzwischenraum enthaltene Luft kühlt sich ab, fällt dadurch nach unten, wird Teil eines verzweigten Luftkammersystems im Fundament und versorgt auf diese Weise den gesamten Campus mit wohl temperierter Frischluft. Einfacher und billiger kann man eine Klimaanlage nicht bauen.

Dass das diesjährige Brick-Siegerprojekt ein so uriges, ein so archaisches ist, liegt nicht zuletzt an der Jury beziehungsweise am Juryvorsitzenden, dem chinesischen Architekten und Pritzker-Preisträger Wang Shu. Seine Vorlieben und Qualitätsstandards sind nicht zu übersehen. Auch er besinnt sich in seinen Projekten auf jene Bau- und Kulturtraditionen, die in der schleichenden Verwestlichung der asiatischen Länder mehr und mehr in Bedrängnis geraten.

„Die moderne thailändische Architektur steht im Schatten der futuristischen, von Stars geprägten Plastikarchitektur mit ihren formalen Fassaden und ihren kurzlebigen Trends“, sagt Premthada. „Der Ziegelstein als Symbol für die Einfachheit und Vielfältigkeit dieses Landes gerät dabei oft in Vergessenheit. Das Kantana Film and Animation Institute soll uns diesen Reichtum der Vergangenheit wieder ins Gedächtnis rufen.“

Dem weltweit agierenden Ziegelzampano Wienerberger war dieser symbolische Hilfeschrei einen Hauptpreis wert. „Wie man am Grand Prize, aber auch an den anderen Preisträgern erkennen kann, kommen die neuen, innovativen Ansätze in der Ziegelarchitektur eher aus Asien als aus Europa“, sagt Heimo Scheuch, Vorstandsvorsitzender der Wienerberger AG. „Das hat einerseits klimatische Gründe, andererseits jedoch liegt das vor allem auch an der Tatsache, dass Handarbeit in Asien leistbarer ist als bei uns.“

Ob es wohl Zufall ist, dass die Gewinnerprojekte, die die Juroren heuer auserkoren haben (und nicht alle kommen aus subtropischen, immerzu warmen, asiatischen Billiglohnländern), ausschließlich aus nacktem, unverputztem Ziegelstein und Klinker bestehen? „Sagen wir mal so: Die ästhetischen Möglichkeiten in Mitteleuropa sind wahrscheinlich noch lange nicht ausgeschöpft“, sagt Scheuch und verweist auf die hierzulande vorwiegend praktizierte Styroporkultur, in der Baubranche euphemistischerweise auch Wärmedämmverbundsystem genannt. Die Häuslbauerland Österreich ist voll davon. Es geht auch anders.

Der Standard, Sa., 2014.05.17

26. April 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Da staunt die Kiste

Bauen mit Containern: Was einst als normiertes Transportsystem erfunden wurde, entpuppt sich immer öfter als genialer Baustein für Architekten.

Bauen mit Containern: Was einst als normiertes Transportsystem erfunden wurde, entpuppt sich immer öfter als genialer Baustein für Architekten.

Newtown. Wahrlich nicht die beste Gegend. Doch seit kurzem wartet der Johannesburger Industriebezirk mit einem neuen Wahrzeichen auf, das Schaulustige aus aller Welt anzieht: Auf dem Dach eines ehemaligen, seit Jahren leerstehenden Getreidesilos errichtete die südafrikanische Citiq Property Group vier Etagen aus alten, ausrangierten Schiffscontainern. Kommenden Freitag wird das ungewöhnliche Studentenheim, das aussieht wie eine Mischung aus Lego-Burg und raumgewordenem Tetris-Spiel, mit einer Führung offiziell eröffnet.

„Früher wurde Newtown ausschließlich von Industrie- und Gewerbebetrieben genutzt, doch die großen Firmen ziehen nach und nach weg, und der Stadtteil mausert sich langsam zu einem aufstrebenden Wohnviertel mit Künstlern und Kreativen“, erzählt Daniel Aarons, Projektarchitekt bei Citiq. „Aus diesem Grund haben wir beschlossen, die alte Bausubstanz, anstatt sie abzureißen, zu sanieren und einer neuen Nutzung zuzuführen. Das ist wirtschaftlicher und auch ökologischer.“

Während der Silo innen dank neuer Betondecken und etlicher Durchbrüche in den bestehenden Zylinderwänden zimmertauglich gemacht wurde, bekam er außen eine einfache Stahlkonstruktion verpasst. In diese Konstruktion wurden, als würde man ein Billy-Regal mit Büchern bestücken, 64 handelsübliche Schiffscontainer mit 40 Zoll Länge gesteckt. Die Stahlkisten, die in den letzten Jahren als Transportbehältnisse über den Erdball geschippert wurden, sind eine wertvolle Erweiterung der Nutzfläche. Dadurch bietet der Mill Junction Apartment Tower Platz und Bettstatt für insgesamt 375 Studenten.

„Die alten Container haben einen großen, unschlagbaren Vorteil“, sagt Aarons. „Indem man hier de facto ein Gebäude aus zwölf Meter langen, verhältnismäßig leichten Bauklötzen errichtet, ist der Baufortschritt so schnell wie bei keiner anderen Bauweise. Gerade bei einem hohen Silo, bei dem es Baumassen in große Höhen zu hieven gilt, ist das eine enorme logistische Erleichterung.“

Die Container, die die Citiq diversen Speditionsunternehmen zum Altmetallpreis abgekauft hat, wurden im Werk adaptiert und mit Türen, Fenstern, Böden, Heizung und LED-Beleuchtung bestückt. An der Außenseite wurden die Kisten mit 75 Millimeter Polystyrol gedämmt. Das war's. Keine Woche Bauzeit ist vergangen, und schon erstrahlte der einst nackte Silo in neuer, eckiger Pracht. Normalerweise dauert eine Aufstockung in diesen Dimensionen monatelang.

„Das ist absolute Low-Budget-Architektur, und natürlich hält sich der Komfort in Grenzen“, meint Aarons. „Doch die Wahrheit ist, dass es in Südafrika bereits genug teuren, perfekt ausgestatteten Wohnraum gibt. Woran es jedoch mangelt, das ist billiger, temporärer Wohnraum für Studenten.“ Allein in Johannesburg, rechnet der Citiq-Projektleiter vor, gehe der Bedarf in die Tausende. Die hier gewählte Bauweise - es ist der bereits zweite Container-Bau des südafrikanischen Bauträgers - sei eine Möglichkeit, die Nachfrage nach billigen Quadratmetern zu decken.

Weltweite Spedition einer Idee

Der Mill Junction Apartment Tower in Newtown ist kein Einzelfall. Wie es scheint, dürfte hier ein Trend entstanden sein, der anno 2006 von den Freitag-Taschenbrüdern initiiert wurde, nachdem sie ihren Zürcher Flagship-Store zu einem Turm aus 19 Überseecontainern gestapelt hatten, und der sich heute über den gesamten Globus zieht. Damit steht der Container nicht nur für die Spedition von Gütern, sondern auch für den interkontinentalen Transport einer neuen, innovativen Behausungsidee.

In New Jerusalem (Südafrika) wurde ein Waisenhaus aus 28 Containern errichtet. In Schanghai entstand auf diese Weise das Besucherzentrum eines Biolandwirtschaftsunternehmens. In der Antarktis stellten die Hamburger Architekten BOF letztes Jahr die Forschungsstation Bharati fertig, die aus 134 Containern zusammengeschraubt wurde. In diesem Fall war es der Wettlauf gegen die Zeit, der die Projektentwickler zum Griff zur Kiste zwang. In Planung sind außerdem diverse Pop-up-Shoppingcenter sowie ein aus Rolex-, Swarovski- und Louis-Vuitton-Containern gestapelter Luxury-Brand-Hotelturm in Hongkong.

Auch in Europa macht der Container Schule: In London wurde aus Anlass der Olympischen Spiele 2012 das Containerhotel Snoozebox errichtet, das innerhalb von 48 Stunden auf- und abgebaut werden kann. Im Zürcher Stadtteil Leutschenbach errichtete die Asylorganisation Zürich (AOZ) ein gelb-organes Containerdorf für 250 Asylsuchende. In Berlin wurde vor wenigen Wochen das aus 400 Hochseecontainern errichtete Studentenheim Frankie & Johnny übergeben. Und in Wien wurde kürzlich ein Architekturwettbewerb entschieden, bei dem es um die Errichtung eines temporären auf- und abbaubaren Studentenheims in der Seestadt Aspern geht - abermals aus Containern (DER STANDARD berichtete).

Für den Containerproduzenten Royal Wolf in Melbourne (Australien) planten die Room 11 Architects ein modulares Büro aus 14 Containern, dem man seine billige, effiziente Bauweise erst auf den zweiten Blick ansieht. „Man kann einen Container nicht eins zu eins vom Frachter hieven, aufs Grundstück platzieren und gleich ein paar Schreibtische hineinstellen“, erklärt Aaron Roberts, Projektleiter bei Room 11. „Doch auch wenn man die nachträgliche Wärmedämmung, die akustischen Maßnahmen, den Einbau von Fenstern und die Oberflächenveredelung im Innenraum mitberücksichtigt, ist so ein Bauwerk dennoch um einiges schneller und kostengünstiger als ein vergleichbares Projekt in herkömmlicher Bauweise.“

Vor allem aber geht es Roberts um die oft missbrauchten Begriffe Nachhaltigkeit und Recycling. „So ein Haus aus neuen, ungebrauchten Containern zu errichten wäre ökologischer Wahnsinn, denn bis der Rohstoff Stahl in diese Form gebracht ist, hat man bereits enorme Mengen Grauenergie verbraucht. In diesem Fall aber greifen wir auf Elemente zurück, die sonst auf dem Schrottplatz oder Containerfriedhof landen würden.“ Solange die Menschheit Güter über die Weltmeere speditiert, solange es auf dieser Welt Container gibt, so Roberts, so lange sei Container-Architektur auch ein wertvoller Beitrag zur Ressourceneinsparung und zum Umweltschutz.

Das vielleicht ungewöhnlichste Kostenkonglomerat, das in den kommenden Jahren errichtet werden soll, ist die Econtainer Bridge in Tel Aviv. Die 31 ausrangierten Transportbehältnisse, die mittels Schweißnähten und sogenannter Twistlocks kraftschlüssig zu einer 160 Meter langen Brücke verbunden werden, sollen ab 2016 einen acht Quadratkilometer großen Park am Rande Tel Avivs erschließen. Die Materialwahl ist kein Zufall: Durch seinen Zugang zu zwei Meeren spielt Israel eine große Rolle in der Schiffsspedition. Die Zahl der normierten Stahlboxen, die Jahr für Jahr aus dem Verkehr gezogen werden, ist enorm.

„Diese Brücke ist ein Icon für Denken und Umdenken“, sagt der zuständige Architekt Yoav Messer. „Auch wenn wir die Container umbauen und statisch nachrüsten müssen, ist diese Brücke dennoch viel billiger und viel effizienter als eine vergleichbare Brücke ohne Recycling. Ich bin davon überzeugt, dass das Projekt den Umgang mit Baustoffen und Recycling in Israel nachhaltig verändern wird.“ Das ist ein Statement, eines von vielen, die derzeit containerweise in aller Welt abgegeben werden.

Der Standard, Sa., 2014.04.26

26. April 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Geschichte über die Vorfreude auf das Altern

Ein Grazer Ehepaar wollte sich für den Lebensherbst wappnen und auf dem Nachbargrundstück einen barrierefreien Holzbau errichten. Architekt Gerhard Mitterberger hat die Vorsorgevision realisiert.

Ein Grazer Ehepaar wollte sich für den Lebensherbst wappnen und auf dem Nachbargrundstück einen barrierefreien Holzbau errichten. Architekt Gerhard Mitterberger hat die Vorsorgevision realisiert.

Das bekannte Konzept der Vorsorgewohnung bekommt mit dem Haus R. eine neue Bedeutung. Denn das 230 m² große Holzhaus am Grazer Stadtrand ist eine Investition für den Lebensherbst eines heute 58-jährigen Ehepaars, das im Gesundheitsbereich tätig ist und sich für einen bequemen, barrierefreien Wohnalltag in späteren Jahren wappnen will.

„Wir wohnen heute in einem sehr schönen, sanierten Haus aus den Dreißigerjahren“, sagt die Baufrau, „und fühlen uns hier sehr wohl. Doch die Erfahrung zeigt, dass man nicht ewig fit bleibt und dass verwinkelte Räume und steile Treppen eines Tages zum Problem werden können. Also haben wir beschlossen vorzusorgen.“ Als das Nachbargrundstück zum Verkauf angeboten wurde, „war klar, dass wir zuschlagen müssen“.

Der Architekt ward schnell gefunden, teilte man sich doch früher einmal eine wild durchmischte Studenten-WG. „Wir kennen uns seit fast 40 Jahren“, erinnert sich die Baufrau. „Und nachdem Gerhard Mitterberger ein leidenschaftlicher Holzbauarchitekt ist und gerne helle, luftige Räume plant, war für uns klar: Wenn wir schon bauen, dann nur mit ihm.“

Das Resultat vieler intensiver Besprechungen ist eine schlichte hölzerne Kiste, die auf der einen Seite direkt auf der Hangkante aufliegt und ebenerdigen Zugang in den Garten ermöglicht, während sie straßenseitig auf schief tanzenden Stahlstützen ruht und damit einen witterungsgeschützten Carport schafft. Eine hölzerne Terrasse vor dem Wohnzimmer bildet den Adapter zwischen Haus und Natur und spielt „eine wichtige Rolle, weil sie einerseits mit dem Innenraum und andererseits mit dem Garten zusammenwächst“, erklärt Architekt Mitterberger. Auch innen dominiert die Nähe zu Mutter Natur: Bis auf den massiven Kern und die Stützen im Untergeschoß bestehen Wand und Decke zur Gänze aus sichtbar belassenem Holz. Aufgrund seiner Spannweiten und niedrigen Materialkosten kommt das sogenannte Kreuzlagenholz meist im Industriebau zum Einsatz. Mitterberger setzt es aber auch im Einfamilienhausbau gerne ein, „weil es eine natürliche, lebendige Oberfläche hat, die stark zur Atmosphäre des Innenraums beiträgt“.

In spätestens zehn Jahren wollen Herr und Frau X. in die Holzkiste übersiedeln. Bis dahin wird der Neubau an Freunde und Bekannte vermietet. „Noch brauchen wir das Haus nicht, aber der Tag wird gewiss kommen“, sagt die Baufrau. „Bis dahin erfreuen wir uns an der Tatsache, dass wir in der glücklichen Lage sind, uns die Nachbarn aussuchen und uns mit unserer eigenen Zukunft befassen zu können.“ Dann wird längst schon der Efeu an der hölzernen Terrassenpergola hochgewachsen sein.

Und bis dahin wird auch Architekt Mitterberger, Purist in Sachen Gartengestaltung, verziehen und verkraftet haben, dass das grüne Wucherzeug sich über „sein“ Bauwerk gelegt haben wird. „Das geht doch nicht! Die schöne Konstruktion!“, soll er beim letzten Besuch gesagt haben. Die Replik: „Der Architekt hat wunderbare Arbeit geleistet, und wir sind rundum glücklich. Aber jetzt ist das unser Haus!“ Jetzt. Oder in zehn Jahren. Oder wann auch immer.

Der Standard, Sa., 2014.04.26

25. April 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Architekt Hans Hollein gestorben

Der international tätige Avantgardist hinterlässt ein reichhaltiges Lebenswerk

Der international tätige Avantgardist hinterlässt ein reichhaltiges Lebenswerk

Bei seinem allerersten Bauprojekt musste er die Pläne siebenmal umzeichnen und den Baupolizisten um den Finger wickeln: Das Kerzengeschäft Retti am Kohlmarkt sei einer Stadt wie Wien einfach nicht zuzumuten, hieß es damals seitens der Behörde. „Schließlich habe ich eine Minimaleinreichung im Maßstab 1:100 gemacht“, erinnerte sich Hans Hollein später: „Das wurde genehmigt, weil man darauf nichts Genaues erkennen konnte.“

Seit der Eröffnung des 16 Quadratmeter großen Kerzengeschäfts 1965 ist ein gewaltiges OEvre an Bauten, Möbeln, Kunstwerken, Bühnenbildern, Ausstellungsgestaltungen und zahlreichen theoretischen Schriften entstanden. Gestern, Donnerstag, ist der österreichische Architekt und Universalkünstler Hans Hollein, der am 30. März noch seinen 80. Geburtstag feierte, nach langer, schwerer Krankheit in den Morgenstunden gestorben.

„Als meisterhafter Architekt, inspirierender Lehrer, Visionär und Vordenker“, wie ihn Kunst- und Kulturminister Josef Ostermayer (SP) in seiner gestrigen Presseaussendung bezeichnete, habe Hollein einen wichtigen Grundstein für ein neues Bewusstsein in der Baukunst gelegt. Dieser Grundstein war Fundament für die Wiener Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre.

„Wir müssen die Architektur vom Bauen befreien“, forderte Hollein, der an der Wiener Akademie der bildenden Künste in der Meisterklasse Clemens Holzmeisters studiert hatte, damals. Gemeinsam mit seinen Zeitgenossen Friedensreich Hundertwasser, Markus Prachensky, Walter Pichler und Arnulf Rainer mischte er die Wiener Kunstszene auf. Mit seinen Auftritten, Manifesten und Streitschriften protestierte er gegen den nüchternen Funktionalismus der Nachkriegsarchitektur und noch mehr gegen den konventionellen Kunstbetrieb.

Auch die Kollegen der eigenen Bauzunft verschonte er nicht: „Architekten müssen aufhören, nur in Bauwerken zu denken!“

Zu seinen bekanntesten visionären Entwürfen, die über den Tellerrand des klassischen Bauens reichten, zählen Flugzeugträger in der Landschaft (1964), Schattenberg Castle (1963), ein zur monströsen Burg entwachsener Rolls-Royce-Kühlergrill, sowie das Mobile Büro (1969), eine pneumatische Bürozelle aus Kunststoff, in der es sich der junge Baukünstler mit Reißbrett und Telefon bequem machte. Das aufblasbare Gehäuse war Prototyp einer provisorischen, transportablen Behausung und kam auch unserer heutigen Lebens- und Arbeitskultur um einige Jahrzehnte zuvor.

Gesamtkunstwerke

Real und ihrer Zeit voraus waren Holleins frühe Bauten wie das Schmuckgeschäft Schullin in Wien (1973), das Österreichische Verkehrsbüro im Opernringhof (1976), das 1987 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zerstört wurde, sowie das international viel beachtete Städtische Museum Abteiberg in Mönchengladbach. Das 1982 eröffnete Kunstmuseum für Werke namhafter bildender Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts ist ein Gesamtkunstwerk, in dem Hollein erstmals mit den Elementen einer Architektur spielte, die später unter dem Begriff Postmoderne in die Geschichte eingehen sollte.

1990 wurde sein Haas-Haus am Stephansplatz eröffnet. Das aus Stein und Glas gebaute Manifest, in dessen gewölbten Fassaden sich das Wiener Wahrzeichen spiegelt, spaltete die Wiener Bevölkerung in Liebhaber und Hasser. Bis heute gilt das Haas-Haus als zeitgenössischer Konterpart in einem von der Unesco geschützten Weltkulturerbe. Es folgten Schul- und Bürobauten, diverse Museen wie etwa das Niederösterreichische Landesmuseum in St. Pölten oder das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt sowie das Flugdach auf der Rampe der Albertina.

„Es kann nicht jedes Projekt eine Weihnachtsgans sein“, bemerkte Hans Hollein dazu einmal im Gespräch mit dem Standard. „Manchmal hat man nach einigen Jahren Arbeit eben nur ein warmes Würstl vor sich am Teller liegen. Aber alles ist wichtig. Und die Albertina ist in ihrer Gesamtheit ganz bestimmt eine Weihnachtsgans, auch wenn manche Teile davon eher ein Würstl sind.“

Internationale Erfolge

Die Weihnachtsgänse der letzten Jahre entstanden fast ausschließlich außerhalb Österreichs, so wie das Headquarter der Interbank Lima im Peru (2001), die Centrum Bank in Liechtenstein (2002) oder der 2002 eröffnete Vulcania-Erlebnispark in Saint-Ours-les-Roches in der Auvergne. Der Museumscampus mit seinem unverwechselbaren golden schimmernden Vulkankegel sorgte weltweit für Aufsehen.

Sein 1967 formulierter Leitsatz „Alles ist Architektur“ zog sich wie ein Wahlslogan durch sein Schaffen. Für Arthur Schnitzlers Komödie der Verführung (1980) am Wiener Burgtheater zeichnete er das Bühnenbild, für Traum und Wirklichkeit im Wiener Künstlerhaus (1985) lieferte er die Ausstellungsgestaltung. Zuletzt realisierte er vor dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe eine spektakuläre Arbeit aus 1960, indem er ein paar ausrangierte VW-Käfer zu einem Car Building stapelte. Es ist die letzte dokumentierte Arbeit Holleins, der 1985, als bisher einziger Österreicher, mit dem renommierten Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde.

„Ich habe mich nie als Teil der Avantgarde erachtet“, sagte Hollein im Rückblick auf sein Leben. „Ich habe einfach nur auf meine eigene Art versucht, in die Zukunft zu blicken.“ Dieser Blick zeichnet Visionäre aus und reicht weiter als seine eigene Existenz.

Am 5.5. eröffnet die Galerie Ulysses, Opernring 21, die Ausstellung „Hans Hollein“. Ab 25.6. zeigt das Mak eine umfangreiche Rückschau auf Holleins Lebenswerk.

Der Standard, Fr., 2014.04.25



verknüpfte Akteure
Hollein Hans

29. März 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Zwischen Weihnachtsgansarchitektur und Kunst

Morgen, Sonntag, feiert der Wiener Architekt Hans Hollein seinen 80. Geburtstag. Bis heute gilt der einzige heimische Pritzker-Preisträger als einer der prominentesten Vertreter der Postmoderne in Europa.

Morgen, Sonntag, feiert der Wiener Architekt Hans Hollein seinen 80. Geburtstag. Bis heute gilt der einzige heimische Pritzker-Preisträger als einer der prominentesten Vertreter der Postmoderne in Europa.

Die einen bezeichnen ihn als „einflussreichsten und international wichtigsten Architekten aus Österreich“ (Dietmar Steiner, Direktor des Architekturzentrums Wien), andere als „kreativsten, interessantesten und erfolgreichsten bildenden Künstler dieses Landes“ (Kollege Gustav Peichl). Bundespräsident Heinz Fischer spricht sogar von „einem der prominentesten Vertreter der postmodernen Architektur in Europa“.

Es handelt sich um als Komplimente getarnte Geburtstagswünsche. Denn der 1934 geborene Hans Hollein, der seit seinem millionenfach zitierten Sager „Alles ist Architektur“ in den 1960ern stets an der Kante zwischen Kunst und Architektur wandert, feiert morgen, Sonntag, mit leicht angeschlagener Gesundheit seinen 80. Geburtstag. Feiern wird er. Das ließ er via Familie ausrichten.

Zu Beginn von Holleins Laufbahn standen Manifeste und visionäre Entwürfe wie etwa Flugzeugträger in der Landschaft (1964), ein zur monströsen Burg aufgeblasener Rolls-Royce-Kühlergrill, oder Mobiles Büro (1969), eine sogar buchstäblich aufgeblasene Bürozelle aus Kunststoff, in der es sich Hollein mit Schoß-Schreibtisch und Skizzenblock bequem machte und sich darin nachhaltig effektvoll fotografieren ließ.

Mit seinen ersten realisierten Projekten - das Kerzengeschäft Retti am Kohlmarkt - musste er gegen einen nicht sonderlich zukunftsoffenen Magistrat ankämpfen. Sechs Entwürfe reichte er ein. Alle wurden sie abgelehnt. Erst beim siebenten Anlauf, bei dem er die Beamten mit winzigen Zeichnungen austrickste, bekam er die Baubewilligung erteilt. Der Startschuss für eine postmoderne Bautätigkeit, die bis heute fortdauert.

Neben dem Städtischen Museum Abteiberg in Mönchengladbach (1992), dem Haas-Haus (1990), dem Media-Tower am Donaukanal (2000), dem Niederösterreichischen Landesmuseum in St. Pölten (2002), der neuen Albertina-Rampe (2003), dem Saturn-Tower (2004) sind es vor allem Projekte im Ausland, die Hollein zuletzt beschäftigten, darunter etwa das Vulcania-Museum in der Auvergne, Wohnhochhäuer in Taipeh sowie das Headquarter der Interbank in Lima, Peru.

„Ich habe viel gebaut, und es kann nicht jedes Projekt eine Weihnachtsgans sein“, meinte Hollein vor wenigen Jahren. „Manchmal hat man eben nur ein warmes Würstl vor sich am Teller liegen.“ Ob er schon einmal etwas bereut habe? „Nicht den Bau von Würstln. Das passt schon. Aber vor vielen Jahren habe ich es abgelehnt, zusammen mit Frank Gehry die Walt Disney Concert Hall in Los Angeles zu bauen. Aus heutiger Sicht war das ein Fehler.“

Der Standard, Sa., 2014.03.29



verknüpfte Akteure
Hollein Hans

29. März 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Der Papierpragmatiker

Der Pritzker-Preis 2014 geht an den japanischen Architekten Shigeru Ban. Wojciech Czaja sprach mit ihm über Menschen in Not, Herausforderungen und seine pragmatische Liebe zu Papier.

Der Pritzker-Preis 2014 geht an den japanischen Architekten Shigeru Ban. Wojciech Czaja sprach mit ihm über Menschen in Not, Herausforderungen und seine pragmatische Liebe zu Papier.

STANDARD: Sie wurden diese Woche von der Pritzker Foundation angerufen und haben erfahren, dass Sie der Pritzker-Preis-Träger 2014 sind. Was war Ihre erste Reaktion?

Ban: Ich war überrascht. Diesen Preis zu gewinnen ist eine große Ehre! Wissen Sie, von 2006 bis 2009 bin ich selbst in der Pritzker-Jury gesessen, und ich kenne die komplizierten Prozesse und ewig langen Diskussionen, die hinter so einer Entscheidung stecken.

STANDARD: Warum ausgerechnet Sie?

Ban: Mir wurde gesagt, ein wesentlicher Grund sei die Kontinuität meiner Arbeit. Seit mehr als 20 Jahren arbeite ich daran, temporäre Konstruktion in Krisenregionen und Katastrophengebieten zu errichten und die beiden scheinbaren Widersprüche Effizienz und Ästhetik miteinander zu vereinen.

STANDARD: Eine Ihrer Besonderheiten ist das Bauen mit Pappkarton und Papier. Wann hat das begonnen?

Ban: Das allererste Projekt aus Pappe war die Gestaltung einer Ausstellung über Alvar Aalto 1986. Das war in Japan, in der Nähe von Tokio. Ich wusste nur: Ich will nicht schon wieder mit Holz bauen. Also habe ich mich dafür entschieden, mit Papier und Pappe zu bauen. Das war das erste Mal, dass ein Architekt mit diesem Material gearbeitet hat.

STANDARD: Seit damals arbeiten Sie regelmäßig damit. Was ist das Faszinierende an diesem Baustoff?

Ban: Wie meinen Sie das? Nichts ist faszinierend daran. Es ist ein Baustoff wie jeder andere auch. Nur hatte vor mir noch niemand anderer daran gedacht, damit zu arbeiten. Das ist alles.

STANDARD: Das klingt sehr pragmatisch. Das glaube ich Ihnen nicht.

Ban: Ich kann es auch anders sagen: Ich bin ein Freund des Erfindens. Immer nur Trends und Modeströmungen zu folgen ist mir zu wenig. Schauen Sie sich einmal Buckminster Fuller oder Frei Otto an! Die sind auch nicht irgendwelchen Trends gefolgt, sondern haben ihre ganz eigene Sprache und Konstruktionsästhetik entwickelt. Sie haben sich von niemandem beeinflussen lassen, sondern haben ihren eigenen Stil kreiert.

STANDARD: Ihr eigener Stil also ... Und welcher Motor steckt da dahinter?

Ban: Als ich vor mehr als 30 Jahren begonnen habe, als Architekt zu arbeiten, war Bauökologie ein Fremdwort. Darüber hat niemand gesprochen. Für mich jedoch war das etwas ganz Natürliches, etwas ganz Selbstverständliches. Ich war immer schon daran interessiert, mit billigen, regionalen und wiederverwendbaren Materialien zu arbeiten. Daher der - wenn Sie so wollen - eigene Stil.

STANDARD: Woher nehmen Sie das Material?

Ban: Die Pappröhren sind ganz normale Produkte, die für die Papierindustrie hergestellt werden. Keine Sonderanfertigungen. Wir beziehen uns auf das, was schon am Markt da ist. Und das Gute daran ist: Papierfabriken gibt es überall auf der Welt.

STANDARD: Wie bestimmen Sie die Festigkeit?

Ban: Solche Röhren halten sehr viel aus. Wenn Sie schon einmal gesehen haben, wie viel Tonnen Papier auf so eine Röhre gewickelt werden, dann wissen Sie das. Im Laufe der Jahre haben wir die unterschiedlichen Produkte Festigkeitsprüfungen unterzogen und können uns auf bereits bestehende Daten stützen. Wenn ein neues Produkt dazukommt, müssen wir einen neuen Test machen.

STANDARD: Was muss man alles beachten, wenn man mit Papier baut?

Ban: Sie meinen Feuer und Wasser?

STANDARD: Zum Beispiel.

Ban: Trinken Sie manchmal Orangensaft?

STANDARD: Aus dem Tetrapak?

Ban: Genau. Es gibt schon viele Methoden, wie man Papierprodukte wasserdicht und wasserfest machen kann. Das Gleiche trifft auch auf die Brandfestigkeit zu.

STANDARD: Wie lange halten Ihre Papierkonstruktionen?

Ban: Wie lange hält eine Betonkonstruktion?

STANDARD: Laut Betonlobby ewig.

Ban: Ja. Aber wir wissen alle, dass das nicht stimmt. Ein Gebäude aus Beton kann durch Wasser und Erdbeben leicht zerstört werden und ist schwierig zu reparieren. Beton hält keine 100 Jahre. Was die meisten Leute nicht wissen: Ein Haus aus Papier kann, wenn es gut gebaut ist, das stärkste Erdbeben überstehen, weil es sehr leicht konstruiert ist. Ein schweres Gebäude wird zusammenbrechen.

STANDARD: Papier hält also länger als Beton?

Ban: Mitunter ja. Wie gesagt: Die Technik ist nicht das Problem.

STANDARD: Sondern?

Ban: Die Vorschriften! Die Behörden haben keinerlei Erfahrung mit Papier- und Pappkonstruktionen und wollen sich damit auch nicht auseinandersetzen. Die Normen und Gesetze sind veraltet, und zwar diesbezüglich überall auf der Welt. Der Bewilligungsprozess ist extrem kompliziert.

STANDARD: Sie haben schon oft genug mit Papier gebaut. Erfahrungswerte sind da. Wie könnte man diesen Prozess vereinfachen?

Ban: Ich glaube nicht, dass man den Prozess vereinfachen kann. Es wird schwierig bleiben.

STANDARD: Lieben Sie Herausforderungen?

Ban: Würde ich sonst das tun, was ich tue?

STANDARD: Sie bauen einerseits für reiche, privilegierte Bauherren und weltbekannte Unternehmen und Institutionen, und andererseits für Menschen in Not.

Ban: Wir Architekten arbeiten fast immer nur für die Privilegierten. Sie haben Geld, Macht oder beides und beauftragen uns, ihnen Denkmäler zu bauen, die diese Macht symbolisieren. Das war schon immer so. Das ist die historische Rolle von Architekten ...

STANDARD: ... die Sie nun aufbrechen.

Ban: Wenn eine Naturkatastrophe passiert und in kurzer Zeit Notunterkünfte benötigt werden, ist meist weit und breit kein Architekt zu sehen. Dabei könnten wir hier vieles verbessern, wenn wir helfen. Also sollten wir das tun.

STANDARD: In welcher Rolle fühlen Sie sich wohler? Als Architekt der Reichen oder als Architekt der Menschen in Not?

Ban: In gewisser Weise gibt es da keinen Unterschied. Alles gleich.

STANDARD: Kein Unterschied?

Ban: Der einzige Unterschied ist: Bei den Reichen werde ich bezahlt und bei den Armen nicht.

STANDARD: In einem Interview haben Sie einmal gesagt, Sie seien nicht daran interessiert, Geld zu verdienen.

Ban: Das stimmt. Aber ich habe nun mal ein Büro, und dieses Büro muss überleben. Ich spreche nicht gerne über Geld. Ich hasse es, mich um Business-Angelegenheiten und Honorare zu kümmern. Das macht alles mein Partner.

STANDARD: 1995 haben Sie den Verein Voluntary Architects' Network (VAN) gegründet. Was genau passiert da?

Ban: Genau das! Bauen für Menschen in Not. Wir arbeiten überall auf der Welt. Überall, wo es Krisen und Naturkatastrophen gibt, also nach Kriegen, Erdbeben, Bränden, Hurrikanen und Tsunamis, und wo man in kürzester Zeit Behausungen für viele tausend Menschen schaffen muss.

STANDARD: Wo und wie finden Sie Ihre freiwilligen Helfer?

Ban: Es gibt keine Dauermitglieder. Ich sammle die Freiwilligen vor Ort, manchmal auch aus ganz Japan. Helfer aus dem Ausland müssten wir einfliegen lassen, und das können wir uns nicht leisten.

STANDARD: Sie sind nun der siebente japanische Architekt, der mit dem Pritzker-Preis für Architektur ausgezeichnet wird. Was macht japanische Architektur so attraktiv?

Ban: Was japanische Architektur auszeichnet? Das weiß ich nicht. Aber Nationalitäten sind in der Pritzker-Preis-Jury kein Thema. Das weiß ich noch von früher.

STANDARD: Würden Sie sich denn als japanischen Architekten bezeichnen?

Ban: Nein. Ich habe in Japan keine Erziehung genossen. Ich habe in Kalifornien und in New York City studiert. So gesehen bin ich ein internationaler Architekt.

STANDARD: Und wo fühlen Sie sich zu Hause?

Ban: Im Flugzeug. Da bin ich privat. Kein Scherz! Da kann ich all das machen, wozu ich sonst nie Zeit habe: Skizzen anfertigen, Filme schauen und schlafen. Und ich liebe es, zwischen den Zeitzonen unterwegs zu sein. Das gibt meinem Leben den gewissen Kick.

STANDARD: Wissen Sie schon, was Sie mit den 100.000 Dollar Preisgeld machen werden?

Ban: Ich werde weiterhin das tun, was ich bisher getan habe. Daran wird sich nichts ändern. Die Arbeit wird bestenfalls wachsen.

STANDARD: Also?

Ban: Ach, Sie meinen die 100.000 Dollar?

STANDARD: Genau.

Ban: Ich werde das Geld in meine NGO-Aktivitäten investieren. Da gibt's genug zu tun.

Der Standard, Sa., 2014.03.29

29. März 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Ohne Keller, dafür aber mit Schlamm und Eigenbau

Ein Einfamilienhaus in Hanglage ist üblicherweise ein teures Unterfangen. In Vorderweißenbach im Mühlviertel jedoch schufen die hpsa Architekten einen schwebenden Bungalow, der billiger ist als ein Haus auf ebener Wiese.

Ein Einfamilienhaus in Hanglage ist üblicherweise ein teures Unterfangen. In Vorderweißenbach im Mühlviertel jedoch schufen die hpsa Architekten einen schwebenden Bungalow, der billiger ist als ein Haus auf ebener Wiese.

Wie ein schwarzes, überdimensionales Hufeisen ragt das Haus über die Hangkante. Wer den Weg zwischen den tanzenden Säulen hindurch und treppaufwärts nach oben findet, landet auf einer 22 Quadratmeter großen Terrasse und wird mit einem fantastischen Ausblick auf das obere Mühlviertel und das südlichste Zipfel der Tschechischen Republik belohnt. „Die Aussicht in die Landschaft ist eines der tollsten Dinge am ganzen Haus“, sagt Gregor Sonnberger. Gemeinsam mit seiner Frau Edith, beide ihres Zeichens AHS-Lehrer, und einer knapp zweijährigen Tochter zog er im Oktober letzten Jahres hier ein. Dass die vorerst noch dreiköpfige Familie vom Erdboden enthoben wohnt, ist weder Zufall noch Spleen, sondern in erster Linie Konsequenz einer wirtschaftlich getriebenen Entscheidung.

„In den meisten Fällen ist Bauen in Hanglage aufgrund von Baugrubensicherung und Hangwasser teurer als auf einem Grundstück in der grünen Ebene“, erklärt Dietmar Hammerschmid vom Grazer Büro Hammerschmid Pachl Seebacher Architekten (hpsa). „Doch in diesem Fall ist es uns gelungen, das Haus sogar billiger als auf der grünen Wiese zu bauen.“ Grund dafür sind der Verzicht auf einen Keller sowie die Reduktion der erdberührenden, meist aufwändig zu isolierenden Bauteile. Auf diese Weise ist es gelungen, die Fundierung um 20 Prozent billiger auszuführen.

Statt auf einem schweren Sockel aufzusitzen, tanzt die Wohnskulptur nun auf 19 verzinkten Säulen aus Stahl. Die windschiefe Lage zueinander soll laut Architekt „nicht nur einen Wald suggerieren“, sondern sorgt auch für die nötige Aussteifung gegen Windkräfte. „Wir waren sehr überrascht über diesen Vorschlag“, erinnert sich Bauherr Sonnberger, „doch eigentlich hat uns der Entwurf auf Anhieb gut gefallen.“ Nicht zuletzt sei aufgrund der geringen Beanspruchung des Grundstücks viel Garten übriggeblieben. Noch fehlt das Grün, doch schon bald, so Sonnberger, werde man unterm schwebenden Bungalow Spielgeräte für die Tochter aufstellen.

Insgesamt wurde das Haus in nur fünf Monaten Bauzeit fertiggestellt. Zu verdanken ist dies der Holzriegelbauweise, die eine Vorfertigung im Werk und eine rasche Montage vor Ort ermöglicht hat. „Ein großer Wunsch der Bauherren war, sich am Innenausbau zu beteiligen“, sagt Hammerschmid. „Also haben wir die Details so geplant, dass man sie auch ohne viel Know-how, sondern einfach nur mit Engagement ausführen kann.“ Selbst Hand angelegt haben die Sonnbergers bei den nichttragenden Zwischenwänden sowie bei der Fassade aus sägerauer Fichte.

„Wir haben uns ein Haus gewünscht, das nicht nach einigen Monaten verblasst oder vergraut“, erzählen Gregor und Edith Sonnberger. In Schweden wurde man schließlich fündig - mit dem sogenannten „Falu Rödfärg“. Die dunkelrote Schlammfarbe, ein Nebenprodukt der Kupfergewinnung, ist üblicherweise an schwedischen Holzfassaden zu finden. Hier wurde sie mit schwarzen Pigmenten versetzt und wird nun mindestens 15 Jahre lang bis zum nächsten Selbstmaltermin ausharren.

Der Standard, Sa., 2014.03.29

22. März 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Baku im Bleichwaschgang

Zwei Jahre nach dem Eurovision Song Contest will Baku hoch hinaus. Und zwar leider um jeden Preis. Ein Spaziergang durch die Baustelle des Investorenwunderlands Baku White City.

Zwei Jahre nach dem Eurovision Song Contest will Baku hoch hinaus. Und zwar leider um jeden Preis. Ein Spaziergang durch die Baustelle des Investorenwunderlands Baku White City.

Es staubt im Gegenlicht. Die Bauarbeiter stehen auf dem Gerüst und stemmen, Stein für Stein, ein kleines, neues Paris in die Höhe. Dass sich hinter den Sandsteinplatten und den maschinell gefrästen Kapitellen eine Stahlbetonkonstruktion mit Hochlochziegelwand verbirgt, ist eine kunstgeschichtliche Unschärfe, die hier niemanden zu kümmern braucht. Das neue Evlari-Palais in der vorerst noch namenlosen Straße ist ein erster Vorbote des 50.000-Einwohner-Stadtteils Baku White City.

„Cities have never been growing so quick“ lautet der Slogan der weißen Stadt, die auf dem Gelände der ehemaligen Baku Black City aus dem Erdboden gestampft wird. Und tatsächlich ist die Geschwindigkeit, mit der man hier Stadt zu bauen gedenkt, nicht zu übertreffen: Wo seit 1860 fast 150 Jahre lang Erdöl gelagert und raffiniert wurde, sollen schon bald glückliche Menschen mit Gucci-Clutch, vollen Einkaufstaschen und Fotoapparat durch den Großstadtdschungel schreiten. So versprechen es zumindest die Visualisierungen der Azerbaijan Development Company (ADEC), die das ambitionierte Stadtquartier auf Geheiß von Präsident Ilham Aliyev aus der Taufe hebt.

„Wissen Sie, die Qara Seher (Black City, Anm.) ist ein Stück Geschichte dieser Stadt, auf die eigentlich niemand so richtig stolz ist“, erklärt Fuad Verdiyev, Head of Development bei ADEC, im Gespräch mit dem STANDARD. „Natürlich wurde hier große aserbaidschanische Geschichte geschrieben, denn schließlich verdanken wir dem Erdöl unseren Reichtum, aber in einer modernen, weltoffenen Stadt des 21. Jahrhunderts ist dafür kein Platz mehr.“

Stolz steht Verdiyev vor dem zehn mal zehn Meter großen Stadtmodell im Erdgeschoß des provisorischen Bürohauses. Das richtige ADEC-Headquarter, ein weißes, futuristisches Ei mit 13 Stockwerken, befindet sich auf dem Grundstück nebenan. Der Rohbau ist bereits abgeschlossen. Der Kontrast zu den benachbarten Pariser Palais im Stile Baron Haussmanns könnte dramatischer nicht sein.

„Bald werden wir übersiedeln und das Wachsen der Stadt dann vom letzten Stockwerk aus kontrollieren. Und wie Sie sehen, bauen wir sehr schnell.“ Bis Sommer nächsten Jahres soll ein Teil der blitzblank polierten White City fertiggestellt sein. Dann nämlich finden in Baku die Europaspiele 2015 statt. Das neu erfundene Sportevent, das kurioserweise auf asiatischem Boden stattfindet, soll darüber hinwegtrösten, dass Aserbaidschan mit seiner Bewerbung für die Olympischen Spiele 2016 zugunsten von Rio de Janeiro scheiterte.

Stadtplanung? Fehlanzeige

„Aber natürlich schaffen wir das!“ Verdiyev duldet keine Zweifel. Die juristischen Rahmenbedingungen helfen der Geschwindigkeit auf die Sprünge. Die Baku White City, ein Entwurf des Londoner Stadtplanungsbüros Atkins, wurde direkt beauftragt und wird in Großbritannien unter Zuhilfenahme von F+A Architects und Großmeister Norman Foster generalgeplant. Wettbewerb? Fehlanzeige. Umweltverträglichkeitsprüfungen? Fehlanzeige. Langfristiges Grünraum- und Verkehrskonzept? Fehlanzeige.

„Seien Sie doch bitte nicht so pessimistisch! Wir wissen genau, was wir tun.“ Einst erstreckten sich die Öl- und Raffineriefelder über 220 Hektar. Im Jahr 2000 wurde das einst schwarze Land umgewidmet, 2007 schließlich startete die Dekontaminierung des Bodens. Je nach Kontaminationsgrad wurde der Boden bis zu einer Tiefe von drei bis sieben Metern abgegraben und außer Stadt gebracht. Wohin, ist unbekannt. Das wisse er nämlich nicht so genau, meint ADEC-Chef Fuad Verdiyev. Fest steht jedoch, dass die White City schon in wenigen Jahren ein pulsierendes Zentrum sein werde.

18.000 Wohnungen und 48.000 Arbeitsplätze, diverse Hotels, Einkaufsboulevards, ein Riesenrad, eine Konzerthalle und die mit 400.000 Quadratmetern größte Shoppingmall der gesamten kaspischen Region sind hier geplant. Dass die Wohnungen ohne Haustechnik, also ohne Heizung und ohne Kühlung übergeben werden, sei ein „nicht so interessantes Detail am Rande, über das Sie nicht zu schreiben brauchen“, versichert Verdiyev. „Schließlich können die Bewohner die Haustechnik individuell nachrüsten. Platz für Heiz- und Kühlgeräte ist in jeder Wohnung in Form eines kleinen hofseitigen Balkons geplant.“ Ein neuer Stadtteil mit 18.000 Heizkesseln an der Fassade? In Baku kein Problem.

Nicht nur die ökologische, auch die soziale Nachhaltigkeit wird in der White City großgeschrieben, denn schließlich plane man eine „durchmischte Stadt für jedermann“. Wie sich dieses überaus ambitionierte Ziel mit der Tatsache verträgt, dass die 18.000 Neubauwohnungen trotz traditionell ausgeprägter Mietkultur in Baku ausschließlich in Eigentum auf den Markt gebracht werden und die Rohbau-Kaufpreise bei 1200 Manat (circa 1100 Euro) pro Quadratmeter starten, bleibt bei diesem Exklusivtermin eine ebenso unbeantwortete Frage wie alle anderen auch.

Wann sollen denn die Wassertaxis und die Straßenbahnlinien errichtet werden, die man hier im Modell sieht? „Das ist nur ein Vorschlag von uns. Darum kümmern wir uns aber nicht. Wir kümmern uns nur um die Bebauung. Die gesamte Infrastruktur und die Planung des öffentlichen Verkehrs ist nämlich Aufgabe der Stadtverwaltung, auf die wir aber leider keinerlei Einfluss haben.“

Wie viele Investoren am Bau der neuen Weißstadt beteiligt sind, wird geheim gehalten. Wie viel Prozent des neuen Areals bereits finanziert sind, könne man nicht so genau sagen. Und wie groß das Gesamtinvestitionsvolumen der Baku White City ist? „Kein Kommentar.“ Aber so viel sei sicher: „Bitte kommen und investieren Sie! Die ADEC ist ein offenes, transparentes und investorenfreundliches Unternehmen!“

In Baku ist alles möglich

Die nebulose Genese der Baku White City ist kein Einzelfall. Superlative um jeden Preis hat in dieser Stadt Tradition. Für das neue und in Lifestyle-Medien bereits vielfach publizierte Heydar Aliyev Cultural Center von Zaha Hadid musste ein ganzes Wohnviertel planiert werden. Dennoch: Knapp zwei Jahre nach Fertigstellung steht das 60.000-Quadratmeter-Museum fast leer - darüber ist in den Blogs und Hochglanzzeitschriften nichts zu lesen.

Und die nächsten Megaprojekte stehen bereits in den Startlöchern: Coop Himmelb(l)au etwa plant ein riesengroßes Kongresszentrum sowie das neue Hauptquartier der Central Bank of Azerbaijan (CBA). Und das Wiener Büro Hoffmann+Janz, das an der Küstenpromenade bereits das metaphorisch etwas plump geratene, nicht sonderlich subtile Teppichmuseum in Form einer 120 Meter langen, liegenden Teppichrolle baute, arbeitet bereits an einem Hochhaus, an einem Wasserpavillon im Kaspischen Meer sowie an einem neuen Sportzentrum, das im April eröffnet werden soll.

„In Baku wird mit anderen kulturellen Maßstäben gemessen als bei uns“, erklärt Teppichrollen-Architekt Franz Janz auf Anfrage des STANDARD. „In gewisser Weise ist in Aserbaidschan alles viel einfacher, denn die letzte Entscheidung hat immer der Präsident.“ Und Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au meint: „Die neuen Bauten und Stadterweiterungsprojekte schaden der Stadt mehr, als sie ihr helfen, denn sie mögen für sich allein eine gewisse Qualität aufweisen, aber ein zusammenhängender, städtebaulicher Überbau ist nicht zu erkennen.“

Und das ist sehr schade, denn Baku mit seiner Unesco-geschützten Altstadt, seinen vielen Fußgängerzonen und seinen in den letzten Jahren sehr aufwändig historisierten Boulevards ist nicht nur eine sehr schöne, sondern auch gut funktionierende und vielfach unterschätzte Stadt. Vom einzigartigen Ambiente der Drei-Millionen-Metropole, dem auch die schwarze Ära von Erdöl und Kommunismus nichts anzuhaben schien, ist in der neuen, weißgewaschenen White City nichts zu merken. In der Euphorie hat die Immobilienwirtschaft hier etwas zu viel Bleichmittel beigesetzt.

Der Standard, Sa., 2014.03.22

08. März 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Ich bin Versuchskaninchen im eigenen Haus

Der Stuttgarter Architekt und Ingenieur Werner Sobek ist Pionier in Sachen Technologie und Vernetzung. Mit Nachtsichtgeräten, erfuhr Wojciech Czaja, kommt man in seinem gläsernen Einfamilienhaus aber nicht weit.

Der Stuttgarter Architekt und Ingenieur Werner Sobek ist Pionier in Sachen Technologie und Vernetzung. Mit Nachtsichtgeräten, erfuhr Wojciech Czaja, kommt man in seinem gläsernen Einfamilienhaus aber nicht weit.

Das Beste an diesem Haus ist, dass es sich nicht anfühlt wie ein Haus. Vielmehr hat man das Gefühl, man sei mitten in der Natur. Und das ist man auch. Egal, wo man sich gerade aufhält, man sieht die Bäume, man sieht den Himmel, man sieht und hört den Regen, man riecht die Blüten, man bekommt einfach den ganzen Tagesverlauf mit. Ein halbes Jahr, nachdem wir eingezogen waren, fiel mir auf, dass ich nicht mehr auf die Uhr gucke. Anhand des Tageslichts kann man gut abschätzen, wie spät es immer ist.

Ich werde oft gefragt, wie es sich anfühlt, ständig unter Beobachtung zu sein. Und dann sage ich: Zum einen wohnt der nächste Nachbar 200 Meter von hier entfernt, und zum anderen ist mir das auch ziemlich egal. Es gibt sogar Leute, die versuchen, uns bei Dunkelheit mit Nachtsichtgeräten im Haus aufzuspüren, aber das führt zu nichts. Die Glasscheiben haben eine Low-Emissivity-Beschichtung und lassen keinerlei Infrarotstrahlung durch. Pech gehabt!

Warum das Haus so aussieht, wie es aussieht, hat einen guten Grund. Was meine Arbeit betrifft, würde ich mich als Pionier bezeichnen, weil ich an der Entwicklung neuer Technologien sowie an der Implementierung dieser Technologien im Bauwesen maßgeblich beteiligt bin. Ich lebe diesen Beruf mit Leidenschaft. Und wenn man etwas Neues entwickelt, so muss man sich auch als Versuchskaninchen zur Verfügung stellen und am eigenen Leibe das ausprobieren, was man später dem Markt anbieten möchte.

Wir haben lange an diesem Haus geplant - von 1997 bis 2000. Der Bauprozess selbst dauerte aber nur zehn Wochen. Es war eines der ersten Gebäude, das sich komplett über den Computer steuern lässt. Über einen Touchscreen geben wir die gewünschte Temperatur ein, und die EDV erledigt den Rest. Theoretisch können wir die Haustechnik auch übers Handy steuern. Wir wohnen in einem richtigen Nullenergiehaus - ohne Gaskessel, ohne Ofen, ohne Erdwärme. Wir heizen einzig und allein mithilfe der Sonne. Es gibt eine Bauteil-Aktivierung, einen Wärmetauscher sowie einen Speichertank mit 12.000 Liter Wasser, in dem die gewonnene Energie gespeichert wird. Die Wassertemperatur im Tank pendelt zwischen fünf und 85 Grad Celsius! Außerdem hält sich der Energiebedarf durch die hochwertige Isolierung - die Glasscheiben sind mit Krypton gefüllt und haben die gleiche Wärmedämmeigenschaft wie eine 14 Zentimeter dicke Styroporplatte - ohnehin in Grenzen.

Demnächst wollen wir das Haus technisch etwas nachrüsten und eine neue Software installieren. Es handelt sich dabei um ein Energieoptimierungssystem unter dem Namen alpha EOS. Dann werden wir noch weniger Strom verbrauchen als heute. Sämtliche Geräte wie Geschirrspüler oder Waschmaschine können dann via Internet gestartet werden. Das System ist mit der meteorologischen Station verbunden und kann aufgrund von Wetterlage, Netzauslastung und Tageszeit automatisch kalkulieren, wann die Energiekosten am niedrigsten sind und das öffentliche Stromnetz am geringsten belastet wird. Außerdem werden wir ab Sommer einen Elektro-Smart haben, den wir über unsere Photovoltaik-Anlage direkt aufladen können.

Ob mir das Haus zu transparent ist? Eigentlich nie! Denn wenn ich ungestört sein und mich ein wenig in mein Innerstes verkriechen will, dann mache ich einfach die Augen zu. Das lernt man, wenn man so viel unterwegs ist wie ich. Sobald ich die Augen schließe, fühle ich mich zu Hause, fühle ich Heimat.

Der Standard, Sa., 2014.03.08



verknüpfte Akteure
Sobek Werner

05. März 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Das Architekturfestival Turn On

Vorträge und Diskussionen im Großen Sendesaal des ORF Radiokulturhauses Wien

Vorträge und Diskussionen im Großen Sendesaal des ORF Radiokulturhauses Wien

„Einerseits werden manche Architekten von den Medien regelrecht zu Stars gemacht, andererseits aber werden die Urheber eines Bauwerks im Alltag oft nur ignoriert“, sagt Margit Ulama, Kuratorin und Initiatorin des Architekturfestivals Turn On. „Warum ist das so? Und wie sieht die Wirklichkeit aus, wenn die Planungs- und Bauprozesse immer komplexer werden und die Kreativität in diesem Gefüge einen immer kleineren Stellenwert einnimmt?“

Diesen Fragen möchte die Veranstaltung nachgehen, die am Freitag und Samstag im ORF Radiokulturhaus Wien zum zwölften Mal stattfindet. Die intensiven Vorträge und Diskussionen im Großen Sendesaal dauern an beiden Tagen neun Stunden.

Während sich der erste Tag der Schnittstelle von Architektur und Wirtschaft sowie dem integralen Planen widmet, ist der Samstag eine Rundumschau über all das, was österreichische Architekten in den letzten Jahren geleistet haben - national wie international. Vorgestellt werden Wohnprojekte sowie Kultur- und Infrastrukturbauten wie das Schubhaftzentrum in Vordernberg, der neue WU-Campus im Prater, das Schlesische Museum in Katowice oder das Sheikh Zayed Desert Learning Center in Abu Dhabi.

„Architektur zu machen ist heutzutage ein nomisches Spiel“, sagt Laura Spinadel vom Wiener Büro Bus Architektur. „Die Spielregeln sind paradox, die Spieler wechseln andauernd ihre Meinung, und jeder Prozess entwickelt sich selbstreferenziell. Daher ist es unsere Aufgabe, als Denker und Macher in der Optimierung der Umweltqualität wieder eine aktive Rolle zu erlangen.“ Dass dies mitunter wunderbar gelingt, wird bei Turn On 18 Stunden unter Beweis gestellt.

Der Standard, Mi., 2014.03.05

01. März 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Die Quadratur der Schlange

Das Sheikh Zayed Desert Learning Center in Abu Dhabi ist ein technischer Kraftakt. Die Planung des Wüstenmuseums stammt von den beiden Wiener Architekten Talik und Jaafar Chalabi.

Das Sheikh Zayed Desert Learning Center in Abu Dhabi ist ein technischer Kraftakt. Die Planung des Wüstenmuseums stammt von den beiden Wiener Architekten Talik und Jaafar Chalabi.

50 Grad Celsius, Sand und trockenes Klima: Das ist das bevorzugte Habitat der Afrikanischen Hornviper. Ein besonders großes Exemplar dieser beige-braun geschuppten Wirbeltierspezies liegt in Al Ain auf der Lauer und wartet bereits gespannt auf die ersten Besucher. Das Sheikh Zayed Desert Learning Center (SZDLC) am Rande des neuen Wildlife-Parks ist nämlich nicht nur ein Wüstenmuseum samt Forschungszentrum und Kinosaal, sondern in erster Linie ein zeitgenössisches Stück Architektur, das die Aufgabe hat, Touristen aus den großen Städten der Vereinigten Arabischen Emirate ins Landesinnere zu locken.

„Die Bauherren haben sich eine charakteristische Landmark, eine Art neues Wahrzeichen für das Emirat Abu Dhabi gewünscht“, erinnert sich Talik Chalabi. „Daher war für uns klar, dass wir etwas Neues ausprobieren müssen, dass wir sowohl Entwurfsprozess als auch Bauweise ein bisschen strapazieren und bis an die Grenzen des technisch Machbaren gehen müssen.“ Die Herangehensweise überzeugte. Gemeinsam mit seinem Bruder Jaafar ging der Wiener Architekt (Chalabi Architekten & Partner) als Sieger aus einem geladenen Wettbewerb hervor, an dem sich insgesamt zwölf Büros aus aller Welt beteiligt hatten.

„Unsere Idee war, dass sich das Gebäude aus dem Gelände heraus entwickelt“, sagt Chalabi. Und tatsächlich: Wie eine im Sand liegende Schlange steigt der rund 10.000 Quadratmeter große Bau allmählich an, legt sich in Schlaufen und windet sich zu einem 300 Meter langen Ding, das an seiner höchsten Stelle fast 20 Meter über den Wüstenboden ragt. Da, wo Mutter Natur die Augen vorsah, steht nun der Besucher und blickt nach Süden, direkt auf den felsigen Hausberg Jebel Hafid, dessen Rückseite sich bereits im Oman befindet. Mystisches Licht. Gewaltige Stimmung. Daran können auch die paar Dutzend Bauarbeiter nichts ändern, die in den Abendstunden, sobald die Luft wieder abgekühlt ist, aus ihren Verstecken emporklettern und die letzten Arbeitsschritte an der steinernen Fassade vornehmen.

75.000 Tonnen Beton

Dass sich im Inneren des Bauwerks, hinter den rautenförmigen Platten aus Giallo Samad, der aus einem Steinbruch im Oman von den Architekten und von Bauherr Scheich Sultan Bin Tahnoon Al Nahyan höchstpersönlich ausgesucht wurde, ein konstruktiver Kraftakt verbirgt, sieht man dem SZDLC erst auf den zweiten Blick an. Das gesamte Haus ist stützenfrei, nirgendwo klafft auch nur ein langweiliger rechter Winkel, die Innenräume winden sich in sanften Kurven dramatisch ums Eck, es ist, als würde man eine liegende Skulptur durchwandern. Dass man nach ein paar Metern bereits die Orientierung verloren hat, ist selbstredend. Insgesamt wurden hier mehr als 75.000 Tonnen Beton verbaut.

Zu verdanken ist die organisch wirkende Konstruktion der intensiven Zusammenarbeit mit den Bauingenieuren. „Die genaue Planung des SZDLC erfolgte anhand dreidimensionaler Computermodelle, die wir so lange variiert und adaptiert haben, bis es gepasst hat“, erklärt Arne Hofmann, Projektleiter bei Bollinger+Grohmann Ingenieure. Rigid Finite Element Modelling (RFEM) und Evolutionary Structural Optimization (ESO) nennt sich das Ganze. „Anders hätten wir die komplexe Geometrie niemals bewältigen können, denn mit klassischem Ingenieursverstand kommt man bei so einem Projekt nicht weit.“

Nicht von ungefähr erinnern die steinernen Schuppen und die Öffnungen in den Wänden und Decken an ein Schlangentier. Tatsächlich stand die Natur Pate: „Man muss sich die Betonkonstruktion wie ein schlauchförmiges Netz vorstellen“, sagt Hofmann. „Die Linien in der Fassade und die Fensteröffnungen folgen haargenau den Kräftelinien. Einen Blick ins Freie hat man nur dort, wo es uns das algorithmische Modell erlaubt hat.“ Die Maßtoleranz im gesamten Gebäude beträgt fünf Millimeter. Alles andere würde die Statik nicht verzeihen.

55 Millionen US-Dollar (40 Millionen Euro) ließ sich der Scheich sein neues und überaus fotogenes Wüstenzentrum kosten, das aufgrund der noch nicht fertiggestellten Ausstellung nach wie vor Baustelle ist. Fragt sich nur: Wozu der ganze Aufwand? „Bauen in den VAE wird nicht als kultureller Beitrag und auch nicht als wertvolle geistige Ressource betrachtet, sondern als Werkzeug für die Verwirklichung finanzieller Interessen“, meint Talik Chalabi. „Viele Projekte werden in erster Linie als Prestige- und Marketing-Tool genutzt. Das war's.“ Doch wo Geld fließt, vermag man zwischen den Zeilen zu lesen, könne man die Chance nutzen, um die Weiterentwicklung von Architektur voranzutreiben. Talik: „Wenn wir schon die Möglichkeit haben, mitten in der Wüste ein solches Ding zu errichten, dann erhebe ich auch den Anspruch, daraus etwas lernen zu können.“

Die Mission scheint gelungen: Das Sheiks Zayed Desert Learning Center in Al Ain ist - neben all seinen anderen Talenten - ein nahezu autarkes Gebäude, das dank Solarthermie, Erdkühlung und Photovoltaik fast 95 Prozent der benötigten Primärenergie im Haus produziert. Es ist das erste Bauwerk im arabischen Raum, das mit der Green-Building-Bestwertung „Estidama 5 Pearls“ zertifiziert wurde.

Der Standard, Sa., 2014.03.01

08. Februar 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Traumjob Schlossgespenst

Das Astley Castle im britischen Warwickshire ist eine Zeitreise in die Gotik und Renaissance. Die ungewöhnliche Restaurierung beweist: Denkmalschutz ist eine kreative Sache.

Das Astley Castle im britischen Warwickshire ist eine Zeitreise in die Gotik und Renaissance. Die ungewöhnliche Restaurierung beweist: Denkmalschutz ist eine kreative Sache.

Eigentlich hätte man mit der Kutsche vorfahren müssen oder zumindest mit einem alten Bentley, vorbei am gotischen Kirchlein, am verfallenen Friedhof mit seinen windschiefen, kaum noch lesbaren Grabsteinen, am saftig grünen Pferdegestüt mit seinen dutzenden in die Landschaft drapierten Gäulen, um dann stilgerecht über den mit Brennesselstauden zugewachsenen Burggraben zu rollen und sich schließlich in einer urbritischen Bilderbuchkulisse wiederzufinden, neben der sogar Rosamunde Pilchers wildromantische Literaturergüsse blass erscheinen würden.

„Kommen Sie! Wir haben Sie schon erwartet“, sagt Mary Strainger, Wischmopp in der Hand, den Staubsauger hinter sich herziehend. „Kommen Sie! Wir haben nicht viel Zeit. Eine Stunde, dann muss ich Sie leider wieder verabschieden. Um 14 Uhr kommen bereits die nächsten Gäste.“ Gemeinsam mit ihren beiden Kolleginnen Sharon und Lynn pflegt sie das im 13. Jahrhundert errichtete Haus, das sie als den schönsten Arbeitsplatz ihres Lebens bezeichnet.

Das Astley Castle in Warwickshire bei Birmingham, eine halbe Autostunde von Shakespeares Geburtsort Stratford-upon-Avon entfernt, ist eine Zeitreise in die frühe Gotik und Renaissance. Der Burggraben und einige Teile des Schlosses datieren bis 1266 zurück. Die Erosion an den Steinen lässt am Datum keinerlei Zweifel aufkommen. Der Großteil der Bausubstanz jedoch stammt aus den Jahren rund um 1555.

Einst wohnten hier Edward IV, Henry VII, Queen Elizabeth of York und Lady Jane Grey. Nach vielen Eigentümerwechseln und einer wechselhaften Chronik wurde das malerische Anwesen in den 1960er-Jahren in ein Hotel samt Pub umgebaut. Viele Einwohner von Astley erinnern sich noch an das eine oder andere Pint of Beer, das sie hier damals zu sich nahmen. Am 3. April 1978 wurde das Schlosshotel durch einen Brand komplett zerstört.

„Darf ich Sie bitten, kurz Ihre Füße zu heben? Many thanks.“ Mary hat nun das letzte Zimmer in Angriff genommen. „Als Kinder haben wir hier gespielt. Das war eine richtige Ruine. Zum Klettern und Verstecken einfach wunderbar. Ich hätte mir niemals gedacht, dass man hier eines Tages wieder wird aufräumen und putzen müssen. Sehen Sie, so kann man sich täuschen.“

Die Kehrtwendung in der jüngeren Geschichte des Astley Castle ist der britischen NGO The Landmark Trust zu verdanken. Schon seit vielen Jahren hat die 1965 gegründete Wohltätigkeitsorganisation, die in Großbritannien rund 200 historische Bauten und Monumente betreut, ein Auge auf Astley geworfen. Allein, es mangelte an den finanziellen Mitteln. „Das Schloss war dabei auseinanderzufallen“, erinnert sich Projektkoordinator Alastair Dick-Cleland. „Der Zustand war erbärmlich. Nicht mehr als ein Steinhaufen, der längst schon von der Natur zurückerobert wurde.“

Lesestoff in jeder Mörtelfuge

2005, zum 40. Jubiläum der Organisation, war es dann so weit. The Landmark Trust schrieb einen Wettbewerb aus und lud zwölf Architekten aus ganz Großbritannien ein, Ideen für eine Restaurierung und mögliche Nachnutzung dieses geschichtsträchtigen Orts einzubringen. Der erste Preis - die Juryentscheidung war einstimmig und ohne Debatte - ging an das Londoner Büro Witherford Watson Mann Architects (WWM), das dem längst zerfressenen Zahn der Zeit eine Art Ziegelplombe einsetzte. Die Funktion: Nobelherberge mit vier Schlafzimmern und einem Salon im ersten Stock.

„Sharon, hast du schon die Betten in Zimmer drei gemacht? Noch 45 Minuten. Das wird knapp.“ Obwohl die tages- und wochenweise anmietbare Luxusresidenz nicht den geringsten Wunsch offenlässt, ist die jahrhundertealte Geschichte, so scheint es, in jeder Mörtelfuge ablesbar. Nirgendwo ist diese Lektüre der vielen Jahrhunderte spannender als auf der Terrasse im Parterre. Da, wo einst auf zwei Ebenen herrschaftlich gewohnt und genächtigt wurde, befindet sich heute ein riesiger, dramatisch inszenierter Luftraum, der von steinernen Zeitzeugen gerahmt wird. In einigen Metern Höhe hängen die Überreste des alten Kamins im Nichts. Fast wähnt man sich in der Gesellschaft von Lady Jane Grey. Schlossgespenst müsste man sein.

Von einigen Blickwinkeln im Park ist kaum zu sehen, dass an der seit 1978 vor sich hin dösenden Ruine irgendein Stein verändert wurde. Da ragen flammenverkohlte Türstöcke und moosbewachsene, filigrane, gotische Sandsteinbögen in den Himmel. Von anderen Standpunkten wiederum erscheint das in jahrelanger Arbeit revitalisierte Astley Castle als behutsame Collage aus rotem Stein, altem Backstein und neuen, handgefertigten Ziegelsteinen aus der Region. Vergangenheit und Gegenwart kommen hier gleichermaßen zu ihrem Recht.

„Wir haben ziemlich lange nach dem passenden Baustoff gesucht“, erklärt Freddie Phillipson, Projektleiter bei WWM. „Erstens haben wir auf das Farbspektrum geachtet, zweitens wollten wir bei den Anschlüssen an das Mauerwerk so wenig Mörtel wie möglich verwenden.“ Für jede Wandfläche wurde ein eigenes Fugenbild entworfen. Die Linien zwischen den Epochen sind perfekt.

Auch das Spiel mit den Baustoffen beweist, dass hier zwar tollkühne, letztendlich aber sensibel agierende Architekten am Werk waren. Mal wird der Stein mit gebleichtem Lärchenholz und patiniertem Messing kombiniert, mal prangt eine schwere Renaissance-Kommode im Eck, mal steht eine Designerleuchte von der letzten Mailänder Möbelmesse unprätentiös im Raum herum.

„800 Jahre unter einem Dach“

„Die ungewöhnliche Sanierung des Schlosses ist ein Impuls“, erklärt Phillipson. „Wir wollten wissen, ob es uns gelingt, knapp 800 Jahre Geschichte in einem einzigen Projekt zu vereinen. Ich denke, das Experiment ist geglückt.“ Das beweisen allein schon die vielen Preise, die über dem Revitalisierungsprojekt hereingebrochen sind. Im Herbst 2013 wurde das Astley Castle mit dem renommierten RIBA Sterling Prize ausgezeichnet. Und nun ist das Projekt für den internationalen Wienerberger Brick Award 2014 nominiert.

Die Baukosten belaufen sich auf 2,5 Millionen Pfund (drei Millionen Euro). Der Großteil davon stammt aus dem Heritage Lottery Fund und von English Heritage. Hinzu kamen private Spenden. Vom mühsamen Bauprozess, der viele technische Tricks erforderte und an dem sogar Freiwillige aus der Grafschaft Warwickshire mitgewirkt haben, ist heute nichts mehr zu spüren. Fußbodenheizung, feines Tuch und ein Hauch royalen Flairs prägen die Gemächer.

„Lynn! Sharon!“, hallt es durch den Salon. „Nur noch die Blumen, dann sind wir fertig!“ 14 Uhr. In wenigen Minuten werden die Gäste anreisen. Man hört bereits das Knirschen des Schotters. Der Wagen biegt ums Eck. Kein Bentley.

Astley Castle, Astley, Nuneaton. Ein Wochenende ab ca. 1130 Pfund (ca. 1360 Euro). Interessenten werden sich jedoch gedulden müssen. Bis Jänner 2016 ist das Haus komplett ausgebucht.

Der Standard, Sa., 2014.02.08

11. Januar 2014Wojciech Czaja
Der Standard

Im Wartezimmer Vater Staats

Kommende Woche geht das Schubhaftzentrum Vordernberg in Betrieb. Das politisch umstrittene Projekt will vor allem eines: die Wartezeit mit Würde gestalten.

Kommende Woche geht das Schubhaftzentrum Vordernberg in Betrieb. Das politisch umstrittene Projekt will vor allem eines: die Wartezeit mit Würde gestalten.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Der Standard“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen


verknüpfte Bauwerke
Schubhaftzentrum Vordernberg

10. Dezember 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Botschafter auf dem Holzweg

Dem Vorarlberger Architekten Bernardo Bader geht es um den Fortbestand von Lokalkolorit und Bautradition. Kürzlich wurde er in Lissabon mit dem renommierten Aga-Khan-Preis 2013 ausgezeichnet

Dem Vorarlberger Architekten Bernardo Bader geht es um den Fortbestand von Lokalkolorit und Bautradition. Kürzlich wurde er in Lissabon mit dem renommierten Aga-Khan-Preis 2013 ausgezeichnet

Dornbirn - „Eigentlich wusste ich nie, was ich studieren soll“, meint der 39-jährige Vorarlberger Bernardo Bader, der, bevor er sich der Architektur zuwandte, eigentlich Jurist werden wollte. Von der frühen Skepsis ist heute nichts mehr zu spüren. Ganz im Gegenteil: Vor zwei Monaten wurde der Hobbymusiker, der sich in seiner Freizeit liebend gerne mit Gitarre, Folk-und Country-Songs zurückzieht, für den von ihm geplanten islamischen Friedhof in Altach mit dem renommierten Aga Khan Award 2013 ausgezeichnet.

„Ich werde ständig gefragt, was ich mit meinem Preisgeld machen werde“, sagt Bader. „Ich werde es investieren, um meine Vision weiterhin zu propagieren.“ Und diese lautet: Fortsetzung von Vorarlberger und vor allem Bregenzerwälder Bautradition und Lokalkolorit auf der Höhe der Zeit. „Schon seit den Vorarlberger Baukünstlern ist die Bauqualität im Ländle extrem hoch. Dieses Potenzial darf man einfach nicht verspielen.“

In die Kistenecke gestellt

Laut und auffällig sind die von Bader geplanten Häuser nur selten. Meist handelt es sich um stille, behutsam in die Landschaft komponierte Archetypen. „Von den Innerösterreichern (sic!) wird man als Vorarlberger immer nur in die Holz- und Kistenecke gestellt“, sagt Bader. „Aber das ist mir ziemlich wurscht. Die laute, schreierische, skulpturale Lösung ist halt nicht immer die beste.“

Zu den bisherigen Projekten des Realisten („Viele träumen davon, Museen, Kirchen und irgendwas auf dem Mond zu bauen, aber ich will einfach nur schöne Projekte realisieren.“) zählen Einfamilienhäuser, Cafés, Restaurants, Gewerbebauten, Schauräume, Schulbauten und Kindergärten. Die meisten Gebäude sind aus Holz, wobei Bader darauf achtet, das Material aus der Region zu beziehen und die Wertschöpfungskette bei klein- und mittelständischen Betrieben zu lassen.

Holz aus eigenem Besitz

Bei einem seiner letzten Projekte überzeugte Bader die Gemeinde Bludenz, den zweitgrößten Waldbesitzer Vorarlbergs, den Gemeindekindergarten mit Material aus dem eigenen Forstbestand zu errichten (siehe Foto links). „Das gesamte Holz für dieses Projekt stammt aus eigenem Besitz. Das war zwar ein organisatorischer Mehraufwand, aber unterm Strich war das Projekt keinen Cent teurer.“

Erstmals wagt sich Bader, der sonst nur in der Bodenseeregion tätig ist, über den Alpenraum hinaus. Gemeinsam mit Sven Matt plant er in Zagreb derzeit den Neubau der österreichischen Botschaft. Das Projekt, Resultat eines Wettbewerbs, ist auch in ganz anderer Hinsicht eine Botschaft - und zwar für nachhaltiges, unaufgeregtes Bauen in Holzbauweise und Passivhausstandard. Sämtliche Bauteile werden vorgefertigt und sollen vor Ort nur noch zusammengesteckt werden.

Gegen „langweilige Investorenarchitektur“

Für eines allerdings wird Bader niemals zu gewinnen sein: „Langweilige Investorenarchitektur, bei der es darum geht, billigen Wohnraum als Wertanlage zu schaffen ... Ich finde das entsetzlich. Zum Glück kann ich es mir leisten, die Finger davon zu lassen.“

Der Standard, Di., 2013.12.10



verknüpfte Akteure
bernardo bader architekten

23. November 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Mit menschlicher Wärme

Das von baumschlager eberle geplante Bürohaus in Lustenau ist nicht nur etwas fürs Auge: Das Low-Tech-Haus kommt ohne Heizung aus.

Das von baumschlager eberle geplante Bürohaus in Lustenau ist nicht nur etwas fürs Auge: Das Low-Tech-Haus kommt ohne Heizung aus.

Der matt polierte Türgriff aus Messing liegt satt in der Hand. Im Foyer hängt, mit der Eleganz eines Bentley-Interieurs, sandfarbener Filz mit händisch abgenähten Lederapplikationen von der Decke. Dahinter bereits entfalten sich weiße, luftige, von Grandezza durchströmte Räume mit Kunstwerken von David Reed und James Turrell. Und hinten, jenseits der Glastür schließlich blitzt, als würde man den brandneuen Designhotel- Guide durchblättern, eine fesche Cafeteria mit neonbunten Ingo-Maurer-Lampen und cognacfarbenem Ledergestühl hervor.

Bin ich denn hier richtig? Auf der Suche nach dem Architekturbüro baumschlager eberle? Adresse: Lustenauer Gewerbegebiet, Millennium Park 20? Und tatsächlich: Noch bevor der aufkommende Zweifel Raum greifen kann, marschieren, ja gleichsam schweben, schwarz gekleidet vom Scheitel bis zur Sohle, schlanke, junge, von einem künstlerischen Impetus getriebene Gestalten über den hellen Boden und bestätigen die eingangs noch wenig verfestigte Vermutung.

Doch die visuelle Wucht - schließlich sind wir hier in Vorarlberg, und von den Vorarlbergern ist man ja schon einiges gewohnt - ist nicht mehr als eine angenehme Begleiterscheinung. Der eigentliche Trumpf dieses nicht unhübschen Bürogebäudes nämlich ist nicht die Optik, sondern die Technik. Um nicht zu sagen: die nicht vorhandene Technik. Denn das Haus 2226 - der Name bezieht sich auf die weltweit akzeptierte, in diesen Räumen ganzjährig vorherrschende Wohlfühltemperatur von 22 bis 26 Grad Celsius - kommt gänzlich ohne Haustechnik aus. Ohne Lüftung. Ohne Kühlung. Ohne Heizung.

„Glauben Sie mir, Sie sind nicht der Erste, der so verdutzt schaut“, sagt Dietmar Eberle, Geschäftsführer von baumschlager eberle und Mastermind dieses revolutionären Projekts, der wie ein alteingesessener Galerist durch die erlauchten Räumlichkeiten wandelt und mit der lodernden Zigarette, mal hier, mal da, auf ein paar präzise gearbeitete architektonische Details hinweist: Flächenbündigkeit, Sesselleistenlosigkeit, zahnstocherdünne, aus massivem Stahl gezogene Stiegengeländer und was man von einem zeitgenössischen Gebäude heutzutage sonst noch alles zu erwarten hat.

Der Computer als Heizkörper

„Aber genau so ist es! Das gesamte Haus kommt 365 Tage im Jahr ohne eigene Wärmequelle aus, denn die Temperierung findet einzig und allein über jene energetischen Quellen statt, die bereits im Raum vorhanden sind.“ Große Augen, zum Bersten angespannte Stille, und nach wenigen Sekunden dann die lapidar daherkommende Erklärung: „Menschen, Licht, Computer. Mehr brauchen wir nicht. Das reicht.“

Das gesamte Haus ist so konzipiert, dass möglichst wenig Wärme durch die Wände diffundiert und dass möglichst viel Energie in der speicherfähigen Masse gebunden werden kann. 78 Prozent dieser energiespeichernden Mission übernehmen die massiven Böden und Decken aus Stahlbeton, die restlichen 22 Prozent obliegen den 80 Zentimeter dicken Außenwänden aus handelsüblichen, doppelschalig verlegten und in fast jedem österreichischen Einfamilienhaus vorzufindenden Wienerberger-Hochlochziegel. Wärmedämmung gibt es nicht. Aufgrund des hohen Luftkammeranteils des Ziegels konnte auf Mineralwolle und aufgeschäumte Erdölderivate verzichtet werden. Der in Vorarlberg hergestellte und zumeist bei Sanierungen verwendete gelöschte Kalkputz an der Wand ist außerdem in der Lage, Feuchtigkeit und Kohlendioxid zu binden.

In den Innenräumen des sechsgeschoßigen Vorzeige-Passivhauses regiert technische Askese. Man begnügt sich mit der Abwärme der Mitarbeiter, der Computer sowie der Abstrahlwärme von Leuchtstoff, Halogen und LED. Zudem sorgen die hier arbeitenden Architekten aufgrund ihrer Atemtätigkeit für die nötige Luftfeuchtigkeit. Mittels Sensoren wird in jedem Raum die aktuelle Luftqualität gemessen. Auf iPod-ähnlichen Displays in der Wand sind Lufttemperatur, Feuchtigkeit und CO2-Gehalt ersichtlich. Auch die Tages-, Wochen-, Monats- und Jahresentwicklung der niemals 22 Grad unter- und 26 Grad überschreitenden Temperaturkurve kann man hier ablesen.

Sobald sich die Faktoren bestimmten Grenzwerten annähern, sorgt die eigens für dieses Haus entwickelte Software dafür, dass mit den hier vorhandenen Potenzialen gegengesteuert wird. Dann gehen je nach Tages- und Jahreszeit die schmalen Fensterflügel auf und zu, dann schaltet sich das Licht ein und aus, dann kann es schon einmal passieren, dass sich an einem verlängerten Wochenende, wenn niemand im Haus und der Winter draußen klirrend kalt ist, für ein paar Stunden der Computer der Sekretärin einschaltet, um etwas warme Ventilatorenluft in den Raum zu hauchen.

Stupid Building mit Hirn

„Das Wichtigste ist, dass man die Komfortzone von 22 bis 26 Grad Celsius niemals verlässt“, sagt der Architekt. „Das Haus ist träge, kann viel Energie binden und reagiert entsprechend langsam und zeitverzögert auf äußere Umwelteinflüsse. Mit einem dünnen Pappendeckelhaus wäre das alles hier niemals machbar.“ Doch so, Eberle dirigiert sich mit seinem glimmernden Tabakstaberl durch den Raum, sei es tatsächlich möglich, auf all das zu verzichten, was in unseren Breitengraden stets unverzichtbar schien.

„Wissen Sie, ich habe in meinem Leben schon so viele Passivhäuser gebaut, und meine Erkenntnis nach mehr als 30 Jahren in diesem Beruf ist: Das ist alles sinnlos. Denn einerseits verbraucht man zwar weniger Energie, andererseits aber buttert man so viel Geld in die anfällige und regelmäßig zu wartende Haustechnik-Hardware, dass man unterm Strich keinen einzigen Cent eingespart hat. Mein Credo lautet daher: Back to the roots! Ich will keine Smart Houses und keine Smart Cities. Ich will einfach nur Stupid Buildings, die funktionieren.“

Und billig ist diese der vermeintlichen Dummheit innewohnende Architekturrevolution obendrein: Das Bürohaus 2226 kostete in der Errichtung rund 1000 Euro pro Quadratmeter - weitaus weniger als jeder soziale Wohnbau von der Stange. Und was die laufenden Stromkosten betrifft, so gönnt sich Hausherr Dietmar Eberle einen letzten entspannenden Zug von seiner Zigarette: „Das Teuerste an diesem Haus sind mittlerweile die Honorarkosten derer, die die Betriebskosten verwalten.“

Mit dem Bürohaus 2226 treten baumschlager eberle den Beweis an, dass die bevorstehende Energiewende mit den Mitteln heutiger Architektur durchaus zu meistern ist. Möge das preisverdächtige Projekt Nachahmer finden.

Der Standard, Sa., 2013.11.23



verknüpfte Bauwerke
Bürohaus 2226

12. November 2013Wojciech Czaja
Der Standard

„Die Scheu vor Architektur nehmen“

Mit ihrer neu gegründeten Plattform „Best (un)built“ will die Wiener Architektin Lena Schacherer vor allem Baumeister- und Fertighaus-Kunden ansprechen, erklärt sie im Gespräch mit Wojciech Czaja.

Mit ihrer neu gegründeten Plattform „Best (un)built“ will die Wiener Architektin Lena Schacherer vor allem Baumeister- und Fertighaus-Kunden ansprechen, erklärt sie im Gespräch mit Wojciech Czaja.

STANDARD: Wie kam es zu der Idee?

Schacherer: Viele Architekten planen Häuser, die niemals realisiert werden. Vor zwei Jahren habe ich mir dann gedacht: Ich halt's nicht mehr aus, so viel Zeit und Energie zu investieren, damit das Projekt, an dem man Monate oder Jahre gearbeitet hat, am Ende in der Schublade landet. So ist die Idee entstanden, eine Plattform zu gründen, auf der die besten unrealisierten Einfamilienhausprojekte zum Verkauf angeboten werden.

STANDARD: Wer ist das Zielpublikum?

Schacherer: In erster Linie sprechen wir jene Bauherren an, die kein Fertighaus wollen, mangels Alternativen oder mangels Durchblicks in der Branche dann aber beim Baumeister landen. Best (un)built soll Menschen die Scheu vor der Architektur nehmen.

STANDARD: Wie sieht das Prozedere aus?

Schacherer: Auf der Homepage bekommt man einen groben Überblick über die unterschiedlichen Projekte. Sobald man sich registriert und Mitgliedschaft beantragt hat, bekommt man zu jedem einzelnen Projekt genaue Beschreibungen, technische Detailinformationen, Grundrisse, Schnitte und eine Grobkostenschätzung.

STANDARD: Und dann?

Schacherer: Letztendlich hat der Kunde die Möglichkeit, den fixfertigen Einreichplan zu kaufen, wobei die Kosten je nach Projekt zwischen 3000 und 7000 Euro liegen. Natürlich ist so ein Einreichplan nicht eins zu eins auf das jeweilige Grundstück anwendbar, aber wir bieten auch technische Beratung und Serviceleistungen an beziehungsweise empfehlen unsere Kunden dann an Architekten und Konsulenten weiter.

STANDARD: Wie schaut es mit dem Copyright aus?

Schacherer: Wichtig: Das Urheberrecht bleibt bei den Architekten. Sie übergeben die Werknutzungsrechte an Best (un)built, wobei die Bezahlung wie in einem Galeriesystem abgewickelt wird.

STANDARD: Das heißt?

Schacherer: Der Architekt bekommt pro verkauften Plan einen bestimmten Prozentsatz.

STANDARD: Wie viele Projekte gibt es bisher in Ihrem Webshop?

Schacherer: Wir haben vor zwei Wochen gestartet. Derzeit haben wir 13 Projekte. Bis Jahresende sollen es 50 sein, wobei Architekten aus ganz Europa, unter anderem aus den Nachbarländern Deutschland, Ungarn, Tschechien und der Slowakei teilnehmen werden, aber auch aus Großbritannien und Frankreich. (DER STANDARD, 9.11.2013)

Lena Schacherer (38) studierte Architektur in Wien, Graz, Berlin und Paris. Seit 2011 arbeitet sie an Best (un)built.

Der Standard, Di., 2013.11.12

12. November 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Phönix aus der Schublade

Jahr für Jahr landen in Österreich tausende Einfamilienhausentwürfe im Archiv. Eine neue Initiative will die besonders schönen Archivleichen nun an den Bauherrn und die Baufrau bringen

Jahr für Jahr landen in Österreich tausende Einfamilienhausentwürfe im Archiv. Eine neue Initiative will die besonders schönen Archivleichen nun an den Bauherrn und die Baufrau bringen

Laut Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten gibt es in Österreich derzeit rund 3000 registrierte, aktiv im Berufsleben stehende Architekten. Und jedem einzelnen davon, erklärt Bundeskammerpräsident Georg Pendl, passiere es zumindest einmal pro Jahr, dass ein fixfertig geplantes Projekt nicht zur Ausführung gelangt, sondern stattdessen in der Schublade landet. Die Gründe sind vielfältig und reichen von unrealisierten Wettbewerbsbeiträgen bis hin zur Scheidung der Bauherrenschaft.

Unbezahlte Arbeit

„Allein in offene Wettbewerbe werden in Österreich Jahr für Jahr mehr als 73 Millionen Euro an Arbeitsleistung hineingebuttert“, sagt Pendl. „Und ich würde davon ausgehen, dass die Verschwendung, die aus der Menge niemals gebauter Einfamilienhäuser resultiert, ähnlich groß ist - wenn nicht sogar größer.“ Genaue Zahlen dazu seien nicht in Erfahrung zu bringen.

Seit rund zwei Wochen ist ein Projekt online, das sich genau diesen Schubladenleichen widmet. Unter der Domain best-un-built.com findet man eine Art Shopping-Plattform für potenzielle Bauherren, die zwar an Architektur interessiert sind, denen der Weg ins Architekturbüro letztendlich aber zu stressig oder zu angstbehaftet erscheint. Deren gibt es viele. Und nicht wenige davon landen am Ende beim Baumeister oder Fertighausproduzenten.

„Die Einfamilienhausentwürfe, die in den Archiven schlummern, sind zum Teil von sehr hoher Qualität“, sagt Lena Schacherer, Projektinitiatorin und Inhaberin der Plattform. „Es wäre schade, diese Projekte nicht wiederzubeleben.“ Vor allem Menschen mit geringerem Budget hätten so die Möglichkeit, an ausgefallene Projekte zu gelangen.

Strenges Urheberrecht

Zwischen 3000 und 7000 Euro kostet eine abgeschlossene Einreichplanung, wobei das Projekt je nach Bundesland, Grundstück und geltenden Bebauungsbestimmungen adaptiert werden muss. Best (un)built stellt Kontakte zu Architekten, Baumeistern, Statikern, Haustechnikplanern und Innenraumgestaltern her. Der Verkauf der Pläne ist in erster Linie ein juristischer Akt, denn die Urheber- und Wertnutzungsrechte sind hierzulande sehr streng.

Zu den teilnehmenden Büros, die ihre Archivleichen auf Best (un)built anbieten, zählen etwa Söhne & Partner sowie die Klosterneuburger Architektin Andrea Bódvay. „Natürlich müssen die Projekte an neue Rahmenbedingungen angepasst werden, aber darin sehe ich kein Problem“, sagt Bódvay auf Anfrage des STANDARD. Und Guido Trampitsch, Söhne & Partner, meint: „Es kann passieren, dass ein Projekt verfremdet und so ausgeführt wird, dass es unseren Vorstellungen nicht entspricht. Aber diese Gefahr besteht eigentlich bei jedem Projekt.“

Kritik an „Dumping-Preisen“

Nicht alle sind von Best (un)built begeistert. „Da werden Einfamilienhaus-Projekte zum Dumping-Preis auf den Markt gebracht“, meint Günter Katherl vom Wiener Architekturbüro Caramel. „Ich fürchte, dass mit dieser Plattform ein Ausverkauf der Architektur einhergeht. Seit Jahren schon setzen wir uns dafür ein, dass unsere Arbeit einen gewissen Wert hat. Und nun sollen die Projekte um einen Bruchteil ihres Werts verkauft werden. Da bin ich vorerst noch skeptisch.“

Der Standard, Di., 2013.11.12

10. November 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn die Architektur zum Nebenschauplatz wird

Die Salzburger Architekten Maria Flöckner und Hermann Schnöll erachten ihre wenigen, aber dafür umso beeindruckenderen und medial viel zitierten Wohnhäuser als Teil der Landschaft

Die Salzburger Architekten Maria Flöckner und Hermann Schnöll erachten ihre wenigen, aber dafür umso beeindruckenderen und medial viel zitierten Wohnhäuser als Teil der Landschaft

„Bitte noch ein Porträtfoto von Ihnen beiden!“ Und dann, Stunden später, kam eine wunderbar poetische Landschaftsaufnahme, auf der Maria Flöckner und Hermann Schnöll gerade einen Drachen in den Himmel aufsteigen lassen. Das Flugobjekt war zwar wunderschön, von den beiden Architekten jedoch, um die es hier geht, war nicht mehr zu sehen als ein dynamisches, von Bewegungsunschärfe gezeichnetes Gesichtspaar mit einigen Pixeln Größe.

Und schon ist über das Salzburger Büro Flöckner Schnöll das Wichtigste gesagt: Im Mittelpunkt steht weder der Architekt, noch das von ihm geplante Bauwerk, sondern einzig und allein die Schönheit der Landschaft. „Ein Haus ist immer auch Teil des Ortes, an dem es steht“, sagen die beiden, die sich vor vielen Jahren auf einem Symposium kennengelernt hatten. „Für uns ist Architektur nicht ein künstlicher Gegenpol zu Natur wie für viele andere, sondern ein räumliches Element, das uns ermöglicht, diese oft famosen Landschaftsblicke einzufangen, einzurahmen und zu genießen.“

Rundum verglast

Entsprechend zelebriert wird die atmosphärische Verbindung zwischen innen und außen. Beim 2007 fertiggestellten Wohnhaus 47°40'48"n / 13°8'12"e in Adnet – der Name ergibt sich aus den Geo-Koordinaten des Bauplatzes – wohnt man in einem rundum verglasten Raumgefüge zwischen zwei Stahlbetondeckeln. Man ist sozusagen der transparente Burger zwischen zwei betonierten Bun-Hälften. Um des Panoramaglücks nicht überdrüssig zu werden, befindet sich an der Außenkante des Hauses ein schwarzer Vorhang, den man je nach Belieben hin- und herschieben kann, um den Ausblick in die Landschaft mal schwächer, mal stärker zu filtern. Geblickt werden kann übrigens auch nach innen: Hinter einer riesigen, raumhohen Glaswand befindet sich die Garage.
Und in ihr ein knallgelber Porsche.

Auch beim Haus T in Hallwang, dessen Name sich aus der T-förmigen Mittelmauer ergibt, die das Haus auf der gesamten Länge in zwei Hälften schneidet, spielt Natur eine wichtige Rolle. Vor allem im Winter, wenn das Grün unter einer weißen, reflektierenden Decke verschwunden ist, scheinen Innen- und Außenraum nahtlos ineinander zu fließen. Um von diesem Genuss ja nicht abzulenken, wurden die Oberflächen im Low-Budget-Haus bewusst roh gehalten: Der Beton trägt Schönheitsflecken und Gussspuren, die Möbel sind aus handelsüblichen OSB-Platten gefertigt.

„Immer wieder Neues entdecken“

Warum das alles so ist wie es ist? „Es ist schwierig, sich selbst zu beschreiben“, sagen Maria Flöckner und Hermann Schnöll nach einer schweigsamen Minute. „Das müssen die anderen entscheiden. Was wir allerdings sagen können: Mit jeder neuen Bauaufgabe können wir unserem Beruf unvoreingenommen begegnen und immer wieder Neues entdecken. Dieses impulshafte Arbeiten in und mit der Landschaft hat für uns fast etwas Kindliches.“

Der Standard, So., 2013.11.10



verknüpfte Akteure
maria flöckner und hermann schnöll

05. November 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Höher hinauf zu den Wolken

Der Wiener Architekt Wolf D. Prix, Planer des neuen Wahrzeichens der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, erhielt den Hessischen Kulturpreis 2013. Das Viertel rund um den EZB-Tower, als „neue Ikone“ beworben, wird jedoch zum Hochsicherheitsareal.

Der Wiener Architekt Wolf D. Prix, Planer des neuen Wahrzeichens der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, erhielt den Hessischen Kulturpreis 2013. Das Viertel rund um den EZB-Tower, als „neue Ikone“ beworben, wird jedoch zum Hochsicherheitsareal.

Staub und Lärm und pfeifender Novemberwind: Im 42. Stock, mit direktem Blick auf das Frankfurter Finanzviertel, wird eifrig gearbeitet. Da, wo später einmal der Vorstandskonferenzsaal der Europäischen Zentralbank sein wird, konnte DER STANDARD im Rahmen einer Baustellenführung einen Blick hinter die fast schon gänzlich geschlossenen Fassaden des neuen EZB-Towers werfen. Der Rohbau ist abgeschlossen, im Dezember sollen die Kräne und Bauaufzüge abmontiert werden, die Fertigstellung des 1,2 Milliarden Euro teuren Doppelturms der Europäischen Zentralbank ist für Ende 2014 angepeilt.

Grund genug zum Feiern dachte sich das Land Hessen: Am vergangenen Freitag überreichte man dem Wiener Architekten Wolf Prix, Chefarchitekt von Coop Himmelb(l)au, in Frankfurt den Hessischen Kulturpreis 2013. Prix, Sieger eines internationalen Wettbewerbs, arbeitet seit nunmehr zehn Jahren an diesem mit Abstand höchsten Gebäude seiner Karriere. Und schon jetzt wird das neue EZB-Headquarter, das auf dem Areal der historischen, denkmalgeschützten Großmarkthalle entsteht, als „Frankfurts neue Ikone“ und „Symbol einer polyzentrischen Stadt“ beworben.

„Prix hat es verstanden, die Werte der EZB in diesem Entwurf widerzuspiegeln und in seine spezifische architektonische Sprache umzusetzen“, erklärte EZB-Generaldirektor-Stellvertreter Werner Studener. Eine Vision habe Gestalt angenommen. Und der kalifornische Architekt Thom Mayne würdigte in seiner Laudatio die dynamische, innovative und stets Grenzen durchbrechende Architektur des Wiener Büros. „Man muss wissen: Wolf Prix hasst Schwerkraft, und er liebt Wolken.“ An diesem Projekt manifestiere sich das besser als je zuvor.

Ob der 185 Meter hohe EZB-Tower mit seinen gekrümmten Glasfassaden eines Tages wirklich als Ikone wahrgenommen werden wird, sei dahingestellt. Spätestens mit Fertigstellung wird sich das gesamte Gelände rund um die Großmarkthalle in ein Hochsicherheitsareal für 1500 Mitarbeiter verwandeln, in dem die Zukunft der europäischen Wirtschaft unter Ausschuss der Öffentlichkeit entschieden wird. Für Ikonentum bleibt da kein Platz.

Projekt in Ostchina

Sehr wohl öffentlich ist hingegen das Internationale Konferenzzentrum in der ostchinesischen Hafenmetropole Dalian, das nach Plänen von Coop Himmelb(l)au letztes Jahr fertiggestellt wurde. Auf einer Gesamtfläche von 100.000 Quadratmetern vereint es Opernhaus, Theater, Museum, Ausstellungszentrum, diverse Konferenzsäle und eine 45 Meter hohe Eingangshalle, die so groß ist wie vier Fußballfelder zusammen. Die Wiener Galerie Ulysses widmet diesem Projekt derzeit eine Präsentation mit großflächigen Bildern, Film und Modell.

Der Standard, Di., 2013.11.05

02. November 2013Wojciech Czaja
Der Standard

's Drießg-Minuta-Hüsle

In Krumbach, Vorarlberg, wartet man nicht nur auf den Bus, sondern auch auf sieben neue Buswartehäuschen. Das Projekt wirft eine Frage auf: Ist das Kunst oder Architektur?

In Krumbach, Vorarlberg, wartet man nicht nur auf den Bus, sondern auch auf sieben neue Buswartehäuschen. Das Projekt wirft eine Frage auf: Ist das Kunst oder Architektur?

7.53 Uhr. Um eine Minute den Bus nach Bregenz verpasst. Hargozack no amol! In wenigen Monaten, so wollen es die Projektinitiatoren, wird diese Situation keine unangenehme mehr sein. Denn ab März werden in Krumbach im Bregenzerwald ein paar Architekturpreziosen in die Landschaft gestellt, die nicht nur die Bautypologie Buswartehäuschen revolutionieren, sondern auch dafür sorgen sollen, dass man die kommenden 29 Minuten, bis der nächste bienemajafarbene Landbus daherkommt, mit um sich blickendem und holistisch wahrnehmbarem Raumgenuss verbringen kann.

„Bus:Stop Krumbach“, so der offizielle Name, ist eine Privatinitiative der 977-Seelen-Gemeinde Krumbach, die mithilfe von Geld- und Sachspenden sieben slicke, in jeder Hinsicht hirnbegabte Buswartehäuschen-Entwürfe aus aller Welt in die Realität umsetzen will. Und das mitten auf dem Land, bisweilen sogar mitten im Nirgendwo. Ziel dieser Initiative ist es, den öffentlichen Verkehr, der in Vorarlberg traditionell eine außergewöhnliche, weil allseits beliebte Position einnimmt, noch stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken. Und zwar nicht nur im Landbusland, sondern überregional.

„Mit 30.000 Einwohnern ist der Bregenzerwald verhältnismäßig dünn besiedelt“, sagt der Krumbacher Bürgermeister Arnold Hirschbühl. „Und doch gelingt es, dass der Landbus in Stoßzeiten im Halbstundentakt die Gemeinden anfährt, in Randzeiten immerhin noch einmal pro Stunde. Das gibt es im ländlichen Raum sonst nirgendwo.“ 6,9 Millionen Fahrgäste nutzen den Bregenzerwälder Landbus pro Jahr, wie Daniela Kohler, Geschäftsführerin der Regionalentwicklung Bregenzerwald GmbH, mitteilt: „Die neuen Wartehäuschen, die wir im Frühjahr bekommen werden, sind nicht nur ein Marketing-Instrument für uns, sondern auch ein media- ler Impuls, das Privatauto ruhig auch einmal zu Hause stehen zu lassen.“

Noch 17 Minuten. Die treibende Kraft hinter dem Projekt ist Kurator Dietmar Steiner vom Architekturzentrum Wien. Gemeinsam mit dem Verein Kultur Krumbach, dem Vorarlberger Architekturinstitut (vai), dem Kunsthaus Bregenz und rund 150 sponsernden Unternehmen aus der Region machte er es möglich, sieben Architekten aus aller Welt einzuladen und ihnen einen Entwurf für ein Wartehüsle zu entlocken. Als Belohnung gab's eine Woche Ländle-Urlaub.

„Die Vorarlberger Baukünstler der dritten Generation sind bereits so verfeinert und fast schon dekadent in ihrer Perfektion, dass wir uns dachten, ein bissl Schmutz und Irritation von außen wird den millimetergenau denkenden und auf höchstem Niveau agierenden Architekten schon guttun“, sagt Steiner. Doch was dann kam, 14 Minuten, stellte sich als globalisierter Kulturschock heraus.

„Dieses Vorarlberg scheint international schon so eine einschüchternde Vorbildwirkung zu haben, dass sogar ein Alexander Brodsky aus Russland, der bisher nur Baumstämme mit Kabelbindern zusammenimprovisiert hat, plötzlich mit millimetergenau gezeichneten CAD-Plänen für einen zweigeschoßigen Warteturm dahergekommen ist“, so Steiner. Die anderen Entwürfe, die kürzlich im Kunsthaus Bregenz (siehe Foto) präsentiert wurden, sind um keinen Deut unpräziser.

Genießen, bis der Bus kommt

De Vylder Vinck Taillieu (dvvt) aus Gent entwarfen eine Skulptur aus dreieckigen, zusammengeschweißten Stahlplatten, Rintala und Eggertson (Bodø, Norwegen) schufen einen mit Lärchenschindeln verkleideten Hochsitz, in dem man nicht nur auf den Bus warten, sondern auch das benachbarte Tennisspiel verfolgen kann, das Madrider Ensamble Studio stapelte unbehandelte Eichenbretter zu einem räumlichen Etwas mit Sitzbank und Dach, Sou Fujimoto (Tokio) schuf eine acht Meter hohe, filigrane Stangenskulptur aus Holz und Stahl, die man auf wackeligen Stufen erklimmen kann und die laut Steiner „das wahrscheinlich schwierigste Projekt in der Umsetzung werden wird“, und Pritzkerpreisträger Wang Shu aus Hangzhou, China, entwarf eine überdimensionale Camera obscura, in der man wie in einem alten Linhof-Ziehharmonika-Fotoapparat Platz nehmen und in die Landschaft hinausschauen kann. Bis der Bus kommt. Sieben Minuten.

Der einzige Entwurf, der jetzt schon im Maßstab 1:1 existiert, ist das gläserne Wartehäuschen des chilenischen Architekten Smiljan Radic. Inspiriert von den kleinen, gemütlichen Bregenzerwälder Stuben, transferiert er eine ebensolche hinaus in die freie Natur. Freilich nicht ohne dem Objekt die eines Architekten würdige Verfremdung überzustülpen. Die Wände sind aus Glas, die Bregenzerwälder Kassettendecke ist in Beton gegossen, und etwas entrückt ist am großen Hüsle noch ein kleines für die Vögel montiert.

„Von Anfang an haben mich die Holzstuben hier fasziniert, und gleichzeitig finde ich es berührend, wie in Vorarlberg Privatheit und Öffentlichkeit Hand in Hand gehen“, sagt Radic im Gespräch mit dem STANDARD. „Aus diesem Grund wollte ich den ursprünglich intimen Privatraum in die Natur hinausstellen und für alle spürbar machen.“ Die handwerkliche Präzision ist rekordverdächtig, wohlgemerkt.

„Natürlich braucht man so ein Wartehäuschen nicht wirklich“, sagt Dietmar Steiner. „Ein einfacher Unterstand mit Fahrplan und Logo tut's auch. Doch dieses Projekt markiert einen Ort. Und es ist ein Symbol für öffentlichen Nahverkehr.“ Und genau das ist der vielleicht einzige Kritikpunkt. Denn als Vorzeigebeispiel für künftige Buswartehäuschen zwischen Bregenzerwald und Seewinkel eignet sich Bus:Stop Krumbach - über das Budget wird vorerst noch geschwiegen - nur bedingt. „Ohne Sponsoring wäre das gesamte Projekt unverantwortlich und unfinanzierbar“, meint Bürgermeister Hirschbühl.

8.22 Uhr. Noch eine Minute. Und so wird Bus:Stop Krumbach bei aller Genialität als das in die Geschichte eingehen, was es ist: nicht als Architektur, sondern als Kunst im öffentlichen Raum auf höchstem Niveau und mit bester Netzwerkarbeit zwischen Creative Industry und regionalem Handwerk. 8.23 Uhr. Hinterm Waldrand biegt ein gelber Bus ums Eck. Das Warten hat ein Ende. Hargozack no amol!

Der Standard, Sa., 2013.11.02

01. November 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Sagen Sie niemals Kleingartenhaus zu ihm

Ein Haus mit nur 50 Quadratmetern? Die Villa Rabenschwarz der Wiener Architekten Schuberth und Schuberth beweist, dass man mit Witz und Synergieeffekten Räume größer machen kann.

Ein Haus mit nur 50 Quadratmetern? Die Villa Rabenschwarz der Wiener Architekten Schuberth und Schuberth beweist, dass man mit Witz und Synergieeffekten Räume größer machen kann.

Das Grundstück am Rande des Wienerwalds war schon da, das Bauwerk ebenso, doch mit dem schrulligen, nur fünf Quadratmeter großen Knusperhäuschen war nicht viel anzufangen. Also beschloss Matthias Fellner, seines Zeichens Grafiker und berufsbedingter Formen- und Farbenästhet, die Architekten Schuberth und Schuberth zu einem Entwurf für einen Neubau einzuladen. Und die Bauaufgabe war alles andere als leicht, galt es doch, ein Kleingartenhaus mit 50 Quadratmetern Nutzfläche zu planen, das neben dem üblichen Raumrepertoire ein großes Bad, zwei getrennte Schlafzimmer für Vater und Tochter sowie einen eigenen Arbeitsbereich beinhalten sollte.

„Projekte wie diese, bei denen man so viele Funktionen unterbringen und so viele Einschränkungen beachten muss, sind unsere Leidenschaft“, sagt Johanna Schuberth. Gemeinsam mit ihrem Bruder Gregor hat sich die Architektin unter anderem auf verzwickte Bauaufgaben wie Kleingartenhaus und Würstelstand spezialisiert. „Der Fluch und Segen so kleiner Bauaufgaben ist, dass man das Projekt immer bis zum letzten Millimeter durchplanen muss. Die Planung reicht bis zum letzten Möbelstück.“

Im Falle der kleinen Villa Rabenschwarz - denn so heißt das Kleingartenhaus mit seiner abgefackelten, verkohlten Holzfassade, das im Kleingartenverein Michaelawiese in Neuwaldegg errichtet wurde - heißt das, dass jeder Filzvorhang, jede eigens angefertigte Schiebetür und jede einzelne keramische Glühbirnenfassung, die an bunten Stoffkabeln von der nur 2,20 Meter hohen Decke baumelt, Strich für Strich im CAD geplant werden musste. Prinzip Zufall? „Niemals. Nicht bei dieser Projektgröße.“

Zum Beispiel: Der Esstisch ist nicht auf der üblichen Tischhöhe von 72 Zentimetern, sondern wurde auf 90 Zentimeter angehoben, sodass er bei Bedarf als Küchenarbeitsfläche verwendet werden kann. Barhocker und eine umlaufende Hochbank mit Fußreling sorgen dafür, dass nicht nur das Gemüseschnipseln ergonomisch schmackhaft ist, sondern auch das Dinieren. Filzvorhänge vor den Schränken vermeiden, dass man in der kleinen Villa gegen geöffnete Schranktüren rennt. Und in den beiden Schlafzimmern im Obergeschoß, die mehr einer Art Schlafkoje in Bettgröße gleichen (siehe Foto), wurde der Raum unter dem Bett als Schrankersatz genutzt.

Das wohl schönste Innenraumdetail des mutwilligen Brandopfers ist jedoch das Badezimmer, das je nach Öffnungszustand der Türen mal Minibad mit Handwaschbecken und Dusche und mal Großraumbad mit zugeschaltetem WC ist. Durch das Auf- und Zuklappen und Hin- und Herschieben der Türen kann man dem Wohnzimmer mal einen rundum laufenden Gang dazuschenken und mal ein Körperpflege-Eckerl abzwacken.

„Nachdem man in unserer kleinen Villa im Kreis umherlaufen kann“, sagt ein glücklicher Matthias Fellner, der die unbehandelten Holzwände bereits mit zu Strichgrafiken arrangierten farbigen Stoffbändern beklebt hat, „steigen uns meine Tochter und ich niemals auf die Füße. Kaum zu glauben, aber wir wohnen so richtig großzügig und luftig.“

Der Standard, Fr., 2013.11.01

23. Oktober 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Marktplatz für alle

Im Sonnwendviertel hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof errichtet das ÖSW ein Wohnhaus mit Tauschbörse-Piazza und Dusche auf der Dachterrasse, dafür aber ohne Gänge in den Geschoßen. Man erreicht die Wohnungen direkt vom Aufzug aus.

Im Sonnwendviertel hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof errichtet das ÖSW ein Wohnhaus mit Tauschbörse-Piazza und Dusche auf der Dachterrasse, dafür aber ohne Gänge in den Geschoßen. Man erreicht die Wohnungen direkt vom Aufzug aus.

In einer Box liegen ein Paar Sneakers, die dem Beschenkten zu klein waren, in einer anderen ein paar ausgelesene Bücher, wiederum woanders ist hinter einer kleinen Plexiglastür ein niemals verwendeter Schnellkochtopf zu bewundern. So oder so ähnlich könnte das neue Foyer in dem von Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) geplanten Wohnhaus „Platform L“ bald aussehen. Denn das Erdgeschoß soll den Mietern nicht nur als Kommunikations- und Begegnungszone samt Sofa, Bücherregal und Wuzler dienen, sondern auch als sogenannter Marktplatz.

„Die Platform L war das erste Projekt, das unter dem Motto der sozialen Nachhaltigkeit entstanden ist, nachdem das Thema in der Stadt Wien als vierte Säule des kommunalen Wohnbaus verankert wurde“, erklärt Dietmar Feistel, Partnerarchitekt bei DMAA. „Aus diesem Grund wollten wir diesem Aspekt besonders viel Raum geben.“ 225 Quadratmeter sind es, um genau zu sein. Entwickelt wurde das Marktplatzkonzept mit den 55 versperrbaren Plexiglasboxen - wie übrigens auch die Gemeinschaftsterrasse mit Sonnendeck und Duschen - in Zusammenarbeit mit den Soziologen Havel & Havel. Anfang 2014 sollen die 92 Wohnungen hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof übergeben werden.

Doch der Marktplatz ist nicht die einzige Besonderheit dieses L-förmigen Hauses, das sich aufgrund seiner charakteristischen Fassade schon von weitem als typisches DMAA-Projekt zu erkennen gibt. „Man kann nicht immer nur besser und hochwertiger und sozial nachhaltiger bauen, und das zu den gleichen Kosten wie noch vor einigen Jahren, als die Anforderungskriterien im geförderten Wohnbau noch nicht so streng waren“, sagt Feistel. „Irgendwo muss man auch Nischen finden, wo man Baukosten einsparen kann.“

Mit dem Lift in die Wohnung

Im Falle der Platform L - der Name nimmt Bezug auf die ehemaligen Süd- und Ostbahngleise, die an dieser Stelle einst verliefen - ist das Einsparungspotenzial in den oberen Geschoßen auszumachen: Auf Gangflächen wurde komplett verzichtet, stattdessen erschließt man die beiden Wohnungen pro Stiegenhaus und Geschoß direkt vom Aufzug aus. Eine spezielle Sicherheitstechnik mit Klingeltableau und persönlicher Anmeldung soll verhindern, dass plötzlich ungebetene Liftfahrer in der Wohnung stehen.

„Ich muss gestehen, dass wir an dieser Lösung lange gezweifelt haben und uns nicht sicher waren, ob wir uns das trauen sollen oder nicht“, sagt Michael Pech, Vorstand des Österreichischen Siedlungswerks (ÖSW). „Letztendlich haben wir jedoch eingesehen: Wir müssen es ausprobieren. Nur so wissen wir, ob sich das System bewährt oder nicht.“ Den angemeldeten Mietern jedenfalls gefällt's. Die besondere Erschließung der Wohnung, die man sonst nur aus hochpreisigen freifinanzierten Penthouse-Wohnungen kennt, habe ihnen ein sehnsüchtiges Zukunftslächeln auf die Lippen gezaubert.

Auch die zu erwartenden Betriebskosten könnten das freudige Mundwinkelerlebnis der Mieter wiederholen, denn das gesamte Haus ist als sogenanntes Niedrigenergiehaus plus ausgeführt. Das heißt: Die Gebäudehülle ist energetisch optimiert, die Wohnräume werden kontrolliert belüftet, und bei den L-förmig angeordneten Fenstern in den Schlafzimmern handelt es sich um Aluminiumfenster mit Dreifachverglasung. Das dürfte das Portemonnaie langfristig schonen. Thermografiemessungen und ein Ökopass des Österreichischen Instituts für Baubiologie und Bauökologie (IBO) bestätigen die Zahlen.

Die Wohnungen selbst haben zwischen 50 und 142 Quadratmeter und verfügen allesamt über einen Freiraum in Form einer Loggia. Ein Teil der Wohnungen wurde so ausgeführt, dass der Grundriss zwischen Einraumloft mit mittigem Sanitärkern und Vierzimmerwohnung flexibel zu gestalten ist, wobei sich die meisten Mieter nach Auskunft des ÖSW trotz des Angebots für eine klassische Drei-Zimmer-Wohnung entschieden hätten.

Finanzielle Besonderheit: Grundstückseigentümerin ist die Erste ÖSW Wohnbauträger GmbH, eine eigens gegründete Gesellschaft, die jeweils zur Hälfte dem ÖSW und der Erste Bank gehört. Das ÖSW selbst errichtete das Wohnhaus im Baurecht. Dadurch war es möglich, den Eigenmittelanteil, der sich für gewöhnlich aus den Grundkosten speist, auf die Baurechtnebenkosten zu reduzieren. Im Klartext: 222 Euro pro Quadratmeter statt der sonst üblichen 400 bis 500 Euro.

Der Standard, Mi., 2013.10.23

23. Oktober 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Und vor der Wohnungstür die halbe Welt

Das Wohnprojekt „Interkulturelles Wohnen“ am ehemaligen Nordbahnhof in Wien wurde konsequent umgesetzt: Die Architekten stammen aus drei, die Bewohner sogar aus zwanzig Ländern.

Das Wohnprojekt „Interkulturelles Wohnen“ am ehemaligen Nordbahnhof in Wien wurde konsequent umgesetzt: Die Architekten stammen aus drei, die Bewohner sogar aus zwanzig Ländern.

„Geschmack hat er ja keinen, der Architekt, aber der Wohnungsgrundriss, der ist wirklich gelungen!“ Michael Lenz, 36 Jahre alt, seines Zeichens kaufmännischer Angestellter, wohnhaft auf Stiege 1, ist vor wenigen Tagen eingezogen und wundert sich kopfschüttelnd über die beige-braun verfliesten Badezimmer in seinem Haus. Das Siebzigerjahreschachbrettmuster an der Wand, das in seiner Wohnung standardmäßig vorgesehen war, hat er bis heute nicht verkraftet. „Das ist eine Art Ästhetik, die sich mir nicht ganz erschließt. Aber darum geht es bei dieser Wohnhausanlage ja auch nicht.“

Richtig. Lenz ist Bewohner einer dreiteiligen Wohnhausanlage, die unter dem Motto „Interkulturelles Wohnen“ entstanden ist. Das Thema war Vorgabe des seinerzeit ausgeschriebenen Bauträgerwettbewerbs, aus dem der gemeinnützige Bauträger Neues Leben mit dem Wiener Architekten Werner Neuwirth als Sieger hervorging. Neuwirth, Mastermind des ungewöhnlichen Projekts, holte die beiden Büros Von Ballmoos Krucker (Zürich) und Sergison Bates Architects (London) ins Boot und schuf ein heterogenes Dreierensemble mit insgesamt 90 Wohnungen.

„Interkulturalität ist so eine Sache“, sagt Neuwirth, „denn der Begriff erhebt den Anspruch, dass es Hauptkulturen und Zwischenkulturen gibt, und daran glaube ich nicht. Aber wenn wir schon von einem Wohnbau für unterschiedliche Kulturen sprechen, dann muss man auch Architekten aus unterschiedlichen Kulturen dazu einladen, sich dieses Themas anzunehmen. Man kann nicht von einem einzigen Architekten erwarten, sich in verschiedene Kulturen hineinzudenken. Das bauliche Resultat dieses Unterfangens wäre ein Comic.“

Im Gegensatz zu den meisten anderen geförderten Wohnbauten, die auf dem Gelände des ehemaligen Wiener Nordbahnhofs in den letzten Jahren entstanden sind, handelt es sich beim Projekt in der Ernst-Melchior-Gasse um eine kleinteilige Anlage mit 28 bis 32 Wohnungen pro Haus. Und jedes Haus ist anders. Die nationalen Handschriften aus Austria, Schwyz und United Kingdom sind unverkennbar - sei es die Retroverfliesung auf Stiege 1, der Parkettvorplatz auf Stiege 2 oder die unzähligen Niveausprünge auf Stiege 3. „30 Wohnungen sind die Obergrenze, damit noch so etwas wie aktiv gelebte Nachbarschaft entstehen kann“, so Neuwirth. „Alles, was darüberliegt, ist Quell für Anonymität.“

„Nicht wie in einem Hotel“

Dariusz Malinowski, gebürtiger Pole, Stiege 3, vierter Stock, kann das bestätigen. „Die meisten meiner Freunde und Bekannten wohnen in großen Wohnhausanlagen, in denen viele Wohnungen an einem langen Gang aufgefädelt sind“, sagt er. „Sie leben dort wie in einem Hotel. Niemand kennt niemanden. Ich finde das schrecklich. Hier aber habe ich schon jetzt erste Kontakte knüpfen können, und das, obwohl ich noch mitten im Umsiedeln bin.“

Um die Nachbarschaft, die wie ein zartes Pflänzchen zwischen den Wohnungstüren gedeiht, weiterhin zu stärken, veranstaltet der Soziologe Raimund Gutmann einmal pro Woche einen mehrstündigen Workshop, zu dem alle Bewohner eingeladen sind, und das ein halbes Jahr lang. Ziel ist es, die mentalen Mauern, die in einer neuen Wohnhausanlage üblicherweise aufgezogen werden, einzureißen und die Menschen untereinander bekannt zu machen.

„Adresswechsel und Wohnungsbezug sind eine stressige Angelegenheit“, sagt Gutmann, Geschäftsführer des Mediations- und Beratungsbüros wohnbund consult. „Vor allem in einem Projekt mit einem so hohen Ausländeranteil wie hier ist es wichtig, die Menschen in den ersten Monaten zu begleiten.“ Nicht zuletzt geht es darum, für die noch leeren Gemeinschaftsflächen im Erdgeschoß im Zuge eines Mitbestimmungsprozesses die richtige Nutzung zu erarbeiten. Zur Auswahl stehen Spielraum, Wohnsalon und Bibliothek. Die endgültige Auswahl treffen die Mieter.

„Wie man sieht, habe ich selbst Migrationshintergrund, wie man so schön sagt, und daher finde ich es sehr spannend, dass man eine ganze Wohnhausanlage unter das Motto Interkulturalität stellt“, sagt die in Istanbul geborene Sennur Aslantürk. Gemeinsam mit ihren beiden Söhnen wohnt sie auf Stiege 1, im „Haus der beiden Schweizer“, wie sie meint. „Bislang habe ich mit Interkulturalität nicht nur positive Erfahrungen gemacht, aber das ist hier eindeutig anders. Nächste Woche startet der erste Workshop. Da bin ich fix dabei.“ Und was das Siebzigerjahreschachbrettmuster in ihrem Bad betrifft: „Das sind halt Architekten. Daran gewöhnt man sich.“

90 Wohnungen, 20 Sprachen

Nicht nur sozial, auch ökologisch nachhaltig ist das Wohnprojekt am ehemaligen Nordbahnhof. Beheizt werden die Wohnungen - die Größen variieren zwischen 30 und 115 Quadratmetern - mittels Fußbodenheizung und kontrollierter Wohnraumlüftung. Die Niedertemperaturheizung sorgt für geringen Energieverbrauch und somit auch für eine nachhaltige Schonung des Geldbörsels.

Fehlt nur noch, dass das letzte, noch leerstehende Geschäftslokal vermietet wird. „Wir haben bisher einen Kindergarten und eine bilinguale Kindergruppe im Haus“, sagt Heidi Skomar, Projektleiterin beim Bauträger Neues Leben. „Im dritten Gassenlokal wollten wir das Weltcafé als Mieter gewinnen, aber das hat leider nicht geklappt. Wir hoffen, dass sich noch ein Gastronomiebetrieb findet. Das wäre ein schöner Abschluss dieses auf Kommunikation basierenden Projekts.“

Im Wohnpark „Interkulturelles Wohnen“ sind 20 Nationen vertreten. Nachbarschaft wird hier nicht als Problem wahrgenommen, sondern als Chance. Geht doch.

Der Standard, Mi., 2013.10.23



verknüpfte Bauwerke
PaN-Wohnpark

19. Oktober 2013Wojciech Czaja
Maik Novotny
Der Standard

Bauordnung muss brennen!

Wir blicken 25 Jahre in die Zukunft: Was wird am 19. Oktober 2038 an dieser Stelle zu lesen sein? Österreichische Architekten und ihre Twitter-Visionen.

Wir blicken 25 Jahre in die Zukunft: Was wird am 19. Oktober 2038 an dieser Stelle zu lesen sein? Österreichische Architekten und ihre Twitter-Visionen.

heri & salli, Wien
Ökostadt in Weiß: Fantastische Aussichten! Hochgebirgscity in den Alpen für 100.000 Einwohner steht kurz vor dem Spatenstich.

Johannes Baar-Baarenfels, Wien
Schwechat: Terminal 5 eröffnet. Gebäude adaptiv gegenüber Umwelteinflüssen. Neues Bewusstsein für gesellschaftliche Relevanz von Architektur.

Martina Hartl, t hoch n
Energiebewusstes Bauen ohne jegliche sklavische Unterwerfung an die Dämmstärkenvorgaben der Kunststoffindustrie!

Barbara Imhof
Liquifer Systems Group
Die Stadt als Raumschiff: Zusammenleben in verdichtetem Raum, Integration technologisierter Natur, effizientes Haushalten mit Ressourcen.

Sabine Pollak, Köb & Pollak
Im Oktober 2038 berichtet das ALBUM über neueste Bandstadt-Projekte auf funktionslos gewordenen Autobahnen zwischen Wien, Berlin und Paris.

Boris Podrecca, Wien
Kleinkariert war gestern. Hurra! Wien, bislang einzige europäische Hauptstadt ohne herzeigbaren Hauptplatz, eröffnet heute moderne Piazza.

Sandra Knöbl, Labour of Wood, Wien
Breaking News: Österreichische Bauordnung ist endlich einem auf dem Modulor basierenden Manifest für Ästhetik und gebaute Umwelt gewichen.

Wilfried Krammer, Wien
Vom temporären Pilotprojekt zur Realität: Nonmotorisierter Netzplan für Wien fertiggestellt. Ein Projekt von European Smart Cities Austria.

Roland Gruber, nonconform architektur vor ort
In 25 Jahren wird die Architekturseite täglich erscheinen. Sie wird dann „Ein schöner Land“ heißen und brennheiße Lebensthemen aufgreifen.

Wolf Prix, Coop Himmelb(l)au
Die Architekturkritik im STANDARD wird im Wirtschaftsteil in Form von Rechtsgutachten und Bilanzberichten zu lesen sein. Traurig, aber wahr.

Margarethe Cufer, Wien
Egal. Da bin ich tot. Wenn es mit den Vorschriften so weitergeht, ist es ohnehin besser, die Häuser von Juristen planen zu lassen.

Peter Riepl, Riepl Riepl, Linz
Die Erde ist abermals kleiner geworden. Doch die Architektur öffnet neue Spielräume und macht unsere Welt wieder unermesslich.

Gernot Hertl, Steyr
Das Streben nach gutem Raum gab es immer. Doch kaum vorstellbar: Vor 25 Jahren gab's noch Zersiedelung und Kernzonensterben!

Gerhard Saile, Halle 1, Salzburg
Verschandelung gestoppt! Nach Einführung des Unterrichtsfachs „Raumordnung und Architektur“ durch Bundesregierung 2014 Erfolg erkennbar.

Jakob Dunkl, querkraft architekten
Mit neu geschaffenem Ministerium für Baukultur betont die Regierung die gesellschaftspolitische Relevanz von Architektur und Raumordnung.

Markus Bogensberger, HDA Graz
Österreichisches Architekturmuseum feiert 20-jähriges Bestehen. Außenstellen in den Bundesländern haben sich als Publikumshit erwiesen.

Arno Ritter, aut, architektur und tirol
2013: Wenn die Sonne der Baukultur niedrig steht, werfen sogar architektonische Zwerge lange Schatten. 2038: Architektur = Qualität = Alltag

Gerhard Kopeinig, Velden
Österreich wird frei! Frei von architektonischem Getöse.

Patrick Jaritz, IG Architektur
Wünsche mir am 19. Oktober 2038 folgende Schlagzeile: „Erstmals zwei Architektinnen für Friedensnobelpreis nominiert!“

Gernot Ritter, Hofrichter Ritter Architekten, Graz
Friedensnobelpreis an Architektin verliehen!

Martin Haller, Caramel
Wissenschaftlich erwiesen: Wenn Architekten träumen. Gute Architektur ist in kollektivem Bewusstsein gespeichert und wartet auf Erweckung.

Gabu Heindl, Wien
Eröffnung des 200. Wiener Gemeindebaus seit Wiederaufnahme von Gemeindebau im Jahr 2014. Und: Evaluierung des Gesamtschulbau-Programms.

Silja Tillner, Tillner & Willinger
Die Stadt 2038: Vertikale Fassadenbegrünungen und Bäume in allen Straßen haben das Stadtklima verbessert. Alle wollen in der Stadt leben.

Sigfried Loos, polar, Wien
Gehweg und Fahrweg fließen zusammen: Das neue Projekt ist eine urbane Landschaft, die mit den Echtstoff-Gebäuden verwoben ist.

Albert Wimmer, Wien
Die Zukunft gehört dem Universal Design, das für so viele Menschen wie möglich nutzbar ist. Und: Am Cover Baukultur statt Immobilienkultur.

Maria Flöckner und Hermann Schnöll
Neue Möglichkeitsräume! Dafür tut, frei nach Rudofsky, nicht eine neue Bauweise, sondern ein neues Gesellschaftsmodell not.

Karin Triendl, triendl und fessler
Als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen werden lokale Ressourcen bestimmend. Qualitätsvolles und Gutes erhält einen neuen Stellenwert.

Marion Wicher, yes architecture
Das Recht auf Licht, Luft und Architektur in einem schadstoffreinen Lebensumfeld wurde nun schriftlich verankert.

Florian Haydn, 000y0
Bauordnung hat Gültigkeit verloren: Das Bauen wird schwieriger, die Menschen bauen gemeinsam - ohne Architekt.

Edgar Spraiter, Geistlweg Architektur, Oberalm
In 25 Jahren werden Architekten in Dienstleistungsfirmen die Änderungen für das nächste Update von Web-Bauteilkonfigurationen erarbeiten.

Christina Schinegger, soma, Wien und Salzburg
Hoffentlich werden die Konzepte und Baumethoden, die wir zurzeit entwickeln, in 25 Jahren einer breiten Allgemeinheit zur Verfügung stehen.

Verena Konrad, Vorarlberger Architekturinstitut
Meine Vision für 2038: Qualitätsvolle Verdichtung und Verständnis von Baukultur als fixer Bestandteil des Nachdenkens über soziale Räume.

Christoph Achammer, ATP, Innsbruck
Team aus Architekten, Ingenieuren und Geisteswissenschaftlern hat Wien-Bratislava zur lebenswertesten nachhaltigen Stadt der Welt gekürt.

Gerda Gerner, gerner gerner plus, Wien
Anpfiff zur WM 2038 im ersten beambaren Stadion der Welt von gerner gerner plus architekten. DER STANDARD ist live dabei!

Robert Diem, franz architekten
Nach 30 Jahren Fightclub hat sich die Diskussion über Architektur von kleinen Büros in eine breite Öffentlichkeit verlagert.

Matthias Finkentey, IG Architektur
Architektur ist die Entscheidung kompetenter, kreativer und mutiger Bauherren. Möge das Standard werden.

Pia Anna Buxbaum, Archicolor
Angenehmes Raumklima und ressourcenschonendes Bauen sind heute schon selbstverständlicher Teil guten Designs.

Sebastian Illichmann, Wien
Seitdem Normen und Bauordnungen radikal vereinfacht wurden, macht das Bauen wieder Spaß!

Georg Poduschka, PPAG
Leben und Wohnen im Wandel! Ausgerechnet die Architektur, eine bis dahin erzkonservative Disziplin, hat diese Evolution ausgelöst.

Stephan Ferenczy, BEHF
Wettbewerbe wegen Vermögensvernichtung abgeschafft! EU-Steuerfreibetrag für Architekturleistungen wirkt sich positiv auf gebaute Umwelt aus.

Wolfgang Kaufmann, Linz
Renaissance der Immobilienentwicklung: Politik, Bauherren und Nutzer vertrauen wieder auf Qualität und Lösungskompetenz der Architekten.

Heinz Neumann, Wien
Wow-Architektur ist passé! Die Architektursprache spiegelt den verantwortungsvollen Umgang mit knappen Energie- und Rohstoffressourcen wider.

Sonja Gasparin, gasparin & meier, Villach
Auf dass sich eine riesige Verdaumaschine der schlechten Architektur annehme und der so produzierte Humus immun sei gegenüber Bau-Unkultur!

Bettina Götz und Richard Manahl, Artec Architekten
Aufgrund von Verknappung der Mittel wurde eine ganze Reihe widersinniger Bauvorschriften im Bereich der Normen und Gesetze abgeschafft.

Elke Delugan-Meissl und Roman Delugan, DMAA
Mit der Auflösung heutiger Lebensgewohnheiten wird sich der Wohnraum künftig zu etwas Unlesbarem, Ungeplantem, Herausforderndem verwandeln.

Marta Schreieck, henke und schreieck architekten
Heute ist der Kampf härter denn je. Ich wünsche mir daher, dass der Job in 25 Jahren wieder so viel Spaß machen wird wie vor 25 Jahren.

Michael Anhammer, SUE Architekten
In 25 Jahren schauen wir unverbissen und lächelnd auf unser Werk. Die Haftpflicht hat uns nicht gekündigt. Und es gibt Pension für uns!

Dietmar Steiner, Architekturzentrum Wien
Was soll sich ändern? Und warum?

Der Standard, Sa., 2013.10.19

07. Oktober 2013Wojciech Czaja
db

Loos hätte seine Freude

Ein Kleingartenhaus ist keine Kleinigkeit. Die »Villa Rabenschwarz«, in einer Kleingartensiedlung zwischen zwei Wiener Waldgebieten gelegen, ist große Architektur mit Synergieeffekten, dreidimensionalem Witz und viel Humor. Durch geschickte Kniffe und die Reduktion verschiedener Dimensionen auf das Notwendigste ließen sich alle gewünschten Funktionen innerhalb der vom Baurecht vorgegebenen Abmessungen unterbringen und es entstand dennoch eine gewisse Großzügigkeit.

Ein Kleingartenhaus ist keine Kleinigkeit. Die »Villa Rabenschwarz«, in einer Kleingartensiedlung zwischen zwei Wiener Waldgebieten gelegen, ist große Architektur mit Synergieeffekten, dreidimensionalem Witz und viel Humor. Durch geschickte Kniffe und die Reduktion verschiedener Dimensionen auf das Notwendigste ließen sich alle gewünschten Funktionen innerhalb der vom Baurecht vorgegebenen Abmessungen unterbringen und es entstand dennoch eine gewisse Großzügigkeit.

Man muss nur weit genug in den Wienerwald hineinwandern, schon stehen sie alle da mit ihren weißen Bärten und roten Bäckchen und grüßen hinterm Jägerzaun hervor. Die Rede ist von den vielen Hunderten, ach was, Tausenden von Gartenzwergen an der Wiener Peripherie. Und wo ein Gartenzwerg – diese Lektion lernt man als Wiener bereits in den ersten Lebensjahren –, da ist auch der Kleingartenverein nicht weit. In einem ebensolchen namens »Kleingartenverein Michaelawiese«, nur wenige Meter vom Stadtrand entfernt, steht die sehr kleine, aber sehr feine »Villa Rabenschwarz« der Wiener Architektengeschwister Schuberth und Schuberth.

Der Name ist Programm. Die kohlrabenschwarze Erscheinung des Hauses geht nicht auf einen Farbanstrich der Holzfassade zurück, sondern auf die physikalische Veränderung des Materials, und zwar per Feuer. Lange hatte man mit unterschiedlichen Temperaturen und Flämmzeiten experimentiert, bis der gewünschte Verkohlungsgrad erreicht war. Eine abschließende Harzschicht sorgt für Schutz gegen Wind und Wetter.

Beim näheren Hinsehen fällt auf, dass die Fassade trotz hochgradiger Verbrennung viele hübsche technische Details wie etwa vorstehende Laibungsvorsprünge und abgeschrägte Tropfnasen über den Fenstern und Türen aufweist. »Der Fluch und Segen so kleiner Bauaufgaben ist, dass man das Projekt immer bis zum letzten Millimeter durchplanen muss«, sagt Gregor Schuberth. »Einerseits bereitet uns das Spaß, andererseits jedoch ist nie ein Ende in Sicht.«

Die Planung hört nicht beim üblichen Detaillierungsgrad auf, sondern reicht bis zum letzten Möbelstück. Sogar die keramischen Lampenfassungen mit türkis-schwarz gestreiftem Stoffkabel wurden Strich für Strich im CAD gezeichnet, bevor sie den Weg auf die Baustelle fanden. Prinzip Zufall? »Niemals. Nicht bei dieser Projektgröße.«

Raumerlebnis nach Plan

Sehr wohl ein Ende in Sicht ist, sobald man das Haus betreten hat. Denn das gesamte Gebäude wurde auf einer Bruttogrundfläche von nur 35 m² errichtet. So sieht es das Wiener Kleingartengesetz vor, das auch eine Höhenbeschränkung beinhaltet. Allein, trotz überschaubarer Maße wirkt das Haus mit seinen 50 m² Nutzfläche niemals eng. »Wenn man klein baut, dann kann man nicht ein großes Einfamilienhaus auf Miniaturformat schrumpfen, dann muss man neu denken und räumliche, bzw. funktionale Synergieeffekte schaffen«, meint Johanna Schuberth. »Dann ist ein Bad eben niemals nur Bad, sondern vielleicht auch mal Wohnzimmer, dann wird die Treppe zum Stauraum, dann zelebriert man Großzügigkeit und Offenheit dort, wo man es am wenigsten erwartet.«

Zentrum des Hauses ist eine kompakte Box mit Nasszelle, Küchenzeile und Aufgang in den ersten Stock. Während die Außenwände auf ihrer Innenseite hell lasiert wurden und die Struktur des Holzes (Dreischichtplatten aus Fichte) deutlich erkennen lassen, wurde die Einheit in der Mitte des Hauses rundherum mit dunklen Siebdruckplatten bekleidet. Das räumliche Konzept ist auf Anhieb verständlich. »Dieses Haus im Haus, wie wir den Kern in der Mitte gerne bezeichnen, hat einen ganz bestimmten Grund«, erklärt Johanna Schuberth. »Durch die Möglichkeit, im Kreis zu gehen, nimmt man die Nutzfläche des Hauses psychologisch viel größer wahr. Normalerweise sind solche Umrundungen nur in großen Gründerzeitwohnungen üblich. Hier haben wir uns getraut, diesen Luxus auch auf kleinstem Raum zu zelebrieren.«

Dank der redundanten Wegeführung von der Haustür ins Wohnzimmer – links und rechts am Kern vorbei – besteht die Möglichkeit, einen der beiden Wege bei Bedarf umzufunktionieren. Mit zwei Handgriffen verwandelt sich die kleine Nasszelle mit WC, Waschbecken und Dusche in ein lichtdurchflutetes, mehr als 4 m² großes Badezimmer, Grünblick inklusive. Die Schiebetür, die eben noch WC-Zugang war, entfaltet ihre Doppelfunktion und mutiert zur Vorzimmertür. Die Duschtrennwand wiederum entpuppt sich als aufklappbarer Türflügel, der das Bad vom Wohnzimmer abtrennt. Ein kleiner Metallriegel sorgt für ungestörte Ruhe. »Ich finde diese Badezimmerlösung großartig«, sagt Mathias Fellner, Bauherr des ungewöhnlichen Miniaturprojekts. Gemeinsam mit seiner achtjährigen Tochter nutzt er das Haus als Wochenendrefugium und abgelegenes, abgeschottetes Homeoffice. »Ein bisschen Querdenken, und schon hat man die gefühlte Größe des Hauses verdoppelt.« Quergedacht wurde auch in der Küche: Indem man den Esstisch auf 90 cm Höhe, mit entsprechend hohen Hockern, anhob, wurde aus der einzeiligen Kochnische eine zweizeilige Küche mit ausreichend Arbeitsplatz zum kollektiven Gemüseschnippeln. Die Küche selbst ist eine einfache Regalkonstruktion, die vom Holzbauunternehmen gleich mitgebaut wurde.

Viele Farben und Materialien treffen hier aufeinander: das Holz, die dunklen Siebdruckplatten, der grün marmorierte Linoleumboden, die türkisfarbene Linoleum-Arbeitsplatte, die roten Filztüren in der Küche – ein Eigenentwurf der Architekten – und nicht zuletzt die vom Bauherrn applizierten bunten Klebeband-Collagen an der Wand. »Die heterogene Farbgestaltung war ein großer Wunsch von mir«, sagt Fellner, von Beruf Grafiker. »Ich mag diese überdesignten, monochromen High-End-Wohnungen nicht. Ich bin ein Freund des Bauhauses und seiner bunten Farben und Materialien. Diese kleinteilige Verspieltheit sollte sich hier widerspiegeln.«

Bunt geht es weiter. Die nur 70 cm breite Treppenschlucht, die nebenbei als Schuhregal dient, ist beidseitig petrolfarben gebeizt. »Im Nachhinein betrachtet ist der Aufgang immer noch zu breit«, meint Architekt Gregor Schuberth. »50 cm wären für dieses Haus völlig ausreichend gewesen. Beim nächsten Haus wissen wir es besser.« Im OG angekommen, entfaltet sich die wohl größte Überraschung der Villa Rabenschwarz. Dort öffnet sich ein Loch, ein relativ gesehen riesengroßer Luftraum über dem Wohnzimmer. Als Brüstung dienen Bücherregale sowie ein in die Konstruktion integrierter Schreibtisch. Man muss schmunzeln: Beim Aktenschrank hat der Bauherr selbst Hand angelegt, hat die Front mit weichen Filztüren geschlossen, hat statt Schloss und Griff ein paar Dufflecoat-Knöpfe aus Horn und Leder angenäht. Unverkennbar hat die freche Kreativität der Architekten Spuren hinterlassen.

»Dieser Luftraum rund um den Arbeitsbereich ist ein zentrales Element dieses Hauses«, sagt Schuberth. »Ich weiß, das würde man in einem Kleingartenhaus nicht erwarten, aber genau deshalb wirkt hier alles so großzügig und offen.« Der einzige Bereich, bei dem man schließlich anerkennen muss, dass auch die beste Kompaktheit an ihre Grenzen stößt, sind die beiden Schlafkojen von Vater und Tochter. Eben meint man noch, sich an die Maßstäblichkeit der Minivilla gewöhnt zu haben, da entpuppen sich die beiden an die Dimensionen der Matratzen angepassten, 1,40 m und 1,60 m breiten Schlafzimmer nochmals als echte Hausforderung. »Mir reicht das«, sagt Mathias Fellner. »Wenn man in so ein kleines Haus zieht, dann beginnt man auszumisten und sich zu überlegen, was man wirklich braucht und was nicht. Ein Schlafzimmer, das so groß ist wie ein Bett, zählt zu den Dingen, die genügen.« Die Erkundungsreise durch die Welt der Kleinigkeiten ist noch lange nicht zu Ende.

Unzählige Details zwischen Boden und Decke gibt es zu entdecken: diverse Abstellfächer, Schlüsselnischen, selbstgebastelte Türmechanismen. Alle sind sie dreidimensionale Dokumente einer harmonischen Partnerschaft zwischen Bauherr und Architekten. Doch am meisten erfreut, dass dieses Kleingartenhaus trotz seiner verspielten Farben und Baumaterialien nicht im Geringsten gartenzwergig ausfiel. Vielmehr ist die Villa Rabenschwarz, und da schließt sich wieder der inhaltliche Kreis zu Wien und großer Architektur, das Produkt eines schelmisch interpretierten Loos'schen Raumplans.

db, Mo., 2013.10.07



verknüpfte Zeitschriften
db 2013|10 Auf engem Raum

05. Oktober 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Des Bauherrn Mut hat seinen Preis

Die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs hat zum 47. Mal den Österreichischen Bauherrenpreis vergeben

Die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs hat zum 47. Mal den Österreichischen Bauherrenpreis vergeben

Was wären die Architekten ohne die Bauherren? In den meisten Fällen unterbeschäftigt und arbeitslos. Um genau diese ehrenvolle und oft im Äther der gestalterischen Kunst vergessene Rolle der Bauherren zu würdigen, vergibt die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs (ZV) seit 1967 Jahr für Jahr den Bauherrenpreis. Am Freitagabend wurden in der Salzburger Event-Location republic jene sieben Auftraggeber gewürdigt, die es unter den insgesamt 90 eingereichten bzw. 30 nominierten Projekten auch heuer wieder in den Olymp der österreichischen Vorzeigebauherrschaft schafften.

„Ein Architekturprojekt ist immer das Resultat vieler engagierter Projektbeteiligter, die alle an einem Strang ziehen, und niemals nur das Produkt eines einzelnen Planers oder Architekten“, sagt Marta Schreieck, Präsidentin der ZV Österreich. „Daher ist es für uns wichtig, auch die Vision und den Mut der Bauherren auszuzeichnen.“

Prämieren wolle man in erster Linie jene Projekte, die nicht nur auf Funktionalität, Schönheit und Image bedacht sind, sondern darüber hinaus auch einen wie auch immer gearteten Beitrag für die Allgemeinheit leisten. Schreieck: „Immer mehr Bauherren nehmen in ihrer Rolle eine gewisse gesellschaftliche Verantwortung wahr. Diese Menschen und Unternehmen verdienen es, entsprechend gewürdigt zu werden.“

Unter den nominierten Bauherrenprojekten 2013 befinden sich Wohn- und Bürohäuser, Gewerbebetriebe, Kultur- und Bildungsbauten sowie erstaunlich viele Infrastrukturprojekte, etwa Feuerwehrstationen, Justizgebäude und medizinische Einrichtungen. „Besonders freut mich, dass es nicht nur private Wohnhäuser sind, die architektonische Aufmerksamkeit erregen, sondern immer häufiger auch öffentliche Bauten und mittelständische Betriebe“, meint der Berliner Architekt Arno Brandl-huber, Mitglied der Jury.

Eines der größten heuer ausgezeichneten Projekte ist der umgebaute und erweiterte Firmensitz von Meiberger Holzbau in Lofer. Das Salzburger Unternehmen bekam eine umfassende Schönheitskur verpasst, was so viel bedeutet, dass das bisher heterogene Konglomerat aus Produktionshalle, Bürobau und integriertem Supermarkt eine neue homogene Handschrift erhielt. Architekt Tom Lechner (LP architektur) schuf ein Kleid aus rhythmischen Holzlamellen, und sogar ein Zubau mit acht Mietwohnungen für die Mitarbeiter des Unternehmens hat Platz gefunden.

Maximum für die Mitarbeiter

In den Büroräumen, ein anfänglicher Wunsch des Bauherrn, sind sämtliche Oberflächen und Möbel aus Weißtanne - ohne Lack, ohne Öl, sägerau. „Holz ist unser täglich Brot“, sagt Geschäftsführer Walter Meiberger. „Daher war klar, dass wir für unsere Mitarbeiter das Maximum rausholen wollten, was dieser Werkstoff in puncto Nachhaltigkeit, Ökologie und räumlicher Qualität zu bieten hat.“ Auch die internen Betriebsabläufe wurden durch den Umbau optimiert.

Beim Agrarbildungszentrum Salzkammergut in Altmünster, einem Projekt für die Landesimmobiliengesellschaft (LIG), handelt es sich ebenfalls um einen Erweiterungsbau. Die Vorarlberger Architekten Fink Thurnher bauten rund um den massiv gebauten Bestand einen riesigen Holzleichtbau-Vierkanter und schufen auf diese Weise Platz für neue Klassenzimmer, technische Ausbildungsräume wie etwa Tischlerei, Molkerei und Fleischerei sowie Turnsaal und Verwaltung. Die Besonderheit dabei: Sämtliche Oberflächen im Schulbereich - von Boden über Wand und Decke bis Möbel - sind auch hier in unbehandelter Weißtanne ausgeführt.

„Dieses Schulgebäude ist zwar ökologisch, aber dieser Aspekt ist keineswegs aufdringlich“, meint Schuldirektorin Barbara Mayr. „Das, was man als Nutzerin mitkriegt, ist pure Gemütlichkeit. Ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungen ist, unseren Schülerinnen und Schülern in diesem Haus ein modernes, zeitgenössisches Bild der Arbeitstätigkeiten im primären Sektor zu vermitteln.“ Der Bauherrenpreis ist nicht die erste Auszeichnung, die dieses Projekt erhielt. Schon im Februar des heurigen Jahres wurde das Agrarbildungszentrum mit dem „Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit“ ausgezeichnet.

Ausgezeichnet wurden außerdem die Stadt Wien und der Krankenanstaltenverbund (KAV) für das von Riepl Kaufmann Bammer geplante Pflegewohnhaus Liesing, ein schönes Wohnhaus mit mehr als 300 Betten, das mehr an ein Hotel denn an ein Geriatriezentrum erinnert; das Malerehepaar Peter und Dorli Krawagna für sein Ateliergebäude am Wörthersee (Arch. Reinhold Wetschko); der gemeinnützige Bauträger Buwog für seinen Wohnbau in Wien-Donaustadt von Alexander Schmoeger und Köb & Pollak Architektur; die Vorarlberger Gemeinde Altach für den partizipativ geplanten Islamischen Friedhof von Bernardo Bader; sowie die Gusswerk Event GmbH für das erweiterte Gusswerk-Areal in Salzburg (Strobl, LP architektur, CS-architektur, hobby.a, der Standard berichtete).

Der Standard, Sa., 2013.10.05



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2013

05. Oktober 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Der Jongleur der wissenschaftlichen Variablen

Der Grazer Architekt Markus Pernthaler plant Häuser mit einem starken Fokus auf Ressourceneinsparung und Energieautarkie. Zu seinen liebsten Projekten zählen Krankenhäuser, Kraftwerke und sich nahezu selbst versorgende Wohnquartiere. Hauptsache kompliziert.

Der Grazer Architekt Markus Pernthaler plant Häuser mit einem starken Fokus auf Ressourceneinsparung und Energieautarkie. Zu seinen liebsten Projekten zählen Krankenhäuser, Kraftwerke und sich nahezu selbst versorgende Wohnquartiere. Hauptsache kompliziert.

Architekturmagazine wird man in seinem Büro vergeblich suchen. Stattdessen stapeln sich am Schreibtisch Science und Nature. „Architektur ohne Fokus auf energetische und materielle Ressourcen interessiert mich nicht“, sagt Markus Pernthaler. Der 55-jährige Grazer Architekt hat es auf die Verschmelzung von Gestaltung und Technik abgesehen. Eines seiner bekanntesten Projekte ist das Wohn- und Bürohaus „Rondo“ am Grazer Marienplatz. Das Gebäude ist an ein Kleinkraftwerk angeschlossen, für das nötige Klima im Stiegenhaus sorgt ein Kiesgarten mit sorgfältig ausgesuchten mediterranen und japanischen Pflanzen, und statt einer herkömmlichen Tiefgarage unterm Haus gibt es eine vollautomatisierte Stapelanlage mit 200 Regalplätzen, die zwar mehr Strom benötigt, dafür aber errechneterweise pro Jahr bis zu 100.000 Kilometer Tiefgaragenstellplatzsuchkilometer einspart.

„Architektur ist eine komplexe Materie mit vielen Variablen“, so Pernthaler. „Wenn man als Dirigent in diesem Beruf nicht auch ein Mindestinteresse für Technik und Physik aufbringt, dann ist man bald einmal aufgeschmissen, denn der Job wird aufgrund der rasanten technischen Entwicklung immer anspruchsvoller.“ Erst vor wenigen Monaten wurde eines seiner Projekte für genau diese interdisziplinäre Planungsqualität mit dem Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet: Das Messequartier Graz ist ein Passivhaus mit 149 Wohnungen, betreutem Wohnheim, 94 Studentenheimplätzen und 750 Quadratmeter Solarthermiekollektoren auf dem Dach. Im Herbst startet die nächste Bauphase mit weiteren hundert Wohnungen. Dann wird es auch eine interne Ladestation für Elektro- und Hybridfahrzeuge geben sowie eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach, die den dafür notwendigen Strom produziert.

Bei kaum einer anderen Bauaufgabe jedoch ist das energetische Einsparpotenzial größer als bei einem Spital. „Ein Krankenhaus ist eine enorme Maschine, die viel Kälte, viel Wärme und vor allem viel Strom frisst“, sagt Pernthaler. „Wenn man hier umdenkt und auf Smart Grids und intelligentes Ressourcenmanagement setzt, kann man in der Ökobilanz viel verändern.“ Zu den bisher realisierten Projekten zählen die Salzburger Chirurgie West, eine Gynäkologiestation in Graz sowie das Kinderzentrum im LKH Salzburg. Das nächste Mammutprojekt ist die Sanierung und Erweiterung des LKH Graz, Fertigstellung 2022.

Auch in Wien ist Pernthaler tätig. Am Rande des Arsenalgeländes, direkt neben der Auffahrt auf die Südosttangente, entsteht ein schnittiger Rohbau, der sich Ende 2014 als Fernwärmekraftwerk entpuppen wird. Selbstredend, dass auch hier nicht nur mit Öl und Gas Energie erzeugt werden wird: Die gesamte Fassade des Gebäudes soll mit Fotovoltaikzellen verkleidet werden. „Variablen gibt es viele“, sagt Pernthaler, „aber die wichtigste Konstante für die kommenden Jahrzehnte lautet: maximal mögliche Energieautarkie.“

Der Standard, Sa., 2013.10.05



verknüpfte Akteure
Pernthaler Markus

28. September 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Utopie ist eine Schnecke

Das neue FRAC Centre in Orléans ist ein Museum für die Zukunft von Architektur. Kein Wunder, dass das ungewöhnliche Gebilde ziemlich modern und wild daherkommt.

Das neue FRAC Centre in Orléans ist ein Museum für die Zukunft von Architektur. Kein Wunder, dass das ungewöhnliche Gebilde ziemlich modern und wild daherkommt.

Klassizistische Backsteinbauten, barocke Steinfassaden, hübsches Ornament an den Häusern, und plötzlich taucht inmitten dieses historischen Ensembles ein silbrig schimmerndes Etwas auf, das wie die kartesische Inkarnation eines überdimensionalen Schneckentiers neugierig seine Augenfühler in den Himmel reckt. Das neue FRAC Centre in Orléans, rund 150 Kilometer südlich von Paris gelegen, ist das neueste Projekt der französischen Architekten Jakob+MacFarlane. Vor zwei Wochen wurde das Museum, das auf Kunst an der Schnittstelle zwischen Bildhauerei und experimenteller Architektur spezialisiert ist, feierlich eröffnet.

„Alte Häuser gibt es in Orléans schon zur Genüge“, sagt Marie-Madeleine, eine rüstige 72-jährige Pensionistin, die am FRAC vorbeimarschiert. „Zeitgenössische Architektur jedoch ist in dieser Stadt eine Seltenheit, und daher begrüße ich jeden Impuls in diese Richtung. Ich weiß ja nicht, was sich die Architekten dabei gedacht haben, aber ich persönlich finde den Kontrast zwischen Alt und Neu überaus gelungen.“ Anderen Passanten hingegen steht der Schock ins Gesicht geschrieben. Fassungslos schauen sie zu den drei Lichtrüsseln hoch, schütteln den Kopf und verschwinden wieder in der nächsten Rue.

„Das Projekt ist Resultat eines von uns entwickelten digitalen Algorithmus, mit dem wir den geometrischen Raster des historischen Altbestandes variiert und so lange verfremdet haben, bis genau diese Turbulenz entstanden ist“, sagt Architekt Brendan MacFarlane, schwarze, hagere Gestalt, Holzbrille auf der Nase. „So gesehen ist das Haus Folge einer prozessorientierten Überlagerung mathematischer Parameter oder, um es anders auszudrücken, formgewordene Unstabilität.“

Um etwas besser zu verstehen, worüber MacFarlane hier in den für ihn gewohnten Worten sinniert, muss man einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen. Entstanden ist das FRAC Centre - die Abkürzung steht für Fonds Régional d'Art Contemporain - 1982, als das Kulturministerium entschied, einen Teil des nationalen zeitgenössischen Kunstbestandes auszulagern und auf 23 regionale Museumsdependancen aufzuteilen. 1999, als in Orléans das internationale Architekturforum „Archilab“ ins Leben gerufen wurde, nutzte man die Gelegenheit dazu, das FRAC Orléans umzustrukturieren und sich fortan auf Exponate zu konzentrieren, die sich mit utopischer Architektur, neuen Technologien und experimentellen Entwurfsprozessen auseinandersetzen. Das europaweit erste Museum für Architekturzukunft war entstanden.

Ein Frack für das FRAC

„Wir waren damals in einem 200 Quadratmeter großen Ausstellungsraum an der Loire untergebracht, doch der Betrieb drohte längst schon aus allen Nähten zu platzen“, erinnert sich Marie-Ange Brayer, Direktorin des FRAC Centre. „2006 haben wir daher beschlossen zu expandieren und uns in der historischen Altstadt niederzulassen.“ Eines jedoch sei von Anfang an klar gewesen: Wenn man schon auf utopische Architekturkunst spezialisiert sei, dann müsse auch das neue Museum dieser Prämisse gerecht werden, dann müsse man ein modernes Signal in die Stadtlandschaft setzen.

Gesagt, getan. 2006, als in Orléans zum achten Mal das jährlich stattfindende Archilab-Forum über die Bühne ging, lud man die von überallher angereisten Architekten dazu ein, dem neuen FRAC einen maßgeschneiderten Frack zu schneidern - und zwar mit jenen digitalen Entwurfswerkzeugen, denen sich die FRAC-Sammlung schon viele Jahre zuvor verschrieben hatte. Aus dem Vor-Ort-Wettbewerb unter insgesamt fünf Teilnehmern ging das Pariser Architekturbüro Jakob+MacFarlane mit seiner digitalen Verfremdung der in kartesische Netzlinien zerstückelten Grundstückstopografie als Sieger hervor.

Auf dem Areal, das einst als Spital und später als militärische Großküche samt Fleischerei und Bäckerei genutzt wurde, steht heute eine expressive Stahl- und Aluminiumkonstruktion mit drei unterschiedlich hohen Lichttürmen. Hinter der karierten Struktur, die pro Jahr bis zu 50.000 Besucher anlocken soll, befindet sich das neue, knapp 500 Quadratmeter große FRAC-Foyer. Die Baukosten für Neubau und Sanierung - die Gesamtausstellungsfläche umfasst 1400 Quadratmeter - belaufen sich auf acht Millionen Euro. 60 Prozent davon trägt die Region Centre, die anderen 40 Prozent stammen von Stadt, Bund und EU.

„Um ehrlich zu sein, ist das neue Besuchergebäude völlig überdimensioniert“, meint Architekt Brendan MacFarlane. „Aber darum geht es nicht, denn in erster Linie ist das FRAC Centre heute ein Wahrzeichen für zeitgenössisches Planen und Bauen.“ Die zwischen Grau, Gold und Hellblau changierende Fassadenlackierung, die man aus der Automobilindustrie kennt und die das Haus je nach Sonneneinstrahlung anders erscheinen lässt, unterstreicht diesen Wunsch.

Topografie mit Lichtrüssel

Den Kindern gefällt das Resultat. Kreischend laufen sie über den mit Betonplatten verlegten Vorplatz, nehmen einige Schritte Anlauf und rennen mit viel Schwung an einem der sanft aufsteigenden Lichtrüssel hoch. Weit kommen sie nicht. „Ich mag das Haus, denn hier kann ich an der Mauer hochlaufen, ohne dass irgendwer schimpft“, sagt die fünfjährige Louise. „Außerdem schaut das Haus aus wie eine von diesen großen Nacktschnecken, die bei uns im Garten herumkriechen.“

In Österreich wäre so ein Bauwerk undenkbar. Die Bauvorschriften und Normen würden aus der Topografie einen Hindernisparcours mit Geländern und Absturzsicherungen machen. „Der gesamte Platz ist rollstuhlgerecht ausgeführt, und ein mit dem Blindenverband entwickeltes Wegleitsystem führt zum Haupteingang“, sagt Architektin Dominique Jakob. „Denjenigen, die auf Hilfe und Orientierung angewiesen sind, kommt das neue FRAC vorschriftsgemäß entgegen. Alle anderen können das Gelände nach Lust und Laune entdecken. Architektur kennt keine Grenzen.“

Gleiches gilt auch für die Sammlung. In den sanierten Räumlichkeiten der 1823 errichteten Militärküche wandert man durch Utopien und Visionen, vorbei an Möbeln und Kleidern aus dem 3-D-Drucker, innovativen Raum- und Konstruktionsprinzipien, neuartigen Fassadenmaterialien, die mithilfe von Nano-technologie entwickelt wurden, oder Zukunftsplänen für bioorganische Hochhäuser, die anhand eines programmierten Algorithmus eigenständig in den Himmel wachsen. Auch Arbeiten österreichischer Architekten sind in der Schau zu sehen, unter anderem digital generierte Strukturen von SPAN (Matias del Campo und Sandra Manninger) sowie der für die EXPO 2012 in Yeosu (Südkorea) errichtete One-Ocean-Pavillon von soma architects.

„Klassische Architekturmuseen, die sich der Vergangenheit und Gegenwart widmen, gibt es bereits zu genüge“, sagt FRAC-Direktorin Marie-Ange Brayer. „Wir hingegen werfen einen Blick in die Zukunft. Viele Architekten, die nun der zweiten Digitalgeneration angehören, haben sich der Forschung und Innovation verschrieben, und diesen Projekten möchten wir eine Bühne bieten. Es geht um Ideenfelder für die Zukunft. So gesehen ist das FRAC ein Ort kultureller Weiterbildung.“

Die österreichischen Pläne, auch hierzulande ein internationales Architekturmuseum zu etablieren, sind bislang gescheitert.

Die Eröffnungsausstellung „Archilab. Naturalizing Architecture“ ist noch bis 2. Februar 2014 zu sehen.

Der Standard, Sa., 2013.09.28



verknüpfte Bauwerke
FRAC Centre Orléans

21. September 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Einkaufswagerl voll Kunst und Architektur

Das Tiroler Familienunternehmen MPreis betreibt ganz besonderes Marketing: mit Kunstsackerln, Literatur auf dem Wurstpapier und zeitgenössischer Architektur

Das Tiroler Familienunternehmen MPreis betreibt ganz besonderes Marketing: mit Kunstsackerln, Literatur auf dem Wurstpapier und zeitgenössischer Architektur

Wenn man in Tirol einkaufen geht, dann kommt man nicht nur mit Tiefkühlpizza und einem Sechsertragerl Cola zurück, sondern mitunter auch mit neuen Ideen und Erkenntnissen in Sachen Kunst und Architektur. Denn das mittelständische Familienunternehmen MPreis, das 1920 in Völs gegründet und 1974 umstrukturiert und erweitert wurde, verwöhnt seine Kunden mit literarischen Zitaten auf dem Feinkosteinpackpapier, zeitgenössischer Kunst auf den Einkaufssackerln und spektakulärer Architektur.

„In den Siebzigerjahren mussten wir uns angesichts großer Umbrüche die Frage stellen, wie wir unser Familienunternehmen in die neue Zeit retten können“, sagt Hansjörg Mölk, Geschäftsführer und einer von sechs Gesellschaftern der MPreis Warenvertriebs GmbH. „Wir haben nach Möglichkeiten gesucht, unsere Betriebe weiterzuentwickeln und dabei auf Aspekte des Lebensmittelhandels zu setzen, die bis dahin nicht berücksichtigt wurden.“ Architekt Heinz Planatscher, ein Freund der Familie, bot sich an, einen neuen, zeitgemäßen Markt zu entwerfen - und gab damit den Startschuss für eine bis heute anhaltende Renaissance der österreichischen Supermarktlandschaft.

Mehr Museum als Markt

Insgesamt besteht das MPreis-Netz aus 225 Filialen in Tirol, Südtirol und seit 2009 nun auch in Teilen Salzburgs und Kärntens. Rund 130 davon wurden in den letzten 35 Jahren errichtet und sind freistehende Solitäre, die mehr an ein Museum zeitgenössischer Kunst denn an einen herkömmlichen Lebensmittelmarkt erinnern. Da wird mit rohem Schnittholz und Beton gearbeitet, mit verrostetem Corten-Stahl und mystisch verspiegeltem Glas. Mal duckt sich das Gebäude unauffällig in die Landschaft, mal zischt es wie ein futuristisches Ufo aus dem Hang oder hängt wie im Fall Sölden wie ein Felsen über dem Abgrund.

„Im Gegensatz zu anderen Lebensmittelmarktketten gibt es bei MPreis keinen Bauprototyp, der überall gleich ausschaut“, sagt der Innsbrucker Architekt Rainer Köberl. Für das ehemalige Greißlerunternehmen mit dem leuchtend roten Würfel als Wiedererkennungsmerkmal plante er bereits vier Filialen, darunter auch den neuen Flagship-Markt im Untergeschoß des Kaufhauses Tyrol in der Innsbrucker Innenstadt, der im März 2010 eröffnet wurde. „Jeder einzelne Markt ist ein Einzelstück, der wie ein Maßanzug an die jeweilige Region sowie an das jeweilige Grundstück angepasst wird.“

Man geht über Parkett

Der erste Schritt, den man in Köberls MPreis in der Maria-Theresien-Straße setzt, überrascht, denn er wirft alle gängigen und längst international angewandten Spielregeln der Supermarktarchitektur über Bord. An der Decke befindet sich dunkelblaues, fast schwarzes Glas. Und auf dem Boden liegen nicht etwa PVC oder Fliesen, sondern weiß geöltes Eichenparkett. „Aufgrund der niedrigen Raumhöhe von nur drei Metern mussten wir tricksen“, erklärt Köberl. „Das dunkle Glas an der Decke sorgt dafür, dass sich der gesamte Raum darin spiegelt und der Supermarkt doppelt so hoch erscheint, wie er tatsächlich ist. Und Parkettboden? Warum auch nicht? Das Holz schafft eine Atmosphäre des Wohlfühlens.“

Natürlich koste so ein Supermarkt etwas mehr als eine Standardblechkiste von der Stange, gibt der Architekt zu bedenken und beziffert die Mehrkosten auf etwa 15 bis 20 Prozent. „Andererseits ist so ein MPreis nie nur ein Geschäft, sondern immer auch ein Stück gebauter Kultur und somit auch Werbeträger.“

Das Konzept geht auf. Das Londoner Lifestyle-Magazin Wallpaper schrieb vor einigen Jahren: „Es gibt Supermärkte, es gibt super Märkte, und es gibt MPreis.“ Ein Designmagazin attestierte der Familie Mölk sogar, „seriously sexy supermarkets“ zu bauen. Und neben der Tatsache, dass MPreis die schwierige Talsohle der Siebzigerjahre überdauerte, zeigt sich der Erfolg nicht zuletzt an den Reaktionen der Konkurrenten, denn mittlerweile haben auch Billa, Spar und Co die wirtschaftlichen Vorzüge architektonischer Mehrinvestition erkannt. Die Kunden wissen diese Innovation durchaus zu schätzen.

„Benchmark fürs Bauen“

„Rund um MPreis hat sich in all den Jahren eine Art Architekturszene entwickelt“, meint Hans-Peter Machné, Büro Machné & Durig. In Matrei in Osttirol plante er einen futuristischen Glasbungalow, der wie eine weiße Gletscherzunge aus dem Hang wächst. „Denn mit jedem MPreis, der in einer Gemeinde realisiert wird, entsteht eine Art neue Benchmark fürs Bauen.“ Das bestätigt auch ein Blick in die Tiroler Landschaft: Lederhosen mit Satteldach sind seltener geworden, stattdessen sieht man immer häufiger moderne, zeitgenössische Einfamilienhäuser und Wohnbauten. Ein kleiner Teil des Erfolgs geht mitunter aufs Konto der Tiroler MPreis-Architekten.

„In den ersten Jahren war es noch sehr schwer, die Bürgermeister von dieser Art Architektur zu überzeugen, da sind wir anfänglich noch auf großes Unverständnis gestoßen“, erinnert sich Geschäftsführer Hansjörg Mölk. „Doch in der Zwischenzeit haben die Bürgermeister erkannt, wie viel Potenzial in so einem modernen Gebäude steckt. Viele unserer Lebensmittelmärkte dienen als Impulse für andere Projekte - vor allem im ländlichen Raum, wo sich moderne Architektur bekanntermaßen schwerer durchsetzt als in der Großstadt.“

Auf der neunten Architektur-Biennale in Venedig 2004 lud Kommissärin Marta Schreieck MPreis als Vorzeigebauherrn in den österreichischen Pavillon ein. 2006 wurde die Völser Supermarktkette mit dem Internationalen Architekturpreis „Bauen in den Alpen“ ausgezeichnet. Und 2012 folgte der Preis „Trigos Tirol 2012“ für vorbildliche gesellschaftliche Verantwortung. Ist eine Expansion in den Osten geplant? „Nein, das entspricht nicht unserem Konzept“, heißt es auf Anfrage bei der Pressestelle. „Wir konzentrieren uns lieber auf Tirol und Umgebung. Da kennen wir uns aus.“

Der Standard, Sa., 2013.09.21



verknüpfte Akteure
MPREIS

21. September 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Die Welt ist ein Campus

Am Donnerstag fand in der neuen Wirtschaftsuni im Wiener Prater das Pre-Opening statt. Der Campus bietet allen Grund zur Freude.

Am Donnerstag fand in der neuen Wirtschaftsuni im Wiener Prater das Pre-Opening statt. Der Campus bietet allen Grund zur Freude.

Donnerstag, 19 Uhr. Während im Audimax gerade eine Vorlesung über die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise 2007/2008 begonnen hat - halbvoller Saal, in den Reihen findet das übliche Getwittere und Herumgezeichne statt -, scharen sich 200 Meter weiter Architekten, Journalistinnen und andere sehr wichtige Leute, um die Fertigstellung der neuen Wiener Wirtschaftsuniversität (WU) feierlich zu begehen.

Von Krise keine Spur. Im windschiefen Foyer des von Zaha Hadid geplanten Learning Centers werden Lachs und Schweinsbraten serviert. Dazu gibt's reichlich ausdifferenzierte akustische Un-termalung, denn für jedes einzelne der insgesamt sechs Unigebäude wurde ein eigener, sich an der architektonischen Sprache orientierender Eröffnungsjingle komponiert. Die Stimmung im Publikum ist superb. Selbst viele der beiwohnenden, schwarz monturierten Architekten, die für gewöhnlich dem Granteln nicht abgeneigt sind, heben an diesem Abend die Augenbrauen und holen tief, ganz tief Luft, so als ob sie sagen wollten: „Geht doch!“

Tatsächlich gibt es allen Grund zur Freude. Denn der neue WU-Campus am Rand des Wiener Praters ist in seiner äußeren Erscheinung eine Art Córdoba. Dass so ein Riesenprojekt - sechs Architekturbüros aus aller Welt waren an der Genese beteiligt - mit nur wenigen, dafür umso schmerzvolleren bürokratischen und baurechtlichen Zugeständnissen realisiert werden konnte, grenzt beinahe an ein Wunder - vor allem in Wien. Vergleichbares ist in der ganzen jüngeren Geschichte dieser Stadt kaum zu finden, denn überall anders, wo großflächige Bebauungen in Angriff genommen werden, landen sie früher oder später im unausweichlichen Mahlwerk zwischen politischem Marketing und wirtschaftlicher Profitgier, in dem sie stets zu mittelmäßiger Belanglosigkeit zermalmt werden.

„Dieses Projekt ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich“, sagt WU-Rektor Christoph Badelt im Gespräch mit dem STANDARD. „Ich muss zugeben, dass das Gesamtensemble des neuen Campus auf mich erhaben und zutiefst berührend wirkt. Um einfach nur zu sagen, ich sei mit dem Projekt zufrieden, ist die ganze Sache viel zu emotional.“ Am meisten freut sich Badelt über die Großzügigkeit und die neue Kommunikationskultur, die sich im neuen Campus aufzutun scheint. „Wissend, dass man den Begriff Campus in Wien anders interpretieren muss als etwa in Harvard oder Oxford, ist die Idee dennoch voll aufgegangen. Die neue WU ist eine kleine Stadt in der Stadt.“

Beim zweiten Anlauf klappt's

Erste Pläne, die alte WU in der Spittelau aufzugeben, reichen bis ins Jahr 2005 zurück. Der gläserne Monsterbau aus den frühen Achtzigern war, nach nicht einmal 25 Jahren Betrieb, komplett marod. Um das Schlimmste zu verhindern, mussten an regnerischen Tagen im ganzen Gebäude bis zu tausend Edelstahlwannen aufgestellt werden. Bald war klar, dass hier alle wegwollen, dass ein Neubau einer Sanierung klar vorgezogen wird. Erste organisatorische und wirtschaftliche Evaluierungen bestätigten das Möglichmachen des Unmöglichen.

2008 wurde ein offener EU-weiter Wettbewerb ausgeschrieben. Das in der Ausschreibung geforderte überbordende Leistungsprofil dürfte ein Schock gewesen sein, was sich nicht zuletzt in einer äußerst geringen Teilnahme mit nur 24 abgegebenen Projekten niederschlug. Die Resultate ließen zu wünschen übrig, und so beschloss man, das Siegerprojekt des Wiener Büros BUS Architektur als Masterplan heranzuziehen und entgegen den Wettbewerbsstatuten einen zweiten, diesmal weltweiten Wettbewerb aufzurollen, zu dem der damalige Juryvorsitzende Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au aktiv ein paar namhafte Architekturkapazunder aus seinem Dunstkreis zulud.

Architektur von Weltrang

Fünf Jahre später ist die von WU und Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) in einer gemeinsamen Gesellschaft geplante Campus- Vision Wirklichkeit geworden. Das knapp neun Hektar große Grundstück, das die WU nun für die Dauer von 25 Jahren von der BIG zurückmieten wird, ist eine Spielwiese zeitgenössischer Architektur, an deren Bau sich Zaha Hadid, Peter Cook vom Londoner Crab Studio, das Madrider Büro NO.MAD Arquitectos, die Katalanin Carme Pinós, der japanische Architekt Hitoshi Abe sowie die ursprüngliche Siegerin Laura Spinadel von BUS beteiligt haben. Das Resultat ist wild und überaus abwechslungsreich und spornt zu einem Spaziergang zwischen Hörsaalzentren, Bibliotheken und Institutsgebäuden an.

„Es wäre damals echt ein Fehler gewesen, die gesamte WU von einem einzigen Architekturbüro planen zu lassen“, sagt Prix heute. „Ich finde das Ergebnis städtebaulich und architektonisch hervorragend, mit einigen sehr guten und einigen fast sehr guten Bauwerken. Endlich gibt es in Wien so was wie internationale Architektur von Weltrang. Das hat hier bislang gefehlt.“ Doch der Luxus hat seinen Preis. Das anfänglich kolportierte Budget von 250 Millionen Euro hat sich auf 492 Millionen Euro nahezu verdoppelt.

„Endlich sieht man Menschen“, sagt Elisabeth Brugger, Studentin in Wirtschaftsrecht. „In der alten WU war alles sehr verwinkelt und unübersichtlich.“ Sinan Okman, Volkswirtschaftslehre, meint: „Mit dem alten Gebäude kann man das nicht vergleichen. Die Lernplätze sind super, der Campus ist extrem spannend, man fühlt sich hier wohl.“ Und Katharina Prochazka, Studentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Research Institute for Urban Management and Governance, zwei Lacrosse-Schläger unterm Arm, lobt die Offenheit und die vielen Begegnungsflächen auf dem Areal. „Und ich möchte gleich dazusagen, dass ich zwei Lieblinge habe“, fügt sie hinzu, „nämlich das Learning Center von Hadid, das für mich eine Mischung aus Raumschiff und Kommandozentrale ist, und die Execu- tive Academy von NO.MAD, weil sich darin der ganze Himmel spiegelt.“

Lieblingsgebäude gibt es hier viele. Mal ist es Zaha Hadids futuristischer Bibliothekskristall, in dem einen ob der gekippten Wände, parallelogrammförmigen Stiegenläufe und sich perspektivisch bis auf ein kleines Trapez zuspitzenden Gangflächen schon mal akute Seekrankheit ereilen kann, mal ist es das verrostete, mit Corten-Stahl verkleidete Teaching Center von BUS Architektur. Allein, kein Gebäude vermag derart zu polarisieren wie der rot-orange-gelbe Institutscluster von Peter Cook, der von vielen Beteiligten als „Karikatur“ (vielfach gehörter O-Ton) empfunden wird. Die Farbgestaltung und die sägerauen Latten aus Weißtanne samt Rinde, die frisch aus dem Wald angekarrt wurden, spalten selbst die coolsten Gemüter.

„Lasst uns Farbe genießen!“

„Wien ist eine echt wunderbare Stadt, aber sie ist oft grau, so unbeschreiblich grau“, sagte Peter Cook vorgestern und erntete damit zustimmendes Gelächter im Saal. „Lasst uns doch endlich die Stadt in ihrer Farbenvielfalt genießen! Lasst uns in diese Dumpfheit etwas Heiterkeit reinbringen! Alles, nur nicht eines von diesen fucking boring Häusern!“ Als Arbeitsplatz taugt der Cook-Bau, der innen mit getupften Teppichen, rot-weiß karierten Türen und minzgrünen Möbeln bestückt ist, allemal. Im Kopierzimmer steht eine gestresste Mitarbeiterin: „Keine Zeit. Vollstress. Ist ein echt lässiges Haus. Das rockt.“ Und sogar Rektor Badelt, dessen Büro im quietschbunten Alien untergebracht ist, meint: „Die Architektur von Peter Cook mag Geschmackssache sein, aber ich persönlich fühle mich hier am wohlsten.“

Wien hat endlich Weltarchitektur bekommen - mit vielen unterschiedlichen Handschriften und ebenso vielen unterschiedlichen Meinungen dazu. Gut so. So funktioniert Stadt. Jetzt fehlt nur noch, dass ebendiese in den kommenden Jahren an den Campus heranwachsen und sich diesen infrastrukturell einverleiben möge. Randnotiz: Über den Wahnsinn, mit dem über die visionäre Architektur, einem Käfig gleich, das um Normierung und Haftungsfragenklärung bemühte Korsett österreichischer Kleingeistbauordnungsbürokratie gestülpt wurde, muss man nonchalant hinwegsehen. Das wird im Ausland für Lachsalven sorgen.

Die offizielle Eröffnung des WU-Campus findet am Freitag, dem 4. Oktober, statt.

Wien hat endlich Weltarchitektur bekommen - mit vielen unterschiedlichen Handschriften und ebenso vielen unterschiedlichen Meinungen dazu. Gut so. So funktioniert Stadt.

Der Standard, Sa., 2013.09.21



verknüpfte Ensembles
Campus WU

21. September 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Die neuen Abenteuer des Raumschiffs Enterprise

Das Wiener Architekturbüro The Next Enterprise dringt mit seinen Projekten immer wieder in neue Galaxien vor. Ob Schwimmbad, Freilichtbühne oder Einfamilienhaus: Die Mission dieses kompromisslosen Duos ist die Schaffung neuer Räume im Kopf und in der Wirklichkeit.

Das Wiener Architekturbüro The Next Enterprise dringt mit seinen Projekten immer wieder in neue Galaxien vor. Ob Schwimmbad, Freilichtbühne oder Einfamilienhaus: Die Mission dieses kompromisslosen Duos ist die Schaffung neuer Räume im Kopf und in der Wirklichkeit.

„Raumschiff Enterprise war unsere absolute Lieblingsserie“, sagt Marie-Therese Harnoncourt. „Jeder wollte wissen, wie man sich in einem Raumschiff fortbewegt und dabei in unbekannte Welten vordringt. Diese Expeditionslust und Sehnsucht nach Neuem hat bis heute Spuren hinterlassen.“ Gemeinsam mit ihrem Partner Ernst J. Fuchs betreibt Harnoncourt das Wiener Architekturbüro The Next Enterprise. Das größte und wohl bekannteste Raumschiff der beiden Enfants terribles ist der sogenannte „Wolkenturm“, eine wilde, expressionistische Freilichtbühne im Schlossparks Grafenegg.

„Architektur, die aus aneinandergereihten Schachteln besteht, ist uns zu wenig“, so Harnoncourt. „Wir wollen Raum schaffen, in dem man nicht einfach nur passiver Konsument ist, sondern sich mit der Architektur aktiv auseinandersetzt.“ Da muss man sich auch schon mal weit vornüberbeugen, um eine Bierflasche aus der mit Wasser gefüllten Bar zu fischen („Trinkbrunnen“, 2003), und ein gewisser Hang zum ewig langen Im-Kreis-Gehen ist gewiss auch nicht von Nachteil („Blindgänger“, 2000).

Das Spiel mit der Auflösung der Grenzen zwischen Architektur und Kunst ist eine Spezialität dieses Büros. Doch nicht immer stößt die eingeforderte Wechselbeziehung, die The Next Enterprise seinen Bauherren abverlangt, auf Gefallen. Das in jahrelanger Arbeit ertüftelte Warmbad Villach wurde kurzerhand ohne die Architekten realisiert. Und beim Wettbewerb für das neue Archäologische Zentrum in Mainz wurden die erstgereihten Enterpriser von der Bauherrschaft einfach übergangen. Harnoncourt: „Solche Ungerechtigkeiten gibt es in der Baubranche leider ab und zu, aber zum Glück steht das nicht auf der Tagesordnung.“

Auf der Agenda für 2014 stehen ein Dachausbau in Wien und ein alles andere als schachtelförmiges Gebilde in Retz. Das expressive Einfamilienhaus für einen Hobby-Schnapsbrenner liegt am alten Stadtrand. Mitten durchs Grundstück verläuft die alte Stadtmauer. Zwischen Haus und Mauerwerk wird ein Garten umschlossen, der selbst schon eine Art Zimmer ist - mit Gras statt Parkett und Himmel statt Plafond.

„Architektur ist mehr als nur Innenraum, Architektur ist ein ganzheitlicher Spannungsraum zwischen künstlich geschaffener Umwelt und Natur“, meint Harnoncourt. Im Seebad Kaltern in Südtirol kann man in diesem neu definierten Raumbegriff ein Bad nehmen: Das gesamte Freibecken scheint in der Luft zu schweben, durch Panzerglasscheiben im Beckenboden sehen die Schwimmenden auf die im Schatten Liegenden herunter, diese wiederum haben Ausblick auf die schwarzen Silhouetten, die sich schwerelos im blauen Nass räkeln. In der Abkehr von Schwerkraft und räumlicher Konventionalität zeigt sich die immerwährende Sehnsucht dieses Büros am besten. Oder, um mit den Worten von The Next Enterprise zu sprechen: „Architektur, das bedeutet, sich neue Räume im Kopf zu erschließen.“

Der Standard, Sa., 2013.09.21



verknüpfte Akteure
the next ENTERprise Architects

31. August 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Lehmbau macht Schule

Schulbeginn einmal anders: In Südafrika errichten österreichische Architekturstudenten zwei Schulbauten in Eigenregie. Zu Besuch in Johannesburg und an der Wild Coast im Süden.

Schulbeginn einmal anders: In Südafrika errichten österreichische Architekturstudenten zwei Schulbauten in Eigenregie. Zu Besuch in Johannesburg und an der Wild Coast im Süden.

Zwölf Uhr mittags. Ein junger Bub in Schuluniform rennt aus der Klasse und läuft über das Schulgelände. In seiner rechten Hand baumelt eine Schulglocke. Mit jedem Schlag ertönt ein schriller, blecherner Ton. Während sich der Schulhof allmählich mit Kindern füllt, die sich mit einem Teller Chicken and Rice in den Schatten setzen, wird auf der Baustelle eifrig weitergearbeitet. Eine Gruppe junger Architekturstudenten steht am Gerüst und stopft, Schaufel für Schaufel, feuchten Lehm zwischen zwei Betonstützen. Als Schalung dient Hasenstallgitter aus dem Baumarkt. Immer wieder wird die Wand bewässert, immer wieder wird nasse Erde nachgefüllt. Die Arbeit zieht sich über Stunden.

„Den Wandaufbau haben wir selbst entwickelt“, sagt Elias Rubin, Student an der Kunstuniversität Linz. „Holz oder Stahl sind in dieser Gegend erstens sehr teuer, und zweitens sind sie dem aggressiven Klimawechsel zwischen Sommer und Winter nicht gewachsen. Daher greifen wir auf die Lehmbauweise zurück, die hier seit langer Zeit Tradition hat.“ Mit einem Kniff allerdings: Statt Lehm wird ganz normale Erde mit Kies und Stein verwendet. „Das spart Zeit und Kraft“, so Rubin, „außerdem braucht man für diese Bauweise keine erfahrenen Handwerker. Das kann jeder.“

Schon seit einigen Jahren fahren regelmäßig Studenten aus Österreich, Deutschland, Slowenien und der Schweiz nach Zonkizizwe, rund 50 Kilometer südlich von Johannesburg, um dort in Zusammenarbeit mit den Einheimischen ihre besten Uniprojekte in die Realität umzusetzen. Zuletzt waren Studenten der TU Graz, der FH Spittal an der Drau und der RWTH Aachen vor Ort. Innerhalb einiger Wochen sind zwei neue Grundschulklassen mit sämtlichen Nebenräumen und einem schönen, überdachten Patio entstanden.

Die unsichtbare politische Kraft hinter dem universitären Austauschprogramm ist der österreichische Verein s2arch. Projektinitiator und Vereinschef ist der Wiener Gemeinderat und Landtagsabgeordnete Christoph Chorherr, der schon seit mehr als zehn Jahren Architekturprojekte in Südafrika abwickelt. Hauptsponsor ist die Wiener Vermögensverwaltungs- und Beratungsgesellschaft Ithuba Capital.

„Das Problem an herkömmlichen Entwicklungshilfeprojekten ist, dass es sich meist um One-Time-Shows handelt, die in keinerlei Wechselwirkung mit dem jeweiligen Ort stehen“, sagt Chorherr zum STANDARD. „Das ist nicht nur Geldverschwendung, sondern auch ein gefährlicher, schadhafter Eingriff in die sensiblen kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen einer Gesellschaft. Dann lieber gleich lassen.“

Mehr als nur Baustelle

s2arch geht einen Schritt weiter. Hier geht es nicht nur um den Bau, sondern auch um die Etablierung einer eigenen Privatschule, um die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern und nicht zuletzt um die langjährige operative Begleitung eines noch jungen Schulapparats. Nebenbei wird auf diese Weise die Arbeitslosigkeit eingedämmt. Frauen und Männer aus den benachbarten Townships können für ein paar hundert Rand am Bau mitarbeiten.

Mittlerweile hat das Ithuba Skills College, so der offizielle Name der 2008 gegründeten Privatschule, rund 260 Schüler, die von insgesamt 15 Lehrern betreut werden. „Der Standard an öffentlichen Schulen in dieser Gegend ist extrem niedrig“, erklärt Schuldirektor Myheart Muusha. „In den meisten Fällen sind die Kinder nach Abschluss der Grundschule nicht einmal in der Lage, ihren eigenen Namen zu schreiben. Die Lehrer sind schlecht ausgebildet. Diejenigen, die es sich leisten können, flüchten an die guten Schulen in die Stadt.“

So wie etwa an die Leadership Academy for Girls in Meyerton, rund 25 Kilometer südwestlich von Zonkizizwe. Das Projekt geht auf eine Initiative von Oprah Winfrey zurück. Die US-amerikanische Talkshow-Königin erfüllte sich mit ihrer Wunderland-Mädchenschule nach eigenen Angaben ihren lang gehegten „Oprahs Traum, den Mädchen endlich zeigen zu können, was sich auf der anderen Seite der Tür befindet“ - mit klimatisierten Schulklassen, vegetarischem Bio-Catering und eigenem Wellness-Studio. Mit dem Südafrika diesseits der Tür hat das alles nicht viel zu tun.

„Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir wollen“, sagt Nora Müller, Projektleiterin und Assistentin an der RWTH Aachen. „Wir wollen keine Parallelwelt schaffen, sondern mit den vorhandenen Ressourcen und den Arbeitskräften vor Ort eine Architektur und Bauweise entwickeln, die alltagstauglich ist und die auch dann noch überlebt und weiterentwickelt werden kann, wenn wir schon wieder längst nach Hause zurückgekehrt sind.“

Manche Schulklassen sind aus Blech zusammengeschraubt, andere aus Holzpaletten und Polycarbonat, manche wurden aus Betonziegelsteinen gemauert und mit schlachthausartigen Metallschiebetüren versehen, andere wiederum riechen nach Stroh und Erde. Kanalrohre werden als Low-Tech-Klimaanlage zweckentfremdet, Bierkisten wachsen durch Stapelung und Verschraubung zu Küchenmöbeln heran, und statt kostspieliger Fenster werden verschiedenfarbige Flaschenböden eingemauert. Nicht immer bestehen die witzigen Studentenideen den Alltagstest.

Wertschöpfung in der Region

Das Budget pro Klasse beläuft sich auf 40.000 bis 45.000 Euro. Oberstes Prinzip bei jedem Projekt: Die Wertschöpfungskette muss in der Region bleiben. „So ein Kooperationsprojekt zwischen zwei Kontinenten macht nur dann Sinn, wenn es einen Langzeiteffekt gibt“, sagt Elias Rubin. „Einfache Baustoffe wie Stroh oder Lehm sind überall vorhanden. Auf diese Weise kann man auf billigste Weise Architektur schaffen, ohne dass große Ziegel- oder Zementkonzerne an der Errichtung mitnaschen.“

Die Ithuba School in Zonkizizwe war der Startschuss. Vor zwei Jahren expandierte die Ithuba Capital AG in den Süden und ist seitdem mit der Errichtung einer weiteren Schule beschäftigt. Das Bildungsniveau im Eastern Cape, dem oft verschrienen „Armenhaus Südafrikas“, ist noch viel besorgniserregender. Schuldichte und Bildungsniveau sind gering, die Analphabetismusrate liegt bei 70 Prozent. Besonders rückständig ist die schlecht erschlossene Küste, die sogenannte Wild Coast.

Inmitten dieser wildromantischen Landschaft steht der kleine Mzamba-Schulcampus. Ein wenig erinnern die schlichten, archaischen Lehmbauten an die Architektur des chinesischen Pritzker-Preisträgers Wang Shu. „Die Lebensbedingungen hier sind extrem rau“, sagt Markus Dobmeier, freischaffender Architekt und Assistent an der TU München. Er ist Leiter und Koordinator des Projekts und für den Masterplan verantwortlich. „Ästhetik ist zwar ein wichtiger Faktor, aber das Allerwichtigste ist, dass die Gebäude der starken Luftfeuchtigkeit und der durch die Gischt verursachten Erosion standhalten. Das geht mit Lehm am besten.“

In den rundum gemauerten Innenhöfen wird gespielt und getanzt. An schönen Tagen findet der Unterricht im Freien statt. „Diese Schule ist ein Geschenk“, meint Schuldirektorin Jacqueline du Toit. „Hier lernen die Kinder nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen, sie lernen auch, dass man auch mit ganz wenig Geld so etwas wie Schönheit und Geborgenheit erleben kann.“

Lehm, Schaufel für Schaufel

Derzeit besteht die Mzamba School aus zwei Grundschulklassen, einer Kindergartengruppe und einem Wirtschaftsgebäude. Im Endausbau sollen es sieben Klassen, ein Kindergarten, ein Verwaltungsbau und eine Bibliothek sein. Geht alles nach Plan, soll das Ensemble in vier bis fünf Jahren vollendet sein. Die Chancen stehen gut. Die Studenten aus Österreich und Deutschland haben immer noch Biss, stehen am Gerüst, hören Lady Gaga und stopfen, Schaufel für Schaufel, Lehm zwischen die Schalung.

„Richtige Entwicklungshilfe beginnt erst dann zu greifen, wenn der mediale Hype nachgelassen und die Arbeit zäh und mühsam, ja manchmal sogar langweilig geworden ist“, meint s2arch-Chef Christoph Chorherr. „Drei Viertel aller Entwicklungsprojekte gehen schief. Nachdem wir nach fünf Jahren immer noch zu tun haben, glaube ich, dass wir es richtig gemacht haben.“

Der Standard, Sa., 2013.08.31

17. August 2013Wojciech Czaja
Neue Zürcher Zeitung

Wang Shus Blick auf die Baukunst

Für seine Bauten aus Ziegel und Stein bekam der chinesische Architekt Wang Shu letztes Jahr den renommierten Pritzkerpreis. Zuvor war er ausserhalb Chinas kaum bekannt gewesen; heute umwerben ihn Bauherren aus aller Welt. Mit Wang Shu sprach Wojciech Czaja.

Für seine Bauten aus Ziegel und Stein bekam der chinesische Architekt Wang Shu letztes Jahr den renommierten Pritzkerpreis. Zuvor war er ausserhalb Chinas kaum bekannt gewesen; heute umwerben ihn Bauherren aus aller Welt. Mit Wang Shu sprach Wojciech Czaja.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

17. August 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Wir sind nicht am Ende

Gestern glänzende Motor City, seit Juli bankrott. Ein großes Raunen geht um die Welt. Alles schon gehört. Oder doch nicht? Detroit nach der Pleite: wie eine neue Stadt in der Stadt entsteht.

Gestern glänzende Motor City, seit Juli bankrott. Ein großes Raunen geht um die Welt. Alles schon gehört. Oder doch nicht? Detroit nach der Pleite: wie eine neue Stadt in der Stadt entsteht.

Es ist mucksmäuschenstill. Keine Menschenseele weit und breit. Nur ab und zu entweicht diesem gottlosen Ort ein Vogelgezwitscher, ein Grillengezirpe, irgendein plötzliches unheimliches Rascheln im Busch.

Ob da noch jemand wohnt? Ich meine, nicht in diesem Haus, sondern überhaupt in diesem Viertel? „Ihr mit eurem Ruinenporno! Natürlich leben hier noch Menschen“, sagt Nick Tobier. Der 44-Jährige, eine hagere Gestalt mit Lockenkopf und dem Grinsen eines Hochzeitsplaners, ist Architekturprofessor an der University of Michigan in Ann Arbor und entwickelt Überlebensstrategien für die wenigen noch verbliebenen Einwohner in den Suburbs. „Meist sind es ältere Bewohner ohne Familie, die sich weigern, ihre alten Häuser zu verlassen und in eine bessere, noch funktionierende Gegend zu ziehen. Doch solange diese Menschen hier leben, sind die Neighborhoods noch lange nicht tot.“

Knapp 80.000 Häuser im Stadtgebiet Detroit stehen leer und rotten vor sich hin. Es ist ein Häuserfriedhof bis zum Horizont, gefühlterweise ohne Anfang und ohne Ende. Manche davon, einst klassische Suburbian Homes wie überall in den USA, haben kein Dach, andere keine Fenster und Türen, wiederum andere sind nur noch in eingestürzten, verkohlten Fragmenten vorhanden. Das Abfackeln verwaister Holzhäuschen, muss man nämlich wissen, ist ein beliebter Sport unter Jugendlichen. In der Devil's Night, der Nacht vor Halloween, ziehen sie in Banden durch die Straßen und setzen alte, leerstehende Ruinen in Brand. „Die Zahl der Brandstiftungen war bereits rückläufig“, sagt Nick. „Seit 2010 nimmt die Lust am Zerstören aber wieder zu. Wer will schon Süßes oder Saures, wenn er auch ein kleines Flammeninferno haben kann?“

Von Jahr zu Jahr verändert Detroit sein Gesicht, schrumpft, wird immer toter und toter. Waren es 1950, in der Hochblüte von General Motors, Chrysler und Ford, noch zwei Millionen Menschen, die hier lebten, sind es heute nur noch 680.000. Zwei von drei Einwohnern sind bereits weg. „Der Verfall Detroits ist seit Jahrzehnten zu beobachten, und in den letzten Monaten wusste schon jeder, dass der Bankrott unausweichlich ist“, sagt Nick. „Doch jetzt, seitdem es offiziell ist und Bürgermeister Dave Bing handlungsunfähig und mundtot gemacht wurde, schaut uns das ganze Land dabei zu, wie wir am Ende sind. Es ist demütigend.“

Miserabel: Platz eins für Detroit

18 Milliarden US-Dollar (rund 14 Milliarden Euro) an Verbindlichkeiten hat die Kommune nach Berechnungen des Insolvenzanwalts Kevyn Orr angehäuft. Das ist die mit Abstand größte US-Stadtpleite aller Zeiten. Detroit war einmal die reichste Großstadt Amerikas. Heute ist sie nicht nur die ärmste, sondern auch diejenige mit der höchsten Kriminalität: 2137 Gewaltverbrechen pro 100.000 Einwohner, darunter 344 Morde, Aufklärungsrate weniger als zehn Prozent. Hinzu kommen rund 19 Prozent Arbeitslosigkeit. In einigen Stadtvierteln, schätzt man, ist sogar jeder Zweite ohne Job. Laut Wirtschaftsmagazin Forbes, rankinggeil wie immer, liegt „The D“, wie Detroit von seinen Bewohnern auch genannt wird, aktuell auf Platz eins der miserabelsten Städte Amerikas.

Nick kriegt das Grinsen nicht weg. Seine Stimme ist immer noch von guter Laune getragen. Bei manchen Worten gluckst sie unüberhörbar nach oben. „Aber wir sind nicht am Ende! Denn die jetzige Situation, so dramatisch sie für einen Außenstehenden auch scheinen mag, ist endlich wieder eine Chance für einen Neubeginn. Die Stadt kann sich neu positionieren. So ähnlich wie seinerzeit Berlin.“ An der Ecke Kercheval und Meldrum Street, im sogenannten „Black Bottom“ im Osten der Stadt, wo die wenigen verbliebenen Einwohner fast zur Gänze afroamerikanischer Abstammung sind, ist ein selbstgebasteltes Holzschild in den Boden gerammt: „Earthworks Urban Farm and Soup Kitchen“. Dahinter Büsche und Gemüse, dutzende Meter weit.

„Hey Brother“, sagt Daryl Howard, Latzhose, Wollmütze, Erde unter den Fingernägeln. Was sagt man da zurück? Hey? Hey! Howard kommt frisch von der Arbeit, die Mittagspause hat gerade angefangen. „Hunger? Es gibt Rübensuppe, Organic Sandwich und Salat. Komm rein in unsere kleine Welt!“ Earthworks ist ein selbstfinanzierter Verein, der 1997 gegründet wurde und mittlerweile sieben Farmen in ganz Detroit umfasst. Er kümmert sich um Anbau von Obst und Gemüse, er bietet Kochkurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an, vor allem aber verarbeitet er Tag für Tag seine eigene Ernte und bittet Hungrige zu Tisch. „Soup Kitchen“, öffentliche Suppenküche für alle, nennt sich das Ganze. Das Essen ist umsonst.

„Viele von uns kennen Essen nur in Form von Fastfood und eingeschweißtem, vakuumverpacktem Processed Food von der Tankstelle“, sagt Daryl. „Und das ist eine Katastrophe. Erstens wird man davon nicht satt, zweitens führt das über kurz oder lang zu Krankheiten, die keiner haben will.“ Viele Detroiter, die im Black Bottom zu Hause sind, leiden an Diabetes. Die Lage ist dramatisch. „Unser größtes Problem sind in Wahrheit nicht die leeren Häuser und nicht die fehlenden Jobs, über die jeder klagt, sondern die alltägliche Lebensmittelversorgung.“

Detroit ist heute eine sogenannte „Food Desert“. Das bedeutet: Mehr als 75 Prozent aller Einwohner müssen mehr als eine Meile zurücklegen, um an frische, gesunde Nahrungsmittel zu gelangen. Weit und breit kein Supermarkt. Zumindest nicht hier, am schwarzen Boden, wie alle sagen. Hinzu kommt die Tatsache, dass ein Drittel aller Detroiter kein Auto besitzt. Zu teuer. Auf den öffentlichen Bus kann man sich auch nicht mehr verlassen. Einmal pro Stunde fährt er von nirgendwo nach nirgendwo. Wenn er denn überhaupt kommt. Und so haben die Menschen keine andere Wahl als zu Exxon, Texaco, Citgo, Shell oder Mobil zu wandern. Die gibt's an jeder Ecke. Immer noch. Erstaunlich.

Oder sie spazieren zur nächsten Urban Farm. „Ja, ich weiß, bei euch in Europa, in London, Paris und Berlin, gibt's diesen Trend auch“, sagt Daryl. „Doch hier in Detroit ist Urban Farming weder chic, noch legen wir besonders Wert darauf, dass alles bio ist. Wir wollen einfach nur satt werden.“ Mit Erfolg, wie sich unter dem Jeanslatz erkennen lässt. „Ohne die vielen leerstehenden Grundstücke und die Möglichkeit, selbst Obst und Gemüse anzubauen, wären wir hier wahrscheinlich längst verhungert.“ Neben Earthworks gibt es im Stadtgebiet Detroit heute einige hundert Gemüsefarmen. Zusammen produzieren sie rund 170 Tonnen Nahrungsmittel pro Jahr. Das entspricht einem Marktwert von einer halben Million US-Dollar, rund 375.000 Euro.

Zwei, die schon seit einigen Jahren Urban Farming betreiben, sind Heather und Barry Nelson. Sie ist 58 und ehemalige Spanischlehrerin. Er ist 70 und war früher in der Kommunikationsbranche tätig. Mehr will er nicht verraten. Sie leben in einem Two-Bedroom-Apartment, nicht weit von hier. Regelmäßig stecken sie ihre Hände in die Erde und sind ehrenamtlich für diejenigen tätig, denen es nicht so gut geht. „Wir bauen Tomaten, Kürbis, Kohl, Kraut, Spinat und diverse Salate an, doch am liebsten haben wir Okraschoten. Unglaublich, was man daraus alles machen kann!“

In den letzten 20, 30 Jahren, sagen Heather und Barry, hätten sich die Städte im Rust Belt massiv verändert. Detroit, Cleveland, Pittsburgh, Buffalo, Toledo, Erie und wie sie nicht alle heißen mögen. Allein in den Nullerjahren sind im Rust Belt mehr als 320.000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Aber einen Vorteil hat die postindustrielle Transformation, die über die einstigen Stahlhochburgen wie ein rostiger Gewitterhimmel herzieht: „Ich kann mich nicht erinnern, wann man in einer amerikanischen Großstadt zuletzt so unmittelbar in und mit der Natur gelebt hat. You know what I mean?“

Ungewollterweise ist Detroit heute wahrscheinlich die grünste Metropole der Welt. Von den 360 Quadratkilometern Stadtfläche - das entspricht der Fläche von Boston, San Francisco und ganz Manhattan - sind heute mehr als 100 Quadratkilometer leer. Da, wo einst glückliche Vorstadthäuser mit glücklichen Fords und Chevrolets in der Auffahrt standen, ist heute dichtes, dickes Grün. Großstadtdschungel - was für eine verbale Ironie des Schicksals! Die Straßen, die wie eine karierte Matrix durch den grünen Teppich führen, wirken befremdlich. Noch befremdlicher jedoch als die Asphaltschneisen sind die Gehsteige mit ihren abgesenkten Rollstuhlrampen im Kreuzungsbereich und den erdbeerroten, einbetonierten Noppenbelägen für Blinde. Das Bild ist skurril.

„Ach, die Gehsteige in den Suburbs“, stöhnt John Baran, Executive Manager im Department für Planung und Stadtentwicklung der Stadt Detroit. „Eine absurde Story, erinnern Sie mich nicht daran!“ Nach einer Klage, die der Behindertenverband gegen die Stadt Detroit eingebracht hatte, musste diese sämtliche Kreuzungen im Stadtgebiet barrierefrei umbauen, also rollstuhlbefahrbar ausführen und blindentauglich mit einem Tastleitsystem ausstatten. Und zwar überall. Die Umbaumaßnahmen haben sich über Jahre gezogen und haben einige Dollarmillionen verschlungen.

Straßennamen: deleted

„Die Stadt schrumpft in einem rasanten Tempo und verändert sich von Tag zu Tag, man kann dabei förmlich zusehen“, sagt Baran. „Wir kommen mit den Plankorrekturen kaum noch nach.“ Der aktuelle Detroiter Stadtentwicklungsplan stammt aus dem Jahr 1992, als die Stadt noch mehr als eine Million Einwohner hatte. Für einen neuen Masterplan fehlt das Geld. Doch man weiß sich zu helfen: Alle sechs Monate steigen die Mitarbeiter ins Auto und kurven durch die aussterbenden Quartiere, um die leeren Straßenblocks zu scannen. Wo der Verlust verkraftbar ist, werden die Straßennamen einfach aus der Datenbank gelöscht.

„Eigentlich gäbe es für uns so viel zu tun, aber uns fehlt einfach das Geld“, meint Baran. „Das war auch vor der Pleite schon so.“ Nachdem diejenigen, die es sich leisten können, die Stadt verlassen und stattdessen in die Suburbs oder in irgendeine andere Stadt ziehen, wird Detroit nach und nach um seine Steuereinnahmen gebracht. In den letzten zehn Jahren, rechnet Baran vor, seien die Einnahmen in einigen Vierteln um bis zu 78 Prozent zurückgegangen. Früher, als noch ausreichend Geld in der Stadtkasse war, wurden die verlassenen Häuser, die meist einsturzgefährdet sind und somit eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen, noch auf eigene Kosten abgerissen. 7000 Dollar kostet die Abrissbirne samt Entsorgung. Das ist nun Geschichte.

„Wir haben keine Wahl“, erklärt Baran. „Einen Teil der Stadt müssen wir sich selbst überlassen und an die Natur zurückgeben.“ Resizing, Rückdimensionierung, heißt das im Amtsjargon. Dazu gehört auch, dass einige Quartiere, in denen nur noch ein paar vereinzelte Seelen leben, sogenannte Ganglands, von der Stadtverwaltung aufgegeben werden. Buslinien werden gekappt, Schulen werden geschlossen, Straßenlaternen werden ausgeschaltet.

Außerdem werden die urbanen Löcher nicht mehr versorgt, werden weder von der Müllabfuhr noch von der Feuerwehr und Polizei angefahren. Auch dann nicht, wenn Schüsse und Schreie zu hören sind und ganze Häuserreihen in Flammen stehen. 58 Minuten, ist dieser Tage zu lesen, brauchte die Detroiter Polizei heuer im Durchschnitt, um auf einen Notruf zu reagieren. Die schockierende Zahl ist leicht erklärt: In wohlhabenden Stadtvierteln wie Indian Village, Dearborn Heights, Palmer Park und Oakland County war sie schnell wie eh und je. Den Black Bottom aber, den fährt sie gar nicht mehr an.

Viele Detroiter, allen voran junge Kreative, machen sich diese anarchischen Zustände zunutze. Überall hört man: Berlin, Berlin, Berlin, das große Vorbild. „Say nice things about Detroit“, mit einem Herzchen als i-Punkt, ist an eine weiße Hausmauer gesprayt. Und das tun sie, das tun sie alle. Jaclyn Strez, 27 Jahre alt und noch voller Optimismus, leitet den kleinen Non-Profit-Kunstverein Detroit Contemporary. Sie ist Schauspielerin, Künstlerin und lebt seit gut 15 Jahren in Michigan. Das Haus selbst, früher mal ein Supermarkt, wird von der Stadt kostenlos zur Verfügung gestellt. Im Garten wird Gemüse angebaut, das Erdgeschoß wird für diverse Veranstaltungen genutzt, und oben im ersten Stock pennen ein paar Artists in Residence. Alles hier ist ein bisschen abgefuckt. „Nein, rosig ist es in Detroit nicht“, sagt Jaclyn. „Aber als Künstlerin habe ich genug Fantasie, um mir eine positive Zukunft dieser Stadt auszumalen. Und das Gute ist: So wie ich denken viele hier.“ Auch diverse Privatinvestoren nehmen sich Detroits an. In erster Linie investieren sie dort, wo die Stadt einspart: in Schulen.

Ein paar Blocks weiter liegt die Heidelberg Street, eine bunt bepinselte Straße, die als Outdoor-Galerie genutzt wird. Die Häuser sind gepunktet und gestreift, in einem der Gärten steht ein ausrangierter Saab mit Santa Claus am Steuer (ein schwedisches Auto in Detroit, tatsächlich), an die Bäume sind Teddybären geknebelt, und überall Kunstinstallationen und halb vergrabene Artefakte. Heidelberg Project, so der offizielle Name der 1986 gegründeten Initiative, sieht aus wie die Manifestation eines LSD-Trips.

Notlage: Phönix aus der Asche

„Dafür liebe ich diese Stadt“, sagt Noah Resnick, Designerbrille, Vintage-Sakko, der Typ Young Creative Industrial mit viel Kritik in den Augen und viel Intellekt auf der Stirn. „Natürlich identifiziert sich Detroit offiziell immer noch als Motor City. Das muss sie wohl. Aber hinter diesem abgewrackten, verrosteten Image wächst langsam eine Stadt in der Stadt heran, die in den USA ihresgleichen sucht.“ Das mit dem Motor, so Resnick, ist Geschichte. Das neue Detroit kehrt den Pferdestärken den Rücken und tritt in die Pedale.

Einige Radfabrikanten wie etwa Detroit Bikes, die den kaum ausgelasteten Werken billigen Stahl abkaufen, sind in den letzten Jahren entstanden. Und Wheelhouse, ein 2010 gegründeter Verein, der geführte Radtouren zu den Themen Architektur, Graffitikunst und Urban Farming organisiert, zählt mittlerweile 5000 Mitglieder, Tendenz steigend. „All diese Impulse bringen der Stadt einen Aufschwung“, sagt Noah. „So etwas lässt sich nicht top-down planen. So etwas kann nur bottom-up aus der Not heraus entstehen.“

Mitte 2011 hat das Hostel Detroit aufgesperrt, eine Jugendherberge mit neun Zimmern und psychedelisch bemalter Ziegelfassade. Das kunstsinnige Etablissement liegt im Nordwesten, rund einen Kilometer von der Wayne State University entfernt. Das billigste Bett kostet 27 Dollar pro Nacht. „Wäre Detroit eine bequeme Stadt ohne Probleme, so wie jede andere Stadt in den USA, dann würden wir stagnieren, dann wäre es niemals zu dieser Aufbruchstimmung gekommen“, sagt die 29-jährige Managerin Taylor Kozak. „Doch nun müssen wir kreativ sein, müssen ein Leben nach dem Do-it-yourself-Prinzip führen.“ Die Insolvenz, die vor wenigen Wochen angemeldet wurde, so Taylor, habe diese DIY-Bewegung lediglich beschleunigt. Die Milliardenpleite, man hört es aus ihrer Stimme heraus, hat etwas Großartiges.

Katja Kullmann, eine Hamburger Autorin, die letztes Jahr ein paar Wochen in Detroit verbrachte, schlägt vor, indem sie einen Immobilieninvestor aus New York zitiert: Man solle Detroit einfach mit 100.000 Künstlern aus aller Welt fluten. Kreativität und Bildungsboheme, so lauten die Zauberworte für den Neubeginn. „Die kreative Klasse ist längst im Operation-Mode“, schreibt sie in ihrem 2012 erschienenen Detroit-Buch Rasende Ruinen. „Mit ihren Geistesressourcen und ihrer (potenziellen) Kaufkraft bildet sie die gesellschaftliche Schlüsselmacht der Zukunft.“ Und der amerikanische Sachbuchautor John Gallagher meint: „Keine andere Stadt in den USA bietet eine so große Leinwand für neues Denken wie Detroit.“

Auf dem amtlichen Siegel der City of Detroit sieht man zwei stoische Damen, die im Garten stehen und sich (man möchte meinen: verzweifelt) an den Kopf greifen. Rund um die Zeichnung sind die lateinischen Worte zu lesen: „Speramus meliora. Resurget cineribus.“ Wir erhoffen Besseres. Möge es aus der Asche auferstehen.

Der Standard, Sa., 2013.08.17

17. August 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Museum mit Streichelfaktor

Wie zeichnet man ein Haus? Der russische Architekt und Zeichnungssammler Sergei Tchoban machte es vor und baute in Berlin ein kleines, aber feines Museum für Architekturzeichnung. Wojciech Czaja hat hingegriffen.

Wie zeichnet man ein Haus? Der russische Architekt und Zeichnungssammler Sergei Tchoban machte es vor und baute in Berlin ein kleines, aber feines Museum für Architekturzeichnung. Wojciech Czaja hat hingegriffen.

Da stehen sie wieder, die Macchiato-Mütter und Tonkabohnen-Väter, neben ihnen der Baby-Buggy mit großstadttauglichen Geländereifen, und massieren die Wand. Man kann es ihnen nicht verübeln. Die scheinbar weiche Betonoberfläche sieht aus wie Pannacotta, durch die sich ein paar feine Rillen und Ritzen ziehen. „Ich muss da jetzt endlich einen Zettel an das Haus kleben“, sagt Museumsdirektorin Nadejda Bartels: „Bei Aufkommen von etwaigen Emotionen bitte streicheln!“

Museum? Tatsächlich handelt es sich bei dem ungewöhnlichen Bau, der am Eingang zur ehemaligen Pfefferberg-Brauerei im hippen Berliner Stadtviertel Prenzlauer Berg steht und diesen Sommer eröffnet wurde, um das von der Tchoban Foundation errichtete Museum für Architekturzeichnung. Es ist das erste seiner Art in Deutschland, und auch weltweit wird man wohl lange nach einer Institution suchen, die sich einzig und allein dem fast vergessenen Genre der Architekturskizze widmet.

„Wenn man die Handzeichnungen von Palladio, Piranesi, Schinkel und Le Corbusier anschaut, dann sieht man, wie viel Kraft in diesen Werken steckt“, sagt Bartels. „Da ist einerseits dieser harte, klare Strich, andererseits haben die Zeichnungen zum Teil dramatische Perspektiven und Licht- und Schattenspiele.“ Und, fügt sie schnell noch hinzu: „Architekturzeichnungen sind nicht nur Historie! Auch zeitgenössische Architekten wie etwa Daniel Libeskind, Peter Eisenman, Frank Gehry und Zaha Hadid sind dem Bleistift nicht abgeneigt.“

Konsequent und leidenschaftlich, wie das Museum vom ersten Anblick an erscheint, wurde die Thematik Architekturzeichnung weithin sichtbar in den Bau integriert. Als hätte jemand etwas in den Beton geritzt, sind an der Fassade Säulen, Bögen, Kapitelle und Kassettendecken zu erkennen. Es sind stark vergrößerte Ausschnitte aus einer Zeichnung des italienischen Bühnenbildners Pietro di Gotardo Gonzaga (1751-1831), der erst an der Mailänder Scala und später für den russischen Fürsten Nikolai Jussupow arbeitete. Am Prenzlauer Berg, umgeben von altem Hopfencharme und künstlerischem Flair, kommen Gonzagas Striche zu spätem, unerwartetem Ruhm.

„Das ist die allererste Architekturzeichnung, die ich vor vielen Jahren erworben habe“, sagt Sergei Tchoban. „Mit diesem einen Blatt Papier hat alles angefangen.“ Tchoban, seines Zeichens Architekt mit Büros in Moskau und Berlin, ist selbst „ein recht guter Zeichner“, wie er meint, vor allem aber passionierter Sammler. Er ist besessen von Bleistift, Tusche, Aquarell. Rund 400 Zeichnungen, alte wie neue, liegen bei ihm im Archiv. Außerdem hat er Kooperationen mit dem Sir John Soane's Museum in London, der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris und der Eremitage in St. Petersburg.

„Warum ich das mache?“, fragt Tchoban. „Viele Privatsammler haben das Bedürfnis, ihre Schätze eines Tages der Öffentlichkeit zu präsentieren. Aus diesem Grund habe ich dieses Museum geplant und gebaut. Doch nicht nur das.“ Kunstpause. „Die meisten Architekten können heute kaum noch zeichnen. Sie entwerfen Häuser, bauen Städte und gestalten unsere Umwelt, ohne je auch nur einen Strich mit der Hand gemacht zu haben. Ich finde das traurig. Daher will ich meine Liebe zur Handzeichnung weitergeben.“

Frau Macchiato und Herr Tonkabohne stehen immer noch da, werfen fragwürdige Blicke Richtung Haus. Sie geben das perfekte Bobo-Publikum für Sergei Tchobans Mission ab. Und sie sind bei weitem nicht die Einzigen an diesem Nachmittag. „Was ist das? Wie ist das gebaut? Und guck doch mal da!“ Immer häufiger kommen Gäste in die 1841 gegründete Pfefferberg-Brauerei, die im 20. Jahrhundert als Schokoladenfabrik und Bäckerei genutzt wurde, ehe sie 1991, nach dem Fall der Mauer, in ein Kunst- und Kulturzentrum umgebaut wurde.

Heute umfasst sie die Architekturgalerie Aedes, eine Kunstgalerie, Olafur Eliassons Atelier, ein paar Restaurants und Bars sowie eine Herberge. Sogar Ai Weiwei soll bereits Interesse an diesem Ort bekundet haben. Das Museum für Architekturzeichnung (Baukosten rund vier Millionen Euro) rundet das Repertoire perfekt ab. Und das trotz geringer Fläche von nicht einmal 100 Quadratmetern pro Stock.

Nicht nur die Tatsache, dass mit 2-D-Zeichnungen ein 3-D-Gebilde geschaffen wurde, auch die Bautechnik ist spannend. Vor dem Bau wurde die als Vorlage dienende Gonzaga-Zeichnung eingescannt, grafisch bearbeitet, mittels CNC-Fräse digital in MDF-Platten gefräst und anschließend mit Flüssigkunststoff ausgegossen. Am Ende wurden die gummiweichen Matrizen in die Betonschalung eingearbeitet. Das auf diese Weise entstandene Relief ist eine schöne Ergänzung zu den Altbauten der Brauerei. Da wie dort sind es die Fugen im Material, die das Haus haptisch angenehm erscheinen lassen: hier die jahrhundertealten Bleistiftstriche, dort die Mörtelfugen im gelb und rot gefärbten Backstein. Es ist der vielbeschworene Dialog zwischen Alt und Neu.

Schmerzhafter Museumsbesuch

Auch hier ist der Beton eingefärbt. Die Kolorierung ist der Versuch, dem Haus einen Hauch von altem Papier, von brüchigem, vergilbtem Pergament zu verleihen. „Wir haben viele Farbproben gemacht, bis wir den richtigen Ton gefunden haben“, erklärt Projektleiter Philipp Bauer von nps tchoban voss. Während das Moskauer Büro Speech Tchoban & Kuznetsov nämlich für den Entwurf verantwortlich zeichnet, hat sich die Berliner Dependance nps um die Detailplanung gekümmert. „Für den perfekten Vintage-Touch sorgen natürliche Farbpigmente und gemahlener Stein.“

Ähnlich wie in eine Architekturzeichnung, wie in ihre vielen Konturen und Flächen, kann man sich auch ins Museum hineinvertiefen. Und es wird nie langweilig. Im Foyer findet sich eine Variation der Relieffassade, diesmal in Form von händisch geschnitztem Nussfurnier. Mehrere Wochen dauerte die peinigende Millimeterarbeit, für die ein spanischer Künstler gewonnen werden konnte.

Immer wieder tauchen im kleinen Museumsturm Fragmente von Architekturzeichnungen auf, immer wieder freut sich das Auge über patiniertes Messing und dunkle, geräucherte Nuss, und immer wieder muss man sich durch eine der vielen kiloschweren, luftdichten Türen quälen, denn in die klimatisierten Ausstellungsräume darf weder Tageslicht gelangen noch allzu feuchte Luft. Der eigens von Tchoban entworfene Türgriff, ein riesiges, kantiges Etwas mit vertikalen Rillen wie in einem gebundenen Album dicker, historischer Architekturgrafiken, schneidet ordentlich in die Hand ein. Es tut fast weh. Tchoban, lapidar: „Gute Architektur sollte bei der Annäherung immer noch neue Facetten eröffnen. Da hat die Moderne einiges verlernt. Wir holen das nach.“

Der Standard, Sa., 2013.08.17



verknüpfte Bauwerke
Tchoban Foundation

10. August 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Einer flog übers Wasser

Können Brücken fliegen? Die Projekte des Pariser Architekten Dietmar Feichtinger kommen dem Versuch verdächtig nah, wie eine Ausstellung in Innsbruck beweist.

Können Brücken fliegen? Die Projekte des Pariser Architekten Dietmar Feichtinger kommen dem Versuch verdächtig nah, wie eine Ausstellung in Innsbruck beweist.

Es ist eine feuchte Angelegenheit. Und eigentlich will man angesichts der sengenden Hitze da draußen auch gar nicht mehr weg. Wer dieser Tage ins Innsbrucker Architekturhaus aut hineinspaziert, der wird wenige Meter nach dem Eingang freundlich aufgefordert, die Schuhe auszuziehen und die Räumlichkeiten auf natürlicher Sohle zu erkunden. Die ungewöhnliche Bitte liegt im Aggregatzustand des Bodens begründet. Er ist flüssig. Für diejenigen, die sich zieren, ihre bloßhaperte Pracht preiszugeben, stehen übrigens ein paar hübsch ansehnliche Gummistiefel bereit.

Warum Wasser? „Eine Architekturausstellung zu machen ist eine ziemlich frustrierende Angelegenheit“, sagt Arno Ritter, Kurator und Leiter des aut. „Nie ist das da, worüber man diskutieren will, immer muss man sich mit der Abwesenheit der Materie begnügen. Doch sobald man einen Ausstellungsraum flutet, weiß man, spürt man, ahnt man bereits, dass das, was hier gezeigt wird, irgendwas mit Fluss und Meer zu tun haben muss.“

Das tut es. Objekt der Begierde ist nämlich die Brücke. Genauer gesagt die Brücke, wie sie der österreichische Architekt Dietmar Feichtinger begreift. „Eigentlich geht es bei einer Brücke darum, zwei Punkte miteinander zu verbinden“, sagt Feichtinger. „Doch tatsächlich kann man viel mehr daraus machen. Tatsächlich sind Brücken nämlich nicht nur Wege von A nach B, sondern auch Orte mit einer gewissen Aufenthaltsqualität, die eine Perspektive auf die Welt offenbaren, die man ohne den künstlichen Eingriff des Menschen auf diese Weise niemals genießen könnte.“ Diesen Umstand gilt es zu zelebrieren, und zwar anhand von 15 Brückenprojek- ten aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Dänemark und Finnland.

In Feichtingers Portfolio - das ist nach einigen wenigen mentalen Brückenbegehungen im knöchelhohen Nass klar - gibt es mehr Brückenprojekte als bei jedem anderen Architekten in Europa. Mit Ausnahme Calatravas vielleicht, der überall auf der Welt seine immergleichen Dinosaurierskelette hinklotzt. „Ich habe Brücken immer schon faszinierend gefunden“, sagt Feichtinger, der sein Hauptbüro in Paris betreibt und rund 30 Mitarbeiter hat. „Doch leider werden die meisten Brücken heutzutage von Bauingenieuren geplant, was vor allem mit der Befugnis zu tun hat, denn in den meisten Ländern gelten Brücken immer noch als reine Zweckbauten.“

Bei aller konstruktiven Logik: Mit reiner Zweckdienlichkeit haben Feichtingers filigrane Brückenkompositionen nichts zu tun. „Ich möchte Architektur und Konstruktion miteinander verbinden, ich möchte eine Einheit aus äußerer Ästhetik und innerem Kräftefluss schaffen, und ich möchte dabei nach Möglichkeit Leichtigkeit und Eleganz erzeugen. Ich reize aus, was es auszureizen gibt, doch bei jedem einzelnen Entwurf, den ich mache, ende ich damit, dass ich mich immer wieder aufs Neue frage: Warum können Brücken nicht fliegen?“

Manche Fußgänger- und Radfahrbrücken - Überquerungen für motorisierte Verkehrsteilnehmer wird man bei Feichtinger vergeblich suchen - scheinen allen Regeln der Schwerkraft zu trotzen und kommen dem Fliegen verdächtig nah. Die Butterfly Bridge in Kopenhagen, die derzeit errichtet und kommendes Jahr eröffnet wird, kann bei Bedarf ihre beiden Schmetterlingsflügel nach oben ziehen. Sobald sich im Proviantmagasingraven, der links und rechts von alten Lagerbauten gesäumt ist, ein Schiff ankündigt, werden die beiden Stege scheinbar schwerelos hydraulisch hochgeklappt.

Nur eine Frage der Schönheit?

Im Oude Dokken in Gent (Belgien) wiederum kann die Fußgängerbrücke, falls nötig, nach oben gepumpt werden. Mal ist sie flach wie ein Brett, mal ist der Aufstieg steil wie auf einen Bergrücken, in jedem Fall aber kann die Brücke, während sie ihre Gestalt verändert, sogar benutzt und begangen werden. Eine ausgetüftelte Konstruktion im Bereich des Bodens und Geländers macht's möglich. Die Höhendifferenz zwischen flachem und gebuckeltem Zustand beträgt fast fünf Meter.

„Eine Brücke zu entwerfen ist nie nur eine Frage der Schönheit“, sagt Feichtinger. „Sobald man den Stift zur Hand nimmt, muss man bereits eine Ahnung davon haben, wie die Konstruktion funktioniert, wie die statischen Kräfte verlaufen, wie die nötigen Funktionen abgedeckt werden. Die Ästhetik jedoch ist insofern wichtig, als die Konstruktion viel besser sichtbar ist als bei jedem anderen Bauwerk.“

Hinzu kommt, dass sich Brücken meist in eine sehr sensible Umgebung fügen müssen. Bei der Passerelle Simone-de-Beauvoir in Paris, die den Parc de Bercy mit der Nationalbibliothek François Mitterrand verbindet, spannt sich der Weg wie eine leichte Welle über die Seine. Fußgänger und Radfahrer werden nicht stur über den Fluss geschickt, sondern wandern entlang der Zug- und Druckkräfte mal bergauf, mal bergab. In der Mitte der Brücke gibt es einen gedeckten Ort zum Verweilen, eine Art städtisches Wohnzimmer über dem Wasser.

Es plätschert wieder unter den Füßen. Genüsslich begibt man sich zum nächsten ausgestellten Projekt und schiebt dabei das kühle Wasser mit jedem Schritt voran. Wer Stiefelgummi trägt, ist selbst schuld. Noch ist die Jetée, die neue Fußgängerüberquerung nach Mont Saint-Michel, Baustelle, noch muss man sich mit Renderings und Planmaterial begnügen. Kommenden Sommer wird man das wohl jetzt schon bekannteste Projekt Dietmar Feichtingers erstmals bewandern und beradeln können.

Wie ein fast zwei Kilometer langes S windet sich die flache Brücke durch das Watt und überspannt die Flussmündung des zäh fließenden Couesnon. Fast unsichtbar duckt sich die Architektur ins Naturschutzgebiet, nimmt die Farbe von Wattwürmern und Sandkrabben an. Sensibler kann Bauen kaum sein.

Brücke nach Mont Saint-Michel

„Einerseits weicht der Steg aus, damit der Winkel zwischen Flussrichtung und Pfeilern nicht zu steil ist und damit das Wasser besser durchfließen kann. Andererseits schlängelt sich die Brücke durch das Wattenmeer, um unterschiedliche Ausblicke zu ermöglichen. Mal blickt man auf den Atlantik, mal frontal auf den unescogeschützten Klosterberg Saint-Michel.“ Ein Weg, so Feichtinger, ist eben nie nur ein Weg, sondern immer auch ein Ort.

Die Füße sind klatschnass, immer noch nass, wollen nass bleiben. Wie war das nochmal mit dem Fliegen? Dietmar Feichtinger hält kurz inne, spricht von Spinnen, Wasserläufern und Schmetterlingen. „Warum Brücken nicht fliegen können? Das ist ganz einfach“, sagt er. „Im Gegensatz zu Insekten sind Brücken nämlich am Ufer festgemacht, und daher kommen sie nicht weg.“

Die Ausstellung „Dietmar Feichtinger. Wege und Orte“ ist im aut Innsbruck bis 21. September zu sehen. Zeitgleich findet im Haus der Architektur Graz die Partnerausstellung „Dietmar Feichtinger. Orte und Wege“ über öffentliche Bauten statt. Bis 13. September.

Der Standard, Sa., 2013.08.10

28. Juni 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Langsam. Unentbehrlich.

Am Dienstag feierte der portugiesische Architekt und Pritzker-Preisträger Álvaro Siza Vieira seinen 80. Geburtstag. Wir gratulierten ihm mit ein paar Fragen.

Am Dienstag feierte der portugiesische Architekt und Pritzker-Preisträger Álvaro Siza Vieira seinen 80. Geburtstag. Wir gratulierten ihm mit ein paar Fragen.

STANDARD: Sie haben fast immer eine Zigarette in der Hand.

Álvaro Siza Siza: Ja, ich rauche viel, und ich bin süchtig nach dieser Zigarette. Ich halt's nicht lang ohne aus.

STANDARD: Haben Sie eine Lieblingsmarke?

Siza: Camel. Ich mag das Harte, das Wilde.

STANDARD: Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Gesundheit?

Siza: Machen Sie Witze? Ich bin 80, und überall tut's weh. Aber was hat das mit dem Rauchen zu tun? Ich rauche schon seit meinem 18. Lebensjahr. Damals hat kein Mensch über Tabak geredet. Das war normal. Heute macht man sogar schon Interviews zu diesem Thema. Außerdem: Nicht jeder Zug ist ein Lungenzug!

STANDARD: Letzten Dienstag haben Sie Ihren 80. Geburtstag gefeiert. Was haben Sie sich gewünscht?

Siza: Ich habe mit gewünscht weiterzuleben, weiterzuarbeiten und weiterzurauchen.

Standard: Inwiefern hat sich das Leben als Architekt verändert?

Siza: Architekt zu sein hat sich, seitdem ich berufstätig bin, sehr verändert. Aber nicht nur in Portugal, sondern überall auf der Welt. Der größte Einschnitt ist der Computer. Ohne Computer kann man heutzutage kaum noch arbeiten, geschweige denn ein Büro leiten. Aber ich verstehe den Wandel. Es gibt viele Vorteile. Man ist effizienter.

STANDARD: Arbeiten Sie selbst auch am Computer?

Siza: Ich kann Mails verschicken.

STANDARD: Sie zeichnen also noch mit der Hand?

Siza: Das Zeichnen mit der menschlichen Hand ist durch nichts zu ersetzen. Ich verstehe nicht, wie man am Computer ein Haus entwerfen kann. Planen und detaillieren vielleicht. Aber entwerfen? Unmöglich! Das Tragische ist nämlich, dass man am Computer von Anfang an millimetergenau arbeiten muss. Mir fehlt die Ungenauigkeit. Bei mir geht das sogar so weit, dass ich früher den Entwurf oft erst auf der Baustelle abgeschlossen habe. Das geht heute nicht mehr.

STANDARD: Fehlt Ihnen diese Freiheit?

Siza: Ein bisschen. Irgendwie war das Entwerfen früher lustiger.

STANDARD: Wie viele Projekte haben Sie bisher entworfen?

Siza: Ich habe schon befürchtet, dass Sie so etwas fragen werden. Ich habe extra nachzählen lassen. Insgesamt habe ich bisher 420 Projekte gemacht. 136 davon wurden realisiert.

STANDARD: Und? Gibt es Lieblingsprojekte?

Siza: Absolut nicht. Jedes Projekt hat seine eigene Qualität. Zu jedem Projekt habe ich eine ganz bestimmte emotionale Verbundenheit. Und zwar nicht nur zu den schönen, beliebten, erfolgreichen, sondern auch zu denen, die nicht so gut gelaufen sind, zu denen, wo Fehler passiert sind, zu denen, die niemals gebaut wurden. Auch die muss man lieben! So ist das im Leben.

STANDARD: Eines Ihrer Projekte, und zwar das Wohnhaus in Berlin, trägt den Titel „Bonjour Tristesse“. War das Ihre Idee?

Siza: Nein, das ist ein Spitzname. Das Haus steht in Kreuzberg, wo viele Migranten wohnen, nicht weit von der alten Berliner Mauer entfernt. Ich weiß nur, dass die Menschen, die hier wohnen, das Haus sehr lieben. Daher nehme ich an, dass nicht das Gebäude selbst traurig ist, sondern die Gegend und die Sozialpolitik, die das Haus täglich begrüßen muss.

STANDARD: Gefällt Ihnen der Spitzname?

Siza: Er ist okay. Man kann nicht alles planen.

STANDARD: Bei südeuropäischen Architekten scheint es, dass sie besser und sensibler mit der Natur, mit der Landschaft umgehen können als ihre Kollegen aus Mitteleuropa. Warum ist das so?

Siza: Da muss ich Ihnen widersprechen. Die mitteleuropäischen Architekten können genauso gut mit der Natur umgehen und mit ihr kommunizieren wie die südeuropäischen. Nur haben die das Pech, dass die Landschaft nicht so schön ist wie bei uns im Süden.

STANDARD: Mögen Sie Portugal?

Siza: Ich liebe dieses Land. Auch wenn die Politik früher entsetzlich war und die Wirtschaft heute am Boden ist. Schauen Sie sich nur einmal Porto und die Atlantikküste an! Wie kann man Portugal nicht lieben?

STANDARD: Das britische Webportal e-architekt hat Sie, gemeinsam mit Eduardo Souto de Moura, zum größten portugiesischen Architekten des 20. Jahrhunderts ernannt. Was sagen Sie dazu?

Siza: Gar nichts. Ich mag diese Rankings und Superlativen nicht. Ich finde das blöd. Der beste Architekt? Was soll das sein? Wer beurteilt das? Qualität hat immer mit dem Kontext zu tun.

STANDARD: Eduardo Souto de Moura war früher mal Ihr Student. Später dann haben Sie sogar mit ihm zusammengearbeitet.

Siza: Mit dem eigenen Schüler ein Projekt zu machen ist irgendwie lustig. Wir haben uns gut verstanden. Aber die Zusammenarbeit war nur von kurzer Dauer. Heute sind wir gut befreundet. Eduardo ist ein guter Kerl.

STANDARD: Was halten Sie von den jungen portugiesischen Architekten wie etwa ARX, Embaixada, Arquitectos Anónimos oder Kaputt?

Siza: Die neue Architektengeneration ist extrem talentiert. Die jungen Leute machen richtig gute Sachen. Aber natürlich ist die portugiesische Architektur heute eine ganz andere.

STANDARD: Inwiefern?

Siza: Als ich jung war, durfte man beispielsweise nicht verreisen. Das politische Regime war sehr streng. Das Land war verschlossen. Kulturell waren wir völlig auf uns alleine gestellt. Und das hat sich auch in der Architektur niedergeschlagen. Vielleicht ist es das, was weltweit so gut und gerne als portugiesische Architektur aufgefasst wird. Heute ist das Land offener. So gesehen ist die Architektur vielfältiger, vielleicht sogar weniger portugiesisch.

STANDARD: Wie geht es Ihnen mit der Wirtschaftskrise?

Siza: Portugal, und überhaupt der Süden Europas, befindet sich in einem radikalen Wandel. Natürlich spürt man das auch als Architekt. Was soll ich Ihnen sagen? Wirtschaftlich ist es die Hölle.

STANDARD: Machen Sie weiter?

Siza: Natürlich mache ich weiter. Arbeit hält jung. Was soll ich sonst machen? Manchmal denke ich mir im Scherz: Wenn das noch lange so weitergeht, dann werde ich noch auswandern!

STANDARD: Woran arbeiten Sie zurzeit?

Siza: Wir haben gerade eine Kooperation mit einem alten portugiesischen Kloster, das wir demnächst sanieren werden. In Korea haben wir kürzlich eine ganze Reihe von Campus-Gebäuden fertiggestellt. Und in Hangzhou in China plane ich gerade das Bauhaus-Museum. Ein Bauhaus-Museum in China! Können Sie sich das vorstellen? Die Welt ist verrückt.

STANDARD: In einem Vortrag meinten sie einmal: „Ein guter Architekt arbeitet langsam.“ Warum?

Siza: Ach, manchmal muss man die Studenten ein bisschen ärgern und provozieren. Die Jungen mögen es nicht, wenn man ihnen sagt, dass sie langsam arbeiten sollen. Aber das Gute daran ist: Dieser Satz scheint sich wirklich eingeprägt zu haben.

STANDARD: Und? Sind Sie ein langsam arbeitender Architekt?

Siza: Langsamkeit ist unentbehrlich. (Wojciech Czaja, Album, DER STANDARD, 29./30.6.2013)

Álvaro Siza Vieira, 1933 in Matosinhos geboren, gilt als einer der Hauptvertreter der Moderne. Seit 1958 betreibt er ein Architekturbüro in Porto. Zu seinen bekanntesten Projekten zählt das Strandbad Leça da Palmeira (1966), die Sozialsiedlung Bouça II in Porto (1977), das Wohnhaus „Bonjour Tristesse“ in Berlin (1984), die Vitra-Werkshalle in Weil am Rhein (1991), der Portugal-Pavillon auf der Expo in Lissabon (1998), die Fundação Iberê Camargo in Porto Alegre (2010) sowie der Wiederaufbau des Stadtviertels Chiado in Lissabon nach dem Großbrand 1988. Siza Vieira wurde mit dem renommierten Pritzker-Preis (1992) sowie mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk (2012, Architektur-Biennale Venedig) ausgezeichnet.

Der Standard, Fr., 2013.06.28



verknüpfte Akteure
Siza Vieira Álvaro

15. Juni 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Turm mit Hüftschwung

Am Mittwoch wird der neue Aussichtsturm auf dem Pyramidenkogel eröffnet. Endlich mal wieder ein Stück Architektur in Kärnten, das Rumba und Samba tanzt.

Am Mittwoch wird der neue Aussichtsturm auf dem Pyramidenkogel eröffnet. Endlich mal wieder ein Stück Architektur in Kärnten, das Rumba und Samba tanzt.

Rutschsack, Adrenalin, und los. 22 Sekunden dauert die Fahrt. Ein paar Stellen gibt's, da muss man sogar schreien. Wie aus der Waschmaschine geschleudert, wird man unten wieder ausgespuckt und torkelt von dannen. Und dann das Ganze nochmals.

„Es zischt nur so, und die Zentrifugalkräfte sind echt faszinierend“, sagt Dietmar Kaden. Ein leichter Drehwurm sei nicht zu vermeiden. Gemeinsam mit seinem Kollegen Markus Klaura entwarf der Klagenfurter Architekt den neuen Aussichtsturm auf dem Pyramidenkogel mit wunderbarem Blick auf Klagenfurt, Wörthersee und Velden. Die Rutsche, ein Kunstprojekt von Hanno Kautz, ist mit 51 Meter Fallhöhe und 160 Meter Länge aber bei weitem nicht der einzige Kick.

Die Eckdaten: Holztragwerk, 441 Stufen bis zur Aussichtsterrasse, 100 Meter bis zur Antennenspitze. Damit ist das neue Wahrzeichen am Wörthersee, das die Besucher schon von weitem mit einem heißen Hüftschwung begrüßt, der derzeit höchste Holzaussichtsturm der Welt. „Es ging nicht darum, einen neuen Rekord aufzustellen“, erklärt Kaden. „Es ging darum, der Welt zu zeigen, was man mit diesem nachwachsenden Rohstoff dank Vorfertigung und neuer Technologien alles machen kann. Holz ist ein absolut konkurrenzfähiges Produkt. Für mich persönlich ist Holz der Werkstoff des 21. Jahrhunderts.“

Das sieht der Keutschacher Bürgermeister Gerhard Oleschko (FPK) genauso. Er ist derjenige, der den Abbruch des alten Aussichtsturms (1968, Architekt Gustav Wetzlinger) forcierte und sich für einen Neubau aus Holz einsetzte. „Beim alten Betonturm gab es immense Wasserschäden in den Hohlkammern der Aussichtsplattform, es hatten sich bereits Risse gebildet, und wir hatten keine Betriebsgenehmigung mehr“, sagt Oleschko im Gespräch mit dem STANDARD. „Eine Sanierung wäre zwar technisch möglich gewesen, doch das Projekt hätte sich betriebswirtschaftlich niemals gerechnet.“

Der Grund: Der alte Turm hatte keine ausreichenden Fluchtmöglichkeiten, die der aktuellen Norm entsprechen, war nach heutigen Anforderungen we-der erdbebensicher noch barrierefrei, und die Aufzugs- und Funktechnik war auch nicht mehr die jüngste. Rund sechs Millionen Euro hätte die Sanierung gekostet. „Erstens hätte das Bauwerk viel von seiner Schlankheit und Eleganz eingebüßt, und zweitens ist ein wiederaufgewärmtes Projekt auch nicht das Gleiche wie ein attraktiver Neubau“, so Oleschko. Von der fehlenden Rutschpartie ganz zu schweigen.

Jahrelanges Polit-Hickhack

Obwohl der Wettbewerb schon 2007 ausgeschrieben worden war, lag das Projekt lange Zeit auf Eis. Hypo Alpe Adria, Landesverschuldung und ein politisches Hickhack zwischen FPK, SPÖ, ÖVP und Grünen hätten das Bauvorhaben fast zu Fall gebracht. Zudem war die Finanzierung nicht geklärt. Die Opposition befürchtete, die Gemeinde Keutschach könnte sich mit dem Bau des Turms in ein Schuldenloch stürzen.

Schließlich wurde das Budget für das Projekt „Pyramidenkogel neu“ von ursprünglich zehn auf nunmehr acht Millionen Euro eingedampft (und mit ihm der Turm, der mit der Budgetkürzung niedriger und schlanker wurde), wobei 51 Prozent von der Kärntner Tourismus-Holding (KTH), einer 100-prozentigen Landestochter, und 49 Prozent von der Gemeinde selbst getragen werden.

Im Oktober 2012 wurde der alte Turm mit 40 Kilogramm Sprengstoff ins Jenseits befördert und machte auf diese Weise Platz für seinen fast doppelt so hohen Nachfolger. Damit waren sämtliche Fraktionen einigermaßen happy. Bis jetzt. Wie die Kleine Zeitung kürzlich berichtete, wollen die SPÖ-Gemeinderäte und ihre grünen Kollegen bei der Gemeindeaufsicht nun Anzeige gegen den Bürgermeister einbringen. Sie kritisieren Nebenkosten in unbekannter Höhe.

„Ich finde es furchtbar, dass der neue Turm auf dem Pyramidenkogel blau verbrämt ist und auf dem Fundament eines jahrelangen politischen Streits errichtet werden musste“, meint Architekt Markus Klaura. „Denn lieber als auf die nicht ganz so glückliche Entstehungsgeschichte würde ich mich darauf konzentrieren, dass uns allen letztendlich ein wunderbares, innovatives Pilotprojekt gelungen ist, das den Holzbau nicht nur in Österreich, sondern europaweit vorantreiben könnte.“

Wir leisten diesem Wunsch Folge. Insgesamt wurden rund 500 Kubikmeter Lärchenholz verbaut. 16 Steher mit einem Querschnitt von 114 mal 32 Zentimetern scheinen den Turm zum Tanzen zu bringen. Die bis zu 27 Meter langen Holzleimbinder wurden zur Gänze im Werk vorgefertigt und mussten vor Ort nur noch mittels eines eigens entwickelten Epoxidharzes zusammengeklebt und zusammengeschraubt werden. Sie sind zur Gänze für die Lastabtragung verantwortlich. Die elliptischen Stahlringe, die den Turm zusammenhalten, und die Diagonalen dienen lediglich der Aussteifung.

Turm ohne Phallus-Symbolik

„Der Turm wirkt zwar organisch und amorph“, erklärt der zuständige Tragwerksplaner Markus Lackner, der mit der großen Tiroler Architekturlegende Josef Lackner nicht nur den Namen, sondern auch den Stammbaum teilt, „doch tatsächlich verbirgt sich dahinter ein sehr klares, geometrisches Konzept, das viele Wiederholungen aufweist und somit eine clevere und kostensparende Fertigung von immer gleichen Elementen ermöglichte.“

Für Freunde der Mathematik: Beim Grundriss des Turms handelt es sich um eine 18 mal 10 Meter große Ellipse, die sich alle sechs Höhenmeter um 22,5 Grad im Uhrzeigersinn dreht. Die Höhenmarken sind anhand der stählernen Ellipsenringe leicht erkennbar. Oben angelangt, hat der Turm eine Drehung von insgesamt 225 Grad vollzogen - etwas mehr als ein Halbkreis, fünf Achtel, um genau zu sein. Das Resultat ist eine sich in den Himmel schraubende Skulptur, die ihre stringente geometrische Logik hinter einem Schuss erotischer Emotion zu kaschieren weiß.

„Es gibt so viele phallische Türme auf der Welt, die allesamt Symbole männlicher Macht sind“, erklärt Dietmar Kaden, der sich bei der Planung des Pyramidenkogels nicht nur als Architekt, sondern auch als Bildhauer sieht. „Doch hier ist es gelungen, einem hundert Meter hohen Turm erstmals etwas Weiches, etwas Weibliches zu verleihen. Ein Aussichtsturm, der Rumba und Samba tanzt, wo hat man das schon?“

Von den fürwahr maskulinen Kraftanstrengungen während der Montage, von der sportlichen Bauzeit von nur vier Monaten, davon nur eine ganze Woche niederschlagsfrei, und vom 60-Tonnen-Autokran, der bei Schneegestöber in mulmiger Mission die Holzelemente an den dafür vorgesehenen Platz bugsierte, ist heute nichts mehr zu spüren. Mulmig ist einem dennoch zumute. Die Konstruktion ist luftig, und das Lochblech unter den zittrigen Füßen trägt zur Desensibilisierung der Höhenangst nur bedingt bei.

Aufschwung für Holzwirtschaft

Während der alte Pyramidenkogelturm zuletzt nur noch 90.000 Besucher pro Jahr hatte, gehen die Wirtschaftlichkeitsberechnungen nun von 100.000 bis 120.000 Besuchern aus. Bürgermeister Gerhard Oleschko spricht gar von 150.000 Pyramidenkogelfans. Die Zukunft wird weisen, ob der Groll der Opposition berechtigt ist oder nicht.

Doch die größte Freude gilt der Holzwirtschaft. Mit dem neuen Aussichtsturm, der unter Fachleuten schon jetzt für Aufsehen sorgt und das Büro Klaura und Kaden nebenbei in den Architektur-olymp katapultiert hat, könnte der Holzbau einen Aufschwung erleben. Laut Institut für Waldinventur beträgt der Waldanteil in Österreich rund 48 Prozent. Der Holzanteil in der Bauwirtschaft beträgt, bezogen auf das gesamte Neubauvolumen, 18 Prozent. Da gibt's noch viel Luft nach oben.

Der Standard, Sa., 2013.06.15

08. Juni 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Wie eine Makrone im Meer

Vor zwei Tagen wurde in Marseille das „Mucem“ eröffnet. Rudy Ricciottis Völkerkundemuseum zollt nicht nur der Historie Tribut, sondern auch der Gegenwart.

Vor zwei Tagen wurde in Marseille das „Mucem“ eröffnet. Rudy Ricciottis Völkerkundemuseum zollt nicht nur der Historie Tribut, sondern auch der Gegenwart.

„Ein bisschen sieht das Gebäude aus comme un macaron de sardine, wie eine zarte Sardinenmakrone, nicht wahr? Bisschen dunkel, bisschen salzig, und wenn man reinbeißt, dann knackt es auf der Zunge!“ Rudy Ricciotti steht im Foyer, seine Augen fressen das Publikum auf, seine Hände gestikulieren wild, als sei er ein Pantomimekünstler, der wieder zur Sprache zurückgefunden hat.

„Und dann diese Farben! Sehen Sie nur, wie die Makrone schimmert, mit ihrer erotischen Knackigkeit, von Rot bis Blau und Schwarz! Doch dann, als wäre nur noch ein salziger Nachgeschmack da, ist sie plötzlich ganz durchsichtig und verschwindet wieder vor dem obskuren Horizont zwischen blauem Himmel und blauem, blauem Mittelmeer.“

Eine befreundete Architektin Ricciottis kann sich das Lächeln nicht verkneifen. Doch, doch, er sei ein großartiger Architekt. Und die Makrone, alles ganz wunderbar. „Aber er redet zu viel. Man sollte ihm einen Maulkorb verpassen.“ Bei aller Technik und Raffinesse, die das Gebäude zu bieten hat: Am besten erschließt sich einem das neue Mucem, das vorgestern, Donnerstag, in Marseille feierlich eröffnet wurde, schweigsam - ohne Rudy Ricciotti, ohne Worte, ohne Kommentar.

Anlässlich des Marseiller Kulturhauptstadtjahrs 2013, das über der Hauptstadt der Provence heuer mit einem umfassenden Kultur- und Stadtrevitalisierungsprogramm herniederprasselt, beschloss man, direkt neben dem Fort Saint-Jean, einer historischen Befestigungsanlage aus der Zeit des Sonnenkönigs Louis XIV, ein neues Völkerkundemuseum zu errichten. Das Musée des Civilisations de l'Europe et de la Méditerranée - kurz Mucem - versteht sich als Schwesterninstitution des 2006 eröffneten Pariser Musée du Quai Branly (Architekt: Jean Nouvel) und konzentriert sich auf die Kulturanthropologie der Mittelmeerregion.

Die Geschichte dieses Projekts reicht fast so weit zurück wie die im Museum ausgestellten Exponate. 2002 bereits wurde ein städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben, der hier, im Blickfeld des militärischen Forts und der alles überstrahlenden Cathédrale de la Major, eine völlige Neuorganisation des Ufers vorgesehen hat: Die Straße wurde teilweise unter die Erde gebannt, die alten Docks wurden umfunktioniert und zu neuem Leben erweckt, und ein paar Schritte weiter schließt ein neues Kulturviertel mit revitalisierten Lagerhäusern an. Das von Rudy Ricciotti geplante Mucem auf der Joliette 4 ist die Krönung dieser neuen Hafenpromenade.

„Sardinenmakrone“ aus Beton

Von weitem sieht es aus wie ein eckiger, kantiger Schwamm. Die schwarze Fassade wirkt porös, wie vom aggressiven, regelmäßig durch Marseille wütenden Mistral zerfressen. Erst beim Nähertreten beginnt sich hinter der fein ziselierten Betonstruktur das eigentliche Gebäude, eine Glasbox mit drei Ebenen, abzuzeichnen.

Jetzt versteht man, warum Ricciotti von einer „Sardinenmakrone am Mittelmeer“ spricht. Während das Haus von weitem dunkel und abweisend erscheint, wird es mit jedem Schritt wohlschmeckender, mit jedem Schritt besser. Fast wie eine Schmuckschatulle steht es da und kokettiert mit den neugierigen Blicken der Besucher. Technisch betrachtet handelt es sich bei der schwarzen Hülle um eine Matrix aus hochfestem Beton, sogenanntem Ultra-High Performance Concrete (UHPC).

Im Gegensatz zu herkömmlichem Stahlbeton besteht UHPC nicht aus Sand, sondern aus Mikrosilikaten und Quarzmehl und ist mit Millionen von feinen Stahlspänen bewehrt. Damit ist UHPC rund zehnmal belastbarer. Zur Veranschaulichung in Zahlen: Die Tragfähigkeit beträgt drei Tonnen pro Quadratzentimeter. Vorteil an der Sache: Das Material kann entsprechend schlanker dimensioniert werden. Beim Mucem ist die Fassade gerade einmal zehn Zentimeter dick.

„Die Fassade ist nicht nur wunderschön, sondern hat auch einen wunderbaren Zweck“, sagt Tilman Reichert, Mitarbeiter im Büro Ricciottis und Projektleiter des Mucem. Den Charme hat er von seinem Chef. „Die Fassade dient als Verschattung für die dahinterliegenden Ausstellungsräume.“ Unterm Strich beträgt die Verschattung, wie vom Bauphysiker gefordert, rund 50 Prozent. Das wiederum schützt die von Adeline Rispal in Szene gesetzten Exponate auf den Podesten und in den Vitrinen.

„Kommen Sie! Fassaden schauen können Sie später auch noch!“ Herr Reichert drängt mit heimatländlicher Pünktlichkeit ins Innere des Museums. „Und ich kann Ihnen versichern: Beton gibt's hier noch viel zu bewundern.“ Das Versprechen wird sofort eingelöst. Kaum hat man das Foyer betreten, steht man in einem geometrischen Wald aus sich hochwindenden und hochrankenden amorphen Baumstützen. „Nicht schlecht, was?“ Der Journalist blickt fragend um sich, streichelt die babypopoglatten Säulen. Etwa schon wieder UHPC? Herr Reichert grinst.

„Aber auch hier ist die Lösung nicht nur wunderbar, sondern auch zweckdienlich“, erklärt der Projektleiter. Durch das hochfeste Material habe man Gewicht einsparen können, was sich vor allem auf die Konstruktion ausgewirkt hat. In manchen Teilen des Hauses ist sie so schlank, dass es scheint: Ein kleiner Mistralhauch nur, und das Ding wäre dahin. „Das ist das erste Gebäude der Welt, das komplett aus UHPC errichtet wurde“, sagt Reichert stolz. Der mentale Eintrag ins Buch der Rekorde hat seinen Preis: 55 Millionen Euro.

Museum mit Wind und Klima

Weiter geht es in die beiden Ausstellungsgeschoße. Als Besucher hat man die Wahl. Entweder klassisch über Stiegenhaus und Lift. Oder aber man geht hinaus an die frische Luft und erklimmt die oberen Stockwerke mittels einer der beiden Rampen, die sich wie eine Doppelhelix ums Haus winden und dramatisch zwischen Glasbox und Schwammfassade eingespannt sind.

Die Konstruktion ist ein dreidimensionaler Wahnsinn aus Edelstahl und Glas. Es kommt nicht oft vor, dass junge Mütter ihren Kleinkindern eine Lektion in Sachen Architektur erteilen. Doch hier tun sie's. Deuten mit dem Zeigefinger auf einen der vielen Detailknoten und dann: „Schau mal! Siehst du diese Schraube da?“

Die Sonnenstrahlen (in Marseille sind sie bereits angekommen) sickern durch die schwarze Gitterfassade und sorgen für tausende Lichtspiegelungen im Glas. Man weiß nicht mehr, wo Norden und wo Süden ist. Und dann der Wind, der durch die Löcher pfeift. Alles gewollt. „Das war von Anfang an mein Plan“, sagt Rudy Ricciotti. „Wenn man schon am Mittelmeer ist, in diesem feuchten, windigen Territorium, der einem manchmal die Luft zum Atmen raubt, dann muss man das auch spüren. Schließlich ist das Klima Teil der mediterranen Identität und somit auch Teil dieses Museums.“

Oben auf dem Dach gibt es ein Restaurant. Der Ausblick auf das Fort Saint-Jean und das gegenüberliegende Fort Saint-Nicolas, die wie ein steinernes Tor den alten Marseiller Hafen fassen, entlohnt für Wind und Hitze. Wie von Geisterhand gehalten verläuft von hier aus eine schlanke, fast schwerelos wirkende Passerelle zum alten Fort. 130 Meter lang ist der Weg von A nach B, und das alles ohne Pfeiler und ohne Stütze. Auf der - dank UHPC - nur unglaubliche acht Zentimeter dicken Fußgängerbrücke zieht man wieder von dannen und sagt leise Adieu.

„Ich gebe zu, wir sind mit diesem Projekt haarscharf an der Grenze der technischen Machbarkeit vorbeigeschrammt“, sagt der Architekt, der zu viel spricht. „Aber in gewisser Weise ist ja auch Architektur Teil der Kulturanthropologie, nicht wahr? Und schauen Sie sich nur einmal die schlanke, schwarze Brücke an, die wie eine süße Vanilleschote auf der salzigen Makrone balanciert. Eines Tages werden die Anthropologen auf dieses Gebäude schauen und werden sich denken: Unglaublich, diese Konstruktion! Ein echter Ricciotti!“

Der Standard, Sa., 2013.06.08



verknüpfte Bauwerke
MuCEM

01. Juni 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Klassenbester!

Am Montag wurde der Award „Bessere Lernwelten“ verliehen. Einige tolle Beispiele wurden prämiert. Doch wann kommt von der Politik das Go für die breite Masse?

Am Montag wurde der Award „Bessere Lernwelten“ verliehen. Einige tolle Beispiele wurden prämiert. Doch wann kommt von der Politik das Go für die breite Masse?

Die Terrassentür ist weit geöffnet, die Kinder kauern zwischen Fensterbrett und Terrasse, bühnen- reif flattert der Vorhang über die konzentrierten Köpfe hinweg. Lehrerinnentraum? Gebaute Realität! Eine glückliche, wiewohl seltene, wohlgemerkt.

Es gibt in Österreich rund 6300 Schulen. Die meisten davon sind Gangschulen mit standardisierten Klassen, die für den Frontalunterricht entwickelt wurden. Nur die wenigsten Schulgebäude entsprechen den aktuellen pädagogischen Konzepten, die von Wissenschaftern und Lehrern mit Ausdauer und Hartnäckigkeit proklamiert werden. So zum Beispiel die Volksschule Bad Blumau, die letzten Montag in der Kategorie Primarstufe mit dem Award „Bessere Lernwelten 2013“ des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK) ausgezeichnet wurde.

„Unser Bildungssystem steht vor großen Veränderungen“, sagt Michael Zinner, Professor an der Kunstuniversität Linz und Forscher auf dem Gebiet Schulraumkultur. „Daher sind wir es den kommenden Generationen schuldig, den Schulraum und seinen Einfluss auf das Lehren und Lernen neu zu reflektieren.“ Zinner ist einer von insgesamt sechs Juroren, die den Wettbewerb begleitet und die drei Siegerprojekte und sieben Anerkennungen - in den Kategorien Primarstufe, Sekundarstufe und Baukulturvermittlung - aus mehr als 50 eingereichten Projekten ausgewählt haben.

Der Award, der nicht nur die Architektur beziehungsweise nicht nur das pädagogische Angebot an Schulen untersucht, sondern sich erstmals der Kombination aus Raumangebot und Unterrichtsmöglichkeiten verschreibt, soll diesen Veränderungsprozess an der Schnittstelle von Architektur und Pädagogik manifest machen. Es ist der erste Preis dieser Art im gesamten deutschsprachigen Raum. Das wurden die Veranstalter, allen voran Bundesministerin Claudia Schmied (SP), am Montag nicht müde zu betonen.

Doch zurück nach Bad Blumau. Die kleine steirische Gemeinde, die vor allem für ihre Hundertwasser-Therme bekannt ist, legte in den letzten Jahren deutlich an Bevölkerung zu. Die alte Volksschule im Ortskern wurde dem großen Schülerandrang nicht mehr gerecht, und so beschloss man, neben dem Sportplatz am Fluss einen Neubau zu errichten. Die Wettbewerbsausschreibung war streng. Keine Gangschule, sondern eine „bewegte Schule“ mit einem „kommunalen Zentrum“ in der Mitte sollte es werden. Der Zuschlag ging an das Grazer Architekturbüro Feyferlik Fritzer. 2010 wurde die Schule nach vierjähriger Planungs- und Bauzeit eröffnet.

Was sieht man heute? Bewegte Schülerinnen und Schüler. Es wird gesessen, gelümmelt und gelaufen, durch die Mitte der Aula zieht sich eine 20 Meter lange Sitzstufe aus knallrotem Kunstleder, und vielleicht wird die Vielfalt der hier anzutreffenden Lernpositionen und Körperposen künftigen Architektinnen und Lehrern als Inspirationsquelle für baulichen Weitblick dienen.

Die Kids hocken in den Fensternischen, knien auf der Terrasse und liegen ausgestreckt am Parapet, während der Stift schnell noch über die Rechenaufgaben fegt. Das Platzangebot ist unermesslich und beweist, dass Lernen heute nicht mehr so aussehen muss, wie es sich Maria Theresia bei der Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1774 vorgestellt hatte. Diese Zeiten sind vorbei.

Bauen wie im Bilderbuch

Zwei weitere Lernwelten-Preise gingen daher an das Innsbrucker Bundesrealgymnasium in der Au, das auf dem Dach eines Shoppingcenters errichtet wurde und dessen Raumangebot in intensiver Zusammenarbeit mit Kinder- und Elternvertretern entwickelt wurde (Kategorie Sekundarstufe, DER STANDARD berichtete), sowie an das Kinderbuch Archi & Turi, das Eltern, Lehrer und Kinder mit niederschwelligen Zeichnungen zur praktischen Arbeit mit Raum und Architektur anspornen soll (Kategorie Baukulturvermittlung, herausgegeben von Monika Abendstein und Judith Prossliner). Die beiden gekritzelten Protagonisten Archi und Turi zeigen vor, wie's geht.

„Es gibt eine ganze Reihe von Pilotprojekten, was neuen, innovativen Umgang mit Raum und Pädagogik betrifft“, sagt Michael Zinner. „Die Frage ist: Was können wir von diesen Pilotprojekten mitnehmen, um die längst schon veralteten Schulbaurichtlinien zu überdenken?“ Ende letzten Jahres bereits veranstaltete er in Zusammenarbeit mit der Kunstuniversität Linz ein „Symposium zu Lernwelten und Baukultur“, bei dem nationale und internationale Beispiele präsentiert wurden.

Es zeigte sich: In Helsinki etwa gibt es seit 1993 die Arkki, eine eigene Architekturschule, in der Kindern und Jugendlichen die Grundbausteine des Planens und Bauens vermittelt werden. „Die meisten Kinder in Finnland verbringen 70 bis 80 Prozent ihres Tages in der Schule“, sagt Pihla Meskanen, Gründerin und Leiterin der Arkki. „Das ist viel Zeit. Daher ist es wichtig, ihnen schon möglichst früh eine Sensibilität für ihre gebaute Umwelt mitzugeben.“ Die Schule wird zu einem Drittel von der Regierung, zu einem Drittel von der Stadt und zu einem Drittel von Spenden und Beiträgen finanziert. Das Projekt ist weltweit einzigartig.

Die „vor ort ideenwerkstatt“, eine Initiative aus Österreich, wiederum begibt sich in Schulen, um dort gemeinsam mit Schülerinnen und Lehrern neue Ideen und Konzepte für den bevorstehenden Schulumbau oder sogar Schulneubau zu erarbeiten. Auf diese Weise kommen nicht nur die Auftraggeber und Architekten zu Wort, sondern auch die Nutzer. Der Bildungscampus Moosburg in Kärnten ist das erste Projekt, das Resultat eines solchen Partizipationsprozesses ist. Das Projekt wurde mit dem Anerkennungspreis „Bessere Lernwelten“ ausgezeichnet.

Der vielleicht radikalste, aber effektivste Vorschlag kommt aus Vorarlberg. Er wurde diese Woche ebenfalls mit einem Anerkennungspreis (Kategorie Sekundarstufe) gewürdigt. Thomas Koch, Direktor der Volks- und Mittelschule Alberschwende, orientierte sich an skandinavischen Best-Practice-Beispielen, warf alle Regelwerke über Bord und ließ den Architekten einen Großteil der bestehenden Wände rausreißen. Das Resultat ist eine offene Lernlandschaft ohne Lehrmittelräume und Gänge, dafür aber mit Platz für unterschiedliche Formen des Unterrichts.

„Durch den Umbau ist es uns gelungen, die Lern-Nettonutzfläche von 55 Prozent auf 90 Prozent zu steigern“, sagt Koch. „Das wäre eine Möglichkeit, den Schulbau in Österreich unter wirtschaftlichen Bedingungen zu revolutionieren. Doch dazu bräuchte es den Mut der Politik.“ Koch fordert von den Gesetzgebern einen Drei-Punkte-Plan. Erstens: kein Schulbau mehr ohne räumlich-pädagogisches Konzept. Zweitens: keine Planung mehr ohne pädagogische Begleitung. Und drittens: keine Wettbewerbsjury mehr ohne Pädagogen.

„Dazu braucht es kein Gesetz“

Kochs Forderungen stoßen im Bundesministerium auf wenig Gegenliebe. Vor allem aber auf widersprüchliche Ansichten. Helmut Moser, Sektionschef Budget und Raum beim BMUKK, meint, er sehe keinen Handlungsbedarf, zumal sich jene Schulen, die so einen partizipativen Planungsprozess wollen, ohnehin selbst dazu aufraffen können. Ein verpflichtender Passus in den Schulbaurichtlinien sei jedenfalls nicht vorgesehen. „Außerdem sind mir als Sektionschef im Ministerium die Hände gebunden. Solange es dafür kein Gesetz gibt, kann ich nichts machen.“

Unterrichtsministerin Schmied wiederum erklärt auf Anfrage des STANDARD: „Ich kann mir gut vorstellen, dass wir uns diese drei Forderungen, die mir durchaus sinnvoll erscheinen, in der BIG (Bundesimmobiliengesellschaft, Anm.) zum Grundsatz machen. Aber dazu braucht es doch kein Gesetz. Wir haben genug gute Beispiele, die zeigen, dass innovativer Schulbau auch ohne Gesetz möglich ist.“

Laut Baukulturreport gibt es in Österreich 120.000 Lehrkräfte und 1,2 Millionen Schülerinnen und Schüler. Jahr für Jahr werden rund 200 bis 300 Schulbauten saniert, umgebaut und erweitert. Von den jährlichen Neubauten, die von Bund, Land und Gemeinde errichtet werden, gar nicht erst zu sprechen. Das Tätigkeitsfeld ist enorm.

Dass sich die Betroffenen aus eigenen Stücken organisieren können und in der Lage sind, den Schulbau zu revolutionieren und endlich Pädagogen in die Planung miteinzubeziehen, haben sie mit dem Award „Bessere Lernwelten“ eindrücklich bewiesen. Doch es geht nicht nur um die wenigen herausragenden Beispiele. Es geht um die breite Masse. Jetzt ist die Politik am Zug. Möge sie das Geld, statt in einen weiteren Architekturpreis, in eine - längst überfällige - Schulbaureform investieren.

Der Standard, Sa., 2013.06.01

01. Juni 2013Wojciech Czaja
Der Standard

An der Schnittstelle von Architektur und Pädagogik

Mit dem Award „Bessere Lernwelten“ wurden kürzlich einige tolle Beispiele prämiert. Doch wann kommt von der Politik das Go für die breite Masse?

Mit dem Award „Bessere Lernwelten“ wurden kürzlich einige tolle Beispiele prämiert. Doch wann kommt von der Politik das Go für die breite Masse?

Die Terrassentür ist weit geöffnet, die Kinder kauern zwischen Fensterbrett und Terrasse, bühnenreif flattert der Vorhang über die konzentrierten Köpfe hinweg. Lehrerinnentraum? Gebaute Realität! Eine glückliche, wiewohl seltene, wohlgemerkt.

Es gibt in Österreich rund 6300 Schulen. Die meisten davon sind Gangschulen mit standardisierten Klassen, die für den Frontalunterricht entwickelt wurden. Nur die wenigsten Schulgebäude entsprechen den aktuellen pädagogischen Konzepten, die von Wissenschaftern und Lehrern mit Ausdauer und Hartnäckigkeit proklamiert werden. So zum Beispiel die Volksschule Bad Blumau, die letzten Montag in der Kategorie Primarstufe mit dem Award „Bessere Lernwelten 2013“ des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK) ausgezeichnet wurde.

50 eingereichte Projekte

„Unser Bildungssystem steht vor großen Veränderungen“, sagt Michael Zinner, Professor an der Kunstuniversität Linz und Forscher auf dem Gebiet Schulraumkultur. „Daher sind wir es den kommenden Generationen schuldig, den Schulraum und seinen Einfluss auf das Lehren und Lernen neu zu reflektieren.“ Zinner ist einer von insgesamt sechs Juroren, die den Wettbewerb begleitet und die drei Siegerprojekte und sieben Anerkennungen - in den Kategorien Primarstufe, Sekundarstufe und Baukulturvermittlung - aus mehr als 50 eingereichten Projekten ausgewählt haben.

Der Award, der nicht nur die Architektur beziehungsweise nicht nur das pädagogische Angebot an Schulen untersucht, sondern sich erstmals der Kombination aus Raumangebot und Unterrichtsmöglichkeiten verschreibt, soll diesen Veränderungsprozess an der Schnittstelle von Architektur und Pädagogik manifest machen. Es ist der erste Preis dieser Art im gesamten deutschsprachigen Raum. Das wurden die Veranstalter, allen voran Bundesministerin Claudia Schmied (SP), nicht müde zu betonen.

„Bewegte“ statt Gangschule

Doch zurück nach Bad Blumau. Die kleine steirische Gemeinde, die vor allem für ihre Hundertwasser-Therme bekannt ist, legte in den letzten Jahren deutlich an Bevölkerung zu. Die alte Volksschule im Ortskern wurde dem großen Schülerandrang nicht mehr gerecht, und so beschloss man, neben dem Sportplatz am Fluss einen Neubau zu errichten. Die Wettbewerbsausschreibung war streng. Keine Gangschule, sondern eine „bewegte Schule“ mit einem „kommunalen Zentrum“ in der Mitte sollte es werden. Der Zuschlag ging an das Grazer Architekturbüro Feyferlik Fritzer. 2010 wurde die Schule nach vierjähriger Planungs- und Bauzeit eröffnet.

Was sieht man heute? Bewegte Schülerinnen und Schüler. Es wird gesessen, gelümmelt und gelaufen, durch die Mitte der Aula zieht sich eine 20 Meter lange Sitzstufe aus knallrotem Kunstleder, und vielleicht wird die Vielfalt der hier anzutreffenden Lernpositionen und Körperposen künftigen Architektinnen und Lehrern als Inspirationsquelle für baulichen Weitblick dienen.

Die Kids hocken in den Fensternischen, knien auf der Terrasse und liegen ausgestreckt am Parapet, während der Stift schnell noch über die Rechenaufgaben fegt. Das Platzangebot ist unermesslich und beweist, dass Lernen heute nicht mehr so aussehen muss, wie es sich Maria Theresia bei der Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1774 vorgestellt hatte. Diese Zeiten sind vorbei.

Bauen wie im Bilderbuch

Zwei weitere Lernwelten-Preise gingen daher an das Innsbrucker Bundesrealgymnasium in der Au, das auf dem Dach eines Shoppingcenters errichtet wurde und dessen Raumangebot in intensiver Zusammenarbeit mit Kinder- und Elternvertretern entwickelt wurde (Kategorie Sekundarstufe, DER STANDARD berichtete), sowie an das Kinderbuch „Archi & Turi“, das Eltern, Lehrer und Kinder mit niederschwelligen Zeichnungen zur praktischen Arbeit mit Raum und Architektur anspornen soll (Kategorie Baukulturvermittlung, herausgegeben von Monika Abendstein und Judith Prossliner). Die beiden gekritzelten Protagonisten Archi und Turi zeigen vor, wie's geht.

„Es gibt eine ganze Reihe von Pilotprojekten, was neuen, innovativen Umgang mit Raum und Pädagogik betrifft“, sagt Michael Zinner. „Die Frage ist: Was können wir von diesen Pilotprojekten mitnehmen, um die längst schon veralteten Schulbaurichtlinien zu überdenken?“ Ende letzten Jahres bereits veranstaltete er in Zusammenarbeit mit der Kunstuniversität Linz ein „Symposium zu Lernwelten und Baukultur“, bei dem nationale und internationale Beispiele präsentiert wurden.

Sensibilität für gebaute Umwelt

Es zeigte sich: In Helsinki etwa gibt es seit 1993 die Arkki, eine eigene Architekturschule, in der Kindern und Jugendlichen die Grundbausteine des Planens und Bauens vermittelt werden. „Die meisten Kinder in Finnland verbringen 70 bis 80 Prozent ihres Tages in der Schule“, sagt Pihla Meskanen, Gründerin und Leiterin der Arkki. „Das ist viel Zeit. Daher ist es wichtig, ihnen schon möglichst früh eine Sensibilität für ihre gebaute Umwelt mitzugeben.“ Die Schule wird zu einem Drittel von der Regierung, zu einem Drittel von der Stadt und zu einem Drittel von Spenden und Beiträgen finanziert. Das Projekt ist weltweit einzigartig.

Die „vor ort ideenwerkstatt“, eine Initiative aus Österreich, wiederum begibt sich in Schulen, um dort gemeinsam mit Schülerinnen und Lehrern neue Ideen und Konzepte für den bevorstehenden Schulumbau oder sogar Schulneubau zu erarbeiten. Auf diese Weise kommen nicht nur die Auftraggeber und Architekten zu Wort, sondern auch die Nutzer. Der Bildungscampus Moosburg in Kärnten ist das erste Projekt, das Resultat eines solchen Partizipationsprozesses ist. Das Projekt wurde mit dem Anerkennungspreis „Bessere Lernwelten“ ausgezeichnet.

Mehr Lern-Nettonutzfläche

Der vielleicht radikalste, aber effektivste Vorschlag kommt aus Vorarlberg. Er wurde diese Woche ebenfalls mit einem Anerkennungspreis (Kategorie Sekundarstufe) gewürdigt. Thomas Koch, Direktor der Volks- und Mittelschule Alberschwende, orientierte sich an skandinavischen Best-Practice-Beispielen, warf alle Regelwerke über Bord und ließ den Architekten einen Großteil der bestehenden Wände rausreißen. Das Resultat ist eine offene Lernlandschaft ohne Lehrmittelräume und Gänge, dafür aber mit Platz für unterschiedliche Formen des Unterrichts.

„Durch den Umbau ist es uns gelungen, die Lern-Nettonutzfläche von 55 Prozent auf 90 Prozent zu steigern“, sagt Koch. „Das wäre eine Möglichkeit, den Schulbau in Österreich unter wirtschaftlichen Bedingungen zu revolutionieren. Doch dazu bräuchte es den Mut der Politik.“ Koch fordert von den Gesetzgebern einen Drei-Punkte-Plan. Erstens: kein Schulbau mehr ohne räumlich-pädagogisches Konzept. Zweitens: keine Planung mehr ohne pädagogische Begleitung. Und drittens: keine Wettbewerbsjury mehr ohne Pädagogen.

„Dazu braucht es kein Gesetz“

Kochs Forderungen stoßen im Bundesministerium auf wenig Gegenliebe. Vor allem aber auf widersprüchliche Ansichten. Helmut Moser, Sektionschef Budget und Raum beim BMUKK, meint, er sehe keinen Handlungsbedarf, zumal sich jene Schulen, die so einen partizipativen Planungsprozess wollen, ohnehin selbst dazu aufraffen können. Ein verpflichtender Passus in den Schulbaurichtlinien sei jedenfalls nicht vorgesehen. „Außerdem sind mir als Sektionschef im Ministerium die Hände gebunden. Solange es dafür kein Gesetz gibt, kann ich nichts machen.“

Unterrichtsministerin Schmied wiederum erklärt auf Anfrage des STANDARD: „Ich kann mir gut vorstellen, dass wir uns diese drei Forderungen, die mir durchaus sinnvoll erscheinen, in der BIG (Bundesimmobiliengesellschaft, Anm.) zum Grundsatz machen. Aber dazu braucht es doch kein Gesetz. Wir haben genug gute Beispiele, die zeigen, dass innovativer Schulbau auch ohne Gesetz möglich ist.“

Politik am Zug

Laut Baukulturreport gibt es in Österreich 120.000 Lehrkräfte und 1,2 Millionen Schülerinnen und Schüler. Jahr für Jahr werden rund 200 bis 300 Schulbauten saniert, umgebaut und erweitert. Von den jährlichen Neubauten, die von Bund, Land und Gemeinde errichtet werden, gar nicht erst zu sprechen. Das Tätigkeitsfeld ist enorm.

Dass sich die Betroffenen aus eigenen Stücken organisieren können und in der Lage sind, den Schulbau zu revolutionieren und endlich Pädagogen in die Planung miteinzubeziehen, haben sie mit dem Award „Bessere Lernwelten“ eindrücklich bewiesen. Doch es geht nicht nur um die wenigen herausragenden Beispiele. Es geht um die breite Masse. Jetzt ist die Politik am Zug. Möge sie das Geld, statt in einen weiteren Architekturpreis, in eine - längst überfällige - Schulbaureform investieren.

Der Standard, Sa., 2013.06.01

25. Mai 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Der Herr der Dörfer

Vor zehn Jahren zog Architekt Johannes Liess von Wien nach Norddeutschland, ins fast ausgestorbene Lüchow. Seine Mission: Dorfrettung.

Vor zehn Jahren zog Architekt Johannes Liess von Wien nach Norddeutschland, ins fast ausgestorbene Lüchow. Seine Mission: Dorfrettung.

STANDARD: Vor zehn Jahren kehrten Sie der Stadt den Rücken und zogen in ein Dorf mit fünf Einwohnern. Warum?

Liess: Wir hatten in Lüchow schon seit einigen Jahren ein Ferienhaus, in dem wir unsere Sommer verbracht haben. Eines Tages haben wir beschlossen, hierher zu ziehen und im Urlaub zu bleiben. Permanent Vacation sozusagen.

STANDARD: Würden Sie sich als Aussteiger bezeichnen?

Liess: Ganz im Gegenteil. Wir haben ja nicht aufgehört zu arbeiten, um ab dem Tag X nur noch im Gemüsebeet zu stöbern und Karotten zu ziehen. Wir hatten die Vision, Lüchow zu beleben und wieder neu zu besiedeln.

STANDARD: Mit welchen Mitteln?

Liess: Das Wichtigste für jede Siedlungsstruktur ist eine Schule. Als wir 2003 nach Lüchow gezogen sind, waren gerade mal drei Häuser bewohnt, und zwar von fünf Rentnern. Das Dorf war kurz vorm Aussterben. Mit der Schule ist es gelungen, Jungfamilien nach Lüchow zu locken. Heute hat Lüchow 42 Einwohner. Die Hälfte davon sind Kinder.

STANDARD: 2006 wurde die Schule gegründet, 2011 wurde Ihnen die Betriebserlaubnis entzogen. Warum?

Liess: Das ist ein Politikum. Der Staat will das Schulsystem zentralisieren. Da passen Privatschulen auf dem Land nicht ins Konzept, weil man sie dann nicht mehr kontrollieren kann. In den letzten Jahren wurden in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt acht Privatschulen geschlossen. Es sind vor allem die kleinen Schulen, die einen Schließungsbescheid erhalten. Die Lage ist dramatisch.

STANDARD: Wie geht's weiter?

Liess: Wir haben uns einen Anwalt genommen und geklagt. Wenn alles gutgeht, werden wir nächstes Jahr wieder unterrichten können.

STANDARD: Ihr Buch „Artgerecht leben. Von einem, der auszog, ein Dorf zu retten“ liest sich wie eine Ode an Mutter Natur, fast ein bisschen naiv, wenn Sie von herumirrenden Mammuts und heulenden Wölfen erzählen. Ist wirklich alles so toll auf dem Land?

Liess: Mit kleinen Kindern ist es sogar sehr toll. Doch das Beste ist: Wir führen ein eigenverantwortliches Leben. Wir gestalten unsere Umwelt nach unserem eigenen Geschmack und nach unseren eigenen Vorstellungen. Wo kann man das schon?

STANDARD: Und die Infrastruktur?

Liess: Infrastruktur bedeutet für mich, dass das Dorf funktioniert und dass man sich selbst versorgen kann. Ein gutes Leben auf dem Land muss möglich sein, ohne regelmäßig in die Stadt zum Arbeiten oder zum Einkaufen fahren zu müssen. Bei uns in Lüchow gibt es einen kleinen Dorfladen, in dem man das Wichtigste für den Alltag einkaufen kann, wir haben eine Gärtnerin, die uns mit Obst und Gemüse versorgt, es gibt ein Gemeinschaftshaus, und kommenden Sommer werden wir ein Hotel beziehungsweise Gästewohnhaus realisieren. Und was mich besonders freut: Es gibt im Dorf keinen einzigen Arbeitslosen. Jeder hat einen Job.

STANDARD: Sie sind Architekt. Wovon leben Sie?

Liess: Vor Ort gibt es nur wenig zu tun. Davon könnte ich nicht leben. Ich habe Projekte in Berlin und Hamburg sowie in größeren Städten in Mecklenburg-Vorpommern.

STANDARD: Wie weit entfernt liegt die nächste größere Stadt?

Liess: Das ist Rostock. Circa 60 Kilometer.

STANDARD: Sie fahren also viel mit dem Auto.

Liess: Das ist unvermeidlich. Leider gibt es keinen öffentlichen Verkehr. Wir sind auf Individualverkehr angewiesen. Aber wir haben Car-Sharing im Dorf. Immerhin.

STANDARD: Die Erhaltungskosten abgelegener, dünnbesiedelter Strukturen sind sehr hoch. Kann oder soll sich das die öffentliche Hand überhaupt noch leisten?

Liess: Alles nur eine Frage der Organisation. Wenn man schon über Amazon und Zalando auf einen Klick Einkäufe erledigen kann, warum dann nicht auch Verwaltung und Behördenwege? Und was die Hardware betrifft: Wir haben Schotterstraßen, das reicht, das Trinkwasser kommt aus einem kleinen Brunnen im Nachbardorf, Gas gibt es nicht, für die Stromverlegung sind wir selbst aufgekommen, das Abwasser wird bei uns im Dorf in einer selbstgebauten Pflanzenkläranlage gereinigt, und was die Müllabfuhr betrifft, so reicht es, wenn man doppelt so große Container aufstellt und die Müllabfuhr halb so oft fährt. Dann kostet das keinen Cent mehr. Man muss nur wollen.

STANDARD: Gegenfrage: Was ist denn so schlimm daran, wenn Dörfer wieder von der Landkarte verschwinden? Wachstum und Schrumpfung sind natürliche Dynamiken, seit es menschliche Besiedelungskultur gibt.

Liess: Gar nichts ist schlimm daran! Ich habe nichts gegen natürliche Schrumpfung. Ich habe nur etwas dagegen, dass in weiten Teilen Ostdeutschlands ganze Landstriche infrastrukturell ausgetrocknet werden, und zwar künstlich und mit politischem Nachdruck. Von mir aus können auch zehn Dörfer verschwinden, wenn auch nur eines übrig bleibt, das funktioniert.

STANDARD: Weil?

Liess: Es ist wichtig, dass eine minimale Bevölkerungsdichte im ländlichen Raum erhalten bleibt. Nur so kann eine Gesellschaft aufrechterhalten werden. Andernfalls bleibt die Frage zu klären: Was machen wir mit unserem Land? Überlassen wir es sich selbst? Oder verhökern wir es an ein paar Agrarkonzerne? Ist das die Zukunft des Landlebens? Das wäre eine Entwicklung mit fatalen agrarpolitischen und wirtschaftlichen Folgen.

STANDARD: 2050 werden 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Wie geht es Ihnen mit dieser Prognose?

Liess: Ich finde das okay.

STANDARD: Ihr Traum für die Zukunft?

Liess: Mein größter Wunsch wäre, dass die Politik die Menschen darin unterstützt, ihre Initiativen und Visionen eigenhändig umzusetzen. Ich träume von umgekehrter Globalisierung. Ich träume von einem Dorf, das sich selbst genug ist.

Der Standard, Sa., 2013.05.25

25. Mai 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Baujuwele im Nirgendwo

Diese Woche fand im Kloster Volkenroda in Thüringen das Symposium Baukultur in ländlichen Räumen statt. Das Setting hätte nicht besser sein können. Rund...

Diese Woche fand im Kloster Volkenroda in Thüringen das Symposium Baukultur in ländlichen Räumen statt. Das Setting hätte nicht besser sein können. Rund...

Diese Woche fand im Kloster Volkenroda in Thüringen das Symposium Baukultur in ländlichen Räumen statt. Das Setting hätte nicht besser sein können. Rund hundert Architekten, Bürgermeister und Entscheidungsträger aus Österreich und Deutschland tuckerten durch Wiesen und Felder und fanden sich schließlich mitten im dünnbesiedelten Nirgendwo ein, um über die Zukunft ländlichen Bauens zu diskutieren. Konsens aller Teilnehmer: Kaff-Architektur hat durchaus Potenzial - und regionale Raumplanung sowieso.

„In Großstädten und Ballungsräumen gehört hochwertige Architektur längst zum Alltag“, sagt Roland Gruber, Initiator und Vorstandsvorsitzender des 1999 gegründeten Vereins LandLuft. „Doch niemand kümmert sich um die Baukultur auf dem Land. Dabei gibt es bei genauerem Hinsehen viele Gemeinden, die mit unglaublichem Elan Unmögliches vollbringen.“

Im Rahmen eines vom deutschen Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung geförderten Forschungsprojekts nahm LandLuft neun außergewöhnliche Gemeinden unter die Lupe. Das kleine Lüchow ist eine davon. Neben Baiersbronn, Burbach, Leiferde und Baruth/ Mark sind es vor allem die folgenden vier Ortschaften, die als Beweismittel mentaler Möglichkeiten verstanden werden mögen:

Bürgerbeteiligung und regelmäßig stattfindende Architekturmessen sind in Biberach an der Riß mittlerweile fester Bestandteil der Gemeindepolitik. Der Gestaltungsbeirat, der über alle Neubauprojekte im Stadtkern mitbestimmt, tagt öffentlich. Derzeit findet ein Wettbewerb für ein Jugendhaus statt, an dem sich die Jugendlichen mit ihrer Stimme beteiligen können. Weyarn in Bayern hat für Bürgerbeteiligungen ein fixes Jahresbudget von 100.000 Euro. Die größte Errungenschaft ist das seit 1992 praktizierte Erbbaurecht, bei dem das Grundstück nicht gekauft, sondern für 149 Jahre gepachtet wird. Das entlastet vor allem junge Familien, die auf diese Weise mehr Geld für Alltagsleben und hochwertiges Bauen haben. Die schrumpfende Stadt Luckenwalde setzt auf die Wiederbelebung historischer Architekturjuwele und ist Weltmeisterin im Lukrieren von Förderungen, um den Stadtgrundriss an die neuen demografischen Gegebenheiten anzupassen. Und Volkenroda war zu DDR-Zeiten eine lebensgefährliche Bauruine. Nach jahrelangem Engagement von Bürgern und Architekten zählt die revitalisierte Klosteranlage, in der auch das zweitägige Baukultur-Symposium stattfand, heute zu den beliebtesten Seminarstätten Deutschlands.

Der Standard, Sa., 2013.05.25

18. Mai 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Pariser Stadtmusikanten

Delogierung mal anders: Architekt Édouard François stapelte für den Bauträger Paris Habitat verschiedene Wohnhäuser zu einer urbanen Collage

Delogierung mal anders: Architekt Édouard François stapelte für den Bauträger Paris Habitat verschiedene Wohnhäuser zu einer urbanen Collage

Die Straßen sind geprägt von Kinderwagen, Einkaufswagen und tiefergelegten Renaults, deren Kofferräume mit Subwoofern ausgefüllt sind. Das Savoir-vivre ist nicht zu überhören. Trist wachsen dahinter abgewohnte, unansehnlich gewordene Plattenbauten in den Himmel. Gelegentlich noch ragt aus dem planlosen Nichts das eine oder andere Einfamilienhaus, die eine oder andere historische Stadtvilla, die von den rigorosen Stadtbaumaßnahmen der Sechziger- und Siebzigerjahre verschont geblieben ist.

Champigny-sur-Marne, rund zehn Kilometer südöstlich von Paris gelegen, ist das etwas andere Frankreich, fernab von Tour Eiffel und Champs-Élysées, eine Mischung aus Stadtrandgrün und Banlieue. 23 Prozent der Bevölkerung sind Migranten, die meisten davon stammen aus Nordwest- und Zentralafrika, die Arbeitslosigkeit ist exorbitant. Ein Drittel der Menschen unter 25 ist ohne Job.

Oder, wie es der Pariser Architekt Édouard François ausdrückt: „Das ist eine furchtbare und unattraktive Stadt mit vielen Problemen. Niemand will hier wohnen, niemand will darüber sprechen. Doch die Wahrheit ist: Champigny ist ein weltweites Phänomen, denn die sozial benachteiligten Wohnquartiere an den Peripherien der Großstädte sehen überall gleich aus. Die Infrastruktur ist eine Katastrophe, die Mobilität ist nicht gelöst, und das Stadtbild ist schlichtweg eine Beleidigung für die Augen.“

Das Wohnhaus „Urban Collage“, das vor rund einem Jahr fertiggestellt wurde, ist als aufmunternder Beitrag gedacht. François verschließt sich nicht vor der Realität, sondern schnappt sich die für diesen Ort typischen Wohntypologien und stapelt sie zu einer architektonischen Variante der Bremer Stadtmusikanten. Unten Stadtvilla, in der Mitte Plattenbau und oben drauf, quasi als surreales Sahnehäubchen im siebenten Stock, ein paar Einfamilienhäuser von der Stange. 114 Wohnungen gibt es insgesamt.

„Manche Leute werfen mir vor, dass ich mich mit diesem Projekt über die Wohnsituation armer Leute lustig mache“, meint François. „Aber das stimmt nicht - ganz im Gegenteil. Ich will die Architektur, die in Champigny-sur-Marne vorzufinden ist, als Baustein verwenden, um etwas anderes daraus zu machen, keines dieser 08/15-Wohnhäuser, sondern ein witziges, fröhliches Ding, das ein Spiegelbild der kulturellen Vielfalt dieser Stadt ist.“

Dass sich hinter dem Witz, den der eine lustig finden mag und der andere nicht, ein aufwändig geplantes Delogierungsprojekt verbirgt, ist den Beteiligten erst auf gezieltes Nachfragen zu entlocken. Paris Habitat, größter gemeinnütziger Wohnungserrichter und Immobilienverwalter der Hauptstadt, besitzt eine Handvoll Plattenbauten in Champigny. Die meisten davon sind marod, entsprechen längst nicht mehr den bautechnischen und energetischen Anforderungen und sind am Markt kaum noch zu vermieten. Nicht zuletzt sind die Wohnungen, nachdem sich die Suchkriterien in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben, für die meisten Wohnungssuchenden zu groß.

„Urban Collage ist das erste Teilprojekt einer langen Serie, in der die alten, leer stehenden Plattenbauten nach und nach durch attraktivere Neubauten ersetzt werden sollen“, erklärt Karin Sallière-Trayssac, Projektleiterin im Büro Édouard François. „Nachdem wir das Haus fertiggestellt haben, wurden die bestehenden Mieter in ihre jeweilige Wunschwohnung umlogiert. Danach wurde der alte Plattenbau abgerissen, um Platz für einen weiteren Neubau zu machen.“ So, meint Sallière-Trayssac, solle das sozial benachteiligte Wohnquartier nach und nach umgekrempelt werden.

Hier einziehen? Schock!

Eine der betroffenen Mietparteien ist Familie Laidi. Seit und 35 Jahren leben Vater Laid und Mutter Aichi, beide aus Algerien, in Champigny. Elf der insgesamt zwölf Kinder sind bereits ausgezogen, die 23-jährige Nachzüglerin Asma lebt noch bei ihren Eltern. „Die Umlogierung war ein wunderbarer Schritt für uns“, erinnert sich Asma. „Die alte Wohnung war schlecht gedämmt, undicht, feucht, kalt im Winter, und man hat ständig alles durchgehört. Und manchmal hatten wir tagelang kein Wasser, weil die Steigleitung wieder einmal kaputt war. Ich bin froh, dass wir umgezogen sind.“

Und, wie gefällt Asma das neue Haus? Sie rollt mit den Augen. „Als uns Architekt Édouard François das erste Mal die Pläne und das Modell unseres neuen Wohngebäudes präsentiert hat, in das wir alle umziehen sollten, waren wir geschockt. Das war eine Katastrophe.“ Der 75-jährige Vater mischt sich ins Gespräch ein und schimpft. Irgendwann fällt der Begriff Disneyland Paris. Der erste Eindruck sitzt den Laidis noch tief in den Knochen. „Doch mittlerweile haben wir unsere neue Wohnung richtig liebgewonnen.“

Familie Laidi lebt in einem der kleinen Einfamilienhäuser, die etwas deplatziert auf dem Dach zum Landen gekommen sind, Fensterläden und schmiedeeiserne Scharniere inklusive. Die Wohnfläche beträgt 90 Quadratmeter, hinzu kommt eine riesige Dachterrasse vor dem Wohnzimmer. Die Miete ist zwar teurer, doch nachdem die Heizkosten nur noch einen Bruchteil von früher betragen, ist die Bruttomiete mit rund 600 Euro um keinen Cent teurer als im Vorgängerbau.

„Eine neue Wohnsituation verlangt immer auch nach einer gewissen Lebensumstellung“, sagt Mutter Aichi. „Das ist schon okay. Was ich allerdings kritisiere, ist der offene Wohnungsgrundriss, wo Wohnzimmer, Küche und Vorzimmer ohne Wände und Türen übergangslos ineinanderfließen. Auch wenn das nicht so aussieht, aber wir sind eine progressive und moderne Familie. Doch nicht alle sind so wie wir. Es gibt einige arabische Familien im Haus, die mit der neuen Situation nicht umgehen können.“

Lebensgefühl wie in einem Dorf

Der Grund: Durch den Wegfall von Wänden sei die Abgrenzung von Männerräumen und Frauenräumen verlorengegangen. Manche Parteien hätten nachträglich Wände eingezogen. „Ich verstehe von moderner Architektur nicht viel“, meint Aichi. „Aber wenn Sie mich fragen, ist das eine Zwangsbeglückung, weil die Wohn- und Lebenstraditionen der Zielgruppe nicht respektiert wurden.“

Ganz anders draußen auf den Laubengängen. Kinder rennen hin und her, Wäsche ist von einer Hauswand zur anderen gespannt, wacker kämpfen sich Nanaminze und Petersilie aus der Erde. „Früher waren die Wohnungen alle an einem langen, dunklen Gang aufgefädelt, und jeder lebte für sich allein“, sagt Aichi Laidi. „Heute ist alles offen, und endlich sieht man die Nachbarn, die rundherum wohnen. Man fühlt sich hier wie in einem Dorf. Ich mag das.“

Nicht alle sind so glücklich wie die Laidis. „Sozialer Wohnbau in Paris ist ein trauriges Kapitel“, sagt Édouard François. „Immer noch wird in Frankreich Segregation nach sozialen Schichten und Klassen betrieben, und zwar mehr als in anderen Ländern. Es entsteht ein Ghetto nach dem anderen. Was fehlt, ist kulturelle Durchmischung und menschliches Durcheinander.“

Wäre die Stadt eine nicht nur oberflächlich, sondern auch substanziell durchwebte soziale Collage, so François trotzig, dann würde dieses Haus niemandem mehr auffallen.

Der Standard, Sa., 2013.05.18

15. Mai 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Stararchitekt und seine griechische Liebe

Erinnerungen an eine Architekturinstanz: Am 13. Juli wäre Theophil Hansen, der Erbauer des österreichischen Parlaments, 200 Jahre alt geworden - Grund genug, dieses Jubiläum mit ein paar Ausstellungen zu begehen

Erinnerungen an eine Architekturinstanz: Am 13. Juli wäre Theophil Hansen, der Erbauer des österreichischen Parlaments, 200 Jahre alt geworden - Grund genug, dieses Jubiläum mit ein paar Ausstellungen zu begehen

Kein anderer Wiener Architekt war in den letzten Monaten so präsent in den Medien wie Theophil Hansen, dessen Hauptwerk, das österreichische Parlament, nach 130 Jahren demnächst umgebaut und saniert werden soll. Aus Anlass seines Geburtstags, der sich heuer am 13. Juli zum 200. Mal jährt, wurde in Wien nun eine ganze Serie an Architektur-, Design- und Kunsthandwerk-Ausstellungen aus der Taufe gehoben. Eine davon, Theophil Hansen. Ein Stararchitekt und seine Wohnbauten an der Wiener Ringstraße, ist nun im Kassensaal der Otto-Wagner-Postsparkasse zu sehen.

„Theophil Hansen war für damalige Verhältnisse ein Stararchitekt, er war die Zaha Hadid des 19. Jahrhunderts“, sagen die beiden Ausstellungskuratoren Wolfgang Förster und Monika Wenzl-Bachmayer. „ Schon in jungen Jahren errichtete er ein Haus nach dem anderen und prägte die Wiener Ringstraße und die Wiener Blockrandbebauung wie kein anderer nach ihm.“

Auch der Musikverein

Nicht nur das griechisch anmutende Haus mit der Pallas Athene ist auf sein Konto zu verbuchen, sondern auch die Börse, das Musikvereinsgebäude, die Akademie der bildenden Künste, das Palais Epstein, das Palais Ephrussi, das Heeresgeschichtliche Museum im Arsenal, die Griechisch-Orthodoxe Kirche am Fleischmarkt sowie das kürzlich - als Luxushotel Kempinski - wiedereröffnete Palais Hansen am Schottenring.

Der von Hansen geprägte, klassizistische Architekturstil - auch bekannt als „Wiener Neo-Renaissance“ - hat einen guten Grund: Hansen, 1813 in Kopenhagen geboren, erhielt nach seinem Architekturstudium ein Reisestipendium, das ihn nach Südeuropa führte. Im Alter von 25 landete er in Athen, wo er die nächsten acht Jahre verbrachte und einige bedeutende Bauten errichtete.

Er plante die Athener Sternwarte, die Akademie der Wissenschaften, die Bibliothek, das Zappeion sowie einige Wohnhäuser und Hotels im griechisch-byzantinischen Stil. Vor allem aber nutzte er seinen Griechenland-Aufenthalt zum Studium der Antike.

Er machte Farbanalysen und aquarellierte sich durch die gesamte Akropolis. Bis 1853 war er sogar Zeichenprofessor an der Polytechnischen Schule.

1846 wird er von Stadtbaumeister Ludwig von Förster und Baron Simon Sina, einem der reichsten Unternehmer der österreichisch-ungarischen Monarchie, nach Wien eingeladen, um sich am Aufbau der Wiener Ringstraße zu beteiligen. Es jagt ihn ein Auftrag nach dem anderen. Doch Hansen plant nicht nur repräsentative öffentliche Bauwerke. Es sind vor allem die Privatbauten und Zinshäuser, die er in Wien in den ersten Jahren entwirft. Der griechische Einfluss ist unverkennbar.

„Hansen ist wesentlich moderner, als man auf den ersten Blick vermuten würde“, erklärt Kurator Wolfgang Förster. „Seine Wohnbauten waren schon damals in mehrere Bauteile und Stiegen unterteilt, sodass die Eigentümer bei der späteren Verwertung der Immobilie flexibler auf die Wünsche der Kaufinteressenten sowie auf die Marktsituation reagieren konnten.“ So wie zum Beispiel der 1861 bis 1863 gegenüber der Wiener Staatsoper im Auftrag des Ziegelindustriellen Heinrich von Drasche errichtete Heinrichhof (1945 teilweise zerstört, 1949 abgerissen), der damals als „ modernstes und schönstes Zinshaus der Welt“ galt.

Professor an der Akademie

Dem antiken Stil bleibt Theophil von Hansen, der später auch Professor an der Akademie wird und 1884 in den österreichischen Freiherrenstand erhoben wird, bis zu seinem Tod 1891 treu. Und er entwickelt sich zu einem Gesamtkünstler. Es reicht ihm nicht, Häuser zu planen, er dringt immer weiter ins Design vor.

Wie ein Besessener entwirft er für seine Auftraggeber Fresken, Möbel, Lampen, Kandelaber, Gläser, Tischgeschirr und sogar Besteck. Bis hin zum hellenisch anmutenden Eierbecher. Einige dieser Gegenstände, die meisten davon stammen von Schloss Hernstein, sind in der Postsparkasse ausgestellt

Zu sehen bis 17. August. Georg-Coch-Platz 2, 1010 Wien.

Die Ausstellung „Theophil Hansen. Klassische Eleganz im Alltag“ im Ringturm, ist noch bis 14. Juni zu sehen.

Und am 28. Mai wird im Mak die Ausstellung „Theophil Hansen. Kunsthandwerk“ eröffnet.

Der Standard, Mi., 2013.05.15

11. April 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Vom verstoßenen Architekten zum Opernvater

Der Name des Londoner Architekten nach vier Jahren geschäftlicher Funkstille als Feigenblatt vor die nunmehrige Steinfassade des Linzer Mammutprojekts gehängt

Der Name des Londoner Architekten nach vier Jahren geschäftlicher Funkstille als Feigenblatt vor die nunmehrige Steinfassade des Linzer Mammutprojekts gehängt

In Österreich war der hagere Brite mit graumelierter Igelfrisur bisher völlig unbekannt. Das hat sich nun geändert. Heute, am Tag der offiziellen Eröffnung der neuen Linzer Oper, ist der Londoner Architekt ein „big name“. Die oberösterreichische Landespolitik schmückt sich mit seiner Internationalität und reicht ihn als den großen „Vater des Musiktheaters“ herum. Dabei ist die Vergangenheit eine ganz andere.

2006 gewann Pawson, der bisher eine Pfarre in Wimbledon, ein zeitgenössisches Museum im irischen Carlow sowie ei ne Handvoll Wohn- und Bürohäuser gebaut hat, den internationalen Wettbewerb für den Bau des neuen Musiktheaters in der Blumau. Von einem „Wohnzimmer für Linz“ war die Rede. Von der „Kernidee, Volksgarten und Haus miteinander zu verbinden“. Doch den Linzer Stadtvätern, die seit Jahren alles Erdenkliche daran setzen, sich vom verrosteten Voest-Image ihrer Stadt zu lösen, gefiel Pawsons Idee einer voroxidierten Stahlfassade so wenig, dass das Londoner Architekturbüro plötzlich zu weit weg und die Planungsressourcen (17 Mitarbeiter, immerhin) zu gering schienen. 2008 kam die Trennung.

Heute sind sie wieder Freunde, der Josef Pühringer und der Pawson. Obwohl die beiden österreichischen Architekturbüros Architektur-Consult und Archinauten das Projekt im noch groben Einreichstadium übernahmen und mit technischer Perfektion bis zur letzten Vorhangfalte umsetzten, wird der Name Pawson nach vier Jahren geschäftlicher Funkstille als Feigenblatt vor die nunmehrige Steinfassade des Linzer Mammutprojekts gehängt. Über die tatsächlich ausführenden Architekten spricht niemand. Die Vorgehensweise ist Beispiel etablierter Unsitte in diesem Land.

„Das ist ein schwieriges Thema“, sagt Thomas Königstorfer, kaufmännischer Vorstandsdirektor des Linzer Musiktheaters. „Terry Pawson ist definitiv der geistige Urheber dieses Projekts. Die anderen beiden Büros haben seine Pläne nach seinen Vorstellungen bestmöglich umgesetzt.“ Und was sagt Pawson selbst, der in den Achtzigerjahren zwei Jahre in Italien lebte und sich damals um den Wiederaufbau nach dem großen Irpinia-Erdbeben (Kampanien) 1980 kümmerte, zu dieser Causa? „Es ist ziemlich so geworden, wie ich es mir vorgestellt habe“, so der Architekt. „Das Team hat gute Arbeit geleistet. Das Haus ist riesig und sehr komplex. Das zu managen ist schon eine Leistung.“ Immerhin einer, der den Anstand besitzt, große Namen nicht gleich mit großen Leistungen gleichzusetzen.

Der Standard, Do., 2013.04.11



verknüpfte Akteure
Pawson Terry

08. April 2013Wojciech Czaja
db

Tod und Strichcode

Seit der Liberalisierung des Bestattungsmarkts müssen auch städtische Unternehmen um ihre Kunden werben. Die neue Unternehmenszentrale der Bestattung & Friedhöfe Wien macht das auf ungewöhnliche Weise. Das Wiener Büro Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) hat es geschafft, die Themen Tod und Trauer aus ihrem dunklen, klischeebehafteten Mief zu befreien. Ein Lichtblick. Zumindest für den Kunden.

Seit der Liberalisierung des Bestattungsmarkts müssen auch städtische Unternehmen um ihre Kunden werben. Die neue Unternehmenszentrale der Bestattung & Friedhöfe Wien macht das auf ungewöhnliche Weise. Das Wiener Büro Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) hat es geschafft, die Themen Tod und Trauer aus ihrem dunklen, klischeebehafteten Mief zu befreien. Ein Lichtblick. Zumindest für den Kunden.

Wien hatte immer schon einen Hang zum Makabren, zum Morbiden, zum Gänsehautschauer im Ausnahmezustand. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass der Wiener Zentralfriedhof mit seinen 2,5 km² zu den größten, aber auch schönsten Nekropolen Europas zählt. Viele Gräber werden als ultimatives Statussymbol erachtet, in dem so mancher Toter besser »haust« als seine lebenden Zeitgenossen. Die Tore und Portalgebäude sind dramatische Gesten, die einen Sterblichen schon mal das Fürchten vor dem Sensenmann lehren können. Und sogar der österreichische Architekturvater Clemens Holzmeister, der das sakrale Österreich zwischen 1920 und 1980 wie kein anderer prägte, hinterließ mit der 1922 errichteten Feuerhalle seine pompfünebrischen Spuren. (Pompfüneberer = österreichisch für Bestatter, Anm. d. Red.)

Doch plötzlich taucht zwischen all dem Pomp ein modernes, zeitgenössisches Stück Architektur auf. Das Gebäude – 50 x 57 m in seinen Dimensionen – ist neutral und entzieht sich einer funktionalen Zuordenbarkeit durch den Betrachter. Am ehesten würde man hinter dem hellen, umlaufenden Fassaden-Strichcode eine Schule oder ein Museum vermuten. Tatsächlich jedoch handelt es sich um die neue Unternehmenszentrale der Bestattung & Friedhöfe Wien (B&F). Die Planung für diesen außergewöhnlichen, so gar nicht nach Trauer gelaunten Bau stammt vom Wiener Büro Delugan Meissl, das zuletzt das EYE Filmmuseum in Amsterdam und das Tiroler Festspielhaus in Erl plante.

»Früher waren unsere Büros auf zwei in die Jahre gekommene Altbauten in der Stadt verteilt«, erinnert sich Florian Keusch, Pressesprecher der B&F. »Die Lage war zwar gut, aber organisatorisch und atmosphärisch waren die Büros für die Mitarbeiter und v. a. für die Kunden nicht mehr zumutbar.« Seit rund einem Jahr ist die neue B&F-Zentrale am Zentralfriedhof nun in Betrieb. Geschäftiges Treiben hat sich eingestellt. Fast erinnert die große Kundenhalle im EG mit ihren schlichten, eleganten Möbeln an ein nobles, gehobenes Reisebüro, das auf luxuriöse Fernreisen ins Paradies spezialisiert ist. So falsch ist diese Assoziation nicht. »Wir haben uns einen hellen, freundlichen Empfangsraum gewünscht«, meint Keusch. »Ein Trauerfall ist unangenehm und schmerzlich genug. Da muss man die Besucherinnen und Besucher nicht auch noch mit schwerer, düsterer Architektur konfrontieren, wie man sie aus diversen Klischee-Bestattungsinstituten kennt.«

Der Fußboden der Zentrale ist aus hellen, gebleichten und gekalkten Eichendielen, die Möbel aus weiß lackiertem MDF, die Wände weiß verputzt beziehungsweise mit Holz beplankt, und an der Decke gibt es 12 Oberlicht-Schlitze, die den großen Empfangsbereich in diffuses Westlicht tauchen. »Mit dieser luftigen, modernen Gestaltung können wir der Trauer vielleicht etwas entgegensetzen.«

Sich wandelndes Fassadenbild

Doch zurück zum Anfang, hinaus auf die viel befahrene Straße. »Ein zentraler Entwurfsgedanke dieses Projekts war, an diesen sensiblen Ort kein konventionelles Bürogebäude zu stellen, sondern den neuen Baukörper in eine übergeordnete, ruhige Form zu fassen«, erklärt Architekt Martin Josst, Partner bei DMAA. Aus diesem Grund sind die oberen zwei Geschosse von der umlaufenden, segmentierten Fassade umgeben, die der äußeren Erscheinung des Gebäudes Rhythmus und Abstraktion verleiht.

Nicht zuletzt ist die Fassade eine Maßnahme, um den Verkehr der angrenzenden Simmeringer Hauptstraße optisch und akustisch auszublenden. Während es sich beim Haus selbst um einen konventionellen Stahlbetonbau in Ortbeton mit Stützen und aussteifenden Wandscheiben handelt, verbirgt sich hinter der umlaufenden Strichcode-Fassade eine Stahlkonstruktion, die als Fachwerk mit biegesteifen Ecken fungiert und mit hellgrauem Alucobond bekleidet ist.

An einer einzigen Stelle, an der die Fassade weit aus der thermischen Hülle hinauskragt, muss der Stahlbau mit einem horizontalen Balken gestützt werden. Die statische Krücke tut dem visuellen Gesamteindruck aber keinerlei Abbruch. »Alucobond hat den Vorteil, dass man das Material knicken und daher auf unschöne Eckfugen verzichten kann«, erklärt Josst den Umgang mit dem Fassadenbaustoff. »Dadurch entsteht ein plastischer Eindruck.« Durchaus von plastischen Ausmaßen ist auch die Wandstärke dieser scheinbar schwebenden Fassade. 50 cm misst der Vorbau an der dicksten Stelle. Genau dieser Kniff ist es, der dem sonst so statischen Bauwerk beim Vorbeifahren oder Vorbeispazieren eine gewisse Dynamik verleiht. Mit dem sich ändernden Blickwinkel variiert auch der Transparenzgrad. Von der Seite gibt sich das Haus hermetisch und abgeschlossen, von vorne betrachtet ergibt sich eine Luftigkeit und Leichtigkeit. Man will sofort hinein. Der Weg zum Haupteingang führt vorbei an zwei holzbekleideten Sitzpodesten, die zugleich als Fahrradständer dienen.

Auf der anderen Seite des Zugangs befindet sich eine Open-Air-Ausstellung mit Grabsteinen, Grabeinfassungen, Blumenvasen und Laternen. Hier wird man wieder in die Realität des europäischen Sterbens und Trauerns zurückgeholt. Totenkult und Architektur passen nicht zusammen, werden auch niemals eine Einheit bilden. »Wir haben dem Bauherrn sogar vorgeschlagen, uns mit dem Thema Sarg oder Grabstein entwerferisch auseinanderzusetzen«, erzählt Martin Josst. »Doch das wurde abgelehnt.« Das Bedürfnis nach einer klassischen, altmodischen Formensprache, hieß es seitens Bestattung & Friedhöfe Wien, sei in dieser Branche nun mal sehr groß.

Hinter der Glasfassade – das gesamte EG ist transparent und ermöglicht Einblicke ins Innere – sieht man bereits das großzügige helle »Nichts« hinausleuchten. Es ist ausgerechnet der Empfangsbereich, der einen etwas unfertigen Eindruck hinterlässt. Die beiden von DMAA entworfenen Sitzbänke im gläsernen Eck des Hauses wirken nicht besonders einladend. Man starrt auf eine große weiße Wand und fühlt sich bald exponiert. Eine etwas »heimeligere« Gestaltung, ja vielleicht Kunst an der Wand würde dem Wartebereich gut tun. Hinter dem großen Kundenraum, in dem behördliche Angelegenheiten wie etwa Grabstättenpflege und Mietverlängerungen abgewickelt werden, befinden sich die Einzelbüros, in die sich die Kunden mit aktuellen Sterbefällen und Bestattungsplanungen zurückziehen können. Holz und weiße Vorhänge verleihen diesem Bereich des Hauses Diskretion und Zurückhaltung. Daneben gibt es einen kleinen Ausstellungsbereich, in dem ein paar Sargmodelle und Urnen ausgestellt sind. Wieder einmal drängt sich die Disharmonie zwischen Diesseits- und Jenseits-Design auf. Auf der anderen Seite der Kundenhalle schließlich befinden sich die verglasten Büros der Gärtner und Steinmetze. Ein wenig, so scheint es, leiden sie unter der zurückhaltenden Farbgestaltung ihres Arbeitsplatzes. Im Gärtnerbüro soll die vorherrschende Schwarz-Weiß-Holz-Ästhetik mit einer knallroten Lavalampe aufgebrochen werden. Eine einläufige Treppe führt hinauf ins 1. OG. Der hölzerne Handlauf und die indirekte Beleuchtung, die in die Treppenwangen integriert sind, sprechen unmissverständlich die Sprache von Delugan und Meissl. Nach 22 erklommenen Stufen ist man bereits unmittelbar vor der Kantine angelangt. Der hölzerne Fußboden zieht sich weiter in den Speisesaal hinein, hinter einer folierten Glasscheibe wird gegessen und getrunken. Räumliche Anordnung und Materialwahl haben einen guten Grund: »Ursprünglich war geplant, diesen Bereich des Hauses auch für Kundenveranstaltungen zu nutzen«, sagt Keusch. »Doch davon sind wir wieder abgekommen. Die logistische und organisatorische Abwicklung hat sich im Alltag als zu kompliziert erwiesen.«

Neben dem Speisesaal liegen zwei Terrassen. Hier spielt das Haus seinen größten Trumpf aus. Als würde man einen Zwischenraum zwischen innen und außen betreten, beginnt man plötzlich, die innere Logik der architektonischen Konzeption zu verstehen. Strichcode-Fassade und schwarzer Bürotrakt sind zwei völlig unabhängige Gebilde, deren Konturen zufälligerweise mal deckungsgleich sind und mal nicht. Dort, wo sich die äußere Schale wie eine Haut von der Architektur löst, ergeben sich spannende Freiräume für einen Aufenthalt an der frischen Luft. Geböschte Sichtbetoneinfassungen trennen den Aufenthaltsbereich von den Hochbeeten. Eine schlichte, elegant detaillierte Holzbank »zischt« durchs Raumkontinuum.

Banalität in den Büros

Gleichzeitig ist dieser Bereich auch die Schnittstelle, an der die Qualität des Projekts bricht – weg vom öffentlichen Vorzeigebau hin zu einem klassischen Bürogebäude mit langen, schmalen Fluren, Zellenbüros, Fensterbandfassade, Doppelboden und gläsernen Türen mit Milchglasstreifen. Die Arbeitsräume sind homogen und uninspiriert. Interessant ist lediglich die haustechnische Komponente: Gekühlt wird das Gebäude mit einer Rückkühlanlage auf dem Dach, geheizt wird mit der Abwärme aus dem benachbarten Krematorium.

Einige Mitarbeiter, die anonym bleiben wollen, vertrauen ihre Meinung dem Mikrofon an: Man arbeite gerne hier, die Architektur sei modern, die Aufgabe sei durch und durch innovativ gelöst. Doch ein Problem macht der sonst so angenehmen Arbeitssituation einen Strich durch die Rechnung: Sonneneinstrahlung und Überhitzung. Die gesamte hofseitige Südfassade des schwarz verputzten Bürotrakts weist keine Doppelglasfassade, keine Hinterlüftung, kein Vordach und keinen außenliegenden Sonnenschutz auf. Das ist nicht nur ein, das ist gleich eine ganze Summe von »No-Gos«. Zeitgemäße Office-Architektur sieht anders aus. Letzten Sommer, so hört man, sei die Überhitzung so hoch gewesen, dass man sich in einigen Büros bereits mit einer stark reflektierenden Sonnenschutzfolie beholfen habe. Ein Trauerspiel. Von dem unvorhergesehenen Gebäude-Tuning wusste man bei DMAA nichts.

Die neue Unternehmenszentrale ist ein inhaltlich und formal überzeugender Zugang zu den Themen Tod und Trauer. Wäre das Thema ethisch nicht schon längst determiniert, könnte man von einem erfreulich spielerischen Ansatz sprechen. Allein, die hohe architektonische Qualität beschränkt sich auf den öffentlichen Bereich, in dem sich das städtische Unternehmen als Mitbewerber auf einem längst liberalisierten, immer stärker umkämpften Markt präsentiert. Hinter den Kulissen regiert die Normalität mit all ihren Sympathien und Problemen.

db, Mo., 2013.04.08



verknüpfte Zeitschriften
db 2013|04 Trauer braucht Raum

06. April 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Linzer Musiktheater: Ganz große Oper

Kommenden Freitag wird in Linz das neue Musiktheater eröffnet. Das riesige Gebäude ist in erster Linie riesig und in zweiter Linie voller Überraschungen

Kommenden Freitag wird in Linz das neue Musiktheater eröffnet. Das riesige Gebäude ist in erster Linie riesig und in zweiter Linie voller Überraschungen

„Dort! Ein Licht!“, sagt der eine. „Ein Haus!“, entgegnet der andere. Dies sind die ersten Worte von Philip Glass' Oper Spuren der Verirrten, die kommenden Freitag zur Eröffnung des Linzer Musiktheaters im Großen Saal uraufgeführt wird. Es geht um ziellos herumirrende Gestalten auf der Bühne, um Zuschauer, Protagonisten und Passanten. Glaubt man den Worten David Pountneys, der für die Inszenierung des Verirrungsdebüts verantwortlich ist, „so wissen wir nicht, wo wir herkommen, und schon gar nicht wissen wir, wo wir hinwollen.“

Schon ist über das neue Musiktheater am Rande des Volksgartens, nur wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt, alles gesagt. Man kann sich kaum erklären, wie dieses enorme, megalomanische Bauwerk mit seinen 150 Metern Länge zustande kam. Und schon gar nicht hat man eine Erklärung dafür, wie die neue Spielstätte mit ihren mehr als 1700 Sitzplätzen und ihren zahlreichen Nebenbühnen in den noch viel zahlreicheren Pausenfoyers in Zukunft kontinuierlich bespielt werden soll.

„Stimmt schon, das ist ein großes Gebäude“, sagt Reinhard Mattes, Landeskulturdirektor Oberösterreich, dem Standard, „aber wir haben mit diesem Haus auch Großes vor. Erstmals gibt es in Linz ein Opernhaus für große Inszenierungen, von Operetten über Musicals und Ballett bis hin zu großen Opernproduktionen. Wir rechnen mit einem Einzugsgebiet mit 300 Kilometern Radius.“ Das wird man auch brauchen. Denn mit knapp 11.000 Quadratmetern Grundfläche ist das Linzer Musiktheater gerade mal um ein paar Ecken kleiner als die 1875 eröffnete Opéra Garnier in Paris. Das ist ein Statement.

30 Jahre Geschichte, ein Drama

Mehr als 30 Jahre lang reichen die Pläne für ein Linzer Opernhaus zurück. Das Vorgängerprojekt „Oper im Berg“ vom Wiener Architekten Otto Häuselmayer befand sich bereits in Bau, als die FPÖ im November 2000 eine Volksbefragung machte und das gesamte Bauvorhaben auf einen Schlag zu Fall brachte. „Mir hat der Baustopp damals extrem leidgetan“, meint Mattes, „doch heute im Vergleich sehe ich, dass das neue Musiktheater architektonisch und funktionell eindeutig die bessere Lösung ist.“

Tausende von Dirigenten waren an der Planung dieses Gebäudes beteiligt. Der Grundentwurf geht auf den britischen Architekten Terry Pawson zurück, der aus dem 2006 ausgeschriebenen Architekturwettbewerb mit einem zeitlos eleganten Projekt als Sieger hervorgegangen war.

Sein Fehler: Den Bauherren, Stadt Linz und Musiktheater Linz (MTL) GmbH, schlug er eine Fassade aus verrosteten Stahlplatten vor. Der oberösterreichischen Landeshauptstadt, die sich von ihrem staubigen Voest-Charme schon seit Jahren mit aller Kraft zu trennen versucht, war diese Lösung ein Dorn im Auge. Alles, nur kein „Klotz mit Rosthülle“ (O-Ton Josef Pühringer)! Die Kompromisse gestalteten sich schwierig. Abgang Pawson.

Auftritt Architektur-Consult (Wien, Graz, Klagenfurt) und Archinauten (Linz). Die beiden österreichischen Büros übernehmen von nun an die Planung. Unzählige Fassadenentwürfe werden erarbeitet, erst nach etlichen Varianten ist eine Lösung gefunden, die auch Landeshauptmann Pühringer zufriedenstellt: Beton, Travertin und dunkles, fast schwarzes vorpatiniertes Messing. Allein, die rund ein Meter dicke Außenwandkonstruktion wirkt sich auf die Zartheit des Gebäudes nicht gerade begünstigend aus.

„Die Fassade ist der Idee eines umlaufenden Vorhangs nachempfunden“, erklärt Architekt Christian Halm, Projektleiter bei Architektur-Consult, kleines, schelmisches Grinsen inklusive. „Die hellen Betonpfeiler kann man im weitesten Sinne als Faltenwurf eines Vorhangs betrachten. Aber das ist Interpretationssache.“ Tonnenschwer hängen zwischen den 698 Lisenen aus Weißzement gespaltene, gebrochene Platten aus italienischem Travertin. Das Bildmetapher eines wollig weichen Bühnensamtes ist fast überzeugend. Ende des ersten Aktes. Pause.

Da kommt Deus ex Machina!

Bis zu diesem Zeitpunkt ist das neue Linzer Opernhaus eine dramatische Enttäuschung, ein stadtplanerisches und gestalterisches Malheur in Übergröße. Kostenpunkt: 150 Millionen Euro (nicht indexiert, Stand 2006). Doch mit dem Eintreten ins Innere offenbart sich auf einmal, wie aus dem Nichts, eine wohltemperierte Material- und Detailsymphonie, die das Auge für alles bisher Gesehene gebührlich entschädigt. Hier ist den Architekten ein Deus ex Machina geglückt.

Da fügen sich Eichenböden und gedämpfte Akazie zu einer feinen Terz aus Hell und Dunkel, da wird hochglanzpolierter Untersberger Marmor mit kleinen, feinen Accessoires aus matt poliertem Messing kombiniert. Und immer wieder Rauchglas und feines, mondänes Seventies-Flair. Fehlt nur noch Cord und moccabrauner Hahnentritt.

„Wir wollten keine schreierische Architekturikone bauen“, meint Andreas Dworschak, Projektleiter bei den Linzer Archinauten. „Stattdessen wollten wir ein Theater schaffen, das viele Jahrzehnte Gültigkeit bewahren kann. Der Stil ist klassisch, pragmatisch, zurückhaltend. Ich denke, man könnte die Innenraumgestaltung als britisches Understatement bezeichnen.“

Highlight im Foyer ist, neben weiteren Kunstwerken von Klaus Pinter und Oliver Dorfer, die Riesenorgel Tangosaurus des Grazer Künstlers Constantin Luser. Die in die Holzwand integrierte Klanginstallation aus hübsch geführten Messingleitungen wird mit Druckluft gespeist und bittet auf diese Weise das Publikum mit wunderbarem Klang, sich in den Saal zu begeben und die Plätze einzunehmen.

Der Weg dorthin ist eine Freude. Der Große Saal, der je nach Bestuhlung zwischen 970 und 1250 Sitzplätze fasst, gleicht einer dunklen Nussschale mit knallroten Plüschfauteuils und güldenen Rängen rundherum. Die Farbe ist eigentlich eine Flüssigmetallbeschichtung aus 90 Prozent Metall und zehn Prozent Bindemittel. Die Beschichtung, für die erst ein Fertigungsunternehmen mit entsprechenden Qualifikationen gesucht werden musste, war ein Experiment - gelungen.

Und über allem hängt die Neuinterpretation eines klassischen Lusters, eine Art Licht-Donut mit Kunststoffmembran und 48.000 LEDs. Der Saal ist großes Theater.

Alles unter einem Dach

„Doch die wahre Besonderheit dieses Saals ist die Erschließung“, sagt Dworschak, „die Auf- und Abgänge zu den einzelnen Rängen befinden sich nämlich alle innerhalb der Saalmauern. Dadurch entsteht ein räumliches Ganzes, in dem die Musik bis in die letzten Stiegenecken vordringt.“ Dem Klang tut dies keinen Abbruch. Die Akustikplanung stammt von Bernd Quiring, der auch schon den Konzertsaal der Wiener Sängerknaben und das kürzlich eröffnete Festspielhaus Erl geplant hatte.

Letzte Szene. Was bleibt, ist der Eindruck eines überdimensionalen Opus magnum, an das man sich nicht und nicht gewöhnen kann. Doch zur Rechtfertigung sei gesagt, dass die Größe nicht zuletzt auch ein geschickter infrastruktureller Schachzug für Linz ist. Erstmals in der Geschichte der Stadt werden Theater, Produktion, Werkstätten und Depot zentral gebündelt und unter einem Dach vereint. Es gibt Produktionssäle für Tischler, Schlosser, Maler, Näher und Kaschierer. Damit wird die Logistik in Zukunft einfacher und billiger.

Für die Besucher ändert das nichts. Spurlos werden sie weiterhin in der Verirrung herumwandern und ob der schieren Orientierungslosigkeit den Kopf schütteln. Philip Glass. Letzter Auftritt der Passanten. „Wo sind wir?“ Vorhang fällt.

Der Standard, Sa., 2013.04.06



verknüpfte Bauwerke
Musiktheater Linz

23. März 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Knaller aus alten Steinen

Vorletztes Wochenende wurde das Kunstmuseum Ravensburg eröffnet. So viel Qualität kann Investorenarchitektur haben

Vorletztes Wochenende wurde das Kunstmuseum Ravensburg eröffnet. So viel Qualität kann Investorenarchitektur haben

Fachwerkhäuser, gotische Prachtbauten und mittelalterliche Stuben. Ravensburg, den meisten als Heimat von Brettspielen und enervierenden Puzzles bekannt, ist ein entzückendes Städtchen, nur wenige Kilometer vom Bodensee entfernt. Doch so manch belgische Ordensfrau könnte hier, sollte sie jemals ihren Weg hierherfinden, ein großes Déjà-vu erleben.

Beim Anblick des kürzlich eröffneten Ravensburger Kunstmuseums könnte sie dann irritiert in den Himmel rufen: „Mais c'est pas possible! Ces briques me semblent sacrément connues.“ (Das gibt's doch nicht! Diese Ziegel kommen mir verdammt bekannt vor.) Kein Wunder, könnte man dann antworten, stammen sie doch alle von einer unlängst abgerissenen Klosteranlage in Wallonien. Hier, in den mittelalterlich nachempfundenen Mauern der Kunst, fristen sie ihr zweites Dasein als Recycling-Baustein. Und das tun sie mit Sinn und Würde.

„Wieso produzieren wir Baustoffe am laufenden Band, obwohl wir sie eigentlich auch wiederverwenden können?“, fragt Arno Lederer. Gemeinsam mit seinen beiden Partnern Marc Oei und Jórunn Ragnarsóttir ist der Stuttgarter Architekt für die Planung des ungewöhnlichen Museums verantwortlich. „Die Kosten für Neubau und Recycling sind in etwa gleich, doch was das Bauen betrifft, haben wir offenbar jegliches Bewusstsein für Kreislaufprozesse verloren. Dabei hat das Recycling von Baumaterialien gerade in Mitteleuropa immer schon Tradition gehabt. Daran möchten wir mit unserem Museum anknüpfen.“

Lederers Vorliebe für das Alte, für das Gebrauchte ist kein Selbstzweck, sondern hat mit Stadtkultur zu tun. „Wir verstehen Architektur als Baustein der Stadt, als Puzzlestück in einem gebauten Kontinuum. Gerade in einem so sensiblen Bereich wie der historischen Innenstadt von Ravensburg hat ein lautes, schreiendes Gebäude nichts verloren. Da geht es um Integration und Respekt.“
Puzzlestück in der Stadt

Dass viele Leute ahnungslos an diesem vor zwei Wochen fertiggestellten Bauwerk vorbeilaufen und es womöglich nicht einmal als Neubau wahrnehmen, stört Lederer, der dem gebrannten Lehm von jeher zugetan ist, nicht im Geringsten. „Ach, wenn Architektur nicht schon beim ersten Hinsehen ins Auge springt, sondern sich unaufgeregt in die Stadt fügt und vielleicht erst auf den zweiten oder dritten Blick auffällt, dann ist das durchaus ein Kompliment für uns. Das ist ein Knaller!“

In beinahe romanischer Manier stemmt sich das Haus gegen den Ravensburger Hausberg, Mehlsack genannt, und präsentiert sich all jenen, die nicht die Mühe gescheut haben, den steilen Weg nach oben zu erklimmen, mit einer hübschen, buckeligen Dachlandschaft aus mal schmalen, mal breiten Tonnengewölben. Preußische Kappe, Platzlgewölbe nennt sich diese seit Jahrhunderten praktizierte Bauweise, die bis zur Gründerzeit üblicherweise über Kellern und Erdgeschoßen errichtet wurde. In diesem Fall wurde die ingenieurmäßige Konstruktion ins Dachgeschoß gehoben.

Schmankerln wie diese bietet das Haus noch und noch. Da gibt es zum Beispiel die steinernen Regenrinnen, die wie auf die Urfunktion reduzierte Wasserspeier aus der Fassade ragen - die vielen kleinen Details, die sich wie neu interpretierte Versatzstücke aus Bauhaus und Moderne durchs Gebäude ziehen. Und die unzähligen kupfernen Spenglerarbeiten, die immer wieder aus der ziegelbraunen Masse aufblitzen. Noch glänzt das Material. Doch plötzlich: „Sehen Sie diese grüne Verfärbung da unten?“, fragt der Architekt, mit dem Zeigefinger auf eine Bodenleiste deutend, „da hat bereits ein Hund hingepinkelt - oder vielleicht war's ein Bauarbeiter.“

In Ravensburg selbst wird das neue Kunstmuseum mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Opposition und Steuerzahlerbund wittern schon seit Jahren gegen das fünf Jahre lang geplante Bauvorhaben: zu groß, zu teuer, zu unnötig. Dabei ist die Stadt nur Mieterin. Eigentümerin und Errichterin ist die Baufirma Reisch, die das Haus (Gesamtinvestition rund sechs Millionen Euro) für die Dauer von 30 Jahren an die Stadt vermietet - klassisches Public Private Partnership.

„Ich bin mit dieser Lösung sehr zufrieden“, meint der Ravensburger Oberbürgermeister Daniel Rapp (CDU), „einen Neubau dieser Art hätten wir uns niemals leisten können. So allerdings war es möglich, dieses Projekt zu realisieren und der Bevölkerung nach langer Zeit ein Haus für Kunst zur Verfügung zu stellen. Das ist ein wichtiger Bildungsaspekt.“

Glücklich ist auch Gudrun Selinka. Die Witwe des verstorbenen Kunstsammlers Paul Selinka und nunmehrige Leiterin der Peter und Gudrun Selinka Stiftung freut sich, endlich ein Heim für ihre mehr als 200 Werke umfassende Sammlung gefunden zu haben: Gruppe Cobra, Gruppe Spur und diverse andere expressionistische Maler, die nun unter ebenso ausdrucksstark geflecktem Ziegelgewölbe öffentlich zugänglich sind. Die Symbiose aus Kunst und Architektur ist perfekt. Leider war der Fotograf schneller als die Ausstellungsmacher.
Erstes Passivhaus-Museum

Bedeutung für die internationale Architekturdebatte hat das Kunstmuseum Ravensburg jedoch in ganz anderer Hinsicht: Es gilt offiziell als das erste Passivhaus-Museum der Welt. Geheizt und gekühlt wird das Haus über Geothermie. 180 Meter in die Tiefe reichen die Bodenbohrungen unter dem Fundament. Der jährliche Heizwärmebedarf liegt bei 13,4 Kilowattstunden pro Quadratmeter. Die Berechnungen stammen vom Energieinstitut Vorarlberg. Eine Zertifizierung nach DGNB liegt bereits auf dem Tisch.

Doch wozu der ganze Aufwand? „Wenn wir schon als Investor ein Museum errichten, dann wollen wir auch zeigen, wie Baukultur in Zukunft aussehen könnte“, sagt Andreas Reisch, Geschäftsführer des Bauunternehmens Reisch. Mit den heute so modernen Glaskisten, die man aufwändig temperieren und reinigen müsse, werde man nicht weit kommen. „ Dieses Haus jedoch ist ein Exempel für Materialrecycling, für schadstoffarmes Bauen, für die Förderung regionaler Ressourcen, für die Erhaltung einer lokalen Wertschöpfungskette sowie für niedrigen Energiebedarf. Ich denke, hier ist uns ein Prototyp gelungen.“

Nicht alles ist in Hinsicht auf Energieverbrauch clever geplant. „Diese riesige Drehtrommeltür! Und noch dazu komplett aus Kupfer! Ganz ehrlich, das hat uns und den Bauphysiker den letzten Nerv gekostet, denn da geht ein unglaublicher Wärmeertrag verloren“, meint Reisch, „aber so sind sie nun einmal, die Architekten. Über weite Strecken logisch argumentierend, im Detail dann aber Sturschädel.“

Arno Lederer streicht mit der Hand über den nackten Ziegelstein. Jahrhundertealte Baugeschichte kribbelt unter seinen Fingerspitzen. Auf seinem Gesicht macht sich ein wunderbares Grinsen breit. „Das passt schon so. Normalerweise sind es die Architekten, die über die Investoren lästern, und das zu Recht, denn die Qualität lässt oft zu wünschen übrig“ , sagt er, „doch dieses Projekt ist der Gegenbeweis. Da hat der Investor eine hohe Qualität an den Tag gelegt. Da darf er ruhig einmal über den Architekten schimpfen.“

Der Standard, Sa., 2013.03.23

16. März 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Gustav Peichl: „Ich bin der Pausenclown“

Der Architekt und Zeichner über Peichltorten, Süppchen und Ironie - Am Montag feiert er seinen 85. Geburtstag

Der Architekt und Zeichner über Peichltorten, Süppchen und Ironie - Am Montag feiert er seinen 85. Geburtstag

STANDARD: Montag werden Sie 85. Was ist heute anders als früher?

Peichl: Ich mache heute nicht mehr so viel. 2002 habe ich mein Büro umgekrempelt und die Geschäftsführung abgegeben. Aber ich habe immer den Büroschlüssel in der Tasche. Wenn's mich freut, gehe ich hin.

STANDARD: Das heißt, Sie entwerfen nicht mehr selber?

Peichl: Das ist mir zu anstrengend geworden. Nur manchmal mache ich noch eine Skizze. Meistens aber schaue ich mir die Entwürfe der Kollegen an, und wenn's mir gefällt, dann zeige ich „thumbs up“, und wenn's mir nicht gefällt, dann mache ich „thumbs down“.

STANDARD: Und dann?

Peichl: So ganz ernst nimmt mich heute keiner mehr mit meiner Meinung. Aber das passt schon so. Man muss der nächsten Generation den Platz überlassen.

STANDARD: In Ihrem persönlichen Arbeitszimmer scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Es sieht hier aus wie in den Sechzigern.

Peichl: Wie Sie sehen, habe ich nicht einmal einen Computer im Büro. Ich kann damit nicht umgehen. Und ich will auch nicht. Tatsache ist: Die Architekten heute können nicht mehr zeichnen. Das ist die Mausklick-Generation.

STANDARD: Sie aber zeichnen fast jeden Tag eine Karikatur.

Peichl: Ja. Bei mir kommt alles direkt vom Hirn über die Hand in die Zeichnung. Ich sage immer: Ich bin ein zeichnender Journalist.

STANDARD: Mit welchem Beruf können Sie sich mehr identifizieren? Mit dem Architekten Peichl oder mit dem Zeichner Ironimus?

Peichl: Ich bin Architekt. Punkt. Die Karikaturen waren ein Hobby, mit dem ich mein Studium finanziert habe. Im Laufe der Zeit ist das Hobby zum Zweitberuf geworden. Und der Peichl zum Ironimus.

STANDARD: Und wie wichtig ist Ironie in der Architektur?

Peichl: Na total! Die richtig großen Architekten haben alle darauf aufgebaut: Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius, Jørn Utzon und wie sie nicht alle heißen mögen. Und was mich betrifft: Ironie ist mein Hang und Drang. Ich mag es zum Beispiel, wenn Häuser Spitznamen verpasst bekommen. Meine ORF-Landesstudios werden in den Bundesländern immer nur Bachertorte und Peichltorte genannt. Ich finde das wunderbar.

STANDARD: Bei Ihren älteren Projekten wie der Bonner Kunsthalle, dem Karikaturmuseum in Krems und den ORF-Bauten ist diese Ironie gut erkennbar. Bei den neueren Projekten fehlt sie. Warum?

Peichl: Ja, es gibt viele, die das sagen. Vielleicht ist das eine Abnützungserscheinung, die sich im Laufe der Zeit einstellt. Und vielleicht hat sich der Peichl im Laufe der Zeit im Unterbewusstsein darum bemüht, etwas ernsthafter zu werden. Das wäre möglich. Das kann ich nicht beurteilen. Cicero sagte einmal: Minime sibi quisque notus est. Jeder kennt sich selbst am wenigsten.

STANDARD: Das heißt, mit dem Alter wird man ernster?

Peichl: Ich sagte vielleicht!

STANDARD: Hat der Ironimus dem Peichl je die Show gestohlen?

Peichl: Vielleicht bei Menschen, die die Karikaturen lieben und zur Architektur keine Beziehung haben. Die meisten wissen aber, dass ich in meinem Leben nicht besonders viel gebaut habe.

STANDARD: Ein Alterskollege von Ihnen, Wilhelm Holzbauer, hat bisher rund 500 Projekte realisiert. Bei Ihnen sind es gerade mal 30.

Peichl: Der Holzbauer ist ein Millionär, ein Multi! Der Peichl hingegen, der kämpft ums Überleben.

STANDARD: Woran liegt das?

Peichl: Leider ist es so: Ich bin eine Art Pausenclown. Immer wenn ich den Mund aufmache, steht das sofort irgendwo in der Zeitung. Dadurch entsteht fälschlicherweise der Eindruck, dass ich tüchtig im Geschäft bin. Mitnichten! Mitnichten! Es ist schwierig geworden, an Aufträge zu kommen.

STANDARD: Inwiefern hat sich der Architektenberuf verändert?

Peichl: Der Beruf ist technischer, juristischer und vor allem wirtschaftlicher geworden. Man muss schon ein ziemlich guter Manager sein, um sich in diesem Metier zu profilieren.

STANDARD: Und man muss Wettbewerbe gewinnen.

Peichl: Alles ein Schmäh! Alles eine Lüge! Die Wahrheit ist doch: Jeder kocht sein Süppchen, und alle sind sie irgendwie miteinander verbandelt und verstrickt. Bevor ein Wettbewerb überhaupt juriert wird, sind sich schon alle darin einig, wer gewinnen wird.

STANDARD: Sie haben auch schon an einigen Wettbewerben in China teilgenommen, sind aber noch nie zum Zug gekommen.

Peichl: Na ja, das ist ja kein Wunder. Die wollen keinen Architekten, sondern einen Ausführungsgehilfen. Und das ist der Peichl nicht.

STANDARD: Und wie ist das in Österreich mit der Ausführungsgehilfenschaft?

Peichl: Genauso, bloß schlimmer, weil sich niemand traut, die Sache beim Namen zu nennen. Die Tragik an Wien ist, dass es in dieser Stadt keine Stadtplanung gibt, sondern nur Stadtorganisation. Man wartet darauf, bis ein Investor daherkommt und sagt: „Ich würde da gern was hinbauen, und ich bräuchte dafür so uns so viele Quadratmeter. Also bitte widmen Sie mir das Grundstück, dann kommen wir ins Geschäft!“ Die großen Projekte in Wien basieren alle auf solchen Freundschaftsumwidmungen.

STANDARD: So wie der von Ihnen geplante Millennium Tower, der eigentlich viel niedriger hätte sein sollen?

Peichl: Das stimmt so nicht. Das haben die Zeitungen damals alle voneinander abgeschrieben. Die Wahrheit ist: Wir haben das Projekt gemacht, haben der Stadt Wien aber vorgeschlagen, den Turm ein bissl schlanker zu machen. Und so wurde er halt um ein paar Meter höher. Meine Aussage bezieht sich vor allem auf kleinere Projekte. Schauen Sie sich nur einmal die Wiener Dachgeschoße an! Das ist reine Geschäftemacherei. Eine der schauderhaftesten Akkumulationen findet man Am Hof mit dem Generali-Haus und dem Hotel vom Benko. Ein Malheur! Das ist nicht Architektur, das ist Immobilienwirtschaft.

STANDARD: Macht man sich in der Architektur mehr Freunde oder mehr Feinde?

Peichl: Sowohl als auch. Ich habe gute Freunde und gute Feinde. Aber die guten Feinde sind viel wichtiger. Sie sind es, die einen groß machen.

STANDARD: Ihr hoher Bekanntheitsgrad ist also der Feindseligkeit zu verdanken?

Peichl: Aber natürlich! Und meinem Talent. Das ist eine gute Mischung.

STANDARD: Wer sind denn Ihre Feinde?

Peichl: Ich bin ein offener Typ, komme mit allen ganz gut aus und gehöre keinen Seil- und Machenschaften an. Allein damit macht man sich schon Feinde.

STANDARD: Welchen Stellenwert nimmt Gustav Peichl in der österreichischen Architektur ein?

Peichl: Eitel wie ich bin, gefällt mir das meiste, was ich bisher fabriziert habe, im Großen und Ganzen sehr gut. Aber wirklich zufrieden bin ich nie.

STANDARD: Vor zehn Tagen wurde Ihnen das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse verliehen.

Peichl: Ich habe schon so viele Auszeichnungen bekommen, so viele Ehrenkreuze, Verdienstzeichen und Ehrenmitgliedschaften, dass ich gar nicht mehr mitzählen kann. Vor ein paar Jahren wollte mich das Ministerium wieder einmal auszeichnen, aber dann hat man plötzlich gemerkt, dass der Peichl von Bronze bis Gold schon komplett ausdekoriert ist. Und so hat man mir damals den Goldenen Rathausmann gegeben. Missverstehen Sie mich jetzt bitte nicht! Ich freue mich darüber. Das stärkt mein Ego. Doch die tatsächliche Bedeutung dieser Auszeichnungen hält sich in Grenzen.

STANDARD: Was machen Sie mit all diesen Verdienstzeichen?

Peichl: Meine Frau sammelt die alle und legt sie in der Wohnung schön zurecht.

STANDARD: Abschlussfrage: Haben Sie einen Geburtstagswunsch?

Peichl: Das mit den Wünschen ist so eine Sache. Man will jeden Tag was anderes. Ich kann mich nicht entscheiden. Aber gut: Ich wünsche mir, dass der Architektur endlich mehr Respekt entgegengebracht wird, als das heute der Fall ist. Das ist zwar ein komischer Wunsch, aber das ist auch eine komische Frage.

Der Standard, Sa., 2013.03.16



verknüpfte Akteure
Peichl Gustav

09. März 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Auf der letzten Stufe zum Bauhaus

Henry van de Velde war ein Tausendsassa. Zum 150. Geburtstag widmet Thüringen dem besessenen Jugendstil-Architekten ein ganzes Themenjahr.

Henry van de Velde war ein Tausendsassa. Zum 150. Geburtstag widmet Thüringen dem besessenen Jugendstil-Architekten ein ganzes Themenjahr.

Mit Weimar verbindet man Schiller, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, Luther, Wagner, Liszt und Bach. Und natürlich Bauhaus sowie Thüringer Klöße. Dass diese mit berühmten Söhnen und mehr oder weniger bedeutsamem Kulturgut keineswegs geizende Stadt auch eine Hochburg des Jugendstils ist, wird dabei oft vergessen.

Das aktuelle Jubiläumsjahr, in dem der 150. Geburtstag des Designers und Architekten Henry van de Velde begangen wird, bietet die Möglichkeit, dieses Versäumnis nachzuholen. Gefeiert wird in vollen Zügen: mit etlichen Ausstellungen, Führungen, Tagen der offenen Tür sowie mit Henry-van-de-Velde-Torten und Henry-van-de-Velde-Kaffee auf und in Henry-van-de-Velde-Porzellan. Das Partybudget beträgt rund 3,2 Millionen Euro. Ein beträchtlicher Teil kommt von Privatstiftungen.

Eines der bekanntesten Gebäude des in Antwerpen geborenen Universalgenies ist die Kunstgewerbeschule im Süden der Innenstadt, nur wenige Schritte vom Liszt-Haus entfernt, errichtet zwischen 1904 und 1910. Robert Verch, Architekturabsolvent und bekennender Van-de-Velde-Fan, organisiert Führungen durch die Bauten des Jubilars. Und er versteht es, sein Publikum mit den kleinsten Details zu faszinieren.

Schon steht er mitten im Stiegenhaus seiner ehemaligen Schule, blickt hinauf in die Treppenspindel, und während er zu den ersten Worten ansetzt, heben sich hinter seiner Nickelbrille langsam die Augenbrauen: „So etwas haben Sie noch nie gesehen! Normalerweise ist ein Betonbalken dazu da, um die Last nach allen Seiten abzutragen. Aber sehen Sie diese herausgebissene Mulde da oben, die den Kurven der Wendeltreppe folgt? Ist das nicht dreist? Henry van de Velde hat es doch glatt gewagt, die Optik der Statik vorzuziehen!“

Dass Van de Velde nur ein Fall für die verkopfte, intellektuelle Oberschicht war, lässt sich beim besten Willen nicht sagen. Ganz im Gegenteil. Der ausgebildete Maler und Kunsthandwerker, der schon zu Beginn seiner Karriere vorwiegend für deutsche Kunden tätig war und daher bald von Belgien über Berlin nach Weimar emigrierte, war ein Tausendsassa und ein regelrechtes Arbeitstier. Mehr als 10.000 realisierte Entwürfe gehen auf ihn zurück.

„So ein großes OEuvre wie bei Henry van de Velde kennt man von keinem anderen planenden Menschen auf der Welt“, sagt Thomas Föhl. Der 58-jährige Kunsthistoriker ist Leiter der Klassik-Stiftung Weimar. „Es gibt wohl keinen Gegenstand, dem dieser Alleskönner nicht irgendwann in seinem Leben Gestalt verliehen hat.“ Zu seinen Arbeiten zählen Haushaltsartikel, Geschirr, Möbel, Einfamilienhäuser, Schulen, Bücher, Schuhe, Kleidung, Kutschen, Automobile, Schiffskabinen, Fährschiffe und ganze Zuggarnituren. Sogar das berühmte B-Logo der Belgischen Staatsbahn aus dem Jahr 1936 stammt aus Henry van de Veldes Feder. Im Archiv der Klassik-Stiftung ist alles ganz genau dokumentiert und katalogisiert. 55.000 Fotos seiner Werke liegen in den Laden.

Bei einem Spaziergang durch den Park an der Ilm kann man wieder frische Luft schnappen. Das romantisch angelegte Wäldchen mitten in der Stadt ist quasi der Central Park Weimars. Man geht vorbei an Ruinen, mitunter auch an wilden Rehen, und mit einem kleinen Schlenkerer gelangt man sogar zu Goethes kleinem Gartenhaus, das er als Refugium und Klausur für seine Arbeit nutzte. Hier erblickten unter anderem Iphigenie auf Tauris und Torquato Tasso das Licht der Welt. Es ist wohl einer der wenigen Orte in der ganzen Stadt, an dem der belgische Henry, der sich sogar über das Wohnhaus Friedrich Nietzsches hermachte, keine baulichen Spuren hinterließ.

Hightech statt Ornament

An der Belvederer Allee 58 liegt, hinter Bäumen und Büschen verborgen, das Haus Hohe Pappeln, zur Gänze errichtet aus lochzerfressenem Travertin. Henry van der Velde baute das Haus 1907 für sich und seine Familie. Heute wird die Jugendstilvilla als Museum genutzt. Zumindest im Erdgeschoß. Man sieht die originalen Stoffbespannungen und Vertäfelungen, die alten Lüftungslöcher, durch die die beheizte Luft in den Raum strömte, und die originalen Lichtschalter, die in den hölzernen Türrahmen versteckt sind. Hier war ein Hightech-Freak und Besessener am Werk.

Oben im ersten Stock ist ein weiterer Besessener daheim: Thomas Föhl von der Klassik-Stiftung. „Ich habe mich 20 Jahre lang darum bemüht, dieses Haus kaufen zu können. Eines Tages hat es dann endlich geklappt“, sagt er. Und dann ist da plötzlich dieses unschwer zu deutende Grinsen in seinem Gesicht: „Mittlerweile habe ich schon mehr Jahre in diesem Haus verbracht als Van der Velde selbst!“ Der Bau, der schon ein Dutzend Male den Besitzer wechselte und während der DDR-Zeit als Wohnheim für Bedürftige und Obdachlose diente, steht seit 1985 unter Denkmalschutz. Ab dem 24. März kann es wieder besichtigt werden.

Man braucht kein Kenner der Materie zu sein, um sich über den Thüringer Jugendstil zu wundern. Mit den verspielten, verschnörkelten Kreationen eines Gustav Klimts, Otto Wagners oder Josef Maria Olbrichs, der etwa die Wiener Secession plante, haben die Häuser des belgischen Zeitgenossen nichts gemein. Die Architektur ist sachlich und nüchtern. In Fachkreisen wird Van de Velde, der intensive Kontakte zu Walter Gropius und Oskar Schlemmer pflegte, sogar als Brücke zwischen Jugendstil und Bauhaus gesehen. Das ging so weit, dass er selbst es zutiefst ablehnte, als Jugendstilarchitekt bezeichnet zu werden. In seinen Weimarer Jahren soll er sich einmal über die floralen Auswüchse seiner Kollegen echauffiert haben: „Es reicht! Die Zeit des Ornaments aus Ranken, Blüten und Weibern ist vorbei!“

Von Blütenduft und Weiblichkeit ist außerhalb Weimars zur Jahrhundertwende nicht viel zu bemerken. Die umliegenden Städte, die im Krieg massiver als Weimar bombardiert wurden, waren damals Hochburgen von Industrie und Gewerbe. Jena war bekannt für seine Optik- und Feinmechanikindustrie. Die Backsteinbauten der Jenaer Glasschmiede Schott und von Carl Zeiss prägten das Stadtbild. Zudem prosperierte in Gera die Elektronik- und Textilindustrie. Die baulichen Spuren sind nicht zu übersehen.

Einer, der von der industriellen Blüte zur Jahrhundertwende besonders profitierte, war der Geraer Textilfabrikant Paul Schulenburg. Für ihn errichtete Van de Velde 1913 bis 1915 am Rande des Stadtwalds eine riesige Villa samt umliegendem Garten, in dem einst die größte, prächtigste Orchideensammlung Deutschlands gedieh. Sogar Möbel, Stoffe und Geschirr wurden eigens für dieses Haus entworfen. Nach der Enteignung 1946 diente das Haus als Schwesternschule. Nach der Wende 1989 stand es jahrelang leer und war dem Verfall preisgegeben.

Heute erstrahlt die Villa Schulenburg, wohl eines der schönsten Schmuckstücke Henry van de Veldes, nach 15-jähriger Sanierung und Renovierung im neuen Glanz. Zu verdanken ist dies dem Psychiater und Neurologen Volker Kieselstein. „Mit neun Jahren war ich bereits von Henry van de Velde fasziniert, ich bin hier als Schulkind regelmäßig vorbeigegangen, und so konnte ich gar nicht anders, als mich dieses verfallenen Hauses endlich anzunehmen“, sagt Kieselstein. „Ich führe ein Doppelleben. Van de Velde ist meine zweite Liebe.“

Briefe an Friedrich Nietzsche

In einer Dauerausstellung sind Fotografien und Briefwechsel zwischen Henry van de Velde und Friedrich Nietzsche zu sehen. Die beiden konnten sich gut leiden. Zwischen den Zeilen sticht plötzlich ein jugendstilsicher gestaltetes Büchlein aus der Vitrine. Gold auf weiß: Ecce Homo. Doch das eigentliche Exponat ist das Haus selbst. „Die Rekonstruktion dieses Gebäudes hat mich in seinen Bann gezogen“, erzählt Kieselstein. „Für mich ist das ein Stück Kulturgut. Wo sonst sieht man schon solche ausgeklügelten Fensteröffnungsmechanismen und so eine schöne handwerkliche Präzision? Das gibt es heute nicht mehr! Davon können wir heute viel lernen.“

Finanziert wird das herrliche Haus, in dem heute die Europäische Vereinigung der Freunde Henry van de Velde beheimatet ist und das immer wieder als Hochzeitslocation angemietet wird, unter anderem von der Deutschen Stiftung für Denkmalschutz. Ein zweifelsfrei aufwändiges finanzielles Engagement, aber: „Über Einzelheiten rede ich nur mit meinem Steuerberater“, sagt Volker Kieselstein. Er zieht ein Stofftaschentuch aus seiner Jackentasche und poliert den Türknauf im Salon. „Ich sagte Ihnen ja gerade: Es ist eine Liebe.“

Van-de-Velde-Jahr 2013: In ganz Thüringen gibt es Ausstellungen und Veranstaltungen, unter anderem in Weimar, Erfurt, Jena, Gera, Apolda, Chemnitz sowie in der Keramikstadt Bürgel. Darunter „Leidenschaft, Funktion und Schönheit. Henry van de Velde und sein Beitrag zur europäischen Moderne“ im Neuen Museum Weimar (www. klassik-stiftung.de, ab 24. März) und „Der Architekt Henry van de Velde“ in der Bauhaus-Universität Weimar (ab 29. März). Empfehlenswert sind außerdem das Nietzsche-Archiv und das Haus Hohe Pappeln sowie das Haus Schulenburg in Gera (www.haus-schulenburg-gera.de). Infos: www.vandevelde2013.de

Das kulinarische Glück in Thüringen hält sich bisweilen in Grenzen. Eine große Ausnahme ist das deftige Traditionsgericht Rindsroulade mit Rotkraut und Thüringer Klößen, das auf keiner Speisekarte fehlt und so schmeckt wie aus Omas Kochtopf. Besonders empfehlenswert sind die beiden lokalen Restaurants Köstritzer Schwarzbierhaus in Weimar (www.koestritzer-schwarzbierhaus-weimar.de) und Schwarzer Bär in Jena (www.schwarzer-baer-jena.de). Stilvoll residieren kann man in Weimar im Hotel Elephant (www.hotelelephantweimar.com) - und das zu angemessenen Preisen. Man muss dort ja nicht unbedingt in der Udo-Lindenberg-Suite absteigen.

Entweder mit dem Flugzeug über Leipzig (Direktflug mit Austrian Airlines ab Wien, www.austrian.com) oder mit der Bahn direkt nach Weimar, Jena oder Gera. Die Fahrt dauert sieben bis acht Stunden, wobei man je nach Destination einige Umstiege in Kauf nehmen muss. Doch dafür gibt es zwischen Weimar, Jena und Gera sehr gute, regelmäßige Zugsverbindungen. Bei Bedarf werden Routen zu diversen Jugendstil- und Bauhaus-Sehenswürdigkeiten zusammengestellt. Infos auf www.weimar.de und www. thueringen-tourismus.de. Ansonsten lockt Weimar mit Museen und Ausstellungen zu Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und Co.

Der Standard, Sa., 2013.03.09

16. Februar 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Schüler aus Bodenhaltung

Vorgestern, Donnerstag, wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit vergeben. Eines der fünf prämierten Projekte ist das hölzerne Agrarbildungszentrum am Traunsee.

Vorgestern, Donnerstag, wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit vergeben. Eines der fünf prämierten Projekte ist das hölzerne Agrarbildungszentrum am Traunsee.

„Ich finde die Schule voll cool und voll gemütlich“, sagt Sophie Smolle. „In jeder anderen Schule gibt's kahle weiße Wände und einen kalten, grauslichen Fliesenboden, hier aber ist alles aus warmem, angenehmem Holz. Und außerdem riecht's hier super.“

Die 15-Jährige ist Schülerin im Agrarbildungszentrum Salzkammergut in Altmünster, das vor eineinhalb Jahren fertiggestellt und eröffnet wurde. Wie ihre Klassenkameraden aus der 1D, deren Birkenstockschlapfen allesamt quer über die Klasse verstreut sind, bevorzugt sie es, sich auf besockten Sohlen durchs Gebäude zu bewegen. In der Pause liegt und lümmelt sie mit ihren Freunden und Freundinnen auf dem Boden. „Einen Makel hat das Ganze allerdings“, sagt sie. „Man muss schon aufpassen, dass man sich nicht ständig einen Schiefer einzieht.“

Die Nachteile der Agrar- und Berufsfachschule, von der es nur ein paar Schritte zum schuleigenen Strand am Traunsee sind, halten sich fürwahr in Grenzen. Vorgestern, Donnerstag, wurde das außergewöhnliche Projekt der Vorarlberger Architekten Fink Thurnher im ORF-Radiokulturhaus Wien mit dem Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Nach 2006 und 2010 wurde der Preis, mit dem auch vier weitere Bauwerke in Wien, Krems, Graz und Linz ausgezeichnet wurden (siehe unten), heuer zum dritten Mal vergeben. Auslober ist das Lebensministerium.

„Die Stimmung in diesem Gebäude ist fantastisch, ich habe so etwas noch nie erlebt“, sagt Schuldirektorin Barbara Mayr. Das Lodenjankerl mit Hornknöpfen, das sie an diesem Tag trägt, während sie dem STANDARD eine Führung durch die hölzernen Räumlichkeiten des Lehrens und Lernens gibt, zeigt, wie groß der Bogen landwirtschaftlicher Denkinterpretationen sein kann. „Ach, diese furchtbaren Klischees mit den sprechenden Schweindln in der Werbung machen die Branche à la longue kaputt. Ich bin daher froh darüber, dass es uns gelungen ist, unseren Schülerinnen und Schülern in diesem Haus ein modernes, zeitgenössisches Bild der Arbeitstätigkeiten im primären Sektor zu vermitteln.“

Unterrichtet werden Bodenkultur, Landwirtschaft, Holzverarbeitung, Landschaftsgestaltung, Floristik, Kochen, Kellnern und Jagen. Außerdem gibt's eine Molkerei, Fleischerei und Obstverarbeitungsanlage. Und sogar Schnaps wird in dieser Schule gebrannt. „Ja, ich habe eine Brennkonzession“, sagt die Direktorin stolz. Im eigenen Genussladen im Erdgeschoß werden all diese Produkte schließlich zum Verkauf angeboten. Doch zur wahren Vermittlung der agrarischen Genüsse und Qualitäten - das ist nicht zu überhören - trage auch und vor allem die Architektur bei.

Von außen betrachtet, folgt das Agrarbildungszentrum der Idee eines traditionellen oberösterreichischen Vierkanthofs, maßstäblich aufgeblasen bis zu einer Größe von drei Geschoßen und 60 Metern Seitenlänge. Dass es sich bei diesem Bau nicht nur um einen Neubau, sondern auch um die Einverleibung und Sanierung zweier Bauteile aus den Fünfziger- und Siebzigerjahren handelt, ist dem Haus kaum anzusehen.

Baustoff als Hülle und Fülle

„Die Integration des Altbestandes war gar nicht so einfach“, meint Architekt Markus Thurnher. „Aufgrund der Holzbauweise und der Passivhaustechnologie, die im Wettbewerb gefordert war, mussten wir bereits von Anfang an sehr genau planen. Es war mühsam, aber ich verstehe die symbolische Aussage des Bauherrn, den Bestand erhalten und sanieren zu wollen. Und natürlich profitiert auch die Schule insofern davon, als das Gebäude schon jetzt eine gewisse Geschichte hat.“

Allein, die wahren Werte des Agrarbildungszentrums (Gesamtinvestitionskosten 28 Millionen Euro) entfalten sich im Inneren, sobald man Boden, Wand und Decke mit Nase, Händen und Füßen erfasst hat. Das bestätigen auch die Schülerinnen und Schüler. „Außen gefällt mir die Schule überhaupt nicht“, meint Andreas Gerstner, 1D. „Sie wirkt viel größer und viel wuchtiger, als sie in Wirklichkeit ist. Aber innen finde ich sie richtig toll.“ Und Lena Purrer, 2A, meint: „Schön, dass hier alles mit Holz gebaut wurde, schließlich ist der Baustoff in unserer Gegend in Hülle und Fülle vorhanden. Ich finde, das ist nachhaltig.“

Die konstruktiven Bauteile sind aus Fichte, alle sichtbaren Oberflächen im Innen- und Außenbereich sowie die Möbel und Wandverbauten wurden aus Weißtanne gefertigt. Das gesamte Holz stammt aus einem Umkreis von 150 Kilometern. Insgesamt wurden 95 Prozent aller Handwerksarbeiten und Gewerke im Salzkammergut vergeben. Das heißt: Die Wertschöpfungskette bleibt bei Klein- und Mittelbetrieben in der Region.

Hinzu kommt, dass das gesamte Gebäude mit Zellulose, also mit einem Recycling-Gemisch aus Holz und Altpapierflocken, sowie mit Schafwolle gedämmt ist. Auf dem Dach gibt es eine Solaranlage mit 90 Quadratmetern sowie eine Fotovoltaikanlage mit 73 Quadratmetern Fläche. Die Toiletten werden mit Regenwasser gespeist. Gekühlt wird das Haus, das Platz für rund 300 Schüler und 150 Internatsplätze bietet, mit einer Rohrleitungsanlage im Fundament. Geheizt wir mit Hackschnitzeln aus den umliegenden Holzverarbeitungsbetrieben. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Fazit: Gegenüber dem Altbau konnte der Energiebedarf durch die Summe all dieser Maßnahmen um 90 Prozent reduziert werden.

Medizin gegen Aggression

„Dieses Schulgebäude ist zwar durch und durch ökologisch, aber dieser Aspekt ist keineswegs aufdringlich“, meint Schuldirektorin Barbara Mayr. „Was man als Nutzerin mitkriegt, ist die pure Gemütlichkeit, die das Haus ausstrahlt. Man fühlt sich hier wie daheim.“

Pausenbeginn. Schon sitzen und liegen sie wieder alle auf dem Boden und frönen dem Nichtstun. Die kollektive Ruhe wird jäh unterbrochen. „Schon wieder der Journalist mit dem Fotoapparat! Oida! Noch nie Menschen aus Bodenhaltung gesehen?“

Architektonische Qualität und Nachhaltigkeit schließen einander nicht aus. Diesen Beweis zu erbringen ist die eigentliche Intention dieses Staatspreises. „Vor zehn oder 20 Jahren konnte man einem Gebäude noch gegen den Wind ansehen, ob das ein Passivhaus ist oder nicht“, erklärt Roland Gnaiger, Staatspreisbeauftragter und Vorsitzender der Jury. In der Vergangenheit habe die bauliche Qualität unter den Kriterien der Ökologie oftmals gelitten. „Aber das ist heute anders. Nachhaltigkeit ist heute unsichtbar.“

„Unsichtbare Nachhaltigkeit? Also das würde ich nicht behaupten!“, entgegnet die Direktorin des Hauses. „Sie wissen ja, wie wild und aggressiv Kinder in der Pubertät sein können. Doch seitdem wir hier im neuen Schulhaus sind, ist der Aggressionspegel dramatisch gesunken. Und Vandalismus ist bei uns ein Fremdwort.“ Es ist schön, dass die Behörden gelernt haben, den jungen Leuten mit Wertschätzung zu begegnen. Das ist eine sinnvolle Investition in die Zukunft. Voll cool.

Der Standard, Sa., 2013.02.16



verknüpfte Auszeichnungen
Staatspreis Architektur & Nachhaltigkeit 2012

09. Februar 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Schladming, Opus magnum

Gestern Bauwut, heute WM-Fieber, und was kommt morgen? Ein Lokalaugenschein aus der anabolikagefütterten Sporteventmetropole Schladming.

Gestern Bauwut, heute WM-Fieber, und was kommt morgen? Ein Lokalaugenschein aus der anabolikagefütterten Sporteventmetropole Schladming.

„When we all give the power, we all give the best“, dröhnte es Mittwochabend auf der Medal Plaza in der Schladminger Innenstadt. „Every minute of an hour, don't think about a rest. Na na na na na.“ Besser hätte Opus die Bauwut, die den WM-Austragungsort am Fuße der Planai in den letzten Jahren erfasst hat, nicht ausdrücken können. Die Worte schienen wie frisch gedichtet für diese Massenveranstaltung, die den einst kleinen, beschaulichen Wintersportort in ein überdimensionales Dorado für Anhänger der niederschwelligen Unterhaltung verwandelten.

Rund 400 Millionen Euro wurden investiert, um Schladming für die Alpine Ski-WM 2013 fit zu machen. Etwa die Hälfte davon stammt aus öffentlichen Geldern. Skilifte wurden gebaut, der Bahnhof wurde erweitert, Hotels und Pensionen mit rund 1000 Betten wurden errichtet, ein Kongresszentrum für 2000 Menschen wurde aus dem Erdboden gestampft, außerdem bekam Schladming eine Biofernwärmeanlage, ein modernisiertes Abwassersystem und eine neue Umfahrungsstraße mitsamt Lärmschutz, Unterführungen und autobahnartig anmutenden Auf- und Abfahrten.

Größter Stolz der Schladminger ist der sogenannte Skygate, eine 35 Meter hohe Stahlkonstruktion, die sich wie ein gigantisches Kipferl über die Planai beugt. Die unübersehbare Landmark, die abends in allen möglichen und unmöglichen Farben erstrahlt, beherbergt eine Aussichtsplattform für sehr wichtige Leute und dient als eine Art optische Endstation der Planai.

„Mich hat immer schon fasziniert, wie die Skipiste in diesem Hexenkessel mitten im Stadtzentrum endet“, sagt Gernot Ritter vom zuständigen Architekturbüro Hofrichter Ritter. „Aber bislang gab es kein Symbol, das auf diese abschließende Situation hingewiesen hätte. Es gab einfach nur eine Ziellinie, das war's.“ Mit dem Skygate, in dessen Errichtung rund zwei Millionen Euro flossen, habe sich das nun geändert. Nach Auskunft des Bürgermeisters soll das Stahlcroissant nach der Weltmeisterschaft erhalten bleiben.

„Ja, es stimmt schon“, meint Ritter, der auch für die Planung der futuristischen Talstation Planet Planai sowie für die benachbarte Riesengarage am Berghang verantwortlich ist. „Die meisten neuen Bauwerke sind Solitäre, die wenig Rücksicht auf das Rundherum nehmen. In Summe ist in Schladming in den vergangenen Jahren viel Unkoordiniertes passiert.“ Verantwortlich für dieses Unglück sei unter anderem die Tatsache, dass viele Projekte lange Zeit on hold waren, weil die Finanzierung noch nicht gesichert war. Und dann musste alles Schlag auf Schlag gehen. „Gute Stadtplanung braucht vor allem Zeit“, meint Ritter. „Und die hat hier eindeutig gefehlt.“

Davon kann auch Josef Hohensinn ein Lied singen. Vor einigen Jahren ging der Grazer Architekt als Sieger eines Wettbewerbs für das neue Hotel Schladming der Falkensteiner Michaeler Tourism Group (FMTG) hervor. Und dann passierte lange Zeit nichts. „Letztendlich haben wir erst im April 2012 zu bauen begonnen“, sagt Hohensinn. „Schon im Dezember haben die ersten Gäste eingecheckt. Das war ein Stress!“

Acht Monate Bauzeit für ein Vier-Sterne-Superior-Resort mit 130 Zimmern und allerhand Design-Appeal und Hüttenzauber-Chicness, ist in der Tat rekordverdächtig. Gearbeitet wurde in zwei Schichten, täglich standen die Bauarbeiter bis Mitternacht auf dem Gerüst, erinnert sich Hotelmanagerin Julia von Deines. Von der Hektik ist heute nichts mehr zu spüren. Die Lodenfauteuils und großkarierten Teppiche des Wiener Interior-Architekten Arkan Zeytinoglu versprühen winterliche Romantik. Hinter der Glasplatte knistert das Kaminfeuer. Und Assinger und Hinterseer spazieren durch die Lobby, als seien sie hier schon Stammgäste seit vielen, vielen Jahren.

Kongressstadt Schladming?

Wenige Meter weiter steht die neue Kongresshalle von Riepl Riepl Architekten. Der Holzbau, der während der WM als Mediencenter dient, wurde ebenfalls in weniger als einem Jahr errichtet. Ein Lamellenkleid aus Lärchenholz verleiht dem sonst schlichten, zweckmäßigen Bau ein Minimum an Eleganz. Innen dominieren Stein, Holz und roter Loden an der Wand. In der großen Mehrzweckhalle sitzen Journalisten, Reporter und Kameramänner aus aller Welt. Später einmal sollen hier Kongresse und Großveranstaltungen abgehalten werden.

„Ich glaube, wir haben die Bauaufgabe in architektonischer Hinsicht sehr gut gelöst, aber unter einer nachhaltigen Stadtplanung stelle ich mir etwas anderes vor“, meint Architekt Peter Riepl. „Als wir zu planen begonnen haben, da wussten wir nicht einmal noch, wie das Gelände rundherum aussehen wird. Wir mussten quasi ins Nichts hineinplanen.“

Und das sieht man auch. Dem neuen Stadterweiterungsgebiet im Nordosten der Stadt, in das man durch ein kleines Nadelöhr unter der Ennstalstraße gelangt, fehlt jedes übergeordnete Konzept. Die für sich betrachtet schönen und angesichts des engen Zeitplans durchaus hochwertig gelösten Bauaufgaben stehen völlig zusammenhanglos in der Landschaft herum. Der Städtebau gleicht einem Würfelhusten mit hinausgeschleuderten Brocken aus Holz und Beton.

„Schladming ist ein Chaos geworden“, sagt Riepl. „Und das ist schade, denn obwohl es sich hier um einen klassischen Wintersportort mit all den dazugehörigen Bausünden handelt, hatte die Stadt von jeher einen historischen Kern, der eindeutig die Mitte war. Diese Mitte ist nun verlorengegangen. Schladming sieht heute aus wie eine Tourismusretorte.“

In der Bevölkerung, die sich von der WM und ihren Folgen einen wirtschaftlichen Ruck erhofft, stoßen die Baumaßnahmen nicht nur auf Gegenliebe. „Der Ort ist moderner geworden, und das finde ich sehr gut“, sagt Theresa Schlager, Verkäuferin bei Royer Kosmetik am Hauptplatz. „Allerdings ist der Kontrast zwischen Alt und Neu teilweise doch recht heftig.“ Und Susanne Schuster, Optikerin in der Innenstadt, meint: „Ich find's brutal, was in Schladming passiert ist. Man war wie geblendet von der WM. An die langfristigen Folgen scheint hier niemand gedacht zu haben. Und das, obwohl alle die ganze Zeit von Nachhaltigkeit reden. Aber ich sehe hier keine Nachhaltigkeit.“

Architekten an der langen Leine

Doch, die gibt es, meint Bürgermeister Jürgen Winter, im Gespräch mit dem STANDARD. „Natürlich hat in den letzten Jahren eine gewisse Dynamik vorgeherrscht, und wir mussten der architektonischen Ausformulierung der einzelnen Gebäude eine ziemlich lange Leine lassen“, so Winter. „In Stadtplanungsbelangen kann ich diese Kritik jedoch nicht nachvollziehen. Wir haben intensiv mit Raumplanern zusammengearbeitet und waren sehr darum bemüht, die Zersiedelung zu stoppen und den dörflichen Charakter Schladmings zu erhalten.“

Das bauliche Resultat dieser Bemühungen ist wohl Auslegungssache. Doch wie geht es nach der WM weiter? Fix ist: Schladming will Kongressstadt werden. Die dazugehörige Veranstaltungshalle und die neuen Hotels im Ort eigneten sich dafür perfekt, so Winter. „Es sollte uns gelingen, dass wir das Kongresszentrum weiterhin gut bespielen können. Ich denke, neben Salzburg, Innsbruck und Wien ist Schladming durchaus eine ernstzunehmende Alternative für Kongresse.“

Für 2013 und 2014 gebe es bereits Interessenten. Der Fokus richte sich vor allem auf Firmen und größere Unternehmen. Sie sollen Schladming als Destination für Fortbildungen mitsamt Verwöhnpaketen für ihre Mitarbeiter nutzen. „Nein, wir denken nicht nur bis zur Weltmeisterschaft, sondern weit darüber hinaus“, sagt Bürgermeister Winter. „Die Bauten, die wir errichtet haben, und die Infrastrukturmaßnahmen, die wir getroffen haben, sind eine Investition für die nächsten 20, 30 Jahre.“

Ob dieses Konzept aufgeht, ist fraglich. Für die Alpine Ski-WM 2013 hat Schladming eine gehörige Portion Anabolika geschluckt, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste und Zerstörungen. Den rund 4400 Einwohnern stehen nach Auskunft Winters heute fast 5000 Gästebetten gegenüber. Nicht alle werden gebraucht. Sogar in den zwei Wochen während der WM liegt die Nachfrage weit unter dem Angebot. Die neuen Lifestyle-Hotels sind ausgebucht, die alten Innenstadthotels sind leer.

Schladming ist der Beweis dafür, dass die Summe mittelmäßiger und bisweilen sogar sehr guter Architektur noch lange nichts mit Stadtqualität zu tun hat. Die urbanen Bausünden, die offenbar nicht einmal durch die aktuelle Ski-WM zu rechtfertigen sind, werden der Stadtgemeinde noch lange nachhängen. Das wahre Ausmaß wird sich erst in den nächsten Jahren weisen. Wie sang doch Opus-Frontsänger Herwig Rüdisser am Mittwoch? „And you call when it's over, you call it should last. But every minute of the future is the memory of the past. Live is life.“

Der Standard, Sa., 2013.02.09

25. Januar 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Der Architektenflüsterer

Was haben Wolf Prix, Rem Koolhaas und Ben van Berkel gemeinsam? Sie alle jetten regelmäßig nach Boston, um den Unternehmensberater Paul Nakazawa zu treffen.

Was haben Wolf Prix, Rem Koolhaas und Ben van Berkel gemeinsam? Sie alle jetten regelmäßig nach Boston, um den Unternehmensberater Paul Nakazawa zu treffen.

Er unterrichtet an der Harvard Graduate School of Design, wohnt in einem kleinen Vorort von Boston und berät von seinem kleinen Kabäuschen aus die größten und bekanntesten Architekturbüros der Welt. Die Rede ist vom 62-jährigen Paul W. Nakazawa. Zu seinen jahrelangen Kunden zählen etwa Rem Koolhaas, Moshe Safdie, Ben van Berkel, Rafael Viñoly, Thom Mayne, Martha Schwartz, Snøhetta sowie das Wiener Büro Coop Himmelb(l)au. Worin seine Arbeit genau besteht und was er beim Blick in die Kristallkugel immer wieder zu sehen bekommt, verriet er in einem kostenlosen Gespräch.

STANDARD: Sie arbeiten als Unternehmensberater für Architekten. Was kann man sich darunter vorstellen?

Nakazawa: Meistens ruft mich irgendein Architekt an, der selbst nicht so recht weiß, warum, nur weil ihm irgendein anderer Architekt geraten hat: „Du, ruf einmal den Nakazawa an, der ist echt gut, der kann dir helfen!“

STANDARD: Und dann helfen Sie.

Nakazawa: Ich habe in meinen frühen Jahren schon so viel erlebt und habe selbst schon so viele finanzielle Flugzeugabstürze überlebt, dass ich eines Tages beschlossen habe, mich selbstständig zu machen und meine Expertise einem breiteren Publikum zur Verfügung zu stellen. Konkret ist es so, dass ich mir anschaue, wie das Büro performt, was das genaue Problem ist und wie man da wieder rauskommt.

STANDARD: Und? Was sind die häufigsten Probleme?

Nakazawa: Reagieren auf die Wirtschaftskrise, Panik vor Veränderung, Fehleinschätzung und generelle Fehlentwicklungen.

STANDARD: Wie wird man Unternehmensberater?

Nakazawa: Ich habe begonnen wie viele andere Architekten auch: in einem Architekturbüro. Mein erster Job war in New York City bei Edward Larrabee Barnes. Das war damals eines der größten Architekturbüros der Stadt. Doch nach einem halben Jahr habe ich gemerkt, dass die Arbeit für mich uninteressant ist, weil ich das Gefühl hatte, zum Erfolg dieses Büros nicht mehr beitragen zu können. Es war schon längst etabliert. Also habe ich Edward Larrabee Barnes verlassen und bin ein Mann des Abenteuers geworden.

STANDARD: Welche Abenteuer zum Beispiel?

Nakazawa: Ach, so viele! Ich habe Jungarchitekten bei der Bürogründung geholfen, habe ganze Unternehmen aufgebaut und habe sogar ein Architekturbüro aus Charlotte in North Carolina an die Londoner Börse gebracht. Das war das erste Mal in der Geschichte, dass ein Architekturbüro an die Börse ging. Wir sprechen hier von 1986! Doch der Erfolg währte nicht lange. Das Büro ging bankrott.

STANDARD: Sie sind also ein Experte fürs Auf und Ab.

Nakazawa: Ja. Meine Spezialität ist das Chaos. Ich bin ein Meister für Höhenritte und für abgrundtiefe Stürze. Wenn man das nicht verkraftet, dann ist man falsch in diesem Job.

STANDARD: Wo fühlen Sie sich wohler? Ganz oben oder ganz unten?

Nakazawa: Ganz oben und ganz unten zu sein fühlt sich eigentlich ziemlich gleich an. In beiden Fällen hat man die Kontrolle verloren. In beiden Fällen ist man in Panik, weil es fast keine Konstanten, sondern fast nur noch Variablen gibt. Ich sage meinen Kunden immer: „Wissen Sie, wenn man Erfolg hat, dann fühlt sich das keineswegs wie das Paradies an! Das ist die Hölle!“

STANDARD: Und wo ist das Paradies?

Nakazawa: Im Bereich der Nulllinie. Im ganz normalen Alltag. In der Komfortzone. Nur wissen das die wenigsten. Da schließe ich mich selbst nicht aus.

STANDARD: Wer sind Ihre Kunden?

Nakazawa: Meine Kunden reichen von kleinen Smart-ups über große Corporate-Unternehmen bis hin zu weltbekannten Designern und Architekten.

STANDARD: Wie finden Sie Ihre Kunden?

Nakazawa: Gar nicht. Die Kunden finden mich.

STANDARD: Wie viele Kunden haben Sie?

Nakazawa: Es gibt weltweit rund 80 Architekturbüros, die ich regelmäßig betreue und begleite.

STANDARD: Wie lauten Ihre Spielregeln für eine Zusammenarbeit?

Nakazawa: Erstens: Wenn du kein Talent in diesem Job hat, dann kann ich dir nicht helfen - auch nicht für viel Geld. Das wäre nur unfair, weil ich ja sowieso nicht behilflich sein kann. Zweitens: Wenn du zwar bankrott und finanziell komplett am Ende, aber dafür auch ein bisschen talentiert bist, dann ist das kein Problem. Bankrott zu sein ist ein temporärer Zustand. Das kriegen wir schon hin. Und drittens: Es interessiert mich nicht, im Notfall einzuspringen, wenn gerade der Hut brennt. Das ist keine Basis für eine funktionierende Zusammenarbeit. Ich will Partner und Begleiter sein.

STANDARD: Schon einmal mit Zaha Hadid oder Frank O. Gehry zusammengearbeitet?

Nakazawa: Die beiden sind schon so weit mit ihrer Karriere, was soll ich da noch tun? Frankie und Zaha sind schon im Olymp. Noch höher geht's nicht.

STANDARD: Stehen Sie nie in Konflikt, wenn Sie mehrere Architekturbüros gleichzeitig beraten?

Nakazawa: Prinzipiell nicht. Jedes Büro tickt anders. Da sehe ich keine Konkurrenz - mit einer einzigen Ausnahme: Wenn sich zwei Büros um das gleiche Projekt bewerben, zum Beispiel in Form eines Wettbewerbs oder Verhandlungsverfahrens, dann muss ich mich zurückziehen. Das wäre ein Verstoß gegen mein eigenes Verständnis von Loyalität.

STANDARD: Wie lange dauert es, bis Sie die Eckdaten und Probleme eines Architekturbüros erfasst haben?

Nakazawa: Bei einem kleinen Büro würde ich sagen: drei, vier Stunden. Bei einem großen Unternehmen vielleicht ein, zwei Tage.

STANDARD: Das reicht für eine Diagnose?

Nakazawa: In der Regel ja. Und das Schönste an dieser Arbeit ist: Die Symptome können sehr ähnlich sein, doch die Diagnose ist immer wieder anders. Es ist wie in der Medizin. Man geht zum Arzt, weil man Rückenschmerzen hat und eigentlich nur eine Tablette gegen Rückenschmerzen braucht, und dann erfährt man, dass man die Rückenschmerzen nur deswegen hat, weil die Nieren nicht in Ordnung sind, weil man Plattfüße hat oder weil man zu viel vor dem Computer sitzt. Ich finde das sehr spannend.

STANDARD: Was war Ihr bisher bester Riecher?

Nakazawa: Es muss 2000 oder 2001 gewesen sein, da habe ich Martha Schwartz, Landschaftsarchitektin und eine Kundin von mir, angerufen und ihr gesagt: „Martha, bau vor! Das nächste Jahrzehnt gehört dir! Mach was draus!“

STANDARD: Das heißt?

Nakazawa: In den Neunzigerjahren haben sich die Auftraggeber vor allem auf singuläre Gebäude konzentriert. Viele tolle Bauwerke sind in dieser Zeit entstanden. Die Architekten wurden in den Medien groß abgefeiert. Ich dachte mir damals: Stimmt schon, wir Menschen wohnen zwar in Bauwerken, aber wir wohnen doch auch zwischen den Bauwerken! Wir leben auf der Straße, im Park, in der Haltestelle. Ich war mir damals sicher, dass die Gesellschaft früher oder später die fachgerechte Planung ihrer Städte einfordern wird. Und so kam es dann auch.

STANDARD: Wo stehen wir heute?

Nakazawa: Wir befinden uns heute in einer Epoche, in der die Bedeutung des Gebäudes mehr und mehr zurückgeht. Der Fokus lautet: Freiraumgestaltung und Infrastruktur.

STANDARD: Wessen Verantwortung ist es, das Dazwischen zu planen?

Nakazawa: Das ist die Verantwortung der öffentlichen Hand! Doch bis die Politik sich dieser Verantwortung und somit auch ihrer Aufgabe als Auftraggeberin öffentlicher Lebensräume wirklich bewusst geworden ist, kann ich jedem Architekten auf dieser Welt nur raten: Carpe diem! Schlagen Sie Ihr Kapital daraus!

STANDARD: Sind Sie Kapitalist?

Nakazawa: Natürlich bin ich Kapitalist. Ich lebe davon! Aber ich bin ein großer Gegner dessen, wie Kapitalismus heute in den USA verstanden wird. Das Wirtschaftssystem in diesem Land polarisiert. Und das ist nicht gut.

STANDARD: Wie viel kostet Paul Nakazawas Blick in die Kristallkugel?

Nakazawa: Nicht viel. Ich stelle meinen Kunden einen ähnlichen Betrag in Rechnung, den sie auch ihren eigenen Kunden verrechnen. Ich habe einen Tagsatz von etwa 5000 Dollar. Wenn jemand durch meine Hilfe an einen Auftrag in der Höhe von fünf Millionen Dollar kommt, dann halte ich mein Honorar für durchaus angemessen.

STANDARD: Wie lauten Ihre nächsten Prophezeiungen?

Nakazawa: Der Immobilienmarkt hat sich dramatisch verändert. Es gibt eine Schieflage. Der Bau von Nordamerika und Europa ist weitestgehend abgeschlossen. Die Gesellschaft stagniert oder geht zurück. Der Bedarf an neuer Architektur hält sich in Grenzen. Die Zukunft liegt in anderen Gesellschaften: in Südamerika, im Nahen Osten, in Indien, Indonesien und China.

STANDARD: Was raten Sie also?

Nakazawa: Ich rate Ihnen, mir so eine Antwort nicht gratis abzuverlangen. Das ist mein Job!

Der Standard, Fr., 2013.01.25

03. Januar 2013Wojciech Czaja
Der Standard

Architekt Johnny Winter gestorben

Wien - Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der Wiener Architekt Johnny Winter am 26. Dezember im Alter von 63 Jahren seiner Krebserkrankung erlegen. Den...

Wien - Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der Wiener Architekt Johnny Winter am 26. Dezember im Alter von 63 Jahren seiner Krebserkrankung erlegen. Den...

Wien - Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der Wiener Architekt Johnny Winter am 26. Dezember im Alter von 63 Jahren seiner Krebserkrankung erlegen. Den meisten Wienern ist Winter wegen der von ihm geplanten „Sargfabrik“ bekannt. Das orangefarbene Wohnheim in der Penzinger Matznergasse, das er 1996 gemeinsam mit dem Büro BKK-2 abwickelte, ist mit seinem türkischen Bad und seinem Veranstaltungszentrum, in dem regelmäßig Konzerte stattfinden, ein auch aus heutiger Sicht innovativer Beitrag zum sozialen Wiener Wohnbau.

Der Standard, Do., 2013.01.03



verknüpfte Akteure
Winter Johann

29. Dezember 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Und ein Schuss Anomalie

Im Parlament haben sich heuer die Ereignisse überschlagen. Es wurde geklagt, angefochten und neu ausgeschrieben. Ob das ein gutes Licht auf die Republik und ihr Verhältnis zu Wettbewerben wirft?

Im Parlament haben sich heuer die Ereignisse überschlagen. Es wurde geklagt, angefochten und neu ausgeschrieben. Ob das ein gutes Licht auf die Republik und ihr Verhältnis zu Wettbewerben wirft?

Manche Bauteile sind morsch und durchgerostet. Aufzüge und Stiegenhäuser sind zum Teil schon gesperrt. Und im Sommer letzten Jahres war der Nationalratssaal bereits eingerüstet, um das Dach nach unerwartetem Regensouvenir wieder dicht zu kriegen. Die Opposition ist außer sich.

Die einen sprechen von einer Bude, die bald nur noch für Denkmalschützer und Höhlenforscher zu begehen sei (Werner Kogler, Grüne), die anderen erklären vor laufender Kamera, dass es mitunter gefährlich sei, sich in diesen Räumlichkeiten zu bewegen (Stefan Petzner, BZÖ). Fest steht jedenfalls: 2015 laufen Betriebsgenehmigungen aus. Sollte der Zustand des Parlaments bis dahin nicht deutlich verbessert werden, droht dem Hohen Haus die Sperre durch die Baupolizei.

Der desolate Zustand von Österreichs wohl wichtigstem Gebäude ist Grund dafür, dass der 2008 entschiedene Architekturwettbewerb zur Sanierung des Nationalratssaals in der Zwischenzeit für null und nichtig erklärt wurde. Als vor vier Jahren in seinem Linzer Büro die Sektkorken knallten, ahnte der Wettbewerbssieger Andreas Heidl noch nichts davon, dass ihn die Republik eines Tages schassen würde.

Jahrelang wurden Vorarbeiten geleistet, jahrelang wurde gezeichnet und getüftelt, und nachdem klarwurde, dass im Parlament mehr im Argen liegt als nur der Zustand des Sitzungssaals, wurde Heidl in einem sogenannten „Memorandum of Understanding“ im Februar 2012 zugesichert, dass sein Siegerprojekt in einen großen, weitaus umfassenderen und neu auszuschreibenden Parlamentsumbau selbstverständlich integriert werde. Das Schreiben trägt den Stempel der Republik Österreich und die Unterschrift der Parlamentsdirektion.

„Das wird nicht funktionieren“

Doch daraus wird nun nichts. In einer offiziellen Stellungnahme des Parlaments heißt es plötzlich, dass „geteilte Zuständigkeiten für die Gesamtsanierung und die Teilsanierung des Nationalratssitzungssaales gravierende Schnittstellenprobleme mit hohen Qualitäts- und Kostenrisiken nach sich gezogen hätten“. Im ORF-Report am 30. Oktober erklärte Nationalratspräsidentin Barbara Prammer: „Ich habe lange versucht, das Projekt aufrechtzuerhalten. Doch mir liegt eine ganze Reihe von Rechtsgutachten vor, die mir alle sagen, dass das nicht funktionieren wird.“

Heidl hat die Entscheidung des Parlaments, ein neues Verfahren auszuschreiben und seinen Entwurf nun komplett fallenzulassen, zwar angefochten. Allerdings vergeblich. Am 7. Dezember hat das Bundesvergabeamt seinen Einspruch gegen den Widerruf des Auftrags abgewiesen. Da helfen auch die 675 kürzlich gesammelten Unterschriften der sich solidarisch zeigenden Architekturkollegen nicht weiter. Das einst von der Jury als „sensibel, freundlich und zurückhaltend“ gepriesene Projekt des Linzer Architekten ist tot.

„Das Vorgehen der Republik ist juristisch betrachtet zwar korrekt“, sagt die auf Wettbewerbsausschreibungen und Verfahrensorganisation spezialisierte Wiener Architektin Lisa Zentner. „Allerdings wirft die ganze Parlamentsgeschichte nicht gerade ein gutes Licht auf die Wettbewerbskultur in diesem Land. Wenn das ein Spiegel dessen ist, wie es in Österreich generell abläuft, dann werfen die Geschehnisse der letzten Monate viele, viele Fragen auf.“

Mit offenen, EU-weiten Architekturwettbewerben hat man sich im Parlament schon einmal die Finger verbrannt. Ein Enfant terrible wie dereinst Andreas Heidl als Planungs- und Gesprächspartner? Nicht nochmal! Statt eines anonymen Wettbewerbs soll nun ein nonymes Verhandlungsverfahren mit wettbewerbsähnlichem Charakter - so der offizielle Duktus - ausgeschrieben werden. Ende Jänner soll die Ausschreibung publik gemacht werden.

„Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden“, so Zentner. „Ein solches Verfahren ist durchaus legitim und wird bei großen, komplexen Bauvorhaben oft angewandt. Allerdings frage ich mich, warum man das nicht schon von Anfang an gemacht hat, ohne erst einen EU-weiten, offenen Architekturwettbewerb und die jahrelange Arbeitsleistung eines Architekten zu verprassen.“

Alexis Wintoniak, Parlamentsvizedirektor und Leiter des Projektteams Sanierung, erklärt auf Anfrage des STANDARD: „Zum Zeitpunkt des Architekturwettbewerbs wussten wir über den Gesamtzustand des Gebäudes noch nicht Bescheid. Man kannte zwar punktuelle Zonen, es gab jedoch noch keinen umfassenden Scan. Erst 2010 wurde eine systematische Analyse vom Keller bis zum Dach gemacht. Da kam das ganze Ausmaß zum Tragen.“

Zuerst ein Wettbewerb mit allem Brimborium und danach erst die Auftragserteilung für eine Studie über den baulichen Zustand des gegenständlichen Objekts? Experten halten die Chronologie für wenig nachvollziehbar. „So etwas hätte das Parlament als Auslober natürlich schon von Beginn an wissen müssen“, meint der ehemalige Juryvorsitzende Boris Podrecca, der nun als Fachrichter abermals in der Jury sitzt. „Alles in allem ist in der Reihenfolge der Geschehnisse ein Schuss Anomalie drin.“

Auch das Bundesdenkmal beobachtet schon seit Ewigkeiten die Reparaturarbeiten am Hohen Haus. „Der bauliche Zustand ist schon seit langer Zeit bekannt“, sagt Friedrich Dahm, Landeskonservator für Wien. „Ich bin schon seit 15 Jahren in die laufende Instandsetzung des Parlaments involviert. Seit damals ist schon viel passiert.“

Und Manfred Essletzbichler, Equity Partner und Leiter des Bereichs Vergaberecht bei Wolf Theiss Rechtsanwälte, meint, dass auf dem Projekt ein Riesendruck laste. Die längst überfällige Sanierung sei jahrelang hinausgezögert worden. „Das Neuaufrollen des gesamten Wettbewerbs verstehe ich dahingehend, dass man offenbar eine Höllenangst vor der Opposition hat und nun bemüht ist, die Kosten für die Sanierung des gesamten Hauses niedrig zu halten. Das geht mit einem versierten und abgebrühten Generalplaner, den man im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens findet, viel einfacher als in Form eines baukünstlerisch fokussierten Architekturwettbewerbs.“

Kein Segen der Kammer

Am unglücklichsten mit dem Prozedere der Republik ist jedoch die Architektenkammer. Wurde Kammerpräsident Georg Pendl im ersten Wettbewerb 2008 noch mit offenen Armen in die Jury eingeladen, verzichtet das Parlament beim bevorstehenden Verhandlungsverfahren nun lieber auf die Dienste des Standesvertreters.

„Letztendlich haben wir uns mit dem Parlament auf verhältnismäßig gute Teilnahmebedingungen ohne allzu große Präqualifikationshürden einigen können“, so Pendl. „Aber dennoch fürchte ich, dass nicht sehr viele österreichische Büros in der Lage sein werden, bei diesem Wettbewerb mitzumachen.“ Untergrenze für die Teilnahme am Verfahren: zwei Millionen Euro Jahresumsatz.

Wenige Tage vor Weihnachten wurde eine Rochade gemacht. In einer konstituierenden Sitzung am 20. Dezember wurde beschlossen, dass man den Großteil der Juroren „im Sinne der Kontinuität“ (O-Ton Parlament) zwar aus dem ersten Architekturwettbewerbsverfahren übernehmen, den Juryvorsitz aus Gründen der Voreingenommenheit und Bekanntheit der bisherigen Siegerprojekte allerdings tauschen werde. Statt Boris Podrecca wird nun Ernst Beneder an der Juryspitze sitzen.

„In den letzten Monaten ist es uns gelungen, den Schwerpunkt des Verhandlungsverfahrens von einem technokratischen zu einem baukünstlerischen zu verschieben“, so Beneder. „Nach einer ersten nonymen Bewerbungsrunde werden wir zehn Teilnehmer auswählen, die dann anonym ihren Entwurfsvorschlag zur Sanierung des Parlaments ausarbeiten werden. Ohne Hearing und ohne Gesichtsbad. Ich bin zuversichtlich, dass das zu einer ganzen Reihe von hochwertigen Projekten führen wird.“

Zurück an den Start

Ende Jänner startet das Verfahren. Die Auswahlrunde soll im Frühjahr 2013 stattfinden, die Entscheidungsrunde ist für Ende des Jahres anberaumt. 311 Millionen Euro Nettobaukosten gilt es nach heutigem Stand der Dinge einzuhalten.

Am Ende nimmt die Provinzposse um die Sanierung des Hohen Hauses doch noch ein gutes Ende. Durch das Verhalten des Parlaments tun sich jedoch einige ernst zu nehmende Fragen auf:

1. Wie kann es sein, dass ein Auslober erst einen Wettbewerb ausschreibt, um dann im Nachhinein festzustellen, dass alles umsonst war, weil doch mehr zu tun ist als anfänglich gedacht? Das ist nicht nur eine Verschleuderung von kreativen Ressourcen, sondern auch von Steuergeldern.

2. Wie kann die Republik verantworten, dass ein Architekturbüro, das jahrelang Vorarbeiten im Dienste der Öffentlichkeit gemacht hat, nun kurz vor dem finanziellen Ruin steht?

3. Wie will man Bürgermeister und kleine Gemeinden davon überzeugen, in Architekturwettbewerbe zu investieren und auch den Jungen und Unbekannten eine Chance zu geben, wenn selbst Vater Staat vor einem solchen Verfahren ob qualitativer und organisatorischer Bedenken zurückschreckt?

4. Welches Licht wirft es auf Österreich, wenn das wichtigste Bauwerk der Republik, Symbol der Demokratie schlechthin, in der Wettbewerbsabwicklung derartige Brösel macht? Kein anderes Gebäude hätte so sehr eine einwandfreie, saubere und transparente Abwicklung verdient.

5. Die Antikorruptionsorganisation Transparency International ist ab sofort mit an Bord. Und erstmals in der Geschichte der Republik kontrolliert der Rechnungshof nicht rückblickend, sondern begleitend. Eine derartige Armada an Monitoring ist ein Novum. Ist das die Zukunft österreichischer Baukultur?

Tatsache ist: Am Ende des Jahres 2012 ist die Wettbewerbsethik der öffentlichen Hand in Österreich stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Reparatur dieses Bildes wird viel Zeit und Sensibilität in Anspruch nehmen.

Der Standard, Sa., 2012.12.29

22. Dezember 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Bühne frei für die Herren Kuhn und Schuller

Kommenden Mittwoch wird in Erl das neue Festspielhaus eröffnet. Der Wohlklang zwischen altem und neuem Bauen ist nicht zu überhören

Kommenden Mittwoch wird in Erl das neue Festspielhaus eröffnet. Der Wohlklang zwischen altem und neuem Bauen ist nicht zu überhören

Am 25. November vor zwei Jahren hat's in Erl, um mit den Worten des Leiters der Tiroler Festspiele, Gustav Kuhn, zu sprechen, gescheppert und gewackelt. An diesem Tag nämlich wurde die erste Tranche der 110.000 Tonnen Fels in die Luft gesprengt. Es sollte dies der brutalste und lauteste Eingriff in das historische Ensemble am Westhang des Eibergs bleiben.

Denn trotz eckigen, kantigen Tarnkappenbomber-Auftritts des neuen Winterfestspielhauses, das da wild entschlossen aus der Waldlandschaft hinausschießt, wird das 1959 von Robert Schuller errichtete Passionsspielhaus, das die Erler Bevölkerung längst in ihr Herz geschlossen hat, in keinster Weise berührt. Mehr noch ist zwischen Altbau und Neubau so etwas wie ein feiner Dialog gebauter Materie entstanden. Kommenden Mittwoch wird das neue Festspielhaus feierlich eröffnet.

„Das Ding ist eine Wucht“, sagt Gustav Kuhn. Stoischen Glücks steht der Festspielchef im hell erleuchteten Foyer seines neuen Hauses und blickt mal nach links und mal nach rechts. „Schauen Sie sich das nur einmal an! Diese zwei Häuser unterhalten sich miteinander! Und trotzdem ist jedes für sich allein betrachtet ein schönes Stück Architektur.“

Kurzes Räuspern. „Dabei muss ich zugeben, dass mir Architekten mit ihrer Sprache manchmal ganz schön auf die Nerven gehen. Das ist, als würde man in der Musik nur mit Adorno sprechen. Grauenvoll! Das will doch niemand hören! Doch in diesem Fall hat die Kommunikation wunderbar geklappt. Wir haben uns gut zu verständigen gewusst.“

Planender Gesprächspartner Kuhns war das Wiener Büro Delugan Meissl Associated Architects (DMAA), das 2007 unter 15 Wettbewerbsteilnehmern als Sieger hervorgegangen war. Die von Festspielpräsident Hans Peter Haselsteiner geforderte Aufgabe war nicht einfach, galt es doch, dem von jeher unbeheizten und im Winter unbenützbaren Passionsspielhaus mit seiner einzigartigen Einbettung in die Natur und seiner ebenso einzigartigen Akustik einen ebenbürtigen Konterpart hinzustellen.

„Das alte Passionsspielhaus von Schuller scheint sich mit seinen weichen Formen in den Berg hineinzudrehen“, erklärt Sebastian Brunke, Projektleiter bei DMAA. „Unser Bau arbeitet auch mit dem Hang, bricht jedoch eher aus dem Bergmassiv heraus.“ Besonders stolz ist man auf das Farbspiel zwischen Schwarz und Weiß: „Es ist ein kontextualisiertes Spiel mit den Jahreszeiten“, so Brunke. „Im Sommer ist es das Passionsspielhaus, das aus der Landschaft hervorsticht, während das Winterhaus unauffällig vor dem dunklen Wald verschwindet. Im Winter, wenn der Schnee liegt, ist es umgekehrt.“

DMAA wäre nicht DMAA, hätte man den vielen Fassadenflächen nicht auch einen mathematisch-geometrischen Algorithmus übergestülpt. Das gesamte Gebäude ist mit dunkelgrauen Faserzementplatten verkleidet, die in zwei unterschiedlichen Formaten auf die Baustelle geliefert wurden. 14.000 Stück dieser viereckigen Puzzleteile, die man als Laie niemals in Verbindung zueinander bringen würde, gibt es insgesamt. Das Vexierspiel ist raffiniert. Ein bisschen erinnert die Struktur an gespaltenen Kalkstein.

Der Raumfluss gibt den Ton an

Ohne Schriftzug und ohne Pomp und Trara findet man mühelos den Weg ins Foyer. Die Architektur - und da würde sich Adorno wahrscheinlich gelangweilt abwenden - spricht eine klare und unmissverständliche Sprache. Nach 43 Stufen hat man das Innere erreicht: weiße Wände, heller Boden, dramatische Geometrie in allen Dimensionen. Hier kommen Delugan und Meissl so richtig auf Hochtouren und setzen die ihnen innewohnende Raumflussidee wie aus dem Effeff in die Realität um.

Trotz Raffinesse haftet dem Foyer etwas Karges, etwas Nacktes an. Ob man auf diese Weise dem unbeheizten, archaischen Schuller-Bau Reverenz erweisen wollte? „Karg? Also, ich weiß nicht so recht“, meint der Projektleiter bass erstaunt und lenkt korrektiv ein: „Lieber bezeichnen wir unsere Architektur als zeitlos elegant und schlicht.“ Ein Interpretationsschuss ins Leere also.

Weder schlicht noch leer, sondern durchaus von einer gewissen feierlichen Mächtigkeit getragen ist schließlich der Zutritt in den hölzernen Festspielsaal. „Es ist, als würde man ein Musikinstrument betreten“, sagt Gustav Kuhn. Entgegen dem weltweiten Trend, multifunktionale Säle für unterschiedliche Nutzungseventualitäten zu schaffen, hat man sich in Erl voll und ganz auf Opern und Konzerte konzentriert. Die Akustikplanung stammt von Bernd Quiring. „Ich halte nichts von diesen mittelmäßigen Mehrzwecksälen“, so Kuhn. „Wir haben hier klipp und klar einen Saal mit einer schönen, langen Nachhallzeit gefordert. Hier ist kein Platz für Sprechtheater und für Kongresse. Hier wohnt die Musik.“

An Boden, Wand und Decke ist gebeiztes Akazienholz verlegt, wobei Zuschauerraum und Bühne fast nahtlos ineinandergreifen. Kein Portal, kein Guckkasten, kein eiserner Vorhang trennt die Musizierenden von den Zuhörenden. Ein bisschen erinnert der Innenraum an einen auseinandergesägten und wieder neu zusammengefügten Geigenkasten. Aus den Spalten der zackigen Holzschuppen dringt gedämpftes LED-Licht. DMAA metaphoriert nicht ganz uneitel von einem „freigelegten Juwel“. Maestro Kuhn: „Akustisch in der Tat!“

Die Gesamtinvestitionskosten des neuen Festspielhauses, das den Erler Betrieb nun auch auf die kalte Saison ausweitet, belaufen sich auf 36 Millionen Euro. 20 Millionen davon stammen von der Haselsteiner-Familien-Privatstiftung, je acht Millionen schossen Land Tirol und Bund zu.

Mit einem jährlichen Heizwärmebedarf von 13 kWh pro Quadratmeter erreicht das Gebäude fast Passivhausstandard. Doch von den technischen Anstrengungen, die in dem fast 37 Meter langen Dachüberstand versteckt sind, ist nichts zu merken. Ganz im Gegenteil. Das Projekt zeugt nicht nur von einem befruchtenden Gespräch zwischen Architekten, Nutzern und Mäzen, sondern ist auch Beispiel für eine respektvolle und zugleich originelle Zusammenspannung von Gegenwart und Geschichte. So gesehen folgt die Arbeit von DMAA und Gustav Kuhn denselben Prinzipien.

Der Standard, Sa., 2012.12.22



verknüpfte Bauwerke
Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl

07. Dezember 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Kollateralstimmbruch

Am Sonntag wird im Augarten der heiß diskutierte Konzertsaal der Wiener Sängerknaben eröffnet. Grund genug, die Planungskompetenz des Wutbürgers infrage zu stellen

Am Sonntag wird im Augarten der heiß diskutierte Konzertsaal der Wiener Sängerknaben eröffnet. Grund genug, die Planungskompetenz des Wutbürgers infrage zu stellen

Die Architektur ist eine Erleuchtung. Zumindest wenn man sie in Lux und Lumen misst. Schon von weitem erstrahlt am abendlichen Himmelszelt ein weißes, gleißendes Strahlen, so ähnlich wie man es aus der Science-Fiction-Schmiede Hollywood kennt, kurz bevor das Luftschiff mit seinen durchsichtigen Besuchern abhebt und in der Tiefe des Universums verschwindet. Es ist dies aber kein Ufo, sondern der neue, längst stadtbekannte und kontroversiell diskutierte Konzertsaal der Wiener Sängerknaben im südlichsten Zipfel des Augartens.

„Ja, das Licht klescht noch ziemlich“, sagt Elke Hesse, Direktorin des sogenannten Muth. Die Abkürzung entstand in Anlehnung an das Grazer Musikhaus Mumuth und steht für Musik und Theater. „Es ist zu kalt und zu hell und passt nicht ins Ambiente. Wir arbeiten daran.“

Bis Sonntagvormittag ist noch Zeit. Dann nämlich wird die Spielstätte der singenden Matrosen nach zwei Jahren Bauzeit feierlich eröffnet. Mit dabei: Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker.

Auch die zuständigen Architekten Johannes Kraus und Michael Lawugger vom Wiener Büro Archipel räumen ein, sich bei der Beleuchtung womöglich ein bisschen verkalkuliert zu haben. Noch ist die richtige Lichtstärke nicht gefunden.

Überaus gesucht und gefunden hingegen sei der Konsens, auf diesem schwierigen, engen Grundstück ein Gebäude an der Schnittstelle zwischen Alt und Neu entwickelt zu haben, das sowohl die Förderer und Befürworter des Projekts zufriedenstellt als auch seine zahlreichen Gegner.

„Es gab bei diesem Projekt Versäumnisse auf vielen Seiten, vor allem auf politischer Ebene“, sagt Architekt Kraus. „Die Wogen sind hochgegangen, Bürgerinitiativen wurden gegründet, der Augarten wurde besetzt, und irgendwann einmal war der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr möglich war, objektiv und sachlich über die Qualität des Gebäudes und seine Nutzungsmöglichkeiten zu diskutieren. Das finde ich sehr schade.“

In dieser Hinsicht zeigten sich die Architekten weitaus kooperativer und kompromissfreudiger als die zwar selbsternannt liberalen, letztendlich aber konservativ argumentierenden Damen und Herren an der Spitze der beiden Kampftruppen „Josefinisches Erlustigungskomitee“ und „Freunde des Augartens“, die die Sängerknaben als ein paar singende Gschrappen bezeichneten, die von Kaltschnäuzigkeit und Denkmalzerstörung sprachen und die allerlei andere, zum Teil unappetitliche Aktionen starteten, die es nicht wert sind, im Detail erläutert zu werden.

Als im März 2007 dann auch noch Viennale-Direktor Hans Hurch und Filmarchiv-Leiter Ernst Kieninger ihre Konkurrenzpläne für ein teilweise unterirdisches Filmkulturzentrum vorstellten (Entwurf Delugan Meissl Associated Architects), entfachte ein Kampf, den man getrost als medialen Bürgerkrieg bezeichnen könnte.

Die Aktivisten befetzten sich mit Kommentaren und Gegenkommentaren (der Standard berichtete), sammelten Unterschriften von Otto Normalverbraucher bis Hollywoodstar Tilda Swinton und waren nicht einmal müde, alle Instanzen von Rechnungshof über Volksanwaltschaft bis hin zum Verwaltungsgerichtshof zu durchwandern.

Vergeblich. Am Ende entschied sich der damalige, für den Augarten zuständige Wirtschaftsminister Martin Bartenstein (VP) zugunsten des verkleinerten und überarbeiteten Konzerthauses für die trällernden Buben.

Geometrische Schleiforgie

Genug der historischen Krokodilstränen, rein in die Architektur. Es hilft kein Rütteln und kein Beschönigen. Von außen ist und bleibt das dekonstruktivistisch angehauchte Ding ein greller, metallischer Fremdkörper in barocker Gesellschaft. Die Gebäudehülle aus Titanzink, die über Dach und Fassade gezogen wurde, will sich mit der Augartenmauer und den alten Dachschindeln des denkmalgeschützten Pförtnerhauses einfach nicht anfreunden.

Auch formal wurde hier nicht gerade ein Kandidat für den nächsten Baukulturpreis geschaffen. Fast scheint es, als hätte Frank Gehry einen Schiffscontainer verschluckt. „Wir hätten den Bau gerne noch etwas flacher gemacht, aber nachdem entschieden wurde, dass wir das Pförtnerhaus erhalten und ins Projekt einbeziehen müssen, war das nicht mehr möglich“, erklärt Johannes Kraus. „Wir haben dann so lange an der Form herumgeschliffen, bis alles gepasst hat.“

Opfer dieser geometrischen Schleiforgie sind auch die Übergänge zwischen Neubau und Altbau, der für das Projekt mühsam trockengelegt und statisch um zwei Kellergeschoße unterfangen werden musste. Das reinste Durcheinander. Doch das Bundesdenkmalamt (BDA) ist mit dem Spagat zwischen den Epochen zufrieden: „Die Architekten sind in intensivem Kontakt mit uns gestanden und haben hier beste Arbeit geleistet“, sagt Friedrich Dahm, Landeskonservator für Wien. „Das realisierte Projekt entspricht punkt- und beistrichgenau den genehmigten Planunterlagen.“ Die Baukosten belaufen sich auf 15 Millionen Euro. Finanziert wurde das Projekt zur Gänze von der POK Pühringer Privatstiftung.

Und dann die große Überraschung. Kaum hat man Kassa, Café und Garderobe hinter sich gelassen, offenbart sich ein Konzertsaal, der hierzulande wahrscheinlich zu den schönsten und gelungensten Aufführungsräumen der letzten Jahrzehnte gezählt werden kann. Geräucherte Eiche am Boden, ein Kokon aus Nussholz mit mal heller und mal dunkler, mit mal ruhiger und mal stark gemaserter Struktur, ein Himmel aus goldlackiertem Streckmetall und die 440 knallroten Ergonomie-Wunderstühle mit ihren rheingold- und walküretauglichen Lumbalstützen in der Rückenlehne verwandeln das Volumen in einen festlich ausgeschmückten Geigenkasten. Ein Genuss.

„Ich bin von diesem Saal begeistert“, erklärt die Konzerthaus-Direktorin Elke Hesse. „Einerseits würde man so einen riesengroßen Saal von außen nie vermuten, andererseits sind Akustik und Ambiente hier drinnen einfach perfekt.“ Die Akustikplanung stammt von Bernd Quiring, der auch schon die neuen Säle im Musikverein und das kurz vor Fertigstellung befindliche Linzer Musiktheater berechnete.

Die ersten Musikproduzenten, die den Saal als Tonstudio nutzen wollen, stehen bereits auf der Liste. Außerdem soll der Saal der Wiener Volksoper, dem Dschungel Wien und dem Konzertveranstalter Jeunesse zur Verfügung gestellt werden. Auch Fremdvermietungen an Festivals und Unternehmen sind geplant.

Diese in jeder Hinsicht geglückte Qualität wäre auch fürs übrige Gebäude wünschenswert gewesen. Hätten sich die Architekten in den letzten Jahren auf ihre Kernkompetenz konzentrieren können, anstatt an der Front gegen ein aufgescheuchtes Wutbürgertum zu kämpfen, würde der Konzertsaal der Wiener Sängerknaben heute anders aussehen. Können tun sie's ja. Das haben sie im Saal eindrücklich bewiesen.

Mitspracherecht und Bürgerbeteiligung sind wichtige Grundpfeiler von Demokratie. Doch es kommt darauf an, wie man von diesem Recht Gebrauch macht. Im konkreten Fall gibt es keine Gewinner, sondern nur Verlierer. Und das Projekt wurde durchs Dreinreden nicht besser, sondern schlechter.

Der Standard, Fr., 2012.12.07



verknüpfte Bauwerke
„Muth“ - Konzertsaal der Wiener Sängerknaben

06. Dezember 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Der letzte Vertreter der internationalen Moderne ist tot

Am Mittwoch ist der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer gestorben. Mit 104 Jahren war er der letzte noch lebende Vertreter der Moderne. Sein bedeutendstes Vermächtnis ist die am Reißbrett entstandene Hauptstadt Brasília.

Am Mittwoch ist der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer gestorben. Mit 104 Jahren war er der letzte noch lebende Vertreter der Moderne. Sein bedeutendstes Vermächtnis ist die am Reißbrett entstandene Hauptstadt Brasília.

Er war an den beiden schönsten Buchten der Welt daheim. Seine Wohnung lag in Ipanema, das Büro befindet sich an der Küstenstraße der Copacabana, erste Reihe fußfrei mit Blick auf das Meer. Bis vor wenigen Wochen saß er noch regelmäßig am Schreibtisch und skizzierte weiche, wellenförmige Gebilde aufs Papier. „Der rechte Winkel gefällt mir nicht“, sagte er. „Es sind die freien und sinnlichen Kurven, die ich im Wasser, in den Wolken des Himmels und im Leib einer geliebten Frau finde, die mich anziehen.“ Am Mittwoch ist der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer im Alter von 104 Jahren - wenige Tage vor seinem 105. Geburtstag - in Rio de Janeiro gestorben.

Niemeyer, der an der Nationalen Hochschule der Schönen Künste in Rio studierte und seit 1934 im Berufsleben stand, war nicht nur einer der einflussreichsten Architekten der Welt, sondern auch der letzte noch lebende Vertreter der internationalen Moderne. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, die mit ihren Entwürfen immer wieder schockierten, verstand Niemeyer es jedoch, die Menschen für seine Bauten zu begeistern. Niemand verpasste dem gegossenen Beton eine so kühne Leichtigkeit wie er.

Unter den mehr als hundert realisierten Bauwerken und Stadtplanungen befinden sich das UNO-Headquarter in New York (1947, in Zusammenarbeit mit Le Corbusier), das Wohnhochhaus Edifício Copan in São Paulo (1951), zahlreiche Universitätsbauten in Brasilien, Israel, Algerien und Kuba, das Museum für zeitgenössische Kunst in Niterói (2001), das Auditorium in Ravello an der Amalfiküste in Italien (2010) sowie das erst letztes Jahr fertig gestellte Kulturzentrum im spanischen Asturias.

Die große Stunde schlug Niemeyer, als Brasiliens Staatspräsident Juscelino Kubitschek 1956 verkündete, den lange Zeit gehegten Traum einer neuen brasilianischen Hauptstadt in der geografischen Mitte des Landes endlich Realität werden zu lassen. Mehr als 5.500 Architekten aus aller Welt nahmen damals am städtebaulichen Wettbewerb teil. Lúcio Costas kühner Grundrissentwurf eines nach Osten aufsteigenden Vogels beziehungsweise Flugzeugs überzeugte den Präsidenten.

Während Costa für den Masterplan verantwortlich zeichnete, entwarf sein engster Freund Niemeyer einige der bedeutendsten Bauwerke für das neue Brasília. Die Bauarbeiten begannen im Februar 1957. Mitten in der brasilianischen Steppe wurden Straßen asphaltiert, Zuggleise verlegt sowie Parlamentsgebäude, Ministerien, Museen, Kirchen und ganze Wohnquartiere errichtet. 30.000 Bauarbeiter waren Tag und Nacht beschäftigt. Rund um die Präsidentenresidenz „Palácio da Alvorada“, die mit ihren filigranen, auf und ab gleitenden, parabelförmigen Säulen zu Niemeyers schönsten Gebäuden zählt, wurde sogar ein künstlicher See ausgebaggert.

Am 21. April 1960, nach nur vier Jahren Bauzeit, fand die feierliche Eröffnung Brasílias statt. Obwohl sich die brasilianische Bevölkerung mit der neuen Hauptstadt lange Zeit nicht anfreunden konnte, gilt Brasília seit dem ersten Tag ihres Bestehens als Meisterwerk gebauter Moderne. 1987 wurde die Stadt, in dessen Ballungsraum heute mehr als vier Millionen Menschen leben, zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt.

„Das Experiment Brasília war nicht erfolgreich“, wird Niemeyer später selbstkritisch erklären. Anders als er sich erträumt hatte, konnte sich das Volk die Wohnungen in den Superquadras mit ihren sorgfältig geplanten Kindergärten, Schulen und Geschäften bald nicht mehr leisten. Nach dem Militärputsch 1964 ergriffen die Diktatoren die Macht, die Gebäude wurden privatisiert, und die ursprünglich sozial gerechte Planstadt mutierte nach nur wenigen Jahren zu einem leblosen Monument.

1966 geht Niemeyer wegen seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Brasiliens ins Exil. 20 Jahre lang lebt er in Paris, wo er unter anderem die Zentrale der Französischen Kommunistischen Partei plant. Er entwirft Möbel und ist in Kleinasien und Nordafrika mit der Errichtung öffentlicher Bauten beschäftigt. „Die Kommunisten sind die einzigen, die immer noch eine bessere Welt schaffen wollen“, sagt er. Zurück in Brasilien ist Niemeyer vier Jahre lang sogar Präsident der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB).

Der flotten, kühnen Linie bleibt Oscar Niemeyer, der 1988 mit dem renommierten Pritzker-Preis für Architektur ausgezeichnet wird, bis zu seinem allerletzten Projekt treu: Für den Sportschuh-Hersteller „Converse“ entwarf er heuer eine eigene Produktlinie, die erst vor wenigen Wochen auf den Markt gebracht wurde. Sein Leitsatz „Die Architektur besteht aus Traum, Fantasie, Kurven und leeren Räumen“ bezog sich nicht nur auf Immobiles.

Das Kapitel „Architektur der Moderne“ ist nun abgeschlossen. Oscar Niemeyer starb an den Folgen von Dehydratation und Nierenproblemen im Krankenhaus Samaritano in Rio de Janeiro. Er hinterlässt ein Erbe an atemberaubenden Betonskulpturen aus acht Jahrzehnten sowie einen ungebrochenen Glauben an die Schönheit der gebauten Welt.

Der Standard, Do., 2012.12.06

01. Dezember 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Erlesener Berggipfel

Die MVRDV Architekten beweisen, dass die wahren Abenteuer nicht nur im Kopf sind. Wojciech Czaja wanderte durch Spijkenisse und erklomm den jüngst errichteten Bücherberg.

Die MVRDV Architekten beweisen, dass die wahren Abenteuer nicht nur im Kopf sind. Wojciech Czaja wanderte durch Spijkenisse und erklomm den jüngst errichteten Bücherberg.

Ich finde das Gebäude lustig, es sieht futuristisch aus, und endlich gibt es wieder etwas Interessantes zu sehen", sagt Lisette Verhaig, eine Passantin am Straßenrand. Und Stefan Spermon, IT-Techniker in einem nahegelegenen Großbetrieb, meint: „Doch, schön ist es schon, das Haus. Aber ich frage mich, wofür wir heute noch eine Bücherei brauchen. Alle haben Internet, iPad und E-Books. Kein Mensch geht heute noch freiwillig in eine dieser Old-Style-Bibliotheken, oder?“

Spijkenisse, eine kaum besichtigungsbedürftige Schlafstadt vor den Toren Rotterdams, ist sonderbarer Rekordhalter: Die 80.000-Einwohner-Gemeinde weist die niedrigste Bildungsrate der gesamten Niederlande auf. Um diesem dummen Umstand entgegenzuwirken, beschloss man vor einigen Jahren, zur Allgemeinbildung beizutragen und die sieben fiktiven Brücken, die auf den Euroscheinen dargestellt sind, als hübsch bepinselte Stahlbetonminiaturen nachzubauen. Der Erfolg der Bildungsoffensive hielt sich in Grenzen. Und so erkannten die Stadtväter, dass es nur eine einzige Möglichkeit gäbe, der Statistik Herr zu werden: Eine Bibliothek müsse her!

Winy Maas vom Rotterdamer Architekturbüro MVRDV, Meister der tollkühnen Balkendiagramme und Produzent von witzigen, ja oft zynischen Bauten, nahm die Sache mit gewohnter Gelassenheit und erschien zum Wettbewerbs-Hearing anno 2003 mit fünf Büchern unterm Arm und einem Grinsen im Gesicht. Und während die Jury noch verdutzt um sich blickte und mit den Achseln zuckte, stapelte der freche Maas seine erlesenen Mitbringsel der Größe nach zu einer Pyramide und beendete seine aktionistisch untermauerte Rede mit den Worten: „Liebe Stadtgemeinde! Das ist er also, mein Vorschlag für den Bücherberg von Spijkenisse, für den sogenannten Boekenberg!“

Neun Jahre später ist der 30 Millionen Euro teure Berg aufgeschüttet. Er ist Teil eines Revitalisierungsprojekts, zu dem auch Tiefgarage, Supermarkt, Post und ein paar angrenzende Wohn- und Reihenhäuser mit insgesamt 50 Wohnungen gehören. Anfang November wurde der Bücherberg mit dem zweiten Preis „Best Library of NL 2012“ ausgezeichnet. Außerdem ist das Projekt für den Dutch National Wood Award 2012 nominiert.

Damit ist die gesichtslose Kleinstadtretorte, die bis dato nicht mehr zu bieten hatte als eine postmoderne Fußgängerzone und ein fassungslos hässliches Rathaus, hinter dessen weißen Fassaden man geneigt wäre, eine Molkereifabrik zu vermuten, um ein Stück zeitgenössischer Architektur reicher. Vor allem aber verfügt Spijkenisse nun über den ersten öffentlichen Kulturbau in der Geschichte seines Bestehens.

Der lange Weg zum Buch

Der erste Eindruck: Büchereldorado unter Käseglocke. Es gibt zwar einen Lift, der mitten durchs Bergmassiv führt, doch die wahren Raum- und Lesefreuden erschließen sich beim fußläufigen Erklimmen der Topografie. Der rundum verglaste Innenraum ist hell und übersichtlich, der gebrannte Klinkerboden und die eleganten Straßenlaternen sprechen unmissverständlich die Sprache eines öffentlichen Stadtplatzes. Das urbane Ambiente ist perfekt. Man hält bereits Ausschau nach Parkbank, Hund und Fußball spielenden Jungs und Mädels. Und überall Bücher, Bücher, Bücher.

„Normalerweise stehen die Bücherregale entlang der Fassade, und in der Mitte liegt ein großer, dunkler Raum, der meist ungemütlich und unpersönlich ist“, sagt Winy Maas. „Wir haben die klassische Raumkonfiguration auf den Kopf gestellt und den Lesebereich von innen nach außen gestülpt.“ Das Innere des Bücherbergs ist geschickt genutzt: In der Mitte liegen Büros, Internet-Bibliothek, Schachclub, Umweltzentrum und Haustechnikzentrale.

Eine besondere Freude sind die schwarzen Bücherregale, die mal Wandverkleidung, mal Brüstung, mal Stiegengeländer sind. Optik, Haptik und Geruch sind fremd. Selbst eingefleischte Architekten und Bauingenieure schütteln ob des unbekannten Baustoffs den Kopf. „Wir wollten hier mit Recycling-Materialien arbeiten“, erklärt Joop Trouborst, Projektleiter bei der Stadtgemeinde Spijkenisse, auf Anfrage des STANDARD. „Und so sind wir in einem friesländischen Agrarbetrieb eines Tages auf ein passendes Abfallprodukt aus der Landwirtschaft gestoßen.“

Seit vielen Jahren verwendet man in den Niederlanden in Gewächshäusern und auf Feldern ein millimeterdünnes Kunststoffvlies als Wurzelunterlage. Das ist billig und zeiteffizient. Das dünne Textil hält ein, zwei Saisonen, danach ist es reif für den Sperrmüll. Für die Bibliothek wurde das Vlies - erstmals in diesen Mengen - zu vier Zentimeter dicken Platten gepresst. Unter Hitzeeinwirkung und Druck verfärbt sich das sogenannte Landbouwplastic (KLP) zu einem dunklen, homogenen, belastungsfähigen Material, das ein bissl nach Neuwagen und ein bissl nach Sportschuh riecht.

Nach 105 Stufen ist man am Gipfel angelangt. Am Ende der fast 500 Meter langen Wanderschaft wird man im Literaturcafé nicht nur mit einer fantastischen Aussicht auf die Stadt, sondern auch mit holländischen Kroketten und eingetopften Ficusbäumen belohnt. Sie sorgen für Atmosphäre, vor allem aber für die richtige Luftfeuchtigkeit im Literaturgebirge.

Spenden für die neue Seele

„Man würde es ja nicht glauben, aber dieses Haus ist trotz der vielen Glasflächen ein Vorzeigeprojekt in puncto Ökologie“, sagt Trouborst. Geheizt und gekühlt wird mit Erdwärme. „Obwohl der Bücherberg unter einem Glassturz steht, scheint die Sonne selbst an sonnigen Tagen nur kurz ins Innere. Die breiten Holzleimbinder, die quer zur Glasfassade stehen, dienen als Beschattung und fangen einen Großteil der Sonneneinstrahlung ab. Das Raumklima ist sehr angenehm.“ Den Rest erledigen vollautomatische Rollos.

Stefan Spermon, der anfängliche Skeptiker aus der IT-Branche, wagte bereits den Weg in die neue Bücherei. Auch Lisette Verhaig war schon da. Und auch die TCM-Lehrerin Cynthia Bogarde, die den Boekenberg gar als Spijkenisses „längst überfällige Seele“ bezeichnet. Der Grund: Zur Eröffnung vor wenigen Wochen wurde jeder Bewohner eingeladen, ein Buch aus seinem persönlichen Bestand zu spenden. Damit sollen vorerst einmal die optischen Lücken in der noch nicht vollständig bestückten Bibliothek - derzeit 70.000 Stück - gefüllt werden. Das Konzept ist aufgegangen. Die Regale sind bis obenhin gefüllt.

„Nichts ist schlimmer als eine halbleere Bibliothek“, sagt Architekt Winy Maas. „Ich denke, dank unserer Einladung hat nun jeder Bewohner eine gewisse Beziehung zu diesem neuen Haus. Jeder weiß, dass sein Buch Teil dieses Gebäudes ist. Und wenn es nur zur Zierde ist.“ Damit ist MVRDV jene Königsdisziplin gelungen, die man im Fachjargon Identitätsstiftung nennt. Spijkenisse hat Literaturgeschichte geschrieben. So jung und ungebildet sie auch sein mag. Das ist endlich mal ein Ansatzpunkt für Identität.

Der Standard, Sa., 2012.12.01

17. November 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Moskito, mach die Mücke!

Gestern, Freitag, wurde in Berlin der Zumtobel Group Award vergeben. Preisträger sind ein Krankenhaus in Ruanda und ein Stadtplanungsprojekt in Paris.

Gestern, Freitag, wurde in Berlin der Zumtobel Group Award vergeben. Preisträger sind ein Krankenhaus in Ruanda und ein Stadtplanungsprojekt in Paris.

Das einzige Problem, das sie nicht in den Griff gekriegt haben, sind die blöden Moskitos. Über jedem einzelnen der insgesamt 140 Betten hängt ein dünnes weißes Netz, das in der Nacht entknotet und vorsichtig über den Patienten drapiert wird. Und das ist auch gut so bei der kühlen und feuchten Luft in Butaro in 2200 Meter Seehöhe, hoch oben im Norden von Ruanda. Gestern Abend, Freitag, kamen die Architekten dieses ungewöhnlichen Krankenhauses nach Berlin und nahmen im alten E-Werk den Zumtobel Group Award 2012 entgegen.

Damit vergab das Vorarlberger Lichtunternehmen bereits zum dritten Mal jenen Preis, der nach eigenen Angaben nicht nur Werbung ist, sondern auch an die Dringlichkeit ganzheitlichen ökologischen Denkens in der Architektur erinnern soll. In der Kategorie „Gebaute Umwelt“ wurde das Butaro Hospital des Bostoner Architekturbüros Mass Design Group ausgezeichnet, in der Kategorie „Forschung und Initiative“ ging der Preis an das partizipative Stadtplanungsprojekt R-Urban des Pariser Büros Atelier d'architecture autogérée (AAA).

„Nachhaltigkeit und Ökologie werden in der Architektur immer wichtiger“, meint Harald Sommerer, CEO der Zumtobel Group. „Die beiden Siegerprojekte zeigen jedoch sehr eindrücklich, dass Nachhaltigkeit über Energieeinsparung und Ressourcenschonung weit hinausgeht. Sie bezieht soziale, wirtschaftliche, aber auch regionalpolitische Aspekte mit ein. Darin sehe ich die Zukunft des Architekturberufs. Ohne das wird's nicht gehen.“

Moskitos also. Nacht für Nacht summen die peinigenden Quälgeister durch die Krankenzimmer und prallen am weißen Textil ab. Keine Nahrung, kein Blut, keine Krankheitsübertragung. So einfach ist das. Doch die fliegenden Winzlinge sind nicht das einzige Problem, das in der Luft liegt. „Wir haben festgestellt, dass in den bestehenden Krankenhäusern in Ruanda die Menschen das Spital oft kränker verlassen, als sie es aufgesucht haben“, erklärt Alan Ricks, einer der beiden Köpfe der Mass Design Group. „Das Problem sind Tuberkulose und andere Tröpfcheninfektionen, die über die Luft übertragen werden.“

Und wo passieren die meisten Ansteckungen? In den Wartezimmern und Korridoren. Studien belegen das. Also griff Ricks zum Rotstift und radierte die bösen Bestandteile der Spitalsarchitektur einfach aus. Das Butaro Hospital, das in Zusammenarbeit mit dem ruandischen Gesundheitsministerium und der NGO Partners in Health (PIH) entwickelt und im Jänner 2011 eröffnet wurde, ist ein großzügiger offener Campus mit Gärten, Gehwegen, Arkaden und einzelnen freistehenden Gebäuden. Gewartet wird draußen in der freien Natur unter einem Vordach. Das milde Bergklima macht's möglich.

Querlüftung in den Zimmern und riesige Industrieventilatoren sorgen zudem für die nötige Luftzirkulation in den Krankenzimmern. „Alles ist ganz einfach. Es macht keinen Sinn, eine komplizierte Haustechnikanlage zu installieren, wenn es vor Ort weder Fachkräfte noch Geld gibt, um ein solches System instand zu halten“, sagt Ricks. „So ein Projekt ist nur dann sinnvoll, wenn man bereit ist, sich den Gegebenheiten anzupassen und entsprechend kostengünstige Technologien und eine klare, reduzierte Designstrategie zu entwickeln.“

Einfach ist auch die Bauweise des Krankenhauses. Die Wände sind aus Beton, das Dach ist aus Blech, aufgewertet wird das Ganze durch Natursteinmauerwerk, das wie bei einem Puzzle passgenau ineinandergeschlichtet wurde. Damit besteht der Großteil des Campus aus regionalen Baustoffen. Einzig der Stahl für die Fenster und Vordächer musste aus Uganda und Kenia importiert werden.

„Wir haben uns bewusst für eine Fertigungsmethode entschieden, die nur wenigen Know-hows bedarf“, so der Architekt. „Auf diese Weise konnten wir 4000 arbeitslose Helfer aus der Region in den Bauprozess miteinbeziehen.“ Eingeschult wurden die fachfremden Männer und Frauen von ausgebildeten Handwerkern, von Tischlern, Schlossern und Baumeistern in Form von Workshops und intensiven Crashkursen.

Fazit: Die Baukosten für die gesamte Anlage liegen bei nicht einmal 4,5 Millionen US-Dollar (3,5 Millionen Euro). Die Bauzeit wurde um ein Drittel verkürzt. Und die hohe Arbeitslosenquote in der Region konnte - zumindest für bestimmte Zeit - deutlich gesenkt werden. Damit ist das Butaro Hospital mehr als nur ein architektonischer Beitrag. Es ist ein interdisziplinäres Projekt, das aus sämtlichen Ressourcen schöpft.

Stadt wird wieder Stadt

Auch der Preisträger in der Kategorie „Forschung & Initiative“ basiert auf diesem ganzheitlichen Ansatz. In Colombes, einem Pariser Vorort im Nordwesten der Stadt, entwickelten die Architekten von AAA ein Konzept, das vorsieht, die bestehende Stadtstruktur mit ökologischen Kreisläufen zu überlagern - von Regenwassernutzung und Nahrungsmittelanbau auf den Dächern über Recycling und ökologische Abfallwirtschaft bis hin zu großflächiger urbaner Landwirtschaft.

„Colombes hat heute 84.000 Einwohner, und der Großteil davon lebt unter schlechten Bedingungen“, erklärt Doina Petrescu, Chefarchitektin von AAA. „Wir wollten eine Möglichkeit schaffen, wie diese Menschen an der Peripherie an einem günstigen und ökologischen System teilhaben können.“

Von den geplanten Maßnahmen auf 4000 Quadratmetern Land wurde bisher ein Gemeinschaftshaus errichtet. Zudem wurde die Fläche urbar gemacht. Im Dezember ist die nächste Bauetappe geplant. Petrescu: „Gärtnern ist der einfachste und direkteste Zugang, um Menschen in Kontakt zu bringen. Vor allem an einem Ort, der von Migration und hoher Arbeitslosigkeit betroffen ist, müssen wir diese Potenziale nutzen. Das ist unsere Verantwortung als Architektinnen und Architekten.“

Ziel ist es, die Menschen vier Jahre lang zu begleiten und die Gemeinschaft danach sich selbst zu überlassen. Finanziert wird R-Urban mit Geldern von Gemeinde und Region sowie über das EU-Programm Life Plus. Auch Privatsponsoren und kleinere Unternehmen beteiligen sich an der Reurbanisierung von Colombes. Das bisherige Budget beläuft sich auf 1,2 Millionen Euro.

„Natürlich wird es den Architekten als Designer auch weiterhin geben. Der klassische Architekt wird nicht aussterben“, meint Hans-Jürgen Commerell, Direktor von Aedes. Das Berliner Architekturforum konzipierte den mit 140.000 Euro dotierten Zumtobel Group Award und betreute den Wettbewerb, in dessen Jury auch so wohlklingende Namen wie Stefan Behnisch, Winy Maas und die Pritzker-Preisträgerin Kazuyo Sejima saßen. „Aber wenn es darum geht, einen ernsthaften Beitrag für die Zukunft der Welt zu leisten, dann können und müssen wir uns an diesen interdisziplinären Projekten ein Beispiel nehmen.“

Der Standard, Sa., 2012.11.17

03. November 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Storch wird kommen

Burgenland trifft Japan: Letzten Samstag wurde in Raiding Terunobu Fujimoris „Storchenhaus“ eröffnet. Ode an eine kleine Ikone.

Burgenland trifft Japan: Letzten Samstag wurde in Raiding Terunobu Fujimoris „Storchenhaus“ eröffnet. Ode an eine kleine Ikone.

In den letzten Monaten, so erzählt man sich, schlich immer wieder ein älterer asiatischer Herr durch die Gärten und ließ sich beim Obstpflücken ertappen. Die Dorfbewohner nahmen die Sache gelassen. Der Japaner ist wieder da! „Ich weiß jetzt, wo die besten Äpfel und Trauben wachsen“, sagt der Tokioter Architekt Terunobu Fujimori, „vielleicht schreibe ich ja mal ein Handbuch für Obstjäger in Raiding.“ Doch nicht die Erforschung der mittelburgenländischen Genussflora war seine Mission auf den vielen Reisen nach Österreich, sondern die Errichtung eines sogenannten Storchenhauses.

Das Gebäude, das per Definition für ein Menschen- und ein Storchenpaar konfiguriert ist, weist für beiderlei Lebensgattungen einen kommoden, wenn auch für österreichische Verhältnisse ungewohnt asketischen Komfort auf: Während die Storche auf das bewährte Fundament eines gemauerten Kamins werden verzichten müssen, dürfen sich die Menschen mit den reduzierten Wohn- und Lebensgepflogenheiten aus Nippon vertraut machen. Und das heißt: keine Zentralheizung, keine Treppen, keine Couch und keine Pelargonien vorm Fenster, dafür aber, wie Projektinitiator Roland Hagenberg meint, „die wohl modernste Toilette Burgenlands“ mitsamt Föhn und Dusche für den Allerwertesten.

Das Storchenhaus mit japanischer Handschrift ist das Resultat eines seit einigen Jahren schon reifenden Völkerverständigungsprojekts. Hagenberg, seines Zeichens Künstler und Kulturjournalist sowie seit 20 Jahren Wahljapaner und seit derer drei Wahlraidinger mit einem alten Bauernhof am Ortsrand, setzte sich in den Kopf, den fernen Osten der Welt mit dem fernen Osten Österreichs zu verbinden und anlässlich des Franz-Liszt-Jahres 2011 zehn Unterkünfte für weit herbeigereiste Künstler, Dirigenten und Interpreten zu schaffen.

Nun denn, das Jubiläumsjahr des 1811 in Raiding geborenen Komponisten ist vorüber, doch die Idee einer transkulturellen, innovativen Behausungsgruppe für die mit Gästebetten dünn gesäte Gemeinde überdauerte den letztjährigen Festivalstress und wurde bei ehestmöglicher Gelegenheit nachgeholt. Letzten Samstag fand in Beisein des japanischen Botschafters Shigeo Iwatani und der halben Dorfbevölkerung die feierliche Eröffnung statt.

Es wurde posaunt und trompetet, und nach einer Folge an emotionalen Reden, die sich allesamt um eine mal politische, mal künstlerische, mal musikalische Erklärung der nationalen Zusammenführung bemühten, schritt man gehobenen Glases und gegessenen Leberkäsbrötchens zum umfeierten Hause.

Wo bis vor kurzem eine G'stätten war, schlängelt sich nun ein hübscher, unregelmäßig betonierter Weg durch den noch in letzter Minute verlegten Rollrasen. „Umwege erweitern die Ortskenntnis“, hatte Kurt Tucholsky einmal gesagt, und so gelangt man mit japanischer Erleuchtung nach wenigen Metern an jenen Punkt, an dem es einem ob der zurückhaltenden, mit viel Lebensweisheit komponierten Architektur die Sprache verschlägt und man beim Betreten der Terrasse dem Gebauten unverzüglich allen nötigen Respekt erweist, indem man sich sofort die Schuhe von den Füßen streift. Diejenigen, die bereits in der Debatte um die Sinnhaftigkeit der kirschblütenländlichen Bloßfüßigkeit weilen, gemahnt ein mit letzter Verzweiflung improvisiertes Hinweisschild auf dem Boden: „Absolut keine Schuhe!“

Geht doch. Fujimoris Storchenhaus, das auf einer Grundfläche von fünf mal fünf Metern errichtet wurde, ist ein unaufgeregtes Gebilde, das den geradezu selbstverständlichen Eindruck vermittelt, Vogel und Mensch seien gleichberechtigte Bewohner mit wohlgemerkt etwas unterschiedlich gelagerten Wohnansprüchen. Das Storchennest balanciert in 13 Meter Höhe auf einem leicht gekrümmten Eichenstamm, der zugleich das gestalterische Rückgrat des Gebäudes ist. Steil fällt von seiner an den Rand gedrückten Mitte ein dickes, fest gebundenes Schilfdach ab. Die Schilfbauweise ist schon fast in Vergessenheit geraten. Hier wird der Verlust auf höchstem Niveau kompensiert.

„Da ist ja gar kein Lack!“

„Ich gebe zu, dass bei uns ein gewisser Umdenkprozess stattgefunden hat“, erinnert sich Bauingenieur Richard Woschitz. „Mit dem österreichischen Bauen sind wir bestens vertraut, doch in Japan geht man an die Sache anders heran. Das Bewusstsein für Materialien und Details ist stärker ausgeprägt als bei uns.“ Genau und nicht mehr und nicht weniger als drei ganze Eichenbäume wurden in diesem Haus verarbeitet. Einige dienen als Stütze, einige als nur 1,30 Meter hohe und 40 Zentimeter breite Alternativtüre für verbeugungslustige Besucher, einige als angekohlte, schwarze Fassade. Innen wurden damit Boden, Galerie und Möbel gefertigt - schön schief und mit abenteuerlich unregelmäßigen Fugen. Das Burgenland aus dem Off: „Ist das schon fertig? Da ist ja gar kein Lack.“

Terunobu Fujimori, und das ist ein Glück, ist des Deutschen nicht mächtig. „Meine Arbeit folgt der Natur“, sagt er, „es ist ja nicht so, dass ich den Baumstamm ausgesucht habe. Nein, der Baum hat zu mir gesprochen, und ich bin im Wald instinktiv auf ihn zugegangen.“ Im Sägewerk hätten die Handwerker den Kopf geschüttelt: „Wie kann man nur solche Bäume aussuchen! Das gehört verheizt.“ Am Ende siegte die interkulturelle Kommunikation mit einer Tendenz zum Japanischen.

Der Etappensieg gewährt Freude bei jedem Detail: beim gemauerten Ofen, der sich wie ein Ameisenhaufen aus der Fassade beult, bei den kleinen Kohleklötzchen, die bis zur Decke hochmarschieren, bei den vielen Oberflächen und Texturen, die das Charmante dem Perfekten vorziehen. Da verzeiht man auch die Thermofenster mit aufgeklebten Sprossen.

Rund 150.000 Euro hat das Storchenhaus gekostet. Der Großteil des Budgets wurde durch Materialsponsoring finanziert, die Gemeinde beteiligte sich mit Wasser, Strom und Kanalisation. „Das war jetzt mal der erste Streich“, erklärt Bürgermeister Markus Landauer. „Nächstes Jahr wollen wir weitermachen, da ist dann Architekt Hiroshi Hara dran.“ Binnen vier, fünf Jahren, so lautet der ambitionierte Plan, wolle man die noch fehlenden neun Japan-Häuser nachholen. Mit von der Partie: Toyo Ito, Kengo Kuma und die beiden Pritzker-Preisträger Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa.

Fehlt nur noch der Futon. Ab Dezember wird das Storchenhaus die burgenländische Hotellerie um ein ungewöhnliches Zimmer bereichern. Und was ist mit dem Storch? „Ach, die Störche sind bereits letzten Sommer auf dem Rohbau gesessen“, sagt Architekt Terunobu Fujimori, „das ist ein gutes Zeichen, nächstes Jahr werden sie sicher wiederkommen.“

Der Standard, Sa., 2012.11.03

31. Oktober 2012Wojciech Czaja
Der Standard

New Yorker Architekt Lebbeus Woods gestorben

Verschrieb sich vor allem der Theorie und entwarf als „conceptual architect“ die Filmkulissen zu „Alien 3“

Verschrieb sich vor allem der Theorie und entwarf als „conceptual architect“ die Filmkulissen zu „Alien 3“

Der New Yorker Architekt Lebbeus Bigelow Woods hat einen der bekanntesten und beklemmendsten Räume der amerikanischen Filmgeschichte geschaffen. Gemeinsam mit dem Schweizer Surrealisten HR Giger entwarf er als so genannter „conceptual architect“ die Filmkulissen zum Horror-Klassiker Alien 3. Am Dienstag ist der in Michigan geborene Architekt, Künstler und Theoretiker mit 72 in New York gestorben.

„Ein Architekt ist in meinen Augen ein Entwerfer des Lebens“, sagte Woods einmal in einem Interview mit dem STANDARD. „Schmerz und Gewalt sind Teil des Lebens, insofern darf man diesen Aspekt nicht ausblenden.“ Mit diesen dunklen Seiten, insbesondere mit den formal-ästhetischen Gegebenheiten von Krieg, setzte er sich in seinen Zeichnungen auseinander. Eines seiner bekanntesten Werke ist die aus Anlass des Bosnischen Krieges 1993 entstandene Zeichnung Injection Parasite, Sarajevo, auf der ein Hochhaus von flugzeug- und turbinenartigen Metallobjekten durchbohrt wird.

„Das fiktive Bauen war für mich immer schon reizvoller als das reale Bauen, denn mit Ziegelstein und Beton komme ich meinen utopischen Träumen nicht nahe genug“, so Woods. 1976 verschrieb er sich schließlich vollends dem Zeichnen und dem Schreiben. 1988 gründete er das Research Institute for Experimental Architecture.

Der Philosoph Karsten Harries bezeichnete Woods, der nicht davor zurückscheute, die Produzenten des Films 12 Monkeys erfolgreich wegen eines Plagiats zu klagen, als „Sohn des Daedalus“. Woods: „Ich fliege mit meinen Ideen manchmal zu hoch. Eines Tages könnte ich abstürzen.“

Der Standard, Mi., 2012.10.31



verknüpfte Akteure
Woods Lebbeus

26. Oktober 2012Wojciech Czaja
Neue Zürcher Zeitung

Pyramide über einem Bücherberg

In den vergangenen Jahren ist es ruhiger geworden um die einst vielgepriesene niederländische Architektur. Selbst die wilden Baukünstler von MVRDV sind zahm geworden, wie ihre Bibliothek in Spijkenisse bei Rotterdam beweist.

In den vergangenen Jahren ist es ruhiger geworden um die einst vielgepriesene niederländische Architektur. Selbst die wilden Baukünstler von MVRDV sind zahm geworden, wie ihre Bibliothek in Spijkenisse bei Rotterdam beweist.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

08. September 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Die Begrünerin

Letzten Samstag gingen in Alpbach die Baukultur- Gespräche zu Ende. Ein grüner Lichtblick war die niederländische Stadtplanerin Helga Fassbinder. Ein Gespräch.

Letzten Samstag gingen in Alpbach die Baukultur- Gespräche zu Ende. Ein grüner Lichtblick war die niederländische Stadtplanerin Helga Fassbinder. Ein Gespräch.

Grün ist viel zu billig. Deshalb gibt es auch keine Lobby. Wäre Grün so teuer wie etwa Ziegel oder Beton, na was glauben Sie, wie rasch sich die Industrie dahinterklemmen würde!

STANDARD: Haben Sie einen Garten?

Fassbinder: Ja, ich wohne in Amsterdam an einer Gracht, und hinter dem Haus habe ich einen Garten. Der ist zwar nur so groß wie ein Wohnzimmer, aber ich habe regelmäßig Besuch von Möwen, Reihern, Blässhühnern und Bussarden. Ein wunderbarer Ort!

STANDARD: Als eine von wenigen Stadtplanerinnen in Europa kreiden Sie der heutigen Stadtplanung viele Fehler an. Unter anderem, meinen Sie, sind unsere Städte zu wenig grün.

Fassbinder: Die Städte in Europa sind Betonwüsten. Und das, obwohl wir in unserem Kulturkreis auf eine jahrhundertelange Garten- und Landschaftskultur zurückblicken, von der Antike über den Barock bis hin zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Ich beobachte allerdings, wie sich bei den Bürgern und Bewohnern langsam etwas tut. Sie entwickeln Interesse, und viele von ihnen sehnen sich nach mehr Grün in ihrem Lebensumfeld. Auch die Politik ist sensibler geworden. Und es sind nicht nur die Grünen, die von Grün sprechen.

STANDARD: Und was ist mit den Architekten und Stadtplanern?

Fassbinder: Da sehe ich eine ziemliche Stagnation. Es gibt ein paar künstlerische Ausnahmeerscheinungen wie etwa Patrick Blanc in Paris oder Martha Schwartz in London, generell wird das Grün in der Großstadt aber sehr stiefmütterlich behandelt. Architekten interessieren sich nicht dafür, bei den Stadtplanern ist es kein Thema, und die Landschaftsplaner sind als Gruppe noch nicht stark genug, um sich gegen diesen Umstand vereint zur Wehr zu setzen.

STANDARD: Warum ist die Stadt noch nicht so weit?

Fassbinder: Ich sage immer: Das sind die Nachwehen der Moderne. Die Moderne war ein unglaublicher Bruch in der Stadtplanung. Viele europäische Städte wurden damals komplett verändert, das Grün oft in Parks eingeschlossen oder an den Stadtrand verdrängt. Diese Fehler wieder rückgängig zu machen ist viel Arbeit. Aber das wäre eine eigene Diskussion wert.

STANDARD: Was sind die größten Kritikpunkte an ungrünen Städten?

Fassbinder: In der Stadt herrscht im Sommer der sogenannte Backofen-Effekt. Studien haben ergeben, dass man mit zehn Prozent mehr Grün - und das ist gar nicht so viel - die sommerliche Temperatur in den Städten um drei Grad Celsius senken kann. In einigen Stadtvierteln in Tokio hat man sogar herausgefunden, dass man mit einer massiven Nachbegrünung die lokale Temperatur um bis zu 13 Grad reduzieren kann. Das muss man sich einmal vorstellen! Außerdem ist Flora ein guter CO2-Speicher, ein Regenwasserspeicher und ein Feinstaub-Absorber. Grüne Hecken entlang der Straße können den Feinstaub in der Stadt um ein gutes Drittel reduzieren.

STANDARD: Handfeste Argumente! Wieso macht man das nicht öfter?

Fassbinder: Wegen der Paragrafen! In den meisten Fällen stehen dem Grün Bauvorschriften und Haftungsfragen im Weg. Da heißt es dann: Ja, aber was passiert, wenn jemand über das Grün stolpert? In Amsterdam gibt es seit einigen Jahren eine Verordnung, die Bewohnern erlaubt, auf dem Gehsteig vor ihrem Haus einen Streifen mit 30 Zentimeter Breite zu begrünen. Und siehe da, es gibt keine Unfälle, und alle sind happy. Wie will man sich das erklären? Vielleicht sind die niederländischen Bürger ja intelligenter und lernfähiger als die Österreicher. Doch das allergrößte Problem ist die fehlende Lobby.

STANDARD: Weil?

Fassbinder: Begrünung ist eine billige Sache. Ein Rasen, eine Hecke, ein Baum - mit diesen kleinen grünen Injektionen lässt sich kein Geld machen. Und deshalb gibt es auch keine Lobby, die Druck ausübt. Wäre Grün so teuer wie etwa Ziegel, Beton oder Stahl, was glauben Sie, wie rasch sich die Industrie dahinterklemmen würde! Die Wahrheit ist: ohne Lobby keine Chance.

STANDARD: Das klingt frustrierend.

Fassbinder: Ja, aber dafür gibt es ab und zu einen Politiker, der sich traut, aufzustehen und etwas in Bewegung zu setzen. Der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë zum Beispiel hat vor ein paar Jahren ein Amt für Fassadenbegrünung eingeführt - das sogenannte „Service du Paysage et de l'Environnement“. Mieter und Hauseigentümer können sich dort melden und eine Begrünung ihrer Hausfassade beantragen. Das Tolle dabei ist, dass sie nicht nur behördliche Hilfe bekommen, sondern auch die nötigen Pflanzen und Samen. Und noch besser: Die Stadt Paris kümmert sich sogar um die Pflege und um den jährlichen Schnitt. Und das alles ist kostenlos! Das Interesse ist enorm. Bis jetzt wurden ein paar hundert Fassaden auf diese Weise begrünt. Das ist doch ein Anfang!

STANDARD: Und wenn es keinen Delanoë gibt?

Fassbinder: Dann muss die Bevölkerung die Sache selbst in die Hand nehmen. Platz für Grün gibt es genug. Auch in den dichtesten Städten.

STANDARD: In Chicago, Detroit, Paris, Berlin und Leipzig floriert heute das Urban Farming. Menschen pflegen ihr eigenes Stückchen Land und pflanzen Obst und Gemüse an. Ist die Reaktion auf die Krise eine langfristige Maßnahme oder nur eine Modeerscheinung?

Fassbinder: Beides. Die einen betreiben Urban Gardening, weil sie tatsächlich Geld sparen müssen und sich wieder nach mehr sozialen Kontakten sehnen. Die anderen machen es, weil es in den Magazinen steht und en vogue ist. Letztendlich aber ist die Motivation zweitrangig. Das Wichtigste ist, dass die Menschen aktiv werden und mitten in der Stadt ein Stück Autonomie zurückgewinnen.

STANDARD: Ist Urban Farming die Zukunft?

Fassbinder: Das hoffe ich doch! Das erste Mal seit der Stadterneuerung gibt es wieder ein Thema, das sich durch alle sozialen Schichten durchzieht. Und manchmal werden die Hierarchien sogar auf den Kopf gestellt, weil die Bäuerin aus Anatolien mehr Ahnung vom Melanzanizüchten hat als der Angestellte von nebenan. Hier findet ein Wissenstransfer von den gesellschaftlich Benachteiligten zu den Privilegierten statt. Plötzlich haben auch einmal die Underdogs und Outsider das Sagen! Wir machen uns immer Sorgen um die Integration - das ist Integration live.

STANDARD: 2004 haben Sie die Stiftung Biotope City gegründet. Welche Erfolge konnten Sie bisher erzielen?

Fassbinder: Wir schärfen das Bewusstsein für Grün in der Stadt, wir machen Medienarbeit, und wir halten zum Beispiel Vorträge und Workshops an Schulen und Universitäten. Meine Beobachtung ist, dass das Studium diesen Bereich viel zu wenig behandelt.

STANDARD: Wie lautet Ihre Forderung an die Politik?

Fassbinder: Ich wünsche mir mehr Offenheit und Weitsicht.

STANDARD: Das klingt aber nicht sehr feurig.

Fassbinder: Ich hab's nicht so mit dem Feuer. Ich hab's mehr mit der Erde. Die Stadtplanung ist heute fast zur Gänze in öffentlicher Hand. Und das Problem dieser öffentlichen Hand ist, dass das System träge ist. Ich wünsche mir daher Personen an der Spitze, die den Mut haben, auf den Tisch zu hauen und verkrustete Strukturen zu durchbrechen. Ich wünsche mir Politiker mit Visionen.

STANDARD: Wie sieht die Stadt der Zukunft aus?

Fassbinder: Grün muss ein selbstverständlicher Baustein der Architektur werden. Ich träume von einem grünen Großstadtdschungel, von einer Stadt, in der es mehr Bäume als Autoabstellplätze gibt.

Der Standard, Sa., 2012.09.08

01. September 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Kannst du den Raum hören?

Am Mittwoch wurde die 13. Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Die Ausstellung unter dem Motto „Common Ground“ ist ein Hybrid aus Zukunftstrauma und Menschlichkeit.

Am Mittwoch wurde die 13. Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Die Ausstellung unter dem Motto „Common Ground“ ist ein Hybrid aus Zukunftstrauma und Menschlichkeit.

Es faucht aus den Wänden heraus. Es klopf und zischt und dröhnt. Und je lauter der Ton, desto stärker bebt die Architektur. Vorsichtig wagen sich die Besucher in die Mitte dieses kafkaesken Raumes hinein, bleiben kurz stehen, blicken verwirrt um sich und schicken fassungslos ihre Ohren auf Reise. Manche lehnen ihr Gehör an die Wand und lauschen. Und dann wieder: Grrrrr im Trommelfell und Brrrrr in der Fußsohle.

Für die Installation Making the walls quake as if they were dilating with the secret knowledge of great powers, ein Zitat aus Charles Dickens' Roman Dombey und Sohn, wurde der polnische Pavillon vor wenigen Tagen mit dem Aner-kennungspreis der diesjährigen Architektur-Biennale ausgezeichnet, die seit Mittwoch in Venedig zu sehen ist. Als einer der wenigen Beiträge hat sich Polen heuer ernsthaft mit dem von Direktor David Chipperfield vorgeschriebenen Thema „Common Ground“ beschäftigt und einen Raum kreiert, der uns allen gehört, der uns allen zur Verfügung steht, der uns alle letztendlich gleichermaßen überfordert.

„Wir sprechen so oft darüber, dass Architektur eine Materie ist, die mit allen Sinnen wahrgenommen werden müsse“, sagen Architektin Katarzyna Krakowiak und Ausstellungskurator Michal Libera. „Aber tatsächlich wird diese Komponente beim Bauen oft außer Acht gelassen. Wir wollten daher eine Geräuschkulisse schaffen, die uns das Hören von Raum wieder ins Gedächtnis ruft.“

Die Wände sind dunkelgrau verspachtelt, die Oberflächen wirken wie der Rohbau eines barocken Palais, Boden und Wände sind um kaum wahrnehmbare 2,5 Grad geneigt. Die Irritation ist perfekt. Und als wäre das alles noch nicht genug, werden über 50 versteckte Lautsprecher immer wieder tieffrequente Tonbrocken in den Raum gespuckt. Die Schwingungen bringen die Wände zum Erzittern, als würden sie sich aufblähen mit der geheimen Kenntnis von großen Mächten. So lautet die wörtliche Übersetzung des Titels.

Mächtig - und nach vielen Jahren wenig einprägsamer Gruppenausstellungen endlich auch wieder eine eigenständige, unverwechselbare Arbeit - ist heuer auch der österreichische Beitrag. Kurator Arno Ritter und Architekt Wolfgang Tschapeller befassen sich in ihrer Film- und Soundinstallation hands have no tears to flow ... mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Raum.

Interaktive Figuren

Mitten durch den Pavillon, 1934 nach Plänen von Josef Hoffmann erbaut, verläuft eine gespannte Spiegelfolie, die nicht nur die Anzahl der Besucherinnen und Besucher verdoppelt, sondern auch die künstlich animierten Figuren, die sich kriechend, gehend und tanzend auf der Projektionsebene fortbewegen.

Eine Herausforderung für die besonders Aufmerksamen: Zwei der insgesamt 32 Figuren sind interaktiv und treten mithilfe einer eigens entwickelten Software mit dem Betrachter in Kontakt. Das visuelle Konzept dafür stammt von Rens Veltman und Martin Perktold.

„Auf den ersten Blick scheint die Arbeit nicht viel mit Architektur zu tun zu haben, aber das ändert sich, sobald sich zwischen den realen und virtuellen Personen ein Dialog entspinnt“, sagt Arno Ritter im Gespräch mit dem STANDARD. „Obwohl sich die weltweite Architektur in den letzten Jahrzehnten sehr weit entwickelt hat, denken wir immer noch in klassischen Beziehungsmustern zwischen Subjekt und Objekt. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Muster aufzugeben. Vielleicht entsteht ja in Zukunft nicht mehr der Raum um den Körper, sondern auch der Körper um den Raum.“

Menschen konstruieren

Pure Ratlosigkeit. Doch die Auflösung folgt prompt: „Wir leben längst in einer Zeit, wo wir nicht nur Häuser konstruieren, sondern auch Menschen“, erklärt Ritter. „Wir saugen Fett ab, transplantieren Organe und richten kaputte Körperteile wieder her. Wer weiß, vielleicht übernimmt die Architekturdebatte in Zukunft auch die Aufgaben der Körper- und Lebensdiskussion.“

Überhaupt ist die heurige Architektur-Biennale in Venedig sehr zukunftsgewandt, bisweilen sogar utopisch. Nicht immer ist dieser Ritt in den Futurismus sattelfest. Es kann anstrengend werden, wenn alle Architekten auf einmal die Kraft von Smartphones, iPads und QR-Codes zu entdecken glauben. Das radikalste Beispiel dafür liefert Russland, das - neben Polen und den USA - ebenfalls mit dem Anerkennungspreis der Jury ausgezeichnet wurde. Die offizielle Eröffnung am Mittwoch musste sich gegen eine Demonstration behaupten, die dem kürzlich verhängten Moskauer Urteil gegen Pussy Riot galt.

Kurator Sergej Tschoban, seines Zeichens Architekt und einer der Hauptbeteiligten an der neuen Science-City Skolkovo, die derzeit am westlichen Stadtrand von Moskau errichtet wird, schuf einen Pavillon, der das Prestigeprojekt PR-konform in Szene setzt. Der gesamte Innenraum ist mit hunderten hinterleuchteten QR-Codes verkleidet. Mit einem zur Verfügung gestellten Tablet kann man die unterschiedlichen Pixelcodes scannen und gelangt auf diese Weise zu Textinhalten, Baustellenfotos und hübschen Renderings.

„Skolkovo wird eine moderne Science-Metropole sein, eine Art öffentliche iCity, ein Common Ground für alle“, sagt Tschoban zum STANDARD. „Ich glaube daran, dass Skolkovo die Werte moderner Architektur und Stadtplanung verkörpert.“ Was diese intendierte Offenheit allerdings mit den technischen Hürden und der Notwendigkeit virtueller Raumerkundung zu tun hat - diese Frage bleibt unbeantwortet.

Auffällig schließlich: Während der eine Teil der Biennale heuer stark ins Technische abdriftet, widmen sich viele andere Teilnehmer der Zukunft auf erdige, handfeste, im wahrsten Sinne des Wortes begreifbare Weise. Nach dem vielen Drücken, Knipsen und Flackern ist die Abwechslung zum Physischen eine erfrischende Wohltat.

Im italienischen Pavillon wuchern Farne und Gräser aus 5000 Blumentöpfen. Landstories widmet sich der Ära nach dem industriellen Zeitalter und dem Kapitalismus der Green Economy. Sieht so die Zukunft unserer Städte aus? Dänemark widmet sich dem riesigen Eismassiv Grönland und sinniert über Potenziale und Nutzungsmöglichkeiten. Peru beschäftigt sich mit Visionen für eine neue Stadt. Im Zuge des Megaprojekts Olmos - dabei soll dem Amazonas Wasser entnommen und über ein Tunnelsystem in die Wüste im Norden Perus gepumpt werden - muss Lebensraum für 250.000 Einwohner geschaffen werden.

Und Chile - es knirscht unter den Füßen - hat seinen Pavillon mit 13 Kubikmetern Salz zugeschüttet. Die darauf ausgestellten Projekte sind Beispiele für ein Leben in der Salzwüste. „Viele Chilenen müssen unter widrigsten Umständen leben“, so Kurator Bernardo Valdés Echenique. „Für die einen sind die Salzseen in unserem Land Dantes Inferno, für die anderen aber ist dies der einzige Common Ground, den sie haben. Vielleicht kann die Architektur dazu beitragen, diesen Lebensraum lebenswerter zu machen.“

Eine der überzeugendsten Vorschläge für ein Leben nach der Apokalypse liefert Japan. Als Antwort auf den Tsunami im März 2011 stellt Architekt Toyo Ito die Initiative Home-for-all vor. Dadurch sollen jene Menschen, die durch die Flutkatastrophe ihre Häuser verloren haben, ein neues Zuhause bekommen. Die einfachen, aber hübschen Entwürfe vermitteln erste Eindrücke davon. Die Jury würdigte diesen Beitrag mit dem Goldenen Löwen 2012.

Wo liegt der „Common Ground“, wo liegt unser aller architektonischer Lebensraum? Im Erhören des Raumes, in der Huldigung der Technik oder doch im physischen Erbauen mit Hand und Herz? Das muss jeder Besucher für sich selbst entscheiden.

Der Standard, Sa., 2012.09.01

31. August 2012Wojciech Czaja
Der Standard

„Ist das Ihr Haus? Darf ich's angreifen?“

Der Österreicher Jakob Dunkl bekommt auf Arte eine - im Fernsehen rare - Sendung über Architektur. „Meine Stadt“ startet diesen Sonntag mit Witz in Amsterdam.

Der Österreicher Jakob Dunkl bekommt auf Arte eine - im Fernsehen rare - Sendung über Architektur. „Meine Stadt“ startet diesen Sonntag mit Witz in Amsterdam.

„Ah, guten Tag! Ist das Ihr Haus? Mir gfallt's gut. Darf ich's mal angreifen?“ - Jakob Dunkl, der Mann mit der roten Jacke, wandert durch Amsterdam. Er klopft gegen Hausfassaden, spechtelt durch vorhanglose Fenster und denkt laut nach, warum die Niederlande anders ausschauen als Österreich.

Anders als die meisten Dokumentationen dieser Art richtet sich Meine Stadt nicht an Fachleute, sondern an interessierte Jugendliche und erwachsene Laien. 52 Minuten spaziert Dunkl, Architekt und einer der Geschäftsführer des Wiener Büros querkraft architekten, durch die Stadt der Grachten und stellt Fragen, die alle schon durch unsere Köpfe geisterten: Warum sind die Treppen so steil? Warum sind die Fenster so groß? Warum wohnen so viele Menschen am Wasser?

Die Antworten gibt Ben van Berkel vom Amsterdamer Architekturbüro UN Studio, Planer des Mercedes-Benz-Museums in Stuttgart. Man hat Spaß beim Zuschauen. Und noch mehr beim Zuhören. Manchmal muss man schmunzeln über die Bemühungen der seichten Unterhaltung: „Ich habe nämlich eine Vespa!“ - „Ach, du hast eine Vespa? Wow!“

Meine Stadt: Amsterdam ist der erste Teil einer Sendung ohne Allüren. Sie bemüht sich, die vielen Facetten der Architektur näherzubringen, ohne in den gefürchteten intellektuellen Diskurs der sonst schwarzgekleideten Rollkragenpullover-Möchtegern-Philosophen abzudriften. Die knallrote Jacke ist Symbol.

„Es gab schon viele Versuche, TV-Sendungen über Architektur zu machen“, sagt Moderator Jakob Dunkl dem STANDARD. „Die meisten von ihnen sind gescheitert. Doch ich denke, jetzt ist die Zeit reif dafür. Wenn man abendfüllende Sendungen über Blumenwiesen und Bienen machen kann, warum nicht auch über Architektur?“ Meine Stadt ist ein Langzeitprojekt. Der Moderator hat bereits vorgesorgt und ein paar rote Ersatzjacken in seinen Kleiderschrank gehängt. Die nächsten Sendungen, die in einem Intervall von zwei Monaten ausgestrahlt werden sollen, sind bereits in Arbeit: Bjarke Ingels von BIG wird durch seine Stadt Kopenhagen führen, Anne Lacaton durch ihre Stadt Paris, und vielleicht sogar eines Tages Zaha Hadid durch ihre Stadt London. Geht alles nach Plan, läuft Meine Stadt 2013 auch in ORF 3. Arte, Sonntag, 14.55 Uhr

Der Standard, Fr., 2012.08.31

29. August 2012Wojciech Czaja
Der Standard

David Chipperfield: Baumeister des Understatement

Aus dem Blitzlichtgewitter hält sich der Direktor der Architektur-Biennale heraus, seine Bauwerke weisen eine unaufgeregte Schönheit auf.

Aus dem Blitzlichtgewitter hält sich der Direktor der Architektur-Biennale heraus, seine Bauwerke weisen eine unaufgeregte Schönheit auf.

Kein anderer Architekt von der Insel verkörpert das britische Understatement so überzeugend wie er. Aus dem Blitzlichtgewitter hält er sich her aus, sein Auftreten ist zurückhaltend, und seine Bauwerke weisen eine dermaßen unaufgeregte Schönheit auf, dass sie oft erst beim dritten Hinsehen ins Auge stechen. Die Rede ist von David Chipperfield (59).

Zu seinen bekanntesten Bauten der letzten Jahre zählen das Neue Museum auf der Museumsinsel in Berlin (2009), das Kaufhaus Tyrol in Innsbruck (2010) und das Kaufhaus Peek & Cloppenburg in der Kärntner Straße in Wien (2011). Das nächste Wiener Projekt ist in Bau: Für den Hotelbetreiber Falkensteiner baut Chipperfield derzeit ein Vier-Sterne-Haus am Margaretengürtel. Die Eröffnung ist für nächstes Jahr geplant.

Vielen ist seine Architektur zu klobig, zu massiv, zu schwer in Kalkstein gemeißelt. Doch jetzt taucht der kühle Brite aus seiner strengen Gestaltungskammer auf und attackiert die großen Stars. Als Direktor der 13. Internationalen Architektur-Biennale in Venedig, die heute, Mittwoch, eröffnet wird, erklärte er: „Die meisten Architekten sind arrogant und überheblich. Daher will ich auf der diesjährigen Biennale das Starsystem in Frage stellen. Ich will dem Genie ein bisschen Raum wegnehmen.“

Doch die Biennale ist und bleibt ein Schauplatz der Eitelkeiten - sehr zum Verdruss des weißhaarigen Direktors, der sich eher dem Einfachen und Bodenständigen verbunden fühlt. „Je älter ich werden, desto stärker merke ich, wie sehr mich meine Kindheit geprägt hat“, sagte er kürzlich in einem Interview. Aufgewachsen auf einem Bauernhof in der Grafschaft Devon, half er seinem Vater, Ferienwohnungen im eigenen Gut umzubauen. David riss den Zeichenstift an sich, studierte Architektur an der Kingston University sowie an der weltberühmten Architectural Association (AA) und unterhält heute Büros mit insgesamt mehr als 200 Mitarbeitern in London, Berlin, Mailand und Schanghai.

Nach vielen realisierten Luxusboutiquen, Museumsbauten und Privathäusern sowie einer kuratierten Nabelschau in Venedig fragt man sich: What will be next? „Sehen Sie dieses Hemd, das ich heute trage? Der Stoff ist zu transparent, der Kragen passt nicht, die Ärmel sind zu lang, die Manschetten zu steif und die Knöpfe nicht schön. Eine Katastrophe!“ Wieder einmal Understatement. „Eines Tages will ich einfach nur ein schönes, weißes Hemd entwerfen.“

Der Standard, Mi., 2012.08.29



verknüpfte Akteure
Chipperfield David



verknüpfte Beiträge
Architektur-Biennale Venedig

28. August 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Verschlüsselungszeremonien im digitalen Raum

Die Architektur-Biennale in Venedig, die am Mittwoch eröffnet wird, widmet sich dem „Common Ground“ - dem Raum, der uns alle angeht

Die Architektur-Biennale in Venedig, die am Mittwoch eröffnet wird, widmet sich dem „Common Ground“ - dem Raum, der uns alle angeht

Die meisten Länder haben die Botschaft begriffen. Einige scrollen sich ins Abseits.

Überraschung: Die Architekten dieser Welt haben die iPads, Tabloids und QR-Codes für sich entdeckt. Ein auffällig großer Teil der 13. Internationalen Architektur-Biennale in Venedig, die morgen, Mittwoch, offiziell eröffnet wird, greift auf diese praktischen technologischen Errungenschaften zurück. Da wird gescannt, geswyped und gescrollt bis zum Daumenkatarrh. Manche Beiträge verwehren sich überhaupt der Realität. Sie bleiben virtuell.

Russland ist so ein Beispiel. Im Untergeschoß ihres Pavillons stellt Kurator Sergej Tschoban geheime Forschungsgelände und nicht öffentlich zugängliche Wissenschaftsstädte aus der Zeit des Kalten Krieges aus. Bis heute sind diese Orte - dargestellt anhand von Schwarz-Weiß-Fotos - blinde Flecken auf der Landkarte.

Dem gegenüber präsentiert Tschoban das Moskauer Stadterweiterungsprojekt Skolkovo. Die neue Forschungsstadt, eine Art russisches Silicon Valley, befindet sich derzeit in Bau und ist das Prestigeprojekt Russlands schlechthin. Jedoch: Man sieht nichts. Der gesamte Pavillon besteht aus hunderten quadratischen QR-Codes, die erst mit dem Tabloid fotografiert werden müssen und deren Inhalte sich nach dem Scannen schließlich auf dem Touchscreen offenbaren. Das Ganze erinnert an den Science-Fiction-Horrorfilm Cube (1997).

„Skolkovo wird eine offene, transparente, freundliche und einladende Science-Metropole sein, eine Art öffentliche iCity“, erklärt Tschoban im Standard-Interview. Der PR-Ton ist unüberhörbar. „Und anders als die geheimen Wissenschaftsterritorien der Vergangenheit wird Skolkovo für jeden frei zugänglich sein.“

Davon ist nicht viel zu merken, denn mehr als über die Offenheit präsentiert sich Russland über das Prinzip des Ausschlusses. Keine Technik? Kein Inhalt. Das Generalmotto „Common Ground“, das Biennale-Direktor David Chipperfield wie einen Schleier sorgfältig über die insgesamt 55 Länderbeiträge und 58 Kunstprojekte im Arsenale und in den Giardini legte, sucht man hier vergeblich.

Auch andernorts spielt die Technik eine wichtige Rolle. Das Projekt Gateway von Norman Foster, Carlos Carcas und Charles Sandison projiziert mehr oder wenige bekannte Bauwerke sogenannter Stararchitekten an die Wände und verdeutlicht mit der passenden Geräuschkulisse beziehungsweise mit einer entsprechend dramatischen musikalischen Untermalung, wie sich Architektur durch ihre Nutzung verändert. Ja, eh. Und immer wieder QR-Codes zu Scannen.

Mensch und Raum

Unter den technikaffinen Beiträgen ist der österreichische Pavillon heuer die einzige große positive Ausnahme. Nach vielen Jahren ist das Josef-Hoffmann-Haus endlich wieder einen Ausflug wert. Kurator Arno Ritter und Architekt Wolfgang Tschapeller spielen in ihrer Installation hands have no tears to flow..., für die das BMUKK 400.000 Euro zur Verfügung stellte (siehe Seite 1) mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Raum.

Zu diesem Zweck wurden 32 Personen mit jeweils rund vier Millionen Punktdaten dreidimensional vermessen und in Bewegung gesetzt. Die animierten Figuren gehen, tanzen und kriechen an den Wänden des Innenraums. Zwei dieser Figuren sind interaktiv: Sie nehmen die Bewegungen der Besucher auf und treten auf diese Weise - zumindest mit den besonders Aufmerksamen unter ihnen - in Kontakt. „Wir haben bei unserer Arbeit gemerkt, dass die Figuren eigentlich sehr ähnlich konstruiert sind wie Räume“, erklärt Ritter. „Für die Zukunft lassen sich daraus durchaus Schlüsse für das Verhältnis von Raum und Körper ziehen.“ Architekt Tschapeller formuliert es noch etwas konkreter: „Ich denke, dass wir unsere Räume in Zukunft näher am menschlichen Körper entwerfen werden. Damit könnte das Subjekt mehr in den viel diskutierten Mittelpunkt der Architektur rücken.“

Dieser Mittelpunkt schließlich ist es, der die Biennale unter Schirmherrschaft von Chipperfield so spannend macht - von wenigen Selbstbeweihräucherungs-Aktionen von Zaha Hadid, Herzog & de Meuron & Co einmal abgesehen. Die interessanten Fragen stellen heuer definitiv Chile, Bahrain, Japan und Dänemark. Sie alle interpretieren den „Common Ground“ nicht als gebaute Architektur, also als künstliche Landschaft - sondern als natürliche.

Chile schickt seine Architekten in die Salzwüste, Bahrain befasst sich mit dem medialen Bild seiner Landschaft, die sich in Form von Hintergrundbildern auf BBC und CNN manifestiert, Japans Kommissär Toyo Ito denkt über billige und intelligente Wiederaufbaumöglichkeiten jener Gegenden nach, die 2011 vom Tsunami in Mitleidenschaft gezogen wurden, und Dänemark widmet sich dem öffentlichen Freiraum auf Grönland, Strategien inklusive. Der Schutz dieses architektonischen und klimatisch wichtigen Raumes geht uns alle an. Diese Message sitzt. Auch ohne Smartphone und Verschlüsselungszeremonie.

Der Standard, Di., 2012.08.28



verknüpfte Beiträge
Architektur-Biennale Venedig

25. August 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Einstürzende Parkplätze

Wir parken unsere Städte mit Autos voll. Nicht gut. Forscher und Investoren sinnieren bereits - die Lösungsvorschläge sind sehr unterschiedlich.

Wir parken unsere Städte mit Autos voll. Nicht gut. Forscher und Investoren sinnieren bereits - die Lösungsvorschläge sind sehr unterschiedlich.

„Im Anfang waren das Benzin und der Vergaser. Dann schuf Gott den Motor und die Karosserie, die Hu-pe und das Verkehrslicht. Dann betrachtete er sein Werk und sah, dass es nicht genug war. Darum schuf er noch das Halteverbot und den Verkehrspolizisten, und als dies alles geschaffen war, stieg Satan aus der Hölle empor und schuf die Parkplätze.“

Keine andere technische Errungenschaft beeinflusste die Stadt des 20. Jahrhunderts nachhaltiger und dramatischer als das Automobil. Der israelische Schriftsteller und Satiriker Ephraim Kishon hatte mit seiner Aussage schon recht: Rund 20 Prozent der versiegelten Straßenfläche Wiens, um nur ein Beispiel zu nennen, sind dem parkenden Auto gewidmet. In einigen Gassen und Straßen, erklärt Helmut Hiess, Verkehrsplaner bei Rosinak & Partner, macht der Parkraum sogar 62 Prozent aus.

Und Bettina Urbanek, Referentin für urbane Mobilität beim Verkehrsclub Österreich (VCÖ), rechnet vor: „Die Autos mit Wiener Kennzeichen nehmen eine Parkfläche von rund 8,4 Quadratkilometern ein. Das entspricht der Gesamtfläche der Bezirke vier bis acht. Zählt man die täglich einpendelnden Autos hinzu, dann könnte man den neunten Bezirk auch noch komplett zuparken.“

Verkehrsplaner, Forscher und Investoren wollen der Verparkung der Stadt vehement entgegenwirken. Und jeder tut's auf seine Weise. Das Berliner Unternehmen CarLoft ließ sich vor einigen Jahren ein Modell patentieren, mit dem das Auto per Lastenlift direkt vor die Wohnungstür gehoben werden kann. Was sich anhört wie eine Sci-Fi-Vision aus Blade Runner-Zeiten, ist bereits Realität. Das erste Exempel gebauter Utopie steht in Berlin-Kreuzberg und hört auf den Namen Paul-Lincke-Hof. Anrainer brachten ihren Widerstand zum Ausdruck und begegneten dem Wohnhaus mit Farbbeuteln und Steinschleudern.

„Alle Metropolen leiden unter demselben Problem“, meint Manfred Dick vom Berliner Büro United Architects. „Millionen von Autos verstopfen unsere Städte. Es herrscht Parkplatznot. Warum also nicht das Auto einfach mit nach Hause nehmen?“ Dabei, versichert der Architekt, sei der Lift für den motorisierten Liebling nicht einmal teurer als der Bau einer Tiefgarage - schon gar nicht, wenn man mit Grundwasser oder gar mit schwierigen Fundamentierungsarbeiten zu kämpfen habe. Rund 30.000 Euro kostet die Errichtung eines Stellplatzes auf der sogenannten „Car-Loggia“.

Im Detail: Man fährt mit dem Auto direkt in den Lastenlift, 20 bis 25 Sekunden später ist man im, sagen wir, fünften Stock angekommen und kann von dort direkt vors Wohnzimmer rollen. Der gesamte Parkvorgang dauert drei Minuten. Und es gibt sogar eine Mobilitätsgarantie: Im Fall eines Komplettausfalls des Lifts werden Taxi oder Leihwagen zur Verfügung gestellt.

„Natürlich fühlen sich auch die Autoliebhaber von diesem Projekt angezogen“, erläutert CarLoft-Geschäftsführer Johannes Kauka auf Anfrage des STANDARD. „Aber das ist nur ein kleiner Teil des Zielpublikums.“ In erster Linie richte sich CarLoft nämlich an kinderreiche, Hunde besitzende und Mineralwasserkisten schleppende Familien beziehungsweise an betagte und gebrechliche Personen, die bequem und barrierefrei in die Wohnung gelangen wollen. Das erklärt auch, warum auf den Marketingfotos 400-PS-Maseratis zu sehen sind.

Berlin war nur der erste Streich. Ein CarLoft-Wohnhaus in Karlsruhe ist bereits in Bau, und in Düsseldorf-Heerdt bemüht man sich derzeit, das Wohnbauprojekt „Papillon“ zu vermarkten. Dabei mutiert ein Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg durch Umbau und Aufstockung - wie der Website der 741 Projektentwicklung GmbH zu entnehmen ist - von einer unauffälligen grauen Raupe zu einem hübschen, filigranen Schmetterling. Mittels Diamantseilsäge werden in die bis zu 2,30 Meter dicken Wände Löcher für Lift und Loggia geschnitten.

„Mit einem Autolift kann man zehn bis 20 Prozent höhere Verkaufspreise erzielen als mit einem Wohnhaus gleicher Qualität ohne Autolift, denn die Menschen sehnen sich nach Einzigartigkeit“, meint CarLoft-Chef Kauka, der in den kommenden Jahren auch in Wien ein solches Projekt realisieren will. Positiver Nebeneffekt: „Langfristig kann man mit dem CarLoft den ruhenden Verkehr reduzieren. Ganz wegkriegen wird man ihn nie, denn eines ist sicher: Die individuelle Mobilität wird immer ein Thema bleiben.“

Doch genau das ist Forschern und Fachplanern ein Gräuel. „Die Mobilität hat sich in den vergangenen 100 Jahren stark verändert, aber die Art und Weise, wie wir unsere Autos parken, ist immer noch die gleiche“, sagt Rachel Smith. Erst unlängst hielt die Stadtplanerin aus Queensland, Australien, am BMW Guggenheim Lab in Berlin einen Workshop zum Thema ab: Wie kann man das Auto aus der Stadt verbannen? Und welche neuen Möglichkeiten würden sich dadurch ergeben?

Vom Parkplatz zum Park-Platz

Prompt erklärte sie den 28. Juni zum „Parking Day“. Dieser frönte allerdings nicht dem parkenden Auto, sondern der durch seinen Verbleib frei werdenden Straßenfläche. Gemeinsam mit den Teilnehmern wurde rund um das Lab Gemüse angebaut, Kaffee geröstet, gepicknickt, gespielt und lebensgroß Vier gewinnt gespielt. Damit wurde der Parkplatz zum Park-Platz. Smith: „Wir sprechen die ganze Zeit von Elektromobilität und Carsharing. Doch um das zu ermöglichen, müssen wir erstens die nötige Infrastruktur schaffen und zweitens die Vorschriften und Gesetze verschärfen. Ansonsten passiert gar nichts.“

Ein möglicher Schritt in diese Richtung könnte schon demnächst in Hongkong, San Francisco, Barcelona und im schwedischen Malmö gesetzt werden. In diesen Städten nämlich führten Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) Machbarkeitsstudien für die Implementierung von „Mobility on demand“ durch. Das Carsharing-System aus dem Forschungslabor hat zwei Besonderheiten:

Zum einen soll die Preisgestaltung dynamisch erfolgen. Das heißt, die Mietpreise richten sich nach Angebot und Nachfrage an der jeweiligen Abhol- und Abgabestation. Dadurch soll die gleichmäßige Verteilung der Autos besser gesteuert werden. Zum anderen wurde dafür eigens ein klappbares Mini-Auto entwickelt, das im geparkten Zustand nur eineinhalb Meter lang ist.

Sackgasse: das Produkt Auto

„Die meisten Menschen denken an das Auto als Produkt und nicht als Service“, sagt Ryan C. C. Chin, Forschungsleiter am MIT Media Lab, Department „Changing Places“. Diesen Schalter im Kopf gilt es umzulegen: „Nachhaltig werden wir das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung nur dann ändern können, wenn wir den Eigentumsgedanken unattraktiver und die Dienstleistung gleichzeitig attraktiver machen. Und was ist attraktiver als ein kleines Auto, das wenig Platz braucht, wendig durch die Stadt fährt und noch dazu billig zu mieten ist?“

Der erste Prototyp ist bereits gebaut. Das spanische Unternehmen Hiriko führt mit seinem ersten, wenige Monate alten Klappwinzling derzeit Fahrtests durch. Die Passantenblicke in der baskischen Hauptstadt Vitoria-Gasteiz - zu sehen auf Youtube - lassen auf eine schwungvolle Zukunft schließen. Auf eine Zukunft, in der der Großteil des öffentlichen Freiraums nicht dem Auto, sondern womöglich wieder dem Menschen zur Verfügung gestellt werden kann. Geht es nach Kent Larson, MIT-Forschungsleiter von „Changing Places“, könnte Hiriko in drei bis fünf Jahren in Serie gehen.

Bis es so weit ist, kann man politisch nachhelfen. Berlin hat die Pkw-Stellplatzregelung bei Neubauten vor einigen Jahren abgeschafft und stattdessen eine Fahrrad-Stellplatzregelung eingeführt. Demnach müssen Wohn- und Bürobauten in der deutschen Bundeshauptstadt über eine bestimmte Anzahl von Drahtesel-Parkplätzen verfügen. Und in Kopenhagen hat die Stadtregierung begonnen, pro Jahr 300 Pkw-Parkplätze zu eliminieren und durch Gehsteige und Fußgängerzonen zu ersetzen. Die Zukunft der Städte sollte man nicht allein die Investoren schreiben lassen.

Der Standard, Sa., 2012.08.25

18. August 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Der Raum zwischen Genie und Bastard

Am 29. August startet die Architektur-Biennale in Venedig. Direktor David Chipperfield nutzt die Gelegenheit und will das Starsystem aushebeln.

Am 29. August startet die Architektur-Biennale in Venedig. Direktor David Chipperfield nutzt die Gelegenheit und will das Starsystem aushebeln.

STANDARD: Sie wurden gebeten, die Direktion der 13. Architektur-Biennale 2012 zu übernehmen. Was war Ihre erste Reaktion?

Chipperfield: Ich war sehr überrascht. Es ist nicht leicht, so eine große Aufgabe in den beruflichen Alltag zu integrieren. Ich glaube, da haben es hauptberufliche Kuratoren schon leichter. Wir haben im Büro lange darüber diskutiert, doch schließlich dachte ich mir, dass das eine schöne Herausforderung wäre. Und so habe ich gesagt: Ja, ich mach's.

STANDARD: Warum gerade David Chipperfield?

Chipperfield: Da kann ich nur raten. Die letzten Ausstellungen in Venedig waren oft recht künstlerisch und kuratorisch geprägt. Vielleicht wollte man einfach wieder mal „back to the roots“, zurück zur Architektur. Da bietet sich ein praktizierender Architekt wie ich durchaus an. Doch vor allem glaube ich, dass ich ein guter Gegenpart zur letzten Biennale-Direktorin Kazuyo Sejima bin. Sie ist die Avantgardistin, ich bin der Bodenständige.

STANDARD: Das von Ihnen gewählte Thema für die Biennale lautet „Common Ground“. Das heißt?

Chipperfield: Common Ground ist für mich der Ort, an dem viele verschiedene Positionen, Charaktere und Ideen aufeinandertreffen. Im Deutschen gibt es dafür einen sehr schönen Begriff: Allmende. Ich würde den Common Ground daher am ehesten als eine Art „mentale Allmende“ übersetzen.

STANDARD: Und was soll auf dieser mentalen Allmende passieren?

Chipperfield: Ich will das Starsystem infrage stellen. Ich will den ewigen Wettbewerb ausblenden. Ich will dem Genie ein bisschen Raum wegnehmen. Und ich will wieder zurück zur Gemeinschaft. Wissen Sie, von den meisten Menschen wird Architektur immer noch missverstanden. Sie stellen sich darunter die auffälligen, kostspieligen Gebäude der sogenannten Stararchitekten vor, die das Image und den optischen Effekt jedem funktionalen Nutzen vorziehen. Und sie halten Architekten für urbane Dekorateure!

STANDARD: Ist genau das nicht oft der Wunsch der Vorstandsebenen und Chefetagen?

Chipperfield: In den großen Unternehmen wird Architektur ganz nach dem Motto abgewickelt: Ein Star muss her! Sollten wir uns einen Frank Gehry leisten? Oder kaufen wir eine Zaha Hadid? Oder bitten wir doch lieber Herzog & de Meuron um einen Entwurf? Und die Lifestyle-Medien unterstützen dieses Bild auch noch. Sie interpretieren die moderne, zeitgenössische Architektur als eine Summe autobiografischer Tendenzen. Ich halte diesen Ansatz für komplett falsch.

STANDARD: Laut Lifestyle-Medien sind Sie doch auch ein Star.

Chipperfield: Immer dieser Medienjargon!

STANDARD: Die meisten Menschen haben Angst vor Architekten. Woher kommt das?

Chipperfield: Sie haben Angst vor ihnen, weil die meisten Architekten arrogant und überheblich sind. Sie erarbeiten sich ihre Position durch Widerstand und Hartnäckigkeit. Das sind nicht gerade die besten Voraussetzungen für Beliebtheit und Akzeptanz.

STANDARD: Wo würden Sie sich selbst positionieren?

Chipperfield: Sie meinen auf der Arroganz-Skala? Ich muss jeden Tag kämpfen. Ich kämpfe um Aufträge, ich kämpfe um Fairness, und ich kämpfe um Qualität. Mag schon sein, dass dieser Kampf gegen Auftraggeber und Behörden arrogant rüberkommt. Mag schon sein, dass ich dadurch manchmal wie ein „fighting bastard“ wirke. Damit kann ich leben.

STANDARD: Auf einer Skala von 0 bis 10?

Chipperfield: Ich würde sagen: 3 im Umgang mit der Öffentlichkeit, 7 im Umgang mit Investoren.

STANDARD: Wie wollen Sie erreichen, dass sich die Architekten an Ihre Vorgabe „Common Ground“ halten und nicht wieder ihre eigene Show abziehen wie so oft?

Chipperfield: Mit Optimismus. Die Vorgabe ist ganz klar.

STANDARD: Konkret: Was werden wir sehen?

Chipperfield: Ich möchte noch keine Details verraten. Bis zur Eröffnung sind es noch zehn Tage. So viel Geduld muss schon sein.

STANDARD: Inwiefern tragen Sie als Architekt selbst dazu bei, einen Common Ground in der Bevölkerung zu schaffen?

Chipperfield: Ich bin ein Verfechter einer Architektur für Menschen. Ich versuche, in all meinen Projekten die soziale Komponente mitzudenken. Aber vielleicht bin ich ja Idealist.

STANDARD: Sind Sie das?

Chipperfield: Die Art und Weise, wie wir heute Städte bauen, ist eine Ansammlung von vielen einzelnen Beiträgen. Und den meisten Beiträgen sieht man an, dass sie aus einem Impetus an Gewinnproduktion und Geldgier heraus entstanden sind. Die meisten Bauwerke in der Stadt sind nichts anderes als Geldmaschinen. Jedes Mal, wenn ich mich in meiner Heimatstadt London umschaue, bin ich zutiefst schockiert. So kann Stadt jedenfalls nicht funktionieren. Das muss sich ändern.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Chipperfield: Wir brauchen einen intellektuellen Überbau. Wir brauchen Protagonisten, die das große Ganze im Blickfeld behalten. Und wir müssen es endlich schaffen, die Stadt zwischen den Häusern mitzudenken - und nicht nur von Grundstücksgrenze zu Grundstücksgrenze. Die Wahrheit ist: Der öffentliche Freiraum, also die Straßen, Plätze, Parks und Gärten - mit einem Wort: die Stadt - sollte jedem gehören. Doch in den meisten Städten hat man das Gefühl, dass sie niemandem gehört.

STANDARD: Können Sie auch ein positives Beispiel nennen?

Chipperfield: Wissen Sie, die Projektentwicklung im angelsächsischen Raum ist stark von Investoren geprägt. Das ist eine Tatsache. Daher bin ich der tiefsten Überzeugung, dass der freie Markt Führung braucht. Man muss den Projektentwicklern und Investoren eine gewisse Verantwortung aufbürden. Es gibt in London seit kurzer Zeit recht strenge Vorgaben für Neubauentwicklungen. Zum Beispiel: Wenn ein Investor ein teures Spekulationsprojekt mit Wohnungen und Büros errichtet, dann müssen 35 Prozent davon dem geförderten Wohnbau zugutekommen. Das sorgt für eine gewisse Durchmischung in der Stadt. Oder noch besser: Berlin! Ein wunderbarer Freiraum, der einfach in Anspruch genommen wurde, ist der ehemalige Flughafen Tempelhof. Das Areal liegt mitten in der Stadt. Und während die Stadt Millionen von Euro ausgibt, um Studien für mögliche Nachnutzungen in Auftrag zu geben, spazieren die Bewohner durch die Büsche und nutzen das Flugfeld und den Rasen als Park. Das gefällt mir.

STANDARD: Das heißt, dass öffentlicher Freiraum nicht erst teuer gestaltet werden muss?

Chipperfield: That's it! Stadt und städtische Qualität - das ist in erster Linie das Erkennen und Nutzen von Potenzialen. In Berlin ist man da relativ cool. Die meisten Städte aber praktizieren lieber eine Kultur des Verbietens als eine des Ermöglichens. Das ist ein mentaler Knoten in den Behörden. Daran kann auch ein Architekt nichts ändern. Bestenfalls nur die Bevölkerung als Gruppe.

STANDARD: Und eine Biennale in Venedig?

Chipperfield: Sie sind ja ein noch größerer Idealist als ich! Nein, das glaube ich ehrlich gesagt nicht. Dazu ist die Architektur-Biennale per se zu elitär und zu kulturaffin. Aber sie kann immerhin Alternativen aufzeigen.

STANDARD: Ihr größter Wunsch als Direktor?

Chipperfield: Ich hoffe, dass es mir gelingen wird, ein gewisses Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Ich will keine Selbstbeweihräucherung. Ich will keine Architekten, die durch die Biennale gehen und sich danach denken, wie toll sie sind. Alles - nur nicht schon wieder die Klischees und Ängste der Bevölkerung bestärken! Ich will die Besucher zum Nachdenken anregen und ihnen auf den Weg mitgeben: Common Ground - das sind wir alle.

David Chipperfield (58) ist Architekt in London. Er plante u. a. das Neue Museum in Berlin, das Kaufhaus Tyrol in Innsbruck und das Kaufhaus Peek & Cloppenburg in der Kärntner Straße in Wien. Anfang des Jahres wurde er zum Direktor der 13. Architektur-Biennale in Venedig ernannt.

Die Biennale 2012: Mit Kazuyo Sejima, Direktorin der Architektur-Biennale 2010, hat die regelmäßige venezianische Nabelschau der Stars und Sternchen ein Ende genommen. Der diesjährige Biennale-Direktor David Chipperfield setzt diese Zurückhaltung fort. Unter dem Generalmotto „Common Ground“ nehmen insgesamt 55 Nationen teil. Angola, die Republik Kosovo, Kuwait, Peru und die Türkei feiern in Venedig heuer ihr Debüt. Darüber hinaus präsentiert Chipperfield eine Ausstellung mit 60 Positionen von Architekten, Künstlern und Fotografen. Eröffnung am 29. August. Zu sehen bis 25. November. (woj)

Der Standard, Sa., 2012.08.18



verknüpfte Akteure
Chipperfield David



verknüpfte Beiträge
Architektur-Biennale Venedig

11. August 2012Wojciech Czaja
Der Standard

„Bloß nicht too much Schlagobers“

Der New Yorker Architekt Peter Eisenman wird heute 80 Jahre alt - ein Gespräch über Baseball, Richard Wagner und die Fremdheit im eigenen Land.

Der New Yorker Architekt Peter Eisenman wird heute 80 Jahre alt - ein Gespräch über Baseball, Richard Wagner und die Fremdheit im eigenen Land.

Ich fühle mich in den USA wie ein Alien. Es gibt keine Öffentlichkeit, keine kritische Matrix, und alles, was zählt, ist Geld, Geld, Geld. Dieses Land geht einfach nicht in meinen Kopf hinein.

STANDARD: Man kennt Sie mit einer roten Fliege um den Hals. Wo ist Ihre Fliege heute?

Eisenman: Mensch, es ist Sommer! Und es ist heiß! An solchen „casual days“ wie heute, wo ich die meiste Zeit im Büro verbringe, lege ich die Fliege ab. Da trage ich alte Sneakers, ein Hemd und khaki Hosen. Ich habe beschlossen, mich nur noch zu besonderen Anlässen feierlich und elegant zu kleiden. Mit dem Alter wird man cooler und gelassener.

STANDARD: Zum Achtziger ...

Eisenman: Zur Feier heute Abend, das kann ich Ihnen versprechen, werde ich eine Fliege tragen.

STANDARD: Warum gerade Fliege?

Eisenman: Beim Zeichnen ist die Krawatte immer im Weg. Sie wird schmutzig und verwischt die frische Tuschezeichnung auf dem Plan. Viele Architekten, die ich noch persönlich kannte, haben eine Fliege getragen, zum Beispiel Walter Gropius oder Le Corbusier. Meine Fliege ist, wenn Sie so wollen, eine Art Reverenz. Außerdem sagt man im Englischen, dass man Menschen mit Fliegen nichts abkaufen sollte, weil sie verrückt sind. Das fügt sich ganz gut. Man wird niemals belästigt.

STANDARD: Zeichnen Sie heute immer noch mit Tusche?

Eisenman: Ich erzähle Ihnen jetzt einmal was, und ich bitte Sie, das auch wirklich kundzutun, denn die Dinge entwickeln sich in eine völlig falsche Richtung. Auf dem Computer kann man nicht konzeptionell arbeiten, das ist unmöglich. Dazu braucht man Stift und Papier. Man muss die Bewegung in der Hand spüren, man muss das Entstehen physisch erleben.

STANDARD: Die meisten bei Ihnen im Büro arbeiten am Computer.

Eisenman: In diesem Büro wird der Computer nur zum Planzeichnen verwendet. Ich gebe zu, Tuschezeichnungen haben ihre Nachteile. Man ist langsamer, man hat immer nur mit einem Unikat zu tun, man kann Fehler viel schwieriger ausbessern, und man kann Tuschezeichnungen nicht per E-Mail verschicken.

STANDARD: Wo fühlen Sie sich eher zu Hause? Vergangenheit oder Zukunft?

Eisenman: Vergangenheit. Ich bin traditionell veranlagt. Ich reise lieber nach Europa als nach Dubai oder Schanghai. Ich liebe die europäischen Städte, ich gehe gerne durch Wien spazieren, beim Fußball halte ich zu Italien, Spanien und Deutschland, und ich bin immer wieder in Bayreuth, um mir ein Stück von Richard Wagner anzusehen. Ich bin der Meinung, jeder sollte zumindest einmal im Leben den Ring des Nibelungen gesehen haben.

STANDARD: Wie oft haben Sie den „Ring des Nibelungen“ schon gesehen?

Eisenman: Weiß nicht. Sechs- oder siebenmal.

STANDARD: 2005 wurde in Berlin das von Ihnen geplante Denkmal für die ermordeten Juden Europas eröffnet. Fühlen Sie sich der deutschen Geschichte nah?

Eisenman: Ja. Vor allem interessiere ich mich für die deutsche Geschichte seit 1919. Deutschland ist für mich eines der Länder, das Inbegriff einer fair gelebten, geförderten und kulturell bereichernden Demokratie ist. Ich kann bis heute nicht glauben, dass diese wertvolle Eigenschaft 1933 von einem Tag auf den anderen verlorengegangen ist. So gesehen denke ich, dass das Holocaust-Denkmal in Berlin mit Sicherheit eines meiner wichtigsten Projekte ist.

STANDARD: Hat sich seit Berlin etwas für Sie verändert?

Eisenman: Das war ein wichtiges Projekt für mich, und ich war sehr erfolgreich damit. Die Menschen sind von diesem Denkmal fasziniert. Manchmal bekomme ich sogar Post von Touristen, die dort waren und mir schreiben, wie sehr sie das Projekt bewegt hat.

STANDARD: Könnten Sie sich vorstellen, in Europa zu leben?

Eisenman: Und wie! Am liebsten würde ich in London, Berlin oder Mailand leben. Überall, bloß nicht in Wien. Das ist mir zu schwer, zu hermetisch und zu unbeweglich. Irgendwie too much Schlagobers. Bloß nicht!

STANDARD: Und wie lebt es sich in New York?

Eisenman: Sehr fremd. Und dabei ist New York City ja noch ganz in Ordnung! Fragen Sie mich doch einmal, wie ich mich in den USA fühle! Wie ein Alien! Ich verstehe dieses Land nicht. Dieses Land geht einfach nicht in meinen Kopf hinein.

STANDARD: Was ist so fremd daran?

Eisenman: In den USA gibt es keine Öffentlichkeit. Das ganze Land wird von der Privatwirtschaft regiert. Es gibt keine kritische Matrix, keine laute Stimme in den Tageszeitungen und kein Interesse für das soziale Zusammenleben, für die Umwelt, für das viele feine Rundherum, das einen Ort und eine Kultur ausmacht. Alles, was zählt, ist Geld, Geld, Geld.

STANDARD: Beim Bauen spielt Geld eine wichtige Rolle.

Eisenman: Ja, aber die Immobilienwirtschaft regiert das ganze Land. Die soziale Qualität ist de facto nicht vorhanden. Es ist zum Heulen. Schauen Sie sich nur einmal um! Wir haben viele wunderbare Architekten in den USA, vor allem hier in New York. Es gibt Daniel Libeskind, es gibt Diller & Scofidio, und es gab Raimund Abraham. Aber die Wahrheit ist: Die wirklich guten New Yorker Architekten bauen hierzulande nur sehr wenig.

STANDARD: Sie haben in den USA bisher auch nur wenig realisiert.

Eisenman: Die Amerikaner mögen mich nicht. Irgendwas an meinen Gebäuden ist ihnen zu abstrakt und zu einschüchternd. Ich glaube, ich bin ihnen zu verkopft.

STANDARD: Stattdessen bauen Sie in Europa.

Eisenman: Das kann man so nicht sagen.

STANDARD: Das größte Projekt Ihrer Laufbahn ist das Kulturzentrum in Santiago de Compostela.

Eisenman: Ja, das ist ein sehr umfangreiches Projekt. Die Cidade da Cultura in Santiago besteht aus dem Galizischen Museum, einer Bibliothek, einem Zeitungsarchiv und einem Bürogebäude. Das Internationale Kunstzentrum und das Theater- und Opernhaus müssen noch errichtet werden. In einem Artikel in El País war letztes Jahr zu lesen, dass mich dieses Projekt eines Tages wahrscheinlich umbringen wird. Doch dafür, hieß es darin, werde der Architekt mit einem Lächeln auf seinen Lippen sterben.

STANDARD: Und? Wird er das?

Eisenman: Oh ja, das wird er! Das ist ein sehr geerdetes Projekt.

STANDARD: Ursprünglich war das Projekt mit 108 Millionen Euro veranschlagt. Mittlerweile liegen die Baukosten bei 415 Millionen Euro. Was ist passiert?

Eisenman: Das ganze Projekt ist im Laufe der Zeit auf die fünffache Größe angewachsen. Die Oper war ursprünglich für 500 Zuschauer konzipiert, heute stehen wir bei 1800 Sitzplätzen. Die Bibliothek war zu Beginn für 250.000 Bücher ausgelegt. Eines Tages kam dann der Wunsch des Kulturministers, es auf eine Million Bücher aufzustocken. Und so weiter. Das sind die Entscheidungen der Auftraggeber. Architekten treffen solche Entscheidungen nicht.

STANDARD: Und das rechtfertigt eine Verdreifachung der Kosten?

Eisenman: Santiago de Compostela ist ein komplexes und wunderbares Projekt mit einer unglaublichen Detailgenauigkeit. Jedes einzelne Gebäude wurde unter Budget errichtet. Auf den Quadratmeter gerechnet, ist es eines der billigsten Museen Spaniens. Wir bauen um 2600 Euro pro Quadratmeter! Der neue Prado von Rafael Moneo hat 6000 Euro gekostet. Und Santiago Calatrava baut, wie wir alle wissen, noch teurer.

STANDARD: Im Juni wurde das Projekt gestoppt. 2015 soll erst wieder weitergebaut werden.

Eisenman: Spanien befindet sich in einer Krise. Die Errichtung von Infrastruktur ist zwar wichtig, aber bei einer Arbeitslosigkeit von 25 Prozent gibt es aus politischer Sicht wichtigere Sachen. Von der Oper stehen jetzt einmal das Fundament und ein Teil vom ersten Stock. Das Wissenschaftsmuseum ist noch Zukunftsmusik. Ich hoffe, dass sich die Situation in Spanien erholt und dass wir bald weiterbauen können.

STANDARD: Wird die Cidade da Cultura Ihr größtes Projekt bleiben?

Eisenman: Wie viele Projekte von herausragender Bedeutung ist ein Architekt imstande, im Laufe seines Lebens zu realisieren? Bestenfalls eine Handvoll. Und wenn es nur eines ist, dann ist das schon ein großer Erfolg! Manche Architekten bauen 30, 40, 50 Projekte, alle schauen gleich aus, und keines davon ist ein ernst zu nehmender Beitrag für die Entwicklung der Architektur. Das interessiert mich nicht.

STANDARD: Wie hoch würden Sie Ihre persönliche Quote an bedeutender Architektur beziffern?

Eisenman: Zehn Prozent. Und 90 Prozent sind guter Durchschnitt.

STANDARD: Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?

Eisenman: Ich habe einen Doktortitel aus Cambridge, ich habe viel publiziert, und ich bin mittlerweile der am längsten lehrende Architekturprofessor der Welt. Ich unterrichte schon seit 1960. Und noch immer haben die Studenten Angst vor mir! Was soll ich mir denn da noch wünschen? Ich bin schon wunschlos glücklich.

STANDARD: Pläne für heute Abend?

Eisenman: Mal schauen. Ich bin ja ein riesengroßer Baseballfan und ich habe ein Saisonabo im Yankee-Stadion. Ich fühle mich dem Proletariat sehr verbunden. Ich glaube sogar, dass ich mehr über Baseball weiß als über Architektur. Manchmal setze ich mich eine Stunde vor dem Spiel auf die Tribüne, schaue auf das leere Spielfeld und beobachte, wie sich das Stadion langsam mit Besuchern füllt. Das ist wie Meditieren.

Peter Eisenman ist am 11. August 1932 in Newark, New Jersey, geboren. Er war Teil der Architektengruppe „New York Five“, die sich für die Wiederbelebung der Moderne von Le Corbusier und De Stijl engagierte. Er lehrte in Harvard und Princeton sowie an der Ohio State University. Zurzeit hat Eisenman einen Lehrstuhl an der Universität Yale inne. Sein bekanntestes Projekt ist das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin (2005).

Der Standard, Sa., 2012.08.11



verknüpfte Akteure
Eisenman Peter

07. Juli 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Show ist nicht alles

Mittelmäßige Beiträge, ein architektonisches Wow und ein Hoch auf die Regionalentwicklung: Rundgang durch die Expo 2012 in Yeosu, Südkorea.

Mittelmäßige Beiträge, ein architektonisches Wow und ein Hoch auf die Regionalentwicklung: Rundgang durch die Expo 2012 in Yeosu, Südkorea.

Es war ausgerechnet eine Strelitzie, besser bekannt als Paradiesvogelblume, die das österreichische Architekturbüro Soma zu diesem innovativen Entwurf inspirierte. Kommt der hungrige, sich nach Blütennektar verzehrende Kolibri angeflogen, so landet er nämlich nicht zufällig auf dem hoffnungsvoll nach oben deutenden Blütenblatt. Die Wirkung folgt sogleich: Durch das Körpergewicht des Vogels senkt sich der Hebelarm, dieser wiederum dehnt das Hochblatt auseinander, und so offenbart sich das ganze saftige Innenleben der Strelitzie.

„Wir wollten uns an der Natur ein Vorbild nehmen“, erklärt Kristina Schinegger, Chefin des Salzburger Büros Soma. „Das Prinzip der physikalischen Krafteinwirkung, die ihrerseits eine bestimmte Bewegung bewirkt, hat uns sehr fasziniert. Wir wollten diese Idee auf die Architektur übertragen.“ Biomimese nennt sich dieses Abschauen von Mutter Natur im Fachjargon.

Auf der diesjährigen Weltausstellung in Yeosu, Südkorea, kann man das Resultat biomimetischen Nachdenkens in seiner vollen Pracht bestaunen. Noch nie zuvor wurde das technische Prinzip der Druckausübung und der damit verbundenen Verformung in dieser Dimension realisiert. Auf einer Länge von fast 160 Metern kann der Ocean-&-Coast-Themenpavillon der Salzburger Architekten je nach Lust und Laune sein äußeres Erscheinungsbild ändern - und damit auch die Sonneneinstrahlung und Belichtung des Innenraums regeln.

Knallt die Sonne vom Himmel, sind die 108 Lamellen auf der Westfassade im entspannten Modus. Die Haut ist geschlossen. Sobald die Sonne aber verschwindet, wird über kleine Elektromotoren von oben und unten Druck auf die bis zu 13 Meter hohen Lamellen ausgeübt. Die Folge: Die laminierten, glasfaserverstärkten Kiemen aus Kunststoff wölben und verformen sich und klappen dadurch bis zu einem Winkel von 60 Grad auf. Und hunderte Südkoreaner klatschen begeistert in die Hände. Jedes Mal aufs Neue.

Der Themenpavillon von Soma ist der absolute Renner auf der Expo 2012. Das rund sechs Sekunden dauernde Schauspiel des Auf- und Zuklappens fasziniert nicht nur Laien. Auch die Profis sind von dieser Technologie verzückt. Das südkoreanische Architekturmagazin Space widmete der Fassade in der Juni-Ausgabe ein ganzes Dossier. Dem Nachrichtensender CNN war die neue Hightech-Haut sogar einen eigenen TV-Beitrag wert. Da darf man schon einmal über die Qualität der baulichen Ausführung hinwegsehen.

Eine technische Sensation

„Aus technischer Sicht ist diese Lamellenfassade wirklich eine Revolution“, freut sich Schinegger. „Die meisten Weltausstellungen der letzten Jahre haben sich mit Edutainment und lustigen Shows begnügt. Das Ausstellen von technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften, wie das früher öfter gemacht wurde, kommt heute meist viel zu kurz.“

36 Millionen Euro kostete der riesige Molch, der so prominent an der Wasserkante sitzt, als wäre er eben erst aus dem Urmeer herausgekrochen. Und das passt gut ins Konzept, denn das silbergraue Ding, Resultat eines internationalen Wettbewerbs 2009, ist Wahrzeichen einer Expo, die diesmal unter dem Motto „Der lebende Ozean und die Küste“ steht. „Es ist wichtig, dass die Menschen die Bedeutung der Meere für die Zukunft begreifen“, sagt Kim Keun Soo, Vizepräsident der Expo. „Wir müssen gegen den Klimawandel mit aller Kraft ankämpfen.“

Allerdings fällt der Kampf in Yeosu recht bescheiden aus. Zwar tauchen immer wieder technisch fokussierte Beiträge auf: Deutschland präsentiert ein Frühwarnsystem gegen Tsunamis, Japan widmet sich überhaupt dem Wiederaufbau von Erdbeben- und Tsunamigebieten, Norwegen zeigt Methoden umweltfreundlicher Energiegewinnung, und Frankreich philosophiert über ein Leben nach der Eisschmelze und stellt apokalyptische Wohnkonzepte auf dem Wasser vor, während zwischen Eiffelturm und Triumphbogen batteriebetriebene Hammerhaie hindurchschwimmen. Ganz nette Anregungen sind das.

Doch das Gros der 105 Länderpavillons und neun internationalen Organisationen schwingt entweder die Moralkeule oder verfällt in comicartigen Slapstick mit den beiden Expo-Maskottchen Yeony und Suny. Da spazieren Roboter durch die Hallen, da gibt es massenweise Lichtanimationen und Lasershows, da gibt es dramatische Wasserspiele zu Carmina Burana und Goldfinger. Und sogar die Polizei kommt per Jetski über die Welle geritten.

Dickes Pathos im USA-Pavillon: „Über Jahrhunderte haben die Ozeane die Menschheit geteilt“, sagt US-Außenministerin Hillary Clinton per Videobotschaft vor einem herabprasselnden Wasserfall. „Heute bieten die Ozeane eine Chance zur Zusammenarbeit.“ Bis schließlich US-Chef Barack Obama eins draufsetzt: „Als Präsident weiß ich, dass es Länder gibt, die nicht nur durch das Meer getrennt sind.“

Österreich hat sich heuer komplett ausgeklinkt. „Das Thema der diesjährigen Expo ist nicht genau für ein Binnenland wie Österreich zugeschnitten“, sagt Werner Somweber, Regionalmanager für Fernost und Ozeanien der Wirtschaftskammer Österreich. „Ich glaube, wir hätten damit nur wenige Firmen und Sponsoren interessieren können.“ Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass Südkorea für Österreich kein besonders attraktiver und bei Laune zu haltender Handelspartner ist. Zumindest nicht ein so wichtiger wie die Volksrepublik China - zur Expo in Schanghai 2010 kam Bundeskanzler Faymann noch samt Entourage angeflogen.

Nach dem Spaziergang über das 170 Hektar große Gelände ist klar: Hier geht es nicht um die Küste und schon gar nicht um den lebenden Ozean, sondern einzig und allein um eine medial wirksame Infrastrukturspritze für die am weitesten entlegene und schwächste Region Südkoreas. Während die weit entwickelte Industrienation vielerorts mit 300 km/h Hochgeschwindigkeitszüge durchs Land jagt und ganze Städte aus dem Erdboden stampft, watet man rund um Yeosu noch knöcheltief im Wasser und sät Reis.

„Für die Regierung war von Anfang an klar, dass die Expo eine große und wichtige Chance ist, um den Süden zu entwickeln“, meint Jo Seung Koo, Professor für Architektur an der Universität Busan. „Bis heute ist das die strukturschwächste Region des Landes. Es mangelt an Autobahnen, Zugtrassen, Arbeitsplätzen und Industrie. Ich könnte mir vorstellen, dass die Expo daran mittelfristig etwas ändern könnte.“

Rund 1,9 Milliarden US-Dollar (1,5 Mrd. Euro) investierte die Regierung in den Ausbau des Expo-Geländes, das früher Hafen und Industriebrache war. Einst wurden hier Küstenpoller aus Beton hergestellt, doch die letzten Jahrzehnte wurde es still und schmierig. Weitere 13 Milliarden Dollar (10,4 Mrd. Euro) butterte das Land in den Ausbau von Autobahnen und Bahntrassen für den KTX-High-Speed-Train. Brauchte man früher einen halben Tag, um von Seoul aus in die zerklüftete Inselwelt rund um Yeosu zu gelangen, sind es nun 182 Minuten. Das ist mehr als nur eine symbolische Entwicklungsspritze.

Überall wird emsig gebaut: Straßen, Radwege, Brücken, ja sogar ganze Wohnsiedlungen. Während der Ocean-&-Coast-Themenpavillon der Soma-Architekten in den Visualisierungen noch aus einer saftig grünen Hügellandschaft ragte, wird er nun von Wohnhochhäusern und Bürotürmen umzingelt. Nach Ablauf der Expo sollen die Pavillons und das Aquarium als Museen weitergenutzt werden. Und für die große Länderhalle interessiert sich bereits ein Betreiber, der die Bauten für eine Shopping- und Gastronomiemeile am Wasser nutzen will. Für Yeosu ein voller Erfolg.

Sinneswandel in Südkorea

Auf der Werteskala der Weltausstellungen heißt das: Erstmals nach vielen Jahren steht nicht das eigentliche, wohlgemerkt mittelmäßige Spektakel im Vordergrund, sondern die damit verbundene Regionalentwicklung. In den meisten Expo-Projekten wird diese große Chance ignoriert, und die ehemals attraktiven Ausstellungsareale verfallen am Ende in einen elendigen Dornröschenschlaf oder werden wieder bis aufs Fundament abgebaut. So geschehen in Hannover 2000, in Nagakute und Seto 2005 und in Schanghai 2010.

Der in Südkorea zu beobachtende Sinneswandel könnte das aus heutiger Sicht unattraktive Auslaufmodell „Expo“ langfristig auf eine andere Ebene heben. Vielleicht weilt der Erfolg dann ja länger als nur der Flügelschlag eines hungrigen Kolibris.

Der Standard, Sa., 2012.07.07

02. Juli 2012Wojciech Czaja
db

Kleine Boxen ganz gross

Der Weg zu ihrer jeweiligen Unterkunft führt die Gäste der Wohnothek im Südburgenland nicht durch einen Hotelkorridor, sondern über Schotter und Rasen. Die »Zimmer« liegen umgeben von Grün und Vogelgezwitscher mitten im Weinberg und gehen auf eine Initiative von vier Weinbauern zurück. Obwohl die Konstellation der Bauherrngruppe sich als schwierig erwies, sieht man das allenfalls ein paar wenigen Details im Innern an, zum Glück aber nicht der Architektur insgesamt.

Der Weg zu ihrer jeweiligen Unterkunft führt die Gäste der Wohnothek im Südburgenland nicht durch einen Hotelkorridor, sondern über Schotter und Rasen. Die »Zimmer« liegen umgeben von Grün und Vogelgezwitscher mitten im Weinberg und gehen auf eine Initiative von vier Weinbauern zurück. Obwohl die Konstellation der Bauherrngruppe sich als schwierig erwies, sieht man das allenfalls ein paar wenigen Details im Innern an, zum Glück aber nicht der Architektur insgesamt.

Die Zimmer heißen Kentaur, Vinea, Pfarrweingarten und Blue. »Eigenartige Namen? Aber nein!«, meint Gerda Wiesler, Wirtin im Haubenrestaurant Wachter-Wieslers Ratschen und Miteigentümerin des benachbarten Hotels. »Die Zimmer sind nach Rebsorten und Weinen benannt, die bei uns in der Ortschaft produziert werden. Mein liebstes Zimmer ist der Pfarrweingarten. Das ist der erfolgreichste Wein in unserem Sortiment: süffig und gut.«

Das kleine Hotel in Deutsch Schützen, weit unten im tiefsten Südburgenland, zählt zu den ungewöhnlichsten Gästehäusern Österreichs. Hotel ist vielleicht der falsche Ausdruck. Wohnotek – so der offizielle, etwas glücklose Name des im September 2011 eröffneten Etablissements – ist auch nicht viel besser. Vielmehr handelt es sich um zehn wie zufällig in die Landschaft gewürfelte Holzboxen, die all jenen Freunden des lukullischen Genusses zur Verfügung stehen, die nach einem wohlschmeckenden Menü oder nach einer etwas zu flüssigen Weindegustation vor einer weiten Heimfahrt zurückschrecken und sich stattdessen lieber für eine Nacht in fremde Federn betten. Zumindest unter der Woche ist diese Flexibilität noch möglich, für die Wochenenden sind die Zimmer in der Regel schon weit im Voraus gebucht.

Mitten im Weingarten

»Die Konzeptionsphase hat weit über ein Jahr gedauert«, erinnert sich Wiesler. »Wir wussten zwar, dass wir keines dieser normalen Hotels mit Zimmer und Frühstückssaal wollten, doch das genaue Resultat unserer Vorstellung ließ lange auf sich warten. Das war ein intensiver Prozess mit den Architekten.« Die Tatsache, dass es sich dabei um ein Kooperationsprojekt von insgesamt vier Winzerfamilien aus dem Ort handelt, wirkte sich auf die Planungsphase nicht gerade beschleunigend aus. Viele Köche verderben den Brei, heißt es. Viele Winzer, könnte man hinzufügen, vergären die Planung.

Nach rund 15 Monaten waren Brainstorming und Detailplanung abgeschlossen. Der Bau konnte beginnen. »Ursprünglich war das Hotelkonzept noch etwas stringenter und klarer im Aufbau«, erinnert sich Johannes Traupmann, einer der beiden Chefs von Pichler Traupmann Architekten (PXT), und erklärt: »Die Weinreben hätten bis an die Hauskante kommen sollen, das Gebaute wäre also Teil der Natur gewesen, und das Projekt hätte in Summe mehr Schlüssigkeit gehabt als das heute der Fall ist.« Doch zum Glück weiß der Laie nichts von alledem. Das ungewöhnliche Mini-Hotel im Weingarten ist allen Abstrichen zum Trotz überzeugend und attraktiv.

Alles ist aus Holz, Zäune und Mauern sucht man hier vergeblich. Sowohl das Material der Häuser als auch die »Zaunlosigkeit« des 3 000 m² großen Grundstücks waren eine Vorgabe der Behörde, denn das Projekt befindet sich mitten im Landschaftsschutzgebiet. Den Architekten kamen die strengen Richtlinien überaus gelegen. Eine Einzäunung hätte ihrer Meinung nach den Kontext des gesamten Projekts zerstört.

Verzahnung mit der Landschaft

Und so wandert man also vom Parkplatz hoch, geht ein paar Meter über knirschenden Schotter, lässt die letzten Weinreben hinter sich, und steht plötzlich im grünsten und offensten Hotelkorridor, den man sich vorstellen kann: Die Wände bestehen aus Wald und Panorama, der Plafond ist aus Wolken und Himmel, mittendrin ein riesiger Kirschbaum, und gelegentlich, wird sich am nächsten Morgen herausstellen, hoppelt ein Wildkaninchen über den Flur. »Unsere Gäste schätzen das ungewöhnliche Ambiente«, meint Gerda Wiesler. »In welchem Hotel liegt die Natur schon so nahe? Und wo kann man schon nach dem Duschen direkt ins Freie treten und bloßfüßig durch die Wiese marschieren?«

Rein ins Zimmer. Der erste Eindruck der knapp 24 m² großen Wohneinheit: Es riecht intensiv nach Holz. Boden, Wände und Decke bestehen aus unbehandelter Lärche. Lediglich im Nassbereich, also rund um das Waschbecken und im WC, wurde der Boden zum Schutz vor Feuchtigkeit versiegelt. Das geübte Auge erkennt den Unterschied.

Während Boden und Decke aus Kreuzlagenholz (KLH) bestehen und somit Konstruktion, Aufbau und Dämmung in einem Material vereinen, wurden die Wände in herkömmlicher Pfosten-Riegel-Konstruktion errichtet. Die Innenseite der Häuser ist großflächig mit Dreischichtplatten bekleidet, an der Außenfassade regiert das Prinzip des Zufalls. »Es gibt unterschiedlich breite Lärchenholzlatten, die zwischen 8 und 16 cm variieren«, erklärt Traupmann. »Wir haben die Handwerker gebeten, möglichst unregelmäßig zu arbeiten. Es wurde der Reihe nach an die Wand montiert, was auf der Palette gerade zur Hand lag.« Der kleine Maßstab mit seinen leichten Irritationen tut dem Projekt gut.

Die Inneneinrichtung stammt nur zu einem Teil aus Architektenhand – so z. B. die Liegebank, die flächenbündig zu einem integrierten Schreibtisch aufsteigt oder etwa der Waschtisch, der Minibar, Ablagefläche und Waschmöglichkeit in einem einzigen, schlichten Möbelband vereint. Bei anderen Details hingegen haben sich die Winzer durchgesetzt. So wirken diese an einigen Stellen lieblos und ungelöst. Leider trifft das auch auf die Lichtplanung zu. Statt schöner Leuchten und indirekter Beleuchtung hängen nun ordinäre Leuchtstoffröhren aus dem Baumarkt an der Wand. Eiskalte Lichtfarbe. Der Fauxpas ist unverzeihlich. Demnächst, versichern die Inhaber des Hotels, wolle man die Zimmer mit adäquaten Lichtquellen nachrüsten.

Seine größte Stärke spielt das Zimmer aus, wenn man in der Früh aufwacht und sich zwischen zwei riesigen Glasscheiben wiederfindet. Das Bett ist nämlich in einer Art Alkove untergebracht. Der Platz zu beiden Seiten der Schlafstatt ist eng, hinter den Nachtkästchen strömt unmittelbar die Natur in den Raum. »Die Integration in die Umgebung ist für mich das absolute Highlight«, sagt Johannes Traupmann. »Eigentlich gibt es eine Genehmigung für insgesamt 15 Hoteleinheiten, aber ich denke, dass wir dieses Potenzial nicht mehr ausschöpfen werden. Wenn wir die Dichte anheben, dann gehen die Qualitäten des Ausblicks und der Nähe zur Natur womöglich verloren.«

Mitreisser

Mit einer Bauzeit von nur 100 Tagen und einem Stückpreis von 43 000 Euro pro Box – das entspricht Baukosten von knapp 2 000 Eur/m2 – ist das Hotel günstig kalkuliert. Fast. Wäre da bloß nicht die dezentrale Lage in der Landschaft. »Die Zimmer liegen recht dispers, daher sind ziemlich hohe Nebenkosten angefallen, die bei einem herkömmlichen Hotelprojekt kaum ins Gewicht fallen würden«, so Traupmann. Der größte Brocken waren die Infrastruktur- und Erschließungskosten. Auch die gesamte Haustechnik – beheizt werden die Hotelzimmer mit einer Luft-Luft-Wärmepumpe – musste zehnfach ausgeführt werden. Trotz günstiger Bauweise belaufen sich die Gesamtinvestitionskosten daher auf rund 800 000 Euro. Das ist viel Geld.

Doch der Plan scheint aufzugehen. Allein in den ersten vier Monaten verzeichneten die Wachter-Wieslers mehr als tausend Übernachtungen. Bei Preisen zwischen 48 und 59 Euro pro Person – abhängig von Wochenende und Saison – wolle man innerhalb von fünf Jahren den »Break-even-Point« erreichen. »Es läuft sehr gut«, meint die Hausherrin. »Und wie es scheint, werden wir schon ab dem dritten Jahr Gewinn machen können. Für mich persönlich ist das ein geglücktes Beispiel für sanfte, nachhaltige Tourismusentwicklung in dieser Region.«

Sanft und nachhaltig sind auch die Zahlen: Die Wohnotek hat die Übernachtungen auch in den umliegenden Hotels und Pensionen nach oben geschraubt. Insgesamt verzeichnet man in Deutsch Schützen eine Gästeplus von rund 40 %. Die kleinen Boxen in den Weinreben haben großes Potenzial. Es fehlen noch ein, zwei nachträgliche Handgriffe, danach steht einem Aufstieg in den sternenlosen Olymp der Hotellerie nichts mehr im Weg.

db, Mo., 2012.07.02



verknüpfte Zeitschriften
db 2012|07 Auf Reisen

23. Juni 2012Wojciech Czaja
Der Standard

CSI Mauerwerk

Es ist vollbracht: Diese Woche wurden die ersten vier Häuser der Wiener Werkbundsiedlung übergeben. Beinahe eine Sanierung wie aus dem Bilderbuch. Bloß, wo ist das Museum?

Es ist vollbracht: Diese Woche wurden die ersten vier Häuser der Wiener Werkbundsiedlung übergeben. Beinahe eine Sanierung wie aus dem Bilderbuch. Bloß, wo ist das Museum?

„Am Anfang hatten wir eine unglaubliche Ehrfurcht vor dem Projekt“, erinnern sich die beiden Architekten Azita Goodarzi und Martin Praschl vom Wiener Büro P.Good. „Darf man auf ein altes Haus von Gerrit Rietveld oder Josef Hoffmann denn überhaupt mit dem Presslufthammer einschlagen? Muss man die nicht viel eher streicheln?“

Nach rund zehn Monaten sind die massiven Streicheleinheiten beendet. Am Mittwoch luden Wohnbau-Stadtrat Michael Ludwig, Landeskonservator Friedrich Dahm sowie Josef Wiesinger, Geschäftsführer der Wiener Substanzerhaltungs GmbH & Co KG (Wiseg) zur feierlichen Eröffnung in die Wiener Werkbundsiedlung. In brütender Hitze, unter knallig bunten Sonnenschirmen zusammengepfercht, fanden sich Architekten, Journalisten und neugierige Nachbarn ein, um - rechtzeitig zum 80. Jubiläum der 1932 eröffneten Werkbundsiedlung - die Sanierung der ersten vier Häuser zu bestaunen.

„Es sind zwar nur vier Wohnungen, und das ist wahrscheinlich das kleinste Wohnbauprojekt, das ich je eröffnen durfte“, sprach Michael Ludwig ins Mikrofon. „Dennoch ist es einer der historisch bedeutendsten Gebäudekomplexe in unserer Stadt, aber auch weit darüber hinaus.“ Im Gegensatz zu anderen Werkbundsiedlungen in Stuttgart, Zürich, Brünn und Prag befindet sich jene in Wien nach Auskunft von Experten nämlich in einem außerordentlich guten Zustand.

„Natürlich war die bauliche Qualität der Werkbundsiedlung so wie bei fast allen Bauten aus dieser Zeit nicht besonders hoch, und das Projekt war dringend sanierungsbedürftig“, sagt Friedrich Dahm vom Bundesdenkmalamt (BDA) zum STANDARD. „Doch in keiner anderen Siedlung in Europa ist heute noch so ein hoher Anteil an originalen Bauteilen und originalen Materialien erhalten wie hier.“

Der Befund des BDA ergab: Rund 80 Prozent aller Türen und Fenster und der dazugehörigen Tür- und Fensterbeschläge sowie 50 Prozent aller Verputze befanden sich im Originalzustand. Und in einem der vier sanierten Häuser, in der Woinovichgasse 20 von Architekt Gerrit Rietveld, lag sogar noch der 80 Jahre alte Linoleumboden - Druckstellen, Kratzer und historische Rundsiegel-Firmenprägung in der Raummitte inklusive.

80 Jahre alte Linoleumböden

Die Handwerker und Denkmalschützer scheuten keinen Aufwand. Mühsam kratzten sie alle noch bestehenden Linoleumoberflächen des über mehrere Häuser verteilten Fleckerlteppichs zusammen, schabten vorsichtig ab, was abzuschaben war, transferierten die Preziosen von einem Haus ins andere und füllten damit hässliche, im Laufe der Zeit entstandene Lücken und Löcher.

„Das war eine ziemlich langwierige Angelegenheit“, sagt Dahm. Nachdem Linoleum ein homogener, fugenloser Holzmehlwerkstoff ist, mussten die unterschiedlichen Fundstücke sorgfältig miteinander verbacken und verschliffen werden. Das Endergebnis (Foto Mitte) ist ein dunkelgraues Etwas mit viel Patina und viel Geschichte, das gewiss nicht jedem gefällt. Doch schon gibt es die ersten Interessenten. Sie wollen just das Haus mit dem alten Linoleumboden und kein anderes.

„Die Arbeiten an den drei Rietveld-Häusern und an dem einen Hoffmann-Haus sind wirklich in die Tiefe gegangen“, meint Susanne Beseler, Restauratorin für Putz und Stein. „Wir hatten hier die Gelegenheit, Materialproben zu entnehmen und im Labor ganz genaue Schichtanalysen unter dem Mikroskop vorzunehmen. Das war wie in einer CSI-Krimiserie. Das passiert dir in diesem Beruf nicht jeden Tag.“

Gerade eine solche Detailtiefe sei dringend nötig, um den Bauten des 20. Jahrhunderts endlich jenen Respekt zu erweisen, den sie verdienen. „Bei Barockgebäuden ist es mittlerweile selbstverständlich, nicht nur das historische Erscheinungsbild zu bewahren, sondern auch die historischen Materialien und die historischen Fertigungsmethoden. Bei der Moderne ist dieses Denken noch wenig verbreitet.“ Mit der Sanierung der Werkbundsiedlung, so Beseler, habe man nun ein Exempel für die kommenden Jahrzehnte statuiert.

Nicht nur bei handwerklichen Belangen, auch in puncto Bauphysik ist die ehemalige Musterwohnsiedlung in Hietzing ein Paradebeispiel für den Umgang mit Bauten der Moderne. 20 Zentimeter dicke Daunenjacken aus Styrodur und Mineralwolle sucht man hier vergeblich. „Das hätte nur die Bausubstanz zerstört“, sagt Architektin Azita Goodarzi. „Stattdessen haben wir bewiesen, dass man mit der Summe vieler kleiner Einzelmaßnahmen thermisch genauso viel erreichen kann.“

Nur nicht zu Tode sanieren

Kellerwände, Fundament und Flachdach wurden traditionell gedämmt, außerdem wurden die Fenster abgedichtet, und eine Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung wurde eingebaut. Dadurch soll in Zukunft Schimmelbildung vermieden werden. In Summe wurde der Heizwärmebedarf von exorbitant katastrophalen 250 kWh/m2a auf etwa 100 kWh/m2a gesenkt. Goodarzi: „So ein Gebäude wird nie Niedrigenergiehaus-Standard erreichen, aber das ist auch nicht nötig. Man muss nicht jedes Baudenkmal thermisch zu Tode sanieren.“

Die brutalste Baumaßnahme betrifft den Einbau der etwas überambitionierten Absturzsicherungen im Fensterbereich sowie einer aufgedoppelten Glasfassade im Hoffmann-Haus. Als wären Hightech-Ingenieure, bewaffnet mit Thermoschutzglas und Edelstahl, durch das Haus marschiert, tauchen nun hie und da gestalterische Eingriffe auf, die so penetrant den Zeitstempel des herbeigesehnten 22. Jahrhunderts tragen, dass es schon wehtut. Da wurde der Genius Loci mit dem Architektenskalpell malträtiert. Patient tot.

„Gebürstetes Niro ist ein Fremdmaterial, das in der Werkbundsielung sonst nicht vorkommt“, erklärt Architekt Martin Praschl das gestalterische Konzept. Dabei hätte es auch bleiben können. „Doch so sind wir nun in der Lage, die beiden Bauphasen 1932 und 2012 deutlich voneinander zu trennen und dem Denkmal auf diese Weise den nötigen Respekt zu erweisen.“

Das sind Luxusproblemchen. In Summe ist der Stadt Wien nämlich - das verrät schon das Lächeln der Denkmalschützer und Konservatoren - ein beeindruckender Sanierungs-Kick-off gelungen. Rund eine Million Euro wurde in der ersten Bauphase investiert. Für die restlichen 44 Werkbund-Häuser der Stadt Wien, die bis 2016 saniert werden sollen, stehen weitere neun Millionen Euro zur Verfügung.

Wer die Presslufthämmer und CSI-Putz-Forensiker in sein Mietobjekt einlädt, muss allerdings mit einer Mieterhöhung von 1,50 Euro auf 6,20 Euro pro Quadratmeter rechnen. Und: Die Bewohner jener 22 Werkbund-Häuser, die sich in Privateigentum befinden, können sich der Sanierungsoffensive nach Absprache anschließen.

Fast vergessen hallt es aus der Vergangenheit: War da nicht mal von einem Werkbund-Museum die Rede? Wollte man das Denkmal der Moderne einst nicht auch einem öffentlichen Publikum zugänglich machen? „Ein Museum hätte keinen Sinn gehabt“, meint Stadtrat Ludwig. „Erstens sind die Häuser klein und eng und für größere Gruppen nicht geeignet, und zweitens wäre das nicht im Sinne des damals projektverantwortlichen Mastermind-Architekten Josef Frank gewesen. Er wollte keine Museumsanlage errichten. Er wollte ein belebtes Wohnviertel.“

Der Standard, Sa., 2012.06.23



verknüpfte Bauwerke
Wiener Werkbundsiedlung

16. Juni 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Grün Ding braucht Weile

Am Stadtrand von Seoul entsteht eine ökologische Musterstadt, die dem Meer abgerungen wurde: Songdo New City. Sieht so die Zukunft urbanen Lebens aus?

Am Stadtrand von Seoul entsteht eine ökologische Musterstadt, die dem Meer abgerungen wurde: Songdo New City. Sieht so die Zukunft urbanen Lebens aus?

Die Sonne scheint, fröhliche Menschen sitzen unter einer ziemlich großen Pergola, die mit Fotovoltaikpaneelen verkleidet ist, essen und trinken, im Hintergrund Radfahrer und ballspielende Kinder. Plötzlich biegt lautlos ein koreanisches Elektroauto um die Ecke. Stimme aus dem Off: „Songdo. Where future happens.“

Für die Songdo New City - so der offizielle Name - wird eifrig die Werbetrommel gerührt. Während die modernen KTX-Hochgeschwindigkeitszüge mit 300 km/h durch die Landschaft brettern, wandert der Fernsehspot alle paar Minuten über den Flatscreen. Songdo, was übersetzt so viel heißt wie „Zwergkieferninsel“, ist ein 800 Hektar großes künstlich aufgeschüttetes Eiland am südwestlichen Stadtrand Seouls, rund 40 Kilometer und mehr als 30 U-Bahn-Stationen von der Innenstadt entfernt. Und es ist der derzeit größte Stolz der südkoreanischen Wissenschafter und Planer.

Das Kooperationsprojekt des koreanischen Stahlunternehmens Posco E&C, des viertgrößten Stahlerzeugers weltweit, und des amerikanischen Real Estate Developers Gale International mit Sitz in New York, ist die erste bereits realisierte Smart City der Welt. Rund 20 Milliarden Euro wird man am Ende in die Zukunftsstadt insgesamt investiert haben. Dass das größte Konkurrenzprojekt, Norman Fosters Masdar City in Abu Dhabi, seit der Finanzkrise mehr oder weniger auf Eis liegt, wirkt sich auf die Stimmungslage der Südkoreaner nicht gerade negativ aus.

„Songdo ist das Exempel einer modernen, futuristischen Stadt“, sagt Angela Hong von der Incheon Development & Tourism Corporation (IDTC), die für die Vermarktung der Retortenstadt zuständig ist. „In manchen Punkten haben wir uns an der klassischen europäischen Stadtplanung orientiert. Was für die einen altmodisch ist, kann für die anderen eine Revolution sein.“

Das Straßennetz ist dicht, die Fahrbahnen sind verhältnismäßig schmal, die Gehsteige und Radwege dafür umso breiter, und überall Bänke, Bäume, blühende Büsche. Aufgelockert wird das Ganze von ein paar Plätzen und einem 40 Hektar großen „Central Park“ mit künstlichem See, Wassertaxis und Tretbootverleih. Eine Idylle wie aus dem Almanach für Stadtplanung. Fragt sich nur: Wo sind die Menschen? Und was ist smart an alledem?

„Die Metropolregion Seoul stößt mit ihren 25 Millionen Einwohnern allmählich an ihre topografischen und geografischen Grenzen, daher war klar, dass man eines Tages neues Land gewinnen muss“, erklärt Tom Murcott, Vizepräsident von Gale International, auf Anfrage des STANDARD. „Bei so ei-nem großen Projekt ergibt sich die einmalige Chance, neue technische Entwicklungen und Erkenntnisse aus der Wissenschaft und Stadtplanung einfließen zu lassen.“

Das flache Neuland, das mit einigen namhaften Software- und Hardware-Unternehmen wie etwa Arup, Cisco, LG, 3M und United Technologies entwickelt wurde, verfügt in allen Wohnungen und öffentlichen Gebäuden über „Telepresence“, ein neuartiges Kommunikationstool mit hoher akustischer und optischer Qualität, über Real-Time-Fahrpläne für U-Bahn und Busse, die online ersichtlich sind, sowie über Regen- und Salzwassernutzung.

Die wohl ungewöhnlichste infrastrukturelle Errungenschaft betrifft jedoch die Müllentsorgung: Stinkende Müllwagen wird man hier niemals zu Gesicht bekommen, denn die gesamte Müllentsorgung funktioniert unterirdisch und vollautomatisch über ein eigens entwickeltes pneumatisches Unterdrucksystem.

Müllentsorgung per Rohrpost

„Im Grunde genommen ist das nichts anderes als ein klassisches Rohrpostsystem, wie man es im vorigen Jahrhundert immer wieder in Bürogebäuden verwendet hat“, sagt James von Klemperer, Chefarchitekt bei Kohn Pedersen Fox Associates (KPF) in New York, das für den Masterplan der Songdo New City verantwortlich ist, „nur eben ein bisschen größer und ein bisschen weiter.“ Auf Knopfdruck wird der Mist durch die halbe Stadt gejagt, wo er am Ende in einem Kraftwerk zur Biogasgewinnung genutzt wird.

Ein Musterbeispiel für ökologische Stadtplanung - bloß warum ist von der im Film versprochenen Solarenergienutzung nichts zu sehen? Und wo sind die vielen E-Bikes oder E-Autos, mit denen im ganzen Land geworben wird und auf die man so sehnsüchtig wartet? „Diese Technologien sind leider noch nicht zur Genüge ausgereift“, so von Klemperer. „Die Ausbeute von Fotovoltaik ist noch viel zu gering, eine solche Anlage würde sich in Südkorea erst innerhalb von 20 Jahren rentieren. Und solange die koreanischen Autohersteller kein serienreifes Elektroauto produzieren, sind uns die Hände gebunden.“ Mit dem ersten Stromwagen am Markt werde sich die Situation ändern.

Bis dahin begnügt man sich mit einem ausgebauten Fuß- und Radwegnetz sowie strengen ökologischen Richtlinien für die Architektur. Sämtliche Bürotürme verfügen über begrünte Atrien, die die Luftfeuchtigkeit regeln. Das zentrale Konferenz- und Ausstellungszentrum „Convensia“ und das benachbarte Luxushotel Sheraton sind bereits nach LEED-Kriterien zertifiziert. Eines Tages, so jedenfalls lautet der Traum von Gale International, wolle man eine LEED-Zertifizierung für die ganze Stadt erreichen.

Auch um kulturelle Nachhaltigkeit ist man in Songdo bemüht. In der Mitte der Stadt steht das Hello Kitty Planet, ein Ausstellungshaus für die weißen Cartoon-Katzen. Daniel Libeskind hat ein Luxus-Shoppingcenter geplant, das demnächst in Bau gehen soll. Und der Schweizer Pritzker-Preis-Träger Peter Zumthor hat nach Auskunft von KPF ein Museum für zeitgenössische Kunst entworfen. Noch ist das Projekt nicht ausfinanziert.

Wunderbare Zukunft. Doch die Gegenwart sieht anders aus. Von den geplanten 70.000 Einwohnern, die hier eines Tages leben sollen, sind erst 22.000 vor Ort. Bis Jahresende wolle man 5000 weitere anziehen. „Wenn man bedenkt, dass hier vor zehn Jahren noch Meer war und dass die Stadt erst seit kurzem existiert, dann haben wir schon viel erreicht“, sagt Gale-Chef Tom Murcott. „Und ich bin mir sicher, dass Songdo eines Tages die smarteste Stadt der Welt sein wird.“ Denn eines dürfe man bei aller „Smartness“ nicht außer Acht lassen: „Eine grüne Stadt zu bauen bedarf nicht nur Architektur, Infrastruktur und Technologie, sondern vor allem Zeit.“

Der Standard, Sa., 2012.06.16

06. Juni 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Ein hässliches, aber nachhaltiges Entlein

Die Neue Heimat Tirol setzt auf die Sanierung alter Energieschleudern

Die Neue Heimat Tirol setzt auf die Sanierung alter Energieschleudern

DER STANDARD hat gemeinnützigen und privaten Bauträgern aus ganz Österreich die gleiche Frage gestellt: Was ist Ihr bester Wohnbaubeitrag zum Thema Nachhaltigkeit? Die Antworten sind sehr unterschiedlich.

Das Wohnhochhaus in der An-der-Lan-Straße in Innsbruck wurde im Jahr 1969 errichtet. Das Datum zeichnet sich nicht nur an der Optik ab, sondern auch an den technischen Eckdaten. Mit rund 120 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr war das Haus eine regelrechte Energieschleuder. Das entspricht dem 12-fachen Heizwärmebedarf eines heutigen Passivhauses und immer noch dem vier- bis fünffachen eines modernen Niedrigenergiehauses.

„Solche Energiewerte sind heute nicht mehr vertretbar“, erklärt Klaus Lugger, Geschäftsführer der Neuen Heimat Tirol (NHT). „Moderne Neubauten sind schön und gut, aber wenn man ernsthaft ei-nen ökologischen Beitrag leisten will, dann muss man im Bestand ansetzen. Die wahre Musik spielt in der thermischen Sanierung von Altbauten.“

1993 wurde die Wohnanlage in der Nähe des Olympischen Dorfes schon einmal saniert. 2001 wurde die Ölheizanlage auf Gas umgestellt, 2008 schließlich auf Pellets. Letztes Jahr wurde die schrittweise Sanierung mit einem Darlehen auf zehn Jahre fortgesetzt. Insgesamt picken an der Wand nun 18 Zentimeter Mineralwolle.

75 Prozent weniger heizen

„Natürlich hätten wir gern auch eine kontrollierte Wohnraumbelüftung eingebaut, aber das wäre ein zu großer und zu kostspieliger Eingriff in die Substanz gewesen“, meint Lugger. „Man muss es nicht übertreiben.“ Immerhin beträgt der Heizwärmebedarf jetzt rund 30 kWh/m2a. Das ist ein Viertel von dem, was einmal war.

„Als gemeinnütziger Bauträger kann ich mich mit solchen Projekten durchaus begnügen“, sagt der NHT-Chef. „Wenn das alle so sähen, dann wäre die Energiebilanz am Bau- und Wohnsektor heute wahrscheinlich eine andere.“

Im Zuge der thermischen Sanierung wurden auch Liftanlage und Steigleitungen erneuert. Der einzige gröbere Eingriff in den persönlichen Wohnbereich war der Tausch der Fenster. „Wir unterstützen die These, dass wir lieber laufend instand halten und nicht 30 Jahre lang warten und dann alles auf einmal machen müssen.“

Trotz großer Heizkostenersparnis hat sich die Monatsmiete für die Bewohner nur minimal verändert. Mit 4,99 Euro Miete inklusive Betriebs- und Heizkosten ist die finanzielle Belastung immer noch gering. Lugger: „Es kann am Markt nicht nur moderne Wunderbauten geben. Es muss auch günstige Alternativen geben. Nur so funktioniert der soziale Mix.“

Der Standard, Mi., 2012.06.06

06. Juni 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Wie hoch ist der Preis der Nachhaltigkeit?

Das Österreichische Siedlungswerk (ÖSW) errichtete zusammen mit dem Architekten Adolf Krischanitz ein Wohnhaus auf den Aspanggründen in Wien. Das vielbeachtete Passivhaus regt zum Nachdenken an.

Das Österreichische Siedlungswerk (ÖSW) errichtete zusammen mit dem Architekten Adolf Krischanitz ein Wohnhaus auf den Aspanggründen in Wien. Das vielbeachtete Passivhaus regt zum Nachdenken an.

DER STANDARD hat gemeinnützigen und privaten Bauträgern aus ganz Österreich die gleiche Frage gestellt: Was ist Ihr bester Wohnbaubeitrag zum Thema Nachhaltigkeit? Die Antworten sind sehr unterschiedlich.

Am 22. Februar wurde das beige-braun-gestreifte Ildefonso-Haus in Wien-Landstraße an seine Mieter übergeben. Bei der offiziellen Begehung mitsamt Bauträger-Chef und Architekt fand man an einer der insgesamt 110 Wohnungstüren eine fassungslose, etwas erboste Mängelliste mit Klebeband befestigt: „Keine Heizung! Wo ist die Heizung?“

Michael Pech, Vorstand des Österreichischen Siedlungswerks (ÖSW); sieht die Sache gelassen: „Scheinbar wissen noch nicht alle Bewohner, dass sie jetzt in einem Passivhaus wohnen“, sagt er zum STANDARD. „Tatsache ist, dass man in einem Passivhaus keine Heizung benötigt, weil die im Sommer gekühlte und im Winter erwärmte Frischluft über eine kontrollierte Wohnraumbelüftung direkt in die Wohnung strömt. Im Großen und Ganzen sind die Bewohner von dieser Technologie ziemlich begeistert.“

Im Sommer drei Grad kühler

Für Pech ist das Passivhaus auf dem Areal des ehemaligen Aspangbahnhofs ein Meilenstein in puncto ökologischer Nachhaltigkeit. Das gesamte Haus steht auf einer Gummidichtung, die einerseits die Schwingungen der vorbeifahrenden Schnellbahn abfedert, andererseits auch als thermische Abschottung gegen das Erdreich fungiert. Die Fensterflächen sind bewusst klein gehalten, um die Heizkosten zu minimieren. Und die Decke über dem letzten Geschoß wird bei Bedarf mittels Betonkernaktivierung gekühlt. So können selbst die Wohnungen im letzten Stock, die im Sommer üblicherweise stark überhitzen, um zwei bis drei Grad Celsius abgekühlt werden.

Architekt Adolf Krischanitz betont mit Stolz die deutlich abgerundeten Ecken seiner Ildefonso-Würfel: „Das ist nicht nur eine ästhetische Maßnahme, sondern hat in erster Linie bauphysikalische Gründe.“ Eine eckig ausgeführte Ecke sei sehr exponiert und daher die kälteste Stelle der Fassade. An einer runden Ecke sei die Differenz geringer. „Aber auch im Innenraum ist das Eck rund ausgeführt“, so Krischanitz. „Und das ist besser für die Luftverwirbelung im Raum.“

Doch das Vorzeigehaus im neuen Stadtteil Eurogate, der größten Passivhaussiedlung Europas, bietet nicht nur Grund zum Jubeln, sondern auch zum Nachdenken. „Die jährliche Heizkostenersparnis in einer 80-Quadratmeter-Wohnung gegenüber einem herkömmlichen Niedrigenergiehaus beträgt rund 240 Euro“, rechnet ÖSW-Chef Pech mit einer gehörigen Portion Selbstkritik vor. „Klar, das ist viel Geld, aber es fragt sich à la longue, ob dieser Betrag gesamtheitlich betrachtet tatsächlich ins Gewicht fällt.“

Höhere Betriebskosten

Denn: Die Betriebs- und Wartungskosten in einem Passivhaus sind deutlich höher als in jedem anderen Wohnhaus. „Die Energiekosten für Ventilatoren, diverse Filterwechsel, die regelmäßigen Kontrollen und so weiter ... All diese Faktoren werden üblicherweise gerne außer Acht gelassen.“ Das ÖSW will es jedoch genau wissen. Demnächst, versichert Pech, werde man das Projekt, das mit rund 1300 Nettobaukosten pro Quadratmeter zu Buche geschlagen hat, evaluieren.

Auch der Architekt sieht die Errichtung von Passivhäusern im geförderten Segment nicht nur positiv. „Es gibt für Passivhäuser zwar eine kleine Erhöhung der Fördermittel, aber diese reicht bei weitem nicht aus, um die tatsächlichen Mehrkosten eines technisch so aufwändigen Projekts abzufedern“, meint Krischanitz. „Und so bleibt uns letztendlich nichts anderes übrig, als auch an der Architektur zu sparen.“

Kleine Fenster, kompakte Baukubatur, wenig finanzieller Spielraum - das Österreichische Siedlungswerk wirft mit diesem hochwertig geplanten und ausgeführten Wohnbau zu Recht eine Frage aufs Parkett, die viele Bauträger schuldig bleiben: Wie hoch ist der Preis der Nachhaltigkeit?

Der Standard, Mi., 2012.06.06

06. Juni 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Das Stiegenhaus als sozialer Treffpunkt

Das „beste Stück“ der Sozialbau: 245 Wohnungen im neuen Sonnwendviertel

Das „beste Stück“ der Sozialbau: 245 Wohnungen im neuen Sonnwendviertel

DER STANDARD hat gemeinnützigen und privaten Bauträgern aus ganz Österreich die gleiche Frage gestellt: Was ist Ihr bester Wohnbaubeitrag zum Thema Nachhaltigkeit? Die Antworten sind sehr unterschiedlich.

Rund um den neuen Wiener Hauptbahnhof rollen bereits die Bagger. Vor allem im Sonnwendviertel - da, wo früher die Rangiergleise und Transportbetriebe waren - tut sich viel. Der gemeinnützige Bauträger Sozialbau ist hier gleich mit zwei Wohnbauten vertreten: einmal mit einem Projekt von Hubert Riess und einmal mit einer expressiven Wohnhausanlage in der Hackergasse 7 aus der Feder des Wiener Architekturbüros Blaich Delugan.

245 Wohnungen sind insgesamt geplant, etwa 165 davon werden im Rahmen der Wiener Wohnbauinitiative errichtet. Das bedeutet: Die Wohnungen werden zwar am freien Markt vergeben, doch die Mietpreise orientieren sich am geförderten Wohnbau, ohne dass die Bewohner die sonst üblichen Förderrichtlinien erfüllen müssen.

„Das neue Programm der Stadt Wien ist ein großer Schritt in Richtung sozialer Nachhaltigkeit“, sagt Herbert Ludl, Generaldirektor der Sozialbau, und verrät: „Die Wahrheit ist, dass sich der Markt zur grundsätzlichen Schaffung eines nachhaltigen Wohnungsangebots in keinster Weise eignet.“ Die gewinnorientierten Bauträger agierten meist zu kurzfristig, vor allem aber seien sie den wilden Fieberkurven der Finanzmärkte ausgeliefert. Abhilfe schaffen könne nur jenes Bauvolumen, das aus der Wohnbauförderung, mithilfe der Wohnbaubanken sowie aus dem Eigenkapital der gemeinnützigen Bauträger geschaffen werde.

Eine WG für Taubblinde

Das Gebäude in der Hackergasse wurde in Zusammenarbeit mit dem deutschen Wohnbauforscher Joachim Brech entwickelt. Neben dem heterogenen Wohnungsmix wird es auch eine 500 Quadratmeter große WG geben, die das Österreichische Hilfswerk für Taubblinde und hochgradig Hör- und Sehbehinderte (ÖHTB) betreiben wird. Die Stiegenhäuser, die in den letzten Jahren vorzugsweise klein und intim gestaltet wurden, werden wieder an Größe zunehmen. Pro Stiege werden etwa 50 Wohnungen erschlossen. „Unser Ziel ist es, ein Haus zu entwickeln, das zum Flanieren und Kommunizieren einlädt“, erklärt Architekt Dieter Blaich. „In engen Gängen ist so etwas nicht möglich.“

Ob das Konzept aufgeht, wird sich ab Juli 2013 weisen. Die Mieten liegen bei 8,11 Euro pro Quadratmeter. Eine Reduktion auf Superförderung ist möglich.

Der Standard, Mi., 2012.06.06

06. Juni 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Wintergarten für alle

Knapp neben der U2-Bahntrasse baute die Buwog ihr passives Vorzeigehaus „Am Mühlgrund“. Aus der Grundstücksnot wurde eine Tugend gemacht: Für die nötige Abschottung sorgt ein begrüntes Stiegenhaus.

Knapp neben der U2-Bahntrasse baute die Buwog ihr passives Vorzeigehaus „Am Mühlgrund“. Aus der Grundstücksnot wurde eine Tugend gemacht: Für die nötige Abschottung sorgt ein begrüntes Stiegenhaus.

DER STANDARD hat gemeinnützigen und privaten Bauträgern aus ganz Österreich die gleiche Frage gestellt: Was ist Ihr bester Wohnbaubeitrag zum Thema Nachhaltigkeit? Die Antworten sind sehr unterschiedlich.

Die Zertifizierung ist geglückt. Und wie. Das Passivwohnhaus Am Mühlgrund in Wien-Donaustadt wurde von klima:aktiv mit 980 von insgesamt 1000 möglichen Punkten ausgezeichnet. Und von der Österreichischen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (ÖGNB) wurden immerhin 897 Punkte zugestanden. „Wir haben das Haus im Jänner an unsere Mieterinnen und Mieter übergeben“, sagt Gerhard Schuster, Geschäftsführer der Buwog. „Die Technologie in dieser Hightech-Wohnmaschine funktioniert sehr gut. Wenn man das System nicht absichtlich sabotiert, kann eigentlich nichts schiefgehen.“

Allein, in der Auswahl der Bewohner hat man ein wenig nachgeholfen. „Normalerweise müssen wir bei geförderten Wohnbauten ein Drittel der Wohnungen an das Wohnservice übergeben“, so Schuster. „Doch hier haben wir die Bewohner selbst aussuchen können und uns auf jene konzentriert, die sich für das Thema Passivhaus interessiert haben.“ Als Gegenleistung habe man dem Wohnservice eine entsprechende Anzahl an Wohnungen in anderen Projekten zur Verfügung gestellt.

Die Nettobaukosten knabbern mit rund 1400 Euro pro Quadratmeter hart an der Grenze der Förderbarkeit. Die Finanzierungsbeiträge belaufen sich auf 400 Euro (65 Euro bei Superförderung) pro Quadratmeter, und die Mieten liegen mit sieben Euro pro Quadratmeter im Durchschnitt. Der langfristige finanzielle Profit wird sich durch die niedrigen Heizkosten einstellen.

Segelbaufirma hat mitgebaut

„Es war von Anfang an klar, dass das ein Passivhaus werden muss“, meint Richard Manahl von Artec Architekten. „Die U-Bahn fährt knapp am Grundstück vorbei, also mussten wir das Haus im Norden abschotten. Im Süden konnten wir es dafür großzügig öffnen. Ideale Bedingungen für ein Passivhaus.“ Die Loggienplatten dienen nicht nur dem Sitzen an der frischen Luft, sondern auch der Verschattung. Und wenn das alles nicht hilft, können an der Außenkante der Loggien Sonnensegel aufgespannt werden, die eigens von einer Segelbaufirma am Neusiedler See produziert wurden.

Doch das auffälligste Element des Mühlgrund-Hauses ist die geknickte Leichtbaufassade an der Nordseite. Die charakteristische Form ist keineswegs Zufall. Manahl: „Durch das mehrfache Vor- und Zurückspringen leiten wir das diffuse Sonnenlicht aus dem Norden gezielt ins Stiegenhaus.“ Dieses ist nötig, um die rund tausend Pflanzen, die nach einem Konzept der Landschaftsarchitekten Auböck & Kárász zusammengestellt wurden, ausreichend zu versorgen.

„Das Stiegenhaus ist einerseits die klimatische Lunge des Gebäudes und regelt Temperatur und Luftfeuchtigkeit, andererseits ist es auch als vertikaler Grünraum für die Bewohner gedacht“, sagt der Architekt. Das Grundstück ist knapp bemessen. So kann man zumindest vor der Wohnungstür von Natur umgeben sein. Ob das Angebot angenommen wird? „Das lässt sich heute noch nicht sagen. So etwas braucht Zeit.“

Der Standard, Mi., 2012.06.06



verknüpfte Bauwerke
Generationen Wohnen am Mühlgrund

06. Juni 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Wohlfahrtsstaat im kleinen Maßstab

Verstaubtes Image war gestern: Im Salzburger Stadtteil Taxham baut „die salzburg“ mit zwei anderen gemeinnützigen Bauträgern ein modernes Wohnhaus mit Fokus auf soziale Nachhaltigkeit. Die Kosten werden fair aufgeteilt.

Verstaubtes Image war gestern: Im Salzburger Stadtteil Taxham baut „die salzburg“ mit zwei anderen gemeinnützigen Bauträgern ein modernes Wohnhaus mit Fokus auf soziale Nachhaltigkeit. Die Kosten werden fair aufgeteilt.

DER STANDARD hat gemeinnützigen und privaten Bauträgern aus ganz Österreich die gleiche Frage gestellt: Was ist Ihr bester Wohnbaubeitrag zum Thema Nachhaltigkeit? Die Antworten sind sehr unterschiedlich.

Meist sind es die Bobos und Jungfamilien mitsamt Kinderwagen, die beschwingten Schrittes durch die Computervisualisierungen der Wohnbauträger marschieren. Nicht so im Fall des Projekts „Rosa Zukunft“ in Salzburg-Taxham. Hier regiert das betagte, pensionierte Beige: Sandalen, Bermuda-Shorts, und obendrauf ein Sonnenhut.

„Wir haben uns mit den gesellschaftlichen Veränderungen sehr intensiv beschäftigt“, sagt Michael König vom Evangelischen Diakoniewerk Salzburg. „Es steht fest: Oberflächliche Kontakte im Netz oder in der unmittelbaren Wohnumgebung sind nicht in der Lage, die beständigeren Beziehungen in der Nachbarschaft, im Freundeskreis und in der Familie zu ersetzen.“ Daher sei eine Aufgabe künftig besonders wichtig: die Schaffung attraktiver sozialer Nahmilieus im Hausverband.

In Zusammenarbeit mit der Diakonie Salzburg als sozialer Beraterin soll bis Ende nächsten Jahres dieses Vorzeigeprojekt auf die Beine gestellt werden. „Für mich persönlich ist die Wohnanlage Rosa Zukunft unser derzeit wichtigster und umfassendster Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit“, sagt Markus Sturm, Chef der Siedlungsgenossenschaft die salzburg, die das 18,5 Millionen Euro teure Wohnbauvorhaben (129 Wohnungen) mit den beiden gemeinnützigen Bauträgern Salzburger Siedlungswerk und Hans Myslik GmbH entwickelt. Für die Planung ist der Halleiner Architekt Karl Thalmeier verantwortlich.

Die gesamte Anlage ist in mehrere Baukörper gegliedert. Während drei Bauteile in Form seniorengerechter Miet- und Eigentumswohnungen genutzt werden, stehen drei Häuser für sogenanntes Generationenwohnen zur Verfügung. Hier soll ein Austausch zwischen den Generationen stattfinden. Tauschbörsen, Flohmärkte, Babysitting-Organisation sowie ein eigener Bewohnerbeirat sollen das bauliche Angebot um die nötige soziale Infrastruktur bereichern. Darüber hinaus wird es E-Bikes und Car-Sharing geben.

Die Bruttomieten betragen rund acht Euro pro Quadratmeter. Hinzu kommt eine monatliche Betreuungspauschale, die alle Bewohner gleichermaßen zu zahlen haben: 30 Euro die Jungen, 45 Euro die pflegebedürftigen Senioren. Ein fairer Deal. So sieht Wohlfahrtsstaat im kleinen Maßstab aus.

Der Standard, Mi., 2012.06.06

19. Mai 2012Wojciech Czaja
Der Standard

„Die Stadt ist kaputtgefahren“

Am Montag hält Vittorio Magnano Lampugnani, Architekturhistoriker an der ETH Zürich, einen Vortrag in Wien. Thema: Stadt und Peripherie.

Am Montag hält Vittorio Magnano Lampugnani, Architekturhistoriker an der ETH Zürich, einen Vortrag in Wien. Thema: Stadt und Peripherie.

STANDARD: Wie wohnen Sie?

Lampugnani: Ich wohne mit meiner Familie in einem älteren Haus mitten in Mailand. Und ich habe einen schönen Balkon mit Blick auf einen Garten.

STANDARD: Haben Sie auch schon mal abseits der Stadt gewohnt?

Lampugnani: Ja, eine Zeitlang, als die Kinder klein waren, habe ich versucht, auf dem Land zu wohnen. Ich dachte, es sei eine gute Idee, ins Grüne zu ziehen. Aber es war keine gute Idee. Ich habe die meiste Zeit im Auto verbracht und war schlecht gelaunt. So sind wir wieder in die Stadt gezogen.

STANDARD: Trotzdem ist das Haus im Grünen an der Peripherie immer noch der Traum vieler Mitteleuropäer. Warum?

Lampugnani: Das frage ich mich auch. Ich glaube, der Traum vom Haus beginnt mit der Vision einer Villa mit einem wunderschönen, großen Park rundherum. Am Ende landet man in einem Fertigteilhaus mit Vorgarten und einer Thujenhecke hinter der Terrasse. Immer noch besser als eine enge, überteuerte Wohnung mitten in der Stadt, nicht wahr? Das Wohnen an der Peripherie ist vor allem ein ökonomisches Argument. Das Leben ist viel billiger - zumindest auf den ersten Blick.

STANDARD: Und auf den zweiten Blick?

Lampugnani: Ziemlich teuer! Die langen Wege ins Büro, ins Shoppingcenter, ins Kino oder einfach nur ins Stadtzentrum schlagen im Familienbudget ordentlich zu Buche - zumal sie sich periodisch wiederholen. Das Auto wird zum unverzichtbaren Hilfsmittel. Das ist Zwangsmobilität. Hinzu kommt, dass ein europäischer Pendler im Vergleich zu einem Innenstadtbewohner pro Monat durchschnittlich 12 bis 14 Stunden verliert - weil er im Auto sitzt. Alles in allem ist das Leben an der Peripherie teuer und ineffizient.

STANDARD: Welche Möglichkeiten gibt es, diese finanziellen Nachteile besser anschaulich zu machen?

Lampugnani: Die Leute sind nicht blöd. Mehr und mehr Menschen sind sich der Nachteile bewusst und sind in der Lage, unterschiedliche Aspekte gegeneinander abzuwägen. Da mache ich mir keine Sorgen. Doch nicht nur der Einzelne wird durch die Agglomeration mit Mehrkosten konfrontiert, sondern auch die Gesellschaft.

STANDARD: Sie meinen die Kosten für Erschließung, Straßenbau, öffentlichen Verkehr und Infrastruktur?

Lampugnani: Ja. Das sind außerordentlich hohe finanzielle Belastungen, die die Gesellschaft tragen muss, also jeder einzelne Steuerzahler. Ich sehe nicht ein, warum ein Innenstadtbewohner für den grünen Traum des Landbewohners mitzahlen soll. Man muss einen Weg finden, die Urbanisierungs- und Infrastrukturkosten denjenigen in Rechnung zu stellen, die sie verursachen.

STANDARD: Damit stellen Sie den gesamten Wohlfahrtsstaat infrage.

Lampugnani: Ja, ich weiß.

STANDARD: Und?

Lampugnani: Der Wohlfahrtsstaat hat irgendwann ein Ende. Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Besiedelungs- und Regionalpolitik mehr oder weniger in Ordnung. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren jedoch sind die Städte und Peripherien - bedingt durch den Freiheitswunsch und durch eine wachsende Automobillobby - in einer Art und Weise gewachsen, dass uns die Kontrolle darüber verlorengegangen ist. Zwei Drittel der europäischen Bevölkerung leben heute an der Peripherie rund um die Stadt. Doch Tatsache ist: Wir können uns die Zersiedelung als Gesellschaftsform in dieser Form heute nicht mehr leisten.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Lampugnani: Der allererste Schritt wäre die Streichung der Wohnbauförderung für Einfamilienhäuser. Es kann nicht sein, dass man diese ohnehin schon volkswirtschaftlich extrem teure Lebensform auch noch finanziell unterstützt und forciert.

STANDARD: Damit machen Sie sich keine Freunde.

Lampugnani: Umdenken ist nie bequem ... Der zweite Schritt wäre ein Ende der Ausweisung von Bauland. Ich kenne die Situation in Österreich nicht gut genug, aber allein in der Schweiz wird ein Quadratkilometer Bauland pro Sekunde ausgewiesen. Das ist zu viel. Mit der Verdichtung von Bauland könnte man pro Jahr zwei Milliarden Schweizer Franken (rund 1,7 Mrd. Euro, Anm.) an Infrastrukturen einsparen. Das ist viel Geld. Und der dritte Schritt wäre, das Pendlerverhalten zu verändern, also das Verhältnis zwischen Individualverkehr und öffentlichem Verkehr zu optimieren.

STANDARD: Das klingt nach einer Abschaffung der Pendlerpauschale für Autofahrer.

Lampugnani: Gegenwärtig wäre das ein zu radikaler Schritt, der sozial zutiefst ungerecht wäre. Eine Abschaffung der Pendlerpauschale ist nur dann denkbar, wenn auch die Peripherie abgeschafft wird.

STANDARD: Haben Sie ein Auto?

Lampugnani: Ich bin ein ausgesprochener Gegner des Automobils und fahre meist mit dem Rad. Aber ja, ich habe ein Auto: eine Giulietta aus den Fünfzigern. Ein Liebhaberstück. Mehr Spielzeug als Auto.

STANDARD: Sie sind Nostalgiker?

Lampugnani: Ich kann dem Alten immer etwas abgewinnen, wenn es besser ist als das Neue.

STANDARD: 2008 waren Sie Jury-Chef des Wettbewerbs zur Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses.

Lampugnani: Ich war zunächst in der Kommission, die über den Wiederaufbau des Schlosses beraten und eine Empfehlung ausstellen sollte. Da habe ich mich klar gegen eine solche Rekonstruktion geäußert. Aber ich wurde überstimmt. Der Bundestag hat sich für den Wiederaufbau entschieden.

STANDARD: Trotzdem haben Sie zugestimmt, den Juryvorsitz zu übernehmen.

Lampugnani: Ich wollte dazu beitragen, innerhalb der engen und schwierigen Ausschreibungskriterien die beste Lösung zu finden. Das Projekt von Franco Stella hat gewonnen, weil es unter den gegebenen Bedingungen das beste war.

STANDARD: Das ist jetzt der erste Moment in unserem Gespräch, an dem Sie nicht besonders leidenschaftlich klingen.

Lampugnani: Die Debatte um das Stadtschloss ist eine zutiefst deutsche, die so in keinem anderen Land dieser Erde möglich gewesen wäre. Und sie beginnt, mich zu langweilen.

STANDARD: In Wien wird derzeit eine Satellitenstadt errichtet. Was sagen Sie dazu?

Lampugnani: Sie meinen die Seestadt Aspern? Ich kenne das Projekt zu wenig, um es seriös beurteilen zu können. Generell kann ich sagen: Es gibt zwar Satellitenstädte, die funktionieren, doch in der Regel ist diese Besiedelungsform eher problematisch. Wir sollten die Art und Weise, wie wir unsere Städte erweitern, überdenken. Ein neues Stadtviertel, das Teil des urbanen Gefüges ist, ist in meinen Augen die bessere Strategie, um die Stadt zu erweitern.

STANDARD: Es siegt nicht immer die bessere Lösung.

Lampugnani: Ja, die Politik trifft nicht immer die besten Entscheidungen. Viele Gemeinden versuchen verzweifelt zu wachsen, um Urbanisierungskosten einzukassieren. Das Ergebnis ist ein entsprechend zerfranster Stadtrand.

STANDARD: Was ist mit der Immobilienwirtschaft? Die kommt ungeschoren davon?

Lampugnani: Das ist ein wichtiger Punkt. Ein großer Teil des Neubaus unserer Städte beruht auf dubiosen ökonomischen Praktiken der Immobilienwirtschaft. Und diese ist, wie wir wissen, sehr einseitig ausgerichtet. Da geht es einzig und allein um wirtschaftlichen Profit. Wenn die öffentliche Hand nicht mit Entschiedenheit gegensteuert, entsteht das, was letztendlich niemand will - nicht einmal die Investoren.

STANDARD: Ein trauriges Ende.

Lampugnani: Wir haben unsere Städte in den letzten 50, 60 Jahren ziemlich rasch kaputtgefahren. Jetzt müssen wir sie langsam wieder in Ordnung bringen.

STANDARD: Wie sieht die Idealstadt aus?

Lampugnani: Die Zauberworte lauten Durchmischung, Dezentralisierung und Dichte. Das sind jene drei Regeln, die durch die zehn Jahrtausende, seitdem es Stadt gibt, konstant geblieben sind. Wir werden nicht umhinkommen, diesen Regeln in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu schenken als in der jüngeren Vergangenheit, wo eine Menge Fehlplanungen passiert sind. Denn es geht nicht nur um die Zukunft der Stadt, sondern auch um die Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Kultur.

Am Montag, hält er einen Vortrag in Wien: „Die Peripherie gibt es nicht“. 21. Mai, 18.30 Uhr. Wien-Museum am Karlsplatz.

Der Standard, Sa., 2012.05.19



verknüpfte Akteure
Lampugnani Vittorio Magnago

05. Mai 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Hier lernt man den Lufthaken

Vor wenigen Wochen wurde in Ithaca, Upstate New York, die Milstein Hall von Rem Koolhaas feierlich eröffnet. So sieht Lernen aus.

Vor wenigen Wochen wurde in Ithaca, Upstate New York, die Milstein Hall von Rem Koolhaas feierlich eröffnet. So sieht Lernen aus.

Um sieben Uhr morgens sitzen bereits die ersten Studenten in der Halle, kleben Holz und Karton, bauen Kulissen aus Lego, spannen gelbe Gummiseile quer durch den Raum. Ein paar Meter weiter hört man Stichsäge und Bohrmaschine. Aus dem hintersten Eck dröhnt das Surren eines hörbar überforderten Elektromotors. Ein quietschendes Aufjaulen. Ein dumpfes Fauchen. Und Stille.

„Ich fühle mich hier wie in einem riesigen Traumlabor“, sagt José Tihgerina. Der 22-jährige Bachelor-Student aus Mexiko-Stadt, der Mann mit den gelben Seilen, absolviert in Ithaca bereits sein viertes Jahr. „Noch fühlt sich das Gebäude neu an, und es hat einige Zeit gedauert, bis die Studenten sich wirklich getraut haben, es wie ein Werkzeug zu benützen. Doch nun ist die Stimmung ziemlich perfekt. Einen besseren und lebendigeren Arbeitsplatz kann ich mir nicht vorstellen.“

Verantwortlich dafür ist der niederländische Architekt Rem Koolhaas. Nach einer ganzen Reihe namhafter Kollegen wie etwa Thom Mayne, James Stirling, Richard Meier und Ieoh Ming Pei, die auf dem Campus der Cornell University im hohen Norden des US-Bundesstaats New York bereits ihre Handschriften hinterließen, ist er der Jüngste in der Riege der Bauenden.

Gemeinsam mit seinem Büro OMA plante er diesen 2500 Quadratmeter großen Arbeitssaal für das AAP Institute (Architecture, Art and Planning), das vor wenigen Wochen feierlich eröffnet wurde, unterfütterte es im Erdgeschoß und Keller mit einem Hörsaal und einem riesigen Kuppelraum für Kritiken und Projektpräsentationen, platzierte das Raumprogramm millimetergenau zwischen die beiden denkmalgeschützten Backsteinbauten aus dem 19. Jahrhundert und hängte das gesamte Gebäude schließlich an einer erklecklichen Anzahl Siemens-Lufthaken auf.

Stützen und Säulen

Anders kann man sich das unangestrengt schwerelose Schweben, ohne sich dabei auf die alten Mauern zu stützen, kaum erklären. „Es ist schon lustig“, erinnert sich Shohei Shigematsu, der Chefarchitekt und Projektleiter in der New Yorker OMA-Dependance. „Eigentlich wollten wir Kosten sparen und haben das Gebäude zu Beginn auf Stützen und Säulen gestellt. So wie man sich das halt vorstellt. Es war der ausdrückliche Wunsch der Cornell University, auf diese Maßnahmen zu verzichten und das gesamte Bauwerk stattdessen nach allen Seiten stützenfrei auskragen zu lassen. Meistens ist es der Architekt, der vor dem Auftraggeber darum kämpft, seine Visionen umzusetzen. In diesem Fall war es umgekehrt.“ Die paar Millionen US-Dollar, um die sich das Projekt dadurch verteuerte, schienen die Universität und den ehemaligen Absolventen und Hauptsponsor des Projekts, Paul Milstein, nicht zu kratzen. Am Ende betrugen die Baukosten 37,6 Millionen Dollar (rund 28,5 Mio. Euro). Die Life-Cycle-Kosten mitsamt Nebenkosten, Honoraren und Betriebskosten belaufen sich über die ermittelte Lebenszeit des Hauses auf etwa 55,5 Millionen Dollar (rund 42 Mio. Euro). In der Miteinbeziehung dieses Kostenfaktors sind die Nordamerikaner den Europäern definitiv einen Riesenschritt voraus.

„Das war das Geld schon wert“, meint Kent Kleinman, Dekan der AAP-Fakultät. „Das ist ein intelligent und überaus konsequent geplantes pädagogisches Instrument, das viele verschiedene Formen des Lehrens und Lernens ermöglicht. 300 Studenten, die miteinander in einem Raum arbeiten, kann es etwas Schöneres geben?“ Kurze Pause. „Aber soll ich Ihnen etwas verraten? Am liebsten habe ich es, wenn ich im Hörsaal stehe und durch die große Glasfassade die Leute auf der Straße beobachten kann, wie sie unter der großen Halle auf den Bus warten und sich dabei mit großen Gesten über die Statik dieses Gebäudes unterhalten.“

Es habe sogar schon Anfragen von Orchestern gegeben, die im Hörsaal Kammermusik aufführen wollten. Erst unlängst sei eine Anfrage eines verlobten Paares am Institut eingetrudelt. Mann und Frau wollen sich unter der stützenfreien Auskragung der Milstein Hall das Jawort geben. Kleinman: „Das Gebäude ist schon weit über den Campus hinaus bekannt. Und die Reaktionen der Leute zeigen, dass das Haus mehr ist als nur ein Haus. Es ist ein Symbol für zeitgenössisches Bauen.“

So sieht das Gebäude im Detail aus: Das erste Obergeschoß besteht aus einer wuchtigen Stahlkonstruktion. Unverblümt knallt das Neue auf das Alte. Vor der historischen Backsteinfassade tanzen weiß lackierte Fachwerkträger auf und ab. Ihnen ist zu verdanken, dass die große Halle sowohl an der Süd- als auch an der Nordseite rund 16 Meter weit ins Nichts hinauszischt.

An der Fassade ist das Gebäude nicht etwa mit lackierten Paneelen verkleidet, wie man vermuten möchte, sondern mit Marmor aus der Türkei. Unscheinbar ist der Name des Sponsors in die Oberfläche gefräst. Das ist Understatement pur. „Der Stein stammt zwar aus der Natur, aber aufgrund der Barcode-Optik könnte man es leicht mit einem künstlich hergestellten Baustoff verwechseln“, erklärt der Projektleiter. „Ich finde diese Irritation sehr lustig.“

Skaten und studieren

Unter der Halle bäumt sich die Erde zu einer organisch geformten Stahlbeton-Landschaft auf. Der höhlenartige Massivbau dient einerseits als Sockel, andererseits als Aussteifung. Die Skater haben den Ort längst in Besitz genommen. Nur an der Akustik hapert's noch. Das kathedralische Echo im Innenraum eignet sich mehr für Konzerte denn als Präsentationsraum für Studenten. Nach Auskunft von OMA arbeite man bereits daran, den Mangel zu beheben.

Zu entdecken gibt es genug - etwa die historisierenden Deckenverkleidungen aus Lochblech, die bedruckten Vorhänge mit Zitaten aus der Baukunst, die Hörsaal-Bestuhlung mit seitlich ausklappbaren Tischchen zum Mitschreiben. Sogar an die Linkshänder wurde gedacht. All diese versteckten Hinweise, all diese architektonischen Details mit Schmunzelpotenzial machen die Milstein Hall zu einer würdevollen Visitenkarte für die Studienzweige Kunst und Architektur. Nicht zuletzt ist sie ein Vozeigebeispiel für einen modernen, unverkrampften Umgang mit denkmalgeschützter Bausubstanz.

„Manche Leute finden das Haus echt eigenartig“, sagt Youngjin Yi. „Es gefällt nicht allen, aber alle reden darüber. An der Cornell University hat das Projekt jedenfalls einen Hype ausgelöst.“ Konzentriert schaut die 24-jährige Studentin in ihren Monitor, zeichnet ein paar Striche, blickt wieder auf. „Bis vor kurzem hatten wir unser Studio in ein paar kleinen Zimmern im Altbau. Jetzt sitzen wir hier zu dreihundert in diesem offenen und kommunikativen Raum und arbeiten uns gemeinsam durchs Studium. So stelle ich mir Lernen vor. Hast du schon den Typen mit den gelben Seilen interviewt? Der macht ein echt irres Projekt. Mit dem musst du reden!“

Der Standard, Sa., 2012.05.05

27. April 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Pioniere in der Krise

Am Donnerstag wurde an der TU Wien der Blue Award 2012 vergeben. Studenten aus aller Welt haben sich ihren Kopf über das Thema Nachhaltigkeit zerbrochen.

Am Donnerstag wurde an der TU Wien der Blue Award 2012 vergeben. Studenten aus aller Welt haben sich ihren Kopf über das Thema Nachhaltigkeit zerbrochen.

Der größte Widerstand liegt in den Köpfen der Menschen. „Mit Lehm will niemand bauen, weil das in Brasilien ein klassischer Arme-Leute-Baustoff ist“, sagt Gregor Fasching. „Und Bambus wächst hier ohne Ende, aber scheinbar ist noch niemand auf die Idee gekommen, die Pflanze als Baustoff zu nutzen.“ Seit einigen Jahren lebt der 33-jährige Architekturabsolvent der TU Wien mal in Österreich, mal in Brasilien. Gemeinsam mit seiner Kollegin Doris Großtessner-Hain plante er in Guarabira, Bundesstaat Paraíba, eine Schule, die diese beiden Unmöglichkeiten vereint: unten Lehmbau, und obendrauf ein Dach aus Bambusrohr. Demnächst ist Baubeginn.

Vorgestern, Donnerstag, wurde sein Projekt „Eine Schule für Anajô“ als eines von insgesamt drei Forschungsarbeiten im Kuppelsaal der TU Wien mit dem Blue Award 2012 ausgezeichnet. Ziel dieses Preises, der 2009 ins Leben gerufen und nun zum zweiten Mal vergeben wurde, ist die Hervorhebung besonderer akademischer Leistungen im Bereich nachhaltigen Planens und Bauens. 234 Studenten aus 38 Nationen nahmen heuer daran teil. Den Siegern winken 20.000 Euro Preisgeld.

„Die nominierten Projekte zeichnen sich durch eine sehr aufgeschlossene Herangehensweise aus“, sagt Françoise-Hélène Jourda, Initiatorin des Blue Award und Leiterin der Abteilung für Raumgestaltung und nachhaltiges Entwerfen der TU Wien. „Es ist erstaunlich, wie einfühlsam die meisten Studierenden auf die sozialen, kulturellen und ländlichen Gegebenheiten eines Ortes reagieren.“

Und der Londoner Architekt und Öko-Pionier Michael Hopkins, Ehrenpräsident des Blue Award, meint im STANDARD -Interview: „Die Studenten zerbrechen sich über Dinge den Kopf, an die nicht einmal die meisten Architekten denken. Doch Tatsache ist: Die Welt ändert sich. Und das haben wir selbst zu verantworten. Darauf nicht zu reagieren ist unverantwortlich. Insofern begrüße ich die eingereichten Projekte sehr.“

Zurück nach Anajô, wo Fasching bereits einen Zehn-Jahres-Plan entwickelt hat, der über den reinen Bau des Schulgebäudes weit hinausgeht. Sein Konzept beinhaltet nicht nur Entwurfs- und Detailpläne, sondern auch genaue Überlegungen zum Schulbetrieb. „In Brasilien herrscht Schulpflicht. Doch das größte Problem ist, dass die meisten Kinder nur am ersten und am letzten Schultag in der Klasse erscheinen. Das reicht, um das Schuljahr offiziell absolviert zu haben und ein positives Zeugnis in die Hand gedrückt zu bekommen. Leider wird diese Vorgehensweise in vielen Gegenden Brasiliens toleriert.“

Erst Mathe, dann Capoeira

In Zusammenarbeit mit der NGO Fundação Anajô arbeitete Fasching einen Plan aus, wie man diesem wenig zielführenden Trick der Kids entgegenwirken kann: Capoeira. „Das ist nicht nur traditionelle Kampfsportart, sondern auch ein unglaublicher Magnet, der viele Kinder und Jugendliche begeistert. Auf dieser Basis wollen wir aufbauen.“ Geplant ist, den Sport beziehungsweise die Sportausbildung in den täglichen Schulbetrieb miteinzubinden und den Schülern eine warme Mahlzeit pro Tag anzubieten. Als Gegenleistung für den Gratis-Capoeira-Kurs müssen sie die Schulbank drücken. Ein fairer Deal.

Während die Kosten für den laufenden Schulbetrieb mit zusätzlichen Privatsponsoren noch sichergestellt werden müssen, sind Grundstück und Gebäude mit 8000 Euro bereits komplett ausfinanziert. „Der Bau ist sehr billig“, erklärt Gregor Fasching. „Der Bambus wächst überall rundherum, und den Lehm bekommen wir vom Nachbarn zur Verfügung gestellt. Das einzig wirklich Teure an so einem Gebäude sind die Fenster und Türen.“

Die Lösung zum Problem: Die Türen sollen auf ein Minimum reduziert werden, und die Fenster werden gleich komplett weggelassen. Ein ordentlicher Dachüberstand soll die Wandlöcher in Zukunft vor starken tropischen Regenfällen schützen.

Ein Haus für Marmeladen

Den sozialen und ökonomischen Ungereimtheiten auf dem Land widmete sich auch Veronika Holczer, Siegerin in der Kategorie „Building in Existing Structures“. Die 28-jährige Absolventin der Technischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Universität Budapest übersiedelte am Ende ihres Studiums nach Markóc, einer kleinen Siedlung an der ungarisch-kroatischen Grenze. 66 Menschen leben hier, großteils Arbeitslose und Bauern. „Viele Gebäude in Markóc waren ungenutzt und längst verfallen“, erinnert sich Holczer. „Eines Tages hat mich der Bürgermeister gebeten, einen der Schuppen zu revitalisieren und für die Menschen wieder nutzbar zu machen.“

In monatelanger Arbeit wurde aus der kaputten Holzbaracke ein Gemeinschaftsraum für die Bevölkerung. Es gibt Lagerungsmöglichkeiten für Ackerwerkzeug und eine Küche, in der die Bauern und Bäuerinnen ihre Produkte zu eingelegtem Gemüse und Marmelade verarbeiten können. Noch ist der Arbeitsschuppen ungedämmt und kann daher nur im Sommer verwendet werden. Das Preisgeld des Blue Award soll nun in Fenster und Dämmung investiert werden.

„Meine Beobachtung ist, dass die Bevölkerung am Land zunehmend benachteiligt wird.“ In Zukunft, meint Holczer, werde sich Architektur vermehrt auf die Bauaufgaben abseits von Großstadt und Hochglanzzeitschrift konzentrieren müssen. „Die Städte wachsen und prosperieren, und im ruralen Raum bleiben die Menschen auf der Strecke. Wenn wir Architektinnen und Architekten diese Ungleichheit akzeptieren, dann haben wir unseren Beruf eindeutig missverstanden.“

Schließlich führt die Reise nach Indien. Nikhil Chaudhary von der CEPT University in Ahmedabad bekam für sein Projekt „Reverse Thrust: Restructuring the Urban Fringe along Ring Roads“ den 1. Preis in der Kategorie „Urban Development and Transformation“. In der Industriestadt Nagpur in der Mitte des Landes will Chaudhary den ignoranten Autobahnplanungen der Stadtregierung entgegenwirken.

„Es gibt viele Infrastruktur- und Verkehrsprobleme in Nagpur, und die Chefplaner glauben, diese durch eine weitere Ringautobahn lösen zu können“, erklärt der 26-jährige Student. „Aber das ist definitiv nicht der Fall, denn mit jeder neuen Autobahn begünstigt man lediglich die Zentren rund um die Auf- und Abfahrten, wo wie überall Hochhäuser entstehen. Das weite Land dazwischen, wo viele tausend Menschen leben, bleibt unberücksichtigt.“

Chaudharys Projekt sieht einen detailliert ausgearbeiteten Stufenplan vor, wie die vielen Slums und Agrarflächen an ein entsprechendes infrastrukturelles Netz angebunden werden können - von Wasser und Kanalisation über Feldbewässerung bis hin zum Mobilitätsnetzwerk mit Geh- und Radwegen.

„Autobahnen bauen, die Starken stärken und die Schwachen schwächen - so funktioniert Stadtentwicklung in Indien heutzutage“, kritisiert Nikhil Chaudhary. „Es ist dringend an der Zeit, nicht nur auf der primären Ebene zu planen und alles darunter zu vergessen, sondern sich auch mit den Konsequenzen auseinanderzusetzen.“ Chaudhary hofft, dass sein Projekt ein Prototyp für strukturell geschädigte Großstädte in Indien werden könnte. Demnächst will er das Projekt der Stadtregierung zur Begutachtung vorlegen.

„Wie man anhand der siegreichen Projekte gut sieht, wächst unser Gespür für Nachhaltigkeit mit zunehmendem Maß an gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Rezession“, sagt Blue-Award-Ehrenpräsident Michael Hopkins. „Das war schon immer so, und das wird auch immer so sein.“ So gesehen ist Krise eine große Chance für Neubeginn und Kreativität. Die Studenten, so scheint es, haben diese Lektion schneller begriffen als so mancher Architekt.

Der Standard, Fr., 2012.04.27



verknüpfte Auszeichnungen
Blue Award 09

07. April 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Grüner als der Rasen

Dribbeln in der Wüste? Für die Fußball-WM 2022 plant Katar zwölf Stadien, die mit Sonnenenergie gekühlt werden sollen. Diese Woche fand dazu in Doha eine internationale Konferenz statt.

Dribbeln in der Wüste? Für die Fußball-WM 2022 plant Katar zwölf Stadien, die mit Sonnenenergie gekühlt werden sollen. Diese Woche fand dazu in Doha eine internationale Konferenz statt.

Frage an den Taxifahrer: „Sagen Sie, gibt es in Katar einen Nationalsport?“ Langes Zögern, Kratzen am Kinn, Runzeln auf der Stirn. Leise kommt es über die Lippen: „Falkenjagd. Und Kamelrennen vielleicht. Mehr fällt mir nicht ein.“ So oder so ähnlich gestaltete sich der letzte Spontandialog zwischen Gast und Einheimischem im Jahr 2005.

Sieben Jahre später ist alles anders. Frage an den Taxifahrer: „Sagen Sie, gibt es in Katar einen Nationalsport?“ Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Ja klar, Leichtathletik und Fußball. Sie haben wohl wirklich keine Ahnung, was?“

Zur Fußball-WM in zehn Jahren ist es noch ein breiter Weg. Doch seitdem sich Katar mit einem sieben Kilo schweren Bieterbuch für den Fifa World Cup 2022 beteiligte und vor mehr als einem Jahr dafür den Zuschlag erhielt, liegt über dem kleinen Wüstenstaat am Persischen Golf eine Art verzückter Vorfreude. Und Handeln.

Am Mittwoch fand in der katarischen Hauptstadt Doha, quasi in der Aura des bestehenden Khalifa-Stadions, das bis 2022 um 20.000 Sitzplätze erweitert und energetisch aufgemotzt werden soll, der Coliseum Summit 2012 statt. Das Symposium befasste sich mit Planung und Bau von Sportstätten und Veranstaltungshallen. Das Hauptaugenmerk galt den Chancen und Herausforderungen des bevorstehenden Megaevents, in das Katar mehr als vier Milliarden US-Dollar investieren will. Insgesamt sollen zwölf Stadien errichtet beziehungsweise adaptiert werden.

„Die Kritik, die im Zusammenhang mit der WM 2022 am häufigsten zu hören ist, betrifft das Klima und die hohen Temperaturen“, sagt Veranstalter Michael Rennschmied. Der Deutsche lebt seit sechs Jahren in Katar, ist Chef der MJR Communication Group und betreibt einen eigenen Architekturverlag. Über die immer und immer wieder gehörten Vorurteile könnte er bereits ein Buch schreiben.

„Natürlich ist es im Sommer sehr heiß, aber die Weltmeisterschaften in Mexiko 1986 und in den USA 1994 waren auch nicht gerade von Hitze verschont. Und wenn ich mir anschaue, unter welchen Bedingungen jedes Jahr die Australian Open stattfindet und wie die Tennisspieler unter der Sonne brüten, dann frage ich mich, worüber wir hier eigentlich diskutieren.“

Kicken gegen die Hitze

Eines ist nach wenigen Vorträgen klar: Auf vorgefasste Meinungen, was Klima und Wetter betrifft, reagieren sowohl die Katarer als auch die weitgereisten Vortragenden aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich und der Schweiz, aber auch aus Brasilien, Australien und Südafrika mit Unverständnis und Ärger. Da hört sich der Spaß auf.

„Sport spielt in Katar schon seit langer Zeit eine große Rolle, und Fußball ist bei uns mittlerweile die Nummer 1“, meint Nasser al-Khater, Communication Director des Qatar 2022 Supreme Committee. „Und ja, die Temperatur in den Sommermonaten ist ein Faktum, das man nicht schönreden kann. Aber genau darin sehe ich eine große Chance für die Zukunft. Wir möchten uns mit diesem Problem ernsthaft auseinandersetzen und technische und infrastrukturelle Lösungen erarbeiten, die die Klimatisierung in den Golfstaaten nachhaltig verändern könnte.“

Was das genau heißt, erklärt Lee Hosking, Projektleiter bei Arup Associates und damit einer der federführenden Planer und Mitbieter für Katar 2022. „Wir haben der Fifa das Versprechen gegeben, dass wir die Stadien durch solare Kühlung ohne ein Gramm CO2-Emission auf ein akzeptables Maß runterkühlen können. Und dieses Versprechen werden wir auch halten.“ Ende 2010 stellte Arup ein kleines Showcase-Stadion für 500 Sitzplätze fertig. Der Prototyp beweist: Das Konzept funktioniert. Gekühlt wird mit der Sonne. Einerseits wird über eine 1400 Quadratmeter große Fotovoltaikanlage auf den Dachflächen und in der Nähe des Stadions Strom produziert, der ins öffentliche Netz gespeist und im Bedarfsfall wieder entnommen wird. So kann das Stadion temperiert werden. Andererseits wird durch die Sonneneinstrahlung Wärme gewonnen, die während des Tages in unterirdischen Wassertanks gespeichert wird. In sogenannten Absorptionskältemaschinen wird die Energie anschließend in Kälte umgewandelt. Das Prinzip ist nichts anderes als ein riesengroßer Kühlschrank XXL. Für den Notbetrieb stehen Generatoren auf Basis von Biosprit bereit. Hosking: „Natürlich ist ein Stadion für 80.000 Zuschauer etwas ganz anderes. Man muss dabei nicht nur den Maßstab und die Infrastruktur verändern, sondern auch andere Faktoren in die Planung miteinbeziehen, die bei einem 500-Mann-Gebäude nicht ins Gewicht fallen.“ Die größte Unbekannte in diesem System ist nicht die Sonne, sondern ausgerechnet der Wind. Sobald der Wüstenwind über das Stadion fegt, besteht die Gefahr, dass die Böe in die Arena gelangt und die mühsam abgekühlte Luft mit einem Stoß wieder rausschaufelt. Aus diesem Grund sollen die Stadien für den Fall eines Wetterumschwungs mit mobilen Dächern ausgestattet werden. „Wir müssen nicht erst warten, bis womöglich noch ausgereiftere und noch effizientere Technologien auf den Markt kommen. Es ist schon alles entwickelt.“ Zwei große Stadien, an denen Arup maßgeblich beteiligt ist, sind bereits in Planung. Die Details möchte man vorerst noch für sich behalten. Salah S. Nezar, Sustainability Director beim Projekt- und Baumanager QPM, erhofft sich durch Katar 2022 ein Umdenken in Sachen Energiehaushalt und Ressourcenverbrauch. „55 bis 60 Prozent des Energieverbrauchs in Katar werden für die Klimatisierung von Gebäuden verwendet. Und der Energiebedarf in den Golfstaaten wächst jedes Jahr um zwei Prozent. Das ist ein Wahnsinn.“ Man müsse effizienter werden, in erster Linie aber müsse man das Verhalten der Menschen ändern. „Ein World Cup mit so einem ambitionierten Programm ist sehr medientauglich. Damit kann man Probleme, Schwierigkeiten und Herausforderungen für die Masse leicht verständlich machen. Ich sehe darin eine enorme Chance.“ Mit etwas Glück, so Nezar, könnte Katar 2022 die Baukultur am Golf nachhaltig verändern. So steht es übrigens auch in der Masterstudie „Qatar Vision 2030“.

Und jetzt auch noch Olympia?

Dass man es mit der vielzitierten Nachhaltigkeit ernst meint, beweist die Tatsache, dass schon jetzt über Rückbau, Verkleinerung und Nachnutzungsmöglichkeiten diskutiert wird. Neun der insgesamt zwölf geplanten Stadien sollen nach der WM redimensioniert werden. Die modularen, nicht mehr benötigten Sitztribünen - 170.000 Sitzplätze insgesamt - will Katar nach der WM an ärmere Länder verschenken. Weiße Elefanten, die mitten im Wüstensand vor sich hinrotten, will man auf diese Weise vermeiden.

Nachhaltigkeit bedeutet aber vor allem, am Ball zu bleiben. „Im arabischen Raum gibt es schon fast alles“, sagt der Qatar-2022-Chef Nasser al-Khater zum Abschluss. „Aber auf Sport hat sich bisher noch kein Land und kein Emirat konzentriert. Das ist ein großes Manko in dieser Region. Wir holen das nach.“ Der World Cup 2022 ist noch nicht alles. Am 15. Februar hat sich Katar als Austragungsort für die Olympischen Sommerspiele 2020 beworben. Sportliche Ambitionen.

Der Standard, Sa., 2012.04.07

24. März 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Cineplex für Cineasten

Was die einen liebevoll als „Auster“ und die anderen noch liebevoller als „weißen Schwan“ bezeichnen, wurde von den Marketingleuten des Museums schlicht und nüchtern EYE genannt.

Was die einen liebevoll als „Auster“ und die anderen noch liebevoller als „weißen Schwan“ bezeichnen, wurde von den Marketingleuten des Museums schlicht und nüchtern EYE genannt.

Szene eins. Hauptbahnhof Amsterdam, typische Feierabendhektik, am Ufer des Ij zischen Radfahrer und Bromfietser durchs Bild. Blick auf die Fähre. Die letzten Passagiere gelangen aufs Deck, die Rampe wird hochgeklappt, mit einem Ruck setzt sich das Schiff in Bewegung. Schwenk auf den leerstehenden Overhoeks Tower, besser bekannt als Shell-Hochhaus, die gesamte Fassade ist mit einem Werbebanner verhangen. Eine Möwe fliegt durchs Bild. Links davon taucht ein kantiges, weißes, hell beleuchtetes Ding auf. Abstrakte Erscheinung, dynamische Form, das Motiv macht neugierig. Und Schnitt.

Vorspann. EYE. Das neue Filmmuseum in Amsterdam. Ein Projekt des Wiener Büros Delugan Meissl Associated Architects (DMAA). „Die Erscheinung dieses Gebäudes fasziniert mich jedes Mal wieder“, sagt Architekt Roman Delugan, blickt genießerisch um sich, kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. „Es ist wie im Film. Es geht um bewegte Bilder. Doch in diesem Fall ist die Kamera nicht statisch, sondern befindet sich mitten in unserem Kopf und ist permanent in Bewegung. Und mit jedem Meter, den man sich bewegt, verändert sich der Bau, wird mal kräftiger und mal schlanker, mal höher und mal geduckter, mal offener und mal geschlossener.“

Vorgestern, Donnerstag, fand die Pressekonferenz für niederländische und deutschsprachige Medienvertreter statt. Während auf der Bühne große, pathetische Worte gesprochen wurden, waren im Hintergrund Bohrmaschine und Hammer zu hören. Noch muss ordentlich Hand angelegt werden. Die Arena aus Eichenparkett wird geschliffen, die letzten Blechpaneele werden montiert, Filmprojektoren und Videobeamer müssen millimetergenau kalibriert werden. Am 4. April wird das Bauwerk (Gesamtinvestitionsvolumen 30 Millionen Euro) in Anwesenheit von Königin Beatrix feierlich eröffnet.

Was die einen liebevoll als „Auster“ und die anderen noch liebevoller als „weißen Schwan“ bezeichnen, wurde von den Marketingleuten des Museums schlicht und nüchtern EYE genannt. Das Auge. Tatsächlich sind mit dem Blick in die Zukunft viele Hoffnungen verbunden. Einerseits soll der nationalen und internationalen Filmgeschichte endlich jener Respekt gezollt werden, der ihr gebührt. Andererseits soll damit ein längst in Vergessenheit geratenes Stadtviertel zu neuem Leben erweckt werden.

Ende der verbotenen Stadt

Jahrzehntelang machte sich hier der Mineralölkonzern Royal Dutch Shell breit, forschte und laborierte auf einem riesigen Areal, das für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Der charakteristische, 20-stöckige Overhoeks Tower war das einzig sichtbare Signal nach außen. Mit dem Umzug auf ein kleineres Firmengelände im Norden wurde das Shell-Territorium leer und muss nun sukzessive dem organischen Gefüge der Stadt einverleibt werden. Ein großes Unterfangen. Die Errichtung des Filmmuseums - Grundstück und Haus sind Eigentum der ING Real Estate und werden nun für die Dauer von 25 Jahren an das Filmmuseum vermietet - war die Initialzündung. Weitere Projekte, die meisten davon Wohn- und Bürogebäude, befinden sich in Bau.

„Dieses Gebiet war für die Amsterdamer ein richtiges Tabu“, erinnert sich Sandra den Hamer, Direktorin des neuen EYE. „So gesehen bin ich sehr froh, dass wir die Ersten sind, die dafür sorgen werden, dass Menschen hierherkommen und dieses Stück Stadt nun langsam in Besitz nehmen werden.“ Die Ersten sind dieser Einladung bereits gefolgt, sitzen mit Hund und iPod am Kai oder arbeiten am Laptop.

Bis vor kurzem befand sich das Filmmuseum in einer schmucken Villa im Vondel-Park mitten in der Altstadt. Schon früh hatte man begonnen, alte Filme auszugraben, zu restaurieren und dem Publikum zugänglich zu machen. Dieser Pionierarbeit verdankt das Filmmuseum, dessen Sammlung sich mittlerweile auf 40.000 Filme beläuft, seine internationale Bedeutung. Ende 2009 erfolgte die Zusammenlegung mit Holland Film, mit der Filmbank und mit dem Netherlands Institute for Film Education. Zu viel Programm für so eine kleine Villa.

„Die Situation ist heute ganz anders“, sagt den Hamer. "Wir haben vier Kinosäle, darunter einen Premierensaal für 350 Zuschauer, einen großzügigen Ausstellungsraum und diverse interaktive Zuschauerbereiche für Kinder und Erwachsene. Damit haben die Amsterdamer Cineasten ein neues Zuhause. Und wenn bis Ende des Jahres alle holländischen Kinos auf Digitalbetrieb umgestellt werden, wird das EYE das einzige Kino der Niederlande mit klassischen Projektoren für 35- und 70-Millimeter-Filme sein.

Doch der größte Erfolg von DMAA, die 2005 als Sieger aus einem internationalen Bewerbungsverfahren hervorgegangen sind, ist die hölzerne Arena mit Blick auf die Stadt. Café und Bar, hunderte Sitzkissen auf den Stiegen und die dramatischen Deckenlampen des dänisch-isländischen Künstlers Olafur Eliasson sollen diesen Raum, der entgegen der ursprünglichen Ausschreibung von DMAA quasi als Bonustrack mitgeliefert wurde, schon bald zu einem Hotspot für Stadtflaneure und Cineasten machen. Sogar der nationale TV-Sender VPRO hat bereits Interesse bekundet und will hier Talkshows und Life-Debatten drehen.

Kein Popcorn, kein Cola

„Im klassischen Filmbetrieb kauft man Popcorn und Cola, sitzt dann zwei Stunden in einer Black- Box und wird nach der Projektion an der Rückseite des Gebäudes wieder auf die Straße entlassen“, erzählt Delugan. „Das ist deprimierend. Wir wollten daher bewusst einen Treffpunkt für die Bevölkerung schaffen, wo man sich danach auf ein Gin Tonic zusammensetzen und über den Film reden kann.“ Man hört bereits die Gläser klirren.

Genau das ist die Stärke dieses Hauses. Wäre das eine Filmkritik, würde hier nun stehen: Das Drehbuch ist spannend geschrieben und reagiert auf aktuelle gesellschaftliche und kulturpolitische Umstände, die Charaktere sind präzise ausgearbeitet, das Setting ist perfekt gewählt. Und die ersten Szenen sind vielversprechend. Doch in der zweiten Hälfte des Films geht den Protagonisten die Luft aus.

Kaum hat man die Arena verlassen und begibt sich in die Ausstellungs- und Filmvorführräume, wird es banal. Lange Gänge, rechteckige Kinoschachteln, VIP-Lounge ohne Herz und Charme. Von Film und Kino, von „Lichtmalerei“ und „räumlicher und architektonischer Illusion“, von der Roman Delugan gesprochen hat, von dieser für Delugan Meissl so typischen, geschmeidig geilen Raumflussarchitektur fehlt jede Spur. Räumliche Interaktion von Film und Architektur, die sehr spannend hätte werden können, sucht man vergeblich. Leider.

Es ist kein Zufall, dass der Architekt mehr über das neue Signal am anderen Ufer, mehr über die visuelle Erscheinung des Bauwerks, mehr über die Choreografie der Funktionen als über die Kinosäle und Ausstellungsräume spricht. Das ist schon okay. Um den kulturellen Erfolg des EYE braucht man sich ohnehin keine Sorgen zu machen.

Letzte Szene. „Das Filmmuseum an dieser neuralgischen Stelle gegenüber der Altstadt ist für mich vor allem ein Spiel mit Licht und Reflexion“, sagt Roland Delugan aus dem Off. Und beschreibt damit jene Stimmung, die man in den Innenräumen bisweilen vermisst. „Ich glaube, das hängt mit dieser speziellen Amsterdamer Lichtsituation und der hohen Luftfeuchtigkeit zusammen. Manchmal verschwindet das Gebäude im Dunst, und manchmal taucht es wie aus dem Nichts wieder auf.“ Abspann.

Der Standard, Sa., 2012.03.24



verknüpfte Bauwerke
EYE Film Instituut Nederland

17. März 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Die Macht des Gummihandschuhs

Gegen Krisen ist kein Kraut gewachsen? Doch! Eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien widmet sich dem grünen Städtebau von unten.

Gegen Krisen ist kein Kraut gewachsen? Doch! Eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien widmet sich dem grünen Städtebau von unten.

Das Gärtnerische war immer schon ein seismografischer Indikator für Krise. In Drucksituationen widmen sich die Menschen dem Grünraum und beginnen, Obst und Gemüse anzubauen.

Chi-Ho Chung ist Mitte 30, trägt Mittelscheitel und Hemd. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein Manager in der Wirtschaftsmetropole Hongkong. Doch der Schein trügt. Chi-Ho ist Designer, Aktivist und Nebenerwerbsbauer. In den New Territories, am nördlichen Stadtrand Hongkongs und direkt an der Grenze zu Shenzhen und Mainland China, steckt er täglich die Hände in die Erde, sät Samen, wühlt nach Gemüse und lehrt die lokale Bevölkerung, sich selbst zu versorgen.

„Wir leben in einer künstlichen Konsumwelt, werden mit jedem Tag abhängiger von der Nahrungsmittelindustrie und werden uns unser Leben in dieser Stadt bald nicht mehr leisten können“, sagt Chi-Ho. Die Ma Po Po Community Farm, ein wildromantisches Fleckchen Erde inmitten 40-stöckiger Wohnhochhäuser, soll Abhilfe schaffen. Bewohner aus der Umgebung lernen die Grundprinzipien des Ackerbaus kennen, können an der Farmschule einen Lehrgang absolvieren und treffen sich regelmäßig zur gemeinsamen Feldarbeit. Das geerntete Obst und Gemüse ist sowohl für den Eigenbedarf als auch für den Verkauf bestimmt.

Vor allem aber leisten die angehenden Hobbybauern einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung unserer Städte. Es ist genau diese Kraft an der Basis, die dem Turbokapitalismus und Neoliberalismus die lange Nase zeigt und sich den widrigen Machenschaften von Wirtschaft und Politik entzieht - oder es zumindest versucht. Diesen Menschen, diesen Initiativen und diesen Bottom-up-Bewegungen widmet das Architekturzentrum Wien (AZW) seit Mittwoch eine eigene Ausstellung. Hands-on Urbanism 1850-2012. Vom Recht auf Grün ist aber mehr als nur eine Ausstellung. Es ist eine inhaltlich dicht gespickte Forschungsreise durch Zeit und Raum, die beweist, dass die grüne Rebellion im Untergrund nicht erst eine Erfindung im Zeitalter der Globalisierung ist. Sie beweist, dass es informelle Stadtentwicklung schon seit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts gibt, dass sie immer wieder da war, immer wieder aufkeimte wie ein junges Pflänzchen und immer wieder verendete und verschwand.

Wo eine Krise, da ein Garten

„Das Gärtnerische ist ein weltweites Phänomen, das sich nicht nur in Hongkong oder New York manifestiert, sondern überall auf der Welt“, sagt die Kuratorin Elke Krasny. Gemeinsam mit der Szenografin Alexandra Maringer ist sie für die inhaltliche und optische Gestaltung der Ausstellung zuständig. „Am meisten fasziniert mich, dass das Gärtnerische immer ein seismografischer Indikator für Krise ist. In politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Drucksituationen widmen sich die Menschen vermehrt dem Grünraum und beginnen, eigenhändig Obst und Gemüse anzubauen.“

Die Ma Po Po Farm in Hongkong ist so ein Beispiel. Einst waren die New Territories eine wichtige Landwirtschaftsregion, die die Bewohner der Megalopole mit Nahrungsmitteln versorgte. Mitte der Neunzigerjahre ging die lokale Produktion zurück. Investoren erkannten den Wert der Grundstücke und begannen, sie durch Bebauung, Vermietung und Verkauf lukrativer zu verwerten. Und die Hongkonger Regierung rechnete sich aus, dass die Auslagerung der Agrarproduktion und der Nahrungsmittelimport aus China wesentlich billiger ist als Eigenproduktion in der teuren Sonderwirtschaftszone.

Kampf mit Sense und Hacke

„Ja, man braucht heute viel Vorstellungskraft, um mit der Metropole Hongkong Landwirtschaft zu assoziieren“, sagt Chi-Ho Chung. „Traditionelle Symbole wie Fischteiche und Reisfelder geraten nach und nach aus dem Blickfeld und werden zu Erinnerungen.“ Stattdessen gibt es Parkplätze, Lagerhallen und Schrotthändler. Die Entwicklung ist nicht zu stoppen.

Doch gerade jetzt, da der kanadische Baugigant Henderson Development der ansässigen Bevölkerung auf die Pelle rückt und Pläne für eine Neubebauung der letzten grünen Reserven präsentiert, gerade jetzt, da die Regierung mit Zwangsabsiedelung droht, formiert sich Widerstand. Im Juli 2010 wurde die Ma Po Po Farm gegründet, schon ein Jahr später standen die ersten Absolventen der Farmschule in Gummistiefeln auf dem Feld und wurden als Biobauern aktiv. Doch die Stunden von Ma Po Po sind gezählt.

„Es scheint eine allgemein verbreitete Strategie der privaten Developer zu sein, landwirtschaftlich genutzte Flächen zuerst brachliegen und verkommen zu lassen und dann bei der Regierung eine Umwidmung der Flächen zu beantragen“, meint Chi-Ho. „Wir bauen Salat, Kartoffeln, Bohnen und Karfiol an, und wir zeigen vor, wie nachhaltiges Wohnen aussehen kann, wie man auch mit wenig Einkommen ein schönes und hochwertiges Leben führen kann. Die ersten Zwangsabsiedelungen durch Henderson wurden bereits angedroht. Ich hoffe, dass wir das Blatt noch wenden können.“

Auch andernorts auf der Welt spornen Krisensituationen zu grünen Meisterleistungen an. Eine gängige Methode des informellen Städtebaus sind die sogenannten Gecekondus in Istanbul. Die meist mehrstöckigen Häuser werden ohne Baubescheid errichtet. Die Menschen leben in großer Dichte, betreiben ein bisschen Landwirtschaft rund ums Haus und halten Hennen für den täglichen Bedarf.

„Ganze Stadtteile in der Türkei wurden auf diese Weise errichtet, so gesehen ist das informelle Bauen ein wichtiger Faktor für die Entwicklung des Landes“, sagt Stephan Schwarz, Architekt und Forscher bei ISSS Research. „Doch seit 2004 ist die Errichtung von Gecekondus illegal. Vor allem im innerstädtischen Bereich Istanbuls sind viele Gecekondu-Viertel heute von Abriss und Neubebauung bedroht. Ich fürchte, dass damit Lebensqualität, aber auch ein Stück regionaler Baukultur verlorengehen wird.“

Die Reise zu den erkämpften Zonen einer sich immer stärker emanzipierenden Gesellschaft ließe sich ohne Ende fortsetzen. In Kuba entstand im Zuge des Zusammenbruchs des europäischen Kommunismus ein Engpass an Chemikalien und Treibstoffen; durch die Auflösung der UdSSR verlor das Land einen wichtigen Handelspartner und damit auch den Zugang zu wichtigen Ressourcen. Das Handelsembargo der USA setzte der Regierung in Havanna zusätzlich zu. Das war das Ende der großen Landwirtschaft - aber auch der Beginn der sogenannten Organoponicos. Auf den unbebauten Restflächen in der Stadt begannen die Menschen damals Ackerbau zu betreiben. Derzeit gibt es in Havanna rund 160 Kommunen für Agrikultur. Ein genaues Mapping der Gemeinschaftsgärten existiert bis heute nicht.

Die Oase, ein schuldiger Ort

„Das ist nichts anderes als der Beginn der Wiener Siedlerbewegung und der ersten Schrebergartensiedlungen in Österreich“, sagt Kuratorin Elke Krasny, die in der Ausstellung vor einem der Bauzäune Platz genommen hat, umgeben von Gänseblümchen, Veitschi und Lavendel. „Das kollektive Anbauen ist eine Möglichkeit, der Krise zu entkommen und Menschen zu begegnen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.“ Auch die Schrebergartenparzellen auf der Schmelz wurden einst als Kriegsgemüsegärten angelegt. Heute befindet sich hier eine der größten Kleingartensiedlungen Mitteleuropas.

„Der Garten ist kein unschuldiger Ort. Der Garten ist ein Topos, an dem sich Krisen manifestieren und an dem Menschen auf diese Krisensituationen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln reagieren.“ Hier wird Stadt von unten gemacht. Oder wie Krasny sagt: „Das Gärtnern bringt Handlungsmacht hervor.“

Die Ausstellung „Hands-on Urbanism 1850-2012. Vom Recht auf Grün“ ist bis 25. Juni zu sehen. Reichhaltiges Begleitprogramm in Form von Vorträgen, Workshops und Exkursionen. Architekturzentrum Wien. www.azw.at

Zur Ausstellung ist das Buch „Hands-on Urbanism“ im Verlag Turia + Kant erschienen. Zwei Ausgaben Deutsch und Englisch. Der 356-seitige, schön gestaltete Schmöker präsentiert Beispiele aus aller Welt.

Der Standard, Sa., 2012.03.17

03. März 2012Wojciech Czaja
Der Standard

„Dass ich dich wiederseh!“

Zwei Jahre lang wurde die Villa Tugendhat saniert und restauriert. Am Mittwoch wurde das wohl berühmteste Einfamilienhaus der Moderne wiedereröffnet.

Zwei Jahre lang wurde die Villa Tugendhat saniert und restauriert. Am Mittwoch wurde das wohl berühmteste Einfamilienhaus der Moderne wiedereröffnet.

Es riecht nach Linoleum und frischem Lack. Die Türklinken sind poliert und funkeln, als hätte man sie gerade erst ausgepackt. Und die Badewannenarmaturen aus Chrom und Keramik, ein Entwurf des Bauhaus-Architekten Walter Gropius, sprühen vor einer derart zeitlosen Eleganz, dass man sich sofort die Kleider vom Leib reißen und ein Bad in der Geschichte dieses Hauses nehmen will.

Am Mittwoch wurde die Villa Tugendhat, eines der Schlüsselwerke des deutschen Architekten Ludwig Mies van der Rohe, errichtet in den Jahren 1928 bis 1930, wiedereröffnet. Nach zweijähriger Bauphase befindet sich das Juwel der Moderne, von dem aus man einen fantastischen Ausblick auf die Brünner Altstadt hat, endlich wieder in einem herzeigbaren Zustand. Insgesamt wurden rund 174 Millionen Kronen (knapp sieben Millionen Euro) in die Sanierung und Restaurierung investiert. Den Großteil davon steuerte die EU bei.

Der Architekt hätte sich ob dieses Bildes wohl köstlich amüsiert: „High Heels verboten“, hieß es auf der Einladungskarte. Journalisten und Fotografen kamen aus ganz Europa angereist, schlüpften daraufhin in hellblaue Überzieher und rutschten mit ihren raschelnden Plastikschuhen im Watschelgang über den frisch verlegten Gummiboden. Die Geräuschkulisse war spektakulär. Lediglich den Ehrengästen auf dem Podium, allen voran dem Brünner Bürgermeister Roman Onderka sowie den beiden Töchtern des Bauherrenehepaares, Daniela Hammer-Tugendhat und Ruth Guggenheim-Tugendhat, war es vergönnt, etwas festlicher aufzutreten. „Natürlich wird hier nie wieder der Zustand eines bewohnten und belebten Hauses einkehren“, sagte Daniela Hammer-Tugendhat, die heute als Kunsthistorikerin in Wien lebt. „Aber es ist gelungen, jenen Charakter wiederherzustellen, der das Haus zu dem macht, was es ist. Und das freut mich sehr, denn das ist in seiner Schönheit und meditativen Atmosphäre, wie ich sie sonst nur aus Kirchen kenne, einer der überwältigendsten Innenräume der Moderne.“ Ein Besuch vor Ort sei unumgänglich, erklärte die Tochter des Hauses. Allein anhand von Fotos und Grundrissen könne man sich von diesem Raum keinen Eindruck machen. Man müsse ihn in der eigenen Bewegung erleben, man müsse ihn physisch erkunden.

„Ein absolutes Highlight“

„Ich bin mit dem Resultat sehr zufrieden“, bestätigte auch Ana Tostões, Präsidentin von Docomomo International, die sich mit der Dokumentation und dem Erhalt von Bauwerken der Moderne beschäftigt. „Der Zustand des Hauses war eine Katastrophe, die Substanz war ziemlich zerstört, und das Projekt war extrem kompliziert. Aber man kann den Wissenschaftern und dem tschechischen Planungs- und Ausführungsteam nur gratulieren. Was diese Leute daraus gemacht haben, ist ein absolutes Highlight historischer Bestandssanierung.“

Rückblende. Noch vor wenigen Jahren drohte die Villa Tugendhat abzurutschen. Die Fundamente hatten dem Hangwasser nachgegeben, die Risse im Putz und in den seitlichen Außenwänden waren nicht zu übersehen. Hinzu kamen Beton- und Steinoberflächen, die im Laufe der Zeit durch den Eintritt von Wasser und anschließende Eisbildung regelrecht abgesprengt wurden. Das Mauerwerk war durchfeuchtet, die Anschlüsse zwischen Stahlbauteilen und Beton waren völlig korrodiert. Auch der Umstand, dass das Gebäude 1995 zum Nationalen Kulturdenkmal und 2001 zum Unesco-Weltkulturerbe ernannt wurde, konnte daran nichts ändern.

„Es ist erstaunlich, dass die Villa Tugendhat selbst in diesem ruinösen Zustand eine unglaubliche architektonische Qualität hatte“, erinnert sich Ivo Hammer, Gebäuderestaurator und Vorsitzender des Tugendhat House International Expert Committee (Thicom). „Aber der Zeitpunkt war längst überfällig. Wir mussten dringend etwas tun.“

Die ersten Gespräche mit der Stadt Brünn seien nicht besonders zufriedenstellend verlaufen, erinnert sich Hammer. „Am Anfang meinte der Finanzstadtrat, dass nur ein bestimmtes Sanierungsbudget zur Verfügung stehe und dass man auf jeden Fall damit auskommen müsse. Aber darauf wollten wir uns nicht einlassen. Entweder man macht es ordentlich, oder man lässt es gleich bleiben.“ Nach längerem Tauziehen fiel die Entscheidung zugunsten der umfassenden Sanierung - allerdings mit einem Wermutstropfen: „Leider wurde das Komitee erst nominiert, nachdem die Bauarbeiten schon längst im Gange waren“, so Hammer. „Aber immer noch besser zu spät als gar nicht.“

Wo ist die Ebenholzwand?

Ein Expertenbeirat aus acht ausländischen und sieben tschechischen Denkmalpflegerinnen und Kunsthistorikern beurteilte den Zustand des Hauses, dokumentierte jedes einzelne Detail, stöberte in Archiven nach Originalplänen und alten Fotografien, forschte in schriftlichen Aufzeichnungen zwischen Mies van der Rohe und dem Brünner Textilindustriellen Fritz Tugendhat sowie seiner Frau Grete, suchte nach alten Materialien in der ganzen Stadt, stöberte die berühmte gebogene Wohnzimmerwand aus Makassar-Ebenholz im Keller des ehemaligen Brünner Gestapo-Sitzes aus, ließ Möbeln nach alter handwerklicher Tradition rekonstruieren und experimentierte mit unterschiedlichen mineralischen Putzen, Spachtelmassen und Injektionen fürs Mauerwerk.

„Schauen Sie sich nur diese Wände aus Stuccolustro an“, sagt Ivo Hammer, als er nach der Pressekonferenz einsam und allein im alten Herrenzimmer steht und mit der Hand nachdenklich über die neu verputzte Wand streicht. „Wir haben ziemlich lang mit unterschiedlichen Sanden aus der Gegend geforscht, bis wir endlich eine ganz feine Körnung gefunden haben, mit der der Innenputz dann genauso schön matt und samtig geworden ist, wie wir das wollten.“ Die Holzoberflächen - Fingerzeig in Richtung Kastenwand - habe er sogar eigenhändig von alten Lackschichten befreit. Ein sogenannter pneumatischer Mikromeißel half dem Restaurator dabei.

Open-Air-Salon auf Knopfdruck

Freilich, all die Anstrengungen der letzten 24 Monate wird kaum ein Besucher dieses Hauses je wieder nachvollziehen können, geschweige denn mit bloßem Auge erkennen. Die Summe der vielen kleinen Miniaturen, die die Thicom in Zusammenarbeit mit dem Generalplaner Unistav a.s. mit großer Detailliebe kreierte, schlägt sich jedoch in einem perfekten, vielleicht sogar zu perfekten Gesamteindruck nieder.

Alles an diesem seinerzeit teuersten Einfamilienhaus der Welt funktioniert wie am ersten Tag. Die Gegensprechanlage ist wieder in Betrieb, die Klimaanlage bläst einwandfrei kühle Frischluft in die Aufenthaltsräume, der Speisenlift fährt fröhlich auf und ab, und die riesige Glasfassade im Wohnzimmer lässt sich auf Knopfdruck im Boden versenken. Innerhalb einer Viertelminute sitzt man in einem Open-Air- Salon der Moderne. Berauschend.

„Meine Eltern haben das Haus 1938 fluchtartig verlassen“, sagte Daniela Hammer-Tugendhat bei der Pressekonferenz. „Und ich erinnere mich, wie ich mit meiner Mutter das erste Mal nach der Emigration zur Internationalen Konferenz 1969 ins Haus hineingekommen bin. Das war für sie sehr emotionalisierend und aufregend.“ Sie sei zur berühmten sieben Zentimeter dicken durchscheinenden Onyxwand gegangen und habe sie gestreichelt wie man sonst nur einen Menschen streicheln kann. Mit einem tiefen Seufzer habe sie daraufhin gesagt: „Dass ich dich wiederseh!“ Letzten Mittwoch schlossen sich die Fachleute und Ehrengäste dieser Meinung an.

Die Villa Tugendhat befindet sich heute in Besitz der Stadt Brünn. Sie wird vom Museum der Stadt Brünn betrieben und ist ab sofort wieder öffentlich zugänglich.

Der Standard, Sa., 2012.03.03



verknüpfte Bauwerke
Haus Tugendhat

03. März 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Österreich baut Raum mit Menschen und Avataren

„Reports from a city without architecture“, so lautet das Motto des österreichischen Beitrags für die kommende Architekturbiennale in Venedig, die am 28....

„Reports from a city without architecture“, so lautet das Motto des österreichischen Beitrags für die kommende Architekturbiennale in Venedig, die am 28....

„Reports from a city without architecture“, so lautet das Motto des österreichischen Beitrags für die kommende Architekturbiennale in Venedig, die am 28. August eröffnet werden wird. Gestern, Freitag, lud Kulturministerin Claudia Schmied (SP) zur Pressekonferenz. Vorgestellt wurden das Planungsteam rund um den österreichischen Kommissär Arno Ritter, Leiter des Innsbrucker Architekturhauses aut, sowie das inhaltliche Konzept. Oder zumindest eine vage Andeutung dessen.

„Wir wollen keine klassische Architekturausstellung mit Fotos, Plänen und Modellen machen“, erklärte Ritter. Stattdessen werde es auf der kommenden Biennale einen einzigen „charakteristischen und unverwechselbaren“ Beitrag an der Schnittstelle von Architektur, Kunst und Grafikdesign geben.

In Zusammenarbeit mit Architekt Wolfgang Tschapeller, dem Grafischen Büro Wien und den beiden Künstlern Martin Perktold und Rens Veltman entwirft Ritter das, was er als „Projekt zwischen Science und Fiction“ bezeichnet. Geplant ist, den Österreich-Pavillon in den Giardini mit Projektionsflächen, Spiegeln und einem „topografisch gestalteten Boden“ auszustatten. Die projizierten Trickfilme sollen interaktiv sein. Anhand der sich bewegenden Menschen im Raum sollen Figuren in Echtzeit und im Maßstab 1:1 animiert und in den Raum projiziert werden. „Wir bauen einen Raum mit realen menschlichen Figuren und ihren Avataren“, so Architekt Tschapeller.

Claudia Schmied ist überzeugt, man könne sich auf der kommenden Biennale in Venedig „auf etwas Außergewöhnliches einstellen“. Und Arno Ritter fasste zusammen: „Ich möchte einen Pavillon machen, den die Leute entweder fluchtartig verlassen, weil sie damit nichts anfangen können, oder aber darin bleiben, wie sie selbst ein Bestandteil dieser neuen Architektur der Zukunft werden wollen.“

Vorerst nichts als vage Anspielungen. Doch eines scheint fix: Nach den letzten vorsichtigen und pluralistischen Ansätzen in Venedig bekennt sich Österreich endlich zu Radikalität und bezieht Stellung.

Der Standard, Sa., 2012.03.03



verknüpfte Beiträge
Architektur-Biennale Venedig

07. Februar 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Geschenk namens Arbeit

Das Wiener Architekturbüro gaupenraub zeichnet sich nicht nur durch Projektgeschenke an Obdachlose aus

Das Wiener Architekturbüro gaupenraub zeichnet sich nicht nur durch Projektgeschenke an Obdachlose aus

Begonnen hat alles mit einem Dachgeschoßprojekt in Wien. „Wir haben von Anfang an gemerkt, dass wir keine Gaupen machen wollen, dass wir uns mit diesen hässlichen Warzen auf dem Dach nicht anfreunden können“, sagt Alexander Hagner. Damit war der Büroname geboren. Gemeinsam mit Ulrike Schartner betreibt er in einem aufgelassenen Stadtbahnbogen an der Wienzeile seither das Büro gaupenraub.

Zu den bisherigen Projekten zählen Einfamilienhäuser, Wohnungs- und Büroumbauten, gewerbliche Bauten sowie ein Eiermuseum im Burgenland. Aktuell arbeiten die beiden an einer privaten Begräbnisstätte und an Möbelentwürfen für demenzkranke Menschen.

Doch das wichtigste und bisher größte Projekt ist die teilweise ehrenamtliche Arbeit für Obdachlose. „Als Kind habe ich mir immer gedacht: Wenn ich ein großer Architekt bin, dann baue ich ein Dorf für Obdachlose“, sagt Hagner, der vom Obdachlosenverein „Vinzenzgemeinschaft St. Stephan“ mittlerweile zum Ehrenmitglied ernannt wurde. Ein ganzes Dorf wurde es noch nicht, doch dafür half Hagner bereits beim Umbau des Vinzirast-Hauses in Meidling mit.

„Die meisten Architekten verschenken ihre Arbeit, indem sie Monat für Monat unbezahlterweise an Wettbewerben teilnehmen, die sie nicht gewinnen“, sagt Hagner. „Wir haben uns gedacht, dass wir unsere Arbeit auch verschenken wollen, aber in eine Richtung, die sinnvoller ist und von der Leute direkt profitieren können.“

Am Montag war Baubeginn für ein Obdachlosenwohnhaus in der Währinger Straße. Bis Anfang des Jahres 2013 entsteht auf dem Eckgrundstück am Alsergrund ein Wohnheim für Obdachlose und Studenten mit dem angeschlossenem Café Mittendrin, Veranstaltungssaal und Beratungsstelle.

Das Projekt entsteht in enger Zusammenarbeit zwischen Vinzirast und der Universität Wien. Die Baukosten belaufen sich auf 2,5 Millionen Euro. Das Honorar ist diesmal nicht geschenkt, dafür aber mit 40 Prozent Preisnachlass.

Der Standard, Di., 2012.02.07



verknüpfte Akteure
gaupenraub+/-

04. Februar 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Der Mann mit dem grünen Glamour

Er hat grüne Haare und pflanzt grüne Wände. Ein Gespräch mit dem Pariser Landschaftskünstler Patrick Blanc.

Er hat grüne Haare und pflanzt grüne Wände. Ein Gespräch mit dem Pariser Landschaftskünstler Patrick Blanc.

Durch sein Atelier fliegen Kanarienvögel und Kolibris, aus dem Bücherregal lugen Geckos und Salamander hervor, und um Punkt zehn Uhr am Vormittag beginnt es hinter dem Schreibtisch zu regnen. Patrick Blanc, Botaniker und Künstler, wohnt und arbeitet in einem künstlich geschaffenen Urwald in einer ehemaligen Werkstatt am Rande von Paris. Das Grün sei nicht nur inspirierend für seine Arbeit, meint der 58-Jährige, sondern auch ein wichtiger Temperatur- und Feuchtigkeits-regulator.

Der „Mur Végétal“, der vertikale Garten, hat sich zu Blancs Markenzeichen entwickelt. Seit seinen ersten Projekten auf der Internationalen Gartenschau in Chaumont-sur-Loire (1994) und im Pariser Luxushotel Pershing Hall (2001) hat er bereits Dutzende Wände in aller Welt begrünt, darunter etwa die Fassade des Musée du Quai Branly von Jean Nouvel (2006), die Caixa Forum in Madrid von Herzog & de Meuron (2007), die Konzerthalle in Taipeh (2007) sowie das 2010 eröffnete Hotel Sofitel in Wien. Doch wie viel von alledem ist ein ernsthafter Beitrag zur Zukunft unserer Städte? Und wie viel ist nur Lifestyle und grüner Glamour? Zu Besuch in seinem Atelier in Ivry-sur-Seine.

STANDARD: Grüne Kleidung, grüne Haare und lange Fingernägel - Sie schauen aus, als könnten Sie sich nicht entscheiden, ob Sie Fauna oder Flora sein möchten.

Blanc: Fingernägel schneiden, das ist völlig unnatürlich. Wer von unseren Vorfahren hat sich schon die Nägel geschnitten? Niemand! Fingernägel braucht man, um sich zu kratzen und um in der Erde zu bohren. Und was die grünen Haare betrifft: Die habe ich schon seit 1985. Grün ist für mich Ausdruck von Natur, von Kraft, von Überlebensdrang, von wachsender Freude. Grün ist die schönste Wellenlänge auf Erden.

STANDARD: Wurmt es Sie nicht, dass Sie Blanc heißen - und nicht Vert?

Blanc: Überhaupt nicht! Im Weiß sind bereits alle Farbtöne des ganzen Farbspektrums vereint. Außerdem tröste ich mich mit der Tatsache, dass ich in der Clinique des Fleurs („Krankenhaus der Blumen“) zur Welt gekommen bin. Als hätte es die Hebamme geahnt!

STANDARD: Seit wann arbeiten Sie schon mit Pflanzen?

Blanc: Eigentlich schon immer. Als ich ein kleiner Bub war, habe ich ein Aquarium gehabt. Ich war fasziniert von den bunten Fischen im Wasser. Die Pflanzen waren zu Beginn nichts anderes als eine Notwendigkeit, um ein gewisses Gleichgewicht im Ökosystem herzustellen. Erst nach und nach habe ich gesehen, dass Pflanzen eine schöne und lebendige Materie sind. Eines Tages war dann klar, dass ich Biologie studieren werde. Ich habe mich dann auf tropische Botanik spezialisiert und habe während meines Studiums viele Monate meines Lebens im Dschungel verbracht - unter anderem in Malaysia, Thailand, Indonesien und Französisch-Guyana.

STANDARD: In Ihrem Brotberuf sind Sie Forscher und Botaniker. Wie sind Sie zu Ihren Kunstprojekten gekommen?

Blanc: Meine ersten Arbeiten waren 1986 im Pariser Museum für Wissenschaft, Technik und Industrie sowie 1994 auf der Internationalen Gartenschau in Chaumont-sur-Loire. Doch der wirklich große Durchbruch kam mit der begrünten Wand im Hotel Pershing Hall 2001. Ich kann mich gut erinnern: Andrée Putman hat mich angerufen und gesagt: „Patrick, du machst doch diese grünen Wände. Ich würde gerne mit dir zusammenarbeiten.“ Aber als ich dann auf die Baustelle gekommen bin, war ich total schockiert. Da ging es dann nicht mehr um Dimensionen von ein paar Metern, sondern um eine 30 Meter hohe Feuermauer. Das war ein großer Sprung in Richtung Architektur.

STANDARD: Auch in Wien haben Sie einen vertikalen Garten gepflanzt, und zwar in Jean Nouvels neuem Hotel Sofitel. In den unteren Stockwerken sieht der Garten in manchen Monaten allerdings dürftig aus. Ist es in Wien zu dunkel und zu kalt?

Blanc: Zu dunkel und zu kalt? Das kann ich mir kaum vorstellen. Wenn die Bewässerung und Beleuchtung funktionieren, dann sollte das Ökosystem eigentlich intakt sein. Ich glaube, das muss ich mir genauer anschauen. Danke für die Info.

STANDARD: Wie oft müssen die vertikalen Gärten gepflegt werden?

Blanc: Vielleicht drei-, viermal im Jahr. Das reicht absolut. Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass die Indoor-Gärten öfter und intensiver gepflegt werden. Erstens sind da die optischen Ansprüche höher, und zweitens hat das mit den Hygienevorschriften zu tun - etwa wenn es sich um ein Restaurant oder um eine Bar handelt.

STANDARD: Und wie viel kostet so eine grüne Wand?

Blanc: Das hängt von der Pflanzenvielfalt und von den Gegeben- heiten vor Ort ab. Aber in Summe kann man mit 400 bis 700 Euro pro Quadratmeter rechnen. Bei den meisten Projekten bewegen sich die Kosten bei 500 Euro pro Quadratmeter.

STANDARD: Das ist viel Geld für ein Stückchen Garten!

Blanc: Das stimmt. Und hinzu kommen noch die 20 Prozent für mein Honorar! Aber dafür hat ein vertikaler Garten gegenüber einer horizontalen Fläche einige Vorteile. Erstens können Sie auf der gleichen Fläche viel mehr Pflanzen unterkriegen. Zweitens ist die Methode sehr platzsparend und somit auch für enge Grundstücke in der Innenstadt geeignet. Und drittens geht es dabei um das Überraschungsmoment. Mit einem Gärtchen auf der ebenen Fläche können Sie heute niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Bei einem vertikalen Garten aber schauen die Leute auf, machen sich Gedanken über die ungewöhnliche Installation und denken ein bisschen über die Natur nach.

STANDARD: Und was sind die ökologischen Vorteile?

Blanc: Im unmittelbaren Bereich eines Gartens gibt es natürlich ein viel besseres Mikroklima. Die Luft wird gefiltert, Schimmelpilze und Bakterien werden bekämpft, und die Luft riecht und schmeckt deutlich frischer.

STANDARD: Und im städtischen Maßstab?

Blanc: Im größeren Maßstab hat ein einziger Garten keinerlei Auswirkung auf das Klima. Es wäre schön, wenn ich das Gegenteil behaupten könnte. Doch das wäre gelogen.

STANDARD: Worum geht es dann?

Blanc: Ich möchte gar nicht bestreiten, dass die vertikalen Gärten einen gewissen Lifestyle-Faktor haben. Viele Privatbau-herren, Hotels und Unternehmen schmücken sich mit so einem Projekt, aber das ist auch gut so, denn auf diese Weise werden die Menschen angeregt und für diese Thematik sensibilisiert. Wenn Sie so wollen: Es geht um Psychologie und Soziologie.

STANDARD: In welche Richtung soll's gehen? Wie sieht die Stadt der Zukunft in Ihren Augen aus?

Blanc: Als Kind habe ich gerne Comics gelesen. Mein Lieblings-comic war Flash Gordon. Und dieser Flash Gordon ist immer durch futuristische, grüne Städte gelaufen und geflogen. Genau das ist meine Vision. Und sie ist gar nicht so abwegig. In Skandinavien und in Japan sind begrünte Dachter-rassen bereits ein wichtiger Faktor und ein selbstverständlicher Teil des Stadtbildes. Und in manchen Städten wird bereits emsig Urban Gardening betrieben. Berlin ist so ein Beispiel. Die Stadt ist flächenmäßig sehr groß und bietet genügend Platz für kleine Parkanlagen und Nachbarschaftsgärten. Auch in Hamburg funktioniert das sehr gut. Und sogar im dicht bebauten Manhattan gibt es eine ganze Menge an kleinen grünen Parzellen, auf denen die Bewohner Obst und Gemüse anbauen und sich für eine Stunde auf die Parkbank setzen, ins Grüne schauen oder ein Buch lesen. Ich finde das toll.

STANDARD: Paris hat vor, von 2012 bis 2016 den Eiffelturm zu begrünen. Was halten Sie davon?

Blanc: Da bin ich ziemlich voreingenommen. Ich wurde damals um meine Expertise zu diesem Projekt gebeten.

STANDARD: Und? Was haben Sie gesagt?

Blanc: Ich habe den Leuten gesagt: Das ist ein riesengroßer Blödsinn! Da mache ich nicht mit.

STANDARD: Warum nicht?

Blanc: Der Pariser Eiffelturm ist ein schlichtes und elegantes Ingenieursbauwerk. Und es ist zu einem wichtigen Symbol für diese Stadt geworden. Reicht das nicht schon? Außerdem steht das Projekt in keiner Relation zu seinem Nutzen. Wenn man schon einen Beitrag zum Klimaschutz leisten will, denn das ist die Grundintention dieses Projekts, dann kann man 72 Millionen Euro auch sinnvoller investieren.

STANDARD: Dann schlagen Sie mal vor!

Blanc: Grünes Leben kann überall sein. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt heute bereits in Städten. Natürlich sehnt man sich in der Freizeit nach Grün, nach ein bisschen frischer Luft, nach einer ruhigen Stunde mit Vogelgezwitscher. Doch wenn alle Menschen, die diese Sehnsucht befriedigen wollen, am Abend oder am Wochenende ins Auto steigen und aus der Stadt rausfahren, dann führt das alle ökologischen Bemühungen, die wir bisher unternommen haben, ad absurdum. Das kann unmöglich die Zukunft unserer Städte sein. Wir müssen in klei-neren Maßstäben denken. Wir müssen den Menschen in der Stadt rund um ihre Wohn- und Arbeitsstätte ein gewisses natürliches Umfeld bieten. Das kann ein Mur Végétal sein, das kann eine kleine begrünte Restparzelle sein, das kann Urban Gardening mit Tomaten- und Kartoffelfeldern sein. Ich bin davon überzeugt, dass solche grünen Impulse das Leben in der Stadt nachhaltig verändern können. Und zwar nicht, weil sie per se grün sind, sondern weil sie Alternativen bieten und dazu beitragen, die Prinzipien urbanen Lebens zu überdenken. Es ist höchste Zeit.

Patrick Blanc, geb. 1953 in Paris, ist Botaniker und Künstler. Neben seiner Tätigkeit am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) sowie in der Forschungsgruppe Biodiversité Tropicale et Facteurs Environnementaux (Biotrop) befasst er sich vor allem mit der Begrünung von vertikalen Wänden im städtischen Umfeld.

Der Standard, Sa., 2012.02.04

21. Januar 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Welt retten? Watscheneinfach!

Seit mehr als 30 Jahren fährt Zwischenwasser ein ambitioniertes Baukultur- und Architekturprogramm. Auf Stippvisite in der Vorarlberger Gemeinde.

Seit mehr als 30 Jahren fährt Zwischenwasser ein ambitioniertes Baukultur- und Architekturprogramm. Auf Stippvisite in der Vorarlberger Gemeinde.

Vorarlberg, Gemeinde Zwischenwasser, Mai 1980. Kaum im Amt, veranlasst Neo-Bürgermeister Josef Mathis eine massive Reduktion der Baulandreserven und eine Rückwidmung in Grünland. Es geht um viele Hektar Land. Das Verfahren dauert einige Jahre und endet mit einer Klage des Landesvolksanwalts beim Verfassungsgerichtshof. Abgewiesen.

Mehr als 30 Jahre später ist Josef Mathis (ÖVP) immer noch im Amt. Und die Korrektur des Flächenwidmungsplans anno 1980 ist eine gern erzählte Anekdote, denn mit ihr kam alles ins Rollen. „Die Rückwidmung von Bauland in Grünland war ein Kraftakt der Sonderklasse“, erinnert sich der Bürgermeister. „Aber es hat sich ausgezahlt, und die Bevölkerung hat trotz anfänglicher Proteste verstanden, dass nicht die ganze Welt Bauland sein kann, dass man nicht immer nur zersiedeln darf, sondern auch einmal konzentrieren muss.“

In den nächsten Jahren führte ein Pilotprojekt zum nächsten. 1990 wurde eine neue Volksschule eröffnet. Das Gebäude von Hermann Kaufmann, Walter Unterrainer und Sture Larsen war die erste solarbeheizte Schule Österreichs. 1994 wurde der Frödisch-Saal errichtet, ein Mehrzweckgebäude mit Biomasseheizung. 1997 schließlich wurde eine der ersten Passivwohnhausanlagen des Landes besiedelt. Es folgten ein Musikproberaum, eine Friedhofskapelle, eine Altenpflegewohnheim sowie diverse Einfamilienhäuser, die allesamt mit Architekturpreisen zugehagelt wurden.

Ein Mekka für Architekturfans

Zwischenwasser, ein Zusammenschluss der drei Ortschaften Muntlix, Batschuns und Dafins, mauserte sich im Laufe der Jahre zum Architektur-Mekka und wurde 2009 vom Verein LandLuft als beste Baukultur-Gemeinde Österreichs ausgezeichnet.

Doch das Besprechungszimmer im Gemeindeamt ist noch viel redseliger. Die Wände sind mit dutzenden Urkunden und Auszeichnungen zutapeziert: Klimaschutz-Gemeinde 2010, Energieeffizienteste Gemeinde in Europa 2009, Climate Star 2007, Europäischer Dorferneuerungspreis 2004, European Energy Award Gold 2002, Greenpeace-Gemeinde für Klimaschutz 1993 und so weiter. Die gerahmten Trophäen nehmen kein Ende. Nicht zuletzt ist Zwischenwasser eine der ersten zertifizierten e5-Gemeinden Österreichs. Das ist eine Art AAA-Auszeichnung für Ressourcenschonung und Energieeffizienz.

Wo liegt das Geheimnis dieses Erfolges? „Es gibt kein Geheimnis“, meint Mathis, der beruflich mit einem elektrischen Mitsubishi i-MiEV geräuschlos durch die Gegend rollt. „Ich dachte mir damals nur: Wenn du die Gestaltung der Gemeinde nicht selbst in die Hand nimmst, dann machen das die anderen für dich.“ Die anderen - das seien in dem Fall die Baukonzerne und Fertighausfirmen, erklärt er. „Und die mag ich sowieso nicht, denn die machen alles nur kaputt.“

Damit es nicht so weit kommt, richtete Mathis 1992 einen Fachbeirat für Architektur ein. Die zweiköpfige Jury, die alle drei Jahre wechselt, beurteilt jedes einzelne Bauansuchen, segnet es ab oder gibt konkrete Verbesserungsvorschläge. Außerdem wird im Gemeindeamt eine kostenlose Planungsberatung für Bauwerberinnen und Bauherren angeboten. „Das erspart uns allen unangenehme Verzögerungen“, sagt der Zwischenwasser-Chef. „Planungsfehler können auf diese Weise schon im Vorfeld abgefedert werden.“

Nicht zuletzt gibt es in der Gemeinde Zwischenwasser zwei sogenannte „Kümmerer“. Das sind kompetente und fachlich ausgebildete Profis, die von der Bevölkerung als Gutachter beziehungsweise objektive Beratungsinstanz in Anspruch genommen werden können - falls man mal vom Dachdecker an der Nase herumgeführt wird oder nicht weiß, wen man am besten kontaktiert, wenn der Biomasse-Kessel wieder mal spinnt. Auch dieser Service ist kostenlos.

„Eigentlich ist Baukultur watscheneinfach“, meint Mathis. „In erster Linie hat es damit zu tun, dass man die Bevölkerung für das Thema sensibilisiert und in die Projekte miteinbezieht.“ So geschehen beim Bau der Aufbahrungshalle in Batschuns 2002. Die Architekten Marte.Marte hatten ein einfaches, schönes Gebäude geplant, doch die arbeitsintensive Errichtung aus Stampflehm hätte das Budget der Gemeinde gesprengt. Eine Gemeinderätin hatte damals die Idee, im Ort nach freiwilligen Helfern zu suchen. 24 Leute meldeten sich zu Wort, schlüpften in den Blaumann und packten mit an. Manche nahmen sich sogar zwei Wochen Urlaub oder ließen sich karenzieren.

Und bei der Sanierung des Mitdafinerhuses in Dafins, in dem alte Menschen betreut werden, nahmen sich ein paar Bürger ein Herz, bauten das heruntergekommene Rheintalhaus zum modernen Wohnheim aus und vermieten die elf Kleinwohnungen nun an die Gemeinde zurück. Vis-à-vis befindet sich der Dorfladen „Sennerei“, der jede Woche an drei Halbtagen geöffnet hat. Die Miete übernimmt die Gemeinde, denn hier geht es nicht ums Geschäft, sondern um den sozialen Kontakt zur Bevölkerung. Im Geschoß darüber gibt es eine Notwohnung, die im Scheidungsfall oder bei familiärem Zoff Bedürftigen zur Verfügung steht.

Weniger Strom, weniger CO2

Geschichten wie aus dem Bilderbuch. Doch hinter den Elektromobilen, dem kleinen Greißler und den vielen Sonnenkollektoren auf den Dächern steckt ökologisches Kalkül. Der Stromverbrauch beträgt mit 3000 Kilowattstunden pro Kopf weniger als die Hälfte des restlichen Bundeslandes. Und während der CO2-Ausstoß der Haushalte inklusive Mobilität jährlich steigt, konnte er in Zwischenwasser in den letzten acht Jahren um 6,7 Prozent gesenkt werden.

„Davon brauchen wir mehr“, sagt Roland Gruber, Obmann des Vereins LandLuft, auf Anfrage des STANDARD. „In den Großstädten ist hochwertige Architektur längst eine Selbstverständlichkeit. Unser Ziel ist es nun, die Baukultur auch im ländlichen Raum zu fördern und den Bürgermeistern und der Bevölkerung zu beweisen, dass sie etwas ändern können.“ Zwischenwasser, meint Gruber, sei das beste Beispiel dafür, dass die Bemühungen der letzten Jahre Früchte trügen.

Am Nachfolge-Champion wird bereits gearbeitet. Die 17 Kandidaten für den Baukultur-Gemeindepreis 2012 befinden sich seit gestern, Freitag, in Begutachtung. Die Jury ist auf Achse und nimmt die Dörfer unter die Lupe. Im Herbst werden die Preisträger der Öffentlichkeit vorgestellt.

Am 2. Februar findet in Berlin die Fachtagung „Kommunale Kompetenz Baukultur“ statt; mit einem Vortrag von Josef Mathis. Zeitgleich startet die Ausstellung „LandLuft“; Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Berlin.

Seit gestern, Freitag, ist in der Initiative Architektur Salzburg die Wanderausstellung „Wohn Raum Alpen. Zeitgenössische Wohnformen in den Alpen und ihre Perspektiven“ zu sehen. Bis 1. März. Infos unter www.initiativearchitektur.at

Der Standard, Sa., 2012.01.21

14. Januar 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Klosterfrau im gedämmten Habit

Das Hauptquartier von M.C.M. Klosterfrau Healthcare wurde umgebaut. Der Wärmebedarf konnte um mehr als 80 Prozent gesenkt werden. Vor kurzem wurde das Projekt mit dem Ethouse Award ausgezeichnet.

Das Hauptquartier von M.C.M. Klosterfrau Healthcare wurde umgebaut. Der Wärmebedarf konnte um mehr als 80 Prozent gesenkt werden. Vor kurzem wurde das Projekt mit dem Ethouse Award ausgezeichnet.

Noch vor zwei Jahren hat die Klosterfrau geschwitzt und gefröstelt. Doch die schlecht temperierten Zeiten im Hause Melissengeist sind vorbei. Seit rund einem Jahr sitzen die 17 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wiener Niederlassung der M.C.M. Klosterfrau Healthcare GmbH und ihres Tochterunternehmens Maria Galland im komplett sanierten Gebäude im Gewerbegebiet Oberlaa. Vor kurzem wurde das Projekt von der Qualitätsgruppe Wärmedämmsysteme mit dem Ethouse Award 2011 ausgezeichnet.

„Das alte Haus war zwar architektonisch aufregend, doch in seinem Entstehungsjahr 1977 waren Ökologie und Nachhaltigkeit noch keine besonders gefragten Themen“, sagt Arno Gradwohl, Leiter der Abteilung Medizin und Wissenschaft bei Klosterfrau. Er erinnert sich: Bei Minusgraden waren die Fenster voller Eisblumen, im Sommer herrschten im verglasten Foyer (kleines Foto) bis zu 45 Grad. Wirklich wohl fühlten sich hier nur die Kakteen, die seit der Sanierung im Palmenhaus Schönbrunn beheimatet sind.

„Der Bestand war in einem sehr schlechten Zustand“, erklärt Ulrike Schartner vom Architekturbüro gaupenraub. „Das Dach bestand aus ungedämmtem Wellblech, die Betonwände hatten eine drei Zentimeter dicke Wärmedämmung, und die Fenster waren Einglasscheiben in Stahlprofilen.“ Das war auch der Grund dafür, warum das relativ kleine Gebäude zur Beheizung mehr als 40.000 Liter Heizöl pro Saison versoff.

Der Umbau umfasst ein vergrößertes Bürogeschoß, ein komplett neues Heiz- und Kühlsystem sowie einen neuen Zugang mittels doppelter Rampe, die einmal um ein Halbgeschoß nach oben und einmal um ein Halbgeschoß nach unten führt. Die alte Betonfassade musste thermisch gedämmt werden. Diese wurde anschließend mit Stegplatten aus Polycarbonat verkleidet.

Niedrigenergie-Standard

Die Herstellungskosten belaufen sich auf drei Millionen Euro. Der wirtschaftliche Profit liegt vor allem in den Heizkosten: Der Wärmebedarf des Gebäudes konnte von 233 kWh/m2a - ungedämmte Bauten aus den Siebzigern liegen in der Regel bei 150 bis 200 - auf 39 kWh/m2a gesenkt werden. Das ist eine Einsparung von 83 Prozent und entspricht Niedrigenergie-Bauweise. Zugleich wurde das Haus ans Fernwärmenetz angeschlossen. Das heißt: Die Betriebskosten konnten trotz Verdoppelung der Büroflächen um mehr als 40 Prozent gesenkt werden.

Arno Gradwohl ist mit dem Resultat zufrieden: „Meist wird den Bauwerken aus dieser Zeit wenig Liebe und Aufmerksamkeit entgegengebracht. Dieser Umbau beweist, dass man auch mit schwieriger Bausubstanz hochwertige und adäquate architektonische Lösungen erzielen kann.“ Benefit für die Mitarbeiter: Der alte, charakteristische Schriftzug „Klosterfrau“ wurde von der Fassade entfernt und prangt heute in Form beleuchteter Buchstaben hinter einem Kräuterbeet auf der Pausenterrasse der Mitarbeiter.

Der Standard, Sa., 2012.01.14



verknüpfte Bauwerke
Klosterfrau

14. Januar 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Wie näht man eine Moschee?

Zur Zukunft islamischer Architektur: Am Freitag hält Azra Aksamija, Professorin am MIT, einen Vortrag in Wien. Wojciech Czaja traf sie zum Gespräch.

Zur Zukunft islamischer Architektur: Am Freitag hält Azra Aksamija, Professorin am MIT, einen Vortrag in Wien. Wojciech Czaja traf sie zum Gespräch.

Sie näht Moscheen und forscht auf dem Gebiet religiösen Bauens. Azra Aksamija, 36-jährige Professorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), beschäftigt sich seit Jahren mit dem religiösen Raum von Gebetshäusern. In ihrer Dissertation Our Mosques are Us: Rewriting the National History of Bosnia-Herzegovina through Religious Architecture untersucht sie, wie sich die Wahrnehmung und Bedeutung von Moscheen in ihrer Heimat durch den Krieg 1992 bis 1995 verändert hat. Die Zerstörung der Gebetshäuser, so lautet ihre These, sei ein integraler Bestandteil des Genozids und der ethnischen Säuberung gewesen. Kommenden Freitag hält Aksamija auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA) einen Vortrag in Wien.

STANDARD: 2006 haben Sie eine sogenannte Dirndlmoschee genäht. Was kann man sich darunter vorstellen?

Aksamija: Das ist ein traditionelles österreichisches Dirndlkleid, dessen Kittel sich in einen Gebetsteppich für drei Personen entfalten und aufklappen lässt. Das Projekt reagiert einerseits auf meine Kultur und meine Ursprünge, andererseits aber auch auf die kulturellen Gegebenheiten im Salzkammergut. Ich war damals eingeladen, an einem internationalen Künstlersymposium in Strobl am Wolfgangsee teilzunehmen. Ich habe mich von dem Ort inspirieren lassen und habe schließlich eine Dirndlmoschee entworfen.

STANDARD: Wie waren die Reaktionen der Leute?

Aksamija: Sehr gut. Viele Leute waren sehr daran interessiert, was dieses Dirndl alles kann. Und einige haben sogar gelacht. Das ist genau das, was ich bezwecken will. Ich benütze meine Projekte, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Humor, Augenzwinkern und eine freundliche Provokation sind dabei sehr hilfreich. Außerdem zeigt das Projekt, wie wenige Dinge man braucht, um per Definition eine Moschee zu kreieren.

STANDARD: Was sind die Grundelemente einer Moschee?

Aksamija: Die genaue Architektur einer Moschee ist weder im Koran noch in den Überlieferungen definiert. Theoretisch kann man den Gebetsteppich im Islam als den kleinsten architektonischen Raum verstehen. Er vereint alles, was man zum Beten braucht: ein Symbol zur Kommunikation und Zusammenkunft, eine klare Ausrichtung nach Mekka und einen sauberen Ort, an dem man auch seinen Kopf ablegen kann. Mehr braucht man zum Beten nicht. Man sieht in der Architekturgeschichte islamischer Bauten sehr deutlich, dass sich die eigentliche Form der Moscheen abhängig von Ort und Zeit immer wieder verändert hat. Die Moscheearchitektur hat sich eigentlich erst durch die Assimilation von Elementen verschiedenster Kulturkreise weiterentwickelt.

STANDARD: Das ist eine klare Definition. Warum sind die Diskussionen über islamische Architektur in den westlichen Ländern dann so festgefahren?

Aksamija: Der primäre Konfliktpunkt ist heute die Repräsentation, also die Sichtbarkeit der Muslime im öffentlichen Raum. Manche Formen wie etwa Kuppel und Minarett, die für gewisse ethnische Gruppen identitätsstiftend sind, haben sich in der Geschichte stärker etabliert als andere. Viele Migranten hängen sich heute genau an diesen Symbolen auf, weil sie ihre religiöse und kulturelle Identität in ihrem neuen Umfeld aufrechterhalten wollen. Dabei wird die Architektur meist auf ein paar leicht erkennbare Symbole reduziert. Und das ist schade, denn das Formenrepertoire der islamischen Architektur ist viel umfangreicher als nur Kuppel und Minarett.

STANDARD: Ohne diese baulichen Elemente sind Moscheen als solche aber kaum noch erkennbar.

Aksamija: In Westeuropa und in den USA machen Muslime von ihren demokratischen Rechten zunehmend Gebrauch, indem sie die Moscheen in der Öffentlichkeit sichtbar machen. In den dominanten Gesellschaften jedoch werden ihre Symbole meist verworfen. Initiativen wie etwa „Cities against Islamisation“ („Städte gegen Islamisierung“) sowie diverse Demonstrationen gegen den Bau von Moscheen, wie wir das in einigen europäischen Städten gesehen haben, beweisen, wie sehr man sich in Europa mit den Prozessen der Globalisierung schwertut.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Architekturdiskussion in Österreich ein?

Aksamija: Ein Politikum! Wie überall sonst, ja vielleicht sogar ein bisschen stärker als in anderen Ländern. Wenn ich mir etwa die Moschee in Telfs oder die Moschee in Bad Vöslau ansehe, dann kann ich nur mit Bedauern feststellen, dass es sich dabei um politische Kompromisse handelt, die in beiden Fällen zu architektonisch ziemlich schwachen Lösungen geführt haben. In meinen Augen verbirgt sich hinter der Architekturdiskussion in Österreich oft eine versteckte und getarnte Ausländerfeindlichkeit. Was man mit dem Argument „Moscheen passen nicht ins lokale Umfeld“ eigentlich sagen will, ist: Wir wollen euch nicht!

STANDARD: Was hilft?

Aksamija: Mehr Bildung, und zwar bei allen Beteiligten.

STANDARD: Gibt es auch positive Beispiele in Österreich?

Aksamija: In Altach baut der Vorarlberger Architekt Bernardo Bader zurzeit einen islamischen Friedhof. Er ist zuständig für die Architektur, und ich mache eine künstlerische Gestaltung im Innenraum der Kapelle, also vor allem die Qibla-Wand und den Mihrab. Die Teppiche werden in Bosnien von Kriegsopfern gewebt. Die Eröffnung ist für Sommer geplant. In meinen Augen ist das ein gutes Beispiel für eine entpolitisierte Diskussion. Die Architekturqualität ist hoch. Sowohl die Bevölkerung vor Ort als auch die islamische Glaubensgemeinschaft wurden in den Planungsprozess intensiv miteinbezogen. Die Projektstelle für Zuwanderung und Integration „okay. zusammen leben“ hat in diesem Prozess eine tolle Mediationsarbeit geleistet.

STANDARD: Diese Kommunikation scheint in vielen anderen Projekten zu fehlen. Ich denke da nur an das Cordoba House im Süden Manhattans. Vor allem die Angehörigen der 9/11-Opfer fühlen sich durch dieses Projekt zu wenig respektiert.

Aksamija: Viele Muslime waren vor den Kopf gestoßen, wie die New Yorker auf den Entwurf dieser sogenannten Ground-Zero-Moschee reagiert haben. Es schockiert mich nach wie vor, dass so eine Debatte ausgerechnet in den USA stattfindet. Auch Muslime waren Opfer des Terrorismus von 9/11, und diese Debatte impliziert, dass Muslime, die diese Moschee bauen wollen, nun als Bedrohung gesehen werden. Es gibt sehr viele neue Moscheen in den USA, aber noch nie zuvor wurde ein Moscheebau so groß aufgeblasen wie in diesem Fall. Solche medialen Kampagnen sind gefährlich, weil sie die Gesellschaft polarisieren und Islamophobie salonfähig machen. Manche großen Ereignisse wie 9/11 können die Wahrnehmung und den kulturellen Stellenwert von Architektur nachhaltig verändern. Das ist auch das Thema meiner Dissertation Our Mosques are Us.

STANDARD: Sie beschäftigen sich darin mit der Auswirkung des Bosnienkrieges auf die Bedeutung von Moscheen. Was hat sich in den Jahren zwischen 1992 und 1995 verändert?

Aksamija: Früher waren Gebetshäuser primär ein Ort der Glaubensausübung. Im Krieg wurden diese Gebäude - und zwar Kirchen, Synagogen und Moscheen - von den nationalistischen Extremisten jedoch instrumentalisiert. Sie wollten die kulturelle und religiöse Koexistenz in Bosnien-Herzegowina, die bis dahin Jahrhunderte lang mehr oder weniger ganz gut geklappt hat, auseinanderbrechen und für immer zerstören. Allein in Bosnien-Herzegowina wurden 1200 Moscheen stark beschädigt oder sogar komplett zerstört. Die Art und Weise, wie das gemacht wurde, war ein integraler Bestandteil des Genozids und der ethnischen Säuberung. Durch die symbolische Kriegsführung wurden diese Gebetshäuser zum ethnischen Körper der Nation.

STANDARD: Wie ist die Situation in Bosnien heute?

Aksamija: Das kulturelle Erbe der Bosniaken wurde zerstört. Jetzt geht es darum, diese Identität wiederaufzubauen.

STANDARD: Wie sieht dieser Aufbau konkret aus?

Aksamija: Es gibt in Bosnien derzeit zwei ganz gegensätzliche Tendenzen. Auf der einen Seite wird der Krieg auf ziviler Ebene fortgesetzt, indem man die Kirchen und Moscheen in den Wettbewerb gegeneinander stellt. Es geht um Sichtbarkeit und territoriale Markierung. Die Gebäude müssen immer größer, immer höher, immer auffälliger sein. Auf der anderen Seite kann man allerdings beobachten, dass die Moschee zu einem Symbol für den Wiederaufbau sozialer Netzwerke wird.

STANDARD: Welche Rolle spielt dabei die Architektur?

Aksamija: Die religiöse Architektur ist paradoxerweise nicht nur ein Symbol für mentalen Krieg, sondern fungiert auch als pädagogisches Mittel. Die Probleme in Bosnien lassen sich zwar nicht mit hübschen Gebäuden lösen, aber die Architektur kann ein Medium sein, um Geschichte zu lernen und die kulturellen Codes der anderen zu begreifen.

Azra Aksamija, geboren 1976 in Sarajevo, lebt in Cambridge in den USA. Sie ist Assistenzprofessorin am MIT und unterrichtet an der Princeton University und an der Universität Graz.

Am Freitag, den 20. Jänner, hält sie auf Einladung der ÖGFA den Vortrag „National purification through religious architecture“ (Englisch), IG Architektur, Gumpendorfer Straße 63b, 1060 Wien, 19 Uhr.

Der Standard, Sa., 2012.01.14

04. Januar 2012Wojciech Czaja
Der Standard

Hobby mit 120 Prozent

Die Salzburger Architekten hobby a. haben Spaß an der Arbeit. Ob Krokodilgrün oder modular zerlegbar - man sieht es an den frechen Projekten der letzten Jahre

Die Salzburger Architekten hobby a. haben Spaß an der Arbeit. Ob Krokodilgrün oder modular zerlegbar - man sieht es an den frechen Projekten der letzten Jahre

Der Name ist Programm. „Wir haben bei all unseren Projekten unglaublich viel Spaß“, sagt Wolfgang Maul vom Salzburger Architekturbüro hobby a. Entstanden sei der „komische Name“ vor vielen Jahren aus der Not heraus. „Wir haben mit unserem damaligen Bauherrn wochenlang über die Errichtung eines zusätzlichen Hobbyraums in seinem Einfamilienhaus diskutiert. Und so wurden wir zu den Hobbyarchitekten. Dieses Hobby sind wir nie wieder losgeworden.“ Weil das Budget knapp war und besagter Bauherr beabsichtigte, mit seiner Familie maximal zehn Jahre in diesem Haus zu bleiben, wurde kurzerhand beschlossen, mit günstigen Materialien zu bauen und ein temporäres Bauwerk zu errichten, das per Definition ebenfalls zehn Jahre hält.

Fazit: Die Fassade ist mit einer Plastikfolie bespannt. Damit der dünne Werkstoff an den scharfen Kanten nicht reißt, wurden diese mit selbst gesägten und geschweißten, handelsüblichen Kanalrohren verkleidet. Auf diese Weise wurde der Radius vergrößert, und die Spannung konnte an den kritischen Stellen gleichmäßig verteilt werden. Nach neun Jahren zeigt das Haus noch immer keine Spuren von bevorstehender Selbstzerstörung. Die Frechheit von hobby a. ist nachhaltig. Für den Fertigteilproduzenten nomadhome entwickelten Wolfgang Maul und sein Partner Walter Schuster ein modular zerlegbares Haus, das im Mozartjahr 2006 sogar Ausstellungspavillon am Mozartplatz war. Aktuell steht ein solches Nomadenquartier als Restaurant neben Dietrich Mateschitz' Hangar 7 am Salzburger Flughafen.

Eines der jüngsten Projekte ist die Aufstockung und Erweiterung der Volksschule Köstendorf. Beinhart wurde dem Sechzigerjahre-Gebäude ein krokodilgrünes Etwas aufgesetzt. „Die umliegenden Felder sind im Sommer so grün“, erklärt der Hobbyarchitekt, „dass wir die Farben in der Architektur unbedingt fortsetzen wollten.“ Die Kinder lieben das Haus, und auch im benachbarten Altersheim haben die Bewohner ihre Freude. „100 Prozent zu geben ist zu wenig, wenn man den Beruf wirklich als Hobby sieht“, so Maul. „Da müssen es schon 120 Prozent sein.“

Der Standard, Mi., 2012.01.04



verknüpfte Akteure
hobby a.

24. Dezember 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Als morgen noch übermorgen war

Die beiden Brüder Martin und Werner Feiersinger - der eine Architekt, der andere Künstler - haben sich auf die fotografische Jagd nach der Moderne begeben. Die Ausbeute von „Italo Modern“ ist nun zu bestaunen: als Buch und als Ausstellung.

Die beiden Brüder Martin und Werner Feiersinger - der eine Architekt, der andere Künstler - haben sich auf die fotografische Jagd nach der Moderne begeben. Die Ausbeute von „Italo Modern“ ist nun zu bestaunen: als Buch und als Ausstellung.

STANDARD: Fliesen und Plüsch. Wie passt das zusammen?

Werner: Die Casa sotto una foglia hat uns selber überrascht. Das ist ein Projekt, das von außen in erster Linie durch sein blattförmiges, geschwungenes Dach auffällt. Der Rest des Gebäudes ist unscheinbar. Sobald man aber den Innenraum betritt, findet man sich in einer Welt aus weißen Fliesen und langhaarigem Plüsch wieder. Das sieht aus wie ein Playboy-Haus, in dem früher einmal wilde Partys gefeiert wurden.

Martin: Ich finde die Entstehungsgeschichte des Hauses sehr interessant. Der Entwurf stammt von Giò Ponti, also vom Gründer und Herausgeber der italienischen Architekturzeitschrift Domus. Was ganz ungewöhnlich ist: Er hat seinen Entwurf 1964 in der Ausgabe 414 veröffentlicht und seine Leser eingeladen, die Pläne zu übernehmen und das Ding einfach nachbauen. Das ist ein ziemlich freizügiger Umgang mit Copyrights, vor allem aber zeugt das von höchster Eitelkeit. Die Mailänder Designerin Nanda Vigo hat den Entwurf dann adaptiert und realisiert. Es ist das einzig gebaute Haus dieser Publikationsoffensive.

STANDARD: Wie gefällt Ihnen das Haus?

Martin: Man fühlt sich angezogen und irritiert zugleich. Gefallen ist nicht wirklich ein Kriterium für dieses Projekt. Es geht um Einzigartigkeit. Das ist ein Juwel der Moderne. Und obwohl das Gebäude dermaßen aus dem Rahmen fällt, sagt es einiges über die damalige Zeit aus.

STANDARD: Und zwar?

Martin: Es ist Inbegriff eines völlig durchgeknallten Spätsechziger-Lebensgefühls, es ist kompromisslose Architektur, die sich zum Ziel gesetzt hat, den Zeitgeist zu realisieren, es ist eine Momentaufnahme von Vision und Utopie, ein Dokument davon, wie man sich damals Zukunft vorgestellt hat!

Werner: Im gleichen Jahr wurde in Mira die Casa Gialla fertiggestellt. Das ist ein Büro- und Geschäftshaus. Die beiden Architekten Iginio Cappai und Pietro Mainardis haben das Gebäude aufgrund seiner außergewöhnlichen Form als Mähdrescher bezeichnet.

Martin: Und die Farbe dieses Mähdreschers ist Knallgelb. Ende der Sechzigerjahre, muss man wissen, hatte man die ganz klare Vorstellung, dass Gelb die Farbe des Jahres 2000 sein würde.

STANDARD: Diese Bauten sind Beispiele für eine Architektur des 20. Jahrhunderts, wie sie nördlich der Alpen heute kaum noch anzutreffen ist. Warum hat sich die Architektur in Italien gehalten - und warum in Österreich nicht?

Werner: Der Unterschied liegt im Stellenwert und in der Interpretation des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. In Österreich und Deutschland war man in erster Linie um Wiederaufbau bemüht. Die Architektur ist entsprechend schlicht und nüchtern. In den seltensten Fällen wurden damit Emotion und Sinnlichkeit geweckt. In Italien jedoch wurde der Wiederaufbau in den Fünfzigern und Sechzigern dazu benützt, in die Zukunft zu blicken und Neues auszuprobieren. Das zeigt sich im Alltagsdesign von großen Firmen wie etwa Brionvega, Olivetti und Zanussi, aber auch in der Architektur. Manche Bauten zeugen von einer enormen Aufbruchstimmung. Einige davon schauen heute noch utopisch aus.

STANDARD: In welchem Zustand befinden sich die Bauwerke?

Martin: Das ist sehr unterschiedlich und hängt primär von der Typologie und Nutzung der Gebäude ab. Die Casa sotto una foglia ist ein Liebhaberprojekt. Der Bauherr - er ist mittlerweile 83 - lebt mit seiner Familie immer noch in diesem Haus und pflegt es mit größter Sorgfalt. Keine Fliese ist kaputt. Der Plüsch ist der gleiche wie vor 40 Jahren. Problematisch wird es im Massenwohnbau, also zum Beispiel bei großen Wohnsiedlungen, sowie bei Projekten im öffentlichen Raum. In vielen Fällen lässt der Zustand zu wünschen übrig. Einige Gebäude stehen leer. Und einige scheinen überhaupt dem Verfall preisgegeben zu sein.

STANDARD: Heißt das, dass die Architektur der Moderne auf Liebhaberei angewiesen ist?

Werner: Wahrscheinlich! Die noblen Wohnungen des gehobenen Bürgertums, das sich der Qualität dieser Gebäude durchaus bewusst ist, werden minutiös gepflegt und sind in einem sehr guten Zustand. In der normalen Alltagsarchitektur hingegen ist das Bewusstsein für die Moderne nicht stark genug. Oder anders ausgedrückt: Die Gesellschaft war und ist nicht so formbar, wie man sich das in der Moderne gewünscht hätte. Viele Konzepte gehen nicht auf. Das sieht man immer wieder, wenn man sich durch Innenhöfe, Gärten, Stiegenhäuser und auf Dachterrassen bewegt, die heute leer stehen und ungenutzt sind.

STANDARD: Stehen die von Ihnen porträtierten Gebäude unter Denkmalschutz?

Martin: Abgesehen von ein paar öffentlichen Bauwerken wie etwa Kirchen sind die Häuser in keinster Weise geschützt. Beim Istituto Marchiondi in Mailand bemüht sich das Politecnico di Milano derzeit um die Erhaltung des Komplexes. Das ist ein Kinderheim aus dem Jahr 1959, in dem das päd-agogische Konzept der damaligen Zeit baulich manifest gemacht wurde. Die Grundrisse sind ein Unikat. Für eine Unterschutzstellung ist es meines Erachtens aber viel zu spät. Das Haus, das seit vielen Jahren leer steht, ist mittlerweile einsturzgefährdet.

STANDARD: Wie geht es mit diesen gebauten Kulturgütern weiter?

Werner: Ich wünsche mir, dass das Bewusstsein für diese Materie zunimmt. Für mich als Bildhauer sind die Bauten der Moderne eine riesige Inspirationsquelle. In ganz anderer Hinsicht wiederum sind sie Zeitzeugen einer gelebten Kultur und Politik, die die damalige Auffassung von der Welt viel unmittelbarer baulich umgesetzt hat, als das heute der Fall ist.

Martin: Gleichzeitig kann man aus den Fehlern der Moderne lernen. Man kann sie als Warnung auffasen. Manche Visionen gehen auf, manche nicht. Nicht jede Utopie, nicht jedes Experiment eignet sich für die Umsetzung.

STANDARD: Und? Haben wir aus den Fehlern gelernt?

Martin: Wenn man sich die heutige Architektur so anschaut? Nein, viel zu wenig.

„Italo Modern. Architektur in Oberitalien 1946-1976“, Ausstellung im aut - architektur und tirol, Innsbruck. Zu sehen bis 18. Februar 2012. www.aut.cc

Zur Ausstellung ist das gleichnamige Buch „Italo Modern“ erschienen. 84 Projekte aus Norditalien werden vorgestellt. Mit Texten und Notizen von Otto Kapfinger. Springer-Verlag 2011. € 39,95 / 352 Seiten

Der Standard, Sa., 2011.12.24

17. Dezember 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Vom Supermarkt zum Supergrünmarkt

Die großen Ketten entdecken den ökologischen Lebensmittelmarkt als grüne Marketingchance. Erst kürzlich wurden in Österreich zwei besonders energieeffiziente Filialen eröffnet.

Die großen Ketten entdecken den ökologischen Lebensmittelmarkt als grüne Marketingchance. Erst kürzlich wurden in Österreich zwei besonders energieeffiziente Filialen eröffnet.

Die Ergebnisse der Klimaschutz-Konferenz in Durban sind enttäuschend. Im Schatten des zahnlosen Klimagipfels und der jahrelang unerfüllten Kioto-Ziele entstehen die wahren Pilotprojekte derzeit in der Wirtschaft, ausgerechnet im Bereich von Shopping und Gewerbe. In den letzten Tagen wurden in Österreich gleich zwei ökologische Muster-Supermärkte eröffnet: einer in Perchtoldsdorf (Billa) und einer in Graz (Spar).

Auf der ehemaligen Zirkuswiese, wenige Meter vom Kreisverkehr entfernt, errichtete die Rewe Group einen „Öko-Billa“, die ressourcenschonendste Filiale Österreichs. Nach nur viereinhalb Monaten Bauzeit konnte der Lebensmittelmarkt, der sowohl nach den Richtlinien von ÖGNI als auch nach jenen von ÖGNB zertifiziert wurde, vergangenen Dienstag eingeweiht werden.

„Die Anforderungen waren mehr als streng“, erinnert sich Architekt Andreas Hawlik vom Wiener Büro Huss Hawlik. „Erstens mussten wir schnell bauen, und zweitens lag unser Fokus auf dem Einsatz ökologischer Materialien und Bauweisen.“ Während der Hochbau nahezu ausschließlich aus Holz sowie aus verschiedenen Holzwerkstoffen besteht, wurden das Fundament und der Parkplatz aus sogenanntem Ökobeton gefertigt. Das heißt: Statt herkömmlichen Zements, der aufgrund seines Brennvorgangs sehr energieintensiv ist, kam ausschließlich chemischer, ungebrannter Zement zum Einsatz. Hawlik: „Der Öko-Beton ist zwar teurer als normaler Beton, aber der ökologische Fußabdruck ist deutlich geringer.“

Neben ein paar weiteren baulichen Details wie etwa außen liegender Verschattung, hocheffizienter Wärmedämmung und einer 150 Quadratmeter großen Fotovoltaik-Anlage auf dem Dach ist der grüne Supermarkt mit einer tageslichtabhängigen LED-Beleuchtung und einer Betonkernaktivierung ausgestattet. Dank einem Wetterprognosesystem - die Anlage wird mit Daten des Wetterdienstes gespeist - kann die ansonsten träge Heizung frühzeitig auf Wetterumschwünge reagieren. Unterm Strich sinkt der Energieverbrauch in diesem als TQB (Total Quality Building) ausgezeichneten Haus auf unter 50 Prozent.

Gekühlt wird hinter Glas

„Wie man sich vorstellen kann, benötigt ein Supermarkt für Beleuchtung, Lüftung und Kühlung - und hier vor allem für die Kühlung von leicht verderblichen Produkten - sehr viel Strom“, erklärt Peter Breuss, technischer Direktor von Rewe International. „Wir haben erstmals nicht nur bei den Tiefkühltruhen, sondern auch bei Fleisch, Wurstwaren und Convenience-Produkten Kühlmöbel mit Glastüren verwendet.“ Durch die thermische Schließung des Kühlapparates könne man gegenüber offenen Regalen mehr als zehn Prozent an Kühlenergie einsparen. Umgelegt auf den gesamten Stromverbrauch des Lebensmittelmarktes mache das etwa zwei Prozent aus.

Einziger Wermutstropfen: Evaluierungen der letzten Jahre hätten ergeben, dass bei Kühlmöbeln mit Glastüren der Umsatz sinkt, weil die Kunden weniger oft und weniger spontan ins Regal greifen. Aus diesem Grund stehen die Milch- und Molkereiprodukte - im Fachjargon kurz „MoPro“ genannt - nach wie vor in offenen Stellagen. Breuss: „Wir wären wir schon längst in der Lage, alle Möbel mit Türen zu versehen. Aber ich denke, dass man die Kundschaft nicht zu plötzlich, sondern nur nach und nach an die neue Technologie gewöhnen sollte.“

Beim Konkurrenten Spar ist man etwas offensiver. Im neuesten „Klimaschutz-Supermarkt“ in Graz, der am 6. Dezember eröffnet wurde, sind sogar Milch und Käse hinter Glas verstaut. „Ja, im Bereich MoPro verzeichnen wir derzeit Umsatz-Einbußen“, bestätigt Nicole Berkmann, Pressesprecherin Spar auf Anfrage des STANDARD. „Aber irgendwann muss man damit anfangen. Sobald sich die Kunden daran gewöhnt haben, wird sich das Kaufverhalten wieder normalisieren.“

Dank sensorgesteuerter LED-Beleuchtung, geschlossener Kühlmöbel und Eigenverschattung der Gebäudekubatur kann der Energieverbrauch um rund 60 Prozent gesenkt werden. Im Vorfeld wurde das Projekt mit ÖGNI Gold ausgezeichnet. Die Evaluierung steht noch aus.

Supermarkt mit Kraftwerk

Doch schon bald soll der Spar mehr Strom produzieren, als er verbraucht, und sich auf diese Weise selbst versorgen können. In Kooperation mit Energie Steiermark wird im angrenzenden Bach eine kleine Wasserkraftturbine errichtet. Im Frühjahr soll das Mini-Kraftwerk in Betrieb gehen.

Über die Baukosten des Spar schweigt man sich aus. Bei Billa hingegen werden die Gesamtinvestitionskosten auf 2,6 Millionen Euro beziffert. Allein 400.000 Euro davon entfallen auf die ökologische Mehrausstattung. „Noch ist die Errichtung eines solchen Supermarktes sehr teuer“, meint Volker Hornsteiner, Vorstandssprecher der Billa AG. „Aber wir sehen das mehr als Trendsetter und Musterbeispiel für die Entwicklung der nächsten Jahre. Ich bin davon überzeugt, dass auf diesem Gebiet noch viel geschehen wird.“

Nicht alle verkaufen ihre grünen Ideen. Die Hofer KG, der dritte Supermarkt-Riese in Österreich, war für einen Stellungsnahme nicht zu gewinnen.

Der Standard, Sa., 2011.12.17

10. Dezember 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Angefangen hat alles mit einer Handtasche

Der Wiener Schriftsteller Friedrich Achleitner wohnt im Basiliskenhaus in der Innenstadt. Warum ihn der nächtliche Coladosen-lärm nicht stört, erzählte er Wojciech Czaja.

Der Wiener Schriftsteller Friedrich Achleitner wohnt im Basiliskenhaus in der Innenstadt. Warum ihn der nächtliche Coladosen-lärm nicht stört, erzählte er Wojciech Czaja.

Ich kann mich erinnern, dass meine Frau Barbara vor Ewigkeiten, irgendwann 1969, in der Innenstadt spazieren war, als ihr der Henkel der Handtasche abgerissen ist. Sie hat nach einem Taschner gesucht und ist schließlich in diesem Haus gelandet. Und dann hat sie in ihrer direkten Berliner Art, die sie nun mal hat, gefragt: „Sagen Sie, ist da keine Wohnung frei in diesem Haus?“ So hat alles angefangen.

Kurze Zeit später sind wir dann eingezogen. In den ersten acht, neun Jahren haben wir im Hinterhaus im zweiten Stock gewohnt. Nachdem der Platz zu eng wurde, habe ich 1978 noch eine Schreibstube im Dachgeschoß dazugemietet. Das ist da, wo wir uns jetzt befinden. Ich vermute, dass das Dach erst nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebaut wurde. Jedenfalls waren das früher drei Kleinstwohnungen, besser gesagt zwei Wohnungen und ein kleines Goldschmiedatelier. Wir haben die Wände durchgebrochen und die Wohnungen miteinander verbunden. Viel konnten wir nicht machen, denn der Dachstuhl besteht aus durchgehenden Trämen, und die mussten wir erhalten. Wir haben jetzt 120 Quadratmeter.

Wir haben für den Umbau und die Sanierung von der Stadt Wien ein Darlehen bekommen, das wir innerhalb von 20 Jahren zurückzahlen mussten. Für Leute wie uns, die sich eingebildet haben, dass sie umbauen wollen, war das damals ein sehr faires Angebot. Aber es war auch viel zu tun. Wasser und WC waren draußen am Gang, Heizung gab es überhaupt nicht. Die gesamte Installation ist neu. Und in den Neunzigerjahren haben wir noch einen Aufzug eingebaut.

Was man nicht vergessen darf: Früher bestand die Wiener Innenstadt nicht nur aus feinen Residenzen wie heute, sondern zum großen Teil aus heruntergekommenen Wohnquartieren mit dunklen Gassen. Die Schönlaterngasse gehörte auch dazu. Die Grätzelsanierungen haben alle erst danach stattgefunden. Die Entscheidung, dass wir hier eingezogen sind, war ganz einfach: Unsere Arbeitsstätten waren fast alle in der Stadt. Wir konnten überall zu Fuß hingehen. Und zur „Alten Schmiede“ sind es nur wenige Schritte.

Im Laufe der Jahrzehnte hat sich der erste Bezirk stark gewandelt, wobei dieses Grätzel von Touristen noch einigermaßen verschont geblieben ist. Immer öfter ziehen um vier in der Früh angeheiterte Gruppen vorbei und kicken eine Coladose durch die Schönlaterngasse. Aber was soll's. Das ist ein menschlicher Lärm. Wenn man das Leben in der Stadt mag, dann darf einen das nicht stören.

Viel beunruhigender ist, dass die Stadt nach und nach ausgetrocknet und ausverkauft wird. Die Investoren machen die ganze Innenstadt kaputt. In einigen Jahren ist alles hin. Und dabei wäre es ganz leicht, das zu verhindern. Die Stadt Wien müsste einfach nur verbieten, Garagen reinzubauen. Dann wären die Objekte für potenzielle Spekulanten schon weniger attraktiv, und viele würden die Finger davon lassen.

Die Raumhöhe im Dachgeschoß ist mit 2,60 Metern recht niedrig. Wenigstens ist das Dach unter Denkmalschutz nicht ausbaubar. Was die Einrichtung betrifft, ist vieles weiß. Wir haben einen riesigen Stuhl von Clemens Holzmeister aus dem Hotel Dreizinnen in Südtirol. Das ist ein sogenannter Kanadier. Der war ursprünglich Esche natur, aber das hat in dieser Wohnung so ziemlich alles erschlagen. Das haben wir nicht ausgehalten. Also haben wir ihn weiß lackiert. Und das drehbare Bücherregal ist aus England.

Der kleine Stuhl, in dem ich oft sitze, ist übrigens ein Kaminstuhl aus einem steirischen Schloss. Hier halte ich mich am allerliebsten auf. Mit Barbara gibt es jedenfalls keinerlei Platzstreitigkeiten. Sie ist groß und hat lange Beine und ist für dieses Sitzmöbelchen nicht geeignet.

WOHNGESPRÄCH

Friedrich Achleitner, geb. 1930 in Schalchen (OÖ), ist Architekturpublizist und Schriftsteller. Er war Mitglied der „Wiener Gruppe“. In den Jahren von 1965 bis 2010 arbeitete er an seinem Hauptwerk Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, einem umfassenden Architekturführer in fünf Bänden. Sein Archiv, das aus rund 150.000 Exponaten besteht, wurde 2000 von der Stadt Wien angekauft und wird nun im Architekturzentrum Wien verwaltet. Gemeinsam mit seiner Frau Barbara Achleitner, Fremdenführerin mit dem Schwerpunkt Wiener Architektur, wohnt er im denkmalgeschützten Basiliskenhaus in der Wiener Innenstadt.

Der Standard, Sa., 2011.12.10

10. Dezember 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Per Hubschrauber ins Paradies

Am Gardasee baut René Benko eine Gated Community mit Villen von Richard Meier, David Chipperfield & Co. Sieht so der Garten Eden aus?

Am Gardasee baut René Benko eine Gated Community mit Villen von Richard Meier, David Chipperfield & Co. Sieht so der Garten Eden aus?

Auf der einen Seite die kürzlich verliehene Auszeichnung zum Immobilienmanager des Jahres, eine völlig umgekrempelte, fein herausgeputzte Luxus-Shoppingmeile in der Wiener Innenstadt sowie die sich anbahnende Übernahme des deutschen Warenhauses Kaufhof.

Auf der anderen Seite ein plötzlicher nächtlicher Großbrand im künftigen Hotel Park Hyatt Wien, bei dem denkmalgeschützte historische Bausubstanz beschädigt wurde, der jüngst aufgekommene Geldwäsche-Verdacht, den eine Luxemburger Bank äußerte und den die Staatsanwaltschaft bereits seit zwei Jahren untersucht, sowie der einschlägige, imagemäßig wenig schmeichelnde Satz: Es gilt die Unschuldsvermutung.

Der Tiroler Immobilien-Tycoon René Benko, der Mann mit den vielen Ferraris in der Garage, kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus. Der 34-jährige Selfmade-Man, der sein Familienunternehmen Signa Holding zusammen mit dem griechischen Reeder George Economou führt, katapultiert sich von einem Projekt zum nächsten. Die Baulose werden immer größer, die Transaktionen immer fetter.

Im Abseits der großen Milliardengeschäfte entsteht an den Hängen des Gardasees derzeit ein exklusives Villenprojekt mit einem geradezu bescheidenen Baubudget von rund 65 Millionen Euro. Namhafte Architekten aus aller Welt sind an diesem Neo-Paradies beteiligt: Richard Meier, David Chipperfield, Matteo Thun, das Innsbrucker Büro Sphere sowie der Schweizer Landschaftsplaner Enzo Enea. Der Name des luxuriösen Domizils: Villa Eden.

Der Bauzaun steht. Der Erdaushub ist längst erledigt. Und was offiziell als Baucontainer und Baubüro bewilligt wurde, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als nobel eingerichtetes Fertighaus von Matteo Thun, freistehende Badewanne inklusive.

„Offiziell handelt es sich dabei um eine Baubaracke, inoffiziell ist es eine Art Musterhaus“, wird ein Mitarbeiter Benkos später sagen. „Rein gesetzlich müssten wir das Haus bis Bauende wieder abbauen. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt. Hoffentlich viele Interessenten und Käufer!“

Um die Vermarktung der Villen anzukurbeln, lud Benkos Unternehmen, die Signa Holding, vor ein paar Wochen österreichische und deutsche Pressevertreter zur Projektpräsentation ans norditalienische Wasser. Am Westhang des Gardasees, hoch über Gardone Riviera und nur einen Steinwurf vom denkmalgeschützten Vittoriale, dem einstigen Wohnsitz des italienischen Dichters Gabriele D'Annunzio, entfernt, kaufte Benko Anfang des Jahres eine 78.000 Quadratmeter große Hügelkuppe mit Blick auf den See. Die Journalisten, es war uns nicht zu verübeln, grunzten und glucksten vor visuellem Glück.

„Wir haben das Grundstück einem Investor abgekauft, der hier eine Anlage mit 130 Wohnungen errichten wollte“, erklärt der Signa-Chef. „Doch sein Konzept war das falsche. So ein Bauvorhaben wird einem Markt wie dem Gardasee nicht gerecht. Außerdem hätte er für die Wohnungen nur 4000 bis maximal 5000 Euro pro Quadratmeter erzielen können. Das ist für diese Lage zu wenig.“

Zehn Millionen Euro pro Villa

Benkos Konzept ist viel radikaler. Er lässt sieben Luxusvillen, vier Reihenhäuser und ein Clubhaus errichten. Die nötigen Attraktoren lauten: Landschaft, Luxus und Lifestyle-Architektur. Die Wohnflächen betragen je nach Objekt zwischen 500 und 1200 Quadratmeter. Und das bei einem Verkaufspreis von rund 10.000 Euro für jeden einzelnen davon. Die größten Villen im Garten Eden werden also zwischen zehn und 15 Millionen Euro kosten.

„Ja, das ist viel Geld, und aus diesem Grund richten wir das Angebot an eine entsprechend kaufkräftige Klientel - doch dafür bieten wir auch viel“, sagt Benko. Als Ausgleich für den hohen Preis werde es ein Clubhaus mit Swimmingpool und Wellness-Oase geben, ein Gourmet-Restaurant, Gärtnerei, Reinigungsdienst, einen 24-Stunden-Concierge, einen „Hubschrauber-Landeplatz und alles, was sonst noch so dazugehört“ (O-Ton Benko).

Doch irgendetwas schmeckt an diesem paradiesischen Menü nicht so, wie es sollte. Und das sind die Gänge, die die einzelnen Architekten auftischen. Richard Meier spult sein weiß kariertes Repertoire ab und errichtet wie schon seit Jahrzehnten einen Würfel mit Metallfassade und frei geführtem Edelstahlkamin. Matteo Thun konstruiert ein elegant geformtes Brückenbauwerk aus Beton und Glas, rundherum Oliven und Lavendel. Und Sphere wirft ein paar futuristische Klötze mit riesigen, bündig in der Fassade sitzenden Panoramafenstern ins Gelände.

Alles sehr schön. Nichts zu bekritteln. Und die Visualisierungen machen Appetit. Doch vom charakteristischen Lokalkolorit des Gardasees fehlt bei diesen Bauten jegliche Spur. Der Corriere della Sera schreibt sogar: „Das Projekt Villa Eden nimmt, um ehrlich zu sein, Anleihen an den Feriendörfern der Siebzigerjahre, die (...) für die lombardische Bourgeoisie errichtet wurden. (...) Mit dem großen Unterschied, dass die Villen hier ein Stückchen zeitgenössischer Architektur sind.“

Die einzigen beiden Protagonisten, die nicht gegen die Landschaft bauen, sondern mit ihr, sind David Chipperfield und Enzo Enea. Während Enea sämtliche Bäume dieses ehemaligen Olivenhains vor Baubeginn ausbaggern, in der Baumschule verarzten und anschließend wieder in den nach traditionellem Vorbild rekonstruierten terrassierten Garten einpflanzen will, orientiert sich Chipperfield an den für diese Gegend so typischen Orangerien, an den sogenannten Limonaie.

„Die Landschaft ist geprägt von diesen unverwechselbaren steingemauerten Gewächshäusern, in denen seit Jahrhunderten Zitrusfrüchte gedeihen“, erklärt David Müller, Projektleiter bei Chipperfield. „Wir haben uns entschieden, diese Typologie zu übernehmen und in zeitgenössische Architektur zu übersetzen.“ Was gut ist für die Zitronen, ist auch gut für die Menschen: Luftzirkulation, Beschattung im Hochsommer sowie speicherfähige Masse, die untertags Wärme aufnimmt und bei Nacht wieder abgibt.

Der Ausverkauf des Gardasees

Clevere und feinfühlige Konzepte hin oder her, ein fahler Nachgeschmack bleibt. Schon jetzt bietet der Gardasee, der wegen seines milden, submediterranen Klimas zu den beliebtesten Destinationen der europäischen Hautevolee zählt, kaum noch ein Stück frei zugänglicher Fläche. Das Ufer ist fast zur Gänze privatisiert.

Benko, der durch den Verkauf der Villen einen Gewinn von rund 60 Millionen Euro machen dürfte, errichtet zwar für ein paar Dutzend Bewohner einen Garten Eden, doch gleichzeitig verbaut er die letzten noch intakten Quadratmeter einer vom Ausverkauf bedrohten Kulturlandschaft.

Die Fertigstellung des 65-Millionen-Euro-Projekts, das zur Bewilligung der ökologischen und landschaftlichen Verträglichkeit nach Auskunft der Signa alle Instanzen bis Rom durchlaufen musste, ist für 2013 geplant.

Der Standard, Sa., 2011.12.10

30. November 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Denn die Farbe hat keinen Maßstab

Die Purpur-Architekten träumten davon, Wohnungen eigenständig zu errichten. Heute entwickeln sie ihre Projekte selbst

Die Purpur-Architekten träumten davon, Wohnungen eigenständig zu errichten. Heute entwickeln sie ihre Projekte selbst

Das Steckenpferd des Wiener und Grazer Architekturbüros Purpur sind Apotheken. Zahlreiche Medizingeschäfte zwischen Neusiedler See und Wachau sind in den letzten Jahren entstanden - und eines fescher als das andere. „Wir sind aber keine Apothekenspezialisten“, sagt Thomas Längauer, Chef der Wiener Niederlassung. „Wir reagieren einfach auf die Anforderungen und Wünsche der Gesellschaft. Und das mit Leib und Seele.“

Heute ist Purpur vor allem im Wohnbau tätig. Jüngster Spross im Portfolio ist eine Wohnhausanlage in Graz-Geidorf, bestehend aus drei unterschiedlichen Bauteilen mit insgesamt 65 Wohneinheiten. Angeboten wird ein wilder Mix aus Wohnungen zwischen 40 und 200 Quadratmetern. Geplant sind große Fahrradabstellräume, ein zusammenhängender Garten, Balkone mit überdimensionalen Blumenkisten und Terrassen mit Hochbeeten. In wenigen Monaten rollt der erste Bagger an.

Freiheit statt Kompromisse

In den meisten Fällen ist Purpur jedoch nicht nur für die Planung zuständig, sondern auch für Projektentwicklung und Verkauf. Der Aufgabenbereich umspannt die gesamte Projektgenese - vom ersten Strich auf der Serviette bis zum fertigen Kaufvertrag. Zu diesem Zweck gründeten die Architekten eigens die Stabulum Projektentwicklungs- und Errichtungs GmbH. „In der Zusammenarbeit mit Bauträgern und Investoren haben wir es immer wieder mit Kompromissen zu tun gehabt“, erinnert sich Längauer. „Wir konnten nie unser gesamtes Repertoire ausspielen, wir waren immer nur im Wettbewerb. Mit dem eigenen Unternehmen haben wir uns eine gewisse Freiheit im Denken zurückerobert. Wir können im Wohnbau nun das anbieten, was wir für richtig halten.“ Mit Erfolg.

Zwei Projekte sind bereits fertiggestellt, vier weitere befinden sich gerade in Planung. Und warum Purpur? „Erstens hat Farbe keinen Maßstab, zweitens ist Purpur für uns ein Ausdrucksmittel für die Vielfalt von Aufgaben und Lösungen, die sich in der Architektur auftun.“

Der Standard, Mi., 2011.11.30



verknüpfte Akteure
PURPUR.ARCHITEKTUR

19. November 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Bahnhof. Verstehen?

Kommenden Mittwoch wird in Wien der neue, alte Westbahnhof eröffnet. Eisenbahnkultur war gestern. Der Zug ist abgefahren. Zu schnell.

Kommenden Mittwoch wird in Wien der neue, alte Westbahnhof eröffnet. Eisenbahnkultur war gestern. Der Zug ist abgefahren. Zu schnell.

„Ich kann mich erinnern“, sagt Architekt Eric Steiner. „Als Kind bin ich damals zum Westbahnhof gefahren und habe mich in diese helle, strahlende Kathedrale des Lichts gestellt. Das war ein leuchtendes Symbol für den Wiederaufbau Wiens nach dem Weltkrieg.“

Heute, 60 Jahre später, ist alles anders. Die Kathedrale des Lichts ist zwar immer noch da, doch aus dem Leuchten des Himmels wurde ein Blinkspiel von Neonreklamen, und aus dem Symbol für den Wiederaufbau wurde ein Symbol für die unstillbare Gier der Immobilienwirtschaft. Wie eine Schraubzwinge klemmen die beiden Blechkonserven die alte Halle zwischen sich ein und quetschen ihr das letzte Stück Reiseabenteuer und Grandezza aus. Flächenmaximierung nennt sich diese Form der Adipositas. Melancholie! „Wir hätten uns links und rechts mehr Spielraum rund um die alte Bahnhofshalle gewünscht“, sagt Steiner, Projektverantwortlicher im zuständigen Büro Neumann & Steiner. „Auch für meinen Geschmack rücken die beiden Neubauten etwas zu nahe an den Bestand.“

Kein Wunder. Die neue BahnhofCity Wien West hat einen Flächenumfang von mehr als 73.000 Quadratmetern, aufgeteilt auf Büroflächen, Shoppingcenter und Hotel. In den Ausschreibungsunterlagen waren es noch mehr. Steiner: „Ursprünglich war das Gesamtprojekt noch größer dimensioniert. Wir haben das Bauvolumen gegenüber den Wünschen der ÖBB bereits um 25 Prozent verkleinert. Die Argumentation war nicht einfach, doch ich bin froh, dass es uns letztendlich gelungen ist, diese stadtverträgliche Größe zu erreichen.“

Das sehen nicht alle so. „Die äußere Erscheinung des Westbahnhofs finde ich in seinem Gesamtkontext nicht zuträglich“, meint etwa Richard Wittasek-Dieckmann vom Bundesdenkmalamt, Abteilung für technische Denkmale. „Die Halle als denkmalgeschütztes Objekt wird von den Neubauten stark in Beschlag genommen.“ Robert Kniefacz, Oberstadtbaurat der Stadt Wien, Magistratsabteilung für Architektur und Stadtgestaltung (MA19), ortet eine „generelle Wiener Schwierigkeit, Bahnhöfe richtig zu zelebrieren“ und nennt als Grund: „Die Stadt Wien hat einen enormen Druck der ÖBB, das macht großzügige Lösungen zunichte. Der Bahnkunde ist nur noch ein Mittel zum kommerziellen Gewinn.“

Der Wiener Stadtplaner Reinhard Seiß erklärt auf Anfrage: „Die Neubauten zeigen deutlich, worum es geht. Das ist nichts weiter als ein banales Immobilienprojekt mit Gleisanschluss. Man wird sehen, wie sich der Standort weiter entwickelt, wenn 2015 der Hauptbahnhof in Vollbetrieb genommen und der Westbahnhof nur noch von Regionalzügen angefahren wird. Das wird die erste große Nagelprobe sein.“ Wenn in den Medien im Zusammenhang mit dem neuen, alten Westbahnhof also die Rede von „mutwilliger Zerstörung“ und „Stadtungeheuer“ ist, dann mag das zwar auch an der Qualität der Architektur liegen, in erste Linie jedoch an den unverträglichen und uneinsichtigen Wünschen der Bauherrschaft.

Es hätte noch schlimmer kommen können. Die Ausschreibung der ÖBB war eine Einladung, den Westbahnhof mit Hochhäusern einzukesseln. Einige der 54 Wettbewerbsteilnehmer nahmen das unmoralische Angebot auch an. „Das kam für uns nicht infrage“, erinnert sich Architekt Eric Steiner. „Vorne am Eck zur Mariahilfer Straße, wo so ein Symbol am ehesten Sinn ergeben hätte, war die Errichtung eines Hochhauses aufgrund der Statik nicht möglich. Das gesamte Grundstück ist von der U-Bahn unterhöhlt. Hinten an der Felberstraße wäre eine derartige städtebauliche Geste völlig übertrieben gewesen. Ich stehe zu unserer Lösung.“

Acht Geschoße links, acht Geschoße rechts. Eingehüllt sind die beiden Neubauten in ein Kleid aus Aluminiumblech. Mal natur, mal dunkel eloxiert, mal gelocht und als Schattenspender dienend. Das Resultat ist eine leicht verspielte und überaus clever konstruierte Fassade, die jedes Gewerbegebiet zwischen Kagran und Stadlau immens aufwerten würde. So eine Architektur wäre in den Fachmarktzentren und Büroclustern am Stadtrand mehr als wünschenswert. An einem neuralgischen Punkt wie hier scheint die Geste billig und misslungen. Von der Qualität als Hintergrund für die Architektur der Fünfzigerjahre gar nicht erst zu sprechen.

Im letzten Stockwerk zischt zudem eine Art fliegende Eckbank aus dem Gebäude und verleiht der BahnhofCity ihr unverwechselbares Äußeres. Die einen sprechen von „Wolkenbügel“ (in Anlehnung an den visionären Entwurf des russischen Konstruktivisten El Lissitzky, O-Ton Neumann & Steiner), die anderen von „Provinzmini-Rem“ (in Anlehnung an die kantigen Gebäude des niederländischen Architekten Rem Koolhaas, O-Ton Wolf Prix). In jedem Fall handelt es sich um einen auffälligen Sockel für den zweckdienlichen Schriftzug „BahnhofCity Wien West“, denn vom eigentlichen Hauptprotagonisten ist, von der Mariahilfer Straße kommend, kaum noch was zu sehen.

Weitaus geglückter als der Neubau ist die behutsame und historisch angemessene Sanierung der historischen Halle, dereinst geplant von Robert Hartinger, Sepp Wöhnhart und Franz Xaver Schlarbaum. Hier stellten Neumann & Steiner ihre Fähigkeiten unter Beweis: Akribie, Detailverliebtheit und technische Konstruktion. In einem aufwändigen Verfahren wurde die gesamte Halle untergraben und neu fundamentiert. Nicht die geringste Setzung, nicht der geringste Riss im Mauerwerk, keine einzige Scheibe in der mehr als elf Meter hohen Glasfassade kam während der ganzen Bauarbeiten zu Schaden.

Die neuen bauphysikalischen und haustechnischen Maßnahmen treten in den Hintergrund. Bis auf die leuchtenden Schriftzüge der Kebab-Stände und Proviantstationen ist kaum eine Änderung zu sehen. Um die schadhaften oder zerstörten Platten an den Säulen zu ersetzen, wurde eigens der längst schon stillgelegte Salzburger Steinbruch in Adnet wieder in Betrieb genommen. Mit einem Wort: Hier regiert jene Subtilität, die man sich auch für die Ausschreibung und Planung der Neubauten gewünscht hätte.

„Der Denkmalschutz ist bei diesem Projekt vorbildlich angewandt worden, und die historische Halle hat einen neuen Rahmen erhalten“, verteidigt Claus Stadler, Geschäftsführer der ÖBB Immobilienmanagement GmbH das 200-Millionen-Euro-Projekt. Und fügt stolz hinzu: „Die BahnhofCity Wien West ist das allererste Bauvorhaben im Portfolio der ÖBB, bei dem es uns gelungen ist, ein Infrastrukturprojekt zur Gänze mit einem Immobilienprojekt zu finanzieren.“ So versteht man den Bahnhof der Zukunft. Klare Bilanz.

Der Standard, Sa., 2011.11.19

16. November 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Frau der Schwerelosigkeit

Im Gegensatz zu anderen Architekten muss sich Barbara Imhof nicht mit der Schwerkraft herumplagen: Sie plant für Astronauten

Im Gegensatz zu anderen Architekten muss sich Barbara Imhof nicht mit der Schwerkraft herumplagen: Sie plant für Astronauten

Mit der Schwerkraft konnte die 42-jährige Architektin noch nie etwas anfangen. Viel wohler fühlt sich die Wienerin Barbara Imhof im schwerelosen Raum. „Ich beschäftige mich schon seit meinem Studium mit Weltraumarchitektur“, sagt die Absolventin der Universität für angewandte Kunst. „Am meisten interessiert mich die Frage, wie wir in Zukunft leben werden, in welcher Umgebung und in welchem gesellschaftlichen System. Wenn man auf diesem Gebiet weiterdenkt, landet man eines Tages notgedrungen im Weltraum.“

Besonders interessiert sich Imhof, die in Wien das Büro Liquifer betreibt, für die Planung von autarken Systemen. In einer Raumkapsel sind die Ressourcen limitiert, Verbrauch und Produktion müssen sich die Waage halten. „Die Bauwerke im Weltraum sind eng, monoton und funktional“, erklärt die Architektin. „Wie kann man diese Räume dann trotzdem so gestalten, dass man als Astronautin mit Kollegen auf engstem Raum nach 200 Tagen nicht völlig durchdreht?“

Steigbügel für künftige Projekte

Solche Fragestellungen, ist Imhof überzeugt, werden uns in Zukunft auch auf der Erde beschäftigen. „Schwerelose Weltraumarchitektur ist wie ein Steigbügel für künftige Projekte in Ballungsräumen, in denen Platz entweder sehr teuer oder kaum noch vorhanden ist.“ Auf lange Sicht seien Städte ohne autarke Energieversorgung, ohne Abfallwirtschaftskonzept und ohne umfassende Infrastruktur nicht existenzfähig. Hier könne man sich an Stationen wie MIR, ISS und der Übungseinheit Mars 500 ein Beispiel nehmen. Imhof plante zuletzt Simulationsmodule, Kapseln, Mondfahrzeuge und Hilfsgegenstände. Die Ausstellung Raumstation Skylab 5 war 2005 im Zoom-Kindermuseum zu sehen.

Der Standard, Mi., 2011.11.16



verknüpfte Akteure
Imhof Barbara

12. November 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Das Jahrhunderthaus

Am Dienstag wird das neue 21er Haus eröffnet. Spaziergang durch eine wiederbelebte Ikone der Moderne.

Am Dienstag wird das neue 21er Haus eröffnet. Spaziergang durch eine wiederbelebte Ikone der Moderne.

Die Bauarbeiter knien am Boden und klopfen die letzten Pflastersteine in den Kies. An der Fassade des kleinen Büroturms müssen noch ein paar Blechpaneele montiert werden. Und im großen Ausstellungsraum stehen Ausstellungsmonteure und Künstler ratlos in der Gegend herum und kratzen sich am Kopf. Bis kommenden Dienstag, so wird versichert, soll alles fertig sein. Dann nämlich wird das 20er Haus im Schweizer Garten als so genanntes 21er Haus zum dritten Mal eröffnet.

Rückblick: Begonnen hatte alles als Ausstellungspavillon auf der Expo 1958 in Brüssel. Aus einem Architekturwettbewerb, an dem etwa auch Oswald Haerdtl, Otto Niedermoser und Erich Boltensterin teilgenommen hatten, ging der erst 39-jährige Karl Schwanzer als Sieger hervor.

Lediglich 35 Millionen Schilling kostete der Österreich-Pavillon damals. Ein Bruchteil dessen, was andere Nationen für ihre gebauten Visitenkarten ausgaben. Der Grund: Leichtbauweise aus Stahl, Heraklith, Kunststoff, Holz und Glas, modulare Konstruktion, Aufbau und Abbau in nur wenigen Wochen. Die zeitgenössische, clevere Konstruktion brachte dem Österreich-Pavillon am Ende den Grand Prix 1958 ein.

Nach Ablauf der Weltausstellung sollte das Gebäude in Wien aufgestellt und als Museum moderner Kunst weitergenutzt werden. Infrage kamen drei Grundstücke in der Innenstadt: Freihausviertel beim Naschmarkt, Schottentor und Albertina. Doch schließlich landete das neu aufgebaute 20er Haus im Schweizer Garten, im Abseits zwischen Südbahnhof und Arsenal.

Zwei Jahre dauerte der Wiederaufbau, den Schwanzer selbst betreute. Das Holz wurde gegen Beton getauscht, der Kunststoff gegen Klinker, das Heraklith gegen Glas. Bei der Eröffnung am 21. September 1962 jubelten die Medien und titelten von einem Einbruch in die Wiener Museumstradition, von einer neuartigen Atmosphäre, als begäbe man sich auf exterritorialen Boden. Die darauffolgenden Ausstellungen - von Schüttaktionen bis zum Riesenbillard von Haus-Rucker-Co - bestätigten das 20er Haus als Hort für Visionen.

Doch dann war Schluss. 2001 musste das marode 20er Haus aus Sicherheitsgründen geschlossen werden. Gefahr in Verzug. Seitdem gammelte das Juwel der Moderne vor sich hin. Der Stahlbau rostete. Der Beton schimmelte. Im Innenraum standen die Pfützen. 2003 beschloss die Burghauptmannschaft, das Museum zu revitalisieren, und schrieb einen EU-weiten Wettbewerb aus. Der Wiener Architekt Adolf Krischanitz, selbst ein Schüler Schwanzers, konnte das Verfahren für sich gewinnen.

„Das Haus hat eine bewegte Geschichte hinter sich“, meint Krischanitz. „Ich bin froh, dass sich die Eigentümer dazu überwinden konnten, das längst schon baufällige Haus zu sanieren. Ich glaube, in dieser Form hat es eine Revitalisierung der Moderne noch nie zuvor gegeben.“

Recht hat er. Minutiös machten sich Architekten, Denkmalpfleger und Restauratoren an die Dokumentation des Gebäudes, protokollierten jeden Türgriff, nahmen Maße an Fensterprofilen, Glasfassaden und Steinbelägen, fotografierten Oberflächen und Details und extrahierten ganze Wandteile und Stahlknoten, um diese - Millimeter für Millimeter - im Bundesdenkmalamt wieder aufzubauen und für Studienzwecke zu archivieren.

Eine Ode an das Original

„Die Lebensdauer des Hauses war längst erreicht“, erinnert sich Martina Griesser-Stermscheg, wissenschaftliche Institutsmitarbeiterin im Fachbereich Objektrestaurierung, Universität für angewandte Kunst. „Trotzdem waren einige bauliche Originaldetails Schwanzers in einem sehr guten Zustand. Und diese Teile galt es zu erhalten und nach Möglichkeit wieder einzubauen.“

Obwohl das 20er Haus zum Höhepunkt der Umbauarbeiten nur noch ein nacktes Gerippe aus einigen wenigen Stahlpylonen war, konnten viele Bauteile wiederverwendet werden. Andere wurden originalgetreu nachgebaut. Wiederum andere wurden in Anlehnung an Schwanzers Pläne und Skizzen neu konstruiert und so detailliert, dass sie zwar optisch dem Original entsprechen, brandschutztechnisch und bauphysikalisch jedoch die neuesten Stückln spielen.

Nebenbei wurde die Nutzfläche durch unterirdische Archive, Restaurant und neue Büroräumlichkeiten, die in einem separaten, sechsstöckigen Türmchen (siehe Foto) neben dem 20er Haus untergebracht sind, vervierfacht.

„Leicht war der Umbau nicht“, blickt Luciano Parodi, Projektleiter im Büro Krischanitz, auf die Baustelle zurück. „Wir mussten ziemlich stark in die Bausubstanz eingreifen, aber ich würde sagen, dass uns eine gute Balance gelungen ist.“ Und rechnet vor: „Wir konnten rund 60 Prozent des baulichen Bestandes, dafür aber rund 95 Prozent der Atmosphäre und räumlichen Qualität erhalten.“

In gewohnter industrieller Rohheit erstrahlt der neue Innenraum. Stahl blieb Stahl. Stein blieb Stein. Gummiboden blieb Gummiboden. Wo früher eine Fassade mit bauphysikalischen Horrorwerten montiert war, prangt nun eine selbstentwickelte Thermofassade aus Kathedralglas. Dank Vlies und Kapillaranlage wird der Lichteinfall von allen Himmelsrichtungen diffus gestreut. Besser kann die Lichtstimmung in einem Museum nicht sein. Parodi: „Die Wirkung ist genau so, wie wir uns das erhofft haben.“

Details wie diese schlummern zuhauf im neuen 21er Haus, wie das Museum von nun an heißen wird. Und der Architekt kommt gar nicht mehr aus dem Schwärmen heraus, wenn er von der Widerstandsheizung in den Stahlträgern, von den zersägten und neu zusammengefügten Profilen in der Fassade und von den neuen Brandschutzmaßnahmen erzählt.

So fällt im Brandfall etwa ein feuerfester Stahlvorhang von der Decke, der das Untergeschoß von der Galerie trennt und so einen Brandüberschlag verhindert. Ein Glücksgriff. Denn einzig und allein aufgrund dieses innovativen Produkts, das erst kürzlich zertifiziert und für den Markt zugelassen wurde, konnte die Qualität des offenen Ausstellungsraumes erhalten werden. Krischanitz: „Ich bin froh, dass das gelungen ist, denn nur in einem Milieu der Leichtigkeit und Luftigkeit kann Kunst artgerecht atmen.“

Raum schwierig zu bespielen

Diese Meinung teilt auch die zuständige Belvedere-Direktorin Agnes Husslein-Arco. „Das ist ein Ein-Raum-Museum, und es ist, was es ist. Es ist ein hervorragend saniertes Denkmal der Moderne. Und ich bin mir dessen bewusst, dass es eine Herausforderung sein wird, diesen reizvollen Raum zu bespielen.“

Rund 32 Millionen Euro wurden in die Revitalisierung von Karl Schwanzers Ikone investiert. Aus dem einst notdürftig adaptierten Provisorium ist ein vollwertiges Museum des 21. Jahrhunderts geworden. Ob der visionäre Charakter der Fünfziger- und Sechzigerjahre auch auf Ebene der Ausstellungen weitergetragen werden wird, bleibt abzuwarten. Doch wie schrieb einst Schwanzer in seinem Buch Architektur aus Leidenschaft? „Im Risiko liegt die Bejahung der Entwicklung.“

Der Standard, Sa., 2011.11.12



verknüpfte Bauwerke
21er Haus

21. Oktober 2011Wojciech Czaja
Neue Zürcher Zeitung

Luxus-Resort im Garten Eden

Nicht nur die Ufer der Schweizer Seen werden zugebaut. Auch am Gardasee kennt man das Problem. In Gardone soll eine Gated Community mit Villen von Richard Meier, David Chipperfield und anderen Stars entstehen. Führt dies zur Verhüttelung eines irdischen Paradieses?

Nicht nur die Ufer der Schweizer Seen werden zugebaut. Auch am Gardasee kennt man das Problem. In Gardone soll eine Gated Community mit Villen von Richard Meier, David Chipperfield und anderen Stars entstehen. Führt dies zur Verhüttelung eines irdischen Paradieses?

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

12. Oktober 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Planen mit weichen Faktoren

Stadtplaner und Projektentwickler berücksichtigen bei ihrer Arbeit eher Verkehrsachsen und Bebauungslinien als die sogenannten weichen Standortfaktoren...

Stadtplaner und Projektentwickler berücksichtigen bei ihrer Arbeit eher Verkehrsachsen und Bebauungslinien als die sogenannten weichen Standortfaktoren...

Stadtplaner und Projektentwickler berücksichtigen bei ihrer Arbeit eher Verkehrsachsen und Bebauungslinien als die sogenannten weichen Standortfaktoren wie beispielsweise soziale Infrastruktur und Freiraumqualität. So jedenfalls lautet die Kritik der Wiener Architekten Martin Kunath und Birgit Trenkwalder. Mit ihrer eben erschienenen Forschungsarbeit „Smart Studies. Architektur als soziales Gefüge“, die kommende Woche veröffentlicht wird, wollen sie dem ein Ende bereiten. Die Studie wurde vom Austria Wirtschaftsservice (AWS) und Departure gefördert.

Unachtsamkeit bringt Flops

„Es passiert leider allzu oft, dass Bauträger und Investoren Projekte entwickeln, die an den eigentlichen Bedürfnissen einer Gemeinde komplett vorbeizielen“, sagt Trenkwalder. „Meistens werden ganz banale Dinge wie Gebäudeleerstand, Nahversorgungsdichte oder etwa der Bedarf an Bildungseinrichtungen, Spielplätzen, Arztpraxen, Pflegewohnplätzen und barrierefreien Wohnungen nicht berücksichtigt.“ Die Folge dieser Unachtsamkeit sind oft unverwertbare Miet- und Eigentumsflächen. Mit einem Wort: Flops. Mit der nun vorliegenden Publikation sollen derartige „kostspielige Unfälle“ vermieden werden. Mithilfe eines umfangreichen Fragenkatalogs, der zum Teil nach einem Punktesystem ausgewertet wird, können sich Bürgermeister, Geldgeber und Projektentwickler ein objektives Bild über die Sinnhaftigkeit neuer baulicher Investitionen machen. Eine Analyse vor Ort, die je nach Umfang zwischen drei und zehn Tagen in Anspruch nimmt, komplettiert die Arbeit.

„Das größte Problem ist, dass es in der Entwicklungsphase niemanden gibt, der ganz objektiv an die Sache herangeht und das Projekt betrachtet, ohne dabei die rosarote Brille aufzuhaben“, erklärt die Studienautorin. „Mit einer rechtzeitigen Abfederung von Fehlentwicklungen beziehungsweise mit objektiven Empfehlungen, die aus der Analyse resultieren, kann man nicht zuletzt private wie auch öffentliche Gelder einsparen.“ Die ersten Gemeinden, in denen der Fragekatalog bereits angewandt wurde, sind Neudegg, Gars am Kamp und Wien-Gerasdorf. Nach Auskunft der Architekten hat ein Bundesland bereits Interesse bekundet, die Studie in Zukunft flächendeckend einzusetzen.

Der Standard, Mi., 2011.10.12



verknüpfte Publikationen
Smart Studies

05. Oktober 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Auf jeder Feuermauer ein Paradiesgarten

Architekt Michael Wallraff plant vertikale Erholungsgärten. Hört sich utopisch an, ist es aber nicht. Das erste Projekt ist in Bau

Architekt Michael Wallraff plant vertikale Erholungsgärten. Hört sich utopisch an, ist es aber nicht. Das erste Projekt ist in Bau

In der Regel beschäftigt er sich mit Wohnungsumbauten, Bürorevitalisierungen und Ausstellungsgestaltungen. Auch der neue Mak-Shop stammt aus seiner Feder. Das Rohe liegt ihm. Doch nebenbei erforscht der Wiener Architekt Michael Wallraff (43) schon seit vielen Jahren die Möglichkeiten vertikaler Begrünung in der Stadt.

„In vielen Ballungsräumen, vor allem in den historisch gewachsenen Städten, sind öffentliche Freiräume ein seltenes Gut“, sagt Wallraff: „Horizontale Freiflächen sind knapp, und in der Ebene ist meist zu wenig Platz, um hochwertige Erholungsräume zu schaffen.“ Also weicht er in die dritte Dimension aus, führt den klassischen Stadtplan ad absurdum und erfindet jene Planungssparte, die er so treffend als „vertikalen öffentlichen Freiraum“ bezeichnet: Pflanzen wandern steil bergauf.

Erstes Projekt in Graz in Bau

Die Feuermauern werden zum aufgeklappten Garten Eden. An der Schnittstelle zwischen Boden, Wand und Decke verschwimmen die Grenzen zu einem diffusen Hybrid zwischen Flora und Beton. Die Dramatik der Kulissenentwürfe lässt erahnen, dass Wallraff nicht nur Architektur, sondern auch Bühnenbild studiert hat.

Das erste Projekt mit steilem Freiraum befindet sich bereits in Bau. Im Landesberufsschulzentrum St. Peter in Graz, einem Landesimmobilienprojekt, plant Wallraff in Zusammenarbeit mit Hans Lechner einen Neubautrakt. Über den Hallen und an den Fassaden der umliegenden Bauteile entsteht ein vertikaler Garten.

Schon bald könnten Projekte in Hongkong folgen, wo Wallraff plant, vor periphere Wohnhochhäuser eine zweite Hülle in Form von Balkonen und Pflanzengerüsten vor die Fassade zu stellen.

Der Standard, Mi., 2011.10.05



verknüpfte Akteure
Wallraff Michael

04. Oktober 2011Wojciech Czaja
db

Federvieh auf drei Beinen

Wie baut man eiergerecht? Diese Frage hatten sich anfangs nicht nur die Architekten in Bezug auf die Form des Eiermuseums gestellt, sondern auch die Bauingenieure, die ein schwingungsfreies Gebäude errichten sollten. Durch die enge Zusammenarbeit der Planer entstand im Burgenland ein Stück Architektur, das in konstruktiver Hinsicht und aufgrund seiner beeindruckenden Gestalt selbst schon ein Kunstwerk ist.

Wie baut man eiergerecht? Diese Frage hatten sich anfangs nicht nur die Architekten in Bezug auf die Form des Eiermuseums gestellt, sondern auch die Bauingenieure, die ein schwingungsfreies Gebäude errichten sollten. Durch die enge Zusammenarbeit der Planer entstand im Burgenland ein Stück Architektur, das in konstruktiver Hinsicht und aufgrund seiner beeindruckenden Gestalt selbst schon ein Kunstwerk ist.

Die meisten schlagen sie sich in die Pfanne und machen daraus ein schmackhaftes Gericht. Der österreichische Bildhauer Wander Bertoni will sie nicht essen, er sammelt sie viel lieber: Eier. »Das Ei ist eine faszinierende Skulptur«, erklärt er. »Die geometrisch einfachste und perfekteste Form, die in der Natur vorkommt, ist die Kugel. Sobald man eine gewisse Kraft ausübt und sie einmal verformt, erhält man ein Ei.«

Rund 4 500 dieser Urskulpturen hat Bertoni in den letzten Jahrzehnten angesammelt. Hühnereier, Enteneier, Straußeneier, ja sogar Dinosauriereier, manche perlenbesetzt, manche handbemalt, manche mit ruhiger Feile millimetergenau geschnitzt. Doch nur die wenigsten Eier sind echt. Die meisten sind aufwendig hergestellte Artefakte aus vielen unterschiedlichen Kulturkreisen, sie sind aus Stoff, aus Stein oder aus Porzellan, sie kommen aus dem Nachbardorf oder von weit her. Die längste Zeit wurden sie in irgendwelchen Kartons gehortet, aufgeteilt auf mehrere Ateliers, verstreut in ganz Österreich. Vor ein paar Jahren wurde es Bertoni zu viel: Er beschloss, für seine ungewöhnliche Sammlung ein Eiermuseum zu errichten.

Kanten als Kontrast zum Ei

Der Architekt Johannes Spalt (1920-2010), der auf dem friedvollen Anwesen in Winden am See, nur einen Steinwurf vom Neusiedler See und damit von einem der begehrtesten Ausflugsziele der Wiener entfernt, schon eine Werkstätte und ein Ateliergebäude für Bertoni geplant hatte, war für diese Bauaufgabe damals schon zu alt. Er empfahl den Bauherrn daher an seine ehemaligen Schüler Alexander Hagner und Ulrike Schartner vom Wiener Architekturbüro gaupenraub. Prompt machten sich die beiden Eierdebütanten an die Arbeit, studierten Spalts bisherige Bauten auf dem Gelände, recherchierten sich durch die Welt der Eier und kamen schließlich zu dem Schluss, dass 4 500 Eier bereits genug sind. Da muss nicht noch ein weiteres in Funktion eines Gebäudes her: »Natürlich liegt der Gedanke nahe, dass man ein Eiermuseum in Eierform macht«, so Hagner. »Aber so ein Bau wäre nicht nur ziemlich einfallslos und plump gewesen, sondern würde auch in Konkurrenz zur Eiersammlung und zu den vielen organischen Arbeiten in Bertonis Skulpturengarten stehen. Für uns war bald klar, dass wir nicht amorph, sondern eckig arbeiten müssen.« ›

Form folgt Tageslicht

Das Resultat dieser Überlegungen ist ein quadratischer Pavillon mit einer Grundfläche von 10 x 10 m. Wer glaubt, es handle sich dabei um einen schnöden Eierkarton, der irrt. Über einem voll verglasten EG schwebt ein kupferbekleideter Baukörper mit im Bodenbereich abgeschrägtem Fensterband und steil geböschten Wänden. Die eigenwillige Form folgt nicht nur der Funktion, sondern auch der Belichtung: Während von unten indirektes Tageslicht ins OG dringt, können auf Augenhöhe die Eier bestaunt werden.

»Die Aufteilung der 4 500 Ausstellungsstücke folgt einem klaren Prinzip«, erklärt Hagner. Im transparenten EG – man steht quasi mitten in der Natur – sind die etwas robusteren Ausstellungsstücke zu sehen. Ei vor landschaftlichem Hintergrund. Die von der Decke abgehängten Vitrinen tricksen einmal mehr die Schwerkraft aus. Im lichtgeschützten OG hingegen kann Bertoni die etwas lichtempfindlicheren, großteils historischen oder handbemalten Eier zur Schau stellen. Eigens entwickelte Holzvitrinen, die mal wie ein Bauchladen in den Raum ragen, mal kopfüber in die schräge Außenwand eingebaut sind, bergen einen Großteil der Unikate. »Eigentlich ist die Aufteilung ganz logisch«, meint Hagner. »Schwierig war nur die Berechnung der tatsächlich benötigten Fläche. Kein Mensch kann einem sagen, wie viel Platz man für 4 500 Eier braucht. Das steht auch in keiner Neufert Bauentwurfslehre.«

Das eierlegende Haus

Doch der tatsächliche Clou dieses Gebäudes ist sein Tragwerk. Wie ein Federtier auf zwei Beinen balanciert das Museum auf zwei geneigten Stahlsäulen, einzig gestützt durch den ebenfalls tragfähigen Treppenlauf. »Ein übliches Traggerüst mit Stützen und Platte kam für uns nicht in Frage«, so gaupenraub. »Wir haben uns von der Natur inspirieren lassen und gesehen, dass die meisten eierlegenden Tiere auf zwei Beinen durchs Leben gehen. In der Natur ist das ganz einfach. In der Architektur aber ist das eine ziemliche Challenge.« Und das sieht man auch. Beim Besichtigungstermin vor Ort streift ein burgenländischer Bauingenieur durch das Museum. »Haben Sie das etwa geplant? Wahnsinn! So eine schlanke Konstruktion habe ich ja noch nie gesehen!« Ein Schulterklopfen unter Kollegen. Hagner grinst.

Doch ohne das Statikbüro werkraum wien, das im Hintergrund die diffizilen Berechnungen anstellte, wäre das Projekt niemals realisierbar gewesen. »Es ist ein kleines, aber sehr komplexes Bauwerk«, erklärt der zuständige Tragwerksplaner Peter Bauer. »Unsere Computer waren oft einen halben Tag lang ausgelastet. Das passiert uns sonst nur bei Großprojekten.« Durch die dreibeinige Konstruktion wäre das Gebäude zwar stabil gewesen, nicht aber resistent gegen Schwingungen durch Windkräfte und trampelnde Besuchergruppen. »Der Bauherr wünschte sich für seine Eier ein komplett schwingungsfreies Gebäude, also mussten wir sämtliche Nutzlastverteilungen in die Berechnung miteinbeziehen und die Konstruktion so weit vorspannen, dass im Alltag keinerlei Schwingungen auftreten.«

Konkret sieht das so aus: Die beiden geneigten Stahlstützen haben einen Durchmesser von 400 mm, ihre Wanddicke beträgt je nach Belastung 20 bzw. 50 mm. Gemeinsam mit der diagonal in den Raum gestellten, einläufigen Treppe, die als Kastenträger ausgebildet ist (zusammengeschweißt aus einzelnen Blechen), entsteht ein stabiles Dreibein. Darüber befindet sich, gleich einer gigantischen Obstschale, ein Rahmenwerk aus Stahlträgern, das an den Rändern aufgekantet ist und auf diese Weise gleichzeitig als Unterkonstruktion für die »Nurverglasung« im Bodenbereich dient. Der Rest des Gebäudes besteht aus einer hinterlüfteten Holzkonstruktion aus Kreuzlagenholz (KLH), eingepackt in ein abschließendes Kleid aus Kupferblech.

Torsion und Schüsselung

Im Rohbau musste die gesamte Konstruktion leicht gewölbt und mit einer Überhöhung von 60 mm ausgeführt werden. Der Stahlbau hat sich, wie man in Österreich so schön sagt, nach oben »geschüsselt«. Das war Absicht. Erst durch die insgesamt 27 Zugstangen im EG, die im Innenraum ein paar Zentimeter vor der Glasebene schweben, wird das OG nach unten gezogen. In jeder einzelnen Zugstange stecken 5 t Zugkraft. Durch die asymmetrische Positionierung des Dreibeins hat sich das Gebäude während des Spannvorgangs um 5 cm um die eigene Achse gedreht. Auch diese Torsion musste von Anfang an berücksichtigt werden.

»Das Ganze ist ein gewaltiger Kraftakt, doch dank dieser Vorspannung ist das gesamte Eiermuseum nun erschütterungsfreie Zone«, erklärt Peter Bauer. Der letzte Trick liegt in der 30 cm dicken Fundamentplatte. »Normalerweise müsste man die Zugkraft in entsprechend großen Punkt- oder Streifenfundamenten aufnehmen. Wir haben stattdessen die Fundamentplatte entsprechend stark bewehrt, und zwar nicht oben, wo sich die Zugzone üblicherweise befindet, sondern an der Untersohle. Der Kräfteverlauf ist in diesem Projekt eben komplett auf den Kopf gestellt.«

Das Unmögliche möglich

Ungewöhnlich in diesem durch und durch eierspezifischem Projekt – sogar die selbstverständlich weiß lackierten Scheinwerfer weisen eine ovoide Form auf – ist nicht zuletzt das Haustechnik-Konzept. Die Verglasung ist einfach, es gibt weder Wärmedämmung noch Kühlung und Beheizung. Horizontale Fugen im EG sorgen für Frischluft, abgesaugt wird die verbrauchte Luft schließlich im höchsten Punkt unter Dach. Das war’s. »Die Eier sind ziemlich resistent, also herrscht im Museum das ganze Jahr über mehr oder weniger Außentemperatur«, erklärt Hagner. Und verweist auf einen Bonuspunkt dieses minimalistischen Konzepts: »In den meisten Projekten muss man sich mit komplizierten Details herumschlagen und mühsam Wärmebrücken vermeiden. Hier konnten wir archaische und ganz simple Stahldetails verwenden, wie man sie heute kaum noch sieht. Das war ein seltener Genuss.«

Keine Frage, das Eiermuseum in Winden am See ist eine konzeptionelle Hirngeburt. Es gibt kein einziges nachvollziehbares Argument, das den Einsatz von 18 t Stahl rechtfertigt, nur um ein paar Eier in den Himmel zu heben. Und billig dürfte das Haus auch nicht gewesen sein. Die Bausumme wird geheim gehalten. Fragile Angelegenheit. Letztlich aber fügt sich Bertonis ungewöhnlicher Eierpalast perfekt in das gesamtkünstlerische Konzept seines Wohn- und Arbeitsreichs und beweist, dass das Unmögliche möglich ist, wenn man es nur will. So gesehen ist das Museum mehr Kunst als Architektur. Und zwar Kunst sowohl im Sinne konzeptionellen Arbeitens als auch im Sinne handwerklichen Talents.

db, Di., 2011.10.04



verknüpfte Bauwerke
Eiermuseum Bertoni



verknüpfte Zeitschriften
db 2011|10 Herausforderung Tragwerk

01. Oktober 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Meisterin des großen Fastnichts

Die japanische Architektin und Pritzker-Preis-Trägerin Kazuyo Sejima leitete letztes Jahr die Architektur-Biennale in Venedig. Jetzt war sie in Wien und gab eines ihrer seltenen Interviews.

Die japanische Architektin und Pritzker-Preis-Trägerin Kazuyo Sejima leitete letztes Jahr die Architektur-Biennale in Venedig. Jetzt war sie in Wien und gab eines ihrer seltenen Interviews.

STANDARD: Sie gelten als medienscheu und lehnen fast alle Interviews ab. Warum eigentlich?

Sejima: Mein Englisch ist nicht sehr gut. Das führt manchmal zu Missverständnissen. Lieber lasse ich meine Gebäude für sich sprechen. Da gibt es keine Missverständnisse.

STANDARD: Und was sagen Ihre Gebäude?

Sejima: Sie sagen sehr wenig. Der Raum dient in erster Linie dazu, die Natur und das Licht sprechen zu lassen.

STANDARD: Warum ist alles weiß?

Sejima: Unsere Häuser sind nicht immer weiß. Aber oft. Als ich jung war, habe ich manchmal mit sehr grellen Farben gearbeitet. Meine ersten Bauten waren gelb und blau. Mit der Zeit beginnt man, sich zu reduzieren und zum Einfachen zu streben. Es geht um die Essenz.

STANDARD: Was wären Ihre Gebäude ohne Weiß?

Sejima: Sie wären durchsichtig und unsichtbar.

STANDARD: Letztes Jahr wurde Ihnen der Pritzker-Preis verliehen. Hat sich seit damals etwas verändert?

Sejima: In den ersten Monaten nach der Preisverleihung war alles beim Alten. Wir haben an Wettbewerben teilgenommen, wir haben gewonnen, wir haben gebaut. Doch in letzter Zeit erkennen wir, dass wir nicht mehr ausschließlich auf Wettbewerbe angewiesen sind. Plötzlich gibt es auch Direktaufträge, und wir müssen nicht mehr um jeden Auftrag kämpfen. Das macht das Leben angenehmer.

STANDARD: Im gleichen Jahr wurden Sie zur Direktorin der Architektur-Biennale in Venedig bestellt. Es heißt, Sie hätten am Anfang gezögert.

Sejima: Um ehrlich zu sein: Ich habe Angst gehabt. Als ich angerufen und gefragt wurde, ob ich die Architektur-Biennale in Venedig leiten will, dachte ich mir: Das ist absolut unmöglich! Im Rückblick betrachtet, war die Arbeit für die Biennale eine großartige Möglichkeit, einen Überblick über die zeitgenössische Architekturszene zu gewinnen. Wissen Sie, als Architektin arbeitet man sich von einem Projekt zum nächsten, und der Blick ist sehr eng. Im Alltag fehlt meistens die Luft, um in die Welt hinauszublicken.

STANDARD: Und? Was haben Sie bei diesem Blick in die Welt gesehen?

Sejima: Am tollsten war für mich, dass ich mich mit den vielen jungen Büros in Japan auseinandersetzen musste. Da gibt es spannende Tendenzen. In der Informationsgesellschaft hat man sonst nur mit Stararchitekten zu tun. Das ist langweilig.

STANDARD: Das von Ihnen kreierte Motto lautete „People meet in architecture“. Sind Sie mit den Ergebnissen zufrieden?

Sejima: Ja, sehr sogar. Architektur als Treffpunkt für Menschen - das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Leider ist das oft nicht der Fall. Vor allem in Japan wird oft jeder Quadratmeter mit Funktionen belegt. Alles ist vordefiniert. Für die Menschen bleibt kein Platz. Mit meinem Motto wollte ich das wieder in Erinnerung rufen.

STANDARD: In Ihren eigenen Projekten gehen Sie mit dem Raum manchmal sehr verschwenderisch um. Kostet das mehr?

Sejima: Nein. Es gibt ein Geheimnis: Wir investieren das meiste Geld in die Struktur und somit in die größendefinierende Komponente. Die Oberfläche bleibt meistens roh. Auf diese Weise können wir bei den Materialien viel Geld sparen. Im Rolex Learning Center in Lausanne haben wir uns auf diesen großen, fließenden Raum konzentriert. Und am Ende haben wir einfach nur einen billigen Teppichboden reingelegt, weil wir sonst das Budget überschritten hätten. Eine Universität mit Teppich, wo gibt es das schon!

STANDARD: Gibt es für Sie einen Unterschied, ob Sie in Japan, Europa oder Nordamerika bauen?

Sejima: Nicht prinzipiell. Aber wir passen uns - egal wo wir bauen - den lokalen Rohstoffpreisen an. In Deutschland beispielsweise ist Beton sehr billig. In Manhattan wiederum ist Beton fast unbezahlbar, doch dafür ist Stahl recht günstig. Wenn man diese Grenzen akzeptiert, dann kann man nicht nur günstig bauen, sondern auch den Lokalkolorit erhalten.

STANDARD: Gibt es ein Lieblingsmaterial?

Sejima: Glas ist ein schönes Material, weil es Konstruktion, Füllung und Haut in einem ist.

STANDARD: Und was ist mit Wärmedämmung? Was ist mit Überhitzung?

Sejima: Wir haben in Japan einen anderen Zugang zum Wohnen. Warum muss ein Zimmer im Sommer exakt 21 Grad haben? Und warum muss ein Zimmer im Winter ebenfalls exakt 21 Grad haben? Das ist unlogisch. In Japan verschließen wir uns nicht gegenüber der Natur und den Jahreszeiten. Wir leben nicht gegen sie, wir leben mit ihnen. Wenn es kalt ist, ziehen wir einen Pullover an. Ich verstehe nicht, warum das in anderen Ländern nicht funktioniert.

STANDARD: Dennoch sind die Heiz- und Kühlkosten in Glasgebäuden höher als in anderen.

Sejima: Ich gebe Ihnen recht. Die Projekte, die wir in Japan realisiert haben, sind meist recht energieintensiv. Das liegt daran, dass Strom in Japan sehr billig ist. Zu billig. Außerdem sind die Richtlinien in Japan nicht streng genug. Europa ist da schon viel weiter.

STANDARD: Hat sich der Umgang mit Energie seit Fukushima geändert?

Sejima: Ja, seit dem Erdbeben und dem Tsunami ist alles anders. Die Menschen beginnen plötzlich damit, sich mit Energiekonsum auseinanderzusetzen. Tokio ist nicht wiederzuerkennen. Vor Fukushima war die Stadt bunt und grell, heute ist sie schwarz und dunkel. Die Hälfte der Leuchtreklamen und Lichter ist verschwunden.

STANDARD: Gibt es auch schon Auswirkungen auf die Vorschriften und Richtlinien?

Sejima: Nein, noch nicht. Unsere Lehre aus Fukushima lautet: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Aus diesem Grund hat bei uns im Büro bereits ein Umdenken stattgefunden. Die Projekte von SANAA werden sich verändern.

STANDARD: Durch den Tsunami wurde auch die Insel Inu-Shima zerstört, auf der Sie viele kleine Galerien errichtet haben.

Sejima: Wir sind gerade mitten im Bau. Einige sind schon fertig, andere noch in Planung. Der Tsunami hat auf Inu-Shima 75 Prozent der Häuser zerstört. Und von den insgesamt 3000 Einwohnern sind 1000 ums Leben gekommen. Die Situation ist dramatisch. Unsere Galerien sind vom Tsunami unversehrt geblieben. Zum Glück. Denn auf diese Weise kommen Touristen und Kunstliebhaber auf die Insel. Auf diese Einnahmen sind die Menschen auf Inu-Shima dringend angewiesen.

STANDARD: Werden Sie das Projekt fortsetzen?

Sejima: Natürlich. Das Projekt ist jetzt wichtiger denn je.

STANDARD: Sie bauen derzeit die Museumsdependance des Louvre in Lens, Frankreich. Die Eröffnung ist für nächstes Jahr geplant. Was können wir erwarten?

Sejima: Der Louvre in Lens wird ohne große Gesten auskommen. Das ist ein stilles Gebäude, das seine Qualitäten erst auf den zweiten Blick entfalten wird. Das ist unsere Stärke.

STANDARD: Gibt es einen Traum für die Zukunft?

Sejima: Eines Tages will ich eine Volksschule bauen. Nirgendwo verbringen Kinder in diesem einprägsamen und lehrreichen Alter mehr Zeit als in der Schule. Das ist ein Umfeld, das das ganze Leben mitprägt. Leider ist man sich dessen in Japan nicht bewusst. Wenn ein Mord oder ein Selbstmord passiert, und das passiert leider viel zu oft, dann zuckt man mit den Achseln und sagt: Das ist so, das kann man nicht ändern. Doch, man kann! Man muss sich nur einen Ruck geben. Ich nehme meine Verantwortung als Architektin wahr und sage: Ich fange an, indem ich eine schöne und respektvolle Umwelt für die Kinder gestalten will.

STANDARD: Kann Architektur solche Katastrophen wirklich verhindern?

Sejima: Nicht verhindern! Aber minimal beeinflussen. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich bin der Meinung: Jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft muss sich mit seinen Kompetenzen einbringen, wenn es darum geht, die Gesellschaft von morgen zu formen. Diese Einstellung vermisse ich.

[ Kazuyo Sejima (55) leitet mit ihrem Partner Ryue Nishizawa das Büro SANAA. Die Tokioter Architektin erhielt letztes Jahr den Pritzker-Preis und war Direktorin der Architektur-Biennale 2010 in Venedig. Vor wenigen Tagen war sie im Rahmen der Mak-Vortragsreihe „Changing Architecture“ zu Besuch in Wien. ]

Der Standard, Sa., 2011.10.01



verknüpfte Akteure
Sejima Kazuyo

21. September 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Abschreckende Fassaden

Für das Wiener Büro t-hoch-n spielen km/h eine wichtige Rolle. Da werden Busse geplant und Geschäfte aus der Perspektive einer Straßenbahn

Für das Wiener Büro t-hoch-n spielen km/h eine wichtige Rolle. Da werden Busse geplant und Geschäfte aus der Perspektive einer Straßenbahn

Der Verkehr ist ein Hund, vor allem dann, wenn sich der eigene Copyshop am Ende einer stark befahrenen Straße befindet. Regelmäßig krachten Autofahrer, die aus der Schönbrunner Straße kamen und das Bremspedal nicht mehr rechtzeitig fanden, in die Fassade der Kopieranstalt M+N. Totalschaden auf allen Seiten. Nach dem 20. Auto erhielt das Wiener Architekturbüro t-hoch-n den Auftrag, eine Fassade zu gestalten, die Autofahrer abschrecken sollte.

„Nicht nur Symptome, auch Ursachen erkennen“

„Wir haben einen Bus an die Fassade gebaut“ , erklärt Gerhard Binder, einer der Chefs bei t-hoch-n. „Jeder, der einen Führerschein besitzt, weiß, dass öffentliche Busse Vorrang haben. Dieses Wissen haben wir uns zunutze gemacht.“ Die Technik, Harmloses als gefährlich zu tarnen, kommt aus der Natur. Die städtische „Mimikry“ hat sich auch bei den Menschen als erfolgreich erwiesen: Seit Fertigstellung der Fassade im Jahr 2004 gab es keinen Unfall mehr.

„Ja, es geht darum, dass man bei einem Projekt nicht nur die Symptome erkennt, sondern auch die Ursachen“, so Binder. Auch beim Geschäft be a good girl in der Westbahnstraße spielte der Verkehr eine große Rolle. „In den Stoßzeiten fährt alle drei bis vier Minuten die Bim vorbei. Die Frage war: Wie bringt man die Leute dazu, auszusteigen und wieder hundert Meter zurückzugehen?“ Die Antwort: Man stellt unter unterschiedlichen Drehwinkeln Spiegel in die Auslage, die im langsamen Vorbeifahren einen flirrenden Film erzeugen. Das macht neugierig.

Das Wissen der Zeit

Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, verkehrsbedingt Portale zu planen, arbeiten die t-hoch-n-Leute hauptsächlich an Dachgeschoßausbauten. Und warum t-hoch-n? „Ganz einfach“, sagt der Architekt. „tn ist die von Carl Friedrich von Weizsäcker entwickelte Formel für das Wissen der Zeit. Was in der Physik gilt, kann auch in der Planung unserer Städte nicht so falsch sein.“

Der Standard, Mi., 2011.09.21



verknüpfte Akteure
t-hoch-n

14. September 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Kiemen auf Knopfdruck

Das Büro soma architecture liebt das Experiment. Der Pavillon auf der Expo 2012 in Yeosu besticht durch eine bionische Fassade

Das Büro soma architecture liebt das Experiment. Der Pavillon auf der Expo 2012 in Yeosu besticht durch eine bionische Fassade

Wien/Salzburg - Bis vor kurzem teilte soma architecture mit vielen anderen Büros in Österreich ein Schicksal: fertige Homepage, fesche Visitenkärtchen - und noch kein einziges realisiertes Projekt. „Das hat sich jetzt rasant geändert“, sagt Kristina Schinegger, die mit Martin Oberascher, Stefan Rutzinger und Günther Weber Büros in Salzburg und Wien betreibt.

Das erste realisierte Projekt war der temporäre Musikpavillon „White Noise“ auf dem Salzburger Mozartplatz. Die Form des Pavillons war nicht auf Anhieb zu erkennen. „Wir wollten ein mehrdeutiges, ambivalentes Objekt mit einem gewissen visuellen Flimmern erzeugen“, sagt Schinegger.

Kurz vor Fertigstellung befindet sich der Umbau der Bauakademie Salzburg. In dem neu gestalteten Ausbildungszentrum der Wirtschaftskammer soll den Auszubildenden vermittelt werden, was mit heutigen Bautechnologien und Schalungstechniken im Betonbau alles möglich ist.

Bionisches System

Highlight von soma architecture ist jedoch der große Themenpavillon auf der Expo 2012 in Yeosu in Südkorea. Das gigantische, 7000 Quadratmeter große Hightech-Gebäude befindet sich bereits in Bau und wird im Frühjahr, rechtzeitig zur Weltausstellung, seine Pforten öffnen. Herzstück ist eine kinetische Fassade, die nach bionischen Prinzipien funktioniert. Die 108 Lamellen aus Glasfaser - ähnlich aufgebaut wie ein Surfbrett - sind flexibel und können durch Druckausübung wie Kiemen auf und zu gemacht werden. Es ist das erste Mal, dass ein bionisches System in dieser Größe realisiert wird. Nach der Expo soll das Gebäude als Kulturzentrum weitergenutzt werden.

„Experimentelle, innovative Architektur ist für uns sehr wichtig“, sagt Martin Oberascher am Ende. „Wir wollen lediglich neue Techniken ausprobieren und anwenden. Nur so funktioniert Fortschritt.“

Der Standard, Mi., 2011.09.14



verknüpfte Akteure
soma

10. September 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Turm aus Angst und Paranoia

Der Wiederaufbau von Ground Zero hätte ein Projekt mit weltweiter Strahlkraft werden können. Diese Chance ist längst verbaut.

Der Wiederaufbau von Ground Zero hätte ein Projekt mit weltweiter Strahlkraft werden können. Diese Chance ist längst verbaut.

Am 11. September 2001 wurden einige Immobilienobjekte aus dem Grundbesitz der Port Authority of New York and New Jersey unwiederbringlich zerstört. Zwei Tage später saßen die Vorstandsvorsitzenden der Port Authority mit dem Investor Larry Silverstein, der wenige Wochen zuvor einen 99-jährigen Pachtvertrag für das World Trade Center unterzeichnet hatte, und dem Architekten David Childs, Seniorpartner der Architekturfabrik Skidmore, Owings & Merrill (SOM), an einem Tisch und brüteten bereits über den Plänen für den Wiederaufbau.

Ein Grundstück wie Ground Zero zu bebauen ist ein Jahrhundertereignis. Zehn Jahre nach den Anschlägen ist klar, dass diese Chance jämmerlich vertan wurde. Was ein Zeichen für Konfliktbekämpfung und Neuorganisation hätte werden können, ist nun ein mittelmäßiger Haufen von bombensicheren Bürohochhäusern, eine betonierte Anti-Terror-Festung aus der Ära Bush. Die Metapher ist unmissverständlich.

Die Entwicklung auf Ground Zero verhieß von Anfang an nichts Gutes. Im April 2002 schrieb die Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) einen Wettbewerb aus und bat 24 Architekturbüros aus ganz Manhattan um deren Entwürfe. Noch bevor die ersten Zeichnungen auf dem Tisch lagen, zog die LMDC die Einladung zurück und übertrug den Auftrag an das New Yorker Büro Beyer Blinder Belle (BBB). Die sechs Masterplan-Varianten von BBB sahen monströse, übereinandergestapelte und ästhetisch austauschbare Bürovolumina mit gewohnt amerikanischer Schönfärberei vor: Memorial Plaza, Memorial Garden, Memorial Square. Die internationale Architektenschaft tobte - und forderte einen internationalen Architekturwettbewerb.

Doch auch das darauffolgende Wettbewerbsverfahren, aus dem unter anderem Daniel Libeskind mit seinem begrünten Turm namens „Gardens of the World“ als Sieger hervorging, sollte sich bald als gescheitert erweisen. „Gärten sind eine konstante Bestätigung des Lebens“, sagte der Architekt. Sie seien der Inbegriff für Freiheit und Schönheit.

Libeskinds Worte waren die perfekte Metapher für ein medial so angeschlagenes Projekt. Allein, mit Gärten in einem halben Kilometer Höhe kann man kein Geld machen. Schon bald darauf wurde Libeskind aus dem Projekt gemobbt. Sein Turm ist längst Geschichte.

Nein: Kulturzentrum

Auch das geplante International Freedom Center (IFC) des norwegischen Büros Snøhetta, das auf Ground Zero einen „Ort der lebendigen Diskussion über den Kampf aller Kulturen für die Freiheit und die Menschenrechte“ mit Ausstellungen über chinesische und tibetanische Freiheitskämpfer schaffen wollte, fiel dem Veto zum Opfer. „Wir wollen hier keine Politik“, erklärte Debra Burlingame, Sprecherin der Opferorganisation Take back the Memorial. „Künstlerische Freiheit und Redefreiheit müssen sein, überall sonst, nur bitte nicht auf Ground Zero.“

Und die beiden Hochhäuser von Norman Foster und Richard Rogers, einst ebenso Wettbewerbsgewinner wie Daniel Libes-kind und Snøhetta, wurden von ursprünglich 71 und 79 Stockwerken auf mickrige Office-Zwerge mit fünf und sechs Etagen (!) geschrumpft. „Man könne die Türme zu einem späteren Zeitpunkt ja immer noch aufstocken“, lautet der zynische Kommentar der Investoren.

Wenig verwunderlich: Am Ende aller Tage landete das Gesamtprojekt Ground Zero wieder dort, wo alles seinen Lauf nahm, beim Verbündeten der Port Au-thority, beim besten Freund des Investors. Bei einer Pressekonferenz im Jahr 2003 trat Architekt David Childs, Seniorpartner von SOM, vor die Journalisten und schnaufte selbstsicher ins Mikrofon: „Der ganze Plan ist dummes Geschwätz. Libeskind hat keine Erfahrung mit großen Projekten. Ein Museum hat er gebaut, aber das kann jeder. Der Mann hat doch keine Ahnung, wovon er spricht.“

Acht Jahre später befindet sich der neue Turmbau von SOM bereits im 82. Stock und hat eine Höhe von 309 Metern erreicht. Ein nichtssagender Phallus aus Glas mit einer 124 Meter hohen Antenne auf der Spitze. Die Gesamthöhe von 1776 Fuß (541 Meter) - eine Anspielung auf das Jahr, in dem Amerikas Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet wurde - ist das letzte symbolische Überbleibsel von Libeskinds Entwurf.

„Herr Libeskind hat ohne Zweifel eine großartige Zeichnung vorgelegt, aber dieses Projekt war immer nur als Masterplan und Stoßrichtung angedacht“, sagt T. J. Gottesdiener, Managing Partner bei SOM New York, im Interview mit dem STANDARD. „Eines Tages hat der Investor Larry Silverstein eben beschlossen, das Areal lieber von anderen Architekten zu bebauen. Das Projekt muss sich rechnen. Das ist die Story.“

Mit der Übertragung der Architekturplanung an SOM, das pro Jahr rund 50 großmaßstäbliche Projekte auf der ganzen Welt abwickelt, ging der Wiederaufbau von Ground Zero endgültig den Bach runter. Der Sockel des 3,1-Milliarden-Dollar-Gebäudes (ca. 2,2 Milliarden Euro) gibt sich heute noch als leichte, transparente Stahlkonstruktion. Doch bei Fertigstellung im Jahr 2013 wird der Tower von einer zwei Meter dicken, 60 Meter hohen Betonmauer umgeben sein. Sie soll einem 20-Tonnen-Truck voller Dynamit standhalten können.

„Der Auftraggeber ist um maximale Sicherheit bemüht“, sagt Gottesdiener, „aber schauen Sie sich nur einmal die Geschlechtertürme der Medici in Florenz an! Die haben im unteren Bereich auch kaum Öffnungen, und trotzdem finden wir diese Gebäude atemberaubend schön.“

Ja: Shoppingcenter

Und sonst? Der Turm wurde um 20 Meter von der Straße abgerückt, ein Sicherheitsabstand. Das Panorama-Restaurant im obersten Geschoß wird nicht realisiert - logistische Probleme. Doch dafür gibt es ein gigantisches unterirdisches Einkaufszentrum mit 46.000 Quadratmetern Verkaufsfläche - keine logistischen Probleme.

Und der einst pathetische Name „Freedom Tower“ musste der pragmatischen Bezeichnung „One World Trade Center“ weichen. Der Großmieter Vantone Industrial Co. aus Peking, der in den Etagen 64 bis 69 ein „China Center“ errichten will, konnte sich mit dem Namen nicht identifizieren und wünschte sich die Umbenennung des Turms.

Ground Zero (kolportierte Gesamtinvestitionskosten zehn bis 14 Milliarden US-Dollar, ca. 7,1 bis 9,9 Milliarden Euro) droht zu einem kulturellen Fiasko zu werden, zu einem kommerziellen und fragwürdig politischen Aushängeschild der USA, zu einem Symbol für Angst und Paranoia. „Hört auf zu bauen!“, forderte der deutsche Journalist Florian Heilmeyer vor einigen Jahren in einem Artikel. „Vielleicht kann eine kommende Generation diesen Ort würdiger und sinnvoller bespielen.“ Dafür ist es nun zu spät.

Ground Zero ist nicht nur die Rekonstruktion eines zerstörten Machtsymbols, sondern zugleich auch Sinnbild einer perfiden und uninspirierten Architektur. Oder, wie der Berliner Architekturtheoretiker und Schriftsteller Friedrich von Borries schreibt: ein „Architekturporno für die Weltherrschaft des Kapitals“.

Der Standard, Sa., 2011.09.10

07. September 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Turmbau mit Hüftschwung

Das Architekturbüro Klaura+Kaden ist ein Anhänger des Holzbaus. Das neueste Projekt ist ein 100 Meter hoher Aussichtsturm

Das Architekturbüro Klaura+Kaden ist ein Anhänger des Holzbaus. Das neueste Projekt ist ein 100 Meter hoher Aussichtsturm

Klagenfurt - Jahrelang haben die beiden dafür gekämpft, jahrelang wurde das Projekt von der Politik auf die lange Bank geschoben. Zu hoch, zu teuer, viel zu modern. Vor wenigen Wochen dann der Durchbruch: Der Aussichtsturm auf dem Pyramidenkogel, hoch oben über dem Wörthersee, soll realisiert werden. Damit erhält Kärnten nicht nur ein neues Wahrzeichen, sondern auch das größte und womöglich beeindruckendste Stück zeitgenössischer Architektur seit langem.

„Holzbau ist eine Materie, die uns immer schon interessiert hat“, sagt Architekt Dietmar Kaden. Der Baustoff Holz sei umweltverträglich, zukunftsträchtig und in Österreich im Überfluss vorhanden. „Einfamilienhäuser und Passivwohnbauten in dieser Bauweise zu errichten ist das eine. Aber ein 100 Meter hoher Aussichtsturm aus Holz, das ist ein Jahrhundert-Ereignis!“ Der Aussichtsturm wird damit der zweithöchste Holzbau der Welt.

100 Meter lange Rutsche

„In der Regel haben Türme etwas sehr Männliches an sich - bei diesem Turm erinnert die gedrehte, weiche Form an eine Tänzerin mit einem gewissen Hüftschwung“, meint Kaden. „Je nach Blickwinkel bieten sich dem Betrachter ganz unterschiedliche Silhouetten.“ Doch hinter der organischen Form versteckt sich ein strenger mathematischer Raster. Die Fertigung der einzelnen Lärchenholz-Pfeiler erfolgt mittels CNC-Fräse im Werk, der Zusammenbau vor Ort wird nur wenige Wochen dauern.

Ungewöhnlich ist jedoch nicht nur die Konstruktion, sondern auch die Funktion. Neben Lift, Stiegenhaus und Panorama-Café in 70 Meter Höhe wird es eine 100 Meter lange Rutsche geben. Die Rutschgeschwindigkeit wird bis zu 10 km/h betragen, aus der Plexiglasröhre wird man den Wörthersee überblicken können. „Noch vor zehn Jahren war Kärnten unscheinbar, wenn es um Architektur ging“, erinnert sich Kaden. „Mittlerweile ist es der jungen Architektengeneration aber gelungen, die Bauszene deutlich zu beleben.“ Eckdaten des jüngsten und höchsten hölzernen Manifests: Baukosten acht Millionen Euro, Baubeginn Frühjahr 2012, Fertigstellung Ende 2012.

Der Standard, Mi., 2011.09.07



verknüpfte Akteure
Klaura Partner

31. August 2011Wojciech Czaja
db

Spuren im Schnee

Das neue Corporate Design eines Kitzbüheler Modelabels für Trachten, Ski- und Sportswear »versteckt« die Ladenfront hinter einer großen, weißen Wabenstruktur aus Mineralwerkstoff. Die Auffälligkeit im Stadtbild sowie die haptische Qualität des Materials führen fast zwangsläufig zum Näherkommen und Berühren – und zum Eintreten. Auch das Innere des Geschäfts ist fast vollständig mit Mineralwerkstoff ausgekleidet. Die Architekten bewiesen dabei nicht nur Mut, sondern auch Detailliebe und konstruktive Disziplin.

Das neue Corporate Design eines Kitzbüheler Modelabels für Trachten, Ski- und Sportswear »versteckt« die Ladenfront hinter einer großen, weißen Wabenstruktur aus Mineralwerkstoff. Die Auffälligkeit im Stadtbild sowie die haptische Qualität des Materials führen fast zwangsläufig zum Näherkommen und Berühren – und zum Eintreten. Auch das Innere des Geschäfts ist fast vollständig mit Mineralwerkstoff ausgekleidet. Die Architekten bewiesen dabei nicht nur Mut, sondern auch Detailliebe und konstruktive Disziplin.

Die Wiener Ladenzeilen zu ebener Erde sind eine Stadt für sich. Während oben fein behauene Gründerzeitfassaden, barock anmutende Erker und gelegentlich sogar Versatzstücke aus der Belle Epoque in den Straßenraum ragen, regiert unten die beinharte Politik des Konsums. Man geht vorbei an riesigen Glasfassaden, an aufgespannten Kostümen ohne Preisschild, an Großfamilien von Schaufensterpuppen, die adrett gekleidet in Reih und Glied stehen und um Kunden buhlen.

Doch dann die Modeboutique »Sportalm«: Wie eine futuristische Bienenwabe steht plötzlich eine massive, löchrige Scheibe vor dem denkmalgeschützten Haus in der Brandstätte 8-10, nur wenige Schritte vom Stephansplatz entfernt. Während einige Teile blickdicht sind, lassen insgesamt 148 sechseckige Aussparungen einen gefilterten Blick auf die bunten Sportanoraks und österreichischen Dirndl des Kitzbüheler Modeunternehmens zu. Das geheimnisvolle Portal aus der Zukunftswerkstatt macht neugierig und lädt ein näherzutreten.

»Genau das ist der Punkt«, sagt der Wiener Architekt Johannes Baar-Baarenfels. »Die gesamte Erdgeschosszone in der Wiener Innenstadt ist bereits weit aufgerissen. Mit einer einfachen Glasfassade fällt man hier unmöglich auf. Man erzielt keine Aufmerksamkeit, und die Leute laufen im Konsumrausch permanent an einem vorbei. Im Verstecken liegt der Reiz. Daher habe ich mich für diesen Bruch entschieden.«

Es ist ein Bruch mit der Tradition des Wiener Window-Shoppings, gewiss aber kein Bruch mit der eigenen Architektur. Denn Baar-Baarenfels reizt die Architektur seit dem ersten Tag seines Schaffens bis an die Grenzen ihrer materiellen und konstruktiven Machbarkeit aus. Viele Bauherren sind schockiert. Viele begeistert.

Die Fassade des durch und durch weißen Geschäfts besteht aus dem Mineralwerkstoff Corian. Insgesamt wurden vier Schichten miteinander verleimt und anschließend mittels einer CNC-Fräse in diese unverwechselbare Form geschnitten. Die wabenförmige Struktur ist jedoch keineswegs nur eine Frage der Optik. In den schmalen vertikalen und diagonalen Stegen versteckt sich ein rautenförmiges Flächentragwerk aus 6 mm dicken, gekanteten Edelstahlblechen. Die 8,40 x 5,00 m große Fassadenplatte, die ihrer Ausmaße wegen eines Nachts mit einem Sondertransport auf die Baustelle geliefert werden musste, ist damit selbsttragend. Auf zusätzliche Konstruktion konnte verzichtet werden.

Einziges Problem sind die Querkräfte. »Die Honeycomb-Struktur ist zwar selbsttragend, aber noch nicht stabil genug gegen horizontale Einflüsse«, erklärt Baar-Baarenfels. »Im Fall von starken Winden und Erdbeben würde sich die Fassade wie ein plötzlich beanspruchter Tennisschläger durchwölben, und die Glasscheiben würden brutal zerbersten.« Das Statikbüro werkraum wien errechnete eine horizontale Durchbiegung von 270 % gegenüber dem maximal zulässigen Grenzwert. Eine kalkulatorische Katastrophe. Erst durch die geschlossenen Felder, die scheinbar zufällig über die Fläche verteilt sind, konnte die nötige Steifigkeit erzielt werden.

Die sporadische Anordnung der amorph anmutenden Flächen ist dem Architekten nur recht: »Sieht willkürlich aus, ist es aber nicht. Eine wunderbare Genese.« In einer dieser blickdichten Füllungen prangt der Schriftzug des Geschäfts: »Sportalm Kitzbühel«. Die futuristische Schrifttype, seit langer Zeit Teil der Corporate Identity, passt perfekt zur Architektur. Durch die Ausfräsung der Buchstaben ist die Corian-Platte an dieser Stelle deutlich dünner. Untertags fällt der Geschäftsname durch die leichte Schattenwirkung auf, abends, wenn die Hinterleuchtung eingeschaltet ist, durchdringt ein diffuses Glimmen das Material.

Zum Eingang hin wird die Struktur etwas dichter. Wie ein organisches Gebilde zieht sich das Netz zusammen, täuscht dem Betrachter eine Perspektive vor, die es nicht gibt, und leitet den Passanten in dieser angedeuteten Wölbung schließlich zielgenau zum vollverglasten Eingang, in dem sich – in Form einer trapezförmigen Skulptur – ein letztes Mal die Raute wiederfindet. Der Griff liegt gut in der Hand. Es ist ein Spiel mit Nähe und Distanz, mit Einladung und Abweisung, mit Offenheit und Geschlossenheit. Letztlich, das liegt ganz im Sinne des kapitalistischen Gedankens, siegt die Öffnung. Also, hinein ins Geschäft!

Verfestigtes Winterbild

Auch innen dominiert die Farbe Weiß. Zu Füßen liegt ein heller Polyurethan-Boden, an den Wänden wabert abermals Mineralwerkstoff durch den Raum, in diesem Fall jedoch wich das wetter- und frostbeständige Corian dem etwas günstigeren Materialvetter Staron. Als hätte jemand eine intakte weiße Leinwand mit horizontalen Schlitzen massakriert, klafft das aufgeschnittene Material in den Raum, schmiegt sich mal um Mauervorsprünge, klappt sich dann wieder zu einer eleganten, homogenen Ablage auf. Es ist, als stünde man in einem dreidimensionalen Gemälde des italienischen Avantgarde-Künstlers Lucio Fontana.

»Das Bild, das wir von Kitzbühel haben, besteht aus Winter, Hahnenkamm-Rennen und dramatischen Schneewechten an den Hängen«, sagt Baar-Baarenfels in seiner für ihn so typischen konzeptionellen Dramatik. »Die weiß aufgeklappten Borde, aus deren Hintergrund wie ein Stück Erde dunkles Makassa-Holz durchschimmert, könnte man als Interpretation einer solchen Schneewechte auffassen.« Allein, in der Sportalm-Boutique sind die Schneeplatten mit allerlei High-Tech ausgestattet. In den 50 mm dicken Borden ist nicht nur die Hängevorrichtung für die Kleiderhaken integriert, sondern auch eine lineare LED-Leuchte, die direkt auf die Kleidung strahlt und auf diese Weise die Verschattung durch die vorstehenden Ablagefächer wieder neutralisiert. Das ist Disziplin bis ins kleinste Detail.

Hergestellt wurden die Borde aus einzelnen 6 mm dicken Mineralwerkstoff-Platten, die mittels thermischer Einwirkung zu diesen zweiachsig gekrümmten, um 90 ° verdrehten Hyperboloid-Flächen verformt wurden. Teils im Werk, teils vor Ort wurden die einzelnen Elemente miteinander verklebt und anschließend zu einer fugenlosen, samtig anmutenden Fläche verschliffen. Die Länge der Verdrehung ist von Bord zu Bord unterschiedlich. Insgesamt mussten für diesen Vorgang 60 Negativformen produziert werden. Baar-Baarenfels: »Das klingt zwar unwirtschaftlich. Wenn man aber bedenkt, dass die Filiale in Wien ein Prototyp ist und entsprechend oft nachgebaut wird, dann lässt sich so eine Investition wieder in einem anderen Licht betrachten.«

Und tatsächlich: Die ersten Nachfolge-Projekte in Salzburg, München, Düsseldorf, Karlsbad (CZ) und Moskau sind bereits eröffnet. Vor dem minimalistischen Hintergrund der neuen Concept Stores kommt die textile Ware – die Sportalm-Designer greifen gerne zu kräftigen Farben und üppigen Ornamenten – perfekt zur Geltung. Lediglich an Spiegeln, in denen sich die Kundinnen betrachten können, mangelt es im EG. Zu diesem Zweck müssen sie sich ins UG begeben. Der tageslichtlose Raum, der wie eine etwas weniger ambitionierte Kopie des EGs wirkt, birgt weitere Verkaufsflächen sowie drei großzügig bemessene Umkleideräume. Aufgrund der hohen Feuchtigkeit in den Außenmauern des Hauses muss das UG mit einem entsprechend hohen Luftwechsel belüftet werden.

Und was sagen die Verkäuferinnen zu ihrem neuen Geschäft? »Rein optisch ist die Architektur ein Hammer«, meint die Filialleiterin Evelyne Lebensorger. »Das ist eine futuristische Architektursprache, die in einem ganz schön großen Kontrast zu unserer Mode steht. Und es ist wie immer im Leben: Manche Kundinnen sind begeistert, anderen wiederum ist die Gestaltung zu kalt und zu unpersönlich.«

Lediglich an der Funktionalität stößt sich die Verkäuferin: »Das Konzept ist starr und entsprechend unflexibel. Und die Details sind zwar schön, aber man braucht etwas Übung, um die Kleiderhaken im richtigen Winkel aufhängen und entnehmen zu können. Da hat uns der Architekt die Latte ganz schön hoch gehängt.«

Auch in ganz anderer Hinsicht hängt die Latte hoch: Früher befand sich die Sportalm-Filiale im Haus schräg vis-à-vis in der Brandstätte 7-9. Seit dem Umzug ins neue Haus im September 2009 sind die Umsätze um 80 % gestiegen. »Immer wieder wird die Architektur in der Gesellschaft vieler anderer Faktoren als Soft Fact bezeichnet«, sagt Johannes Baar-Baarenfels. »Doch die Boutique Sportalm ist der handfeste Beweis dafür, dass Architektur ein wirtschaftlicher Hard Fact ist. Die Investitionskosten in der Höhe von knapp 1 Mio. Euro haben sich bald wieder amortisiert.« Ein sportliches Projekt.

db, Mi., 2011.08.31



verknüpfte Zeitschriften
db 2011|09 Erlebnis Kaufraum

27. August 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Alles neu macht die Harfe

Letzten Samstag wurde in Reykjavík das Harpa Center eröffnet. Es ist mehr als nur ein Konzerthaus. Es ist Symbol für ein neues Island.

Letzten Samstag wurde in Reykjavík das Harpa Center eröffnet. Es ist mehr als nur ein Konzerthaus. Es ist Symbol für ein neues Island.

Reykjavík im Ausnahmezustand. Auf den Freilichtbühnen wird gejazzt und gerockt, die Jugendlichen schlagen volltrunken auf ihre Gitarren ein, die halbe Bevölkerung Islands, so scheint es, macht einen auf Headbanging. Rechtzeitig zum alljährlich im August stattfindenden Musikfestival Meninggarnótt wurde letztes Wochenende offiziell das neue Wahrzeichen der Stadt eröffnet: das Harpa Center.

Der gläserne Kristall im Alten Hafen ist nicht nur eines der größten und spektakulärsten Gebäude Islands, sondern auch ein mühsam und mit aller Kraft errichtetes Manifest. Ursprünglich hatte das Projekt als Public Private Partnership (PPP) begonnen. Nach dem Zusammenbruch der Banken ging das Haus in öffentlichen Besitz über. Heute befindet es sich zu 45 Prozent im Eigentum der Stadt Reykjavík und zu 55 Prozent im Eigentum des Landes.

„Als die Krise begonnen hat, war die Baustelle bereits voll im Gange, das Haus war zu 40 Prozent fertiggestellt“, erinnert sich Harpa-Direktor Höskuldur Ásgeirsson im Interview mit dem Standard. „Danach herrschte monatelang Baustopp. Es war eine mutige Entscheidung der Politiker, in so einer wirtschaftlichen Situation weiterzumachen. Doch es war die richtige Wahl.“

Mehr als hundert Jahre hatte man in Reykjavík bereits darüber diskutiert, ein eigenes Opern- und Konzertgebäude zu errichten. Mehr als hundert Jahre lang mussten sich Schauspieler, Sänger und Orchestermusiker damit begnügen, in Kirchen, Kinos, ja sogar in miefig verschwitzten Turnhallen aufzutreten. „Es war erbärmlich“, meint die zuständige Musikdirektorin Steinunn Birna Ragnarsdóttir. „Man hat als Kuratorin alles gegeben, was man konnte, doch am Ende war es nie gut. Beethovens Neunte in der Turnhalle? Ich bitte Sie ...“

Inspirationsquelle Natur

Heute ist alles anders. Opern, Jazzkonzerte, Theaterproduktionen. Im violetten Saal wird gerade das Musical Hair aufgeführt. Schon nach dem Soft-Opening im Mai - die letzten Bauarbeiten standen noch aus, die Fotos waren noch nicht geschossen - stürmten die Isländer ihren neuen Palast, der nicht nur nach der wohlklingenden Harfe im Orchestergraben benannt ist, sondern auch nach dem ersten Sommermonat im alten, nordischen Kalender.

„Island hat eine sehr reichhaltige Kultur“, meint Ósbjørn Jacobsen vom dänischen Architekturbüro Henning Larsen. Gemeinsam mit dem isländischen Partnerbüro Batteríið konnte es sich 2006 im Wettbewerb gegen internationale Kapazunder wie Jean Nouvel und Norman Foster durchsetzen. „Wo schon so viel da ist, braucht man nicht krampfhaft etwas Neues dazuerfinden. Wir haben uns von dem, was Island zu bieten hat, inspirieren lassen.“

Der Beton im ganzen Haus wurde, quasi als Metapher des so reichhaltig vorkommenden Lavagesteins auf der Atlantikinsel, mit schwarzem Pigment eingefärbt. Nur manchmal blitzen, gelb wie der abgelagerte Schwefel am Rande der Geysire, gelbe Fauteuils und gelb beleuchtete Nischen aus der schwarzen Masse.

Auffälligstes Merkmal des Harpa Centers ist jedoch die dreidimensional geformte Südfassade, ein Entwurf des isländisch-dänischen Künstlers Olafur Eliasson. Die sechseckigen Prismen, rund tausend an der Zahl, erinnern an Basalt. Sobald das flüssige Lavagestein aushärtet, bildet sich darin ein hexagonales Kristallgitter. Ganz Island ist übersät von diesen schroffen, prismatisch abgebrochenen Felsformationen, die Eliasson als Grundlage für die Fassade dienten. Clever: Die prismatische Konstruktion der Außenhülle ist nicht nur Schmuck, sondern auch Wärmepuffer und Traggerüst für das Dach.

Herzstück des Harpa Centers ist neben drei kleineren Aufführungssälen der große Konzertsaal mit 1800 Sitzplätzen. Der holzvertäfelte Saal ist so feurig rot wie das Magma im Eyjafjallajökull. Zur Eröffnung am Samstag sägten und kreischten sich die Geiger durch Prokofjews Montagues und Capulets aus Romeo und Julia. Die Akustik war perfekt.

„Bühnentechnik und Akustik sind sehr aufwändig“, sagt Manfred Paulus, Projektleiter beim österreichischen Stahlbauer Waagner-Biro, der für die Architektur hinter den Kulissen zuständig war. „Es gibt nicht so viele Aufführungsmöglichkeiten in Reykjavík, also wurde alles Mögliche daran gesetzt, sich für unterschiedliche Bühnenformen zu wappnen, vom minimalistischen Sprechtheater bis zum großen russischen Konzert.“

Viel Beton, viel Echo

Je nach Anforderung können im Bühnenbereich und im Publikum bis zu 18 Meter lange, herabhängende Filzwände ausgerollt werden. Dann ist der Saal weich und dumpf gepolstert. Soll die Nachhallzeit jedoch verlängert werden, können bis zu 78 riesige Klappen geöffnet werden, die das Volumen des Saales deutlich vergrößern. In den betonierten Hohlräumen hinter der Bühne, in den sogenannten Resonanzkammern, entsteht Echo in Kathedralenqualität. Die Planung für dieses akustische Meisterstück stammt vom New Yorker Akustikplaner Artec Consultants.

Viel Technik, mehr als 3000 Sitzplätze in allen Sälen, und Baukosten in der Höhe von mehr als 110 Millionen Euro - zuzüglich weiterer 50 Millionen Euro, die die Privatinvestoren bereits vor der Finanzkrise in das Projekt hineingebuttert hatten. Wozu so viel Aufwand für ein Land mit 320.000 Einwohnern?

„Das Harpa Center ist nicht nur ein Konzerthaus, sondern auch ein Konferenzzentrum mit perfekter Ausstattung und Dolmetschkabinen für bis zu neun Sprachen“, sagt Harpa-Chef Ásgeirsson voller Stolz. „Island will sich damit auf die internationale Landkarte katapultieren. Ab sofort wollen wir nicht nur spektakuläre Landschaft bieten, sondern auch hochrangige Konzerte und Möglichkeiten für internationale Konferenzen.“

Die Isländer haben wenig Sinn für Humor. Sie meinen es ernst. Auf dem Grundstück daneben wird ein Konferenzhotel mit 400 Zimmern errichtet. Die Baugrube ist bereits ausgehoben. Der Tatendrang ist ungebrochen. Das Projekt „Island neu“ geht damit in die nächste Runde.

Der Standard, Sa., 2011.08.27



verknüpfte Bauwerke
Harpa Konzerthaus und Konferenzzentrum

27. August 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Weltstadthaus macht Weltstadt aus

Diese Woche wird in Wien das neue Kaufhaus Peek & Cloppenburg eröffnet - Architekt David Chipperfield schuf ein Symbol für modernes Einkaufen

Diese Woche wird in Wien das neue Kaufhaus Peek & Cloppenburg eröffnet - Architekt David Chipperfield schuf ein Symbol für modernes Einkaufen

Langsam füllen sich die Regale, die letzten Kleider werden auf die Bügel gehängt, Diesel, Barbour, Tommy Hilfiger. Am Donnerstag wird in der Kärntner Straße das neue Kaufhaus von Peek & Cloppenburg eröffnet. Und die Wiener Innenstadt ist auf einen Schlag um 12.000 Quadratmeter Verkaufsfläche reicher.

Das neue „Weltstadthaus im Herzen Wiens“, wie der Bauherr das Geschäft selbstbewusst nennt, fügt sich perfekt in die Reihe der bisherigen Flagship-Stores von P&C (siehe dazu auch Ansichtssache). Nach Gottfried Böhm (Berlin, 1995), Richard Meier (Düsseldorf, 2001) und Renzo Piano (Köln, 2005) ist nun ein weiterer großer Mann mit von der Partie: der Londoner Architekt David Chipperfield. Nach dem 2010 eröffneten Kaufhaus Tyrol in Innsbruck ist der P&C in der Kärntner Straße damit das zweite Kaufhaus Chipperfields in Österreich. Und es ist das mit Abstand größte Neubauprojekt in der Wiener Innenstadt seit langem.

Neuinterpretation

Rasterfassade, heller Kalkstein und riesige Auslagen: Was vielen Wienern zu brutal erscheint, ist für den Architekten eine Neuinterpretation der sogenannten Curtain Wall, der großzügigen Fensterfassaden, die bei den Kaufhäusern des 19. und 20. Jahrhunderts so typisch waren. Chipperfield: „Ich wollte ein Haus mit Fenstern entwerfen. Man sieht nicht nur von der Straße ins Geschäft hinein, sondern auch vom Geschäft hinunter auf die Straße. Diese Blickbeziehung war mir wichtig.“ Atmosphärisch erinnere der neue P&C weniger an ein Kaufhaus, mehr an ein Museum. „Mit einem einzigen Unterschied: In einem Museum hätten wir wohl nicht so viele Lüftungsauslässe.“

Überall gibt es Holzböden und elegante Anschlussdetails in britischer Manier, über dem zentralen Atrium befindet sich eine Lichtkuppel mit einem unverwechselbaren Metallornament, das an den Jugendstil und somit an die Tradition der Wiener Architektur anknüpfen soll.

Und die Fassade besteht „nicht nur aus vorgehängten Platten“ (Chipperfield), sondern aus massiv aufgemauerten, zwölf Zentimeter dicken Donaukalk-Blöcken. „Qualität ist manchmal eben eine sehr subtile Angelegenheit“, stellt der Architekt im Gespräch mit dem STANDARD fest.

Teurer als andere Kaufhäuser

Die Baukosten für diesen „musealen Mehrwert“ werden von P&C wie bei allen bisherigen Projekten streng geheim gehalten. Nur so viel: „Das Weltstadthaus in Wien ist deutlich teurer als ein herkömmliches Kaufhaus, aber es ist nun mal kein herkömmliches Kaufhaus“, sagt Adrian Kiehn, P&C-Generalbevollmächtigter für Österreich und Mitglied der Unternehmensleitung. „Wir glauben daran, dass wir nicht nur Kleidung verkaufen, sondern auch Stil und Qualität. Und das spüren die Menschen.“

Nicht alles schien während der Bauphase so rosig wie heute. Im Erdgeschoß des ehemaligen Finanzministeriums waren Shops untergebracht. Im Gegensatz zu allen anderen Mietern hatte sich die Schuhhandelskette d'Ambrosio gegen eine Ablöse gewehrt und auf ihren unbefristeten Mietvertrag gepocht.

Nach langer Zeit schließlich - der Kampf verzögerte den Baubeginn um etliche Wochen - wurde für das 170 Quadratmeter große Geschäftslokal eine finanzielle Entschädigung vereinbart. Die genaue Höhe ist nicht bekannt, Finanz- und Immobilienexperten kolportieren jedoch eine Summe im Millionenbereich.

Trend im „Goldenen U“

Während Kohlmarkt, Graben und Kärntner Straße früher Heimat traditionsreicher Familienbetriebe waren, wird das „Goldene U“ in den letzten Jahren zunehmend von internationalen Luxusboutiquen und großen Markennamen beherrscht. Die für die Wiener Innenstadt so typischen Kleinunternehmen können sich die hohen Mieten nicht mehr leisten. Das neue Kaufhaus von P&C folgt damit einem Trend, der nicht mehr aufzuhalten ist.

Der Standard, Sa., 2011.08.27

24. August 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Bauidee und Badehose

Der Architekt Clemens Kirsch ist nicht nur ein begeisterter Pausenschwimmer, vielmehr auch ein wahrer Profi in Sachen Bildungsbau

Der Architekt Clemens Kirsch ist nicht nur ein begeisterter Pausenschwimmer, vielmehr auch ein wahrer Profi in Sachen Bildungsbau

Wien - Begonnen hat alles mit der Neugestaltung der Kärntner Straße in Wien. Seit damals geht es mit der Karriere des erst 37-Jährigen eher sehr steil bergauf. Mittlerweile leitet Clemens Kirsch ein Büro mit drei Mitarbeitern.

In seiner Schreibtischlade im siebten Stock über dem Schwedenplatz liegen allerdings auch Badehose und Flipflops bereit. „Immer nur arbeiten, das geht natürlich nicht. Manchmal braucht man einfach eine Pause.“ Also: In der Mittagszeit packt Clemens Kirsch die sommerliche Bekleidung in die Tasche, marschiert zum Badeschiff und haut sich für eine Stunde ins entspannend-erfrischende Wasser.

Wenn er nicht gerade schwimmt, entwirft Kirsch nicht nur Fußgängerzonen, sondern auch Bildungsbauten für Kinder. Letztes Jahr wurde in der Schukowitzgasse in Wien-Donaustadt ein Kindergarten in Passivhaus-Qualität fertiggestellt. Die Planungszeit beträgt zehn Monate und die Bauzeit sechs Monate: „Ich glaube, das ist ein richtungsweisendes Projekt für ganz Wien“, so Kirsch. „Es beweist, dass man auch mit schnellen und geringen Mitteln einen hochwertigen Kindergarten errichten kann.“

Farbe sucht man da vergeblich. Stattdessen erstrahlen die Boxen, die in Vorarlberg vorgefertigt und in Wien nur noch zusammengesteckt wurden, in den Materialien Holz und Stahl. „Die Farbe kommt eh von den Kindern und ihren Zeichnungen - da braucht man als Architekt nicht extra nachzuhelfen“, so Kirsch.

Sein nächstes Projekt ist auch bereits im Entstehen. Im Februar des kommenden Jahres wird in Oberösterreich, in Linz, eine Mittelschule eröffnet. Kirsch ist diesbezüglich glücklich. Er hat nur einen einzigen Wunsch an die Politik. „Mehr Geld für Bildung und Mut zu neuen Konzepten! In anderen Ländern ist man schon weiter.“

Der Standard, Mi., 2011.08.24



verknüpfte Akteure
Kirsch Clemens

14. August 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Salat aus der Zukunftsbox

Das Wiener Büro Span entwirft und plant mithilfe digitaler Medien. Das nächste Projekt ist einfuturistischer Biomarkt in Amstetten

Das Wiener Büro Span entwirft und plant mithilfe digitaler Medien. Das nächste Projekt ist einfuturistischer Biomarkt in Amstetten

Wien - Ohne Algorithmen würden sie wohl verzweifeln. Denn nichts ist den beiden Architekten Matias del Campo und Sandra Manninger vom Wiener Büro Span wichtiger, als einen Blick ins digitale Übermorgenland zu werfen. Am liebsten arbeiten sie mit dem 3-D-Programm Mandelbulber Fractal Explorer vom polnischen Informatiker Krzysztof Marczak.

Auf Basis mathematischer und geometrischer Rechenmodelle generieren sie damit virtuelle Räume, die nicht von ungefähr an Quecksilbertropfen aus dem Windkanal oder Bleigussformen zu Silvester erinnern. „Uns interessiert nicht die Form“, sagen Manninger und del Campo, beide Jahrgang 1970, „sondern der Prozess, der diese komplexen Formfindungen überhaupt erst möglich macht.“

Nach etlichen Ausstellungsgestaltungen, ein paar futuristischen Möbeln und dem Österreich-Pavillon für die Expo 2010 in Schanghai steht nun das nächste Projekt in den Startlöchern: Für einen Privatinvestor in Amstetten plant Span einen Biomarkt. Der Auftraggeber wünschte sich einen Ort, an dem er regionale Produkte in einem innovativen Ambiente verkaufen kann.

Unter einem Dach, entwickelt vom niederösterreichischen Architekten Lászlo Krizmanics, entsteht eine offene Wandelhalle mit amorphen Marktständen aus dem 22. Jahrhundert. „Natur und Mathematik sind von jeher eng miteinander verbunden“, sagt Span. „Warum also nicht Obst und Gemüse in einer digital geschaffenen Landschaft verkaufen?“ Fertigstellung: Sommer 2012.

Der Standard, So., 2011.08.14



verknüpfte Akteure
SPAN

13. August 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Mein digitaler Butler und ich

Ambient Assisted Living verbindet Technologie mit Dienstleistung. Zu Gast in der vollvernetzten Seniorenwohnung von Paula Lengauer.

Ambient Assisted Living verbindet Technologie mit Dienstleistung. Zu Gast in der vollvernetzten Seniorenwohnung von Paula Lengauer.

DDR, Tschechoslowakei und Sowjetunion. Alle noch da. „Mein Gott, den Globus habe ich schon eine Ewigkeit“, sagt Paula Lengauer, die mit dem Zeigefinger um die Welt fliegt. „Keine Ahnung, wo ich den damals gefunden habe.“

Doch der Schein verstaubter Tage trügt. Mehr denn je ist die rüstige 75-jährige Pensionistin nämlich eine Anhängerin digitaler Medien. Fernbedienung für den Fernseher, Fernbedienung für den elektronischen Homebutler, Fernbedienung für die Jalousien. In ihrem Schlafzimmer, das mit altrosafarbenem Plüsch ausstaffiert ist, steht auf dem Schreibtisch ein weißer Apple iMac, Baujahr 2009. Den braucht sie, um mit ihren Kindern und mit ihrer Schwester in Phoenix, Arizona, zu skypen.

Die 50-Quadratmeter-Wohnung in Linz-Pichling könnte nicht besser auf sie zugeschnitten sein. Neben dem Alten- und Pflegewohnheim, das vor genau einem Jahr an die Bewohner übergeben wurde, errichtete die Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft der Stadt Linz (GWG) ein Wohnhaus mit 25 betreuten beziehungsweise betreubaren Wohnungen. Die Architektur stammt vom Wiener Büro kub a, das auf diesem Sektor schon einige Erfahrungen gesammelt hat. Eine adrette, geschmackvolle Kiste mit guten, kompakten Grundrissen. Davon könnten Stadt und Land ruhig mehr vertragen.

Das Außergewöhnliche daran: Alle 25 Wohnungen sind mit einem elektronischen Sicherheitskonzept des österreichischen Unternehmens Beko Engineering & Informatik AG ausgestattet. Es ist das erste Projekt österreichweit, in dem die neuen Technologien in diesem Ausmaß installiert wurden. Anders ausgedrückt: Es ist das erste komplett vernetzte Smart Home, das nicht nur in den Köpfen von Forschern und Entwicklern existiert, sondern auch im Alltag ganz normaler Bewohnerinnen und Senioren.

„Technologie allein macht keinen Sinn“, sagt Ingmar Goetzloff, Leiter des Competence Centers für Smart Home Solutions bei Beko. „Die digitalen Wohnlösungen funktionieren nur dann, wenn man sie auch mit entsprechenden Dienstleistungen kombiniert.“ Und er nennt sogleich ein Beispiel: „Was nützt mir ein Brandmelder, der sofort die Feuerwehr kontaktiert, die dann mit einem Löschzug ausrückt, nur weil mir der Fisch in der Pfanne angebrannt ist?“

In den betreubaren Wohnungen in Linz-Pichling ist das Problem anders gelöst: Sämtliche Sensoren sind mit einer Telefonzentrale verbunden. Sobald die lernfähigen Bewegungsmelder, Brandmelder oder Steuerungseinheiten einen Störfall oder ein Abweichen des normalen Verhaltensmusters erkennen, wird die Information an die Samariter übermittelt.

Bevor irgendeine Aktion gesetzt wird, greifen diese zunächst einmal zum Telefonhörer und rufen im jeweiligen Haushalt an. „Frau Lengauer“, heißt es dann am anderen Ende der Leitung, „wie geht's Ihnen denn heute?“ Viele unangenehme und oft auch teure Folgen eines Noteinsatzes können auf diese Weise abgefedert werden. Ambient Assisted Living nennt sich diese Kombination aus Technologie und Dienstleistung im Fachjargon.

Neben Bewegungs- und Brandmeldern gibt es in den Seniorenwohnungen eine thermische Herdplattenkontrolle, Feuchtigkeitssensoren im Bereich von Abwasch und Geschirrspüler, einen Notzugtaster im Bad sowie einen zentralen Ein-und-Aus-Schalter neben der Wohnungstür.

Die Idee dahinter: „In Hotelzimmern wird der gesamte Stromkreis aktiviert, sobald man die Zimmerkarte in den Schlitz gesteckt hat“, erklärt Goetzloff. „Wir wollten diese Technik übernehmen, haben uns statt der Karte aber für den Wohnungsschlüssel entschieden. Das ist den Leuten vertrauter.“

Sobald sich ein Bewohner durch Abziehen des Schlüssels abmeldet, wird der gesamte Haushalt heruntergefahren. Der Strom wird abgedreht, der Wasserabsperrhahn blockiert. Nur der Kühlschrank bleibt an. Im Gegenzug wird der Stromkreis im aktivierten Zustand automatisch kontrolliert. Wenn untertags vier Stunden lang keine einzige elektrische Aktion - etwa durch Betätigung eines Lichtschalters - erfolgt, obwohl jemand laut Schlüsselkontrolle zu Hause ist, dann gibt es wieder einen freundlichen Anruf aus der Zentrale. Bösartige Stürze und plötzliche Bewegungsunfähigkeiten der Bewohnerinnen sollen auf diese Weise rechtzeitig erkannt werden.

„Ja, ich weiß, das klingt alles furchtbar kompliziert“, sagt Frau Lengauer. „Und meine Bekannten fragen mich manchmal, ob ich mich in dieser Wohnung denn nicht rund um die Uhr überwacht fühle.“ Aber nein, das sei nicht der Fall. „Ganz im Gegenteil, ich sehe das mehr als eine Art sichere Vorbeugung.“ Ob sie in den letzten zwölf Monaten seit Einzug vom Ambient Assisted Living schon einmal Gebrauch machen musste? „Zum Glück noch nicht. Aber das kommt noch. Man wird ja nicht jünger.“

Bewährte Technologie

Ergänzt wird die Hightech-Wohnung durch den sogenannten Homebutler. Über eine kundenoptimierte Menüführung im TV soll sich die Golden-Age-Generation mit ein paar Klicks zum Fernsehprogramm, zum SMS-Menü oder zur Homepage der Stadt Linz scrollen können. Sogar digitales Shopping über den Lebensmittelmarkt Spar wird angeboten. „Den Homebutler nutze ich fast nie“, meint Frau Lengauer. „Alles, was ich brauche, habe ich am iMac auch. Und beim Einkaufen will ich nicht digital sein, sondern in den Supermarkt gehen und Leute treffen. Ich brauche soziale Kontakte. So ist das im Alter.“

Auch die Technologie-Planer von Beko haben dazugelernt. „Die Wohnungen in Linz-Pichling für den Bauträger GWG sind ein Pilotprojekt“, sagt Goetzloff. „Jetzt wissen wir, dass sich die Smart-Home-Technologien bei älteren Menschen vor allem im Bereich von Gesundheit und Sicherheit bewähren. Der Bereich Kommunikation und Unterhaltung kommt bei der jetzigen Seniorengeneration noch zu früh.“ Das nächste Projekt steht bereits kurz vor Fertigstellung. Im September wird in Salzburg ein Wohnhaus mit 43 betreuten Wohnungen übergeben. Der Homebutler ist in diesem Projekt bereits eine Spur erwachsener.

Ambient Assisted Living eignet sich nicht nur für Neubauten. Aufgrund der drahtlosen Ausstattung - alle Schalter funktionieren per Funk - können auch bestehende Wohnungen mit der Smart-Home-Technologie nachgerüstet werden. Rund 5000 Euro kostet ein komplettes Paket mit Hardware, Software und dazugehöriger Dienstleistung. Viel Geld. Aber immer noch billiger als ein Umzug in eine neue Wohnung. Vor allem aber viel billiger als ein für Nutzer und Sozialstaat kostspieliges Bett in einem Pflegeheim.

Damit ist das digitalisierte Wohnen nicht nur ein Sicherheitspolster im Lebensalltag älterer Menschen, sondern langfristig auch ein volkswirtschaftlicher Gewinn für alle. Enter.

Der Standard, Sa., 2011.08.13



verknüpfte Bauwerke
Seniorenzentrum Pichling

13. August 2011Wojciech Czaja
Der Standard

„Gewerbegebiete sind die Mistkübel der Nation“

Mit der Planung von Gewerbegebieten ist der Innsbrucker Architekt Peter Lorenz sehr unzufrieden. Wojciech Czaja sprach mit ihm darüber, wie man die bauliche Qualität insgesamt heben könnte.

Mit der Planung von Gewerbegebieten ist der Innsbrucker Architekt Peter Lorenz sehr unzufrieden. Wojciech Czaja sprach mit ihm darüber, wie man die bauliche Qualität insgesamt heben könnte.

STANDARD: Wie bewerten Sie allgemein die bauliche Qualität von Gewerbeimmobilien?

Lorenz: Es ist eigentlich paradox, dass die bauliche, technische und ökologische Qualität von Gewerbeimmobilien in Zeiten der Hochblüte in den Keller rasselt. In der Krisenzeit hingegen ist der wirtschaftliche Druck so groß, dass viele Unternehmen damit anfangen, sich verstärkt mit der Idee von Corporate Identity sowie mit ökologischen und langfristig wirtschaftlichen Systemen auseinanderzusetzen. Der Anspruch an Gewerbeimmobilien ist heute stark im Steigen. Die Krise regt zum Nachdenken an und tut der Branche gut.

STANDARD: Wie groß sind die Potenziale?

Lorenz: Enorm! Die Menschen verbringen viel Zeit ihres täglichen Lebens in Gewerbegebieten - sei es, weil sie dort arbeiten, sei es, weil sie dort einkaufen. Die Möglichkeiten, hier mehr Qualität zu schaffen, sind meines Erachtens sehr groß. Vor allem in der Raumplanung und in der Infrastruktur könnte man so viel mehr herausholen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Lorenz: Ich bin der Meinung, dass der Gewerbegrund am Stadtrand immer noch viel zu billig ist. Da ist es egal, ob man 5000 oder 10.000 Quadratmeter Grund kauft. Die Folge ist, dass jeder Unternehmer seinen Flachmann hinbaut, wie er will. Ich würde mir wünschen, dass die Stadtplanung und Kommunalpolitik insgesamt mehr qualitative Aufmerksamkeit auf diese Areale richten. Erstens müssen die Grundstückskosten steigen, und zweitens müsste man für Gewerbegebiete einen eigenen Fachbeirat einrichten. Nehmen Sie als Beispiel den erfolgreichen Millennium Park in Lustenau. Das ist der Vorzeige-Industriepark im „Silicon Rheintal“! Dorthin finden sogar Architekturreisen statt.

STANDARD: Das Problem ist also weniger die Architektur als vielmehr die Raumplanung?

Lorenz: Ja. Gewerbegebiete sind immer noch die Mistkübel der Nation. Da sammelt sich der planerische Dreck, da werden behördliche Zugeständnisse gemacht, da kann man machen, was man will. Ich kenne sogar einen Fall, in dem man dem Nachbarn fünf Meter in den Grund hineingebaut hat. Das muss man sich einmal vorstellen! Das ist der reinste Wilde Westen. Die Widmungsfrage ist überhaupt neu zu überdenken. Die Starrheit von Gewerbegebieten hat ausgedient. Das ist ein Relikt des letzten Jahrhunderts.

STANDARD: Ein weiteres Problem bei Gewerbeimmobilien ist, dass die Errichter die langfristigen Energiekosten oft außer Acht lassen.

Lorenz: Ja, das passiert viel zu oft. Der Euro, der für die Miete ausgegeben wird, ist scheinbar immer noch mehr wert als der Euro, der für die Betriebskosten aufgewendet werden muss. So ganz nach dem Motto: Erst einmal schauen wir uns die Herstellungskosten an, die Betriebskosten können später dann ja immer noch erwirtschaftet werden. Dabei wären die Einsparungspotenziale gerade bei den Energiekosten enorm.

STANDARD: Von welchen Ausmaßen sprechen wir konkret?

Lorenz: Wenn wir heute ein modernes und solide durchdachtes Projekt mit einem durchschnittlichen Gewerbeprojekt aus den Siebziger- oder Achtzigerjahren vergleichen, dann sprechen wir von Einsparungen in der Größenordnung von rund 90 Prozent. Verglichen mit einer 08/15-Gewerbekiste aus der heutigen Zeit lassen sich immer noch Einsparungen von rund 50 bis 70 Prozent erzielen.

STANDARD: Es mangelt also noch an Aufklärung?

Lorenz: Der Energieausweis hat viel Arbeit geleistet. Das Ärgste ist bereits abgefedert. Doch langfristig kann man am Immobilienmarkt meines Erachtens nur dann Transparenz schaffen, wenn man dazu übergeht, Mieten, Betriebskosten und Energiekosten endlich gesamtheitlich zu betrachten. Meine Vision ist, dass im Mietrechtsgesetz und am Gewerbeimmobilienmarkt eines Tages eine entsprechende Novellierung stattfindet.

STANDARD: Und zwar?

Lorenz: Mit etwas unternehmerischer Verantwortung könnte man - nur ein Beispiel - Warmmieten einführen, die bereits ein Energiepauschale beinhalten. Die Abweichungen vom durchschnittlichen Energiebedarf könnte man etwa mit Gutschriften und Nachzahlungen regeln. Das wäre ein Modell, von dem langfristig die gesamte Bau- und Immobilienbranche profitieren würde.

Der Standard, Sa., 2011.08.13



verknüpfte Akteure
Lorenz Peter

30. Juli 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Revolution im gallischen Dorf

In zwei Wochen beginnt die Sanierung der Wiener Werkbundsiedlung. Architekten und Bewohner wünschen sich ein Museum. Doch die Stadt Wien schweigt.

In zwei Wochen beginnt die Sanierung der Wiener Werkbundsiedlung. Architekten und Bewohner wünschen sich ein Museum. Doch die Stadt Wien schweigt.

Einen Schilling. So viel kostete damals der Eintritt in die Wiener Werkbundsiedlung. Mit der internationalen Bauausstellung, die von Juni bis August 1932 zu besichtigen war, wollte der Werkbund neue, moderne Wohn- und Siedlungsformen für Arbeiter anpreisen, denn nicht alle waren mit den „Volkspalästen“ des Roten Wien glücklich.

Einer, der mit der Wohnbaupolitik der Bundeshauptstadt besonders hart ins Gericht ging, war der projektverantwortliche Architekt und Mastermind Josef Frank: „Das neue Wien macht den Eindruck, als würde hier überhaupt nicht gedacht. Was hier geschieht, sieht aus, als hätte es der Zufall auf die Straße geworfen, und fröhliche Dummheit grinst aus jedem Fensterloch.“ Alternativen mussten her.

Doch die Werkbundsiedlung war nicht die erste ihrer Art. Das große Vorbild war die 1927 in Stuttgart unter der Leitung von Ludwig Mies van der Rohe errichtete Weißenhofsiedlung. Städte wie Brünn, Basel, Zürich, Breslau und Prag waren schon längst nachgezogen, ehe auch Wien sich entschloss, einen derartigen Wohnpark, eine Art „Blaue Lagune“ der Dreißigerjahre, aus der Taufe zu heben.

100.000 Besucher kamen damals, um in den grünen Parzellen Ober St. Veits jene „Siedlungshäuser mit Wohnungen kleinster Art“ zu bestaunen, die Frank mit den insgesamt 31 geladenen Architekten aus dem In- und Ausland entwickelt hatte. Unter ihnen etwa Adolf Loos, Oswald Haerdtl, Clemens Holzmeister und Margarete Schütte-Lihotzky sowie die etwas weiter angereisten Kollegen Gerrit Thomas Rietveld und André Lurçat (Foto oben).

Allein, der Erfolg blieb aus. Von den insgesamt 70 Musterhäusern wurden nur 14 verkauft. Die „Wirtschaftlichkeit auf engstem Raum“ stellte sich als leere Worthülse heraus. Dem Mittelstand waren die Wohnungen zu teuer, der Oberschicht waren sie zu klein. Die Gemeinde Wien kaufte daraufhin die restlichen 56 Häuser. Seither gehört die Werkbundsiedlung zum sozialen Wohnbau Wiens.

Und dann nichts. Jahrzehntelang bröckelten die Häuser, die schon bei Fertigstellung durch ihre schlechte Ausführungsqualität aufgefallen waren, vor sich hin. Der Putz blätterte ab, Feuchtigkeit drang in die Fundamente, durch Fenster, Türen und Dächer regnete es hinein. Daran konnte auch die behutsame Sanierung 1983 durch Adolf Krischanitz und Otto Kapfinger nichts ändern. Die Probleme sind nach knapp 30 Jahren die gleichen wie zuvor.

„Man braucht nichts schönzureden“, meint die Wiener Architektin Silja Tillner, die selbst in der Werkbundsiedlung in einem Reihenhaus von Gerrit T. Rietveld lebt (Fotos unten). Die technische Ausführung bei den Bauten der Moderne sei oft sehr schlecht. Aber das ändere nichts an der prinzipiellen Erhaltungswürdigkeit der Werkbundsiedlung.

„Das Projekt war visionär. Es ist eines der wenigen Beispiele für experimentellen und innovativen Wohnbau in Wien und beweist, dass man auch im kleinen Maßstab mitten im Grünen leben kann. Und diese Wünsche sind auch heute noch aktuell. Wir wohnen gerne hier. Wir sind wie ein gallisches Dorf.“

Baukosten zehn Millionen Euro

Jahrelang setzte sich Tillner gemeinsam mit der Denkmalschutzvereinigung docomomo Austria, dem Architekturzentrum Wien und einer ganzen Reihe an Architekten für die längst überfällige Sanierung des einzigartigen Baudenkmals ein. Nun, nachdem die Werkbundsiedlung vom World Monuments Fund in New York 2010 auf die Watchlist der weltweit am meisten gefährdeten Baudenkmäler in Europa gesetzt worden ist, erkennt Wien endlich den Wert des Ensembles und beginnt, die ersten Häuser zu sanieren.

Vier leerstehende Wohnungen, darunter zwei Rietveld-Reihenhäuser, sollen in der ersten Bauphase auf Vordermann gebracht werden. Der Umbau umfasst Trockenlegungsarbeiten, Instandsetzung der Fassade, Erneuerung von Fenstern und Türen, Einbau einer kontrollierten Wohnraumlüftung sowie den Einbau neuer Sanitär-, Heizungs- und Elektroinstallationen. Die Kosten für die Gesamtsanierung der Stadt-Wien-Häuser soll rund zehn Millionen Euro betragen.

Nachdem die Baukosten aus den Mietzinsrücklagen nicht gedeckt werden können, wird die Sanierung zum Großteil aus dem Zentralbudget von Wiener Wohnen finanziert. Zwei Millionen Euro Fördermittel sind für das Projekt vorgesehen. Ende 2010 wurde zu diesem Zweck eigens die Wiener Substanzerhaltungs GmbH. & Co KG (Wiseg) gegründet. Sie wird sich in den nächsten Jahren um die Verwaltung und Sanierung der Werkbundsiedlung kümmern. Am 16. August ist Baubeginn. Zum 80-jährigen Jubiläum im Sommer 2012 sollen die ersten vier Häuser fertig sein.

„Es ist erfreulich, dass die Stadt Wien jetzt einen ersten Schritt setzt und damit anfängt, die Werkbundsiedlung peu à peu zu sanieren“, erklärt Norbert Mayr, Präsident von docomomo Austria, im Gespräch mit dem STANDARD. „Doch bevor die Baustelle startet, möchten wir im Gespräch mit Wohnbaustadtrat Michael Ludwig die Möglichkeiten eines Museums ausloten. In zwei der insgesamt noch 64 erhaltenen Häuser wollen wir ein Werkbund-Museum errichten. Die jetzige Mini-Ausstellung im ehemaligen Trafohäuschen wird der Anlage einfach nicht gerecht.“

Wie schon in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart soll ein Haus eine informative Ausstellung zum Projekt beherbergen, während das andere Haus originalgetreu und mitsamt Möblierung die Besucher in die Atmosphäre des damaligen Wohnens einlullen soll. „Es geht hier nicht um Musealisierung, sondern darum, das Baudenkmal öffentlich zugänglich zu machen und die Bevölkerung adäquat zu informieren“, sagt Mayr. „Der Zeitpunkt ist perfekt. Die Gebäude gehören der Stadt Wien, und einige davon stehen derzeit leer.“

„Museum? Kein Kommentar.“

Vor vier Wochen schickte docomomo eine Petition an Wohnbaustadtrat Michael Ludwig. 340 Unterschriften gibt es bisher. Doch ansonsten ist es still um das ersehnte Museum. Im Wien Museum, wo man für September 2012 anlässlich des 80-jährigen Jubiläums bereits an einer Ausstellung über die Wiener Werkbundsiedlung arbeitet, will man von diesem Vorschlag noch nichts gehört haben. „Wir werden die Werkbundsiedlung in die Ausstellung natürlich mit einbeziehen“, sagt der zuständige Architekturkurator Andreas Nierhaus. „Aber von einem eigenen Museum in der Werkbundsiedlung weiß ich nichts.“

Der Bauträger Wiseg wiederum sowie das Wiener Architekturbüro P.Good, das im Zuge eines Wettbewerbs den Zuschlag für die Sanierung erhalten hat, ist zur Verschwiegenheit verpflichtet. „Wir dürfen zum jetzigen Zeitpunkt nichts sagen. Bitte wenden Sie sich an das Büro des Wohnbaustadtrats.“ Doch auch dort ist nichts in Erfahrung zu bringen. Lediglich Dietmar Steiner, Direktor des Architekturzentrum Wien, erklärt auf Anfrage des STANDARD: „Selbstverständlich soll zumindest eines der renovierten Häuser öffentlich zugänglich bleiben und als Informationszentrum zur Werkbundsiedlung und zur Wiener Moderne betrieben werden.“

Ob das der Fall sein wird, bleibt fraglich. In einem Brief an docomomo deutet Michael Ludwig bereits seine Entscheidung an: „Der (...) Businessplan sieht die Vermietung aller Häuser vor. Vor allem die immensen Kosten der Sanierung lassen ein Leerstehen eines Objektes, somit den Ausfall möglicher Mietzinse, nicht zu.“ Mitte August wird eine Pressekonferenz einberufen. Dann wird man erfahren, ob die Architektur der Moderne in Wien museumswürdig ist oder nicht.

Der Standard, Sa., 2011.07.30



verknüpfte Bauwerke
Wiener Werkbundsiedlung

16. Juli 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Rezepte gegen den Jetset

100 Jahre John Lautner: Die Glamour-Gebäude des kalifornischen Architekten kennt man aus „007“ und „The Big Lebowski“. Die Grundidee war eine ganz andere.

100 Jahre John Lautner: Die Glamour-Gebäude des kalifornischen Architekten kennt man aus „007“ und „The Big Lebowski“. Die Grundidee war eine ganz andere.

Sommerlicher Anzug, rosa Krawatte, das Sakko locker über die Schulter geworfen. Zögerlich nähert sich James Bond dem futuristischen Gebäude in Palm Springs, schreitet durch eine Metalltür, dann durch ein Patio, dann durch eine Glastür, und steht plötzlich in einem kreisrunden, betonierten Wohnzimmer mit einem Durchmesser von fast 20 Metern. Die Aussicht auf die Mojave-Wüste ist dramatisch.

Den Rest kennt man: In einem roten Fauteuil am Fenster sitzt die hübsche Bambi, auf einem Felsplateau in der Zimmermitte liegt die exotische Klopfer. Nach einer kurzen Begrüßung wird 007 von den beiden durchtrainierten Amazonen durch den ganzen Raum gejagt, windelweich geprügelt und schließlich mit großem Schwung in den Pool katapultiert. Und dann Schießerei.

Schauplatz dieser unbequemen Szene aus dem James-Bond-Film Diamantenfieber (1971) ist das Elrod House in Palm Springs, errichtet 1968 für den Interior Designer Arthur Elrod. Der Entwurf stammt von niemand Geringerem als John Lautner (1911-1994). Am heutigen Samstag wäre der kalifornische Architekt 100 geworden.

„Das ist kein aufgeklebtes Gebilde auf einem Felsen, das ist ein Haus, das aus einer Skizze mit ein paar sehr einfachen Ideen heraus entstanden ist“, schreibt Lautner in seiner 1994 erschienenen Autobiografie John Lautner, Architect. „Elrod wünschte sich etwas Außergewöhnliches. Und ich kann mich noch genau erinnern. Nachdem er mir seine Liegenschaft gezeigt hatte, sagte er zu mir: Geben Sie mir genau das, wovon Sie glauben, dass ich es auf diesem Grundstück haben sollte.“

Das Ergebnis ist ein Ensemble aus unterschiedlichen Betongebilden, die spektakulär aus der felsigen Hangsilhouette ragen. Über dem Wohnraum schwebt, scheinbar schwerelos, ein zeltförmiges Dach mit aufgeschlitzten Oberlichten. Über eine Schiene in der Decke lässt sich die gewölbte Glasfassade vollständig zur Seite schieben. In der Raummitte liegt ein riesiger Teppich, vorne am Fenster gibt es ein organisch geformtes Schwimmbecken, daneben wächst unvermittelt ein Felsen aus dem Boden. Ein Zeuge der Natur.

Wohnbereich und Landschaft fließen in Lautners Projekten nahtlos ineinander über. „Mein Wunsch ist, die Umgebung mitzugestalten und einen Ort der Sehnsucht zu kreieren“, meint der Architekt. „Das Wesentliche ist der Innenraum, denn schließlich wird Architektur von den Menschen genutzt. Der Grundgedanke ist, das Leben zu verbessern, indem man Wahrheit und Schönheit schafft. Und grenzenlosen Raum.“

Ein Haus für 13 Millionen Dollar

Arthur Elrod war von seinem Haus begeistert. Der Nachbesitzer Leonard Malin meinte stolz: „Bei John Lautner ist kein Haus wie das andere. Jedes Haus ist einzigartig.“ Und Sean Connery erklärte nach den Dreharbeiten zu Diamantenfieber: „Neben der Lage ist für mich das Beeindruckendste der Swimmingpool, der wie eine Terrasse aussieht. Er beginnt im Wohnzimmer, setzt sich draußen fort und führt zu einem Wasserfall. Es ist unglaublich.“ Seit Juni ist das geschichtsträchtige Anwesen wieder am Markt. Der Verkaufspreis liegt bei 13 Millionen US-Dollar.

Am Dienstag lud das Museum für Angewandte Kunst (MAK) im Rahmen der MAK-Nite zu einer Geburtstagsfeier zu Ehren John Lautners. Gefeiert wurde im Freien mit Leinwand und Projektor. Gezeigt wurden drei Filme, in denen Lautners Bauten eine zentrale Rolle spielen. Selbstverständlich wähnte man sich in dieser lauen Sommernacht auch im Diamantenfieber.

Futuristische Oberfläche

„John Lautners Architekturverständnis wird von den Medien ziemlich stark verzerrt“, erklärt Marlies Wirth, Kuratorin der MAK-Nite und Expertin für US-amerikanische Architektur im 20. Jahrhundert. „In den Bösewicht-Filmen aus Hollywood und in den meisten Lifestyle-Magazinen wird John Lautners Architektur immer als Glitzer und Glamour dargestellt. Doch da tut man dem Architekten Unrecht.“

Hinter der meist futuristischen Oberfläche verbirgt sich ein cleveres und effizientes Konzept. Lautners Ziel war es, mit wenigen Mitteln - finanziellen wie auch technischen - ein Maximum an Nutzen herauszuholen. Vor allem seine früheren Projekte bestechen durch unorthodoxe Bauweisen und durch äußerst niedrige Baukosten.

Bestes Beispiel dafür ist das Malin House aus dem Jahr 1961, wegen seiner Form auch „Chemosphere“ genannt. Leonard Malin, ein junger Weltraum-Ingenieur, verfügte einerseits über wenig Budget, andererseits über ein Hanggrundstück im San Fernando Valley, das aufgrund seiner steilen Neigung von 45 Grad als schlichtweg unbebaubar galt.

Wochenlang saß Lautner auf der Baustelle und schaute hinunter auf Los Angeles. In der Nacht sah man nur das Glimmen der Zigarette. Schließlich lieferte er die Lösung zum Problem: Anstatt das Grundstück aufwändig abzustützen, betonierte er ein einziges Fundament und errichtete darüber eine rund zehn Meter hohe Stahlbetonsäule. Der Rest ist Leichtbauweise in Holz und Stahl. Die Oberkonstruktion besteht aus Holzleimbindern, gestützt wird das 200 Quadratmeter große Ding von handelsüblichen Stahlträgern.

Seilbahn nach Hause

Das Heimkommen war jedes Mal ein Abenteuer. Elrod parkte das Auto unten auf der Straße, betrat den Garten und stieg in eine Open-Air-Standseilbahn mit einer hübsch austapezierten Ledersitzbank, die ihn in ein paar Sekunden nach oben brachte. Trotz dieser Playboy-Allüren kostete das Chemosphere House damals weniger als jedes vergleichbare Wohnobjekt in dieser Lage. Einen Teil der Baumaterialien sponserte die Industrie, womit die Baukosten auf 15.000 US-Dollar sanken. Im Gegenzug durfte sie die Immobilie vor Einzug Elrods einige Monate für Werbezwecke nutzen. Alles sehr durchdacht.

Es sind nicht die vielen Hollywood-Filme, nicht James Bond, nicht The Big Lebowski, nicht Drei Engel für Charlie, nicht Bandits und nicht Lethal Weapon, die John Lautners Architektur so einzigartig machen. Es ist das unverwüstliche Lebensmotto dahinter. „Ich will einfach nur, dass sich die Menschen in ihrer Wohnumgebung wohlfühlen“, sagte John Lautner in einem Interview wenige Jahre vor seinem Tod. „Vor allem in dieser so widerlichen Stadt, dass es mich körperlich krank macht.“

Birthday Events: Kommenden Samstag, den 23. Juli, veranstaltet die John Lautner Foundation eine Tour zu vier Privatobjekten in Los Angeles: Sheats-Goldstein House (1963), Harpel House (1965), Jacobson House (1974) und Schwimmer Residence (1982). Am Sonntag, den 24. Juli, gibt es einen Galaempfang im Harpel House.

Der Standard, Sa., 2011.07.16

02. Juli 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Mit Hammer, Hand und Herz

Schweiß und Staub: Das indische Büro Studio Mumbai besinnt sich auf traditionelle Fertigungstechniken. Zwei Ausstellungen blicken den Handwerkern über die Schulter.

Schweiß und Staub: Das indische Büro Studio Mumbai besinnt sich auf traditionelle Fertigungstechniken. Zwei Ausstellungen blicken den Handwerkern über die Schulter.

Eine ungewöhnliche Baustelle. Und das liegt nicht nur am vorherrschenden Hindi und an den raschelnden Palmen im Hintergrund. Nein, es ist still und friedlich hier, die Bauarbeiten gehen mit tropischer Langsamkeit über die Bühne, und die Handwerker knien in yogaähnlichen Posen auf dem Boden und sägen, schleifen, schweißen gemächlich vor sich hin. Ab und zu rennt ein Köter durchs Bild und bellt die Bohrmaschine an.

Das indische Architekturbüro Studio Mumbai wurde 1996 gegründet. Im Gegensatz zum typischen Architekturbüro jedoch besteht es zum größten Teil aus Baumeistern, Steinmetzen, Tischlern, Schlossern, Malern, Zimmermännern und diversen anderen Experten für diverses anderes Zeug. Hier geht es nicht um die trockene Materie des Plänezeichnens, hier regiert die Wirklichkeit.

„Früher, in England und in den USA, da war ich ganz normaler Architekt, so wie viele andere auch“, sagt Bijoy Jain. Der 46-Jährige ist Gründer und Chef des eigenwilligen Ateliers unter Palmen. „Doch den Großteil meiner Arbeitszeit habe ich damit verbracht, auf die Baustelle zu fahren und dort die Dinge wieder ins Reine zu bringen. Die meisten Handwerker können keine Pläne lesen, jeder macht, wie er es kann, und jeder macht, was er will. Das ist frustrierend.“

Frust kann mobilisieren. Zurück in Indien, scharte Jain die besten Handwerker des Landes um sich und gründete eine Kooperative, die heute - 15 Jahre später - zu den größten und ungewöhnlichsten Konstellationen dieser Art weltweit zählt. Auf der Architektur-Biennale 2010 in Venedig wurde Studio Mumbai mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Und nun widmen ihm das Vorarlberger Architekturinstitut (VAI) in Dornbirn und das Sitterwerk in St. Gallen sogar eine Doppelausstellung.

„Studio Mumbai ist ein Phänomen“, sagt Wolfgang Fiel, Kurator der Ausstellung im VAI. „Es ist nicht nur eine Gegenbewegung zum immer stärker werdenden Turbokapitalismus in Indien, es ist auch ein Zurückbesinnen auf die kulturellen Wurzeln in diesem Land und nicht zuletzt auf die vorhandenen Ressourcen.“

Traumjob Tischler, so wie Jesus

In einem Land, in dem für gewöhnlich innerhalb weniger Monate ganze Bauwerke aus dem Erdboden gestampft werden, erscheint die Herangehensweise von Studio Mumbai anachronistisch und luxuriös. „Studio Mumbai arbeitet in einer Geschwindigkeit, die uns heute abhandengekommen ist“, so Fiel. „Aber dafür werden Fertigungstechniken aufrechterhalten, die schon seit Jahrhunderten überliefert sind und die sonst wahrscheinlich verlorengehen würden. Das ist ein wertvoller Beitrag.“

Zurück auf die Baustelle. Rohstoffe und Werkzeuge liegen wie in einem Open-Air-Labor fein säuberlich und schön geschlichtet auf riesigen Tischen bereit. Jean Marc Moréno schnappt sich ein paar Blechteile und verschwindet damit in den Schatten, um sie in die richtige Form zu hämmern. Er ist einer der Dachdecker und Spengler im Büro. „Eigentlich wollte ich Tischler werden, so wie Jesus, Sohn Gottes“, erklärt er vor laufender Kamera. „Aber dann habe ich keinen Job gefunden. Also bin ich Dachdecker geworden.“

Die meisten Studio-Mumbai-Mitarbeiter sind schon seit einer Ewigkeit dabei. So auch Dattrey Datao Dhar Shinde. „Ich bin der Fachmann für schwierige und komplizierte Dinge“, sagt der gelernte Steinmetz. „Meine Familie hat immer schon mit Stein gearbeitet. Sie hat die Statuen der meisten Tempel hier in dieser Gegend gemeißelt.“

Und Pandurang Sitaram Gharat, Baumeister und Experte für indische Steinmalerei, ist froh, dass er nicht mehr als Taglöhner arbeiten muss. „Früher bin ich jeden Tag mit dem Rad durch die Gegend gefahren und habe Jobs gesucht. Jetzt habe ich endlich einen fixen Arbeitsplatz.“

Studio Mumbai ist in der Zwischenzeit zu einem mittelgroßen Unternehmen herangewachsen. 120 Mitarbeiter gibt es insgesamt, und das Büro wird größer und größer. Das Know-how der Leute hat sich im Land längst herumgesprochen. Immer wieder versuchen Baufirmen und Handwerksunternehmen, mit den hochqualifizierten Handwerkern des Studio Mumbai Kontakt aufzunehmen und sie abzuwerben. Mit geringem Erfolg. Die meisten bleiben ihrer Arbeit treu.

Monatelang arbeiten sie im Studio, suchen die richtigen Hölzer aus, mischen die kräftigsten Farben, schmieden Türknäufe und Fenstergriffe zu wohlgeformten Artefakten, die nicht nur schön anzusehen sind, sondern auch satt und geschmeidig in der Hand liegen. Immer wieder ist in der Architektur von Haptik und Sinnlichkeit die Rede. Hier kriegt man eine Idee davon, was das heißt.

Es dauert, so lange es dauert

Wie viel Zeit der Bau eines Hauses benötigt, lässt sich nur schwer vorhersagen. „Ich lasse mich auf keine Deadlines ein“, sagt Bijoy Jain zum STANDARD. „Es dauert, so lange es halt dauert. Meine Kunden wissen das, und jeder, mit dem wir zusammenarbeiten, ist mit diesen Spielregeln von Anfang an einverstanden. Die Qualität ist mir wichtiger als die Tatsache, ob das Haus ein paar Monate früher oder später fertig wird.“

Nicht nur der Zeitplan, auch das genaue Aussehen ergibt sich erst im Laufe der Zeit. Jain: "Ja klar, es gibt Skizzen und eine grobe Idee davon, wie das Haus später aussehen wird. Aber im Großen und Ganzen entsteht die konkrete Form, entstehen die konkreten Materialien und Details im Dialog mit den Handwerkern. Es ist „learning by doing“. Jeder bringt sich auf seine Weise ins Projekt ein. Die Summe all dieser Ressourcen führt schließlich zum fertigen Haus."

Zu den bisher realisierten Projekten zählen Einfamilienhäuser, sommerliche Landsitze und kleine, luxuriöse Urlaubsressorts. Die Häuser sind mit behutsamer Kenntnis der Landschaft und des Klimas gebaut. Aber auch mit viel Liebe. Und das ist ausnahmsweise nicht gelogen.

Die Handwerker kennen jeden Knoten, jede Schraube, jede Verästelung im Holz. Oder, wie Bijoy Jain dies ausdrückt: „Ich bin stolz zu behaupten, dass wir mit unseren Emotionen bauen. Aber ich gebe zu: Solche Projekte kann man nur machen, wenn man keinen ökonomischen Druck verspürt.“

Noch richten sich die Gebäude an eine ausgesuchte, exklusive Klientel. Doch schon bald soll das Phänomen Studio Mumbai auf die breite Bevölkerung überschwappen. Bijoy Jains Plan ist so ungewöhnlich wie selbstlos: Mitten in der Millionenmetropole Mumbai will er eine Art Mehrfamilien-Musterhaus mit sehr einfachen, aber cleveren baulichen Elementen errichten.

Aus der nachahmungsorientierten Kultur der Inder heraus erhofft sich Jain eine unaufhaltsame Welle schamloser Plagiate. „Ich bin Optimist. Und ich hoffe, dass wir auf diese Weise die traditionelle Baukultur Indiens retten können.“

Am Donnerstag, den 14. Juli, hält Bijoy Jain in Dornbirn einen Vortrag. Inatura, Jahngasse 9, 6850 Dornbirn. 20 Uhr.

Die Ausstellung „Studio Mumbai“ im Sitterwerk ist bis 28. August zu sehen. Sitterwerk, St. Gallen. pwww.sitterwerk.ch

Die Ausstellung „Studio Mumbai“ im VAI ist bis 1. Oktober zu sehen. Vorarlberger Architekturinstitut, Dornbirn.

Der Standard, Sa., 2011.07.02

11. Juni 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Mit dem Dreirad nach Utopia

Studenten aus Boston und Wien präsentieren ihre Ideen für die Stadt der Zukunft. Das neue Zauberwort lautet Vernetzung.

Studenten aus Boston und Wien präsentieren ihre Ideen für die Stadt der Zukunft. Das neue Zauberwort lautet Vernetzung.

„Der Anblick von Städten kann ein besonderes Vergnügen bereiten, wie alltäglich er auch immer sein mag“, schrieb Kevin Lynch 1960 in seinem Essay The Image of the City. „Es ist in jedem Augenblick mehr vorhanden, als das Auge zu sehen und das Ohr zu hören vermag. Immer gibt es einen Hintergrund oder eine Aussicht, die darauf warten, erforscht zu werden.“

Kevin Lynch (1918-1984) war Architekt und Stadtplaner am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Die Auseinandersetzung mit dem urbanen Raum hat in Cambridge schon lange Tradition. Der US-amerikanische Architekt und Forscher Kent Larson, der am Montag in Wien einen Vortrag hielt (der Standard berichtete), führt diese Tradition nun fort. In Zusammenarbeit mit der TU Wien und dem Austrian Institute of Technologies (AIT) widmete sich das MIT Media Lab ein Semester lang der Frage: Wie sieht die Stadt der Zukunft aus?

Schon heute lebt mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung in Ballungsräumen. Bis 2050 wird der Anteil auf 70 Prozent steigen. „Die Verstädterung der Erde wird immer größer und immer schneller“, sagt Larson. „Allein in den nächsten 15 Jahren werden mehr als 300 Millionen Land-Chinesen in die Städte ziehen. Wir werden die Funktionsweise der Stadt notgedrungen neu denken müssen.“

Die gebaute Umwelt und der Verkehr machen insgesamt rund 60 Prozent des globalen Energieverbrauchs aus, rechnet Larson vor. Und nicht alle Länder sind gleichauf: Die USA verbrauchen pro Kopf 2,5-mal so viel Energie wie etwa Dänemark. Im Vergleich mit weniger entwickelten Ländern in Asien und Afrika fällt das Verhältnis um einige Potenzen dramatischer aus.

Anders ausgedrückt: Hätten alle Menschen auf der Erde den gleichen ökologischen Fußabdruck wie die USA, würde ein Erdball alleine nicht reichen. Um die Bedürfnisse vollständig abzudecken, wären 4,39 blaue Planeten vonnöten. Schachmatt. Veränderung muss her.

Doch der Drang nach Umdenken ist nicht neu. Schon 1860 machte sich der französische Mathematiker Augustin Mouchot Sorgen um die Zukunft: „Man kommt zwangsweise zu dem Schluss, dass es umsichtig und weise wäre, angesichts der Halbsicherheit, was die Energieversorgung dieses Landes betrifft, nicht einzuschlafen. Letztendlich wird die europäische Industrie nicht mehr genügend Ressourcen vorfinden, um dem beachtlichen Wachstum gerecht zu werden. Ohne Zweifel wird die Kohle eines Tages verbraucht sein. Und was macht die Industrie dann?“

1866 gab es bereits die erste Solarmaschine der Welt. Auf der Weltausstellung 1867 in Paris wurde sie der Öffentlichkeit vorgestellt. Mithilfe der Sonnenkraft konnte damals schon Eis erzeugt werden. Und in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts arbeiteten Studenten der University of Minnesota bereits an einem Haus mit einem Dach aus serienreifen Sonnenkollektoren. Das Gebäude wurde 1975 in Rosemount fertiggestellt.

Auch das Elektromobil hat schon einige Jahrzehnte am Buckel: Nach einer Senatssitzung über batteriebetriebene Fahrzeuge am 13. März 1967 stiegen die beiden Senatoren Edmund Muskie und Warren G. Magnuson in Washington, D. C. presse- und publikumswirksam auf zwei hypermoderne Elektro-Scooter. Die Geschichte bewies: Weit kamen sie nicht.

„Mit Niedrigenergiegebäuden und Elektroautos alleine werden wir das Problem nicht lösen können“, meint Kent Larson. „Diese Ansätze gibt es schon seit Jahrzehnten. Und sie alle waren eine Sackgasse. Wir dürfen nicht länger nur in getrennten Sparten denken wie bisher, also in Form von Architektur, Verkehr, Infrastruktur, Industrie und so weiter, sondern müssen ein zusammenhängendes, vernetztes Gesamtsystem entwickeln, das in sich logisch geschlossen ist.“

Ist die Zukunft attraktiv?

Die ersten Ansätze dafür wurden diese Woche in Wien präsentiert. Anhand des aktuellen Masterplans für die Seestadt Aspern im Nordosten Wiens hatten sich rund 25 Studenten von MIT und TU Wien mit neuen Formen von Wohnen, Arbeiten und Mobilität befasst. Entwickelt wurden energieoptimierte Wohnhäuser mit stapelbaren Garagen, E-Mobile, E-Scooter, Stromtankstellen sowie dazu passende Online-Programme und elektronische Interfaces für Nutzerinnen und Nutzer.

„Elektrofahrräder, die zwischen Strombetrieb und Muskelkraft hin- und herschalten, sind schon lange am Markt“, sagen die beiden Studierenden Marijana Simic und Thommy-James Padayhag. „Allerdings mangelt es den Leuten noch an Motivation, um solche Fahrzeuge auch wirklich zu verwenden. Die Frage ist: Wie macht man solche Produkte für das breite Publikum attraktiv?“

Für das von Marcus Martinez, Jee Yeon Hwang und Quinnton Harris am MIT Media Lab, Abteilung Smart Cities, entwickelte Persuasive Electric Vehicle (PEV), ein klappbares Dreirad mit einem Wetterschild aus gummientengelbem Polycarbonat (siehe Foto), stellten sie ein digitales Portal vor. Die Jury hatte viel zu lachen. „Wenn man die Leute zum Umdenken animieren will, dann ist Humor schon mal ein guter Anfang.“

Auch die meisten anderen angehenden Architekten verstanden es, der drohenden Ökologiekatastrophe mit nachhaltigen Ideen entgegenzuwirken, die über Wärmedämmung und ein paar Alibi-Fotovoltaikzellen am Dach weit hinausgehen. „Wir können nicht einfach nur in einzelnen Bauwerken denken“, erklärt der Bostoner Student Daekwon Park. „Wenn wir das urbane Leben im 21. Jahrhundert verstehen wollen, dann müssen wir uns zuallererst damit auseinandersetzen, wie wir uns in Zukunft im System Stadt bewegen werden.“

Das fesche Dreirad auf der Wiener Ringstraße ist mehr als nur ein technisches Projekt. Es ist Teil eines komplexen Netzwerkdenkens an den Universitäten, das erstmals in der Geschichte wirklich Hoffnung macht. Einige dieser Ideen sollen in den nächsten Jahrzehnten in der Seestadt Aspern umgesetzt werden.

Der Standard, Sa., 2011.06.11

28. Mai 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Paradeiser aus Metropolis

Die Stadt der Zukunft? Sie wird grün und fruchtbar sein. Diesen Eindruck vermittelt eine aktuelle Ausstellung im Nordico-Stadtmuseum Linz.

Die Stadt der Zukunft? Sie wird grün und fruchtbar sein. Diesen Eindruck vermittelt eine aktuelle Ausstellung im Nordico-Stadtmuseum Linz.

„Man muss nicht erst sterben, um ins Paradies zu gelangen, solange man einen Garten hat“, besagt ein altes persisches Sprichwort. „Bäume sind Gedichte, die die Erde in den Himmel schreibt“, sagte einst der libanesische Dichter Khalil Gibran. Und Michel Foucault meinte: „Der Garten ist ein Teppich, auf dem die ganze Welt ihre symbolische Vollkommenheit erreicht.“

Den vielen sinnlichen und bisweilen auch lebensnotwendigen Varianten des künstlich gestalteten Grünraums widmet sich die Ausstellung Im Garten. Lebensräume zwischen Sehnsucht und Experiment, zu sehen im Nordico-Stadtmuseum Linz. Gezeigt werden Beiträge aus dem Bereich der bildenden Kunst, aber auch Architekturprojekte und urbane Initiativen.

„Jeder Garten ist ein imaginäres Paradies, das die Handschrift seines Gestalters trägt“, sagt die Kuratorin Karin Standler. Die Wiener Landschaftsarchitektin konzipierte die Ausstellung gemeinsam mit Andrea Bina und Magnus Hofmüller. „Nicht zuletzt ist ein Garten aber auch ein schöner und sehr sensibler Hybrid zwischen Natur und Ersatznatur.“

Es ist vor allem der Drang nach dieser Ersatznatur, der viele Stadtbewohner und Planerinnen antreibt, die Hände in die Erde zu stecken und das Grün dorthin zurückzubringen, von wo es längst verschwunden ist. Die Idee ist alt. Es war Joseph Beuys, der als Erster das moralische Recht auf Gärten in der Stadt einforderte. Mit ihm begann jene Strömung, die heute unter den Begriffen „City Farming“, „City Gardening“ und „Guerilla Gardening“ bekannt ist. Im März 1977 setzte er im Vorgarten seines Berliner Galeristen eine runzelige Kartoffel in die Erde ein. Im Oktober desselben Jahres, am Ende der documenta 6, erntete er die knolligen Früchte seiner öffentlichen Aktion.

Die Städte dürstet immer mehr nach Grün. „Heutige Metropolen sind schwarze Löcher und hungrige Monster“, schreibt der Hambruger Philosoph Harald Lemke im überaus appetitlich gestalteten Ausstellungskatalog Im Garten. „Eine Welt, in der alle Menschen satt werden und gut essen, im Sinne einer gastrosophischen Ethik, braucht nicht immer weniger, sondern immer mehr Kleinbauern, auf dem Lande und in den Städten.“ Die „Re-Agrarisierung der Stadtgesellschaft“ (Lemke) sei längst überfällig.

Bio-Gemüse aus Chicago

Die ersten Versuche der guerillagrünen Stadtaneignung - abseits von Kunst und Architektur - stammen aus den USA. Auf der sogenannten City Farm Chicago, gegründet 2000 und nur wenige Schritte von der Downtown entfernt, werden 98 unterschiedliche Kräuter- und Gemüsesorten angepflanzt. Darunter allein 30 Arten von Paradeisern. Zu den Hauptkunden zählen Liebhaberinnen von Organic Food und Restaurantköche aus der Umgebung. Diese wiederum versorgen die Farm hinter den Wolkenkratzern mit Bioabfall für den Kompost.

„Die Stadt hat so viele Ressourcen“, sagt Ken Dunn. „Ich glaube, die Zeit ist reif dafür, dass Chicago sich dem Gedanken der urbanen Landwirtschaft im gesamten Stadtgebiet verpflichtet.“ Ganze Nachbarschaften könnten sich dadurch verändern, meint der Gründer der City Farm. Die Zahlen liefern den Beweis: Der Verein ist zwar nach wie vor auf die Förderungen der Stadt angewiesen, doch der jährliche Umsatz durch verkauftes Gemüse macht bereits 60.000 US-Dollar aus.

Mittlerweile ist die grüne Welle auch auf Europa übergeschwappt. In Städten wie Kopenhagen, Paris, Berlin, Hamburg und Leipzig entstehen immer mehr selbstinitiierte und selbstverwaltete Nutzgärten. Die Paradeiser wachsen in Baulücken, die Kartoffeln neben der Sandkiste, die Schnittblumen für den Wohnzimmertisch auf der Verkehrsinsel zwischen Bushaltestelle und S-Bahn-Station.

„Der Garten ist ein Ort für Gespräche, Integration, Gesundheit und Selbstversorgung“, sagt Marco Claussen, Gründer des Prinzessinnengartens in Berlin-Kreuzberg. „Vor allem für Migranten ist so ein Ort wichtig. Die meisten Migranten kommen vom Land, wohnen aber in der Stadt.“ Das wecke unweigerlich eine gewisse „Anbausehnsucht“.

Auch in Berlin wird das angebaute Obst und Gemüse verkauft. „Immer mehr Leute wollen nachvollziehen, wo und wie ihre Nahrungsmittel angebaut und hergestellt werden“, so Claussen. Noch viel wichtiger: „Der Garten ist ein Treffpunkt für Bewohner, ein Ort der Langsamkeit und Ruhe.“ Doch die Immobilienbranche schläft nicht. Um potenzielle Projektentwickler und Investoren nicht auf immer und ewig zu vergraulen, muss der Prinzessinnengarten einmal im Jahr übersiedeln. Der alljährliche Umzug findet traditionsgemäß in nichtmotorisierten Vehikeln, zum Beispiel in Einkaufswagen, statt.

Kein Platz für Bottom-up?

Warum ist diese Entwicklung noch nicht auf Österreich übergeschwappt? „City-Farming ist eine Bottom-up-Bewegung, die von der Stadtplanung mitgetragen werden muss“, erklärt die Kuratorin Karin Standler. „Im Stadtentwicklungsplan für Wien (Step 2005) wird bis 2015 jedoch ein Bevölkerungswachstum von mehr als 21 Prozent prognostiziert.“ Man werde die Stadt nachverdichten müssen, die Brachflächen würden dadurch weiter zurückgehen. „Das ist eine ganz andere Situation als in Berlin oder Leipzig.“

Im aktuellen rot-grünen Regierungsübereinkommen der Stadt Wien ist von entsprechenden Pilotprojekten die Rede: Dachbegrünungen, Grünoasen in Innenhöfen und grüne Hausfassaden sollen weiter gefördert werden. „Gemeinsames Garteln fördert soziale Beziehungen und Nachbarschaftskontakte in den Bezirken“, sagt Maria Vassilakou, Planungsstadträtin für Wien (Grüne), auf Anfrage des Standard. „Der Ausbau von Community-Gardening-Projekten in Wien ist uns ein großes Anliegen. Ziel ist es, dass in jedem Bezirk zumindest ein Grätzelgarten geschaffen wird.“

Bis es so weit ist, muss man sich mit mobilen Mitteln behelfen: Das US-amerikanische Künstler- und Designer-Kollektiv Rebar Group baute mangels Grünraums in der Stadt 2007 den sogenannten Park Cycle, eine Art Wiesenlimousine mit Baum in der Mitte, angetrieben durch den Tritt in die Pedale. „Der Lebensraum Stadt muss in Zukunft unbedingt an Qualität dazugewinnen“, sagt John Bela, Mitbegründer von Rebar. „Umdenken ist ein erster Schritt.“

Der Standard, Sa., 2011.05.28

14. Mai 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Picknick mit Rubens

Kommenden Dienstag wird in Antwerpen das Museum aan de Stroom eröffnet. Hier ist nicht nur die Kunstgeschichte zu Hause, sondern auch die Freizeit.

Kommenden Dienstag wird in Antwerpen das Museum aan de Stroom eröffnet. Hier ist nicht nur die Kunstgeschichte zu Hause, sondern auch die Freizeit.

„Ich hab's nicht so mit den dünnen Häusern, anorektische Architektur, das ist nicht mein Fall“, sagt er, lehnt sich an die gewellte Glasfassade und schaut hinaus auf die verzerrte und tausendfach durchgequirlte Stadt. „Wenn ich schon baue, dann will ich etwas zwischen meinen Fingern spüren, dann will ich's richtig dick und fest. So wie bei Rubens. Kein Gramm weniger.“

Willem Jan Neutelings ist nicht nur Barock-Liebhaber, sondern auch Architekt. Gemeinsam mit seinem Partner Michiel Riedijk plante er das neue Museum aan de Stroom, kurz MAS, das kommenden Dienstag in Antwerpen offiziell eröffnet wird. Und es ist nicht irgendein Museum. Es ist das stolzeste und mächtigste Bauprojekt in der flämischen Hafenstadt seit langem.

„Kunst und Diamanten haben wir schon seit Jahrhunderten, seit kurzer Zeit ist Antwerpen auch für seine zeitgenössische Mode bekannt, jetzt ist die Architektur an der Reihe“, erklärt der neue Museumsdirektor Carl Depauw, der das Bauwerk unter seiner Ägide liebevoll als Maskottchen bezeichnet. Das macht das Pathos wieder wett. „Ja, es ist ein Maskottchen für Antwerpen. Wir haben lange genug darauf gewartet. Nun ist es endlich da.“

Mitte der Neunzigerjahre hatte die Stadtregierung beschlossen, vier kleinere kommunale Museen zusammenzulegen und in einem einzigen, neuen Wahrzeichen zu vereinen. „Die alten Museen waren viel zu klein und längst nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik“, sagt Depauw. „Manche der Exponate sind uns aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit in diesen Räumen regelrecht davongeschimmelt. Es war eine Schande.“

1999 wurde ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben, an dem sich 51 Büros bewarben. Neutelings & Riedijk gingen mit ihrer Neuinterpretation eines historischen Hafenspeichers als Sieger hervor. Nach einer etwas längeren Dürreperiode in der Stadtkasse rollte Ende 2006 der erste Bagger heran. 56 Millionen Euro später (Baukostenanteil 33,4 Millionen Euro) ist das Ding unter Dach und Fach: ein 60 Meter hoher Bilbao-Effekt mit Ecken und Kanten.

Eine wilde Mischung

Insgesamt umfasst das MAS heute 470.000 Objekte, zusammengetragen aus dem Ethnografischen Museum, dem Völkerkundemuseum, dem Nationalen Schifffahrtsmuseum, dem Kunsthandwerksmuseums Vleeshuis sowie aus der Sammlung präkolumbianischer Kunst Paul und Dora Janssen. Als Draufgabe gibt es zurzeit eine temporäre Ausstellung mit Werken von Peter Paul Rubens, Jan Brueghel, Jan van Eyck und Konsorten. Wilde Mischung.

Der Clou jedoch: Die Exponate sind nicht nach ihrer kulturellen und ethnischen Zugehörigkeit sortiert (Ausstellungskonzept B Architecten), sondern nach übergeordneten, abstrakten Themen wie Leben, Tod und Stadt. Da kann es schon einmal passieren, dass ein angegammeltes Totem neben einer hochglanzpolierten Schiffsschraube hängt. „Wir wollen nicht einfach nur Dokumente in die Vitrine legen und Bilder an die Wand nageln“, sagt Direktor Depauw. „Es geht uns um den Kontext. Wir suchen nach Konnotationen und Analogien.“

„Ja, ja, stimmt schon, alles Geschichte, alles sehr wichtig. Aber da, schauen Sie nur raus auf die Stadt!“ Architekt Willem Jan Neutelings spricht eine andere Sprache. „Schauen Sie sich nur dieses wunderbare Panorama und diese betrunkenen, tanzenden Kirchtürme an! Ist das nicht großartig?“

Neutelings ist nicht wegzukriegen von hier, lehnt an der Glasfassade, immer noch, deutet hinüber zur Liebfrauenkathedrale, deren Turm in den bauchigen Wölbungen hin- und herschwabbelt, mal dicker, mal dünner wird, sich doppelt und dreifach vermehrt. „Wenn das nicht barock ist!“

Tatsächlich ist dieser Bereich das Herzstück des neuen Museums aan de Stroom, nur wenige Meter von der Schelde entfernt, eingeklemmt zwischen die beiden Docks aus der Zeit von Napoleon Bonaparte und König Willem I. „Das MAS ist mehr als nur ein Museum. Es ist der Versuch, den wunderschönen, aber lange Zeit vergessenen historischen Hafen am Rande der Altstadt zu neuem Leben zu erwecken“, sagt Neutelings. Längst ist das Hafentreiben in den Norden abgewandert. Am Horizont türmen sich Container. Hafenkrane tanzen Walzer in Zeitlupe.

„Die große Frage lautete: Wie macht man ein kunsthistorisches Museum für die breite Masse attraktiv? Wie bringt man die Bevölkerung in so ein Haus hinein? Wir haben uns entschieden, die Geschichte mit der Gegenwart zu kombinieren“, erklärt der Architekt. „Wir haben uns entschieden, kulturelle Bildung und städtisches Leben zu vereinen.“

Ein Speicher der Geschichte

Die Jahrhunderte alten Exponate liegen in tageslichtlosen, übereinander gestapelten Boxen, die wie Container in alle Himmelsrichtungen weisen. Die roten Steinplatten aus Indien sollen in ihren vier unterschiedlichen Farbtönen an die alten, geziegelten Speicher erinnern. Neutelings: „Das ist eine Hommage an den Hafen. Nur werden hier nicht mehr Kaffee und Kartoffeln gelagert, sondern Kunst und Kultur.“

Während der eigentliche Ausstellungsbereich des MAS nur 20 Prozent der Gesamtfläche einnimmt, besteht der Großteil des Gebäudes aus einem öffentlichen Boulevard, der sich hinter einem riesigen Glasvorhang in den zehnten Stock hochschraubt. Flanieren und Rolltreppenfahren ist angesagt. Der Weg bis zur Dachterrasse dauert rund fünf Minuten.

Die sogenannte „Straße“ ist täglich von 9 bis 24 Uhr öffentlich zugänglich,und zwar ohne Ticket. Museumsdirektor Carl Depauw versichert, dass das auch so bleibt. „Wir wünschen uns, dass die Leute hierherkommen, auf die Stadt blicken und sich womöglich doch noch für die Kunst entscheiden. Das ist ein Lockmittel. Dafür kassieren wir kein Geld.“

Noch fehlen Sitzgelegenheiten, doch die sollen demnächst nachgereicht werden. „Bis dahin können die Leute ja eine Decke mitnehmen und sich auf den Boden setzen“, erklärt Depauw. Unter dem Steinboden verlaufen Heizungs- und Kühlungsschläuche, die mit dem Wasser aus den Docks temperiert werden.

Es ist wohl das erste Museum weltweit, in dem die Stadtbevölkerung aktiv dazu eingeladen wird, ihren eigenen Picknick-Korb mitzunehmen, Zeitung zu lesen und zu schmusen (O-Ton des Direktors). „Wenn das kein Ort zum Picknicken und Verlieben ist! Nur Barbecue ist verboten. Sie werden verstehen.“ Auch so kann kunsthistorisches Museum sein.

Der Standard, Sa., 2011.05.14



verknüpfte Bauwerke
MAS - Museum Aan de Stroom

14. Mai 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Unglaublich, das ist so richtig Achtzigerjahre

Die Wiener Fotografin Margherita Spiluttini lebt in einem verwinkelten Biedermeier-Dachgeschoß, das 1983 umgebaut wurde. Wojciech Czaja musste den Kopf einziehen.

Die Wiener Fotografin Margherita Spiluttini lebt in einem verwinkelten Biedermeier-Dachgeschoß, das 1983 umgebaut wurde. Wojciech Czaja musste den Kopf einziehen.

Das ist ein typisches, total verwinkeltes Biedermeierhaus, 1768 erbaut und 1856 umgebaut. Nach dem Krieg waren die Häuser in der Schönlaterngasse ziemlich verfallen, aber die Stadt Wien hat das gesamte Grätzel Anfang der Siebzigerjahre revitalisieren lassen. Ich habe die Wohnung mit meinem damaligen Mann Adolf Krischanitz 1983 übernommen.

Früher war das ein Architekturbüro mit einer notdürftigen Heizung und einem Klo. Für Wohnzwecke war das zu wenig. Wir haben dann Wände eingezogen, und hofseitig haben wir ins Dach eine ganz kleine Terrasse eingeschnitten. Für die Handwerker war das eine Katastrophe, weil es hier keinen einzigen rechten Winkel gibt.

Wo es ging, haben wir damals auch die Wärmedämmung ausgebessert. Mit der Zeit - und das hat mich selbst überrascht - rutscht die Mineralwolle nämlich nach unten. Das hat zur Folge, dass das Dach im Bodenbereich super gedämmt ist, während die Dachkonstruktion oben komplett hohl ist. Im Winter ist es kalt, im Sommer ist es heiß. Und manchmal pfeift der Wind durch das Dach. Dann gibt es in der Wohnung ein eisiges Lüfterl. Energieschonendes Wohnen schaut anders aus.

Die Farbgestaltung hier oben stammt vom Wiener Künstler Oskar Putz. Er hat die Holzbalken dunkelblau gestrichen, die Wandflächen sind hellblau, eierschalenfarben und weiß. Unglaublich, das ist so richtig Achtzigerjahre! Ich mag es, wenn man einer Sache den zeitlichen Stempel so ansieht. Auch die Möbel sind bunt. Das meiste ist ein Sammelsurium. Die Couch ist von Anna-Lülja Praun, das Bücherregal ist ein Entwurf von Michael Loudon, und die zwei Bugholzstühle sind von Josef Frank. Na ja, da liegen meistens die Katzen drauf.

Wissen Sie, wenn man lange genug an einem Ort lebt, sammelt sich aus verschiedenen Lebensstationen so einiges an. Die Wohnung ist wie ein Dokument der Zeit. So etwas lässt sich nicht planen - das entsteht. Am Anfang war die Wohnung ganz schlicht, heute quillt sie über mit Kunstwerken und kleinen Sachen. Oben im Gebälk zum Beispiel hängt das Geweih eines Wolpertingers. Früher war da noch ein Hasenkopf dran, aber den haben die Motten aufgefressen. Schade, der Gag ist weg.

1995 wurde bei mir Multiple Sklerose diagnostiziert. Am Anfang konnte ich noch gehen, mit der Zeit wurde das aber immer schwieriger. Mein Lebensgefährte Gunther Wawrik, Architekt natürlich, hat dann einige der Möbel für mich adaptiert. Bei der Stahlrohrliege im Wohnzimmer hat er die Beine mit einem Staubsaugerrohr verlängert. Die Lösung ist gut. Nur waren die Proportionen früher etwas eleganter, heute schaut die Liege skurril aus. Als meine Erkrankung 2006 so fortgeschritten war, dass ich nicht mehr gehen konnte, mussten wir umbauen: Teppiche raus, Badewanne raus, stattdessen eine barrierefreie Dusche zum Reinfahren, Türen verbreitert, eine Rampe zum Rausfahren auf die Terrasse und Liftverlängerung ins Dachgeschoß.

Wir haben zwar viel verändern müssen, aber gleichzeitig schaut die Wohnung genauso aus wie früher. Das einzige wirkliche Handicap, das ich habe: Ich komme an die Bücher im Regal nicht mehr heran. Doch zum Glück habe ich viele helfende Hände, unter anderem zwei Pflegerinnen aus der Slowakei: Mirka Mihalcinova und Eva Klimova.

Ich lebe wahnsinnig gerne hier. Das ist eine ruhige Insel mitten in der Innenstadt. Nur am Abend ist es manchmal laut, aber das ist der Lärm des Nachtlebens, und das ist ein süßer Lärm. Überall rundherum würde ich den Biedermeier nicht aushalten, aber hier, auf 120 Quadratmetern, ist er wunderbar. Wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, dann gehe ich raus in die Normalität.

Der Standard, Sa., 2011.05.14



verknüpfte Akteure
Spiluttini Margherita

07. Mai 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Stadt im Bild

Gestern, Freitag, wurde der Europäische Architekturfotografie-Preis 2011 vergeben. Eine Stadtbetrachtung durch das dritte Auge.

Gestern, Freitag, wurde der Europäische Architekturfotografie-Preis 2011 vergeben. Eine Stadtbetrachtung durch das dritte Auge.

„Die Fotografie ist der Todfeind der Malerei, sie ist die Zuflucht aller gescheiterten Maler, der Unbegabten und Faulen“, sagte einst der französische Schriftsteller Charles Baudelaire. Ja sogar der passionierte Maler und Fotograf Henri Cartier-Bresson, verstorben 2004, banalisierte die Lichtmalerei durch die Linse, als er meinte: „Viele wollen daraus eine Kunst machen, aber wir sind einfach nur Handwerker, die ihre Arbeit gut machen müssen.“

Dass weitaus mehr dahinter steckt, beweist der Europäische Architekturfotografie-Preis, der gestern Abend, Freitag, im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main bereits zum neunten Mal vergeben wurde. Motto des diesjährigen Wettbewerbs: „Dazwischen, in between.“ „Besonders tragisch in der Riege der Fotokunst ist das Schicksal der Architekturfotografie“, sagt Wilfried Dechau, Vorsitzender und Gründer des Vereins architekturbild e.v. „In der Regel wird sie von Architekten und Redaktionen als reine Dokumentation ihrer Bauwerke in Auftrag gegeben.“

Das oberste Gebot dabei lautet: Menschen verboten. Unendliche Leere. Eine Litanei der rechten Winkel. Die Architekturmagazine sind voll davon. Dechau: „Dass ein Architekturfoto auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt sein kann, wird leider allzu oft vergessen.“

Fenster, Eisenstäbe, abgeschlagener Putz an der Wänden. Großstadt pur. Und dazwischen immer wieder abgeblätterte, grüne Farbe, die um die Aufmerksamkeit der Autofahrer und Passanten hascht: Bäume, Sträucher, Wiesenglück. Ein Staccato verzweifelter Wiederbelebungsversuche.

„Südkorea ist voll von diesen Naturabbildungen“, sagt der deutsche Fotograf Nils Clauss. Der 35-Jährige, der seit 2005 in Seoul lebt, ging unter 269 Teilnehmern als Sieger hervor. „Als ich hierhergezogen bin, waren die Städte noch deutlich grüner. Doch je größer die Siedlungsgebiete werden und je mehr die unbebaute Landschaft rundherum schrumpft, desto größer wird die Sehnsucht nach den verschwundenen ländlichen Räumen. Das merkt man vor allem an den vielen grünen Wandmalereien in der Stadt.“

Es ist dieser nostalgische Blick der Bewohner und Stadtplaner, aufgepinselt auf Mauern und Fassaden, der Clauss zu seinem Fotoprojekt Urban Nature animierte. „Am schlimmsten ist die Situation im Korridor zwischen den beiden größten Städten des Landes, Seoul und Busan“, erklärt der Fotograf. „Auf einer Länge von rund 300 Kilometern reiht sich eine Stadt an die andere, und obwohl wir uns hier mitten in einer grünen und hügeligen Landschaft befinden, ist von der umliegenden Natur kaum etwas zu sehen.“

In den Sechzigerjahren hatte Seoul rund 2,5 Millionen Einwohner. Seit damals bemüht sich die Regierung darum, die Landflucht einzudämmen. Dezentralisierung lautet das Schlagwort. Vergeblich. Mittlerweile ist die Metropolitanregion Seoul auf mehr als zehn Millionen angewachsen. Damit ist das einer der größten Ballungsräume der Erde.

„Mit der weiteren Verstädterung Südkoreas wird die Sehnsucht nach Natur noch weiter steigen“, ist Nils Clauss überzeugt. „Ich kann mir vorstellen, dass die Darstellungen an den Hausfassaden und Mauern entlang der Straßen in Zukunft vermehrt zu finden sein werden.“

Die Katastrophe vor der Linse

Von einem solchen Boom kann Detroit nur träumen. „Der Verfall der Stadt hat bereits in den Fünfzigerjahren begonnen“, sagt der Berliner Fotograf Dawin Meckel (34). Mit seiner Arbeit Down Town hat er beim Architekturfotografie-Preis den 2. Platz belegt (ex aequo mit dem Schweizer Paul Duri Degonda). „Doch seit der Ölkrise und seit der letzten Finanzmarktkrise bietet sich in Detroit ein Bild der Zerstörung wie noch nie.“

Zwischen 1950 und 2000 ist die Bevölkerung, einst 1,9 Millionen Einwohner, um 50 Prozent geschrumpft. Heute hat die ehemalige Automobil-City rund 720.000 Einwohner, Tendenz weiterhin fallend. „Die meisten Häuser in der Downtown sind vernagelt und stehen leer, aus den Asphaltritzen wächst Gras, und manchmal ist weit und breit niemand zu sehen“, so Meckel. Der Zustand der Stadt ist erschreckend, die Stimmung ist bedrückend. Für die Linse jedoch sind die Motive perfekt.

„Detroit ist eine Stadt im Dazwischen“, erklärt Meckel. „Bis heute ist ihr der Sprung von der einstigen Wirtschaftsmetropole zur US-amerikanischen Durchschnittsstadt noch nicht geglückt.“ Ein rigoroses Umdenken sei unausweichlich: „Detroit wird sich neu erfinden müssen. Die Industrie hat hier keine Zukunft. Nun liegt es an den Bewohnern, nicht länger beim Verfall zuzusehen, sondern die bestehenden Flächenressourcen und Chancen möglichst intelligent zu nutzen.“ Wer weiß, vielleicht wird Detroit eines Tages jene grüne Stadt werden, von der Seoul nur träumen kann?

Wie sagte doch Henri Cartier-Bresson? „Fotografieren, das ist eine Art zu schreien, sich zu befreien ... Es ist eine Art zu leben.“

[ Die Ausstellung „Europäischer Architekturfotografie-Preis 2011“ ist im DAM in Frankfurt/Main bis 19. Juni zu sehen. Zur Ausstellung ist ein gleichnamiger Katalog erschienen (avedition Verlag, Ludwigsburg 2011), € 24,80. ]

Der Standard, Sa., 2011.05.07

23. April 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Schwammerl drüber

Der „Metropol Parasol“ in Sevilla spaltet die Gemüter. Doch eines ist sicher: Architekt Jürgen Mayer H. gelingt damit die Wiederbelebung eines totgeglaubten Platzes.

Der „Metropol Parasol“ in Sevilla spaltet die Gemüter. Doch eines ist sicher: Architekt Jürgen Mayer H. gelingt damit die Wiederbelebung eines totgeglaubten Platzes.

Der Plastikchristus sieht müde aus. Über ihm wackeln die Zweige eines abgesägten Olivenbäumchens. Im Hintergrund weint Maria viele, viele Tränen aus Pappmaché. Und überall Kandelaber, Kandelaber, Kandelaber.

Sevilla ist im Ausnahmezustand. In der Karwoche verwandelt sich die Hauptstadt Andalusiens in eine Bühne für leidenschaftliche Passionsspiele. Tausende sogenannter Nazarenos marschieren durch die Innenstadt, eingehüllt in spitz zulaufende Maskenhüte aus Samt, und tragen schwere, schwarze Kreuze auf den Schultern.

Am späten Nachmittag, gegen 15.30 Uhr, erreicht der religiöse Konvoi die Plaza de la Encarnación. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Während sich über den Platz der ganze Pathos römisch-katholischen Glaubens ergießt (Weihrauch überall), ragen darüber sechs überdimensionale narrische Schwammerln in den Himmel. Metropol Parasol nennt sich das futuristische Gebilde, das in rund 30 Metern Höhe schwerelos zwischen den Häusern wabert.

Carmen sitzt im Straßencafé, blickt gebannt auf die vorbeiziehenden Nazarenos und schiebt sich Oliven und Anchovis in den Mund. „Ich mag die Aussicht. Der Umzug ist dieses Jahr wieder ziemlich gelungen, aber die Parasole dahinter sind der Wahnsinn.“ Den Nachnamen und das Alter will die rund 70-jährige, rüstige Dame nicht verraten. „Was glauben Sie denn! Wenn meine Freundinnen und Bekannten lesen, dass mir die neue Platzgestaltung gefällt, dann werde ich noch an sozialer Vereinsamung zugrunde gehen!“ Zwei Oliven später: „Ja, ja, die neuen Parasole ... Man liebt sie oder man hasst sie. Ich liebe sie.“

Entstanden ist die Idee zur Neugestaltung der Plaza de la Encarnación bereits in den Achtzigerjahren. Die alte, heruntergekommene Markthalle aus dem Jahr 1842 war längst abgerissen und sollte durch einen Neubau ersetzt werden. Geplant war ein voluminöses Investorenprojekt mit Garage und Büros. Eines Tages wurden zu allem Überdruss die Marktstände aus den Plänen ausradiert. Die Bevölkerung tobte.

Als man in den Neunzigerjahren im Zuge der Fundamentarbeiten plötzlich auf ungeahnte archäologische Funde aus der Römerzeit stieß, war das für die Stadtregierung die Chance, ihren Fehler rückgängig zu machen und das unappetitliche Megaprojekt zu stoppen. 2003 wurde ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben. Bürgermeister Alfredo Sánchez Moteseirín wünschte sich eine moderne Markthalle und ein zeitgenössisches Wahrzeichen für die ganze Stadt.

Holzpilze aus einem Guss

Unter den rund 800 Teilnehmern ging Jürgen Mayer H. als Sieger hervor. Der Berliner Architekt nahm die Ausschreibung sehr wörtlich und entwickelte mit seinem Team eine organische Struktur, die sich in geschwungenen Linien nach oben entwickelt und zu einem 5000 Quadratmeter großen Dach zusammenwächst. Um das Ding nicht nur leichter, sondern auch baubar zu machen, wurde die gesamte Struktur in 1,50 mal 1,50 Meter große Pixel aufgelöst.

Die größte Überraschung ist das Material. Entgegen ihrer Anmutung sind die karierten Pilze zum überwiegenden Teil nämlich nicht aus Stahl, sondern aus Holz. Rund 3000 Kubikmeter finnischer Fichte wurden in den sechs Strünken und Dächern verbaut. Anschließend wurden die Bauelemente mit einer Schicht aus cremefarbenem Polyurethan (PU) überzogen. Das monochrome PU dient nicht nur dem Witterungsschutz, sondern auch der Optik: Metropol Parasol wirkt wie aus einem Guss.

„Holz ist für uns ein praktischer Werkstoff mit vielen Vorteilen, nicht mehr und nicht weniger“, erklärt Projektleiter Andre Santer im Gespräch mit dem Standard. „Wir glauben nicht, dass man den Baustoff um jeden Preis in den Vordergrund rücken muss. Das ist ein Denken, wie es in der Moderne vorgeherrscht hat. Doch die Moderne ist lange vorbei.“

Viel wichtiger war es, die Skulptur und den dadurch neu entstandenen Stadtraum zu inszenieren. „Ganz ehrlich: Wir sind mit vielen Details, wie sie von der spanischen Baufirma ausgeführt wurden, sehr unzufrieden“, meint Santer. „Aber wir haben erkannt, dass es bei diesem Projekt nicht nur um Architektur geht. Wir reden hier von anderen Maßstäben. Hier geht es vor allem um neue Chancen für die Bevölkerung.“

Und die ist mit dem schattigen Schwammerl-Ensemble mehr als zufrieden. „Wissen Sie, Sevilla ist eine tolle Stadt, aber es gibt hier nicht viel Platz für Neues“, sagt Antonia Gonzales, Metzgerin im neuen Markt im Erdgeschoß, Stand 28. „Endlich gibt es ein Projekt, das das historische Stadtviertel nicht nur für Touristen interessant macht, sondern auch wieder für uns Einheimische. Und glauben Sie mir! Das Leben auf der Plaza de la Encarnación hat sich in den letzten Wochen dramatisch verändert.“

Und der Obst- und Gemüsehändler Domingo Alcantarilla, Stand 22, meint: „Die Neugestaltung der Plaza de la Encarnación war ein jahrzehntelanges Politikum. Ewig lang wurde diskutiert und gestritten. Und dann sieht so der Kompromiss aus? Was will man mehr!“ - Ein paar Erdbeeren auf die Waage. - „Aber ich kann nachvollziehen, dass die Parasole nicht allen gefallen.“

Demokratie in 30 Meter Höhe

Immer noch marschieren Bauarbeiter über den Platz. Während in der Markthalle und auf der darüberliegenden Plaza bereits reges Treiben herrscht, sind die Innenräume noch weitestgehend Baustelle. Die Baufirma Sacyr, die das Projekt die nächsten 40 Jahre betreiben wird, wirbt mit viel versprechenden Slogans: „A la altura de Sevilla“ und „Una nueva forma de ver Sevilla“ ist auf den Glasscheiben zu lesen. Nach Auskunft der Architekten ist ein Großteil der Geschäftslokale bereits vermietet. In wenigen Wochen wird eröffnet.

Das gilt auch für das archäologische Museum „Antiquarium“ und für das Restaurant in 30 Meter Höhe. Während man sich zum Studium der Antike in ein gläsernes Labyrinth ins Untergeschoß begibt, lockt der 400 Meter lange Skywalk auf dem Dach mit einem Rundumblick auf die ganze Stadt. Ursprünglich sollte hier ein Gourmet-Restaurant entstehen. Nun wird daraus eine riesige Tapas-Bar für Normalsterbliche. Auch das ist eine Form der Demokratie.

Rund 95 Millionen Euro ließen sich Baufirma und Stadtverwaltung den Spaß kosten. Ein Patzen Geld für so viele quadratische Löcher. „Das Projekt zieht Leute an, das Geschäft läuft wunderbar“, sagt José Guillén, der im Metropol Parasol eine kleine Bar betreibt. Künftig soll es noch mehr davon geben. „Die letzten 30 Jahre war dieser Platz ein Schandfleck im Herzen Sevillas. Endlich ist wieder was los.“

Kreuz auf die Schultern, Kapuze auf den Kopf, und weiter geht die Prozession. Die Regionalzeitung El Correo de Andalucía veröffentlichte am Dienstag eine Karikatur. Sie zeigt ein paar Nazarenos, eingewickelt in historische Roben, im Hintergrund ein kariertes Etwas aus einer anderen Welt. Die Zeichnung ist nicht besonders schmeichelnd. Doch sie beweist, dass in Sevilla die zeitgenössische Architektur wieder auferstanden ist. Ein Impuls für viele andere Städte. Der Rest ist Geschmackssache.

Der Standard, Sa., 2011.04.23

02. April 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Aus Liebe zur Architektur

Seit wenigen Tagen ist es bekannt: Der Pritzker-Preis 2011 geht an den portugiesischen Architekten Eduardo Souto de Moura. Ein Gespräch.

Seit wenigen Tagen ist es bekannt: Der Pritzker-Preis 2011 geht an den portugiesischen Architekten Eduardo Souto de Moura. Ein Gespräch.

Standard: Vor wenigen Tagen haben Sie erfahren, dass Sie Pritzker-Preis-Träger 2011 sind.

Souto de Moura: Ja, ich habe einen Anruf erhalten. Und man hat mir mitgeteilt, dass man mir den Pritzker-Preis verleihen wird. Ich konnte es kaum glauben!

Standard: Hätten Sie je daran gedacht, eines Tages den Preis zu bekommen?

Souto de Moura: Doch, einmal. 2005 hätte ich beinahe den Mies-van-der-Rohe-Preis für Europäische Architektur bekommen. Ich war einer der Finalisten und habe den Preis nur knapp verfehlt. Damals dachte ich mir: „Verdammt, jetzt hätte ich aber schon gerne gewonnen! Vielleicht wird's ja noch was mit dem Pritzker!“ Doch die Hoffnung währte nicht lange.

Standard: Aber jetzt!

Souto de Moura: Ja, aber fragen Sie mich jetzt bloß nicht, warum ich glaube, dass der Preis ausgerechnet an mich geht. Ich habe keine Ahnung.

Standard: Das britische Webportal e-architect bezeichnet Sie und Álvaro Siza Vieira als „größte portugiesische Architekten des 20. Jahrhunderts“, während Büros wie etwa ARX, Embaixada, Arquitectos Anónimos oder Kaputt als Vorreiter des 21. Jahrhunderts genannt werden.

Souto de Moura: Ich bin entsetzt. Ich bin kein Architekt des vo- rigen Jahrhunderts. Ich bin ein Architekt des nächsten Jahrhunderts!

Standard: Was macht Sie zu einem derart modernen Menschen?

Souto de Moura: Ich arbeite gerne mit neuen Materialien und neuen Erkenntnissen in der Architektur. Ich setze mich gerne mit Räumen auseinander. Und ich genieße es, von einem Projekt zum nächsten neu dazuzulernen. Wissen Sie, ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich ein Architekt des nächsten Jahrhunderts bin. Wahrscheinlich gibt es Menschen, die der Zukunft näherstehen als ich. Aber wer nicht zumindest danach trachtet, in die Zukunft zu blicken, sondern stattdessen lieber in die Vergangenheit schaut, der ist für diesen Beruf nicht geeignet.

Standard: Die Pritzker-Jury bezeichnet Sie als einen Architekten voller Intelligenz und Ernsthaftigkeit. Da sei nichts offensichtlich, nichts frivol und nichts pittoresk.

Souto de Moura: Das klingt gut! Aber ich mag diese Kategorisierungen nicht. Immerzu wird man in eine Box gesteckt. Selbst wenn man zu einem Wettbewerb eingeladen wird, kann es passieren, dass der Auslober einem dann sagt: „Wir erwarten uns, dass Sie mit Stein arbeiten. So wie Sie das immer machen. Auf keinen Fall anders!“ Das kann ich nicht. Da bin ich der Falsche.

Standard: Wie einfach fällt es Ihnen, den ersten Strich zu setzen?

Souto de Moura: Ich entwerfe sehr gerne, aber manchmal brauche ich zehn Anläufe, bis mich ein Entwurf zufriedenstellt. Auf Anhieb klappt das meistens nicht. Ganz im Gegenteil: Ich bin einer, der ewig lang Vorteile und Nachteile gegeneinander abwiegt und relativ lange braucht, um eine Entscheidung zu fällen. Auf der Baustelle kommt es dann eh ganz anders.

Standard: Wie zum Beispiel?

Souto de Moura: Ein Beispiel: Beim U-Bahn-Bau in Porto mussten zwangsläufig einige Bäume gefällt werden. Es ging nicht anders. Daraufhin wurde ich von den Leuten als Baummörder bezeichnet. Bei meinem nächsten Projekt, dachte ich mir, werde ich das auf jeden Fall wiedergutmachen. Und so habe ich das Historische Museum Paula Rego in Cascais so konzipiert, dass durch den Bau des Gebäudes kein einziger Baum gefällt werden musste. Ich war sehr konsequent. Zu konsequent. Denn man hat vor lauter Bäumen vom Museum kaum noch etwas gesehen, und das, obwohl das Gebäude so rot ist! Also habe ich diese zwei charakteristischen Pyramidenstümpfe draufgesetzt. Das sind zwei kaminartige Lichtöffnungen, die wie Zipfelmützen auf dem Haus sitzen.

Standard: Und dann?

Souto de Moura: Nachdem das Projekt fertiggestellt war, kamen die Botaniker und haben befunden, dass all die Bäume, auf die wir mühsam Rücksicht genommen haben, importiert sind und in diesem wunderbaren Garten eigentlich nichts verloren haben. Sie haben gemeint, das sei eine ortsfremde Spezies. Daraufhin haben sie all die Bäume abgesägt. So weit reicht Fremdenhass! Schauen Sie sich einmal an, wie nackt das Haus heute dasteht. Der Entwurfsprozess ist in keinster Weise mehr nachvollziehbar. Unmöglich! Eigentlich ist die Geschichte ja eh ganz lustig.

Standard: Was lernen wir daraus?

Souto de Moura: Konzepte sind das eine, Resultate das andere. Manchmal haben Entwurf und Wirklichkeit nichts miteinander zu tun.

Standard: Sie mögen also keine Konzepte?

Souto de Moura: Nein, ich mag Konzepte ganz und gar nicht. Meinen Studenten auf der Uni sage ich immer: Leute, Konzepte sind zwar wichtig, aber sie interessieren mich nicht. Ich will fix-fertige und umgesetzte Ideen sehen.

Standard: Arbeiten Sie mit dem Computer oder mit Bleistift und Papier?

Souto de Moura: Immer mit Bleistift und Papier. Nein, das stimmt eigentlich gar nicht! Erst kürzlich habe ich mir ein iPad gekauft. Das ist ein wunderbares Ding, das für so Deppen wie mich entwickelt wurde. Ich habe mir eine App installieren lassen, bei der ich direkt auf dem Touchpad freihändig Skizzen machen kann. So kann ich die Zeichnung direkt ans Büro schicken, wo sie meine Mitarbeiter dann gleich umsetzen können.

Standard: Das ist effizient.

Souto de Moura: Effizienz ist ein wichtiges Thema geworden. Leider! Die wirtschaftlichen Zwänge im Bauen sind groß, und sie werden immer größer. Wenn ich mich an meine Anfänge zurückerinnere, da konnte man es sich noch leisten, langsam zu arbeiten und jedes einzelne Detail genau zu planen, da konnte man es sich noch leisten, eine Mauer aus Steinen aufzubauen. Diese Zeiten sind vorbei. Das kann sich heute niemand mehr leisten. In gewisser Weise ist das ein kultureller Verfall.

Standard: Was tun Sie dagegen?

Souto de Moura: Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder Sie bleiben sich selbst treu und lehnen dankend ab, aber dann werden Sie höchstwahrscheinlich verhungern. Oder aber Sie stellen sich der Situation, sind bereit, Kompromisse einzugehen, und machen das Beste daraus. Ich nenne diese Lösung gerne auch: Prostitution aus Liebe zur Architektur.

Standard: Zu welcher Gruppe gehören Sie?

Souto de Moura: Lassen Sie mich diese Frage mit einer Anekdote beantworten. Vor einiger Zeit kam ein Bauherr zu mir. Er wollte ein Grundstück im Norden Portugals bebaut haben. Und dann hat er gesagt: „Aber du musst schnell machen! In einer Woche kommt der Premierminister in diese Gegend, und da brauchen wir schon einen fix-fertigen Entwurf.“ Eine Katastrophe!

Standard: Sie haben zugesagt?

Souto de Moura: Natürlich! Ich liebe die Architektur.

Standard: Abschlussfrage: Wissen Sie schon, was Sie mit den 100.000 Dollar machen werden?

Souto de Moura: Das ist viel Geld. Ich habe noch keine konkrete Idee. Ich weiß nur eines: Ich werde die 100.000 Dollar sicher nicht auf die Bank legen, sondern werde mir dafür etwas Schönes kaufen, am liebsten etwas Physisches, ein Bild oder eine Skulptur. Irgendein Ding, das ich angreifen kann und das mir leise zuflüstern wird: Eduardo, das war das Geld vom Pritzker-Preis.

Eduardo Souto de Moura (58) studierte Architektur an der Escola Superior de Belas Artes do Porto. In seinen jungen Jahren arbeitete er bei Álvaro Siza Vieira. Neben einigen Wohnbauten und Einfamilienhäusern plante er u. a. das Kulturzentrum in Porto (1991), den portugiesischen Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover, das Fußballstadion in Braga (2003) sowie das Museum Paula Rego in Cascais (2009). Souto de Moura, nach Siza Vieira bereits der zweite ausgezeichnete Portugiese, wird am 2. Juni den mit 100.000 Dollar dotierten Pritzker-Preis in Washington, D. C., entgegennehmen.

Der Standard, Sa., 2011.04.02



verknüpfte Akteure
Souto de Moura Eduardo

21. März 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Die ewige Baustelle

Der Stephansdom ist im Lauf der Jahrhunderte stetig gewachsen - Die Ausstellung „Der Dombau von St. Stephan“ im Wien-Museum macht das anhand von Originalplänen sichtbar

Der Stephansdom ist im Lauf der Jahrhunderte stetig gewachsen - Die Ausstellung „Der Dombau von St. Stephan“ im Wien-Museum macht das anhand von Originalplänen sichtbar

Der Stephansdom ist einzigartig. Nicht nur der gebaute, sondern auch der gezeichnete. Von keinem anderen gotischen Dombau in Europa ist bis heute eine derart große Zahl an Plänen erhalten geblieben. Der Bestand, aufgeteilt auf Wien-Museum und Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste, umfasst 294 Pläne mit insgesamt 440 Zeichnungen. Meist wurden die wertvollen Pergamente auf beiden Seiten benützt.

So ein Reichtum will gefeiert werden. Erstmals wird ein Teil der Pläne im Wien-Museum in Form einer umfassenden Ausstellung zugänglich gemacht. Der Dombau von St. Stephan. Die Originalpläne aus dem Mittelalter zeigt die gesamte Entstehungsgeschichte des großen Domes auf - vom Entwurf der kleinen Kreuzblume hoch oben im Gewölbe bis hin zu Aufrisszeichnungen des 1433 fertiggestellten Südturms, der mit 137 Metern 300 Jahre lang das höchste Bauwerk Europas war.

„Die Planrisse waren ein ganz wesentliches Kommunikationsmedium zwischen Bauherrn und Baumeister“, sagen die Ausstellungskuratorinnen Michaela Kronberger und Barbara Schedl. „Sie dienten zur Vorlage bei Geld- und Auftraggeber, die maßgeblich am Erscheinungsbild des Baues beteiligt waren.“ Selbst das kleinste Ausstattungsgut des Gebäudes ist in den Plänen dargestellt.

Der größte bis heute erhaltene Plan ist rund fünf Meter lang. Er zeigt einen Aufriss des niemals fertiggestellten Nordturms, entstanden 1465. Während der Pergamentbogen so breit ist wie die größte damals erhältliche Kälberhaut, musste der Plan in der Länge mühsam gestückelt werden. Die Präzision des Zeichners, der mit Reißfeder und Zirkel die schwarze Tinte auf dem Pergament verewigte, kommt an die Akribie heutiger Tintenstrahldrucker heran. Gute Strichführung.

„Man könnte solche unschätzbar wertvollen Planzeichnungen aufgrund ihrer Schönheit heute als Kunstwerke betrachten“, meint Museumsdirektor Wolfgang Kos. Tut man auch. 2005 wurden die grafischen Quellen, aus denen man Rückschlüsse auf die Baugeschichte von St. Stephan ziehen kann, von der Unesco zum Weltdokumentenerbe erklärt.

Zum Repertoire der Ausstellung gehören neben den Plänen alte Zeichen- und Bauwerkzeuge, historische Fotografien sowie Fürstenfiguren und dämonische Wasserspeier als Kopie und Original. Letztendlich bemüht sich die Ausstellung um eine Rekonstruktion der einzelnen Bauetappen.

Es bleibt beim Versuch. Denn anders als etwa die meisten großen Kathedralen Frankreichs sei der Wiener Stephansdom nicht nach einem einheitlichen, bis zur Vollendung festgeschriebenen Plan errichtet, sondern das Ergebnis einer ewigen Baustelle, schreibt der deutsche Kunstgeschichte-Professor Johann Josef Böker im Ausstellungskatalog.

Bonus: Für Kinder wurde eine eigene Spielstation eingerichtet. Hinter dem Schild „Achtung Baustelle!“ kann man auch als junger Besucher nachvollziehen, wie es das Hebelgesetz ermöglichte, hunderte Kilogramm schwerer Steine in die Höhe zu befördern. Ein Hamsterrad zum Selbstversuch steht bereit.

Der Standard, Mo., 2011.03.21

19. März 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Die Stadt in den Wolken

Nächste Woche findet in Wien die MIT Europe Conference 2011 statt. Einer der Vortragenden ist der italienische Architekt Carlo Ratti, Direktor des Senseable City Lab am MIT. Ein Ausflug in die digitale Stadt von morgen.

Nächste Woche findet in Wien die MIT Europe Conference 2011 statt. Einer der Vortragenden ist der italienische Architekt Carlo Ratti, Direktor des Senseable City Lab am MIT. Ein Ausflug in die digitale Stadt von morgen.

Standard: Sind Sie Stadtmensch oder Landei?

Ratti: Eine schwierige Frage um sieben Uhr in der Früh. Keine Ahnung, ich glaube, ich bin beides. Ich gehe gerne in den Weinbergen von Asti spazieren. Das ist in Piemont, nicht weit von Turin entfernt. Oder ich fahre zum Skifahren nach Salt Lake City oder nach Vermont.

Standard: Und was ist das Interessante an der Stadt?

Ratti: Die Stadt ist ein Platz für Tausende von Möglichkeiten. Mir gefallen die zufälligen Begegnungen auf der Straße, im Café, im Supermarkt. Unglaublich, wie viele schöne Bilder man auf diese Weise einfangen kann! Der britische Autor Horace Walpole hat im 18. Jahrhundert einen sehr schönen Begriff dafür geprägt: Serendipität. Das bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas nicht Gesuchtem, das sich dann aber als überraschende Entdeckung erweist. Ich mag diese Abenteuer.

Standard: 2004 haben Sie am MIT das Senseable City Lab gegründet. Was kann man sich darunter vorstellen?

Ratti: Das Senseable City Lab ist eine Gruppe von Forschern aus vielen Disziplinen, die darüber nachdenken, wie die Stadt von morgen aussehen kann. 30 Leute sitzen in Boston, zehn weitere in Singapur: Mathematiker, Physiker, Stadtplaner, Architekten, Designer, Soziologen und so weiter.

Standard: Und wie sieht sie aus, die Stadt von morgen?

Ratti: Es gibt drei Komponenten, die eine Stadt ausmachen: die menschliche, die räumliche und die technologische. Wichtig ist, dass sich alle drei Komponenten gleichmäßig und parallel weiterentwickeln. Nur dann können wir von einer funktionierenden Zukunftsstadt sprechen.

Standard: Das heißt, wir sprechen hier ausschließlich von hoch entwickelten Städten?

Ratti: Keineswegs! Es mag eigenartig klingen, aber es sind gerade die Städte in den Entwicklungsländern, die riesige technologische Sprünge durchmachen. Das Phänomen nennt sich Leap-Frogging (Bockspringen) und zeigt sich am besten in der Telekommunikation, in der eine Entwicklungsstufe einfach übersprungen wird. Zuerst hatten die Leute gar kein Telefon, heute haben sie ein Handy. Einen Festnetzanschluss kennen viele nicht einmal.

Standard: Heißt das, dass Städte in Entwicklungsländern für Forscher leichter zu handhaben sind?

Ratti: Auf jeden Fall! Es gibt weniger Variablen, die Systeme sind nicht so komplex, man kann besser planen.

Standard: Wie planen Sie?

Ratti: Le Corbusier hat von einer industriellen und mechanischen Revolution der Stadt gesprochen. Heute sind wir im Zeitalter der digitalen, technologischen und biotechnologischen Revolution. Es gibt Internet, es gibt Facebook, es gibt Twitter. Und all diese Kommunikationsformen beeinflussen die Stadtplanung und Gesellschaft mehr, als die meisten bereit sind zuzugeben. Wir müssen neue Wege des Zusammenlebens finden.

Standard: Ein Beispiel bitte!

Ratti: Ich vergleiche die Stadt von morgen gerne mit der Formel 1. Vor 20 Jahren haben Sie ein gutes Auto, einen guten Motor und einen guten Fahrer gebraucht, um zu gewinnen. Heute brauchen Sie auch ein gutes Überwachungssystem. Das gesamte Auto ist mit tausenden Sensoren ausgestattet, die in einer Zentrale kontrolliert werden und auf die Software und Mensch innerhalb weniger Sekundenbruchteile reagieren können. So ähnlich kann man sich das auch in der Zukunftsstadt vorstellen. Die moderne Großstadt wird mit unendlich vielen Sensoren ausgestattet sein. Sie wird funktionieren wie ein Formel-1-Wagen.

Standard: Digitale Beobachtung. Wollen wir das wirklich?

Ratti: Die Digitalisierung hat bestimmte Konsequenzen, und an die hat vor zwei Jahrzehnten noch niemand ernsthaft gedacht. Manche Leute rennen vor Streetview-Autos weg, weil sie mit ihrer Geliebten nicht gesehen werden wollen. Aber wir dürfen nicht vergessen: In der Senseable City geht es in erster Linie nicht um die Überwachung des Individuums, sondern um das Beobachten des Kollektivs und der dynamischen Ströme, um letztendlich eine intelligentere und besser funktionierende Stadt zu bauen.

Standard: Ein Aspekt ist die Mobilität.

Ratti: Das ist ein wichtiger Punkt! Im 20. Jahrhundert glaubte man an die Formbarkeit des Menschen durch das Auto. Heute sind wir klüger. Und trotzdem haben wir es noch immer nicht geschafft, zur Gänze auf öffentlichen Verkehr umzusteigen. Und warum nicht? Obwohl wir wissen, dass Massentransportmittel intelligenter, sauberer und vielfach auch schneller sind, können wir uns nicht zu 100 Prozent auf sie verlassen. Manchmal warten wir 20 Minuten auf einen Bus. Das macht uns nicht glücklich.

Standard: Was tun?

Ratti: Wir können diesem Problem mit „real time technologies“ zuvorkommen. Dabei wissen wir zu jedem Zeitpunkt ganz genau, wo sich der Bus oder die Straßenbahn gerade befindet. Je nach Verkehrssituation kann man die Route verlegen oder mit anderen Transportmitteln befahren. So könnte sich der öffentliche Verkehr die Vorteile des Individualverkehrs zunutze machen. Eine andere Möglichkeit sind Car-Sharing-Systeme und Mobility-on-Demand. Boston war die allererste Stadt, in der dieses Modell umgesetzt wurde. Mittlerweile gibt es die sogenannten Zipcars in vielen Städten in den USA. Jetzt sind auch Peking und Schanghai interessiert.

Standard: Mit „CO2GO“ kann man sogar den eigenen CO2-Verbrauch überprüfen. Funktioniert das?

Ratti: Viele Menschen besitzen ein Smartphone. Und jedes Smartphone ist gleichzeitig ein Bewegungssensor. Bei unserem jüngsten Projekt „CO2GO“ kann man am Ende des Tages sehen, wie viele Kalorien man aufgrund der unterschiedlichen Fortbewegungsmittel verbraucht hat und wie groß dabei der CO2-Verbrauch war. Damit kann man den ökologischen Fußabdruck eines Menschen im Alltag sehr leicht veranschaulichen. Die Grundstruktur ist bereits fertig. Nächstes Jahr soll „CO2GO“ auf den Markt kommen.

Standard: Eines der größten Projekte am MIT Senseable City Lab ist „The Cloud“ in London, die für die Olympischen Spiele 2012 entwickelt wurde.

Ratti: Die Idee war, für die Olympischen Spiele ein Symbol zu kreieren, das sowohl physisch als auch digital ist. „The Cloud“ ist ein Beispiel dafür, wie sich die digitale Welt, mit der wir uns am MIT beschäftigen, auch physisch manifestieren kann.

Standard: Und zwar wie?

Ratti: Die Wolke besteht aus Membranblasen aus dünner ETFE-Folie. Über einen Turm in Form einer spiralförmigen Rampe gelangt man zu Fuß nach oben, wo man durch die unterschiedlichen Blasen wandern kann. Diese wiederum sind eine Mischung aus physischer und digitaler Welt. Man kann einerseits auf die Stadt hinunterblicken, andererseits kann man sich über Augmented Reality auch in virtuelle Welten begeben. Das ist ein schönes Wechselspiel.

Standard: Das klingt wie Utopie!

Ratti: Ja und nein. Es ist unklar, ob das Projekt bis 2012 fertig sein wird. Ich fürchte, wir werden es erst bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro realisieren können. Sie haben schon recht: Natürlich wird die realisierte Wolke nicht 1:1 dem geplanten Entwurf entsprechen. Wir werden höchstwahrscheinlich eine reduzierte Variante um 10 Millionen US-Dollar errichten.

Standard: Das heißt, die Realität hinkt den Forscherplänen hinterher?

Ratti: Eine der wichtigsten Quellen des menschlichen Fortschritts ist die Forschung, ist das intellektuelle Denken über den Tellerrand hinaus. Wenn man zu dieser Entwicklung etwas beitragen will, dann muss man immer mit einem Traum anfangen.

Der Standard, Sa., 2011.03.19

16. März 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Meister mit Pinsel und Lineal

Das schwarze Gewand macht ihn unverkennbar zu einem Teil des österreichischen Architektenkollektivs, das rote Halstuch hebt ihn genauso unverkennbar wieder...

Das schwarze Gewand macht ihn unverkennbar zu einem Teil des österreichischen Architektenkollektivs, das rote Halstuch hebt ihn genauso unverkennbar wieder...

Das schwarze Gewand macht ihn unverkennbar zu einem Teil des österreichischen Architektenkollektivs, das rote Halstuch hebt ihn genauso unverkennbar wieder heraus. Ähnlich verhält es sich mit seiner Kunst und Architektur. Heinz Tesar (71), Preisträger des Großen Österreichischen Staatspreises 2011, lässt sich mit seinem Tun und Schaffen schwer in vorgefertigte Schubladen stecken.

„Es hat viele Jahre gedauert, bis ich beim Bauen gelandet bin“, sagt der gebürtige Innsbrucker. „Ich wusste lange nicht, was ich studieren und machen sollte.“ Also zog er nach Beendigung der Bundesgewerbeschule für Hochbau in Innsbruck einige Jahre mit einem befreundeten italienischen Schriftsteller durch Italien, sammelte Eindrücke in Rom und Florenz, lernte die Kunst der Antike, der Renaissance und des Barock lieben.

„Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich Maler werden würde. Doch am Ende war mir klar, dass ich als Architekt mehr bewirken kann.“ Also studierte er Architektur bei Roland Rainer an der Akademie der bildenden Künste. Der Wechsel von der Leinwand zum Reißbrett fiel ihm schwer. Nach dem Studium setzte sich Tesar mit Embryobildern, Homotypen und sogenannten Weichmonumenten auseinander, 1970 folgte in der Galerie im Griechenbeisl die erste Kunstausstellung.

Doch letztlich siegte die Baukunst. Zu seinen bekanntesten Projekten zählen das Keltenmuseum in Hallein (1992), das Museum Sammlung Essl in Klosterneuburg (1999), der Umbau des Bode-Museums in Berlin (2005), das BTV-Stadtforum in Innsbruck (2006), die IST-Lecture-Hall in Maria Gugging (2009) sowie etliche Kirchen, etwa der römisch-katholische Würfel Christus, Hoffnung der Welt in der Donau-City in Wien, die Evangelische Kirche in Klosterneuburg und der kürzlich fertig gestellte Altartisch in der Salzburger Johannsspitalkirche.

Das Herumwandern zwischen Kunst und Architektur ist Tesar bis heute erhalten geblieben. Er ist ein Lichtbildhauer, seine Gebäude wirken wie Skulpturen, immer wieder taucht die Form des Kreises auf: „Im Kreis liegt die Unendlichkeit.“

Heinz Tesar, der seit zwölf Jahren verwitwet ist und einen Sohn hat, wird den mit 30.000 Euro dotierten Staatspreis am 27. Juli in Salzburg entgegennehmen. Er wird sich zu diesem Anlass wohl ein rotes Tuch um den Hals binden. „Ich habe keine andere Wahl“, sagt er: „Ich kann keine Krawatten binden. Das habe ich nie gelernt.“

Der Standard, Mi., 2011.03.16



verknüpfte Akteure
Tesar Heinz

12. März 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Runde Sache

Am Samstag wird das Tirol Panorama eröffnet - Das Rundgemälde hat ein neues Zuhause und Innsbruck ein neues Museum

Am Samstag wird das Tirol Panorama eröffnet - Das Rundgemälde hat ein neues Zuhause und Innsbruck ein neues Museum

Es ist Samstag, Abend. Das bayerisch-französische Heer hat vor der Stadt die Zelte aufgeschlagen und macht sich bereit, Innsbruck anzugreifen. Der Kampf gilt den aufmüpfigen Tirolern, die sich partout weigern, Steuererhöhungen, Wehrpflicht und religiöse Diktion zu erdulden und weiterhin Teil des Bayerischen Königreichs zu sein. Dicke Luft.

Am nächsten Morgen ist es so weit. Unter der Führung von Marschall Lefebvre bricht die Infanterie zum Bergisel auf und metzelt nieder, was ihr in den Weg kommt. In den Abendstunden schließlich, nachdem die Schlacht ihren Höhepunkt erreicht hat, bleibt den Aggressoren keine andere Wahl als zu kapitulieren. Es mangelt an Munition und Energie.

Dank der Führerschaft von Andreas Hofer ziehen sich die Bayern bis auf weiteres wieder zurück. Die dritte Bergiselschlacht am 13. August 1809 geht in die Geschichte ein und wird rund hundert Jahre später vom Münchner Alpen- und Panoramamaler Michael Zeno Diemer auf die Leinwand übertragen. Es ist eine romantisierte und touristisch auffrisierte Momentaufnahme.

Seit heute, Samstag, hat das Innsbrucker Rundgemälde ein neues Zuhause. „Das neue Museum am Bergisel ist mit Sicherheit einer der wichtigsten Kulturbauten der letzten Jahre“ , sagt Benno Erhard, Projektleiter in der Kulturabteilung des Landes Tirol. „Es ist nicht nur ein schönes und modernes Gebäude, sondern auch die einzige Möglichkeit, das Rundgemälde, das bis vor kurzem in der alten, baufälligen Rotunde untergebracht war, nachhaltig zu sichern.“

Während die mittlerweile verwaiste Holzrotunde am Inn unter Denkmalschutz steht, bläst sich der Neubau am Bergisel zu einer inhaltlich mächtigen, aber optisch sachlich zurücknehmenden Kiste mit einem herrlichen Ausblick auf das Innsbrucker Stadtpanorama auf. Glas, Stahl, Beton - so hochwertig komponiert wie man das von der Tiroler Architektenschaft seit Jahren gewohnt ist.

„Das Wichtigste an diesem Haus ist der Aufbau“ , erklärt Architekt Philipp Stoll vom planenden Büro stoll wagner. Es konnte sich 2006 in einem EU-weiten offenen Wettbewerb unter insgesamt 74 Teilnehmern als Sieger durchsetzen. „Wir wollten den Zylinder für das Rundgemälde nicht wie einen fetten Gasometer mitten in den Park stellen, sondern haben das Volumen in eine bestehende Geländemulde integriert.“

Über der massiven, rund 30 Meter breiten Betonbüchse, die bullig in der Erde steckt, balanciert nun, mit präzisem Strich in die Landschaft skizziert, eine gläserne Vitrine mit 66 Meter Länge und 40 Meter Breite. Kein Gramm Fett zu viel.

Während man sich außen an den farbenfrohen Spiegelungen des Andreas-Hofer-Denkmals, der Bergisel-Sprungschanze von Zaha Hadid und der weiß gezuckerten Nordkette erfreut, eröffnet sich innen ein riesengroßes, luftiges Nichts. Wie angenehm: Man wird nicht schon an der Schwelle mit verrosteten Bajonetten, ausgestopften Luchsen und diversen anderen Memorabilien niedergemetzelt, sondern kann erst einmal in Ruhe tief Luft holen.

Ruhe auf der Rolltreppe

Nach dem Lösen der Eintrittskarte wandert man langsam an der Glasfassade entlang. Dramatische Kulisse. Geschnitzte Holzfiguren des Südtiroler Bildhauers Willy Verginer bieten einen ersten Vorgeschmack auf 1809. Über eine winzig schmale Rolltreppe fährt man schließlich runter in den Berg. Drängeln und Überholen unmöglich, hier gemahnt die Architektur an Ruhe und Gemächlichkeit.

Eine Dauerausstellung zu den Themen Natur, Volkskunde und Religion, vor der man sich unter normalen Umständen furchtbar gruseln müsste, lädt zum Auskundschaften ein. Der Stuttgarter Ausstellungsplaner HG Merz hat es geschafft, das wahrlich undankbare Themenpotpourri interessant und witzig zu gestalten. Da hängt eine Seilbahngondel aus den Fünfzigerjahren neben einem High-Tech-Skischuh aus der Gegenwart, da liegt ein kantiger Quarz neben einer Flasche Enzianschnaps, da sitzt ein Braunbär neben einem schnuckeligen Bauernhausmodell.

„Um solche Themen kümmert man sich viel zu wenig“ , sagt HG Merz im Gespräch mit dem Standard. Und wenn, dann sei in der Regel so wenig Herzblut dabei, dass die Zusammenstellung der Exponate provisorisch und peinlich kitschig erscheine. „Hier zeigen wir alles nebeneinander. Der Besucher zappt sich durch.“

Noch eine Rolltreppe. An der untersten Stelle des Gebäudes schließlich befindet sich der Zugang in die Gemälde-Rotunde. Plötzlich weicht die sonst schlichte Farbgestaltung des Museums einem blutigen Rot, man wittert Gewalt, die Schlacht ist nicht weit.

Diemers tausend Quadratmeter großes Panoramabild hat den Umzug aus der alten Rotunde schadlos überstanden. Die Zuluft, die aus einem alten Luftschutzstollen aus dem Zweiten Weltkrieg angesaugt und über Wärmetauscher auf die gewünschte Temperatur gebracht wird, soll das Öl auf Leinen langfristig schonen.

Fahler Beigeschmack

Wenn heute Vormittag Politiker und Projektbeteiligte große Reden schwingen werden, wird ein leichter Beigeschmack nicht wegzureden sein. „Das Rundgemälde und die hölzerne Rotunde am Rennweg waren bisher eine Einheit“ , sagt Werner Jud, Landeskonservator von Tirol. „In meiner Rolle als Denkmalpfleger bin ich mit der Trennung sehr unglücklich. Wenn man über diesen Umstand jedoch hinwegsieht, ist das neue Museum gewiss eine architektonisch spannende Hülle.“

Lange währte der Kampf zwischen Bundesdenkmalamt, Kulturschaffenden und Land Tirol. Translozierung ja oder nein? Beendet wurde die Diskussion in einer wie gewohnt wenig transparenten Entscheidung von Bundesministerin Claudia Schmied, indem sie sich gegen den Antrag von Bundesdenkmalamt und Landeskonservatorat stellte. Das war der Startschuss für das neue Tirol Panorama, wie das Museum heute heißt.

Sechs bis sieben Millionen Euro Baukosten wurden bei Projektbeginn 2006 genannt. Die Schätzung war mehr als optimistisch. Die größere Dimensionierung des Baus, die Sanierung des Kaiserjägermuseums, eine zusätzliche unterirdische Verbindung, ein neues Verkehrskonzept samt Parkraumbewirtschaftung, ein ungeplanter Grundankauf und nicht zuletzt verschärfte Energieanforderungen ließen die Baukosten auf 12,8 und die Gesamtinvestitionskosten auf über 25 Millionen Euro klettern. Eine glatte Verdoppelung.

Doch dafür hat das mit architektonischen Präziosen ohnehin schon reich bestückte Innsbruck eine Sehenswürdigkeit mehr. Den bisher tatkräftigen internationalen Kapazundern wie Dominique Perrault, David Chipperfield und Zaha Hadid stehen die Innsbrucker Architekten, die nun zum Zug kommen, die Landeshauptstadt zu gestalten, um nichts nach. Aufmüpfig und kämpferisch waren sie immer schon, die Tiroler.

Der Standard, Sa., 2011.03.12



verknüpfte Bauwerke
Das Tirol Panorama

23. Februar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Kurven wie aus einer virtuellen Welt

Zaha Hadids kühnes, neues Opernhaus im chinesischen Guangzhou wird eröffnet

Zaha Hadids kühnes, neues Opernhaus im chinesischen Guangzhou wird eröffnet

Guangzhou - Wenige Schritte vom Pearl River entfernt steht das neue Opernhaus der südchinesischen Millionenmetropole Guangzhou. Die Baustelle stand unter keinem guten Stern. 2009 zerstörte ein Feuer einen Teil des Gebäudes, einer 10.000 Tonnen schweren Stahlkonstruktion. Nach acht Jahren Bauzeit soll der 146 Millionen Euro-Bau der Londoner Architektin Zaha Hadid morgen, Donnerstag, eröffnet werden.

Wie zwei riesige Kieselsteine - der eine dunkel, der andere hell - steckt das Gebäude halb in der Wiese und halb im Wasser. „Das war unsere bisher komplizierteste Baustelle. Keine Wand steht vertikal am Boden, die vielen Kurven sehen aus wie Bilder aus einer virtuellen Traumwelt“, sagt Yao Mingqiu, Chef des Guangdong Guangjian Project Management.

Während im Foyer und Pausenraum die kühle Strenge von Stahl und Glas dominiert, entpuppt sich der Theatersaal als futuristische Schatulle, zurechtgeschleckt wie aus dem Windkanal. 1800 Sitzplätze fasst der golden lackierte Saal. Die Lüftungsschlitze und akustischen Perforierungen sind wie Schuppen eines Fisches in die Oberfläche integriert. „Unsere chinesischen Auftraggeber schreien förmlich nach Innovation“, sagt Architektin Zaha Hadid, die 2004 den Pritzker-Preis verliehen bekam. „Durch die rasante Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ist der Pioniergeist in diesem Land größer als irgendwo sonst.“

Und die Steine? „Ich bin nicht der Meinung, dass die neue Oper aussieht wie zwei Kieselsteine. Aber wenn dieses Bild dabei hilft, das Projekt im lokalen chinesischen Bewusstsein zu verankern, dann habe ich nichts dagegen einzuwenden.“

Der Standard, Mi., 2011.02.23

19. Februar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Holz, Haus, Heute!

Ein gewisser Pathos lässt sich nicht von der Hand weisen: „Holz ist buchstäblich so grün, wie Baumaterialien nur sein können“, schreibt Autor Philip Jodidio....

Ein gewisser Pathos lässt sich nicht von der Hand weisen: „Holz ist buchstäblich so grün, wie Baumaterialien nur sein können“, schreibt Autor Philip Jodidio....

Ein gewisser Pathos lässt sich nicht von der Hand weisen: „Holz ist buchstäblich so grün, wie Baumaterialien nur sein können“, schreibt Autor Philip Jodidio. „Da die strenge Moderne und vor allem der puristische Minimalismus aus der Mode gekommen sind, bevorzugen viele Architekten und Bauherren die vom Holz ausgehende Wärme und natürliche Wirkung.“ Doch zum Glück ist das Einleitungskapitel nach 14 Seiten überstanden, und es folgt eine Zusammenstellung der wohl schönsten und innovativsten Holzbauprojekte der letzten Jahre. Gezeigt werden nicht nur finnische Experimentalkonstruktionen und Behausungen aus Nippon, die einem die Sprache verschlagen, sondern auch ungewöhnliche Bauaufgaben wie etwa Schafställe, Teehäuser, kontemplative Hütten am Waldesrand und Strand - sowie das oben vorgestellte Büroprojekt in Cambridge. Eine Einladung zum Träumen.

Der Standard, Sa., 2011.02.19

19. Februar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Wiederbelebung en bloc

Von ein paar exotischen Ausrutschern in der Westukraine und im tiefsten Kanada muss man mal absehen. Ansonsten bietet Marc Wilhelm Lennartz - g'standenes...

Von ein paar exotischen Ausrutschern in der Westukraine und im tiefsten Kanada muss man mal absehen. Ansonsten bietet Marc Wilhelm Lennartz - g'standenes...

Von ein paar exotischen Ausrutschern in der Westukraine und im tiefsten Kanada muss man mal absehen. Ansonsten bietet Marc Wilhelm Lennartz - g'standenes Mannsbild, das aus dem Umschlagpapier mit Hemd und Hosenträgern herausgrinst - einen repräsentativen Querschnitt durch eine längst totgeglaubte Architekturtypologie. Während Blockhäuser aufgrund der einfachen Bauweise und der guten Dämmeigenschaften früher gang und gäbe waren, sind die massiv gezimmerten Hütten in den letzten Jahrzehnten allmählich ins mentale Abseits der Freiluft-Bauernhöfe abgedriftet. Lennartz unternimmt einen lehrreichen Rundgang durch die wenigen Blockneubauten, die an der Architekturfront auch heute noch wacker die Stellung halten - vom coolen Kubus bis zum knisternden Romantikchalet: „Solange es Wälder und Menschen gibt, so lange werden Häuser aus massivem Holz gebaut werden.“

Der Standard, Sa., 2011.02.19

19. Februar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

In der Höhle des Holzes

Holzbau? Kiste! Die alten Klischees sind nicht umzubringen. Ganz zu Unrecht, wie einige innovative Projekte und neue Bücher beweisen.

Holzbau? Kiste! Die alten Klischees sind nicht umzubringen. Ganz zu Unrecht, wie einige innovative Projekte und neue Bücher beweisen.

„Ich bin hier schon dutzende Male ein- und ausgegangen, doch das Beste ist für mich immer noch der Geruch“, sagt Mark Goulthorpe. „Man kommt hinein, holt tief Luft und fühlt sich in der Sekunde geborgen und daheim - ganz so, als würde man sich in einen weichen, gefütterten Lederhandschuh reinsetzen.“ Goulthorpe ist Architekt und Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, Boston, streicht mit der Hand über die Oberfläche: „Einfach perfekt. Das ist die Zukunft von Holz.“

Das Büro, das er vor kurzem für das US-amerikanische Unternehmen C Change Investments LLC fertiggestellt hat, ist eine futuristische Schatulle aus nachwachsenden Rohstoffen. Von außen sieht man dem heruntergewirtschafteten Büroklotz aus den Achtzigerjahren nichts an. Doch oben im Penthouse im 14. Stock schmiegt sich eine amorph geschwungene Holzhöhle an die kalten, kantigen Wände aus Beton.

„Die meisten Kunden, die hier reinkommen, glauben sofort, dass der Ausbau unglaublich teuer gewesen sein muss“, meint der Architekt, schüttelt verständnislos den Kopf, hebt die Augenbrauen. „Aber nein! Das ist ganz normales, handelsübliches Sperrholz aus dem Baumarkt. Wir haben es nur anders eingesetzt, als man es sonst kennt.“

Anstatt den Büroausbau millimetergenau zu planen, entwickelte Goulthorpe in Zusammenarbeit mit MIT-Kollegen einen Algorithmus, der die Form nach strengen mathematischen Vorgaben von allein generiert. „Wir haben lediglich vorgegeben, wo wir bestimmte Funktionen benötigen, wo ein Durchgang sein muss und wo wir Arbeitsplätze ansiedeln wollen. Den Rest macht das Programm.“

Anhand einer eigenen Software wurden die einzelnen Kurvenelemente daraufhin so angeordnet, dass der Verschnitt der rohen Sperrholzplatten auf ein Minimum reduziert wird. Goulthorpe: „Wenn Sie ein Einfamilienhaus bauen, so wie es in den USA zu Tausenden anzutreffen ist, dann haben Sie einen Verschnitt von rund 15 Prozent. Die Schnittreste werden einfach weggeschmissen. Ich finde das unverantwortlich.“

Beim hölzernen C-Change-Büro machte der Verschnitt circa 20 Prozent aus, was vor allem auf die gebogenen Formen zurückzuführen sei, so Goulthorpe. Doch dafür habe man sogar die Türgriffe aus Holz gefräst. Der restliche Müll wurde eingepackt und ans Sägewerk zurückgeschickt, wo es zum Antrieb der Maschinen verheizt wurde. „Auf diese Weise ist der Kreislauf wieder geschlossen“, erklärt der Architekt. „Das Projekt ist konsequent bis zum Schluss.“

Neue Technologien

Das Büro von C Change Investments LLC in Cambridge, Boston, ist nur ein Beispiel von vielen. Architekten und Ingenieure aus aller Welt setzen sich immer mehr mit dem Zellulosebaustoff auseinander und treiben die Technologien im Holzbau weiter voran.

Mehr noch als im Innenausbau sind die größten Neuerungen im Rohbau zu verzeichnen. Holzkonstruktionen mit 20 Stockwerken sind heute bereits denkbar - und das sogar unter Einhaltung sämtlicher Sicherheitsbestimmungen. In Berlin wurde vor drei Jahren ein achtstöckiges Holzwohnhaus errichtet. Und auf dem Pyramidenkogel in Kärnten soll ein Aussichtsturm mit 100 Metern Höhe entstehen - komplett aus Holz.

„Die Möglichkeiten im Holzbau sind heutzutage enorm“, sagt Kurt Zweifel von proHolz Austria. „Im Industriebau und bei Einfamilienhäusern ist Österreich schon recht umtriebig, nur im mehrgeschoßigen Wohnbau gibt es noch Handlungsbedarf. Während Deutschland und die Schweiz in den Städten bereits in Holz bauen, ist das Material in den österreichischen Ballungsräumen noch recht selten anzutreffen. Die Behörden zieren sich.“

Zweifel: „Innovative Projekte in Holz sind wichtige Zugpferde fürs ökologische Bauen, denn die Potenziale sind noch lange nicht ausgeschöpft.“ Ein Argument, das oft zu hören ist: Ja, wenn alle so bauen, dann gebe es ja bald keine Wälder mehr. Kurt Zweifel und Mark Goulthorpe unisono: „Diese Sorge ist unnötig. Der Baumnachwuchs ist weltweit um ein Vielfaches größer als die Entnahme.“

Laut Institut für Waldinventur betrug der Waldbestand in Österreich im Jahr 2009 rund 47,4 Prozent. 2002 waren es noch 46,6 Prozent. Anders ausgedrückt: In nur einer Sekunde wächst zwischen Bodensee und pannonischer Tiefebene ein Kubikmeter Holz nach. An einem Tag wäre das genügend Material, um mehr als 2000 Einfamilienhäuser zu bauen.

Der Standard, Sa., 2011.02.19

12. Februar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Ankick im Kühlschrank

Fußballspielen bei 45 Grad im Schatten? Die WM 2022 im Wüstenemirat Katar stellt die Architektur auf die Probe.

Fußballspielen bei 45 Grad im Schatten? Die WM 2022 im Wüstenemirat Katar stellt die Architektur auf die Probe.

Wenn im Sommer 2022 der Anpfiff zu den Fußball-Weltmeisterschaften ertönen wird, werden nicht nur die Bälle rollen, sondern auch die Schweißperlen auf der Stirn. Die Lufttemperatur wird 40 bis 45 Grad Celsius betragen. Vielleicht sogar mehr. Und zwar nicht nur untertags, sondern bis spät in die Abendstunden hinein, denn der Wüstensand wird glühend heiß sein und in der Nacht erst langsam wieder abkühlen, um am nächsten Tag, kaum dass er kalt geworden ist, neuerlich bei Backrohrtemperaturen zu garen.

Katar. Sommer für Sommer eine meteorologische Hölle auf Zeit. Doch geht es nach der Fifa und dem deutschen Architekturbüro Albert Speer & Partner (AS&P), das für die Masterplanung der gesamten WM 2022 zuständig ist, werden Fußballspieler und Zuschauer von dieser Hitze kaum etwas mitbekommen. Eine entsprechende architektonische Planung und ein ausgetüfteltes Kühlsystem wie aus einem kryonischen Alchimie-Kasten sollen dafür sorgen, dass die Innentemperatur in den Stadien angenehm kühl bleibt.

„Eine Fußball-WM in einem derart heißen Klima wie Katar abzuhalten ist für alle Beteiligten natürlich eine große Herausforderung“, meint Axel Bienhaus, Geschäftsführer bei AS&P. „Doch wir sind am richtigen Weg.“ Insgesamt müssen in den kommenden Jahren zwölf Stadien errichtet beziehungsweise adaptiert und aufgerüstet werden. Neben Norman Foster, der für das sogenannte Lusail Iconic Stadium verantwortlich zeichnet, liefert AS&P Entwürfe für fünf weitere Standorte.

Die Planung für all diese Mammutprojekte ist bereits im Bieterbuch enthalten. „Mit sieben Kilogramm Gewicht ist das Bid Book, das wir der Fifa präsentiert haben, umfangreicher als alles Bisherige“, sagt Bienhaus. „Wir haben darin nicht nur die Möglichkeiten und Schwierigkeiten skizziert, sondern haben bereits exakte Detailpläne ausgearbeitet, von der Stadtplanung über die öffentliche Verkehrserschließung bis hin zu möglichen Nachnutzungsszenarien.“

Kalte Luft durch Sonnenlicht

Das Hauptaugenmerk im Bieterbuch für Katar lag jedoch auf neuen Technologien, auf den vielen Tricks und Überlegungen, die dafür sorgen sollen, das extreme Klima des Wüstenemirats in den Griff zu kriegen. Die Zauberformel lautet solare Kühlung. „Katar hat nicht nur ein Überangebot an Öl und Gas, sondern auch an Sonne und Hitze“, so der Architekt. „Genau diesen Überschuss wollen wir uns zunutze machen.“

Und das geht so: Zwei Tage vor Spielbeginn werden die Stadien mit Dachelementen zugezogen. Die lichtundurchlässigen und stark reflektierenden Folien sollen dafür sorgen, dass direkte Sonneneinstrahlung verhindert wird und dass sich die Stahlkonstruktion auf diese Weise nicht zusätzlich aufheizt. Zu den Spielzeiten am Nachmittag und am Abend, wenn die Sonne längst weitergezogen ist, sollen Spielfeld und Tribünen wieder geöffnet werden. So viel zur passiven Kühlung.

Das aktive Runterfrösteln auf die von der Fifa festgesetzte Obergrenze von 27 Grad Celsius erfolgt durch den Einsatz von Solarthermie. Wie in einem Theater wird im Bereich der Sitzränge kalte Frischluft in die Tribünen gepumpt. Da kalte Luft schwerer ist als warme, strömt sie nach unten und bildet über dem Spielrasen einen riesengroßen Kaltluftsee.

„Jetzt müssen wir in zahlreichen Windsimulationen nur noch nachweisen, dass die Stadiondächer auch wirklich aerodynamisch sind“, sagt Axel Bienhaus. „Es bringt nichts, wenn wir es so weit geschafft haben, und dann zieht eine warme Böe ins Gebäude und schaufelt die kühle Luft mit einem Stoß wieder raus.“

Für die nötige Kälte sorgen Sonnenkollektoren - zu hundert Prozent ökologisch und ohne jeden Ausstoß von CO2, wie die beiden planenden Büros Transsolar (München) und Arup Associates (London) versichern. Angebracht werden diese auf den Parkplätzen rundherum (sie sollen gleichzeitig als Beschattung für die Autos dienen), auf den Stadiondächern selbst sowie - und das ist der größte Teil der Kollektoranlagen - auf riesigen Solarfarmen in der Wüste.

Der erste Probeanlauf ist bereits geglückt. Vor wenigen Wochen stellte Arup in Katar ein Show-case-Stadion mit 500 Sitzplätzen fertig. Erzielte Temperatur: erstaunliche 23 Grad Celsius.

Anhand dieses Dummys möchte man nun eine Reihe an unterschiedlichen Tests durchführen. Läuft alles nach Plan, will man die Resultate des kleinen Versuchszwergs in den kommenden Monaten auf die großen Giganten mit 40.000 Zuschauern und mehr hochrechnen.

1400 Quadratmeter Sonnenkollektor- und Fotovoltaik-Fläche werden für das Ministadion benötigt. In Reihen angebrachte Fresnel-Reflektoren bündeln das Licht und steigern auf diese Weise den Ertrag. Das System wurde am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) entwickelt. In Absorptionskältemaschinen wird die gewonnene Energie daraufhin unmittelbar in Kälte umgewandelt. Falls nötig, kann die Hitzeenergie in Tankanlagen, die sich direkt unter dem Stadium befinden, auch zwischengespeichert werden. Generatoren auf Basis von Biosprit stehen für den Notfall bereit.

Für die insgesamt zwölf Stadien mit weitaus größeren Ausmaßen muss man die Solarfarmen entsprechend größer dimensionieren. Der Aufwand ist gewaltig. Hinzu kommen Infrastruktur, öffentliche Verkehrsanbindung sowie die Neubauten und Umstrukturierungen der bestehenden Gebäude. Laut kürzlich veröffentlichtem Fifa Evaluation Report betragen die Gesamtinvestitionskosten für die WM 2022 rund drei Milliarden US-Dollar.

170.000 Gratis-Sitzplätze

„Die Stadien zur WM 2022 werden eine ganze Generation von regionalen und internationalen Sport-Events prägen“, gibt sich Scheich Mohammed bin Hamad bin Chalifa Al Thani, Vorsitzender der WM-Bietergruppe, sicher. „Eine derart umweltfreundliche Infrastruktur wird sich ohne jeden Zweifel auf die Stadien der Zukunft auswirken.“

Kritiker fragen: Wozu der ganze Aufwand? Architekt Axel Bienhaus antwortet: „Drei Milliarden Dollar sind viel Geld. Doch Katar kann sich diesen Aufwand mit Leichtigkeit leisten.“ Das merkt man auch an einem kleinen Passus, der im Bieterbuch enthalten ist: Nach Beendigung der WM, wenn die Fußballstadien rückgebaut und wieder verkleinert werden, möchte Katar die modularen Fußballtribünen an ärmere Länder verschenken. Ein großes Präsent: Die Rede ist von rund 170.000 Sitzplätzen.

Doch den wahren Erfolg von Katar 2022 sieht Bienhaus in jenen Investitionen, von denen das Land auch nach Ende der WM profitieren wird: „Wir errichten eine U-Bahn, wir bauen die Infrastruktur aus, vor allem aber bauen wir ein riesiges Sonnenkraftwerksnetz, das abseits der Fußballspiele die Hauptstadt Doha mit solarem Strom versorgen soll. Das ist ein nachhaltiger Gewinn für alle.“

Wüstenwahnsinn oder ökologisches Vorzeigeprojekt? Mit viel Glück könnte Katar ein Exempel für das zukünftige Leben in den Wüstenstaaten statuieren. So steht es zumindest in der Masterstudie „Qatar Vision 2030“.

Ob das gelingt oder ob hier nicht viel eher ein zweites Dubai in der Petrischale liegt, hängt nicht zuletzt von den wahren Visionen der Gastgeber ab. Die Chancen stehen besser als im Fußball. Fifa-Weltranglisten-Platz: 90.

Der Standard, Sa., 2011.02.12

08. Februar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Guckkasten mit Groschen und Trommeln

Annäherungen zwischen Kunst und Bau sind im „afo“, dem Architekturforum Oberösterreich, in Linz zu sehen.

Annäherungen zwischen Kunst und Bau sind im „afo“, dem Architekturforum Oberösterreich, in Linz zu sehen.

Schnell durchmarschieren und rücklings fadisiert wieder raus aus dem Raum. Das ist bei der aktuellen Ausstellung Unscharfe Grenzen im architekturforum oberösterreich (afo) ein Ding der Unmöglichkeit. Die erste Schau unter der Leitung der neuen Direktorin Gabriele Kaiser zwingt die Besucher in die Knie. Denn die kleinen Guckkästen, in die man hineinblicken muss, befinden sich nicht immer auf Augenhöhe. Da ist Körperarbeit und Museumsgymnastik angesagt.

Das passt zum Thema. Gezeigt werden nämlich Kunstprojekte im öffentlichen Raum, urbane Interventionen sowie Kunst am Bau. Und diese Auseinandersetzung mit Kunst ist nicht immer bequem.

„Wichtige Kombination“

„Kunst und Architektur ist eine sehr wichtige Kombination“, sagt der Ausstellungskurator Vitus Weh. „Denn in der Regel werden in der breiten Öffentlichkeit weder Kunst noch Architektur in einem zufriedenstellenden Maße wahrgenommen. Doch kaum bringt man diese beiden Disziplinen zueinander, fangen die Leute an zu reden, sich mit der Materie auseinanderzusetzen und Stellung zu beziehen.“

Wie zum Beispiel beim Groschenhaus in Aigen. Dabei haben die beiden Künstler Josef Wintersteiger und Joachim Eckl die Fassade eines 700 Jahre alten Markthauses in millimetergenauer Arbeit neu eingekleidet.

Nicht etwa mit Putz und Farbe, sondern mit 40.000 Zehn-Groschen-Münzen, die sie zuvor auf die Gleise der Mühlkreisbahn gelegt hatten und vom Zug überfahren ließen. Dermaßen platt- und langgewalzt ergaben sie das Baumaterial. „Eine wunderbare Arbeit“, meint Weh. „Das Haus ist in der gesamten Region bekannt.“

Meditationsraum

Oder die Intervention Ruhepol Mariendom von Tobias Hagleitner, Richard Steger und Gunar Wilhelm, die anlässlich von Linz09 entstanden ist. Mitten in der Rudigierhalle des Linzer Mariendoms wurde damals ein Meditationsraum eingerichtet.

Als Material dienten riesige Kabeltrommeln aus sägerauem Sperrholz und daraus ausgerollte Liegeteppiche aus weißem Textil. Mit wenigen Mitteln gelang es den Künstlern einen historischen und längst determinierten Raum völlig neu erlebbar zu machen.

Ein Erlebnis ist auch die Ausstellungsgestaltung vom Linzer Architektenduo „mia“. Sie besteht nicht aus großen Fotografien wie überall sonst, sondern aus kleinen, hinterleuchteten Dias, die wie in einer Camera obscura tief drinnen in den weißverfliesten Möbeln stecken.

Im konzentrierten Blick auf die Sache erkennt man bisweilen mehr als draußen auf der weiten Straße.

Der Standard, Di., 2011.02.08

05. Februar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

„Einpacken? Es geht um mehr!“

Wärmedämmen - das ist nur Schadensmilderung, meint Jakob Dunkl, Sprecher der Plattform für Architekturpolitik und Baukultur.

Wärmedämmen - das ist nur Schadensmilderung, meint Jakob Dunkl, Sprecher der Plattform für Architekturpolitik und Baukultur.

Standard: Bei der Klubenquete am Donnerstag haben alle gesprochen: Politiker, Bauträger, diverse Lobbyisten. Bloß die Architekten kamen nicht zu Wort. Wo waren die?

Dunkl: Die Architekten haben erst letzte Woche von dieser Enquete erfahren. In den Diskussionsblock am Ende der Veranstaltung mussten sie sich hartnäckig hineinreklamieren.

Standard: Wurden sie ignoriert?

Dunkl: Mir wurde gesagt, man hätte nicht an uns gedacht. Wenn das wahr ist, dann ist das eine ziemlich traurige Sache. Offenbar hat sich in der Politik noch nicht herumgesprochen, dass Architekten und Planer in der Baukultur einen wichtigen Part übernehmen. Am meisten bewirken kann man immer noch in der frühen Planungsphase. Hier anzusetzen, das wäre wahre Nachhaltigkeit.

Standard: Wenn vom N-Wort die Rede ist, dann meistens nur in Verbindung mit einer um sich wütenden Wärmedämmpolitik.

Dunkl: Wärmedämmung - das ist so ziemlich das Letzte, woran man beim Thema Nachhaltigkeit denken sollte. Es geht um mehr. Viel tiefgreifender, als ein Haus in Styropor einzupacken, ist etwa die Regionalplanung. Das Problem ist, dass die Bebauung in Österreich viel zu locker ist. Die meisten von uns leben in ihrem kleinen Häuschen mit Garten rundherum. Eine Frage: Wo brauche ich mehr Wärmedämmung? Beim Einpacken eines Einfamilienhauses oder beim Einpacken von zehn Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus? Sie haben's erraten! Ein Einfamilienhaus ist wesentlich aufwändiger.

Standard: Die Regierung hat eine Sanierungsoffensive gestartet. Für die kommenden vier Jahre stehen jeweils 100 Millionen Euro zur Verfügung. Reicht das?

Dunkl: Ob das reicht? Das sind nur zwölf Euro pro Einwohner. Nein, das reicht natürlich nicht.

Standard: Die Kritiker fordern 300 Millionen Euro pro Jahr.

Dunkl: Das geht schon in die richtige Richtung.

Standard: Dagegen ist wiederum Wirtschaftsminister Mitterlehner.

Dunkl: Er meint: Würde man mehr ins System hineingeben, zum Beispiel 300 Millionen Euro, könnte davon sehr viel ins Ausland abfließen. Das will er nicht, er will nämlich die Inlandskonjunktur ankurbeln. Das ist der Beweis: Hier geht es nicht um Ökologie, sondern um die Steigerung der Wirtschaft.

Standard: Mit dem aktuellen Tempo kommt man aber nicht weit. Die Sanierungsrate beträgt derzeit ein Prozent. Wenn wir dabei bleiben, sind alle zum heutigen Zeitpunkt sanierungsbedürftigen Häuser erst in 100 Jahren erneuert. Dann kann man wieder bei null anfangen.

Dunkl: Ja, das ist absurd. Wir drehen uns hier im Kreis. Wir können noch so viel fördern und noch so viel dämmen, aus diesem Teufelskreis kommen wir nie wieder raus.

Standard: Was tun?

Dunkl: Fördern und Dämmen - das ist nur eine Schadensmilderung. Langfristig sehe ich nur einen einzigen sinnvollen Ausweg, und der lautet Sensibilisierung. Der Fokus muss im Bereich Bildung und Aufklärung liegen. Wenn wir es schaffen, dass die Menschen von der ersten Schulstufe bis zur Erwachsenenbildung immer wieder mit dem Thema Architektur und Baukultur konfrontiert werden, so wie das etwa in Skandinavien der Fall ist, dann wird auch die Nachfrage nach Bauen und Wohnen eine intelligentere sein.

Standard: Woran scheitert's?

Dunkl: An den Legislaturperioden. So eine Investition in die Bildung lässt sich nicht so gut vermarkten. Das ist eine sehr langwierige Maßnahme. Bis die ersten Resultate ans Tageslicht treten, dauert's ein, zwei Generationen. Doch dafür bräuchte es auch keine 100 Jahre, bis die Baubranche dort angelangt ist, wo sie auch hingehört.

Der Standard, Sa., 2011.02.05

29. Januar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Innenstadtbelebung mit 20 Cent

Die Raiffeisen Landesbank Burgenland hat ein neues Headquarter. Der güldene Neubau könnte ein Impuls für die Revitalisierung des Eisenstädter Stadtzentrums sein.

Die Raiffeisen Landesbank Burgenland hat ein neues Headquarter. Der güldene Neubau könnte ein Impuls für die Revitalisierung des Eisenstädter Stadtzentrums sein.

Eisenstadt - Die halbe Innenstadt liegt im Koma. An der Esterházystraße reiht sich ein leerstehendes Lokal ans andere, Fensterscheiben sind zerschlagen, in den Auslagen nichts als Lurch und tote Insekten. Nur das Schnitzelhaus hält wacker die Stellung. Selbst in der Hauptstraße, der Hauptschlagader Eisenstadts, sind auf kurzer Strecke sieben Leerstände zu verzeichnen.

Viele Shops und Betriebe sind längst ins günstigere Gewerbegebiet abgewandert. Sogar die Fachhochschule ist hier angesiedelt, irgendwo zwischen Schuhdiskonter und Ackerland. Während der Süden der Stadt floriert und weiter ausgebaut wird, war im Zentrum bislang nur wenig Bautätigkeit zu verzeichnen.

Doch es gibt einen neuen Impuls: Der kürzlich fertiggestellte Zubau der Raiffeisen Landesbank (RLB) ist nicht nur eine Belebung des Standorts, sondern auch eine Visitenkarte für die Stadt. „Hier zu bleiben war eine bewusste Entscheidung“, erklärt Rudolf Könighofer, stellvertretender Generaldirektor der RLB Burgenland. „Die innerstädtische Lage hat für uns viele Vorteile, zudem haben wir hier genug Flächenressourcen für die nächsten 20 Jahre.“

Das Auffälligste am zackigen Wahrzeichen der Wiener Architekten Pichler & Traupmann, die aus einem geladenen Wettbewerb 2006 als Sieger hervorgegangen waren, ist die Farbe. „Das ist die Farbe des Geldes“, sagt Könighofer. „Das Gebäude soll eine Art sicherer Speicher für die Leute sein.“ Tatsächlich: Die Architekten halten eine 20-Cent-Münze an die Wand - kaum zu sehen.

Während ein Teil des Altbaus aus den Achtzigerjahren bei laufendem Betrieb saniert wurde, stellten die Architekten im Süden einen neuen Bürotrakt für rund 60 Mitarbeiter hin. Gesamtnutzfläche 2600 Quadratmeter, Gesamtinvestitionsvolumen rund 13 Millionen Euro. Die Geschoße sind je nach funktioneller Anforderung in Zellen- oder in Großraumbüros aufgeteilt. Die Trennwände sind aus Glas.

Ungewöhnlich sind die nach außen gekippten Außenwände. Mit einer Neigung von 15 Grad entsteht so der Eindruck, als würden sich die Räume nach oben hin öffnen. „Das ist kein architektonischer Trick, sondern einfach nur das Resultat der Anforderungen des Raumprogramms“, erklärt Architekt Johann Traupmann. „In den Obergeschoßen waren größere Flächen gefordert als in den unteren. Also haben wir die Räume genau so angeordnet.“

Automatische Nachtkühlung

In technischer Hinsicht wurde zwar weitaus weniger ausgeführt als ursprünglich geplant, doch mit den wenigen realisierten Mitteln kann ein Teil der Energiekosten eingespart werden. Auf dem Dach ist eine Fotovoltaik-Anlage installiert, außerdem ist das gesamte Haus mit elektronisch angesteuerten Fenstern versehen. In der warmen Jahreszeit können die Büros in der Nacht automatisch gelüftet und somit gekühlt werden. Da die massiven Geschoßdecken größtenteils unverkleidet sind, eignen sie sich perfekt zur Speicherung von Kälte.

Der Clou für die Mitarbeiter: Die Südfassade ist komplett in Glas ausgeführt. An schönen Tagen reicht der Panoramablick bis zum Neusiedler See. Noch besser sieht man ihn, wenn man auf die Terrasse hinaustritt.

Der Standard, Sa., 2011.01.29

14. Januar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Auf der Suche nach dem digitalen Gackerl-Sackerl

Die Ausstellung „Geo Data City“ widmet sich der digitalen Kartografie - Neue Planungstools nützen auch Endverbrauchern

Die Ausstellung „Geo Data City“ widmet sich der digitalen Kartografie - Neue Planungstools nützen auch Endverbrauchern

Als im August 1994 auf Initiative von Tierschützern eine hitzige Diskussion um die Standplätze der Fiaker entfachte, musste eine Reihe mühsamer Untersuchungen durchgeführt werden. Es galt, alternative Standorte zu finden, an denen die Pferde nicht den ganzen Tag in der prallen Sonne ausharren müssen, sondern auch einmal im Schatten stehen.

Zehn Jahre später ist alles anders. Es reicht ein einfacher Mausklick - und schon sieht man anhand von dreidimensionalen Verschattungssimulationen, wo sich die idealen Schattenplätze für die wiehernden Vierbeiner befinden. Einige Standplätze konnten 2006 auf diese Weise ohne großen planerischen Aufwand versetzt werden.

Stadt in 3D

Zu verdanken ist dies dem sogenannten Geoinformationssystem (GIS). Der digitalen 3D-Erfassung der Stadt und den damit verbundenen Möglichkeiten in der Stadtplanung widmet sich derzeit eine Ausstellung in der Wiener Planungswerkstatt.

„Früher hat man Stadtpläne aus irgendwelchen Archiven herauswühlen und dann mit unzähligen Dokumenten vergleichen müssen, wenn man nach bestimmten Faktoren in der Stadt gesucht hat“, sagt Christian Rapp, Kurator der Ausstellung Geo Data City - Geoinformation und Stadtentwicklung in Wien.

Das ist heute anders. Informationen wie Wohnungsgröße, Kindergartenverteilung, Automobildichte, Einkommensverhältnisse, Barrierefreiheit sowie etwa Windverhältnisse und Topografie sind heute bereits in digitalen Stadtplänen ablesbar. Rapp: „Sogar Hundedichte, Hundezonen und Ständer mit Gackerl-Sackerln lassen sich digital abfragen.“

Durch zukünftige Straßen flanieren

Die Möglichkeiten der digitalen 3-D-Kartografie sind vielfältig. So können neue Stadtteile heutzutage nicht nur anhand von Plänen, sondern auch unter Einbeziehung sozialer, optischer und atmosphärischer Faktoren konzipiert werden. In der Seestadt Aspern kann man dank Augmented Reality, also mittels computerunterstützter Erweiterung der Realität, schon heute durch die Straßen flanieren - lange bevor das erste Haus steht.

Im dicht verbauten 15. Gemeindebezirk rund um die Stadthalle wiederum werden die enormen Möglichkeiten solarer Energiegewinnung veranschaulicht. „Die Gebäude sind detailgenau erfasst, sogar die Neigungswinkel der Dächer sind in dieser Darstellung berücksichtigt“, erklärt der Kurator.

Im Gegensatz zu früher wird die Stadt nämlich nicht nur mittels Tachymeter und Luftbild vermessen, sondern auch mittels Laserscanning (siehe Foto). Das ermöglicht eine größere Detailgenauigkeit. Die jährlichen Kosten für das digitale Datenmanagement belaufen sich auf rund eine Million Euro, erklärt der Wiener GIS-Koordinator Wolfgang Jörg.

Verortung von Literatur

Doch die Nutzung von GIS geht über Stadtplanung weit hinaus. Auch der Endverbraucher profitiert davon. In der Schweiz wurden laut Rapp schon Romane verortet. Um zu sehen, wo bestimmte Kapitel spielen, kann man sich bei der Online-Lektüre direkt zum Stadtplan verlinken. Und in Wien gedeiht bereits die erste „Geocaching“-Community. Dabei wühlt man sich mit Smartphone und 3D-Stadtplan durch die Stadt. Nichts anderes als eine Schnitzeljagd für Fortgeschrittene.

Der Standard, Fr., 2011.01.14

08. Januar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Der Raum zwischen den Zeilen

Mainz hat eine neue Synagoge. Architekt Manuel Herz schuf sie mit Beton und Keramik - und mit der Kraft der hebräischen Schrift.

Mainz hat eine neue Synagoge. Architekt Manuel Herz schuf sie mit Beton und Keramik - und mit der Kraft der hebräischen Schrift.

Reichskristallnacht, November 1938: Im Deutschen Reich werden 191 Synagogen niedergebrannt, 76 weitere werden verwüstet und zerstört. Unter den Trümmern am Morgen des 10. November findet sich auch die Synagoge Mainz, ein klassizistischer, pompöser Rundbau aus dem Jahr 1912.

Mehr als sieben Jahrzehnte muss Mainz ohne Synagoge auskommen. Gearbeitet und gebetet wird in den Räumlichkeiten einer gründerzeitlichen Wohnung in der Mainzer Neustadt. „Bis in die 90er-Jahre hat das recht gut funktioniert“, sagt Stella Schindler-Siegreich, Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz. „Mit dem Zuzug vieler Russen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die Situation allerdings dramatisch verändert. Innerhalb weniger Jahre ist die Gemeinde in Hessen von 70 auf über 1000 Mitglieder angewachsen.“

Mainz, dessen architektonische Sehenswürdigkeiten bisher an einer Hand abzuzählen waren, hat seit letztem Jahr ein schönes Stück Baukunst mehr: die Synagoge Maor Hagolah, Licht der Diaspora. Als hätte Daniel Libeskind Pate gestanden, wandert das Gotteshaus an der Hindenburgstraße (Baukosten rund sechs Millionen Euro) auf und ab, springt vor und zurück, faltet sich schließlich zu einem mäandrierenden, expressionistischen Etwas zusammen.

Die Ähnlichkeit zu Libeskinds Jüdischem Museum in Berlin, fertiggestellt zur Jahrtausendwende, ist kein Zufall. Der Wettbewerb für die Synagoge Mainz wurde 1999 ausgeschrieben, zeitgleich zum Bau des großen, silbrig glänzenden Zickzacks in der Spreemetropole. Der Dekonstruktivismus war damals hoch im Kurs.

„Die Synagoge hat nichts mit Dekonstruktivismus und schon gar nichts mit Libeskind zu tun“, sagt der Schweizer Architekt Manuel Herz. „Aber natürlich ist es kein Zufall, dass sich diese zeitgenössische Form der Architektursprache in den letzten Jahren vor allem in der jüdischen Kultur durchgesetzt hat.“ Das Judentum sei die einzige Religion im Abendland, die jahrtausendelang über keine eigene Architektur verfügte. „Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem 70 nach Christus gibt es keine traditionelle jüdische Baukultur mehr“, sagt Herz. In den Pogromnächten 1938 seien schließlich auch die jüngsten Versuche einer jüdisch-baulichen Identität zerstört worden.

„Die Produktion von Räumen hat sich im Judentum im Gegensatz zu anderen Religionen nicht in Bauwerken abgespielt, sondern in Büchern sowie in der überaus plastischen hebräischen Schrift“, erklärt der Architekt. „So war es möglich, trotz Diaspora jahrhundertelang einen ganz eigenen, spezifischen Raumbegriff aufzubauen.“ Genau diesem Schreiben ist die Form der Mainzer Synagoge zu verdanken. Wie ein abstraktes Abbild des hebräischen Segenswortes Qadushah entwickelt sich die Fassade in die Höhe, ist mal härter, mal weicher, bis sie sich an ihrem östlichen Ende zum weit überhängenden, hebräischen Buchstaben Qoph aufbäumt.

„Es geht nicht darum, das Haus lesen zu können, schließlich ist das ein Gebäude und keine Schriftrolle“, erklärt Herz. „Sehr wohl lässt sich an der Fassade aber eine gewisse Dialektik erkennen. Zwischen Passanten und Synagoge entsteht eine Art Gespräch - ganz gleich, ob man jüdischen Glaubens ist oder nicht.“

Wie Fluchtpunkte sitzen die wild geschnittenen Fenster in der Außenwand, gerahmt von Passepartouts aus grün lackierten Keramikstäben. Die Geometrie der Verkleidung ist bis zur Perfektion getrieben. Winkel und Gehrungsschnitte sind millimetergenau aufeinander abgestimmt. Der Betrachter wird so zum Opfer eines perspektivischen Täuschungsmanövers.

„Die Fassade wirkt auf den ersten Blick aufwändig, tatsächlich ist das System aber sehr einfach und redundant“, sagt Manuel Herz zum Standard. „Wir haben in der Strangpresse 17.000 Meter von diesem Keramikprofil herstellen lassen, danach mussten die Stäbe nur noch in die gewünschte Länge geschnitten werden.“ Durch die färbige Glasur schimmert die Synagoge je nach Sonnenstand mal gelbgrün, mal smaragdfarben, bis sie in der Dämmerung zu einer dramatischen, schwarzen Skulptur aus dem Cabinet des Dr. Caligari mutiert.

Durch eine schwere Tür aus Aluminiumguss - an der Außenseite ist der Schriftzug Maor Hagolah, Beit Knesset Magenza (Licht der Diaspora, Synagoge Mainz) zu lesen - gelangt man in ein rundum weißes Foyer aus zueinander schräggestellten Wand- und Dachflächen. Viele kleine Fenster.

Alles sehr dramatisch. Schade nur, dass in den Nebenräumen Boden und Türen, scheinbar in einem Moment der mentalen Erschöpfung, lavendelfarben zugekleistert wurden. Hier verkommt das eben noch beeindruckende Gebäude zu einem Kartenhaus im Kindergarten-Look. Neben Verwaltungs- und Bürotrakt, Dienstwohnung, Unterrichtsräumen sowie einem großen Veranstaltungssaal führt eine der geheimnisvollen Türen in den eigentlichen Gebetsraum. Und wieder Buchstaben: Die Wandoberflächen sind über und über mit Millionen von stilisierten hebräischen Schriftzeichen gesäumt. Ab und zu nur lichtet sich das geometrische Relief und macht Platz für einen Vers aus der Tora.

Prächtig bricht sich das Licht an den bronze- und goldfarbenen Wänden. Wie ein Trichter, der sich hungrig nach oben streckt, öffnet sich an dieser Stelle das überhängende Qoph in den Himmel. Durch ein rund 200 Quadratmeter großes Glasdach strömt das Tageslicht direkt auf die Bimah, von wo aus während der Gottesdienste aus der Tora gelesen wird.

„Die neue Synagoge ist mehr als nur ein Gotteshaus“, sagt Stella Schindler-Siegreich. „Sie ist Treffpunkt und Veranstaltungsort für alle, die an unserer Gemeinde und an der jüdischen Kultur interessiert sind.“ Der Beweis ist erbracht: Die ersten Seminare, Konferenzen und Konzerte sind bereits über die Bühne gegangen.

Ist das die neue Architektur des Judentums? Das erste Wort ist gesprochen. Der Rest wird sich mit der Zeit entziffern.

Der Standard, Sa., 2011.01.08



verknüpfte Bauwerke
Neue Synagoge Mainz

31. Dezember 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Erst Mensch, dann Maschine

Vor kurzem wurde der Staatspreis Architektur für Industriebauten und Gewerbeimmobilien vergeben: Es siegte das soziale Moment

Vor kurzem wurde der Staatspreis Architektur für Industriebauten und Gewerbeimmobilien vergeben: Es siegte das soziale Moment

Arthur Krupp war ein Mann mit Visionen. Als der Großindustrielle 1879 seinen elterlichen Betrieb übernahm, beschloss er, das Unternehmen und die Gemeinde zu einem architektonischen und infrastrukturellen Vorzeigeprojekt auszubauen. Zur Berndorfer Metallwarenfabrik im südlichen Niederösterreich gehörten nicht nur Produktionshallen, sondern auch Arbeiterhäuser, ein Konsumverein, ein eigener Schlachthof sowie ein Freibad, das im Winter als Natureisbahn diente.

Bekannt wurde Krupp vor allem für den Bau der beiden Volksschulen für Buben und Mädchen, die - revolutionär für damalige Verhältnisse - bereits mit Zentralheizung und Duschen ausgestattet waren. Außerdem war jedes Klassenzimmer in einem anderen historischen Stil ausgemalt. Die Bandbreite reichte von ägyptischen und maurischen über romanische und gotische Lehrräume bis hin zu solchen, die mit Schnörkseln des Barock und Rokoko ausstaffiert wurden. Die Zimmer sind bis heute erhalten.

Insgesamt investierte Krupp in den Ausbau der Berndorfer Gemeinde umgerechnet rund 200 Millionen Euro. Ungefähr die Hälfte des Geldes stammt aus seinem eigenen Privatvermögen. Für seine Taten wurde der Industriemagnat von Kaiser Karl I. sogar zum Geheimen Rat ernannt.

Was heutzutage so schön als CSR - Corporate Social Responsibility - angepriesen wird, ist also bei weitem kein Novum der Nullerjahre, sondern eine alte und längst bewährte Idee in neudeutschen Wortkleidern.

Der sogenannte Mehrwert für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat jedoch nicht nur sozial-altruistischen Hintergrund. Er dient vor allem dem Unternehmen selbst. Zufriedene Arbeitskräfte sorgen erwiesenermaßen für mehr Umsatz, gleichzeitig steigt das Image der Firma.

Zufriedenheit am Arbeitsplatz

In einer Studie, die heuer an der University of Exeter, Großbritannien, durchgeführt wurde, stellten die beiden Psychologen Craig Knight und Alex Haslam einen direkten Zusammenhang zwischen Mitspracherecht der Mitarbeiter, Zufriedenheit am Arbeitsplatz und Produktivität fest. Unter optimierten Arbeitsbedingungen stieg der Output um bis zu 32 Prozent.

„Das Bürodesign hat nicht nur einen Einfluss darauf, ob Menschen bei der Arbeit der Rücken wehtut, sondern auch darauf, wie viel sie leisten, wie viel Initiative sie zeigen und wie zufrieden sie mit ihrer Arbeit sind“, lautet das Resultat der Studie, an dem 2000 Probanten teilnahmen.

Ortswechsel, Tirol: „Wir fühlen uns in den neuen Räumen absolut wohl“, sagt etwa Maria Steinlechner, die im Vertrieb bei Swarovski Optik KG in Absam arbeitet. „Die Architekten haben uns am Anfang nach unseren Wünschen befragt und diese dann in die Planung miteinfließen lassen. Das ist nicht Standard, denn meistens findet das Gespräch nur in der Chefetage statt. Wir wissen das sehr zu schätzen.“

Genau das war der Plan. „Wenn man sich immer nur mit den Geschäftsführern, Vorstandsvorsitzenden und Abteilungsleitern unterhält, dann kommt man an den Kern des Unternehmens nicht heran“, erklärt Wolfgang Pöschl vom Architekturbüro tatanka. „Woher sonst soll man wissen, ob die Leute lieber in offenen Büros arbeiten oder in geschlossenen, ob sie lieber alleine arbeiten oder in der Gruppe, ob sie lieber Blau haben oder Rot.“

Vor kurzem wurde der rundum sanierte und erweiterte Büro- und Verwaltungssitz der Swarovski Optik KG mit dem Staatspreis Architektur 2010 in der Kategorie „Mittel- und Großbetriebe“ ausgezeichnet. Der Preis wird alle zwei Jahre vergeben. Prämiert wurden heuer Realisierungen aus dem Bereich Industriebauten und Gewerbeimmobilien.

„Ich war extrem überrascht zu hören, dass wir für dieses Projekt den Staatspreis bekommen haben“, sagt Pöschl zum Standard. „Schauen Sie selbst, das ist ein Projekt, das sich einem erst auf den zweiten Blick erschließt. Es ist weder besonders fotogen, noch reißt es einen vom Hocker wie irgendein riesiges Gebilde um dutzende Millionen von Euro. Ich bin sehr froh, dass die Jury den Aufwand auf sich genommen hat, um einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und sich das Gebäude im Detail anzuschauen.“

Das bestätigt auch der Juryvorsitzende Christian Kühn von der Architekturstiftung Österreich: „Es geht in der Industrie- und Gewerbearchitektur längst nicht mehr nur darum, gut funktionierende Gebäude zu errichten. Und auch das Bauwerk als Wahrzeichen steht nicht mehr im Vordergrund wie noch vor zehn oder 20 Jahren“, so Kühn.

Viel eher könne man heute beobachten, dass immer mehr Betriebe und Konzerne damit anfangen, soziale Verantwortung zu übernehmen. Neben dem reibungslosen Funktionsablauf und der Produktion eines feschen und entsprechend wirksamen Werbetrikots geht es vor allem um das soziale und gesundheitliche Klima am Arbeitsplatz.

So etwa auch bei der Büro- und Lagerhalle der Sohm Holzbautechnik GmbH in Alberschwende, Vorarlberg. Der innovative Holzbau wurde in der Kategorie „Klein- und Kleinstbetriebe“ ebenfalls mit dem heurigen Staatspreis für Architektur ausgezeichnet.

Errichtet wurde es mit jener Technologie, für die das Unternehmen selbst steht und die es unter Häuslbauern, Bauträgern und diversen Firmen seit 1990 vertreibt - mit der sogenannten Diagonaldübelholztechnik. Die Bauweise kommt gänzlich ohne Leime, Klebstoffe und Metallverbindungen aus, die Wände und Decken halten einzig und allein durch schräg eingetriebene Dübel, die in ihrer endgültigen Position aufquellen und die Bauteile auf ewig miteinander binden.

Die gleiche Wellenlänge

„Das ist ein cleveres und wunderschönes Produkt“, sagt der preistragende Architekt Hermann Kaufmann. „Es ist ökologisch, zu 100 Prozent recyclebar und setzt im eingebauten Zustand keinerlei Emissionen frei, weil es ohne zusätzliche Verbindungsmittel auskommt. So eine Bauweise hat natürlich Auswirkungen auf das Klima am Arbeitsplatz.“

Die Qualität der Industrie- und Gewerbeprojekte habe in den letzten Jahren zugenommen, erklärt Christian Kühn. „Einerseits gibt es im Industriebau die Möglichkeit, Dinge experimentell auszuprobieren, andererseits stößt man mit hochwertiger Architektur bei produzierenden Gewerben immer häufiger auf offene Ohren. Es treffen Leute mit gleicher Wellenlänge aufeinander. Jeder will nur das Beste bauen.“

Der Standard, Fr., 2010.12.31



verknüpfte Auszeichnungen
Staatspreis für Architektur 2010

20. November 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Chronik eines weichen Blicks

Friedrich Achleitner reist seit 45 Jahren durchs Land und dokumentiert die österreichische Architektur. Der aktuelle Band: 500 Seiten

Friedrich Achleitner reist seit 45 Jahren durchs Land und dokumentiert die österreichische Architektur. Der aktuelle Band: 500 Seiten

Nach mehr als 15 Jahren Arbeit liegt der dritte und somit letzte Band des Wien-Führers „Österreichische Architektur“ druckfrisch auf dem Tisch. Das 500 Seiten starke Buch, das kürzlich im Residenz Verlag erschienen ist, gilt als eines der wichtigsten und zentralen Nachschlagewerke in puncto Baukultur. Wie oft scheitert unsereiner bei der Recherche in Google, Wikipedia und meterdicker Literatur! Die beste Lösung ist immer wieder der Griff „zum Achleitner“. Nirgendwo sonst ist die Chance so groß, auf Informationen über irgendein x-beliebiges Gebäude zu stoßen, wie hier.

Weit mehr als 3000 Bauwerke in den Wiener Gemeindebezirken Döbling, Brigittenau, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing ging Friedrich Achleitner in den letzten Jahren ab. Kilometerweise. Michael Diem und Gabriele Kaiser begleiteten ihn dabei.

Bis auf ein paar Privathäuser und Botschaftsgebäude, in die ihm der Zutritt (jahrelang) verwehrt wurde, kennt er jedes einzelne aufgelistete Gebäude von innen - manchmal auch durch mehrmaligen Besuch. „Man kann nicht über Architektur schreiben, ohne dass man sich selbst ein Bild davon gemacht hat“, sagt der Schriftsteller nüchtern und trocken. „Und wenn ein Projekt sehr komplex ist, dann muss man eben öfters hineingehen.“

Beschrieben werden Einfamilienhäuser und Wohnhausanlagen, Kultur- und Bildungsbauten, Kaufhäuser und Büros, Sportstätten und Gärten, aber auch Bauwerke aus den Bereichen Verkehr und Industrie. Sogar durch den Wasserbehälter des Lainzer Tiergartens kroch der 80-Jährige hindurch. Achleitner: „Die Architektur ist so umfangreich. Ich sehe meine Aufgabe darin, die Leute zu diesem Thema hinzuführen. Und wenn es mir gelingt, dass man Adolf Loos nicht länger als Jugendstilarchitekten beleidigt, dann ist schon viel erreicht.“

Worauf Achleitner besonderen Wert legt: „Das neue Buch ist keine Enzyklopädie, es ist kein Feiern von Landmarks und Starbauten, und es ist auch keine Auflistung von besonders schützenswerter Bausubstanz. Viel wichtiger ist mir, das ganze Relief einer Stadt abzubilden. Die weniger aufregenden Bauten gehören auch dazu.“

Das bisweilen flache Relief hat mitunter großen Humor. Glatzgasse 9, 1190 Wien, Architekt Otto Wagner junior, errichtet 1904: „Vielleicht hatte Otto Wagner doch recht, wenn er seinen Sohn als untalentiert bezeichnete. Jedenfalls hatte dieser das Haus im eigenen Auftrag erbaut, und dafür wirkt es relativ uninspiriert.“

Floridusweg 46-48, 1210 Wien, Architekten Hubatsch mit Szyszkowitz & Kowalski, errichtet 1999, kurz und bündig: „Die Anlage macht den Eindruck, als hätten sich die engagierten Grazer Architekten unter den Wiener Baubedingungen nicht recht wohl gefühlt.“

Bellevuestraße 59, 1190 Wien, Architekt Walter Loos, errichtet 1933, noch kürzer, noch bündiger: „Es ist nicht gelungen, das Haus zu finden.“

Und schließlich Ketzergasse 310, 1230 Wien, errichtet 1903: „(Keine weiteren Unterlagen)“.

Doch bis auf die paar schmunzelnden Ausreißer findet Achleitner bei jedem noch so langweiligen, gesichtslosen Bau ein paar aufmunternde Worte. „Als ich mit der Arbeit in Wien begonnen habe, hätte ich mir nie gedacht, dass daraus eines Tages drei dicke Bände werden“, erinnert er sich zurück. Und tatsächlich sei die Auswahl der Gebäude in den bisher erschienenen Architekturführern viel strenger und rigider gewesen.

Mit der Zeit wird man sensibler

„Doch mit der Zeit entwickelt man sich weiter. Man wird sensibler, man wird weicher im Blick, und man findet selbst bei einem sehr stillen und zurückhaltenden Gebäude noch etwas Charakteristisches, über das man schreiben kann. Ich nehme an, wohl aus diesem Grund hat die Arbeit an diesem Band auch 15 Jahre gedauert.“

Begonnen hatte die Recherche am österreichischen Architekturführer übrigens vor 45 Jahren. Etliche Autos und Reifensätze fuhr Friedrich Achleitner seit dem ab. 1980 erschien Band I mit Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg. 1983 erschien Band II mit Burgenland, Steiermark und Kärnten. 1990 erschien schließlich Band III / Teil 1 mit den Wiener Bezirken 1 bis 12, 1995 Band III / Teil 2 mit den Bezirken 13 bis 18, mit den fünf Außenbezirken ist das Werk nun komplett. Fast. Es fehlt noch Niederösterreich.

„Das mache ich nicht mehr. Erstens sind eh schon viele Leute unterwegs durch das Land, zweitens habe ich mein gesamtes Archiv ohnehin schon dem Architekturzentrum Wien übergeben, die können daran nun weiterarbeiten, und drittens will man sich mit 80 nicht mehr so ein großes und umfangreiches Projekt aufhalsen. Es ist genug.“

Wie geht's weiter? „Nichts mehr mit Architektur. Ich will jetzt wieder Literatur machen. Und wenn nicht, dann werde ich Taxifahrer. Ich kenne jede einzelne Straße in dieser Stadt.“

Der Standard, Sa., 2010.11.20

11. November 2010Wojciech Czaja
Der Standard

„Öffentliche Räume sind gut für die Gesellschaft“

Standard: Gehen Sie gern in der Stadt spazieren?

Tagliabue: Ja, es gibt kaum etwas Schöneres, als durch eine Stadt zu wandern und zu sehen, dass sie...

Standard: Gehen Sie gern in der Stadt spazieren?

Tagliabue: Ja, es gibt kaum etwas Schöneres, als durch eine Stadt zu wandern und zu sehen, dass sie...

Standard: Gehen Sie gern in der Stadt spazieren?

Tagliabue: Ja, es gibt kaum etwas Schöneres, als durch eine Stadt zu wandern und zu sehen, dass sie von den Menschen angenommen und benützt wird. Es kommt natürlich darauf an, von welcher Stadt wir hier sprechen.

Standard: Von welcher würden Sie denn gern sprechen?

Tagliabue: New York ist ein wunderbares Beispiel. In jeder Epoche dieser Stadt hat die Freiraumgestaltung eine große und wichtige Rolle gespielt. Schauen Sie sich nur einmal den Central Park an! Das letzte großartige Projekt ist die Green Line, wo eine stillgelegte Bahnstrecke in Hochlage zu einem begrünten Spazierweg ausgebaut wurde.

Standard: Und in Europa?

Tagliabue: In den letzten Jahren sind Dänemark und Holland sehr engagiert. Auch Deutschland. In der Hafencity Hamburg haben wir 2001 den Wettbewerb für die Freianlagen gewonnen. Das ist ein langwieriges und umfangreiches Projekt, an dem wir bis heute bauen. Doch das Epizentrum der städtischen Öffentlichkeit ist immer noch Barcelona. Diese Stadt leistet seit Jahrzehnten Pionierarbeit - und dafür hat sie sich eindeutig die Goldmedaille verdient. Ich denke, Politiker und Städteplaner können von Barcelona einiges lernen.

Standard: Was macht einen gut funktionierenden öffentlichen Freiraum aus?

Tagliabue: Möglichkeiten und Potenziale. Als Planerin, als Planer muss man die Absicht haben, einen Ort zu schaffen, den die Menschen lieben werden. Wenn man will, dass ein Platz von der Öffentlichkeit benützt wird, dann muss er praktisch und gemütlich sein und gewisse Vertrautheiten in uns wecken. Doch ein Restrisiko bleibt immer. Entweder es klappt, oder es klappt nicht.

Standard: Was macht man, wenn's nicht klappt?

Tagliabue: Ich habe mich kürzlich mit Planern aus Disney-Land unterhalten. Wenn dort etwas geplant und gebaut wird, das dann wider Erwarten von den Leuten nicht angenommen wird, dann wird das ganze Ding abgerissen und neu konzipiert. So etwas geht natürlich nur in Disney-Land. Im wirklichen Leben muss man sehr sorgfältig planen.

Standard: Ist die Freiraumkultur in Nordeuropa eine andere als im Süden?

Tagliabue: Das Auffälligste ist, dass Freiraumgestaltung in Südeuropa ein ganz zentrales Aufgabengebiet von uns Architektinnen ist, während es in den nord- und mitteleuropäischen Ländern dafür einen eigenen Beruf gibt. Da gibt es den sogenannten Landschaftsarchitekten. Ich sehe eigentlich keinen Grund, warum man das trennen sollte. Da wie dort geht es um Gestaltung von Lebensräumen.

Standard: Was ist mit den klimatischen Unterschieden?

Tagliabue: Natürlich werden Plätze in unterschiedlichen Klimazonen unterschiedlich genutzt. Doch die größten Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern in Europa sind nicht klimatisch, sondern kulturell bedingt.

Standard: Soziale Kontakte verlagern sich immer weiter ins Internet. Welche Auswirkungen hat diese Verlagerung auf die reale Öffentlichkeit?

Tagliabue: Diese sozialen Netzwerke sind eine Revolution. Menschen können grenzüberschreitend, mit riesigen Kapazitäten und meist sogar ohne Geld in Kontakt miteinander treten. Doch man darf nicht vergessen, dass die meisten virtuellen Kontakte immer noch dazu da sind, um sich am Ende des Tages in der Wirklichkeit zu treffen. Außerdem halten wir uns zwar mehr in der virtuellen Welt auf als früher, doch dafür sind wir auch mobiler. Wenn wir chatten und posten, dann machen wir das nicht hinter verschlossenen Türen im Schlafzimmer, sondern meist in der Öffentlichkeit - im Café oder auf der Parkbank.

Standard: Wie werden sich die öffentlichen Räume in den nächsten Jahren verändern?

Tagliabue: In den Städten steigt schon jetzt das Bewusstsein dafür. Man hat erkannt, dass öffentliche Räume der Garant für eine ruhige, tolerante und gut funktionierende Gesellschaft sind.

Standard: Beim Architektur-Kongress am 19. November werden Sie den Eröffnungsvortrag halten. Worüber werden Sie sprechen?

Tagliabue: Ich werde einen feurigen Vortrag darüber halten, dass schöne Architektur die Menschen glücklich machen kann. Und dass schlechte Architektur Menschen unglücklich machen kann. So einfach ist das.

Benedetta Tagliabue (47) ist Architektin in Barcelona und betreibt mit ihrem Partner Enric Miralles seit 1991 das Büro EMBT. Foto: Vicens Giménez Juvé

Auf öffentlichen Plätzen kann sich Gesellschaft entwickeln, sagt die spanische Architektin Benedetta Tagliabue. Im Gespräch mit Wojciech Czaja spricht sie über die Voraussetzungen für moderne Städteplanung.

Der Standard, Do., 2010.11.11

11. November 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Im Wohnzimmer der Gesellschaft

Wem gehört die Stadt? „Der öffentliche Raum gehört uns allen“, sagt der New Yorker Künstler und langjährige Flashmob-Organisator Charlie Todd. „Wenn Sie...

Wem gehört die Stadt? „Der öffentliche Raum gehört uns allen“, sagt der New Yorker Künstler und langjährige Flashmob-Organisator Charlie Todd. „Wenn Sie...

Wem gehört die Stadt? „Der öffentliche Raum gehört uns allen“, sagt der New Yorker Künstler und langjährige Flashmob-Organisator Charlie Todd. „Wenn Sie so wollen, ist das unser aller Wohnzimmer. Hier treffen wir uns, hier lernen wir einander kennen, hier gibt es Komik und Klamauk.“ Auf einen bestimmten Anteil des öffentlichen Raums habe jeder Mensch Anspruch. Rein theoretisch zumindest.

In der Praxis sieht die Sache jedoch anders aus. Immer öfter werden Stadt und Land privatisiert und bestimmten Nutzungsbestimmungen oder gar Verboten unterzogen. Häufig passiert es, dass der öffentliche Raum - laut Definition der ebenerdige und frei zugängliche Teil einer Gemeindefläche - der Bevölkerung entrissen und als Verkehrsfläche genutzt wird.

„In den meisten Ländern der Welt wird der öffentliche Raum vor allem von Autos in Anspruch genommen“, erklärt die Wiener Künstlerin und Ausstellungsmacherin Andrea Seidling. „Solange die Straßen und Plätze als Verkehrsraum genutzt und in dieser Funktion nicht behindert werden, ist alles in Ordnung. Jede Nutzung aber, die darüber hinausgeht, bedarf einer öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Sondernutzung. Ich denke, das sagt einiges über unseren Umgang mit Öffentlichkeit und Gesellschaft aus.“

Genau in dieser juristischen Lücke sind etwa die Projekte von Recetas Urbanas angesiedelt. Mit allen erdenklichen Mitteln versucht das spanische Büro, die Behörden an der Nase herumzuführen und so der Stadt wertvolle Parkplatzflächen für soziale Events abzuzwacken. „Das ist ganz einfach“, sagt Architekt Santiago Cirugeda. „Man muss lediglich bei der Stadtverwaltung um Genehmigung für das Aufstellen einer Schuttmulde ansuchen, ganz so, als hätte man eine Baustelle im Gange. Der Antrag kostet rund 35 Euro.“

Anstatt die bewilligten Mulden jedoch mit Bauschutt und Müll zu füllen, installierte Cirugeda darin Bäume, Schaukeln, und Picknick-Bänke. An anderer Stelle wiederum mutierten die Schuttmulden zu Info-Ständen, Leseräumen und Open-Air-Bühnen für Flamenco-Tänzer. So geschehen 1997 in Sevilla im Rahmen der Kunstinstallation Skips S. C.

Sprechen im Raum der Stadt

Auch das Wiener Architekturbüro feld72 übt Kritik an der fortschreitenden Vereinnahmung des öffentlichen Raums. Für die Biennale of Urbanism and Architecture 2009 in Shenzhen und Hongkong baute es sogenannte „Public Trailers“. Die besonderen Fahrrad-Anhänger können für Streiks und Demonstrationen eingesetzt werden. Mit Megafon und Inhalten gewappnet geht es über eine steile Leiter hinauf in den ersten Stock. Sollte die hier eingelöste Möglichkeit der freien Rede bei den Behörden nicht so gut ankommen, kann man rasch in die Pedale treten und wieder von dannen ziehen.

„Wir haben mehrere Installationen mit unterschiedlichen Funktionen gebaut, die bei der Bevölkerung und in den Medien durchaus gut angekommen sind“, erinnert sich Architektin Anne Catherine Fleith. „Lediglich der Speakers' Corner hat bei vielen Leuten für Hemmungen gesorgt.“

Das Foto mit dem Wachmann, der die Dame am Podest zurechtweist, habe sich genau so ereignet. Nichts daran ist gestellt. Während des 18. Wiener Architektur-Kongresses und der damit verbundenen Ausstellung Platz da! European Urban Public Space (zu sehen bis 31. Jänner 2011) ist der knallrote Speakers' Corner im Architekturzentrum Wien ausgestellt.

Der Standard, Do., 2010.11.11

10. November 2010Wojciech Czaja
Der Standard

18. Wiener Architektur-Kongress

Als Ergänzung zur Ausstellung „Platz da! European Public Space“ veranstaltet das Architekturzentrum Wien (Az W) den heurigen Wiener Architektur-Kongress....

Als Ergänzung zur Ausstellung „Platz da! European Public Space“ veranstaltet das Architekturzentrum Wien (Az W) den heurigen Wiener Architektur-Kongress....

Als Ergänzung zur Ausstellung „Platz da! European Public Space“ veranstaltet das Architekturzentrum Wien (Az W) den heurigen Wiener Architektur-Kongress. Die dreitägige Veranstaltung steht ganz im Zeichen des öffentlichen Raums und untersucht, wie sich Landschaftsplanerinnen und Architekten aus unterschiedlichen Ländern mit dem Thema beschäftigen.

Den Beginn machen am Freitag, den 19. November, Az- W-Direktor Dietmar Steiner, Wolfgang Gleissner von der Bundesimmobiliengesellschaft (Big) sowie die Ausstellungskuratorin Andrea Seidling. Den Eröffnungsvortrag um 20 Uhr hält Benedetta Tagliabue.

Am Samstag, den 20. November, sprechen der spanische Architekt Elías Torres Tur sowie der Wiener Soziologe Jens S. Dangschat. Gemeinsam wollen sich die Vortragenden der Frage widmen: Wem gehört die urbane Öffentlichkeit?

Am Nachmittag stellt Daniel Zimmermann vom Landschaftsplanungsbüro 3:0 die Seestadt Aspern vor. Franz Kobermaier von der MA 19 und Architekt Boris Podrecca weiten den Fokus anschließend auf ganz Wien aus. Den Abschluss bildet eine Podiumsdiskussion, an der unter anderem Christoph Chorherr, die deutsche Landschaftsarchitektin Sabine Knierbein sowie Lilli Licka von der Boku Wien und Sabine Pollak von der Kunstuniversität Linz teilnehmen.

Am Sonntag, den 21. November, schweift der Blick ins Ausland. Lisa Fior, Mitbegründerin von muf architecture, stellt den Barking Town Square in London vor, Kamiel Klaasse von NL Architects und Stefan Rettich von Karo Architekten präsentieren ihre beiden, mit dem European Prize for Urban Public Space prämierten Projekte in Zaanstad und in Magdeburg.

Abschließend sprechen Santiago Cirugeda von Recetas Urbanas, die deutsche Publizistin Silke Helfrich, der Architekturtheoretiker Michael Zinganel sowie Architekt Karsten Buchholz vom deutschen Büro West8. Es moderiert Angelika Fitz.

Der Standard, Mi., 2010.11.10

23. Oktober 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Frau N. wohnt violett

Die Menschen werden immer älter. Und die Baubranche muss darauf reagieren. Helmut Wimmer, Architekt des neuen Pflegewohnheims Leopoldstadt, wirft einen Blick in die Zukunft.

Die Menschen werden immer älter. Und die Baubranche muss darauf reagieren. Helmut Wimmer, Architekt des neuen Pflegewohnheims Leopoldstadt, wirft einen Blick in die Zukunft.

Josefine Nebes ist 82 Jahre alt. Seit kurzem wohnt sie im Pflegewohnhaus Leopoldstadt. „Davor hab ich 55 Jahre in meiner eigenen Wohnung auf der Mölkerbastei gelebt“, erzählt sie. „Aber jetzt wohn ich halt hier. Das war eine Riesenumstellung! Aber nicht schlecht, gar nicht schlecht, ist ja alles ultramodern hier!“

Am meisten schätzt die alte Dame, die mit Pelzhut und Rollator durch die Lobby wandert, ihr bunt ausgemaltes Einzelzimmer im vierten Stock: „Es gibt rosane und orangene, aber ich bin die lilane! Feine Farbe, sehr feine Farbe, und alles für mich allein! Aber wissen S' was? Das Ultraplus-Erlebnis, das ist der Balkon! Wenn's net grad so saukalt ist, dann mach ich die Fenster auf und geh raus ins Freie.“

Doch nicht alles ist so großartig, wie es scheint: „Das einzig Schiache, womit die uns abspeisen wollen, das sind die grauslichen Resopal-Tische. Resopal für die Alten! Hamma scho gern. Aber ka Wunder! Wir zittern ja, wemma die Supp'n essen.“

Das Pflegewohnhaus in der Leopoldstadt - vom Begriff Geriatriezentrum möchte sich der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) distanzieren - ist das erste von insgesamt acht Neubauprojekten, die im Rahmen des neuen Wiener Geriatriekonzepts bis 2015 umgesetzt werden sollen. Helmut Wimmer, Architekt des bunten Hauses, spricht mit dem Standard über Integration, Roboter und menschliche Streicheleinheiten.

Standard: Resopal für die Alten?

Wimmer: Manche Kompromisse lassen sich nicht vermeiden. Ja, dann gibt's halt Resopal auf den Tischen. Aber genau aus diesem Grund wurde ja das Wiener Geriatriekonzept ins Leben gerufen: Auf diese Weise wollen wir den alten Mief loswerden! Bei der neuen Generation von Pflegewohnheimen ziehen Architekten und KAV an einem Strang und machen alles Erdenkliche, um das Wohnen im hohen Alter so bequem, so vertraut und so normal wie nur möglich zu gestalten.

Standard: Und das wäre?

Wimmer: In erster Linie müssen die Wohnheime schön sein. Das klingt zwar banal, ist aber ein extrem wichtiger Faktor. In zweiter Linie geht es darum, sich konzeptionell zu überlegen, wie man in Zukunft mit alten und hochbetagten Menschen umgehen möchte. In einem Punkt sind sich Architekten und KAV einig: Weg vom Stadtrand, rein in die Stadt! Ich denke, es ist wichtig, dass man mitten im Stadtgeschehen zu Hause ist und womöglich den Lärm am Spielplatz und das Klingeln der Straßenbahn mitbekommt - und nicht isoliert auf irgendeiner stillen Waldlichtung sitzt.

Standard: Oft hört man in diesem Zusammenhang auch den Begriff Integration. Das bedeutet?

Wimmer: Im Pflegewohnheim Leopoldstadt haben wir eine Gartenverbindung zum angrenzenden Kindergarten. Durch den direkten Zugang soll sichergestellt werden, dass die Senioren und Kinder hin- und herspazieren können, ohne dabei auf die Straße hinausgehen zu müssen.

Standard: Klingt gut. Aber funktioniert das in der Praxis auch?

Wimmer: Bei der Eröffnung im September sind die Kinder und alten Leute zusammen aufgetreten und haben miteinander gesungen. Da hat's geklappt. Das Personal in den beiden Einrichtungen ist sehr engagiert. Ich bin überzeugt, dass es auch in Zukunft gemeinsame Aktivitäten geben wird.

Standard: Das Heim, in dem wir gerade sitzen, fasst über 300 Betten. Ist das noch eine wohnliche Dimension? Oder schon eine Bettenmaschine?

Wimmer: Die Größe ist ein wichtiger Punkt. Die wirtschaftliche Untergrenze von Pflegewohnheimen liegt bei 240 Betten pro Haus. Alles andere ist aufgrund personeller Besetzung nicht finanzierbar. Die Aufgabe eines Architekten besteht darin, diese große Zahl an Betten so locker und so natürlich unterzubringen wie nur möglich, damit der Eindruck einer riesigen Pflegemaschine gar nicht erst aufkommt. Hier in der Leopoldstadt haben wir eine Art Haus-in-Haus-Prinzip angewandt. Das heißt: Das gesamte Heim ist in viele kleinere Einheiten aufgeteilt. Es gibt Gassen und Plätze, zudem ist jede Zimmergruppe in einer eigenen Farbe gehalten. Diese bunten Häuser, die mehr oder weniger in den Gang hineinragen, sind auch an der Fassade ablesbar.

Standard: Die Bevölkerung wird immer älter. Allein in Wien sind rund acht Prozent der Einwohner älter als 75. Wie muss die Baubranche auf diesen Umstand in Zukunft reagieren?

Wimmer: Einerseits geht es um die Schaffung von Pflegeplätzen, wie das ja schon angedacht ist. Bis 2015 soll die Zahl der Pflegebetten in Wien auf knapp 20.000 aufgestockt werden. Aber natürlich ist das nur ein kleiner, ganz kleiner Bestandteil. Die Hauptarbeit müssen wir Architekten im ganz normalen Wohnbau leisten. Das Zauberwort lautet soziale Nachhaltigkeit.

Standard: Das heißt?

Wimmer: Modulare Wohnungen, die zusammengelegt und wieder getrennt werden können, Sollbruchstellen in Wohnungstrennwänden sowie flexibel gestaltbare und bespielbare Grundrisse. Die Erfahrung der letzten 20, 30 Jahre hat gezeigt, dass das Bauen mit Gipskarton bei weitem nicht so flexibel ist, wie Architekten und Bauträger immer behaupten. Eine Gipskartonwand zu versetzen, das ist eine Riesen-Baustelle für jeden Bewohner! Das kann unmöglich die Lösung sein. Wer glaubt, der Wohnbau sei bereits zu Ende gedacht, der irrt.

Standard: Wohnen im Alter - wie wichtig sind dabei neue Technologien?

Wimmer: Ich kann gerade mal den Computer einschalten! Aber Spaß beiseite. Es sind bereits Bodenbeläge in Entwicklung, die mit speziellen Drucksensoren ausgestattet sind. Sobald jemand stürzt und die Sensoren die Kontur einer liegenden Person erkennen, werden automatisch Heimhilfe oder Rettung verständigt. Ich finde das großartig, denn das sind Maßnahmen, die es alten und gebrechlichen Personen ermöglichen, so lange wie möglich in der eigenen Wohnung leben zu können. Das ist genau das, was sich die meisten alten Menschen wünschen. Gleichzeitig ist das natürlich auch ein volkswirtschaftlicher Gewinn, denn eine einmalige Investition in so eine Technologie ist billiger als eine Langzeitpflege zu Hause und viel billiger als ein Bett in einem Pflegewohnheim.

Standard: Wann werden solche Technologien spruchreif sein?

Wimmer: Das sind sie schon! Ich war unlängst Jurymitglied bei einem Wettbewerb in Salzburg. Da ging es um altersgerechtes Wohnen. In den Ausschreibungsunterlagen waren genau solche Technologien gefordert. Wir stehen kurz davor, dass das Alltag wird.

Standard: In einem Pflegewohnheim in der Nähe von Stuttgart sind seit kurzem Roboter, sogenannte „Care-O-Bots“, im Einsatz. Sie teilen in der Früh die Post aus, sammeln schmutzige Wäsche ein und grüßen freundlich.

Wimmer: Ganz ehrlich, das halte ich für maßlos übertrieben. Technische Unterstützung schön und gut, aber am Ende des Tages zählen ein paar Streicheleinheiten vom Pfleger, von der Pflegerin mehr als ein blödes Hallo vom Roboter. Den Menschen wird man nicht ersetzen können.

Standard: Wie möchten Sie in 20, 30 Jahren leben?

Wimmer: Wenn ich es mir wünschen kann, dann im Kreise meiner Familie. In Wirklichkeit kann man nicht beeinflussen, wo das Schicksal einen hintreiben wird. Und wer weiß, ob ich eines Tages nicht selbst in so einem Pflegewohnheim landen werde.

Der Standard, Sa., 2010.10.23



verknüpfte Akteure
Wimmer Helmut

09. Oktober 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Stadt, mach Platz!

Wie öffentlich ist der öffentliche Raum? Preisgekrönte Beispiele aus Europa - und eine Ausstellung in Wien.

Wie öffentlich ist der öffentliche Raum? Preisgekrönte Beispiele aus Europa - und eine Ausstellung in Wien.

Es gibt lebensbejahendere Orte als Magdeburg. Die Hauptstadt von Sachsen-Anhalt ist gebeutelt von schrumpfender Bevölkerung und hoher Arbeitslosigkeit. Besonders dramatisch ist die Situation im südlichen, grau und beige getünchten Stadtteil Salbke. Arbeitslosenrate 20 Prozent, Gebäudeleerstand in den einzelnen Straßen zwischen 25 und 80 Prozent. Der Vandalismus entsteht in diesem Reagenzglas der Traurigkeit ganz von allein.

Doch seit kurzem hat Salbke einen neuen, einen grünen Hoffnungsschimmer. Wo einst die Stadtbücherei gestanden hatte, bevor sie mitsamt ihrem Bücherbestand in den Achtzigerjahren niederbrannte, befindet sich heute ein ungewöhnliches Mischding zwischen Architektur, Kunstinstallation und kleiner, aber feiner Parklandschaft.

Kinder sitzen auf den Holzbänken und blättern in irgendwelchen Büchern, Jugendliche hocken in verglasten Nischen und zünden sich eine Zigarette an, Mütter machen Pause von einem schubreichen Spaziergang mit Kinderwagen und Knirps. Und nein, das sind keine bezahlten Statisten fürs Foto, sondern ganz normale Magdeburger auf ihrem mal zufälligen, mal routinierten Weg durch die Stadt.

Das Projekt des Leipziger Architekturbüros Karo (in Zusammenarbeit mit Architektur+Netzwerk) scheint jedoch nicht nur die lokale Bevölkerung anzusprechen. Auch die Jury des European Prize for Urban Public Space, der alle zwei Jahre vom Centre of Contemporary Culture of Barcelona (CCCB) vergeben wird, zeigte sich von dieser öffentlichen Piazza regelrecht beeindruckt und zeichnete sowohl die Architekten als auch die Kommune Magdeburg als Auftraggeberin mit dem ersten Preis aus - ex aequo übrigens mit dem Osloer Opernhaus von Snøhetta Architekten.

„Die Freiluftbibliothek in Magdeburg ist ein sehr unvoreingenommenes Projekt“, sagt der spanische Architekt Rafael Moneo, der heuer den Juryvorsitz innehatte. „Es zeigt ein gewisses Desinteresse am allgemeinen Verständnis von Formensprache, und doch - oder vielleicht gerade deshalb - öffnet sich das Projekt für viele unterschiedliche Nutzungen und breit gefächerte Kulturaspekte.“

Begonnen hatte alles mit einer unscheinbaren Postkarten-Aktion, in der die Bevölkerung aufgefordert wurde, Bücher zu spenden, um die literarische Wissenslücke im kollektiven Gedächtnis nach 20 Jahren ohne eigene Stadtteilbibliothek endlich wieder zu schließen. Als der neue Bücherbestand auf mehr als 10.000 Stück angewachsen war, wusste niemand, wohin mit dem ganzen Zeug. Also beschlossen die Magdeburger, aktiv zu werden, und beantragten gemeinsam mit den Architekten einen Forschungsantrag beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung. Dem wurde stattgegeben.

Es folgte ein intensives Partizipationsprojekt mit vielen Besprechungen und ebenso vielen Entwurfseskapaden, die mal laienhaft Banales, mal überraschend Cleveres zu Tage brachten. Danach wurde die ausgewählte Siegerzeichnung direkt vor Ort dreidimensional simuliert. „Die Dinge haben sich perfekt gefügt“, sagt Architekt Stefan Rettich. „Ein Getränkehändler hat uns 1000 Bierkisten zur Verfügung gestellt, und so konnten wir ein 1:1-Modell des Entwurfs errichten. Das war ein einfacher, aber immens wichtiger Schritt in diesem Prozess.“

Im Sommer 2009 wurde die Freiluftbibliothek schließlich in die Realität umgesetzt - mitsamt zahlreichen Sitznischen, wetterfesten Büchervitrinen sowie einem teils offenen, teils geschlossenen Bühnenturm für diverse Lesungen, Band-Auftritte und Theater-Aufführungen des benachbarten Kindergartens. Die charakteristischen Aluminium-Waffelpaneele an der Fassade stammen von einem alten, bereits abgerissenen Horten-Kaufhaus aus den Sechzigerjahren.

„Die Bevölkerung hat sich gewünscht, dass bei diesem Bau Materialrecycling zur Anwendung kommt“, meint Rettich. „Bevor die Baubehörde überhaupt noch die Bewilligung erteilt hat, hatten die Leute die Alukassetten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion bereits um ein paar Tausend Euro gekauft. Da sieht man, wie sich so ein Projekt in kürzester Zeit verselbstständigen kann!“ Die Baukosten für das ungewöhnliche Wahrzeichen in Magdeburg-Salbke belaufen sich auf 325.000 Euro.

Die Häuser sind für alle da

Dieses und viele andere Projekte im öffentlichen Raum sind ab kommender Woche in einer Ausstellung im Architekturzentrum Wien zu sehen. Platz da! European Urban Public Space präsentiert zum einen die diesjährigen Preisträger des CCCB-Wettbewerbs, setzt sich zum anderen ganz allgemein mit der Frage auseinander: Was ist öffentlicher Raum?

„Das Verständnis hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt“, sagt die Ausstellungskuratorin Andrea Seidling. „Unter öffentlichem Raum hat man früher vor allem Garten- und Landschaftsprojekte verstanden. Mit den beiden erstplatzierten Projekten 2010, der Freiluftbibliothek in Magdeburg und der Oper in Oslo, sieht man ganz gut, wie sich der gesellschaftliche Freiraum immer mehr in die Architektur verlagert.“ Oder aber: „Wie die Bevölkerung immer häufiger Nutzungsansprüche an ihre gebaute Umwelt stellt.“

Die exakte Definition öffentlichen Raums sei vor allem eine Frage der Kultur und der gesellschaftlichen Traditionen im jeweiligen Land. Seidling: „Öffentlichkeit und Privateigentum haben in der Türkei einen anderen Stellenwert als etwa in Skandinavien. Daher wird auch das, was man unter einem öffentlichen Platz in der Stadt versteht, von Land zu Land variieren.“

Nur eines könne man mit Sicherheit sagen: „Österreich und da vor allem Wien haben zum öffentlichen Freiraum ein ziemlich gestörtes Verhältnis. Die Gründe dafür gehen zurück bis zum Polizeistaat Metternichs, in dem die Bespitzelung in der Öffentlichkeit an der Tagesordnung war. Lieber als auf dem Platz hat man sich damals im Caféhaus oder im Salon getroffen.“

Die Folgen dieses gesellschaftlichen Rückzugs sind bis heute zu sehen. Der einzige gut funktionierende öffentliche Freiraum in ganz Wien ist das revitalisierte Museumsquartier. Und dabei handelt es sich streng genommen nicht einmal um eine öffentliche Fläche, sondern um Privateigentum.

Das Dilemma mit dem Verkehr

„Von solchen Projekten wie in Magdeburg oder in Oslo kann man in Österreich nur träumen“, sagt die Kuratorin. „Und das ist schade, denn zu einem erfüllten Leben gehört nicht nur eine intakte Privatsphäre, sondern auch ein entsprechend gut funktionierender öffentlicher Raum. Hier treffen wir uns, hier nehmen wir am städtischen Leben teil, hier können wir die Möglichkeit wahrnehmen, unsere Meinung frei zu äußern.“

Warum das Spiel mit der Öffentlichkeit in Österreich partout nicht funktionieren will, liegt aber nicht nur in der Geschichte begründet, sondern hat auch mit der Gesetzeslage zu tun. „Laut Gesetzbuch definiert sich der öffentliche Raum in erster Linie über den Verkehr“, sagt der auf Öffentlichkeitsfragen spezialisierte Rechtsanwalt Axel Anderl von der Wiener Kanzlei Dorda Brugger Jordis. „Das ist zwar nachvollziehbar, im Grunde genommen aber ziemlich skurril.“

Wenn der Verkehr in der Diskussion immer wieder als Totschlagargument herhalten muss, braucht man sich über die Freiraumqualität in diesem Land nicht zu wundern. „Ich bin mir gar nicht so sicher, ob man das Problem juristisch in den Griff kriegen kann“, meint Anderl. „Hier ist die Politik gefordert. Doch solange wir in jedem Bezirk einen eigenen Bezirkskaiser haben, der lediglich seine eigenen Interessen durchboxen will, wird sich das Dilemma nicht ändern.“

Der öffentliche Raum in Österreich gehört bis auf weiteres dem Auto. Auch das ist Ausdruck von Kultur.

Der Standard, Sa., 2010.10.09

06. Oktober 2010Wojciech Czaja
db

Ein Schiff auf Stelzen

Die historische Strandbadsiedlung liegt mitten im Überschwemmungsgebiet der Donau. Die Bauaufgabe, dort einfache und erschwingliche Wochenendhäuser auf Stelzen zu bauen, wird von jeder Generation neu interpretiert. Das jüngst dort entstandene Sommerhaus auf einer Grundfläche von gerade einmal 35 m² wirkt trotz dem äußerst ökonomischen Umgang mit Raum und Material nicht billig und holt den Charme des Ortes bis tief hinein in die wohlproportionierten Wohnbereiche.

Die historische Strandbadsiedlung liegt mitten im Überschwemmungsgebiet der Donau. Die Bauaufgabe, dort einfache und erschwingliche Wochenendhäuser auf Stelzen zu bauen, wird von jeder Generation neu interpretiert. Das jüngst dort entstandene Sommerhaus auf einer Grundfläche von gerade einmal 35 m² wirkt trotz dem äußerst ökonomischen Umgang mit Raum und Material nicht billig und holt den Charme des Ortes bis tief hinein in die wohlproportionierten Wohnbereiche.

Die Strandbadsiedlung in Klosterneuburg, wenige Kilometer nördlich von Wien, blickt auf eine stolze Geschichte zurück. Mitten im Überschwemmungsgebiet der Donau siedelten sich in den 20er Jahren ruhebedürftige Wochenendemigranten aus der Großstadt an, die die Nähe des Wassers mit all ihren Nachteilen zu lieben und zu schätzen wussten. Die nassen Eskapaden der Natur ließen einen Bautypus gedeihen, der bis zum heutigen Tag nur hier vorzufinden ist und nirgendwo sonst in Österreich: das Kleingartenhaus auf Stelzen. Durch die mehrmalige Wiederkehr von Jahrhundert-Hochwassern fällt die clevere Vorausplanung der alten Tage allerdings ins Wasser: Die meisten der angehobenen Häuschen befinden sich schlichtweg zu nah am Boden. Wenn mehrmals im Jahr ungebetene Gäste ins Haus schwimmen, drängt sich die Frage auf, ob die gewählte Bauform wirklich die richtige ist. Marion Weiss-Döring weiß, wovon sie spricht. »Bei Hochwasser hatten wir regelmäßig die Donau im Wohnzimmer«, erinnert sich die 38-jährige Bauherrin. »Obwohl wir das Grundstück mit der primitiven Wochenendhütte darauf nur gekauft haben, um darin ein paar ruhige Stunden zu verbringen, haben wir uns hier nicht wahnsinnig wohl gefühlt.« Eines Tages war eine Entscheidung fällig. Umbauen und erweitern? Oder doch lieber abreißen? Es siegte der Drang nach Neubeginn.

Auf einer Grundfläche von nur 35 m² komponierte das kleine Wiener Architekturbüro Schuberth und Schuberth ein kleines Konglomerat aus hölzernen Kisten zu einem nahezu vollwertigen Haus mit gerade einmal 56 m² Nutzfläche. »Die Bauvorschriften im Hochwasserschutzgebiet sind streng und kompliziert«, sagt Johanna Schuberth. Während für die baurechtliche Bewilligung der beiden Wohngeschosse die Baubehörde zuständig war, unterliegt das UG dem Wasserrecht. Für die Architekten bedeutete das doppelte Arbeit. Trotz seiner überschaubaren Größe musste das Projekt zwei vollständige, voneinander getrennte, Verfahren durchlaufen.

Auch optisch hat das Oben mit dem Unten nur wenig zu tun. »Vieles an diesem Entwurf war vorgegeben«, sagt Schuberth. »Die architektonischen Gestaltungsmöglichkeiten im Sockel sind gering. Hier unten regiert das Wasser.« Der wasserdichte Betonsockel, in den die Architekten das Bad integrierten, darf maximal 3 m breit sein und muss parallel zur Fließrichtung der Donau liegen – eine Vorsichtsmaßnahme für den Hochwasserfall. Auch bei der außenliegenden Treppe war gestalterisches Geschick gefragt. Um den Strom nicht zu behindern, musste auf Geländerfüllungen und Setzstufen verzichtet werden. Allein diesen Sommer gab es bereits vier Überschwemmungen. Bei einer Jahrhundertflut wie 2002 reicht das Wasser bis knapp unter die Bodenplatte der Wohnebenen. Man ist gewappnet: Unter dem Haus steht das gelbe Schlauchboot bereit.

Einfach – Durchdacht – Punktgenau

Ab dem 1. OG ist das schlichte Gebäude – es würde glatt als Vorarlberger Projekt durchgehen – an der Außenseite mit vertikalen Lärchenlatten bekleidet. Innen hingegen, wo eine zusätzliche Bekleidung nicht nötig war, zeigt es sein wahres Gesicht. Dreischichtplatten aus Sperrholz prägen Wand und Decke, verleihen dem Haus einen angenehm harzigen Geruch – sie werden demnächst noch ein letztes Mal geölt. »Wir wollten die Konstruktion so belassen, wie sie ist«, sagt Johanna Schuberth. »Das hat in dem Fall aber nicht nur etwas mit der vielzitierten Materialauthentizität zu tun, sondern ist vor allem ein Kostenfaktor. Das Material hat den Vorteil, dass der gesamte Innenraum bis zur letzten Schicht zimmermannsmäßig fertiggestellt werden kann – ohne zusätzliche Bekleidung und dementsprechend günstig.«

Aufgrund der freundlichen und natürlichen Gestalt wirkt das Wohngeschoss trotz seiner beschränkten Grundfläche von nur 35 m² luftig und hell. Nicht einmal die niedrige Raumhöhe von 2,10 m unter der gedämmten Terrasse beziehungsweise von 2,28 m unter der unverkleideten Geschossdecke fällt unangenehm ins Auge. Von Klaustrophobie keine Spur. Ganz im Gegenteil: Die Proportionen passen, die Atmosphäre ist angenehm, der räumliche Gesamteindruck ist eine ausgewogene Gratwanderung zwischen gläserner Offenheit und nischenhafter Intimität. Meistens aber halten sich Marion Weiss-Döring, ihr Mann und die beiden Söhne Luis (3) und Kilian (6) draußen auf der Terrasse auf. »Aber wenn es kühler wird, dann setzen wir uns oft zu viert ins Wohnzimmer und schauen raus in die Natur. Die Stimmung ist einfach perfekt.«

Im Küchenerker, der wie eine Kommandobrücke über dem Garten schwebt, lässt sich das Fenster vor dem Herd per Gasdruckfeder vollflächig nach oben klappen und erzeugt dadurch ein gewisses Open-Air-Feeling. Draußen auf der Terrasse entsteht gleichzeitig ein partieller Witterungsschutz. Detail am Rande: Sobald es regnet, wird das Fenster zugeklappt. Dann packen Mann und Frau an und tragen den Esstisch durch die 1,20 m breite Eingangstür ins Wohnzimmer. »Das haben wir uns von Anfang an so gewünscht«, sagen sie. »Wer braucht in so einem kleinen Haus schon zwei Tische? Es reicht einer für drinnen und draußen.«

Charmant gelöst sind auch die üblicherweise störenden Revisionsöffnungen und Zählerkästen. Sie sind ebenfalls aus Holz und millimetergenau in den Rohbau des Hauses hineingefräst. Der taubenblaue Kautschukboden mit seiner charakteristischen, haptisch angenehmen Hammerschlagoberfläche soll den Architekten zufolge an die Nähe des Wassers erinnern. Und der graue Naturfilz vor den Garderobennischen ist Marke Eigenbau. Statt das Geld für kostspielige Beschläge auszugeben, wurde eine Studentin von der Universität für Angewandte Kunst in Wien mit den Näharbeiten beauftragt. »Viele Detaillösungen an diesem Haus sind einzigartig«, sagt der Architekt Gregor Schuberth. »Mit einem herkömmlichen Handwerkerbetrieb kann man so etwas kaum durchführen. Hier braucht es Witz, Engagement und Risikobereitschaft.«

Wie z. B. auch beim Möbelbau. Aufgrund des einfachen additiven Systems des Gebäudes konnten sämtliche Betten und Schranknischen direkt vom Zimmermannsbetrieb mitgemacht werden. Dadurch konnte man auf wesentlich teurere Möbeltischlerarbeiten verzichten. Schuberth: »Auch für den Zimmermann war das eine Premiere. Noch nie mussten seine Leute so genau arbeiten wie hier auf dieser Baustelle. Es hat geklappt.« Umso unverständlicher angesichts der sonst vorherrschenden Schlichtheit sind die blau gebeizten Holzflächen im Treppenbereich. Das ist eine oberflächliche Behübschungsmaßnahme, die das Haus wahrlich nicht nötig hat. Auch die Skepsis der Bauherrin der Farbe gegenüber hat sich noch nicht ganz gelegt.

Durch ein Treppenhaus mit diffusem Tageslicht-Adagio geht es hinauf ins 2. OG. Die Seitenwände entlang des Stiegenlaufs sind mit 4 cm dicken Stegplatten verkleidet. In bauphysikalischer Hinsicht entspricht der sechs Kammern starke Bauteil einer herkömmlichen Zweischeiben-Verglasung. Baubehörde und Nachbarschaft sind zufrieden. Die einen erhalten einen Plan mit allen baurechtlichen Konformitäten, die anderen eine abendliche Laterne mit weiss-döringschem Schattenspiel.

Oben wird es noch kompakter. Die beiden Schlafkojen für die Eltern sowie die beiden Kinder messen je 6 m² und wurden um die Betten herumgeplant. Nirgends geht 1 cm² verloren, alles ist bis zur letzten Fuge mit Nachtkästchen, fahrbaren Laden und wenigen, aber geschickt platzierten Steckdosen ausgestattet. Die Bauherrin erinnert sich: »Bei Betrachten der Pläne haben wir uns ständig gefragt, wie man auf so kleinen Flächen zurechtkommen kann.« Man kann. Dank der Raumhöhe von 2 m und den schmalen Oberlichtern wähnt man sich in einer gemütlichen Schiffskajüte. Stimmiger kann eine Metapher nicht sein.

Noch ist das Haus der Familie Weiss-Döring ein Kleingartenhaus für sommerliche Nutzung. Doch der Bau ist so konzipiert, dass eine winterfeste Nachrüstung mit frostsicheren Zuleitungen und einer zusätzlichen Wärmedämmung jederzeit möglich ist. Sobald das Haushaltsloch gestopft ist, bekommt das Haus Mütze und Schal umgebunden.

db, Mi., 2010.10.06



verknüpfte Zeitschriften
db 2010|10 Auf dem Wasser

05. Oktober 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Johannes Spalt 1920-2010

Am 29. September feierte Johannes Spalt seinen 90. Geburtstag. Freunde und Kollegen beehrten den Wiener Architekten, der zu den bedeutendsten Vertretern...

Am 29. September feierte Johannes Spalt seinen 90. Geburtstag. Freunde und Kollegen beehrten den Wiener Architekten, der zu den bedeutendsten Vertretern...

Am 29. September feierte Johannes Spalt seinen 90. Geburtstag. Freunde und Kollegen beehrten den Wiener Architekten, der zu den bedeutendsten Vertretern der österreichischen Nachkriegsmoderne zählt, mit Buchpräsentation und Fest. Alles war perfekt. Fast alles. Es war ausgerechnet das Geburtstagskind, das seiner eigenen Feier aus gesundheitlichen Gründen fernbleiben musste. Vorigen Samstag ist Johannes Spalt an den Folgen eines Schlaganfalls in seiner Wiener Innenstadtwohnung gestorben.

1920 in Gmunden geboren, macht Spalt zunächst eine Ausbildung als Maurer und studiert danach Architektur an der Staatsbauschule in Salzburg sowie bei Altmeister Clemens Holzmeister an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Es ist das Jahr 1951, als Spalt beschließt, gemeinsam mit seinen Studienkollegen Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent und Otto Leitner die erste Architekten-Boygroup des Landes zu gründen.

Um bei öffentlichen Wettbewerben nicht sofort als Jungspunde entlarvt zu werden, verstecken sich die vier hinter einem „teutonischen Kunstnamen“ (O-Ton Kurrent) und nennen sich fortan „arbeitsgruppe 4“.

Die schlaue Strategie trägt Früchte. Bald folgen die ersten Erfolge. Zwar können die Wettbewerbe nicht die gewünschten Siege einbringen, aber doch zumindest gut bezahlte zweite und dritte Plätze sowie ein paar lukrative Ankäufe.

Spalt, der unter seinen Kollegen stets als kritischer Geist und Neinsager galt, verfasste nicht nur theoretische Texte über die Auseinandersetzung mit der Moderne, sondern trat mit den gemeinsam errichteten Bauwerken - darunter etwa die Pfarrkirche Salzburg-Parsch (1956), das Kolleg St. Josef in Salzburg-Aigen (1964) sowie eine Z-Bankfiliale in Wien-Floridsdorf (1974) - den Beweis an, dass er seinen Prinzipien auch in der Praxis treu bleiben konnte.

Nachdem sich die arbeitsgruppe 4 im Jahr 1974 auflöst, widmet sich Spalt noch feineren, noch ausgetüftelteren Projekten. Aus dieser Zeit stammen zahlreiche Möbelentwürfe für Wittmann sowie die beinahe japanisch anmutende Salvatorkirche am Wienerfeld in Wien-Favoriten (1979). Letzte Woche erschien im Residenz Verlag das Buch Johannes Spalt. Wahlverwandtschaften. Der wichtige Wegbereiter der österreichischen Nachkriegsmoderne, der von 1975 bis 1979 auch Rektor der Hochschule für angewandte Kunst war, hielt sein gebundenes Geburtstagsgeschenk noch fest in den Händen. Johannes Spalt wird in seinem Geburtsort Gmunden beigesetzt.

Der Standard, Di., 2010.10.05



verknüpfte Akteure
Spalt Johannes

02. Oktober 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Der Kampf der grünen Materie

Letzten Samstag kamen Landschaftsarchitekten aus aller Welt nach Langenlois. Anlass war die Siegerehrung der „best private plots“.

Letzten Samstag kamen Landschaftsarchitekten aus aller Welt nach Langenlois. Anlass war die Siegerehrung der „best private plots“.

Von außen ist dem Haus seine grüne Schlucht nicht anzusehen. In japanischer Manier presst sich der schmale Bau in seine Umgebung aus Einfamilienhäusern und Beton. Keine zehn Meter breit, rücken ihm links und rechts bereits die Nachbarn auf die Pelle. „Die Aufgabe war nicht leicht“, sagt der japanische Landschaftsarchitekt Zenjiro Hashimoto. „Mein Kunde wollte unbedingt einen dichten, dunklen und moosbewachsenen Wald, in den er sich zur Erholung zurückziehen kann.“

Den hat er auch gekriegt. In der Mittagspause, wenn der Zahnarzt seine Praxis für ein kurzes Stündchen schließt, setzt er sich hinaus in den Wald und denkt nach über den Sinn des Lebens. Auf einer Breite von exakt 150 Zentimetern beinhaltet der künstlich angelegte mori nicht nur zahlreiche Gräser, Sträucher und Bäume, sondern auch einen kleinen Bach, in dem sich der Zahnarzt sogar ein Fischlein hält.

Letzten Samstag wurde Hashimoto aus der Präfektur Hiroshima nach Österreich eingeflogen und nahm in Langenlois beim internationalen Gartenwettbewerbs best private plots 2010 für seinen ungewöhnlichen Entwurf den 1. Preis entgegen.

„Privater Freiraum ist nicht nur ein unschätzbarer Luxusartikel, sondern auch Ausdruck von Kultur“, sagt die Wiener Landschaftsarchitektin Karin Standler. Bereits zum vierten Mal trommelte die Organisatorin heuer Freiraumplaner und Landschaftsarchitektinnen aus aller Welt zusammen und lud zum Wettbewerb mitsamt prominent besetzten Symposium - darunter etwa Neil Porter (London), Xavier Perrot (Paris) und Bart Brands vom holländischen Landschaftsplanungsbüro karres en brands (siehe Interview).

Gesponsert wird die Veranstaltung vom Land Niederösterreich. „Gerade in Österreich ist der Anteil an Privatgärten sehr hoch“, meint Standler. Da sei es nur gut und recht, wenn man sich an der Welt ein Beispiel nehme und auf hohem Niveau über Qualität und Nichtqualität diskutiere.

Die Kunst der Sachzwänge

Während der erste Preis unter insgesamt 72 Einreichungen an ein minimales Projekt mit maximalen Flächenzwängen ging, rangieren auf den Plätzen zwei und drei zwei herrschaftliche Anwesen in der Westschweiz und in Sonoma Valley, USA.

Ausgangspunkt in Le Very war ein altes Gehöft aus dem 19. Jahrhundert. „Einerseits wollten wir das historische Erscheinungsbild des Gebäudes bewahren, andererseits geht es um moderne Wohnbedürfnisse ohne Kompromiss“, sagt der Schweizer Landschaftsarchitekt Augusto Caldoner. „Das zeigt sich allein schon an der Frage: Wie schaffe ich einen Weg zum Haus, ohne dabei das Gebäude in seiner Eigenständigkeit zu stören? Ich denke, wir haben das Problem gut gelöst.“

Auch die dritte Preisträgerin, Andrea Chochran, musste mit den Zwängen vor Ort arbeiten. Den bestehenden Bauwerken setzte die Kalifornierin mediterrane Gräser entgegen: „Im Winter, wenn das Gras niedrig ist, sind die Häuser mächtig und groß. Im Sommer hingegen, wenn es alles blüht und gedeiht, verschwindet die Architektur hinter einem Schleier aus Grün.“ Das spannende Spiel zwischen toter und lebendiger Materie ist eröffnet.

Der Standard, Sa., 2010.10.02

02. Oktober 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Natur? Eine Frage der Sozialarbeit

Der niederländische Landschaftsarchitekt Bart Brands über Lifestyle, Bürokratie und dreckige Fingernägel

Der niederländische Landschaftsarchitekt Bart Brands über Lifestyle, Bürokratie und dreckige Fingernägel

Standard: Wo steht die europäische Garten- und Landschaftsarchitektur im Jahr 2010?

Brands: Für viele Leute ist der Garten eine Art Statussymbol geworden. Je größer der Garten, je teurer die Outdoor-Küche, je blauer der Swimming-Pool, desto besser. Das ist ein richtiger Wettstreit unter Nachbarn. Doch es gibt noch einen ganz anderen Trend, der mir viel besser gefällt: Leute verwenden den Garten als verlängertes Wohnzimmer und gleichzeitig als eine Art grünen Zufluchtsort, an dem sie ihr eigenes Gemüse anpflanzen. Sogar Michelle Obama macht das! Der Garten ist also Symbol für eine Rückbesinnung zur Natur.

Standard: Sie sind ...?

Brands: Ich bin der mit dem Dreck unter den Fingernägeln, der sich nach der Gartenarbeit die Hände nicht gewaschen hat. Der Garten als Designstück - das ist mir zuwider.

Standard: In Ihrem Vortrag meinten Sie, dass Landschaftsarchitekten zusehends zu Dirigenten und Regisseuren werden. Was meinen Sie damit?

Brands: Früher hat man einen Entwurf gemacht, der wurde realisiert, und das war's. Das ist heute anders. Ich beobachte, dass immer mehr Landschaftsarchitekten eine Art interaktives Drehbuch schreiben. Das heißt: Sie realisieren zunächst einmal einen ersten Rohentwurf und schauen sich an, wie der Grünraum von der Bevölkerung angenommen wird. Erst danach reagieren sie darauf und stellen den Entwurf fertig. Man sieht daran, ganz gut, welchen Einfluss ein Garten auf die Menschen hat - aber natürlich auch umgekehrt.

Standard: Woher kommt dieser Wunsch nach Partizipation?

Brands: Es mag eigenartig klingen, aber es ist wahr: Die eigentliche Initiative geht von den Sozialarbeitern aus. Immer wieder sind sie es, die an Gemeinden und Planer herantreten und appellieren, endlich einmal ein Gemeinschaftsprojekt mit der Bevölkerung zu realisieren. Mittlerweile hat sich das Thema verselbstständigt. Wir nennen das Social Engineering - ein furchtbares Wort.

Standard: In der Architektur gab es das System Partizipation schon vor 30 Jahren. Und es ist gescheitert!

Brands: Und wissen Sie, warum? Weil die Architekten damals die Verantwortung komplett an die Bürger abgegeben haben! Und das funktioniert nicht! Teilhabe bedeutet, wie der Name schon sagt, dass die Bevölkerung am Planungsprozess teilhat. Mehr ist es nicht. Der Planer muss die Zügel in der Hand behalten.

Standard: Leidsche Rijn, ein von Ihnen entwickelter und in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung entstandener Park in den Niederlanden, wurde zerstört und umgebaut, noch bevor er überhaupt fertig war. Was ist passiert?

Brands: Wir haben einen Park entworfen, an dem wir mit den Leuten vor Ort kontinuierlich weiterplanen und weiterbauen wollten. Vegeblich. Das Problem war, dass Planungsabteilung, Bauabteilung und Abteilung für Erhaltung und Pflege nicht miteinander kommuniziert haben. Solche Projekte scheitern daran, dass es in den Ämtern schlimmer zugeht als vor hundert Jahren.

Standard: Was passierte danach?

Brands: Die Gemeinde musste das Projekt neu ausschreiben. Das Resultat ist ein klassischer Park nach klassischer Methode - da kennen sich die Beamten aus.

Standard: Die Abteilungen sind in den meisten Städten getrennt. Wie kann man das Problem lösen?

Brands: Ein innovatives Projekt innerhalb einer verkrusteten, altmodischen Struktur zu realisieren ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die einzige Möglichkeit ist, in solchen Fällen beispielsweise eine übergeordnete Ebene zu installieren, die für Planung, Bau und Erhaltung gleichermaßen verantwortlich ist.

Standard: Wo sehen Sie den öffentlichen Raum in 50 Jahren?

Brands: Öffentlicher Grünraum in der Stadt wird immer wichtiger. Die telekommunikativen und virtuellen Räume werden immer größer, gleichzeitig haben die Menschen kaum noch realen Platz für die Pflege ihrer sozialen Beziehungen. Sich auf dem Hauptplatz zu treffen ist schon lange nicht mehr das, was es früher mal war. Überall herrscht Konsumationszwang. Nur ein Beispiel: Auf dem Markusplatz in Venedig wurden vor einiger Zeit alle Parkbänke entfernt. Wer sich heute hier hinsetzen will, muss dafür in Form eines Cappuccinos teuer bezahlen.

Der Standard, Sa., 2010.10.02



verknüpfte Akteure
Brands Bart



verknüpfte Beiträge
europa1 Niederlande

18. September 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Japanische Geschenke für Liszt

Kommendes Jahr feiert Raiding den 200. Geburtstag seines großen Sohnes Franz Liszt. Um die vielen Musiker adäquat unterzubringen, sollen für das Jubiläum zehn Häuser gebaut werden. Die Entwürfe kommen aus Tokio.

Kommendes Jahr feiert Raiding den 200. Geburtstag seines großen Sohnes Franz Liszt. Um die vielen Musiker adäquat unterzubringen, sollen für das Jubiläum zehn Häuser gebaut werden. Die Entwürfe kommen aus Tokio.

Im Oktober 2011 jährt sich der 200. Geburtstag des Pianisten und Komponisten Franz Liszt. Die burgenländische Gemeinde Raiding, Geburtsort Liszts mit gerade einmal 850 Einwohnern, wird zum Jubiläum fest in die Tasten hauen - sehr zum Leidwesen der Gemeinde, denn noch weiß niemand, wo man die vielen Künstler und Musiker wird unterbringen können.

Der österreichische Autor, Fotograf und Filmemacher Roland Hagenberg, derzeit in Tokio lebend, hatte die Idee zum Problem: Er addierte Heimat A und Wahlheimat B zu einem hübschen und berührenden Summenspiel namens Japan Liszt Raiding und beauftragte zehn japanische Architekturbüros - darunter auch weltweit bekannte wie etwa Toyo Ito, Kengo Kuma sowie die diesjährigen Pritzker-Preisträger Sanaa - mit der Planung von temporären Künstlerunterkünften. Die Entwürfe sind derzeit im Architekturzentrum Wien (AZW) zu sehen. Geht alles nach Plan, sollen die japanischen Ideen kommenden Sommer in die Realität umgesetzt werden.

„Auf Gedeih und Verderb liefern sich zehn Tokioter Architekten dem Land aus“, sagt Hagenberg. „Die Latte liegt hier eindeutig höher als in der anonymen Großstadt.“ Architekt Terunobu Fujimori zeigt sich von der Strenge der Pampa völlig unbeeindruckt. Mit Humor und Selbstironie befestigt er eine Art Nussschale auf einem Seil. Betreten werden die kleinen Domizile in Form von Obst und Gemüse jeweils über eine Leiter. Tezuka Architekten planen ein schlichtes Haus mit Bett und Klavier, bei dem man das Dach, einem Konzertflügel gleich, nach oben aufklappen kann. Und Jun Aoki träumt von einem Haus aus altem, vergilbtem Pergamentpapier. Das ist Nippon.

„Wir werden alles Erdenkliche tun, um das Projekt zu realisieren“, meint Bürgermeister Markus Landauer (ÖVP). „So eine Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“

Der Standard, Sa., 2010.09.18

11. September 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Autobahn, marsch!

Vor zehn Jahren wurden die meisten Autos aus der Innenstadt verbannt. Seitdem fährt man in Bogotá mit Bus und Rad. Der ehemalige Bürgermeister Enrique Peñalosa erklärt, warum.

Vor zehn Jahren wurden die meisten Autos aus der Innenstadt verbannt. Seitdem fährt man in Bogotá mit Bus und Rad. Der ehemalige Bürgermeister Enrique Peñalosa erklärt, warum.

Die Kolumbianer haben Humor. Mitten durch Bogotá verläuft eine 24 Kilometer lange, prächtige und von Bäumen gesäumte Stadtautobahn ohne Autos. Die hübsch gepflasterte und flüsterstill asphaltierte Straße dient ausschließlich jenen Verkehrsteilnehmern, die imstande sind, sich durch eigene Muskelkraft fortzubewegen: Fußgängern und Radfahrern.

Was sich anhört wie eine Episode zwischen Fred Feuerstein und Barney Geröllheimer, ist in Wirklichkeit ein innovatives Stadtplanungsprojekt aus der Feder des ehemaligen bogotanischen Bürgermeisters Enrique Peñalosa. In seiner kurzen Amtszeit von 1997 bis 2000 legte er Straßen still, löste Parkplätze auf, errichtete Fußgängerzonen, baute hunderte Kilometer von Gehsteigen und Radwegen, pflanzte 100.000 Bäume, legte quer durch die ganze Stadt einen kilometerlangen Fußgänger- und Radfahrer-Highway und entwickelte quasi aus dem Nichts ein hochleistungsfähiges Busnetz, das heute als eines der modernsten Schnellverkehrssysteme der Welt gilt.

„Nur eine Stadt, die den Maßstab des Menschen respektiert, ist eine Stadt, in der man sich auch wirklich wohlfühlt“, sagte Peñalosa bei den Alpbacher Baukulturgesprächen, die letztes Wochenende zwischen Kuhglockengeläute und strammen Wadeln über die Bühne gingen. Gespräch mit einem Visionär.

Standard: Haben Sie ein Auto?

Peñalosa: Ich schäme mich fast, es zuzugeben.

Standard: So schlimm?

Peñalosa: Ich fahre einen gepanzerten Toyota SUV. Ich bin oft in Gegenden unterwegs, wo ich froh sein kann, einen gewissen Schutz um mich herum zu haben. Wenn man in Kolumbien als Politiker tätig ist, braucht man so etwas. In Bogotá selbst fahre ich aber fast ausschließlich mit dem Rad oder mit dem Bus. Der SUV wird eher außerhalb eingesetzt.

Standard: In Ihrer Amtszeit als Bürgermeister von Bogotá haben Sie einen Großteil der Autos aus der Innenstadt verbannt. Warum?

Peñalosa: Ich möchte nur etwas klarstellen: Ich bin kein Autohasser, aber in Kolumbien hat man manchmal das Gefühl, dass Autos mehr wert sind als alles andere. Warum? Der Grund ist sehr einfach: Nur 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung von Bogotá besitzen ein Privatauto, doch diese 25 bis 30 Prozent sind politisch und wirtschaftlich so mächtig, dass sie lange Zeit einen Großteil der öffentlichen Steuergelder für sich und ihren Komfort in Anspruch genommen haben, und zwar für den Ausbau von Straßen, für den Bau von Garagen sowie für die Errichtung von öffentlicher Infrastruktur, die meist nur mit dem Auto erreichbar war, nicht aber zu Fuß oder mit dem Bus. Hinzu kommt das stadträumliche Problem.

Standard: Das bedeutet?

Peñalosa: Bogotá hat rund sieben Millionen Einwohner. Das Stadtzentrum ist längst aus allen Nähten geplatzt, weil es nie als Autofahrerstadt konzipiert war. Die öffentlichen Flächen sind viel zu gering dimensioniert. Fazit: Überall waren Autos, überall war Stau, die ganze Stadt war zugeparkt.

Standard: Sie haben Gehsteige und Radwege errichtet, vor allem aber haben Sie sogenannte Greenways für Fußgänger und Radfahrer errichtet. Wie hat die Autofahrerlobby darauf reagiert?

Peñalosa: Zuerst haben alle geglaubt, wir bauen ein paar Radwege und machen ein paar Straßen neu. Erst mit der Zeit sind den Leuten die Ausmaße dieses Umbauprogramms klar geworden.

Standard: Wie hat sich das geäußert?

Peñalosa: Die Umfragewerte sind in den Keller gerasselt. 77 Prozent der Bevölkerung wollten mich loswerden. Manche, glaube ich, hätten mich am liebsten umgebracht. So schlechte Werte hatte sonst nur die Guerilla! Da muss man durch.

Standard: Hat Sie das wirklich so unbeeindruckt gelassen?

Peñalosa: Das kann man nun wirklich nicht sagen! Sehen Sie meine Haare? Bevor ich Bürgermeister von Bogotá geworden bin, waren meine Haare richtig schwarz. So wie man sich das von einem Südamerikaner erwartet. Drei Jahre später war alles grau. Politiker sind keine Queens of Sympathy! Das waren sie nie, und das werden sie nie sein.

Standard: Letztendlich haben Sie den Beliebtheitskonkurs aber doch noch gewonnen.

Peñalosa: Ja, am Ende meiner Amtszeit haben mich die Leute geliebt. Ich hatte 70 Prozent Zuspruch. Auch das war so viel wie noch nie. Hätte ich wieder kandidiert, ich hätte haushoch gewonnen. Aber ich wollte und konnte nicht mehr. Ich war ausgepowert.

Standard: Wie ist Bogotá heute?

Peñalosa: Unser Konzept ist aufgegangen. Danke an mein Superstar-Team! Die beiden Greenways, also der „Parque Lineal Juan Amarillo“ und die Promenade „Porvenir Alameda“, werden von der Bevölkerung bestens angenommen. Viele Leute gehen zu Fuß, und der Radfahreranteil ist von statistischen null Prozent innerhalb von wenigen Jahren auf fünf Prozent gestiegen. Immerhin. Sie müssen sich vorstellen: Ein Fahrrad, das war früher ein Arme-Leute-Gefährt. Die Leute haben sich geschämt, damit zu fahren. Heute ist das anders. Auf dem Parque Lineal können sie mit einem alten Secondhand-Rad um 40 Dollar bequem von A nach B fahren, während das 40.000-Dollar-Auto des reichen Mannes auf der Schotterstraße fahren oder im Matsch parken muss. Ich denke, dass es mit dieser attraktiven Infrastruktur gelungen ist, die Mobilität zu demokratisieren. 40 Dollar für ein Rad, das kann sich wirk-lich fast jeder leisten.

Standard: Wie wird das Bussystem angenommen?

Peñalosa: Sensationell! Wir haben uns das Bussystem von Curitiba in Brasilien abgeschaut und haben es noch weiter perfektioniert. Heute hat Bogotá mit dem knallroten Transmilenio - Farbe und Name sind übrigens immens wichtig für das Image - das modernste Bussystem der Welt. Wir kriegen regelmäßig internationalen Besuch von Politikern, Stadtplanern und Ingenieuren, die uns als Best-Practice-Beispiel heranziehen.

Standard: Was macht das Bus-system so modern?

Peñalosa: Der Transmilenio funktioniert wie eine U-Bahn. Es gibt eigene Fahrspuren für Express- und für Lokalbusse. So etwas kenne ich sonst nur von der Subway in New York. Zusammen mit den Aufenthalten in den Haltestellen haben die Busse eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 30 km/h, die Expressbusse fahren sogar 50 km/h. Das ist ein Wahnsinn. Die Autos daneben stehen im Stau oder fahren im Schneckentempo.

Standard: Sie sagen das mit so einer Genugtuung.

Peñalosa: Selbstverständlich! Mit dem Transmilenio haben wir die ganze Stadt revolutioniert. Auf der Architekturbiennale 2006 in Venedig haben wir dafür sogar den Goldenen Löwen bekommen. Bogotá hat zwar noch immer einen Haufen Probleme, da gibt es nichts zu beschönigen, doch das Verkehrsproblem ist bis auf weiteres gelöst.

Standard: Wie haben Sie all diese Projekte in nur drei Jahren finanzieren können?

Peñalosa: Die Gehsteige, Radwege und Greenways haben insgesamt rund 120 Millionen Dollar gekostet. Das Bussystem hat nochmals 250 Millionen Dollar verschlungen. Das Geld kam einerseits aus den Steuern, andererseits gab es auch ein paar Private Public Partnerships. Trotzdem mussten wir noch etwas nachhelfen. Beispielsweise, indem wir die Benzinsteuer von ursprünglich fünf auf 25 Prozent erhöht haben.

Standard: Rückbau von Straßen, Vernichtung von Parkplätzen, Anhebung von Steuern - wie wird man mit so einem Programm überhaupt gewählt?

Peñalosa: Es hat ja erst beim dritten Anlauf geklappt! Bei den ersten beiden Kandidaturen 1992 und 1994 bin ich leider durchgeflogen. Letztendlich war's ganz einfach: Ich habe von Anfang an klipp und klar gesagt, wofür ich stehe und was ich als Bürgermeister gedenke zu tun. Allerdings geht kein Mensch davon aus, dass ein kolumbianischer Politiker die Wahrheit sagt und seine Versprechen hält. Kein Mensch hat mir auch nur eine Minute lang geglaubt.

Enrique Peñalosa, 1954 in Washington D.C. geboren, studierte Volkswirtschaft an der Duke University in North Carolina, USA. Danach arbeitete er in der Privatwirtschaft und in der Politik. Von 1997 bis 2000 war er Bürgermeister von Bogotá. Heute ist er Projektentwickler im Bereich Freiraum- und Verkehrskonzepte.

Der Standard, Sa., 2010.09.11

06. September 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Nachhaltigkeit ist eine Sache der Affen

Die Alpbacher Baukulturgespräche standen im Zeichen der Ökologie. Die Vortragenden waren sich einig und forderten vehement: mehr Bäume und weniger Autos in den Städten.

Die Alpbacher Baukulturgespräche standen im Zeichen der Ökologie. Die Vortragenden waren sich einig und forderten vehement: mehr Bäume und weniger Autos in den Städten.

Ein durchschnittlicher Äthiopier bestreitet seinen Alltag mit 500 Watt. Das ist die Energiemenge von fünf altmodischen Glühbirnen. Im Vergleich dazu: Ein Europäer braucht bereits 6000 Watt, um über die Runden zu kommen, ein US-Amerikaner hingegen, damit dieser vom eisig klimatisierten, suburbanen Einfamilienhaus in die nächste Drive-in-Apotheke gelangen kann, sogar 12.000 Watt.

„Wie wir alle wissen, wird so ein großer ökologischer Fußabdruck auf Dauer nicht möglich sein“, sagte Jörg Lange im Rahmen der Alpbacher Baukulturgespräche, die am Samstag zu Ende gingen und damit - zeitgleich zu einem etwas üppiger besuchten Vortrag von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon - den Abschluss des Europäischen Forums 2010 bildeten. Die einzige Lösung laute: „Wir müssen zurück zur 2000-Watt-Gesellschaft. Nur so kann es gelingen, die Erderwärmung bis 2100 auf zwei Grad Celsius zu beschränken.“

Wie das geht, zeigte der deutsche Aktivist anhand eines Best-Practice-Beispiels aus Freiburg im Breisgau. Wo früher eine Kaserne gestanden hatte, wurde eine autofreie Solarsiedlung aus dem Erdboden gehoben, in der manche Häuser mehr Energie produzieren, als sie verbrauchen. Der Deckungsgrad beträgt 105 Prozent. Die überschüssige Energie wird - bei wohlgemerkt besseren Einspeisungstarifen als in Österreich - ins Netz gespeist.

„Die Siedlung Vauban funktioniert sehr gut und die Leute sind zufrieden“, so Lange. „Das Problem mit all diesen Modellsiedlungen ist allerdings: Wenn man nicht sofort in die Breite damit geht und die erfolgreichen Modelle kopiert, dann ist der ganze Aufwand umsonst.“ Lange ortet einen Rückschritt: „Vor zehn, 15 Jahren waren wir schon mal innovativer, da haben solche Wohnkonzepte geboomt. Heute jedoch scheuen wir vor dem Neuen meist zurück.“

Das bestätigt auch Enrique Pañalosa, ehemaliger Bürgermeister von Bogotá. In seiner Amtszeit von 1997 bis 2000 ließ er hunderte Kilometer von Gehsteigen und Radwegen errichten und implementierte ein Schnellbussystem, das heute als eines der modernsten öffentlichen Verkehrsnetze der Welt gilt. „Damals war so etwas möglich“, sagte er zum Standard. „Die Bevölkerung war euphorisch und voller Energie. Heute hat sich das geändert. Ein bisschen ist Bogotá in seine alten, unzufriedenen Muster zurückgekippt.“

München als Beispiel

Dabei wäre alles so einfach. Herbert Girardet, Filmemacher und Programmdirektor des World Future Council in London, skizzierte seinen Weg von der einst autarken „Agropolis“ über die heute vorherrschende „Petropolis“, deren Funktionsfähigkeit auf dem Einsatz fossiler Brennstoffe beruht, zur sogenannten „Ecopolis“. Es gehe nicht darum, den Fortschritt zu leugnen, sondern die jeweiligen Vorteile in einem Synthesemodell zu vereinen. „Beispiele, die vorzeigen, wie das geht, gibt es bereits zur Genüge“, erklärte Girardet. München etwa habe vor zwei Jahren beschlossen, die Energieversorgung zur Gänze aus erneuerbaren Ressourcen zu generieren. Die Stadtverwaltung investiere seitdem in Windkraftwerke in Großbritannien und in Solaranlagen in Spanien.

Der österreichische Verkehrsplaner Hermann Knoflacher plädierte in seiner Schlussrede dafür, endlich den sogenannten Stellplatznachweis abzuschaffen. Dieser besagt, dass zu jeder neu errichteten Wohnung ein Kfz-Stellplatz errichtet werden muss. „Solange wir diesen Paragrafen in den Bauvorschriften drin haben, wird das Thema Nachhaltigkeit in der Praxis nicht funktionieren.“

Die einfachste Forderung kam von Franz Eberhard, dem ehemaligem Direktor des Amts für Städtebau in Zürich: „Nachhaltigkeit heißt, ein Affe muss auf den Bäumen die Stadt durchqueren müssen. Das sollte das Leitbild für unsere Städte sein.“

Der Standard, Mo., 2010.09.06

04. September 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Der alte Mann und seine Feinde

Gestern, Freitag, feierte Wilhelm Holzbauer seinen 80. Geburtstag. Architekt zu sein, sagt er, das ist nicht gerade ein Job, in dem man sich Freunde macht. Schon gar nicht, seitdem die Plebejer am Werk sind.

Gestern, Freitag, feierte Wilhelm Holzbauer seinen 80. Geburtstag. Architekt zu sein, sagt er, das ist nicht gerade ein Job, in dem man sich Freunde macht. Schon gar nicht, seitdem die Plebejer am Werk sind.

Standard: Wie feiert ein Architekt seinen Achtziger?

Holzbauer: Bei meinem Siebziger, da hat meine Frau in der Albertina eine große Party organisiert. Und beim Fünfundsiebziger auch. Das war dann im gläsernen Saal im Musikverein. Aber jetzt, wo ich 80 bin, ist mir nicht wirklich zum Feiern zumute. Ein nettes Abendessen mit meinen Freunden, das reicht mir vollkommen. Und zwar in einer kleinen und beschaulichen Runde. Plinius hat einmal gesagt, die perfekte Anzahl der Freunde am Tisch, das ist mehr als die drei Grazien und weniger als die neun Musen.

Standard: Andere sind in dem Alter schon seit 15 Jahren in Pension. Denken Sie manchmal daran, sich zur Ruhe zu setzen?

Holzbauer: Ich wüsste nicht, wie Ruhe aussehen soll. Selbst wenn ich nichts zu tun habe, erwische ich mich dabei, wie ich dann anfange, ein Buch zu schreiben. Ja, eigentlich habe ich in letzter Zeit vor allem geschrieben.

Standard: Worum geht es in Ihrem Buch?

Holzbauer: Über den Aufstieg und Fall der Moderne in der Architektur.

Standard: Die ist doch schon vor Jahrzehnten gefallen!

Holzbauer: Ja, aber die Thematik ist immer noch aktuell.

Standard: Seit dem großen Rambazamba rund um das Haus für Mozart haben sich die Wogen wieder geglättet. Es ist stiller geworden um Sie.

Holzbauer: Ja, das stimmt. Es ist stiller geworden. Ich mache nicht mehr so viel wie früher. Das liegt daran, dass ich in den letzten Jahren nicht mehr zu den Aufgaben gekommen bin, die mich wirklich interessieren. Das letzte große Projekt war ein Konzerthaus für Konstanz. Wir haben den Wettbewerb gewonnen, aber dann gab es eine Abstimmung. Die Bevölkerung hat das Projekt bei 63 Prozent Wahlbeteiligung und 67 Prozent Gegenstimmen abgewählt.

Standard: Woran arbeiten Sie zurzeit?

Holzbauer: Wir planen viele Bürobauten. Das hat sich in den letzten Jahren so ergeben. Aber das mache ich nicht mehr selber, weil mich das nicht so interessiert. Ich leite die Projekte direkt an meine Mitarbeiter weiter. Lieber würde ich Musik- und Theaterbauten planen. In letzter Zeit bin ich auch im Thermenbereich tätig. Ich habe etwa die St. Martins Lodge im Seewinkel im Burgenland gebaut, zusammen mit meinen jungen Partnern. Das ist ein ganz schönes Projekt geworden. Und nicht zu vergessen ist die U1. Im Rahmen der AGU, der Architektengruppe U-Bahn, machen wir jetzt die neuen U-Bahn-Stationen auf der Südstrecke Richtung Rothneusiedl. Es ist ganz lustig, nach über 40 Jahren an das eigene Projekt wieder anzuknüpfen. Der Wettbewerb damals war 1969!

Standard: Wie hat sich der Beruf in den letzten Jahren verändert?

Holzbauer: Es ist schwieriger geworden. Allein der Umstand, dass Österreich die ganzen EU-Spielchen mitspielt, ist eine deutliche Verschlechterung der Branche.

Standard: Was meinen Sie damit?

Holzbauer: In Spanien etwa werden freihändig Opernhäuser und Museen vergeben. In Großbritannien auch. Nur bei uns sind die Politiker und Auftraggeber so unglaublich ängstlich und schreiben für jedes einzelne Kleinprojekt einen öffentlichen, EU-weiten Wettbewerb aus.

Standard: Wettbewerbe sind der Versuch, Architektur zu demokratisieren.

Holzbauer: Wenn ich mir meine Schüler anschaue, wie zum Beispiel Delugan Meissl oder BEHF, dann kann ich sagen: Ja, die können mit diesem System umgehen und beherrschen die Spielregeln perfekt. Die bauen einen Wettbewerb nach dem anderen. Da bin ich vielleicht ein bisschen unflexibel geworden.

Standard: Ach was! Sie kommen mit dem Modell Wettbewerb doch auch ganz gut zurecht. Im Gegensatz zu den anderen bauen Sie sogar dann, wenn Sie nicht gewonnen haben!

Holzbauer: (lacht) Sagen wir mal so, ich baue dann, wenn ich nicht ganz oben war. Aber man darf nicht vergessen: Dieses Freispiel hat es immer schon gegeben. Allein, wenn in Wien jedes Siegerprojekt realisiert worden wäre, glauben Sie mir, dann würde diese Stadt heute anders aussehen! Beispiele gibt es genug.

Standard: Ihr Argument führt das Prinzip Wettbewerb ad absurdum.

Holzbauer: Let's face it! Die ersten Preise sind nicht immer die besten. Man denke nur an das Kriegsministerium in Wien, wo sowohl Otto Wagner als auch Adolf Loos durchgefallen sind.

Standard: Mit dieser Aussage entziehen Sie den Jurys jede Kompetenz.

Holzbauer: Manchmal muss man sich eben wehren! Zum Beispiel das Haus für Mozart in Salzburg! Das war ja alles ein abgekartetes Spiel. Ich hatte den Auftrag praktisch schon in der Tasche. Und plötzlich gewinnen Hermann & Valentiny. Da war ich dann natürlich unglaublich verärgert. Trotzdem ist es in der weiteren Entwicklung zu einer hervorragenden Zusammenarbeit mit Valentiny gekommen. Schließlich war er ja einer meiner besten Schüler.

Standard: Sie waren heuer bei den Salzburger Festspielen. Wie geht es Ihnen, wenn Sie das Gebäude einige Jahre nach Fertigstellung sehen?

Holzbauer: Alles ganz wunderbar. Es können alle froh sein, dass es so gekommen ist, wie's ist. Das Haus ist offen, die Leute sind überall, die Stimmung bei den Festspielen ist großartig. Ich habe mit der Netrebko gesprochen. Die Künstler, sagt sie, finden das Haus und die Akustik ganz hervorragend.

Standard: War der Preis für dieses Projekt nicht hoch? Selbst Friedrich Kurrent, in Zeiten der „arbeitsgruppe 4“ noch Ihr Partner, hat sich von Ihnen distanziert. In einem Interview meinte er: „Die Freundschaft würde bestehen, wenn er das Salzburger Festspielhaus nicht verhaut hätte. Doch er hat sich das Projekt erstritten, und das ist schlimm.“

Holzbauer: Sie kennen doch den Kurrent! Der schreibt sogar Briefe an den Papst, dass er die Bernini-Kollonaden schließen soll. Und dieser Kurrent, der mir die Freundschaft gekündigt hat, der war letzte Woche bei mir, und wir hatten ein wunderbares Abendessen, zusammen mit Puchhammer, Achleitner und Gsteu. Wir haben uns prächtig unterhalten und gut gespeist. Die Freundschaft besteht nach wie vor, nur haben wir uns ausgemacht, dass wir über den Fall Salzburg nicht mehr reden. Vor fünf Jahren hat er mir eine Glückwunschkarte zum Geburtstag geschickt. Da hat er dann geschrieben: „Mit 75 hat der Holzmeister das große Festspielhaus gebaut, und mit 75 hast Du sein kleines ruiniert.“

Standard: Macht man sich in der Architektur mehr Freunde oder mehr Feinde?

Holzbauer: Ich habe mir ziemlich viele Feinde gemacht. Das kann man wohl so sagen. Das ist kein Beruf, in dem Freundschaften geboren werden. Aber interessanterweise sind meine Klienten durch die Bank sehr zufrieden mit dem, was ich ihnen hingestellt habe. Im Landtagsgebäude in Vorarlberg - das ist 1981 fertiggestellt worden - sieht es heute noch genauso aus wie am ersten Tag.

Standard: 1978 bis 1981 haben Sie das „Haus eines Kunstsammlers“ gebaut. So lautet zumindest der Titel auf Ihrer Homepage. Es ist das Haus des kürzlich verstorbenen „Krone“-Chefs. Welches Verhältnis hatten Sie zu Hans Dichand?

Holzbauer: Ganz ehrlich, die Zusammenarbeit war schwierig. Er hat damals einen Einflüsterer gehabt, und zwar den Architekten Peter Czernin. Der hat mir immer wieder hineingefunkt. Aber trotzdem ist das Haus so geworden, wie ich es wollte. Wir sind in Harmonie auseinandergegangen.

Standard: Sie haben in den letzten 55 Jahren rund 500 Projekte entworfen. Wie viele schlechte sind darunter?

Holzbauer: Das schlechteste Projekt war für mich die Fußgängerzone in der Kärntner Straße in Wien. Das Projekt hat nicht den Maßstab der Stadt getroffen. Das ist in die Hose gegangen.

Standard: Ein persönlicher Rückblick zum Achtziger: Welchen Stellenwert nimmt Wilhelm Holzbauer im österreichischen Architekturgeschehen ein?

Holzbauer: Diese Rolle ändert sich ständig. Zu Zeiten der Wiener U-Bahn und der großen Projekte in Salzburg und in Amsterdam, da war ich auf meinem absoluten Höhepunkt. Jede Zeit hat ihren Star. Damals war ich das, heute ist das der Prix. Doch bei den meisten Architekten, die heutzutage tätig sind, habe ich den Eindruck, frei nach Rousseau, dass wir den großen Einzug der Plebejer in die Architektur erleben.

Der Standard, Sa., 2010.09.04



verknüpfte Akteure
Holzbauer Wilhelm

28. August 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Revolution in Schwebe

12. Architekturbiennale in Venedig: Gelungen ist ein Balanceakt zwischen Kunst und Kritik. Die Architektur muss man suchen

12. Architekturbiennale in Venedig: Gelungen ist ein Balanceakt zwischen Kunst und Kritik. Die Architektur muss man suchen

Und dann das. Dramatisch beleuchtet, dramatisch in Szene gesetzt, dramatisch über den Köpfen der Besucher hinwegschwebend, als wäre die tonnenschwere Masse da oben leicht wie eine Feder, die in einer süßen Windböe vom Himmel fällt. Antón García Abril, Architekt und Autor der Installation Balancing Act, ist ein Meister des Gleichgewichts. In der Corderie-Halle des Arsenale setzte er zwei 20 Meter lange Betonträger übereinander, aber nicht irgendwie, sondern anhand einer fein berechneten Choreografie aus der Welt der physikalischen Kräfte.

„Ich kann mir nicht helfen. Ich habe das Bedürfnis, mit schweren Elementen leichte Räume zu gestalten“, sagt der 41-jährige Spanier. Wie schon bei seinem eigenen Wohnhaus in Las Rozas, Madrid, verblüfft er den Betrachter mit Unerwartetem. Normalerweise werden industriell gefertigte Elemente im Brückenbau eingesetzt. Hier tanzt das 25 Tonnen schwere Ding auf einer selbstgeschweißten Stahlfeder und ist der perfekte Auftakt für die 12. Architekturbiennale in Venedig, die heute, Samstag, eröffnet wird.

„People meet in architecture“ lautet der übergeordnete Titel der Schau. Und selbst wenn der Großteil der Exponate eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem beauftragten Thema vermissen lässt, gebührt der Direktorin Kazuyo Sejima - erstmals wird die Biennale von einer Frau angeführt - eine gehörige Portion Respekt. Nach vielen gescheiterten Versuchen ist die Biennale, die in den letzten Jahren nicht durch Subtilität auffiel, endlich wieder ein Hort des Neuen, endlich wieder ein Hort des feinen Experiments - ohne Zaha und ohne Frankie O.

„Wir leben in einer Zeit radikaler Änderungen“, sagt Sejima, „deswegen ist es wichtig, dass die Architektur auf diese Änderungen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln reagiert. Am Ende würde ich mir wünschen, dass wir dank dieser Ausstellung etwas genauer wissen, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickeln wird und welche Träume die Zukunft für uns birgt.“

Und tatsächlich: Von Träumen (und Albträumen) sind auf dieser kunstaffinen Architekturbiennale so viele Exponate geprägt wie nie zuvor. Die Bandbreite ist groß. Die Volksrepublik China zog sich zurück ins letzte Eck des Arsenale, bearbeitete die alten Stahltanks mit Brecheisen und Stange und lässt daraus viele kleine, allem Anschein nach unzensurierte Schwalben aus durchsichtigem Acrylglas entfliehen.

Griechenland baute eine Holzarche, jawohl: eine Arche, und packt mit ein, was nötig ist, um die Reise in die Zukunft zu überstehen: einen Laptop mit Navigationssystem und MP3-Player, eine ganze Batterie an Pflanzensamen und Gewürzen und einen Backbordmotor zur Flucht.

Deutschland wiederum lässt in seinem Pavillon die „Sehnsucht“ walten - so das umschweifende Motto des diesjährigen Beitrags von Cordula Rau, Eberhard Tröger und Ole W. Fischer. Gestillt wird vor allem jene nach einer bequemen Sitzgelegenheit in dunkelrotem Plüsch. Mehr ist nicht drin.

Neben ein paar Pavillons, die sich - wie übrigens auch der österreichische Beitrag unter Kommissär Eric Owen Moss - im krampfhaft pluralistischen Ausstellen vieler einzelner Projekte verzetteln, ist die Summe der unscheinbaren und wenig in Erinnerung bleibenden Länderbeiträge damit bereits erreicht. Der ganze große Rest ist zumeist simpel und einprägsam, bisweilen berührend und radikal, in jeder Hinsicht aber aufschlussreich und interessant.

Rumänien stellt einen einfachen White Cube in seinen Pavillon. „Ich wünsche mir, dass jeder einzeln hineingeht und den Raum auf sich wirken lässt“, sagt Architekt Tudor Vlasceanu. Mit exakt 94,4 Quadratmetern entspricht er dem Lebensraum eines durchschnittlichen Bukaresters. Mit einer Bevölkerungsdichte von 8500 Einwohnern pro Quadratkilometer zählt die rumänische Hauptstadt zu den dichtesten Ballungsräumen Europas. Vlasceanu: „Ich weiß schon, dass Bukarest nicht die wichtigste und spannendste Stadt Europas ist. Aber wir haben ein Problem, das auf diesem Kontinent recht selten ist. Wir wissen nicht, wohin mit den Menschen.“

Obwohl die Niederlande auch nicht gerade dünn besiedelt sind, stellt sich dort ein Problem ganz anderer Art dar: „In den Niederlanden stehen 4326 architektonisch wertvolle, historisch bedeutende oder sich unter Denkmalschutz befindliche Bauwerke seit Jahren leer“, sagt Ole Bouman, Kurator und Direktor des Niederländischen Architekturinstituts (NAI). „Das ist nicht nur eine Verschwendung wertvoller Flächenressourcen, sondern auch eine Vernachlässigung unserer kulturellen Verantwortung.“ Jedes einzelne dieser Gebäude wurde nachgebaut und schwebt nun als federleichte Styroporskulptur über den Köpfen der Besucher. Der Aufstieg in den ersten Stock lohnt, ganz gleich, wie viele Blasen an den Füßen einen davon abzuhalten versuchen.

Nicht entgehen lassen sollte man sich übrigens auch den Hylozoic Ground im kanadischen Pavillon. Der Torontoer Architekt und Designer Philip Beesley verliert sich in den Abgründen kinetischer Architektur und baut technoide Lebewesen aus Plastik, Gummi und Papier. Die frei hängenden Skulpturen bewegen sich wie Farne in der Meeresströmung, wie Tiefseequallen und Kraken.

„Auch wenn das viele beunruhigen mag - ich bin davon überzeugt, dass wir mit der uns vertrauten statischen Architektur nicht mehr weit kommen werden“, sagt Beesley, ein Anhänger des Hylozoismus, des Glaubens daran, dass Materie lebt. „In ein paar grundlegenden Bereichen wie etwa in der Nahrungsmittelversorgung brauchen wir dringend Unterstützung. Je früher wir uns damit anfreunden, desto besser. Es muss sich etwas in Bewegung setzen.“

Auf der Architekturbiennale ist vieles in Bewegung. Pritzker-Preisträgerin Kazuyo Sejima hat bewiesen, dass verkrustete Systeme dazu da sind, aufgebrochen zu werden. Der Jahrmarkt der Eitelkeiten dürfte überstanden sein.

Der Standard, Sa., 2010.08.28

21. August 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Alles Baustelle

Kommenden Donnerstag wird in Venedig die 12. Architekturbiennale eröffnet. Österreich zeigt sich als Land „under construction“. Gespräch mit dem Kommissär Eric Owen Moss.

Kommenden Donnerstag wird in Venedig die 12. Architekturbiennale eröffnet. Österreich zeigt sich als Land „under construction“. Gespräch mit dem Kommissär Eric Owen Moss.

Die japanische Architektin und Pritzker-Preisträgerin Kazuyo Sejima (54) hat Großes vor. „Es fühlt sich an, als lebten wir in einer post-ideologischen Gesellschaft“, sagt sie. „In so einer schnelllebigen Welt stellt sich die dringende Frage, ob es der Architektur gelingen kann, neue Werte und womöglich sogar einen neuen Lebensstil zu verankern.“

Als erste Direktorin in der Geschichte der Architekturbiennale Venedig gibt sie demzufolge ein Thema vor, das so menschelt wie noch nie zuvor: „People meet in architecture“. Sejima: „Die Idee ist, dass man Menschen darin unterstützt, eine Verbindung zur Architektur, aber auch eine Verbindung zueinander aufzubauen.“

Die österreichische Antwort auf den Bindungswunsch fällt grenzüberschreitend aus: Kulturministerin Claudia Schmied (SPÖ), eine Freundin überraschender und wenig transparenter Personalentscheidungen, spähte über den Großen Teich und entschied, den Österreich-Pavillon zur Abwechslung einmal von einem nicht-österreichischen Architekten befüllen zu lassen.

Der kalifornische Befüller und Kommissär Eric Owen Moss wiederum greift das Thema auf, indem er „Austria under construction“ zeigt und den Josef-Hoffmann-Pavillon prompt in ein Baugerüst hüllt. Präsentiert werden 64 Projekte österreichischer Architekten im Ausland sowie ausländischer Architektin in Österreich. Anlass zu einem Gespräch.

Standard: Jetleg?

Moss: Venedig, Los Angeles, Venedig, Los Angeles, Venedig, Los Angeles. Ich bin mittlerweile so müde, dass ich gar nicht mehr weiß, was der Unterschied zwischen Müdigkeit und Nichtmüdigkeit ist. Alles dreht sich.

Standard: Erstmals wird Österreich von einem ausländischen Architekten repräsentiert. Was ist der Vorteil an der Sache? Die Mobilität kann's ja nicht sein.

Moss: Angeblich, das habe ich mir sagen lassen, ist das auf der Biennale überhaupt das allererste Mal, dass ein Land von einem ausländischen Architekten vertreten wird. Und das wundert mich! Denn in der Kunstszene ist es gang und gäbe, dass man auf Blickwinkel von außen zurückgreift. In der Architekturszene jedoch bevorzugen es die Leute, in der eigenen Suppe zu schwimmen und für sich selbst Werbung zu machen. In meinen Augen ist das altmodisch und chauvinistisch. Der Blick von außen hingegen ist objektiver und distanzierter. Und riskanter. Claudia Schmied legt die Latte sehr hoch. So eine Entscheidung braucht Mut.

Standard: Warum gerade Eric Owen Moss?

Moss: Das müssen Sie Claudia fragen.

Standard: Ich frage Sie!

Moss: Ich glaube, ich habe eine etwas unorthodoxe Sicht auf die Dinge.

Standard: Was macht Sie so unorthodox?

Moss: Ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Die Art und Weise, wie ich Architektur mache, erfolgt aus meiner tiefsten Überzeugung, dass ich damit etwas verändern und verbessern kann. Wenn Sie als Bauherr glauben, dass eh alles in Ordnung ist, dann bin ich mit Sicherheit der falsche Architekt für Sie. Nein, es ist nicht alles in Ordnung, bei Weitem nicht! Aber Architektur kann den Prozess beschleunigen, kann die Diskussion in Gang setzen. Man muss nur daran glauben.

Standard: Der Architekt als Weltverbesserer?

Moss: Architektur ist wie ein Zuckerl. Sie ist ein kleiner Bestandteil des Lebens, aber wenn sie gut ist, dann ist das Leben gleich um so viel wohlschmeckender und schöner! Und das Wichtigste: Architektur ist ein kinetischer Prozess. Sie muss sich jede Minute weiterentwickeln. Sonst ist Stillstand.

Standard: Wie gut kennen Sie Österreich?

Moss: Ich war schon circa 25-mal in Österreich. Vielleicht auch 20-mal, vielleicht auch 30-mal. Keine Ahnung.

Standard: Sie haben beschlossen, „Austria under construction“ zu zeigen. Das bedeutet?

Moss: Österreich ist, was seine Größe und Einwohnerzahl betrifft, ein sehr kleines Land, doch relativ betrachtet ist es riesig! Diesen Umstand wollte ich darstellen. Die Fülle an guter Architektur ist enorm, die Strahlkraft nach außen ist mit kaum einem anderen Land dieser Größe vergleichbar. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass Österreich in Sachen Baukultur einer der wenigen internationalen Leader ist. Wo sich viel tut, da wird auch viel gebaut. Baustellen sind gut. Das kann man auch als Metapher sehen.

Standard: Insgesamt werden 64 Projekte gezeigt. Haben Sie Berater vor Ort gehabt oder haben Sie die Auswahl allein getroffen?

Moss: Ich habe gute Kontakte nach Wien, unter anderem weil auch einige Freunde von mir hier leben. Zu sagen, dass mir bei der Auswahl niemand geholfen hat, wäre also gelogen. Worauf wir allerdings besonderen Wert gelegt haben, war der Blick hinter das Bekannte und Bewährte: Wir haben die 64 Projekte, die wir in der Ausstellung zeigen, ausschließlich nach ihrer Qualität beurteilt - und nicht nach dem Bekanntheitsgrad ihres Verfassers. Deswegen sind auch viele Junge und Unbekannte dabei. Hauptsache, sie sind gut! Natürlich kann es sein, dass wir in einigen Fällen daneben gegriffen haben. Und mit Sicherheit ist uns auch das eine oder andere wichtige Projekt durch die Lappen gegangen. Was soll's. Ein Amalgam ist nie zu 100 Prozent perfekt.

Standard: Das Motto dieser Biennale lautet „People meet in architecture“. Ohne Zweifel ist Kazuyo Sejimas gewählter Titel eine der wichtigsten Aufgaben des Bauens überhaupt. Sind sich Architekten dieser Bürde bewusst?

Moss: Das weiß ich nicht. In unserer Ausstellung haben wir alles Mögliche unternommen, um so einen Treffpunkt zu schaffen. Natürlich nicht ohne ein zwinkerndes Auge: Wir haben eine Art Publikum aufgebaut, doch dabei haben wir die Menschen durch Objekte ersetzt. Die Kommunikation erfolgt nun durch die ausgestellten Arbeiten.

Standard: Wird es tatsächlich gelingen, dass die Architekturbiennale zum Treffpunkt eines größeren Publikums wird? Oder werden sich hier Architekten, Künstler und Kulturjunkies treffen wie jedes Jahr?

Moss: Darüber haben wir uns im Büro lang unterhalten. Architektur spricht nur ein kleines Publikum an. Das ist nun mal so und dafür braucht man sich auch nicht zu entschuldigen. Selbst wenn man sich auf den Kopf stellt: Diese Materie wird niemals so viel Interesse auf sich ziehen wie Politik, wie Wirtschaft, wie Wissenschaft und Forschung. Aber das stört mich nicht. Wenn nur drei Leute Kafka lesen und wenn sich nur vier Leute ein Gemälde von Lucian Freud anschauen, doch diese Leute machen das mit ernsthaftem Interesse und mit Genuss, dann ist schon viel erreicht. So ähnlich ist das auch mit der Architektur. Aber natürlich habe ich mich bemüht, mit meinem Ausstellungskonzept den Bogen so weit wie möglich zu spannen und ein Maximum an Publikum damit anzusprechen. Ob das gelingen wird ... Das ist der Job von Euch Journalisten!

Standard: Fragt sich nur, ob das Modell der Biennale prinzipiell noch zeitgemäß ist!

Moss: Was ist schon zeitgemäß? Ich halte die Diskussion, ob etwas zeitgemäß ist oder nicht, für völlig übertrieben. In den USA machen Sie etwas, und dann kommen die Leute zu Ihnen und sagen: Oh, that's so 80ies! Oder: Oh, that's so 90ies! Oder: Oh, that's so 99! Ich finde das schrecklich. Schauen Sie sich einmal Venedig an! Ist an dieser Stadt noch irgendwas zeitgemäß? Gar nichts. Und doch lieben wir sie und fahren immer wieder hin.

Standard: Meine Frage bezieht sich nicht auf die Stadt, sondern auf die Ausstellung.

Moss: Ich bin zufrieden mit dem Format. Mit einer einzigen Einschränkung: Immer nur in der eigenen Suppe zu schwimmen, da gebe ich Ihnen recht, ist ganz bestimmt nicht zeitgemäß. Ich denke daher, dass Österreich heuer eine neue und sehr interessante Stoßrichtung vorgegeben hat: Architekturpräsentation aus einem fremden Blickwinkel. Das könnte die Biennale wieder spannend machen.

Standard: Ein Wunsch: Was sollen die Leute empfinden, nachdem sie „Austria under construction“ besichtigt haben?

Moss: Mein Wunsch ist, dass sich das Publikum der einzigartigen Rolle Österreichs bewusst wird. Österreichische Architektur ist ein großartiger Exportartikel. Das Land hat Power! Daher auch das Baugerüst. Es ist Symbol dafür, dass sich etwas in Bau befindet, dass etwas ständig in Prozess ist.

Der Standard, Sa., 2010.08.21

14. August 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Im Land der kleinen Spediteure

Das Ebbser Unternehmen Tirolia Spedition erweiterte seinen Firmensitz um eine Silberkiste mit freizeitlichem Inhalt. Das Haus verfügt über eine Lounge sowie über den kleinsten Betriebskindergarten weit und breit.

Das Ebbser Unternehmen Tirolia Spedition erweiterte seinen Firmensitz um eine Silberkiste mit freizeitlichem Inhalt. Das Haus verfügt über eine Lounge sowie über den kleinsten Betriebskindergarten weit und breit.

Wer Tirol sagt, der muss auch Transit sagen. Rund zwei Millionen Lkw-Fahrten werden im gesamten Bundesland und am Brenner Jahr für Jahr verzeichnet. Es ist das Paradies der Spediteure. Neben den großen Marktführern wie Schenker, Gebrüder Weiß und Lkw Walter sind hier viele, vor allem kleinere Speditionsunternehmen tätig. Die meisten davon haben ihren Firmensitz entlang der Inntal-Autobahn.

Ein solches Unternehmen ist die Tirolia Spedition GesmbH, die auf die Organisation von sogenannten Komplettladungen spezialisiert ist. Das bedeutet: Die Ware wird ohne Umschlag in voll beladenen Lkws von A nach B geführt, ohne dass sie dabei mit anderen Waren kombiniert werden muss. Rund 50.000 Transporte werden jährlich von der Ebbser Zentrale aus abgewickelt.

Als das Stammhaus, 2001 nach Plänen des Tiroler Büros Architekturhalle erbaut, eines Tages zu klein wurde, dachte man laut über einen Zubau nach. „Die Zusammenarbeit hat in der Vergangenheit sehr gut funktioniert, also war für uns klar, dass wir auch das neue Projekt wieder mit denselben Architekten durchziehen wollen“, erinnert sich Michael Lukasser, Geschäftsführer des Speditionsunternehmens.

Der Neubau, eine silbrig schillernde Kiste aus Edelstahl und Glas, beinhaltet keine fixen Büroarbeitsplätze, sondern dient ausschließlich dem Service und der Infrastruktur. Neben einem Bar- und Loungebereich, der den Mitarbeitern zur Verfügung steht, gibt es Schulungsräumlichkeiten und einen Betriebskindergarten.

Besonders auffällig ist die Fassade. Die haushohen Paneele aus Edelstahlgitter sind an Licht- und Windsensoren angeschlossen und können sich auf diese Weise je nach Sonneneinstrahlung vollautomatisch öffnen und schließen. „Wir wollten das Gebäude klimatechnisch in den Griff kriegen, ohne dabei auf komplizierte Hightech-Lösungen zurückgreifen zu müssen“, sagt Architekt Manfred König. Gekühlt wird das Haus über einen Grundwasserbrunnen, die Beheizung im Winter erfolgt über das lokale Fernwärmenetz.

Mini-Kindergarten inklusive

Das Außergwöhnlichste am gesamten Projekt ist jedoch der Kindergarten. Obwohl die Tirolia Spedition nur 60, vorwiegend weibliche Arbeitskräfte beschäftigt, wollte Lukasser eine eigene Betreuungsstätte für Babys und Kleinkinder einrichten (siehe Interview). Für einen Betrieb dieser Größe ist das Vorhaben ungewöhnlich. Meist ist so eine Einrichtung nur in größeren Unternehmen anzutreffen. Beim Pharmakonzern Sandoz in Kundl etwa, rund 20 Kilometer entfernt, eröffnet kommenden September ein Kindergarten mit 22 Betreuungsplätzen. Allerdings verfügt der Standort auch über rund 2500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Der Standard, Sa., 2010.08.14



verknüpfte Bauwerke
Umbau und Erweiterung Bürogebäude Tirolia

07. August 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Die fabelhafte Welt der Manuelle

Die Pariser Architektin Manuelle Gautrand hat nur Ornament im Sinn. Wenn die Wirklichkeit nicht ausreicht, zieht sie sich zurück in die Welt der Bits und Bytes.

Die Pariser Architektin Manuelle Gautrand hat nur Ornament im Sinn. Wenn die Wirklichkeit nicht ausreicht, zieht sie sich zurück in die Welt der Bits und Bytes.

Adolf Loos sagte einst, Ornament sei Verbrechen. „Ach, Loos würde mich hassen“, sagt die Pariser Architektin Manuelle Gautrand, zuckt mit den Schultern und rollt unschuldig ihre kullernden Teddybär-Augen nach oben. „Aus seiner Sicht wäre ich wohl so etwas wie eine Schwerstkriminelle. Unverbesserlich. Ab hinter Gitter.“

Die 49-Jährige, die seit 1991 ein eigenes Büro in der Nähe der Opéra Bastille betreibt, hat nämlich nur eines im Sinn: Ästhetik um jeden Preis. „Ich will, dass Architektur etwas Schönes ist. Ich will, dass die Menschen die Häuser nicht nur mit den Augen wahrnehmen, sondern dass sie sie auch angreifen, streicheln, in die Hand nehmen wollen. Und das geht nur, indem man den Gebäuden so etwas wie eine emotionale Hülle verleiht.“

Das Gefühlskleid der Gautrand'schen Gebäude nennt sich Ornament. „Die meisten französischen Architekten haben Angst vor Expression und machen einen auf cool und emotionslos“, sagt Gautrand, die auf die Errungenschaften der Moderne pfeift und die Belle Époque zu neuem Leben erwecken will. „Aber das interessiert mich nicht. Ganz im Gegenteil. Ich brauche das Ornament, um mich zu artikulieren.“

Auf eines legt die Architektin allerdings Wert: Die ornamentale Oberfläche ist im Gegensatz zu den historischen Vorbildern nie Selbstzweck, sondern übernimmt stets eine bauphysikalische, statische oder marketingtechnische Funktion. Bei ihrem Citroën-Showroom C42 auf der Avenue des Champs-Élysées in Paris ist die kristalline Glasfassade Konstruktion und Kommunikationsoberfläche zugleich. Gautrand: „Der typische Doppel-Chevron, den jeder vom Kühlergrill dieser französischen Autos kennt, ist in die Fassade integriert und macht es so überflüssig, das Wort Citroën an die Wand zu schreiben. Die Architektur selbst wird hier zum Wiedererkennungsmerkmal.“ Gebäude und Marke seien untrennbar miteinander verbunden. „Sollte Citroën seine Niederlassung eines Tages aufgeben, dann müsste man das Gebäude wohl ohne jeden Zweifel zerstören.“

Allein, die meisten realisierten Bauwerke der Pariser Architektin, die für ihren Citroën-Showroom sogar mit dem Future Project Award 2005 ausgezeichnet wurde, kommen schlicht und schnörkellos daher. Das ist der Preis der Wirklichkeit. „Ich fürchte, viele Auftraggeber und Bauherren sind noch nicht so weit“, erklärt Gautrand. „Sie sehen Architektur in erster Linie als eine funktionsorientierte Dienstleistung und nicht so sehr als Ausdrucksmittel einer kulturbeflissenen Gesellschaft. Das ist zwar legitim, aber schade, denn es ist dringend an der Zeit, Architektur neu zu definieren und den Bedürfnissen der Gegenwart und Zukunft anzupassen.“

Fazit: Im Gegensatz zum Gros ihrer französischen Kollegen flüchtet Gautrand in die Backstube der Bits und Bytes, zieht sich Kochschürze und Mütze über und wälzt ihre digitalen Wolkenkratzer, Wohnhäuser und Kulturbauten in einer Panier aus Blumenstreusel und geometrischem Dekor. Beim Wettbewerbsentwurf für ein Bürocluster in Issy-les-Moulineaux in Westparis lässt sie die Wolkenkratzer wie Bäume aus dem Boden wachsen. Das Tragwerk in der Fassadenebene ist Stämmen und Ästen nachempfunden, die Fensterflächen weisen die Form organisch geschwungener Blätter auf.

„Manchmal eignet sich die Architektursprache eben, um einen Stadtteil unverwechselbar zu machen und mit Identität aufzuladen“, sagt Gautrand. Oder mit Emotionen. Für den Businessbezirk La Défense, der von jeher an gestalterischer Unterkühlung leidet, schlug sie einen 300 Meter hohen Office-Tower vor, der an seiner Außenseite in ein ornamentales Kleid aus Stahl gewickelt ist.

„Das Ornament ist auch in diesem Fall nicht nur ein Ornament, sondern in erster Linie die nach außen gekehrte Tragstruktur des Gebäudes“, sagt Gautrand. „Meist wird die Arbeit der Baumeister und Stahlbauer hinter Fassaden und Verkleidungen versteckt. Ich wollte ihre Arbeit klar sichtbar belassen. Wenn Sie so wollen, wird an der Fassade eine kleine Geschichte des Bauens erzählt.“

Architektonische Anekdoten wie diese seien dringend nötig. „Vor allem in der Hochhausarchitektur dominiert eine sterile, gesichtslose, männlich geprägte Sprache. Ich wollte beweisen, dass auch ein Wolkenkratzer weich und weiblich wirken kann.“ Ob sie die Einteilung in Geschlechterrollen nicht als störend empfindet? „Mag sein, dass Ornament etwas Feminines ist. Aber was soll's, ich bin eben eine Frau.“

Unter Umständen könnte demnächst auch in Wien ein archetypisch weiblicher Bau aus der Erde ragen. Im Auftrag der Wien 3420 Aspern Development AG wurde Gautrand vor zwei Jahren eingeladen, um mit Studenten der TU Wien Projekte für die neue Seestadt Aspern zu entwickeln. „Das war einmal ein erster Schritt“, heißt es bei Wien 3420. „Wir haben vor, Manuelle Gautrand bei einem der nächsten großen Projekte in der Seestadt zu einem Wettbewerb einzuladen.“ - Ein weiterer Versuch, um das Ornament aus der fabelhaften Welt in die Wirklichkeit zu hieven.

Der Standard, Sa., 2010.08.07

31. Juli 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Zur Untermiete in meiner Galerie

Museum oder Wohnung? Ein New Yorker Kunstsammler wollte ein Leben inmitten von Bildern und Büchern. Architekt Ben van Berkel nahm sich dieses Wunsches an.

Museum oder Wohnung? Ein New Yorker Kunstsammler wollte ein Leben inmitten von Bildern und Büchern. Architekt Ben van Berkel nahm sich dieses Wunsches an.

Der Hund ist ein Kunstwerk für sich. Mit einem fürwahr beunruhigenden Hecheln und Röcheln, ganz in der Art eines kurz bevorstehenden Atemstillstands, trottet der achtjährige Köter seinem Herrchen hinterher. „Ich weiß schon, Leo wird niemals einen Schönheitswettbewerb gewinnen“, sagt der glückliche Bewohner dieser 440 Quadratmeter großen Immobilie mitten in Manhattan. „Aber ich habe diesen Bulldog-Kerl einfach liebgewonnen. Auch wenn er ausschaut wie ein nass gewordener Gremlin.“

Leo ist das einzige - sagen wir einmal - Element, das völlig aus dem Rahmen fällt. Denn abgesehen von Leo ist das geschmeidig geschwungene Loft in Greenwich Village wohl die schönste Kombination aus Architektur, Wohnen und Kunst, die man sich nur vorstellen kann. „Ich habe immer davon geträumt, inmitten von Kunst zu wohnen“, sagt der 62-jährige Wahl-New-Yorker, der es bevorzugt, anonym und unerkannt zu bleiben. „Ich sammle schon seit 25 Jahren und habe Kunstwerke und Bücher vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Was lag also näher, als nach einem Architekten zu suchen, der mir meine ganz persönliche Wohngalerie mit Sofa, Bad und Bett entwirft?“

Und er fand. Ben van Berkel, Boss des holländischen Architekturbüros UN Studio und Freund seit vielen Jahren, wurde nach New York eingeflogen, sah sich das heruntergekommene Rattenloch im neunten Stock eines recht unscheinbaren Backsteinbaus an und nahm sich schließlich seiner Verwandlung in eine Residenz für Kunst und Hausherr an.

„Die Wohnung war groß, aber sonst nur dunkel und schrecklich“, erinnert sich van Berkel an seinen ersten Besuch zurück. „Ich war schockiert und dachte mir: Wir müssen alles niederreißen und so viel Licht wie nur möglich in den Innenraum bringen.“ Gesagt, getan. Anstelle ein paar kleiner Gucklöcher in der Außenmauer prangt nun ein Panoramafenster mit atemberaubenden Blick auf Lower Manhattan. „Ich finde die Kunstwerke in diesem Loft ja fantastisch“, sagt der Architekt. „Aber diese Aussicht auf die Stadt ist für mich persönlich das schönste Kunstwerk überhaupt.“

Leo keucht. Der Weg durch das Loft ist weit. „Greifen Sie nur mal diese glattgespachtelten und geschwungenen Wände an“, sagt der Bauherr. „Ja, ich bin obsessiv, aber die Art und Weise, wie Ben mit diesem Raum umgegangen ist, finde ich einfach faszinierend.“ Wochenlang seien die Handwerker vor Ort gewesen, um mit Schleifpapier und feiner Spachtel das hinzukriegen, was durchaus als perfekte organische Oberfläche in die Annalen der Architekturgeschichte eingehen könnte.

Neben schönen und edlen Materialien - der Holzboden etwa besteht aus drei Zentimeter dicken Dielen aus massiver Fichte - ist einer der Hauptprotagonisten jedoch das künstliche Licht. „2,80 Meter Raumhöhe sind nicht viel“, sagt Ben van Berkel, „daher haben wir versucht, möglichst weich zu arbeiten und mit hinterleuchteten Deckenelementen eine Art Zwischengeschoß anzudeuten.“ Als befände sich über dem Geschoß noch eine Empore, sind Teile der Decke mit transluzenten Kunststoffsegeln bespannt. Für den optischen Kick sorgen 18.000 LED-Lampen, die die Decke - wie es unter Architekten so schön heißt - entmaterialisieren.

Das Licht ist unsichtbar

„Die Beleuchtung zu verstecken war jedenfalls eine gute Idee“, sagt der Bauherr, „ich hasse nämlich Lampen.“ Nur ab und zu baumeln von der Decke ein paar vereinzelte Strahler, die die Werke von Josef Albers, On Kawara und Sol LeWitt ins rechte Licht rücken. Die dazugehörigen stromführenden Aluminiumschienen ziehen sich wie Gleise eines Güterbahnhofs über den gesamten Plafond.

„Auf manche Leute mag ich mit meinen Wohnvorstellungen einen eigenwilligen Eindruck machen“, sagt der Herr des Hauses charmant und freundlich. „Was soll's, das ist kein öffentliches Museum, sondern eine Wohnung für zwei Menschen, einen keuchenden Leo und viel, viel Kunst.“

Am liebsten wollte er das Bett überhaupt nur in die Mitte des Ausstellungsraumes stellen. Und Küche? Wozu! Es bedurfte erst einiger Überzeugungsarbeit durch den Architekten, um die Sinnhaftigkeit einer solchen Nahrungsmittelaufbewahrungs- und Kochstelle im Wohnverband zu untermauern. Mit mäßigem Erfolg. Von den 440 Quadratmetern Nutzfläche nimmt die Küche gerade mal deren sieben ein. Der Esstisch von Eero Saarinen, hübsch zwischen den Bildern platziert, dient heute als Sockel für die Kunst. Die Stühle sind im Lastenlift verstaut.

„Ach, essen“, sagt der passionierte Sammler am Ende. „Wenn ich von Kunst umgeben bin und die Kraft dieser Werke spüre, dann ist mein ganzer Hunger schon gestillt.“

Der Standard, Sa., 2010.07.31

24. Juli 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Leben nach dem Pinselstrich

Tirana befindet sich mitten in einer zweiten Renaissance. Im Wiener Ringturm wird der bunten Hauptstadt Albaniens derzeit eine eigene Ausstellung gewidmet. Ein Lokalaugenschein.

Tirana befindet sich mitten in einer zweiten Renaissance. Im Wiener Ringturm wird der bunten Hauptstadt Albaniens derzeit eine eigene Ausstellung gewidmet. Ein Lokalaugenschein.

Farbe. Sehr viel Farbe. Tonnen- und hektoliterweise einfach nur knallig bunte Farbe. Als der ausgebildete Künstler Edi Rama im Jahr 2000 mit 57 Prozent zum Bürgermeister Tiranas gewählt wurde, hatte er nur eines im Sinn: Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln - und viele waren das nicht - wollte er die Hauptstadt Albaniens nach Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur und einem viel zu abrupten Wechsel in die freie Marktwirtschaft endlich wieder aus ihrem anarchischen Chaos befreien.

„Wir hatten damals überhaupt kein Geld, aber wir mussten unbedingt was machen“, sagt er im Gespräch mit dem Standard. Und schon spielt er mit einem seiner vielen bunten Filzstifte, die zuhauf auf seinem Schreibtisch herumrollen, zieht Linien und Kreise damit, malt eingeschlossene Flächen aus. „Das Problem war: Wir waren damals erschlagen von den verheerenden ersten zehn Jahren in Freiheit, in denen es keine Ordnung gab und in denen alles Öffentliche als Reaktion auf die kommunistische Ära abgelehnt wurde.“

Rama räumte auf. Unbewilligte Hütten und Kioske wurden abgerissen, dafür erhielten die Geschäftstreibenden entsprechende Ersatzflächen in den Erdgeschoßen bestehender Wohnhäuser. Die frei gewonnenen Parkflächen wurden wieder renaturiert.

Auch entlang der Lana, dem einzigen Flüsschen der Stadt, wurde Tabula rasa gemacht. Hunderte illegal errichteter Baracken wurden mit dem Bulldozer weggeschaufelt, gleichzeitig wurde das einst zähflüssige Gewässer vom Müll befreit. Eine Wiederholung dieser Aktion würde dem Fluss, der allmählich wieder DeponieQualitäten aufweist, nebenbei bemerkt, nicht schaden.

Die am stärksten wahrgenommene Aktion war jedoch die Bemalung von Tiranas Hausfassaden in den irrsten und aberwitzigsten Mustern. „Farbe kostet nicht viel“, blickt Rama heute zurück. „Die Aktion war simpel, aber extrem wichtig, denn sie hat der ganzen Stadt einen richtigen Schubs nach vorn verpasst. Das war ein dramatischer Moment!“ Für seine radikale Offensive wurde Edi Rama von der Internet-Community City Mayors 2004 zum „Bürgermeister des Jahres“ gekürt.

Zehn Jahre nach seiner ersten stadtplanerischen Amtshandlung holt Rama nun zum zweiten Mal aus - und beschert der Stadt nicht nur erstklassige Architektur, sondern nimmt sich auch all jener weitreichenden Probleme an, bei denen man mit Pinsel und Bagger nicht mehr weiterkommt: Ausweitung und Gestaltung öffentlicher Räume, Anreizschaffung für internationale Investoren, Ausbau der städtischen Infrastruktur.

Tirana platzt aus allen Nähten

„Nach der Wende hat die Stadt viele Menschen aus dem Umland angelockt“, sagt Edi Rama. „In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Bevölkerungszahl Tiranas mehr als verdoppelt. Die Stadt ist ihren 700.000 Einwohnern heute kaum noch gewachsen. Wir können nicht mehr länger tatenlos zusehen.“

Als vor ein paar Jahren die ersten internationalen Wettbewerbe ausgeschrieben wurden, hätte sich kein Mensch gedacht, dass aus den vielen Visionen aus dem Ausland jemals etwas werden wird. Und tatsächlich: Der ambitionierte Entwurf „Tirana Rocks“, mit dem das niederländischen Revoluzzerbüro MVRDV 2008 den Vogel abgeschossen hatte, landete letztendlich in der Schublade. Bei Baukosten in der Höhe von 600 Millionen Euro bekamen selbst die kühnsten albanischen Investoren plötzlich kalte Füße.

Schade eigentlich, denn mit dem Mammutprojekt aus Rotterdam hätte sich Tirana sicherlich mit einem Mal zur Architekturpilgerstätte hochkatapultiert. „Auf den ersten Blick wirkt der Trümmerhaufen ungeordnet und chaotisch“, sagt Architekt Winy Maas, „aber im Grunde genommen ist es doch genau dieses Chaos, das eine so unkontrolliert und illegal gewachsene Stadt wie Tirana ausmacht. Wir haben diese Unordnung in eine neue Form gebracht. Stellen Sie sich doch mal vor, was für wunderbare öffentliche Räume zwischen und unter den Gebäuden entstehen würden!“

Neue Türme, neue Bim

Doch „Tirana Rocks“ ist nur ein Projekt von vielen. Alle anderen Wettbewerbe, die in den letzten Jahren ausgeschrieben und prämiert wurden, befinden sich bereits in Planung, manche sogar schon in Bau.

Das Pariser Büro Architecture Studio schlug vor, sämtliche Brachflächen innerhalb des Ringes - heute parken darauf meist nur Autos - zu begrünen und zu attraktiven Plätzen mit Sitzgelegenheiten und Beschattung auszubauen. Hauptbestandteil des innerstädtischen Masterplans ist der Bau einer Straßenbahnlinie auf der Nord-Süd-Hauptachse Bulevardi Dëshmorët e Kombit. Bis heute wird der gesamte öffentliche Verkehr Tiranas mit ausrangierten Bussen aus dem Ausland abgewickelt. Auch die Wiener Busflotte ist in einem nicht mehr ganz so rost- und dellenfreien Zustand prominent vertreten.

Die Liste ließe sich endlos fortführen: Das Brüsseler Büro 51N4E baut ein arabisch anmutendes Hochhaus direkt hinter der Moschee; die Fassade wird bereits montiert. Henning Larsen aus Kopenhagen baut einen Öko-Wolkenkratzer mit klimaregulierenden Pflanzenatrien. Und das italienische Büro Archea Studio setzt einen Hochhausturm in die Stadt, dessen Dachterrasse im 22. Stock zum höchstgelegenen Park der albanischen Hauptstadt avancieren soll.

MVRDV baut ein Shoppingcenter im feschen Nullerjahre-Pixeldesign; die Baugrube für den sogenannten Toptani-Komplex ist bereits ausgehoben. Valerio Olgiati entwarf ein poetisch anmutendes Wohnhaus am Ufer des Tiranasees, dessen Rohbau schon seit einiger Zeit zu bewundern ist. Weiters gibt es Pläne von Mecanoo, Erik van Egeraat, Bolles & Wilson, Daniel Libeskind, David Chipperfield und vielen, vielen mehr.

Jedoch: Nirgendwo sonst manifestiert sich der Tatendrang des Bürgermeisters so klar und deutlich wie auf dem prominenten Hauptplatz Sheshi Skënderbej. Die Reiterstatue des albanischen Nationalhelden Skanderbeg steht einsam und allein auf einem Steinsockel, rundherum ist wüsteste Baustelle. Der Platz wird nach Plänen von 51N4E topografisch modelliert und verkehrsberuhigt. Das Herz Tiranas wird künftig wieder den Bewohnern gehören.

Tirana ist eine liebenswerte und baukulturell wertvolle Stadt, die im Laufe des letzten Jahrhunderts viele dunkle Stunden durchlitt. Nach den ersten zehn Jahren im Amt sagt Edi Rama: „Jetzt fangen wir erst so richtig an. Tirana wird zwar immer eine Stadt mit Problemen bleiben, aber ich wünsche mir, dass die Touristen und Bewohner sie für ihren Charme noch mehr lieben werden, als das heute schon der Fall ist.“

„Tirana. Planen, Bauen, Leben“, Ausstellung im Wiener Ringturm. Zu sehen bis 17. September. Mo bis Fr 9 bis 18 Uhr.

Zur Ausstellung ist ein Buch erschienen. Adolph Stiller, „Tirana. Planen, Bauen, Leben“. Müry-Salzmann-Verlag. € 27,-

Der Standard, Sa., 2010.07.24

22. Juli 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Bestattung und Friedhof auf ewig vereint

Die zwei städtischen Unternehmen Bestattung und Friedhöfe Wien haben sich zusammengeschlossen. Künftig sollen sie auch im selben Gebäude untergebracht sein: in einem Neubau beim Zentralfriedhof.

Die zwei städtischen Unternehmen Bestattung und Friedhöfe Wien haben sich zusammengeschlossen. Künftig sollen sie auch im selben Gebäude untergebracht sein: in einem Neubau beim Zentralfriedhof.

Wer einen nahestehenden Verblichenen zu seiner letzten Ruhestätte begleitet, der muss sich zurzeit noch an die Zentrale in der Goldegggasse 19 im 4. Wiener Gemeindebezirk wenden. Wer nach Ablauf von zehn Jahren hingegen das Grabnutzungsrecht verlängern will, der muss wiederum in die Innenstadt pilgern, genauer gesagt in die Werdertorgasse 6. Das wird sich bald ändern.

Mit 1. Juli 2010 wanderten die Bestattung Wien GmbH und die Friedhöfe Wien GmbH, beide hundertprozentige Töchter der Wiener Stadtwerke, in die neu gegründete B&F Wien Bestattung und Friedhöfe GmbH. Anfang 2012 soll die neue Allianz mit einem entsprechenden Büroneubau am Wiener Zentralfriedhof besiegelt werden.

„Wir wollten klare Verhältnisse schaffen“, sagt Christian Fertinger, Geschäftsführer der B&F Wien. Die Zusammenlegung der beiden Unternehmen habe vor allem strategische und administrative Gründe. „Bisher war die Bestattung den Friedhöfen übergeordnet. Theoretisch hätte die Bestattung den Friedhöfen, die ihre Infrastruktur auch Mitbewerbern anbieten, sagen können, was sie zu tun haben.“ Diese Möglichkeit bestehe nun nicht mehr. Durch die Neustrukturierung agieren Bestattung und Friedhöfe gleichrangig nebeneinander. Mit den Sargerzeugern in Wien-Atzgersdorf und den rund 200 Saisonarbeitern beschäftigen Bestattung Wien und Friedhöfe Wien derzeit knapp 1000 Mitarbeiter.

Trotz der Zusammenlegung von Abteilungen - vor allem im Bereich Human Ressources, Rechnungswesen und Kommunikation - sei derzeit kein Abbau von Mitarbeitern vorgesehen. Fertinger: „Bei Nachbesetzungen werden wir in Zukunft sicherlich genauer hinschauen, aber vorerst bleibt für die Mitarbeiter alles beim Alten.“

Nach der Neuorganisation erfolgt Anfang 2012 dann der Umzug in die neue gemeinsame Unternehmenszentrale. Das Bürohaus nach Plänen des Wiener Büros Delugan Meissl Associated Architects, das als Sieger aus einem EU-weiten offenen Wettbewerb hervorgegangen ist, entsteht am Zentralfriedhof, genau gegenüber von Tor 2. Ende August ist Spatenstich. „Es gibt in Wien zwar 52 Friedhöfe, doch rund ein Viertel bis ein Drittel aller Bestattungen finden am Zentralfriedhof statt“, sagt Fertinger.

„Bei so einer Bauaufgabe muss man als Architekt sehr sensibel vorgehen“, sagt Projektleiter Philip Beckmann. „Wir wollten die Außenform bewusst schlicht belassen und werden daher rund um den Baukörper eine einheitliche weiße Fassade mit Glas- und Sichtschlitzen ziehen.“ Die expressive Architektur, für die Delugan Meissl - die Erbauer des Porsche-Museums in Stuttgart - sonst bekannt sind, wird in diesem Fall zugunsten der Ethik gezähmt und gebändigt.

Eine Besonderheit ist die Haustechnik: Geheizt wird mit der Abwärme der nahegelegenen Feuerhalle. Berechnungen zufolge reicht die Wärmemenge dafür vollends aus. Gemeinsam mit zwei weiteren Teilprojekten am Zentralfriedhof - einem neuen Werkstättengebäude (Arge Johannes Kaufmann und Riepl Riepl Architekten) und einem unterirdischen Bestattungsmuseum samt Infopoint (Architektin Elsa Prochazka mit Baumschlager & Eberle) - belaufen sich die Gesamtinvestitionskosten auf rund 30 Millionen Euro.

Der Standard, Do., 2010.07.22



verknüpfte Bauwerke
Unternehmenszentrale Bestattung und Friedhöfe Wien

26. Juni 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn die Schulbank drückt

Das 2007 errichtete Fran-Galovic-Gymnasium in Kroatien wäre an sich ein toller Schulbau. Die baulichen Mängel jedoch veranschaulichen die Schattenseiten von Public Private Partnerships.

Das 2007 errichtete Fran-Galovic-Gymnasium in Kroatien wäre an sich ein toller Schulbau. Die baulichen Mängel jedoch veranschaulichen die Schattenseiten von Public Private Partnerships.

Die Straßen von Koprivnica haben Schlaglöcher, groß wie Melonen, die Häuser sind grau und heruntergekommen, in der Luft liegt ein Schleier von Melancholie. Von der einstigen Pracht der 30.000-Einwohner-Stadt im Norden Kroatiens, keine zehn Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt, ist bis auf den herausgeputzten Hauptplatz mit seinen hübschen Blumenbeeten und Straßencafés wenig geblieben. Die Staatskasse macht um diesen Teil des Landes einen großen Bogen. Lieber investiert man in Gegenden, aus denen man sich große Gewinne aus der Tourismusbranche zurückerhofft: in die Küstenregion und in die Inseln.

„Oprostite! Wo finde ich die Gimnazija Fran Galoviæ?“ Den futuristischen Schulbau kennt hier jeder. „Gradaus und vorne links“, sagt ein Mann am Straßenrand, „ist nicht zu verfehlen, schaut aus wie ein Ufo.“ Das zeitgenössische Gymnasium des Zagreber Jungbüros Studio Up, fertiggestellt 2007, geisterte durch sämtliche internationale Gazetten und bescherte seinen Planern auf diese Weise Lob und Anerkennung. Für Studio Up war das die Abschussrampe in den architektonischen Olymp.

Zuletzt wurde die Schule beim europäischen Mies van der Rohe Award 2009 mit der Sonderauszeichnung für den Emerging Architect ausgezeichnet. Eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien, die vor wenigen Tagen eröffnet wurde, stellt Europas beste Bauten vor. Das Gymnasium in Koprivnica ist als zweitplatziertes Projekt prominent vertreten.

Ein Schulbau am Puls der Zeit, möchte man meinen. Doch abseits des planerischen Wollens spricht der Bau eine ganz andere Sprache. „Ich mag die Architektur“, sagt Mira Soldiæ, Psychologielehrerin an der Fran-Galoviæ-Schule. „Die Funktionalität der Räume, die Größe der Klassen, die dazwischengeschalteten Kabinette für die Lehrerinnen und Lehrer, mit einem Wort das gesamte Raum- und Funktionsprogramm ist absolut perfekt. Diesbezüglich sind wir mit dem Bau sehr glücklich. Nur an der Umsetzung, ich sag Ihnen, an der Umsetzung beißen wir uns Tag für Tag die Zähne aus.“

Ein Großteil der Räume ist dunkel. Manche Klassenzimmer verfügen nicht einmal über ein öffenbares Fenster ins Freie. Eine Lichtkuppel im Plafond, eine Milchglasscheibe in der Außenwand, ein kleines Guckloch in die Aula sind in diesen Unterrichtshöhlen das höchste der visuellen Gefühle. Die Akustik in den Gruppenräumen für den Sprachunterricht ist eine Katastrophe. Die Worte des Deutschlehrers hallen immer und immer wider. Wie man unter solchen Umständen eine Fremdsprache erlernen soll, bleibt ein Rätsel.

Ein Fünfer, ach was, ein Fetzen auch für die Technik: Laut behördlicher Baubewilligung entsprechen Bauphysik, Haustechnik und Wärmedämmung den regionalen Bauvorschriften. Alles ist im grünen Bereich. Rechnerisch. Theoretisch. Praktisch jedoch knallt im Sommer die Sonne durch das transluzente Dach aus Polycarbonat und wärmt die Klassenzimmer auf 38 Grad Celsius auf. „Wir ersticken hier drin“, so Soldiæ. „Und wenn's regnet, dann prasselt der Regen so laut gegen das Kunststoffdach, dass man sich bei Unwetter in der Klasse kaum noch unterhalten kann.“

PPP-Partner tut, was er will

Doch wie ist all das möglich? Und noch dazu beim angeblich zweitbesten Neubau dieses Kontinents? „Die Baukosten waren limitiert, also mussten wir sehr clever und effizient planen“, erklärt Architekt Toma Plejiæ. „Beispielsweise haben wir bei der Fassade gespart, indem wir statt herkömmlicher Wände und Fenster teilweise Industrieglas verwendet haben. Das gesamte Dach der Schule wiederum ist aus Polycarbonat. Im Winter wirkt das Schulgebäude wie ein Glashaus, im Sommer hingegen ist das Volumen so groß und so hoch, dass die warme Luft nach oben entweichen und kalte Luft nachströmen kann.“

Das alles hätte perfekt funktioniert. Theoretisch. Wäre da nicht die Baufirma, die im Laufe der Planung und des Baus kontinuierlich Einsparungen vorgenommen und das eine oder andere Detail verändert, verkleinert oder überhaupt ersatzlos gestrichen hat. Die Lüftungsanlage wurde reduziert, Beleuchtungskörper wurden eingespart, Fenster, die laut Plan noch zu öffnen waren, wurden plötzlich zu billigen Fixverglasungen ohne jegliche Zufuhrmöglichkeit von Frischluft.

Schuld an diesem gigantischen Malheur ist das Public Private Partnership, kurz PPP, das diesem Schulbauprojekt zugrunde liegt. Nachdem der Staat für den Neubau des dringend benötigten Gymnasiums in Koprivnica keine einzige Kuna beisteuern wollte, waren Stadt und Gespannschaft auf die Kooperation mit einem privaten Investor angewiesen. Mit der Zagreber Baufirma Tehnika d.d. fand sich rasch ein williger PPP-Partner.

Die gesamten Investitionskosten wurden auf diese Weise auf den Privatinvestor abgewälzt. Die öffentliche Hand mietet das Bauwerk nun 25 Jahre lang zurück, und zwar für satte 100.000 Euro pro Monat. Nach Ablauf der Vertragsdauer wechselt die Schule ihren Besitzer und wird von dann an zu 40 Prozent der Gespannschaft und zu 60 Prozent der Stadt gehören. Das Modell ist hinlänglich bekannt. Und es ist eine faire Lösung, von der normalerweise alle profitieren. In diesem Fall jedoch hat der private Partner Tehnika die Baukosten zugunsten des eigenen Profits bis zum äußersten Minimum strapaziert.

Technischer Ausbau überfällig

„Ja, das war ein sehr günstiger Bau“, bestätigt der Schuldirektor Vjekoslav Robotiæ. „Normalerweise betragen die reinen Baukosten für eine Schule dieser Größenordnung in Kroatien rund zehn bis zwölf Millionen Euro. In diesem Fall hat die Schule zwölf Millionen Euro gekostet, und zwar nicht nur in der baulichen Errichtung, wie das üblicherweise kalkuliert wird, sondern mitsamt Möblierung und technischer Ausstattung bis hin zur allerletzten Computermaus. Ich kenne keinen anderen Schulneubau, der um so wenig Geld errichtet wurde.“ Vor dem Hintergrund, dass die Rückzahlung in Form von 300 Monatsmieten ohnehin ein Vielfaches der Baukosten ausmache, sei die finanzielle Daumenschraube umso schwieriger nachvollziehbar.

Das Bauunternehmen ist vertraglich dazu verpflichtet, das Gebäude zu betreiben, instand zu halten und gegebenenfalls zu sanieren. Theoretisch. Praktisch will die Tehnika d.d. von einem längst überfälligen Ausbau der Lüftungsanlage, um zumindest mal das größte Manko zu beheben, nichts wissen. Stadtgemeinde, Gespannschaft und Schulleitung prozessieren bereits seit einem Jahr gegen den Übeltäter.

„Eigentlich ist dieses PPP-Modell perfekt“, sagt Robotiæ. „Nachdem der Erhalt der Schule im Verantwortungsbereich des privaten Partners liegt, können wir uns voll uns ganz auf die Bildung konzentrieren. Jetzt müssen wir die Firma Tehnika nur noch dazu bringen, ihren Part zu übernehmen und die Haustechnik aufzufetten. Dann sind wir schon zufrieden.“ Die Chancen stehen schlecht. Der zuständige Projektleiter bei der Tehnika d.d. verweigerte dem Standard gegenüber die Aussage: „Kein Kommentar.“

Das Fallbeispiel in Koprivnica veranschaulicht die Gefahren von Public Private Partnerships: Jede noch so gute Architektur, mit der wir es hier zweifelsohne zu tun haben, verliert ihre Kraft und Qualität, wenn nicht alle Partner an einem Strang ziehen. PPP im öffentlichen Bildungsbau ist ein Abwälzen von Verantwortung und Kontrolle von der öffentlichen Hand auf die Privatwirtschaft. Den Schaden zahlen die Kinder. Die ersten PPP-Schulbauten in Österreich sind bereits in Bau.

Der Standard, Sa., 2010.06.26

19. Juni 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Halle mit wenig Strom und viel Zufriedenheit

Die Produktionshalle des oberösterreichischen Betriebs Obermayr wurde 2005 errichtet. Kürzlich wurde das Passivhaus-Objekt mit dem Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet.

Die Produktionshalle des oberösterreichischen Betriebs Obermayr wurde 2005 errichtet. Kürzlich wurde das Passivhaus-Objekt mit dem Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet.

Die Firma Obermayr Holzkonstruktionen GmbH im oberösterreichischen Schwanenstadt ist ein Traditionsunternehmen seit vielen Jahrzehnten. Vergangenheit und Gegenwart schließen einander nicht aus. Seit dem Jahr 2005 ist der auf passivhaustaugliche Holzelemente spezialisierte Fertigungsbetrieb der Zukunft ein Stückchen näher. Bedingt durch stärkere Absatzzahlen musste das Unternehmen expandieren und baute sich eine Fertigungshalle im Passivhaus-Standard.

„Mit 4500 Quadratmetern ist das die erste Passivhaushalle dieser Größenordnung in ganz Österreich“, sagt Markus Fischer vom zuständigen Büro F2 Architekten. „Die Entscheidung des Bauherrn, passiv zu bauen, war von Anfang an eine klare Vorgabe.“ Auf diese Weise könne das Unternehmen in Form einer Visitenkarte die Werte vorleben, für die es steht.

Ende Mai wurde die Halle mit dem Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit 2010 ausgezeichnet. Grund für diese Prämierung, die vom Lebensministerium in Zusammenarbeit mit klima:aktiv vergeben wird, ist die simple und effiziente und somit kostengünstige Konstruktion.

„Wir haben viel experimentiert und simuliert, weil es keine passenden Vorbilder dafür gab“, erinnert sich der Architekt. Zum Beispiel die großen Fensterflächen: Da es am Markt nur passivhaustaugliche Fenster in den Dimensionen des Wohn- und Bürobaus gibt, musste man spezielle Glasaufbauten entwickeln. Zum Beispiel die großen Rolltore für Lkws: Im Passivhaus-Standard gibt es ein derartiges Produkt nicht zu kaufen. In Zusammenarbeit mit dem Hersteller wurde der Anpressdruck der Elemente und die Geschwindigkeit des Öffnens und Schließens erhöht. Und zum Beispiel die Sache mit der Dämmung. Fischer: „Wir mussten Geld sparen und wollten ökologisch sein. Die Fertigteilelemente sind nun mit Sägespänen gefüllt. Das ist ein massenhaftes Abfallprodukt aus eigenem Haus.“

Halle ohne Heizung

Fazit der planerischen Anstrengungen: Die neue Halle kommt ganz ohne Heizung aus. Zur Sicherheit wurde während des Baus vor fünf Jahren eine eigene Heizungsleitung zum bestehenden Biomasse-Kraftwerk am eigenen Gelände verlegt. Sie wurde nie angeschlossen. „Wir hatten eine Beobachtungsperiode von einem Jahr“, sagt Hans-Christian Obermayr, Geschäftsführer des Unternehmens. „Danach haben wir gewusst, dass wir darauf verzichten können.“

Der größte Clou am ganzen Projekt ist die Beleuchtung. In das Betriebssystem wurde eine eigens entwickelte Software eingespielt, die alle Sonnenstände des gesamtes Jahres gespeichert hat und die je nach Tageszeit und Monat die elektrische Beleuchtung in der Halle vollautomatisch dimmt. Zusätzlich applizierte Sensoren reagieren auf Abweichungen infolge von Schlechtwetter oder Bewölkung.

Die aufwändige Anlage habe sich bereits nach drei Jahren amortisiert, die finanziellen Einsparungen seien enorm, meint Obermayr (siehe Interview). Doch der größte Profit lasse sich ohnehin nicht in Zahlen fassen: Die Mitarbeiter sind motivierter als je zuvor, die Leistungsfähigkeit hat nach Auskunft des Chefs deutlich zugenommen.

Der Standard, Sa., 2010.06.19



verknüpfte Bauwerke
Elementfertigungshalle Obermayr

19. Juni 2010Wojciech Czaja
Der Standard

„Wir sparen rund 12.000 Euro im Jahr“

Die Passivhaushalle war in der Errichtung keinen Cent teurer als eine herkömmliche Industriehalle, meint Geschäftsführer Hans-Christian Obermayr im Gespräch mit Wojciech Czaja.

Die Passivhaushalle war in der Errichtung keinen Cent teurer als eine herkömmliche Industriehalle, meint Geschäftsführer Hans-Christian Obermayr im Gespräch mit Wojciech Czaja.

Standard: Was war der Ausschlag gebende Impuls für den Neubau?

Obermayr: In den letzten Jahren hat der Trend zum Holzbau weiter zugenommen. Das schlägt sich auch auf den Fertigteilbau nieder. Mit den vorhandenen Hallenressourcen konnten wir unsere Bauvorhaben nicht mehr realisieren. Wir mussten erweitern.

Standard: Ein häufig gehörtes Argument lautet, dass nachhaltige Architektur mehr kostet. Können Sie dem zustimmen?

Obermayr: Nein, überhaupt nicht. Fakt ist: In die Planung fließt mehr Know-how ein, sie dauert länger und ist dementsprechend teurer. Der Energiesparverband Oberösterreich hat uns diesbezüglich mittels Förderungen unterstützt. Die Errichtung selbst hat nicht mehr, sondern eigentlich sogar weniger gekostet. Wir haben zum Teil Recyclingmaterial verwendet: Auf Heizung beispielsweise haben wir gänzlich verzichten können. Der einzige Bereich, bei dem wir tiefer in die Tasche greifen mussten, war die komplexe Kunstlichtsteuerung in der Halle.

Standard: Wie groß sind die finanziellen Einsparungen?

Obermayr: Wir hatten kalkuliert, dass die Mehrkosten für die Lichttechnologie innerhalb von sieben Jahren wieder herinnen sein werden. Durch die gestiegenen Energiepreise hat sich die gesamte Anlage schon nach drei Jahren amortisiert. Die Stromersparnisse betragen heute rund 70 Prozent, also 6500 Euro pro Jahr. Zusammen mit dem Wegfall der Heizkosten sind das rund 12.000 Euro im Jahr. Das ist viel Geld.

Hans-Christian Obermayr (39) studierte Wirtschaftsingenieurwesen. Seit 2008 ist er Geschäftsführer bei Obermayr Holzkonstruktionen GmbH.

Der Standard, Sa., 2010.06.19

19. Juni 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Don Giovanni und Hendrix im Eis

Kommenden Donnerstag eröffnet in München der temporäre „Pavillon 21 Mini Opera Space“. Coop Himmelb(l)au ließ die Musik erstarren.

Kommenden Donnerstag eröffnet in München der temporäre „Pavillon 21 Mini Opera Space“. Coop Himmelb(l)au ließ die Musik erstarren.

Es schnürlregnete an jenem bedeutungsvollen Montag, doch der Begeisterung des Auftraggebers tat dies keinen Abbruch. Nikolaus Bachler, einst Burgtheaterchef und nun Intendant der Bayerischen Staatsoper in München, erklomm wohlgelaunt das rote Trottoir, klopfte mit der Faust kräftig gegen das metallene Garagentor und schritt sodann durch das wohl modernste Theaterportal, das man im deutschsprachigen Raum je zu Gesicht bekam.

„Seit dem 19. Jahrhundert wurde in München kein Neubau für darstellende Kunst mehr errichtet“, sprach er vor den Journalisten ins Mikrofon. „Nach 150 Jahren ist dies der erste zeitgenössische Impuls in diesem Kunstbereich. Das ist ein Schrei in Richtung Gegenwart.“ Neuinszenierungen und futuristische Bühnenbilder, das mache man als Intendant natürlich immer wieder, sagte Bachler. Doch im Grunde genommen, versicherte er, sei das nur ein Spiegel seiner Sehnsucht, endlich, endlich, endlich mal neu zu bauen.

Wie ein grantiger, zorniger Meteorit aus dem All schlug der temporäre Opernpavillon mitten auf den Marstallplatz ein. Die Reise aus der Zukunft war lang und eisig, denn die schroffen Kristalle haften dem Klumpen noch wochenlang an. Zwischen Nationaltheater und Leo von Klenzes klassizistischer, ehemaliger Hofreitschule setzte das Wiener Büro Coop Himmelb(l)au dieses silbergraue Gebilde, das vom 24. Juni bis einschließlich 25. Juli einen Monat lang einen Teil der Münchener Opernfestspiele beherbergen wird.

Die Zacke als akustischer Trick

„Das hat nichts mit Zukunft zu tun, das ist eine Architektur, die ihrer Zeit entspricht“, entgegnet der himmelblaue Pavillonerbauer Wolf D. Prix. „Aber natürlich war das ein herausforderndes Projekt, das nicht leicht zu planen war, weil es ein technisches Paradoxon birgt.“ Gemeint ist die Kunst der Töne: „Um eine gute Akustik hinzukriegen, braucht man normalerweise viel Masse. Ein mobiler Pavillon, der in kürzester Zeit auf- und wieder abgebaut werden muss und der noch dazu schalltechnisch perfekt ist - das ist ein Widerspruch in sich.“

In Zusammenarbeit mit dem Londoner Akustikplaner Arup gelang die zackige Realisierung des Unmöglichen. Während der Aufführungsraum selbst - er fasst je nach Bestuhlung und Bestehung zwischen 300 und 700 Personen - eine einfache Black Box ist, kamen die rechnerischen Errungenschaften der Schalljongleure auf der Fassade zum Einsatz. Prix: „Der Raum bleibt dadurch simpel und flexibel, die Akustikpyramiden sind je nach Aufstellungsort adaptierbar, und natürlich trägt das auch zum Image des Gebäudes bei. Gerade bei einem temporären Bau wie hier muss man einprägsame Bilder erzeugen.“

Und nein, die sonderbaren Aluminium-Spikes, die da nach allen Richtungen ragen, seien nicht nur Blickfänger, versichert Prix in seiner Ansprache. „Die haben auch eine Funktion!“ Durch die eigens entwickelte Geometrie der Pyramiden wird der Straßenlärm an manchen Flächen absorbiert, an manchen reflektiert. Doch nicht nur der Lärm wird abgehalten, sondern auch die Bauteile selbst schwingen dadurch anders, was sich wiederum direkt auf die Akustik im Raum auswirkt.

„Wir haben einige Simulationen durchgeführt. Die Unterschiede waren eklatant.“ Die Inspiration für die eigenwillige Formensprache lieferte übrigens die Musik: Purple Haze von Jimi Hendrix sowie eine Passage aus Mozarts Don Giovanni wurden durch die Computer-Software gejagt und anschließend in eine geometrische Sprache verwandelt. Arthur Schopenhauers berühmter Ausspruch ist damit perfekt in Szene gesetzt: „Architektur ist gefrorene Musik.“ Eiskalt.

Schön und gut, doch für einen temporären Pavillon, der in einem Monat wieder Geschichte sein wird, ist der konzeptionelle und technische Aufwand doch recht mächtig, könnte man an dieser Stelle nun einwerfen. Hier kommt die Finanzierung ins Spiel: Die Baukosten von 2,1 Millionen Euro kommen zu einem Drittel vom Freistaat Bayern, zu einem Drittel aus dem Budget der Bayerischen Staatsoper sowie von kleineren Geldgebern und Sponsoren und zu einem Drittel vom Projektpartner BMW Group / Mini, die auch für den etwas sperrigen offiziellen Namen des Hauses verantwortlich ist: Pavillon 21 Mini Opera Space.

„Ich habe mit Public Private Partnerships, von denen alle Seiten profitieren, überhaupt kein Problem“, sagt Nikolaus Bachler zum Standard, „nicht in wirtschaftlich ausgewogenen Zeiten und schon gar nicht in der Krise.“ Ohne einen potenten Hauptsponsor sei das Projekt niemals zu schaffen gewesen.

Die Münchner selbst können davon nur profitieren: Neben den abendlichen Aufführungen im Rahmen der Opernfestspiele wird der Pavillon auch untertags und in der Nacht genutzt: Auf dem Programm stehen Tanzkurse, Gesangstunden und Yoga, an den Wochenenden verwandelt sich der Kunstraum in einen Clubbing-Tempel mit DJs aus aller Welt: Frankie Knuckles, Paul Oakenfold und DJ TBC. Highlight ist wohl das Mini-Autokino am 19. Juli, bei dem man sich - erraten - in bereitgestellte Minis setzen und der Filmkunst frönen wird.

Um die Baukosten langfristig wieder einspielen zu können, soll der Pavillon nach Abbau an Kultureinrichtungen und Kommunen weitervermietet werden. „Natürlich wird der Mini Opera Space nicht jeden Tag woanders stehen“, sagt Bachler, „das ist ein Gebäude und kein Zirkuszelt.“ Die ersten Interessenten stünden bereits auf der Liste: ein Designfestival in London, eine Messe in Paris, das Theater in Augsburg.

Der Auf- und Abbau des Pavillons dauert zwei Wochen und kostet nach Auskunft der Architekten rund 200.000 Euro. Das gesamte Haus passt in zehn bis zwölf Seecontainer oder auf ebenso viele Lkws mit Tieflader. „Ich wünsche mir nur eines“, sagt Wolf Prix am Ende: „Wenn der Pavillon wieder abgebaut ist, möchte ich, dass den Münchnern etwas fehlt.“

Der Standard, Sa., 2010.06.19



verknüpfte Bauwerke
Pavillon 21 Mini Opera Space

14. Juni 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Die hohe Schule der Camouflage

Eduardo Arroyo baut am WU-Campus - Vortrag am Montag im Wiener Odeon

Eduardo Arroyo baut am WU-Campus - Vortrag am Montag im Wiener Odeon

Es ist ein lustiges, ein befremdliches Bild, wenn ein spanischer Architekt plötzlich beginnt, Roberto (sic!) Musil zu zitieren. „Unsere Bauten sind so ähnlich wie der Mann ohne Eigenschaften“, erklärt Eduardo Arroyo (46), Chef des Madrider Architekturbüros No.Mad. „Sie weisen die Präzision der Wissenschaft auf, haben aber auch die Empathie einer weichen Materie wie etwa Ästhetik oder Poesie.“

Was er damit konkret meint, zeigt ein Blick auf seinen jüngsten Entwurf, der in Österreich realisiert wird. Der Spatenstich ist bereits erfolgt. Auf dem neuen WU-Campus im Wiener Prater baut No.Mad die Executive Academy, eine Weiterbildungseinrichtung für Führungskräfte, Fachleute und High Potentials aus aller Welt. Die Baukosten belaufen sich internen Quellen zufolge auf 13 Millionen Euro.

„Wir wollten eine Landmark für den Campus bauen“, beschreibt Arroyo den eckigen, achtstöckigen Turm. „Dadurch, dass rundherum schon so viele Bauwerke mit unterschiedlichen Handschriften realisiert werden, mussten wir uns zurücknehmen. Daher haben wir an der Fassade dunkle, reflektierende Materialien eingesetzt, in denen sich die Umgebung spiegelt. Man schaut auf das Haus und sieht Himmel und Natur.“

No.Mad zählt zu den radikalsten Büros Spaniens. Die bekanntesten Projekte sind die Arquia Bank in Bilbao sowie das Lasesarre Fußballstadion in Barakaldo. Augenfällig ist, dass sowohl Visualisierungen wie auch das Gebäude selbst schwarz-weiß sind. Arroyo: „Ich liebe die Verschmelzung mit der Landschaft, ich bin ein Fan von Camouflage.“

Der Standard, Mo., 2010.06.14

12. Juni 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Der Bleistift ist mein Ziegelstein

Lebbeus Woods ist Architekt. Vor mehr als 30 Jahren beschloss er, nie wieder zu bauen. Morgen, Sonntag, diskutiert er mit Kollegen aus den USA über Utopie und Realität.

Lebbeus Woods ist Architekt. Vor mehr als 30 Jahren beschloss er, nie wieder zu bauen. Morgen, Sonntag, diskutiert er mit Kollegen aus den USA über Utopie und Realität.

Standard: 1976 haben Sie den Entschluss gefasst, nie wieder zu bauen. Warum?

Woods: Ich habe früher bei Eero Saarinen gearbeitet und habe in dieser Zeit tolle Projekte gemacht. Nur ein Beispiel: Von Ende der Fünfziger- bis Anfang der Sechzigerjahre war ich Projektleiter beim TWA-Terminal am John F. Kennedy Airport in New York. Viele lieben das Gebäude, weil es so futuristisch ist. Mein persönliches Problem aber war, dass meine Ideen immer noch viel utopischer waren als all die Avantgarde, die damals gebaut wurde. Ich habe gemerkt, dass meine Wunscharchitektur nicht baubar ist. Also habe ich beschlossen, das Bauen an den Nagel zu hängen und nur noch zu zeichnen und zu schreiben. Am besten beides.

Standard: Vermissen Sie denn niemals Ziegelstein und Mörtel?

Woods: Ich lebe in einer Stadt, die heißt New York. Da sind so viele Ziegelsteine und Mörtelfugen übereinandergestapelt wie an kaum einem anderen Ort auf dieser Welt. Jetzt werden Sie sagen: Die sind aber nicht von Ihnen! Und ich werde Ihnen recht geben und antworten: Ja, das stört mich aber nicht. Hauptsache, sie sind da! Aber jetzt ganz im Ernst: Doch, manchmal fehlt mir das Bauen. Aber man kann im Leben eben nicht alles haben. Manchmal muss man sich entscheiden.

Standard: Sie bauen nichts. Wovon zahlen Sie Ihre Rechnungen?

Woods: Ich lebe vom Unterrichten. Von daher kenne ich übrigens auch Raimund Abraham. Darüber hinaus lebe ich vom Verkauf meiner Zeichnungen und Modelle. Ich habe nicht viel Geld, aber ich habe genug zum Überleben. Der französische Künstler Eugène Delacroix hat einmal gesagt, dass ein guter Maler nicht mehr als 6000 Francs im Jahr verdienen dürfe, denn ein Künstler müsse bescheiden leben, fernab von Luxus und Materialität. Auch wenn das schon 150 Jahre her ist, ich sehe das ehrlich gesagt genauso: Ein guter Architekt, der mit beiden Beinen im Leben steht, verdient genauso viel, wie er zum Leben braucht - und keinen Cent mehr. Alles, was darüber hinausgeht, ist nur noch eine Sache von Ruhm und Prestige.

Standard: Wenn jeder nur noch zeichnet, dann gibt's bald keine neuen Häuser mehr.

Woods: Wunderbar, so soll es sein! Es wurde eh schon viel zu viel gebaut. Es gibt weltweit einige Millionen Architekten, und alle wollen sie bauen, bauen, bauen. Es gibt so viele Gebäude, dass wir zum Teil schon gar nicht mehr wissen, was wir mit all der herumstehenden Bausubstanz machen sollen. Ich plädiere daher dafür umzudenken, neue Nutzungen zu finden und Bauwerke mit neuen Funktionen zu belegen, anstatt immer nur abzureißen und wiederaufzubauen.

Standard: Wie stehen Sie zur Architektur heutiger Tage? Sind wir auf dem richtigen Weg?

Woods: Nein, wir sind weit davon entfernt. Die heutige Architektur lebt nur noch von Kapitalismus und Kommerz. Der globalwirtschaftliche Aspekt ist für mich in der Zwischenzeit unerträglich geworden. Auf die Gefahr hin, dass das jetzt pathetisch klingen mag: Doch die Architektur hat ihre Wurzeln längst verloren. Es geht nicht mehr um Shelter, nicht mehr um Baukunst, sondern nur noch darum, Werbung und in letzter Konsequenz Kohle zu machen.

Standard: Was schlagen Sie vor?

Woods: In der jetzigen Generation wird sich das nicht mehr ändern. Wir können nur noch abwarten und zuschauen. Ändern können wir das Verständnis bestenfalls noch bei der Jugend. Aber wahrscheinlich ist es auch da schon zu spät.

Standard: Wie genau wollen Sie das machen? Ihre Zeichnungen verkörpern Schmerz, Krieg und Gewalttätigkeit. Bei solchen Bildern wird einem auch nicht wohler.

Woods: Mit Schmerz und Gewalt ist jeder mal konfrontiert, die meisten auch mit irgendeiner Form von Krieg. Diese dunklen Seiten sind Teil unserer menschlichen Existenz. Man muss der Realität ins Auge sehen. Nur so kann man den Schmerz angesichts von Zerbrechlichkeit und Sterblichkeit überwinden.

Standard: Sind Ihre dunklen Zeichnungen eine Art Ventil für Sie?

Woods: Ein Architekt ist in meinen Augen ein Entwerfer des Lebens. Insofern darf er diesen Aspekt nicht ausblenden. Was mich aber am meisten fasziniert, ist die Tatsache, dass Schmerz, Krieg und Gewalttätigkeit immer schon die größten Motoren für den Fortschritt waren. Sie brauchen sich nur mal anschauen, in welchen Epochen sich am meisten getan hat, in welchen Epochen am meisten gebaut und geschaffen wurde!

Standard: Anfang der Neunzigerjahre haben Sie an der Filmarchitektur des Science-Fiction-Horrorfilms „Alien 3“ mitgewirkt. Ein Ausdruck Ihrer Schmerzüberwindungssucht?

Woods: Die Idee des fiktiven Bauens war sehr reizvoll. Wenn Sie so wollen, war das eine Art Ausflug in die Zukunft. Mittlerweile weiß ich, dass ich mit Hollywood nichts zu tun haben will. Erstens ist mir dieses System zu profitorientiert, zweitens weiß ich spätestens seit Alien 3, dass ich kein Teamworker bin, sondern ein Soloarbeiter im stillen Kämmerlein. Ich will zeichnen und schreiben. Mehr nicht.

Standard: Fühlen Sie sich als Architekt oder als Künstler?

Woods: Ich bezeichne mich als Architekten. Doch die meisten Architekten erachten mich als Künstler. Die Künstler wiederum sagen Architekt zu mir. Ich bin nirgends zu Hause. Das kann manchmal ganz schön zermürbend sein.

Standard: Diese Gefühlswelt ist doch Ihr Revier!

Woods: Ja. Es ist nicht alles immer nur rosarot.

Standard: Karsten Harries, Philosophieprofessor an der Yale University, hat Sie einmal als Sohn des Daedalus bezeichnet. Wir alle wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist.

Woods: Da hat er schon recht. Ich fliege mit meinen Ideen manchmal zu hoch, viel zu hoch. Vielleicht sind meine Zeichnungen zu utopisch für diese Welt. Utopisch nicht nur im Bauen, sondern auch im Denken. Ich weiß es nicht. Ich werde es niemals erfahren.

Der Standard, Sa., 2010.06.12



verknüpfte Akteure
Woods Lebbeus

08. Juni 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Blumen für die Harmonie

Für Kim Il-sung war Pjöngjang ein aus Ruinen entstandenes „Paradies auf Erden“. Heute Abend, 19 Uhr, findet im Mak ein Vortrag über Mega-Architektur in Nordkorea statt.

Für Kim Il-sung war Pjöngjang ein aus Ruinen entstandenes „Paradies auf Erden“. Heute Abend, 19 Uhr, findet im Mak ein Vortrag über Mega-Architektur in Nordkorea statt.

Pjöngjang ist eine der meistzerbombten Städte der Welt. Bis auf ein paar historische Überbleibsel blieb nichts stehen. Nach dem Koreakrieg (1950-1953) wurde die nordkoreanische Hauptstadt nach dem Vorbild chinesischer und sowjetischer Städte wiederaufgebaut - mit imposanten Magistralen und Boulevards, mit gigantischen Monumenten, vor allem aber mit einer Unmenge an Plattenbauten für eine Unmenge von Menschen.

„Das Problem an Pjöngjang ist, dass die Stadt nach dem Krieg ursprünglich für zwei Millionen Einwohner konzipiert wurde“, sagt Jong Myong-ho , Oberarchitekt der Architekturakademie Pjöngjang. „Bei dieser Bevölkerungszahl sind wir in der Lage, Wohn- und Lebensqualität aufrechtzuerhalten. Alles, was darüber hinausgeht, stört die Harmonie.“ Heute zählt Pjöngjang fast 3,3 Millionen Einwohner. Ho Jong: „Wir kennen das Problem. Die Harmonie ist gestört.“

Viel mehr ist aus dem Chefarchitekten nicht herauszuholen. Als er und zwei seiner Kollegen, Ok Pak vom Zentralkomitee des Bundes der Architekten Koreas und In So Pak von der Architekturakademie Pjöngjang, im November 2007 von der Galerie Aedes zu einer Vortragsreihe nach Berlin eingeladen werden, hält sich der verbale Output der streng gekleideten Herren in Grenzen. Es ist die erste Bildungsreise nach Deutschland, die offiziellen Architekturorganen der Volksrepublik je genehmigt worden ist. Und sie dient nicht zuletzt der Imagepolitur der Diktatur.

„In keinem Land der Welt entwickelt sich das Bauwesen so schnell wie in Nordkorea“, hatte der 1994 verstorbene Präsident Kim Il-sung in einer bis heute ideologisch maßgebenden Rede „Über die Baukunst“ am 21. Mai 1991 festgehalten. Der Glaube ist nach wie vor aufrecht. Immer noch wird Pjöngjang als ein aus den Ruinen erstandenes „Paradies auf Erden“, als ein Gesamtkunstwerk der Moderne erachtet.

Hotel des Verderbens

Einige der herausragendsten Bauten Pjöngjangs sind in der aktuellen Ausstellung Blumen für Kim Il Sung im Mak zu sehen. Zum Beispiel der große Studienpalast des Volkes, das mit einem Fassungsvermögen von 150.000 Zuschauern größte Fußballstadion der Welt oder etwa die 170 Meter hohe Juche-Säule, die als das neue Wahrzeichen der Stadt gilt. Das Propaganda-Monument mit der steilen Flamme an der Spitze ist ein Entwurf des Chefarchitekten höchstpersönlich. „Die wichtigste Aufgabe der Architektur unserer Prägung ist die Würdigung der Taten des Führers“, sagt Jong Myong- ho kurz und bündig.

Nicht immer gereicht der Respekt bis zur Vollendung. Das 1987 begonnene Ryugyong-Hotel, eine dreiseitige Pyramide mit 105 Stockwerken und 330 Metern Höhe, stand jahrelang als halbfertiger Rohbau leer. Mittlerweile wurden die Bauarbeiten am Prestigeprojekt wieder aufgenommen. Bis 2012, zum 100. Geburtstag Kim Il-sungs, soll der Rohbau zumindest eingeglast und äußerlich beendet sein. Ob das „Hotel des Verderbens“ - so der inoffizielle Name - jemals den Betrieb aufnehmen wird, ist allerdings fraglich.

Der Standard, Di., 2010.06.08

29. Mai 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Gute Besserung!

Die Expo in Schanghai ist eine Muskelschau der Superlative. Einige Ideen zum gewählten Motto „Better City, Better Life“ sind aber durchaus erfrischend. Ein Spaziergang durch die Länder.

Die Expo in Schanghai ist eine Muskelschau der Superlative. Einige Ideen zum gewählten Motto „Better City, Better Life“ sind aber durchaus erfrischend. Ein Spaziergang durch die Länder.

Die Niederländer haben kapiert, wie's geht. Sie sind die einzige Nation auf der ganzen Expo, die den Mumm hat, sich am Krawattl zu nehmen und sich eigenhändig durch den Kakao zu ziehen. Geboten wird ein Pavillon mit Lachgarantie, eine köstliche, dreidimensionale Karikatur der holländischen Seele. 28 Miniaturhäuser - vom Barockpalais übers Bauhaus bis zum Glashaus voller Plastiktulpen - sind entlang einer 400 Meter langen, serpentinenartig aufgewickelten „Happy Street“ aufgereiht und gewähren Einblick in witzige, bisweilen abstruse Beiträge aus den Bereichen Landwirtschaft, Kunst und Industrie.

Ein kleiner globaler Zeigefingerwink darf nicht fehlen: Eine Kuh sitzt in einem Haus im ersten Stock fest und presst Gouda-Laibe aus dem Euter - direkt ins Käseregal. Andernorts sieht man eine Tankstelle mit Zapfsäulen, aus denen man kostbares und sündhaft teures Trinkwasser entnehmen kann. Und als wäre das alles nicht genug, ist quer über die Parzelle ein grüner Kunstrasen ausgebreitet, auf dem 200 synthetische Schafe weiden und den erschöpften Expo-Chinesen als Sitzskulptur und Rückenlehne dienen. Was für ein apokalyptisches Bild aus Plastik und PVC!

„Auf einer Expo muss man auffallen und provozieren“, sagt John Körmeling, Architektenvater des holländischen Hüttenspektakels. „Wenn man das Publikum nebenbei auch noch unterhalten und ihm die Möglichkeit zu einem gemütlichen Nickerchen zwischendurch bieten kann, dann hat man bereits gewonnen.“ Dutzende von Sonnenschirmen, in den landestypischen Farben direkt in die „Happy Street“ gerammt, tun ihr Übriges. Der Stahl wird nach Ablauf der Weltausstellung übrigens an chinesische Bau- und Industriebetriebe weiterverkauft.

Nicht alles ist so clever konzipiert und gleichzeitig witzig wie der Beitrag aus dem Goudaland. Ganz im Gegenteil: Die Expo 2010, die heuer unter dem Motto „Better City, Better Life“ steht, ist über weite Landstriche eine Show der Eitelkeiten, ein Rambazamba aus Pathos und Pein. Mit 5,3 Quadratkilometern Fläche, 192 teilnehmenden Nationen und weiteren 50 internationalen Organisationen ist sie die größte Weltausstellung aller Zeiten. Sogar eine neue U-Bahn-Linie mit drei Stationen, die das Expo-Gelände unterfährt, wollte man sich bei der 43 Milliarden teuren Veranstaltung in der Megametropole Schanghai nicht nehmen lassen.

Die Mentalität der Gastgeber zeigt sich in ihrem eigenen Pavillon: Während die Bauhöhe für sämtliche Länderpavillons mit 20 Metern streng limitiert war, erwächst die chinesische Pagode bis zu einer Höhe von alles überragenden 69 Metern empor. Die Inhalte des zwölfstöckigen Wahrzeichens umfassen Pferdeparaden in Glitzer und Glamour, eine sich an Lichtstärke überbietende Muskelschau der einzelnen Provinzen sowie einen schmalzig triefenden Film über die, na ja, grüne Zukunft im Reich der Mitte.

China will grün sein, irgendwie

Die Andeutungen bleiben vage: Statt konkreter Vorschläge zum Expo-Motto liefern die Chinesen bloß kitschige, in den Film nachträglich hineinaquarellierte Symbolik. Begleitet von Trommelwirbel und Panflötengedudel beginnen Peking, Schanghai und Chongqing plötzlich zu sprießen und verschwinden am Ende in einem Blättermeer aus Zeichentrick und Gigantomanie. Kraniche, Sternenhimmel und Applaus.

Von besserer Stadt und besserem Leben keine Spur - zumindest nicht in der kaiserlich rot gestrichenen, sogenannten „Krone des Orients“, wie der Entwurf des chinesischen Architekten He Jingtang heißt. Ökologisch sind einzig und allein die Elektromobile, mit denen man um 10 Yuan (rund 1,20 Euro) geräuschlos übers Expo-Gelände chauffiert werden kann. Auch die Omnibusse fahren mit Strom. Ob die grüne Technologie jemals auf die Stadt außerhalb der Expo-Tore umgelegt wird, erfährt man allerdings nicht.

Man fährt vorbei an Thailand, Libyen und Usbekistan. Folklore und Touristik drücken sich die Klinke in die Hand. Besonders schlimm hat's die USA erwischt, die sich von den Weltausstellungen der letzten Jahre kategorisch distanziert hatten. Es wäre besser gewesen, hätte Amerika auch diesmal erfolgreich an seinem Prinzip festgehalten: Gezeigt werden etwa Impressionen aus Las Vegas, die einzelnen Themenbeiträge hingegen sind gesponsert und dienen als Werbefläche für Visa, Motorola, American Airlines und Co.

Das kleine Europa erscheint dagegen als Segen: Die Schweiz entführt auf eine humorvolle Fahrt mit dem Sessellift hinaus aufs grüne Dächermeer. Die müde herunterbaumelnden Füße streifen Dotterblumen und Löwenzahn. Großbritannien hält fest, was festzuhalten ist, und stellt eine sogenannte Samenkathedrale ins Gelände. In den 60.000 Acrylstäben, die sanft im Wind wippen und in außerirdischer Schönheit erstrahlen, sind Samenkapseln aus dem Kunming Institute of Botany eingegossen; es ist die größte Samenbank der Welt. Und Spanien platziert in seinem weithin duftenden Pavillon aus Weiden und Bast ein entrisch anmutendes, sieben Meter großes Riesenbaby namens Miguelín. Das sitzt.

Brückenschlag aus Porzellan

Österreich punktet mit dem wohl geschmeidigsten Pavillon aller Zeiten. Das von span architects in Zusammenarbeit mit Arkan Zeytinoglu entwickelte Gebäude (Baukosten fünf Millionen Euro) ist eine wunderbare Skulptur aus dem Windkanal, umhüllt von 10 Millionen weißen und roten Fliesen aus Porzellan. „Das ist ein gewisser Brückenschlag zwischen Österreich und China“, sagen Sandra Manninger und Matias del Campo. „In China gibt es von jeher eine große Porzellankultur, in Österreich wiederum steht die zweitälteste Porzellanmanufaktur Europas.“

Kalt und warm gibt sich der futuristische Bau dann innen: Mal können Schneebälle an die Wand geworfen werden, mal gibt's Geigenquartett und zeitgenössisches Ballett. Es sind traditionelle Klischees, die hier bedient werden, doch die Performance ist erstklassig - ein kurzer Genuss im internationalen Tumult. „Wenn Chinesen zu Österreich befragt werden, dann denken sie als Erstes an Musik“, erklärt die österreichische Expo-Kommissärin Birgit Murr. „Wir haben die Erwartungen der Leute mit neuen Elementen wie etwa elektronischer Musik in Beziehung gesetzt.“ 1200 Besucher pro Stunde werden gezählt. Der Erfolg spricht für sich.

Die Expo Schanghai ist noch bis 31. Oktober geöffnet. Danach werden die Pavillons, für deren Bau rund 270 Betriebe und 20.000 bestehende Haushalte delogiert werden mussten, wieder abgebaut. Das wertvolle Bauland soll gewinnbringend veräußert und in ein modernes Wohnviertel verwandelt werden. Der chinesische Pavillon aber, der bleibt.

Der Standard, Sa., 2010.05.29

28. Mai 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Auszeichnung im Wandel der Mentalität

„Nachhaltigkeit war immer schon ein wichtiger Bestandteil der Architektur“, sagt der Linzer Architekturprofessor Roland Gnaiger. „Wahrscheinlich ist der...

„Nachhaltigkeit war immer schon ein wichtiger Bestandteil der Architektur“, sagt der Linzer Architekturprofessor Roland Gnaiger. „Wahrscheinlich ist der...

„Nachhaltigkeit war immer schon ein wichtiger Bestandteil der Architektur“, sagt der Linzer Architekturprofessor Roland Gnaiger. „Wahrscheinlich ist der Stephansdom landweit das nachhaltigste Gebäude.“ Gnaiger war Jury-Vorsitzender für den Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit 2010, der heuer zum zweiten Mal vergeben wurde. Aus 93 Einreichungen wurden zehn für den Staatspreis nominiert und vier ex aequo gestern in Anwesenheit von Umweltminister Nikolaus Berlakovich mit der grünen Plakette ausgezeichnet: das Gemeindezentrum St. Gerold in Vorarlberg (Architekten Cukrowicz Nachbaur), die Volksschule Mauth in Wels (Marte Marte Architekten), die Elementfertigungshalle Obermayr in Schwanenstadt (F2 Architekten) sowie die Passivwohnanlage Samer Mösl in Salzburg (sps architekten). Der Sonderpreis ging an das Forschungs- und Dienstleistungsgebäude HIT der ETH Zürich (Architekten Baumschlager und Eberle).

Für ihr Gemeindeamt samt angeschlossenem Kindergarten und Dorfladen realisierte die kleine Gemeinde im Großen Walsertal den ersten viergeschoßigen Vollholzbau des Landes - sogar der Aufzug ist aus Holz gebaut.

Die Weißtannen für den Rohbau stammen großteils aus den gemeindeeigenen Wäldern und wurden im Winter geschlägert und luftgetrocknet, um die Langlebigkeit des Materials zu verbessern und jene Energie zu sparen, die bei der mechanischen Trocknung feuchten Holzes anfallen würde. Auf PVC, Silikone und verpackungsintensive Materialien wurde verzichtet. Die strengen Vorgaben kamen sogar bei den Elektroverrohrungen und Verkabelungen zum Tragen.

Die Welser Volksschule als sogenannte „Bewegte Schule“ besticht durch ihr flexibles Raumprogramm mit überdimensionierten Gängen und Freiräumen zum Spielen und Toben. Die Industriehalle Obermayr, in der passivhaustaugliche Wand-, Boden- und Deckenelemente hergestellt werden, zeichnet sich durch ihre Lichtführung aus. Auf Kunstlicht kann während der Produktion über längere Zeit verzichtet werden. Und die Wohnhäusern Samer Mösl sind ein soziales Passivhaus-Integrationsprojekt.

„Projekte wie diese sind extrem wichtige Multiplikatoren“, sagt Umweltminister Nikolaus Berlakovich. „Mit diesem Preis wollen wir zeigen, dass nachhaltiges Bauen und herausragende Architektur sich nicht ausschließen, sondern sich im Gegenteil perfekt ergänzen.“ Der Weg sei noch weit, doch das Wichtigste sei bereits erreicht: ein Mentalitätswandel unter Fachplanern und Architekten, vor allem aber auch in der Bevölkerung.

Der Standard, Fr., 2010.05.28



verknüpfte Auszeichnungen
Staatspreis Architektur & Nachhaltigkeit 2010

20. Mai 2010Wojciech Czaja
Der Standard

„Einfach nur Yin und Yang sagen, ist zu wenig“

Stefan Behnisch, Stuttgarter Architekt, wird beim „Schwitzenden Symposium“ einen Vortrag halten - in der Therme. Mit Wojciech Czaja sprach er über Plastiksteine und Freizeitgelüste.

Stefan Behnisch, Stuttgarter Architekt, wird beim „Schwitzenden Symposium“ einen Vortrag halten - in der Therme. Mit Wojciech Czaja sprach er über Plastiksteine und Freizeitgelüste.

Standard: Schwitzen Sie gern?

Behnisch: Es ist lebensnotwendig!

Standard: Bei den Kärntner Architekturtagen werden Sie in der Sauna der Römerbad-Therme in Bad Kleinkirchheim einen Vortrag halten. Kann man sich bei diesen Temperaturen überhaupt noch konzentrieren?

Behnisch: Es kommt darauf an, wie man veranlagt ist. Ich persönlich vertrage trockene Hitze nicht sonderlich gut. Ich kann mir vorstellen, kurz in einen heißen Vortrag eines Kollegen oder einer Kollegin reinzuhören, aber selbst reden? Nein. Ich gehe davon aus, meinen Vortrag in der Halle zu halten. Wenn ich eine Mathematikarbeit schreiben müsste, würde ich mich ja auch nicht in eine Saunakabine setzen.

Standard: Es gibt in Österreich nur wenige Thermen mit architektonischem Anspruch. Meistens handelt es sich um überfrachtete Wellness-Tempel zwischen Asia-Kitsch und Drachenrutsche. Woran liegt das?

Behnisch: Ich glaube, dass der Anspruch der Besucher und Nutzer auf eine anspruchsvolle Umgebung in Wellnessbereichen nie ernst genommen wurde. 50 Jahre lang waren Thermalbäder ein Beiprodukt der Tourismusbranche. Man hat irgendwas gemacht und konnte sich sicher sein, dass irgendwer schon kommen wird. Das hat sich nun geändert. Die kritische Masse im Tourismus ist erreicht: Die Zuwachsraten stagnieren, die Konkurrenz steigt, ein unerbittlicher Verdrängungswettbewerb hat angefangen. Jetzt geht es nicht mehr nur um Angebot und Menge, sondern um Qualität.

Standard: Was bedeutet das für die Gebäude?

Behnisch: Früher hat man hässlich-kitschige Bäder gebaut, ein paar warme Steinchen auf den Boden gelegt, Yin und Yang gesagt - und die Sache war erledigt. Seitdem jedoch Peter Zumthor in Vals in der Schweiz die Felsentherme errichtet hat, haben sich die Ansprüche des Publikums verändert. Mit Furnier-Architektur und hohlen Felsen aus Gipskarton, Pappmaché und Plastik können Sie heute keine Besucher mehr gewinnen - zumindest nicht solche, die bereit sind, die meist happigen Eintrittspreise zu zahlen.

Standard: Ist man in der Freizeit wirklich so kritisch, dass man zwischen einem Felsen aus Stein oder Plastik unterscheidet?

Behnisch: Nicht beim ersten Mal. Aber beim zweiten und dritten Mal, da sieht man so etwas! In ein Bad mit hochgeschminkten Plastikpalmen will ich persönlich kein zweites Mal hinein. Als Kunde fühle ich mich da ausgenommen. Ich glaube, dass die Investoren und Thermalbadbetreiber das Publikum unterschätzen.

Standard: Sie haben schon etliche Thermalbäder geplant. Wo liegt der goldene Mittelweg zwischen Architektur und Freizeitgenuss?

Behnisch: Ich will Orte schaffen, wo die Menschen jedes Wochenende aufs Neue wieder hinfahren wollen. Das geht nur, wenn man das persönliche Wohlbefinden jedes Einzelnen im Auge behält.

Standard: Und zwar wie?

Behnisch: In einer Therme hat man Badehose und Badeanzug an, oder aber man ist ganz nackt. Man ist schutzlos und verletzlich. Hinzu kommt, dass man die Sommerfigur noch nicht erreicht und am Rücken womöglich gerade einen Pickel hat. Wohlfühlen kann man sich in so einem Fall nur, wenn die Architektur authentisch ist, wenn ein Stein auch wirklich ein Stein ist, wenn die Räume Schutz und Geborgenheit bieten. Bestes Beispiel ist das Felsenbad in Bad Gastein von Gerhard Garstenauer. Eine gute Atmosphäre.

Standard: Wir verbringen rund 90 Prozent unserer Zeit in Gebäuden. Auch in der Freizeit. Das Interesse an Baukultur ist trotzdem gering. Warum?

Behnisch: Wenn man durch schlechte Umgebung geprägt ist, dann lernt man auch nie, anspruchsvoll zu sein. Sehen Sie sich doch mal all die Städte an, in denen wir aufwachsen und leben!

Standard: Was ist mit Rom, Paris, Istanbul?

Behnisch: Ausnahmen! Die schönen Bauwerke, die diese Städte ausmachen und die bis heute erhalten sind, galten auch damals schon als erhaltenswerte Unikate. Der ganze mittelmäßige Rest wurde zerstört und ersetzt. Oder aber es kommt den wenigen pragmatischen Zweckbauten, die erhalten wurden, eine große Bedeutung zu.

Standard: Die Architektur des Alltags hat also immer schon ein stiefmütterliches Dasein geführt?

Behnisch: Nicht in der Antike! Da war Architektur bereits eine eigene Kunstgattung - und zwar noch lange vor der Musik, die den Durchbruch erst in der Renaissance hatte. Mir wird immer ganz anders, wenn ich mir vorstelle, dass man in 1000 Jahren zufällig auf die Ausgrabungen von Stuttgart stoßen wird, das eines Tages durch Erdbeben oder Vulkanausbruch untergegangen sein könnte. Als Erstes wird man auf irgendeine Betonbude aus den Achtzigern stoßen. Man wird daraus schließen, dass ganz Stuttgart so ausgesehen haben muss. Das macht mich traurig.

Standard: Wie kann man das Interesse für Architektur stärken?

Behnisch: Mit Schulbildung. Wir unterrichten unsere Kinder in Wissenschaft, in Musik, in Malerei. Aber von Architektur, die einen substanziellen Stellenwert in der Kulturgeschichte der Menschheit einnimmt, bekommt man fast gar nichts mit. Die meisten glauben, Architektur, das sei der Eiffelturm, das Empire State Building, bestenfalls ein Museum von Zaha Hadid. Dass wir jedoch 99 Prozent unserer Zeit in einer Umgebung voller menschlicher Artefakte verbringen, daran denkt niemand. Im Erwachsenenalter zu beginnen, Bewusstsein zu schaffen, ist definitiv zu spät.

Standard: Ich habe gehofft, dass Sie die Architekturtage erwähnen.

Behnisch: Und natürlich die Architekturtage! In Deutschland haben wir eine vergleichbare Veranstaltung, den Tag der Architektur. Wir sind da also etwas zurückhaltender. Einen Tag lang sind sämtliche öffentlichen Gebäude für jeden zugänglich. Das Interesse ist groß.

Standard: Wie werden Sie die Architekturtage verbringen?

Behnisch: Ich muss einen Vortrag halten. Danach werde ich mich in ein Freibecken legen, in den Himmel schauen und mich auf höchstem Niveau entspannen.

Der Standard, Do., 2010.05.20

20. Mai 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Das Haus als Ansichtsexemplar

Am 28. und 29. Mai stehen rund 1000 Veranstaltungen auf dem Programm

Am 28. und 29. Mai stehen rund 1000 Veranstaltungen auf dem Programm

Die Architekturtage finden heuer zum fünften Mal statt. Unter dem Motto „Ansichtsexemplar. Architektur eins zu eins erleben“ werden Gebäude und Baustellen sowie 270 Architekturbüros an zwei Tagen öffentlich zugänglich gemacht. Am Programm stehen außerdem geführte Touren, Ausstellungseröffnungen, Preisverleihungen und Diskussionen - nicht nur in der Sauna. „1:1 als Motto, das sagt ja schon viel aus“, meint Gerhard Buresch, Präsident des Vereins Architekturtage. „Es wäre allerdings schön, wenn man bei diesem Schlagwort nicht nur an Fußball, sondern eines Tages womöglich auch an unsere gebaute Umwelt denken würde.“

Nirgendwo sonst seien die Berührungen mit Kunst im Alltag größer als in der Architektur: Die Qualität eines Bauwerks übertrage sich eins zu eins auf das Wohlbefinden der Menschen. Berührungsängste gibt es trotzdem. Diese Furcht zu nehmen ist das Ziel der Architekturtage 2010, einem Kooperationsprojekt der Kammern der Architekten und Ingenieurkonsulenten und der Architekturstiftung Österreich. Insgesamt werden am 28. und 29. Mai rund tausend Veranstaltungen angeboten. Ein neuer Webauftritt verschafft nicht nur Klarheit, sondern bietet auch die Möglichkeit, unterschiedliche Programmpunkte der Architekturtage individuell zusammenzustellen.

„Architekturkonsum ist keine Sache des Wochenendes, des Urlaubs oder des singulären Theaterbesuchs“, sagt Georg Pendl, Präsident der Bundeskammer der Architekten, „er findet immer und überall statt.“ Mittlerweile lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten. Der bewusste Umgang mit künstlich geschaffenen Räumen werde immer wichtiger. Anreize und positive Ansichtsexemplare sind gefragt - und können nächste Woche besichtigt werden.

Der Standard, Do., 2010.05.20

20. Mai 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Von der Baggerschaufel ins Soletti-Atelier

Das Wiener Programm schreckt vor miachtelnden Baustellen nicht zurück. Zum Ausgleich öffnen rund 70 Architekturbüros ihre Pforten. In der slowakischen Nachbarkapitale steht Dramatisches auf dem Programm.

Das Wiener Programm schreckt vor miachtelnden Baustellen nicht zurück. Zum Ausgleich öffnen rund 70 Architekturbüros ihre Pforten. In der slowakischen Nachbarkapitale steht Dramatisches auf dem Programm.

Wien - Jahrzehnte lang fristete der Donaukanal ein Dasein als unattraktives Rinnsal am Rande der Innenstadt. Das ist vorbei. Nach dem Ansiedeln saisonaler Einrichtungen wie Summerstage, Strandbar, Badeschiff und Tel-Aviv-Beach ist nun die Architektur an der Reihe. Im Bereich des Schwedenplatzes entstehen gleich zwei Bauwerke, die sich in einem Kopf-an-Kopf-Rennen um Lärm und Staub duellieren. Der Schiffsterminal des Wiener Büros fasch & fuchs wird am 15. Juli eröffnet, das Hotelhochhaus des Pariser Architekten Jean Nouvel nimmt den Betrieb im November auf.

Wer nicht so lange warten will, der kann am Samstag, den 29. Mai, im Rahmen einer geführten Tour durch Estrich und Mörtel waten. Insgesamt können während der Architekturtage rund 60 Bauwerke besichtigt werden - von miachtelnden Baustellen über kürzlich fertiggestellte Häuser bis hin zu historischen Ikonen, die für gewöhnlich nicht oder nur schwer zugänglich sind - etwa das nagelneue Geriatriezentrum in der Leopoldstadt, innovative Bürobauten im Prater sowie die Baustelle des 20er-Hauses im Schweizer Garten.

Bunker in Bratislava

Dank der Kooperation mit der Slowakischen Akademie der Wissenschaften können auch Bauwerke in der nahegelegenen Twin-City Bratislava besichtigt werden. Rund 20 Führungen durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden angeboten. Auf dem Programm stehen Wohnbauten, Kulturbauten und Fernsehtürme, aber auch sinistre Einrichtungen aus dem Zweiten Weltkrieg wie etwa der BS8-Militärbunker in Petrzalka oder die 800 Meter lange Untertunnelung des Schlossberges.

Fröhlicher und ausgelassener wird die Stimmung in den offenen Ateliers in Wien sein. Knapp 70 Architekturbüros öffnen am Freitag ihre Pforten und lassen sich bei der Arbeit und beim kollektiven Weintrinken und Soletti-Knabbern über die Schulter schauen. Vorträge, Einzelgespräche und kostenlose Tipps von Passivhausprofis gewähren Einblick ins aktuelle Baugeschehen der Stadt.

Während im Wien-Museum und im Architekturzentrum Wien speziell geschmiedete Programme für Kinder angeboten werden, können sich Eltern derweil über Baugemeinschaften und Baugruppen (Info-Abend am Freitag) oder über CO2-neutrale Baumaterialien der Zukunft informieren (Pecha-Kucha-Night am Samstag). Zwei Filmvorführungen im Top-Kino beenden die Architekturtage. In einem der beiden gezeigten Filme sieht man, wie eine Putzfrau einer zeitgenössischen Villa des holländischen Architekten Rem Koolhaas zu Leibe rückt. Alltag und Architektur vertragen sich nicht immer. Zum Schießen.

Der Standard, Do., 2010.05.20

20. Mai 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Mission: Anecken

Niederösterreich im Richtungswechsel

Niederösterreich im Richtungswechsel

Krems - Im Rahmen der niederösterreichischen Architekturtage wird eine zweitägige Exkursion nach Ungarn angeboten. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Arnulf-Rainer-Museum in Baden sowie beim Haus am See (Preis „Bestes Haus 2009“) geht es weiter zu Kaufhäusern, Bürozentren und Headquarters in Budapest. Auch dem Zoo wird ein Besuch abgestattet. Eine umfangreiche Reise. Einziger Nachteil: Es entgeht einem der ganze gute Rest. Der da wäre: 15 Ateliers öffnen am Freitag ihre Pforten. Was in all diesen Büros an innovativer Denkarbeit geleistet wird, wenn sie nicht gerade von Architekturtage-Besuchern gestürmt werden, ist in der Ausstellung „New Frontiers. Experimental Tendencies in Architecture“ im Wiener Zumtobel Lichtzentrum zu sehen.

Sommerfrische an der Donau

Während am Freitag der Internationale Architekturpreis „Daylight Spaces“ verliehen wird, steht der Samstag ganz im Zeichen der Sommerfrische. Elke Krasny geht in Greifenstein spazieren und nimmt ihre Mitgeher zu den neuesten und spannendsten Badehütten an der Donau mit.

Ein Filmabend im Kremser Kesselhaus rundet das Programm ab: „Pessac. Leben im Labor“ über die Architektur Le Corbusiers sowie „Schindlers Häuser“, ein stoischer Doku-Film von Heinz Emigholz. 40 Häuser zwischen Chicago und Los Angeles werden mit der Kamera bewandert. Stille Bilder. Geduld.

„In den letzten Jahren sind in Niederösterreich viele sehenswerte Bauten entstanden, ein Milieu für das Neue und Moderne gibt es aber bis heute nicht“, sagen Franz Sam und Irene Ott-Reinisch, zwei in Niederösterreich viel bauende Architekten. „Vieles entsteht nach dem Motto: ,Nur nicht anecken'.“ Der nötige Richtungswechsel ist bereits im Gange.

Der Standard, Do., 2010.05.20

20. Mai 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Tag im pannonischen Eierparadies

Das Burgenland lädt zu einer zehnstündigen Tour zwischen Eisenstadt und Seewinkel

Das Burgenland lädt zu einer zehnstündigen Tour zwischen Eisenstadt und Seewinkel

Trausdorf an der Wulka - Mit großen Bauwerken kann das bevölkerungsärmste Bundesland wahrlich nicht aufwarten. Es sind die kleinen und feinen Preziosen, die quer übers Land verstreut sind. Mehr als irgendwo sonst, scheint es, lebt die regionale Architektur vom Spiel mit der Natur. Kaum ein Einfamilienhaus, ein Weingut, ein Museum, das nicht auf dramatische Weise die Landschaft in den Innenraum holt.

Die sogenannte „Architektour“ liefert den Beweis: Der ganztägige Ausflug von Eisenstadt bis in den Seewinkel führt zu Einfamilienhäusern von Adolf Krischanitz und PPAG sowie zu neuen Obst- und Weingütern von Architects Collective. Kupferbleche, aufgespritzte PU-Fassaden und chamäleonartige Aluminiumplatten mit changierendem Effekt - „bekannt von den angeberisch lackierten Autos, die im Vorbeifahren die Farbe ändern“, wie PPAG dies ausdrückt - beweisen, dass die Zukunft längst schon die pannonische Tiefebene erreicht hat.

Eines der Highlights ist gewiss das Eiermuseum in Winden am See. Ja, auch das gibt es. „Die Kugel ist die absolute Form. Wenn man die Kugel jedoch zusammendrückt, dann entsteht ein Ei“, sagt der Sammler und Eierfanatiker Wander Bertoni. 4000 Exponate vom handbemalten Osterovulum bis zum eingeritzten Unikat vom Ende der Welt werden in einem von gaupenraub geplanten Eierpavillon ausgestellt.

Architektur als großes Kino

Stationäres Programm wird ebenfalls geboten. Im Flugplatz-Turm in Trausdorf an der Wulka werden am Freitag, den 28. Mai, zwei Dokumentarfilme gezeigt: Bird's nest ist ein Film über das Pekinger Vogelnest-Stadion der Schweizer Architekten Herzog & de Meuron. My architect. A son's journey ist ein episches, berührend erzähltes Porträt über den US-amerikanischen Architekten Louis Kahn, einen der einflussreichsten und bedeutendsten Planer des 20. Jahrhunderts.

Eine Ausstellungseröffnung im Architektur Raum Burgenland mit anschließendem Fest beendet die Architekturtage und entführt die Besucher abermals raus an die frische Luft. Diesmal nicht in die wilde Natur, sondern auf sorgfältig gestaltete Freiräume und Dorfplätze.

Der Standard, Do., 2010.05.20

20. Mai 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Die Messlatte liegt immer höher

Wien – 2006 wurde der Österreichische Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ins Leben gerufen. 60 Projekte wurden damals eingereicht. Heuer wird...

Wien – 2006 wurde der Österreichische Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ins Leben gerufen. 60 Projekte wurden damals eingereicht. Heuer wird...

Wien – 2006 wurde der Österreichische Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ins Leben gerufen. 60 Projekte wurden damals eingereicht. Heuer wird der Ökologie-Baupreis zum zweiten Mal vergeben. Und diesmal sind es schon 93 Einreichungen.

„Wir haben diesen Staatspreis als eine Art große Versöhnungsinitiative konzipiert“, sagt Roland Gnaiger, Juryvorsitzender und Architekturprofessor an der Kunstuniversität Linz, „als Versöhnung zwischen Kunst und Gesellschaft, aber auch zwischen Schönheit und Sinnhaftigkeit.“ Der Preis solle den Beweis antreten, dass Nachhaltigkeit nicht hässlich und Architektur nicht selbstgefällig sein muss.

Aus den eingereichten Projekten schafften es zehn Bauwerke in die finale Runde: öffentliche und private Bauten, Schulen, Gemeindezentren, Wohnhäuser und gewerbliche Betriebe. Nachhaltig sind sie alle. Anhand von errechneten und empirisch nachgewiesenen Energiekennzahlen lässt sich der Erfolg belegen.

Nominiert wurden: Allgemeine Sonderschule Linz, Elementfertigungshalle Obermayr in Schwanenstadt, Freihof Sulz in Röthis, Gemeindehaus Raggal, Gemeindezentrum St. Gerold, Lager und Verwaltungszentrum Eine Welt Handel in Niklasdorf, Passivwohnhausanlage Samer Mösl in Salzburg, Passivhaus-Volksschule Mauth in Wels, Pfarre St. Franziskus in Wels sowie die Wohnanlage Fussenau in Dornbirn.

Ungleich verteilt

Auffällig ist die Verteilung auf die Bundesländer. Der Großteil der Nominierungen stammt aus Vorarlberg und Oberösterreich. Der Grund ist einfach: Das Land hinter dem Arlberg verfügt schon seit langem über strenge Förderkriterien, die an bautechnische und ökologische Nachhaltigkeit gekoppelt sind. Oberösterreich holt auf: Gemeinden wie Wels, die sich 2008 per Gemeinderatsbeschluss dazu verpflichtet haben, öffentliche Gebäude nur noch als Passivhäuser zu planen, gehen beispielhaft voran.

„Die Zeiten, als Nachhaltigkeit die Nische unbegabter Gestalter war, ist endgültig vorbei“, stellt Gnaiger fest. „Die ökologischen Kriterien werden immer strenger, die Architektur immer besser, die Latte immer höher.“ Der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit wird vom Lebensministerium ausgelobt. Die Preisträger werdenkommendeWoche,am27. Mai 2010, bekanntgegeben und durch Umweltminister Nikolaus Berlakovich (ÖVP) ausgezeichnet.

Der Standard, Do., 2010.05.20



verknüpfte Auszeichnungen
Staatspreis Architektur & Nachhaltigkeit 2010

17. April 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Rezept zur grünen Tablette

Das Krankenhaus Wien Nord wird von einem üppigen Garten umgeben sein. Die US-amerikanische Architektin Martha Schwartz will damit die Heilung der Patienten beschleunigen.

Das Krankenhaus Wien Nord wird von einem üppigen Garten umgeben sein. Die US-amerikanische Architektin Martha Schwartz will damit die Heilung der Patienten beschleunigen.

Das geplante Bauvorhaben Krankenhaus Wien Nord sorgte bisher nicht nur für gute Schlagzeilen. Zuerst verzögerte sich das Projekt um zwei Jahre. Die ehemaligen ÖBB-Werkstätten hätten schon Anfang 2008 abgerissen werden sollen. Sie stehen noch immer. Dann stellte sich heraus, dass man ins künftige Hightech-Spital mit der Bim wird tuckern müssen, weil sich die Wiener Linien partout weigern, die U6 entlang der Brünner Straße zu verlängern. Und nun, keine drei Wochen ist es her, platzte der PPP-Deal mit dem Bieterkonsortium Porr/Siemens/Vamed. Ein guter Stern sieht anders aus.

Allerdings: Hinter den Geburtsschwierigkeiten im Kreißsaal der Politik versteckt sich ein neues und innovatives Modell der mitteleuropäischen Krankenhausarchitektur. Von Anfang an wünschte sich der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) ein sogenanntes Wohlfühlspital. Sonja Wehsely, Stadträtin für Gesundheit und Soziales, sprach gar von einem „Beitrag zur Steigerung der Effizienz im Wiener Gesundheitswesen“. Und die Wettbewerbsjury unter Vorsitz der hospitalerprobten Schweizer Architektin Silvia Gmür stellte schon am ersten Tag ihrer Auswahltätigkeit fest: Egal wie, doch das Krankenhaus Wien Nord müsse als „Lokomotive der Krankenhausentwicklung in Wien“ hervorgehoben werden.

In der Tat sieht das gesundmachende Zuggespann ziemlich vielversprechend aus. Architekt Albert Wimmer, gut vernetzter Zampano im Wiener Baugeschehen, gewann den Wettbewerb nicht im Alleingang, sondern zusammen mit der US-Landschaftsarchitektin Martha Schwartz. Die bisherigen Errungenschaften der beiden Büros, alle im planerischen Embryonalstadium befindlich, könnten die Erwartungen des KAV und der Stadt Wien gewaltig sprengen. Voraussetzung ist natürlich, dass sie so realisiert werden, wie Schwartz es vorgesehen hat.

„Es soll nicht nach Spital riechen“, sagt die in Massachusetts und London tätige Architektin. „Das soll ein emotionaler, glücklichmachender und üppig grüner Garten sein, der den Stress der Patienten lindert und sich auf den Heilungsprozess positiv auswirkt.“ Was sich anhört wie ein naiver Fantasiesatz aus dem Wunschalmanach der Architektur, ist wissenschaftlich längst belegt. „Das ist nicht nur ein schön gestalteter Garten, sondern eine heilende Landschaft, die anhand der bisherigen Erkenntnisse von Wissenschaftern und Forschern mit Wald- und Wiesenflächen, mit Sitzgelegenheiten und Pavillons, mit Hochbeeten zum Bepflanzen und mit Wegen zum Flanieren ausgestattet sein wird“, so Schwartz.

Die Planung für den Landschaftsgarten ist die mittel- bis langfristige Rechnung, dass ein sorgfältig geplanter Krankenhausgarten den Heilungsprozess der Patienten beschleunigt, den Spitalsaufenthalt verkürzt und die Krankenstandstage des Personals erheblich reduziert. Zahlreiche Studien der letzten Jahre, zum größten Teil in den USA durchgeführt, belegen das: Steve Mitrione von der University of Minnesota beobachtete, dass bei Patienten, die auf eine grüne Hecke blicken, mehr Alpha-Aktivität zu verzeichnen ist. Sprich: Sie empfinden Entspannung. Bei Patienten hingegen, die auf eine Betonwand schauen, nimmt die Beta-Aktivität zu. Sie haben Stress.

Roger Ulrich, Architekturprofessor an der Texas A&M University und Partner am Center for Health Systems & Design, stellte fest, dass Patienten mit Aussicht in den Garten schneller gesund werden als solche, die auf eine Ziegelwand blicken müssen. Der Aufenthalt im Krankenhaus werde dadurch verkürzt.

Und Clare Cooper Marcus - sie ist Professorin für Landschaftsarchitektur in Berkeley - erkannte in einer 1995 durchgeführten Studie, dass Patienten in grüner Umgebung viel weniger Schmerzmittel benötigen und im Schnitt um ein paar Tage früher das Krankenhaus verlassen als Patienten ohne natürliche Umgebung. Auch die Zufriedenheit und Gesundheit des Personals nimmt zu, die Krankenstandstage werden weniger. Alles in allem eine hieb- und stichfeste Beweislage für die grüne Architektur. Fragt sich nur, wie viel so ein Garten kosten darf. „Falsche Frage“, entgegnet Architekt Albert Wimmer, „die Baukosten eines Krankenhauses mitsamt Infrastruktur und Nebenflächen sind im Vergleich zu den Betriebskosten absolut vernachlässigbar. Innerhalb von wenigen Jahren wird die Investition vom laufenden Betrieb eingeholt.“

Maximilian Koblmüller, stellvertretender Generaldirektor des KAV, bestätigt: Innerhalb von zwei bis zweieinhalb Jahren betragen die Betriebskosten eines Krankenhauses so viel wie die anfänglich getätigten Errichtungskosten. Das muss man sich einmal vorstellen! Die Baukosten fallen also gar nicht so ins Gewicht. Viel wichtiger ist es, die Betriebskosten zu reduzieren." Im Falle des Krankenhauses Wien Nord heißt das: Das Gebäude wird 825 Millionen Euro in der Errichtung kosten und rund 350 bis 400 Millionen Euro im laufenden Betrieb - pro Jahr.

„Für den Garten von Martha Schwartz haben wir als Obergrenze 130 Euro pro Quadratmeter angenommen, mehr als in jedem anderen Park in Wien“, sagt Astrid Zimmermann, KAV-Pressesprecherin für das Krankenhaus Wien Nord. Bei 70.000 Quadratmetern Freifläche würde die Errichtung der gesamten Gartenanlage somit 9,1 Millionen Euro kosten. Das sind gerade mal 2,6 Prozent der jährlichen Betriebskosten. Ein Klacks.

Setzen wir die Rechnung fort: Laut Gesundheitsstadträtin Wehsely kostet ein Wiener Spitalsbett im Durchschnitt 266.392 Euro pro Jahr. Unter der Annahme, dass in einem Krankenhaus mit 850 Betten - so viele soll es in Wien Nord ab 2015 geben - rund 2000 kranke Menschen rascher genesen und um nur zwei Tage früher heimgeschickt werden könnten, wäre die budgetäre Einsparung so groß, dass sich der ach so teure Garten von Martha Schwartz innerhalb von drei Jahren amortisiert haben könnte. Ab dann würden KAV und Stadt Wien Gewinn schreiben. Eine volkswirtschaftliche Rechnung mit gutem Ausgang - und glücklichen Beteiligten.

„Ich glaube fest an die Heilkraft eines solchen Gartens, die Beweise könnten nicht eindeutiger sein“, sagt Martha Schwartz. „Bisher wurden all diese Studien jedoch nachträglich an bereits realisierten Krankenhäusern in den USA durchgeführt. Nun gibt es erstmals die Möglichkeit, so eine Healing Landscape vorausblickend zu planen. Dieses Projekt könnte die Krankenhausarchitektur revolutionieren. Und die Stadt Wien wäre als Pionier vorne mit dabei.“

Bleibt den Auftraggebern zu wünschen, dass sie sich von der bisherigen Münzenzählerei befreien. Sowohl KAV und Stadt Wien als auch jeder sozialversicherte Mensch in diesem Land könnte davon profitieren, wenn den wissenschaftlichen Studien und dem sogenannten „evidence-based design“ endlich Glauben geschenkt würde. Lebenszyklusdenken lautet das Geheimnis. Mit 130 Euro kommt nach nicht weit.

Der Standard, Sa., 2010.04.17

03. April 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Wellenreiten ins Labor

Im Rolex Learning Center in Lausanne sind kräftige Wadeln gefragt. Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa vom japanischen Architekturbüro SANAA wurden diese Woche mit dem Pritzker-Preis 2010 ausgezeichnet.

Im Rolex Learning Center in Lausanne sind kräftige Wadeln gefragt. Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa vom japanischen Architekturbüro SANAA wurden diese Woche mit dem Pritzker-Preis 2010 ausgezeichnet.

Eine Gruppe von Studenten hopst den Hügel auf und ab. Im Ohr die üblichen weißen Stöpsel, unterm Arm den Apple, im Mund ein Ricola. Andernorts sitzen zwei grau melierte Professoren auf einem zerknautschten Sitzsack aus Styroporgranulat und blättern eifrig im Terminkalender. Hier wird telefoniert, da wird geschlafen, hoch oben im letzten Eck der Aula - auch das ist Alltag auf diesem Campus - wird mit peitschendem Zungenschlag geschmust und geknutscht.

Wenn man es mit den eigenen Augen nicht gesehen hat, dann glaubt man es kaum. Aber nein, wir befinden uns hier nicht etwa auf einem Rummelplatz der ewig Junggebliebenen, sondern mitten im neuen Rolex Learning Center der EPFL, der École Polytechnique Fédérale in Lausanne.

Der freizeitliche Geist, der diesen heiligen Hallen des Forschens und Wissens innewohnt, scheint zu beflügeln. Laut dem Shanghai Academic Ranking of World Universities liegt die EPFL - gemeinsam mit dem britischen Cambridge - auf Platz 1 der europäischen Universitäten mit Schwerpunkt Ingenieurwesen, Technologie und Computerwissenschaft.

„Wir wollten darüber nachdenken, wie ein moderner und zeitgemäßer Universitätscampus des 21. Jahrhunderts aussehen kann und ob man die traditionellen Denkschemata von Bildungseinrichtungen aufbrechen und überdenken kann“, sagt Kazuyo Sejima vom Tokioter Architekturbüro SANAA. Man kann. Und wie man kann.

Nachdem Sejima und ihr Partner Ryue Nishizawa ihr Talent in den letzten Jahren nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder unter Beweis gestellt hatten, wurde das Büro SANAA Anfang der Woche mit dem diesjährigen Pritzker-Preis für Baukultur ausgezeichnet. Mit 100.000 US-Dollar Preisgeld handelt es sich dabei um die weltweit höchst dotierte Auszeichnung für Architekten (der Standard berichtete). Das Learning Center in Lausanne, vor einem Monat fertiggestellt, ist der jüngste Wurf der beiden.

Wie ein weiches Gebilde aus Glas und Beton liegt das Gebäude in der Wiese am südlichen Rand des EPFL-Campus, nur wenige Schritte vom Genfer See entfernt. Mit Ausmaßen von 160 mal 120 Metern, ein Riesending das Ganze, würde man unter normalen Umständen wohl das Fürchten bekommen.

Das Gegenteil ist der Fall: Als säße die Muse der Wissenschaft hoch im Himmel und zöge an ein paar unsichtbaren Schnüren nach oben, macht das Haus an manchen Stellen einen Katzenbuckel, steigt um fünf Meter an und zeigt der Schwerkraft, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz, die kalte Schulter. Wem danach ist, der kann es unterwandern, kann unter dem entwurzelten Fundament feierlich hindurchflanieren.

Hügel statt Wände

Um das Gebäude mit Tageslicht zu versorgen, ist es von kleineren und größeren Atrien durchdrungen. Runder und geschmeidiger als hier kann ein Innenhof nicht sein. Übrig bleibt eine Art fliegender Teppich mit 20.000 Quadratmetern Nutzfläche - durchlöchert und zerbissen von anspruchsvollen Motten mit einem Sinn für Ästhetik.

„Wir wollten einen einzigen offenen Raum auf einer Etage schaffen“, sagt Sejima, „das ermöglicht eine ganz andere, hierarchielosere Kommunikation als etwa ein Gebäude mit voneinander getrennten Stockwerken, mit ganz normalen Gängen und Zimmern.“ Durch die Belebung der Topografie, durch das Auf- und Abwiegen der 3,50 Meter hohen Innenräume sieht man selbst aus dem Zentrum des Gebäudes auf den See hinaus. An schönen Tagen reicht der Blick bis zum schneebedeckten Alpenkamm.

„Ich finde das Learning Center schlichtweg genial, es ist beachtlich, dass ein Projekt mit einer derartigen Konsequenz realisiert werden kann“, erzählt eine angehende Neurobiologin, die gerade in der Ecke lümmelt. „Der einzige Nachteil hier drin ist, dass man ohne Navigationssystem bisweilen die Orientierung verliert.“

Geschätzt werde der Bau vor allem für seine Offenheit und Transparenz. „Man trifft ständig auf Freunde und Mitstudentinnen. Eigentlich ist man zum Lernen und Lesen hier, schon findet man sich mitten in einer hitzigen Diskussion wieder.“ Alles beabsichtigt und gewollt. „Coffee-Effect“ nennt sich das im Fachjargon der EPFL.

Bemerkenswert ist das Bauwerk auch in technischer Hinsicht. Der gesamte Innenraum - und dazu gehören Bibliothek, Buchhandlung, Lernbereich, Restaurant, Kantine, Café, Media and Science Lab, Verlagsbüros und Portier - kommt ohne Wände und ohne räumliche Trennung aus. Einzig und allein die Sanitärgruppen und anmietbaren Besprechungszimmer sind in runden Bubbles aus Glas und Gipskarton untergebracht. Doch wirklich laut wird's hier nirgendwo. Kaum hat man einen Hügel erklommen, eine Talsohle erreicht, eine Kurve gekratzt, verstummt der eben noch gehörte Lärm zu einem dumpfen Nichts.

„Mit der Akustik haben wir uns sehr lange beschäftigt“, sagt Manfred Grohmann vom Wiener Ziviltechnikerbüro Bollinger Grohmann Schneider. „Die gute Schalldämmung liegt zwar auch an den absorbierenden Oberflächen, die hier eingesetzt wurden, vor allem aber an der speziellen Gebäudegeometrie.“ An den gewölbten Böden und Decken bricht sich der Schall so oft, dass vom lautstarken Mittagessen in der Kantine 50 Meter weiter nichts mehr zu hören ist. In der Bibliothek ist es ... mucksmäuschenstill.

Ökologischste Uni Europas

„Für mich als Techniker ist das ein absolutes Once-in-a-Lifetime-Projekt“, sagt Grohmann, „so was kommt nicht wieder.“ Hunderte weitere Dinge gäbe es zu sagen: von der Betonkernaktivierung mit dem Wasser aus dem Genfer See über die riesigen Spannglieder im Boden, die die flachen Kuppelbögen aus Stahlbeton zusammenhalten, bis hin zu der überaus erfolgreichen Zusammenarbeit mit Schweizer Blinden- und Behindertenverbänden. Das ganze Haus ist von Rampen und Rollstuhlliften durchzogen und sogar mit einem Blindenleitsystem ausgestattet. Am Ende erfüllt das neue Learning Center alle Kriterien für den nationalen Minergie-Award und gilt laut Fachleuten als das umweltfreundlichste und energieeffizienteste Universitätsgebäude Europas.

Mit einem Wort: ein Traum in Weiß. Doch wie ist all das möglich? Die Baukosten von insgesamt 110 Millionen Fränkli (rund 77 Millionen Euro) teilen sich EPFL und private Investoren. Ein klassisches PPP-Modell also. „50 Millionen Franken, fast die Hälfte des Budgets, kommt von Unternehmen, die in der Schweiz ansässig oder zumindest hier tätig sind“, sagt Michael Mitchell, internationaler Pressesprecher der École. Mit an Bord sind Nestlé, Novartis, Logitech, SICPA, Bouygues Construction, Credit Suisse - und zum größten Teil natürlich der Namensgeber Rolex.

„Das Besondere an diesem Public Private Partnership ist, dass die Firmen die riesigen beigesteuerten Geldmengen nicht als Sponsoring, Spende oder reine Beteiligung auf Basis eines Contracting-Modells sehen, sondern dass sie ganz genau wissen, wie sehr sie von dem Know-how dieser Schule, von dem dichten Think-Tank, der hier herrscht, profitieren können - und natürlich umgekehrt!“

Wie man sieht, trägt die langjährige Zusammenarbeit von Universität, Forschung und Wirtschaft pralle, schmackhafte, ja wahrlich exotische Früchte. Man muss sie nur früh genug säen. In Österreich hingegen sind die PPP-Projekte, sofern sie überhaupt zustande kommen, ein absolutes Trauerspiel. Der neue Campus der WU Wien, universitäres Aushängeschild der Nation, wird ohne PPP realisiert.

In der Schweiz ticken die Uhren eben anders. „Das Rolex Learning Center entspricht unserer Vorstellung einer Universität der Zukunft“, sagt Patrick Aebischer, Präsident der ETH Lausanne, „einer Universität, die keine Schranken zwischen den Disziplinen kennt und die durch wissenschaftliche Arbeit zum Fortschritt der Gesellschaft beitragen kann.“

Das Rolex Learning Center ist von sieben Uhr in der Früh bis Mitternacht geöffnet. Sieben Tage die Woche. Für alle.

Der Standard, Sa., 2010.04.03



verknüpfte Bauwerke
Rolex Learning Center

30. März 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Auszeichnung für fast unsichtbares Bauen

Pritzker-Preis für Baukunst 2010 geht an das japanische Architekturbüro SANAA

Pritzker-Preis für Baukunst 2010 geht an das japanische Architekturbüro SANAA

Los Angeles / Tokio - 1992 wurden sie als Young Architects of the Year ausgezeichnet, 2004 gewannen sie den Goldenen Löwen auf der Biennale in Venedig. Nun erhalten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa, besser bekannt unter dem Tokioter Büronamen SANAA, den Pritzker-Preis für Baukunst 2010.

„Wie nur wenige andere Architekten erforschen Sejima und Ni-shizawa die Phänomene Raumfluss, Licht, Transparenz und Materialität, um daraus eine ganz eigene, subtile Synthese zu erschaffen“, heißt es im Juryprotokoll. „Ihre Bauten stehen im Kontrast zum Bombastischen und Rhetorischen, die wahre Qualität liegt tiefer verborgen.“

Am Anfang widmet sich das 1995 gegründete Architekturbüro kleineren Projekten und Einfamilienhäusern im Großraum Tokio. Bekannt geworden ist SANAA jedoch vor allem durch seine weltweiten Museumsbauten. Auf das 2004 eröffnete 21st Century Museum in Kanazawa folgt der gläserne Pavillon des Toledo Art Museum in Ohio (Fertigstellung 2006), im Dezember 2007 schließlich eröffnet das New Museum for Contemporary Art in der Bowery in New York.

Das Wichtigste ist die Essenz

Gemeinsamkeit all dieser Bauten ist die minimalistische, transparente und durchwegs weiße Architektursprache. Genial, wie im Toledo Art Museum in Ohio zwischen zwei gebogenen Glaswänden ein weißer, bodenlanger Vorhang verläuft. Für Menschen ist der schmale Zwischenraum nicht zu betreten. Er dient - und das sagt Sejima mit betont strenger Stimme - einzig und allein dem Stoff und dem Bremsen der Blicke.

„Wir konzentrieren uns auf die Essenz, das ist das Wichtigste für uns, und die Essenz eines Raumes ist nun mal weiß“, sagt Kazuyo Sejima im Gespräch mit dem Standard. „Noch reduzierter geht es nicht, dann wäre unsere Architektur wahrscheinlich durchsichtig und unsichtbar.“

Das jüngste Projekt von SANAA ist das Rolex Learning Center in Lausanne, eine Art schwebende Universitätsflade aus einem gläsernen Guss - ohne Trennwände und ohne Schnickschnack rundherum. Als erste Frau in der Geschichte der Stadt übernimmt Sejima außerdem die Leitung der kommenden Architektur-Biennale in Venedig (29. August bis 21. November 2010).

Der mit 100.000 US-Dollar dotierte Pritzker-Preis wird seit 1979 jährlich vergeben und ist die weltweit höchste Auszeichnung für Architekten. Der Preis, der heuer bereits zum vierten Mal nach Japan geht, wird am 17. Mai in New York überreicht. Letztes Jahr erhielt ihn der Schweizer Architekt Peter Zumthor.

Der Standard, Di., 2010.03.30



verknüpfte Akteure
SANAA

06. März 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Zu früh. Alles viel zu früh.

Die arbeitsgruppe 4 war die erste und legendärste Architekten-Boygroup des Landes. In einer Ausstellung im AZW lernt man die Gründe kennen.

Die arbeitsgruppe 4 war die erste und legendärste Architekten-Boygroup des Landes. In einer Ausstellung im AZW lernt man die Gründe kennen.

Sie sind die erste Boygroup, die die österreichische Architektur je gesehen hat. Und sie schauen aus, um mit den Worten von AZW-Direktor Dietmar Steiner zu sprechen, wie Elvis Presley, Harry Potter und James Dean. Der Porsche-Wind ist Herrn Dean ins Gesicht geschrieben, verträumt der Blick, verwegen das Haar. Die Rede ist von der legendären „arbeitsgruppe 4“. Kuratiert von Sonja Pisarik und Ute Waditschatka, widmet ihr das Architekturzentrum Wien nun eine eigene Ausstellung.

Es ist das Jahr 1950, als Wilhelm Holzbauer, Johannes Spalt und Friedrich Kurrent, knackig frische Studenten an der Akademie der bildenden Künste in Wien, beschließen, sich zusammenzutun und mit vereinten Kräften in die Berufswelt aufzubrechen. Am Anfang werden sie vom mittlerweile verstorbenen Otto Leitner begleitet, der sich jedoch bald ausklinkt, um nach Deutschland auszuwandern und eigene Wege zu gehen.

„Warum wir eine Gruppe mit so einem Pseudonym gebildet haben, hat einen einfachen Grund“, sagt Friedrich Kurrent: „Wir waren alle noch nicht mit dem Studium fertig, wollten aber unbedingt schon an Architekturwettbewerben teilnehmen. Mit so einem teutonischen Kunstnamen, der nicht sofort zuordenbar ist, geht das viel leichter.“

In der Fuhrmannsgasse 4 in der Josefstadt besiedelt die arbeitsgruppe 4 ein Atelier, das nach kurzer Zeit zu einem bedeutenden Ort für die Wiener Kunst- und Kulturszene wird. Lesungen werden gehalten, Aufführungen gemacht, Feste gefeiert. Schon bald folgen die ersten Wettbewerbe, die zwar nicht den ersten Platz bescheren, aber immerhin mal den zweiten, mal den dritten, mal einen lukrativen Ankauf.

„Wir waren arme Schlucker, finanziell ist es uns am Anfang wirklich schlecht gegangen“, erinnert sich Wilhelm Holzbauer. „Josef Schmied, der Wirt ums Eck, hat uns oft wochenlang durchgefüttert. Wir haben das Billigste gegessen und nichts dazu getrunken. Sobald ein bissl Geld da war, haben wir unsere Schulden beglichen. So gesehen waren die Wettbewerbe, an denen wir teilgenommen haben, essenziell für uns. Von den vielen Preisen und Ankäufen haben wir oft ein halbes Jahr lang leben können.“

Bereits die ersten Entwürfe der arbeitsgruppe 4 sind ambitioniert, womöglich sogar zu ambitioniert. 1953 entwirft sie ein paar Varianten der sogenannten „Wohnraumschule“ (siehe Modell auf dem Foto unten), in der die Klassen - statt an einem Gang entlang gereiht - um einen großen, wohnzimmerartigen Zentralraum gruppiert sind. Das innovative und seiner Zeit weit vorausgaloppierende Projekt wird zwar als positives Beispiel in die Neufert Bauentwurfslehre aufgenommen, doch von Realisierung keine Spur.

Kampf gegen das Unsoziale

Auch der Gemeindebau für die Stadt Wien, der in Floridsdorf entstehen soll, geht in die Annalen des Wollens und Nichtdürfens ein. „Wir haben uns die Zähne ausgebissen, aber es ist uns einfach nicht gelungen, den unsozialen sozialen Wohnbau zu verbessern“, sagt Kurrent. „Das ist umso ärgerlicher, wenn man bedenkt, wie viele tausend Stunden wir in dieses Projekt investiert haben.“

Und Holzbauer ergänzt: „Der Entwurf war hervorragend, doch die Politiker waren leider noch nicht so weit. Anstatt dass sie sich für innovative Wohnkonzepte interessieren, haben sie uns immer mehr eingeschränkt, bis irgendwann einmal von unserem Entwurf nichts mehr übrig war. Am Ende war es nur noch ein Zusammenfügen von standardisierten Grundrissen wie in einem Puzzle-Spiel. Uns blieb nichts anderes übrig, als den Auftrag zurückzulegen.“

Holzbauer sitzt ruhig im Fauteuil. Kurrent hält sich, ruhig und kontemplativ wie vor 60 Jahren, mit der Hand das Kinn, holt tief Luft und schleudert plötzlich mit einer ruckartigen Handbewegung grantige Wortfetzen in den Raum: „Zu früh! Alles, was Sie da sehen, viel zu früh! Dabei hat unsere Arbeit unglaublich viel Potenzial gehabt. Wenn wir in diesem Sinne weitergemacht hätten, dann hätte man sich die ganze Postmoderne und den ganzen Dekonstruktivismus erspart. Aber wir waren zu früh.“

Und dann das erste realisierte Projekt: Im August 1956 wird in Salzburg-Parsch die Pfarrkirche Zum kostbaren Blut eingeweiht. Holzbauer, Kurrent und Spalt, die ohne Leitner längst schon als die „3/4ler“ gelten, bauen einen alten Bauernhof zu einer luftigen Hallenkirche um.

„Wir waren ein Fremdkörper“

Etliche Jahre vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in dem die Liturgie endlich reformiert werden soll, kommen die 3/4ler dem Lauf der Zeit abermals zuvor und schaffen das Unmögliche: offener Grundriss, Altar in der Mitte des Raumes, bauliche Applikationen von zutiefst skeptisch beobachteten Zeitgenossen wie etwa Josef Mikl, Fritz Wotruba und Oskar Kokoschka.

Die Anerkennung unter Architekten ist groß, die Anfeindung in der Bevölkerung noch viel größer: „Sogar das Ornat des Priesters wurde surrealistisch“, äußert sich das Salzburger Volksblatt spöttisch zu Mikls Messgewand-Entwurf. „Wir waren für die damalige Architektur eben Fremdkörper“, sagt Johannes Spalt, „und umgekehrt war es genauso.“

Rund hundert Projekte wickelt die arbeitsgruppe 4 in den 20 Jahren ihres Bestehens ab, doch gerade mal jedes fünfte davon wird auch wirklich realisiert. Schlüsselbauwerk der 3/4ler ist nach eigener Auskunft das Seelsorgezentrum in Steyr-Ennsleiten (siehe großes Foto). Während der Pfarrhof mit Pfarrsaal 1961 fertiggestellt wird, gelangt die Kirche nach vielen Planänderungen und Verzögerungen erst in den Jahren 1968 bis 1970 zur Ausführung.

Obwohl der konstruktive Aufbau des Gebäudes mittels X-Stützen und horizontaler Balken sehr einfach ist, besticht die Kirche vor allem durch diese sichtbaren statischen Elemente. „Ursprünglich wollten wir die Kirche mit Industrieglas aus Profilit einhausen“, sagt Kurrent im Gespräch mit dem Standard. „Aufgrund der Bauphysik mussten wir den ästhetischen Anspruch jedoch hinter ganz normalen geschlossenen Wänden zurückstecken.“

Realität der Fachzwänge. Auch sie zu früh. Viel zu früh.

[ „x projekte der arbeitsgruppe 4. Holzbauer, Kurrent, Spalt, 1950-1970“ im Architekturzentrum Wien. Zu sehen bis 31. Mai 2010. Parallel zur Ausstellung gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Diskussionen und Exkursionen. ]

Der Standard, Sa., 2010.03.06

20. Februar 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Ich bin viele Häuser

Herzog & de Meuron stapeln wieder mal hoch: Mit dem neuen VitraHaus in Weil am Rhein sagen sie dem Kunden klipp und klar: Du wohnst nicht mehr, du lebst.

Herzog & de Meuron stapeln wieder mal hoch: Mit dem neuen VitraHaus in Weil am Rhein sagen sie dem Kunden klipp und klar: Du wohnst nicht mehr, du lebst.

Das Ding ist nicht einmal noch eröffnet, denn das passiert erst übermorgen, schon hat es einen Spitznamen. Die regionalen Tageszeitungen tauften es schlichtweg „die Särge“.

Oder aber: Zwölf dunkelgraue Kisten, wahnwitzig übereinander gestapelt, als hätte jemand beim virtuellen Aufbau von Sim-City unabsichtlich die falsche Taste gedrückt, stehen direkt am Straßenrand und sorgen bei den Autofahrern für ruckartig verdrehte Hälse.

Man könnte aber auch sagen: Einfamilienhaus mit Satteldach. Mal schmäler, mal breiter. Mal steiler, mal flacher. Hochgehievt aufs Förderband, anschließend hineingedrückt in die Strangpresse, am Ende zerhackt zu 40 Meter langen Stücken.

Die Assoziationen gehen einem nicht aus. Es gibt sie noch und nöcher. Und genau das ist die Qualität des neuen Schaugebäudes, in dem das Schweizer Traditionsunternehmen Vitra die Möbel seiner Home-Collection inszeniert und für die Öffentlichkeit zugänglich macht.

Die Architekten hinter diesem abartig genialen Wurf: Herzog & de Meuron. Damit verzichtete der Möbel-Zampano und Vitra-Chef Rolf Fehlbaum erstmals in der Geschichte seines Unternehmenscampus in Weil am Rhein nicht nur auf die großen Architektennamen jenseits des europäischen Festlandes, sondern wurde auch noch fündig vor der eigenen Haustür - in Basel.

„In meinem früheren Kulturverständnis waren Jacques Herzog und Pierre de Meuron sehr gute regionale Architekten“, sagt Fehlbaum im Gespräch mit dem Standard. „Das war schön und gut, passte mir aber überhaupt nicht ins Konzept einer internationalen Vitra-Zone, die ich hier aufbauen wollte. Ich glaube, ich habe erst viel zu spät begriffen, nämlich irgendwann in den Neunzigerjahren, dass die beiden längst schon weltweit tätig waren.“

Konstante Form fürs Wohnen

Es wurde nachgeholt, was nachzuholen war. Kommenden Montag, den 22. Februar, wird das so genannte VitraHaus eröffnet und steht in Zukunft all jenen offen, die einen Blick darauf werfen möchten, wie man in einem Wohnzimmer, in einer Küche, in einem Arbeitszimmer voller hübscher Vitra-Möbel wohnen kann und wohnen soll, wenn das Portemonnaie es auch will.

Ein Haus also. „Das ist eine sehr konstante Form fürs Wohnen“, erklärt Jacques Herzog. „Manchmal ist es tatsächlich ganz einfach. Es gibt eine schnelle Skizze für das Konzept, und wenn man Glück hat, erweist es sich als tragfähig. Das war hier der Fall.“

Die Tragfähigkeit wurde beim Wort genommen. Gebaut aus 25 Zentimeter dicken Betonwänden wurden zwölf Häuser, wie man sie aus dem Bilderbuch kennt, ineinander gekeilt und übereinander getürmt. „Plastische Verbundenheit“ nennt sich das im Fachjargon der beiden Schweizer. Die Querschnitte der einzelnen Baukörper - Archetypen des mitteleuropäischen Bauens schlechthin - sind nicht jedes Mal gleich, sondern variieren von Form zu Form.

Verknotung dreier Länder

Die Wohnhäuser im Dreiländereck von Deutschland, Frankreich und der Schweiz, heißt es im Pressetext so schön, hätten Pate gestanden in der Findung der richtigen Größe und Proportion. Selbst wenn man sich wünschen darf, dass es zwei Männer dieses Kalibers nicht nötig haben, auf eine derartige Plattitüde zurückzugreifen, ist das Bild der trinationalen Verknotung in einem einzigen Bauwerk ein recht hübsches und stimmiges, auf jeden Fall ein sehr verkaufstaugliches Bild.

Auch im Innenraum wurde das Thema aufgegriffen. Der Bauherr steht in einem der vielen schwebenden, bis zu 15 Meter weit auskragenden Häuser, blickt in die Landschaft und sagt: „Die Ausblicke wurden ganz bewusst gesetzt und nehmen Bezug auf die grenzübergreifende Metroregion Basel. Je nach dem, wo ich gerade stehe, schaue ich in das eine oder in das andere Land.“

Freilich, mit den eigenen vier Wänden hat dieser Habitus des Wohnens nicht viel zu tun. Wer ist schon in der glücklichen Lage, auf einem Designklassiker wie dem Lounge-Chair von Eames sitzen und dabei in drei Länder gleichzeitig blicken zu können? „Das ist ein angenehmer visueller Nebeneffekt“, stellt Fehlbaum fest, „ich glaube, man fühlt sich hier auf Anhieb wohl.“

Das einzige, was einem in diesem Haus abhanden kommt (abgesehen von der Zeit), ist die Orientierung. Spätestens nach dem dritten Dreh kann keiner mehr sagen, welche Sprache hinter welchem Fenster gesprochen wird. Ungeahnte Schluchten zwischen oben und unten, wilde Verschneidungen zwischen da und dort, und nicht zuletzt eine hochwertige Materialverarbeitung von sägerauem Holz und glatt poliertem Stucco-Lustro, wie sie in Österreich ihresgleichen sucht, lenken vom eigentlichen Geschehen ab.

Fragt sich nur: Was geschieht denn nur in diesem 21 Meter hohen und knapp 60 Meter breiten Häuserhaufen an der Straße? „Etwas Neues“, sagt die freundliche Guide-Dame im ebenso freundlichen, artig einstudiertem CI-Wording des Unternehmens. Ihr Arbeitgeber ergänzt: „Machen Sie sich doch Ihr eigenes Bild. Die Leute können dieses Gebäude interpretieren, wie sie möchten. Nur der neue Nickname ist nicht unbedingt mein Favorit, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Ich habe noch nie einen Sarg gesehen, der oben eine Spitze hat.“

Das VitraHaus in Weil am Rhein wird übermorgen, Montag, den 22. Februar, für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Weitere Infos unter www.vitra.com und www.design-museum.de

Zwölf Häuser, wie man sie aus dem Bilderbuch kennt, wurden ineinander verkeilt und übereinander getürmt. „Plastische Verbundenheit“ nennt sich das im Architektenjargon.

Der Standard, Sa., 2010.02.20



verknüpfte Bauwerke
Vitra-Haus

06. Februar 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Gehry nach dem Sturm

„Katrina“ und ihre Folgen: Im Rahmen der Spendenaktion „Make It Right“ erhalten die Bewohner des Lower Ninth Ward im Osten von New Orleans ihre Häuser zurück - und was für welche! Eine Zwischenbilanz.

„Katrina“ und ihre Folgen: Im Rahmen der Spendenaktion „Make It Right“ erhalten die Bewohner des Lower Ninth Ward im Osten von New Orleans ihre Häuser zurück - und was für welche! Eine Zwischenbilanz.

29. August 2005. „Katrina“ war der kostspieligste Atlantik-Hurrikan aller Zeiten. Der Gesamtschaden betrug rund 125 Milliarden Dollar. „Als ich das erste Mal nach der Naturkatastrophe in New Orleans war“, sagte Brad Pitt im Interview mit der amerikanischen Zeitschrift Architectural Digest, „konnte ich kaum fassen, dass innerhalb eines halben Jahres noch immer nichts geschehen war, ich konnte nicht fassen, dass das unser Amerika sein sollte.“

Das Bild, das sich dem Schönling einprägte, war Startschuss für einen außergewöhnlichen „fight club“, nicht im Film, sondern in Wirklichkeit. Losgelöst von Regierung und Stadtverwaltung trommelte Herr P. seine engsten Freunde und Architekten zusammen, darunter auch das Berliner Schicki-Büro Graft, und gründete eine Foundation zum Wiederaufbau des unter dem Meeresspiegel liegenden und somit völlig zerstörten Viertels Lower Ninth Ward im Osten der Stadt. Der Titel seiner Stiftung, die es auf die Lukrierung von Spendengeldern und in weiterer Folge auf den Wiederaufbau von 150 Wohnhäusern abgesehen hat, zeigt den USA den Stinkefinger: Make It Right.

Erstmals ist das Projekt in einer kleinen, überschaubaren, aber informativen Ausstellung in Österreich zu sehen. Im Gegensatz zu den bisherigen medialen und öffentlichen Ereignissen rund um Make It Right steht diesmal jedoch nicht die halbe Brangelina im Rampenlicht, sondern die Architektur. „Nein, Brad Pitt ließ sich entschuldigen und war bei der Eröffnung leider nicht anwesend“, witzelt Matthias Böttger, Kurator der Ausstellung und interimistischer Leiter des Innsbrucker Architekturhauses aut, „wir konzentrieren uns lieber auf die architektonischen Inhalte und auf die Dokumentation des bisherigen Projektfortschritts.“

Der da wäre: Von den 150 Einfamilien- und Duplexhäusern, die im Lower Ninth Ward in den kommenden Jahren realisiert werden sollen, sind rund 20 Stück fertiggestellt und längst bewohnt. Weitere 20 befinden sich derzeit in Bau. Die Entwürfe für die Häuser stammen nicht etwa vom Baumeister ums Eck, sondern von namhaften lokalen, nationalen und internationalen Architekturbüros wie etwa Frank Gehry, Thom Mayne, David Adjaye, Hitoshi Abe, Shigeru Ban und MVRDV. „Die Mischung der Architekten basiert auf einem Auswahlverfahren“, sagt Graft-Architekt Lars Krückeberg im Gespräch mit dem Standard, „in der ersten Runde im Jahr 2006 wurden 14 Büros ausgesucht, in der zweiten Runde, die wir letztes Jahr gestartet haben, sind nun weitere sieben mit dabei.“

Die vorgegebenen Baukosten, an die sich die Architekten zu halten haben, liegen bei 100 Dollar pro Square Foot, das sind rund 790 Euro pro Quadratmeter. Die Tatsache, dass sämtliche Häuser wegen der permanenten Hochwassergefahr um fünf bis acht Fuß aufgeständert werden und über einen eigenen Fluchtdachboden mitsamt Ausstiegsluke für den Notfall verfügen müssen, macht die Sache nicht einfacher.

„120.000 Euro für ein 150-Quadratmeter-Haus, das ist nicht nur schlank, sondern ausgesprochen dürr“, meint Krückeberg. Für einen Architekten, der es sonst womöglich gewöhnt ist, um die vier- bis fünffache Summe bauen, sei das eine ziemliche Herausforderung. „Es ist ein ununterbrochenes Learning by Doing. Beim zweiten, dritten Haus sind wir budgetmäßig dann meist dort angelangt, wo wir auch hinmüssen.“

Schwimmen gegen die Flut

Trotz niedriger Baukosten sind die Häuser alles andere als langweilig. Ganz im Gegenteil. Das Spektrum reicht vom klassischen Shotgun-Typus, in dem die Zimmer, den schmalen und langen Grundstücken folgend, hintereinander aufgefädelt werden, übers japanische Atriumhaus mit hübscher Zypresse in der Mitte bis hin zum schwimmenden Ponton vom kalifornischen Architekten Thom Mayne. Als einziger Planer entging er der Vorschrift, das Haus um ein Geschoß anzuheben, indem er es einfach auf einen wasserdichten Stahlkoffer stellte. Kommt die Flut, beugt sich das Haus den physikalischen Gesetzen und mutiert zum Schiff. Sämtliche Zuleitungen und Verkabelungen sind flexibel verlegt und machen mit, was das Wasser befiehlt. Eine integrierte Führungsschiene sorgt dafür, dass das Haus nicht davontreibt.

„Das Angebot ist attraktiv, und die Projekte sind sehr innovativ“, sagt Krückeberg, „vor allem in den USA ist diese Form des suburbanen Siedlungsbaus eine absolute Neuheit.“ Jedes einzelne Haus ist mit Fotovoltaikanlage und Regenwasserzisterne ausgestattet. Außerdem wurde darauf Wert gelegt, zum größten Teil mit recycelbaren beziehungsweise bereits recycelten Materialien zu bauen. Das Ergebnis ist nicht nur eine Green Certification, die an der Hausmauer klebt, sondern auch eine Strom- und Gasrechnung mit weniger als zehn Dollar im Monat.

„Das Wichtigste sei es doch, den Lower Ninth Ward so schnell wie möglich wiederaufzubauen, haben wir von den Behörden und Medien immer wieder zu hören bekommen. Wozu dann die ganze Ökologie! Poor people don't give a shit about green tech!“ Das sei der Tenor auf den Ämtern gewesen, erinnert sich der Architekt. „Die Wahrheit ist doch, dass es gerade die Armen sind, die in ihrem Alltag von einer solchen ressourcenschonenden und kostensparenden Maßnahme am meisten profitieren. Wo sonst macht es Sinn, ein Exempel zu statuieren, wenn nicht hier in dieser Gegend?“

Abschließende Frage: Wie werden die 150 Einfamilienhäuser finanziert? „Das ist ein kompliziertes Procedere“, antwortet Thomas Willemeit, Architekturpartner bei Graft, "in vielen Fällen sind die Versicherungsbelege und Wertpapiere durch „Katrina“ nämlich spurlos verschwunden. Manchmal handelt es sich dabei um jahrzehntealte Dokumente, die nicht einmal noch digitalisiert waren."

Eine eigene Abteilung bei Make It Right kümmert sich darum, dass die Leute zu jenen Versicherungsausschüttungen und staatlichen Katastrophenfonds gelangen, die ihnen per Gesetz und Vertrag auch zustehen. „Im besten Falle schaffen es die Familien, auf diese Weise 80 Prozent des Baubudgets auf die Beine zu stellen. Meist ist es jedoch viel, viel weniger, meist ist es nicht einmal die Hälfte“, sagt Willemeit.

Für die fehlende Differenz, für die nötige Infrastruktur auf den Straßen sowie fürs gesamte Handling des Projekts werden Gelder aus dem Spendentopf herangezogen. Der bisherige Spendenetat von Make It Right beträgt rund 30 Millionen Dollar.

Ausstellung:
Graft: Make It Right. Pink Project, im: aut architektur und tirol, Lois-Welzenbacher-Platz 1, 6020 Innsbruck. Dienstag bis Samstag jeweils ab 11 Uhr. Zu sehen bis 13. März 2010. www.aut.cc

Buchtipps:
Kristin Feireiss (Hg): Architecture in the Times of Need. Make It Right. Rebuilding New Orleans' Lower Ninth Ward, Prestel-Verlag, München 2009, 488 S. / € 30,80

Mark Gilbert, Kristian Faschingeder: After The Storm. A Gentle Manifesto for a Neighborhood in New Orleans, Schlebrügge Editor, Wien 2009, 84 S. / € 24,00

Gerhard Blechinger, Yana Milev (Hg.): Emergency Design, Designstrategien im Arbeitsfeld der Krise, Springer-Verlag, Wien 2008, 172 S. / € 34,95

Infos und Spendenportal:
www.makeitrightnola.org

Der Standard, Sa., 2010.02.06

30. Januar 2010Wojciech Czaja
Der Standard

9½ Quadratmeter

Wie baut man ein Gefängnis? Die Wiener Architektin Andrea Seelich stellte sich diese verzwickte Frage und liefert die Antworten nun in einem Buch. Ein Gespräch mit der Autorin.

Wie baut man ein Gefängnis? Die Wiener Architektin Andrea Seelich stellte sich diese verzwickte Frage und liefert die Antworten nun in einem Buch. Ein Gespräch mit der Autorin.

Standard: Gefängnisse. Warum Gefängnisse?

Seelich: Ich bin in Prag geboren. Die Gefangenschaft innerhalb des Eisernen Vorhangs war mir schon als Kind suspekt. Bei meiner Diplomarbeit an der Akademie der bildenden Künste in Prag habe ich nicht so wie die anderen Studenten eine postkommunistische Luxusvilla entworfen, sondern ein Gefängnis. Die größte Schwierigkeit an dieser Materie hat sich schon damals gezeigt: Weder in Tschechien noch in Österreich gibt es irgendwelche Unterlagen beziehungsweise Vorschriften zur architektonischen Gestaltung dieser Bauten. Auch sonst wird das Thema totgeschwiegen. Auf den Architekturschulen ist der Strafvollzugsbau schon vor mehr als 150 Jahren aus dem Lehrplan gestrichen worden.

Standard: Es gibt in Österreich 28 Justizanstalten. Wie viele davon kennen Sie von innen?

Seelich: Ich schaue mir Strafvollzugsanstalten an, wo es nur geht. In der Tschechischen Republik, wo sie ja großteils das bauliche Erbe der Monarchie sind, habe ich alle 35 Anstalten besichtigt und analysiert. Von den 28 Gefängnissen in Österreich kenne ich fast alle.

Standard: Wie fällt Ihr Urteil aus?

Seelich: Ich fange mal mit der Software an. Ein grundlegendes Verständnis für einen humaneren Strafvollzug ist in den österreichischen Gesetzesgrundlagen definitiv vorhanden - und zwar mehr als in anderen europäischen Ländern. Das liegt vor allem an der Forensischen Psychologie, die in Österreich einen großen Stellenwert einnimmt. Die Erkenntnisse haben ihren Weg bis in die kleinsten Bereiche gefunden. Nur ein Beispiel: Die Dienstkleidung der Justizwache in den tschechischen Gefängnissen ist aus Polyester, die österreichische Justizwache trägt Baumwolle.

Standard: Und in puncto Architektur?

Seelich: Die Architektur hinkt den Erkenntnissen der forensischen Disziplinen zwar weit hinterher, aber im internationalen Vergleich betrachtet sind die Gefängnisanstalten in Österreich ganz passabel. In diesem Zusammenhang möchte ich aber betonen, dass die Qualität nichts damit zu tun hat, ob es sich um einen Altbau oder um einen Neubau handelt. Alte Gefängnisse funktionieren oft besser als neue.

Standard: Was macht die Qualität eines Gefängnisses aus?

Seelich: Ein Gefängnis beinhaltet zwei große Personengruppen, deren Bedürfnisse und Vorstellungen einander auf den ersten Blick stark widersprechen. Die Insassen wollen hinaus, das Personal hindert sie daran. Die Aufgabe des Architekten ist es, derartige Widersprüche unter Beachtung sämtlicher Sicherheitsaspekte baulich unter einen Hut zu bringen. Das Wichtigste ist jedoch, den Häftlingen und dem Personal eine würdevolle und angenehme Architektur zu bieten.

Standard: Konkreter bitte!

Seelich: Die heutigen Gefängniszellen sind mit bestimmten Möbeln, Sanitärgegenständen, Freizeit-Utensilien und vielen persönlichen Gegenständen ausgestattet. Für all diese Gegenstände und deren Nutzung braucht man eine gewisse Mindestgröße. Im Zuge einer Studie für das Bundesministerium für Justiz bin ich zum Schluss gekommen, dass ein Haftraum zwischen 9,5 und zwölf Quadratmetern groß sein sollte.

Standard: Kinderzimmer im sozialen Wohnbau haben 11 bis 14 Quadratmeter. Ein Erwachsener, der 23 Stunden am Tag in seiner Zelle sitzt, soll mit weniger auskommen?

Seelich: Es wäre schön, wenn man den Gefängnisbau mit sozialem Wohnbau vergleichen könnte, aber das ist leider utopisch. Sie dürfen nicht vergessen, von welcher Ausgangsbasis wir hier ausgehen! In den meisten Gefängnissen in Europa, die heute immer noch in Betrieb sind, sind die Zellen nicht größer als sechs bis acht Quadratmeter. Jedes Alzerl mehr ist ein großer Gewinn. Trotzdem: Viel wichtiger wäre es, die Insassen aus den Zellen hinauszuholen und ihnen sinnvolle Tätigkeiten zu ermöglichen.

Standard: Welche Verbesserungsmöglichkeiten gibt es sonst noch?

Seelich: Die Menschen brauchen genügend Tageslicht, frische Luft, Freiraum und Privatsphäre. Eine Diskussion, die schon sehr lange währt, betrifft die Duschen: Einzeldusche oder Gemeinschaftsdusche? Unter dem Vorwand der Wirtschaftlichkeit wird in vielen Anstalten für die Gruppendusche plädiert. Das geht natürlich auf Kosten der Privatsphäre. Offenbar hat sich noch nicht herumgesprochen, dass es zig technische und organisatorische Möglichkeiten gibt, um auch in einer Einzeldusche ressourcenschonend und wirtschaftlich mit Wasser umzugehen.

Standard: Stichwort Komfort: In einigen Justizanstalten in den USA kriegt man gegen Aufpreis feine Bettwäsche, Fernsehen und Freigang. Wie stehen Sie zu diesem Pay-to-stay-Modell?

Seelich: Dinge wie Fernsehen, Benützung von Privatgegenständen und Sportartikeln, aber auch Ausgänge gelten in Österreich als Vergünstigungen und können nur aufgrund des Verhaltens beeinflusst werden. Zwischen armen und reichen Insassen wird also nicht unterschieden. Das Strafvollzugssystem in den USA ist anders aufgebaut. Es basiert auf einer gewissen immanenten Brutalität, wie man sie aus diversen Blockbuster-Filmen kennt. Das entspricht der Realität! Die Einführung einer Zweiklassengesellschaft begünstigt dieses brutale System. Die Folge sind soziale Spannung, Korruption und Gewalt. Von Resozialisierung keine Spur. Eine Katastrophe.

Standard: Darf und soll eine Strafanstalt ein Ort des Wohlfühlens sein?

Seelich: Es darf, es soll und ja, es muss! Es ist mittlerweile belegt, dass sich schlechte Architektur auf die Aggression von Insassen und Personal auswirkt, in Folge auch auf die Anzahl der Krankenstandstage des Personals. Es ist weder den Menschen in den Gefängnissen noch den Menschen außerhalb der Gefängnisse geholfen, wenn nach fünf, zehn oder 20 Jahren ein Mensch in die Freiheit entlassen wird, der traumatisiert, psychisch krank oder rückfällig ist. Unterm Strich ist jede Investition in den Strafvollzug gelebter Opferschutz.

Standard: Als 2004 die Justizanstalt Leoben von Architekt Josef Hohensinn fertiggestellt wurde, hagelte es Freude und Kritik. Die Rede war von „Designerhäfen“, „Architektenknast“ und „Fünfsternehotel“. Das widerspricht Ihrer Aussage völlig.

Seelich: Die meisten Menschen in Österreich verstehen nicht, dass man für einen Gefangenen auch nur einen Cent ausgibt. Sie denken kurzfristig und empfinden Angst und Ärger. Jeder einzelne Neubau ist in deren Augen rausgeschmissenes Geld. Hier bedarf es massiver Aufklärung.

Standard: Die wie aussehen könnte?

Seelich: Pro Jahr werden in Österreich 320 Millionen Euro für den operativen Strafvollzug ausgegeben. Ein Gefängnisneubau kostet rund 50 Millionen Euro. Solche Relationen sollte man der Öffentlichkeit anschaulich machen.

Standard: Mit Leoben wurde ein Stein ins Rollen gebracht. Entspricht das dem Knast von morgen?

Seelich: Ich habe eine Studie dazu gemacht und unterliege aus diesem Grund der Verschwiegenheitspflicht. Ich kann nur so viel verraten: Vom Prinzip her ist Leoben das mit Abstand innovativste Projekt der letzten Jahre. Ähnlich innovative Anstalten in Innsbruck, Eisenstadt und Berlin sind bereits fertiggestellt beziehungsweise befinden sich gerade in Entwicklung. Ich denke, dass sich anhand dieser Bauvorhaben eine gewisse Tendenz ablesen lässt.

Standard: Die Innenpolitik gibt derzeit aber einen ganz anderen Tonfall vor. Innenministerin Fekter will sogar eine Anwesenheitspflicht für Asylanten einführen. Stichwort Eberau. Das klingt alles andere als innovativ.

Seelich: Die derzeitige Regierung sagt: „Lieber Österreicher, du hast Angst vor diesem Fremden? Na gut, wir sperren ihn weg.“ Stattdessen sollte sie aber sagen: „Du hast Angst vor Sinti, Roma, Rumänen, Pakistani und Nigerianern? Warum eigentlich?“ Das Ziel muss sein, die Angst zu schmälern und nicht zu stärken, indem man Menschen einsperrt, die um Asyl, also um Hilfe bitten. Zur völligen Vermischung von Asylheimen, Gefängnissen und Schubhaftanstalten wäre es dann nur noch ein kleiner Schritt. Noch inhumaner für alle Beteiligten geht's wohl kaum.

[ Buchtipp: Andrea Seelich, „Handbuch Strafvollzugsarchitektur. Parameter zeitgemäßer Gefängnisplanung“. EUR 69,95 / 312 Seiten. Springer Verlag, Wien / New York 2009 ]

Der Standard, Sa., 2010.01.30

23. Januar 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Rosen aus Beton

Heute, Samstag, feiert der Kölner Architekt und Pritzker-Preis-Träger Gottfried Böhm seinen 90. Geburtstag. Gespräch mit einem der wichtigsten Bildhauer der deutschen Nachkriegsstadt.

Heute, Samstag, feiert der Kölner Architekt und Pritzker-Preis-Träger Gottfried Böhm seinen 90. Geburtstag. Gespräch mit einem der wichtigsten Bildhauer der deutschen Nachkriegsstadt.

Standard: 90 Jahre alt und immer noch berufstätig. Denken Sie je an den Ruhestand?

Böhm: Ruhestand? Um Gottes willen! Natürlich sehe ich, dass ich heute langsamer arbeite als damals in jungen Jahren. Aber ich beherrsche mein Tätigkeitsfeld immer noch ganz gut, und die Arbeit macht mir Spaß. Was soll ich denn sonst machen?

Standard: Woran arbeiten Sie gerade?

Böhm: An Glockentürmen, Kirchen und Kapellen. So wie die meiste Zeit. In Neuweiler im Schwarzwald wird gerade ein Glockenturm fertig, ein anderer entsteht demnächst in Ulm. Und in Neviges, wo ich 1964 den Mariendom fertiggestellt hatte, soll direkt an die Kirche eine Kapelle angebaut werden. Das Problem ist, dass der Innenraum wegen der vielen Opferkerzen total verrußt ist. Nun sollen die Kerzen in einen eigenen Anbau übersiedeln. Eine spannende Aufgabe. Wo sonst hat man schon die Möglichkeit, an ein eigenes Bauwerk, das mehr als 40 Jahre zurückliegt, anzudocken?

Standard: Sie haben schon viele Kirchen gebaut.

Böhm: Sehr viele. Nach dem Krieg war ich bei Rudolf Schwarz bei der Wiederaufbaugesellschaft tätig. Allein bis 1959, also bis zum Abschluss der Wiederaufbauarbeiten, habe ich 39 Kirchenprojekte abgewickelt. Eines der spannendsten Bauprojekte der heutigen Zeit ist die Ditib-Moschee in Köln-Ehrenfeld, bei der mein Sohn Paul namensgebend involviert ist.

Standard: Das Projekt wurde im Vorfeld stark politisiert.

Böhm: Das eine ist die Architekturdebatte, das andere ist die Politik. Schon seit einiger Zeit beobachte ich das Phänomen, dass diese beiden Komponenten bei stark medialisierten Projekten nichts miteinander zu tun haben. Ganz allgemein möchte ich festhalten, dass in Sakralbauten die Architektur dazu anregen soll, über das Höhere auf dieser Welt nachzudenken. Ganz gleich, ob man nun Moslem ist oder Christ. Im Geistigen sind sich die Religionen schließlich sehr ähnlich.

Standard: Woher kommt die Faszination für Sakralbauten?

Böhm: Unabhängig von der Gläubigkeit nehmen Kirchen einen großen Stellenwert in der Stadt ein. In den Jahren nach dem Krieg sind die Leute sehr intensiv in die Kirche gegangen. Ich nehme an, der Gottesdienst war eine Art Hoffnungsträger für die Menschen. Heute ist der Kirchenneubau zum Erliegen gekommen. Mittlerweile sind wir in der Situation, dass wir uns sogar überlegen müssen, welche Nachnutzung für die aufgelösten und leerstehenden Kirchen infrage kommt. Das ist ein schwerwiegendes Problem.

Standard: Was schlagen Sie vor?

Böhm: Neue Funktionen! Es ist nicht zwangsläufig etwas Trauriges, wenn eine Kirche entweiht und einer Neunutzung zugeführt wird. Das ist mir immer noch lieber als ein leerstehendes Gotteshaus. Vor drei Jahren haben wir in Trier eine alte Kirche umgebaut. Sie dient nun als städtische Turn- und Veranstaltungshalle. Alle heiligen Zeiten wird dort eine Messe abgehalten. Das ist schön.

Standard: In vielen Städten werden Kirchen zu Diskotheken und Restaurants umfunktioniert. Ist das eine Option für Sie?

Böhm: Ein Restaurant ist definitiv Ausdruck von Kultur. Damit habe ich kein Problem. Bei einer Diskothek kommt es ganz allein darauf an, wie sie geführt wird.

Standard: Welche Bedeutung haben Kirche und Glauben für Sie?

Böhm: Ich habe einen starken, aber auch sehr kritischen Bezug zur Kirche. Ich kenne Papst Benedikt XVI. etwa noch aus seinen Kölner Zeiten. Und ich habe ihn damals als geistreichen und interessanten Menschen kennengelernt. Ich hätte mir gewünscht, dass er als Papst einen etwas frischeren Wind in die Kirche bringt. Aber das scheint nicht der Fall zu sein. Leider. Sie fragen aber intime Sachen!

Standard: Zu intim?

Böhm: Was möchten Sie denn sonst noch alles wissen?

Standard: Sie sind mehr oder weniger in eine Architekturdynastie hineingeboren. Ihr Großvater leitete ein Baugeschäft, Ihr Vater war Architekt. Ein schweres Los?

Böhm: Ich wollte gar nicht Architekt werden. Mein Vater war damals so bedeutend, dass ich mir dachte: Das schaffe ich nie! Ich habe deshalb begonnen, Bildhauerei zu studieren. Ab und zu habe ich aus Interesse die eine oder andere Architekturvorlesung besucht. Das war sehr spannend. Und so fand ich mich irgendwann als Architekt wieder. Die Zusammenarbeit mit meinem Vater war sehr schön und intensiv. Es war eine tolle Erfahrung. Heute sind es meine Kinder, die diese Tradition fortsetzen. Ich habe vier Söhne, drei von ihnen sind Architekten.

Standard: Gleicher Beruf zwischen den Generationen. Knallt es da nicht oft?

Böhm: Natürlich gibt es gelegentlich Meinungsverschiedenheiten. Aber eine gewisse Konkurrenz wirkt durchaus belebend. Sie muss ja nicht immer in Streit ausarten. Eigentlich bin ich sehr froh, dass meine Söhne längst schon einen eigenständigen Stil entwickelt haben.

Standard: Wie hat sich die Architektur, seitdem Sie im Berufsleben stehen, verändert?

Böhm: Als ich begonnen habe zu arbeiten, wurde der Großteil auf der Baustelle noch handwerklich ausgeführt. Vor allem beim Beton war das großartig. Das ist eine schön formbare Masse, die ihren ganz eigenen Reiz hat. Viele Entscheidungen wurden spontan und direkt vor Ort getroffen, mit all den Schwierigkeiten und Ungenauigkeiten, die damit verbunden waren. Man könnte fast sagen, dass damals jedes einzelne Element ein Unikat war. Das ist heute längst nicht mehr Fall. Das Meiste ist industrialisiert und vorgefertigt.

Standard: Da klingt eine gewisse Kritik durch.

Böhm: Man muss sich darauf einstellen, dann funktioniert es auch. Der große Vorteil am zunehmenden Fertigbau ist, dass man viele Materialien heute viel günstiger verarbeiten kann.

Standard: Als einzigem deutschen Architekten wurde Ihnen 1986 der Pritzker-Preis verliehen. Warum gerade Gottfried Böhm?

Böhm: Ich nehme an, dass die Juroren meine Arbeit geschätzt haben. Ich habe das Gremium mit meinen Bauwerken beeindruckt. Ich hätte niemals damit gerechnet! Die Überraschung war also sehr groß. Pritzker-Preis! Tolle Sache. Aber auch schwierig.

Standard: Inwiefern?

Böhm: Die Erwartungshaltung des Publikums und der Medien steigt enorm. Man muss sich schon ziemlich anstrengen. Gleichzeitig besteht die Gefahr überzuschnappen, überheblich zu werden und sich plötzlich einzubilden, der beste Architekt der Welt zu sein. Das ist natürlich unsinnig.

Standard: Und? Sind Sie übergeschnappt?

Böhm: Ich habe mich bemüht, das nicht zu tun. Gleichzeitig bin ich davon ausgegangen, dass ich von nun an leichter zu Aufträgen kommen würde. Dieser Wunsch hat sich nicht erfüllt. Ich musste mich weiterhin mittels Wettbewerben über Wasser halten. Die erhofften Direktaufträge sind ausgeblieben. Ich nehme an, dass die Leute vor einem Pritzker-Preisträger viel zu viel Angst haben.

Standard: Und wie ist es heute?

Böhm: Es ist verdammt schwierig. Manchmal passiert es, dass ich mit meinen Söhnen einen Wettbewerb nach dem anderen zeichne und wir durch die Bank einen nach dem anderen verlieren. So ein Verlust ist nicht leicht wegzustecken. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist das bitter. Ich habe auf der Uni einmal einen Vortrag gehalten. Der hatte den Titel „Böhms gesammelte Durchfälle“. Es ist beeindruckend, wie viel man plötzlich zu sagen hat! Für die Studentinnen und Studenten war das lustig. Sie hören ja nicht oft, dass Architekten über ihre Misserfolge reden. Aber das gehört zu diesem Beruf nun mal dazu. Das kann man nicht ändern.

Standard: Woher schöpfen Sie Ihre Kraft, um nach einem Misserfolg wieder aufzustehen?

Böhm: Woher ich die Energie für meine Arbeit nehme? Aus dem Gespräch mit meinen Mitarbeitern, mit meiner Frau Elisabeth und mit meinen Söhnen. Aber ganz ehrlich: Ich mache heute nur noch kleinere Projekt selbstständig. Größere Bauaufgaben wie etwa die Kölner Ditib-Moschee wickle ich nur noch im Hintergrund ab.

Standard: Ihr ganz persönliches Markenzeichen ist die Rose. Sie kommt in Ihren Projekten in jeder erdenklichen Form vor. Warum ausgerechnet eine Rose?

Böhm: Ich finde Rosen sehr schön. Ich weiß, dass Sie diese Antwort nicht wirklich zufriedenstellen wird. Daher werden Sie mich jetzt fragen, warum ich Rosen schön finde. Und ich werde ihnen antworten: Ganz einfach, weil Rosen schön sind.

Der Standard, Sa., 2010.01.23



verknüpfte Akteure
Böhm Gottfried

16. Januar 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Revolution im letzten Zimmer

Geriatriezentren sind Häuser, in denen meist gestorben wird. Das neue Wiener Geriatriekonzept macht diesen Umstand erheblich würdevoller.

Geriatriezentren sind Häuser, in denen meist gestorben wird. Das neue Wiener Geriatriekonzept macht diesen Umstand erheblich würdevoller.

Monika Mustermann ist 95 Jahre alt, bettlägerig und so dement, dass sie kaum noch ihr Zimmer erkennt. Geschweige denn die Tochter. Vom Enkerl gar nicht erst zu sprechen. Doch heute ist ein schöner Tag, und die alte Monika liegt draußen auf dem Balkon, spielt mit den Sonnenstrahlen und hört den Vögeln beim Zwitschern zu.

Ab September 2010 wird diese Vision Realität sein. Dann nämlich wird in Wien-Leopoldstadt ein Geriatriezentrum eröffnet, das in der stationären Altenpflege völlig neue Maßstäbe setzt. Es ist eines von insgesamt neun Projekten, die im Rahmen des neuen Geriatriekonzepts entstanden sind und die der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) bis 2015 realisieren will. Einen Vorgeschmack darauf bietet die am Donnerstag eröffnete Ausstellung Das ganze Leben in der Wiener Planungswerkstatt.

„Die geriatrischen Anstalten, wie wir sie heute in Wien vorfinden, waren vor hundert Jahren zweifelsohne modern und innovativ“, sagt Michaela Mischek-Lainer, Projektentwicklerin und Konsulentin des KAV, zum Standard, „doch die Zeiten ändern sich, und mit ihnen zwangsweise auch die Architektur.“ Gemeinsam mit einer ganzen Horde an Fachleuten aus dem Pflege- und Medizinwesen, aus dem Architektur- und Wirtschaftsbereich schmiedete sie ein Raum- und Funktionsprogramm sowie eine Reihe von Qualitätskriterien, die beim Bau neuer Geriatriezentren der Stadt Wien ab sofort verbindlich sind.

„Alter, Krankheit und Tod sind ein Tabu. Doch warum drücken wir uns um das Thema herum, wo es doch anlässlich der demografischen Entwicklungen aktueller ist als je zuvor? Fakt ist: Geriatriezentren sind Häuser, in denen gestorben wird. Daher müssen wir weg von der Krankenhausmaschine und hin zu einem Wohn- und Pflegeheim, in dem aus der Sicht der Patienten nicht die Medizin, sondern die Lebensqualität im Vordergrund steht.“

Der Anforderungskatalog der KAV-Arbeitsgruppe ist streng und kennt kein Pardon. Demnach sollen bis 2015 alle bestehenden geriatrischen Anstalten rigoros umgebaut beziehungsweise für immer geschlossen werden. Durch den Bau neuer Geriatriezentren soll die Anzahl der Pflegeplätze von derzeit 9000 auf rund 10.000 gesteigert werden. Statt riesiger Altenghettos mit weit mehr als tausend Pflegeplätzen soll es in Zukunft nur noch Einrichtungen mit 240 bis maximal 350 Betten geben.

Jedem Zimmer seine Loggia

Neben der Dezentralisierung und der Verkleinerung der Standorte liegt ein weiterer Fokus auf der Gestaltung der Häuser selbst. Nur ein Beispiel: Gemäß dem neuen Konzept verfügt jedes einzelne Schlafzimmer ab sofort über eine eigene, üppig dimensionierte Loggia, auf der sogar ein sperriges und mit allerlei Hightech ausgestattetes Pflegebett Platz hat. Durch das Hinausrollen an die frische Luft soll sichergestellt werden, dass in Zukunft selbst jene Patienten Windböe und Sonnenstrahlen abbekommen, die aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit in der Regel nicht einmal mehr ihre Zimmer verlassen. Und das oft bis zu ihrem Tod. Tatsache.

Maßnahmen wie diese wirken sich freilich nicht nur auf den Komfort der Bewohner aus, sondern auch auf die Baukosten. Die neuen Geriatriezentren der Generation 2010 bis 2015 werden mit 3000 Euro pro Quadratmeter deutlich teurer sein als die alten, bisher gebauten Wohn- und Pflegeheime. „Angesichts der Tatsache, dass wir uns dank der hochwertigen Geriatriezentren in Zukunft womöglich das eine oder andere Spitalsbett sparen, halte ich eine Verteuerung der Baukosten um ein paar Prozent für absolut vertretbar“, sagt Mischek-Lainer.

Zum Vergleich: Pro Jahr gibt die Stadt Wien für ambulante und stationäre Pflege rund 700 Millionen Euro aus. Die Neubauoffensive des Wiener Geriatriekonzepts erscheint dagegen wie ein Sonderangebot aus dem Supermarkt. Mit einem Gesamtbudget von 350 Millionen Euro - das ist die Hälfte der jährlichen Betriebserhaltungskosten des Wiener Pflegesystems - kriegt man neun nigelnagelneue Wohn- und Pflegehäuser. Und was für welche!

„Mich erinnert das Wiener Geriatriekonzept an das Schulbauprogramm 2000“, sagt Helmut Wimmer, Architekt des Geriatriezentrums Leopoldstadt, „auch damals sind in kürzester Zeit ein paar innovative und zukunftsweisende Bauten entstanden.“ Das von ihm geplante, fröhlich bepinselte 300-Betten-Haus, das kurz vor der Fertigstellung steht, holt die alten und teilweise dementen Bewohner dort ab, wo sie in ihrem Lebensalltag bis zuletzt gestanden haben: im Schoße ihrer Gewohnheit.

„Wer in ein Geriatriezentrum übersiedelt, wird aus seinem Wohnumfeld mehr oder weniger brutal herausgerissen. Als Architekt muss man alles Erdenkliche tun, um diesen Schock so gelinde wie möglich zu halten.“ Die einzelnen Zimmer stecken wie bunte Wohnkartons im Hausregal. Dazwischen liegen Gänge, Plätze sowie Ruhezonen mit Bankerl und Blumenbeet. „Soweit dies möglich ist, stelle ich mir das Innenleben des Hauses wie eine Stadt im Miniaturformat vor. Die Leute sollen nicht im Zimmer 222 wohnen, sondern beispielsweise im knallgelben Sonnenhaus da oben am Eck.“

Das Zurückgreifen auf gewohnte Vergangenheitsbilder ist eine Taktik, die in den meisten neuen Pflegeheimen unübersehbar zum Tragen kommt. Im Geriatriezentrum Baumgarten, einem Projekt von Ganahl Ifsits und Silbermayr Welzl Architekten, wird es zweigeschoßige Volieren geben, in denen sich Buchfinken die Lieder aus dem Leibe zwitschern werden. Im Geriatriezentrum Innerfavoriten von Hermann & Valentiny werden die Wände zum Teil mit einem klassischen, omahaften Farbwalzmuster versehen sein - so richtig mit Schnörkelblume und Holunderzweig. Und im Wohn- und Pflegehaus Simmering wird Architekt Josef Weichenberger nach allen Mitteln der baulichen Kunst die Stadt neu interpretieren - mitsamt Straßenbahnhaltestellen, ÖBB-Fahrplankästen, Wiener Kaffeehaustischen und Streichelzoo.

Wie plant man für Demente?

Klingt kindisch und banal? Warten wir ab. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war noch niemals eine Leserin, ein Leser dieser Seite von Demenz betroffen. So gesehen ist es eine Freude, dass sich das neue Geriatriekonzept nicht mit Oberflächlichkeiten zeitgenössischer Baustilkunde beschäftigt, sondern stattdessen auf die spezifischen Bedürfnisse hochbetagter und schwerkranker Menschen eingeht.

Wie schreibt die US-amerikanische Alterswissenschafterin Naomi Feil in ihren 10 Grundsätzen der Validation? „Wenn das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, versuchen ältere Erwachsene, ihr Leben wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, indem sie auf frühere Erinnerungen zurückgreifen. Wenn die Sehstärke nachlässt, sehen sie mit dem inneren Auge. Wenn ihr Gehör nachlässt, hören sie Klänge aus der Vergangenheit.“

Dann sind Buchfinken auf dem Balkon, dann sind Sonnenstrahlen am Bauch wichtiger als fesche, flächenbündige Fassadendetails.

Ausstellung:
„Das ganze Leben. Neue Pflegewohnhäuser für Wien“, Wiener Planungswerkstatt, Friedrich-Schmidt-Platz 9. Montag bis Freitag 9-16 Uhr, Donnerstag bis 19 Uhr. Zu sehen bis 30 März 2010.

Buchtipp:
Franziska Leeb, „wohnen, pflegen, leben. Neue Wiener Wohn- und Pflegehäuser“, € 40 / 160 Seiten, erschienen im Bohmann-Verlag, 2009. Nach einem grafischen und haptischen Konzept von Gabriele Lenz.

Der Standard, Sa., 2010.01.16

09. Januar 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Operation Wüstenturm

828 Meter hoch und seit Montagabend feierlich umjubelt. Doch welche technische und logistische Anstrengung steckt in einem Bauprojekt wie dem Burj Khalifa? Ein Blick hinter die glitzernden Fassaden.

828 Meter hoch und seit Montagabend feierlich umjubelt. Doch welche technische und logistische Anstrengung steckt in einem Bauprojekt wie dem Burj Khalifa? Ein Blick hinter die glitzernden Fassaden.

Noch vor wenigen Tagen glich der Burj Dubai einem emsigen Ameisenstaat. Tausende von Bauarbeitern aus Indien, Bangladesh und Pakistan schlichen gelb behelmt durch die höchste Mammutbaustelle aller Zeiten, stemmten Fassadenpaneele, Marmorplatten, Innenraumdekor. Vergangenen Montagabend wurde der 828 Meter hohe Turm mit einem, was sonst, bombastischen Feuerwerk feierlich eröffnet - und umbenannt.

Aus Dank, dass Scheich Khalifa bin Said-al Nahjan, Herrscher von Abu Dhabi und Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate, erst kürzlich in die Bresche sprang und den verschuldeten Staatsfirmen von Dubai zehn Milliarden Dollar aufs Konto überwies, heißt das neue Wahrzeichen der arabischen Wüstenmetropole nun Burj Khalifa. Laser-Show an. Und Applaus.

Zehn Jahre penibler Planung und sechs Jahre kaum zu bewältigender Baulogistik verschwinden für immer hinter Glitzerfassaden aus Edelstahl und Glas. „Dieses Projekt ist so komplex, dass wir vermutlich eine ganze Woche hier sitzen und darüber sprechen könnten“, sagt Eric Tomich, Associate Director im Chicagoer Büro Skidmore, Owings & Merrill LLP (SOM), „aber ich darf und werde Ihnen nur einen Bruchteil verraten.“

Zückt Notizblock und Fineliner, grinst schelmisch in die Runde: „Natürlich war ich schon oft oben, und ja, ich habe bisher immer den Lift benützt. Glauben Sie denjenigen, die den Weg schon zu Fuß gegangen sind. 11.300 Stufen sind kein Spaß!“

Mit der Statik eines Stativs

Tatsächlich war die enorme Bauhöhe an diesem 3,07 Milliarden Euro teuren Projekt die größte aller Herausforderungen. Das beginnt bei der Statik. Um die Wind- und Torsionskräfte, die auf das Gebäude in schwindelerregender Höhe einwirken, bewältigen zu können, wurde der Grundriss in Form eines überdimensionalen Mercedes-Sterns ausgeführt. Damit steht das Gebäude trotz seiner schlanken Statur so breitbeinig im Wüstensand wie das Stativ eines Fotografen.

Und dann das Fundament. „Mit Druckkräften allein wären wir hier nicht weit gekommen“, erklärt Tomich. „Das Gewicht des Turms wird daher in erster Linie über die Mantelflächen der Betonpfähle abgeleitet, also über die physikalische Reibung an den Seiten. Nur ein kleiner Teil der Druckkräfte kommt unten in der Fundamentsohle an.“ Rund 200 große und weitere 650 kleinere Betonpfähle mit Durchmessern zwischen 90 und 150 Zentimetern wurden in den Untergrund gerammt. Damit liegt die tiefste Stelle des Turms gute 70 Meter unter dem Meeresspiegel.

Auch der Rest des Gebäudes ist - nahezu ausschließlich - in Beton ausgeführt. „Die Wahl des Materials hat eigentlich drei unterschiedliche Gründe“, so Tomich. „Einerseits war es nötig, das Gebäude aufgrund der Windkräfte und der damit verbundenen Verformungen so schwer wie möglich auszuführen, andererseits hat dieses Gewicht wiederum dazu geführt, dass wir mit einem reinen Skelettbau nicht das Auslangen gefunden hätten.“

Der dritte Grund hat mit den Schwankbewegungen des Bauwerks zu tun. Immerhin betragen diese in den letzten Stockwerken bis zu 1,50 Meter in jede Himmelsrichtung. Während in einigen Mega-Skyscrapern wie etwa im 101 Tower in Taipeh, mit 508 Metern Bauhöhe der bisherige Rekordhalter unter den phallischen Häusern dieser Welt, ein freihängendes Gewicht in der Turmspitze für die nötige Balance sorgt, kommt der Burj Khalifa ohne jegliches Gegengewicht aus.

Das spart wertvolle Fläche und sorgt dafür, dass der höchste, je von Menschenhand geschaffene Platz unter Allahs Himmel nicht von einer gigantischen Stahlkugel, sondern von Mohammed Ali Alabbar, Konzernchef des Bauträgers Emaar Properties, höchstpersönlich eingenommen wird. Zwischen dem 158. und 162. Stockwerk stehen ihm Büroräumlichkeiten und eine private Moschee zur Verfügung.

Wesentlicher Nachteil der massiven Betonkonstruktion: Flexibilität ist ein Fremdwort. Einmal erstarrt, sind die bis zu 60 Zentimeter dicken Wände einzementiert in alle Ewigkeit. „Sämtliche Türöffnungen, die statisch möglich waren, wurden von unserer Seite bereits vorgenommen“, sagt Tomich. „Jeder nachträgliche Wanddurchbruch würde sich auf die Festigkeit des Turms negativ auswirken.“

Rund 330.000 Kubikmeter Beton sind in den Rohbau des Burj Khalifa geflossen. Mit einem Druck von 190 bar wurde der zähflüssige Baustoff (Festigkeitsklasse C80) in 20 Zentimeter dicken Stahlrohren in die Höhe gepumpt. „Das dauert seine Zeit“, erzählt der Chefarchitekt gelassen. „Damit der Beton auf seiner rund 45 Minuten langen Reise nach oben nicht erstarrt, mussten wir ihm sogenannte Super-Plastilizer beimengen.“ Betoniert wurde übrigens nur nachts. Wegen der enormen Tagestemperaturen wäre der frische Beton sonst zu rasch ausgehärtet und hätte Risse bekommen.

Doch irgendwann versagt selbst die kräftigste Pumpe. Wegen des hohen Eigengewichts des nassen Materials ist nach 600 Metern endgültig Schluss. Die Lösung des Problems: Zwischen Höhenmarke 600 und 750 kamen Betonfertigteile zum Einsatz. Die letzten Stockwerke in der Turmspitze wurden aus Stahlteilen zusammengesetzt. Darüber prangt nur noch der Antennenmast.

Die Kritik am arabischen Monsterprojekt ist groß. Die lautesten Schreie betreffen die Energie. Nicht zu Unrecht, denn der Burj Khalifa, der sogar mit einem eigenen Umspannwerk ausgestattet ist, verbraucht zu Spitzenzeiten rund 36 Megavoltampere. Das entspricht dem Energiebedarf einer Kleinstadt.

Einen Großteil davon frisst zwar die Kühlung, doch wohin überall Energie fließe, meint Eric Tomich, könne man sich als normal sterblicher Mensch kaum vorstellen. Und holt zum letzten Mal zu einer kleinen Anekdote aus: „Der wahre Hund sind die Aufzüge, und ich meine damit nicht das Auf- und Abfahren der Liftkabinen, sondern die Kaminwirkung der Schächte. Bei einem Hochhaus, das mitten in der Wüste steht, ist dieser Effekt nicht unproblematisch. Denn im Gegensatz zu einem Gebäude im gemäßigten Klima ist die Kaminwirkung hier genau auf den Kopf gestellt. Heiße Luft dringt durch undichte Bauteile in die Gebäudespitze ein, kühlt sich im Innenraum ab und fällt durch den Liftschacht rapide nach unten. Wir bezeichnen das als den Hot Climate Stack Effect.“

Überdruck im Liftschacht

Beim Burj Khalifa mit seiner Gebäudehöhe von 828 Metern ist dieses physikalische Phänomen größer als in jedem anderen Hochhaus dieser Welt. Haustechniker hatten errechnet, dass die Lifttüren in den untersten Geschoßen dem enormen Luftdruck nicht mehr standhalten würden. Die Folge wären verzogene und verdrückte Öffnungselemente sowie ein kreischend pfeifender Tornado in der Lobby. „Nein, das ist keine Übertreibung“, sagt Tomich, „stellen Sie sich einfach mal einen fast einen Kilometer hohen Kamin vor!“ Um diesem Überdruck entgegenzuwirken, muss die heiße und beschleunigte Luft nun rund um die Uhr abgesaugt werden. Und das in 60 Liftschächten gleichzeitig.

Man kann sich ausrechnen, welche Auswirkungen dieser Hot Climate Stack Effekt im Brandfall haben könnte, sollten Elektrizität und Entlüftung dadurch versagen. „Glauben Sie mir, der Brandschutz des Burj Khalifa ist der strengste im ganzen Emirat“, beruhigt Eric Tomich. „Sprinkleranlage, Software und Evakuierungsplan mit eigenen Brandschutzräumen sind auf dem Stand von übermorgen. Sollte in diesem Gebäude jemals ein Feuer ausbrechen, so wird es nicht weit kommen.“ Und falls doch? „Wird es nicht.“

Bis ins Erdgeschoß sind's 11.300 Stufen. In großen Lettern steht in der Lobby ein Zitat von Auftraggeber Scheich Mohammed bin Rashid al-Maktoum an die Wand geschrieben: „Das Wort ,unmöglich' gibt es im Wörterbuch der Führer nicht.“

Der Standard, Sa., 2010.01.09



verknüpfte Bauwerke
Burj Khalifa Dubai

02. Januar 2010Wojciech Czaja
Der Standard

Eine Plastikziege gegen Langeweile

Das ganze Jahr über ist Architektur eine schöne, aber bitterernste Ange- legenheit. Drei Projekte der letzten Zeit beweisen, dass Bauen auch witzig und spritzig sein kann.

Das ganze Jahr über ist Architektur eine schöne, aber bitterernste Ange- legenheit. Drei Projekte der letzten Zeit beweisen, dass Bauen auch witzig und spritzig sein kann.

Isabella Reisinger lebt in der tiefsten Steiermark. Gemeinsam mit ihrem Mann Martin betreibt sie einen Biobauernhof mit allem, was dazugehört - mit Schweinderln, Ziegen und glücklichen Hühnern. Beinahe hätten die beiden das höchste in Österreich erhältliche Biozertifikat ergattert. Beinahe.

„Es war alles in Butter“, erinnert sie sich an den hohen Besuch, der vor einigen Monaten übers Grundstück spazierte. Nur das Wohnhaus entsprach nicht so recht den Vorstellungen des strengen Gremiums. „Um das höchste Biogütesiegel zu vergeben, hätten sich die Damen und Herren halt ein etwas traditionelleres Bauernhaus gewünscht. Mit Holzbalkonen und Fensterläden und einer Bäuerin, die den ganzen Tag im Dirndl durch die Gegend rennt.“

Vonwegen. Das immergrüne Einfamilienhaus in Laufnitzdorf, gesät vom steirischen Architekturbüro Weichlbauer Ortis, ist rundum in ein Kleid aus künstlichem Fußballrasen gepackt. 62 Millimeter kräftig sprießendes Polyethylen. Zehn Jahre Garantie gegen Kicker und UV. „Erstens arbeiten wir gerne mit Irritation und Dislokation“, erläutert Reinhold Weichlbauer in theoretischen Worten, „und zweitens wollten wir den Versuch wagen, die üblicherweise harte Fassade ein bissl aufzuweichen und zu smoothen.“ Fährt mit der Hand ins Gras hinein und brummt: „Man kann gar nicht anders, dieses Haus muss man einfach knuddeln!“

650 Quadratmeter hochwertigen Kunstrasens wurden in Summe verklebt und verschraubt. An der Unterseite, an den Wänden und auf dem Dach. Doch der grüne Pelz ist bei weitem nicht das Einzige, das zum Augenreiben und Kopfschütteln animiert. Als hätte jemand im CAD-Programm die falsche Taste gedrückt, wachsen nun an Stellen, die laut Architekturalmanach nicht dafür vorgesehen sind, Stiegenläufe und Terrassentüren aus dem Haus. Erstere dienen der Statik, Letztere sorgen dafür, dass im ersten Stock niemand aus dem Fenster fällt.

„Wer sagt schon, dass ein Geländer aussehen muss wie ein Geländer? Und eine Säule wie eine Säule? Von diesem Konformismus halte ich nicht viel. Es wird Zeit, dass wir das Gewohnte endlich mal über Bord werfen und neue Dinge ausprobieren. Nur so wird sich die Architektur weiterentwickeln können.“

Planung mit Zufallsgenerator

Die Strategie von Weichlbauer Ortis ist nicht neu. In unzähligen Projekten warfen die beiden Steirer bereits den Zufallsgenerator an und stellten die Erwartungshaltungen des Publikums auf die Probe. „Wir haben ein Computerprogramm entwickelt, das anhand von bestimmten, von uns festgelegten Parametern die exakte Morphologie des Hauses generiert. Und dann drücken wir so lange auf Enter, bis uns die Form gefällt.“

Den Bauherren taugt's. „Wir leben gerne in diesem Haus und haben bisher großen Spaß damit“, erzählt Isabella Reisinger, die im Keller sogar eine kleine Käserei betreibt. „Natürlich müssen wir uns von unseren Nachbarn gewisse Witzchen gefallen lassen. Sie wissen schon, weidende Plastikziegen vorm Badezimmerfenster und so. Doch wenn es uns damit gelingt, den traditionellen österreichischen Bauernhof ein bisschen zu hinterfragen und unseren Beruf auf einen neuen Stand zu bringen, dann ist uns das die Sache wert.“

Zufriedenheit herrscht auch am westlichen Stadtrand von Graz, wo ein Jahrzehnte lang gestückelter Altbau zu einem Seminarzentrum der Landesverwaltungsakademie umgebaut wurde. Das Budget war knapp, und so musste beim geladenen Wettbewerb nach allen Mitteln der Kunst getrickst werden. Das radikale Spiel der beiden Architekturbüros Grazt und Splitterwerk überzeugte die Jury einstimmig.

„Ein Zubau ist sich laut unserer Kalkulation nicht ausgegangen“, erklären die Architekten, „also haben wir beschlossen, das Innenleben neu zu organisieren und die Baukubatur so zu belassen, wie sie ist.“ Damit das unruhige Bild des Hauses, das mal Gastwirtschaft, mal Internat gewesen war, ein wenig zu bändigen und zu vereinheitlichen, zogen die Architekten eine homogene Haut aus Eternit-platten über Dach und Wand.

„Bunt ist meine Lieblingsfarbe“, soll Walter Gropius einst gesagt haben. Wäre der Bauhaus-Mensch noch am Leben, würde ihm die Landesverwaltungsakademie, in der jährlich rund 250 Schulungen abgehalten werden, die Tragbreite seiner Aussage schillernd vor Augen halten. 26 unterschiedliche Farben, Stück für Stück an die Fassade genietet, erwecken den Eindruck einer überdimensionalen Burg aus Legosteinen. Aus einiger Entfernung betrachtet, verschwindet das Haus wie ein Fleckerlteppich im Nichts.

Angst vor trostlosem Grau

Splitterwerk erinnert sich zurück: „Eine der größten Befürchtungen der Auftraggeber war, dass Schulungspersonal und Kurzteilnehmer in einem trostlosen grauen Haus arbeiten müssen. Wir denken, dass wir dieser Angst sehr einfühlsam begegnet sind.“

Angst vor leeren Räumen hingegen hat der Wiener Interior-Designer Denis Kosutiæ. Im kürzlich eröffneten Restaurant Orlando di Castello auf der Wiener Freyung kommt der Horror Vacui des gebürtigen Kroaten besonders gut zum Vorschein. In barocker Manier, mit Samt und Stahlnieten gesäumt, schuf er einen lukullischen Raum, in dem der gute Geschmack mit einem riesigen Grinsen durch den Kakao gezogen wird. Kosutiæ selbst bezeichnet seinen Entwurf als einen „Raum voll harter Unschuld“.

Die Sitzlandschaft ist eine Komposition aus Hightech und Historienkitsch, die rosenbedruckten Stehleuchten baumeln, statt am Boden zu stehen, kopfüber von der Decke. Oder - wie es Architekturkritikerin Gabriele Kaiser auf den Punkt bringt: Das Orlando di Castello sei ein ideales Setting für ein Rendezvous zwischen Queen Elizabeth, dem Rapper 50 Cent und einem Mädchen aus Tirol.

„Schlichte weiße Räume sind mir zutiefst suspekt“, sagt Kosutiæ. „Außerdem sind sie in den meisten Fällen todlangweilig. Ich bin der Meinung, dass Architektur ruhig einmal über die Stränge schlagen darf. Das Leben ist schon ernst genug. Ohne Humor und Ironie ... Wo kommen wir da hin?“

Möge uns die Leichtigkeit dieses Seins durch die kommenden Architekturannalen begleiten.

Der Standard, Sa., 2010.01.02

24. Dezember 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Die Heimat zwischen den Zeilen

Die ureigentliche Aufgabe der Architektur ist das Schaffen von Wohn- und Lebensraum. Sieben neue Bücher rufen uns dies ins Gedächtnis.

Die ureigentliche Aufgabe der Architektur ist das Schaffen von Wohn- und Lebensraum. Sieben neue Bücher rufen uns dies ins Gedächtnis.

„Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen“, hatte der tschechische Philosoph Vilém Flusser einst gesagt. Zeitlos und krisenresistent purzelte in den letzten Monaten eine ganze Reihe an einschlägigen Büchern auf den Markt, die Flussers Wohnformel zahlreich unterstreichen. In den nun folgenden Wochen der Muße steht einer gründlichen Lektüre dieser Schätze nichts im Weg. Hier sind derer sieben.

Die wohl ungewöhnlichste Publikation, man glaubt es kaum, ist ausgerechnet ein Jahrbuch. Der 330 Seiten starke Bildband Von Menschen und Häusern. Architektur aus der Steiermark ist bei HDA Graz erschienen und nimmt die zwölf Preisträger des diesjährigen Steirischen Architekturpreises unter die Lupe - und zwar selbstkritisch und originell.

Apathische Architekturfotografie und Fachsimpelei im Architektenjargon sucht man vergeblich. Stattdessen gibt es witzige und bisweilen skurrile Fotos der mexikanischen Fotokünstlerin Livia Corona, die teils inszeniert, teils aus dem Alltag gegriffen sind: Kinder spielen Luftgitarre, Mütter waschen Büstenhalter, Väter nageln Bilder an die Wand. Dazwischen werden, wie in einem Filmdrehbuch, Gesprächsszenen von Anrainern und Hausbewohnern eingestreut. Die größte Qualität der Texte: Nichts wird beschönigt, jede noch so kritische Stimme kommt zu Wort.

„Das sind spinnerte Architekten“, äußert ein Passant kurz und bündig seinen Unmut über eines der preisgekrönten Häuser, während ein anderer ausholt: „So viel kann ich sagen: Architektonisch finde ich das Haus einfach schiach, es gehört da nicht her.“ Andernorts erklärt eine schrullige Anrainerin: „Ja, das komische braune Hause kenne ich. Es sieht schon eigenartig aus, irgendwie gar nicht wie ein Haus. Aber mir ist das egal, ist ja nicht mein Haus.“

Einen Blick in die privaten rot-weiß-roten Wohn- und Schlafgemächer gewährt auch das (bereits 2008 erschienene) Buch Gelebte Räume. Wie ArchitektInnen wohnen. Obwohl in diesem Fall die Planer mitsamt ihrer Domizile höchstselbst vor die Kamera treten, ist der Unterhaltungswert um nichts geringer. „Die Schizophrenie in diesem Beruf“, meint etwa der Wiener Architekt Rainer Kasik, „liegt darin, dass man für andere plant und fertigstellt, während der eigene Raum stets unfertig und improvisatorisch bleibt.“ Aus dem Chaos heraus spricht auch Gerd Zehetner: „Bei meiner täglichen Arbeit als Architekt muss es natürlich für alles einen Plan geben. Nur für unser Haus darf es keinen geben. Alles muss flexibel und herrlich unkompliziert bleiben.“

Wie prächtig hingegen die Früchte sorgfältiger Planung gedeihen, beweisen die beiden Bücher New Forms of Collective Housing in Europe und Neuer Wohnungsbau in den Niederlanden (erscheint im Februar). Da wie dort werden außergewöhnliche Projekte aus der Sparte des kollektiven Wohnbaus vorgestellt. „Eines ist dabei besonders interessant“, bringen die Autoren in ihrem Vorwort zu Papier, „Einwohner aus schwächeren sozialen Schichten neigen in der Regel dazu, sich eher in einem gleichen kulturellen und familiären Umfeld einzubetten als andere.“ Anders gesagt: „Wo gewohnt wird, gibt's Gewohnheiten.“

Dem innovativen Bauen und Wohnen tut dies jedenfalls keinen Abbruch. Frankreich etwa arbeitet seit mittlerweile zwei Jahrzehnten an einer neuen Zauberformel mit den beiden Unbekannten Flächenmaximierung und Kostenreduktion. Das Ergebnis ist ein Potpourri an überaus unorthodoxen Baumaterialien - von diversen Kunststoffen über Blech bis hin zu unverputztem Ziegelstein.

Ganz anderer Natur hingegen ist die Experimentierlaune in Spanien, Holland und Dänemark, wo Investoren und Bauträger aufgrund der Wohnungsknappheit dazu tendieren, den Massenwohnbau immer stärker zu verdichten. In den Niederlanden beispielsweise, wo allein in den letzten sieben Jahren 600.000 Wohnungen errichtet wurden, wird dieses Spiel mit besonders großem Engagement betrieben. 60 penibel präsentierte Wohnbauprojekte liefern im Buch den nötigen Beweis.

Dass die Wurzeln des Massenwohnbaus allerdings weit länger zurückliegen als gedacht, beweist Robert Liebscher in seinem Büchlein Wohnen für alle. Eine Kulturgeschichte des Plattenbaus. Sorgfältig und, Respekt, in völliger Abstinenz von Nostalgie und Ostalgie widmet sich der Stadthistoriker darin der Präfabrikation von Wohnraum und startet seine Recherche im frühen 19. Jahrhundert. Erläutert werden nicht nur die unterschiedlichen Bauweisen, sondern auch die Zusammenhänge zwischen Bauhaus-Utopie, Bauwirtschaft und DDR-Politik.

Mit politischen Hintergründen ist auch die Suhrkamp-Publikation Heimatcontainer. Deutsche Fertighäuser in Israel gespickt. Sie kehrt die längst vergessene Geschichte der deutschen Bauunternehmerfamilie Hirsch hervor. Ursprünglich auf die Herstellung von Rohware spezialisiert, fertigte der Familienbetrieb in den frühen 30er-Jahren Fertigteilhäuser aus Kupfer.

„Das Kupferhaus glänzt schon von Weitem. Es ist nicht ungefährlich sich ihm bei starkem Sonnenschein zu nähern“, spottete die Frankfurter Zeitung im Mai 1931. „Die vorurteilslose Architektur, nach der eine solche metallische Unterkunft verlangt, wäre unbedingt durch ein mit Zinkblech belegtes Gärtchen zu ergänzen, in dem Bleibäume blühen müssten, die niemals verwelken.“

Trotz medialer Kritik wurden die Kupferhütten vom Publikum wohlwollend angenommen und schließlich bis nach Palästina exportiert. Friedrich von Borries und Jens-Uwe Fischer rekonstruieren in ihrem Buch die kuriose Reise der blechernen Häuser - Wissensdurst stillend und lesenswert.

Wer von allem Wohnen noch immer nicht genug hat, dem sei Jürgen Hasses wissenschaftliches Elaborat Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft ans Herz gelegt. Minutiös und detailverliebt, wiewohl in etwas schwer verdaulicher Sprache, geht er dem Begriff Wohnen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Grund.

Die Sichtweise des Frankfurter Stadtforschers ist bisweilen mutig und überraschend. Nicht einmal vor Gefängnisarchitektur, klösterlicher Askese und Obdachlosigkeit schreckt er dabei zurück. Sein Fazit: Gewohnt wird überall - und wenn es auf der Parkbank ist.

Andreas und Ilka Ruby (Hg.), „Von Menschen und Häusern. Architektur aus der Steiermark“. € 39,90 / 332 S. Verlag Haus der Architektur, Graz 2009

János Kalmár, Barbara Sternthal, „Gelebte Räume. Wie ArchitektInnen wohnen“. € 29,90 / 160 S. Residenz Verlag, 2008

Arc en Rêve Centre d'Architecture Bordeaux, „New Forms of Collective Housing in Europe“. € 74,79 / 296 S. Birkhäuser Verlag, 2009

Leonhard Schenk, Rob v. Gool, „Neuer Wohnungsbau in den Niederlanden. Konzepte, Typologien. Projekte“. € 69,95 / 192 S., Random House, 2010

Robert Liebscher, „Wohnen für alle. Eine Kulturgeschichte des Plattenbaus“. € 12,90 / 176 S. Vergangenheitsverlag, 2009

Friedrich von Borries, Jens-Uwe Fischer, „Heimatcontainer. Deutsche Fertighäuser in Israel“. € 12,40 / 208 S. Edition Suhrkamp, 2009

Jürgen Hasse, „Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft“. € 24,80 / 256 S. Transcript Verlag, 2009

Der Standard, Do., 2009.12.24

12. Dezember 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Totschlag mit Daunenjacke

Innovative Technologie führt nicht zwangsläufig zu guter Architektur. In Graz-Liebenau wurde ein Wohnhaus thermisch saniert - und dabei brutal umgebracht.

Innovative Technologie führt nicht zwangsläufig zu guter Architektur. In Graz-Liebenau wurde ein Wohnhaus thermisch saniert - und dabei brutal umgebracht.

Un dos winter-lejbl nem,
Tu es on du schojte,
Ojb du wilst nischt sejn kejn gast
Zwischn ale tojte.

„Nimm die dicke Winterweste, du Narr, oder möchtest du weilen unter den Toten?“, schrieb der jiddische Lyriker Itzik Manger in seiner Ballade Ojfn weg schtejt a bojm. Bis vor Kurzem galt das auch für die rund 500 Bewohner der Puch-Siedlung in Graz-Liebenau. Ungedämmt und weitestgehend unbeheizt wohnten die ehemaligen Bediensteten der Steyr- und Puch-Werke in einer langen Häuserzeile aus dem Jahr 1950. Der städtebauliche Entwurf selbst dürfte älter sein, denn die gekrümmte Bebauungsform weist typische Elemente der damaligen Nazi-Bauten auf.

Ursprünglich in Besitz der GWG Steyr, wurde die heruntergekommene Wohnanlage vor drei Jahren von der ebenfalls oberösterreichischen Gemeinnützigen Industrie- und Wohnungsaktiengesellschaft (Giwog) erworben. Und damit nahm das architektonische Grauen seinen Lauf.

„Der technische Zustand der 204 Wohnungen war eine Misere“, erinnert sich der Giwog-Vorstandsvorsitzende Georg Pilarz, „die eine Hälfte der Bewohner hatte mit Öl und Holzkohle geheizt, die andere Hälfte mit Strom.“ Nicht gerade die klügste Option. Eine durchschnittliche 70-Quadratmeter-Wohnung bescherte ihren Bewohnern auf diese Weise Heizkosten in der Höhe satter 300 bis 400 Euro - pro klirrend kalten Wintermonat wohlgemerkt. Eine ganzheitliche Lösung musste her.

Das Ergebnis der umfassenden thermischen Sanierung: Passivhausstandard und eine immense wirtschaftliche Erleichterung für jeden, der hier wohnt. Dank der ausgetüftelten Fertigteile des österreichischen Fassadenherstellers gap solution konnten die Heizkosten auf ein Zwanzigstel gesenkt werden. Geheizt wird nun um läppische 20 Euro pro Monat. Die integrierten Sonnenkollektoren verschaffen zudem eine Reduktion der Warmwasserkosten um beachtliche 75 Prozent.

Einziger Wermutstropfen an diesem recht cleveren System ist die völlige Zerstörung der Architektur. Vom Charakter der einstigen Werkswohnungen blieb nichts übrig. Statt der charmant gealterten Eternit-Fassade und der klaren Struktur zwischen oben und unten wirkt das Haus nach der Sanierung geradewegs wie ein pausbäckiger Narr mit Winterweste, ach was, wie ein graumelierter Herr, der gegen seinen Willen in einen futuristischen Daunenanorak gepfercht wurde. Die reinste Karikatur.

Das bestätigt auch Friedrich Achleitner: „Die Methode, das Neue vom Alten abzuheben und den Kontrast deutlich sichtbar zu machen, ist an sich ja eine sympathische und begrüßenswerte Sache“, erklärt der Architekturhistoriker. „Ich habe auch nichts gegen die komplette Deformation eines Gebäudes. Aber die Art und Weise, wie die Elemente der unterschiedlichen Epochen hier nebeneinander stehen, halte ich für etwas problematisch.“

Sanierung mit Vorbildwirkung?

Unglücklich, wen wundert's, ist nicht zuletzt der Architekt: „Wir haben viele Möglichkeiten ausgelotet, unter welchen Bedingungen diese Bausubstanz am verträglichsten zu dämmen ist“, sagt Josef Hohensinn, der das Projekt bis zur behördlichen Einreichung begleitete. „Doch irgendwann hat der Auftraggeber seine Entscheidung gefällt und hat uns dieses Fassadensystem vorgeschrieben. Die Alternativen waren damit hinfällig.“

Das größte Manko an der Umsetzung sei die fehlende Konsequenz, sagt Hohensinn. „Durch die Montage der Dämmpaneele ist das Haus nach allen Seiten um 30 Zentimeter gewachsen. Das verändert natürlich das gesamte Erscheinungsbild. Wenn Dach und Giebel ebenfalls modernisiert worden wären, wie das ursprünglich vorgesehen war, wäre das Projekt in Summe wieder stimmig gewesen. Aber so ist das Resultat nicht besonders überzeugend.“ Vor allem befürchtet Hohensinn, dass das Projekt, das in Fachkreisen bereits als vorbildlich angesehen wird, rasch Nachahmer finden könnte.

Die Angst des Architekten ist nicht unbegründet. Aufgrund des technischen Erfolgs wurde das Projekt kürzlich mit dem Energy Globe Award für das Bundesland Steiermark ausgezeichnet. „Am Dieselweg werden mit unserer Unterstützung neue Maßstäbe gesetzt“, erklärt Umwelt-Landesrat Manfred Wegscheider von der Grazer SPÖ. Von „frischem Wind“ und „Vorbildwirkung“ ist die Rede. Das Interesse ist seit Monaten ungebremst. Fachleute aus ganz Europa pilgern busweise nach Liebenau, um die innovative Fertigteilfassade in natura zu beäugen.

„In gewisser Weise ist das System von gap solution bestechend genial“, erklärt der Bauphysik-Spezialist Jochen Käferhaus. „Das Beste daran ist, dass die Baustelle kurz und unkompliziert ist. Die fix und fertigen Dämmmodule aus Mineralwolle, Kartonwaben und Glas werden mitsamt den neuen Fenstern auf die Baustelle geliefert und anschließend in einem Stück auf die Fassade montiert. Sämtliche statischen und thermischen Maßnahmen, die dazu nötig sind, werden von außen vorgenommen, sodass die Mieterinnen und Mieter keinerlei Einbußen im Wohnkomfort hinnehmen müssen. Einen klügeren und effizienteren Bauprozess kann man sich als Techniker nicht wünschen.“

An der hemdsärmeligen Vorgehensweise in Hinblick auf die alte Bausubstanz übt jedoch selbst der euphorische Bauphysiker Kritik: „Bei den benachbarten Wohnhäusern aus den Siebzigerjahren, wo die gleichen Maßnahmen getroffen wurden, gibt es eigentlich nichts zu meckern. Solche Gebäude, bei denen man nichts verschlechtern, sondern nur alles besser machen kann, sind das perfekte Einsatzgebiet dieser Bauweise. Bei einem Altbau, bei dem Proportion und Charakter verlorengehen, ist das meiner Meinung nach allerdings der verkehrte Griff in die Trickkiste.“

Fazit: Selbst wenn dem Bauträger ein grundsätzlich ambitioniertes und innovatives Sanierungsmodell geglückt ist, selbst wenn die Bewohner dieses Hauses jedes Jahr Strom- und Heizkosten in der Höhe von weit mehr als tausend Euro einsparen können, gibt es mit Sicherheit intelligentere Einsatzgebiete dieser Technologie.

Instant-Fassadensysteme gehören auf Instant-Häuser. Auf historischen Bauten, die gemeinhin zu den wertvollsten Ressourcen unseres Lebensraumes zählen, haben sie nichts verloren. Möge der Balanceakt zwischen Bautechnik und Baukultur in Zukunft besser gelingen.

Der Standard, Sa., 2009.12.12

12. Dezember 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Wohnglück beim dritten Anlauf

Mit der Umgebung und den Nachbarn hat's einfach nicht geklappt. Beim dritten Einfamilienhaus innerhalb von sieben Jahren ist alles anders: Familie Gugler wohnt glücklich und abgeschieden inmitten der Natur.

Mit der Umgebung und den Nachbarn hat's einfach nicht geklappt. Beim dritten Einfamilienhaus innerhalb von sieben Jahren ist alles anders: Familie Gugler wohnt glücklich und abgeschieden inmitten der Natur.

Wolfgang und Karin Gugler sind mittlerweile Meister ihres Fachs. Innerhalb von sieben Jahren schaffte es das Ehepaar auf nicht weniger als drei gebaute Einfamilienhäuser. „Das erste Haus war großartig, aber wir konnten uns mit der Umgebung nicht arrangieren. Die Nachbarn haben uns direkt ins Kaffeehäferl geschaut“, erinnert sich Wolfgang Gugler, „und so haben wir beschlossen, das Haus zu verkaufen und ein neues zu bauen.“ Auch das zweite Domizil gefiel auf Anhieb, allerdings hatten die beiden ihr Bedürfnis nach Intimsphäre abermals unterschätzt. Und so wurde auch dieses Haus verkauft.

Aus Fehlern wird man klug. Mit einer detaillierten Liste an Dos and Don'ts tanzten Wolfgang und Karin schließlich beim Steyrer Architekten Gernot Hertl an und legten ihre Wünsche dar. Diesmal sollte es ein Haus werden, das sich von seiner Umgebung weitestgehend abschottet. Obwohl das hügelige Grundstück am Rande von Scharten von Wiesen und Wäldern umgeben ist, sehnten sich die Auftraggeber nach einem intimen und introvertierten Atriumhaus.

„Ein Atriumhaus mitten in der Natur mag für einen Außenstehenden eigenartig wirken, denn üblicherweise kennt man diese Typologie aus der Stadt, wo die Leute einander ins Fenster blicken“, sagt Architekt Hertl. „In diesem Fall waren die Bauherren allerdings so überzeugt von ihrem Wunsch, dass ich an diesem Auftrag sofort Gefallen gefunden habe.“

Eifrig machte sich der Architekt ans Werk und präsentierte seinen Kunden schließlich ein Haus, das einzig und allein über zwei Atrien belichtet wird. Nach außen gab es weit und breit kein Fenster, nichts als Putz.

„Als uns Hertl groß angeschaut und gefragt hat, ob wir denn nicht völlig entsetzt seien, wussten wir, dass es noch genügend Spielraum für Kompromisse gibt.“ Ausgereizt wurde dieser jedenfalls nicht. Lediglich das eine oder andere zusätzliche Fenster in der Außenwand wurde nachträglich in den Plan geritzt.

Wie eine massive Lehmburg ragt das vieleckige Gebilde auf der Hügelkuppe nun in die Höhe. Die Assoziation ist durchaus gewollt, denn die Außenwände bestehen aus 50 Zentimeter dicken Hohllochziegeln. Dank der thermischen Eigenschaft des Baustoffs kommt das Haus ohne zusätzliche Wärmedämmung aus. Die ungewöhnliche Bauweise brachte dem Projekt in der Kategorie Einfamilienhaus den 2. Preis beim diesjährigen Austrian Brick & Roof Award ein.

Haus ohne Wärmedämmung

„Wo es möglich war, wollten wir künstliche Dämmstoffe und Isolierungen vermeiden“, sagen Karin und Wolfgang Gugler, „das hat weniger mit Ökologie zu tun als vielmehr damit, dass wir in einem atmungsaktiven und simpel aufgebauten Haus leben wollten.“

Einfachheit ist auch das Motto der Innenräume. Bis auf die zwei Zimmer des dreijährigen Theo und der siebenjährigen Helena, die in die grüne Landschaft hinausblicken, sind sämtliche Aufenthaltsbereiche von der Wohnküche bis zum Schlafzimmer ins Atrium orientiert. „Die Fenster sind so groß, dass wir manchmal das Gefühl haben, im Freien zu sitzen“, sagt Gugler, „im Sommer ist das tatsächlich der Fall, denn durch die breiten Schiebetüren verschmelzen die 80 Quadratmeter große Wohnküche und die rund 50 Quadratmeter große Terrasse zu einem Raum.“

Weiße Wände, Stabparkett und schwarzer Schiefer. „Ein hübsches Haus, aber wie um Himmels willen wollt ihr euch denn einrichten?“, hatten die Freunde am Anfang gefragt, verdutzt über die vielen schiefen Winkel im Haus. „Alles kein Problem“, sagt Karin Gugler. „Aus den beiden Einfamilienhäusern zuvor haben wir bereits unsere Lehre gezogen. Bis auf die Küche gibt es kein einziges Maßmöbel, alles steht frei im Raum.“ Trotz der flexiblen Einrichtung wissen die beiden allerdings: „Wir sind nun endlich angekommen. Nochmal umziehen und Haus bauen kommt nicht infrage.“

Der Standard, Sa., 2009.12.12



verknüpfte Bauwerke
EFH Gugler

05. Dezember 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Morgen fängt der Hedonismus an

In Wien-Ottakring wurde eine alte gekachelte Villa um einen Wintergarten erweitert. Damit schufen die SUE Architekten den passenden Rahmen für Wohnen und Freizeit. Der Alltag sieht allerdings anders aus. Noch.

In Wien-Ottakring wurde eine alte gekachelte Villa um einen Wintergarten erweitert. Damit schufen die SUE Architekten den passenden Rahmen für Wohnen und Freizeit. Der Alltag sieht allerdings anders aus. Noch.

Selbst der Innenarchitekt, der vor drei Jahren eigens angetanzt war, musste bald die Flinte ins Korn werfen. Eine Teilung der Zimmer unter diesen Umständen, meinte er, sei schlichtweg unmöglich. Zu verwinkelte Bausubstanz, zu viele Durchgangszimmer, zu wenige Fenster. Man gab die Umbaupläne wieder auf. „Als dann unser zweites Kind unterwegs war, wussten wir, dass ein Ausbau des Hauses unumgänglich war“, sagt Herr L., „also haben wir beschlossen, einen Wintergarten anzubauen und den Keller zu erweitern.“

Über ein paar Ecken gelangten Herr und Frau L. an das Wiener Büro SUE Architekten. Wer hinter dem Büronamen eine hochhackige Architektendame vermutet, der irrt gewaltig. Drei waschechte Kerle stecken dahinter. Und SUE, versichern sie mit bärtig gehobenem Kinn, sei kein weiblicher Vorname, sondern stehe für „Strategie und Entwicklung“. Jawohl.

Strategisch machten sich Michael Anhammer, Christian Ambos und Harald Höller an die Arbeit. „Die Bebauungspläne waren sehr rigoros“, erinnert sich Architekt Anhammer, „wir hätten ein bisschen was vorn und ein bisschen was hinten anbauen können.“ In einem fruchtenden Gespräch mit dem zuständigen Baupolizisten einigte man sich darauf, auf das straßenseitige Bauland zu verzichten und die Baufläche stattdessen gartenseitig zuzuschlagen.

Die juristische Basis für diesen Deal bot § 69 der Wiener Bauordnung: unwesentliche Abweichungen von Bebauungsvorschriften. „Den Bauherren war geholfen, indem sie nun einen großen Wintergarten erhielten“, sagt Anhammer, „der Stadt wiederum war geholfen, indem der Blick auf die historische Kachelfassade aus dem Jahr 1908 von der Straße aus original erhalten und durch keinen modernen Zubau getrübt wurde.“

Als hätte jemand eine gläserne Schublade aus der Villa herausgezogen, liegt im Garten nun ein ebenerdiger, schlicht brauner Wintergarten in der Wiese. Anders als man dies von den meisten Anbauten dieser Art kennt, wird hier nicht etwa gelesen und Musik gehört, sondern geschlafen, und zwar in der Nacht. „Das Bestandshaus ist sehr massiv“, beschreibt Herr L. die Situation, „aus diesem Grund wollten wir zumindest in unserem Schlafzimmer die Weite der Natur spüren.“ Ein üppiger Garten breitet sich vor der nächtlichen Schlafstatt aus. In der Übergangszeit und im Sommer schlafen die L.s bisweilen bei weit geöffneten Schiebetüren, mit Blätterrauschen am Abend und Vogelgezwitscher am Morgen.

Ein Kellerraum als Spa

Schlicht sollte die Architektur sein, darin waren sich Bauherren und Architekten von Anfang an einig. Kunststeinboden, Glasfassade und naturbelassene, geölte Eichenholzdecke sind die wesentlichen Zutaten für das Wohnen im Grünen. Mittlerweile wurde das Leben der Bauherrenfamilie vom Alltag eingeholt. Möbel für Groß und Klein, Riesenaquarium und Raumteiler prägen den einst transparenten Raum. „Schlicht zu wohnen ist gar nicht so einfach“, blickt Herr L. dem bevorstehenden Weihnachtsputz entgegen. „Wir haben vor, bis Jahresende alles zu entrümpeln und von diesem Zeitpunkt an so zu nutzen, wie es auch gedacht war.“

Auch das futuristische Kellerstübchen, derzeit noch mehr Keller als Stübchen, wird demnächst seine volle Pracht entfalten. Über eine eingespannte Treppe aus Holz und Stahl geht es runter in einen Aufenthaltsbereich mit weiteren 70 Quadratmetern Nutzfläche.

Um den Raum vollwertig nutzbar zu machen, entschieden sich die SUE Architekten dazu, das Grundstück im Osten abzugraben und morgendliches Sonnenlicht nach unten zu führen. Das hölzerne Podest unter der Glasfassade birgt Stauraum. Ein riesiger Whirlpool, eine Cocktailbar und Kugelstrahler im Siebzigerjahre-Design machen aus dem Raum unter der Erde einen hedonistischen Spa-Bereich. „Freunde einladen, den einen oder anderen Cocktail trinken und stundenlang baden - so stellen wir uns die Freizeit vor.“

Der Standard, Sa., 2009.12.05



verknüpfte Bauwerke
Hauszubau STAR

28. November 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Die zwei mit der Zementneurose

Stefan und Bernhard Marte bauen nicht nur, aber vor allem mit Beton. Die radikale Etikette der beiden Vorarlberger Architekten ist nun in einer Ausstellung zu sehen.

Stefan und Bernhard Marte bauen nicht nur, aber vor allem mit Beton. Die radikale Etikette der beiden Vorarlberger Architekten ist nun in einer Ausstellung zu sehen.

Sie schauen aus wie Deutschlehrer und Türsteher. Das gleiche Blut, das in ihren Adern fließt, sieht man den beiden Brüdern beim besten Willen nicht an. Was man ihnen auch nicht anmerkt: Stefan und Bernhard Marte sind weder in der Schule noch im Nachtleben aktiv, sondern zählen zu den ungewöhnlichsten Architekten dieses Landes. Zu den besten noch dazu.

Ab kommenden Dienstag widmet ihnen die Galerie Aedes in Berlin-Pfefferberg eine eigene Ausstellung. Unter dem Titel Concrete Works geht es rasch zur Sache. Gezeigt werden Projekte, die nicht nur konkret im Sinne der Realisierung sind, sondern die auch dem Baustoff Beton, concrete also, alle Ehre erweisen. „Wir haben uns nie auf Beton versteift“, erklärt der minimalistisch frisierte Bernhard, mit 43 Jahren der ältere der beiden Brüder. „Doch irgendwie passiert es, dass wir immer wieder bei Konzepten landen, für die nur ein einziges Material infrage kommt.“ Augenbrauen gehoben: „Beton.“

Offenporig, glatt, geschmeidig grau. „Auf eine bestimmte Art und Weise gibt es nichts Schöneres als eine gegossene Wand aus Sichtbeton“, schwärmt der 42-jährige Stefan. Denn eines, bitte schön, müsse der Beton bei all der Mühe, die der Bau eines derartigen Gebäudes verschlingt, unter allen Umständen sein: unverkleidet und nackig, wie der Baumeister ihn schuf. „Wenn man die schalglatte, fast spiegelnde Oberfläche berührt, kann man die Kraft des tonnenschweren Materials förmlich spüren“, sagt Stefan, „und das ganz ohne Farbe und Oberflächenbehandlung, sondern einfach nur durch seine Grundsubstanzen Wasser, Stein, Zement.“

Neben einer ganzen Reihe an kleineren Bauten wie Einfamilienhäusern, Badehäusern und Kapellen zählt zu den radikalsten und wohl umfangreichsten Projekten des Vorarlberger Büros die Sonderschule mit angeschlossenem Internat in Mariatal, Tirol. Der Einsatz von Sichtbeton, wie könnte es anders sein, verdeutlicht im Umgang mit alter Bausubstanz das unglaubliche Fingerspitzengefühl der beiden streng blickenden Herren.

Irritation statt Ehrfurcht

Gebeutelt von einer bisweilen grässlichen Vergangenheit, zeichnet sich das 1267 gegründete Dominikanerkloster Mariatal vor allem durch seine Architektur der Ehrfurcht aus. Das hässliche Internatsgebäude, das in den Siebzigerjahren gefühllos ins alte Ensemble geschmissen wurde, machte die Sache nicht besser. Es fiel der Abrissbirne zum Opfer und schuf Platz für einen Neubau.

Marte.Marte nahmen den Charakter der historischen Anlage auf, spielten mit den rigoros platzierten Fenster- und Türelementen, als handelte es sich dabei um einen magischen Würfel, und platzierten das fertige Ding schließlich auf die frei gewordene Parzelle.

Das Resultat wurde nicht nur mit dem Österreichischen Bauherrenpreis 2007 ausgezeichnet, sondern leistet auch sämtlichen räumlichen Komfort zur Betreuung der teils verhaltensauffälligen, teils gehandikapten Kids. „Ich denke, dass wir mit diesem Bau eine Architektur zum Wohlfühlen geschaffen haben“, sagt Stefan Marte, „einerseits dringt durch die großen Fenster Ausblick und Freiheit in den Raum, andererseits bieten die dicken, massiven Mauern Wärme und Geborgenheit.“

Mit dem Material selbst habe es nie Schwierigkeiten gegeben, sagt Stefan. „Wenn man den Kindern schöne und offene Räume bietet, die ihrem Alter und ihrer Größe entsprechen, dann nehmen sie das auch spielerisch an - mit oder ohne Sichtbeton. Wenn jemand ein Problem damit hat, dann die Lehrer.“

Bruder Bernhard zieht erstmals die Mundwinkel nach oben. Jawohl, ein Schmunzeln ist ihm entfleucht: „Manche Leute behaupten, wir hätten ein massives psychisches Problem da oben in unserer Kemenate“, sagt er. „Irgendwie meinen sie, dass all unsere Entwürfe an mittelalterliche Burgen erinnern. Ein Fünkchen Wahrheit steckt da sicher drin. Schon seit unserer Kindheit sind wir von der Kraft und Ausstrahlung mittelalterlicher Burganlagen fasziniert.“

Wo eine Burg, da auch eine Brücke: Zwei davon haben die beiden in den vergangenen Jahren bereits realisiert. Nun ist die dritte im Entstehen. „Irgendwie haben wir's mit den Brücken, aber die Bauaufgabe ist einfach faszinierend“, erzählt Bernhard. „Besser als irgendwo sonst kann man hier die plastischen Eigenschaften dieses Baustoffs zur Schau stellen. Damit entsteht eine Architektur, die den Verlauf der inneren Kräfte ohne Kaschierung und Verkleidung nach außen kehrt.“

Beton ist ein poetisches Malheur

Für den Material-Striptease über das Schanerloch im Bezirk Dornbirn erhielten die Marte-Brüder nicht nur den International Architecture Award 2008, sondern auch - quasi dem Lauf der Zeit zuvorkommend - Gold beim Best Architects Award 2010. „Wir haben ein gewisses statisches Vorstellungsvermögen, das nicht so schlecht ist. Die ersten formgebenden Skizzen kommen daher von uns. Aber die Konstruktion ist meist so ausgereizt, die Berechnung so kompliziert, dass wir ohne den fundierten Statiker Josef Galehr an unserer Seite längst verzweifelt wären.“

Das architektonische Wollen in die nötige konstruktive Form zu pressen ist keineswegs einfach, dessen sind sich die Marte-Brüder bewusst. „Wir brauchen uns nichts vorzumachen, Bauen mit Beton ist sicher nicht die effizienteste Methode“, sagen sie. „Man muss sich das einmal vor Augen halten: Zuerst wird ein fix und fertiges Holzhaus auf die Wiese gestellt, dann werden die Hohlräume ausgegossen und gedämmt, und am Ende reißt man die Holzhütte wieder weg und entsorgt sie. Ein betriebswirtschaftliches Malheur!“

Ein Einfamilienhaus in Holz zu bauen, eine Brücke in Stahl, eine Schule als Skelettleichtbau sei nicht nur billiger, sondern auch weitaus ressourcenschonender. „Aber es kann unmöglich das Ziel sein, die nächsten hundert Jahre nur noch von Logik, Pragmatik und Panik vor dem Klimawandel zu leben. Wo bleibt da die poetische Komponente dieser so wunderbaren Kultur?“

Stefan und Bernhard Marte bleiben ihrem Schaffen treu. Der wachsende Erfolg gibt ihnen recht. „Wir können nicht anders, so ist unser Leben. Und selbst wenn wir es könnten, würden wir wahrscheinlich keine Motivation verspüren, in der Früh aufzustehen und unsere Arbeit zu erledigen.“ Tatendrang in jedem Maßstab: Die zehn Modelle in der Ausstellung, kein Wunder, sie sind aus Beton.

[ Die Ausstellung „Concrete Works. Marte.Marte Architekten“ wird kommenden Dienstag, 1. Dezember, in der Galerie Aedes am Pfefferberg eröffnet. Christinenstraße 18-19, 10119 Berlin. Zu sehen bis einschließlich 12. Jänner 2010. www.aedes-arc.de ]

[ Buchtipp: „Marte.Marte Architects“, herausgegeben von Stefan und Bernhard Marte, erschienen im Springer Verlag, 2008, 415 S., EUR 58,80 ]

Der Standard, Sa., 2009.11.28



verknüpfte Akteure
Marte.Marte Architekten

28. November 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Mein Haus hat drei Herzen

Das schwarze Haus in Zellerndorf ist gedrittelt und gestaffelt. Jede der drei Kisten hat ihre eigene Funktion. Das Besondere daran: Um Baukosten zu sparen, legte die gesamte Bauherrenfamilie selbst Hand an.

Das schwarze Haus in Zellerndorf ist gedrittelt und gestaffelt. Jede der drei Kisten hat ihre eigene Funktion. Das Besondere daran: Um Baukosten zu sparen, legte die gesamte Bauherrenfamilie selbst Hand an.

Martin Diem kann sich noch genau erinnern. Vor genau drei Jahren stand der Polizist draußen in der eisigen Kälte und schraubte Fassadenplatten an die Wand. „Das Timing war verrückt, aber es musste einfach sein“, sagt er, „schließlich mussten wir das Haus vor dem ersten Schneefall winterfest machen.“ Die ganze Familie half damals mit. Selbst Bruder Robert, seines Zeichens planender Architekt, stand auf der Leiter und rackerte sich mit hunderten Quadratmetern von Wärmedämmung, Abdichtungsfolie und Fassadenplatten ab.

„Die Eigenleistung hat bei diesem Projekt viel Zeit in Anspruch genommen“, erinnert sich der Architekt, „insgesamt hat der Bau des Hauses drei Jahre lang gedauert. Das ist länger als bei jedem anderen Einfamilienhaus.“ Die Mühe für die Mitarbeit am Rohbau, an der Fassade und am gesamten Heizungssystem im Haus hat sich dennoch ausgezahlt: „Angesichts der Branchenpreise in den letzten Jahren schätzen wir, dass wir rund 75.000 Euro an Baukosten einsparen konnten.“

Dem Bruder taugt's doppelt. Erstens konnte er auf diese Weise das Fertigteilhaus als einzig leistbare Alternative aus seinem Gedächtnis verbannen. Zweitens stellte sich heraus, dass das individuell geplante Haus am Ende sogar billiger kam als ein vergleichbares Modell von der Stange.

Die maßgeschneiderte Architektur fügt sich ins neue Umfeld der Gemeinde Zellerndorf bestens ein. Einen Katzensprung entfernt steht ein riesiger Getreidesilo, der im Rahmen von „Kunst im öffentlichen Raum“ vom Wiener Künstler Christian Hutzinger einen neuen Look verpasst bekam. Die anonyme Lagerhaus-Architektur wurde übermalt und mit frechen, bunten Kreisen versehen, die nun die Himmelsrichtung weisen und so die Orientierung im flachen Weinviertel erleichtern sollen.

„Da stehen zwei Kunstwerke auf einem Fleck“, schwärmt Bauherr Martin, „da der Turm vom Hutzinger und hier mein Haus.“ Besonders kunstvoll erscheint die Fassade, die je nach Lichteinfall mal schwarz, mal leuchtend hell erstrahlt. Durch das transparente Polycarbonat und die Abdichtungsfolie dahinter entsteht der Eindruck teuren Carbons. Martin Diem: „Die Fassade ist billig und simpel aufgebaut und sieht trotzdem edel aus. Was will man mehr?“

Der eigentliche Reiz des Hauses ist jedoch seine Dreiteilung. „Die meisten Häuser in dieser Gegend bestehen aus Keller, Wohngeschoß und ausgebautem Dachgeschoß“, erklärt Architekt Robert Diem. „Wir haben die Funktionstrennung von Lager und Garage, von Kochen und Wohnen sowie von Baden und Schlafen zwar beibehalten, aber nicht übereinander, sondern hintereinander angeordnet.“

Drei Funktionen, drei Häuser

Verbunden werden die einzelnen Bauteile über einen 30 Meter langen Glasgang. Das hat einen guten Grund: Durch die Trennung der unterschiedlichen Funktionsbereiche zu drei entkoppelten, freistehenden Kisten entstehen nicht nur akustisch eigenständige Zonen im Haus, sondern auch kleine, intime Atrien. „Die Aufenthaltsräume werden in erster Linie über diese Höfe belichtet. Dadurch kann sich das Haus nach außen weitestgehend abschotten. Ich sehe das als Tribut an die Privatsphäre“, sagt Diem.

Jedes Atrium hat seinen ganz eigenen Charakter. Zwischen Wohn- und Schlaftrakt befindet sich ein zehn Meter langer Pool, zwischen Küche und Garagentrakt hingegen liegt für den begeisterten Hobbykoch ein kleiner Gemüsegarten bereit. Daneben wachsen Weinreben in die Höhe. Sie dienen dazu, eines Tages die vollkommen verglasten Verbindungsgänge zwischen den einzelnen Hausteilen zu überwachsen und in einen schattigen Schleier zu hüllen. „Nächstes Jahr zu dieser Zeit“, sagt der Bauherr, „wird alles zugewachsen sein.“

Der Standard, Sa., 2009.11.28



verknüpfte Bauwerke
Einfamilienhaus Zwischenraum

21. November 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Klassenlos? Echt klass!

Ausstellung anschauen ist lustiger als Schulbank drücken. Im Kunsthaus Muerz sieht man, wie Schulbau aussehen könnte, wenn man nur wollte.

Ausstellung anschauen ist lustiger als Schulbank drücken. Im Kunsthaus Muerz sieht man, wie Schulbau aussehen könnte, wenn man nur wollte.

Vor einer Woche wurde im Kunsthaus Muerz die Ausstellung Fliegende Klassenzimmer eröffnet. Anders als herkömmliche Architekturausstellungen richtet sich die Schau nicht nur an Architektur- und Kulturinteressierte, sondern ganz dezidiert an Eltern, Kids und Lehrer. „Hier wird Schule auf den Kopf gestellt“, heißt es vielversprechend am Eingang. Und tatsächlich: Es wird mit Klassenzimmern experimentiert, mit Schulmöbeln Kunst gemacht, mit ungewohnten Methoden Platz zum Lernen geschaffen. Besonders anschaulich sind die 1:1-Nachbauten bestimmter räumlicher Situationen, wie man sie in einigen innovativen Schulbauten in Schweden und Dänemark vorfindet.

Das Schlimmste an der Ausstellung ist ihr Ende. Spätestens beim nächsten Ertönen der Schulglocke wird man mit einer schallenden Ohrfeige in die österreichische Gegenwart zurückgeholt. Die Architektur mag zwar hübsch und bunt geworden sein, doch das System Schule ist wie vor hundert Jahren: Schulbank drücken und sprechen, wenn man gefragt wird.

Christian Kühn, Professor an der TU Wien und Kurator der beflügelnden Ausstellung in Mürzzuschlag, erklärt die Gründe für den österreichischen Stillstand. Sein Fazit: Architektur, Politik und Pädagogik funktionieren nur als Dreiergespann. Eine Reform des Schulsystems unter den derzeitigen Umständen ist ausgeschlossen.

Standard: Bis heute misst die Standardklasse neun mal sieben Meter. Hat das einen Grund?

Christian Kühn: Es gibt eine schöne Anekdote dazu. Früher hatte eine Klasse rund 60 Schüler. Man rechnete einen Quadratmeter pro Kopf, anderthalb Quadratmeter für den Lehrer und weitere anderthalb für den Ofen. Macht unterm Strich 63, also neun mal sieben Meter.

Was ist dran an dieser Anekdote?

Kühn: Ob die Geschichte wahr ist, ist schwer überprüfbar. Aber auch abgesehen davon, ist es sehr verwunderlich, dass sich dieser Typus vom Haus des Lehrers über die kasernenartigen Schulburgen der Jahrhundertwende bis heute gehalten hat. Die Standardklasse im Wiener Pflichtschulbau misst laut Planungsrichtlinien nach wie vor exakt 63 Quadratmeter. Immerhin ein quantitativer Fortschritt, denn die Klasse fasst heute nicht mehr 60, sondern nur noch 25 bis 30 Schüler.

Was ist mit all dem Reformgeist der Sechziger- und Siebzigerjahre passiert. Alles verpufft?

Kühn: Es gibt ein Reformtrauma, das sich seit Mitte der Siebzigerjahre in den Behörden ausgebreitet hat und bis heute spürbar ist. Die baulichen Experimente, die man damals gewagt und auf sich genommen hat, hatten natürlich nicht nur Vorteile, sondern auch diverse negative Begleiterscheinungen. Man denke nur an die schlechte Akustik und Wärmedämmung dieser Bauten, über die bis heute immer wieder geklagt wird. Die Rückkehr zu den angeblich so bewährten Bautypen der guten alten Zeit ist den Österreichern halt besonders leicht gefallen.

Wie kann man dieses Reformtrauma überwinden?

Kühn: Es geht nur gemeinsam. Architekten, Pädagogen und Schulverwalter müssen sich gleichzeitig nach vorne bewegen. Wenn nicht alle drei Kräfte an einem Strang ziehen, ist der Stillstand vorprogrammiert.

Welche Rolle spielt dabei die Politik?

Kühn: Es scheint in der Politik noch nicht angekommen zu sein, dass der Raum als sogenannter dritter Pädagoge - also neben den anderen Schülern und den Lehrern - eine essenzielle Rolle spielt. Eines ist klar: Eine Reform des Schulsystems wird nur dann möglich sein, wenn dabei auch die Schularchitektur neu überdacht wird. Erst jetzt beginnt die Vernetzung zwischen denen, die über zeitgemäße Pädagogik nachdenken, und denen, die über den Schulraum nachdenken. Für eine Innovation des Schulbaus gibt es nach wie vor kein klares politisches Leitbild.

Von der Köck-Privatstiftung wurde kürzlich die Arbeitsgruppe Schul-umbau ins Leben gerufen. Welchen Beitrag kann eine solche Plattform leisten?

Kühn: In der Plattform Schulumbau sitzen unter anderem Vertreter der Stadt Wien und aus dem Bildungsministerium. Das allein ist schon ein Zeichen, dass man das Thema verstanden hat und nun handeln will. Was die Plattform wirklich bringt, wird man erst mit der Zeit sehen. Dazu ist sie noch zu jung.

Bis 2018 sollen in den Schulbau 1,7 Milliarden Euro investiert werden. Wird das Geld reichen?

Kühn: Das klingt zunächst nach viel Geld. Aber ob man damit die vielen aktuellen Anforderungen an den Brandschutz, an die thermische Sanierung, an das barrierefreie Bauen bewältigen und gleichzeitig pädagogisch besser nutzbare Räume schaffen kann, weiß niemand. Die Erfahrungen mit laufenden Sanierungen lassen die Vermutung zu, dass die Summe nicht einmal für die konventionellen Maßnahmen reichen wird.

Gibt es bereits Erfahrungswerte, ob ein innovativer Schulbau auch höhere Kosten nach sich zieht?

Kühn: Das muss nicht unbedingt sein. Nur ein Beispiel: Die Hellerup-Schule in Dänemark braucht deutlich weniger Fläche pro Schüler, da sie offen und flexibel ist. Außerdem gibt es keine Klassenzimmer, und somit fallen auch die Gangflächen weg. Dafür kostet die Innovation in der Planung und im Betrieb. Bei der Hellerup-Schule hat die Gemeinde allein 500.000 Euro in die Vorbereitung und Kommunikation investiert. Mit diesem Geld werden Kommunikationsprozesse und Ausbildungsseminare finanziert, damit die Lehrer lernen, die Potenziale der neuen Strukturen effizient zu nutzen.

Das steht leider im Widerspruch zu den Tendenzen in Österreich. Auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs in Wien ist eine Volksschule in Bau, die als Public Private Partnership abgewickelt wird. Demnach liegen Errichtung, Betrieb und Instandhaltung in der Hand privater Investoren. In diesem Fall handelt es sich um das Konsortium Porr Solutions und Bank Austria Realinvest. Welche Gefahr gibt es, wenn öffentlicher Schulbau ausgelagert wird?

Kühn: PPP ist ein sinnvolles Modell, um Risiko abzuwälzen und Verantwortung aus der Hand zu geben. Bei manchen Bauaufgaben mag das durchaus legitim sein. Das Problem an diesem Beispiel ist, dass es kein offener Wettbewerb war und dass die PPP-Auftragnehmer das Recht hatten, die siegreichen Architekten nach der Entwurfs- und Einreichplanung nach Hause zu schicken und selbst weiterzuplanen. Inzwischen hat man dort den Kompromiss gefunden, dass die Architekten die Leitdetails planen.

Stadtrat Rudolf Schicker spricht von einem Optimierungsprogramm.

Kühn: Ob PPP-Projekte in Errichtung und Betrieb wirklich billiger sind, ist umstritten. Die Qualität ist sicher höher, wenn die Architekten für die Planung durchgängig verantwortlich sind.

Es gibt das Gerücht, dass die Stadt Wien manche Schulen und Kindergärten von der MA 19 in Eigenplanung umsetzen will.

Kühn: Ich weiß nicht, ob das noch aktuell ist. Die Stadt Wien hat zwar eine große Tradition der Amtsplanung, aber sie sollte sich heute doch lieber auf ihre Bauherrenrolle konzentrieren und dort Vorbildfunktion erlangen. Bauherr und Architekt in einer juristischen Person zu bündeln halte ich für anachronistisch. Damit nimmt man sich nur die Chance auf Innovation.

Warum muss Österreich, laut Weltbank-Index eines der zehn reichsten Länder der Welt, im Bildungsbereich sparen?

Kühn: Österreich gibt sehr viel für Bildung aus, mehr als skandinavische Länder, aber mit deutlich geringerem Erfolg. Nun versucht man effizienter zu werden, allerdings am falschen Ende. Einsparungen kann man nur am Anfang erzielen, mit intelligenten Konzepten. Ich vergleiche das immer mit einem Bauherrn, der sich von einem Architekten eine Luxusvilla planen lässt und dann bei den Wasserhähnen und Türklinken zu sparen beginnt, weil ihm das Geld ausgeht. Vielleicht muss die Villa ja gar nicht so groß sein.

Die Ausstellung im Kunsthaus Muerz trägt den Titel „Fliegende Klassenzimmer“. Wohin soll die Reise gehen?

Kühn: Wir möchten den Menschen wieder das Träumen beibringen. Dazu bedarf es einer gewissen Aufklärung. Wenn man einem Lehrer heute sagt „Wünsch dir was!“, dann wird er sich das wünschen, was er eh schon hat - plus zwei Räume dazu. Das kann's nicht sein.

[ „Fliegende Klassenzimmer. Eine interaktive Ausstellung über Orte zum Wachsen für alle von 6 bis 99 Jahren“ im Kunsthaus Muerz, Mürzzuschlag. Zu sehen bis 21. Februar 2010. ]

Der Standard, Sa., 2009.11.21

07. November 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Ethik ist die neue Ästhetik

In der Sierra Madre del Sur im mexikanischen Hochland fand das Architektursymposium „Sustainability vs. Aesthetics“ statt. Anleitung für eine „nachhaltige“ Zukunft.

In der Sierra Madre del Sur im mexikanischen Hochland fand das Architektursymposium „Sustainability vs. Aesthetics“ statt. Anleitung für eine „nachhaltige“ Zukunft.

Man trug weißes Leinen und Panamahut. Die Señores Arquitectos waren sich einig, längst nicht nur in Modefragen. Nachhaltigkeit, prusteten sie zwischen zwei paffenden Zigarrenstößen hervor, sei die widerlichste Wortkreation der letzten Jahre. „Was soll das schon heißen? Der Begriff klassifiziert und hebt zu einer Besonderheit hervor, was für jeden seriösen Architekten eigentlich selbstverständlich sein sollte.“

Und doch kamen sie letztes Wochenende aus aller Welt herbeigeflogen, um in der mexikanischen Sierra Madre del Sur, im hügeligen Niemandsland zwischen Oaxaca und pazifischer Meeresküste, über ebendiese größte Selbstverständlichkeit ihres zünftigen Schaffens lautstark zu debattieren: Carl Pruscha aus Wien, Raimund Abraham aus New York, Michael Rotondi aus Los Angeles, und schließlich der offizielle Gastgeber, Wolf Prix von der Universität für angewandte Kunst in Wien.

Ort und Zeit der internationalen Konferenz Sustainability vs. Aesthetics waren nicht etwa frei gewählt, sondern galten einem kleinen, aber überaus feinen und allseits beglückenden Jubiläum: Fünf Jahre zuvor hatten hier, in der von Armut und Infrastrukturlosigkeit gezeichneten Ciudad de Ejutla de Crespo, Studenten der Meisterklasse Prix einen Pavillon aus Blech und Bambus in die Höhe gestemmt. Mit händischem Geschick, viel Hirn und nachhaltigem Gedankengut, wie sich später herausstellen sollte. Die 220 Quadratmeter große Dachkonstruktion (Baukosten 24.000 Euro) sollte nicht nur Schatten spenden, sondern war in erster Linie als Auffangtrich- ter für wertvolles Regenwasser gedacht.

Fünf Jahre später also. Umgeben von Kakteen und Agaven, steht das Ding immer noch wacker auf seinen Beinen, trotzt Wind und Wetter und sammelt Regenwasser nach Plan. In der Zwischenzeit bekam die Konstruktion aufgrund ihrer eigenständigen Form sogar einen Spitznamen verpasst: techo de tortilla, Tortilladach. „Derartige Spitznamen sind extrem wichtig“, sagt Wolf Prix, „denn sie sind der Beweis dafür, dass ein Bauwerk von der Bevölkerung angenommen und benützt wird.“

Ersteres mit Euphorie, Letzteres mit Erfolg. Rund um die fliegende Blechtortilla siedelte sich in den vergangenen Jahren das Instituto Tonantzin Tlalli (ITT) an, eine Zweigstelle der Non-Profit-Organisation Grupedsac für Weiterbildung und nachhaltige Entwicklung. Bauern und Selbstversorger aus ganz Mexiko kommen hierher, um in Workshops und Fortbildungsseminaren Herr über diverse neue ökologische Technologien zu werden. Angeboten werden 28 Kurse vom Wassermanagement über die Installation und Nutzung von Windkraft und Solarenergie bis hin zum Bauen mit nachwachsenden Rohstoffen wie etwa Bambus, Lehm und Stroh.

Ein unglaublich wichtiger Motor

Rund 10.000 Menschen wurden im ITT in Ejutla de Crespo bisher ausgebildet. Die Kurskosten, die sich im Bereich von 2000 US-Dollar bewegen (rund 1350 Euro), werden bei Bedarf vorgeschossen und können in Form von Naturalien oder solarer Stromeinspeisung abgezahlt werden. In Härtefällen werden die Kosten von der Grupedsac (Jahresbudget eine Million US-Dollar, rund 675.000 Euro) auch ganz übernommen. „Ich würde nicht sagen, dass wir unseren Erfolg einzig und allein dem Projekt der Studenten von der Angewandten verdanken“, erklärt Margarita Barney de Cruz, Direktorin der Grupedsac, „doch die Finanzierung und der Bau dieses Dachs war ein unglaublich wichtiger Motor für uns.“

Einerseits könne man den Menschen im Maßstab eins zu eins vorzeigen, wie Regenwassernutzung funktioniert und was beim Bau von Auffangtrichter und Zisterne alles zu beachten ist. Und zweitens habe sich das Dach als regionales Symbol etabliert. Barney de Cruz: „Sie brauchen nur nach dem techo de tortilla zu fragen, und die Leute in der Umgebung wissen sofort, wovon Sie sprechen. Man wird Sie über Stock und Stein direkt zu uns weiterleiten.“

Während das Projekt in Ejutla de Crespo den Härtetest längst überstanden hat, werden andernorts erst die Samen gesät - so zum Beispiel in Chimalhuacán. Die Satellitenstadt im Osten der mexikanischen Hauptstadt leidet seit Ewigkeiten darunter, dass sich hier eine der größten Mülldeponien des Landes befindet: Tlatel Xochitenco. Als ob das nicht genug wäre, ist die 600.000 Einwohner zählende Stadt zu allem Überdruss auch noch von offenen Abwasserkanälen umzingelt. Chimalhuacán ist in seiner Ausbreitung begrenzt, denn die zähflüssige Schattenseite der benachbarten Millionenmetropole Mexiko-Stadt ist eine olfaktorische und psychologische Wachstumsbremse.

„Wir können die Probleme nicht wegtilgen, denn das liegt im Einflussbereich der Politik“, erklärt Rozana Montiel von der Architekturfakultät der Universidad Iberoamericana in Mexiko-Stadt. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Arturo Ortiz gewann sie vor zwei Jahren einen Wettbewerb zur Revitalisierung und Neuorganisation der stinkenden Horrorstadt. „Aber wir können anbieten, die Probleme mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu reduzieren und den Einwohnern einen Hauch Lebensqualität zurückzugeben, zum Beispiel indem wir versuchen, öffentliche Plätze und Grünflächen zu schaffen.“

Kuratiert von Allard van Hoorn, wurden in der ersten Projektstufe 24 mexikanische Künstler eingeladen, die sich mit dem städtischen Grünraum auf ihre Weise auseinandersetzen sollten. Der Fokus richtete sich auf kurzfristig umsetzbare und temporäre Arbeiten. Betsabee Romero beispielsweise platzierte einen ausrangierten Schulbus vor den Mistplatz und packte ihn in ein dichtes Blätterkleid aus diversen tropischen Pflanzen. Aus der Heckscheibe ließ sie sogar einen stattlichen Baum heraussprießen.

Der grüne Blumentopf aus Müll und Schrott ist ein Vorgeschmack auf die zweite Projektphase. Nachdem bekannt wurde, dass die Deponie geschlossen wird, soll Chimalhuacán endlich seinen langersehnten Park bekommen. Das völlig kontaminierte Areal Tlatel Xochitenco soll versiegelt, anschließend mit Erde aufgeschüttet und schließlich begrünt werden. Geht alles nach Plan, könnte der Park in weniger als zehn Jahren fertiggestellt sein. „Ich bin optimistisch“, sagt Architektin Rozana Montiel. „Doch ob so ein Projekt wirklich nachhaltig ist oder nicht, lässt sich heute noch nicht sagen. Das hängt von vielen unbekannten Variablen ab und wird sich erst in ein, zwei Jahrzehnten weisen.“

Es gibt Mezcal, hochprozentigen Agavenschnaps, und Heuschrecken aus der Pfanne. Die kulinarische Kombination wirkt enthemmend. „Architektur ist eine gewalttätige Kunst, sie zerstört die Welt und nimmt der Natur nichts als Raum weg“, sagt der 1964 in die USA emigrierte österreichische Architekt Raimund Abraham (Österreichisches Kulturforum New York, 2002). „Das ist alles andere als nachhaltig. Dessen müssen wir uns prinzipiell einmal gewahr werden. Erst dann können wir anfangen, über mögliche Korrekturversuche zu diskutieren.“

Wieder einmal herrscht Einigkeit im Zigarrenclub: Social Design, Political Design und ClimateDesign - das grauenvolle N-Wort wird ab nun tunlichst vermieden - sind nach Auskunft der paffenden Herren unausweichlich. Schließlich könne diese Form der intelligenten Architektur zur Schadensmilderung beitragen. Und das sei bitter nötig.

Ob sie dabei auch etwaigen ästhetischen Ansprüchen gerecht wird, ist im Augenblick der Weltzerstörung offenbar zweitrangig. Am Ende der in Mexiko abgehaltenen Konferenz Sustainability vs. Aesthetics meldet sich Mauricio Rocha, mexikanischer Architekt, mit einem nachahmenswerten Zukunftsprogramm zu Wort. Kurz und prägnant: „Ethik ist die Ästhetik der Nachhaltigkeit.“ Da ist es also wieder, das grauenvolle Wort. Es wird uns noch viele Jahre begleiten.

Der Standard, Sa., 2009.11.07

24. Oktober 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Dachlandschaft aus Origami

Das Wiener Büro Architects Collective gelangte über Glück und Freundschaft zu einem Auftrag in Übersee. Mitten in Mexiko-Stadt entstand für den Künstler Yoshua Okón ein expressiv gefaltetes Penthouse aus Corian.

Das Wiener Büro Architects Collective gelangte über Glück und Freundschaft zu einem Auftrag in Übersee. Mitten in Mexiko-Stadt entstand für den Künstler Yoshua Okón ein expressiv gefaltetes Penthouse aus Corian.

Früher hatten in Condesa Pferderennen stattgefunden. Als in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts beschlossen wurde, die Rennen einzustellen und die wertvolle innerstädtische Fläche auszubauen, verwandelte sich das einst wiehernde Areal in ein hippes Künstlerviertel. Die ringförmige Rennstrecke mutierte zur neuen Hauptstraße voller Cafés und Galerien. In der Mitte wurde ein Park angelegt. Bis heute stechen die charakteristischen Straßenzüge im Stadtplan von Mexiko-Stadt sofort ins Auge.

Am Eck, wo Via Ozuluama und Via Amsterdam einander kreuzen, entstand 1945 ein schlichtes graues Haus mit hübsch gerundeter Ecke. Im Erdgeschoßlokal siedelte sich eine Bäckerei an, später befand sich hier die Kunstgalerie La Panadería. „Das ist ein faszinierendes Haus mit einer intensiven Geschichte“, sagt der mexikanische Künstler Yoshua Okón, der seit mehr als 15 Jahren an dieser Adresse wohnt. „Ich bin 1993 eingezogen, und obwohl ich viel unterwegs bin und die Hälfte der Zeit in Los Angeles verbringe, habe ich mich bis heute von diesem Haus nicht trennen können.“

Nachdem Wohnung und Galerie zu klein wurden, zog Okón aufs Dach und baute sich dort oben eine provisorische Wohnstätte. Der künstlerische Impetus war wohl etwas groß ausgefallen, denn der Holzverschlag trotzte weder Wind, noch Witterung.

Als Kurt Sattler, ein befreundeter Architekt aus Wien, eines Tages zu Besuch war, nutzte dieser die Gunst der schrecklichen Erkenntnis und überzeugte Okón von einem professionellen Umbau. Ein ordentliches Penthouse musste her. Und so flog Sattler zurück nach Österreich, scharte seine beiden Büropartner Richard Klinger und Andreas Frauscher um sich, und entwarf ein faltiges Dachgebilde aus typisch mexikanischem Santo-Tomás-Marmor und gräulich weißem Corian.

„Normalerweise kennt man Corian als Steinimitat für Küchenarbeitsplatten“, erklärt Sattler, „wir wollten etwas Neues wagen und haben es im Außenbereich eingesetzt.“ In das Potpourri der vielen Weiß- und Grautöne der Umgebung fügt sich die zeitgenössische Dachlandschaft nur allzu gut. „Obwohl das eine auffällige und völlig eigenständige Form ist, wirkt das Penthouse, als wäre es immer schon hier gewesen.“

Auf insgesamt 120 Quadratmetern lebt Okón mit weißen Wänden und zusammengetragenen Möbeln aus aller Welt. „Den Großteil des Mobiliars habe ich auf diversen Flohmärkten gekauft“, sagt er, „das meiste ist aus den Fünfzigern und Sechzigern.“ Während das Farbkonzept weitestgehend beibehalten wurde, legte der Künstler im Foyer und im Schlafzimmer nachträglich selbst Hand an.

Lichtreflexion in Rosarot

„Ich liebe Farben. Und so sehr mir die europäische Schlichtheit von Kurt Sattler und seinen Kollegen gefällt, habe ich mich in einigen Ecken der Wohnung dennoch nach Farbe gesehnt.“ Die Schlafstatt wurde in einem sanften Olivgrün gestrichen, das zweigeschoßige Foyer bekam ein kräftiges Violett verpasst. Ein paar Schritte ums Eck wird ein hellrosa Farbschleier an die Wand geworfen. Das knallige Pink des Lichthofes, eine letzte Reminiszenz an die Fünfzigerjahre, färbt das reflektierte Sonnenlicht leicht ein.

Höhepunkt ist die Loggia vor dem Wohnzimmer. „Am liebsten halte mich draußen auf“, sagt Yoshua Okón, „meistens sitze ich mit Freunden am Abend stundenlang draußen und schaue hinaus auf die Stadt und auf den tropischen Park ein paar Häuser weiter.“ Im Übrigen dienen die Glastüren auch der Querlüftung. Allen Vermutungen zum Trotz kommt das Penthouse nämlich ohne Klimaanlage aus.

Manchmal, wenn das Wetter passt und sich die Sterne durch den Smog über der mexikanischen Hauptstadt durchgekämpft haben, steigt der Hausherr an der schmalen Außentreppe auf die Dachterrasse hoch. Neben dem Verbau für den Wassertank gibt es ein leicht abschüssiges Platzerl zum Hinlegen. Von der vielen Sonne untertags ist der Corian noch warm und bietet die perfekte Unterlage zum Sterneschauen.

Der Standard, Sa., 2009.10.24



verknüpfte Bauwerke
Ozuluama Residence

17. Oktober 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Schlangenhaut und zuckender Schleim

Die Cité de la Mode et du Design in Paris ist zwar schon längst fertig. Dennoch ist ein Großteil des Gebäudes nach wie vor ungenutzt. Dem sozialen Erfolg tut dies keinen Abbruch.

Die Cité de la Mode et du Design in Paris ist zwar schon längst fertig. Dennoch ist ein Großteil des Gebäudes nach wie vor ungenutzt. Dem sozialen Erfolg tut dies keinen Abbruch.

Le Corbusier würde der Schlag treffen. Liebend gerne soll er damals hierher gekommen sein, um den Schiffen beim Ein- und Ausladen der Handelswaren zuzusehen. Mehr noch als das Konzert der Kräne faszinierte den Pariser Architekten die Betonkonstruktion der alten Docks. Das kann man gut verstehen. Schließlich handelt es sich bei den Magasins Généraux, 1907 von Georges Morin-Goustiaux erbaut, um das erste Stahlbetongebäude Frankreichs.

Und heute? Limonengrüner Schleim, wohin das Auge reicht. Als käme er frisch aus dem Reaktor, rinnt der zähflüssige Rotz langsam nach unten und frisst sich dabei Stück für Stück durchs 170 Meter lange Betonskelett der nunmehr fertiggestellten Cité de la Mode et du Design. Nicht jeden überzeugt die zeitgenössische Genesis. Der französische Staatspräsident etwa zeigt sich ob der organischen Architektur ein wenig angewidert. Seit Beginn der Sanierung vor zwei Jahren spricht Sarkozy mit tief hinuntergezogenen Mundwinkeln nur noch vom „truc vert“, vom grünen Zeug an der Seine.

Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Fall für die Ghostbusters, ist in Wirklichkeit Teil eines umfangreichen und ambitionierten Stadtentwicklungs- und Revitalisierungsprojekts aus der Ära François Mitterrand, als zeitgenössische Architektur von oberster Stelle noch geschätzt, ja geradezu eingefordert wurde.

Auf einer Länge von drei Kilometern und einer Fläche von 130 Hektar wird das linke Seine-Ufer, besser bekannt als „Paris Rive Gauche“, nach einem Masterplan von Christian de Portzamparc peu à peu zu neuem Leben erweckt. Viel hat sich getan. Der Umbau der Docks zu einem Mode- und Designzentrum, Ergebnis eines internationalen Wettbewerbs im Jahr 2004, ist der jüngste Wurf des bis 2015 anberaumten Bauprogramms.

„Es stand uns völlig frei, ob wir den Altbau beibehalten oder nicht“, sagt Brendan MacFarlane vom Pariser Büro Jakob & MacFarlane. „Ein Abbruch kam für uns allerdings nicht infrage.“ Jedem einzelnen Pariser, meint der Architekt, seien die Docks von Rive Gauche ein Begriff. „Die Jungen erinnern sich an den Hawaii-Nachtclub, der hier mal war, die Älteren an die ausrangierten Hallen, in denen sie zwanzig Jahre lang billige, aber ganz passable Ramschteppiche eingekauft haben. Die ganz Alten haben, wenn sie an damals denken, wahrscheinlich noch Kräne und Kisten im Kopf.“

Und so machten sich Jakob & MacFarlane an die Arbeit, enthäuteten das Ding bis auf die betonierten Knochen und besserten aus, was auszubessern war. „Es wäre Irrsinn gewesen, eine großteils intakte Betonkonstruktion abzureißen, nur um an derselben Stelle wieder etwas Neues hinzustellen. Ein Minimum an ökologischem Anstand sollten wir alle haben.“ In die nackte Struktur wurden anschließend Fassadenelemente, Trennwände, Sanitärkerne und Erschließungseinheiten hineingestellt. Unauffällig und unaufregend. Ganz so, als füllte man ein Billy-Regal mit Büchern und Krimskrams aus aller Welt. Mit 20.000 Quadratmetern Nutzfläche ist lediglich die Größenordnung eine andere.

„Von ausgetüftelten Hightech-Details halten wir nicht viel, wir glauben an das Einfache in der Architektur“, sagt Brendan MacFarlane und breitet dabei die Arme aus, als wollte er das Gebäude an seinen beiden Enden umfassen. „Gerade bei einem Bauwerk dieser Größe ist es wichtig, sehr unkompliziert zu denken. Alles andere ist in unseren Augen eine Verschwendung von Ressourcen.“

Plug-over aus Stahl und Glas

Und dann das grüne Zeug, das schleimig aus der Ferne, schlangenhäutig aus der näheren Distanz erscheint. Frech und unverfroren wurde der gelbgrün lackierte Stahlaufbau über die von Le Corbusier heiß geliebten Docks gestülpt. Mit dem alten Unten hat das neue Oben bis auf das konstruktiv bedingte Achsmaß von zweieinhalb Metern wenig zu tun. Die Architekten nennen diese Methode Plug-over. Allem Anschein zum Trotz ist auch hier die Bauweise simpel und konsequent. Stahlrohr hier, Stahlrohr da, dazwischen die stolze Zahl von 644 grün bedruckten Gläsern in unterschiedlichen Formaten. Das war's.

Die Baustelle ist weitestgehend abgeschlossen. Vor einigen Monaten bezog das Institut Français de la Mode (IFM), die renommierte Pariser Modeschule, die neuen Räumlichkeiten mitsamt Klassen, Hörsaal und Mediathek. Die restlichen 17.000 Quadratmeter Nutzfläche - und das ist der Wermutstropfen am ganzen Projekt - sind entweder noch im Ausbau begriffen oder werden gerade verhandelt. Ersteres zögerlich, Letzteres nicht enden wollend.

Obwohl die Regierung die Baukosten von rund 40 Millionen Euro zur Gänze beisteuerte, können sich Grundstückseigentümer Port Autonome de Paris (PAP), Projektentwicklerin und Liegenschaftsverwalterin Icade G3A, Pächterin Caisse des Dépôts et Consignations (CDC) und ein gutes Dutzend von potenziellen Mietern bis zum heutigen Tag auf kein vernünftiges Rechenmodell einigen, das für alle interessant ist. Mit einem Wort: Das Projekt steckt fest.

Bis auf die Modeschule ist die Cité de la Mode et du Design eine Geisterburg, in der nicht nur zeitgenössischer apfelgrüner Rotz vom Himmel tropft, sondern in der es auch mächtig spukt. Gähnende Leere. Nach Auskunft der Caisse des Dépôts soll das Designzentrum mitsamt Ausstellungshalle nächsten Monat, spätestens jedoch im Dezember eröffnet werden. Die Architekten sprechen indes von Frühjahr 2010. Auch vom Apple-Store und vom Restaurant Lina's fehlt noch jede Spur. Ganz zu schweigen von den vielen Shops. Hier verweist Aude Dulac, Pressesprecherin von Icade G3A, auf kommenden April. Frühestens.

Schon jetzt ein sozialer Erfolg

Trotz abgesperrter Zäune wird das vorerst nur partiell genutzte Mode- und Designzentrum bereits als Sehenswürdigkeit wahrgenommen. „Das Gebäude gehört der Stadt, und zwar nicht nur juristisch, sondern auch sozial“, sagt Architekt Brendan MacFarlane. „Noch bevor der wirtschaftliche Erfolg überhaupt garantiert ist, zeichnet sich ab, dass das Bauwerk in den Köpfen der Bevölkerung längst verankert ist. Das ist mehr, als man sich als Architekt wünschen kann.“

Gespannt wartet MacFarlane auf die Eröffnung der restlichen Flächen und der überaus sehenswerten Dachlandschaft. In den grün beleuchteten Bäuchen an der Seite werden öffentliche Stiegen die Flaneure nach oben geleiten. Dort erwarten einen Holzboden und Grasstreifen, schattenspendende Baldachine aus Stahl und Schleim sowie eine atemberaubende Sicht auf die Seine. Spätestens dann werden sich Le Corbusier und die streitenden Parteien von ihren Strapazen erholt haben.

Der Standard, Sa., 2009.10.17



verknüpfte Bauwerke
Kulturzentrum „Docks de Paris“

17. Oktober 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Wohnen zwischen guten Wellen

Das Haus am Fuße des Pöstlingbergs ist umgeben von Staub und Lärm. Architekt Siegfried Meinhart ließ sanftes Händchen walten und verwandelte den Sechzigerjahre-Bau in eine Bleibe für Mensch und Chi.

Das Haus am Fuße des Pöstlingbergs ist umgeben von Staub und Lärm. Architekt Siegfried Meinhart ließ sanftes Händchen walten und verwandelte den Sechzigerjahre-Bau in eine Bleibe für Mensch und Chi.

Hektisch erobern die Autokolonnen den Linzer Pöstlingberg. Die Straße vibriert, die Reifen quietschen, und über allem liegt ein großes graues Rauschen. Mit silbrig glänzenden Schindeln aus Edelstahl schottet sich der sanierte Sechzigerjahre-Bau gegen die nicht ganz so gemütliche Umgebung ab. Von der inneren Ruhe des Hauses ist hier draußen wenig zu spüren.

Doch kaum ist man über die Schwelle getreten und hat hinter sich die Tür ins Schloss fallen lassen, entfaltet sich das, was Bauherren und Architekt so einstimmig als gute Energie bezeichnen. „Wir waren von Anfang an auf einer Wellenlänge“, sagt Architekt Siegfried Meinhart, „noch bevor der erste Strich gesetzt wurde, haben wir uns darüber unterhalten, was heilsames Wohnen ist und wie man so einen Zustand unter diesen Bedingungen erreichen kann.“

Das Gespräch führte zu fruchtenden Resultaten. 1999 fand der erste Umbau statt. Damals wurde das alterschwache Schmuckstück aus dem Jahr 1962 generalsaniert, wärmegedämmt und barrierefrei auf Vordermann gebracht. Zehn Jahre später wurde der längst zum Freund herangereifte Architekt erneut in die Pflicht genommen. Nachdem sich das Konto erholt hatte, sollten nun Vorzimmer und Küche optimiert werden. Außerdem wünschten sich die Bauherren einen Therapie- und einen Meditationsraum.

„Wir könnten es uns einfach machen und behaupten, dass uns die unsanierten Zimmer nicht mehr gefallen haben“, sagt Herr S., „doch die Wahrheit ist, dass zwischen den alten und neuen Räumen unserem Gefühl nach das energetische Gleichgewicht nicht mehr gepasst hat.“ Der Balanceakt ist vollzogen: Um das 20 Quadratmeter große Vorzimmer mitsamt originalem Terrazzoboden in den Wohnbereich miteinzubeziehen, wurde die Trennwand zur Küche entfernt. Eine Bank aus Eichenholz schafft die Verbindung zwischen Sixties und Gegenwart.

Das Schwarz-Weiß der gesprenkelten Steinfliesen floss in die Küchenmöblierung ein. Die schwarzen Pigmente konzentrieren sich auf Rückwand und Kühlschrankverbau, das strahlende Weiß fand Niederschlag in einem Arbeitsmöbel aus durchgehendem Corian. „Billig war die Küche nicht“, meint Frau S., „aber dafür haben wir ein robustes und ästhetisches Möbel auf Lebenszeit.“

Künstliche Abenddämmerung

Größtes Manko in diesem Bereich war das Licht. „Das bestehende Betonglasfenster wollten und durften wir nicht ändern“, erklärt Meinhart, „das ist eine Arbeit von Ernst Reischenböck und gilt mittlerweile als Linzer Kulturdenkmal.“ Um die Lichtsituation trotzdem zu verbessern, zog der Architekt eine Beleuchtungsdecke ein. Mit zwei voneinander getrennten Schaltern lässt sich der Anteil an kaltem und warmem Licht individuell steuern. „Auf diese Weise haben die Bauherren die Möglichkeit, die Lichtstimmung der jeweiligen Tageszeit anzupassen.“

In die tragende Mauer zwischen Wohn- und Vorzimmer wurde ein Kamin eingebaut, der von beiden Seiten durch Glastüren zugänglich ist. Lauschig flackerndes Licht legt sich in den kalten Wintermonaten über die vielen Kunstwerke, die im Haus S. Auge und Sinn verwöhnen. Eva Schlegel hängt an der Küchenwand, Gunter Damisch baumelt auf seidenen Fäden vor dem Terrassenfenster im Wohnzimmer, Arnulf Rainer indes ziert mit kräftig blauen Strichen den Ort der Stoffwechselentleerung.

Therapie- und Yoga-Raum

Wer sich von der vielen Muse erholen muss, kommt im ausgebauten Kellergeschoß voll auf seine Kosten. „Früher haben wir den Keller als Lagerraum genutzt“, sagt Herr S., „erst als wir im Zuge des Umbaus dreieinhalb Tonnen Zeug entsorgen mussten, haben wir gemerkt, wie befreiend das war.“ Frische und entrümpelte Energie flattert heute durch die weißen Räume. Nur der Duft der holzkistengelagerten Äpfel und Birnen erinnert noch an alte Kellerzeiten.

Am Ende des Ganges, für Privatkunden durch einen externen Eingang aus dem Garten zu betreten, liegt der Therapieraum. Hier gehen die Bauherren neben ihrem regulären Beruf ihrer Berufung nach. Er ist Klangschalen-Therapeut, sie arbeitet mit Heilströmen von Kopf bis Fuß.

Eine Tür weiter liegt jenes Zimmer, in dem das Chi nach einer langen Hausführung ankommen und bleiben kann. Die Wände im zehn Quadratmeter großen Yoga-Raum sind mit Lehmputz verspachtelt und mit roten Leinen bespannt. In einer Druckerei im Mühlviertel erhielt der Stoff sein unverwechselbares Muster. Schilfgeruch steigt in die Nase auf. Die acht Tatami-Matten sind nach japanischer Manier verlegt und bilden die Unterlage für stundenlanges Meditieren.

Keine Frage, Haus S. ist seinen Bewohnern an den Leib geschneidert. Mag sein, dass mit den Energiefeldern, die hier erkannt und genutzt wurden, nicht jeder etwas anfangen kann. Mit welchen Mitteln auch immer Architekt Siegfried Meinhart zu diesem Ergebnis gekommen ist, eines lässt sich mit Sicherheit nicht abstreiten: Schlegelschlag auf den Gong, man fühlt sich auf Anhieb wohl.

Der Standard, Sa., 2009.10.17

09. Oktober 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Erst die Pragmatik, dann die Poesie

Kroatien ist auf dem Balkan die Hochburg zeitgenössischer Architektur

Kroatien ist auf dem Balkan die Hochburg zeitgenössischer Architektur

Kein Land Europas wird bezüglich seiner Architektur dermaßen unterschätzt wie Kroatien. Eingeklemmt zwischen Bogdan Bogdanović und Jože Plečnik, zwischen Serbien und Slowenien, entwickelte es sich seit dem Zerfall des Ostblocks zur vielfältigsten Architekturszene des Balkans. Die niederländische Architekturzeitschrift A10 widmete dem Bauen an der kroatischen Küste im Juli 2008 sogar einen eigenen Schwerpunkt. „Ein Faible für Baukultur gab es in Kroatien immer schon“, sagt Marko Dabrović vom Zagreber Architekturbüro 3LHD. „Mit dem serbisch-kroatischen Krieg kam dann der große Bruch. Viele etablierte Büros sind damals von einem Tag auf den anderen von der Bildfläche verschwunden.“

Und das hieß: Bahn frei für die jungen Wilden, die prompt in die großzügigen Fußstapfen ihrer Vorgänger schlüpften und die Baukultur von innen heraus revolutionierten. Kann man kroatische Architektur charakterisieren? „Zuallererst ist sie pragmatisch, in zweiter Instanz entfaltet sie jedoch eine unglaubliche Poesie“, sagt Dabroviæ und verweist auf ein Projekt seines Landsmannes Nikola Basiæ. Die sogenannte Meeresorgel in Zadar, fertiggestellt 2004, ist auf den ersten Blick nichts anderes als eine elegante, aber unaufregende Ufergestaltung aus hellem Marmor.

Die wahre Schönheit des Projekts vernimmt man mit dem Gehör. Wie bei einer Kirchenorgel befinden sich in den Sitzstufen ausgetüftelte Kanäle, die bei Luftdruck unterschiedliche, aufeinander abgestimmte Töne von sich geben. Mit jedem Wellengang wird Wasser ins Fundament gedrückt. Dieses wiederum verdrängt die Luft, die ihrerseits Musik erzeugt. Das Projekt wurde 2006 mit dem Europäischen Preis für Öffentlichen Freiraum ausgezeichnet.

Eine Hörprobe der ungewöhnlichen Architekturinstallation gibt es unter dem Suchbegriff Sea Organ auf youtube.com

Der Standard, Fr., 2009.10.09

09. Oktober 2009Wojciech Czaja
Der Standard

„Wir bauen Motoren der Vorstellungskraft“

Die bulgarische Baubranche schwächelt. Zur Sanierung fehlen Geld und Wille, der Neubau wiederum liegt fest in der Hand von Investoren. Architektin Rossitza Bratkova, Geschäftsführerin von Aedes Studio, wird nicht aufgeben, sagte sie zu Wojciech Czaja.

Die bulgarische Baubranche schwächelt. Zur Sanierung fehlen Geld und Wille, der Neubau wiederum liegt fest in der Hand von Investoren. Architektin Rossitza Bratkova, Geschäftsführerin von Aedes Studio, wird nicht aufgeben, sagte sie zu Wojciech Czaja.

Standard: Bulgarische Architektur vor und nach 1989, was ist anders geworden?

Bratkova: Der Wandel ist eklatant. Bis 1989 hatten die Architekten ausschließlich in staatlichen Planungsbüros gearbeitet. Eine zufriedenstellende Situation kann das nicht gewesen sein, denn sowohl die Architekten als auch die Bauherren und Investoren wurden von oben kontrolliert. Wer bauen wollte, musste sich ans staatliche Planungsbüro wenden. Und da war die Auswahl an Baustoffen sowie an erprobten und praktizierten Bauweisen sehr begrenzt. Nur um ein Beispiel zu nennen: Die staatliche Bauindustrie hatte damals fünf verschiedene Fenstertypen im Programm. Wer gebaut hat, musste aus dieser Palette wählen. Mehr Spielraum gab es nicht.

Standard: Die Bauten aus der Ära von Exdiktator Todor Schiwkow sind bis heute prägend. Wie geht man mit diesem Erbe um?

Bratkova: Das ist eine Frage, die in Bulgarien immer wieder zu politischen Diskussionen führt. Daher sage ich jetzt meine persönliche Meinung ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Viele öffentliche Gebäude weisen eine hohe räumliche Qualität auf und sind architekturgeschichtlich sehr wichtig. Diese Gebäude gehören meines Erachtens erhalten. Leider kümmert sich niemand darum, weil die Auftraggeber in der psychologischen Zwickmühle stecken. Lieber investieren sie in den Neubau. Das ist imagemäßig unverfänglicher.

Standard: Wie sieht es im Wohnbau aus?

Bratkova: Das ist die andere Facette an der Architektur in diesem Land. Wie wir alle wissen, ist das Verfallsdatum von Plattenbauten längst überschritten. Diese Wohntypologie ist heute nicht mehr vertretbar. Ich denke da nur an das Lulin-Viertel im Westen der Stadt. Mehr als 100.000 Menschen, also fast ein Zehntel der Bevölkerung Sofias, leben da. Im Gegensatz zu den öffentlichen Bauten würde ich in diesem Falle plädieren: Komplettsanierung oder sogar Abbruch und Neubau. Das Problem dabei ist, dass ein Großteil des Wohnbaus Eigentum ist. Viele können sich einen dementsprechenden Schritt in Richtung eines besseren Wohnens gar nicht leisten.

Standard: Gerade in Sofia ist der internationale Immobilienmarkt stark präsent. Wie ist die Qualität dieser Bauten?

Bratkova: Es ist paradox! Die Qualität der meisten Investorenprojekte ist miserabel. Aber diese Gebäude sind immer noch besser als diejenigen, die von heimischen Investoren und Architekten realisiert werden. Insofern könnte man sagen, dass die internationalen Investoren Schadensmilderung betreiben und mit vergleichsweise gutem Beispiel vorangehen.

Standard: Woran messen Sie die Qualität dieser Gebäude?

Bratkova: In erster Linie am Städtebau und an der Integration in den Charakter dieser Stadt. Das Problem ist der Maßstab. Im Vergleich zu vielen anderen sozialistischen Städten ist Sofia recht kleinteilig und kompakt. Die Projekte der ausländischen Investoren - oft handelt es sich dabei um riesige Komplexe - haben den Maßstab völlig verändert. Ich habe das Gefühl, sie haben die Kapazität dieser Stadt gesprengt. Die meisten Neubauareale sind dadurch unmenschlich und dementsprechend ausgestorben.

Standard: Viele ausländische Investoren bauen von der Stange. Oder aber der Auftrag geht an einen sogenannten Stararchitekten. Wo bleibt da die heimische Zunft?

Bratkova: Nach 1989 wurde ein Gesetz eingeführt, das besagt: Wenn ein ausländischer Investor in Bulgarien baut, muss er mit einem bulgarischen Architekten kooperieren. Dieser kümmert sich dann um die Anpassung an die lokalen Bauvorschriften. Nachdem in den letzten Jahren enorm viel gebaut wurde, geht es den bulgarischen Architekten gar nicht so schlecht.

Standard: Wie ist die wirtschaftliche Situation in Ihrem Büro?

Bratkova: Für Aedes Studio ist dies ein hartes Jahr. Wir haben sehr viel zu tun. Aber die Zahlungsmoral ist im Augenblick eine Katastrophe. Viele Privatinvestoren ziehen sich von einem Tag auf den anderen zurück, die Zahlungen bleiben damit aus. Bei den öffentlichen Auftraggebern ist es weniger tragisch, denn der Staat investiert eh nichts. Und wenn, dann handelt es sich um mickrige Budgets.

Standard: Ihr Bürohaus Q-Center in der Tsarigradsko-Chaussee steht kurz vor Fertigstellung. Ist die futuristische Architektur dieses Projekts ein Vorgeschmack auf die Zukunft Sofias?

Bratkova: Ja, das wäre natürlich schön! Aber nein, Sofia wird anders aussehen. Die Wahrheit ist, dass derartige Projekte unglaublich viel Kraft und viel Zeit kosten. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Wir haben ja noch genug Energie, aber ich kann gut nachvollziehen, dass viele ältere Architekten längst aufgegeben haben.

Standard: Sie geben nicht auf?

Bratkova: Wir haben eben erst angefangen! Das Büro Aedes Studio gibt es erst seit sechs Jahren. So schnell wird uns das System nicht in die Knie zwingen.

Standard: Was ist Ihr Motor?

Bratkova: Unsere Architektur. Und zwar nicht die naive Sichtweise, dass wir mit unseren Gebäuden das Land verbessern können. Ach wo, das ist eine Illusion! Aber ich bin davon überzeugt, dass wir der Bevölkerung eine Idee davon geben können, was in Bulgarien heutzutage alles möglich ist, wenn man nur will. Wir verwenden unsere Architektur sozusagen als Motor der Vorstellungskraft. Noch ist der Funke nicht übergesprungen. Aber wer weiß, vielleicht schon mit dem nächsten Projekt.

[ Zur Person: Rossitza Bratkova (32) leitet mit ihrem Partner Plamen Bratkov das Architekturbüro Aedes Studio. Das Büro ist spezialisiert auf Projekte im Wohn- und Objektbereich. ]

Der Standard, Fr., 2009.10.09

03. Oktober 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Roosevelts Erektionen

Warum hat noch niemand die Geschichte der TV-Türme geschrieben? Gesagt, getan: Das politische Machtspiel der Nationen ist nun zwischen zwei weit voneinander entfernten Buchdeckeln nachzulesen.

Warum hat noch niemand die Geschichte der TV-Türme geschrieben? Gesagt, getan: Das politische Machtspiel der Nationen ist nun zwischen zwei weit voneinander entfernten Buchdeckeln nachzulesen.

„Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“, hatte Lenin vor der staatlichen Plankommission Gosplan gemeint. Das war 1920. Achtzig Jahre später wird die wohl berühmteste Formel Moskaus dem Land zum Verhängnis. Der Eiserne Vorhang ist gefallen, das neue Russland längst den Reizen des Turbokapitalismus anheimgefallen, da kommt es am 27. August 2000 um 15.20 Uhr Ortszeit im Fernsehturm Ostankino zu einem Kurzschluss. Der Sendeverstärker hat der Überlastung nicht standgehalten.

In wenigen Minuten breiten sich die Flammen aus und zerstören in weiterer Folge die gesamte Kanzel. Als wäre das nicht genug, stürzt auch noch der Lift mitsamt Techniker 340 Meter in die Tiefe. Auf ihn fallen Gegengewichte und stählerne Aufzugseile mit einer Gesamtlänge von drei Kilometern. Die schreckliche Ungleichung nach 26-stündigem Feuer: vier Tote und ein Land ohne Rundfunkwellen.

„Einerseits ist das eine Katastrophe, andererseits eine Ironie der Historie“, sagt der deutsche Architekturtheoretiker und Buchautor Friedrich von Borries. „Dreißig Jahre lang hat der Ostankino-Fernsehturm dem kommunistischen Regime seinen Dienst erwiesen. Und plötzlich, mit der Ausbreitung des kapitalistischen Lebensstils, steht der Funkturm in Flammen. Und das nicht nur einmal, sondern ganze vier Mal in den letzten zehn Jahren.“

Mittlerweile ist das Bauwerk gesperrt. Durch die vermehrten Brände haben die meisten der insgesamt 180 vorgespannten Stahlseile im Innern der Betonröhre ihre Zugkraft verloren. Der Turm droht einzustürzen, eine Sanierung ist aufgrund der komplexen Bauweise kaum möglich.

„Fernsehtürme sind eine faszinierende Bautypologie“, sagt von Borries, „ausgestattet mit Rundfunkantenne und der Kür eines sich drehenden Panoramarestaurants, sind sie nicht nur die höchsten Bauwerke einer Stadt, sondern auch Ausdrucksmittel politischer und wirtschaftlicher Macht. In der Baugeschichte des 20. Jahrhunderts wird ihnen dennoch nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt.“

Mit seinen beiden Partnern Matthias Böttger und Florian Heilmeyer kratzte von Borries daher das gemeinsame Wissen zusammen, peppte es mit einigen weiteren Forschungsreisen auf und presste das Kompendium schließlich in ein vorzüglich aufbereitetes Buch, das den summigen Titel Fernsehtürme. 8.559 Meter Politik und Architektur trägt.

„Wir haben weltweit rund 25 Türme auf ihren geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontext hin untersucht“, blickt von Borries zurück, „und haben dabei herausgefunden, dass die Aussendung elektromagnetischer Wellen aus möglichst großer Höhe nicht immer im Vordergrund steht.“ Es sei bemerkenswert, mit welcher Kontinuität Fernsehtürme immer wieder in den Einflussbereich internationaler Querelen rücken. Fast scheint es, als würden sie nicht nur als physikalische Sender fungieren, sondern auch als metaphorische.

Die Tücke der Türme

Zu erzählen gibt es genug. Beispielsweise jenes folgenschwere Missgeschick, durch das die Übersetzer der US-amerikanischen Regierung beinahe ein internationales Debakel ausgelöst hätten. Nachdem Kermit Roosevelt Junior, CIA-Offizier und Enkel von US-Präsident Theodor Roosevelt, 1956 in eine Schmiergeldaffäre zwischen Ägypten und den USA verwickelt gewesen war, bekam der fünf Jahre später, mit ebendiesen Schmiergeldern fertiggestellte Cairo Tower prompt einen Spitznamen verpasst.

Die Ägypter sprachen fortan nur noch vom waqf Roosevelt, sozusagen vom Fundament des netten und spendablen Herrn aus Übersee. Die Pein an der Sache: Die arabische Schreibweise wurde von den Übersetzern, anstatt in waqf, in waqef transkribiert. Der unscheinbare Vokal verwandelte das Fundament kurzerhand in Roosevelts Erektion. Die internationale Beziehung zwischen Washington und Kairo wurde dadurch nicht besser.

Doch welche Rolle spielen Fernsehtürme heute noch? „Im Kalten Krieg war der Wettstreit der Nationen auf die Großmächte konzentriert“, erklärt Friedrich von Borries, „mittlerweile ist das jahrzehntelange Höhenmetergerangel in Europa und Nordamerika weitestgehend beendet.“ Den Bedarf nach Antennenmasten decken in den meisten Großstädten bereits Hochhäuser ab. Im Gegenzug hat sich der Kampf um den Längsten und Höchsten auf die Staaten im Nahen, Mittleren und Fernen Osten verlagert.

Die beiden Austragungsorte im aktuellen Kopf-an-Kopf-Rennen sind die südchinesische Industriestadt Guangzhou und die Monstermetropole Tokio. Da wie dort sind Fernsehtürme in Bau, die den bisherigen Platzhirsch, den CN Tower in Toronto (553 Meter), vom Podest drängen sollen. Offizielle Höhenangabe: „Circa 610 Meter.“ Der Rest ist Geheimnis.

Ungewöhnlich ist in beiden Fällen die Architektur. Der Sky Tree in Tokio, eine Gitterkonstruktion aus Stahl, ist ein Entwurf von Tadao Ando. Ungern gibt man zu, dass dieser sich bereits zurückgezogen und vom Projekt weitestgehend distanziert hat. In Guangzhou wiederum möchte man den weltweit ersten Fernsehturm mit betont weiblicher Figur vollenden. „Während die meisten Türme eindeutig männliche Attribute hervorkehren“, sagt Mark Hemel vom Amsterdamer Büro Information Based Architecture, „wollten wir einen Turm entwerfen, der stattdessen elegant, graziös und eng tailliert ist. Ganz so wie eine sexy Frau.“

Friedrich Borries, Kenner der Materie, kann das nur bestätigen: „Seit den Anfängen der Fünfzigerjahre ist der Bau von Funktürmen sowohl auf der Bauherrenseite als auch auf der Seite der Planer ausschließlich Männern vorbehalten. Das viele Testosteron wirkt sich auf die Form der Gebäude aus. Der typische Fernsehturm mit Aussichtsplattform sieht aus wie ein Penis mit Eichel obendrauf.“ Der geschmeidige Hüftschwung des Guangzhou Towers sei eine willkommene Abwechslung.

Das Spiel mit den Superlativen hat längst schon eine neue Dimension erreicht. Statt mit militantem Protzen beeindrucken die Fernsehtürme des 21. Jahrhunderts mit Spaßfaktor und Nervenkitzel. Auf dem Guangzhou Tower beispielsweise wird es neben dem obligatorischen Drehrestaurant einen Open-Air-Skywalk geben. Außerdem werden Besucher die Möglichkeit haben, sich in 450 Meter Höhe auf einer rundumlaufenden Reling in einer der 16 gläsernen Kugeln herumdrehen zu lassen.

Die Event-Society geht noch einen Schritt weiter. Im trügerischen Las Vegas war man der Meinung, dass der Stadt zur absoluten Perfektion nur noch eines fehle: ein Fernsehturm. Prompt wurde eine Attrappe aus der Taufe gehoben. In der Kanzel des Stratosphere Towers gibt es Kasino und Rollercoaster. Wo andere Türme von Sendeantennen gekrönt werden, prangt ein sogenannter Big Shot, auf dem die Besucher die letzten 50 Höhenmeter mit vierfacher Erdbeschleunigung in den Himmel katapultiert werden.

Die Buchautoren sind sich einig: „Politischer Kampf, das war gestern. Die neuen Fernsehtürme sind dafür ein Machtinstrument für wirtschaftliche Power, Entertainment und Cash, Cash, Cash.“

Fernsehtürme. 8.559 Meter Politik und Architektur. Von Friedrich von Borries, Matthias Böttger und Florian Heilmeyer. € 28,00 / 288 Seiten. Jovis-Verlag, Berlin 2009

Die gleichnamige Ausstellung ist noch bis 14. März 2010 zu sehen. Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main. www.dam-online.de

Die Fertigstellung des Tokio Sky Tree ist für 2012 geplant. Der Entwurf des 610 Meter hohen Fernsehturms stammt von Tadao Ando. Konkurrenz kommt aus Guangzhou, China. Foto: Nikken Sekkei Ltd.

Der Standard, Sa., 2009.10.03

26. September 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Kalte Platte, warmgemacht

Bauen nach dem Mauerfall: Neben ein paar Glanzstücken zeichnet sich die neue ostdeutsche Architektur vor allem durch den Rückbau alter Plattenbauten aus.

Bauen nach dem Mauerfall: Neben ein paar Glanzstücken zeichnet sich die neue ostdeutsche Architektur vor allem durch den Rückbau alter Plattenbauten aus.

Mit der DDR, da starben auch Wartburg und Trabant. Heute sieht man die drolligen Gefährte aus dünnem Blech und baumwollverstärktem Phenoplast auf Deutschlands Straßen nur noch selten. Umso schmucker erscheint daher die Lehrsammlung für historische Fahrzeuge an der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Als wäre die Zeit stehengeblieben, sind darin einige der wildesten Kreationen germanischer Automobilindustrie ausgestellt. Das Schönste daran: Wenn es der Unterricht verlangt, rückt man den zwölf Exponaten, statt ihnen lediglich mit Samthandschuhen und gebührendem Respekt zu begegnen, mit Schraubenschlüssel und Wagenheber zu Leibe.

Die Lehrsammlung Zwickau, ein Projekt des Leipziger Architekturbüros Schulz & Schulz, wurde vor knapp einem Jahr fertiggestellt. Seitdem wurde der 1,1 Millionen Euro teure Bau mit dem Preis des Architekturforums Zwickau 2009 und dem best architects 10 award ausgezeichnet. Kein Wunder. Eingepfercht zwischen gesichtslosen Institutsgebäuden und DDR-Plattenbauten der übelsten Sorte, ist die zweispurige Schatzkammer nicht nur ein überaus angenehmer Zeitgenosse heutiger Tage, sondern auch ein wertschätzendes Loblied auf die Fünfziger und Sechziger. Man werfe nur einen Blick auf den stählernen Schriftzug Forum Mobile. Eleganter können Buchstaben nicht hängen.

„Der Freistaat Sachsen ist in Sachen Baukultur engagiert und setzt die qualitative Latte mittlerweile recht hoch an“, erklärt Architekt Ansgar Schulz, „ich traue mich sogar zu behaupten, dass die öffentlichen Projekte in Sachsen derzeit zu den besten Deutschlands zählen.“ Zu verdanken sei dies nicht nur den Architekten, sondern auch den exakten Ausschreibungsunterlagen und den sorgfältig zusammengesetzten Jurys. „Qualität ist nicht nur eine Frage des Bauens, sondern auch des wirtschaftlichen und politischen Wollens.“

Das klingt nach einem geradezu vorzüglichen Zeugnis, gespickt mit lauter Einsen. Doch sind die vergleichsweise jungen Blüten zeitgenössischen Bauens auf dem Gebiet der ehemaligen DDR tatsächlich so prächtig wie von Insidern dargestellt? „Leuchttürme moderner Architektur und Initiativen, die zu diversen Höchstleistungen anspornen, gibt es in den neuen deutschen Bundesländern zur Genüge“, erklärt Andreas Denk, Chefredakteur der Zeitschrift der architekt, die monatlich erscheint und vom Bund Deutscher Architekten (BDA) herausgegeben wird, und zählt auf: UFA-Kinopalast Dresden (Coop Himmelb(l)au, 1998), Universitätsbibliothek der BTU Cottbus (Herzog & de Meuron, 2005) oder die erst kürzlich fertiggestellte Überdachung für das Dresdner Residenzschloss (Architekt Peter Kulka, 2009).

Was tun mit dem Plattenbau?

„Doch viel wichtiger als die singulären Spitzenbauten erscheint mir der Grundtenor, der in der neuen ostdeutschen Architekturszene herrscht“, sagt Denk, „und der ist angesichts der widrigen Umstände mehr als positiv.“ Die Widrigkeit, von der hier die Rede ist, bezieht sich vor allem auf die demografische Entwicklung jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Denn seit der Wiedervereinigung haben mehr als 1,7 Millionen Einwohner den Bundesländern im Osten den Rücken gekehrt. Das entspricht einem Rückgang um ein knappes Zehntel. Das zentral gelegene Bundesland Sachsen-Anhalt ist um gar 15 Prozent geschrumpft.

In der Regel zeichnet sich der Job des Architekten darin aus, etwas Neues zu schaffen. In einigen, vom Bevölkerungsschwund besonders stark betroffenen Gebieten ist es jedoch umgekehrt. Prominentestes Beispiel ist die 16.000 Einwohner zählende Stadt Leinefelde-Worbis in Thüringen. Da viele Plattenbauten leerstanden und zu hässlichen Hausleichen in der Stadt mutierten, musste die hohe Schule der Architektur mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln darauf reagieren: mit Abrissbirne, Bagger und Kalkül.

Leinefelde, amputierte Stadt

Ein solcher Pionier, der sich der Amputation alter Bausubstanz angenommen hat, ist Architekt Stefan Forster aus Frankfurt am Main. „Es ist kein Zufall, dass wir als westdeutsches und somit emotionell distanziertes Büro mit dem Rückbau von Plattenbauten begonnen haben“, erklärt Forster. Die Ostdeutschen hätten damals noch viel zu viele Berührungsängste gehabt. „Als wir unser Vorhaben das erste Mal präsentiert haben, meinten die Stadtpolitiker und Bewohner, das sei unwirtschaftlich und technisch nicht möglich.“ Die Zeit und weit über 20 Preise und Auszeichnungen - darunter auch der World Habitat Award 2007 - belehrten die Einwohner von Leinefelde eines Besseren.

Vorsichtig wurden die ungenutzten Plattenbauten bis auf den Rohbau entkernt und um einige Räume und ganze Stockwerke reduziert. „In manchen Projekten haben wir mehr rückgebaut, in anderen weniger“, sagt Forster, „durch die modulare Bauweise der Platten ist das alles nicht so kompliziert. Man schweißt den Bewehrungsstahl los und löst die Platte aus dem Verband.“

Durch die Metamorphose konnten in den letzten zehn Jahren viele unterschiedliche Bautypologien entwickelt werden. Das bauliche Spektrum reicht von der bunten Häuserzeile über loggienbestückte Reihenhäuser bis hin zu frei stehenden Stadtvillen.

„Entgegen der landläufigen Meinung, dass mühsame Sanierung aufwändiger sei als Abbruch und Neubau, ist es uns gelungen, die alten Plattenbauten um rund 900 Euro pro Quadratmeter zu revitalisieren“, sagt Forster, „Wohnraumbeschaffung um diesen Preis ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sinnvoll, was den Ressourcenverbrauch betrifft.“

Einziges Problem am preisgekrönten Rückbauprogramm: Da die massiven Stahlbetonplatten kaum Eingriffe zulassen, müssen die Bewohner mit all den damit verbundenen Problemen leben. Größtes Manko ist der Schallschutz. Bei einer monatlichen Miete von vier Euro pro Quadratmeter sei ein derartiges Zugeständnis allerdings verkraftbar, meint der Architekt.

Heute ist Leinefelde, das vor 20 Jahren noch im Schatten der nahegelegenen Mauer vor sich hindöste, zu neuem Leben erwacht. Statt graubrauner Plattenbauwüste wie zu Honeckers Zeiten gibt's gesundgeschrumpften Wohnbau im knallig bunten Farbenkleid. Das Konzept trägt Früchte: Erstmals seit 1989 ist der Bevölkerungsschwund in der Gemeinde Leinefelde-Worbis gestoppt. Nach Auskunft des Architekten gibt es sogar erste Anzeichen dafür, dass sich im Laufe des nächsten Jahres gleich eine Handvoll neuer Betriebe ansiedeln wird. „Das Gröbste scheint überstanden“, so Forster.

Bauen mit dem Erbe der DDR

„Hübsche Projekte wie die Lehrsammlung für historische Fahrzeuge in Zwickau sind wichtige Leuchttürme einer Architekturszene“, fasst Andreas Denk zusammen, „doch wie sich herausstellt, besteht die eigentliche und spezifische Bauaufgabe der Post-DDR im behutsamen Rückbau und in der intelligenten Revitalisierung alter und ungenutzter Bausubstanz.“ Es zeuge von gegenseitigem Respekt, das bauliche Erbe der DDR zu erhalten und mit heutigen Mitteln bestmöglich zu transformieren, so Denk. „Der Stadtumbau in Leinefelde ist ein gutes Beispiel dafür.“

Selbst wenn die dunkle Ära der Deutschen Demokratischen Republik zu Ende ist, dürfe man nicht außer Acht lassen, dass diese 40 Jahre trotz all ihrer Schattenseiten für eine ganze Generation identitätsstiftend waren. Dass man den Palast der Republik auf der Berliner Museumsinsel abgerissen hat, ist dem ausgebildeten Architekturhistoriker ein Rätsel.

„20 Jahre später tauchen aus dem Nichts eingebildete Menschen auf, zerstören einen Teil der Geschichte, aus der man wertvolle Lehren für die Zukunft ziehen könnte, und wenden sich wieder alten, preußischen Idealen zu. Ist die Rekonstruktion des Stadtschlosses wertvoller als der Palast der Republik?“ Ein derartiger Umgang mit der Vergangenheit entzieht 15 Millionen Deutschen ihren Boden.

Die Bevölkerung in den neuen Bundesländern schwindet. In einigen Gebieten schaffen die Architekten daher nichts Neues, sondern bauen mit Abrissbirne, Bagger und Kalkül.

Der Standard, Sa., 2009.09.26

12. September 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Es flasht nur kurz und illegal

Charlie Todd hat schon etliche Flashmobs organisiert. Doch wie öffentlich ist die Öffentlichkeit wirklich? Wojciech Czaja hat seine Gedanken gehackt.

Charlie Todd hat schon etliche Flashmobs organisiert. Doch wie öffentlich ist die Öffentlichkeit wirklich? Wojciech Czaja hat seine Gedanken gehackt.

Wem gehört der öffentliche Raum?

Charlie Todd: Uns allen! Der öffentliche Raum ist das Wohnzimmer der Gesellschaft. Hier treffen wir uns, hier lernen wir einander kennen, hier gibt's Komik und Klamauk. Verbotstafeln, die darauf hinweisen, dass Gehen, Stehen, Liegen, Trinken, Essen oder Musizieren verboten sind, erscheinen mir suspekt. Menschen, die sich daran halten, ebenso.

Juristisch betrachtet, hat jede Straße, jeder Platz einen Grundstückseigentümer. Gibt es so etwas wie öffentlichen Raum denn überhaupt?

Todd: In New York gibt es eine Vorschrift, dass mit jedem neu zu errichtenden Hochhaus ein Teil des Grundstücks als öffentliche Fläche angelegt werden muss. Das ist eine sehr sinnvolle Maßnahme. Doch Hand aufs Herz: Die wirklichen Fädenzieher im öffentlichen Raum sind die Konzerne. New York ist mit Werbung und Filmankündigungen regelrecht zugepflastert. Wenn die Stadtregierung Werbung duldet, dann muss sie meines Erachtens auch die Inbesitznahme durch Privatpersonen akzeptieren.

Sie haben schon etliche Flashmobs organisiert. Erreicht werden damit nur die Jungen und Vernetzten. Was ist mit all den anderen?

Todd: Flashmobs gibt es heute schon auf der ganzen Welt. Die Leute organisieren sich über Facebook und Twitter. Ich halte es allerdings für ein Vorurteil, dass diese Medien nur die Jugend erreichen. Zu den ersten Flashmobs 2003, da kamen nur Leute wie du und ich. Männlich, weiß und keine 30 Jahre alt. Doch die Situation hat sich geändert. Zu den Mobs, die wir heute organisieren, kommen Rechtsanwälte, Künstler und Studenten, aber auch Großmütter mit ihren Enkelkindern.

Urban Hacking ist niemals von Dauer. Flashmobs dauern in der Regel nur ein paar Minuten. Heißt das, dass die langfristige Aneignung des öffentlichen Raumes zum Scheitern verurteilt ist?

Todd: In den meisten Fällen handelt es sich um unbewilligte, ja sogar um illegale Projekte. Sie müssen temporär sein, sie können gar nicht ewig dauern. Ich denke, dass genau in diesem Umstand der Reiz des Hackens liegt. Nichts ist für die Ewigkeit bestimmt, schon wenige Stunden später kann jemand anderer auf seine eigene, ganz persönliche Weise den Raum in Anspruch nehmen.

Wenn Sie die Gesellschaft im Wandel der Zeit betrachten: Leben wir heutzutage eher offen oder eher zurückgezogen?

Todd: Dank Facebook und Twitter leben wir öffentlicher als je zuvor - zumindest in sozialer Hinsicht. Jeder weiß, ob wir in der Nase bohren oder nicht.

Und räumlich?

Todd: Oft das absolute Gegenteil! Die neuen Technologien haben die Face-to-Face-Interactions auf ein Minimum reduziert. Oft leben wir die soziale Komponente nur noch digital aus. Umso wichtiger ist das Handeln in der Realität.

Ein persönlicher Abschluss: Wo verbringen Sie Ihre Freizeit lieber? Zu Hause oder im Park?

Todd: Ich bin süchtig nach Interaktion. In meiner Freizeit sitze ich am liebsten irgendwo in einer Bar. Oder ich fahre U-Bahn und höre den Leuten zu, wie sie mit ihren Liebsten telefonieren. Willst du Steak oder Sushi? Du, ich komme später. Ja, ich dich auch. Aber was soll ich sagen? Ich habe wenig Freizeit. Ich arbeite so viel am Computer, dass ich in nichtdigitaler Hinsicht längst schon zum Nesthocker mutiert bin.

Der Standard, Sa., 2009.09.12

12. September 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Das verlängerte Wohnzimmer

Wem gehört die Stadt? Was ist erlaubt? Und was ist verboten? Den Urban Hackern ist das egal. Sie nehmen in Anspruch, was ihnen gebührt. Recht so.

Wem gehört die Stadt? Was ist erlaubt? Und was ist verboten? Den Urban Hackern ist das egal. Sie nehmen in Anspruch, was ihnen gebührt. Recht so.

Grand Central Station, New York. Hektisch bewegt sich die halbe Stadt durch den Bahnhof, den Kaffeebecher in der einen Hand, die Tasche in der anderen, das Handy am Ohr. Lautsprecherdurchsagen, quietschende Räder, quatschender Lärm. Und plötzlich, als hätte jemand auf den Stand-by-Knopf gedrückt, erstarrt ein Teil des Publikums - und Stille.

Fünf Minuten lang stehen die Menschen reglos im Stechschritt, beim Telefonieren oder mit der frisch geschälten Banane im Mund. Etwas bang ob der entrischen Situation schleichen die Uneingeweihten zwischen den toten Menschenskulpturen umher, checken den Ernst der Lage, piksen den Pendlerkollegen zaghaft in die Schulter. Und dann, klick, wie von Zauberhand, nimmt das Treiben seinen Lauf, als wäre nie etwas gewesen. Applaus.

Die ersten Flashmobs (siehe Interview) gab es 2003. Sie sind der kurzlebige Versuch, den öffentlichen Raum, der allen und niemandem zugleich gehört, in Besitz zu nehmen und zum Wohnzimmer der Nation zu erklären. Wenn's sein muss, auch illegal.

Das derzeit in Wien stattfindende Festival paraflows 09 widmet sich ebendiesem Thema, dem sogenannten Urban Hacking. „Der Begriff Hacken hat seit den Hollywood-Filmen einen fahlen Beigeschmack“, sagt Festivalleiter Günther Friesinger, „ursprünglich war ein Hack nichts anderes als der Ausdruck für journalistisches Arbeiten mit ungewöhnlichen, unorthodoxen Mitteln. Genau darum geht es beim Urban Hacking. Um das Aufbrechen der Konventionen im städtischen Raum - und zwar ganz ohne bösen Hintergedanken.“

Wem gehört das Blumenbeet?

Friesingers Lieblingsprojekt im Rahmen des Festivals trägt den unscheinbaren Titel Interception. Dabei knackt der gebürtige Pole Roch Forowicz in einer U-Bahn-Station den Code einer Überwachungskamera und projiziert die Bilder, statt sie in die Wachstube zu schicken, direkt auf die gegenüberliegende Wand.

Doch man muss nicht unbedingt MacGyver sein. Der Wiener Künstler Bernhard Hosa beispielsweise schnappt sich Kübel, Schwamm und Seifenlauge und begibt sich damit in den Park. Mit beispielloser Hingabe macht er sich an einen städtischen Mistkübel heran, entleert ihn bis zum letzten pickigen Kaugummi und poliert das blecherne Ungetüm leidenschaftlich auf Hochglanz. Danke im Namen der Stadt.

Nützlich sind auch die Aktionen im Rahmen des sogenannten Guerilla Gardenings. Dabei werden unter anderem unhübsche, von städtischen Behörden überaus fantasielos gestaltete Blumenbeete umgeharkt und neu bepflanzt. Manchmal kommt es vor, dass aus dem Briefkastenschlitz eine unschuldige Primel ihre Blütenblätter reckt.

Niemand, aber auch wirklich niemand eignet sich die Stadt jedoch so flott und so fesch an wie die Traceure. In der vom Franzosen David Belle begründeten Sportart Le Parkour geht es um die Zurücklegung einer Wegestrecke von A nach B - und zwar auf die kürzeste und schnellstmögliche Weise. Im Idealfall handelt es sich dabei um die Luftlinie. Unbeeindruckt ob der baulichen Hindernisse, die sich einem immer wieder in den Weg stellen, sprinten die Traceure drauflos, hüpfen von einem Mauervorsprung zum nächsten, schweben schwerelos geschmeidig durch den öffentlichen Raum.

Wer hätte gedacht, dass die größte Parkour-Community dieses Landes in St. Pölten zu Hause ist? Um den Traceuren der Austrian Freestyle Foundation (AFF) angemessene Übungsmöglichkeiten zu bieten, wurde zu Beginn dieses Jahres ein löbliches Projekt ins Leben gerufen. Direkt vor dem Festspielhaus, quasi inmitten der niederösterreichischen Regierungsviertelwüste, sollte eine rund sechs Meter hohe und vielfältig nutzbare Skulptur entstehen. Optik für die einen, Turngerät für die anderen.

Übernächste Woche sollte das schöne Stück der Öffentlichkeit übergeben werden. Doch weil Österreich nun mal Österreich ist, wurde im letzten Moment ein Rückzieher gemacht. „Es war ein tolles und in der Herangehensweise sehr ungewöhnliches Projekt“, sagt Architektin Gabu Heindl, „als Erstes musste ich die unterschiedlichen Bewegungsabläufe einstudieren. Unglaublich, wozu ein menschlicher Körper imstande ist.“

Woran ist das Projekt gescheitert? „An mangelnder Sicherheit“, erklärt Gerhard Tretzmüller, zuständiger Abteilungsleiter für Gebäudeverwaltung in Niederösterreich. „Das größte Problem ist, dass da keine Versicherung mitspielt.“

Urbane Hackkunst, wie sie leibt und lebt: Den Traceuren macht das nichts aus. „Es liegt in der Eigenheit dieses Sports, dass er überall stattfinden kann“, sagen sie, „auch wenn man ihn verbietet.“

Heute, Samstag, 19 Uhr ist im Haupthof des Wiener Museumsquartiers ein MP3-Flashmob geplant. Anweisungen und Informationen dazu gibt es auf www.improveverywhere.com/ missions/the-mp3-experiments/vienna

Das Festival paraflows 09 läuft noch bis 20. September. Weitere Infos unter www.paraflows.at

Der Standard, Sa., 2009.09.12

09. September 2009Wojciech Czaja
db

Krabbelstube

Als riesige Grasnarbe taucht der Kindergarten inmitten von Wiesen, Feldern und lockerer Bebauung auf. Doch er ist nicht nur äußerlich grün. Die Farbe steht zudem für eine ökologische und pädagogisch-liberale Geisteshaltung. In enger Abstimmumg mit den Pädagogen entwarfen die Architekten ein offenes Haus, in dem sich die Kinder erfreulich frei bewegen und entfalten können.

Als riesige Grasnarbe taucht der Kindergarten inmitten von Wiesen, Feldern und lockerer Bebauung auf. Doch er ist nicht nur äußerlich grün. Die Farbe steht zudem für eine ökologische und pädagogisch-liberale Geisteshaltung. In enger Abstimmumg mit den Pädagogen entwarfen die Architekten ein offenes Haus, in dem sich die Kinder erfreulich frei bewegen und entfalten können.

Sighartstein, irgendwo im Flachgau, irgendwo im Norden der Mozartstadt Salzburg. Die Fahrt führt zwischen schmucken, bunt verputzten Häusern am Hauptplatz vorbei, dreimal um die Ecke, den Hügel hinauf bis zum Ende der Straße, und plötzlich steht sie da, die grau verputzte Kiste (Stahlbeton-Bauweise mit Wärmedämmverbundsystem) mit ihrem unverwechselbaren Fassadenkleid aus stilisierten, saftig grünen Grashalmen. Harmonisch und gut getarnt fügt sich der Baukörper in die Landschaft. Je nach Blickwinkel muss man das Haus aus dem sommerlichen Bild, das sich hier bietet, regelrecht »herauslocken«. Die kleinen Menschen, die mit Sandschaufel und Eimer gewappnet regelmäßig durch die Glasfassade hindurch diffundieren, helfen einem dabei: Wo ein Kind, da auch ein Kindergarten.

Wie selbstverständlich wird man an der Rückseite des Hauses entlang des vollflächig verglasten Turn- und Bewegungsraums, wo die Kinder sich ihre Nasen an der Fensterscheibe plattdrücken und Handabdrücke hinterlassen, zum Eingang geleitet. Es ist der erste Einblick in das, was die Architekten einen Bewegungskindergarten getauft haben.

An der Eingangstür angelangt ist das Geschrei der Kinder dem freundlichen Lächeln der Leiterin gewichen. Daniela Rogl sitzt an ihrem Schreibtisch und blickt den ankommenden Besuchern entgegen. »Das war von Anfang an mein Wunsch«, sagt sie, »im Grunde genommen habe ich ein Corner Office; ich sehe auf der einen Seite die Leute, die ins Gebäude eintreten, und auf der anderen die Kinder im Garten. Da hat man alles im Überblick.« Und was meint sie zu der kräftig grünen Farbigkeit? »Mit dem Grün hatten wir am Anfang schon unsere Probleme, aber mittlerweile haben wir uns alle an die Farbe gewöhnt. Ich finde sie, ehrlich gestanden, richtig gut!« Man glaubt es ihr aufs Wort: Grüne Bluse, grüne Weste, grüner Schlüsselanhänger auf dem Tisch.

Die Farbgebung des Kindergartens ist Programm. Und das, ohne jemals ins Kitschige oder Kindische abzudriften. Denn statt aus dem entbehrlichen Fundus an ohnehin schon tausendfach bedienten Klischees zu schöpfen, haben sich die Architekten einzig und allein von der Umgebung inspirieren lassen. »Kindergarten hin oder her, wir hätten wahrscheinlich auch bei einem anderen Funktionsspektrum zu dieser Farbe gegriffen«, erklärt Kerstin Tulke, Projektleiterin im Aachener Büro kadawittfeldarchitektur, das 2003 den international ausgeschriebenen Wettbewerb gewann. »Rund um Salzburg wächst das Gras einfach grüner. Wenn man sich auch nur ein bisschen auf die Umgebung einlässt, dann wird man unweigerlich die bestehenden Motive aufgreifen und ins architektonische Konzept einfließen lassen.«

Nach Betreten des Kindergartens geht es links zu den einzelnen Gruppenräumen mit angeschlossenem Garderoben- und Sanitärbereich; um die Ecke rechts pulsiert das monochrome, apfelgrüne Herz des Hauses, der zweigeschossige Bewegungsraum. Auf rund 70 m² können sich die Kinder hier austoben und ihrem ureigentlichen Drang nach Bewegung folgen. Die freundliche Farbe animiert dazu. An der Decke sind Metallösen angebracht, an denen sich mit einem Handgriff Seile, Strickleitern und Schaukeln befestigen lassen. Der Kautschukboden ist weich und lindert gegebenenfalls den Aufprall. ›

Aggressionspegel gesunken

»Der Bewegungsraum ist das absolute Highlight dieses Gebäudes«, sagt die Kindergartenleiterin. Einerseits werde das Angebot sehr gut genutzt, weil sich die Kinder hier gerne aufhalten. Andererseits diene die alltägliche Bewegung, die nun nicht mehr von Garten und Witterung abhängig ist, nicht zuletzt als psychologischer und sozialer Katalysator. »Seitdem wir diesen Kindergarten besiedelt haben, ist der Aggressionspegel unter den Kindern deutlich gefallen. Das können sowohl Eltern als auch Erzieherinnen bestätigen.« Einziger Nachteil: Es ist ziemlich laut. Daran können auch der weiche Boden und die Akustikdecke nichts ändern.

Aufgrund der knappen Platzverhältnisse (Gesamtnutzfläche 830 m²) war es nötig, den Bewegungsraum mehrfach zu nutzen und ihn mit anderen Funktionen zu überlagern. So gibt der rundum grün gefasste Saal beispielsweise auch für Geburtstage, Weihnachtsfeiern und ähnliches einen perfekten Rahmen ab. Die kreisrunden Oberlichter in der Decke und die kugelförmigen Beleuchtungskörper, die in unterschiedlicher Höhe in den Raum hinab baumeln, unterstreichen den festlichen und doch leicht verspielten Charakter.

Auf der anschließenden Tribüne, die für 100 bis maximal 150 Besucher angelegt ist, können Eltern und Verwandte Platz nehmen und den kleinen Schauspielern auf der Bühne zusehen. Außerdem dient die grüne Zone als Vertikalerschließung. Neben den aufsteigenden Sitzbänken führt eine einläufige Treppe nach oben. Während die etwas älteren Kinder aufgrund der Nähe zum Garten ebenerdig untergebracht sind, halten sich die Allerjüngsten, in ihrer Mobilität noch nicht ganz sattelfest, im Obergeschoss auf. Zwei Krabbelgruppen gibt es derzeit. Optional kann ein etwas kleinerer Ruheraum zu einem dritten Gruppenraum umfunktioniert werden.

Auffällig ist nicht nur die klare und überaus funktionale Anordnung der unterschiedlichen Bereiche, sondern auch die Offenheit im ganzen Haus. »Natürlich haben wir uns eine gewisse Trennung und Zonierung gewünscht, anders lässt sich ein Kindergartenbetrieb ja auch nicht in den Griff kriegen«, erklärt Rogl, »soweit es der tägliche Betrieb jedoch ermöglicht, verstehen wir uns als offenes und barriereloses Haus, in dem sich die Kinder frei bewegen können. Die Architektur unterstützt diese Qualität.«

Offenheit, Transparenz und Autonomie

Die einzelnen Gruppenräume, denen jeweils unterschiedliche Funktionen zugewiesen wurden, sind durch Glastüren miteinander verbunden. Hier ein Kreativraum, da ein Spiel- und Übungsraum, dort ein etwas stillerer Lern- und Leseraum. Eindeutige Zugehörigkeiten von Gruppen und Räumen gibt es nicht, denn jeder hält sich dort auf, wo es ihm gefällt. Das pädagogische Konzept, das in enger Zusammenarbeit zwischen Architekten und Nutzern entstanden ist, geht davon aus, dass vier- und fünfjährige Kinder durchaus in der Lage sind, selbstständig über die eigenen Bedürfnisse zu reflektieren und zu entscheiden. Und das ist löblich.

Je nach Lust und Laune können die Kinder also ungehindert von einem Bereich in den anderen hinüberwechseln. Damit im Augenblick der überschwänglichen Spielfreude nicht der eine oder andere kleine oder große Mensch gegen die Glastür knallt, ist in Augenhöhe (in allen Augenhöhen wohlgemerkt) eine Folierung aus stilisierten Grashalmen angebracht. Auf die Frage hin, ob das Grasmotiv nicht etwas überstrapaziert wird, antwortet die Projektleiterin: »Nein, das sehen wir nicht so. Wir haben uns ganz klar für ein einziges Motiv entschieden. Und dieses taucht von der Fassade bis zu den grün bedruckten Toilettentüren konsequent immer wieder auf. Nicht mehr und nicht weniger.«

Am auffälligsten ist die Fassadengestaltung im Obergeschoss. In einem Abstand von 20 cm vor der thermischen Außenhülle flimmert ein kreuz und quer zueinander gefügtes Stabwerk aus unterschiedlich dimensionierten Aluminiumhohlprofilen. Das ist die neu interpretierte, üppig grüne Flora Österreichs, wie Klaus Kada und Gerhard Wittfeld sich ausdrücken. Es ist aber auch ein Hinweis auf das in Anbetracht der Baukosten durchaus ambitionierte Haustechnikkonzept, das völlig unscheinbar im Hintergrund bleibt: Niedrigenergie-Bauweise, Brennwertkessel mit Fußbodenheizung und Sonnenkollektoren auf dem Dach. Wichtig zu erkennen, dass das eingesetzte Grün an diesem Haus nicht nur Farbe ist, sondern auch Ausdruck einer ökologischen und pädagogisch-liberalen Geisteshaltung.

Doch wie gefällt den Kindern der neue Kindergarten? »Gut.« Und was gefällt ihnen am besten? »Grün.«

db, Mi., 2009.09.09



verknüpfte Zeitschriften
db 2009|09 Räume für Kinder

14. August 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Der frische Wind der Geriatrie

Menschen im Alter bilden eine Bevölkerungsgruppe mit individuellen Bedürfnissen. Doch wie wohnt es sich jenseits der 75? Eine Ausstellung gibt Antwort.

Menschen im Alter bilden eine Bevölkerungsgruppe mit individuellen Bedürfnissen. Doch wie wohnt es sich jenseits der 75? Eine Ausstellung gibt Antwort.

Auf den ersten Blick der ganz normale Vorstadtwahnsinn. Die Straßen krümmen sich wie Schlangen übers Land, in den Vorgärten ist kein Grashalm länger als einen Inch, und über allem flattern patriotisch die immergleichen Stars and Stripes. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt Joe (65) mit Baseball-Käppi und Gartenschlauch in der Hand. „Ach ja, immer nur geradeaus. Am besten, Sie fahren den Damen im Golfcar hinterher.“

Sun City Center, Florida, ist eine Rentnerstadt. Wie auch in allen anderen Sun Cities in den USA - und davon gibt es schon weit mehr als ein Dutzend - sind die Aufnahmebedingungen überaus streng. Sesshaft machen darf sich nur, wer bereits oft genug Geburtstag gefeiert hat, wer sich zum geselligen Zusammenleben verpflichtet und wer die vielen Dos and Don'ts dieser künstlichen Enklave respektiert. Das Mindestalter beträgt 55 Jahre, verboten sind dafür Wäscheleinen, Zäune und laute Musik.

Doch wie es scheint, mangelt es nicht an Interessenten. Seit seinem Entstehungsjahr 1962 ist Sun City Center auf mittlerweile 20.000 Einwohner angewachsen. Und es wird größer und größer. Neben 160 Golf-löchern, 200 Vereinen vom Strickverband bis zur Drama-Group und einem stadteigenen Krankenhaus gibt es nicht zuletzt die Garantie, ungestört im greisen Rahmen altern und sterben zu dürfen - fernab von Großstadtlärm, Jugendkultur und Kriminalität.

„Eine Katastrophe“, sagt Alexander Neuhold. Er muss es ja wissen, ist er doch Leiter der Hausgemeinschaft Erdbergstraße, einer Einrichtung des Evangelischen Diakoniewerks, die sich auf die Pflege älterer, großteils bettlägeriger Menschen spezialisiert hat. „In Österreich und speziell in Wien gehen wir nun endlich dazu über, die Ghettoisierung nach Altersgruppen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vermeiden. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Statt der üblichen 50, 60 oder gar 70 Betten innerhalb einer Station, wie dies früher üblich war, werden die Wohn- und Pflegegruppen zunehmend kleiner. Ganze 13 Männer und Frauen, allesamt in Einzelzimmern untergebracht, wohnen in einer der drei Wohngruppen mit Blick auf Donaukanal und Gasometer. Und auch das ist nach Auskunft des Experten schon viel zu viel, um einer individuellen Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner ernsthaft nachgehen zu können. „Man kann die Gruppen nicht klein genug halten“, so Neuhold.

Integriert und selbstverwaltet

Wichtigster Punkt in der Wohnraumbeschaffung für ältere Menschen ist die Dezentralisierung, also die möglichst breite Streuung innerhalb der Stadt. Das ist das absolute Gegenteil des amerikanischen Sonnenstadtkonzepts. Statt der einstigen Massenabfertigung à la Lainz sollen den Senioren in Zukunft nämlich viele unterschiedliche Lebensformen zur Verfügung stehen. Je nach Wunsch und Bedarf reicht das Angebot von autonomen, selbstverwalteten Wohngruppen, über generationenübergreifende Wohnheime bis hin zu serviciertem Wohnen und zu dem, was man bisher als geriatrisches Zentrum bezeichnete.

Auffällig ist, dass man im Umgang mit den Alten neuerdings die Zunge hüten muss. „Der Begriff Geriatriezentrum wird heute nicht mehr so oft verwendet“, sagt etwa Franziska Leeb, die derzeit an einer Buchpublikation für den Wiener Krankenanstaltsverbund arbeitet (erscheint im Herbst 2009), „lieber spricht man in Fachkreisen von sogenannten Wohn- und Pflegeheimen.“ Und auch sonst: Statt Bettlägerigkeit ist von Pflegestufe 4 bis 7 die Rede, bei der Eingrenzung des Altersspektrums wiederum bevorzugt man statt der bisherigen Pensionisten die Bezeichnung 50 plus, Golden Age oder - auch das gibt es - Senior Citizen.

Wie auch immer man die Bevölkerungsgruppe jenseits der straffen Haut und strammen Wadeln bezeichnet, die Damen und Herren werden jedenfalls mehr und mehr. Derzeit sind rund acht Prozent aller Wienerinnen und Wiener älter als 75, bis 2050 soll der Anteil auf zwölf Prozent steigen. Um sich auf die demografische Wende vorzubereiten, werden seit einigen Jahren laufend Architekturwettbewerbe ausgeschrieben. Einer nach dem anderen. Und das ist erst der Anfang.

Einen ersten umfassenden Überblick über die neuen Alterswohnprojekte, die entweder schon bezogen sind oder sich noch in Planung und Bau befinden, bietet das Architekturzentrum Wien. Seit gestern, Donnerstag, ist in der alten Halle die Ausstellung Ich wohne, bis ich 100 bin. Red Vienna, Grey Society zu sehen.

„Das Interessante an all diesen Projekten ist, dass es erstmals in der Geschichte des seniorenorientierten Themenwohnbaus keine wirklich durchgehende Linie gibt“, sagen die beiden Ausstellungskuratoren Heidi Pretterhofer und Dieter Spath vom Wiener Büro arquitectos. „Das mag zunächst einmal eigenartig klingen, doch im Grunde ist das der Beweis dafür, dass sich ältere Leute nicht über einen Kamm scheren lassen, sondern so individuell zu behandeln sind wie alle anderen auch.“

Sechs Monate lang brüteten die beiden Architekten über diversen Wohnbauvorhaben ihrer Kollegen. Unter ihre Fittiche kamen unter anderem die Bike-City („Wenn man mit einem Fahrrad in die Wohnung kommt, dann auch mit einem Rollstuhl oder Rollator.“), das Frauenwohnprojekt ro*sa Donaustadt sowie das sogenannte Neunerhaus in Favoriten, das obdachlosen Senioren ein Dach über dem Kopf bietet. Auch generationenübergreifende Wohnprojekte und Pflegeheime wurden untersucht.

Eine Gemeinsamkeit gibt es trotz aller Unterschiedlichkeit dann aber doch: „Neben den behördlichen Selbstverständlichkeiten wie Wendekreis und Türdurchgangsbreiten fällt bei vielen Projekten auf, dass die Erschließungsflächen ungewöhnlich groß dimensioniert sind“, erklären Pretterhofer und Spath, „viele Architekten neigen sogar dazu, die Gänge als Straßen und die Aufenthaltsbereiche als Piazza oder Dorfplatz zu bezeichnen.“

Warum tun sie das? „Bei größeren Wohn- und Pflegeheimen besteht die Gefahr, dass sie zu regelrechten Bettenmaschinen verkommen“, sagt etwa Helmut Wimmer, der in Wien-Leopoldstadt gerade ein neues Geriatriezentrum plant, Fertigstellung Frühjahr 2010. „Aus diesem Grund bedarf es einer Zonierung und Individualisierung. Aber auch auf der emotionalen Ebene muss man sich etwas einfallen lassen. Ein gewisses Augenzwinkern mitsamt Straßen- und Platzbezeichnungen ist sicher keine schlechte Idee.“

Das Alter darf ruhig bunt sein

Konkret: Das gesamte Gebäude wird thematisch in viele kleine Siedlungen zerlegt, wobei jeder dieser Gruppen ein eigenes Farbkonzept von Oskar Putz zugrunde liegt. Vor dem kreativen Impetus der Muse gibt es kein Entkommen: Bisweilen passiert es, dass der Boden hellblau ist und die Wände pink. Wimmer: „Dagegen kann man sich nicht wehren. Das ist der frische Wind der Geriatrie.“

So sieht er also aus, der kleine, aber feine Unterschied zwischen postmoderner Sonnenstadt und traditioneller Alpenrepublik. Während hierzulande alles Mögliche getan wird, um im Dialog zwischen Jung und Alt möglichst neutrale und möglichst integrative Lebensformen zu finden, zieht sich in Florida eine ganze Bevölkerungsgruppe kollektiv zurück. Unbemerkt vom städtischen Treiben sterben sie golfspielend, wollstrickend und humorlos dem Tod entgegen. Das kann unmöglich die Zukunft des Alterns sein.

[ Ich wohne, bis ich 100 bin. Red Vienna, Grey Society im Architekturzentrum Wien. Mit einer begehbaren Installation, die von Studenten der ETH Zürich gebaut wurde. Bis 5. Oktober 2009 ]

Der Standard, Fr., 2009.08.14

08. August 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Hauptstadt verleiht Flügel

Neues Wahrzeichen für Linz 09: Nach 200 Jahren voller Lücken und Tücken hat das Stadtschloss nun wieder einen Südflügel. Ein Spaziergang.

Neues Wahrzeichen für Linz 09: Nach 200 Jahren voller Lücken und Tücken hat das Stadtschloss nun wieder einen Südflügel. Ein Spaziergang.

„Manchmal ist die Katastrophe der treibende Baumeister“, sagt der 33-jährige Martin Emmerer, grau gekleidet vom Absatz bis zum Jackenkragen, „ohne den Großbrand im Jahr 1800 wäre dieses Projekt wahrscheinlich niemals zustande gekommen.“ Die wütenden Flammen hatten den Südtrakt damals zu Schutt und Asche zermalmt. Seit kurzem ist die Brandwunde im Linzer Stadtschloss wieder geschlossen. Über der alten Burgmauer, eingeklemmt zwischen Ost- und Westflügel, schwebt eine standesgemäß grau getünchte Kiste aus Stahl und Glas.

Dem neuen Südflügel ist es zu verdanken, dass das Schlossmuseum Linz nun das größte, in einem Haus untergebrachte Universalmuseum Österreichs ist. Die Sammlung reicht von der Frühgeschichte über Volkskunde und Musik bis hin zu zeitgenössischer Kunst. Schon bald werden im Neubau jene zwei Sammlungen zu sehen sein, die aus Platzgründen lange Zeit im Lager versperrt waren: Technik und Natur.

„Natürlich ist das Gebäude in erster Linie ein Museum“, sagt Architekt Emmerer, einer von drei gleichberechtigten Partnern des etwas namensschwangeren Grazer Architekturbüros Hope of Glory. „Aber auch in städtebaulicher Hinsicht ist das Projekt sehr wichtig, weil es das Stadtschloss oben auf dem Berg endlich wieder ins Bewusstsein der Bevölkerung rückt.“ Lange Zeit, meint Emmerer, habe es so ausgesehen, als wüssten die Linzer gar nicht mehr, dass sie ein Stadtschloss haben. Nun wissen sie's.

Entgegen vielen anderen Projekten, die beim internationalen Wettbewerb 2006 eingereicht wurden, überzeugte jenes von Hope of Glory die Jury aufgrund seiner Offenheit. Anstatt den Bauplatz lückenlos zu schließen, beschlossen Emmerer und seine beiden Partner Hansjörg und Clemens Luser nämlich, in der Gebäudekubatur eine riesige Aussparung vorzusehen - ganz so wie beim Lentos Kunstmuseum unten an der Donau.

„Wenn man schon an so einem prominenten Ort baut, dann muss man sich der städtebaulichen Potenziale bewusst sein“, sagt der Architekt. „Bis auf den Pöstlingberg gibt es in Linz nirgendwo einen Punkt, von dem aus man die Stadt überblicken kann. Diese Sichtachse unwiederbringlich zu schließen wäre ein fataler Fehler gewesen.“ Und tatsächlich: Das urbane Loch wird gut angenommen. Im Sommer beschattet, im Winter vor Wind und Witterung beschützt, beugen sich die Besucher weit über das Geländer und sehen hinunter auf die Stadt.

Scheinbare Schwerelosigkeit

Von der waghalsigen Konstruktion des darüberliegenden Gebäudes scheinen sie wenig zu bemerken. Leichtfüßig und elegant pfeift das 30 Meter lange Brückenbauwerk ohne eine einzige Stütze über die knapp 1000 Quadratmeter große Aussichtsterrasse hinweg. An den Altbau dockt der neue Riegel lediglich mit zwei schlanken Stahltraversen an - eine Vorgabe des Statikers, der mit diesem pinzettenhaften Eingriff den kühnen Entwurf der Architekten auf den Boden der Realität zurückholte.

Während die geböschten Fassaden im Hof den Eindruck einer proper geschnitzten Skulptur vermitteln (man könnte auch an ein liegendes Hochhaus von I. M. Pei denken), regiert in den Innenräumen die hohe Schule des Sichtbarmachens. Hinter rautenförmigen Gläsern und schimmerndem Streckmetall geht's ans Eingemachte: Dicke Fachwerksträger durchwandern den Ausstellungsraum im Obergeschoß, die eingesetzten Materialien sind unverputzt und unverblümt, über der grob gelochten Akustikdecke zeichnen sich die Konturen von Lüftungsrohren und Leitungen ab. „Das ist ein Museum, in dem technische Exponate ausgestellt werden“, erklärt Martin Emmerer, „warum sollten wir also nicht auch das Innenleben des Hauses zur Schau stellen?“

Von der Eingangshalle geht es über eine Treppe hinunter in die tageslichtlosen Tiefen der Bastei. Das erste Untergeschoß beherbergt eine Dauerausstellung zum Thema Natur, noch einen Stock tiefer befindet sich eine große Halle für Wechselausstellungen. Sichtbeton, grau wie alles andere auch an diesem Haus, setzt sich den Kräften des Erdmassivs zur Wehr.

Die unterirdische Architektur kommt den Anforderungen des musealen Betriebs entgegen, denn die meisten Exponate - darunter zahlreiche ausgestopfte Tiere von der Amsel bis zum Auerhahn - vertragen keine UV-Strahlung. Dass es hier unten, tief im Inneren des Schlossberges, weit und breit keinen Handy-Empfang gibt, ist eine angenehme und dem Museumsbesuch überaus zuträgliche Begleiterscheinung.

Bis zu zwölf Meter tief musste der Bauplatz abgegraben werden. Ein Großteil der Gebäudekubatur (Gesamtnutzfläche 6500 Quadratmeter) liegt damit in der Erde. Das erklärt auch den schlanken und kompakten Baukörper. Nur das Atrium im Hof, das den Werkstätten im untersten Geschoß Tageslicht zuführt, deutet auf die Größe des Museums hin. Emmerer: „Diese künstliche Schlucht ist unsere persönliche Anspielung auf den traditionellen Burggraben. Mit dem einzigen Unterschied, dass man den Restauratoren und Präparatoren bei der Arbeit zusehen kann.“

Nach dem ersten Rundgang durchs neue Schlossmuseum (Nettobaukosten 18 Millionen Euro) kann man nur sagen: nichts zu meckern, passabel und perfekt. Das ist übrigens auch das, was der Grazer TU-Professor Ernst Hubeli sagte, nachdem ihm der Architekturstudent Martin Emmerer mit der Matrikelnummer 9530952 die fixfertigen Pläne zur Benotung vorgelegt hatte. Dass es sich beim Zubau des Linzer Schlossmuseums um eine Diplomarbeit handelt, dürfte das Anforderungsprofil an den österreichischen Architekturfakultäten mit hoher Wahrscheinlichkeit verschärfen. Pech für die heute noch Studierenden.

Das erklärt auch den Büronamen Hope of Glory. „Eigentlich ist es ja verwegen, mitten ins alte Schlossensemble ein Brückenbauwerk aus Stahl und Glas hineinzusetzen“, sagen die Architekten, „doch ehe man sich versieht, ist aus der akademischen Utopie ein reales Bauvorhaben geworden, und man sitzt mit dem Museumsdirektor an einem Tisch.“ Auf Ruhm braucht dieses Büro mit dem paukenschlagartigen Erstlingswerk heute nicht mehr zu hoffen.

Farbe durch Kunst am Bau

Absolutes Highlight abseits der immergrauen Architektur sind die Beiträge der Kunst am Bau. Neben Sepp Auer, Günter Selichar sowie Hauenschild / Ritter konnte sich auch der Wiener Künstler Manfred Erjautz mit einer Arbeit einbringen. Für den Festsaal im scheinbar schwerelos schwebenden Obergeschoß schuf er einen Vorhang aus taubenblauem Samt mit aufgenähten Wellenlinien. „Ich habe mich von der Architektur inspirieren lassen“, sagt Erjautz, „ein Brückenbauwerk hat ja nicht zuletzt auch etwas mit Wasser zu tun.“

Auf den ersten Blick erinnert der Samtvorhang an einen verstaubten Gemeindesaal aus den Siebzigerjahren. Ein bissl mottig das Ganze. Doch wer den aufgestickten Wogenkämmen folgt, der wird darin neben Jesusbildnissen, Spiderman und Che Guevara dutzende von Orden und Wappen sowie zahlreiche Logos aus der globalisierten Welt der Marken erkennen. Selbst ÖBB und Jean Paul Gaultier sind vertreten. Erjautz: „Das ist ein Museum des 21. Jahrhunderts. Ich flute es mit Dingen, die uns beschäftigen.“ Gutes Motto.

Der Standard, Sa., 2009.08.08



verknüpfte Bauwerke
Südflügel - Erweiterung Schlossmuseum Linz

01. August 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Der Kampf der neuen Geister

Die Zeiten Bad Gasteins sind lang vorbei. Der einstige Kurort ist vergammelt und ausgestorben. Doch nun keimen erste Ideen zur Wiederbelebung.

Die Zeiten Bad Gasteins sind lang vorbei. Der einstige Kurort ist vergammelt und ausgestorben. Doch nun keimen erste Ideen zur Wiederbelebung.

Aus den weißen Marmorplatten ragen hunderte von Lämpchen und Schaltern. Die Spannungsmesser und Barometer sind, wie zu Jules Vernes Zeiten, hübsch in Messing gefasst. Gleich daneben kolossale Transformatoren aus blaulackiertem Stahl. Das alte Kraftwerk aus dem Jahre 1914 am Fuße des Gasteiner Wasserfalls erweicht so manches Architektenherz. Doch das Industriegebäude von Architekt Leopold Führer, einem Schüler Otto Wagners, hat weit mehr zu bieten. Vor zwei Wochen etwa diente die alte Turbinenhalle als Kulisse für ein rotziges Techno-Rave.

Bad Gastein, traditioneller Sommerkurort und nunmehriges Wintersportparadies, erlebt eine neue Gründerzeit. Denn während das Zentrum mit seinen leerstehenden Hotels und dem unverwechselbaren Kongresshaus langsam verfällt und wieder von der Natur zurückerobert wird, regt sich aus den jüngsten Etagen der Bevölkerung ein noch nie da gewesener, ungebrochener Elan. Statt mit Ziegel und Mörtel kommen die Bobos und Lohas mit witzigen und spritzigen Ideen daher.

„Dieser Ort hängt noch ein wenig in der Luft“, sagt Olaf Krohne, Geschäftsführer von Krohne Hospitality Projects mit kurzer Hose, Polohemd und Dalmatiner Paulchen an der Leine, „unsere grundsätzliche Idee ist, die derzeitige Situation als einmalige Chance zu begreifen und den Entwicklungsprozess, in dem sich Bad Gastein befindet, aktiv zu vermarkten.“ Mit Erfolg: Vor ein paar Jahren wurde das langfristige Entwicklungskonzept project.badgastein mit dem Salzburger Wirtschaftsförderungspreis ausgezeichnet.

Das Hotel Miramonte, ein Schuhkarton im Sixties-Look, das einst als Herberge für die Mitarbeiter der Österreichischen Nationalbank diente, ist heute ein überaus schicker, mit allerlei Originalmobiliar bestückter Third Place, der vor allem Menschen aus den Creative Industries zum Wohnen und Arbeiten lockt. Architekten, Designer, Fotografen, DJs und Molekularköche aus ganz Europa sitzen gemeinsam am Frühstückstisch und brüten über neuen Ideen für Bad Gastein. Zukunftsguru Matthias Horx, häufiger Gast im Haus, bezeichnet das Miramonte gar als geistige Enklave.

Zahlreiche Ideen wurden hier bereits geboren. So diente das heruntergekommene Hotel Straubinger in der Dorfmitte als Location für nächtliche Clubbings, während im Grand Hotel de l'Europe, das dieser Tage sein 100-jähriges Bestehen feiert, immer wieder Events, Vorträge und Filmprojektionen über die Bühne gehen. Und in Sportgastein, hoch oben in den Bergen, soll eine von Gerhard Garstenauers Aluminiumkugeln (Baujahr 1970) mitsamt anschließender Pistenhütte zu einem Lokal für Skifahrer und Wanderer ausgebaut werden. So soll auch dieses, der Zeit weit voraus gebaute Objekt ein Leben nach dem Tod erfahren. Demnächst werde man das Projekt auf der Baubehörde einreichen.

„Wem in Bad Gastein fad ist, der ist selber fad“, sagt der Wiener Architekt Ike Ikrath, der vor knapp zehn Jahren hierher zog und sich nun in der Hotellerie ansiedelte. „Die Impulse müssen und können nur von außen kommen. Man darf nicht vergessen, dass Bad Gastein von Grund auf keine gewachsene Struktur, sondern eine Retorte ist. Schon damals waren es ortsfremde Unternehmer, die aus der unberührten Natur dieses dichte und urbane Dorf geschaffen haben.“

Genau aus diesem Grund glaubt Ikrath an die Formbarkeit des Ortes. „Kurtourismus und Après-Ski waren gestern. Mit viel Engagement wollen wir das Zielpublikum nun ändern und ein geschärftes Profil ausarbeiten. Das kulturelle Potenzial ist enorm, und ich denke, dass Bad Gastein in einigen Jahren ein Thinktank, eine Art Hochburg für Kreative sein könnte.“

Bono Vox singt nicht mehr

Wäre da bloß nicht der dunkle Schatten des schleichenden Verfalls. Schon seit den Siebzigerjahren bröckelt Gastein unaufhaltsam vor sich hin. Die Kaufkraft schwindet, Geschäfte sterben aus, in den leerstehenden Auslagen krabbeln Wanzen und Asseln umher. Da, wo einst Liza Minnelli und Bono Vox am Fenster standen und den High-Society-Ort mit Weltklasse beehrten, sprießt nun Unkraut aus den Mauerritzen.

In der Hoffnung, sich aus der unattraktiven und wirtschaftlich maroden Erscheinung freikaufen zu können, wurden zwischen 1999 und 2005 einige der wichtigsten und zentralsten Gebäude Bad Gasteins an den Wiener Immobilienmakler Franz Duval veräußert. Hotel Straubinger, Badeschloss, Alte Post, Haus Austria sowie das imposante Kongresshaus des Salzburger Architekten Gerhard Garstenauer wechselten auf diese Weise um fünf Millionen Euro den Besitzer. Ein Schnäppchen.

Doch wie sich herausstellt, ist der vage Traum von einem besseren Bad Gastein wieder einmal zerplatzt. „Herr Duval rührt keinen Finger, sondern sieht zu, wie die historische Bausubstanz vor sich hin rottet“, erklärt Bürgermeister Steinbauer (ÖVP). „Die Wahrheit ist: Solange wir Herrn Duval nicht zum Verkauf bewegen können, wird nichts geschehen. Einige Romantiker haben das noch immer nicht begriffen.“

Und was sagt Franz Duval dazu? Nichts Konkretes. „Bad Gastein ist einer der schönsten Orte Österreichs, und ich glaube, dass es in einigen Jahren wieder zu dem werden kann, was es mal war“, erzählt er dem Standard, „ich werde alles Erdenkliche tun, um diesen Ort zu retten, solange man mir die entsprechende Unterstützung gibt.“ Doch wie diese Rettung konkret aussehen soll, ist noch unklar. Über Details schweigen sich Duval und sein Architekt Franz Wojnarowski (Planer der Cityclub-Pyramide in Vösendorf bei Wien) nämlich aus. Welche Nachnutzungen sind für die betroffenen Gebäude geplant? „Kein Kommentar.“

Bis heute keine Sanierung

In der Zwischenzeit gehen Wind und Wetter den teilweise denkmalgeschützten Häusern an den Kragen. Ins Kongresshaus, das wegen seines jungen Alters (Baujahr 1974) als Einziges nicht unter Denkmalschutz steht, regnet es an allen Ecken und Enden hinein. Letzten Samstag standen Teile des Foyers unter Wasser. Auf dem orangefarbenen Teppich und den vielen Velours-Fauteuils von Mario Bellini (Produzent B&B Italia, Entwurf 1972), für die so mancher Liebhaber ein Vermögen hinblättern würde, liegt zentimeterdick der Schimmel.

Wie kommt es, dass in den Duval'schen Häusern nicht einmal eine längst überfällige notdürftige Bestandssanierung gemacht wird? Laut Sachverständigengutachten würden sich die Sanierungskosten für die vier denkmalgeschützten Häuser auf rund zwei Millionen Euro belaufen. Bei ernsthaft drohender Zerstörung des Denkmals - und davon ist man laut Expertenmeinung nicht mehr weit entfernt - könnte auf Antrag des Bundesdenkmalamts eine Zwangssanierung veranlasst werden. Beim völlig ungeschützten Kongresshaus allerdings gibt es nicht die geringste Handhabe. Hier ist das Objekt dem Wollen und Nichtwollen seines Eigentümers ausgeliefert.

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Das alles war schon kaputt, als wir es gekauft haben“, sagt Duval, das Kongresshaus habe sich im Laufe der Zeit einfach abgelebt. Mysteriöser Nachsatz: „Das Problem wird sich im Laufe der Zeit lösen. Das verspreche ich Ihnen.“

Bei all dem kann Gerhard Garstenauer, der für das Kongresshaus 1975 sogar mit dem Salzburger Architekturpreis ausgezeichnet wurde, nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Der Glanz der alten Tage ist vermodert und verkalkt. Letzteres sogar wörtlich, denn an den Betonfertigteilen hängen bereits kleine weiße Stalaktiten. Sie zeigen die Zeit an. „Was ich zuletzt gesehen habe, hat mir gereicht. Der derzeitige Zustand des Hauses ist eine Kette von Versäumnissen.“

Erstens habe das Bundesdenkmalamt verabsäumt, das Gebäude zum richtigen Zeitpunkt unter Denkmalschutz zu stellen, was bei einem derart ungewöhnlichen und für das Ortsbild prägenden Bau in keiner Weise nachvollziehbar sei. „Ich verstehe nicht, warum die Behörden immer glauben, dass Bauten aus der Nachkriegszeit nicht schützenswert sind!“

Und zweitens, so Garstenauer, sei der sich über Jahre hinziehende Ausverkauf der Stadt und die darauffolgende, unausweichliche Verwahrlosung des Zentrums Ausdruck der Unbildung der politisch tätigen Leute im Ort. „Ich sag's ganz ehrlich: Ich glaube nicht mehr an die Rettung des Kongresshauses. Es wird eher ein öffentliches Ärgernis eintreten als eine Erhaltung des Gebäudes.“

Das müsse man erst prüfen, sagt Barbara Neubauer, Präsidentin des Bundesdenkmalamts. „Fest steht, dass vom neuen Eigentümer niemals konkrete Planungen vorgelegt wurden und dass offenbar kein gesteigertes Interesse daran besteht, das Kongresshaus in absehbarer Zeit einer Nutzung zuzuführen. Dem Gebäude tut das sicher nicht gut.“ Aus diesem Grund soll in den nächsten Monaten untersucht werden, ob eine Unterschutzstellung des Kongresshauses aus wissenschaftlicher und historischer Sicht sinnvoll und zielführend ist.

Ganz so einfach sei die Sache mit dem Denkmalschutz aber nicht: „Gerade bei Bauten aus der Nachkriegszeit ist die Bausubstanz erfahrungsgemäß oft sehr schlecht. Es macht wenig Sinn, ein Gebäude unter Schutz zu stellen, wenn sich dann im Zuge der Sanierung und Anpassung an die aktuellen Bauvorschriften herausstellt, dass 80 oder 90 Prozent der Substanz ausgetauscht werden müssen.“ In solch einem Fall plädiere Neubauer eher für eine exakte und aufschlussreiche Dokumentation. In einem halben Jahr wisse man mehr.

Der Ort braucht neue Ideen

Genug gestritten. So jedenfalls lautet das Urteil des Dalmatiner-Besitzers Olaf Krohne. Fröhlich und optimistisch wie sein gepunkteter Vierbeiner wandelt der 36-Jährige durchs Zentrum, vorbei an den wenigen verbliebenen Geschäften und Gastronomiebetrieben im Ort. Hier eine Pizzeria, dort ein mexikanisches Lokal namens Sancho mitsamt Wüste und Kaktus an der Wand. Hier ein kleiner Souvenirladen, da ein Juwelier, der trotz gut gemeinter Botschaften in der Auslage („Lebensfreude pur“) in riesigen Buchstaben die bevorstehende Geschäftsauflösung verkündet.

„Momentan ist es das Wichtigste, einen Schlussstrich unter die bisherigen Streitigkeiten zwischen allen Beteiligten zu ziehen“, sagt Krohne, „vorantreiben können wir den Prozess einzig und allein mit innovativen und zukunftsweisenden Ideen.“ Schon bald könnten diese etwas konkreter werden, denn der Kontakt zu Franz Duval wird in letzter Zeit besser und intensiver. Wie der Standard kurz vor Redaktionsschluss erfuhr, sei die Räumung des Kongresshauses in Anbetracht der bisherigen Zerstörung bereits in Auftrag gegeben worden. Demnächst, erklärt Duval, würden die Fauteuils von Mario Bellini in ein sicheres, trockenes Lager geräumt. Ein erster, aber vielversprechender Schritt in der Sicherung des kulturellen Erbes.

Und weiter? Eine zumindest provisorische Sanierung scheint unumgänglich. „Wenn alles klappt, wollen wir Teile des Kongresshauses noch in diesem Jahr mit einem Shop-in-Shop-Konzept sowie mit neuer Gastronomie füllen“, greift Krohne voraus, „es gibt bereits genügend Interessenten, die diese Idee unterstützen. Nun müssen alle an einem Strang ziehen.“ Vielleicht ist Franz Duval ja mit von der Partie.

Als Ergänzung dazu schlägt der Projektentwickler vor, die leerstehenden Geschäftslokale im Dorfzentrum als Kunstgalerien beziehungsweise Artspace zu nutzen. Selbst über Kunst im öffentlichen Raum wird bereits nachgedacht. Klingt nach einem Haufen Arbeit. Doch warum sollte nach vielen gemeisterten Hürden nicht auch diese zu bewältigen sein?

„Bad Gastein ist in meinen Augen die größte Kreativspielwiese der Welt“, sagt Architekt Ike Ikrath. „Wo sonst hat man schon die Möglichkeit, einen Ort in seiner Gesamtheit wiederzubeleben und mit derart innovativen Konzepten aufzuladen?“ Das sei eine große Chance. „Die meisten empfinden Bad Gastein einfach nur als hässlich. Doch Menschen aus den Creative Industries erkennen in dieser morbiden Verfallenheit einen ganz eigenen Reiz, können sich kreativ einbringen und so zur Neuidentität des Ortes beitragen.“

Klingt zunächst nach billiger PR. Doch bei näherer Betrachtung ist das Bild gar nicht so falsch. Ja, es scheint sogar, als sei in Bad Gas-tein eine neue Gründerzeit angebrochen - mit dem einzigen Unterschied, dass die jungen Protagonisten nicht den großen Fehler begehen, ins vollgepferchte Bergdorf mit seinem ohnehin schon unüberschaubaren Leerstand noch mehr reinbauen zu wollen. Das machen schon die Russen, Schweden, Italiener.

Es keimt im Fundament

Stattdessen tischen die ungebremsten Visionäre eine Software nach der anderen auf. Penibel und millimetergenau ist sie darauf programmiert, die spezifischen Probleme Bad Gasteins mit sanften und - einmal muss es ja gesagt sein - nachhaltigen Konzepten zu minimieren, schließlich zu beseitigen. Es gibt eine Reihe revitalisierter Hotels, kleiner versteckter Szenebars und hochkarätiger Restaurants am schmalen Grat zwischen Fusion-Cooking und bodenständiger Alpinität. Und immer wieder Partys, Clubbings, Raves.

Das Außergewöhnliche daran: Diejenigen, die das Zukunftszepter an sich gerissen haben, sind keine 50 Jahre alt. Die meisten sind sogar unter 40. Und ihre zentrale Message lautet: „Bad Gastein braucht dringend Einwohner. Die Menschen müssen hierher ziehen und hier ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt aufbauen. Ohne diese Basis ist alle Müh' umsonst.“

Einige sind dem Aufruf bereits gefolgt. Sie basteln eifrig an der Wiedergeburt jenes längst verfallenen Kurorts, in dem einst Thomas Mann und Stefan Zweig die Sommer verbrachten. Ob sich Bad Gastein tatsächlich wieder zur montanen Kontaktbörse für Künstler, Kreative und lebensgenießerische Hedonisten entwickeln wird oder nicht, liegt nicht zuletzt an der Gemeinde und an den Grundstückseigentümern. Ein solcher regionalwirtschaftlicher Schub wäre jedenfalls einzigartig in Österreich.

„Bad Gastein braucht keine Visionen“, meint Bürgermeister Gerhard Steinbauer. „Es entwickelt sich seit Jahren überaus blendend. Es gibt genügend Investoren. Und was die Anzahl der Nächtigungen betrifft, haben wir derzeit die beste Auslastung in der Geschichte des Ortes.“

Nach der jüngsten Volkszählung hat Bad Gastein 4500 Einwohner. 2001 waren es noch knapp 6000.

Der Standard, Sa., 2009.08.01

27. Juni 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Akropolis, die zweite

Letzte Woche wurde in Athen das neue Akropolis-Museum eröffnet. Bernard Tschumi ist ein Hechtsprung zwischen Antike und Gegenwart geglückt.

Letzte Woche wurde in Athen das neue Akropolis-Museum eröffnet. Bernard Tschumi ist ein Hechtsprung zwischen Antike und Gegenwart geglückt.

Die griechische Hauptstadt ist im Ausnahmezustand. Während die eine Hälfte der Athener über die Engländer herzieht, weil das British Museum das lang ersehnte Parthenon-Fries nicht rausrücken will (der Standard berichtete), macht die andere Hälfte einen Kniefall vor der Architektur. Coole Jungs und Mädels stehen auf dem Trottoir und blicken wie in Stein gemeißelt auf das neue Akropolis-Museum. Auch ein schwarz gekleidetes Weiblein, das eben erst aus den hellenischen Bergen herbeigeritten scheint, macht halt und blickt gespannt auf das neue Wahrzeichen am Fuße des heiligen Tempelbergs.

Letztes Wochenende wurde der 130 Millionen Euro schwere Bau des schweizerisch-französischen Architekten Bernard Tschumi feierlich eröffnet. „Im Gegensatz zu anderen Ausstellungshäusern, die meist sehr introvertiert in der Gegend herumstehen, öffnet sich das Akropolis-Museum ganz bewusst zur Stadt“, erklärt Museumsdirektor Dimitris Pandermalis in seiner Rede. Groß sei es, das Gebäude, und schön natürlich auch, meint er. „Wir wollten eben eine zweite Akropolis bauen.“

Doch das Bauvorhaben ließ lange auf sich warten. Konstantinos Karamanlis, griechischer Premierminister, äußerte bereits 1974 den Wunsch, ein neues Museum zu errichten. In den Achtziger- und Neunzigerjahren wurden insgesamt vier Wettbewerbe ausgeschrieben. Als endlich alles überstanden schien, ging die Sache wieder von Neuem los.

Während des Aushubs stieß man auf zahlreiche Straßen und Hausmauern aus dem siebenten Jahrhundert. Doch nachdem die beiden italienischen Architekten Manfredi Nicoletti und Lucio Passarelli nicht bereit waren, ihre Pläne umzuzeichnen und das zufällig entdeckte archäologische Grabungsfeld in ihren Entwurf miteinzubeziehen, musste der Wettbewerb im Frühjahr 2001 neu ausgeschrieben werden.

Bernard Tschumi, der mit seinen knallroten Pavillons im Parc de la Villette in Paris (Baujahr 1983) berühmt geworden war, setzte sich gegen Konkurrenten wie Meinhard von Gerkan, Daniel Libeskind und Arata Isozaki durch und bekam den Auftrag. Im März 2003 war Baubeginn. Nach 104 Bauverhandlungen und erfolgreich gemeisterten Gerichtsverfahren konnte die drei Jahrzehnte lang anhaltende Odyssee um den Neubau des Akropolis-Museums endlich in die Zielgerade stechen.

„Ich bin zufrieden“, sagt Tschumi zum Standard, „ich habe noch nicht viel gebaut, aber dafür befinden sich unter meinen wenigen realisierten Projekten zwei essenzielle Arbeiten.“ In gewisser Weise, meint der 65-jährige Architekt, bildeten der Parc de la Villette und das Akropolis-Museum einen großen Bogen über sein bisheriges OEuvre: „Beide Projekte gehen sehr intensiv auf die Umgebung ein, beide Projekte wurden zu Beginn verteufelt, beide Projekte stoßen nach der Realisierung auf große Akzeptanz und Begeisterung.“

Die Eintrittskarten sind für Monate ausverkauft. Nach Auskunft der Museumsleitung sind die ersten freien Karten erst wieder ab September zu haben. Vielen Athenern bleibt das wertvolle Innenleben bis auf weiteres also vorenthalten. Schade eigentlich. Denn obwohl das Areal mit seinen vielen Stufen und Rampen zwar überaus attraktive Freiflächen bietet und dadurch mit der Stadt geradezu symbiotisch verschmilzt, bleibt das Gebäude in seinem äußeren Erscheinungsbild eher unaufregend. Viel Beton, viel Stahl, viel Glas und über allem eine fette Prise Trutzburg-Charme.

Seine wahren Stärken entfaltet es erst in den Abendstunden, wenn innen das Licht angeht und die Schwere der dunklen Gläser auf Knopfdruck verschwindet. Mit einem Mal verwandelt sich der eben noch hermetische Doppeldecker zu einem filigranen Gebilde mit Blick auf die Akropolis, keine 250 Meter Luftlinie entfernt.

Dialog der Epochen

„Es ist wie ein Dialog zwischen Antike und Gegenwart“, so der Architekt. Aus der Ausstellungshalle im ersten Geschoß, wo zwischen mächtigen Stahlbetonsäulen steinerne Karyatiden und Kritios-Knaben erhaben über allem Irdischen schweben, sieht man zum gegenüberliegenden Tempelberg. Zwischen Pfeilern und Lamellen blinzeln immer wieder die Ruinen des 2500 Jahre alten Parthenon auf.

Durchblicke auch in den Innenräumen. Hier eine betonierte Loge, dort ein sorgfältig platziertes Loch in der Wand. „Eigentlich ist das Museum eine Art Landschaft, in der die antiken Skulpturen endlich ein neues Zuhause gefunden haben“, sagt Tschumi.

Vor Überraschungen schreckt der nette Herr mit dem stets roten Schal um den Hals nicht zurück. Wer in den dritten Stock will, muss schwindelfrei sein. Hier, rund fünfzehn Meter über dem Erdgeschoß, führt der Weg über einen vollflächig verglasten Boden. Und während der Besucher dem Nichts ausgeliefert ist und zaghaft von einer statisch unterstützten Glasfuge zur nächsten hüpft, breitet sich unter ihm das Foyer aus. Das Geheimnis hinter der höhenängstlichen Angelegenheit: Als schlüpfte man für einen Wimpernschlag der Zeit in Zeus' Fußstapfen, kann man von hier aus einige der steinernen Gottheiten von oben sehen. Tschumi, kurz und bündig: „Neue Architektur braucht neue Perspektiven.“

Glanzvoller Höhepunkt des Akropolis-Museums ist die Parthenon-Galerie im letzten Stock. Zum übrigen Gebäude um 23 Grad verschwenkt, ist der rundum verglaste Baukörper in Größe und Ausrichtung dem historischen Vorbild nachempfunden. Entlang der Innenmauer verläuft der 159 Meter lange Parthenon-Fries und ist im Gegensatz zur ursprünglichen Positionierung nicht den Blicken der Götter vorbehalten, sondern für jedermann einsichtig. Die Montage in Augenhöhe lädt zum genauen Studium der teils originalen und teils kopierten Steinplatten ein.

Wer es mit den Details der Antike nicht so hat, der braucht sich nur umzudrehen und sich der Erhabenheit dieses Ortes hinzugeben. Auf der zart besaiteten Oberfläche, die man sich in diesem Museum nach wenigen Minuten nolens volens angeeignet hat, zeichnet sich ein Hauch von Gänsehaut ab. In der Glasfassade spiegelt sich der Fries mit seinen rund 360 prozessierenden Männern und Frauen, Reitern und Wagenlenkern. Dahinter ragt, so mächtig wie von keinem anderen Blickwinkel in der Stadt, der beleuchtete Parthenon in die Dunkelheit.

„Die Lichtverhältnisse übertreffen all unsere Erwartungen“, sagt Direktor Dimitris Pandermalis. Aufgrund der speziellen Folierung und Schichtung mehrerer Glasplatten zu einem ziemlich gemeinen Trugbild-Apparat kann man zwischen Realität und Spiegelbild kaum noch unterscheiden. Parthenon und Parthenon-Fries finden auf diese Weise, geschützt vor Smog und Witterung, endlich wieder zueinander.

Im Bilderrausch der Epochen wird unweigerlich Stellung bezogen. Im beschaulichen Innenstadtviertel Plaka, nur wenige Schritte vom Museum entfernt, hat eine griechische Hand ein paar fordernde Worte an die Wand gepinselt. Dem Appell ans British Museum in London kann man sich nach einem Besuch im neuen Athener Konkurrenzhaus nicht entziehen: „Return our marbles now.“

Der Standard, Sa., 2009.06.27



verknüpfte Bauwerke
Akropolis-Museum

27. Juni 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Wiener Kurvenlage mit gutem Humor

Am Stadtrand von Wien baute Andreas Burghardt ein gleichermaßen klassisches wie ungewöhnliches Haus. Während die schwarz-weiße Fassade mit der Moderne kokettiert, findet innen beständiges Wohnen statt.

Am Stadtrand von Wien baute Andreas Burghardt ein gleichermaßen klassisches wie ungewöhnliches Haus. Während die schwarz-weiße Fassade mit der Moderne kokettiert, findet innen beständiges Wohnen statt.

Die Grundstücksuche war ein Kapitel für sich. Anstatt die Gegend selbst abzuklappern, beschlossen die Bauherren, vielbeschäftigte Menschen in der Werbebranche, einen eigenen Immobilienmakler mit dieser Aufgabe zu betrauen. „Wir haben dem Makler ein gewisses Monatsgehalt gezahlt, dafür hat er uns nach ein paar Wochen das optimale Grundstück präsentiert“, sagt der Bauherr. Die ungewöhnliche Vorgehensweise zahle sich in jedem Fall aus: „Wenn man die Suche nach einer geeigneten Parzelle mit allen Grundbuch-auszügen und Telefonaten selbst in die Hand nimmt, dann ist das ein Fulltimejob.“

Auch der Planer war schnell gefunden. Architekt Andreas Burghardt, „einer meiner Kumpel und bester Mann in der ganzen Stadt“, holte aus dem 750 Quadratmeter großen Bauland das Maximum heraus. „Ein Drittel der Fläche konnte verbaut werden, wir haben die Obergrenze bis auf das letzte Komma ausgenutzt“, erklärt Burghardt. Den effizienten Umgang mit der Kubatur sieht man dem Bauwerk nicht an. Als ob das Volumen den Hang runterkullern würde, bleibt das Haus, von der Straße aus gesehen, trotz Zweigeschoßigkeit niedrig und kompakt.

Und dennoch ist man auf den ersten Blick verwirrt und versteht die Zeit nicht mehr. Entgegen dem Diktat der Gegenwart werden hier nämlich keine Kisten und Blobs um die Wette in den Himmel getürmt. Nein, still und leise zog sich Burghardt ins Kämmerlein der Materialkunde und Proportionslehre zurück und feilte dort so lange am Entwurf, bis ein unaufregend feines, aber zeitlos beständiges Haus das Licht der Welt erblickte - ganz im Sinne der klassischen Moderne.

„Ich kann mit diesen ganzen Designerschuppen nichts anfangen“, sagt der Architekt, „aber das Wichtigste ist: Ein Haus muss einem ein Leben lang gefallen, das vergessen viele. Für lustige Experimente ist da kein Platz.“ Einen schelmischen Grinser konnte sich letztendlich aber auch er nicht verkneifen: Die gesamte Fassade ist hof- und straßenseitig mit schwarzen Lärchenbrettern verkleidet. Über den Stoßfugen sind in engem Abstand zueinander elfenbeinfarben lackierte Holzrundstäbe montiert, ein witziges Detail, ein Augenzwinkern für Kenner der Materie.

Klassische Holzschalung

Und während sich der Betrachter darüber den Kopf zerbricht, wann denn die endgültige Schalung montiert wird, antwortet Burghardt gelassen: „Die Fassade ist bereits fertig. Das ist eine ganz normale Vorarlberger Leistenschalung, wie sie in jedem Architekturbuch zu finden ist. Weil das Haus aber in Wien und nicht in Vorarlberg steht, habe ich die Profile der Hölzer etwas abgeändert.“

Ausgetüftelte Gediegenheit auch in den Innenräumen: Unter den Füßen liegt Eichenboden, bei den Möbeln kam rötlich schimmerndes Ulmenholz zum Einsatz. Herzstück des Hauses ist die Wohnküche, die sich parallel zum Straßenverlauf auf zwei Splitlevels heftig in die Kurve lehnt. Unter dem 19 Quadratmeter großen Panoramafenster, das direkt in der Krümmung liegt, befindet sich die weiße Küchenzeile. Man darf mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass sich Mann, Frau und Kinder, die hier wohnen, von dem weiten Ausblick beim Kochen inspirieren lassen.

Tageslicht und Blicke fluten das Haus aus allen Himmelsrichtungen. Durch die hohen Räume - aufgrund des geneigten Daches variiert die lichte Höhe zwischen 2,30 und sechs Meter - verzweigt sich das Licht bis in die hinterste Ecke. Und was sagen die Bewohner zur neuen Bleibe? „Das Haus ist perfekt. An die Messingbeschläge, die der Architekt eingebaut hat, haben wir uns auch rasch gewöhnt. Burghardt hat halt einen guten Humor.“

Der Standard, Sa., 2009.06.27



verknüpfte Bauwerke
Haus in Wien

13. Juni 2009Wojciech Czaja
Der Standard

In den Trümmern der Zeit

In Tirol ist ein Lobgesang auf die Moderne zu hören. In Wien wird die gleiche Epoche als ruinöses Scheitern dargestellt. Zwei Ausstellungen, die mehr gemeinsam haben, als man ihnen auf den ersten Blick zutraut.

In Tirol ist ein Lobgesang auf die Moderne zu hören. In Wien wird die gleiche Epoche als ruinöses Scheitern dargestellt. Zwei Ausstellungen, die mehr gemeinsam haben, als man ihnen auf den ersten Blick zutraut.

In Krisenzeiten, sagt man, werden die Röcke länger getragen. In Krisenzeiten, sagt man, besinnen sich die Menschen aufs gute alte Comfort Food. In Krisenzeiten, könnte man ergänzen, werden die Häuser wieder eckig und kantig gebaut.

„Ich mache seit einigen Monaten die Beobachtung, dass die Studenten die High-Tech-Blasen und wabbeligen Blobs absolut satthaben“, erklärt Arno Ritter, Leiter des Tiroler Architekturhauses aut und Lehrbeauftragter an der TU Innsbruck, „anstatt sich nur von Architekturgeschichte berieseln zu lassen, zeigen sie Gesprächsbereitschaft und schrecken auch nicht vor Konflikten zurück.“ Und was bringen die angehenden Architekten aufs Papier? Kisten. Quadratisch, praktisch und unübertroffen gut wie zu Opapas Zeiten.

Da kommt die von Arno Ritter eigens kuratierte Ausstellung Konstantmodern. Fünf Positionen zur Architektur gerade richtig. Sie zeigt alte und neue Projekte von Gerhard Garstenauer, Johann Georg Gsteu, Rudolf Wäger, Werner Wirsing sowie vom Schweizer Büro Atelier 5. „Es ist kein Zufall, dass wir ausgerechnet jetzt eine Reise in die Vergangenheit unternehmen. Ich glaube, dass die Menschen für die Belange der Moderne offen sind.“ Das habe auch die Ausstellungseröffnung gezeigt. Still und regungslos stand es da, das Publikum, lauschte den Worten des Kurators und zog respektvoll von einem Exponat zum nächsten. „Es war unglaublich. Oft dreht sich alles nur um Smalltalk, Sekt und Brötchen. Diesmal war es anders.“

Doch was fesselt uns an der Moderne? Was ist so faszinierend an all den pragmatischen Wohngebilden aus den Sechzigern und Siebzigern, um die es in dieser Schau in erster Linie geht? „Es war eine Zeit des Umdenkens“, sagt Ritter, „damals sind Wohnkonzepte und Ansätze von Urbanität entstanden, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben und die vielen Architekten immer noch als Grundlage dienen.“

Zum Beispiel die Wohnsiedlungen des Architektenkollektivs Atelier 5. Für die einen sind es hässliche Trutzburgen aus Beton, für die anderen zukunftsweisende Mikrostädte mit allem Drum und Dran. „Unsere Bauten sind eigentlich Geräte, sollen praktisch und nicht unbedingt schön, sondern eher Gebrauchsgegenstände sein“, sagt Architekt Heinz Müller. „In Neapel sehen die Häuser ziemlich gebraucht aus, aber die Leute scheinen zufrieden zu sein, weil sie sich nicht um den äußeren Schein kümmern müssen. So ähnlich sehe ich auch unsere Siedlungen.“

Wohnsiedlung für Liebhaber

Wie in einem Film von Jacques Tati, der dem satirischen Blick auf das Übermorgen bekanntermaßen nicht abgeneigt war, sieht man auf einem der historischen Fotos einen neugierigen Herrn mit Hornbrille auf der Nase und Hut auf dem Kopf, umzingelt von hängenden Knoblauchstangen, Salamiwürsten und Thomy-Mayonnaisetuben. Ob der Herr wohl nach der Moderne Ausschau hält?

Nein, es ist einfach nur ein kleines, charmantes Nahversorgungsgeschäft inmitten der Wohnsiedlung Halen in der Nähe von Bern. Was heute so selbstverständlich scheint, ist jedoch die Utopie alter Tage. Immerhin: Wir schreiben das Jahr 1961, und die 78 Wohnhäuser rundherum sehen aus, als wären sie Le Corbusiers talentiertem Zeichenhändchen entfleucht.

„Es sind nach wie vor Liebhaber, die in einer Siedlung von Atelier 5 wohnen“, sagt Müller, „interessant ist dabei, dass die Bewohner ihre Häuser bis heute pflegen und sie nicht verkaufen. Sie meinen, die Architekten hätten zwar eine tolle Siedlung gebaut, nur keine schönen Materialien verwendet.“ Jahrzehntelang diente der grobe Beton als kletterbare Unterlage für diverses Zeug mit roten und grünen Blättern dran. Heute liegt die brutalistische Oberfläche unter einem Pflanzensaum. Fast scheint es, als würde sich die Natur ihren einst geraubten Raum zurückerobern.

„Genau das ist der Punkt“, sagt Sabine Folie am anderen Ende des Landes, „man muss akzeptieren, dass nichts für die Ewigkeit gebaut ist. Auch wenn Architektur das Privileg der immerwährenden Existenz für sich beansprucht, wird sie eines Tages wohl oder übel verfallen und wieder zu einem Teil der Natur. Das ist unvermeidlich.“

Folie, Kuratorin der Ausstellung Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart, die kommenden Freitag in der Generali Foundation in Wien eröffnet wird, hat ein Faible für das Scheitern. Und wenn Atelier 5 in einem kürzlich geführten Interview stolz behauptet, man plane gegen die Vereinzelung, gegen das isolierte Denken und gegen den maximalen Gewinn für das Individuum, dann stellt Folie (mit einem Sicherheitspuffer von einigen hundert Kilometern) ganz bewusst infrage, ob diese Utopie denn jemals Berechtigung hatte.

„Ich finde es interessant, dass die Moderne letztendlich Schiffbruch erlitten hat“, so Folie. Es sei doch kein Zufall, dass Yona Friedman, ausgerechnet ein Architekt, die Zeit zwischen 1950 und 2000 als das „Jahrhundert der Armut“ bezeichnet hatte.

Keine Bange, die Generali Foundation ist dieser Tage bei weitem kein Ort der trockenen Theorie. Ganz im Gegenteil. Künstlerpositionen aus aller Herren Länder und Epochen wurden eingeflogen, um den feschen Ausstellungsraum in der Wiedner Hauptstraße mit kritischen und überaus witzigen Inhalten zu füllen.

Prominent im Eingangsbereich platziert, empfängt der niederländische Künstler Rob Voerman die Besucher mit einer zusammengeschusterten Installation aus Kunststoff und Holz. Mit slicker Architektur heutiger Tage hat die rotzige Do-it-yourself-Hütte, die auf den Namen Tarnung #3 hört, nichts zu tun. „Wissen Sie, ich lebe in einem Land, in dem Design und Baukunst bis zur Perfektion getrieben werden“, erklärt Voerman mit dem Hammer in der Hand, „und eigentlich habe ich es satt, denn es lässt absolut keinen Freiraum für anderes übrig.“

Neben diversen Must-haves von Althasen wie etwa Dan Graham, Robert Smithson und Gordon Matta-Clark, die den Häusern auf ihre Weise an den Kragen gehen, fallen vor allem die Collagen des in Paris lebenden Cyprien Gaillard auf. Endzeitstimmung macht sich breit: Aus den idyllischen Kupferstichen nach Vorlage von Rembrandt und Konsorten lässt Gaillard - völlig unerwartet - riesige Wohnsilos emporwachsen. Das vorgefundene Bild ist verstörend schön und beklemmend zugleich. Oder - wie es der Künstler selbst ausdrückt: „Mich faszinieren Hochhäuser. In diesen neuen Schlössern, die andere als hässlich empfinden, erkenne ich eine unglaubliche Schönheit.“

Orte der Erinnerung

Beide Ausstellungen decken auf, wie sich Architektur im Laufe der Zeit verändert. So konstant die Moderne in den Augen des Kurators Arno Ritter auch sein mag, früher oder später wird sie unter der Last der Zeit zusammenbrechen. Erste Anklänge davon sind bereits zu erkennen. Eine mal wohlwollende, mal kritische Dokumentation der angeblich beständigen Moderne ist in jedem Fall begrüßenswert.

Diese Sichtweise teilt die Kunst: „Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass man all diese Bauten, die eines Tages zerstört sein werden, nicht erhalten kann“, sagte Cyprien Gaillard einmal in einem Interview, „diese Häuser brauchen einen Ort, wo sie als Monumente der Erinnerung weiterleben können, auch wenn sie längst nicht mehr da sind.“

Der Standard, Sa., 2009.06.13

30. Mai 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn die Samen Samba tanzen

Bauruinen, die nicht unter Denkmalschutz stehen, werden meist abgerissen, denn eine Neubebauung des Grundstücks ist billiger. Das Wohnhaus Samba beweist, wie wertvoll eine Revitalisierung sein kann.

Bauruinen, die nicht unter Denkmalschutz stehen, werden meist abgerissen, denn eine Neubebauung des Grundstücks ist billiger. Das Wohnhaus Samba beweist, wie wertvoll eine Revitalisierung sein kann.

Ein in Würde gealtertes Haus sieht anders aus. Bis vor kurzem zeigte sich das heruntergekommene Gebäude in der Alliiertenstraße in Wien-Leopoldstadt nicht gerade von seiner besten Seite. Feuchtigkeitsschäden, abgebröckelte Farbe und abgeschlagener Stuck hatten der ehemaligen Samenbank ordentlich zugesetzt.

Als die Stadt Wien im September 2005 einen Bauträgerwettbewerb ausschrieb, setzte sich die Gewog Neue Heimat mit dem Architekten Johnny Winter und dem Fachplaner Robert Korab an einen Tisch. Obwohl sich das Planungsteam über die Neubau-Vorgabe hinwegsetzte und eine Teilsanierung des alten Palais vorschlug, konnte es am Ende den Sieg einheimsen. „Ein Gebäude mit einer derartigen Aura braucht es in dieser Gegend unbedingt“, sagt Architekt Winter, „aus diesem Grund haben wir beschlossen, das zu machen, was wir für richtig halten und somit auch das Risiko auf uns zu nehmen.“

Mit Erfolg. Seit wenigen Wochen erstrahlt die alte Samenbank in neuem Glanz und beherbergt statt pflanzlicher Samenproben nun die Spezies Mensch im ausgewachsenen Stadium. Der neue Projektname Samba erinnert noch vage an alte Tage - man muss lediglich die Silben auseinanderklauben und mit einem schelmischen Grinsen um einige Buchstaben erweitern.

„Die männlichen Kollegen haben immer gelacht, als sie gehört haben, welche Nutzung das Bauwerk früher hatte“, erklärt Susanne Reppé, Pressesprecherin bei Gewog Neue Heimat, „aus diesem Grund haben wir uns entschieden, die einprägsame Geschichte des Hauses in versteckter Form weiterleben zu lassen. Das hat Wiedererkennungswert.“

Das Auffälligste am neuen Samba-Wohnbau ist die Farbe. Altbau, Neubau, Fenster und Dach erstrahlen in einheitlichem Schneeweiß. „Viele meinen, das sei lediglich ein witziges Farbspiel mit meinem Namen“, sagt Architekt Winter, „aber nein, Weiß reflektiert das Sonnenlicht und leistet damit einen gewissen ökologischen Beitrag gegen die Überhitzung in der Stadt. Ich glaube sogar, dass dies sogar das erste weiße Blechdach Wiens ist.“

Straßenseitig wurde die historische Fassade originalgetreu beibehalten und saniert, an den beiden Seitenflanken kamen ein paar „urlaublich“ anmutende Minibalkone hinzu. Die ursprüngliche Raumhöhe - je nach Stockwerk weisen die Wohnungen zwischen drei und vier Meter Kopffreiheit auf - wurde beibehalten. Lediglich im Dachgeschoß und an der Hofseite, wo das Gebäude eine Art Rucksack verpasst bekam, schrumpft die Raumhöhe auf die gewohnten 2,50 Meter.

Kontrast von Alt und Neu

Statt der herrschaftlich bemessenen drei Geschoße gibt es hier derer fünf, dafür wird die Kompaktheit der Neubauwohnungen mit einer eigenen Loggia wieder wettgemacht. Auffällig die schmalen und langen Fensterbänder. „Wir wollten einen Kontrast zu den hohen Fensterstrukturen im Altbau setzen und haben die neue Fassade aus diesem Grund stark horizontal gegliedert“, erklärt der Architekt.

Rein ins Haus. Während die hohen Altbauwohnungen vom Stiegenhaus stufenlos zu betreten sind und etwas gründerzeitliches Flair versprühen, sind die Wohneinheiten im neuen Bauteil tetrisartig ineinandergeschlichtet. Einmal geht es ein paar Stufen bergab, ein andermal ein paar hinauf. Die offenen Grundrisse sind in jedem Fall gelungen, bei der Ausstattung und Materialwahl - Laminatboden und günstigste Sanitärmöbel - muss man sich mit der Tatsache anfreunden, dass die Stärken dieses Bauwerks in der räumlichen Qualität liegen und nicht in den Oberflächen. Irgendwo muss das Geld ja eingespart werden. Vor allem bei einem derart ambitionierten Projekt.

Und was sagen die Bewohner? Die letzte freie Wohnung ging bereits vor Monaten weg. Derzeit wird mit Sack und Pack eingezogen. Mit Bananenschachtel unterm Arm bestätigt eine der Bewohnerinnen den gewonnenen Eindruck und erklärt: „Die Wohnung ist zwar klein, und der Boden gefällt mir nicht, aber es ist ein ansprechendes Haus mit witzigen Grundrissen. Besonders freue ich mich über den Balkon.“

Der Standard, Sa., 2009.05.30

23. Mai 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Gänsehaut . . . das ist mein Honorar

Von der Hektik der großen Welt da draußen hat sich Peter Zumthor noch nie beeindrucken lassen. Kommenden Freitag wird dem stillen Schweizer Architekten der Pritzker-Preis überreicht.

Von der Hektik der großen Welt da draußen hat sich Peter Zumthor noch nie beeindrucken lassen. Kommenden Freitag wird dem stillen Schweizer Architekten der Pritzker-Preis überreicht.

Eine Landschaft, als wäre eben erst Heidi durchs Bild gehüpft. Stallaromen kitzeln in der Nase, unbekümmert stehen Traktor und Heuwagen am Wegesrand, pure Bergidylle. Kaum einer würde vermuten, dass sich hier, im netten Alpendörfchen Haldenstein, eine der bekanntesten und erfolgreichsten Architekturschmieden Europas befindet. Aus aller Welt kommen sie herangereist, die potenziellen Bauherren, und rennen dem Meister die Stube ein.

Galt Peter Zumthor vor einigen Jahren noch als Geheimtipp unter NZZ-Lesern, füllen sich seine Auftragsbücher nun schneller, als ihm lieb ist. Im Bregenzerwald entsteht ein Werkraumhaus für Tischler, im niederländischen Leiden wird ein alter Mehlspeicher in ein Kulturzentrum verwandelt und in Doha (Katar) zeichnet Zumthor im Auftrag des Scheichs gerade an einem Masterplan für eine Wohngegend.

Aufregendstes Projekt, erst vor wenigen Tagen skizzenhaft dem Bauherrn präsentiert, ist ein Hotel in der Atacama-Wüste in Chile. Alles streng geheim, nur so viel sei verraten: Sollte James Bond in zehn Jahren noch im Dienste Ihrer Majestät durch die Weltgeschichte jetten, wissen wir jetzt schon, wohin die Reise gehen wird.

Nächsten Freitag wird Peter Zumthor in Buenos Aires den heurigen Pritzker-Preis entgegennehmen.

der Standard: Was bedeutet der Pritzker-Preis für Sie?

Peter Zumthor: Schön, so eine Auszeichnung! Besonders freut mich der Preis natürlich insofern, als ich ja kein Netzwerk-Architekt bin, sondern einfach nur meine Arbeit mache. Das gibt mir und all den jungen Architekten, die auf ähnliche Weise arbeiten wie ich, viel Hoffnung. Offenbar wird diese stille Arbeit in der Öffentlichkeit erkannt und wertgeschätzt.

der Standard: Im Juryprotokoll steht, Ihr Werk sei fokussiert, kompromisslos und außergewöhnlich entschlossen. Erkennen Sie sich in der Begründung wieder?

Zumthor: Eher spüre ich mich in den Worten der Jury, wo es heißt, dass der ganzheitliche Aspekt meiner Arbeit gewürdigt werde. Nicht unwesentlich ist wahrscheinlich die Tatsache, dass ich in einem sehr überschaubaren Rahmen arbeite. Vor sieben oder acht Jahren wäre es vermutlich undenkbar gewesen, jemandem wie mir den Pritzker-Preis zu geben. Damals würdigte man eher die großen globalen Player. Zu mir hätte man wahrscheinlich gesagt: „Du, Zumthor, nichts für ungut, aber du bist eine aussterbende Rasse.“

der Standard: Ihr Fortbestand ist nun gesichert.

Zumthor: Ich glaube, es ist ein Umdenken im Gang. Man will offenbar darauf hinweisen, welche Arbeitsweisen es in der Architektur sonst noch gibt, und zwar abseits des Mainstreams. Lustig, dass sich nach Bekanntgabe der Pritzker-Sache einige meiner ehemaligen Kollegen wieder bei mir rühren und sagen: "Ja grüezi, Zumthor, wir sind doch alte Freunde! Am liebsten erinnere ich mich an eine zufällige Begegnung mit Wolf Prix in einem Restaurant in Chur, als er mich seiner Begleitung vorstellte und meinte: Der Zumthor, das ist einer vom anderen Lager, aber von denen der Beste! (Erinnere ich mich da richtig, Prix?)

der Standard: Was ist das eine, was das andere Lager?

Zumthor: Prix setzt Zeichen in der Landschaft und in der Architekturszene. Meine Architektur jedoch ist fokussiert auf den Gebrauch und auf den Ort. Wenn ich mich entschließe, ein Projekt zu machen, dann können die Bauherren mächtig und reich sein - oder arm. Das spielt keine Rolle. Das einzig Wichtige ist, dass ich Freude an der Arbeit habe, dass die Bauaufgabe sinnvoll ist und dass meine Bauherren gerne mit mir zusammenarbeiten wollen. Wenn das zutrifft, dann ist das ein cooles Projekt.

der Standard: Erachten Sie sich dem Bauherrn gegenüber als Dienstleister?

Zumthor: Als Dienstleister führt man vorgegebene Inhalte aus. Das bin ich nicht und das will ich nicht. Ich bin eher eine Art Autor. Gern vergleiche ich mich auch mit einem Komponisten und Dirigenten. Ich liefere die Partitur, doch ohne meine 100 bis 500 Supersolisten komme ich nicht weit. Was ich damit sagen will: Schlussendlich ist das, was ich mache, eine baukünstlerische Arbeit.

der Standard: Führt das nicht regelmäßig zu Überraschungen?

Zumthor: Da eilt mir wohl ein nicht korrekter Ruf voraus: Der Zumthor, der macht, was er will! Das Gegenteil ist der Fall. Meine Bauherren wissen genau, was sie kriegen. Es gibt einen sehr guten und wertschätzenden Dialog. Manchmal kommt es auch vor, dass ein Bauherr im Prozess eine bessere Idee hat als ich. Dann muss ich die übernehmen, oder? Und wenn es umgekehrt ist und ich die bessere Idee habe, dann muss der Bauherr eben mir vertrauen. So einfach ist das.

der Standard: Wann ist ein Projekt zu Ende gedacht?

Zumthor: Wenn die Entscheidung Bestand hat. Vorausgehend ist das permanente Abwägen zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Es ist ein ständiges Hin und Her, ein Pingpong-Spiel, ein ewiges Trial-and-Error. Doch irgendwann ist der Punkt erreicht, wo alles stimmig ist. Ich spüre das. Sie müssen sich vorstellen: Ich bin jemand, der seine Häuser sieht, bevor sie gebaut sind. Wenn ich beispielsweise in der Früh unter der Dusche stehe, mache ich einen virtuellen Spaziergang durch das Haus, an dem ich gerade arbeite. Ich schlendere hindurch und sehe mir alle Ecken und Nischen an. Und manchmal passiert es, dass ich einen Kameraschwenk mache und plötzlich etwas entdecke, wo ich mir denke: Oh Mist, da stimmt etwas nicht. Da hilft nur virtuelles Abbrechen und Neubauen.

der Standard: Passiert das manchmal auch, wenn ein Projekt schon in Bau ist?

Zumthor: Das ist mir ein einziges Mal passiert, und zwar beim Kolumba-Museum in Köln. In den virtuellen Spaziergängen, die ich so oft unternommen habe, aber auch in den Zeichnungen und Modellen war alles ganz klar und stimmig. Und als ich dann im Rohbau stand, verdammt noch mal, ist mir aufgefallen, dass ich einen Fehler gemacht habe. Im obersten Stock saß ein Durchgang an der falschen Stelle. Der Raumkörper war geschwächt. Also holte ich die Bauherren und sagte: Schauen Sie sich das an! Wir waren alle einer Meinung, und die Tür wurde um drei Meter versetzt.

der Standard: Sind Sie einer, der die Baukosten einhält?

Zumthor: Den Ruf, dass man sich nicht um die Baukosten kümmert, hat man als Architekt natürlich sehr schnell. Ein einziges Mal sind die Kosten ausgeufert, und zwar vor Ewigkeiten beim Projekt „Topographie des Terrors“ in Berlin. Die Wunschliste war lang, das Budget war klein. Und irgendwann ist alles explodiert. Doch die Regel ist, dass wir das Budget einhalten wollen und dass uns dies meistens auch gelingt. Therme Vals, Kolumba-Museum, die Kapelle in der Eifel - alles war im Rahmen.

der Standard: Und der wäre?

Zumthor: Auf den Kubikmeter umbauten Raum runtergebrochen, befindet sich das Kolumba-Museum irgendwo im oberen Drittel des Durchschnitts der neuen europäischen Museen. Anderes Beispiel: Das Thermalbad in Vals hat 26 Millionen Schweizer Franken gekostet. Das ist alles nicht exorbitant viel. Aber Sie haben schon recht: Mit Low Budget hat diese Art des Bauens nichts zu tun. Wenn ich meine Architektur mit einem Auto vergleiche, so hoffe ich doch sehr, dass ich Ihnen in der Regel einen Mercedes anbieten kann, mit dem Sie unbekümmert ein paar hunderttausend Kilometer fahren können.

der Standard: Mercedes? Ihre Details sind Handarbeit und Einzelanfertigung. Wir reden hier von Aston Martin.

Zumthor: Es sieht aus wie ein Aston Martin, und es funktioniert vielleicht wie ein Aston Martin, aber es kostet so viel wie ein Mercedes. Ich bin nicht einer von diesen Bentley-Manufaktur-Fans, der auf weiße Zwirnhandschuhe und Lederköfferchen abfährt. Das, was Sie sehen, ist das Engagement meiner 20 Mitarbeiter im Büro und der vielen Leute, die für uns arbeiten.

der Standard: Woher schöpfen Sie Ihre Inspiration?

Zumthor: Die Ideen kommen einfach, und ich weiß nicht woher. Das ist ein großes Geschenk. Eigentlich ist das ganze Leben Inspiration. Die Musik, die Literatur, einfach alles. Das Wichtigste ist, diesen Inspirationen zu vertrauen und nicht sofort alles zu zerreden.

der Standard: In Ihren Texten und Vorträgen vergleichen Sie sich immer wieder mit Peter Handke. Warum?

Zumthor: Ich mag dieses poetische Prinzip der genauen Beobachtung, das er in seinen frühen Werken verkörpert hat. Da geht es nicht um Symbolismus und um Zeichen, sondern nur um Beobachtung, mit viel Geduld und viel Genauigkeit.

der Standard: Ihr aktuelles Projekt?

Zumthor: Es werden immer mehr! Erst vorigen Montag war ein chilenischer Bauherr bei mir, ich habe ihm das Konzept für ein Hotel in der Atacama-Wüste präsentiert. Wir alle lieben dieses Projekt. Das Hotel sieht aus wie ein riesiges präkolumbianisches Tongefäß. Ich hoffe, das wird eine Referenz an Oscar Niemeyer. Jedenfalls können Sie sich nicht vorstellen, wie aufgeregt dieser Mann war. Später dann sagte er zu mir, dass er so nervös war, weil er nicht wusste, wie er reagieren sollte, falls ihm der Entwurf nicht gefiele. Daraufhin hat er die Ärmel hochgekrempelt und hat auf seine Gänsehaut gedeutet: „Look at this, it doesn't lie!“ Ein schönes Kompliment. Besser als jedes Honorar.

der Standard: Abschlussfrage zum Pritzker-Preis: Wissen Sie schon, was Sie mit den 100.000 Dollar Preisgeld vorhaben?

Zumthor: Ich habe gerade ein privates Projekt am Laufen. Hoch oben in den Bergen sind zwei Holzhäuser für mich und meine Frau entstanden. Wir haben uns etwas verausgabt. Die Graubündner Kantonalbank wartet schon auf das Geld.

Ich bin jemand, der seine Häuser sieht, bevor sie überhaupt gebaut sind. Wenn ich in der Früh unter der Dusche stehe, mache ich einen virtuellen Spaziergang durchs Projekt.

Der Standard, Sa., 2009.05.23



verknüpfte Akteure
Zumthor Peter

13. Mai 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Neue WU im Wiener Prater: Wettbewerb entschieden

Bebauung erfolgt nach Masterplan von BUS architektur - Siegerprojekt gleicht einem Campus nach britischem Vorbild

Bebauung erfolgt nach Masterplan von BUS architektur - Siegerprojekt gleicht einem Campus nach britischem Vorbild

Der Fortgang der neuen WU auf dem Areal zwischen Wiener Messegelände und Prater Hauptallee wurde am Freitag in einer Jurysitzung beschlossen. In der letzten Runde des EU-weiten Verfahrens (Juryvorsitzender Wolf D. Prix) wurden drei Projekte zur Überarbeitung empfohlen. Wie dem Standard bekannt wurde, wird das Wettbewerbsprojekt von BUS architektur (Architektin Laura Spinadel) als Masterplan für die Gesamtbebauung des 800 Meter langen Grundstücks herangezogen. Den zweiten Platz ex aequo belegten das Wiener Büro Berger Parkkinen sowie die Arge Arkan Zeytinoglu / Martin Flatz.

Bibliothek im Zentrum

Auffällig ist die Strukturierung des Geländes. Mehr als einem Uni-Gebäude gleicht das Siegerprojekt einem Campus nach britischem bzw. amerikanischem Vorbild. Im Zentrum steht ein Learning Center mit Bibliothek, die einzelnen Institutsgebäude sind locker übers Areal verstreut. Dazwischen sind großzügige Freiräume vorgesehen.

U2-Station

Wahrscheinlich ist, dass für die unterschiedlichen Gebäude in Zukunft Einzelwettbewerbe ausgeschrieben werden. Nach Auskunft von Ernst Eichinger, Sprecher der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), wird die derzeitige Messehalle 10 der Abrissbirne zum Opfer fallen. Erschlossen wird die neue WU von mehreren Eingängen. Einer davon befindet sich neben der U2-Station Messe, ein anderer auf der Seite der U2-Station Krieau. Die Baukosten für die Wirtschafts-Uni werden sich auf 250 Millionen Euro belaufen. Die Fertigstellung ist für 2012 geplant.

Der Standard, Mi., 2009.05.13



verknüpfte Beiträge
Wettbewerb Wirtschaftsuniversiät Wien

08. Mai 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Nachkriegszeit im Watschelgang

Nur wenige Menschen haben etwas übrig für 60er- und 70er-Jahre. Das soll sich nun ändern: Linz zeigt eine Ausstellung über die Schönheit des Hässlichen

Nur wenige Menschen haben etwas übrig für 60er- und 70er-Jahre. Das soll sich nun ändern: Linz zeigt eine Ausstellung über die Schönheit des Hässlichen

Kommando Detonation. Ein Zucken in der Erde, ein ohrenbetäubender Krawall. Eben noch haben die 40.000 Schaulustigen ihre gierigen Objektive auf die beiden Häuser gerichtet. Nun rennen sie, um der herbeiwalzenden Staubwolke zu entkommen, mit aufgespannten Regenschirmen und gereizten Stimmbändern alle davon. Wir schreiben den 14. März 2003. Nach Jahren der sozialen Verwahrlosung und des Leerstandes werden die zwei Wohnhochhäuser am Harter Plateau, gigantische Scheiben aus Stahlbeton, publikumswirksam in die Luft gesprengt. Vom gefürchteten Linzer Schandfleck bleiben nur noch Schutt und Erinnerung.

Dass man dem architektonischen Erbe aus den 60er- und 70er-Jahren auch anders begegnen kann, beweist eine Ausstellung im architekturforum oberösterreich (afo), die kommenden Donnerstag eröffnen wird. Anhand ausgewählter Hochhausprojekte, die das Erscheinungsbild der Stadt Linz seit Jahrzehnten entscheidend mitprägen, wagt sich Ausstellungskurator Lorenz Potocnik an eine heikle Frage heran: „Warum haben die Bauten aus dieser Zeit ein derart schlechtes Image?“ Zielsicher gewählt, ja geradezu mit Mitleid erregender Bedacht, erscheint der Titel der ungewöhnlichen Schau: „Hässliche Entlein.“

„Mich fasziniert, dass diese Gebäude bei den meisten Leuten auf so viel Widerstand stoßen, während sich manche Fachleute für die Materie durchaus begeistern können“, sagt der in Wien lebende Architekt und Entenliebhaber. „Hässlichkeit hin oder her, der Großteil der damaligen Bausubstanz weist eine hohe architektonische und atmosphärische Qualität auf.“ Pech fürs betonierte Federvieh, dass sich diese Vorzüge dem Betrachter äußerst selten auf den ersten Blick erschließen.

Sprengen als letzte Option

Die da wären: Mut zum Experiment, Radikalität im Bauen und grundsolide, gut funktionierende Wohnungsgrundrisse. Potocnik: „Damals waren die Protagonisten noch von Visionen gebeutelt. Auch wenn das Konzept nicht immer aufgegangen ist, so ist die positive und enthusiastische Aufbruchstimmung vielen Bauten bis heute anzusehen.“ Aus Erfahrung weiß der Architekt: „Jammern und keppeln tun nur die Außenstehenden. Die Bewohner selbst sind mit ihrer Wohnsituation in den meisten Fällen zufrieden.“

Das bestätigt auch Sabine Pollak, Professorin für Urbanistik an der Kunstuniversität Linz: „Die Bauten werden heute nur noch nach ihrem äußeren Erscheinungsbild bewertet und nicht mehr nach ihren Grundrissen und räumlichen Konfigurationen. Hinzu kommt das Schreckgespenst der schlechten Energiebilanz von oft viel zu dünn konstruierten Wänden. So gesehen ist es nachvollziehbar, dass sich die Bevölkerung schwertut, solche Bauten positiv zu bewerten.“

Tatsächlich aber handle es sich dabei nicht um Planungs- und Baufehler, sondern um eine Missachtung von grundlegenden städtebaulichen Prinzipien. „Die Bedeutung des öffentlichen Freiraums und des Verkehrs wurde damals offensichtlich falsch eingeschätzt. Und ja, dadurch werden die Bauten grundsätzlich diskutierbar. Sprengen allerdings - das ist für mich die letzte aller Optionen.“

Welche Rolle werden die Linzer Enten in Zukunft spielen? „Bei hochwertigen Wohnbauten aus dieser Zeit spricht nichts dagegen, sie auf dem aktuellen Stand der Technik zu sanieren und sie den heutigen Wohnbedürfnissen anzupassen. Die Grundsubstanz ist meist sehr gut“ , erklärt Architekturhistorikerin Iris Meder: „Doch bei aller Liebe muss ich gestehen, dass viele dieser Bauten auf vielen Ebenen versagt haben. Um die Wohntürme auf dem Harter Plateau beispielsweise tut es mir kein bisschen leid. Ein Gebäude, das hässlich und noch dazu schlecht ist, muss abgerissen werden.“

Ausstellungsmacher Potocnik sieht die Sache mit den missratenen Küken etwas anders: „Das war das ehemalige Arbeiterwohnhaus der Voest und damit ist das Harter Plateau unmissverständliches Symbol für die industrielle Vergangenheit dieser Stadt.“ Hätte man früh genug eingegriffen, dann sei die Problematik dieser Wohnhausanlage (Bauzeit: 1972-1974), allen voran die fehlende soziale Durchmischung und die nicht vorhandene Infrastruktur, auch anders zu lösen gewesen. „Die Detonation war ein reines Politikum. Die Stadtverwaltung wollte dieses Ungetüm um jeden Preis loswerden.“

Mit Sprengstoff ins 21. Jahrhundert? Planungsmethode TNT? „Ganz und gar nicht! Wenn die Qualität nicht in ausreichendem Maße gegeben ist, kann man den Abbruch eines Gebäudes natürlich nicht ganz ausschließen“ , erklärt der Linzer Planungsstadtrat Klaus Luger (SP), „aber das ist ein absoluter Einzelfall.“ Man dürfe nicht vergessen, dass die Bauten der Sechziger- und Siebzigerjahre für einen eigenen Stil und ein eigenes Bewusstsein stehen. „Aus diesem Grund wünsche ich mir eine etwas differenziertere Diskussion um diese Epoche.“

Der Startschuss erfolgt kommende Woche. Anhand von großformatigen Fotografien von Gregor Graf präsentiert das afo 16 unterschiedliche, in jeder Hinsicht auffällige Wohn- und Bürobauten aus dieser Zeit. Ergänzt werden die dokumentarischen XXL-Ansichten von Texten, Interviews und Podiumsdiskussionen. Wichtig zu betonen: „Das ist keine wissenschaftliche Ausstellung, sondern eine Bewusstseinskampagne, die der Bevölkerung das Thema in all seinen Facetten ins Gedächtnis rufen soll.“ Ein positives, wenngleich subtiles Beispiel im Umgang mit dem ungewollten Erbe, ist die Teilsanierung des Hochhauskomplexes Lentia 2000. Mit Sondermitteln des Landes wurde der nicht mehr aus der Stadt wegzudenkende dunkelweiße Schandfleck (Bauzeit: 1973-1977) behutsam saniert. Der unverwechselbare Charakter wurde beibehalten, dem Entlein wurde keine einzige Feder gerupft.

„Heute werden diese Gebäude aus den Sechziger- und Siebzigerjahren von vielen Leuten verspottet und gehasst“ , sagt Lorenz Potocnik, „doch wie der Lauf der Geschichte schon etliche Male gezeigt hat, müssen erst einmal viele Jahrzehnte verstreichen, ehe man die Qualität einer Ära zu schätzen weiß. Die Generation nach uns wird uns danken.“

Wie geht es eigentlich dem hässlichen Entlein am Ende von Hans Christian Andersens Märchenklassiker Das hässliche Entlein? „Was erblickte es in dem klaren Wasser? Es sah sein eigenes Bild unter sich, das kein plumper, schwarzgrauer Vogel mehr, hässlich und garstig, sondern selbst ein Schwan war. Nun erkannte es erst sein Glück an all der Herrlichkeit.“ Na dann.

[ „Hässliche Entlein. Architektur der 60er- und 70er-Jahre in Linz“, architekturforum oberösterreich (afo), Herbert-Bayer-Platz, 4020 Linz. Eröffnung Donnerstag, 14. Mai 2009, 19 Uhr. Zu sehen bis 21. Juni. ]

Der Standard, Fr., 2009.05.08

27. April 2009Wojciech Czaja
Der Standard

„Ich bin ja auch oft paranoid“

Sir Peter Cook ist einer der großen Architektur-Theoretiker. Verwirklicht hat er nur wenig. Mit Wojciech Czaja sprach er über die Zukunft des Bauens. Heute trägt er in Wien vor.

Sir Peter Cook ist einer der großen Architektur-Theoretiker. Verwirklicht hat er nur wenig. Mit Wojciech Czaja sprach er über die Zukunft des Bauens. Heute trägt er in Wien vor.

Standard: Sie haben den Wettbewerb für die neue WU Wien gewonnen. Was ist das Reizvolle an diesem Projekt?

Cook: Mein Vortrag heute heißt Scene from the Prater: hard or soft? und sagt viel über den neuen WU-Campus aus: Studenten werden in einem Graubereich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit arbeiten. Ich glaube, dass diese Mischung aus Unterricht, selbstständigem Arbeiten im Randstein und Freizeitgestaltung gut funktionieren wird.

Standard: Welche Chance bedeutet die neue Wirtschaftsuniversität für Wien?

Cook: Mit Graz und Innsbruck ist Österreich sehr innovativ in Sachen Architektur. Leider gehörte Wien bisher nicht zu den interessantesten Architekturzentren. Das könnte sich nun ändern.

Standard: Nach dem Kunsthaus Graz ist das Institutsgebäude auf dem WU-Campus Ihr zweites Projekt in Österreich. Ein guter Schnitt angesichts der Tatsache, dass Sie bisher wenig gebaut haben.

Cook: Ich mag dieses Land. Ich kenne die Szene; und ich habe hier schon unterrichtet. Deswegen nehme ich an Wettbewerben in Österreich gerne teil. Und ich liebe die grundlegende Paranoia der Österreicher.

Standard: Welche denn?

Cook: Das hat wohl mit den vielen Tälern zu tun. Jeder Eingriff wird skeptisch beobachtet. Das ist einerseits eine unglaubliche Verfolgungsangst, zeugt aber andererseits von großer Identität. Ich finde das sympathisch.

Standard: Den Kunsthaus-Graz-Wettbewerb gewannen Sie mit einem Konzept, das weder auf damaligem noch auf heutigem Technikstand realisierbar wäre.

Cook: Das Haus war plan-, bau- und finanzierbar. Aber ich gebe zu, dass ich mich damals auf die neuesten technologischen Entwicklungen aus Japan gestützt habe. Die machen ziemlich gewiefte Dinge! Hätte man das Kunsthaus Graz in all seinen Potenzialen ernstgenommen, wäre die Realisierung des ersten Entwurfs durchaus möglich gewesen. Es gehört zur österreichischen Paranoia, dass es nicht so gebaut wie geplant wurde. Aber ich nehme das niemandem übel.

Standard: Geht da das Bauen nicht am Kern der Sache vorbei?

Cook: Keineswegs. Experiment und Pragmatismus müssen einander die Waage halten. Wenn eines davon fehlt, hat die Architektur versagt.

Standard: Stehen Sie noch hinter dem Kunsthaus Graz?

Cook: Abgesehen von der Tatsache, dass mein Kollege Colin Fournier und ich von allen anderen gemobbt wurden, stehe ich voll hinter diesem Projekt. Es ist zu 95 Prozent in Ordnung.

Standard: Sie unterrichten an der Bartlett School of Architecture, London. Was bringen Sie Ihren Studenten bei?

Cook: Entdeckt die wunderbare Kultur des Bauens! Ich will niemandem meine persönliche Meinung überstülpen und bin kein Freund von streng vorgegebenen Lernzielen. Ich bemühe mich, aus jedem Einzelnen etwas Besonderes und Einzigartiges hervorzukitzeln. Und ich erwarte von meinen Studenten, dass sie Grips entwickeln, Power haben und bereit sind, ihre Sache konsequent durchzuziehen.

Standard: Wie konsequent werden Sie das Campus-Projekt durchziehen?

Cook: Sehr konsequent.

Standard: Keine Angst vor der österreichischen Paranoia?

Cook: Doch, aber das ist der große Sympathiefaktor daran. Ich selbst bin ja auch oft paranoid. Der WU-Campus wird für uns alle eine gute Gelegenheit sein, einander die Ängste zu nehmen.

[ „Scene from the Prater: hard or soft?“ Vortrag ab 18.30. Odeon, 1020, Taborstraße 10 ]

Der Standard, Mo., 2009.04.27



verknüpfte Akteure
Cook Sir Peter

25. April 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Hamster hat seinen Preis

Der etwas andere Blick durch die Linse: Gestern, Freitag, wurde in Frankfurt der Europäische Architekturfotografie-Preis verliehen. Anmerkungen zum eingeheimsten Sieg.

Der etwas andere Blick durch die Linse: Gestern, Freitag, wurde in Frankfurt der Europäische Architekturfotografie-Preis verliehen. Anmerkungen zum eingeheimsten Sieg.

Eine Momentaufnahme aus den Gefilden des Gähnens. Rechtwinkelig und totenstill. Gelegentlich schwebt der Hauch einer menschlichen Silhouette durchs Bild. Wieder einmal musste die Assistentin als verwischter Wackelschatten herhalten. So sieht sie aus, die Baukunst aus dem Blickwinkel der Fotografen.

„Aus irgendeinem Grund hat es sich im Laufe der Jahre ergeben, dass die Menschen aus den Bildern verschwunden sind“, erklärt Wilfried Dechau, Vorsitzender des Vereins Architekturbild mit Sitz in Stuttgart. „Den Architekten und Redakteuren von Architekturzeitschriften mag das ja gefallen, aber alle anderen empfinden das als langweilig.“

Dass man aus der Not auch eine Tugend machen kann, beweist der Europäische Architekturfotografie-Preis, der gestern, Freitag, im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main übergeben wurde. Es ist der einzige internationale Preis in dieser Kategorie, der regelmäßig verliehen wird, und das schon seit 14 Jahren. Gefragt waren heuer Arbeiten zum Thema Neue Heimat. Wie zu erwarten war, sucht man auch auf diesen nicht sonderlich heimatlich anmutenden Fotos vergeblich nach lebenden Gestalten. Stattdessen pressten die Fotografen gehörig Kritik und Humor durch die Linse.

So etwa Stephan Sahm. Der Münchner Fotograf heimste mit seiner vierteiligen Bilderserie von knallig bunten Hamsterkäfigen den ersten Preis ein. „Ganz ehrlich, ich habe fix damit gerechnet, dass das eine aalglatte Themenverfehlung sein wird“, sagt Sahm zum Standard. Umso größer die Freude über den Sieg.

Doch warum gerade Hamsterkäfige? „Ich war auf der Suche nach Inspiration. Angesichts des Themas Neue Heimat dachte ich, dass ich in einem Baumarkt ganz gut aufgehoben sein könnte.“ Sofort fiel der Blick des 37-Jährigen auf die Tierecke. „Erst schmunzelt man über die bunten Käfige, die man hier vorfindet. Doch streng genommen ist es absonderlich, was man in einem Baumarkt alles zu Gesicht bekommt. Wenn man sich dann auch noch vorstellt, man wäre selbst ein kleiner pausbäckiger Goldhamster, dann läuft es einem kalt den Rücken hinunter.“

Gemacht seien die Käfige in erster Linie für Kinder. Für Menschenkinder. Dass ein Nagetier Freude dabei empfindet, ein ganzes Hamsterleben lang an irgendwelchen Plastikteilen herumzuknabbern, kann sich Sahm beim besten Willen nicht vorstellen, ganz zu schweigen von der Gesundheit.

„Das klingt doch absurd, oder? Aber in der Menschenarchitektur ist es nicht anders. Die Entscheidungen fällt die Industrie. Robust und billig muss es sein. Dass in diesen Häusern auch noch jemand wohnen und arbeiten muss, wird oft vergessen.“ Auf wie vielen Beinen man sich durchs Leben bewegt, ist letztlich Nebensache.

Beweis gefällig? Der Hamburger Fotograf Frank Meyl machte sich auf nach Schottland. In der Nähe von Pitlochry wurde er eines Campingplatzes fündig, den er - wohlgemerkt mit einiger seelischer Distanz zum Objekt - sodann in den Film bannte.

Die fotografische Dokumentation brachte ihm zwar keinen Preis ein, für einen Niederschlag im Katalog, der anlässlich des Preises erschienen ist, reichte es aber allemal. Wellblechhütten in unterschiedlichen Grüntönen stehen in Reih und Glied. Nicht gerade ein Lobgesang auf Wohlfühlfaktor und Individualität. Die Analogie zum Hamsterhabitat liegt auf der Hand.

Der Reiz der Unbelebtheit

„Einfach nur mit schönen Fotos kommt man bei diesem Preis nicht weit“, sagt der Vereinsvorsitzende Wilfried Dechau, „wir erwarten uns Arbeiten, die vor Ideen sprühen. Und wir wollen in den Einreichungen erkennen, welchen Zugang jeder einzelne Fotograf zu Architektur hat.“ Sinn und Zweck des biennal verliehenen Preises: „Wir möchten die Architekturfotografie innerhalb der Branche als eigenständigen Zweig etablieren. Vor allem wollen wir ihr das etwas schale Image nehmen, denn sie verfügt über viele Reize.“

Und wie sieht die Situation in Österreich aus? „Vor 15 Jahren hat ja noch kein Mensch gewusst, was Architekturfotografie überhaupt ist“, erinnert sich Pez Hejduk, Sprecherin der IG Architekturfotografie. „Wie oft habe ich mir anhören müssen: Ach so, Sie fotografieren Häuser? Mein Gott, wie langweilig!“ Heute sei die Situation eine völlig andere. Mittlerweile verzeichnet Architektur und somit auch die Fotografie derselbigen einen großen medialen Niederschlag. „Architekturfotos geistern bereits in jedem Bezirksjournal umher“, so Hejduk, „das Problem, mit dem wir heute zu tun haben, ist: Jeder will Fotos, doch niemand will dafür zahlen.“

Wie viele ihrer Kollegen und Kolleginnen äußert auch sie sich kritisch zu der Miteinbeziehung von Lebewesen. „Meine ganz persönliche Herangehensweise an die Arbeit ist die fotografische Baubegehung“, sagt Hejduk, „im Vordergrund steht die Dokumentation eines Bauwerks sowie die Darstellung der räumlichen Qualitäten und der damit verbundenen Emotionen.“ Menschen? Die seien doch meist nur störend. „Natürlich schicke ich sie nicht weg, wenn sie mir ins Bild treten. Aber generell bin ich der Meinung, dass Architektur Anspruch darauf hat, in ihrer alleinigen Schönheit dargestellt zu werden.“

Ein Hamsterrad. Wie es scheint, wird der Europäische Architekturfotografie-Preis in den nächsten Jahren noch viel Aufklärungsarbeit leisten müssen.

[ Neue Heimat. European Prize of Architectural Photography 2009, avedition, Ludwigsburg 2009, ISBN 978-3-89986-117-4, € 24,80 ]

Der Standard, Sa., 2009.04.25

14. März 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Die Zeit zwischen den Steinen

Der Wiederaufbau des Neuen Museums in Berlin ist abgeschlossen. Um das völlig zerstörte Haus wiederzubeleben, zog die ganze Stadt an einem Strang. Am 5. März war Schlüsselübergabe.

Der Wiederaufbau des Neuen Museums in Berlin ist abgeschlossen. Um das völlig zerstörte Haus wiederzubeleben, zog die ganze Stadt an einem Strang. Am 5. März war Schlüsselübergabe.

Es ist keine zehn Tage her, da warf sich die Berliner Hautevolee in Schale und begab sich feierlichen Schrittes zur Museumsinsel. Nach elf Jahren akribischer Sanierung, Restaurierung und Steinchenzählerei ist der Wiederaufbau des Neuen Museums, Unesco-Weltkulturerbe und laut Fachleuten eines der bedeutendsten Baudenkmäler des 19. Jahrhunderts, nun endlich abgeschlossen. Coram publico wurden, umgeben von Blitzlichtgewitter und einem Dutzend Fernsehkameras, den künftigen Nutzern die Schlüssel überreicht.

Stolz erfüllte den glasgedeckten Innenhof, wo der unvergleichliche Festakt über die Bühne ging. Bürgermeister, Bundesminister und Staatsminister übergaben einander das Wort, Staatssekretäre, Präsidenten und Direktoren zeigten sich dankbar und zutiefst verzückt. Allein, die Dankbarkeit diente nicht der gegenseitigen Bauchpinselei, wie man dies etwa aus Österreich kennt, sondern galt einzig und allein dem Planer und seinem engagierten Team.

Mit angeschlagener Gesundheit und sichtlich glasigen Augen kam schließlich Architekt David Chipperfield zu Wort: „Die Aufgabe war außergewöhnlich, die Bauarbeiter und Experten haben hervorragende Arbeit geleistet und die Zusammenarbeit mit den Auftraggebern war getragen von Vertrauen und gegenseitigem Respekt. So gesehen ist es auf eine besondere Weise traurig, dass diese Zusammenarbeit nun beendet ist.“

Jörg Haspel, Landeskonservator und Direktor des Landesdenkmalamtes Berlin, brachte in seiner Rede das Wunder auf den Punkt: „Man muss sich vorstellen, dass dieser Raum vor fünfzehn Jahren nicht existent war. Ein klaffender Riss ging mitten durch, das Haus war eine Ruine.“ Als Brand- und Bombenopfer des Zweiten Weltkriegs fiel das Gebäude im DDR-Regime - weggebombt, ausgebrannt und völlig durchnässt - in ein sechzig Jahre lang anhaltendes Koma. In den Mörtelfugen blühte üppiges Unkraut, in der Treppenhalle waren Ahornkeimlinge in all den Jahrzehnten zu wackeren Bäumen herangereift.

„Stellen Sie sich vor, das Gebäude wäre in den Nachkriegsjahren saniert worden“, so Haspel. Kaum auszumalen, wie das Resultat ausgesehen hätte! „Ich denke, wir können von Glück reden, dass das Haus so lange Zeit auf Herrn Chipperfield gewartet hat.“

Die Geschichte als Baumaterial

Die originale Bausubstanz, die an diesem Ort vorgefunden wurde, gibt der Denkmalpfleger zu bedenken, habe sich als große Chance erwiesen. „Einerseits war es viel Arbeit, andererseits war es ein Geschenk, ein historisches Bauwerk ohne die verfälschenden Spuren anderer Generationen übernehmen zu können. Wir haben versucht, alles zu erhalten, was die Geschichte uns überlassen hat.“

Anstatt in harten Kontrasten zwischen Alt und Neu erstrahlt das zum neuen Leben erweckte Museum unter einem Schleier von weichen Übergängen und sachte gesetzten Details. Kein Stahl, kein Beton, kein noch so cooles Material, das die meisten Architekten heutzutage zum Bauen so dringend benötigen wie andere die Luft zum Atmen. Stattdessen gibt es alte Ziegel, die aus zahlreichen Berliner Abbruchhäusern zusammengetragen wurden, sowie original erhaltene Kapitelle, Ziergesimse und Beschläge, herangekarrt aus jahrzehntelang eingemotteten Depots.

Die neuen Bauteile bestehen aus Weißzement, gestocktem und geschliffenem Kunststein sowie gebleichtem Eichenholz. Die Farbpalette der verwendeten Materialien reicht von Creme über Beige bis Hellbraun. Fade, könnte man meinen. Aber nein, das Haus versprüht den Duft eines klassisch herben Eau de Cologne. Stattlich im Auftreten, zeitlos elegant.

„Unser Ziel war es, ein einheitliches und zusammenhängendes Haus zu schaffen“, so Chipperfield. Doch wie damit umgehen, wenn von Friedrich August Stülers Bau aus den Jahren 1841 bis 1855 kaum noch etwas erhalten war? „Es war eine Gratwanderung zwischen Restaurierung, Wiederaufbau und Ergänzung. Natürlich war die Planung sehr schwierig. Viele Teile des Hauses waren stark zerstört oder haben gänzlich gefehlt.“

Am Anfang dieses Projekts stand eine lange Phase der Forschung, sagt der Architekt. In Millimeterarbeit wurde das Archiv nach Plänen, Texten und historischen Fotografien durchforstet. In einem zweiten Schritt wurden in Zusammenarbeit mit dem Restaurierungsarchitekten Julian Harrach die Möglichkeiten der Erhaltung, des Schutzes und der Rekonstruktion erforscht. Chipperfields Credo: „Eine der wichtigsten Fragen betrifft die visuelle Schönheit und die konzeptionelle Ästhetik. Ohne eine gewisse Schönheit bleibt jedes noch so wertvolle Baudenkmal unvollendet.“

Das Neue Museum liest sich wie ein Lexikon der Zeit. Es lädt zum kontemplativen Studium der Epochen ein. Hier eine Zierblume mit kobaltblauen Blättern, da ihre Weiterführung in unauffälligen Grautönen. Hier eine Kassettendecke aus Dreiecken und Rauten, da ein leicht gestocktes Relief zur Andeutung des einst Gewesenen. Hier ein wuchtiges Kapitell mit fein gearbeitetem Ornament, da eine einfache Platte als stummer Zeuge der Zerstörung.

Rarität aus Trümmern

Ein eigens zur Fertigstellung erschienenes Buch (Verlag E. A. Seemann) dokumentiert die Arbeiten am Museum, ein anderes fängt in wunderschönen Bildern die Ästhetik des Bauprozesses ein (Hatje Cantz Verlag). Da wie dort stehen Maschinen und Kräne im Raum, entfeuchten die Bausubstanz, rücken Säulen und Pfeiler in ihre ursprüngliche Position. Dazwischen immer wieder Spuren von Bauarbeitern, Restauratoren und Denkmalpflegern, die den geschichtlichen Scherbenhaufen zu einem neuen Ganzen zusammenzusetzen versuchen. Beide Bücher vermitteln einen kleinen Einblick in die Komplexität dieses Projekts.

Bevor das Neue Museum im Oktober seiner endgültigen Nutzung übergeben wird, steht noch einiges am Programm. Bis Ende März finden in den vorerst leeren Räumlichkeiten zeitgenössische Tanzperformances unter der Federführung von Sasha Waltz statt. 70 Tänzerinnen und Tänzer verbiegen an zehn Abenden ihre Körper im Einklang mit der Architektur. Im April beginnt dann die Einrichtung des Museums und die endgültige Platzierung der Exponate.

„Was uns David Chipperfield mit diesem Haus übergeben hat, ist eine Rarität“, sagt Michael Eissenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin. „Uns fällt ein historisches Gebäude in den Schoß, das mit großem Respekt in die Gegenwart transformiert wurde. Wir werden es mit Ehrfurcht behandeln.“

Nicht unwesentliches, und fürwahr ehrfürchtiges Detail am Rande: Bei Planungsbeginn im Jahre 1997 wurden die Baukosten mit 233 Millionen Euro beziffert. David Chipperfield und sein Team haben die Kosten um 30 Millionen Euro - jawohl, auch das ist möglich - unterschritten.

Fazit: Das Neue Museum ist wahrscheinlich der edelste und formvollendetste Wiederaufbau, den die Stadt seit ihrer Wiedervereinigung zu Gesicht bekommen hat. Hoffentlich wird das Projekt Vorbildcharakter für viele weitere Sanierungs- und Restaurierungsprojekte in Berlin haben.

Der Wunsch wird wohl unerhört bleiben. Die nächste Provinzposse kündigt sich bereits an: Auf der gleichen Insel, nur zwei Straßen weiter, soll nach Plänen des italienischen Architekten Franco Stella demnächst das Berliner Stadtschloss rekonstruiert werden. Über eine halbe Milliarde Euro wird in noch nie dagewesener Weise beim Fenster hinausgeschmissen. Und Berlin, so viel ist sicher, wird die hohe Schule der Sensibilität wieder ad acta legen, um sich erneut in schmalzig triefendem Historienkitsch zu suhlen.

Der Standard, Sa., 2009.03.14



verknüpfte Bauwerke
Neues Museum - Wiederaufbau

27. Februar 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Der gute Ton aus Stahlbeton

Morgen, Sonntag, wird in Graz das Musiktheater Mumuth eröffnet. Die Partitur stammt vom niederländischen Büro UN Studio. Eine Hörprobe.

Morgen, Sonntag, wird in Graz das Musiktheater Mumuth eröffnet. Die Partitur stammt vom niederländischen Büro UN Studio. Eine Hörprobe.

Ach, wie oft wurde Schopenhauer schon bemüht. Architektur. Gefrorene Musik. Alles schon gehört. Die meisten Bauwerke, die die Metapher der zarten Klänge für sich beanspruchen, stellen sich nach kürzester Zeit jedoch als ohrenbetäubender Krawall heraus. Da wird zusammengetrommelt, aufgegeigt und rücksichtslos hinausposaunt. Anders das Mumuth in Graz. Mit ruhigen Fingern haben Caroline Bos und Ben van Berkel vom niederländischen Büro UN Studio im neuen Musiktheater Note für Note an den für sie bestimmten Ort platziert.

Die ersten Ideen für ein zentrales Übungs- und Veranstaltungsgebäude der Universität für Musik und darstellende Kunst reichen bis in die Sechzigerjahre zurück. Zur tatsächlichen Ausschreibung kam es allerdings erst 1997. Aus einem internationalen Wettbewerb, an dem weit über 200 Büros teilgenommen hatten, ging UN Studio als Sieger hervor. Zwei Jahre später wurden die Architekten beauftragt. Und dann - nichts.

Graz brauche keine zweite Oper, hieß es in Zeiten von Schwarz-Blau. „Wir hatten das Projekt schon fast für tot erklärt“, sagt der Uni-Rektor Georg Schulz, „erfreulicherweise war mein Vorgänger Otto Kolleritsch aber so engagiert, dass es im März 2006 dann doch noch zum Spatenstich kam.“

Die Freude ist groß. Endlich könne man den Studierenden genug Raum bieten, um zu üben und das Geübte schließlich im passenden Rahmen vor Publikum zu präsentieren. Der Probebetrieb läuft bereits seit November, morgen Sonntag wird feierlich eröffnet.

Um es vorwegzunehmen: Wer sich eine urbane Skulptur mit Anmut und Grazie erwartet hat, der wird vom neuen Musiktheater enttäuscht sein. Die Außenhülle des Mumuth (Gesamtbaukosten 19 Millionen Euro) ist unspektakulär, ja sogar hässlich. Da hilft kein abgerundeter Sockel, kein über die Gebäudehöhe geblähtes Stahlgitternetz, kein buntes LED. Die Proportionen sind verpatzt. Das Ding steht da wie ein blechernes Mammut mit Übergewicht.

„Ich habe nichts dagegen, dass das Mumuth bei Tageslicht hermetisch und abgeschlossen wirkt“, erklärt Schulz, „eigentlich handelt es sich ja um zwei Gebäude in einem.“ Untertags läuft ganz normaler Unibetrieb, erst am Abend mutiert das Haus zu einem öffentlichen Theater. Auf Knopfdruck geht das Licht an und verwandelt den Dickhäuter in ein zart besaitetes Instrument. Theoretisch soll dabei das Innenleben nach außen gekehrt werden. Theoretisch.

Oper, Jazz und MTV

Aber das macht nichts. Sobald nämlich die Tür ins Schloss fällt und das Stadtleben verstummt, wird der Besucher mit einer spektakulären Partitur für alles Bisherige entschädigt. In Wogen und Wellen räkelt sich der Beton, glatt wie Babypopo, durchs Foyer und versetzt das Haus in euphonische Schwingungen. Ob die Architekten eine bestimmte Musik im Ohr hatten, als sie den Innenraum entwarfen? „Wir haben uns ein wildes Potpourri vorgestellt“, erklärt Ben van Berkel gegenüber dem Standard, „wir dachten an alles gleichzeitig. An Oper, Jazz und MTV.“

Wie von Geisterhand geführt, wandert man intuitiv die Treppen hoch. Kein Pfeil, kein Hinweisschild, kein unnötiger Behelf an der Wand. „Wir wollten ein Haus bauen, das trotz aller visuellen Opulenz klar und logisch aufgebaut ist“, sagen die Architekten, „wir wollten, dass sich die Besucher auch ohne nachträglich aufgesetztes Leitsystem zurechtfinden.“

Eine Sinfonie aus Stein, Beton und Edelstahl geleitet den Besucher in den ersten Stock. Sobald man im säulenlosen Pausenraum mit Blick auf Park und Dachlandschaft angekommen ist, erschließt sich einem die Funktion der massiven Betonspirale. Sie ist das statische Rückgrat des Mumuth und trägt ein Drittel des gesamten Hauses. Das konstruktive Konzept - ein Meisterwerk der Ingenieurskunst - stammt vom Londoner Büro Ove Arup & Partners. „Das Ding sieht schlimmer aus als es ist“, sagt Hannes Pfau, Projektleiter bei UN Studio, „statisch betrachtet, ist die Spirale ein simples dreidimensionales Kräftesystem.“

Es spricht der Profi: Die beiden Wände des Konzertsaals, die aus akustischen Gründen ohnehin in Stahlbeton gefertigt werden mussten, werden in den Pausenraum gezogen und um 90 Grad gedreht. Die eine Wand mutiert zur Deckenplatte über dem Erdgeschoß, die andere vollzieht ein Twist nach oben und stellt sich nach erfolgreicher Transformation plötzlich als Dach heraus. „Natürlich wird die Gebäudelast ins Erdreich geleitet - aber nicht etwa über den Betontwist, denn der schwebt schwerelos über dem Boden, sondern über die Seitenwände des Saals.“ Das ist angewandtes Kräftespiel für Fortgeschrittene.

Schöner kann gefrorene Musik nicht sein. Wenn tagsüber Sopran und Bariton aus den Übungsräumen dringen, muss man unweigerlich vor dem roten Treppenteppich verharren. Respekt vor dem Gesang, Respekt vor der Architektur. „Die Beziehung zwischen Musik und Baukunst ist eine sehr klassische“, sagt Ben van Berkel, „in diesem Gebäude harmonieren Blick und Gehör jedoch besonders gut.“ Zugabe: Ab 4. April wird im Mumuth die Johannes-Passion von Bach aufgeführt. Das Bühnenbild dafür stammt von UN Studio.

Eine spektakuläre Partitur: In Wogen und Wellen räkelt sich der Stahlbeton, glatt wie Babypopo, durchs Foyer und versetzt das ganze Haus in euphonische Schwingungen.

Die Schalung für den Stahlbeton wurde aus Hartschaum gefräst. Der Beton selbst wurde nicht gegossen, sondern unter Druck hineingepumpt. Bei Dämmerung gibt sich das Mumuth als Kiste aus Glas und Edelstahl.

Der Standard, Fr., 2009.02.27



verknüpfte Bauwerke
MUMUTH - Haus für Musik und Musiktheater

19. Februar 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Weißbuch der Dächer

Der Treibhauseffekt ließe sich verlangsamen - und zwar mit weißen Dachlandschaften, die die Hitze reflektieren statt absorbieren. Doch Politik und Wirtschaft sind an einer einfachen Lösung nicht interessiert.

Der Treibhauseffekt ließe sich verlangsamen - und zwar mit weißen Dachlandschaften, die die Hitze reflektieren statt absorbieren. Doch Politik und Wirtschaft sind an einer einfachen Lösung nicht interessiert.

Vom Flugzeug aus betrachtet hat jede Stadt ihre eigene Farbe. Paris erscheint silbergrau, Rom ist in einen schillernden Ockerton getaucht und die Innenstadt von Graz erstrahlt in einem kräftigen Ziegelrot. Doch die Dachlandschaft von Großstädten hat nicht nur Auswirkungen auf das Ambiente, sondern auch auf das Klima. Was vor einigen Jahrhunderten, als die zahlreichen Palazzi und Palais gebaut wurden, noch keine Rolle spielte, stellt sich nun als wichtiger Klimafaktor heraus: Dunkle Dachflächen beschleunigen den Treibhauseffekt, da sie viel Sonnenenergie absorbieren und dadurch zur Erwärmung der Stadt beitragen.

Die Lösung für das urbane Dilemma bietet eine Studie des Lawrence Berkeley National Laboratory, die im September 2008 im Rahmen der California Climate Change Conference in Sacramento präsentiert wurde. „Paint your roof, save the planet“, lautete der Aufruf von Physiker Hasehm Akbari. Nicht auf bunte Vielfalt hatte er es dabei abgesehen, sondern auf Weiß. Wie auf T-Shirts und Autos vielfach bewiesen, senkt die helle Oberfläche die Temperatur, indem ein Großteil des Lichts reflektiert wird.

Die errechneten Einsparungen sind gigantisch: Ein durchschnittliches Einfamilienhaus mit einer Dachfläche von 100 Quadratmetern könnte im Jahr demnach rund zehn Tonnen Kohlendioxid ausgleichen. Dem nicht genug. Akbari appelliert an die Regierung der USA, in den zehn größten Ballungsräumen des nordamerikanischen Kontinents sämtliche Dächer weiß zu streichen bzw. mit weißen Materialien einzudecken.

Ein ganzer Kontinent in Weiß

Allein durch diese Maßnahme ließen sich in den USA pro Jahr 24 Gigatonnen CO2 einsparen. Das ist rund die Hälfte der weltweiten Kohlendioxid-Mengen, die Jahr für Jahr in die Atmosphäre geschleudert werden. Mit einer Ausweitung der weißen Zone auf andere Kontinente könnten die CO2-Emissionen noch stärker gesenkt werden. „Ich nenne das Win-win-win“, sagt Hasehm Akbari und nennt die drei Vorteile dieses Konzepts: „Man spart Kühlenergie ein, man reduziert den Smog und man verringert die Erderwärmung.“

Die Idee der weißen Dächer hat auch in Europa schon erste Anhänger. So malte etwa das Schweizer Unternehmen Jenni Energietechnik AG vor einiger Zeit das Dach des Verwaltungsgebäudes weiß an. „Wir haben das als PR-Aktion gesehen“, sagt Geschäftsführer Josef Jenni, „außerdem wollten wir die Politik wachrütteln und vorzeigen, in welche Richtung die Entwicklung gehen könnte.“ Allein, die Aktion verpuffte. Mittlerweile ist die weiße Farbe wieder ab. „Herkömmliche Farbe auf dem Dach ist nicht ganz unproblematisch“, wie Jenni betont, „hier ist der Markt gefordert, entsprechende Produkte zu entwickeln.“

Skeptisch wird die Materialfrage auch hierzulande unter die Lupe genommen. „Die Idee ist interessant und ist sicherlich eine gute Grundlage, um auch in Österreich eine derartige Studie durchzuführen“, erklärt Karin Stieldorf von der Arbeitsgruppe für nachhaltiges Bauen an der TU Wien. „Doch die eigentliche Frage lautet: Wie macht man ein Dach weiß, und welche Auswirkungen wird das auf das Stadtbild haben?“

Weiße Dächer wären nicht nur eine Herausforderung für Politik, Tourismus und Denkmalschutz, sondern auch für die gesamte Industrie. Der Großteil der bestehenden Bausubstanz ist mit Dachziegeln gedeckt. Helle Dachsteine gibt es zwar, ein weißer müsste allerdings erst entwickelt werden. Doch das Interesse ist gering. „Da wir von dieser Studie und den darin enthaltenen Überlegungen zum ersten Mal hören“, heißt es etwa seitens des österreichischen Marktführers Wienerberger AG, „können wir seriöserweise keine Aussage treffen.“

Der Standard, Do., 2009.02.19

06. Februar 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Kratzer in der Hochglanzpolitur

Filme über Architektur gab es schon viele. Aus der Sicht einer Putzfrau wurde zeitgenössisches Bauen allerdings noch nie beleuchtet. Großartig.

Filme über Architektur gab es schon viele. Aus der Sicht einer Putzfrau wurde zeitgenössisches Bauen allerdings noch nie beleuchtet. Großartig.

Brünette Locken, schwarz getupfte Bluse, Wischmopp in der Hand. Guadalope Acedo, tätig als Haushälterin in Bordeaux, geht einer Architekturikone des 20. Jahrhunderts an den Kragen. „Die geraden Stiegen gehen ja noch, aber die Wendeltreppe ...“

Sekunden später sieht man die ziemlich präsente Dame auf den schmalen Stufen balancieren. Wie Messerklingen stecken die Stahlplatten in der Wand und schrauben sich hoch ins Obergeschoß. Guadalope stützt sich auf das dicke Rohr ihres Staubsaugers. „Ja, das ist mein Gehstock. Und passen Sie ja auf, das ist alles ein bisschen eng hier.“ Schnitt.

koolhaas houselife, ein Film von Ila Bêka und Louise Lemoîne, sorgte bereits auf der letzten Architektur-Biennale in Venedig für lachende Begeisterung. Es ist das einstündige Porträt eines überaus feschen und von der Architektenschaft abgefeierten Einfamilienhauses am Rande von Bordeaux, entworfen vom zeitgenössischen Zampano Rem Koolhaas. Die erste Auflage in viel zu kleiner Stückzahl war prompt vergriffen. Seit Jänner liegt die Buch-DVD samt Film und prächtig dokumentierendem Bildband nun in zweiter Auflage vor.

„Die beiden Filmemacher Bêka und Lemoîne sind voller Esprit und haben unglaublich viel Gefühl auf Lager“, schrieb die französische Tageszeitung Le Monde anlässlich des Erscheinens, „das ist genau das, was in Architekturfilmen bisher fehlte.“ Es sind nämlich nicht die Architekten und Bauherren, die vor der Kamera zu Wort kommen, sondern die stillen Helferlein im Hintergrund: Putzfrau, Gärtner, Fensterputzer, Sachverständiger.

Wenn der Ernst ins Wasser fällt

Moderne Architektur aus der Sicht einer Reinigungskraft - eine noch nie dagewesene Filmbetrachtung. Herrlich voyeuristisch, zum Lachen komisch, zum Weinen tragisch. Unbeirrbar versucht Guadalope mit ihrem charmant iberischen Akzent, das Gebäude zu bezwingen. Vergeblich. „Die Arbeiten in diesem Haus hören nie auf. Kaum ist man an einem Ende fertig, muss man wieder von vorn beginnen.“

Und dann der Wolkenbruch. Es tropft, es rinnt, es gießt in Strömen. Nicht nur draußen, sondern auch drinnen im Haus. Die Fassade ist undicht. Schüsseln, Teller, Tupperware - präzise arrangiert - verhindern das Schlimmste. Hektisch läuft Guadalope durchs Bild, kommt mit Suppentassen, Gläsern und Aschenbechern, bückt sich und tauscht die vollen Gefäße gegen neue aus. „Die Scheiben hätten schon längst ausgetauscht werden sollen. Ach was, die Fassade ist eine halbe Baustelle.“

Feuchtfröhlich geht's auch zu, wenn in der 38. Minute schließlich die Herren Sachverständigen ihren Auftritt haben. Ihre Mission: Ortung der undichten Stellen. Im Garten wird eifrig die Wiese bewässert, einen Stock tiefer tummeln sich derweilen die geübten Augen, um auf den Eintritt der Feuchtigkeit zu warten. Die Kamera blickt den Männern über die Schulter. Vom Wasser keine Spur. Plötzlich der beunruhigende Klang von Niagara: Vor dem Fernseher klatscht ein Wasserfall zu Boden. Kollektives Kopfnicken. „C'est une investigation positive.“ Das ist dann wohl ein positives Resultat, wie man im Fachjargon sagt.

Ein ziemlich vernichtendes Urteil für ein Haus, das gerade einmal zehn Jahre auf dem Buckel hat. „Es geht nicht darum, dass wir mit diesem Film auf die nicht funktionierenden Dinge aufmerksam machen wollen“, sagt die Produzentin Louise Lemoîne. Schon gar nicht wolle man den Architekten Rem Koolhaas bloßstellen. „Wir wollten lediglich eine Woche lang vor Ort sein und den Alltag aus der Sicht einer involvierten Person dokumentieren.“ Und außerdem: „Die beiden Kapitel mit dem Wasser machen nur ein paar Minuten des Films aus. Die übrigen 22 Kapitel befassen sich mit ganz anderen Themen dieser Architektur.“

Beispielsweise mit dem komplexen und wohl durchdachten Wegesystem im Haus. Mit den schönen und unglaublich poetischen Ausblicken und Durchblicken. Oder mit dem ganzen Bataillon an Maschinen und Motoren, die wie unsichtbare Geister die Terrassentüren zur Seite schieben, die Brüstungen aufklappen und die gläsernen Bullaugen in der Betonmauer federleicht aufspringen lassen.

Herzstück des Hauses ist der offene Lift, auf dem Guadalope mit ihrem gesamten Reinigungsequipment auf- und abfährt. Heute ist es die Putzfrau, die das technische Meisterwerk zur Überwindung der Schwerkraft verwendet. Damals noch war es Monsieur Jean-François. Das Haus wurde für ihn und seine Familie maßgeschneidert.

Dem im Rollstuhl sitzenden Bauherrn hatte Koolhaas einen zehn Quadratmeter großen und wandlosen Arbeitsraum geplant, mit dem er eigenständig vom Keller bis in den ersten Stock hochfahren konnte. Gleichzeitig diente der Raumlift als Steighilfe, um zu den tausenden Büchern zu gelangen, die in die insgesamt zehn Meter hohe Bibliothek geschlichtet sind - barrierefreies Bauen einmal anders.

„Das war das Zimmer des Monsieurs“, erzählt Guadalope, während sie - die Fernbedienung in der Hand - auf der Plattform steht und dem Kameramann die Abläufe im Haus erläutert. Da sei er immer gesessen, da sei sein Schreibtisch gestanden, und da drüben das Bett. „Das Haus war nur für ihn gemacht. Heute ist alles anders. Ich höre Madame schon seit langer Zeit nicht mehr lachen.“

Architektur gegen den Alltag

Und was sagt Koolhaas selbst zu dem Film? „Ein bisschen überrascht es mich, dass das Haus aus einer derart alltäglichen Sicht beleuchtet wird. Der Film ist nicht besonders schmeichelnd“, so Koolhaas, aber er zeige eine kritische Realität, eine Art Secret Life. "Da prallen zwei unterschiedliche Systeme zusammen: die platonische Konzeption der Reinigung auf die platonische Konzeption der Architektur. „Ich will mich nicht mit Le Corbusier vergleichen, aber seine Bauten waren auch von einer gewissen Unperfektheit bestimmt.“

Louise Lemoîne sieht das ganz nüchtern: „Architektur ist eine Materie, die benutzt wird. Nach einiger Zeit gibt es eben Gebrauchsspuren. Das ist ganz natürlich. Allerdings vergessen das viele, denn in den Hochglanzzeitschriften und auf den tollen Fotografien wird dieser Aspekt ausgeblendet.“

Die nächsten Filme der Serie Living Architecture liegen schon zum Schneiden bereit. Im Herbst erscheinen bei BêkaFilms gleich drei Dokumentationen über Gebäude von Richard Meier, Frank O. Gehry und Herzog & de Meuron. Man wird wieder lachen dürfen.

„Eines Tages hat sich Monsieur bei mir bedankt“, erinnert sich Guadalope Acedo in einer fröhlichen Minute. „Aber ich habe ihm gesagt: Was nützt mir ein Dankeschön? Denken Sie lieber daran, dass ich in Spanien ein Grundstück besitze und noch Pläne für mein Haus brauche!“ Poliert den Spiegel und lacht. „Da hat er aber ein Gesicht gemacht. Solche Augen und solche Ohren hat er gekriegt.“

[ Buch und DVD: koolhaas house- life, ein Film von Ila Bêka und Louise Lemoîne, erschienen bei BêkaFilms, zu beziehen über www.bekafilms.it ]

Der Standard, Fr., 2009.02.06



verknüpfte Publikationen
Koolhaas HouseLife

31. Januar 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Schwarze Spitze und Zuckerguss

Das schrille Boarding House aus der Feder von Architekt Denis Kosutic ist der Beweis dafür, dass Wohnen auf Zeit sexy sein kann - und sein muss.

Das schrille Boarding House aus der Feder von Architekt Denis Kosutic ist der Beweis dafür, dass Wohnen auf Zeit sexy sein kann - und sein muss.

Was passiert, wenn Marie Antoinette mit der Achtzigerjahre-Popikone Doris D zusammenprallt? „Die Frage ist sicher nicht alltäglich, aber genau das macht sie ja so spannend“, sagt Denis Kosutiæ. Das Planungskonzept, das der Mietwohnung für das Wiener Immobilienbüro Dr. Jelitzka+Partner zugrundeliegt, ist gelüftet. Schriller Pop trifft auf üppige Historie. „Nein, das ist kein Wohnkonzept auf Dauer“, erklärt der Architekt, „aber um ein Boarding House oder eine Wohnung für eine kurze Mietdauer attraktiv zu machen, muss man sich schon etwas Außergewöhnliches einfallen lassen.“

Die bestehende Altbauwohnung mit Blick auf die Rossauer Kaserne wurde komplett entkernt und saniert. Der Innenausbau wurde minutiös geplant, die Auswahl der Möbel perfekt aufeinander abgestimmt. Kein auch noch so kleines Detail blieb dem Zufall überlassen. „Ziel war es, den verweilenden Gast in eine Kulisse aus Sein und Schein zu entführen“, sagt Kosutiæ, „ich wollte eine sexy Wohnung schaffen, die Lust darauf macht, sich darin aufzuhalten.“

Sämtliche Einbaumöbel sind aus amerikanischer Nuss. Aufblitzende Nischen in Hellblau, Pastellgrün und zartem Rosa setzen farbige Akzente. „Weiße Wände wären in diesem Zusammenhang fehl am Platz gewesen, da muss man schon konsequent sein“, sagt der Architekt, der prompt zu rosafarbener Dispersion und zu weißem Stuck griff. Entgegen allen Befürchtungen denkt man weder an einen Punschkrapfen, noch an Barbies Puppenhaus. Beinahe könnte man die Wandgestaltung als gediegen bezeichnen.

Ungewöhnlich ist die Wahl der frei stehenden Möbel. Im Vorzimmer befindet sich ein halb verbrannter und anschließend in Epoxydharz getränkter Stuhl, darüber hängt ein ebenso bearbeiteter Luster. Dem Kronleuchter, ein Exponat aus der Serie „Smoke“ des niederländischen Designers Marten Baas, fehlen bereits zwei Kerzenarme. Sie sind dem Feuer zum Opfer gefallen.

Verfremdung ist auch das Motto des Wohn- und Schlafraumes. Die barock anmutenden Esstisch-Stühle stellen sich als Kunststoffentwürfe von Philippe Starck heraus, die weiße Stehleuchte neben dem Bett als gigantisch aufgeblasener Historienverschnitt, und die beiden weißen Nachtkästchen links und rechts von der Schlafstätte als artige Häkeldeckchen, die mittels Kunstharz zu fragilen Würfeln erstarrt sind.

Teure Möbel, teure Miete

Billig ist die Einrichtung nicht. Moooi, Kartell und Living Divani rangieren im oberen Segment der Möbelbranche, und so stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Preis. „So viel kann ich verraten: Die Möblierung der Boarding- House-Wohnung macht rund das Doppelte der Sanierungskosten aus“, erklärt Daniel Jelitzka, Geschäftsführer des gleichnamigen Immobilienunternehmens. Spätestens in sieben oder acht Jahren, so rechnet er vor, werde sich die Investition amortisiert haben. Dafür sorge die hohe Auslastung.

„Die Wohnung kommt bei unseren Kunden gut an“, so Jelitzka, „in erster Linie sind das Geschäftsreisende, Manager oder Leute, die in Wien ein Sabbatical machen oder einfach nur eine Zeitlang in dieser Stadt leben möchten.“ Zwar kostet die 80 Quadratmeter große Wohnung das Vielfache einer herkömmlichen Mietwohnung, aber dafür habe der Gast voll möblierte Räume in unverwechselbarer Atmosphäre - Service und Reinigung inklusive.

Und die schwarzen Vorhänge? Ein schelmisches Grinsen. „Das ist französische Spitze vom Feinsten“, sagt Kosutiæ, „mit dem einzigen Unterschied, dass der Stoff nicht zu schmalen Tangas geschnitten, sondern in einem Stück vors Fenster gehängt wurde.“ Ein ungewöhnliches Einsatzgebiet. „Die Damen bei Komolka waren etwas erstaunt. Noch nie zuvor haben sie so viel Reizwäsche auf einmal über den Tresen gehen lassen.“

Der Standard, Sa., 2009.01.31



verknüpfte Akteure
Košutić Denis

24. Januar 2009Wojciech Czaja
Der Standard

35 Milliarden Gramm Kosmos

Kommende Woche wird das Porsche-Museum in Stuttgart eröffnet. Die Wiener Architekten Delugan Meissl stiegen ordentlich aufs Gas.

Kommende Woche wird das Porsche-Museum in Stuttgart eröffnet. Die Wiener Architekten Delugan Meissl stiegen ordentlich aufs Gas.

Die Geburtsstunde von Porsche ist in wenigen Worten erklärt. „Am Anfang schaute ich mich um, konnte aber den Wagen, von dem ich träumte, nicht finden“, soll Ferry Porsche kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt haben, „also beschloss ich, ihn mir selbst zu bauen.“ Am 8. Juni 1948 erhielt der buckelige Prototyp mit der Bezeichnung 356 Nr. 1 die Straßenzulassung und rollte hinaus auf den Asphalt.

Von Visionen gepeitscht war auch der Bau des neuen Porsche-Museums in Stuttgart Zuffenhausen. Der Vorstand wünschte sich eine unverwechselbare Visitenkarte für das Unternehmen, ein repräsentatives Flaggschiff für Zuffenhausen - und bekam es auch. Das Wiener Büro Delugan Meissl Associated Architects konnte sich im Rahmen eines europaweiten Wettbewerbs gegen insgesamt 170 Mitstreiter durchsetzen und lieferte, messerscharf zugeschnitten und kompromisslos kantig, einen weißen Tempel, in dem die herausragendsten Fahrzeuge aus sieben Jahrzehnten nun der Öffentlichkeit präsentiert werden. Kommende Woche wird eröffnet.

„Das Projekt wäre in dieser Form vor wenigen Jahren noch nicht realisierbar gewesen“, erklärt Anton Hunger, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit und Presse der Porsche Automobil Holding SE, „bisher fehlten die entsprechenden Werkstoffe und die technischen Grundlagen, um so ein Gebäude zu errichten.“ Allein schon die äußere Erscheinung des Baus ließe erahnen, welche enormen Herausforderungen die beteiligten Bauingenieure und Statiker bewältigen mussten.

Im Klartext: Die gesamte Halle mit 5600 Quadratmetern Ausstellungsfläche und mächtigen 35.000 Tonnen Gewicht ruht auf wenigen Stützen. Unten pfeift der Wind durch, oben werden die rollenden Karossen - im feinsten Kunstlicht drapiert - zur Schau gestellt. Die Geste ist ein architektonischer Volltreffer. „Das ist das wichtigste und größte Bauprojekt in der Geschichte des Unternehmens“, sagt Roland Delugan und stemmt dabei mit seinen beiden Armen eine luftige Wolke in den Himmel, „wir wollten diesen Umstand feiern und haben zu diesem Zweck achtzig Autos einfach in die Höhe gehoben.“ Simpel und einleuchtend: „Weg von der Erde, rauf in den Kosmos Porsche.“

Die Erlebniskomponente des Museumsbesuchs entfaltet sich bereits draußen auf dem Porscheplatz. Zum Gebäude hin ist der Platz abgesenkt, man kullert regelrecht hinein. Delugan: „Wir wollten nicht, dass die Besucher Stiegen emporsteigen und dann außer Atem im Foyer ankommen. Wir wollten, dass sie leichten Schrittes hinabgleiten.“

Ein großer Spiegel der Zeit

An der Unterseite der schwebenden Ausstellungshalle befindet sich der wohl größte Spiegel, den die Baukultur je zu Gesicht bekommen hat. Auf einer Fläche von 6000 Quadratmetern sind polierte Edelstahlplatten angebracht, in denen sich alles Irdische spiegelt: Passanten, in Beton gegossene Gitternetzlinien, wild übereinandergelegte Leuchtstreifen. Beeindruckender Blickwinkel.

„Das Schweben des Gebäudes ist Teil der Dramaturgie“, sagt Projektleiter Martin Josst, und betont, dass weder Statik noch Fassadengestaltung einfach in den Griff zu bekommen waren. Die geschuppte Fassade und der in Rauten zerlegte Spiegel am Bauch des Hauses dienen einem ganz bestimmten Zweck: „Das Gebäude bewegt sich. Je nach Anzahl der Autos und je nach Besuchermenge schwingt das letzte Stück der Auskragung um zwölf Zentimeter auf und ab. Diese Verformung muss das Gebäude aufnehmen, ohne dass es an den Fassaden zu Rissbildung kommt.“

In den Innenräumen dominiert die Farbe Weiß. Auf einer 30 Meter langen Rolltreppe sticht man hinein in den eigentlichen Hauptraum des Museums. Was außen wie eine massiv zurechtgeschnitzte Kiste ausgesehen hat, entpuppt sich innen als eckig ineinander verschlungene Spirale mit einer Weglänge von mehr als einem halben Kilometer - Rastplätze inklusive. Mittels Stufen sind die vielen unterschiedlichen Ebenen miteinander verbunden. Ein Abstecher ist jederzeit möglich.

Wände und Ausstellungselemente sind aus einem mineralischen Werkstoff gefertigt, der vor Ort zu einem monolithischen Korpus verschweißt wurde. Alles aalglatt. Auf dem Boden liegen Verbundplatten aus Glasstaub und Bindemittel. Durch die chemischen Eigenschaften ist das Material resistent gegen Gummiabrieb und Motoröl - eine Komponente, die im alltäglichen Betrieb eines Automobilmuseums nicht zu unterschätzen ist.

Doch warum Weiß? „Die Gestaltung wurde schlicht belassen, weil sich der Fokus auf die Autos richten soll“, erklärt der Stuttgarter Museumsprofi HG Merz, der für die Ausstellungsgestaltung verantwortlich zeichnet. „Es ist nicht nötig, Disneyland-Kulissen aufzustellen oder die Autos in irgendeine auffällige Architektur zu verpacken. Das macht man nur mit einem billigen Geschenk.“

Das war das Stichwort. 100 Millionen Euro ließ sich die Porsche AG ihr neues Museum kosten. „Eine Stange Geld“, wie Pressesprecher Hunger bemerkt, „doch dafür haben wir auch ein beeindruckendes Gebäude erhalten.“ Recht hat er. Delugan Meissl haben aus dem Vollen geschöpft. Eine Wucht.

Umso erstaunlicher, dass die Porsche-Leute die Gestaltung des Nobelrestaurants „Christophorus“, das direkt an die Ausstellungshalle grenzt, den eigenen Architekten wieder aus der Hand gerissen haben. Mit seinen gedengelten Messingknäufen, ziselierten Lustern und fragwürdigen Bugholzstühlen von anno dazumal wirkt das Lokal wie ein missglücktes Versatzstück aus einem Roman von Jules Verne. Oder - um in Porsche-Sprache zu sprechen: Hier prallen Kosmen aufeinander. Auf der einen Seite eine architektonische Meisterleistung, auf der anderen Seite eine Provinzposse, die einem den Appetit verdirbt.

Der Standard, Sa., 2009.01.24



verknüpfte Bauwerke
Porsche Museum Stuttgart

17. Januar 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Die soziale Kompetenz der Zukunftsstadt

Erstmals richtete die Wiener Förderungsstelle departure ihren Fokus auf Forschungsthemen im Bereich Architektur. Seit gestern, Freitag, sind die zehn Preisträger bekannt. Interessant: Es dominiert der öffentliche Raum.

Erstmals richtete die Wiener Förderungsstelle departure ihren Fokus auf Forschungsthemen im Bereich Architektur. Seit gestern, Freitag, sind die zehn Preisträger bekannt. Interessant: Es dominiert der öffentliche Raum.

Wien - Die Idee ist perfekt, maßgeschneidert für eine Stadt wie Wien. Architekt Clemens Mayer und Rechtsanwalt Lukas Aigner haben ein Hängebalkonsystem entwickelt, das mit wenigen Handgriffen einfach vor die Fassade gehängt werden kann. Den Prototypen für den so genannten Easybalkon gibt es schon seit einigen Jahren. Nun soll das Produkt bis zur Serienreife weiterentwickelt werden. Geht alles nach Plan, soll der Konsument schon in wenigen Jahren die Möglichkeit haben, Produkt, Planung und lästige Behördengänge bei der Easybalkon GmbH aus einer Hand einzukaufen. Ab 5000 Euro ist man dabei.

Das Förderprogramm von departure, Tochter des Wiener Wirtschaftsförderungsfonds (WWFF), macht's möglich. Im Sommer letzten Jahres wurde erstmals ein eigener Themencall für Forschungsprojekte aus dem Bereich Architektur ausgeschrieben. Am Freitag wurden nun jene zehn Projekte vorgestellt, die eine Fachjury unter Vorsitz von Andres Lepik (Museum of Modern Art, New York) für förderwürdig erachtete. Das Gesamtfördervolumen beläuft sich auf 1,13 Millionen Euro.

„Die Bandbreite der eingereichten Projekte gefällt mir sehr gut“, erklärt departure-Geschäftsführer Christoph Thun-Hohenstein. „Es fällt deutlich auf, dass viele Architekten über eine hohe soziale Kompetenz verfügen.“ Und so zieht sich durch einige der Siegerprojekte unübersehbar ein roter Faden. Der Schwerpunkt, der die Zunft derzeit zu beschäftigen scheint, ist der öffentliche Raum, der Freiraum, die Kluft zwischen privatem Bürger und politischer Stadt.

Architekt Florian Haydn will die sozialen Beziehungen und Nachbarschaftsnetzwerke in der Stadt untersuchen. Das Wiener Büro nonconform bastelt an einer Web-Plattform, auf der sämtliche Bewohner einer Gemeinde ihre Ideen für künftige Projekte und Entwicklungen präsentieren können. Und Michael Wallraff beispielsweise (siehe Foto) begibt sich in seinem Forschungsprojekt „Der vertikale öffentliche Raum“ auf die Suche nach neuen ökologischen und gesellschaftlichen Freiraumressourcen.

„Die Städte werden immer dichter und privatisierter, gleichzeitig schrumpfen die allgemeinen Freiflächen, auf denen Stadtbewohner einander begegnen können“, sagt Wallraff, und bietet seinen persönlichen Lösungsansatz. In Zukunft sollen Grünflächen an der Fassade emporwachsen, sollen Wiesen am Dach sein, sollen städtische Plätze in die dritte Dimension verlängert werden. Die Forschungsdauer aller Projekte beträgt bis zu drei Jahre.

Der Standard, Sa., 2009.01.17

03. Januar 2009Wojciech Czaja
Der Standard

Die Stunde des grünen Puffers

Wie sieht das Bürohaus der Zukunft aus? Zum Beispiel so wie die Energy-Base. Ein Appell.

Wie sieht das Bürohaus der Zukunft aus? Zum Beispiel so wie die Energy-Base. Ein Appell.

Zwei Euro Heizkosten pro Jahr? Unmöglich. Noch unglaubwürdiger wird die Geschichte, wenn man bedenkt, dass in diesem Preis auch schon die Kosten für Warmwasser, Kühlung und Beleuchtung abgedeckt sind. Keine Mär aus Architektenmunde, sondern Realität. Hieb- und stichfest, schwarz auf weiß. Spätestens dann, wenn der nächste Erlagschein für Strom und Gas ins Haus flattert.

Ort des Geschehens ist Wien Floridsdorf. In einem heimeligen Eck des Bezirks, abgeschieden von Autos und Passanten, wurde in den letzten zwei Jahren die sogenannte Energy-Base hochgezogen. Die ersten Mieter sind bereits eingezogen. Wie in einem Sciencefiction-Film sitzen die Mitarbeiter hinter einer geschuppten Fassade, Tür an Tür mit zierlichem Zyperngras, das in abgeschirmten Hightech-Glasboxen wacker gedeiht. Alles kein Zufall, alles keine Komposition zugunsten der Optik, sondern planerisches Kalkül der Spitzenklasse.

Die Energy-Base sei nicht nur ein energie- und ressourcenschonendes Bürohaus im Passivhausstandard, sondern Wegbereiter für die Zukunft des Bauens, sagt Gregor Rauhs, Projektleiter und Bauherrenvertreter für den Wiener Wirtschaftsförderungsfonds (WWFF). „Die Grundidee für dieses Gebäude war die Überlegung: Wie würden wir morgen bauen, wenn sich die Energiepreise über Nacht plötzlich verdoppeln? Vor einigen Jahren war das noch ein Horrorszenario, heute sehen wir dieser Gefahr direkt ins Auge.“

Begonnen hat die Sache mit dem harmlos klingenden Forschungsprojekt sunny research. Die Wiener pos architekten, allen voran Ursula Schneider und Fritz Öttl, wurden damit beauftragt, ein nachhaltiges Gebäudekonzept zu entwickeln. Jawohl, es klingt zum Gähnen. Nachhaltigkeit, das Unwort des vergangenen Jahres, man kann sich des Begriffs kaum noch erwehren. Doch die beiden warfen sich ins Zeugs und präsentierten ein Projekt fernab aller ästhetischen Konventionen, wiewohl mit ungeahnten Potenzialen.

Fassade mit Energiegewinnung

Die Schönheit entfaltet sich auf den zweiten Blick. Die gezackte Südfassade, gewöhnungsbedürftig wie alles andere an diesem Haus, entspringt keiner architektonischen Willkür, sondern ist durch und durch behirnt. Die flache Wintersonne dringt ungehindert in den Raum und verhilft dem Quecksilber zu wohligen Werten. Im Sommer jedoch, wenn die Sonne hoch im Himmel steht und zornig auf die Stadt hinunterknallt, trifft sie direkt auf die Fotovoltaik-Anlage an der Zackenoberseite. Doppelt gemoppelt: Die Flächen zur Energiegewinnung dienen gleichzeitig der Verschattung der Fenster.

„Kein Mensch bedenkt, dass im Sommer in herkömmlichen Büros ein Teil der Arbeitsplätze nicht nutzbar ist“, sagt Architektin Ursula Schneider, „trotz Jalousien kann man im unmittelbaren Bereich der Fassade nicht sitzen, ohne dass einem die Schweißperlen auf der Stirn stehen.“ Kein Problem in der Energy-Base. Hinzu kommt, dass das Tageslicht aufgrund der großräumlichen Struktur bis tief in die Gebäudemitte gelangt. Vorbei die Zeiten des finsteren Klogehens und Teekochens. Oberlichte lautet das Motto der Stunde, mit dem - auch auf diese Art - Strom gespart werden soll.

Das Ungewöhnlichste sind jedoch die bepflanzten Glasboxen mitten im Raum. Wie Grüße aus einer fernen Zukunft stehen sie da, verkabelt und verrohrt wie dereinst in Terry Gilliams Science-fiction-Film Brazil aus dem Jahre 1985. „Die Pflanzenpufferräume waren für den Bauherrn eine große Hürde“, erinnert sich Schneider, „letztlich hat er sich getraut.“

Sie sind nicht nur der eingehauste Ersatz für den hässlichen Büroficus, der für gewöhnlich irgendwo im Weg steht und seine Blätter in die Gegend reckt, sondern dienen dem Klima und der Behaglichkeit. Insgesamt 500 Stück einer speziellen Zyperngras-Art versorgen die Mitarbeiter auf natürlichem Wege mit der nötigen Luftfeuchtigkeit. Ganz ohne künstliche Luftbefeuchtungsanlage, ganz ohne Surren und Rumor.

„Es ist weltweit das erste Mal, dass wir mit Pflanzen eine stundenweise prognostizierte Befeuchtungsleistung erbringen“, erklärt Schneider, „jede einzelne Pflanze wurde im Haustechnikkonzept berücksichtigt.“ Unsichtbar für die Mitarbeiter: Über Lüftungsschächte sind die grünen Gebäudelungen von Stockwerk zu Stockwerk miteinander verbunden. Lüftungsklappen regeln automatisch, wo die befeuchtete Luft gerade benötigt wird, während die Gräser im Warmen - unwissend ob ihres Nutzens - wachsen und sprießen.

Dies und noch viele andere Überlegungen im stillen Hintergrund drosseln die Energiepreise drastisch aufs Minimum herab. Zahlt man in einem herkömmlichen Bürohaus - und wir reden hier bereits vom guten Durchschnitt - weit über zehn Euro pro Jahr und Quadratmeter, um es im Winter warm und im Sommer kühl zu haben, kommt man in der Energy-Base mit 80 Prozent weniger Betriebskosten über die Runden.

Ohne Heizung und Klimaanlage

Das führt uns unweigerlich zum nächsten Punkt, zu den Baukosten. Mit 1300 Euro pro Quadratmeter Nutzfläche liegt die Energy-Base laut österreichischem Baukostenindex (BKI) für Bürogebäude in diesem Ausstattungsstandard absolut im Mittel. Natürlich kann man auch billiger bauen. Doch dann schwitzt man im Sommer, gießt im Winter tonnenweise Öl in den Kesselschlund und muss den hohlen Klang von Stilettos auf billigem Laminat ertragen. Ursula Schneider: „Man kann einen BMW nicht mit einem Billigauto vergleichen, sehr wohl aber mit einem anderen BMW.“ Allein: Dieser Schlitten kommt ohne Heizkörper und Klimaanlage aus.

Die Energy-Base ist ein Statement. Man kann sie hübsch finden oder auch nicht. Dumm wird man sein, wenn man nicht endlich in anderen Maßstäben als nur diesen zu denken beginnt. Angesichts der globalen Zustände, was Klima und Verfügbarkeit fossiler Rohstoffe betrifft, ist es höchste Zeit, die neuen Potenziale von Architektur und Ingenieursleistung im vollen Maße auszuschöpfen. Die Möglichkeiten sind bereits erprobt und liegen klar auf der Hand. Man muss nur wollen.

Der WWFF wollte. Im Dezember wurde er von der EU für seine Verdienste als Bauherr ausgezeichnet und ins Europäische Greenbuilding-Programm aufgenommen.

Der Standard, Sa., 2009.01.03



verknüpfte Bauwerke
ENERGYbase

30. Dezember 2008Wojciech Czaja
Der Standard

„Ausstellungen für die ganze Stadt“

Nur kein zweites Kunsthaus Graz. Das Ars Electronica Center sei nicht nur eine Skulptur, sondern ein Apparat für die Stadt - Architekt Andreas Treusch im Gespräch

Nur kein zweites Kunsthaus Graz. Das Ars Electronica Center sei nicht nur eine Skulptur, sondern ein Apparat für die Stadt - Architekt Andreas Treusch im Gespräch

Standard: Stress gehabt vor der Eröffnung?

Treusch: Es war eine anstrengende Zeit. Weder für die Entscheidungsträger noch für die Planenden und Ausführenden war es ein leichtes Projekt, denn der Zeitplan war sehr knapp bemessen. Schön, dass es uns gelungen ist, doch noch im Rahmen zu bleiben.

Standard: Das AEC hätte ursprünglich schon im Herbst fertig sein sollen. Warum die Verspätung?

Treusch: Herbst 2008 war der alte Stand. Doch wir haben immense Probleme mit dem Grundwasser gehabt und mussten den Zeitplan ändern. Die Baugrubensicherung und das Abpumpen des Wassers waren aufwändig, das hat mehr Zeit in Anspruch genommen als ursprünglich geplant. Dennoch: Die Eröffnung am 2. Jänner ist der perfekte Auftakt für Linz 2009.

Standard: Was kann das neue AEC, was das alte nicht konnte?

Treusch: Das neue Center ist vor allem ein städtebaulicher Schlussstein für den Bezirk Urfahr. Direkt neben der Brücke gibt es nun einen neuen Platz für die Öffentlichkeit. Nicht unwesentlich ist die Größe des Gebäudes. Wir haben die Fläche des AEC in etwa verdreifacht. Die bisherigen Säle wurden vergrößert, neue Ausstellungsflächen sind hinzugekommen. Außerdem gibt es ein Future-Lab sowie ein eigenes VR-Theater für Virtual-Reality-Aufführungen. Damit das Alte und das Neue nicht wie ein Stückelwerk aussieht, haben wir über alle Bauteile eine neue, homogene Schicht gezogen. Die Glasfassade ist damit eine Hülle, aber auch eine Kommunikationsfläche nach außen. Je nach Programmierung kann sie von Künstlern und Kuratoren für visuelle Effekte bzw. als mediale Plattform genutzt werden.

Standard: Das AEC bezeichnet sich als Interface zwischen Kunst, Technologie und Gesellschaft. Welchen Beitrag leistet die Architektur?

Treusch: Das AEC ist für mich das absolute Gegenbeispiel zum Kunsthaus Graz. Es ist nicht nur eine architektonische Skulptur, sondern auch ein Apparat für die Stadt. Ein Beispiel für das Interface: Entlang der gesamten Fassade gibt es unzählige Datenpunkte, die einzeln gesteuert bzw. angespeist werden können - mitsamt Datenquelle und elektrischem Anschluss. Wer auch immer die Fassade für mediale und künstlerische Installationen nutzen möchte, der kann das ohne weiteres tun. Die Infrastruktur ist vorhanden. Von einer derartigen Ausstellung an der Fassade profitiert nicht nur der Besucher, der eine Eintrittskarte löst, sondern jeder einzelne Passant in Sichtweite des Gebäudes.

Standard: Das Lentos war das erste Bauwerk am Donauufer mit einer Medienfassade. Das AEC, das an der Fassade ebenfalls auf Medientechnologie setzt, steht fast vis-à-vis. Dialog oder Konkurrenz?
Treusch: Beides.

Standard: Weil?

Treusch: In erster Linie ist es ein Dialog. Hier stehen sich zwei Lichtskulpturen gegenüber, die auf beiden Seiten der Donau jeweils eine Art Leuchtturm sind. Aber natürlich ist das AEC komplexer und vielschichtiger. Die Technologie am AEC ist jünger und somit auch zwangsweise besser.

Standard: Wie innovativ sind die verwendeten Materialien?

Treusch: Ich würde sagen: Die Materialien sind klassisch, aber dafür konsequent eingesetzt. Die Fassade ist eine Stahl-Glas-Konstruktion, wobei vor allem das Glas in den Vordergrund tritt. Einmal ist es durchsichtig, ein anderes Mal transluzent. Innen gibt es für die ruhenden Bereiche Sichtbeton-Oberflächen. Und in den Erschließungsbereichen haben wir lackierten Stahl verwendet. Alles, was mit Bewegung zu tun hat - also Stiegen, Brücken und Rampen -, ist in knalligem Gelb gehalten.

Standard: Warum gerade Gelb?

Treusch: Gelb ist eine vitale Farbe, vor allem rührt der Farbton aber wahrscheinlich von unseren Flughafen-Projekten her. Gelb ist die Farbe von Danger- und Watch-out-Areas. Die Farbe macht aufmerksam und neugierig. Man kann sie gar nicht übersehen. Wir wollten damit eine gewisse Aktivität ausstrahlen. Mit anderen Worten: Es tut sich was, alles ist im Fluss.

Standard: Sie könnten also damit leben, wenn das AEC in fünf Jahren völlig anders aussieht als heute?

Treusch: Eine tückische Frage! Das Gebäude ist, wie es ist. Man kann davon ausgehen, dass es in fünf Jahren nicht wesentlich anders aussehen wird. Aber Details werden sich natürlich ändern. Nicht zuletzt ist es der Bauherr und Nutzer, der das Sagen hat. Aber ich gebe ehrlich zu: Ich würde nur ungern zusehen, wenn die Betonwände mit Plakaten zugeklebt werden oder wenn die gelben Stahlelemente plötzlich umlackiert werden. Ich bin der Meinung, dass es uns gelungen ist, einen maßgeschneiderten und perfekt sitzenden Anzug fürs AEC zu entwerfen. Ich denke, dass das architektonische Angebot die richtige Funktion abdeckt und von den Nutzern eigentlich nur noch wahrgenommen und genutzt werden muss. Es wäre nicht sinnvoll, mit Gewalt nach neuen Formen und Funktionen zu suchen. Einen roten Ferrari verwenden Sie ja auch nicht für den Möbeltransport in die neue Wohnung.

Standard: Ein wichtiger Bestandteil des neuen AEC ist die öffentliche Terrasse. Warum soll das Publikum gerade hierherkommen?

Treusch: Diese Thematik haben wir mit der Stadt lange erläutert. Im Wesentlichen handelt es sich natürlich um eine Terrasse für die Öffentlichkeit. Man darf aber nicht außer Acht lassen: Faktisch ist diese Terrasse das Dach eines Gebäudes und somit Grundstücksbesitz des Ars Electronica Centers. Die Stadt hat mit dem AEC gewisse Nutzungsrechte erwirkt, und ich bin sehr froh, dass das geklappt hat. Und zur Nutzung: Auf dem Main Deck gibt es vorinstallierte Fundamente für Bühnenaufbauten, und der gesamte Platz ist mit Lkw befahrbar. Von der Statik und Infrastruktur her ist also alles für größere Veranstaltungen ausgelegt. Ich nehme an, dass sich früher oder später auch ein Kino unter Sternen ansiedeln wird. Ansonsten ist das einfach nur eine Aussichtsterrasse für die Stadt - mitsamt Ostermarkt- und Kirtag-Potenzial.

Standard: Und im Winter?

Treusch: Im Winter wird es Punschstände geben. Die kommen ganz von allein, ohne dass man sich darum bemühen muss.

Standard: Das AEC ist das erste Bauwerk, das im Kulturhauptstadt-Jahr eröffnet wird. Welche Bedeutung hat der Status „Europäische Kulturhauptstadt“ für Sie?

Treusch: Für uns war es eine große Herausforderung, fertigzuwerden. Insofern bin ich glücklich, dass das Kulturjahr nun endlich beginnen kann. Ich freue mich, dass ich mit meinem Team einen großen Beitrag für Linz09 liefern konnte. Und was das sonstige kulturelle Angebot betrifft, bin ich schon sehr neugierig.

Standard: Welche persönliche Erwartung hegen Sie an Linz09?

Treusch: Es waren teilweise sehr mutige Schritte, die hier gesetzt wurden. Daher würde ich mir wünschen, dass sich die finanziellen und intellektuellen Anstrengungen für die Stadt und für die Region in jeder Hinsicht gelohnt haben.

Der Standard, Di., 2008.12.30



verknüpfte Bauwerke
Ars Electronica Center

30. Dezember 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Bild mit 40.000 Pixeln

Die LED-Fassade des Ars Electronica Centers dient Künstlern als Ausstellungsfläche

Die LED-Fassade des Ars Electronica Centers dient Künstlern als Ausstellungsfläche

Auffälligstes Merkmal des neuen Ars Electronica Centers sind die Leuchtdioden (LED) an der Fassade. Dass die Medienfassade in dieser Form überhaupt realisiert werden konnte, ist ein Wink der Zeit. Steckte die LED-Technologie vor einigen Jahren noch in den Kinderschuhen, ist sie nun ausgereift - und um ein gutes Stück erschwinglicher. Mit knapp 500.000 Euro belaufen sich die Kosten für die Hochleistungs-LEDs auf die Hälfte des ursprünglich angenommenen Werts.

„Wir haben mehrere Materialversuche gemacht und einige Prototypen dieser Stahl-Glas-Fassade gebaut“, erklärt der Wiener Architekt Andreas Treusch. „Es hat sich herausgestellt, dass wir die besten Ergebnisse mit Gussglas erzielt haben.“ Im Gegensatz zu herkömmlichem Industrieglas breite sich das LED-Licht im Gussglas besser und gleichförmiger aus.

Das Licht, das innerhalb einer einzigen Millisekunde seine Farbe ändern kann, wird mittels sogenannter LED-Leisten seitlich in die Glasplatte projiziert. Jede einzelne Glasscheibe mit drei Meter Breite und 1,20 Meter Höhe ist dabei ein Pixel. Während bei den meisten Bauwerken die LED-Pixel immer kleiner werden, wird die eingesetzte Technologie am AEC beinahe ironisch eingesetzt. Treusch: „Mir gefällt die Größe der Pixel unheimlich gut. Ich denke, dass das grobe Erscheinungsbild den Charakter des Gebäudes unterstreicht.“

Wechselnde Installationen

Wer liefert die Software? „Wahrscheinlich werden wir eine Grundbespielung für die Fassade ausarbeiten“, erklärt der Architekt, „die Basisprogrammierung soll sehr ruhig und unauffällig sein. Nur so können wir sicherstellen, dass sich die Wirkung der Medienfassade nicht schon nach wenigen Wochen erschöpft hat.“

Vor allem aber dient die Fassade den Künstlern und Kuratoren. Abgestimmt auf die jeweilige Ausstellung im AEC, werden sie die Hülle des Gebäudes nutzen, um sich auch im Außenraum bemerkbar zu machen. Zur Eröffnung des Ars Electronica Centers am 2. Jänner wird der New Yorker Künstler Zachary Lieberman seine Lichtinstallation über das Haus stülpen. 40.000 Leuchtdioden werden unter seiner Regie aufflackern.

Der Standard, Di., 2008.12.30



verknüpfte Bauwerke
Ars Electronica Center

20. Dezember 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Guggenheim? Wirtschaftsuni.

Diese Woche wurden die Pläne für den neuen WU-Campus enthüllt. Ein Stelldichein von Zaha Hadid, Peter Cook & Co. Und Wien wird um eine Sehenswürdigkeit reicher.

Diese Woche wurden die Pläne für den neuen WU-Campus enthüllt. Ein Stelldichein von Zaha Hadid, Peter Cook & Co. Und Wien wird um eine Sehenswürdigkeit reicher.

Ein Wiener Phänomen: Es gibt Besuch aus dem Ausland, nach ein paar Tagen Hindernislauf durch die Historie dann die erwartungsvolle Frage nach sehenswerter zeitgenössischer Architektur. Unerträgliches Schweigen macht sich breit. Aber ja doch, die Bundeshauptstadt lebt von einem überaus guten Mittelmaß. Doch ein Highlight à la Kunsthaus Graz oder Zaha Hadids eisig glatte Hungerburgbahn in Innsbruck? Vergeblich.

Das soll sich bald ändern. Ab 2014 wird man neugierige und der Architektur gegenüber offenkundig aufgeschlossene Touristen nicht mehr mit Vorbehalt auf die Donauplatte schicken, sondern direttamente zum neuen Campus der WU. „Die neue Wirtschaftsuniversität ist ein Maßstabssprung für diese Stadt und für ganz Österreich“, sagt Wolf Prix, Juryvorsitzender des internationalen Wettbewerbs um die Bebauung des 88.000 Quadratmeter großen Areals zwischen Messegelände und Prater.

Am Dienstag wurden die Preisträger der zweiten Stufe bekanntgegeben. Die Mischung könnte nicht internationaler sein. Herzstück des Campus ist das Library & Learning Center (LLC) von Zaha Hadid, die sich gegen die beiden Kontrahenten Hans Hollein und Thom Mayne (Zentrum der Hypo Alpe-Adria in Klagenfurt) durchsetzen konnte. „Es war keine leichte Entscheidung“, sagt Prix, „doch die WU als Nutzer hat sich eindeutig für dieses dynamische Projekt entschieden, weil sie sich damit am besten identifizieren konnte.“

Wie ein Flaggschiff steht Hadids schnittig furioses Teil in der Mitte des Grundstücks. Während bei ihrem Wohnhaus in Wien-Spittelau dem Bauträger SEG in den Innenräumen sichtlich die Puste ausgegangen ist, geht's im Foyer der WU wacker wütend weiter. Wände neigen sich, Stege zischen durch den Luftraum, statt des rechten Winkels dominiert Zahas unverwechselbares Formenrepertoire.

„Uns war wichtig, ein Projekt zu wählen, das in der Lage ist, rundherum ein richtig starkes Powerfeld aufzuspannen“, erklärt Prix. Auch bei den übrigen Bauplätzen stehen die Sieger bereits fest: BUS-architektur (Wien) baut das Hörsaalzentrum, Carme Pinós (Barcelona), Peter Cook alias CRABstudio Architects (London) sowie der junge Japaner Hitoshi Abe (Sendai) bringen auf ihren Parzellen die unterschiedlichen Institute und Abteilungen unter. Am nordwestlichen Ende schließlich wird die Executive Academy in die Höhe wachsen - ein achtstöckiger eckiger schwarzer Turm der NO.MAD Arquitectos aus Madrid.

Campus mit Bilbao-Effekt

Die internationale Architekturmelange entzückt die Gemüter. „Jedes einzelne Projekt trägt der Campus-Idee auf besondere Weise Rechnung“, sagt Christoph Stadlhuber, Geschäftsführer der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG). WU-Rektor Christoph Badelt freut sich über 3000 Studentenarbeitsplätze - im alten Gebäude sind es nur tausend. Und Michael Holoubek, Jurymitglied und Vizerektor für Infrastruktur und Personal, schwärmt sogar: „Normalerweise pflege ich eine gewisse Distanz zu den Dingen, aber in diesem Fall geht das nicht. Der neue Campus ist ein tolles Ding, eine außergewöhnliche Kombination aus Weltarchitektur, die ihresgleichen sucht.“ Nachsatz: „Bilbao hat die Architektur zu einem Thema für alle gemacht. Ich bin davon überzeugt, dass uns hier etwas Vergleichbares gelingen wird.“

Ein hochgestecktes Ziel. Tatsache ist: Wien ist keine Stadt der Bilbao-Effekte. Wenn nicht alle an einem Strang ziehen, wird die Vision in Windeseile vom Mittelmaß verdrängt. Beispiele dafür gibt's in Wien zur Genüge.

Die ersten Zugeständnisse der WU ließen nicht lange auf sich warten. Mit großer Sorgfalt wurde das Areal in g'schmackige Häppchen aufgeteilt und den Architekten zur Bearbeitung übergeben. An alles hatte man gedacht. Nur die Freiraumplanung bleibt wieder einmal auf der Strecke. Scheinbar ist niemand der Meinung, dass bei einem Campus dieser Größe - wohlgemerkt der erste in ganz Österreich - auch die Landschaftsfläche zwischen den Häusern eines Wettbewerbs würdig sei. 50.000 Quadratmeter Freiraum harren eines Plans.

„Einen Wettbewerb für den Freiraum wird es nicht geben“, erklärt Wolf Prix, dieser Bereich sei bereits Teil des Generalplanervertrags von BUSarchitektur. „Wir sind davon überzeugt, dass ein hervorragendes Konzept entwickelt wird. Und im Detail werden wir sicherlich noch Landschaftsplaner hinzuziehen.“

Vision oder Mittelmaß? Wien-Phänomen oder Bilbao-Effekt? „Das Projekt ist eine großartige Chance für diese Stadt“, sagt Hitoshi Abe, einer der Sieger dieses Wettbewerbs. „Die neue WU hat zweifelsohne das Potenzial, ein moderner Campus des 21. Jahrhunderts zu werden.“

Möge es gelingen, die Touristen eines Tages bei der Hand zu nehmen und sie in die Künste zeitgenössischer Wiener Architektur einzuweihen. Ganz ohne Vorbehalte. Baubeginn des 250 Millionen Euro teuren Projekts ist Ende 2009. Drei Jahre später soll der WU-Campus in Betrieb gehen.

Der Standard, Sa., 2008.12.20



verknüpfte Beiträge
Wettbewerb Wirtschaftsuniversiät Wien



verknüpfte Ensembles
Campus WU

17. Dezember 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Wirtschaftsstudium in zackigen Linien

Die Planung für den Campus der WU Wien auf dem Messegelände ist fix: Zaha Hadid baut das Library & Learning Center, rundherum gruppieren sich Entwürfe von Carme Pinós, Peter Cook und Co. Baubeginn ist Ende 2009.

Die Planung für den Campus der WU Wien auf dem Messegelände ist fix: Zaha Hadid baut das Library & Learning Center, rundherum gruppieren sich Entwürfe von Carme Pinós, Peter Cook und Co. Baubeginn ist Ende 2009.

Wien - Seit gestern, Dienstag, sind die Pläne für den neuen Campus der Wirtschaftsuniversität (WU) bekannt. Auf Basis des Masterplans des Wiener Büros BUSarchitektur, das im Mai dieses Jahres als Sieger der ersten Stufe hervorgegangen war, wurden aus einem internationalen Bewerbungsverfahren nun fünf weitere Architekten ausgewählt. Jeder von ihnen wird jeweils ein Gebäude planen. Das Erfreuliche: Die Mischung auf dem Wiener Messegelände könnte nicht internationaler sein.

Hauptgebäude und Auftakt wird das Library & Learning Center der britischen Architektin Zaha Hadid (London/Hamburg) sein. Sie konnte sich gegen Hans Hollein sowie gegen den kalifornischen Architekten Thom Mayne durchsetzen. „Es war keine leichte Entscheidung“, erklärt der Juryvorsitzende Wolf Prix, „doch die Wirtschaftsuniversität als Nutzerin hat sich eindeutig für Hadids dynamisches Projekt entschieden, weil sie sich damit am besten identifizieren konnte.“

Die übrigen Gebäude wie etwa Hörsaalzentrum, Executive Academy sowie die einzelnen Departmentgebäude sind aufgeteilt auf die Büros BUSarchitektur (Wien), NO.MAD Arquitectos (Madrid), Estudio Carme Pinós (Barcelona), Hitoshi Abe (Sendai, Japan) sowie CRABstudio Architects (London) mit Peter Cook an der Spitze. Letzterer sorgte in Österreich mit dem wabbelig-blauen Kunsthaus Graz schon einmal für Aufsehen.

Der Hochbau liegt damit in guten Händen. Irritierend ist jedoch der Umstand, dass gerade bei einem Campus, der in dieser Form in Österreich erstmals realisiert werden soll, nicht auch die Freiraumplanung öffentlich ausgeschrieben wurde - immerhin geht es um mehr als 50.000 Quadratmeter Gartenfläche. „Die Freiraumplanung ist bei diesem Projekt mindestens genauso wichtig wie die Architektur“, sagt der WU-Professor Michael Holoubek auf Anfrage des Standard, „dieser Bereich ist Teil der Generalplanung und somit schon an BUSarchitektur vergeben. Wir sind davon überzeugt, dass das Freiraumkonzept auf die eingebettete Architektur gut abgestimmt ist.“

3000 Studentenarbeitsplätze

Den neue Campus im Prater werden 22.000 bis 24.000 Studenten nutzen. Für einen späteren Ausbau sei man flexibel, das Grundstück biete ausreichend Flächenressourcen. „Wichtiger als die Anzahl der Studierenden sind jedoch die Arbeitsplätze“, erklärt WU-Rektor Christoph Badelt. „Im alten Gebäude haben wir rund tausend Arbeitsplätze, auf dem neuen Campus sollen es dreimal so viele sein.“

Die nächsten Schritte sind bereits fixiert. Geht alles nach Plan, werde die Ausschreibung für die einzelnen Gebäude noch 2009 erfolgen. „Wir wollen mit der Ausschreibung anfangen, wenn die Baukonjunktur laut Prognosen im Herbst einzusacken droht“, so Christoph Stadlhuber, Geschäftsführer der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG). Der Baubeginn selbst sei für Ende 2009 bzw. Anfang 2010 geplant. Die Inbetriebnahme des neuen Campus soll 2012/2013 erfolgen.

Etwas vorsichtig äußern sich die Beteiligten hinsichtlich der Baukosten. Seit Beginn des Projekts ist der Rahmen mit 250 Millionen Euro beziffert. „Die Obergrenze ist klar festgesetzt, daran hat sich bis heute nichts geändert“, so Stadlhuber, „aber natürlich liegen wir derzeit noch etwas drüber. Hier müssen wir mit Sicherheit noch nachverhandeln.“ Jetzt genaue Zahlen zu nennen sei unseriös. Es sei illusorisch, in diesem frühen Projektstadium schon punktgenau im Budget zu liegen. Nur so viel: „Es wird knapp.“

In der Zwischenzeit gibt es bereits erste Pläne für die Nachnutzung der derzeitigen WU in der Althanstraße. „Die Universität Wien will das Gebäude übernehmen“, erklärt der BIG-Geschäftsführer. Zu diesem Zweck müsse es nach Auszug der WU saniert werden. Ein Bezug sei 2015 möglich.

Der Standard, Mi., 2008.12.17



verknüpfte Ensembles
Campus WU

06. Dezember 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Zu Hause im eigenen Werk

Wenn ein Architekt für sich selbst baut, dann muss das Resultat schon außergewöhnlich sein. In Wien Leopoldau steht die Residenz von Georg Petrovic: wenig 08/15 und viel 007.

Wenn ein Architekt für sich selbst baut, dann muss das Resultat schon außergewöhnlich sein. In Wien Leopoldau steht die Residenz von Georg Petrovic: wenig 08/15 und viel 007.

Es ist schon zehn Jahre her, da erschien im Callwey-Verlag ein Buch über die Wohnvorlieben von Architekten. Keine drei Jahre später kam dann der nächste prächtige Bildband heraus, diesmal im Knesebeck Verlag unter dem Titel Architekten und ihre Häuser. Fazit: Beruflich propagieren die Meister des räumlichen Erschaffens ein Leben in neuen Mauern, privat ziehen sie sich allerdings lieber ins coole Loft zurück oder in die Altbauwohnung mit Flügeltüren und Parkettboden. Fragt man nach, heißt es dann: Der Boden sei so schön, die Wohnung atme so viel Geschichte, und dann erst die Raumhöhe!

Umso bemerkenswerter also, wenn ein Architekt nicht nur in einem Neubau residiert, sondern auch noch in einem von ihm selbst geplanten Haus - eine Rarität. Georg Petrovic, 46 Lenze am Buckel, eine Frau, zwei Töchter und drei Söhne, ist ein solcher Protagonist der seltenen Sorte. Sein Haus in Wien Leopoldau ist wohl das, was im Volksmund als sogenanntes Architektenhaus die Runde macht. Schlichte Kiste, coole Materialien, penibel geplant bis ins letzte Detail.

„Ich sage Ihnen: Bis es so weit ist, dass man ins eigene Haus einziehen kann, vergeht eine halbe Ewigkeit“, sagt Petrovic, „da merkt man dann am eigenen Leibe, was Bauherren im Normalfall alles durchmachen müssen.“ Leicht sei es jedenfalls nicht, wenn man Bauherr und Planer in einer Person ist. Und vor allem: „Von manchen Details kann man einfach nicht die Finger lassen.“

Was als Erstes auffällt, sind die Edelstahlringe im ersten Stock. Manche von ihnen sind gefüllt mit gelben, roten und blauen Gläsern, andere sind leer. Dahinter gibt es Schiebeelemente mit einer textilen Bespannung. „Die Gläser vor dem Balkon sind in erster Linie ein Sichtschutz, eine Art Filter“, sagt der Architekt. Doch die Form ist kein Zufall: „Hier in der Gegend gibt es noch viele Häuser mit Butzengläsern in den Fenstern. Darauf wollte ich mit der Fassade Bezug nehmen“ Die Älteren unter uns kennen die Butzengläser noch von den Anfängen des 20. Jahr-hunderts: in Messing eingefasste, gelbe und grüne Flaschenböden, eine damals billige Art, Fenster zu bauen.

Ein Vorzimmer wie eine Höhle

Abgesehen von diesem Zitat ist das Haus Petrovic alles andere als nostalgisch. Futuristisch und modern kommt die graue Kiste daher. Besonders sehenswert ist das Vorzimmer. Wie im James-Bond-Film Der Mann mit dem goldenen Colt versprühen die geböschten und rau verputzten Wände einen Hauch von steiniger Felsenästhetik, von filmgebauter Utopie. Als wäre man Bösewicht Scaramanga, kann man bei Telefonieren Platz nehmen im brauen Baseball-Stuhl der italienischen Designerin Patricia Urquiola. Petrovic: „Diesen Stuhl wollten wir unbedingt haben. Von Anfang an war er Teil der Planung.“

Eine künstliche Felsspalte führt ins Wohnzimmer, in ein Raumkontinuum aus Wohnen, Kochen und Essen. Durch eine raumhohe Glasfassade rinnt der Wohnbereich auf die Terrasse aus. Eine andere Felsspalte geleitet den Architekten und seine Familie ins Obergeschoß. Einseitig eingespannte Kragarme aus Stahlbeton bilden die Stiege, ein schlichtes Nirorohr dient als Handlauf. Farbenfroh und basisdemokratisch dann das Reich der Kinder: Jede und jeder konnte eine eigene Corporate-Farbe für die Tür ins Kinderzimmer wäh- len. Hier Gelb und Grau, dort Rosa und Violett. Da schmunzelt der Architekt: „Ihnen muss es ja ge- fallen.“

Der Standard, Sa., 2008.12.06



verknüpfte Bauwerke
Haus Pe

22. November 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Der Traum vom Wunderkaktus

In der Nähe von Schanghai baut er eine Stadt für 800.000 Menschen. In China wird er bejubelt, in Europa kritisch beäugt: ein Gespräch mit dem Hamburger Architekten Meinhard von Gerkan

In der Nähe von Schanghai baut er eine Stadt für 800.000 Menschen. In China wird er bejubelt, in Europa kritisch beäugt: ein Gespräch mit dem Hamburger Architekten Meinhard von Gerkan

der Standard: Wie weit ist die Satellitenstadt Lingang?

Meinhard von Gerkan: Der See in der Mitte der Stadt ist schon seit drei Jahren fertig, die Ringstraße ist bereits geschlossen und mittlerweile wurden über zwei Millionen Bäume gepflanzt - keine Strünke, sondern richtige Pflanzen! Wenn man heute nach Lingang kommt, hat man nicht das Gefühl, auf einer Baustelle zu stehen. Ganz im Gegenteil: An den Wochenenden fahren die Bewohner Schanghais nach Lingang und gehen dort spazieren wie in einem Park. Manche mieten sich Fahrräder und drehen eine Runde um den See. Immerhin sind das fast zehn Kilometer.

Wie werden die einzelnen Projekte bzw. Parzellen vergeben?

Von Gerkan: Zu Beginn gab es Bestrebungen, ausländische Investoren zu gewinnen, doch das hat sich mittlerweile geändert. Die Chinesen haben die Erfahrung gemacht, dass die Investoren aus dem Ausland Grundstücke und Immobilien oft nur aus Spekulationsgründen kaufen. Die Folge sind tote und ungenutzte Häuser und Stadtteile. Das soll in Lingang nicht passieren. Die Grundstücke werden daher versteigert. Ausländische Geldgeber von ihren Investitionen abzuhalten ist für einen wachsenden Wirtschaftsmarkt eine sehr ungewöhnliche Vorgangsweise. Ich hoffe, sie wirkt.

Ist Lingang ein Prestigeprojekt?

Von Gerkan: Natürlich ist das ein Prestigeprojekt. Und es ist kein Zufall, dass diese Stadt ist, wo sie ist. Sie dürfen nicht vergessen: Lingang selbst ist ja nichts anderes als das zivile Pendant für die Hafeninsel, die 32 Kilometer offshore vor der Küste liegt. Mit dem Festland ist der Hafen nur über eine Brücke verbunden. Als Normalsterblicher bekommt man ihn allerdings niemals zu Gesicht, denn das Passieren der Brücke ist nur mit einer Bewilligung möglich. Der Hafen von Lingang wird eines Tages der größte der Welt sein.

Das klingt nach Utopie.

Von Gerkan: Spätestens in dem Moment, da etwas gebaut wird, ist es nicht mehr utopisch. Lingang ist eine reale Stadt. Ich höre oft den Vorwurf, dass ich bei Lingang wie ein Schöpfer agiere. Doch wenn ich mir beispielsweise ansehe, was ein Nanophysiker den ganzen Tag treibt, dann komme ich schon eher ins Grübeln. Im Grunde macht auch er nur seine Arbeit - und zwar zugunsten der Menschen.

Haben Sie gelegentlich Skrupel, in einem Land wie China zu bauen? Viele Architekten lehnen eine Zusammenarbeit mit einem derartigen Regime aus Prinzip ab.

Von Gerkan: Nein, ich habe keine Skrupel. Vor allem nicht bei den Inhalten und Aufgaben, die wir dort erfüllen. Die ablehnende Haltung vieler Architekten ist übrigens ein Scheingefecht. Dieses scheinbar edle und löbliche Prinzip ist nichts anderes als eine Rechtfertigung. Was soll man denn sonst antworten, wenn der Journalist sagt: Mensch, alle große Architekten dieser Welt bauen in China, nur du nicht!

Was ist das Reizvolle am Bauen in China?

Von Gerkan: Es gibt in China architektonische und planerische Möglichkeiten, die es bei uns nicht gibt. China ist ein Land der Experimente und der Visionen. Zum anderen gibt es in China aufgrund der Aufbruchstimmung unzählige Bauaufgaben im kulturellen Bereich, mit denen man in Europa heutzutage kaum noch konfrontiert ist. Wie viele Theater, Opern und Bibliotheken werden denn in Europa schon gebaut? Allein in China bauen wir derzeit vier Opernhäuser. Nennen Sie mir einen einzigen Architekten, der so einem Reiz nicht verfällt!

Ein Schlaraffenland also?

Von Gerkan: Nein, das Bauen in China bringt auch viele Nachteile mit sich. Teilweise agieren die Chinesen sehr willkürlich und selbstherrlich. Viele halten sich nicht an Wettbewerbe oder ändern Entwürfe so lange um, bis man sie nicht mehr wiedererkennt. Es tritt oft Grauenvolles zutage.

Bauen Sie in China anders als in Europa?

Von Gerkan: Ein metaphorisches und bildhaftes Konzept mit einer großen Ausdruckskraft und einer starken Identität ist sicherlich kein schlechter Weg, um in China einen Wettbewerb zu gewinnen. In der Auswahl von Entwürfen steht die Form im Vordergrund. Das lässt sich nicht abstreiten. Die Folge ist eine große Dichte an irgendwelchen irrsinnigen Bauwerken - ich nenne sie immer Wunderkakteen. Das ist eine kurzlebige Mode, unter der viele Städte leiden. Auch wir realisieren einige Exemplare dieser bildhaften Architektur. Doch die meisten Projekte von uns zeichnen sich durch Understatement aus. Ich trage meine hanseatische Herkunft mit Stolz - auch im Reich der Mitte.

Thema Ökologie?

Von Gerkan: China ist noch nicht auf dem gleichen ökologischen Level wie andere Länder. Doch ein Umdenken ist bereits im Gange. Es ist uns beispielsweise gelungen, in Guangzhou ein Hochhaus zu bauen, das ich noch nirgendwo sonst auf der Welt gesehen habe. An den sonnenexponierten Fassaden haben wir bewegliche Verschattungselemente vorgesehen. Die Wärmeeinstrahlung und die Belichtungsintensität kann man individuell regeln. Das ist ein Novum im Hochhausbereich.

Ist Nachhaltigkeit ein Imagefaktor?

Von Gerkan: Die wirklich große Bereitschaft, ökologisch zu handeln, ist nur bei jenen Investoren gegeben, die für sich selbst bauen. Die meisten Investoren stellen die Imagewerte anders zur Schau. Meistens sind das golden oder blau verspiegelte Fassaden oder ganz eigentümliche Ornamente an der Spitze des Gebäudes. Ich habe auch schon Pagodendächer gesehen. Aber das ist nicht nur ein chinesisches Phänomen.

Wie viele Projekte haben Sie in China bereits realisiert?

Von Gerkan: Ich weiß nicht genau, wie viele davon schon fertig sind. Aber insgesamt sind es 81 Projekte in ganz China.

In wie vielen Ländern bauen Sie?

Von Gerkan: Keine Ahnung. Ein Dutzend wird's schon sein. Neben China sind das vor allem Vietnam, Südafrika, Indien, Lettland und Polen.

Welchen Jahresumsatz macht gmp?

Von Gerkan: Schätzungsweise zwischen 40 und 50 Millionen Euro.

Welche Rolle spielt die Eitelkeit?

Von Gerkan: Eine große. Es macht keinen Sinn, es zu leugnen. Ja, ich denke, ich bin eitel. Ein Architekt wird von einer gewissen Anerkennung seiner Bauten in der Gesellschaft genährt. Gibt es Menschen, die sich davon nicht beeindrucken lassen?

Am 1. September wurde die Academy for Architectural Culture (AAC) eröffnet. Damit soll ein Spagat zwischen Europa und China gemacht werden. Welche Motivation steckt dahinter?

Von Gerkan: Ich habe diese Akademie gemeinsam mit meinem Partner Volkwin Marg gegründet. Am ersten Lehrgang, der im Oktober zu Ende gegangen ist, haben 16 Asiaten und 16 Deutsche teilgenommen. Tatsache ist: Viele Architekten sind heute sehr schlecht ausgebildet. Wir wollen den Studentinnen und Studenten unsere Erfahrungen und unsere Auffassung vom Bauen im Ausland vermitteln - und zwar mitsamt den damit verbundenen Chancen, Gefahren und Defiziten, mit denen man im Ausland bisweilen konfrontiert ist.

Gibt es einen Abschluss?

Von Gerkan: Wir geben den Studenten am Ende ein Zertifikat, das die erfolgreiche Teilnahme an einem der Workshops der Academy for Architectural Culture bestätigt. In Zukunft ist eine Kooperation mit der neugegründeten HafenCityUniversität in Hamburg (HCU) geplant. Wenn alles klappt, werden wir schon in wenigen Jahren einen vollwertigen Master-Studiengang anbieten können.

Wie wird das Programm finanziert?

Von Gerkan: Wir haben vor zehn Jahren begonnen, zehn Prozent unseres jährlichen Gewinns zu sparen und in eine Stiftung einzuzahlen, die wir eigens zu diesem Zweck gegründet haben. Wir haben jetzt ein Stiftungskapital von rund 10 Millionen Euro. Von den Zinsen, die wir daraus lukrieren, finanzieren wir die Akademie.

Der Standard, Sa., 2008.11.22



verknüpfte Akteure
von Gerkan Meinhard

15. November 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Nicht ohne meinen Bauherrn

Was wäre die Architektur ohne ihre Auftraggeber? Sie würde nicht existieren. Als Dank dafür, dass sie es doch tut, gibt's den Bauherrenpreis.

Was wäre die Architektur ohne ihre Auftraggeber? Sie würde nicht existieren. Als Dank dafür, dass sie es doch tut, gibt's den Bauherrenpreis.

Am Nachmittag setzen sie sich ins Café, reißen die Alufolie auf und beißen in ihr Butterbrot. „Eine klar definierte Jausenzeit gibt es bei uns nicht“, sagt Peter Perlot, Leiter des Kaysergarten-Horts in Innsbruck. „Unsere Kids sind autonom und können völlig frei entscheiden, wann und mit wem sie essen.“ Wenn der Appetit sie packt, dann ziehen sie sich zurück ins eigens eingerichtete Kindercafé. Selbstredend, dass es auch eine kleine Bar gibt, einen Kühlschrank und eine Vitrine für Kekse und Kuchen.

Das Kindercafé war ein Wunsch des Bauherrn. Und der Swimmingpool im Garten ebenso. Am gestrigen Freitagabend wurde der überaus innovative Hort und Kindergarten der IIG Innsbrucker Immobilien GmbH & Co KEG mit dem Österreichischen Bauherrenpreis ausgezeichnet. Einmal jährlich trommelt die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs (ZV) sämtliche Projektbeteiligte zusammen und ehrt all jene, ohne die eine solche feine und zum Schmunzeln erregende Architektur gar nicht erst möglich wäre - die visionären und stets auf Qualität bedachten Auftraggeber. Acht an der Zahl sind es heuer.

„Die Zusammenarbeit mit Architekt Johannes Wiesflecker war großartig“, erzählt der Kindergarten-Boss, „das Resultat ist dementsprechend hochwertig. Hier zu arbeiten ist ein Hammer und ein Privileg. Und deshalb freuen wir uns über die Auszeichnung.“ Asphalt am Boden und Beton an der Wand: Den Kids gefällt's. „Die Kinder haben keine Scheu vor dieser Ästhetik. Ganz im Gegenteil, sie haben unzählige Möglichkeiten der Gestaltung“, so Perlot.

„Der Bauherrenpreis bedeutet mir sehr viel, und ich bin sehr stolz“, erklärt auch Lydia Zettler, die in Hohenems den Freihof Sulz betreibt. Wie schon in den letzten zweihundert Jahren ist der Freihof ein Treffpunkt für die Dorfgemeinschaft. Es beinhaltet ein Kulturzentrum, ein Wirtshaus sowie ein Geschäft mit Bioprodukten aus der Gegend. „Das Konzept ist bewährt und es funktioniert.“

Mithilfe von Architektin Beate Nadler-Kopf wurde der alte Hof behutsam saniert. Dass die heruntergekommene Baracke überhaupt noch gerettet werden konnte, sei nicht zuletzt der „Hartnäckigkeit und Ausdauer der Bauherrin“ zu verdanken - so steht's im Juryprotokoll.

Ein Geschäft ist auch Mittelpunkt des neuen Dorfzentrums der Gemeinde Langenegg, Vorarlberg. „Vor etwa 80 Jahren wurden an dieser Stelle zwei Gemeinden vereint“, blickt Bürgermeister Georg Moosbrugger zurück. „Das Einzige, dass es nicht gab, war ein Dorfzentrum, denn die Mitte der neuen Ortschaft war völlig leer.“ Architekturstudenten aus Liechtenstein und Innsbruck wurden angekarrt. Auf Basis ihrer Ideen wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Das Bregenzer Büro Fink+Thurnher, das als Sieger hervorgegangen war, schmiedete ein Ortszentrum aus einem Guss - mitsamt Kindergarten, Café und kleinem Supermarkt.

Ein letztes Mal Vorarlberg: Am steilen Südhang von Schlins steht ein Wohn- und Atelierhaus, das voll und ganz aus Lehm besteht (Planung Roger Boltshauser, Martin Rauch und Thomas Kamm). Die Lehm Ton Erde Baukunst GmbH, Auftraggeberin des ökologischen Projekts, ließ ihre Erfahrungen der letzten dreißig Jahre einfließen.

„Das Haus besteht von oben bis unten aus Aushubmaterial“, sagt der Firmeninhaber und Bewohner Martin Rauch. „In bautechnischer Hinsicht ist es wie eine afrikanische Lehmhütte, jedoch mit dem für uns gewohnten Komfort.“ Billiger sei das Gebäude trotz der großen Menge an Gratiserde keineswegs. „Das Teuerste ist die Arbeitszeit, und die ist bei einem Lehmhaus nicht zu unterschätzen.“

Rauch blickt in die Zukunft: „Eines Tages wird sich die ökologische Investition auch wirtschaftlich gerechnet haben. Das Haus hält gute 40 Jahre ohne Sanierung aus. Und die Entsorgung am Ende der Lebensdauer wird ein Kinderspiel.“ Erde zu Erde eben.

Durchaus exotisch ist auch die Apartmentanlage Sun II in Matrei, Osttirol. Mitten in den Ort ließ Bauherr Friedl Ganzer eine kompakte Wohnstadt bauen. Neun Wohnungen und Ferienapartments unterschiedlicher Größe finden darin Platz, das Wiener Architekturbüro Squid presste die dichte Packung in ein fesches Kleid. Von altbackener Tiroler Lederhose keine Spur.

Als visionäres Pflaster entpuppte sich heuer auch Salzburg. Gleich zwei Projekte bekamen den Bauherrenpreis verliehen. Die Gusswerk Eventfabrik GmbH kaufte in Salzburg-Kasern eine alte Glockengießerei aus der Zeit um 1900 auf und baute das gesamte Areal zu einem Hotspot für die Kreativwirtschaft um (Planung LP Architektur). „Das Bestandsobjekt hatte viel Charme, und den haben wir erhalten“, sagt Gusswerk-Geschäftsführer Markus Sillaber. Das gesamte Objekt sei bereits voll vermietet, der große Run habe selbst den Bauherrn überrascht. Ein weiterer Ausbau ist bereits angedacht.

Im dichten Stadtgefüge der Mozartstadt steht die sogenannte Alte Diakonie, ins Leben gerufen von der Diakoniewerk & Myslik Wohnbau Projekt-Gesellschaft mbH. Das ehemalige Diakonissen-Krankenhaus wurde saniert, umgebaut und um einen Neubau erweitert (Architekturbüro Halle1). „Von Anfang an war für uns klar, dass wir kein langweiliges Monoprojekt wollen“, sagt Geschäftsführer Josef Scharinger. „Wir wollten, dass hier Leute gerne wohnen und arbeiten, aber auch, dass die Vergangenheit des Ortes nicht zu kurz kommt.“ Will heißen: Es gibt Seminarräume fürs Diakoniewerk und sogar ein Gesundheits- und Fitnesszentrum auf tausend Quadratmeter Fläche.

Letzter Boxenstopp ist Wien-Leopoldau. Dort, wo die Großstadt nur noch aus sporadischen Häusern und weitläufigen Äckern besteht, ließ die Wiener Linien GmbH & Co KG eine Großgarage für ihre Autobusse bauen. Rund 150 Niederflurbusse verbringen hier ihre auf wenige Stunden verknappte Nacht, werden gewartet, gewaschen und mit Flüssiggas vollgetankt.

Freilich dreht sich in der Busgarage nicht alles nur um den Bus. Dass auch die 200 Angestellten und Busfahrer der Wiener Linien nicht zu kurz kommen, war ein dezidierter Bauherrenwunsch an die Wiener Architekten fasch & fuchs.

„Die Sichtbetonwände, die sich die Architekten gewünscht haben, stoßen bei den Mitarbeitern ehrlich gesagt nicht nur auf Gefallen. Aber das ist nun mal Geschmackssache“, sagt Kresmir Jukic, Projektleiter bei den Wiener Linien. „Das Wichtigste ist jedoch, dass sich die Leute in diesen Räumen wohlfühlen und dass es für sie eine ganz neue Erfahrung ist, so viel Tageslicht zu haben.“

Auf den gestern verliehenen Preis ist Jukic stolz: „Das Projekt ist einzigartig. Es kommt ja nicht alle Tage vor, dass man eine Großgarage für Autobusse baut. Und dass man den Bauherrenpreis gewinnt, schon gar nicht.“

Der Standard, Sa., 2008.11.15



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2008

25. Oktober 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Häuser schreiben, Häuser lesen

Zum Bauen kam Toyo Ito nur durch Zufall. Heute gilt er als einer der besten Architekten der Welt. Gespräch mit einem wunschlos unglücklichen Japaner.

Zum Bauen kam Toyo Ito nur durch Zufall. Heute gilt er als einer der besten Architekten der Welt. Gespräch mit einem wunschlos unglücklichen Japaner.

Als Kind träumte der kleine Toyo davon, Baseball-Spieler zu werden. Doch daraus wurde nichts. Zu untalentiert, hieß es bei der Aufnahmeprüfung auf der Sportakademie. Also nahm das Schicksal den adoleszenten Ito bei der Hand und ließ ihn Architektur studieren. Aus dem anfänglichen Enfant terrible, das nichts als Roboter und Maschinen im Kopf hatte, wurde im Laufe der Jahrzehnte ein Meister der architektonischen Komposition.

Kürzlich wurde der japanische Architekt Toyo Ito mit dem Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst 2008 ausgezeichnet. Am 16. Oktober nahm er im Wiener Rathaus den mit 55.000 Eu- ro dotierten Preis entgegen (der Standard berichtete). „Sowohl seine architektonischen als auch seine theoretischen Überlegungen zu Themen wie Medialität und Technik gehören zum Avanciertesten und Einschlägigsten unserer Zeit“, sagte András Pálffy, einer der Juroren, in seiner Laudatio.

Nicht zu vergessen die Ästhetik. „Nein, es ist nicht so, dass ich gerade Linien nicht mag, aber die runden Formen sind mir schon seit Kindheitstagen lieber“, sagt Toyo Ito. Sie sind wie sein Charakter, wie sein tiefstes Inneres, meint er, rund und weich.

der Standard: Die meisten Architekten haben Stress und sehen älter aus, als sie sind. Sie kommen mit Ihren 67 Jahren frisch und fröhlich daher. Was ist Ihr Geheimnis?

Toyo Ito: Es ist ganz einfach. Bis zu meinem 40. Lebensjahr hatte ich nicht viel zu tun. Erst danach ist es richtig losgegangen. Das ist wohl der Grund dafür, warum ich heute aussehe wie 27.

Ursprünglich wollten Sie Baseball-Spieler werden. Was hat Sie umgestimmt?

Ito: Als ich in der Highschool war, habe ich Baseball gespielt. Ich war immer ein leidenschaftlicher Spieler, und für mich war klar, dass ich das eines Tages beruflich machen möchte. Doch als ich dann auf der Sport-Universität die Aufnahmeprüfung gemacht habe, bin ich durchgefallen. Das war's dann mit meiner Sportkarriere. Ich habe meine großen Pläne wieder verworfen.

Sport und Architektur sind recht unterschiedlich. Wie kam es dazu?

Ito: Da muss ich Ihnen kurz das japanische Universitätssystem erklären. In Japan gibt es keine reine Architektur-Fakultät. Sie müssen Ingenieurwesen inskribieren und haben dann die Möglichkeit, sich auf einen bestimmten Schwerpunkt zu konzentrieren. Nun, ich habe mich für dieses Studium entschieden, weil ich dachte: Wenn ich es schon sportlich zu nichts bringe, dann versuche ich es halt mit etwas Technischem. Ich hatte die Wahl zwischen Elektrotechnik, Maschinenbau, Ingenieurwesen und so weiter. Das alles schien mir zu kompliziert. Doch dann gab es noch Architektur. Das klang für mich etwas sozialer, etwas näher am Menschen.

Reiner Zufall also?

Ito: Viele können sich das gar nicht vorstellen. Aber ja, so könnte man das sagen.

Ihr erstes Büro, das Sie 1971 gegründet haben, hieß Urban Robot. Mögen Sie Roboter?

Ito: Nach meinem Studium habe ich begonnen zu arbeiten. Das waren die späten Sechziger, die Zeit von Archigram, die Zeit der Metabolisten. Ich war von dieser maschinenartigen Architektur unendlich fasziniert. Und so gründete ich das Büro Urban Robot. Doch die Bewegung war von kurzer Dauer. Ja, damals habe ich Roboter gemocht. Aus heutiger Sicht ist Urban Robot für mich so etwas wie ein verlorenes Kind, wie ein vergessenes Kind, das man eines Tages aus den Augen verliert.

Vom Roboterfan zum heutigen Toyo Ito ist es ein weiter Weg.

Ito: Seit damals ist viel passiert. Das Land hat sich sehr gewandelt. Den größten Umbruch brachten die Achtzigerjahre mit sich. Durch die Verbesserung der Wirtschaftslage sind die Menschen auf die Straße getreten, sie haben sich wieder in die Gesellschaft eingebracht. Das Leben war plötzlich wieder positiv. Davon bleibt auch ein Architekt nicht unberührt.

Ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt: Japanische Architektur sieht immer japanisch aus. Woran liegt das?

Ito: Wirklich? Wenn man selbst mittendrin ist, fällt einem das gar nicht auf. Aber ich kann mir schon vorstellen, warum das so ist. Sie brauchen nur einen Blick auf unsere Schrift zu werfen. Schließlich ist Schrift ein sehr langlebiges und beständiges Kulturgut, das robust ist und viele Strapazen überdauert. Unsere Schrift hat ein sehr charakteristisches Schriftbild, es zeichnet sich durch abwechselnde Leere und Dichte aus. Manchmal haben Sie sehr viel konzentrierte Information an einem Ort, dann gibt es wieder einen großen weißen Leerraum dazwischen.

Welche Auswirkung hat das aufs Bauen?

Ito: Ein Wort hat niemals ein und dieselbe Bedeutung. Jedem Leser wird dadurch in der Interpretation ein gewisser Spielraum zugestanden. Das ist ein sehr schönes Verständigungssystem. Ich glaube, dass sich diese Ästhetik auf viele andere visuelle Ebenen in unserer Kultur niederschlägt. Auch auf die Architektur. Mit einem Wort: Wir bauen nicht, sondern wir schreiben. Wir sehen nicht, sondern wir lesen.

Das klingt nach einem sehr anstrengenden Stadtleben.

Ito: Ja, es gibt viel zu entdecken. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum japanische Architektur von Außenstehenden so oft als minimalistisch bezeichnet wird. Ich selbst würde in diesem Zusammenhang niemals von Minimalismus sprechen. Man möchte dem anderen etwas mitteilen und wählt zu diesem Zweck so viele Worte, wie eben nötig sind, um sich verständlich zu machen. In langlebigen Medien wie Kunst, Architektur und Literatur ist das unsere Sprache. Kurzlebige Medien wie Mode und Werbung bedienen sich oft einer anderen Sprache.

Sie sprechen über Architektur wie andere über Kunst. Sind Menschen außerhalb Japans genauso empfänglich und sensibel dafür?

Ito: Das ist eine Frage der generellen Entwicklung und Kultiviertheit eines Landes. Sie dürfen nicht vergessen, dass Japan eine sehr große handwerkliche Tradition hat. Bis heute ist es so, dass die Bauarbeiter auf der Baustelle einen großen Einfluss darauf haben, ob ein Bauwerk gelingt oder nicht. Wenn sie Spaß an der Arbeit haben und sich damit identifizieren, dann hat man am Ende ein gutes Projekt. Und wenn sie keinen Spaß an der Arbeit haben, dann wird man auch das dem Haus ansehen. Was ich damit sagen möchte: Die Sensibilität für jede Art von Materie ist in Japan in allen Gesellschaftsschichten ausgeprägt. In dieser Deutlichkeit habe ich das noch in keinem anderen Land entdeckt.

Ist das nicht frustrierend?

Ito: Doch! Als ich mich das erste Mal etwas intensiver mit dem Bauen im Ausland beschäftigt habe, war ich extrem frustriert. Ich dachte mir: Warum kriegen das die anderen nicht auf die Reihe? Ganz ehrlich: Ich bin der Meinung, dass man nicht die japanische Architektur in alle Welt exportieren sollte, sondern Bauarbeiter, Technik und Know-how. Das hätte mehr Sinn.

Was ist das Wichtigste am Bauen?

Ito: Architektur ist in der Regel das Ausdrucksmittel einer sehr konservativen und bürgerlichen Gesellschaftsschicht. Von einer Generation zur nächsten wird weitergegeben, wie ein Haus auszusehen hat und wie nicht. Viele Menschen merken gar nicht, wie sehr sie sich damit einem System unterwerfen. Doch es geht auch anders, denn mit einer guten und sensiblen Architektur kann man den Menschen das Leben vereinfachen, man kann es angenehmer machen. Das geht allerdings nur, wenn man kritisch genug ist, die Tradition, das angeblich immer schon Dagewesene objektiv zu betrachten und womöglich zu überdenken. Hier fordere ich den Architekten Scharfsinn und Kreativität ab.

Ihr größter persönlicher Wunsch für die Zukunft?

Ito: Alles, was ich bisher gemacht habe, befriedigt mich nicht wirklich. Ich bin jemand, der niemals zufriedenzustellen ist. Kaum habe ich ein Projekt fertiggestellt, denke ich mir: Ach, das hätte ich doch anders machen sollen! Um ehrlich zu sein: Einen großen Traum habe ich nicht. Ich will diese Skepsis beibehalten. Auch beim allerletzten Projekt, das ich eines Tages abschließen werde, möchte ich im Nachhinein zurückblicken können und sagen: Das wäre noch besser gegangen. In dem Moment, wo Sie das nicht mehr sagen können, sind Sie stehengeblieben.

Der Standard, Sa., 2008.10.25



verknüpfte Akteure
Ito Toyo

11. Oktober 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Zeit für einen Tapetenwechsel

Architekt Denis Kosutiæ zeigt vor, wie man mit geringen Mitteln seinen eigenen vier Wänden einen neuen Look verpassen kann. Mit Farben, Tapeten und Möbeln machte er sich in einer Wiener Altbauwohnung ans Werk.

Architekt Denis Kosutiæ zeigt vor, wie man mit geringen Mitteln seinen eigenen vier Wänden einen neuen Look verpassen kann. Mit Farben, Tapeten und Möbeln machte er sich in einer Wiener Altbauwohnung ans Werk.

Ein Besuch bei Familie S. kann von großen Erkenntnissen begleitet sein. Beispielsweise könnte man draufkommen, dass man Ängste besitzt, von denen man zuvor gar nicht wusste, dass sie überhaupt existieren. Tapetenphobie würde man so etwas im Fachjargon nennen. Wer also glaubt, in Sachen Wandpapier übersensibel reagieren zu können, der möge sich mit diesem Artikel begnügen. Von einem Besuch vor Ort sei dringend abzuraten.

Nein, Familie S. hatte nicht immer schon ein Faible für Tapeten. Die kam erst mit dem Architekten Denis Kosutiæ. Einige Jahre wohnte man bereits in dieser gründerzeitlichen Wohnung in Wien Alsergrund. Eines Tages gefiel der alte Look nicht mehr. Die Zeit war reif für einen Tapetenwechsel. Kosutiæ nahm die Bauherren beim Wort und lieferte ihnen einen Entwurf, von dem sie sich so rasch nicht erholen sollten.

„Wir hatten uns nicht gekannt, und ich wurde nur wegen der Projekte auf meiner Homepage kontaktiert“, sagt der Architekt rückblickend. „Es gab ein genaues Briefing und einen vorgegebenen Kostenrahmen. Doch als ich die Pläne das erste Mal präsentierte, stand den Bauherren der Mund offen. Ich glaube, sie waren schockiert.“

Der Schock legte sich, es folgte ein klares Bekenntnis zum Risiko. „Ja, wir machen's“, sagten sie, und Kosutiæ machte sich an die Arbeit. Pläne wurden ausgefeilt, Details ausgearbeitet, Möbel ausgesucht, Tapeten bestellt. Das Wichtigste war jedoch, das Vorzimmer zu retten und dem übergroßen und fensterlosen Raum wieder eine Nutzung zuzuführen.

„Ich habe ein zweites Wohnzimmer vorgeschlagen, eine Art persönliche Lounge zum Zurückziehen, zum Lesen und Telefonieren.“ Heute stehen hier zwei große Fauteuils, Fundstücke aus der jahrelangen Sammeltätigkeit der Bauherren. Der durchgewetzte Stoff wurde gegen roten Samt ausgetauscht. Den passenden Hintergrund liefert eine schwarz-weiße Tapete mit ziemlich großem Blättermotiv.

„Die Bauherren haben großartige Möbel im Fundus. Von der Art-déco-Garderobe bis zur Kommode aus den Sechzigern gibt es so manches tolle Stück in dieser Wohnung“, erklärt der Architekt. Besonders reizvoll sei es jedoch, die historischen Möbel in einen neuen Kontext zu stellen. „Ich mag das, wenn man auf den ersten Blick nicht weiß, ob etwas alt oder neu ist.“

Fluoreszierende Wände

Auch im Esszimmer ist das Alter der Möbel nicht so leicht zu bestimmen. Sie entpuppen sich als Neuinterpretationen alter Klassiker. Um einen ovalen Tisch stehen sechs Plastic-Chairs von Charles und Ray Eames. Über alledem thront ein schwarzer Luster des Londoner Designers Jeremy Cole, eine Neuauflage der guten alten Artischocke, die Poul Henningsen im Jahre sich 1957 entworfen hatte. Mystisch bahnt sich das Licht seinen Weg von der Quelle bis zu den Schalen aus hoch glänzendem Kunststoff.

Im Hintergrund fliegen Kolibris über die Wände. Die knallroten Vögel haben einen Trumpf im Flügel: Sie sind mit fluoreszierender Farbe aufgedruckt, womit die dunkelblaue Tapete in der Nacht gänzlich anders aussieht als bei Tageslicht. „Diese konkrete Tapete ist vom britischen Hersteller Osborne & Little“, sagt Kosutiæ, „billig sind solche Produkte natürlich nicht, aber man darf ja nicht vergessen, dass man davon nur ein paar Rollen kaufen muss - und schon hat man es mit einer völlig anderen Wohnung zu tun.“ Und wenn man eines Tages vom raumgewordenen LSD-Tripp die Nase voll hat? Der Architekt, ganz entspannt: „Es ist nur eine Tapete.“

Der Standard, Sa., 2008.10.11

04. Oktober 2008Wojciech Czaja
Der Standard

„Die Natur ist ein sozialer Raum“

Das Potenzial von Gärten ist groß und gehört ausgeschöpft, sagt die amerikanische Landschaftsarchitektin Jane Amidon.

Das Potenzial von Gärten ist groß und gehört ausgeschöpft, sagt die amerikanische Landschaftsarchitektin Jane Amidon.

Standard: Haben Sie einen Garten?

Jane Amidon: Ja, ich habe einen Garten. Doch er entspricht nicht unbedingt meinen Vorstellungen. Um ehrlich zu sein, sieht er ganz furchtbar und einsam aus. Das Problem ist, dass ich zwar Träume habe, aber keine Zeit. Ich bin zu beschäftigt.

Ein weitverbreitetes Vorurteil lautet, dass man einen Garten in unseren Breitengraden nur im Sommer nutzen kann.

Amidon: Ja, das ist leider ein Irrglaube. Jeder Freiraum, der uns umgibt, ist 365 Tage im Jahr in Gebrauch. Viele Leute haben ein sehr verzerrtes Bild und denken, ein Garten sei nur zum Liegen und Teetrinken da. Doch man kann einen Garten auch im Winter bestens nutzen. Alles nur eine Frage der Planung. Dass Gärten in der feuchten Jahreszeit große Dienste leisten, wird oft vergessen. Boden und Pflanzen binden nämlich jenes Wasser, das sonst direkt ins Abwassersystem fließen würde. Das ist ein wichtiger Faktor. Leider ist der Winter in den Köpfen der Menschen kaum existent.

Was genau stellen sich die Menschen unter Landschaftsarchitektur vor?

Amidon: Das, was man in den USA vorfindet, entspringt einer starken und omnipräsenten Industrie, die den Konsumenten permanent kontrolliert und ihm vorschreibt, was er schön zu finden hat. Die Leute fahren in den Bau- und Gartenmarkt und lassen sich dort von der Werbung inspirieren. Mit Landschaftsarchitektur hat das nichts zu tun. Ich wage zu behaupten, dass die Potenziale einer hochqualitativen Freiraumplanung in den USA maximal zu zehn Prozent ausgeschöpft sind. Mehr nicht.

In vielen Teilen der Erde gibt es eine große Gartentradition. Wie kann so eine Tradition so plötzlich enden?

Amidon: Das ist eine gute Frage, und ich kann sie Ihnen nicht wirklich beantworten. Vielleicht liegt das daran, dass die Gestaltung des öffentlichen Raumes in letzter Zeit stark zurückgegangen ist. Der Kostendruck zwingt scheinbar zu übermäßigen Einsparungen. Woran können sich Privatbauherren heute denn noch orientieren? Und so nehmen sie sich ein Beispiel an den Gartenmärkten und Blumenparadiesen. Das ist einfach und banal. Kreativität und Schönheit bleiben dabei auf der Strecke.

Manche zeitgenössischen Gartenanlagen bestehen aus rostigem Stahl und Glas, andere sogar aus Plastikflaschen, Feuer und Eis. Wie reagieren die Häuslbauer auf derart exzentrische Entwürfe?

Amidon: Exzentrische Entwürfe und Spiele mit den Elementen und Aggregatzuständen gibt es in der Landschaftsplanung schon seit den Sechzigerjahren. Das Phänomen ist also nicht neu. Eine devastierte Landschaft konnte man damals vor dem Hintergrund der Kunst zum Garten erklären, intakter Grünraum wiederum wurde angezündet und abgebrannt. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund sind die Leute heute nicht mehr so leicht zu schockieren, wie Sie glauben! Neu ist hingegen der ökologische Anspruch solcher Taten. Während man eine Wiese früher ausschließlich aus künstlerischen Gründen in Brand gesetzt hat, steckt heute immer auch ein ökologischer Zusatznutzen dahinter. Mit den neuen Technologien und mit den Erkenntnissen aus der Wissenschaft ist das überhaupt kein Problem mehr.

Wie groß ist denn die ökologische Bedeutung eines privaten Gartens hinterm Haus?

Amidon: Privatgärten spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung und in der Bewusstseinsschaffung. Internationale Symposien und Wettbewerbe wie etwa private plots sind gute Werbeträger und Multiplikatoren. Doch die ökologische Auswirkung der wenigen guten privaten Freiräume ist - zumindest heute noch - absolut unbedeutend. Der nächste Schritt wird sein, die öffentliche Hand zum Umdenken anzuregen. Ein guter natürlicher Freiraum in der Stadt hat nämlich nicht nur ökologische Auswirkungen, sondern ist vor allem auch ein sozialer Raum. Das wird allzu oft vergessen.

Wird das gelingen?

Amidon: Ziel ist es, Städte und Länder dazu zu bringen, dass sie eines Tages die Gestaltung der öffentlichen Garten- und Parkanlagen auf ihrer Tagesordnung stehen haben. Ich denke, dass die Chancen gut stehen, denn die jungen Generationen wachsen mit einem ganz neuen Bewusstsein auf, was nachhaltiges Denken betrifft. Und man darf nicht vergessen: Sie sind außerordentlich gute Networker.

Der Standard, Sa., 2008.10.04

04. Oktober 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Zwerg macht noch keinen Garten

Landschaftsarchitektur ist in Österreich ein Mauerblümchen. Dank des Internationalen Gartensymposiums könnte sich das bald ändern.

Landschaftsarchitektur ist in Österreich ein Mauerblümchen. Dank des Internationalen Gartensymposiums könnte sich das bald ändern.

Fachleute aus aller Herren Länder trudelten letzten Samstag in Langenlois ein, um gemeinsam zu lauschen, wie es denn um die Gartenkunst bestellt sei. Mit großer Erwartungshaltung stürmten sie am frühen Vormittag das Loisium Hotel. Internationale Landschaftsarchitektinnen und Freiraumplaner schöpften aus dem Vollen und gaben ihre Erfahrungen zum Besten. Lachen und Klagen nicht ausgeschlossen.

Doch wer glaubt, beim längst etablierten Gartensymposium private plots handle es sich um irgendeine öde Blumenkistl- und Thujenheckenkonferenz, der irrt - und zwar gewaltig.

Der Pariser Architekt Edouard François etwa präsentierte L'immeuble qui pousse, das wachsende Haus. Das Wohngebäude in Montpellier verschwindet hinter einer Fassade aus Gabionenkäfigen. In den Schotterspalten haben sich Blumen und Kräuter angesiedelt. Aus dem Gestaltungsbüro Inside Outside der Niederländerin Petra Blaisse wiederum hörte man von Gärten und Platzgestaltungen an der Schnittstelle zwischen innen und außen.

Jane Amidon aus Ohio (siehe Interview) ging der Frage nach, welche ökologischen und gestalterischen Tricks man in der Natur anwenden kann, und präsentierte experimentelle Algengärten, eine aufklappbare Wiese für unterwegs oder etwa einen Biogarten, der direkt an das Abfallrohr einer Toilette angeschlossen ist. Mögen die Zucchini prächtig gedeihen.

Man dürfe mit den Plänen und Entwürfen ja nicht übertreiben, sagte der belgische Landschaftsplaner Erik Dhont, doch einer Sache solle man stets gewahr sein: „Ein Garten wird niemals perfekt sein. Doch genau diese Unperfektheit ist es, die die Schönheit ausmacht.“

Große Tradition - und heute?

Kreativität in der freien Natur ist nichts Neues. „Ein Blick auf die Kulturgeschichte der Gärten zeigt, dass private Freiräume immer schon Orte der Innovation waren“, sagt Initiatorin Karin Standler, die das Symposium gemeinsam mit ihrem Kollegen Robert Froschauer bereits zum dritten Mal ins Leben rief. „Aber nicht immer werden die Potenziale ausgeschöpft. Hinzu kommt, dass innovative Gartenkultur wenig publiziert wird.“

Was in den Gartenmagazinen zu sehen ist, habe mit Landschaftsplanung nur wenig zu tun. Hobbygärtner gehen der Hecke an den Kragen, Teiche werden ausgebuddelt, Gartenzwerge hingestellt.

Wie man es besser machen kann, beweist der internationale Wettbewerb, zu dem im Vorfeld des Symposiums geladen wurde. Aus insgesamt 71 Einreichungen aus 17 Ländern weltweit wurden drei Projekte preislich gekürt, drei weitere wurden lobend erwähnt. Den neuartigsten und konsequentesten Ansatz lieferte der 24-jährige belgische Jungspund Albéric Moreels - und kassierte den mit 7000 Euro dotierten ersten Preis.

Moreels' Eingriff in den historischen Garten einer denkmalgeschützten Stadtvilla in Gent ist simpel, aber radikal: Die Symmetrie der Gartenanlage wird von organischen Holzskulpturen durchbrochen. Eines Tages werden sie unter stacheligen Kletterrosen begraben sein. Bei Dunkelheit lodert der Garten im roten Licht.

„Der Jury war es wichtig, ein Projekt auszuwählen, das ein Statement ist und nicht nur ein weiterer hübscher Garten“, erklärt Standler, „der ökologische Ansatz, die Low-Budget-Haltung und die Symbiose von Alt und Neu sind in dieser Form eine Rarität.“

Den zweiten Platz holte sich das Schweizer Büro Hager International mit einem Freiraumkonzept für eine aufgelassene Tankstelle in Berlin, die heute als Wohnatelier genutzt wird. Platz drei erging an den Brasilianer Carlos Teixeira mit seinem sogenannten Prothesis Garden in Nova Lima, wo Architektur und Natur beinhart aufeinandertreffen - Naturprothesen eben.

Im Vergleich zu den prämierten Gartenanlagen aus aller Welt leidet Österreichs grüner Daumen offenbar an einer ausgeprägten Form der Gicht. private plots liefert die nötige Medizin.

[ Preisträger und Anerkennungen unter www.privateplots.at. Zum Symposium ist das Buch „best private plots 08“ erschienen - mit einer Beschreibung aller nominierten Projekte. ISBN 978-3-9502424-1-6 ]

Der Standard, Sa., 2008.10.04

04. Oktober 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Canyon voller Baustoffe

In Nußdorf steht ein Haus, das erst auf den zweiten Blick überzeugt. Architekt Gerhard Steixner kreierte ein in jeder Hinsicht auffällig unauffälliges Gebäude - mit Wohlfühlfaktor.

In Nußdorf steht ein Haus, das erst auf den zweiten Blick überzeugt. Architekt Gerhard Steixner kreierte ein in jeder Hinsicht auffällig unauffälliges Gebäude - mit Wohlfühlfaktor.

Am nordwestlichen Stadtrand von Wien liegt das beschauliche Nußdorf. Keine Hektik, wenig Verkehr, ein linierter Teppich aus Weinreben liegt gemütlich auf den Hängen. Dass das kleine Arkadien von jeher ein Hort zeitgenössischen Bauens ist, geht in der Vorstadtromantik jämmerlich unter. Nur gelegentlich drängt sich zwischen all die güldenen Pfortenknäufe und hölzernen Dachverschläge ein Stück moderner Architektur.

Ernst Hiesmayrs ehemaliges Atelier steht hier, wenig weiter wohnt der Architekt und Statiker Wolfdietrich Ziesel in einem auffälligen Konstrukt aus den Sechzigerjahren, und der gute alte Rupert Falkner traute sich einst sogar, eine größere Wohnhausanlage hierherzustellen.

Die Aufsehen erregende Villa M. von Gerhard Steixner, die letztes Jahr fertiggestellt wurde, fügt sich perfekt in diese Umgebung. Kein Eckerl des Hauses möchte modisch sein, keines schreit nach Design der Jahrtausendwende. „Mir war wichtig, dass der ästhetische Genuss von Dauer ist und dass man dem Haus nicht auf Anhieb das Entstehungsjahr ablesen kann“, erklärt Steixner.

Materialvielfalt, Zeitlosigkeit

Wie ein Urlaubsdomizil steht das auffällig unauffällige Haus auf dem geböschten Grundstück. Unterschiedlichste Baustoffe treffen an den Fassaden unverhofft auf- einander. Von Materialreduktion hält Steixner nicht viel: Glas, Stahl, Ziegel, Naturstein, Niro, Aluminium, Lärchenholz, Fichte, Kunststoff, Putz und nackter Beton.

Doch auf den zweiten Blick wird klar: Was eben noch zusammengewürfelt schien, fügt sich sogleich zu einem stimmigen Ganzen. „Wir wollten kein modisches Haus, das gerade voll im Trend liegt“, sagen die beiden Bauherren, „sondern ein Projekt, das individuell auf uns zugeschnitten ist und das uns auch noch übermorgen gefällt.“

Man betritt das Gebäude an der Seite. Die Mitte des 330 Quadratmeter großen Gebäudes gehört dem Nichts. Ein riesiger Luftraum durchsticht alle drei Wohnebenen und verbindet sie mit frei geführten Stiegen und Stegen. Während sich unten Sauna, Dampfbad, Gästezimmer und Garderobe befinden, beginnt das eigentliche Wohnen einen Stock höher.

Im Norden liegen Küche und Essplatz, über raumhohe Schiebetüren tritt man hinaus in den Garten. An der lauschigen Rückseite des Hauses kann man gemütlich frühstücken. Auf der anderen Seite des Hauscanyons liegt das Wohnzimmer. „Hier kommt die Lage des Hauses mitsamt Vogelgezwitscher richtig zum Tragen“, schwärmen die Bauherren, „abends sitzen wir in den weißen Lümmelfauteuils und schauen hinaus in den Park.“

Luftiges Stiegensteigen

Bibliothek und Kamin erklären diesen Bereich zum zentralen Lebensort im Haus. Wo es intimer wird, gibt es einen Materialwechsel im Boden. Statt Kalkstein regiert nun die Wärme dunklen, geölten Merbau-Holzes.

Eine luftige Treppe führt weiter hoch in den Privatbereich. Wer hier geht, muss einen sicheren Tritt haben. Auf der rechten Seite hat man den Handlauf im Griff, auf der linken Seite nur den ungetrübten Blick ins Grüne.

Wie in einem kitschigen Märchen befindet sich der Badebereich auf einer Empore. Beim Duschen, Planschen und Zähneputzen kann man sich lautstark durchs ganze Haus singen und bei Bedarf vom Badebalkon hinunterwinken. Dass man sich währender Morgenkosmetik mit dem Ehepartner, der in der Küche bereits den Kaffee zubereitet, unterhalten kann, habe nur Vorteile. „Wir wohnen hier zu zweit. Vor wem sollen wir uns denn verstecken?“

Der Standard, Sa., 2008.10.04



verknüpfte Bauwerke
Villa Massera

20. September 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Spinnen irren nicht

Die HafenCity Hamburg ist die größte Baustelle Europas. 15 lange Jahre werden Bagger und Kräne noch ihre Runden drehen, doch schon jetzt geht die Retortenstadt an der Elbe mit Beispiel voran.

Die HafenCity Hamburg ist die größte Baustelle Europas. 15 lange Jahre werden Bagger und Kräne noch ihre Runden drehen, doch schon jetzt geht die Retortenstadt an der Elbe mit Beispiel voran.

Wenn es dunkel wird, macht sich Anja Nioduschewski auf den Weg. Gummihandschuhe, Einmachglas und Pinzette gehören zur Grundausstattung der gelernten Biologin. Lange muss sie nicht suchen. Nach wenigen Schritten beugt sie sich zum Brückengeländer, stülpt das Glas übers Spinnennetz und fängt den fetten Achtbeiner ein. „Das ist aber ein großes Weibchen“, stellt Nioduschewski mit Begeisterung fest - und ab ins Labor.

Die Brückenspinne, lateinisch Larinioides sclopetarius, ist wahrscheinlich das Allerletzte, an das die Projektentwickler und Investoren der HafenCity in Hamburg gedacht haben. Doch mittlerweile ist das neue Stadtviertel an der Elbe von Abermillionen Arachniden bevölkert, ja regelrecht in Besitz genommen. Sie wohnen zwischen Geländerstäben, in Mauernischen und Lüftungsrohren oder lauern in bester Lage im direkten Lichtkegel der Laternen.

Im Auftrag der Investoren sucht Nioduschewski nun nach physikalischen, chemischen und baulichen Maßnahmen, um die Spinnenplage einzudämmen. Ziel ihrer Untersuchungen ist es, einem möglichen Wertverlust der Grundstücke frühzeitig entgegenzuwirken. Aussichtsreichste Bekämpfungsstrategie ist der großflächige Einsatz von Natriumdampf-Lampen, deren warmes, gelboranges Licht sämtlichen Insekten und Spinnentieren ein Gräuel ist.

„Die Brückenspinnen sind ein marginales Thema“, beruhigt Jürgen Bruns-Berentelg, Vorsitzender der Geschäftsführung der HafenCity Hamburg GmbH, Spinnen habe es in der Hafengegend immer schon gegeben. „Natürlich versuchen wir, das Aufkommen der Tiere ein wenig einzudämmen, doch als Problem würde ich das nicht bezeichnen. Die einzige Herausforderung besteht darin, dass die Bewohner ihre Fenster wahrscheinlich öfter putzen müssen, als sie es anderswo gewohnt waren.“

Schon heute zählt die HafenCity Hamburg 1500 Einwohner. Nach Fertigstellung des neuen Stadtteils in den Jahren zwischen 2020 und 2025 wird es hier rund 5500 Wohnungen geben. Hinzu kommen 40.000 Arbeitsplätze, ein Schiffsterminal, zahlreiche Einkaufsmöglichkeiten und diverse Kultureinrichtungen wie das Science Center von Rem Koolhaas oder die Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron (siehe BIld).

Damit ist die HafenCity die größte Baustelle Europas, geplant und ausgetüftelt von Städteplanern, Architekten, Soziologen, Designern und Immobilienmaklern. Die Gesamtinvestition beläuft sich, über Jahrzehnte verteilt, auf 5,5 Milliarden Euro.

Öffentliche Verantwortung

Eine völlig neue Stadt in der Stadt? Wer schon mal in Brasília oder in einer Retortenstadt heutiger Tage gestanden hat, der weiß, dass der Neubau ganzer Städte nichts Gutes zu verheißen mag. Schauderhafte Leere macht sich breit, der Mensch wird zum Handlanger der Utopisten, von städtischer Lebendigkeit keine Spur.

„Natürlich besteht wie in jedem neu gebauten Stadtviertel die Gefahr, dass eine sterile Urbanität entsteht“, erklärt Bruns-Berentelg auf Anfrage des Standard, „doch genau aus diesem Grund haben wir diesem Umstand auf breiter Basis vorgebeugt.“ Anders als in einer künstlichen Retorte schafft man hier einen Stadtteil, der an die bestehende Innenstadt angeknüpft ist. Zwei Stationen mit der neuen U-Bahn-Linie U4, an der gerade gebuddelt wird, und schon ist man mitten im Zentrum.

Die wichtigste Errungenschaft ist jedoch die Tatsache, dass Hamburg seiner ureigentlichen Aufgabe als Stadt in bester Manier nachgekommen ist. Sowohl Stadtregierung als auch die HafenCity Hamburg GmbH ließen bei den öffentlichen Gemeinschaftsplätzen und beim Gesamtbild der neuen Hafenstadt nicht locker. Projektentwickler und Investoren wurden vertraglich dazu verpflichtet, für jedes einzelne Gebäude einen eigenen Wettbewerb auszuschreiben.

Zeitgemäße Energiekonzepte dürfen dabei ebenso wenig fehlen wie hieb- und stichfeste Nutzungsvorschläge für die Erdgeschoßzone. „Wir haben darauf geachtet, dass im Erdgeschoß gemischte Nutzungen vorgesehen werden, die nicht nur dem Einzelhandel dienen“, so der HafenCity-Geschäftsführer. „Wir wollen keine Monostrukturen und auch keine Indoor-Shoppingflächen ohne jeden Bezug zum Außenraum.“

Damit die „Gentrification“, also die künstliche Aufwertung und Preissteigerung des Viertels, nicht schon beginnt, bevor die HafenCity überhaupt fertiggestellt ist, wird ein Teil des Mietwohnbaus für bestimmte Zeit eingefroren. Damit ist die Leistbarkeit mittelfristig sichergestellt.

„Wir bieten im Wohnsegment ein großes Spektrum und möchten damit unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ansprechen“, sagt Jörn Walter von der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. Natürlich seien die Vorgaben für Investoren sehr spekulativ. Sollte die Vermietung zu wünschen übrig lassen, werde die Stadtregierung in die Bresche springen und selbst Büroflächen anmieten. Das ist der Deal.

Die Resonanz auf die HafenCity ist zum großen Teil positiv. Der Spiegel und Die Welt, Arte und 3sat berichten regelmäßig von der Baustelle an der Elbe. Kritik bleibt freilich nicht aus. Zu teuer, zu leblos, zu durchkomponiert. Und dann auch noch die Spinnen.

Jürgen Brus-Berentelg bleibt gelassen: „Ein erstes repräsentatives Bild wird man sich erst im Sommer 2010 machen können, wenn der erste Bauteil fertig sein wird. Aber Sie brauchen nur an einem Wochenende durch die HafenCity spazieren gehen, und Sie werden sehen, was für ein Brückenschlag hier gelungen ist.“

Menschen sitzen auf den Stufen, tanzen argentinischen Tango und brettern mit Skateboards über die Brüstungen. Für ein Areal, über das sich noch für lange Zeit täglich neuer Baustellenstaub legen wird, ist das ein verblüffend gutes Zeugnis.

Zu verdanken ist das nicht zuletzt den sogenannten „weichen Faktoren“. Denn nicht nur an Häusern wird hier emsig gebaut, sondern auch an einer regen Nachbarschaft. Den Bewohnern wurde der Aufbau sozialer Organisationen angeboten. Mittlerweile gibt es in der Elb-Retorte Sportvereine, Kulturforen und Spielverbände. Die Grundschule, die kommendes Jahr eröffnet, wird in den Abendstunden als Community-Center dienen.

Lernen aus alten Fehlern

Gibt es Ängste, dass man eines fernen Tages über das Hamburger Projekt ähnlich denken wird wie heute über Astana, Brasília und Chandigarh? „Dass man in 50 oder 60 Jahren durch die HafenCity geht und mit Entsetzen an den Bau dieser Stadt zurückdenkt, schließe ich kategorisch aus. Wir sind auf einem völlig anderen Wissensstand als damals und sind sehr behutsam und interdisziplinär an die Bauaufgabe herangegangen.“

Eine Stadt kann niemals perfekt sein. Schon gar nicht, wenn sie innerhalb kürzester Zeit nach Plan wachsen muss. Mit großer Gewissheit kann man davon ausgehen, dass trotz allen Wissensfortschritts auch heute noch massive Fehler begangen werden. Erkennen wird man sie erst in Jahrzehnten.

Aber eines kann man jetzt schon sagen: Das Schlimmste wurde abgewehrt. Denn die Vorgehensweise der Stadtregierung und der Projektentwickler ist weltweit einzigartig. Viele Städte könnten sich daran ein Beispiel nehmen. So schlecht kann das Leben in der neuen HafenCity nicht sein. Der Großteil der Bevölkerung hängt schon längst in ihren Netzen und will nicht fort von hier.

Eine Baustelle erwacht zum Leben. Die neue HafenCity Hamburg ist zwar erst in Teilen besiedelt und bewohnt, doch ein netter Sonntagsspaziergang und eine argentinische Milonga sind schon drin. Fotos: HafenCity Hamburg GmbH, Elbe & Flut

Gibt es Ängste, dass man eines fernen Tages über das Hamburger Projekt ähnlich denken wird wie über Astana, Brasília oder Chandigarh? - Nein, das schließe ich kategorisch aus.

Der Standard, Sa., 2008.09.20



verknüpfte Bauwerke
Elbphilharmonie Hamburg

13. September 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Jeder Raum braucht einen Plan

Grundlage allen Planens und Bauens ist die Raumordnung. Was sich hinter dem Begriff verbirgt, erklärt Adolf Andel, Direktor des Österreichischen Instituts für Raumplanung.

Grundlage allen Planens und Bauens ist die Raumordnung. Was sich hinter dem Begriff verbirgt, erklärt Adolf Andel, Direktor des Österreichischen Instituts für Raumplanung.

Vor zwei Wochen gingen in Alpbach die diesjährigen Architekturgespräche zu Ende. der Standard berichtete. Und zwar darüber, dass Österreich zu einem desaströsen Siedlungsteppich ausartet. Darüber, dass Österreich EU-weit die höchste Dichte an Einzelhandelsflächen aufweist. Oder etwa darüber, dass die Alpenrepublik nach Zypern und Luxemburg europaweit das Land mit dem längsten Straßennetz pro Kopf ist.

Die Kritik galt nicht zuletzt der Raumplanung. Es dauerte keinen Tag, schon flatterte uns ein Leserbrief ins Haus. „Wie bitte?“, fragte Adolf Andel, Direktor des Österreichischen Instituts für Raumplanung, ganz empört. Woran genau solle die Raumplanung schuld sein? Am Wachstum der Städte? An den monofunktionalen Siedlungswüsten? Oder gar an den Einkaufszentren und Supermärkten, die am Stadtrand wie Schwammerl aus dem Erdboden sprießen? Mit dem vorliegenden Interview rücken wir den bisweilen nebulosen Begriff der Raumplanung ins richtige Licht.

der Standard: Seit wann gibt es Raumplanung?

Andel: Seit etwa 3000 Jahren.

Ich muss mich klarer fassen: Seit wann gibt es in Österreich Raumplanung als eigene Berufssparte?

Andel: Die Raumplanung als akademische Ausbildung gibt es in Österreich seit den Siebzigerjahren. Raumplanung ist somit eine relativ junge Fachdisziplin. Entstanden ist sie nicht zuletzt als Folge der Nachkriegszeit, in der das Bauen bisweilen sehr unliebsame Formen angenommen hat.

Kann sich ein Laie unter Raumplanung überhaupt etwas vorstellen? Meistens liest man darüber in Zusammenhang mit Begriffen wie Zweitwohnsitz und Minarett.

Andel: Als ich begonnen habe zu studieren, hat das Fach noch Raumplanung und Raumforschung geheißen. Die Einen haben gedacht, ich möchte Innenarchitekt werden. Und die Anderen haben mich gefragt, ob ich denn verrückt sei, in Österreich Raumforschung zu studieren. Da möge ich doch lieber gleich zur Nasa gehen. Bis heute gehört es zum Schicksal der Raumplanung, dass es noch niemandem gelungen ist, ein klares Profil dieser Profession zu zeichnen.

Sind Sie als Raumplaner mit der Situation in Österreich zufrieden?

Andel: Nein, mit dem Zustand der räumlichen Entwicklung bin ich ganz und gar nicht zufrieden. Zwischen dem, was möglich wäre, und dem, was ist, gibt es Differenzen.

Wie kommt es, dass Österreich so ein zerfledderter Siedlungsteppich ist?

Andel: Das Erscheinungsbild der Welt, das uns entgegentritt, ist wie ein Fingerabdruck der Bewusstseinslage und der Machtverhältnisse einer Gesellschaft. Unter Umständen gibt uns die Landschaft Auskunft über die ökonomischen, politischen und soziologischen Strukturen des jeweiligen Landes.

Das würde bedeuten, dass die Peripherie der österreichischen Städte ganz in der Hand von Investoren und Gewerbetreibenden liegt.

Andel: Sie suchen nach einem Schuldigen für den Siedlungsteppich und schon haben Sie einen Kardinalfehler begangen! Einem einzigen Akteur oder einer Branche die Verantwortung für das Erscheinungsbild einer Stadt oder einer Gegend zu geben ist zu einfach. Wir sind am richtigen Weg, wenn wir uns der Komplexität der Materie bewusst werden. Raumplanung ist ein dynamischer Prozess, an dem viele einzelne Personen, Interessen und Disziplinen beteiligt sind. Unter anderem ist Raumplanung eine analytische, kommunikative und kreative Dienstleistung für Wirtschaft und Politik.

Hören Wirtschaft und Politik denn darauf, was Raumplaner zu sagen haben?

Andel: Das ist ein anachronistisches Bild von Autoritätsgläubigkeit. In der heutigen Zeit ist das realitätsfremd. Es hat ja totalitäre Regime gegeben, in denen raumplanerische Masterpläne von der Politik und Wirtschaft umgesetzt wurden. Das war nicht die glorreichste Zeit unserer Geschichte. Von diesen technokratischen Vorstellungen sind wir Gott sei Dank abgekommen.

Österreich hat Bauland-Reserven im Umfang von 50 Prozent der bereits bebauten Fläche. Wie kommt dieses Übermaß zustande?

Andel: Die Ausweisung von Bauland fällt in den Aufgabenbereich der Gemeinden. Leider findet sich kaum eine Landesregierung, der es gelingt, sich den massiv vorgetragenen Entwicklungswünschen einzelner Gemeinden zu widersetzen. Die großen Bauland-Reserven sind unterm Strich nichts anderes als das Aufsummieren einzelner Idealvorstellungen. Zufriedenstellend ist das nicht.

Bis heute gibt es kein einheitliches Raumordnungsgesetz. Warum eigentlich nicht?

Andel: Ein Bundes-Raumordnungsgesetz würde uns nicht weiterhelfen. Da wäre es schon sinnvoller, die neun Bauordnungen zu vereinheitlichen und dafür zu sorgen, dass nicht jedes Bundesland sein eigenes Naturschutzgesetz hat.

Wien ist das einzige Bundesland, das über gar keine verbindliche Raumplanung verfügt.

Andel: Wien hat seit je eine große Tradition der übergeordneten Entwicklungsplanung. Ich denke da nur an die Donauregulierung, an den Grüngürtel oder etwa an den Stadtentwicklungsplan. Besonders innovativ ist der STEP 05. Darin werden strategische Zielgebiete ausgewiesen.

Der STEP ist lediglich eine Empfehlung, verbindlich ist er nicht.

Andel: Wien hat eine sehr umfassende Bauordnung und einen ebenso umfassenden Flächenwidmungsplan. Glauben Sie mir: Das Fehlen eines Raumordnungsgesetzes ist kein Engpass in dieser Stadt. Ganz im Gegenteil: Wäre der STEP 05 verbindlich, würde man der Stadtplanung nichts Gutes tun.

Wie kommt es dann, dass in Wien Stadtteile entstehen, die nicht einmal über einen hochwertigen öffentlichen Anschluss verfügen?

Andel: Vonseiten der Stadtplanung wurden viele richtige Entscheidungen getroffen, aber auch einige weniger richtige, um es mal elegant zu formulieren. Es ist passiert. Überall dort, wo die Raumplanung teilnehmen konnte, hat sie sehr Verdienstvolles für die Stadtentwicklung beigetragen. Auch das Verhindern von Fehlentwicklungen gehört dazu.

Das heißt, dass am Wienerberg und am Monte Laa die Verhinderung nicht gelungen ist?

Andel: Bei diesen beiden Entwicklungszonen könnte man sicherlich unzählige Untersuchungen anstellen, wie sich die Machtverhältnisse der Stadt in diesem konkreten historischen Abschnitt abgespielt haben. Reinhard Seiß hat das in seinem Buch Wer baut Wien? ja bereits gemacht. Lediglich aufzuzeigen, wie es nicht geht, ist auf lange Sicht allerdings zu wenig.

Welche Fehlentwicklungen sind derzeit im Gange?

Andel: Die Erhöhung der Pendlerpauschale wäre so ein Beispiel. Das ist eine sozialpolitisch motivierte Entscheidung, die in höchstem Maße Auswirkungen auf die Raumplanung hat. Eine höhere Pendlerpauschale ist zwar kein Anreiz, in den Speckgürtel hinauszuziehen. Die Mobilität erleichtert sie allemal!

Die Wege werden länger, die Mobilität steigt, der Energiebedarf nimmt zu. Werden wir uns die Stadt der Zukunft noch leisten können?

Andel: Lassen Sie es mich so sagen: Eine lineare Fortsetzung der Entwicklung der letzten 15 Jahre wäre nicht zweckmäßig. Das würde nicht nur die öffentlichen Haushalte überfordern, sondern auch die Budgets der Familien.

Was muss geschehen?

Andel: In der Wirtschaft und Politik muss die Lernkurve steigen. Dazu gehört, dass wir beginnen, in längeren Zeiträumen zu denken. Ein Zukunftsszenario von drei oder vier Jahren ist zu kurz. Privatinvestoren und öffentliche Hand müssen dazu übergehen, in Schritten von 10 oder 20 Jahren zu denken.

Und wenn kein Umdenken eintritt?

Andel: Ich bin kein Weltuntergangs-Prophet. Und das ist gut so, denn nach heutigem Wissensstand sind noch alle Weltuntergangs-Propheten falsch gelegen.

Der Standard, Sa., 2008.09.13

06. September 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Stadt ohne Worte

Seit über einem Jahr sind die Straßen in São Paulo frei von jeder Werbung. Auch anderen Städten verschlägt es bisweilen die Sprache

Seit über einem Jahr sind die Straßen in São Paulo frei von jeder Werbung. Auch anderen Städten verschlägt es bisweilen die Sprache

Knapp zwei Jahre ist es her, dass in São Paulo beschlossen wurde, die ganze Stadt zu säubern und die Werbung von den Häusern zu reißen. Videoscreens wurden demontiert, Leuchtreklamen entfernt, Feuermauern übermalt. Das sogenannte „Gesetz der sauberen Stadt“ war eine der ersten Amtshandlungen des Neobürgermeisters Gilberto Kassab. „Ich meine es ernst. Wir müssen aufs Ganze gehen“, sagte er damals, „bei elf Millionen Einwohnern kann man unmöglich im kleinen Rahmen agieren. Man muss radikal sein und rigorose Maßnahmen ergreifen.“

Am 1. März 2007 ist die Schonfrist abgelaufen. Außenreklamen und Firmenschilder sind seit diesem Tag strengstens verboten, das Anbringen wird mit saftigen Strafen geahndet. Ein Quadratmeter illegaler Außenwerbung kostet den Eigentümer knapp 400 Euro. „Mit dem Reklame-Gag wurde Kassab sofort zum populären Saubermann“, bemerkt Carl D. Goerdeler in einem Essay, der im Wirtschaftsmagazin brand eins erschienen ist. Doch nicht ohne Folgen: „Selbst auf der noblen Avenida Paulista fällt die Orientierung schwer. Wo sind die Wahrzeichen der Stadt geblieben?“ Und die Rua Augusta, einstige Prachtstraße im Zentrum der Stadt, beklagt der Autor, sehe heute aus wie ein gerupftes Huhn.

Der brasilianische Architekt Vasco Caldeira formuliert es auf seine Weise: „Die Stadt hat vor der Aktion hässlich ausgesehen. Und sie sieht nach der Aktion hässlich aus. Nur halt anders.“ Caldeiras ist mit seiner Meinung jedoch in der Minderzahl. Denn trotz der kargen Erscheinung findet die Säuberungsaktion in São Paulo viele Anhänger. Ein Großteil der Paulistas - manche Tageszeitungen sprechen gar von 70 Prozent der Bevölkerung - ist mit dem Verschwinden von Text und Bild zufrieden.

Endlich wieder Nacht

„São Paulo war immer ein Meer von visueller Verschmutzung. Die Stadt ist hinter Werbeflächen verschwunden, die Slogans und Claims der großen Brands waren überall, und es gab kein Entkommen“, erinnert sich der Ausstellungsbauer Antonio Vieira Paschoalique. „Heute wirkt São Paulo aufgeräumt, ästhetisch, ja völlig anders, als es jemals war.“ Und noch etwas: „Endlich gibt es in der Stadt wieder Dunkelheit, endlich gibt es wieder Nächte.“

Die fehlende Helligkeit hat Konsequenzen: Seitdem das Licht aus ist, fühlen sich die Leute auf der Straße nicht mehr sicher. Manche sprechen sogar davon, dass die Kriminalität wieder angestiegen sei. Der größte Verlierer ist allerdings die Wirtschaft. Einzelhandelsleute und Handwerker haben ihre Jobs verloren, ein ganzer Industrie- und Dienstleistungszweig ist angesichts der kaum noch benötigten Werbung zusammengebrochen. Kein Mensch braucht heute noch Leuchttafeln, Klebebuchstaben, großflächige Fassadenmalerei.

Der US-amerikanische Plakatwerber Clear Channel Communications, der sich erst vor einigen Jahren am brasilianischen Markt eingekauft und einen Großteil der Rechte am Plakatmarkt erworben hat, ist alles andere als begeistert. Er interpretiert das Verschwinden der großflächigen Werbeflächen als Kulturverlust. Seine letzte Kampagne für São Paulo lautete: „Es gibt einen neuen Film auf allen Plakaten ... Was für Plakate? Außenwerbung ist auch Kultur.“

Einen marginalen Einblick in einen derartigen Sprachverlust gewährte die Kunstinstallation Delete! im Juni 2005. Für die Dauer von zwei Wochen wurde ein Teil der Neubaugasse in Wien von jeglicher Werbung befreit. Die beiden Initiatoren Christoph Steinbrener und Rainer Dempf sprachen dabei von der „Entschriftung des öffentlichen Raums“. Geschäftsportale, Schriftzüge, Schilder und Plakate wurden mit knallgelber Folie überzogen. Die Stadt verstummte. Gelegentlich blitzte unter der Folie noch die Kontur eines Logos durch.

„Wien ist, wie uns scheint, mehr mit Werbung zugepflastert als andere europäische Städte“, sagen die beiden Künstler, „in Wien gibt es 6000 großflächige Werbeflächen, in Paris, das um ein Vielfaches größer ist, sind nur etwa 2000.“ In gewisser Weise funktioniere das Projekt wie eine Schule des Sehens: „Durch den Eingriff des Überdeckens wird der Blick auf andere Dinge gelenkt. Motive, die in der Stadt zwangsläufig untergehen, weil sie etwa nicht hinreichend farbig sind, bekommen plötzlich wieder Bedeutung.“

Stadt ist ein Ort der Zeichen

Die Sprache des öffentlichen Raums gehört ohne Zweifel zur Stadt des 20. und 21. Jahrhunderts. Ohne Schrift erscheint sie uns fremd. Denn - wie der Literaturwissenschafter Karlheinz Stierle schreibt: „Die große Stadt ist ein Zeichenort oder eine Semiosphäre. Je größer die Stadt, desto geringer ist in ihr die Chance der direkten sprachlichen Kommunikation, umso zahlreicher sind aber die Zeichensprachen, in denen die multiple Kohärenz der Stadt sich spiegelt. Prinzipiell ist die Stadt dann groß, wenn in ihr auch für den Stadtbewohner selbst das Unvertraute überwiegt.“

Das neueste Projekt, das sich mit der Sprache im öffentlichen Raum befasst, ist das sogenannte Stadtalphabet Wien. Der Grafikdesigner Martin Ulrich Kehrer marschierte wochenlang durch Wien und bannte dabei die Schriftzüge von Geschäftsportalen auf Film. „Mich fasziniert dieses Kommunikationsmittel schon seit langem“, sagt er. „Die gestalterische Freiheit ist bei Geschäftsportalen größer als in jeder anderen geschriebenen Kommunikationsform.“

Die Schriftzüge der Einzelhändler müssten sich keinem Corporate Design unterwerfen, sie müssten einfach nur aufmerksam machen. Je unverwechselbarer, desto besser. „Erst das dichte Nebeneinander ohne jegliche Rücksicht auf den Nachbarn macht die Lebendigkeit einer Stadt aus.“

Ende des Jahres erscheint das Stadtalphabet Wien in Buchform im Sonderzahl Verlag. Es ist die Dokumentation einer Kultur, die langsam, aber doch aus dem Stadtbild verschwindet. „Früher waren die Straßen mondän und elegant. Die Buchstaben haben geleuchtet und geblinkt, waren hinter Glas oder eingefasst in Metall. Heute verwahrlost der Straßenraum zusehends. Überall große Ketten, Wettbüros und Handyshops mit hässlichen Buchstaben aus Klebefolie.“ Ein letztes Aufflackern der Worte. Und Buch zu.

[ Martin Ulrich Kehrer, „Stadtalphabet Wien. Mit einem Nachwort von Walter Pamminger“. Ca. 200 Fotografien in Farbe. € 16,- / 128 Seiten. Erscheint Ende 2008 im Sonderzahl Verlag ]

Der Standard, Sa., 2008.09.06

01. September 2008Wojciech Czaja
Der Standard

An der Grenze des Hausverstands

In Alpbach endeten die Architekturgespräche 08. Größtes Sorgenkind: Die Raumplanung

In Alpbach endeten die Architekturgespräche 08. Größtes Sorgenkind: Die Raumplanung

Alpbach - Die Zahl der Menschen, die in Städten leben, steigt kontinuierlich. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Ballungsräumen. Bis 2025 soll der Anteil auf zwei Drittel angestiegen sein. Das erklärte Dieter Läpple, Professor am Institut für Stadt- und Regionalökonomie an der HafenCity Universität Hamburg (HCU), im Rahmen der Architekturgespräche, die am Samstag endeten und den Abschluss des 64. Europäischen Forums Alpbach bildeten.

Die Sorge der Redner galt vor allem den wachsenden Speckgürteln, die die Städte in zunehmendem Ausmaß einkesseln. „An diesen Orten möchte sich niemand aufhalten“, meinte Wolfgang Sonne, Professor für Architekturtheorie an der Uni Dortmund: „Der Siedlungsteppich, der unsere Städte umgibt, vereint die Nachteile des Landlebens mit den Nachteilen der Stadt.“ Weder sei man von urbaner Infrastruktur umgeben, noch sei man im Grünen.

Das Wachstum der Städte - pro Tag werden in Österreich für die Siedlungsentwicklung über 17 Hektar beansprucht - hat verheerende Folgen für den Verkehr und die Ansiedlung von Industrie, Supermärkten und Einkaufszentren. Urbane Qualität entstehe dadurch nicht.

„Ja, solche Gewerbegebiete werden geradewegs gefördert“, sagte der Frankfurter Architekt Christoph Mäckler, „in manchen Bundesländern Deutschlands erhält jede Stadt, die ein eigenes Gewerbegebiet ausweist, steuerliche Begünstigungen.“

Schuld daran ist die Raumplanung, also jene Disziplin, die die Entwicklung des Bevölkerungswachstums geografisch lenkt und im besten Fall für eine Balance zwischen städtischem und ländlichem Raum sorgt. „Die raumplanerischen Entwürfe sind großteils eine Katastrophe“, so Mäckler, „Raumplaner denken in ihren eigenen Bahnen. Von Architektur und Städtebau haben sie keine Ahnung.“

In Österreich ist das Problem virulent. Statt eines einheitlichen Raumordnungsgesetzes auf Bundesebene hat jedes Bundesland seine eigenen Vorschriften. „Sogar von Gemeinde zu Gemeinde gibt es Unterschiede“, beklagt Heinz Fassmann von der Uni Wien, Institut für Geographie und Regionalforschung, „jede Ortschaft kann über ihr Wachstum autonom bestimmen und schafft damit neue Schwierigkeiten.“

Gerlind Weber, Vorstand am Institut für Raumplanung und ländliche Neuordnung an der Boku Wien, plädiert für einen intelligenteren und nachhaltigeren Umgang mit den Flächenressourcen. „Der Überhang an Bauland beträgt in Österreich rund 50 Prozent. Das muss man sich einmal vorstellen!“

Im Klartext: Stünde auf jedem Grundstück, das laut Flächenwidmung für Bebauung freigegeben ist, ein Haus, so würde die gesamte Baumasse in Österreich auf das Anderthalbfache ansteigen. Der fortschreitenden Zersiedelung ist damit Tür und Tor geöffnet.

Welche Folgen das langfristig mit sich bringt, sei kaum vorstellbar. „Mit der heutigen Raumplanung schaffen wir uns die Altlasten von morgen“, sagt Weber. Den zu erwartenden Leerstand, die immer weiteren Wege und die in Folge steigende Mobilität werde sich die Gesellschaft eines Tages nicht mehr leisten können. „Für ein Umdenken ist es jetzt schon fast schon zu spät. Wir beklagen hier verschüttete Milch.“

Eine Kritik darf im Rahmen dieses Diskurses nicht fehlen. Auch den Sponsoren der Veranstaltung wurde heuer das eine oder andere Platzerl auf dem Podium gewährt. So kam es, dass sich unter die hochkarätigen Professoren und Institutsvorstände auch ein Mediensprecher von Österreichs größter Supermarkt-Kette mischte. Statt sich auf die Sache zu konzentrieren, wurde im prominenten Rahmen PR betrieben. Das untergräbt jede seriöse Diskussion, sagt einem der Hausverstand.

Der Standard, Mo., 2008.09.01

30. August 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Auf Bilbao wird gepfiffen

Gestern, Freitag, wurde im Kärntner Neuhaus das Museum Liaunig eröffnet. querkraft statt Schwerkraft lautet das Motto des gleichnamigen Architekturbüros. Ein Kunsthaus mit wenigen Mitteln.

Gestern, Freitag, wurde im Kärntner Neuhaus das Museum Liaunig eröffnet. querkraft statt Schwerkraft lautet das Motto des gleichnamigen Architekturbüros. Ein Kunsthaus mit wenigen Mitteln.

Begonnen hat alles mit den Briefmarken. Noch keine zehn Jahre alt, hatte der kleine Herbert bereits eine erstaunliche Sammlung vorzuweisen. „Das Sammeln hat mich immer interessiert“, blickt der heute 63-jährige Liaunig zurück, „das vergnügliche Verlangen, es zu tun, liegt tief im Menschen verankert.“ Dass diese Manie nicht notwendigerweise bei jedem durchbricht, meint er, sei allerdings eine Fügung des Schicksals.

Längst vergessen, dass fürs erste Kunstwerk eigens ein Kredit aufgenommen werden musste. Längst vergessen, wie Kisten voller Comic-Hefte gegen flüchtige Skizzen aus musengeküsster Künstlerhand getauscht wurden. 2130 Werke des 20. Jahrhunderts hat der Industrielle bis heute zusammengetragen. Zu jedem einzelnen gibt es eine Geschichte. „Es gibt keinen Künstler in dieser Sammlung, den ich nicht persönlich kenne. Diese Freundschaften und Bekanntschaften prägen die Sammlung.“

Und weil Herbert Liaunig mittlerweile mehr Freunde als Comic-Hefte hat, platzte das Depot in seiner Kärntner Residenz, Schloss Neuhaus, irgendwann aus allen Nähten. Ein Museum musste her. Den ersten Wettbewerb 2004 gewann die französische Architektin Odile Decq. Gebaut hat sie nicht. „Diese Frau hat mich zwei Jahre Entwicklung gekostet“, erinnert sich Liaunig, „sie hat die vertraglichen Verpflichtungen nicht eingehalten, indiskutable Pläne geliefert und dazu die Baukosten überschritten. Desahlb habe ich die Zusammenarbeit damals beendet.“ Andere Worte aus Paris: „Den Namen des Herrn L. nehme ich in meinem Leben nie wieder in den Mund“, sagt Odile Decq auf Anfrage des Standard, „Kunst zu sammeln und dabei nicht die Kunst der Architektur zu respektieren - das passt für mich nicht zusammen.“

Neuer Anlauf, diesmal mit Erfolg. Gestern Abend, Freitag, eröffnete im südkärntner Neuhaus/Suha das Museum Liaunig aus der Feder des Wiener Architekturbüros querkraft. Wie ein Autobahntunnel pfeift das Ding aus dem Hang und zeigt der Schwerkraft die kalte Schulter. Erst gibt es noch ein paar Rippen aus Stahl, dann nur noch nackten Beton. „Wir haben uns einiger Elemente aus dem Industriebau bedient“, sagen die querkräftler, „der Beton ist unverputzt und die gekrümmte Haut rundherum ist 08/15-Standardware vom Stahlbauer.“ Dass das, nebenbei bemerkt, erstklassig bestückte Museum so roh daherkommt, ist nicht nur juvenile Unverfrorenheit, sondern hat auch finanzielle Gründe. 1500 Euro pro Quadratmeter durfte das Gebäude laut Ausschreibung kosten. Sogar Dietmar Eberle, Juryvorsitzender der zweiten Stunde, meinte damals, um diesen Preis könne man niemals ein Museum bauen.

Keinen Cent mehr

Man kann. Statt zu protzen, wie dies seit Bilbao im internationalen Museumsbau scheinbar Usus ist, überlegte sich querkraft, wie sich auf intelligente Art und Weise Baukosten sparen ließen. „Die billigste Außenwand, die man nach heutigem Stand der Technik produzieren kann, ist eine Kellerwand“, dachten sich die Architekten und buddelten das Museum in die Erde ein. Nur das Dach und die beiden Enden des 160 Meter langen Ausstellungsraumes ragen heraus, der Rest des Gebäudes duckt sich artig in der Landschaft. Kosten wurden durch diese Maßnahme gleich doppelt gespart: Die Einbettung ins Erdreich wirkt sich positiv aufs Raumklima aus und spart Betriebskosten für Heizung und Kühlung. „Auf den ersten Blick hat sich das Grundstück kaum verändert“, sagt Projektleiter Erwin Stättner, „mitten durchs Gelände verläuft eine Röhre aus Beton und Stahl, das war's.“ Auch Begriffe wie Land-Art habe er in diesem Zusammenhang bereits gehört, aber davon hält er nicht viel: „Wir sind sehr happy mit dem Projekt. Ich denke, das ist Architektur auf den Punkt.“

Kein einziges Lämpchen leuchtet in der langen Röhre, der ganze Raum ist mit Tageslicht durchflutet. Opake Schlitze in der Decke sorgen dafür, dass Gemälde und Plastiken von diffusem Licht erleuchtet werden. Fazit: Angenehme Lichtstimmung, keine Schlagschatten, neutrale Atmosphäre - damit wurde die Bauaufgabe mit Bravour erfüllt. Einen geeigneteren Architekturhintergrund für das Schaffen eines Markus Prachensky oder Gunter Damisch gibt es in dieser Größe kein zweites Mal.

Umso ärgerlicher, dass man nie mehr als ein paar Dutzend Werke gleichzeitig zu sehen bekommt. Die 160 Meter Länge sind schneller ausgeschöpft, als einem lieb ist. Ein einsehbares Lager hinter Glas schafft Abhilfe. Je nach Lust und Laune können die dicht gehängten Depotrahmen aus ihrer Parkposition herausgezogen werden, um Besuchern noch einen flüchtigen Blick auf das zu gewähren, was im Normalfall in einem hermetisch abgeschlossenen Speicher tief unter der Erde verschwindet.

„Der Blick ins Schaudepot ist ein Museumserlebnis neuer Art“, sagt Peter Baum, einstiger Gründungsdirektor des Lentos Kunstmuseums in Linz und jetziger Kurator für Liaunig, „das Depot ist nicht nur der wachsende Nukleus des Museums, sondern auch eine visuelle Herausforderung, der man sich neugierig bei jedem Besuch für einige Minuten stellen kann.“

Das alles stößt auf vollkommenes Desinteresse von Landeshauptmann Jörg Haider. Aus der ursprünglichen erzielten Einigung, dass sich das Land an den Bau- und Betriebskosten beteiligen werde, wurde nichts. Im Zuge der orangen Übermalung des Landes wurde die Sache wieder abgeblasen, eine der wichtigsten Privatsammlungen Österreichs links liegen gelassen. „Mir soll's recht sein“, sagt Liaunig bei der Eröffnung, „jemand, der ohne Kunst leben muss, der versäumt halt viel.“

Das Museum Liaunig öffnet von Mai bis Oktober. Besichtigungen nur im Rahmen von Führungen. Terminvereinbarung: www.museumliaunig.at

Der Standard, Sa., 2008.08.30



verknüpfte Bauwerke
Museum Liaunig

09. August 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Schwebende Kisten

Nach außen gibt sich das Einfamilienhaus von Formann und Puschmann geschlossen. Innen eröffnet sich eine Wohnoase - Mödlinger Beispiel für den etwas anderen Umgang mit Holz.

Nach außen gibt sich das Einfamilienhaus von Formann und Puschmann geschlossen. Innen eröffnet sich eine Wohnoase - Mödlinger Beispiel für den etwas anderen Umgang mit Holz.

Ein schöneres Heimkommen kann man sich nicht vorstellen. Kaum ist die Haustür ins Schloss gefallen, tut sich vor einem ein Meer an Seerosen auf. Japanische Zierkarpfen drehen unter den tellerartigen Blättern ihre Runden. Kommen mal kurz an die Oberfläche, tauchen gleich wieder ab. Das rechteckige Seerosenbecken füllt das Atrium des Hauses aus, spendet Ruhe für alle angrenzenden Wohnbereiche. Im Vergleich zu diesem Arkadien im Entree des Hauses nimmt man das umliegende, ohnedies etwas bekömmliche Mödling als Moloch wahr.

„Nein, wir hatten eigentlich gar keine Vorstellung von unserem Haus“, sagt Ulrike Eder, die mit ihrem Mann Christian und ihren beiden Kindern Juliana und Jakob zuvor in einer Wohnung gelebt hat. „Wir haben den Architekten nur gesagt, wie viele Zimmer wir haben wollen. Der Rest kam dann von ihnen.“ Die beiden Architekten Christian Formann und Stefan Puschmann beschlossen, den Bauherren ein nicht ganz alltägliches Wohnhaus hinzustellen. Gelungen ist ihnen dies mit zwei sogenannten Split-Boxes.

„Die beiden Boxen scheinen über dem leichten Erdgeschoß zu schweben“, sagt Formann, „durch die Staffelung in der Höhe kann man sowohl von der vorderen als auch von der hinteren Kiste nach Westen und somit in den Garten schauen.“ Im unteren Baukörper befinden sich die beiden Kinderzimmer, im oberen liegt das elterliche Schlafzimmer. Sowohl den Kids als auch den Erwachsenen schenkte man eine Loggia, die sich bei allzu starkem Sonneneinfall per Druckknopf beschatten lässt.

Von außen sind die zueinander versetzten Kisten, die auf eine zarte Stahlkonstruktion gestützt sind, mit horizontalen Lärchenlatten verschalt. Die dunkle und glänzende Oberfläche an den Seiten der beiden Kuben ist keine Hightech-Fassade mit düsterer Verdunkelung, sondern einfach nur schwarz emailliertes Glas. „Das ist keine Materialspielerei, sondern ein Vorgreifen auf spätere Tage“, erklären die Architekten. „Wenn die Energiepreise noch weiter steigen, kann man das schwarze Glas jederzeit durch eine Fotovoltaik-Anlage austauschen. Der Eindruck wird der gleiche sein.“ Alle dafür notwendigen Anschlüsse sind bereits verlegt.

Fünf Meter Raumhöhe

Und was befindet sich unter diesen Split-Boxes? Von einem Wohnzimmer im klassischen Sinne kann man kaum sprechen. Vielmehr fließt der Raum in jede noch frei gebliebene Ecke aus, windet sich an der Küche vorbei, gleitet ins Obergeschoß und bildet dort - getarnt in einer Art Galerie - einen eigenen Arbeitsbereich aus. Zwar ist auf dem integrierten Schreibtisch ein Notebook angeschlossen, doch den größten Teil der Arbeitsfläche nehmen Lego und Playmobil ein.

„Dass der Wohnbereich so offen gestaltet ist, gefällt uns sehr“, sagt die Bauherrin, „wichtig war uns vor allem eine ordentliche Raumhöhe.“ Über dem Essplatz hat man beachtliche fünf Meter Kopffreiheit. An heißen Tagen rinnt die 65 Quadratmeter große Wohnküche ins Freie aus, denn die gesamte Westfassade lässt sich auf einer eigens entwickelten Führungsschiene zur Seite schieben. „An diesem witterungsausgesetzten Detail haben wir tagelang gearbeitet“, erinnert sich Architekt Puschmann.

Der Standard, Sa., 2008.08.09



verknüpfte Bauwerke
splitboxes

09. August 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Ich bin der Mann mit Hut

Es gibt kaum einen österreichischen Architekten, der so viel baut wie Wolfgang Kaufmann. Über 500 realisierte Bauten sind es bis heute. Wer versteckt sich unter der Krempe?

Es gibt kaum einen österreichischen Architekten, der so viel baut wie Wolfgang Kaufmann. Über 500 realisierte Bauten sind es bis heute. Wer versteckt sich unter der Krempe?

Schon mal was von Wolfgang Kaufmann gehört? Nein, mit der großen Kaufmann-Architektenfamilie aus Vorarlberg hat er nichts zu tun. Dieser Kaufmann nämlich ist eine jener großen Eminenzen, die aus dem stillen Hintergrund heraus maßgeblich am österreichischen Baugeschehen beteiligt sind. Im Alter von 61 Jahren brachte es der Linzer Architekt bisher auf sage und schreibe 500 realisierte Bauten.

Oft übernimmt er Projekte im Entwurfsstadium und bringt diese zu Ende. Viele Architekten machen nur den Entwurf und die Einreichung - von Ausführungsplanung und Bauaufsicht wollen sie nichts wissen. Zu viel Stress, sagen sie. Ein Fall für den Mann mit Hut.

„Es ist wohl keine Schande“, sagt Dietmar Steiner, Direktor des Architekturzentrums Wien, „lange Jahre nichts von Wolfgang Kaufmann und seiner Architektur gewusst zu haben.“ Denn aus dem, was man als Architekturdiskurs bezeichnet, habe er sich immer herausgehalten. „Nicht aus Arroganz, aber die Anerkennung von Architektenkollegen braucht viel Zeit und Aufwand und bringt halt keine Aufträge.“ Kein Zweifel: Wolfgang Kaufmann hat einen anderen Weg eingeschlagen. Gespräch mit einem der erfolgreichsten Architekten Österreichs.

der Standard: Sie tragen meistens einen Hut. Warum?

Wolfgang Kaufmann: Ich trage den Hut als Markenzeichen. Begonnen hat das vor sieben, acht Jahren. Ich habe in diesem Zuge erkannt, dass er zu einem unverwechselbaren Erkennungsmerkmal geworden ist. Er macht mich authentisch. Und daher: kein Auswärtstermin ohne Hut.

Sie besitzen Immobilien, haben eine Privatstiftung, sind Teilhaber einer ungarischen Fachmarktkette und haben sogar ein eigenes Flugzeug. Mit Ihrem Lebensstil ziehen Sie den Neid vieler Kollegen auf sich.

Kaufmann: Trotz all dieser Nebengeschichten fühle ich mich zu 100 Prozent als Architekt. Immobilien, Flugzeuge und Privatstiftungen allein wären ja keine Erfüllung. Ich will arbeiten. Das Flugzeug habe ich hauptsächlich wegen meiner Auslandsbaustellen. Ich habe das Glück, dass mir die Bauherren viel Vertrauen entgegenbringen und ich mich hauptsächlich mit Großbaustellen beschäftigen darf. Dadurch kann ich mir die feinen Kleinigkeiten im Leben leisten.

Viele Architekten jammern über zu wenig Geld, manche leben sogar am Existenzminimum. Sie leben das Gegenteil vor.

Kaufmann: Wir versuchen, den Bauherrn kompakt zu betreuen. Wir helfen bereits bei der Standortanalyse und beraten ihn auch in sehr kritischen Phasen und Situationen. Wir bemühen uns, die Sache für ihn maßgeschneidert abzuwickeln. Die Architekten, die ihre Arbeit ebenso ernst nehmen wie ich, verdienen wahrscheinlich genauso gut.

Laut Rechnungshof beträgt das durchschnittliche Jahresbruttoeinkommen eines österreichischen Architekten unter 20.000 Euro. Was macht der durchschnittliche Architekt denn falsch?

Kaufmann: In Linz und Umgebung gibt es an die 200 Architekturbüros. In den meisten Büros verdient man sehr wenig, denn viele Architekten leben in der permanenten Hoffnung, eines Tages einen Wettbewerb zu gewinnen. In Abwägung der wirtschaftlichen Situation und der marktwirtschaftlichen Positionierung dieser Architekturbüros kann ich mir gut vorstellen, dass diese Zahlen stimmen. Aber Sie haben recht: Das ist nicht viel.

Wann ist Ihnen klar geworden, dass Sie Architekt werden möchten?

Kaufmann: Ich war 10 oder 12 Jahre alt. Das Spiel mit Form und Gestaltung hat mich damals besonders fasziniert. Ich habe davon geträumt, für Menschen etwas entwickeln zu können, das sie glücklich macht. Architektur ist ja kein Selbstzweck, sondern hat mit dem Menschen zu tun.

In der Zeit in der Bundesgewerbeschule haben Sie auch öfter direkt auf der Baustelle gearbeitet. Das kann man sich nur schwer vorstellen.

Kaufmann: Ich kann mich an die erste Woche am Bau erinnern. Für den Polier war ich ein kleiner Stoppel. Er hat mich in den zweiten Stock hinaufgeschickt und hat mich dort eine Woche lang nur stemmen lassen - mit Stemmeisen und Meisel! Wenn ich nichts höre, sagte er immer, dann weiß ich ganz genau, dass du faul bist! Es war furchtbar. Meine Hände waren schon blutig. Nach einer Woche kam er zu mir und drückte mir einen Kompressor in die Hand. Die Moral der Geschichte: Ein Architekt muss lernen, wie schwer es ist, im Nachhinein Planungsfehler zu korrigieren.

Planungsfehler passieren immer.

Kaufmann: Kleine Planungsfehler passieren immer wieder. Die kann man ausmerzen. Schwieriger wird es bei inhaltlichen Planungsfehlern, da kann man dann nur sagen: Nächstes Mal machen wir es besser. Aber einen Vorteil gibt es: Ein und denselben Fehler macht man immer nur einmal und kein zweites Mal.

Würden Sie Ihre Architektur als Baukunst bezeichnen?

Kaufmann: Sie dürfen die Baukunst, von der wir hier sprechen, nicht mit der hohen Schule des künstlerischen Bauens verwechseln. Unsere Planungsaufgaben sind nicht öffentlich, sondern eher bauherrenbezogen. Das heißt: Sie stehen unter einem enormen wirtschaftlichen Druck. Einen privaten Bauherrn kann man nicht veranlassen, dass er für ein Einfamilienhaus dreimal so viel zahlt, nur weil das Haus so unglaublich baukünstlerisch ist.

Und einen Investor?

Kaufmann: Für einen Investor bleibt die Kostenspange im Vordergrund: Jede Entscheidung muss sich rechnen. Die Realität ist, dass in der Immobilienbranche die Quadratmeter wichtiger sind als die Kunst. Das ist der Lauf der Dinge. Allerdings versuchen wir immer, mit den vorhandenen Möglichkeiten das Maximum zu erreichen.

Sie haben bereits über 500 Projekte abgewickelt. Ist das ausschließlich Können und Talent? Spielen Beziehungen eine Rolle?

Kaufmann: Ohne jetzt selbstherrlich zu erscheinen: Aber ohne eine gewisse Begabung geht's nicht. Man muss kontaktfreudig sein, man muss Spaß daran haben, auf Menschen zuzugehen. Wenn die Leute das erkannt haben, dann entsteht vieles ganz von allein. Ich habe meinen Bauherren niemals das Gefühl vermittelt, dass ich sie missbrauche, nur um meine Vorstellungen umzusetzen. Ich habe sie immer in den Prozess miteingebunden und ihnen vermittelt, wie wichtig sie für die Genese eines Bauvorhabens sind.

Unter den österreichischen Architekten gibt es einige Platzhirsche, die die eine oder andere Stadt deutlich mitprägen. Der Linzer Platzhirsch heißt Wolfgang Kaufmann. Wie gehen Sie mit dieser Rolle um?

Kaufmann: Wenn man längere Zeit in einem Ort tätig ist, mit den Behörden gut auskommt, seine Versprechen einhält und auch Handschlagqualität besitzt, dann wird sich eines Tages die Situation einstellen, dass man mehr baut als die anderen. Dass man mich deshalb als Platzhirsch bezeichnet - damit muss ich wohl leben. Ich kann diese Meinung nur stillschweigend zur Kenntnis nehmen.

Was bedeutet Erfolg für Sie?

Kaufmann: Erfolg ist beruhigend und angenehm. Man genießt es, wenn man durch Linz fährt und dabei an seinen vielen Kindern vorbeifährt. Einer der schönsten Sinne ist das Sehen. Und ein schöner Teil dieses Sehens entfällt auf die Architektur. Ich habe die Möglichkeit, diese Stadt mitzuformen. Dieser Genuss ist für mich Erfolg.

Sind Sie eitel?

Kaufmann: Ich bin ganz durchschnittlich eitel - so wie alle Menschen, hoffe ich. Das hängt mit einem gewissen Ehrgeiz zusammen. Architektur ist wie ein Wettschwimmen, wie ein Wettrennen, wie ein sportlicher Wettbewerb. Wenn man das Ziel erreicht hat, ist man sehr erschöpft, aber dafür auch sehr glücklich.

Das Kennzeichen Ihres Autos lautet ARCH 1 - ist das vom Standpunkt der Eitelkeit denn nicht schon ein bisschen überdurchschnittlich?

Kaufmann: Ich stehe zu meinem Beruf und möchte ihn nicht verschweigen. Dazu gehört auch, dass ich meine Tätigkeit auf meinem Auto anbringe. ARCH ist die Abkürzung für Architektur, und die Ziffer nach den Buchstaben ist ein polizeirechtliches Erfordernis. Diejenigen, die geschimpft haben, haben sich auch darüber aufgeregt, dass das Kennzeichen schon vergeben ist.

Sind Sie denn der ARCH 1 von Linz?

Kaufmann: Das steht nur auf meinem Auto. Ansonsten gibt es viele Architekten, die je nach Blickwinkel besser oder schlechter sind als ich. Das möchte ich nicht beurteilen. Ich hätte nichts dagegen, dass jemand anderer auch mit ARCH 1 durch die Gegend fährt, von mir aus könnten 50 Architekten mit ARCH 1 herumfahren. Aber das geht polizeirechtlich nicht.

Das Architekturbüro Kaufmann & Partner verleiht ab 2009 jährlich einen Förderpreis für Absolventen und Absolventinnen der Fachrichtung Architektur mit Herkunft beziehungsweise Hauptwohnsitz Oberösterreich. Einzureichen sind Diplomarbeiten, die nicht älter als zwei Jahre sind. Der Förderpreis ist mit 6000 Euro dotiert. Einreichschluss der Bewerbungen ist Ende Februar 2009. Infos unter www.kaufmann.at

Der Standard, Sa., 2008.08.09



verknüpfte Akteure
Kaufmann Wolfgang [Partner der Prof. Kaufmann & Partner ZT GmbH]

19. Juli 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Wohnen in der Nähmaschine

Die Großbaustelle Thürnlhof in Wien Simmering ist ein Demonstrationsprojekt des ressourcenschonenden Bauens. Heraus kam unter anderem der Wohnriegel von gerner°gerner plus.

Die Großbaustelle Thürnlhof in Wien Simmering ist ein Demonstrationsprojekt des ressourcenschonenden Bauens. Heraus kam unter anderem der Wohnriegel von gerner°gerner plus.

Die Gegend um den Wiener Zentralfriedhof versprüht in der Regel wenig Vitalität. Vieles nimmt hier ein Ende, von Neubeginn und Innovationen hört man nicht viel. Anders verhält es sich in der Thürnlhofstraße, nur wenige Schritte von der großen Nekropole entfernt. Die Stadt Wien nutzte das unbebaute Areal, um auf beiden Seiten der Straße ein ökologisches Vorzeigeprojekt hochzuziehen. Nicht das niedrigenergetische Wohnen stand hier im Vordergrund als vielmehr das energieeffiziente Bauen.

RUMBA (Richtlinien für eine umweltfreundliche Baustellenabwicklung) nennt sich das Bauprogramm, dem vor einigen Jahren ein Forschungsprojekt der Ökotechna, des Wohnbauträgers Mischek und des Wiener Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds zuvorging. Die Mega-Baustelle Thürnl-hofstraße hatte zum Ziel, bei gleichzeitigem Bauen Energieaufwand, Emissionen und Baustellenverkehr auf ein Minimum zu reduzieren und somit eine umweltschonende Logistik zu gewährleisten. Insgesamt wurden knapp tausend Wohnungen errichtet.

Eines der auffälligsten Gebäude auf diesem Grundstück ist der 120 Meter lange Wohnriegel des Wohnbauträgers ARWAG. Unweigerlich muss man beim Anblick in alten Zeiten schwelgen: Ein bisschen grüßen die Sechziger- und Siebzigerjahre, ein bisschen die alten Meister des innovativen Wohnbaus der Moderne. In erster Linie aber denkt man an ein Haushaltsgerät, das in vielen Stuben schon längst in Vergessenheit geriet. „Bei uns im Büro und auf der Baustelle haben alle nur noch von der Nähmaschine gesprochen“, sagt Andreas Gerner vom Architekturbüro gerner°gerner plus und verweist auf die unverwechselbare Form.

Im Osten gibt sich der zehnstöckige Bau traditionell, im Westen entfliehen die oberen Geschoße dann der Schwerkraft und werden von zwei gigantischen V-Stützen aus Stahlbeton gestützt. Hier liefert die Form Stoff für Gespräche, hier wird der rote Faden gespannt. Doch warum nicht in einer Nähmaschine wohnen? Gerade im Massenwohnbau, bei dem sich in der Regel ein serieller Bau an den anderen reiht, ist jede Art der Identitätsstiftung von hoher Wichtigkeit.

Ein Minimum an Gängen

Die 114 Wohnungen verfügen allesamt über einen Freiraum, sei es in Form einer Loggia oder eines eigenen Mietergartens. Die meisten Wohneinheiten sind zudem zweigeschoßig ausgeführt und von Nord nach Süd durchgesteckt. Auf diese Weise ist es gelungen, die Erschließungszonen zu reduzieren: Je drei Geschoße gibt es nur einen Gang, insgesamt hat man mit zwei Stiegenhauskernen das baubehördliche Auslangen gefunden.

„Ohne Einbußen für die Mieter ist es hier gelungen, eine große Dichte zu erzielen“, sagt Gerda Gerner. Doch je mehr Menschen auf dichtem Raum miteinander leben, desto größer wird das Verlangen nach sozialen und architektonischen Freiräumen. Ans Ende der Nähmaschine addierten Andreas und Gerda Gerner daher zwei Boxen, die sich wie freundliche Parasiten am Gebäude festhalten. Von oben hängt ein Fitnesshaus herab, unten wird ein Gemeinschaftsraum in Schwebe gehalten. Zur baukörperlichen Betonung sind die beiden Zusatzräume in ein hellblaues Eternitkleid gehüllt.

Der Standard, Sa., 2008.07.19



verknüpfte Bauwerke
thu Wohnbau Thürnlhof-West

19. Juli 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Die nackte Wahrheit

Das Wiener Büro Artec zählt zu den radikalsten Architekturschmieden des Landes. Nur gut und recht, dass es im Österreich- Pavillon auf der Biennale in Venedig das Sagen hat. Ein Porträt.

Das Wiener Büro Artec zählt zu den radikalsten Architekturschmieden des Landes. Nur gut und recht, dass es im Österreich- Pavillon auf der Biennale in Venedig das Sagen hat. Ein Porträt.

Niemals sollte man sich in Anwesenheit der beiden Architekten Bettina Götz und Richard Manahl vor eine unverputzte Wand stellen oder mit dem Zeigefinger auf eine nackerte Stahlstütze deuten und dann fragen: „Bleibt das so?“ Schon hat man sich eiskalt selbst disqualifiziert. Natürlich bleibt das so.

Die Fassade als eigens aufgetragene Haut gibt es nicht, ja nicht einmal Farbe wird verwendet, wo sie nicht auch unbedingt gebraucht wird. Sägeraues Holz, Sichtbeton und Zinkblech mit Nieten drauf - „Materialechtheit“ nennt man im Wiener Architekturbüro Artec das, was bei Menschen gemeinhin als FKK bezeichnet wird. „Wichtig ist, dass die Gestalt des Gebauten aus dem Konzept entsteht und nicht entworfen wird“, sagt Bettina Götz ganz sachlich und nüchtern. Und dann Stille. Nachsatz: „Design ist überflüssig.“

Das merkt man auch in ihrem eigenen Büro in Wien Margareten im ersten Stock eines Wohnhauses, das sie 2004 für den Bauträger Mischek gebaut haben. Alles ist nackt. Die Wände sind nur dort gespachtelt, wo es aufgrund von Stemmarbeiten nötig war. Das Resultat ist Kuhfleckoptik in Spachtelweiß und Betongrau, von Dispersionsfarbe keine Spur. Da und dort ist auf der Wand noch eine Bleistiftskizze zu sehen, Spuren eines längst vergangenen Gesprächs zwischen Bauarbeiter und Polier. Wozu übermalen? So ist es halt.

„Wir wollen nichts verstecken, und wir wollen nichts kaschieren“, sagt Richard Manahl, „aus unserem Wunsch nach Authentizität heraus zeigen wir die Materialien und Konstruktionen gerne in ihrer ursprünglichen Form.“ Eine Oberfläche werde nicht besser dadurch, dass man sie zumale, zuspachtle oder verkleide. „Vor allem mögen wir keine Materialien, die etwas anderes vortäuschen, als sie sind. Ich denke da nur an Melanin und Laminat“, sagt Götz, „das ist schauderhaft.“

Verstehen auf den zweiten Blick

Eines der ersten und gleichzeitig radikalsten Projekte der beiden gebürtigen Vorarlberger ist der sogenannte Raum Zita Kern im niederösterreichischen Raasdorf. Über einen ungehobelten Ziegeltrakt eines alten Bauernhofs stülpten Götz und Manahl ein geknicktes Etwas aus Aluminium. Von New York über Moskau bis Tokio war ein Griss um das Projekt, manche Verlage positionierten es prominent auf dem Cover ihrer Gazetten. Margherita Spiluttinis Foto mit rennender Henne im Vordergrund ging um die Welt.

Das solle Architektur sein? Furchtbar! Viele rümpfen die Nase. „Sehr oft sagen die Leute auf den ersten Blick, dass unsere Gebäude ja noch gar nicht fertig sind. Und dann betreten sie das Haus oder die Wohnung, und plötzlich erschließt sich ihnen der Raum“, erklärt Götz.

Die Kinder scheinen das schon längst begriffen zu haben. Als die Schule Zehdengasse in Wien-Floridsdorf an einem frühen Septembertag im Jahre 1996 ihre Pforten öffnete, wurde sie von den Kids mit Begeisterung gestürmt. Keine fadenscheinige Eleganz, keine High-tech-Details, keine Schickimicki-Farbe an der Wand, und überall kann man mit dem Sportschuh dagegentreten, ohne dass sich irgendjemand darüber mokiert.

Die Oberfläche roh zu belassen sei praktisch, schnell und billig. „Die Kinder haben den von uns sichtbar belassenen Beton auf Anhieb akzeptiert, ihnen gefällt das“, sagen die beiden Architekten im Rückblick. Außerdem eignen sich die unbehandelten Wände als perfekte Mal- und Zeichenunterlage. Nur den Eltern und Lehrern musste erst langwierig erklärt werden, dass es sich hier nicht um einen Baustopp gehandelt habe. Nein, das ist gewollt.

Das Konzept der fehlenden Veredelung scheint jedenfalls aufzugehen. Das Büro expandiert, zeichnet einen Wettbewerb nach dem anderen, nimmt Preise entgegen und vertieft sich zusehends in den Wohnbau. An die 30 Projekte hat Artec bisher realisiert, mehr als die Hälfte davon sind Einfamilienhäuser und mittlere bis große Wohngebäude.

Eines der größten Projekte seit der Bürogründung im Jahre 1985 wurde vor wenigen Wochen begonnen. Derzeit wird das Fundament gebaut. Bei den Bremer Stadtmusikanten werden verschiedene Wohnformen wie Esel, Hund, Katze und Gockelhahn übereinander getürmt.

„Alle Wohnungstypen, die wir da eingeplant haben, kommen häufig in Stadtrandsiedlungen vor“, sagen die beiden, „nur sind sie in diesem Fall nicht freistehend auf der grünen Wiese, sondern gestapelt und komprimiert.“ Die Bewohner haben die Wahl zwischen Atriumswohnung, Maisonnette, Reihenhaus und Kleingartenhaus in luftiger Höhe. Auch in diesem Fall hütet man sich davor, eine Fassade zu entwerfen. Dementsprechend mannigfaltig nehmen sich die unterschiedlichen Schauseiten aus und erwecken den Eindruck, als habe man es mit völlig unterschiedlichen Projekten zu tun. Die Logik des Innenlebens wird einfach nach außen gestülpt.

Die Radikalität in der Architektur von ARTEC bescherte Bettina Götz eine Gastprofessur an der Universität der Künste in Berlin, wo sie etwa zwei bis drei Tage in der Woche verbringt. Am Institut für Entwerfen und Baukonstruktion erzieht sie die Studenten zur materiellen Reduktion und zur gestalterischen Askese. „Mir geht es darum, dass die Studenten anhand ihrer Entwürfe ihre eigene, individuelle Entwurfsmethodik entwickeln“, sagt Götz, „für einen Außenstehenden muss sie aber erklärbar sein.“

Kommissärin für die Biennale

Und auch hierzulande ist man auf den Geschmack des unverblümten Bauens gekommen. Nachdem Götz drei Jahre lang im Architekturbeirat des Bundeskanzleramtes tätig war, wurde sie Anfang des Jahres zur Österreich-Kommissärin für die kommende Architektur-Biennale ernannt. Die Worte von Bildungsministerin Claudia Schmied waren damals kurz und prägnant: „Ich habe die Architektin Bettina Götz zur Kommissärin für die Architekturbiennale Venedig bestellt. Eine Frau.“

Ob das Geschlecht wohl ein Entscheidungskriterium war? „Immer vorausgesetzt, dass wir von gleicher Qualifikation sprechen, hat man es im Architekturberuf heute als Frau leichter. Es gibt in diesem Beruf viel weniger Frauen, und in gewissen Situationen werden sie dann einfach bevorzugt. Das ist eine Tatsache, der man sich stellen muss“, erklärt Bettina Götz. „Es hat eine Zeit gedauert, bis sich Frauen überhaupt einmal durchgesetzt haben, und es wird wieder eine Zeitlang dauern, bis sich dieser Zustand normalisiert hat.“

Partner Richard Manahl freut sich: „Ich muss mich nun verstärkt unseren Projekten widmen. Eine gewisse Gliederung muss sein.“ Als Nächstes steht wohl der Absprung ins Ausland an. Noch war bei den ersten Wettbewerben für Bozen, Tallinn und Riga kein erster Platz dabei, doch auch dort wird man bald auf den Geschmack der nackten Wahrheit kommen.

Die 11. Architektur-Biennale in Venedig widmet sich dem Thema „Out there. Architecture beyond Building“. Der österreichische Beitrag geht noch einen Schritt zurück und wirft mit „Before Architecture. Vor der Architektur“ die Frage auf, was davor gewesen sein könnte. Von 14. September bis 23. November 2008. der Standard wird berichten.

Der Standard, Sa., 2008.07.19



verknüpfte Akteure
ARTEC Architekten

12. Juli 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Der nasse Beweis für die Zeit

Kürzlich wurden in New York City die Waterfalls eingeschaltet. Olafur Eliasson spricht über seine Art, die Stadt zu bauen

Kürzlich wurden in New York City die Waterfalls eingeschaltet. Olafur Eliasson spricht über seine Art, die Stadt zu bauen

Der dänische Künstler Olafur Eliasson (41) hantelt sich von einem Kunstprojekt zum nächsten. Für BMW konzipierte er das 16. Art-Car (der Standard berichtete), für diverse Architekturprojekte von den kommerziellen Fünf Höfen in München bis hin zur neuen Oper in Oslo lieferte er Entwürfe für Luster, Möbel und Wandgestaltungen, und das MoMA in New York zeigte im Frühjahr eine Retrospektive unter dem Titel Take Your Time.

Nun sind entlang dem Hudson River zwischen Manhattan und Brooklyn die New York City Waterfalls zu sehen. Während es Eliasson in erster Linie auf eine Verräumlichung der Stadt abgesehen hat, spricht Bürgermeister Michael Bloomberg vor allem vom touristischen Profit. Hier prallen Welten aufeinander. Ein Gespräch mit einem Charmeur.

Warum gerade Wasserfälle?

Olafur Eliasson: Ich habe nicht unbedingt an das Bild eines Wasserfalls gedacht. Ich wollte in erster Linie ein Spektrum an Möglichkeiten schaffen, die auf den Raum dynamisch eingehen. Ganz zu Beginn, also vor etwa sechs Jahren, habe ich daran gedacht, etwas im Central Park zu machen. Doch dann kamen mir Christo und Jeanne-Claude mit ihrem Projekt The Gates in die Quere. Im Nachhinein bin ich allerdings froh darüber, denn im Central Park hätte ich niemals diese Vielfalt an Menschen und Charakteren ansprechen können. Die Nähe zu den teuren Immobilien ist einfach zu groß. Hier unten am Wasser ist es besser.

Bei der Eröffnung haben Sie gesagt, in dieser Arbeit gehe es konkret um die Beziehung zwischen Mensch und Stadt. Inwiefern?

Eliasson: Mich faszinieren in New York die verschiedenen Räumlichkeiten und Qualitäten. Frühmorgens machen viele Chinesen am Pier ihre Tai-Chi-Übungen, andere Leute gehen in der Zwischenzeit in die Arbeit, und um 10 Uhr kommen dann die ersten Touristen. All diese Leute haben etwas gemeinsam: Sie stehen in diesem städtischen Raum in einem kausalen Zusammenhang. Wenn sie einen Schritt machen, dann verändern sie den Raum. Wenn sie am städtischen Geschehen teilnehmen, dann verändert sich durch ihr Tun die umliegende Stadt. Im weitesten Sinne ist das fallende Wasser der Beweis dafür, dass Zeit vorhanden ist - der Beweis dafür, dass sich etwas tut.

Das ist nicht unbedingt ein New Yorker Spezifikum.

Eliasson: Nein, aber New York ist für eine aktive Teilnahme am urbanen Geschehen offen und aufgeschlossen. Das ist nicht überall der Fall. Vielen amerikanischen Städten kann man eine gewisse klassizistische, historisierende und normative Rolle vorwerfen. Vor allem die mittelgroßen Städte in den USA haben eine sehr strenge Vorstellung davon, was normal ist. Und dann kommen private Investoren, passen sich dem an und bereichern den öffentlichen Raum der Städte auf ihre Art und Weise. Damit tragen sie kontinuierlich zur Swarovskisierung dieser Erde bei. Das ist eine Zerstörung der Öffentlichkeit. Mit Kunst kann man das stoppen.

Dann wären die Wasserfälle in einer unaufregenden 08/15-Stadt irgendwo in den USA aber besser aufgehoben als hier!

Eliasson: New York ist zwar räumlich gesehen eine tolerante Stadt, aber andererseits ist das Bild von New York in einem großen Maße vorgeprägt. Diese Stadt hat sich schon so oft als Ikone dargestellt, dass sie auf einer gewissen Metaebene ihre Offenheit und ihre räumliche Dimension längst verloren hat.

Wie ist New York heute?

Eliasson: Es ist platt und zweidimensional. Manhattan besteht aus der Skyline und dient in erster Linie der Repräsentation. Wenn Sie die Brooklyn Bridge anschauen, dann könnte das genauso gut eine Ansichtskarte sein. Man liest den Raum als Fotografie und sieht die Räumlichkeit nicht mehr.

Warum arbeiten Sie so gerne vor dem Hintergrund Stadt?

Eliasson: Ich arbeite gerne an dichten Orten, damit sich mein Werk in der Welt fortsetzt. Wenn kein ausreichendes Publikum da ist, dann ist der Bedeutungsträger womöglich schwach. Man kann das auch ruhig als Performance bezeichnen. Ich glaube, dass die Anwesenheit von Menschen für meine Arbeit sehr wichtig ist. Ohne Menschen frage ich mich, ob das Werk überhaupt existiert. Ob ich überhaupt existiere!

Bürgermeister Michael Bloomberg hat zugegeben, dass er dem Wasserfallprojekt am Anfang nichts abgewinnen konnte. Woher der plötzliche Umschwung?

Eliasson: Ich habe ihm gesagt, dass Kunst die Welt verändern kann.

Und das hat gereicht?

Eliasson: Ich dachte die ganze Zeit, Bloomberg sei ein typischer Republikaner. Aber ganz im Gegenteil! Es ist sehr anspruchsvoll. Er hat gleich zu Beginn gesagt, dass er von Kunst nicht viel verstehe. Im Endeffekt hat er sich mit den New York City Waterfalls sehr intensiv auseinandergesetzt.

Schon bei der Eröffnung erklärte er, dass er durch die Installation Mehreinnahmen von 55 Millionen Dollar erwarte. Wird hier die Kunst nicht auf ein touristisches Marketingtool reduziert?

Eliasson: Es schreckt mich jedes Mal, wenn er über die 55 Millionen Dollar spricht. Schauen Sie: Es ist meine Aufgabe, mich in der Öffentlichkeit zu positionieren, um den Worten Bloombergs ein Gegengewicht bieten zu können. Das ist auch der Grund, warum ich gerade das Interview mit Ihnen führe, obwohl ich mich in solchen Situationen nicht besonders wohlfühle. Ich möchte die Chance nutzen, das Kunstprojekt aus meiner Sicht zu verbalisieren. Und wenn ich darüber spreche, dann klingt das eben anders, als wenn ein Politiker dazu Stellung bezieht.

Jetzt sind Sie meiner Frage ausgewichen.

Eliasson: Ich sage es deutlicher. Ich war es, der das Projekt vorgeschlagen hat. Ich habe das Konzept nicht auf Einladung New Yorks verfasst, sondern habe jahrelang zusammen mit dem Public Art Fund daran gearbeitet. Und nein, ich will nicht, dass die New York City Waterfalls auf ein Marketingtool reduziert werden. Aus diesem Grund habe ich mit der Stadtverwaltung das Agreement getroffen, dass die Wasserfallfotos nicht für touristische Werbezwecke verwendet werden dürfen.

Die Werbung mit Kunst lässt sich aber nicht vermeiden.

Eliasson: Nein, aber es lässt sich auch nicht leugnen, dass auch die Kunst von der Wirtschaft profitiert. Ich will Ihnen ganz unverblümt ein Beispiel nennen: Ohne die jahrelange Unterstützung des österreichischen Lichtproduzenten Zumtobel könnte ich meine Lichtinstallationenen niemals auf diesem hohen Niveau erarbeiten und daran experimentieren. Das gehört einmal klar gesagt! Ich finde es wichtig, dass man nicht so tut, als sei Kunst kein Bestandteil der Wirtschaft. Tatsache ist: Kunst ist ein Wirtschaftsfaktor. Aber diese Beziehungen zwischen Kunst und Wirtschaft sind ein sehr heikles Terrain, und deshalb weichen viele Leute diesem Thema aus.

Zum Abschluss: Warum fährt die ganze Welt auf Olafur Eliasson ab?

Eliasson: Das weiß ich nicht. Ich kann mir das nur pragmatisch und sachlich erklären. Ich habe viele Jahre hindurch an mehreren Projekten parallel gearbeitet. Plötzlich hat es sich ergeben, dass all diese Projekte gleichzeitig fertiggestellt und realisiert werden. Das schafft natürlich Überexponierung.

Ist dieser Hype also eine Ausnahmesituation?

Eliasson: Vor fünf Jahren hat sich auch sehr viel getan, vor zwei Jahren dann weniger und jetzt wieder mehr. Das Leben wird nicht langweiliger, nur stressiger.

[ Die New York City Waterfalls sind noch bis 13. Oktober 2008 zu sehen. ]

Der Standard, Sa., 2008.07.12

05. Juli 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Der positive Schock

Mit Erick van Egeraat sprach Wojciech Czaja

Mit Erick van Egeraat sprach Wojciech Czaja

Standard: Unter Stadtplanung und Städtebau können sich nur die wenigsten Menschen etwas vorstellen. Woran liegt das?

van Egeraat: Das stimmt, und das hat einen einfachen Grund. Im 20. Jahrhundert haben wir auf der ganzen Welt Städte erweitert und dabei bestehende Stadtstrukturen zerstört. Viele Leute verbinden mit Städtebau daher vor allem etwas Negatives. Sehr oft wird darauf vergessen, dass wir ja auch viele alte Städte haben, die wir bis heute sehr schätzen - und auch diese wurden eines fernen Tages geplant. Geändert hat sich leider die Qualität im Umgang mit dem Neubauen und Erweitern. Früher hat man Charakter geschaffen, heute ist das eine Seltenheit.

Standard: Warum ist das so?

van Egeraat: Der Unterschied ist, dass man sich früher darum bemüht hat, die Städte aus einem Guss zu bauen und die bestehenden Strukturen aufzunehmen und weiterzudenken. Die Planer haben sich damals mit den Eigenheiten einer Stadt ernsthaft auseinandergesetzt. Viele Architekten wollen das heute aber nicht mehr. Sie bauen lieber alles neu. Das ist ein Fehler.

Standard: Worauf ist bei einer Stadterweiterung wie bei Graz Reininghaus größter Wert zu legen? Was muss - und was darf auf gar keinen Fall passieren?

van Egeraat: Auf keinen Fall darf Graz Reininghaus ein Außenbezirk oder eine Schlafstadt werden. Das Areal ist größer als die Altstadt! Und diese Altstadt wird für die Bevölkerung auch der Maßstab sein. Wenn der neue Stadtteil nicht mindestens genauso gut oder sogar besser wird, dann ist es auch nicht verwunderlich, wenn niemand hierherkommen will.

Standard: Das sind alles nur Hard Facts.

van Egeraat: Solche Hard Facts sind wichtig, sie bestimmen die Basis. Doch ohne Identität und Charakter können Sie niemals einen funktionierenden Stadtteil aus dem Boden stampfen. Leider vergessen zu viele Architekten, Investoren und Politiker die Emotion! Aber die Gefahr besteht hier kaum. Graz Reininghaus wird so langsam und vorsichtig entwickelt, dass ich positiv schockiert bin! Da kommt plötzlich ein privates Unternehmen daher und zeigt der Öffentlichkeit, wie so etwas geht.

Standard: Und zwar?

van Egeraat: Indem man bestehende Strukturen erhält und die Atmosphäre des Ortes verstärkt. Das ist einfach gesagt, aber leider nur sehr schwer zu realisieren.

Standard: Welche Rolle spielen im Städtewachstum Chaos und Zufall?

van Egeraat: Ich bin ein Liebhaber der Schönheit und Bescheidenheit. Ich denke, wer seine Arbeit beherrscht und gut plant, der schafft es auch ohne Chaos. Eine gewisse Zeit zum Wachsen und Reifen ist jedoch nötig.

Standard: Wie lange?

van Egeraat: Zehn Jahre. Mindestens zehn Jahre.

Der Standard, Sa., 2008.07.05

21. Juni 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Länderballett im dünnen Nervenkleid

Auf der Expo 2008 in Zaragoza fließen die Krokodilstränen. Das Thema „Wasser und nachhaltige Entwicklung“ animiert anscheinend zu überbordendem Pathos. Österreich hingegen setzt auf die Kunstkarte - eine wahre Erfrischung.

Auf der Expo 2008 in Zaragoza fließen die Krokodilstränen. Das Thema „Wasser und nachhaltige Entwicklung“ animiert anscheinend zu überbordendem Pathos. Österreich hingegen setzt auf die Kunstkarte - eine wahre Erfrischung.

Stephanie Cumming und Luke Baio wippen ihre Hüften im Takt. Sie ist Kanadierin, er ist Brite, gemeinsam geben sie das perfekte Almdudler-Pärchen ab. Spärlich bekleidet mit Bikini, Lederhose und Walkstoff-Jackerl betreten sie eine überdimensionale Schneekugel und fangen an zu tanzen. „Es wäre so einfach, den Erwartungen der Leute gerecht zu werden“, sagt Stephanie, „gerade bei Österreich scheint jeder schon genau zu wissen, was ihn erwartet.“

Genau diesen Vorurteilen soll die zeitgenössische Tanzperformance der Künstlergruppe Liquid Loft entgegenwirken. „Unsere Performance ist absurd. Wir wollen die Leute nicht mit Klischees abspeisen, sondern wollen sie überraschen, amüsieren und ihnen ein Fragezeichen auf den Weg mitgeben.“ Die künstlichen Schneeflocken tun ihr Übriges.

Letztes Wochenende eröffnete die Expo 2008 in Zaragoza. Rund 100 Länder beteiligen sich an der diesjährigen Weltausstellung. Auffallend ist, dass sich darunter kein einziges englischsprachiges Land findet. Das heurige Motto „Wasser und nachhaltige Entwicklung“ animiert trotz hochgesteckter Ziele nicht gerade zu Glanzleistungen. Der Großteil der Länderpavillons erstickt in textlastigen Ausstellungen und statistischen Aufbereitungen. Alles sehr dramatisch. Doch spätestens nach einer Handvoll bereister Länder ist im Kopf das absolute Chaos ausgebrochen. Andere Pavillons wiederum oszillieren zwischen touristischer und wirtschaftlicher Selbstdarstellung und gehen am Thema völlig vorbei.

Und alle schwingen sie die Moralkeule: Wasser sei ein kostbares Gut, auf das wir in Zukunft besser aufpassen müssten, dröhnt es überall aus den Lautsprechern. Nicht einmal auf Plattitüden wird verzichtet. Durstige Elefanten in der Savanne werden in einem Atemzug mit der Sprinkleranlage im hübschen Vorstadtgärtchen bemüht. Kontraste wie diese sollen sich uns noch nie zuvor offenbart haben.

Schon bald entpuppt sich der moralische Zeigefinger als reine Persiflage. Denn mit dem Wasser wird auf dieser Weltausstellung herumgepritschelt und herumgespritzt wie nur was. Wasserfälle ergießen sich aus großer Höhe, immer wieder schreitet man über künstliche Seen, spannt den Regenschirm auf und begutachtet physikalische Wasserspiele, die der Aufklärung dienen sollen. Ja, sogar eine Art Fluss durch das Innere der Erde wurde angelegt, weil's eben lustig ist.

Der Österreich-Pavillon (Baukosten 1,4 Millionen Euro) fällt aus alledem in mehrfacher Hinsicht aus der Reihe. Mit Verlaub: Das ist ein guter Ort, um längst verloren geglaubte Patriotismusgefühle wieder ein wenig aufzufrischen. Der architektonische Beitrag der Arge Strauss-Solid-Ritter, die vor zwei Jahren den Wettbewerb um die Pavillon-Gestaltung gewonnen hatte, verzichtet dabei gänzlich auf das Medium Wasser und begnügt sich mit der assoziativen Aufarbeitung in den unterschiedlichsten Aggregatzuständen.

„In unserem Pavillon gibt es kein Wasser“, sagt Christoph Hinterreitner vom Architekturbüro Solid, „das ist unsere Antwort auf das Thema Nachhaltigkeit. Alles andere wäre zynisch und vermessen.“ Auf insgesamt 550 Quadratmetern baute Hinterreitner mit seinen Kollegen eine künstliche Landschaft, die in kaltes, blaues Licht getaucht ist. Als einer der wenigen Pavillons wartet Österreich mit Interaktion und mit Kunst auf. Wissenschaft, Predigt und Pädagogik - das überlässt man getrost dem Rest der Welt.

Auf einem 360-Grad-Panorama ist eine Filminstallation von Liquid Loft zu sehen. Mit ihren Körpern bauen die Tanzkünstler architektonische Räume. Nur zur Eröffnung und am Österreich-Tag am 19. Juli tritt Liquid Loft auch live auf - und verwandelt die eingeschweißte Bühne in einen Raum erstklassiger Darbietung. Die übrige Zeit steht die pneumatische Konstruktion freiwilligen Tänzerinnen und Tänzern zu Verfügung. Wer will, kann dabei in Lederhose, Dirndl, Frack und Ballkleid schlüpfen.

„Freilich ist dieses Projekt eine Gratwanderung“, gesteht Robert Punkenhofer, Direktor des Österreich-Beitrags, „andererseits finde ich es erstaunlich, wie Kreative mit den Österreich-Klischees umgehen.“ Früher habe man Berührungsängste gehabt, nun taste man sich mit Selbstironie und Augenzwinkern an das Thema heran.

Nicht zuletzt liegt es an den Künstlern, dass sich die Alpenrepublik zwar komisch, aber durchaus seriös präsentiert und dabei nicht - wie viele andere Teilnehmer der Expo - ins Folkloristische abdriftet. Walter Niedermayr umwickelt den Pavillon mit einer Fotomontage vom Pitztaler Gletscher. Lucy und Jorge Orta präsentieren eine Skulptur, die den Hype ums viele Designermineralwasser aufs Korn nimmt. Tomas Eller wiederum dokumentiert den beschwerlichen Versuch der architektonischen Aneignung: Er dringt in Schluchten und Gletscherspalten vor und trotzt der wilden Natur mit Raumabsteckungen. Faszinierend. Klirrend kalt.

Kein Ort für subtile Gesten

Auf dem Großteil des Expo-Geländes geht es jedoch weniger subtil zu. Die Tour du Monde ist ein reißerischer Strom der Peinlichkeiten. Griechenland trumpft mit einem Wasserbecken auf, um das sich zwölf dorische Plastiksäulen tummeln, Russland ist stolz auf seinen fragmentarischen Nachbau des St. Petersburger Neptunbrunnens, die afrikanischen Länder werben mit bunt gekleideten Buschprotagonisten, die gerade an irgendwelchen Hölzchen herumschnitzen, und im japanischen Pavillon gibt es einen Manga-Frosch mit Babystimme, der in einer filmischen Montage durch die jahrhundertealten Holzschnitze von Katsushika Hokusai hüpft.

Auffällig pädagogisch gibt sich Deutschland. Durch den gesamten Pavillon ist ein 120 Meter langer Kanal gelegt. Der Ritt auf dem Floß ist wie eine Fahrt durch die Grottenbahn. Hier ein bisschen Musik, dort ein wenig Donner. „Keine Angst, es ist nur ein Sommergewitter, das über Deutschlands Himmel wandert“, beschwichtigt eine süße Frauenstimme. „Hört ihr, wie der Regen ganz langsam nach unten sickert? Der weite Weg durch Sand und Stein schenkt ihm die Reinheit von Kristallen.“ Man bleibt etwas ratlos zurück ob der hier ausgesprochenen Botschaft.

Ideen für die Expo von morgen

Die Expo 2008 in Zaragoza wirft viele Fragen auf. Die dringlichste, die es in den kommenden Jahren zu beantworten gilt, hat mit dem Sinn und Zweck einer solchen Veranstaltung zu tun. Ursprünglich als Hort des Austausches und der Begegnung konzipiert, gehen dem 1851 ins Leben gerufenen Format allmählich die Ideen aus. Dank erhöhter Mobilität kann man heute binnen weniger Stunden ganz woanders sein, durch Fernsehen, Internet und Google Earth braucht man längst keine Weltausstellung mehr, um auf dem Laufenden gehalten zu werden.

„Die Expo in Zaragoza ist wie ein Lunapark, mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Leute hier keinen Spaß haben“, stellt ein kritischer Besucher fest. So gesehen gibt es nur wenige Länder, die es verstanden haben, dem Medium Weltausstellung einen neuen, der heutigen Zeit angemessenen Sinn zu geben. Belgien, Schweiz, Litauen und eben auch Österreich - diese wenigen Pavillons nutzen die Gunst der Kunst. Das ist ein erfrischender Neuanfang angesichts des sonst schon durchgescheuerten Nervenkleids. Respekt.

Die EXPO in 30 Sekunden

Die Weltausstellung ist noch bis 14. September 2008 zu sehen.

Die Gesamtinvestitionskosten belaufen sich auf rund 9 Milliarden Euro. Von der EXPO profitiert vor allem das umliegende Zaragoza. Neben diversen infrastrukturellen Maßnahmen erhielt die Stadt

einen neuen Bahnhof für den Hochgeschwindigkeitszug AVE (Arch. Carlos Ferrater). Durch die gute Verkehrsanbindung rechnet man nun mit insgesamt 6 Millionen Besuchern. Die auffälligsten baulichen Maßnahmen auf dem EXPO-Gelände selbst sind der Torre del Agua (Arch. Enrique de Teresa), der neue Palacio de Congresos (Arch. Nieto Sobejano) sowie der 300 Meter lange Brückenpavillon über den Ebro - eine gigantische Geste von Zaha Hadid. Nach Ablauf der Weltausstellung wird das Areal in einen Business-Park umfunktioniert. Die Pavillons werden entkernt, übrig bleibt eine Stahlbetonkonstruktion, die bereits den Bedürfnissen der zukünftigen Nutzer angepasst ist.

Der Standard, Sa., 2008.06.21

14. Juni 2008Wojciech Czaja
Der Standard

So normal wie Singapur an der Donau

Jahrzehntelang ist man an Linz vorbeigefahren. Und nun widmet man der Stadt sogar eine eigene Ausstellung. Wie in Texas soll es da sein. Oder wie in Washington. Oder wie überall sonst auf der Welt. Ein neuer Blickwinkel aufs Mittelmaß.

Jahrzehntelang ist man an Linz vorbeigefahren. Und nun widmet man der Stadt sogar eine eigene Ausstellung. Wie in Texas soll es da sein. Oder wie in Washington. Oder wie überall sonst auf der Welt. Ein neuer Blickwinkel aufs Mittelmaß.

In den letzten Kriegswochen saß er oft stundenlang in seinem Büro im Berliner Führerbunker und starrte auf das riesige Linz-Modell, das sich vor ihm ausbreitete: Hitler und seine Visionen für die Führerstadt an der Donau. Die ersten Entwürfe für die neue Uferbebauung hatte der Reichsbaurat der Stadt Linz, Roderich Fick, gezeichnet. Trotz riesiger Bauten und imposanter Triumphbögen waren Adolf Hitler die skizzierten Ideen allesamt zu lasch. Es musste noch größer werden. Hermann Giesler, Generalbaurat von München, liefer- te schließlich jenen Pathos, den sich Hitler für die Stadt, in der er seinen Lebensabend verbringen wollte, so sehnlich gewünscht hatte.

Wie eine Perlenkette der Macht reihen sich Militärmuseum, Pionierschule, Heereskommando, KdF-Halle, Führerhotel und Kreisleitung an den beiden Donauufern zur neuen Skyline von Linz. Die Krönung der Komposition war die Gauanlage mitsamt Gaufesthalle und 162 Meter hohem Glockenturm. Realisiert wurde von alledem nur das Brückenkopfgebäude zwischen Nibelungenbrücke und Hauptplatz, in dem heute unter anderem die Kunstuniversität Linz untergebracht ist. Die restlichen Pläne fielen dem glücklichen Verlauf der Zeit zum Opfer.

„Wenn es nach Hitler gegangen wäre, wäre Linz die Heimstätte der persönlichen Kunstsammlung des Führers geworden, beherbergt in einem riesigen, neoklassizistischen Bilderbuchpalast. Darüber befände sich der schwindelerregende Sarkophag seiner geliebten Eltern, erhöht auf einer gestreckten dorischen Säule - eine Art makabre Videoüberwachungsanlage aus dem Jenseits, mit Blick auf das wahnwitzige Vermächtnis ihres Sohnes“, schreibt der Londoner Architekturkritiker Shumon Basar anlässlich der eben eröffneten Ausstellung „Linz Texas“ im Architekturzentrum Wien.

Warum Linz? Warum Texas? Warum Hitler? Und warum nicht Bush? „Linz ist eine mittelgroße Stadt“, erklärt die Kuratorin Angelika Fitz, ihres Zeichens Kulturwissenschafterin mit einem Faible für Architektur und Stadtplanung, „Linz ist nicht wirklich sehr spezifisch, und es ist vergleichbar mit vielen anderen Mittelstädten auf der Welt. Mal mit Wolfsburg, mal mit Rourkela in Indien, mal mit Port Camargue in Südfrankreich, mal mit Manchester und mal mit Haifa. Und in manchen Punkten ist Linz auch so wie die Kleinstadt Paris in Texas. Je nach Betrachtungsweise eben.“

Dass Linz heute so ist, wie es ist, ist nicht zuletzt auch den gescheiterten Plänen Hitlers zu verdanken. „Nein, ich muss zugeben, dass das Problem, dem sich Linz scheinbar gegenüber sieht, darin besteht, dass es eigentlich keine großen, lebensbedrohenden Probleme hat“, bringt Shumon Basar in seiner überaus positiven Kritik zu Blatt. Linz sei nicht wie in Hitlers Träumen und auch nicht wie die großen Brennpunkte Mumbai, Caracas, oder Istanbul. „Im Schatten dieser schillernden Städte macht sich Linz recht possierlich aus. Die Stadt ist weder zu groß noch zu winzig. Ihr Bruttosozialprodukt ist auf recht gesundem Niveau. Niemandem scheint wirklich etwas abzugehen.“ In dieser Hinsicht, so Basar, liege Linz in einem Gürtel von gesunden, funktionierenden Städten, der sich über Zürich, Vancouver, München und Stockholm erstreckt.

Ein bisschen hiervon und ein bisschen davon. Doch warum in aller Welt widmet man diesem mediokren Umstand eine eigene Ausstellung? „Gerade darum“, sagt Fitz. Schon der Architekturtheoretiker Bart Lootsma habe einmal in einem Symposium die Frage gestellt: „Warum untersuchen wir diese Städte nicht genauso intensiv wie die sensationsträchtigeren, funktionsgestörten Städte? Warum können wir nicht von den Städten lernen, die gut funktionieren?“ Genau das möchte man in der Ausstellung „Linz Texas“ tun. Mal ganz abgesehen davon, dass man auch die Werbetrommel für das kommende Kulturhauptstadtjahr 2009 rühren will.

„Nein, mich interessiert nicht Linz im Speziellen“, sagt Angelika Fitz, „mich interessiert nur das prototypische Beispiel einer Mittelstadt. Und zwar Mittelstadt in jeder Hinsicht.“ So gesehen, sei Linz nicht wahnsinnig außergewöhnlich. Wie in Paris, Texas, suhlt man sich auch in Linz im ewigen Minderwertigkeitskomplex, stets der Zweitplatzierte zu sein. Der Linzer Dom ist der zweithöchste Kirchturm Österreichs, und im texanischen Paris steht - als hätten wir's nicht schon geahnt - ein Nachbau des Pariser Wahrzeichens, der mit 20 Meter Höhe lange Zeit der zweithöchste Eiffelturm der Welt war. Und dann hat Las Vegas mit seinem großkotzigen 165 m hohen Turmnachbau dazwischengefunkt. Weg war der zweite Platz.

Linz ist aber auch wie Venedig, zumindest in den stadtnahen Einkaufszentren Uno-Shopping und Plus-City. Da wie dort steht das italienische Flair hoch im Kurs - wer will schon nicht auf einem kreisrunden „Marcusplatz“ unter gläsernem Firmament die vollen Tüten schwingen und bei einem Caffè Latte wieder zu Kräften kommen? Linz ist aber auch wie das indische Hyderabad: Da wie dort werden Softwareparks aus dem Erdboden gestampft. Oder wie Wolfsburg: Im einen Fall laufen Volkswagen vom Band, im anderen Fall der dafür benötigte Stahl. Nicht einmal ein Vergleich mit Kassel wird gescheut: Von der documenta lässt man sich nicht einschüchtern - man hat ja die Ars Electronica.

Der Amsterdamer Architekturjournalist Roemer van Toorn kommt aus dem Gegenüberstellen gar nicht mehr heraus. Letztendlich landet er im Katalog, der zeitgerecht zur Ausstellung erschienen ist, sogar bei einem Vergleich mit dem Stadtstaat Singapur. Und meint: „Bürgermeister Franz Dobusch schuf den perfekten Sozialstaat, mit technischer Effizienz auf höchstem Niveau, der ausgedehnten Verwendung von Informationsmitteln, weitverbreitetem Wohlstand, ausgezeichneten öffentlichen Einrichtungen, hohen Beschäftigungszahlen, einer effizienten und aufgeklärten Bürokratie und sozialen Beziehungen. Mehr noch: Linz ist wie Singapur ohne die Todesstrafe.“

Angelika Fitz gibt sich happy: „Genau das wollten wir erreichen. Wir wollten nicht schon wieder eine Ausstellung mit harten Faktoren, mit Statistiken und Flächenwidmungsplänen. Viel wichtiger waren uns die soften Facts. Wir haben uns daher die Frage gestellt: Wie ist es überhaupt, in einer Stadt wie Linz zu leben?“

Ausstellungen über das Phänomen Stadt habe es schon viele gegeben, aber noch niemals sei es geglückt, den Ausstellungsbesuchern ein Gefühl und ein Gespür für einen bestimmten Ort zu vermitteln. Hier geschieht dies in konzeptionellen Vergleichen, aber auch in sehr polemischen und durchaus plakativen Gegenüberstellungen. Manchmal recht plump, aber immer lustig und anregend. Mit einem Wort: Stadtbetrachtung durch eine völlig neue Brille. Und: Wie lebt es sich zwischen Linz und Texas? Eine Antwort möchte Angelika Fitz darauf nicht geben. „Dazu ist die Ausstellung da.“

[ „Linz Texas. Eine Stadt mit Beziehungen“ im Architekturzentrum Wien, Museumsplatz 1, 1070 Wien. Täglich 10 bis 19 Uhr. Zu sehen bis 8. September 2009. Ausstellungsgestaltung: arquitectos; Grafik: MVD Austria. Zur Ausstellung erscheint der gleichnamige Katalog „Linz Texas. Eine Stadt mit Beziehungen“ im Springer-Verlag. ]

Der Standard, Sa., 2008.06.14

31. Mai 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Die grüne Pille fürs gute Image

Wenn schon Hochhäuser, dann zumindest begrünte, lautet das Motto des malaysischen Architekten Ken Yeang. Ein Gespräch anlässlich der Architecture World 2008 in Münster.

Wenn schon Hochhäuser, dann zumindest begrünte, lautet das Motto des malaysischen Architekten Ken Yeang. Ein Gespräch anlässlich der Architecture World 2008 in Münster.

der Standard: Bei Ken Yeang denkt man unweigerlich an Wolkenkratzer. Warum Wolkenkratzer?

Ken Yeang: Hochhäuser sind im Grunde ihrer Natur eine sehr unökologische Art zu bauen. Um ehrlich zu sein, sind sie die schlimmste Art überhaupt. Aber die Menschen wollen Hochhäuser. Sie wollen sie bauen, sie wollen sie besteigen, sie wollen sich daran messen. Irgendwer muss sich ihrer erbarmen und etwas Gescheites daraus machen. Die Alternativen sind meist recht übel, denn die Architekten sind wie Kinder. Sie gehen unbedarft an die Bauaufgabe heran und bauen ihre Träume.

Und Sie sind der Auserwählte?

Yeang: Ja, ich habe mich selbst dazu auserwählt. Es muss zumindest einen Menschen geben, der die Potenziale dieser Megastrukturen erkennt. Man muss das Hochhaus so grün wie möglich machen. Nur so kann man dazu beitragen, dass unterm Strich die Ökobilanz unserer kapitalistischen Architektur zwar nicht gut, aber immerhin nicht katastrophal ist. Genau das versuche ich zu tun, schon ein berufliches Leben lang. Um genau zu sein, seit 1971. Öko-Hochhäuser waren damals noch absoluter Luxus.

Viele südostasiatische und amerikanische Städte könnten aufgrund der Bevölkerungsentwicklung ohne Hochhäuser kaum mehr existieren. Gibt es diesen Bedarf in Europa überhaupt?

Yeang: Ja und nein. Sie müssen in dieser Betrachtung immer an den Anfang zurückgehen. Städte wachsen. Und diesem Wachstum muss man sich stellen. Dies kann geschehen, indem Sie die Stadtkonturen nach außen erweitern. Das kann aber auch geschehen, indem Sie eine Satellitenstadt bauen. Das ist eine sehr schlechte Option! Wenn man die dadurch entstandene Mobilität und den Energiebedarf miteinbezieht, dann ist die Wahl von Satellitenstädten geradezu katas-trophal. Und die dritte Möglichkeit ist, die Stadt zu verdichten und die Bebauungseffizienz zu optimieren. Genau aus diesem Grund gibt es Hochhäuser auch in Europa. In London, in Frankfurt, in Moskau und auch überall dort, wo man sich einbildet, dass man so etwas braucht.

Gibt es eine Alternative zum Hochhaus?

Yeang: Realistisch gesehen nicht. Es ist, als würde man der gesamten Bevölkerung sagen: Nehmt alle die Pille und hört auf, Kinder zu kriegen!

Oft entstehen Hochhäuser aus reinen Prestige- und Imagegründen.

Yeang: Sprechen wir nicht davon! In Kuala Lumpur wurden die Petrona Twin Towers gebaut. Diese Stadt braucht solche Hochhäuser nicht. Kuala Lumpur ist sehr weit gestreut und weist kaum eine ernstzunehmende Dichte auf. Kein Mensch auf dieser Welt ahnt, dass Kuala Lumpur gerade einmal 1,5 Millionen Einwohner hat. Dafür kennt jeder die Silhouette dieser Türme. Damit hat die Stadt ein wirksames Zeichen erhalten und schafft es sogar, Hauptdarstellerin in diversen Hollywood-Filmen zu sein. Letztendlich kurbelt das den Tourismus und die Wirtschaft an. Denn ganz gleich, ob Eiffelturm, Empire State Building oder Sydney Opera House - auf solche Icons fährt jeder ab. Das ist das einzig Positive an den Petrona Twin Towers.

Architektur kurbelt die Wirtschaft an. Das ist doch ein starkes Argument.

Yeang: Korrekt. Und wenn jeder Architekt damit argumentiert, geht die Welt demnächst in einem unvorstellbaren Super-GAU zugrunde. Ich bemühe mich, gegen diese Entwicklung anzukämpfen. Leider gibt es zu wenige Denker meiner Sorte. Die meisten lassen sich vom Marketingwert der Architektur blenden. Die Ausmaße dieser Haltung sehen Sie in Schanghai und in Dubai. Das kann unmöglich die Zukunft unserer Städte sein. Doch ich befürchte, dass ich mich irre.

Was wollen Sie dagegen tun?

Yeang: Grüne Hochhäuser bauen und optimistisch bleiben.

Beim Wettbewerb für die neue Zentrale der Europäischen Zentralbank in Frankfurt haben Sie ein grünes Hochhaus entworfen. Gewonnen haben Sie nicht.

Yeang: Nein, gewonnen hat Wolf Prix. Ich gönne ihm den Sieg. Sein Entwurf war einfach besser und konsistenter. Lassen Sie ihn bei dieser Gelegenheit herzlich von mir grüßen! Wir hören uns viel zu selten. Ich bekomme immer nur Weihnachtskarten von ihm zugeschickt. Ich glaube, die schickt er mir, um „sorry“ zu sagen - eben dafür, dass er mich mit dem Wettbewerbssieg für die Europäische Zentralbank in Frankfurt übertroffen hat.

Ist es nicht ein immenser Aufwand, in ein Hochhaus so viel Grünzeugs hineinzubringen?

Yeang: Der Aufwand ist enorm, das stimmt. Natürlich wäre es sinnvoll, stattdessen die Grünflächen in einem Park nebenan anzulegen. Das würde zudem die Bebauungsdichte reduzieren. Doch für ein solches Konzept finden Sie weltweit keinen einzigen Investor und keine Stadtverwaltung.

Einen Versuch wäre es wert.

Yeang: Aussichtslos. Es zieht einerseits Rendite-Verluste mit sich und zeugt andererseits von unglaublicher Banalität. Die wenigen Investoren, die es sich leisten wollen, grüne Hochhäuser hochzuziehen, machen das nur im seltensten Fall aus ökologischen Überlegungen. Sie machen das in erster Linie, um das Image aufzupolieren und um als innovativer Schirmherrscher dazustehen.

Also alles nur Bluff?

Yeang: Grüne Architektur ist ein Placeboeffekt. Im Hintergrund ihrer Headquarters produzieren die Konzerne unverändert weiter und qualmen giftige Abgase in die Luft. Ich erkenne in der Not derer Handlungsmuster jedoch eine große Tugend. Denn diese grünen Bauwerke dienen der Bevölkerung als Propagandamittel und fordern zum Nachdenken auf. Einige wenige wird man damit im Herzen erreichen. Das ist den Aufwand wert.

Was ist die Herausforderung im grünen Bauen?

Yeang: Ich vergleiche die Natur immer mit einem menschlichen Körper. Jede Architektur darin ist ein künstlicher Eingriff, ein Fremdkörper. Es bedarf intensiver Arbeit und hoher Qualität, um diese Kombination von Natürlichem und Künstlichen am Laufen zu halten. Hinzu kommt, dass Pflanzen sehr anspruchsvoll und sehr stur sein können.

Trifft das auch auf Ken Yeang zu?

Yeang: Ich war früher viel sturer, als ich es heute bin. Mit 59 Jahren weiß man, dass man über den Hügel ist und dass die Seniorenepoche nicht mehr allzu weit weg liegt. Aber was erzähle ich denn Ihnen da, Sie sind ja noch ein Baby! Schauen Sie: Mit 20 bis 30 experimentiert man, mit 30 bis 40 schärft man sein Wissen, mit 40 bis 50 reift man heran und setzt das Wissen qualitätsvoll um. In dieser Zeitspanne machen die Architekten das meiste Geld. Ab 50 wird es endlich ruhiger - und vor allem anstrengender. Irgendwann merken Sie, dass Ihnen die Zeit davonläuft. Dann ist jeder Tag wertvoll. Zwischen 55 und 60 zieht man sich zurück und geht in Pension.

Das dürfen Sie keinem europä-ischen Architekten sagen.

Yeang: Ich weiß. Architekten können sich niemals zur Ruhe setzen. Und das ist eine Pein. Den jungen Menschen gegenüber finde ich das völlig unverantwortlich. Man sollte wissen, wann man seine Grenzen erreicht hat. Ich sage Ihnen einmal etwas: Ich habe im Laufe meines Lebens vier unterschiedliche Charaktere ausgearbeitet. Die erste Persönlichkeit ist ein weißes Quadrat: unschuldig, symmetrisch, ausgeglichen. Die zweite Person ist ein schwarzes Quadrat: böse, düster und in der Rolle eines Außenseiters. Die dritte Persönlichkeit ist ein graues Quadrat. Endlich hat man begriffen, dass es nicht nur Gut und Böse gibt, sondern auch den Graubereich dazwischen. Aber immer nur Quadrate - das ist auf Dauer langweilig. Und so habe ich den vierten Charakter entwickelt - einen knallbunten Regenbogen. Das möchte ich sein, ein knallbunter Regenbogen! Jeden Tag aufs Neue. Wenn man allerdings mit 70 oder 80 immer noch hartnäckig an der Architektur herumbastelt, dann kann man kein Regenbogen mehr sein. Und das finde ich sehr traurig.

Wann werden Sie in Pension gehen?

Yeang: Ich hatte vorgehabt, mich in ein paar Jahren zurückzuziehen. Doch dann bin ich 2005 mit meiner Familie nach London gezogen. Und da ticken die Uhren ein bisschen anders. Wir werden sehen.

Wie werden Sie in Ihrem Ruhestand auf Ihre Zeit als Architekt zurückblicken?

Yeang: So wie heute. Es ist einer der tollsten Berufe, die es gibt. Und es einer der schwierigsten. Sie müssen ein Allrounder sein. Wussten Sie, dass in den USA Architekten die höchste Scheidungsrate aufweisen? Das sagt doch alles! Das Leben als Architekt ist stressig. Jeder Tag ist anders. Einmal zeichnen Sie, einmal reisen Sie, einmal verhandeln Sie, einmal streiten Sie, dann stehen Sie bis zu den Knöcheln im Beton. Oder das Wasser steht Ihnen bis zum Hals. Und was den Beruf vor allem so schwierig macht: Egal, wie gut Sie sind - bei jedem Projekt wird mit Sicherheit etwas schiefgehen. Denn an einem Projekt arbeiten zwischen ein paar Dutzend und ein paar tausend Leute mit. Wer ist am Ende schuld? Ausbaden muss es immer der Architekt.

Haben Sie die Nase voll?

Yeang: Überhaupt nicht. Ich schätze meine Situation, und ich bin sehr glücklich darüber, dass es mir gelungen ist, so viele Träume umzusetzen. Aber viele Leute glauben, dass das Leben als Ken Yeang immer nur großartig ist. Nein, das ist es nicht. Ich könnte Ihnen viele Horrorgeschichten erzählen.

Ihre schlimmste Erkenntnis?

Yeang: Architekten sind der Meinung, sie könnten die Welt verändern. Meine schlimmste Erkenntnis war zu merken, dass das nicht stimmt.

Zum Abschluss: Sie gelten als einer der innovativsten Architekten weltweit. Sind Sie's?

Yeang: Das ist eine gemeine Frage. Es ist, als ob ich mich in der Früh in den Spiegel schauen und mir die Frage stellen müsste: Bin ich schön? Meistens beißt man sich auf die Lippen und sagt dann ganz leise: Mir und meinen Freunden gefalle ich, das ist die Hauptsache. Nun zu Ihrer Frage: Mit Gewissheit gehöre ich zu den wenigen, die die Vision einer grünen Zukunft propagieren und sich dafür mit aller Kraft einsetzen.

[ Architecture World Münster: Donnerstag, 5. Juni, bis Samstag, 7. Juni 2008, Messe- und Congresszentrum Halle Münsterland.
Mit Vorträgen von Ken Yeang, William Alsop, Ben van Berkel, Hitoshi Abe, Greg Lynn, Thom Mayne, Elke Delugan-Meissl, Wolf D. Prix u. v. m. ]

Der Standard, Sa., 2008.05.31

08. Mai 2008Wojciech Czaja
Der Standard

„Sprechen im Maßstab eins zu eins“

Die Architekturtage 2008 wollen Laien Architektur verständlich vermitteln. Wojciech Czaja erfährt im Gespräch mit dem deutschen Architekturpsychologen Riklef Rambow, warum das so schwierig ist.

Die Architekturtage 2008 wollen Laien Architektur verständlich vermitteln. Wojciech Czaja erfährt im Gespräch mit dem deutschen Architekturpsychologen Riklef Rambow, warum das so schwierig ist.

Standard: Wenn Architekten ihre Arbeit erklären, versteht sie entweder niemand oder es will ihnen niemand zuhören. Woran liegt das?

Rambow: Gebäude werden in erster Linie über die Augen wahrgenommen. Nur durch Sprache und ganz ohne Bilder ist es daher sehr schwer, Architektur zu vermitteln. Manche Architekten zeigen zwar Bereitschaft, zuzuhören und mit dem Gegenüber auf eine Art und Weise zu sprechen, die auch für einen Laien verständlich ist. Aber allzu häufig ist das nicht der Fall. Architekten und Architektinnen haben das gleiche Problem wie andere Experten auch: Aufgrund der ausgeprägten fachlichen Wahrnehmung und der Vertrautheit mit der eigenen Fachsprache nehmen sie die Dinge anders wahr - und das führt oft zu Missverständnissen.

Standard: Warum verzichten die Experten nicht einfach auf ihren Fachjargon und sprechen so, dass auch Laien sie verstehen?

Rambow: Man kann Architektur auch mit einfachen Worten kommunizieren, aber das ist nicht leicht. Fachbegriffe liegen oft auf der Hand und werden von denen, die täglich damit umgehen, als selbstverständlich wahrgenommen. Verständlich zu reden will gelernt sein.

Standard: Welchen Stellenwert hat Architektur in der Bevölkerung? Und welches Image haben Architekten?

Rambow: Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen zeitgenössischen und historischen Bauwerken. Das zeigt folgender Umstand: Es gibt in Deutschland den sogenannten „Tag des offenen Denkmals“. Und dann gibt es noch den „Tag der Architektur“, an dem aktuelles Baugeschehen präsentiert wird. Während der „Tag des Denkmals“ letztes Jahr 5,5 Millionen Besucher anzog, kamen zum „Tag der Architektur“ bundesweit gerade mal 150.000 Besucher. Man sieht es auch beim Reiseverhalten: Historische Gebäude werden als Sehenswürdigkeiten erachtet und selbstverständlich besucht. Für zeitgenössische Gebäude gilt dies nur in wenigen Ausnahmen. Das Image könnte also besser sein.

Standard: Warum ist das Interesse am zeitgenössischen Baugeschehen so gering?

Rambow: Im deutschsprachigen Raum ist Bauen kein Teil der Grundbildung. Schon in der Schule wird das Thema wenig behandelt. Moderne Architektur wird bei uns nicht als Teil des bildungsbürgerlichen Kanons wahrgenommen, sondern ist eher etwas für Spezialisten. Weite Teile des aktuellen Baugeschehens werden kaum verstanden und stoßen in der Bevölkerung auf Ablehnung. Hinzu kommt, dass die Leute oft ein völlig falsches Bild vom Architektenberuf und dementsprechend falsche Erwartungen an Architekten haben.

Standard: Kann eine Veranstaltung wie die Architekturtage 2008 das nachhaltig verändern?

Rambow: Eine Veranstaltung, in deren Rahmen Laien eine Materie nähergebracht wird, ist grundsätzlich eine sehr gute Sache. Das Interesse an zeitgenössischer Architektur, soweit es vorhanden ist, wird dadurch befriedigt. Denn es wird etwas geboten, was sonst nur selten möglich ist: Auseinandersetzung und Gespräch im Maßstab eins zu eins. Man sieht das Gebäude, man kann hineingehen und sich frei darin bewegen, anstatt nur Pläne und Fotos zu sehen. Besonders positiv ist, dass es an vielen Orten gelungen ist, über die Architekturtage das Thema Architektur in die regionale Presse zu bringen.

Standard: An der TU Cottbus haben Sie einen Master-Studiengang namens „Architekturvermittlung“ mit ins Leben gerufen. Das Studium ist einmalig im deutschsprachigen Raum. Woher kam die Idee?

Rambow: Ich bin überzeugt, dass es dieses Angebots bedarf. Es gibt viele Interessenten, die sich der Vermittlung auf breiter Ebene widmen wollen und die das ganze Spektrum von Methoden und Strategien der Architekten-Laien-Kommunikation beherrschen wollen. Ebenso wichtig finde ich aber auch, dieses Thema in die Ausbildung von Architektinnen und Architekten zu integrieren. Erfolgreiche Kommunikation ist eine Voraussetzung für gute Architektur.

Standard: Wie wird das Angebot angenommen?

Rambow: Der Master-Studiengang steht noch am Anfang. Die Tendenz der Bewerberzahlen ist allerdings steigend. Es ist und bleibt jedoch ein Studium für Spezialisten.

Standard: Welche Job-Aussichten haben Ihre Absolventen?

Rambow: Die Studenten und Studentinnen kommen aus verschiedenen Bereichen. Gefordert ist zumindest ein Bachelor-Abschluss. Es kommen Architekten, Kulturwissenschafter, Kunsthistoriker, aber auch Psychologen und Soziologen. Interessant ist der Studiengang vor allem für diejenigen, die in diesem Bereich als Ausstellungsmacher, Kuratoren, und Publizisten arbeiten wollen.

Standard: Wie beurteilen Sie die Berichterstattung in den Medien?

Rambow: Da muss man zwischen den einzelnen Medien unterschieden. In den Feuilletons großer Tageszeitungen ist das Thema Bauen deutlich weniger vertreten als vergleichbare kulturelle Bereiche. Das ist bedauerlich. Viel wichtiger ist allerdings, dass die Architektur auch im Lokalteil zum Zug kommt, also überall dort, wo über Alltagsgeschehen, über den öffentlichen Raum und - ganz trivial - über Baustellen berichtet wird.

Standard: Stichwort „Architektur im Fernsehen“?

Rambow: Im Prinzip wäre das Fernsehen ein wunderbares Medium für die Architekturvermittlung. In der Zeitung gibt es drei, vier Fotos, auf dem Bildschirm gibt es bewegte Bilder. Das Potenzial ist jedenfalls sehr groß, das sieht man an Beiträgen über das Baugeschehen in Schanghai und Dubai. Die Leute steigen hier über Superlative und technische Sensationen ein. Das ist ein Ansatzpunkt. Wenn man diesen Ansatz kreativ aufnimmt, dann kann auch eine Architektur-Doku über Deutschland oder Österreich interessant sein. Einschaltquoten wie „Deutschland sucht den Superstar“ wird eine Architektursendung allerdings niemals erreichen, das muss aber auch nicht sein.

[ Riklef Rambow (44) ist Architekturpsychologe an der BTU Cottbus und Leiter des Instituts für Architektur- und Umweltpsychologie Psy-Plan in Berlin. ]

Der Standard, Do., 2008.05.08

08. Mai 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Gebäude im Ausnahmezustand

Architektur muss erlebbar sein - Tag der offenen Türen in ganz Österreich

Architektur muss erlebbar sein - Tag der offenen Türen in ganz Österreich

Alle zwei Jahre finden in Österreich die Architekturtage statt, heuer bereits zum vierten Mal. Das Projekt der Architekturstiftung Österreich in Zusammenarbeit mit den Kammern der Architekten und Ingenieurkonsulenten dient in erster Linie dazu, die Berührungsängste zwischen Laien und Fachleuten zu schmälern.

"Die Architekturtage 2008 sollen unter dem diesjährigen Motto „Architektur erleben“ die untrennbare Einheit von Kultur und Bau demonstrieren", sagt Walter Stelzhammer, Bundesvorsitzender der Architekten. „Ziel ist es, die Architektur für weite Teile der österreichischen Bevölkerung lebendig und damit erlebbar zu machen.“

Ein umfassendes Programm macht's möglich. Rund tausend Programmpunkte in allen Bundesländern, in Bratislava, in Liechtenstein und in der Ostschweiz eröffnen Interessierten die Möglichkeit, hinter die Kulissen des kreativen Schaffens zu blicken und das eine oder andere Gebäude zu betreten: Einfamilienhäuser, Bürogebäude, Betriebswerkstätten, Müllzentren, ja sogar das Gebäude des slowakischen Rundfunks in Bratislava, ein futuristisches Bauwerk der Siebzigerjahre, öffnet jene Pforten, durch die sonst nur Mitarbeiter und Studiogäste schreiten dürfen.

Wer die Architekturtage am 16. und 17. Mai lieber dazu nutzen möchte, aus den rund 4200 Architekturbüros in Österreich den richtigen Partner für den Bau seines Traumhauses zu finden, kommt ebenfalls auf seine Kosten. An der FH Wieselburg findet am Samstag ein Speed-Dating zwischen Architekten und interessierten Bauherren und Baufrauen statt. In kurzen Gesprächen soll man einander auf den Zahn fühlen und erkennen, ob man füreinander bestimmt ist - oder nicht. Mit dem Summen der Stoppuhr wechselt man sein Gegenüber und zieht weiter.

Ein Blick hinter die Kulissen

Rund 300 Ateliers öffnen an beiden Tagen Tür und Tor und verköstigen ihre Besucher mit Wein und Soletti, vor allem aber mit einem Einblick in den Alltag von Architekten. Während die Eltern auf der Suche nach ihrem Traumplaner sind, können die Kids derweil ihre eigenen Erfahrungen in der Baubranche machen. In Zusammenarbeit mit KulturKontakt Austria wurde heuer ein umfangreiches Kinder- und Jugendprogramm ausgearbeitet (siehe Seite 39).

Die Architekturtage 2008 sind ein Kooperationsprojekt der Kammern der Architekten und Ingenieurkonsulenten und der Architekturstiftung Österreich. Das heurige Gesamtbudget beläuft sich auf 410.000 Euro. Die stolze Summe dient zur Ankurbelung der Bauwirtschaft, in erster Linie jedoch zur Festigung eines weit unterschätzten Kulturguts dieses Landes.

Der Standard, Do., 2008.05.08

08. Mai 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Der Horst über dem Grätzel

Das Programm der Wiener Architekturtage 2008 ist umfangreich wie eh und je. Geführte Touren durch die Bezirke führen in manche entlegenen Winkel. Geboten wird auch ein Service für angehende Bauherren.

Das Programm der Wiener Architekturtage 2008 ist umfangreich wie eh und je. Geführte Touren durch die Bezirke führen in manche entlegenen Winkel. Geboten wird auch ein Service für angehende Bauherren.

„Das Jahr 2008 ist ein neuralgischer Zeitpunkt“, sagt Georg Pendl, Präsident der Bundeskammer für Architekten und Ingenieurkonsulenten: „Ab heuer leben weltweit mehr Menschen in Städten als in ländlichen Gebieten. Und das städtische Wohnen wird auch weiterhin stark zunehmen.“ Hinzu komme, dass Mitteleuropäer im Durchschnitt 90 Prozent ihrer Lebenszeit in Gebäuden verbringen - da solle noch jemand sagen, dass die Gestaltung von Gebäuden nicht wichtig sei.

Doch nur ein Teil des Wiener Baugeschehens ist auch wirklich sichtbar. Viele Projekte entstehen am Stadtrand, in den Untiefen alter Erdgeschoßlokale oder aber in luftiger Höhe, hoch über den Dächern der Stadt. Im Rahmen geführter Grätzeltouren kann man sich ein Bild davon machen, wie die still vonstatten gehenden Umbauten die Stadt nach und nach verändern. In viele Gebäude wird am Freitag und Samstag freier Eintritt gewährt. Und in so manchem Horst auf dem Dache eines gründerzeitlichen Hauses - da kann man sich sicher sein - verbringen die Bewohner weit mehr Zeit ihres Lebens als irgendwo anders.

Neben vielen Privatbauten und Wohnhäusern werden auch ungewöhnliche und nicht ganz alltägliche Projekte unter die Lupe genommen. Gezeigt werden unter anderem: die Autobus-Großgarage der Wiener Linien in Wien-Leopoldau; das eben fertiggestellte Bürogebäude Skyline in der Spittelau; die Beton-Mustersiedlung 9=12 in Hadersdorf; die Kabelwerk-Gründe in Wien-Meidling, die in enger Zusammenarbeit mit den Anrainern und zukünftigen Bewohnern geplant wurden; die Erweiterung der Wiener Stadthalle; oder etwa ein Wohnheim für obdachlose Seniorinnen und Senioren.

Bauen ist keine Hexerei

Wichtiger denn je ist das Thema Ressourcenschonung und Energieeffizienz. Nicht alle können sich realistisch vorstellen, wie diese medial ausgeschlachteten Schlagworte mit dem eigenen Haus und Heim in Einklang zu bringen sind. Ein Passivhaus zu bauen ist heute keine Hexerei mehr. Das Know-how ist weit gediehen, die Baukosten sind in den letzten Jahren stark gesunken, Portemonnaie und Mutter Natur werden einen solchen Entscheid langfristig zu schätzen wissen. Eine Bustour zu einigen auserkorenen Bauvorhaben lüftet das Geheimnis des niedrigenergetischen Bauens.

Wer nicht nur Tipps und Ratschläge zum ökologischen Bauen sucht, sondern generelle Informationen benötigt, ist in der Architekturgalerie OFROOM gut aufgehoben. Unter dem Titel „Wie komme ich zu meinem Traumhaus?“ stehen an beiden Tagen Architekten und Finanzexperten angehenden Bauherren mit Rat und Tat zur Seite. Nur die Wahl des Architekturbüros muss man dann noch selbst treffen. Über 80 Ateliers öffnen ihre Türen, um von Besucherinnen und Besuchern auf Herz und Nieren geprüft zu werden.

Der Standard, Do., 2008.05.08

07. Mai 2008Wojciech Czaja
Der Standard

„Nur nicht den goldenen Mittelweg“

Der Wohnbau in Österreich ist in einer verzwickten Lage. Die Baukosten steigen, gleichzeitig werden die Ansprüche immer größer. Wie man mit dieser Schere umgeht, fragte Moderator Gerfried Sperl.

Der Wohnbau in Österreich ist in einer verzwickten Lage. Die Baukosten steigen, gleichzeitig werden die Ansprüche immer größer. Wie man mit dieser Schere umgeht, fragte Moderator Gerfried Sperl.

Bauen ist so teuer wie noch nie, darin war man sich beim vorgestrigen Montagsgespräch zum Thema „Kostenspirale im Wohnbau“ einig. „Die Zeit des billigen Bauens ist zweifellos vorbei“, sagte Carl Hennrich, Geschäftsführer des Fachverbandes Stein- und Keramikindustrie, „die Rohstoffpreise, vor allem im Bereich Stahl und Beton, haben seit Anfang 2006 einen Zuwachs im zweistelligen Bereich verzeichnet.“

„Die Bauwirtschaft ist im Vergleich zu früher gut ausgelastet und die Firmen sind nicht mehr gezwungen, um jeden Preis die Projekte zu ergattern“, sagte Karl Wurm, Obmann des Österreichischen Verbandes gemeinnütziger Bauvereinigungen (gbv). Die Nachfrager seien gegenüber den Anbietern stark in der Überzahl: „Wir können von einem regelrechten Oligopol sprechen.“ Während die Baukosten, die Grundstückspreise und die Mieten kontinuierlich steigen, hinken Einkommen und Förderungen jedoch hinten nach. Fakt ist: Seit 1997 wird die Wohnbauförderung nicht mehr indexiert. Und das schlägt sich letzten Endes auf die Bewohnerinnen und Bewohner nieder.

Oder aber man wirkt dem entgegen: „Bei den Grundstücken können Sie nicht einsparen, bei den Baukosten auch nicht, und auch am Kapitalmarkt ist nicht zu rütteln“, so Wurm, „bleibt also nur noch der Bereich der Planung“.

Sehr wohl könnte man bei den Baukosten einsparen: „Die Vorschriften der Bauordnung und die Förderrichtlinien zu befolgen ist sehr teuer“, entgegnete Architektin Bettina Götz (ARTEC Architekten), „es gibt manche Fassadenplatten, mit denen auf der ganzen Welt Hochhäuser verkleidet werden. Nur in Österreich sind sie verboten, da sie nicht den Sicherheitsbestimmungen entsprechen.“

Nirgendwo auf der Welt gebe es einen so hohen technischen Standard wie in Österreich, sagte Georg Pendl, Präsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten. „Natürlich können wir die Ansprüche zurückschrauben und auf einem Niveau wie in Großbritannien bauen, doch wenn's dann irgendwo reintropft, kommen die Beschwerden.“

Und der Wiener Wohnbaustadt Michael Ludwig erklärte, einer der wichtigsten Aspekte im Wohnen sei die soziale Durchmischung. Dazu müssten zwei Spielregeln befolgt werden: „Der Wohnbau muss für sozial Schwächere leistbar bleiben, gleichzeitig aber müssen die Projekte interessant genug sein, um auch den gehobenen Mittelstand anzusprechen.“

Neue Situation

Österreich befindet sich in einer neuen Situation. Der Mittelstand bricht allmählich weg, die Mobilität der Bewohner steigt, es gibt immer mehr Haushalte, Scheidungsrate und Alterung nehmen zu. So lange wie möglich müsse man die Bewohner in ihren Wohnungen halten, Abstriche im Bereich Sicherheit, Nachhaltigkeit und Barrierefreiheit seien nicht möglich, sagte Karl Wurm. „Wir werden es uns nicht leisten können, für die vielen älteren Bewohner neue Pensionistenheime zu bauen.“

Wie wird das Problem der Kostenspirale also gelöst? „Wir alle haben Hirnschmalz und Dynamik, und deshalb schaffen wir das“, war man sich einig. „Es geht nicht an, dass jeder weiter in seinem Bereich tätig ist und die Probleme auf andere abwälzt“, sagte Architektin Götz. Die Schere zwischen hohen Baukosten und gestiegenen Ansprüchen an die Architektur werde man nur gemeinsam lösen können. „Aber woran ich gar nicht glaube, ist der goldene Mittelweg.“

Der Standard, Mi., 2008.05.07

03. Mai 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Experimente? Das kostet extra

Der Wohnbau ist ein wertvolles Gut. Man muss sich nur entscheiden, worin man investiert: in neue Wohnformen oder in den hohen Komfort? Eine Abwägung aus aktuellem Anlass

Der Wohnbau ist ein wertvolles Gut. Man muss sich nur entscheiden, worin man investiert: in neue Wohnformen oder in den hohen Komfort? Eine Abwägung aus aktuellem Anlass

Hugh Grant war einst „Der Engländer, der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam“. Kennen Sie den Film? Grant spielt darin einen Kartografen, der in das walisische Dorf Ffynnon Garw reist, um zu Dokumentationszwecken die Höhe des Dorfberges nachzumessen. Zu verständlich nur, dass es die Bevölkerung in ein Raunen stürzt, als sich der ganze Stolz der Menschen just als Hügel entpuppt. Um ein Äutzerl hat's nicht gereicht. Was machen die Waliser? Sie krempeln die Ärmel hoch und schuften Tag und Nacht, um oben auf der Hügelkuppe Erde aufzuschütten. Am Ende hat man einen Berg.

Die chinesische Stadt Liuzhou lebt vom Kalkstein-Abbau. Ganze vier Berge hatte man bereits abgetragen und dem Erdboden gleichgemacht. Um die so entstandene Lücke mitten im Unesco-Weltnaturerbe wieder zu kaschieren, wurde das niederländische Büro MVRDV beauftragt, einen Entwurf für eine Wohnbebauung auszuarbeiten. Gewünscht hat man sich einen Masterplan für eine weiträumige und flach bebaute Stadt für die Reichen und Schönen. Bekommen hat man was anderes. „Mitten im Unesco-Gebiet ist es der Regierung gelungen, die Berge einfach abzutragen“, sagt Architekt Winy Maas, einer der drei Köpfe von MVRDV, „und so haben wir uns für eine morphologische Rekonstruktion der alten Bergsilhouette entschieden.“ Das Ergebnis ist eine künstliche Architekturlandschaft, die in den alten Steinbruch geklemmt ist. Wie Geröll purzeln die Wohnboxen ins Tal hinab und versuchen wieder gutzumachen, was in jahrzehntelanger Arbeit zerstört wurde.

Für ungewöhnliche Wohnkonzepte ist MVRDV bekannt. Was der Engländer in Wales tat, das machen Winy Maas, Nathalie de Vries und Jacob van Rijs auf der ganzen Welt: Sie verhelfen den Orten zu Identität, geben den Menschen Abenteuer und Qualität. „Man kann mehr zustande bringen, als man glaubt“, sagt Maas, blickt ins Publikum, setzt fort: „Ich kann Sie hören. Sie sagen gerade: Ja, aber das kostet Geld! Und ich sage: Ja, das stimmt. Doch es liegt ganz an Ihnen zu entscheiden, ob Sie diese Investition zugunsten der Identifikation auf sich nehmen oder nicht.“

Madrid hat es auf sich genommen. Bürgermeister Alberto Ruiz-Gallardón war mit den sozialen Wohnbauten im nagelneuen Stadterweiterungsgebiet vor den Toren seiner Stadt wohl nicht so glücklich wie erwartet und kontaktierte daraufhin MVRDV: „Bitte ein Projekt in Blockrandbebauung!“ Und Maas fragte: „Ist es das, was Sie wollen? Sozialer Wohnbau mit Fenstern im Wohnzimmer, die noch kleiner sind als Klofenster?“ Prompt zog MVRDV kräftig am klassischen Häuserblock, richtete ihn schnurstracks in die Vertikale auf und verhalf dem Innenhof auf diese Art zu Höhe und Aussicht. Statt herkömmlicher Trennung zwischen geförderten Wohnungen und teurem Eigentum wurden die Wohneinheiten im Hochhaus Mirador einfach vermischt und ineinander verzahnt. „Wir wollen keine neue Apartheid, wir wollen die sozialen Schichten durchmischen.“

Hohe Baukosten in Österreich

Und nun ist Wien an der Reihe. Für den Bauträger Austria Immobilien (BAI) plant MVRDV in der Donau-City ein Wohnhaus mit rund 200 Wohnungen, zur Hälfte gefördert, zur Hälfte frei finanziertes Eigentum. Bei der Wohnbau-Biennale, die am 24. April im Semper-Depot in Wien über die Bühne ging (kuratiert von Sabine Pollak, Maja Lorbek und Robert Temel), präsentierte Winy Maas seine ersten Entwürfe für den Wohnriegel - und dann zeigte er, was nach langem Hin und Her mit dem Bauträger daraus wurde. Die Unterschiede sind frappierend. „In Wien sind die Anforderungen an den Klimaschutz, an die Nachhaltigkeit und an die Statik enorm, besonders mühsam sind die Gespräche mit der Feuerwehr. Man muss sich genau überlegen, ob man das alles überhaupt bezahlen kann, wenn am Ende auch noch hochwertige Architektur herauskommen soll.“

Die Renderings versprechen ein fesches Haus, keine Frage, doch dieses birgt nur noch einen Bruchteil dessen, was MVRDV ursprünglich geplant hatte. Große Löcher wie in Madrid oder Amsterdam spielt's in Wien nicht, hier greift man auf die Miniaturvariante der kleinen Aussparungen zurück - und davon bitte nicht zu viele. „Eure Gebäudelöcher kosten zwischen 130.000 und 190.000 Euro pro Stück“, sagt Maas, „das sind die teuersten Leerräume, von denen ich je gehört habe!“

Zudem ist die intendierte Vermischung der sozialen Schichten, wie sie MVRDV gefordert hatte, in der Zwischenzeit flöten gegangen. Thomas Jakoubek, Vorstand der WED und Eigentümer des besagten Grundstücks auf der Platte, erklärt: „Der geförderte Wohnbau ist in Österreich ein Nullsummen-Spiel. Auflagen, Vorschriften und Baukosten steigen permanent. Sie müssen als Bauträger schon froh sein, wenn Sie kein Minus bauen.“ Angesichts dieser Umstände ist man wieder dazu übergegangen, nach österreichischer Manier zu trennen: die Armen unten, die Reichen oben. „Ideologisch ist die soziale Vermischung innerhalb eines Hauses ein guter Ansatz, aber in Österreich ist das unrealistisch und unwirtschaftlich.“

Derweil ist in den Medien und in der Architektenschaft eine hitzige Diskussion entfacht. Karl Wurm, Obmann des Verbandes der gemeinnützigen Bauvereinigungen Österreichs (gbv), hatte in einem Gespräch mit dem Standard erklärt: „Ich bin der Meinung, dass gute Architektur auch ohne Sonderwünsche realisierbar und wertvoll ist.“ Gerade in Zeiten mit steigenden Baukosten müsse man als Bauträger versuchen, die Kosten zu reduzieren, „beispielsweise, indem man die Extrawünsche der Architekten einspart“. Das Raunen der österreichischen Architekten war bis nach Wales zu hören.

Fakt ist: Der Wohnbau in Österreich ist so teuer wie nirgendwo sonst auf der Welt. „Wir haben einen sehr hohen Standard, und dazu stehen wir auch“, sagt der Wiener Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, „Sicherheit, Klimaschutz und Barrierefreiheit haben einfach ihren Preis.“ In vielen Ländern werde ohne nötige Sicherheitsmaßnahmen gebaut, ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit und ohne Miteinbeziehung behinderter und betagter Menschen. „Ich sehe keinen Widerspruch zwischen diesen Leistungen und innovativer Architektur“, sagt Ludwig. „Eine der grundsätzlichen Fragen, mit denen sich Architekten in Zukunft auseinandersetzen müssen, lautet daher: Wie kann man unter diesen Bedingungen leistbaren Wohnraum schaffen?“

Die entscheidenden Worte fielen dann am Ende der Wohnbau-Biennale im Semper-Depot: „Die Ansprüche der Bewohner steigen, doch gleichzeitig muss das Wohnen leistbar bleiben“, erklärt Wolfgang Förster vom Referat für Wohnbauforschung (MA 50). „Man muss sich endlich entscheiden, was man will, denn beides lässt sich im Rahmen der Kosten des geförderten Wohnbaus nicht vereinbaren: Komfort oder Experiment?“

Architektur und Politik sind nun vor eine neue Aufgabe gestellt. Es gilt, die Leistbarkeit des österreichischen Wohnbaus gegen den Einkauf architektonischer Innovation abzuwägen. Der große Vorteil der österreichischen Wohnbauförderung liegt in den moderaten Preisen, die sich auf den Mieter niederschlagen. Will man das aufs Spiel setzen? Womöglich sind architektonische Spitzenleistungen woanders besser aufgehoben als im geförderten Wohnbau. Womöglich ist ein solider Hügel mitunter beständiger als ein mühsam aufgeschütteter Berg.

In der Wiener Donau-City (ganz oben) soll in den kommenden Jahren ein Wohnhaus entstehen. Ob MVRDV dabei so frei agieren können wird wie im Falle von Madrids Mirador (darunter), ist jedoch fraglich. Viele Füße drücken bereits auf die Kostenbremse.

Der Standard, Sa., 2008.05.03

12. April 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Oper für alle

Heute Abend wird in Oslo das neue Opernhaus eröffnet. Land und Leute zogen an einem Strang und ebneten der Architektur den Weg. Das norwegische Büro Snøhetta schuf ein Gebäude für die ganze Stadt. Was will man mehr.

Heute Abend wird in Oslo das neue Opernhaus eröffnet. Land und Leute zogen an einem Strang und ebneten der Architektur den Weg. Das norwegische Büro Snøhetta schuf ein Gebäude für die ganze Stadt. Was will man mehr.

Kennen Sie vielleicht ein Büro namens Schneemütze? In Norwegen kann jedes Kind ein Lied davon singen. Denn Snøhetta ist nicht nur der höchste Berg im Süden des Landes, sondern auch das größte und coolste Architekturbüro weit und breit. „Man weiß schon gar nicht mehr, worüber die Kinder in der Schule zuerst lernen“, sagt die Osloer Journalistin Sissil Gromholt, „über den Berg im Naturkunde-Unterricht oder doch über die Architekten, wenn die Lehrerin wieder mal über Landeskultur spricht.“

Dem nicht genug. Mit 100 Mitarbeitern und etlichen internationalen Projekten ist Snøhetta international ein Renner. 2001 machte sich das Büro mit dem Bau der neuen Bibliotheca Alexandrina in Ägypten einen Namen, in New York bauen sie gerade an einem Memorial für Ground Zero. Snøhetta hat sich aber auch in Österreich einen Namen gemacht. Anfang des Jahres stellte das norwegische Architekturbüro einen Einzelantrag und klagte damit die ÖBB, die mit dem Bau der BahnhofCity in Wien virtuos das Bundesvergabegesetz zu umschiffen versuchten (der Standard berichtete). Die Folge der österreichischen Verschleiertaktik war ein Aufschrei, der weit über die Landesgrenzen hinaus zu hören war. Doch wie kommt ein norwegisches Büro dazu, einen österreichischen Staatsbetrieb zu klagen? Ole Gustavsen, Managing Director von Snøhetta, kurz und bündig: „Aus Prinzip.“

Und während sich die großen Bauherren in Österreich vor der vermeintlich lauernden Gefahr moderner Architektur fürchten und sich hinter dem Mauerwinkel provinziellen Kleingeisttums verstecken, werden in der norwegischen Hauptstadt derweil die Wadeln warmtrainiert. Heute, Samstagabend, eröffnet der größte Kulturbau der letzten Jahrzehnte, das neue Osloer Opernhaus, mit einer Aufführung des norwegischen Nationalballetts. Pressesprecher Sverre Gunnar Haga ist schon aufgeregt. In einer Umfrage der Tageszeitung Nationen erklärten 43 Prozent der Osloer, in Zukunft regelmäßig in die neue Oper gehen zu wollen. Das sind große Pläne. „Die Leute sind sehr neugierig, und was die Eröffnungsgala heute Abend betrifft, wird man uns wohl überrennen.“

Zum Glück gibt es da die Open-Door-Policy, die man in Zukunft fahren wird. Dazu gehören nicht nur zwei Restaurants innerhalb des Gebäudes, die Tag und Nacht geöffnet haben werden, sondern auch das öffentlich zugängliche Dach. „Das ist das einzige Opernhaus auf der ganzen Welt, wo die Besucher auf dem Dach spazieren gehen können“, erklärt Haga nicht unstolz. Schon in der Bauphase pilgerten hunderte Familien regelmäßig hierher, um den Baufortschritt des neuen Juwels zu begutachten. Eines heißen Augusttages im Jahre 2007 zählte man 20.000 Besucher auf dem Dach. Die Statik hat's getragen.

Impulsgeber für die Docks

Zurück zum Anfang: Jahrelang hatte die Politik den Bau einen neuen Opernhauses diskutiert. Das alte Gebäude mitten in der Stadt war ein umgebautes Kino aus den Vierzigerjahren. Die Akustik, erzählt man sich, soll schrecklich gewesen sein. Der Bedarf nach einem Kulturneubau wurde geschickt mit einer städtebaulichen Vision verknüpft. Die da wäre: In unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs, zu Fuß aber Lichtjahre davon entfernt, liegt die ehemalige Hafengegend Bjørvika. Eine achtspurige Schnellstraße zerreißt die Stadt in zwei Teile und macht die ungenutzten Docks nur schwer zugänglich und damit alles andere als attraktiv. Das soll sich nun ändern.

In einem ersten Schritt soll das neue Opernhaus der Bevölkerung deutlich machen, dass man es mit der Revitalisierung der Docks ernst meint. In weiterer Folge wird man hier Büros, Wohnungen und Einkaufsmöglichkeiten ansiedeln. Als wichtiger Schritt wird bis zum Jahr 2011 die Schnellstraße unter die Erde - besser gesagt unter das Wasser - verlegt, damit das neue Viertel wieder an die Stadt angebunden wird. Die Bauarbeiten dafür haben bereits begonnen. Keine fünf Minuten wird man dann zu Fuß vom Hauptbahnhof zur Oper brauchen.

„Der Bau der Oper ist mehr als nur ein einzelnes Projekt“, sagt Architekt Simon Ewings, Projektleiter bei Snøhetta, „es ist die Initialzündung für eine ganze Reihe von Bauvorhaben. Und es ist Resultat dessen, wie Politik, Wirtschaft und Kultur gemeinsam an einem Strang ziehen.“

Dass man es nicht nur auf die Hochkultur und auf gut betuchte Klientel abgesehen hat, zeigt sich bereits an der Landschaftsgestaltung. Wie ein kalbender Gletscher rutscht das Dach der Oper in den Bjørvika-Fjord hinab. Die weißen Eisschollen in Schieflage bieten allerhand Möglichkeiten. Ewings: „Im Sommer hat das Wasser im Fjord manchmal 20 Grad. Hier werden Leute baden und in der Sonne liegen, werden fischen, mountainbiken, Skateboard fahren und werden am Abend am Boden sitzen und schmusen. Und ach ja: In die Oper werden sie auch gehen.“

Die schiefe Ebene, weißer Marmor aus Carrara, ist eine begehbare Dachlandschaft, die in Österreich allein dadurch schon unrealisierbar wäre, weil's jedem Baupolizisten die Haare aufstellen würde. „So eine Neigung? Das ist gegen die Bauordnung!“, hört man den Bürokraten murmeln. In Norwegen jedoch ist das Dach Ausdruck von Demokratie: „Wir wollen nicht nur für einen bestimmen Bevölkerungskreis planen“, sagt Ewings. „Was ist schon eine Oper, wenn sie der Bevölkerung nicht entspricht? Wir wollten ein Gebäude schaffen, das jeder nach eigenem Ermessen nutzen kann - ganz gleich, in welchen Klamotten er hier aufkreuzt.“

Dass das Gebäude nicht nur als städtischer Aussichtsbalkon, sondern auch als Oper taugt, versteht sich von selbst. Im Inneren des harten Glaskristalls liegt das eigentliche Herz des Hauses: das Auditorium. Wie eine dunkle Nussschale schließt es sich nach außen ab und zeigt dem Foyer seine Rückseite. Der wahre Kunstgenuss bleibt verborgen, umgeben von geräucherter Eiche und rotem Samt. „Als der Hörsaal akustisch getestet wurde, saßen alle wie versteinert da und redeten kaum ein Wort“, erinnert sich ein Haustechniker, „als dann das Ergebnis bekannt gegeben wurde, konnten die Architekten nicht aufhören zu grinsen.“

Qualität durch Wettbewerb

Snøhetta, die Schneemütze Norwegens, ist Ausdruck kulturellen Engagements eines ganzen Landes. In Auftrag gegeben vom Ministerium für Kirche und Kultur sowie von der Statsbygg, der staatlichen Immobiliengesellschaft Norwegens, wurde 2000 ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben. Aus 240 Einreichungen ging das Osloer Büro Snøhetta als Sieger hervor. Pünktlich zum heutigen Tag wird das Bauwerk ohne zeitliche und budgetäre Verzögerungen der Öffentlichkeit übergeben.

Wie in der Ausschreibung festgesetzt belaufen sich die Baukosten auf etwa 500 Millionen Euro. Ja, das ist ein Batzen Geld. „Es ist bei Weitem die größte Investition, die der Staat Norwegen jemals in ein Kunstgebäude gesteckt hat“, sagt Projektleiter Simon Ewings, „doch Visionen erfüllen sich nicht von alleine. Man muss sie schon am Schopf packen.“

Warum hat man in Österreich nur so viel Angst vor diesem sichtlich Erfolg versprechenden Modell? Sich an Vergabegesetze zu halten ist keine Knebelei, sondern die Chance auf einsame Spitze.

Der Standard, Sa., 2008.04.12



verknüpfte Bauwerke
Oper Oslo

08. April 2008Wojciech Czaja
Der Standard

„Mehr als nur schön oder schiach“

Immer mehr Bauherren in den Bundesländern sorgen dafür, dass Architektur verstärkt in den Mittelpunkt rückt. Eine große Rolle spielt dabei der Tourismus.

Immer mehr Bauherren in den Bundesländern sorgen dafür, dass Architektur verstärkt in den Mittelpunkt rückt. Eine große Rolle spielt dabei der Tourismus.

Wien - „Man kann nicht die gesamte Architekturszene Österreichs über einen Kamm scheren, schon gar nicht kann man alles allein auf Wien konzentrieren“, sagt Georg Pendl, Präsident der Bundeskammer für Architekten und Ingenieurkonsulenten. Eine der Besonderheiten dieses Landes seien nämlich die regionalen Unterschiede, die von den jeweiligen Szenen gepflogen werden. Verhältnismäßig viele Architekturschaffende gibt es etwa in Graz, Innsbruck sowie in einigen Teilen Oberösterreichs, allen voran in Linz, Wels und in Steyr.

Ein Blick auf das bauliche Geschehen in den Bundesländern lohnt allemal: Vorarlberg bedient sich vorzugsweise des traditionellen und bis zur Perfektion ausgereiften Holzbaus, Tirol brachte mit den Filialen der Lebensmittelkette MPreis die zeitgenössische Architektur direkt unters Volk, in der Steiermark und im Burgenland wiederum kann man auf die unzähligen Weingüter verweisen. Pendl: „Dass sich ein ganzer Wirtschaftszweig, wie das beim Weinbau zweifelsohne der Fall ist, in den vergangenen Jahren dermaßen über die Architektur definiert, ist ein einmaliges Phänomen. Darum beneiden uns viele Europäer.“

Architektur für Laien

Dass Architektur längst kein alleiniges Ballungsraum-Phänomen mehr ist, beweisen auch einige Initiativen in den Bundesländern. Bereits zum vierten Mal finden am 16. und 17. Mai 2008 die Architekturtage statt - ein Kooperationsprojekt der Kammern der Architekten und Ingenieurkonsulenten sowie der Architekturstiftung Österreich, das sich in erster Linie an Laien richtet und die Schwellenangst gegenüber der Architektur schmälern soll. Nicht nur in den Landeshauptstädten, sondern auch in Orten und Städten wie Schrems, Wieselburg, Telfs und Bischofshofen wird an diesen zwei Tagen zu architekturrelevanten Veranstaltungen geladen.

„Vor allem in den Bundesländern hat Architektur in jüngster Zeit mehr Aufmerksamkeit als noch vor zehn Jahren“, erklärt Barbara Feller, Geschäftsführerin der Architekturstiftung Österreich, „wenn die Bevölkerung heute über Architektur spricht, dann dreht sich längst nicht mehr alles nur um Skandale, dann wissen die Leute bereits mehr zu sagen als nur schön oder schiach.“

Laut österreichischem Baukulturreport 2006, in Auftrag gegeben vom Staatssekretariat für Kunst und Medien und vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, werden jährlich rund 30 Milliarden Euro in Bauten des öffentlichen und privaten Sektors investiert. Der Anteil der Baubranche an der Gesamtwirtschaft beträgt somit 11,7 Prozent (Stand 2006). Nicht zuletzt arbeiten über acht Prozent aller Erwerbstätigen im Bauwesen. Rund 70 Prozent des gesamten österreichischen Anlagevermögens sind in Immobilien gebunden.

Dass angesichts dieser Zahlen Architektinnen und Architekten vielerorts oft zu wenig ernst genommen werden, hat einen plausiblen Hintergrund: Drei Viertel aller Planungsbüros sind Kleinunternehmen mit ein bis neun Personen. Viele davon sind nicht nur im Bereich Architektur tätig, sondern arbeiten oftmals an der Schnittstelle zu Kunst und Design. Die Grenzen zur Architektur sind dabei nicht immer klar auszumachen. Der Anteil der Großbetriebe mit mehr als 250 Beschäftigten hingegen liegt bei nur bei 0,3 Prozent.

Design auf der Alm

Dass die Bundesländer dennoch verstärkt in den Mittelpunkt der Kreativität gerückt sind, ist nicht zuletzt das Resultat einiger Ambitionen in der Tourismusbranche. „Noch vor zehn Jahren war es ungewöhnlich, irgendwo in Innsbruck oder auf der Alm in einem designten Gasthaus zu sitzen“, sagt Pendl, „heute ist das Standard geworden.“ Weiterhin steigern könnte man die baukulturelle Qualität etwa dadurch, dass man die Tourismusförderungen für Bauinvestitionen (rund 600 Millionen Euro pro Jahr) in Zukunft an eine architektonische Begutachtung der Projekte knüpft. So lautet jedenfalls eine der Forderungen im Baukulturreport 2006.

Der Standard, Di., 2008.04.08

08. April 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Der weite Weg von 2003 bis 2010

Graz - An der Bevölkerung gemessen gibt es in Graz mit 440 Büros doppelt so viele Architekturbüros wie in der Bundeshauptstadt Wien. Mehr als die Murinsel...

Graz - An der Bevölkerung gemessen gibt es in Graz mit 440 Büros doppelt so viele Architekturbüros wie in der Bundeshauptstadt Wien. Mehr als die Murinsel...

Graz - An der Bevölkerung gemessen gibt es in Graz mit 440 Büros doppelt so viele Architekturbüros wie in der Bundeshauptstadt Wien. Mehr als die Murinsel und das Kunsthaus Graz, beides Produkte von Graz 2003 und just von einem New Yorker Künstler beziehungsweise von zwei britischen Architekten entworfen, fällt einem auf Anhieb aber doch nicht ein. Der blaue „Friendly Alien“ von Colin Fournier und Peter Cook am rechten Murufer (kolportierte Baukosten: 38 Millionen Euro) war das letzte Projekt von derart großem Ausmaß und internationaler Reputation.

Schock-Starre

Tatsächlich ist das Baugeschehen in Graz heute alles andere als bewegt. „Nach 2003 kam der totale Schock“, sagt Markus Bogensberger, Vorstandsmitglied des Hauses der Architektur (HDA) Graz. Man habe sich massiv überfordert. „Was danach kam, war jahrelanges Nichtstun.“ Nur allmählich hat sich Graz von seiner Überanstrengung erholt - nicht mit medienwirksamen Spektakelprojekten, sondern mit kleinen Initiativen, die der Stadt in winzigen (und nachhaltig wirksamen) Dosen verabreicht werden.

Eines der langfristigsten Vorhaben ist die Aufwertung des traditionellen Arbeiterviertels Lend im Hinterland des Kunsthauses. Waren die öden Gassen früher von Nachtclubs und Wettbüros gesäumt, erkannten vife Geschäftstreibende 2003 ihre Chance und siedelten sich entlang der Mariahilfer Straße an. Heute ist das Grätzel Inbegriff alternativer Lebensart und mausert sich zum Grazer Bobo-Viertel - mitsamt Design- und Grafikbüros, Künstlerateliers, Buchhandlungen, Ramschgeschäften und Friseuren.

Höhepunkt der Lend-Revitalisierung war die Sanierung des historischen Palais Thinnfeld an der Rückseite des Kunsthauses, wo seit Anfang des Jahres das Haus der Architektur, der Kunstverein sowie die Landesmuseum Joanneum GmbH beheimatet sind. Bogensberger: „Der Standort ist angesichts der heute hier anzutreffenden Szene einmalig.“

Dem Bestreben der Stadt kommt diese Entwicklung jedenfalls sehr entgegen, will sie sich mit der renommierten Fakultät für Architektur an der TU und der Fachhochschule für Industrial Design - eine Umfrage des US-Magazins Business Week reiht den Studiengang auf der FH Joanneum Graz unter die 60 besten Designschulen Europas, Asiens und Nordamerikas - in den kommenden Jahren zum Hot Spot der Creative Industries entwickeln. „Endlich zieht nicht jeder Mode- und Designfanatiker aus Graz weg, sobald er 19 geworden ist“, sagt der Architekturtheoretiker und Künstler Michael Zinganel.

„Es ist eines der großen Ziele, die Steiermark als Hot Spot für kreative Talente zu positionieren“, erklärt Eberhard Schrempf, ehemals Leiter von Graz 2003 und nunmehriger Geschäftsführer der Creative Industries Styria, „wir sehen es als unsere Aufgabe, ein Bewusstsein für die Themen Design und Kreativität zu schaffen und dabei behilflich zu sein, diese Potenziale zu vernetzen.“

Speziell im Bereich Architektur hegt man große Wünsche. Galt die Steiermark noch vor 20 Jahren als Avantgarde-Szene unter den Architekten, ist es in letzter Zeit recht still geworden. „Wir möchten, dass bis 2010 Graz wieder Architekturhauptstadt Österreichs wird“, sagte vor einigen Monaten der damalige Planungsstadtrat Gerhard Rüsch (VP). Eine Gruppe von Institutionen, darunter das HDA, die Kammer der Architekten für Steiermark und Kärnten, der Landesverband Steiermark sowie die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs, haben das „projekt_A“ auf die Beine gestellt. Der Vierjahresplan sieht vor, strukturelle Veränderungen in den Bereichen Planung und Bauen zu erzielen und die Qualität von Lebensräumen in Graz zu sichern.

Millionen-Wunsch

„Ob das gewünschte Budget tatsächlich realistisch ist, wage ich zu bezweifeln“, sagt die Bürgermeister-Stellvertreterin Lisa Rücker von den Grünen, „wir können nicht einfach zehn Millionen Euro aus dem Ärmel schütteln.“ Dennoch: „Ich erachte das Projekt als sehr wichtig und wir sind auf der Suche nach Partnern.“ Übermorgen, Donnerstag, entscheidet der Gemeinderat darüber, ob das „wohlgemerkt sehr ausgereifte Projekt“ (Rücker) zwecks Finanzierung bei der Regionale eingereicht werden soll. Im positiven Falle wäre zumindest einmal ein Jahr gesichert.

Der Standard, Di., 2008.04.08

23. März 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Behaglichkeit aus Beton

Einige Meter weiter steht ein Haus von Plischke. Die beiden Architekten Luger & Maul schufen ihm einen stillen Nachbarn, der sich in den Hang duckt. Edel und rau zugleich - aus Sichtbeton

Einige Meter weiter steht ein Haus von Plischke. Die beiden Architekten Luger & Maul schufen ihm einen stillen Nachbarn, der sich in den Hang duckt. Edel und rau zugleich - aus Sichtbeton

Oben auf der Hügelkuppe thront ein weißes Holzhaus, eine Ikone der Moderne. Architekt Ernst Anton Plischke hatte es 1934 für den Maler Walther Gamerith gebaut. Im Jahre 1968 wechselte das Baujuwel den Besitzer und gehört seitdem einem begeisterten Kunstsammlerehepaar aus Linz. „Uns hat das Haus auf Anhieb gefallen“, sagen sie, „aber wir waren ahnungslos, wir hatten keine Ahnung, dass das ein Plischke-Bau war.“

Das einzige Manko: Die weiße Ikone war ein Sommerhaus, an eine ganzjährige Nutzung war nicht zu denken. Vor einigen Jahren hatten Herr F. und seine Frau endgültig die Nase voll. Keinen Tag länger wollten sie in dicken Pullovern im Haus sitzen und jeden Winter aufs Neue darauf angewiesen sein, das Haus winterdicht zu machen und zurück in die Stadt zu ziehen - nicht einmal, wenn's vom Plischke ist.

Man wandte sich an das Welser Büro Luger & Maul und bat die beiden Architekten um einen Entwurf für einen ganzjahrestauglichen Hauptwohnsitz am gleichen Grund. Einige Meter tiefer platzierten diese einen flachen Betonbau, der zum Teil im Hang verschwindet. „Das Wichtigste war, die Aussicht und die Wirkung des weißen Hauses hoch oben auf der Hügelkuppe nicht zu stören“, sagt Maximilian Luger, „mit dem Resultat sind wir sehr zufrieden. Fast scheint es, als würden die beiden Häuser miteinander sprechen.“

In einem viertelkreisförmigen Bogen ragt der Neubau wie ein Tortenstück aus der Böschung, schwebt leicht über dem Abgrund, öffnet sich mit der Breitseite zum See. Die rundumlaufende Terrasse dient im Sommer nicht nur als verlängertes Wohnzimmer, sondern auch als Aussichtsplattform für die weißen Segelboote am Wasser. Schönes Detail für den Architekturliebhaber: Die Holzbohlen auf der Terrasse sind nicht irgendwie gelegt, sondern folgen der radialen Geometrie des Hauses. Jedes einzelne Holzbrett ist konisch zugeschnitten. Die Architekten: „Für manche sind das nur unwichtige Spielereien. Aber es sind diese kleinen Details, die die Qualität eines Hauses ausmachen.“

Betonskepsis verflogen

Aus versteckten Fugen im Vordach dringt indirektes Licht nach außen und verflüchtigt sich auf der rauen Betonoberfläche, auf der noch die Holzmaserung der Schalungsbretter zu erkennen ist. „Ich muss gestehen, mit dem Beton hatten wir unsere anfänglichen Schwierigkeiten“, gesteht Herr F., „doch irgendwann einmal ist die Skepsis verflogen. Heute sind wir froh, dass es so ist wie es ist.“

Es öffnet sich die Haustür. Während man sich der Schuhe und Kleider entledigt, drängt sich frech die Außenwand in den Raum. Durch die Glasdecke kann man hoch in die Wolken blicken - eine Art Entwöhnung vom Freien und Vorbereitung auf die warme Behaglichkeit. Das Wohnzimmer ist der gemütliche Mittelpunkt des Hauses. Hier legt man die Beine auf die Couch und schmökert in Büchern. Wie ein Fächer entfalten sich von diesem zentralen Wohnbereich die restlichen Zimmer.

Der konzentrisch gelegte Boden - mal in Eiche und mal in dunklem Stein - betont die Anordnung der Räume. Zwischen Kunstwerken hindurch huscht man in die Schlafzimmer, von wo es weiter ins Bad und in die Garderobe geht. Lieblingsort bleibt das Esszimmer mit Blick auf den See. Von der betonierten Rohheit des Hauses ist hier drin nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil: Fast in der Manier der klassischen Moderne haben Luger & Maul Hand angelegt, haben Proportionen abgewogen und den Sinn fürs Schöne zelebriert.

Der Standard, So., 2008.03.23

10. März 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Visionen haben immer Saison

Eindrücke vom Architekturfestival „Turn On“ im Wiener RadioKulturhaus

Eindrücke vom Architekturfestival „Turn On“ im Wiener RadioKulturhaus

Nach harter Arbeit innerhalb der Zunft hat sich Österreich in den letzten Jahren zu einer der großen Architekturnationen Europas gemausert. Um das zu würdigen, fand am Wochenende im RadioKulturhaus das Architekturfestival „Turn On“ statt. Zurückzuführen sei der baukulturelle Erfolg auf die Kreativität, so Organisatorin Margit Ulama.

Veto auf dem Podium: „Aber nein, es geht darum, den Begriff Kreativität zu entmystifizieren“, widersprach Georg Franck, Professor an der TU Wien. „Kreativität ist nichts anderes als die Fähigkeit, Probleme zu lösen, die man rein analytisch nicht mehr in den Griff kriegt.“ Architekt Adolf Krischanitz: „Man ist nicht einfach nur kreativ. Oft kommt man zum Resultat nur aufgrund harter Arbeit.“ Und die habe nur in den letzten zehn Jahren stattgefunden.

Ein Wendepunkt war 1968. „Ohne den Widerstand und Protest wären die Architekten damals nicht weit gekommen. Der Schlüssel zum Erfolg war Provokation“, so Krischanitz. Den heute Erfolgreichen aus dieser Generation sehe man an, dass sie damals nicht untätig waren. Christina Linortner, Architektin in London und Wien: „Diese starken Visionen gibt es heute nicht mehr.“

Doch, die gibt es. Denn während das Podium diskutierte und erfolgreiche Architekten ihre Projekte präsentierten, trat Anna Heringer auf und stellte ihre Handmade Meti School in Bangladesch vor.

Heringer (31) hatte sich im Studium dem Potenzial des indigenen Bauens in der Dritten Welt gewidmet. Mit den Einwohnern von Rudrapur entwickelte und baute sie eine Schule, die als Vorzeigeprojekt für das Bauen mit lokalen Baustoffen dient. „Ziel war es, die traditionelle Bauweise in die Zukunft zu tragen.“ Denn wenn 147 Millionen Bengalen nur in Ziegel und Beton bauen - wozu die Avantgarde dort derzeit tendiert -, dann würden die Ressourcen in diesem winzigen und dichten Land nicht ausreichen.

„Wichtig ist es, den Leuten klarzumachen, wie schön und reichhaltig ihre traditionelle Bauweise ist. Nur so kann Entwicklungsarbeit nachhaltig fruchten.“ Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten, erste Nachahmer der wiederentdeckten Lehm- und Bambusbauweise haben sich bereits gefunden. Das ist Kreativität.

Der Standard, Mo., 2008.03.10

08. März 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Nie wieder ausatmen

Ende Jänner forderte das Europäische Parlament, dass ab 2011 nur noch Passivhäuser gebaut werden dürfen. Das heißt: wenig Energieverbrauch und wenig Emissionen. Viele Architekten befürchten damit eine Vernachlässigung der Baukultur. Ein Umdenken ist unausweichlich

Ende Jänner forderte das Europäische Parlament, dass ab 2011 nur noch Passivhäuser gebaut werden dürfen. Das heißt: wenig Energieverbrauch und wenig Emissionen. Viele Architekten befürchten damit eine Vernachlässigung der Baukultur. Ein Umdenken ist unausweichlich

Noch vor zehn Jahren war ökologisches Bauen das Sahnehäubchen der Architektur. Und alle waren sich darin einig, dass man auch ohne Schlagobers gut und fröhlich leben kann. Doch die Zeiten haben sich geändert. „Ökologie ist eine Frage des Überlebens geworden“, sagt der amerikanische Architekt Moshe Safdie, „dass manche Architekten angesichts der Dringlichkeit immer noch nicht zur Vernunft gekommen sind, hängt wohl damit zusammen, dass Architektur einen viel zu hohen Kunststatus genießt. Sie ist Selbstausdruck, Selbstbesessenheit und Selbstzweck.“ Ewig könne man sich vor den neuen Pflichten nicht drücken.

Noch härter formuliert es der Tokioter Architekt Makoto Sei Watanabe: „Es ist nicht zu verantworten, dass sich Architekten vor ihren ökologischen Aufgaben verstecken. Einfach nur grüne Architektur zu propagieren wird aber nicht genügen. Wichtig ist es, in den Köpfen der Menschen ökologisches Bauen als wichtige Gestaltungskomponente ihres Lebens zu verankern.“

Mit etwa 2800 Passivhäusern, die quer über das Land verstreut sind, zählt Österreich zu den saubersten Architekturnationen überhaupt. Einer Studie der IG Passivhaus Österreich zufolge sollen in den kommenden zwei bis drei Jahren weitere 10.000 Wohnungen und Häuser errichtet werden, die den Kriterien eines Passivhauses entsprechen.

Ein Blick nach Wien. Der Passivhausanteil im Wohnungsneubau pendelte bis vor kurzem gerade einmal zwischen ein und drei Prozent. Das ist nicht mehr als ein politisches Lippenbekenntnis. Mittels großvolumiger Bauvorhaben - allen voran auf dem innerstädtischen Areal Eurogate, wo in den kommenden Jahren rund 1700 Passivwohnungen entstehen sollen - will man den Passivhaus-Anteil in Wien mittelfristig auf über 20 Prozent anheben. Jede fünfte Neubauwohnung wird demnach weniger als 15 Kilowattstunden Jahresheizenergie pro Quadratmeter benötigen. Die meisten Bewohner werden sich also mit ein paar Euro durch den Winter heizen können. Im Vergleich: Ein Wohnhaus aus den Sechziger-, Siebziger- oder Achtzigerjahren verbraucht das Zehn- bis Zwanzigfache.

Angesichts der bevorstehenden und längst überfälligen Passiv-Ära fragt sich nur: Wo bleibt die Architektur? Zwar sind die Zeiten der Birkenstock-Hütten und der amorphen Schlumpfhäuser, die mit winzigen Fenstern in die Erde eingegraben waren und so mehr einer steinzeitlichen Wohnhöhle denn einem zeitgenössischen Gebäude glichen, längst vorüber. Doch auch mit dem passiven Additionsprinzip von Würfel unten und Pultdach oben wird man wohl kaum den Weg in die grüne Architekturzukunft beschreiten können. Schon gar nicht, wenn das Europäische Parlament fordert, dass ab 2011 generell nur noch Passivhäuser gebaut werden sollen. So geschehen am 31. Jänner 2008. Es bedarf neuer Konzepte. Und zwar dringend.

„Mit dem Vorschlag des Europäischen Parlaments legt man die Latte sehr hoch“, sagt der Pariser Architekt Dietmar Feichtinger. Er ist einer von insgesamt sieben Architekten, die aus dem Bauträgerwettbewerb Eurogate als Sieger hervorgegangen sind. „Unter den heutigen Gesichtspunkten kann ich mir kaum vorstellen, dass das klappen wird.“ Zu oft sehe man die Passivhaustechnologie als isolierte Sache an, vergesse dabei ganz auf die räumliche und architektonische Qualität. „Wenn man die ökologischen Ziele allzu sehr überstürzt, dann schüttet man womöglich das Kind mit dem Bad aus. Was die Architektur betrifft, ist das eine grauenvolle Vorstellung.“

Einen Umschwung im Denken erwartet auch der Wiener Architekt Adolf Krischanitz, der ebenfalls auf dem Eurogate-Gelände bauen wird. „Im Bereich der Passivhaus-Technologie kommt man nicht umhin, einen gewissen gestalterischen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Ökologisches Bauen ist mehr als überfällig, doch ich sehe nicht ein, warum das immer mit kleinen Fenstern und scheußlicher Architektur einhergehen muss.“ Die Beschränkung auf bestimmte bauphysikalische Spielregeln müsse kein Nachteil sein - ein guter Architekt könne auch daraus etwas Gutes machen.

Null Kohlendioxid in England

Wohin uns der Weg führen könnte, zeigt sich am Beispiel Großbritannien. Nachdem die Regierung ausgerechnet hatte, dass die 21 Millionen Haushalte für mehr als 27 Prozent aller CO2-Emissionen auf der Insel verantwortlich sind, wurde im Jahre 2006 das Bauprogramm „Zero Carbon Home“ beschlossen. Demnach sollen ab 2016 sämtliche Neubauten so ausgeführt sein, dass sie über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg exakt null Gramm Kohlendioxid produzieren. Ein hehres Ziel.

Die strenge Regelung bezieht sich nicht nur auf die Beheizung und Warmwasserversorgung des Hauses, sondern auf den Gesamtenergieverbrauch. Selbst Herdplatte, Kühlschrank und Fernseher müsse ab dann mit Öko-Strom gespeist werden. Dem nicht genug! Sogar die Produktion der Baustoffe und die Errichtung des Gebäudes selbst sollen in Zukunft kohlendioxidneutral über die Bühne gehen.

Da vor allem letzterer Punkt unmöglich zu erfüllen ist, läuft de facto alles darauf hinaus, dass die Häuser selbst Plusenergie-Status aufweisen müssen, um die CO2-Sünden ihrer Entstehung langfristig wieder auszubügeln. Will heißen: Die Häuser müssen in fein säuberlicher Manier mehr Energie produzieren als sie verbrauchen. „Der Klimawandel ist eine sehr reelle und sehr drohende Gefahr“, sagt die Transport- und Verkehrsministerin Ruth Kelly, „und da die Häuser zu einem großen Teil zu den CO2-Emissionen und somit zur Klimaveränderung beitragen, ist es naheliegend, in diesem Bereich drastische Einsparungen vorzunehmen.“

Ein erstes Vorzeigeprojekt ist bereits aus der Taufe gehoben. In Beddington, am südlichen Stadtrand von London, hat das Architekturbüro Zed Factory eine Passivhausanlage mit insgesamt 80 Wohnungen gebaut - sie hört auf den kecken Namen Bed Zed. Auf Materialaskese wurde kein Wert gelegt. Je nach Bedarf wurden Ziegel, Stahl, Glas und Holz verbaut. Unverwechselbares Markenzeichen der Anlage sind die sensorgesteuerten Zulufthauben oben am Dach. Mit buntem Irokesenschnitt geschmückt drehen sich die Zipfelmützen dem Wind entgegen. So sieht modernes Bauen im Teletubby-Land aus.

Zur Warmwasseraufbereitung dienen Solarzellen, die auf dem Dach sowie direkt auf den Fenstergläsern angebracht sind. Die Heizung übernimmt eine zentrale Pelletsanlage, die mit Holzabfällen aus einem nahegelegenen Holzverarbeitungsbetrieb gespeist wird. „Bis jetzt hat es noch kein großes Öko-Bauvorhaben geschafft, eine langfristige wirtschaftliche Überlebensfähigkeit zu erzielen“, sagt Architekt Bill Dunster, „uns ist es jedoch gelungen. Bed Zed soll Investoren, Architekten und Bauherren sowie der öffentlichen Hand als Beispiel dienen.“

Acht Jahre haben sie nun Zeit zu lernen. Und dann wird es ernst. Weitere Projekte der Zed Factory sind bereits entwickelt und warten nur noch auf den Baubeginn. Eines der begehrlichsten Projekte dürfte das Einfamilienhaus Rural Zed sein, das vor einer Woche auf der Fachmesse Eco Build 2008 in London der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Der Andrang war enorm. Laut der Tageszeitung The Guardian musste man eine halbe Stunde Wartezeit in Anspruch nehmen, um überhaupt erst ins Haus zu kommen.

Nun liegt es an den Architekten, aus den bestehenden Ressourcen zu profitieren und den Spagat zu schaffen. Oder - wie es Dietmar Feichtinger ausdrückt: „Nur Öko und nur Geldsparen wird auf Dauer zu wenig sein. Was nützt mir ein Wohnzimmer, in dem ich keine Heizkosten zu zahlen brauche, wenn ich mich darin nie aufhalte, weil es so hässlich und so dunkel ist?“ England hat vorgezeigt, wie's geht.

Der Standard, Sa., 2008.03.08

23. Februar 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Konflikt braucht Kontrolle

Was verbindet Salzburg, Bludenz und Waidhofen an der Ybbs? Alle drei zählen sie zu den insgesamt 42 Gemeinden dieses Landes, die über einen eigenen Architekturbeirat verfügen. Eine mickrige Ausbeute angesichts der Tatsache, dass es in Österreich immer noch 2317 Gemeinden gibt, die keinen haben.

Was verbindet Salzburg, Bludenz und Waidhofen an der Ybbs? Alle drei zählen sie zu den insgesamt 42 Gemeinden dieses Landes, die über einen eigenen Architekturbeirat verfügen. Eine mickrige Ausbeute angesichts der Tatsache, dass es in Österreich immer noch 2317 Gemeinden gibt, die keinen haben.

„Ich hab geträumt: Es war einmal ein Gestaltungsbeirat, dem ist es gelungen, mit der Architektenschaft der Stadt eine produktive Gesprächsbasis herzustellen, die Bauherren von der existenziellen Bedeutung der Architektur für ein Gemeinwesen zu überzeugen, die Politiker aller Fraktionen zu Höchstleistungen an Sachverstand und Seriosität zu zwingen, ja sogar die Altstadterhaltungskommission zu begründeten Urteilen zu verführen und zu einem konstruktiven Gesprächspartner zu machen. Dieser Gestaltungsbeirat wurde nie müde, verlor nie die Geduld und war nach den langen Sitzungen immer noch zu brillanten schriftlichen Gutachten fähig.“

Friedrich Achleitners Traum ist mittlerweile gute zwanzig Jahre alt und bezieht sich auf den allerersten Gestaltungsbeirat, der in Österreich ins Leben gerufen wurde: jenen in Salzburg. Bis in die Sechzigerjahre hinein war es in der Mozartstadt üblich, alte Bausubstanz - so sie nicht mehr unter wirtschaftlichen Bedingungen sanierbar war - einfach abzureißen und durch Neubauten zu ersetzen. Auch das erste Stadtentwicklungsmodell aus dem Jahre 1970 rief in der Bevölkerung etliche Proteste hervor: Es sah eine weitreichende Umwidmung von Grünflächen in Bauland vor. Über Jahre hinweg führte auf diese Weise die eine stadtpolitische Enttäuschung zur anderen, bis sich im November 1983 unter Neo-Stadtrat Johannes Voggenhuber schließlich der erste Architekturbeirat Österreichs konstituierte.

„Ohne das vorherrschende politische Klima in den Siebzigerjahren wäre die Einsetzung einer Architek- turkommission nicht möglich gewesen“, erklärt Paul Raspotnig von der Initiative Salzburg, der kürzlich zu diesem Thema dissertierte. Das damalige „Salzburg-Projekt“ sei eindeutig aus der Unzufriedenheit der Stadtbevölkerung hervorgegangen. Hauptziel Voggenhubers war neben einer Neuformulierung der Verkehrspolitik schlicht und einfach eine Architekturreform mit dem Einsatz eigenständiger, moderner Architektur.

„Das Salzburg-Projekt war ein offensichtlicher Erfolg“, so Raspotnig, „seit damals haben sich in Österreich etliche Nachfolger gefunden.“ In seiner Doktorarbeit „Planungsbegutachtung durch Gestaltungsbeiräte“ untersuchte Raspotnig über 40 Nachfolge-Gemeinden, die sich vom Salzburger Vorbild inspirieren ließen, und kam schließlich zu dem Schluss: „Unbestritten sind die baukulturellen Erfolge, die in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten durch die Befassung von Gestaltungsbeiräten erzielt wurden. Der Einsatz von Beiräten und Architekturreformen trug zu einer Verbesserung der Kommunikation und Transparenz bei, vor allem aber zu einer Anhebung der Qualität des Planens und Bauens im Allgemeinen und anhand konkreter Projekte.“

Hand in Hand mit der Politik

Fragt sich nur: Wie kommt es, dass nach einem Vierteljahrhundert positiver Resonanz weit über 2300 Gemeinden in Österreich immer noch ohne einen derartigen Beirat agieren? Das Fehlen einer solchen Institution ist der uninspirierten, ländlichen Einöde zwischen Gänserndorf und Zell am Ziller regelrecht anzusehen. Architektonische Qualität? Von wegen. Der Horizont dieses Landes - sieht man einmal von den wenigen architekturtapferen Hochburgen ab - ist gesäumt von Häuslbauerei, von den geschmäcklerischen Irrfahrten einiger Bürgermeister sowie von den Ansiedlungen wirtschaftlicher Unternehmen. Wer in die Ortskasse einzahlt, der schafft an.

„Man kann nicht jeder Gemeinde mit Gewalt einen Fachbeirat aufdrängen“, sagt Friedrich Achleitner, Beiratsmitglied der ersten Stunde in Salzburg und in Krems, „ein Beirat ist lediglich ein beratendes Gremium und hat daher nur dann Sinn, wenn es politischen Rückhalt gibt. Wenn der Politiker zu schwach oder zu wenig überzeugt ist, um die Entscheidungen des Beirats zu unterstützen, bringt das alles nichts.“

Achleitner erinnert sich an das Erfolgsmodell Salzburg: Der Beirat habe öffentlich getagt. Behörden, Architekten, Anrainer, ja sogar Schulklassen seien regelmäßig zu den Sitzungen gekommen und hätten sich in den Prozess eingebracht. „Die cleveren Architekten haben bald einmal erkannt, dass der Beirat die guten Projekte nicht verhindert und verlangsamt, sondern ganz im Gegenteil den bürokratischen Prozess beschleunigt und den Planern vor der Behörde unter den Arm greift.“

Auch Otto Kapfinger, Salzburger Beiratsmitglied von 1997 bis 2001, gibt zu bedenken: „Wenn ein Beirat an Ort und Stelle keine Partner hat, dann hängt er in der Luft.“ In Salzburg sei das politische Interesse an der objektiven Meinungen der anderen da gewesen, in anderen Fällen jedoch hätten sich die Bürgermeister über die Entscheidungen der Beiräte immer wieder hinweggesetzt. Beispiele gibt es genug.

„Das ist absolut unverständlich“, so Kapfinger, „die Bürgermeister müssten doch längst erkannt haben, was für ein geschicktes und elegantes Mittel so ein Beirat im Grunde genommen ist. Er nimmt einem mitunter brisante Entscheidungen ab, übernimmt die volle Verantwortung gegenüber der Gemeinde, und der Bürgermeister ist aus dem Schneider. Wer das Spiel beherrscht, der kann auf diese Weise Unglaubliches erzielen.“

Optisch auf der sicheren Seite

Wer hat denn nun Interesse an einem Gestaltungsbeirat? Eine stichprobenartige Umfrage an der Strippe hat zu bemerkenswerter Ablehnung geführt. Gestaltungsbeirat? Brauch ma net. Wiener Neustadt beispielsweise verfügt über einen Stadtentwicklungsbeirat, hat an einem solchen in Belangen der architektonischen Gestaltung jedoch kein Inter-esse: „Wir streben individuelle Lösungen bei jedem Bauvorhaben an und wollen kein weiteres Gremium schaffen, das den Prozess zusätzlich bürokratisiert“, sagt Rainer Spenger, Pressesprecher des Bürgermeisters, „wir haben schon vor Jahren angedacht, einen solchen Beirat zu gründen, sind aufgrund der guten Erfahrungen mit anderen Instrumenten aber wieder davon abgekommen.“

Auch Siegfried Schafarik, Bürgermeister von Knittelfeld, erklärt auf Anfrage des Standard: „So viele architektonische Gestaltungsmöglichkeiten gibt es bei uns nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ein solcher Bedarf besteht.“ Dazu sei man als Gemeinde mit 4,5 Quadratkilometern ganz einfach zu klein. Und aus Ried im Innkreis hört man: „Wie in jeder Stadt in Österreich sind auch bei uns einige bauliche Sünden begangen worden. Von der Idee eines Gestaltungsbeirats bin ich jedoch nicht ganz überzeugt“, so Stadtamtsdirektor Norbert Sitar, „mit Vertretern der Architektenkammer sind wir optisch bereits auf der sicheren Seite.“

In der Tourismusgemeinde Velden erkennt man die Architektur durchaus als Imageträger eines Ortes an, doch für einen eigenen Gestaltungsbeirat wähnt man sich auch am fremdenverkehrsmäßig wohlgenährten Wörthersee zu klein. Bürgermeister Ferdinand Vouk: „Wir sind einen anderen Weg gegangen und können auf eine eigene Bauberatung für unsere Bewohner sowie auf einen Revitalisierungsberater zurückgreifen.“ Helmut Million, Stadtbaudirektor von Ternitz, gibt sich etwas offener: „Einen solchen Beirat haben wir nicht. Wenn sich eines Tages ein Modell ergibt, das finanzierbar ist, so könnte dies für uns aber durchaus interessant werden.“

In seiner Dissertation über Gestaltungsbeiräte in Österreich hat der Autor Paul Raspotnig auch diesen Punkt bedacht - und hat die Statuten und Aufwendungen der einzelnen Gremien unter die Lupe genommen. Fazit: Luxuriös spendabel gibt sich die Stadt Salzburg. Rund 65.000 Euro betragen die jährlichen Kosten für den unabhängigen Beraterstab. Durch die häufigen und sehr langen Sitzungen sowie durch die Tatsache, dass die Mitglieder oft aus fremden Landen eingeladen werden, ist Salzburg österreichweiter Spitzenreiter. Raspotnig: „Das ist ein Luxusbudget, aber auch eine Luxusstadt.“

Muss nicht sein. Vorarlberg, wo mittlerweile jede vierte Gemeinde über eine externe Planungsbegutachtung verfügt, tritt den Gegenbeweis an. Mit 10.000 bis 20.000 Euro pro Jahr kommt man in Gemeinden wie Feldkirch oder Hohenems bereits über die Runden. Paradebeispiel Zwischenwasser: Das 3000-Einwohner-Dorf, das die architektonische Latte ebenfalls hoch legt, findet das Auslangen mit gerade mal 5700 Euro. Ein durchaus übersichtliches Sümmchen also.

Dass es so billig auch geht, scheint viele zu überraschen. Für Christian Resch, Bürgermeister der Stadtgemeinde Mistelbach, tut sich damit ein weites Feld auf: „Ein eigener Gestaltungsbeirat? Das Thema hat sich noch nie gestellt. Aber die Argumente sind einleuchtend, und ich nehme das gerne als Inspiration auf.“ Demnächst wird Paul Raspotnig einen Leitfaden für Stadtoberhäupter publizieren.

Der Standard, Sa., 2008.02.23

02. Februar 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Die Kunst der Nichtarchitektur

Nun ist es offiziell: Der spanische Architekt Santiago Calatrava wird in Wien bauen - eine Brücke im Süden und eine U-Bahn-Station im Norden der Stadt. Planungsstadtrat Rudolf Schicker spricht von Kunst - und umschifft damit einen EU-weiten offenen Wettbewerb.

Nun ist es offiziell: Der spanische Architekt Santiago Calatrava wird in Wien bauen - eine Brücke im Süden und eine U-Bahn-Station im Norden der Stadt. Planungsstadtrat Rudolf Schicker spricht von Kunst - und umschifft damit einen EU-weiten offenen Wettbewerb.

Zugegeben: Zeichnen kann er. Als hätte er sich darauf vorbereitet, zückt er aus seiner Sakkotasche einen Bleistift und skizziert in wenigen pointierten Strichen eine posierende Dame, die mit zart geöffneten Händen eine Friedenstaube gen Himmel entsendet, oder auch einen nackten Männertorso samt Gemächt. Dann sagt er: „Die Statik der Architektur leitet sich aus der Statik der menschlichen Anatomie ab.“ Applaus.

So geschehen vergangenen Montag, als der spanische Architekt Santiago Calatrava auf Einladung des Wiener Planungsstadtrats Rudolf Schicker im Rathaus einen Vortrag hielt. Der Festsaal war zum Bersten voll. Ein Projekt nach dem anderen wurde gezeigt, gebannt starrte die Menge auf kunstvoll verdrehte Hochhäuser, auf Bahnhöfe und U-Bahn-Stationen - allesamt in Weiß. Schließlich schauen alle auf Calatravas bisher größtes Bauprojekt: die Ciudad de las Artes y las Ciencas in Valencia, in der der Spanier ein gigantisches Kulturareal mitsamt Imax-Kino, Opernhaus und Ausstellungsgebäuden aus dem Boden gestampft hat.

Nachholbedarf für Signale

„Ich empfinde keinen Unterschied zwischen Ingenieurskunst und Architektur, wie es im 19. Jahrhundert noch der Fall war“, sagt Calatrava, „bei sämtlichen meiner Bauten bin ich Architekt und Ingenieur zugleich.“ Und vergleicht seine Arbeitsweise mit der eines Schriftstellers, Schauspielers oder Malers.

Das Wiener Publikum war begeistert, das bewiesen vielfach die Wortmeldungen nach dem Ende von Calatravas Vortrag: „Wenn in dieser Stadt Leute wie Sie gebaut hätten, dann wäre Wien heute mit Sicherheit viel schöner“, formulierten es Bewunderer seiner Arbeit.

Das war das Stichwort. Denn während sich die einen am Ende des Abends wieder auf den Weg nach Hause machten, blieb bei anderen ein schaler Nachgeschmack: Santiago Calatrava in Wien? Ein purer Zufall? Oder sollte dieser Vortrag die Wiener Bevölkerung bereits für die expressive Architektursprache des gebürtigen Spaniers begeistern?

Bereits der nächste Tag lichtete den Spekulationsnebel bei einem Standard-Interview mit dem spanischen Architekten und dem Wiener Planungsstadtrat. „Wenn man sich genau umsieht, dann merkt man, dass es in Wien durchaus noch Nachholbedarf für Signale und Wahrzeichen gibt“, betont Rudolf Schicker gleich zu Beginn des Gesprächs. Nur der Stephansdom werde auf Dauer nicht reichen.

Und er sinniert schon sehr konkret weiter: „Beispielsweise würde sich die Triester Straße dazu eignen, mit einer Fußgängerbrücke überspannt zu werden. Sie wäre ein signifikantes Zeichen für Wien, eine Art Einfahrt in die Stadt für diejenigen, die aus dem Süden kommen.“

Schicker ist begeistert, auch von Calatravas Vorführung beim Mittagessen, wie er Brücken entwirft: „Ein dicker Bleistift, ein paar Striche auf dem Papier, schon ist das Gedankenkonstrukt einer Brücke fertig.“

Das heißt also, dass es eine Fußgängerbrücke über die Triester Straße geben wird? Die zunächst noch schwammige Aussage gewinnt an Kontur: „Es ist bereits alles vorbereitet. Veränderungen, was die Flächenwidmung betrifft, sind im Bereich des Wienerbergs nicht mehr notwendig“, erklärt der Planungsstadtrat sehr konkret, „man kann davon ausgehen, dass die Arbeiten sofort beginnen könnten. Ich denke, dass wir für die Entstehung etwa zwei Jahre brauchen werden.“

Ein Entwurf des Architekten Santiago Calatrava hätte Wiedererkennungswert, das ist unumstritten. Nicht nur der immerwährende Einsatz von weißer Farbe, sondern auch die mittlerweile unverwechselbare Formensprache seiner Bauten spannt über Europas Städte ein engmaschiges Netzwerk aus verwechselbaren Aha-Erlebnissen. Kritiker sprechen davon, dass seine frühen Brückenkonstruktionen noch zart und elegant gewesen seien, wohingegen seine heutigen Bauten bisweilen wuchtig und manieriert wirkten.

„Das glaube ich nicht“, wehrt sich Calatrava gegen die Vorwürfe, „manche Aufgaben sind komplexer und nur noch schwer nachvollziehbar. Bei großen Bauaufgaben ist nicht mehr alles so klar wie bei einer Brücke.“ In einem gewissen Alter und mit einer gewissen Erfahrung müsse man sich nicht mehr so stark auf das konzentrieren, was essenziell ist. Manchmal wolle man das Essenzielle eben etwas tarnen.

„Ein kleines Menuett“

Doch von Tarnung kann bei Calatravas Bauten keine Rede sein. Sabine Gretner, grüne Gemeinderätin in Wien, stellte kürzlich fest, dass man in der Stadt Wien in den letzten Jahren zunehmend mit Branding arbeite. Der Verdacht liegt nahe, dass eine potenzielle Zusammenarbeit mit einem Manne großen Ranges, der Santiago Calatrava ohne Zweifel ist, eben diesem Zwecke dienlich sei.

Der Architekt selbst weist derartige Bedenken zurück: „Nehmen wir das Beispiel, es handelt sich um eine bescheidene Aufgabe. Nehmen wir an, es handelt sich um eine kleine Brücke in einem Vorort von Wien. Wäre ich einfach nur der bekannte Name, dann würde ich sagen: ,Nein, das mache ich nicht.' Aber die Wahrheit ist: Ich mache es doch. Eine kleine Brücke in Wien - das ist wie ein kleines Menuett.“

Und Rudolf Schicker bekräftigte gegenüber dem Standard das gemeinsame Vorhaben und sagt: „Vor allem die großen Stadterweiterungsgebiete im Norden kommen dafür infrage, von Santiago Calatrava eine Handschrift verpasst zu bekommen.“ Mit dem Flugfeld Aspern eröffnet sich ein riesiges Betätigungsfeld. 240 Hektar Land wollen bebaut werden. Schicker weiter: „Um diesen Stadtteil stärker in die Wahrnehmung zu rücken, macht es Sinn, in Aspern ein besonderes Zeichen zu setzen.“

Quintessenz der Stippvisite: Santiago Calatrava wird in Wien bauen. Die Überraschung kann als durchaus gelungen bezeichnet werden. Während sich die einen freuen und die anderen ärgern, muss an dieser Stelle auf den nicht unwesentlichen Umstand hingewiesen werden, dass öffentliche Projekte, deren Baubudget den Schwellenwert von 206.000 Euro überschreiten, laut Bundesvergabe-Gesetz aus dem Jahr 2006 EU-weit offen ausgeschrieben werden müssen. „Mit diesen Rahmenbedingungen versuchen wir umzugehen“, kontert Schicker. Er werde versuchen, bei der Brücke den künstlerischen Bestandteil der Arbeit des Ingenieurs Calatrava hervorzukehren. „Wie es uns beim Bahnhof in Aspern“ - nun ist es ausgesprochen! - „gelingen wird, den Leuten zu erklären, dass es sich dabei nicht um ein öffentliches Gebäude, sondern um ein künstlerisches Projekt handelt, wissen wir vorerst noch nicht.“

Konkreter Fall

Zu den weißen Knochengerüsten von Calatrava kann man stehen, wie man will. Ein Architekturimpuls aus dem Ausland kann eine Stadt wie Wien nur aufwerten. Inakzeptabel ist es jedoch, wenn die Stadt Wien ihre Vorbildwirkung nicht wahrnimmt. Darf ein öffentlicher Auftraggeber das Bundesvergabegesetz umschiffen, wenn ihm gerade danach ist?

Stadtrat Schicker sagt dazu: „Wir wollen das Bundesvergabegesetz nicht nach allen Möglichkeiten umschiffen, sondern nur in diesem einen, ganz konkreten Fall. Und in diesem konkreten Fall geht es um eine künstlerische Gestaltungsmöglichkeit für eine Brücke. Diese Kombination aus Ingenieurskunst und Architektur ist nichts Alltägliches. Ich gehe davon aus, dass die österreichische Konkurrenz dafür Verständnis haben wird.“

Der Standard, Sa., 2008.02.02

24. Januar 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Neue Oper mit rotem Apfel

Ljubljana - Die slowenische Hauptstadt Ljubljana erhält ein neues Opernhaus. Einzigartig ist, dass der Kulturbau von einem Privatinvestor entwickelt und...

Ljubljana - Die slowenische Hauptstadt Ljubljana erhält ein neues Opernhaus. Einzigartig ist, dass der Kulturbau von einem Privatinvestor entwickelt und...

Ljubljana - Die slowenische Hauptstadt Ljubljana erhält ein neues Opernhaus. Einzigartig ist, dass der Kulturbau von einem Privatinvestor entwickelt und finanziert wird. „Natürlich sind wir daran interessiert, mit diesem Projekt Gewinn zu machen“, erklärt Joze Anderlic, Generaldirektor der Krainischen Investitionsgesellschaft, „doch das Opernhaus hat großes Potenzial, das ganze Jahr über ausgelastet zu sein.“

In erster Linie werde das Opernhaus für Gastspiele genutzt, ein eigenes Ensemble werde es nicht geben. Um das Projekt wirtschaftlich rentabel zu machen, wird es an einen Shopping- und Office-Komplex sowie an ein Luxus-Apartmenthaus angeschlossen. Befürchtet man nicht die Kommerzialisierung der Kultur? Anderlic: „Man darf den modernen Opernbesucher nicht mit dem des 19. Jahrhunderts verwechseln. Die Bedürfnisse haben sich geändert.“

Vorausgegangen ist dem Projekt ein internationaler Wettbewerb im Jahre 2004. Der damalige Sieger, das niederländische Büro Neutelings Riedijk, wird den Komplex gemeinsam mit dem österreichischen Ingenieursbüro Vasko+Partner realisieren. „Das Projekt ist sehr komplex und weit mehr als nur eine Oper“, so Architekt Willem Jan Neutelings, „dennoch ist der Theatersaal das eigentliche Herzstück des Projekts. Es wird wie ein samtverkleideter, roter Apfel ins Foyer ragen.“ Baubeginn ist 2009, die Fertigstellung ist für 2012 angepeilt. Das Gesamtinvestitionsvolumen beträgt 180 Millionen Euro.

Der Standard, Do., 2008.01.24

12. Januar 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Die Menschen brauchen Jazz

Letztes Jahr wurde dem britischen Architekten Lord Richard Rogers der Pritzker-Preis verliehen. Nun widmet ihm das Centre Pompidou in Paris, das er einst selbst entwarf, eine überaus sehenswerte Ausstellung.

Letztes Jahr wurde dem britischen Architekten Lord Richard Rogers der Pritzker-Preis verliehen. Nun widmet ihm das Centre Pompidou in Paris, das er einst selbst entwarf, eine überaus sehenswerte Ausstellung.

Februar 1977, Paris. Es regnet in Strömen. Richard Rogers steht vor dem Centre Georges Pompidou und betrachtet sein eben vollendetes Werk, als plötzlich eine ältere Dame an ihn herantritt und ihm freundlicherweise einen Platz unter ihrem Regenschirm anbietet. Was er denn von diesem Gebäude hielte, fragt Madame. Und Rogers antwortet stolz: „Ich bin der Architekt.“ Prompt bekam er mit dem Regenschirm eins über die Rübe gezogen.

Doch Madame war längst nicht die Einzige, die sich über das stählerne Ungetüm von Richard Rogers und Renzo Piano mokierte. Die Presse bezeichnete das Bauwerk als Pompidoleum, als Erdölraffinerie, als Nôtre Dame der Röhren. Die französische Tageszeitung Le Figaro sprach gar von einem „kulturellen King Kong“, der hier mitten ins historische Quartier Beaubourg implantiert wurde. Staatspräsident Georges Pompidou ahnte bereits, worauf er sich mit dem Bau seines Kunst- und Kulturzentrums eingelassen hatte. Als er das Modell zum ersten Mal sah, soll er gesagt haben: „Das wird ein Geschrei geben!“

Die Schreie des Entsetzens verwandelten sich im Laufe der Zeit in Jubelrufe und Euphorie. Dreißig Jahre später wird Rogers abermals nach Paris geladen. Das Centre Pompidou, längst etabliert als Brennpunkt zeitgenössischer Kunst, widmet seinem einstigen Architekten Richard Rogers eine eigene Werkschau. „Ich bin sehr erfreut darüber, dass ich in dieser Ausstellung präsentieren kann, was meine Kollegen und ich in den letzten 40 Jahren alles gemacht haben“, erklärt der heute 74-jährige Rogers anlässlich der Ausstellungseröffnung, „das Centre Pompidou ist dafür der perfekte Ort.“

Selten zuvor sei eine Architekturausstellung im Pompidou so gut besucht worden, sagt die zuständige Pressesprecherin Célia Faurie. Mit hunderten Schaulustigen füllt sich die Ausstellungshalle im Erdgeschoß. Ein weiteres Dutzend pickt an der Glasscheibe draußen am Gehsteig und lugt in die Geheimnisse des bunten Innenraums. Richard Rogers et Architectes ist keine von diesen üblich verdächtigen Nabelschauen, die einzig dazu dienen, den Architekten als großen Meister über alles Irdische zu stellen. Mehr als alles andere ist die Ausstellung ein Lehrpfad für Jung und Alt - informativ und aufschlussreich.

Besucher aller Altersklassen wandern mit Fotoapparat und Skizzenblock gewappnet durch den 1200 Quadratmeter großen Raum. Tafeln werden sorgsam studiert, Interviews werden abgehört und mitgeschrieben, mit bizarren Händeformationen und körperlichen Verrenkungen versucht der eine oder andere sogar, den statischen Kräfteverlauf einer abgehängten Halle nachzuahmen.

Keine Angst vor Konstruktion

„Meine Architektursprache entsteht aus einer Faszination, die eng verbunden ist mit der Konstruktion und mit dem Prozess des Werdens“, erklärt Rogers in geschriebenen Worten als Auftakt zur Ausstellung. Prompt steht am Eingang ein überlebensgroßer Knotenpunkt einer statischen Stahlkonstruktion - in knalligem Neonpink. „Viele Architekten machen einen wunderbaren Job, indem sie die Grenzen der heutigen Architektur ausloten und strapazieren. Ohne diese Strapazen gäbe es keinen Fortschritt. Dann würden wir heute immer noch in der Höhle sitzen.“

Im Video-Interview, das in der Ausstellung läuft, erinnert er sich ans erste Projekt, das damals noch in der Bürogemeinschaft Team 4 entstand - gemeinsam mit seiner Frau Su sowie mit dem Architektenehepaar Wendy und Sir Norman Foster: „Am ersten Haus haben wir jahrelang gearbeitet. Es war eine Tortur. Danach wussten wir, dass das so nicht weitergeht.“ Zwangsweise landete man bei Vorfertigung, bei Modularbauweise und bei günstigem Bauen für jedermann. Aus dieser Haltung heraus entstand schließlich das Centre Pompidou. „Irgendwo haben wir aufgeschnappt, dass am Wettbewerb angeblich 700 Teilnehmer beteiligt waren. Ich sagte: Vergiss es! Doch als wir hörten, dass wir 400 Pfund Druckkostenzuschuss bekämen, waren wir dabei!“ Rogers hält inne. „Und ich bin froh, dass Renzo und ich gewonnen haben. Denn wenn ich Wettbewerbe verliere, dann bin ich ziemlich sauer.“

Eines ist gewiss: Angst vor Farbe hat der charmante Brite nicht. Und das darf angesichts der sonst so biederen Gräulichkeit, mit der die zeitgenössische Architektur vielerorts daherkommt, durchaus als Chuzpe verstanden werden. Farbenfroh wie bereits das Centre Pompidou geben sich auch die Bauten heutiger Tage. Die Stahlkonstruktion des Flughafens Madrid Barajas ist in den schillernden Farben des Regenbogens lackiert - das Farbspektrum erstreckt sich über die ganze Länge des Terminals und dient dabei als Orientierungshilfe. Sind die Stützen orange, weiß man, dass man zum gelben Gate nicht mehr weit zu laufen hat. Gibt sich die Stahlkonstruktion jedoch als blau oder gar violett zu erkennen, dann steht einem noch ein langer Fußmarsch bevor.

Schauplatzwechsel. Unweit von Rogers' berühmten Lloyd's of London aus dem Jahr 1986 entsteht derzeit das Leadenhall Building. Mit seinen 50 Stockwerken zeichnet sich der zugespitzte Bau vor allem dadurch aus, dass die Konstruktion hinter der Glasfassade in bunten Farben schimmert - ein kleiner Tupfen im verregneten London. Und sogar der kleine Mann bekommt Farbe verpasst: Im britischen Milton Keynes, einer Planstadt aus den Sechzigerjahren unweit von London, stellt Rogers derzeit die Fertighaussiedlung Oxley Woods fertig. Die kistenförmigen Bauten mit ihren farbigen Akzenten sind der Beweis dafür, dass durchaus Gutes dabei herauskommen kann, wenn sich die Architektur der Großen mit der Häuslbauerei der Kleinen paart.

Richard Rogers holt weit aus: „Palladio, Schopenhauer und Schelling haben gesagt, Architektur sei gefrorene Musik - das will ich nicht. Meine Häuser sind Jazz.“ Die Praxis der Architektur ist untrennbar mit den sozialen und wirtschaftlichen Werten jedes Einzelnen verknüpft, erklärt Rogers, eine ästhetische Komposition, die gefrorener Musik gleicht, das ist für die Gesellschaft zu wenig.

Eigentlich wollte der gebürtige Florentiner ja Zahnmediziner werden. Doch seine Legasthenie machte ihm einen fetten Strich durch die Rechnung. Und so muss die Welt um eine verkannte Dentalkoryphäe trauern. Pech für die Medizin, Glück für die Architektur. Heute ist der zum Ritter erhobene Richard Rogers 74 Jahre alt, im Juni letzten Jahres wurde ihm in London der Pritzker-Preis verliehen. „Doch bevor Sie mich fragen: Nein, ich habe nicht vor, mich zur Ruhe zu setzen.“

[ Die Richard-Rogers-Retrospektive läuft noch bis 3. März. Täglich außer Dienstag, Centre Georges Pompidou, Paris. Von 24. April bis 10. August wird die Ausstellung im London Design Museum zu sehen sein. ]

Der Standard, Sa., 2008.01.12



verknüpfte Akteure
Rogers Richard

04. Januar 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Der Zucker in meinem Leben

Zeit seines Lebens wollte der Architekt und Designer Ettore Sottsass den Menschen das Leben versüßen: mit Schönheit, mit Ironie, mit Überfluss. Letzten Montag ist er gestorben.

Zeit seines Lebens wollte der Architekt und Designer Ettore Sottsass den Menschen das Leben versüßen: mit Schönheit, mit Ironie, mit Überfluss. Letzten Montag ist er gestorben.

„Wenn uns irgendetwas retten kann, dann die Schönheit“, hatte Ettore Sottsass einst gesagt. Mit jahrzehntelang anhaltendem Elan machte sich der gebürtige Innsbrucker bereits in den Fünfzigerjahren an die Arbeit und entwarf in seinem Architektur- und Designstudio ein Ding nach dem anderen: Badezimmerarmaturen, Türklinken, unzählige Kannen, Tassen und Vasen, Bestecke in allen erdenklichen Materialien, Drehstühle, Tischlampen, nicht zu vergessen seine wild gemusterten Bücherregale aus der Ära „Memphis“.

Das hübscheste Objekt aller Zeiten - zumindest aus der Sicht von Sekretärinnen, Journalisten und sonstigen sich tippend über Wasser haltenden Menschen - ist jedoch die knallrote Valentine, Jahrgang 1969. Die schlichte und elegante Schreibmaschine aus dem Hause Olivetti, der Sottsass in Zusammenarbeit mit Perry King erstmals so etwas wie Charakter und Persönlichkeit verliehen hatte, war in einem ebenso roten Kofferetui aus Kunststoff zuhause und gilt bis heute als die Schreibmaschine aller Schreibmaschinen. Sottsass: „Die Valentine ist jene Sorte Gegenstand, die einsame Dichter dazu bringt, an einem Sonntag in ihrem Landhaus Gedichte zu komponieren.“ Heute gehört sie zur Kollektion des MoMA in New York.

Vergangenen Montag verstarb Sottsass 90-jährig in seinem Haus in Mailand. Wenig bekannt ist bis heute, dass sich der Designer und Künstler zeit seines Lebens intensiv mit Architektur beschäftigte. 1935 begann er sein Architekturstudium am Polytechnikum in Turin, nur vier Jahre später schloss er mit Diplom ab. Wie viele seiner Generation ließ er sich niemals in ein berufliches Schema pressen. „Es gibt keine Grenzen zwischen Architektur, Skulptur, Design und Malerei“, lautete seine feste Überzeugung. Nur wenn man die Grenzen zwischen den Disziplinen auflöst und das Leben in seiner Ganzheit betrachtet, könne sich der Prozess des Entwerfens frei entfalten.

Die meisten Architekturprojekte entstanden in den Achtziger- und Neunzigerjahren. In Belgien, Italien, Singapur, in der Schweiz und in den USA baute Sottsass etliche Einfamilienhäuser, bei denen er sich sogar um die Inneneinrichtung und um die Auswahl der Keramik kümmerte, in Moskau schuf er eine Fabrik, in Ravenna ein Museum, in China einen Golfklub.

Als einmaligen Ausrutscher darf man wohl den Flughafen Malpensa in Mailand bezeichnen. „Ich gebe zu, dass ich bei Malpensa manche Sachen einfach vermasselt habe, ich habe die ganze Zeit gearbeitet, als hätte ich einen privaten Bauherren vor mir“, wird Ettore Sottsass später zurückblicken. „Ich wollte einen Ort für jene Menschen schaffen, die ankommen, warten und abfliegen, stattdessen habe ich irgendwann erkannt, dass ein zeitgenössischer Flughafen nichts anderes ist als ein Shoppingcenter.“

Bauen ist eine Metapher

Das lässt den überzeugten Anthropologen nicht in Ruhe. „Es gibt nur wenige Architekten, die erkennen, dass Bauen die Metapher eines Landes und seiner Politik ist“, sagt Sottsass. „Ich habe manchmal sogar das Gefühl, dass ich mit meiner auf den Menschen bedachten Herangehensweise ganz allein dastehe - das macht das Entwerfen anstrengend.“

Von Mailand hat er gelernt. Dem öffentlichen Bauen kehrt Sottsass wieder den Rücken und widmet sich fortan den Privatbauherren. „Ich spreche immer davon, dass ich Häuser für den Menschen baue. Eigenartig ist, dass sich diese Menschen immer nur als Millionäre und Milliardäre herausstellen. Es sind Intellektuelle, Galeristen, Sammler. Die Armen aber, die mich ebenso interessieren würden, kommen einfach nicht zu mir. Sie müssen sich wohl damit zufriedengeben, was ihm Rahmen ihrer Möglichkeiten liegt.“ Andererseits, erklärt er, sei das alles nicht so schlimm, schließlich liege der Reiz darin, das Haus für den Milliardär so mondän und so raffiniert wie möglich zu machen. „Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, aber er ist so.“

1999 entsteht eines der außergewöhnlichsten jemals realisierten Bauwerke. Im belgischen Lanaken, unweit der niederländischen Grenze, plant Sottsass das sogenannte Birdhouse für seinen Freund Ernest Mourmans, seines Zeichens Architekt und Galerist. Das Gebäude spiegelt das Architekturverständnis von Sottsass wider wie kein anderes. Statt einer klaren homogenen Form, wie es dieser Jahre Mode ist, sprengt Sottsass das Gebäude in mehrere kleine Pavillons, die durch Korridore, Gärten und Atrien wieder ein Ganzes ergeben.

In unterschiedlicher Bauweise und mit ebenso unterschiedlichen Raumstimmungen steht es Mourmans und seiner Familie frei zu entscheiden, wo die beiden Kunstsammlungen und wo die Menschen wohnen. Mittelpunkt des Hauses ist eine Voliere für Mourmans exotische Vögel. Die bunten Tiere sind von überall im Haus zu sehen.

Die architektonischen Grundelemente sind bewusst überdeutlich dargestellt. Oft hat man das Gefühl, dass sich hier jemand über den Sinn für Ästhetik lustig macht, bisweilen kippen die Entwürfe ins Ironische. Sottsass spricht von „radikaler Architektur“ - eine harte Kritik an der zeitgenössischen Baukultur also. Mit seinen Freunden Hans Hollein, Arata Isozaki, Michele de Lucchi, Andrea Branzi und einigen mehr gründet er 1981 die Gruppe Memphis. Mit ihren skulpturalen und knallbunten Objekten erteilt er dem nüchternen Funktionalismus eine Abfuhr. Möbel und Einrichtung sollten nicht mehr nur unauffällig ihren Dienst erfüllen, sondern auch Gefühle auslösen. Billige Materialien werden mit wertvollen kombiniert, grelle Muster werden mit kreischenden Farben gemischt, die Möbel und Häuser kommen plump und klobig daher - Postmoderne in ihrer Hochblüte eben.

Genug des guten Geschmacks

„Ach, Memphis!“, blickt der Mann mit den traurigen Augen in seinen späten Jahren zurück, „Memphis war eine große Verwirrung. Wir dachten weder daran, das Zeug zu verkaufen, noch daran, den anderen den Weg zu ebnen. Wir haben's einfach gemacht und basta. Was passiert ist, ist passiert.“ Der Unbekümmertheit dieser Tage konnte er bis zuletzt etwas abgewinnen: Memphis habe vom puren Überfluss gelebt. Die Möbel, Keramikobjekte und Inneneinrichtungen waren absurd und monumental. In erster Linie waren sie Emotion, nur nebenrangig erfüllten sie auch eine Funktion. „Wenn es wahr ist, dass wir in einer Gesellschaft des Überflusses leben, dann muss sich die Gestaltung dieser Gesellschaft auch anpassen, nur das ist von Dauer“, hatte der große Italiener einst gesagt. Das Überflüssige? „Das ist wie Liebe machen, ohne die Notwendigkeit, dabei auch Kinder machen zu müssen.“ Oder anders: „Für mich ist Obsoleszenz der Zucker in meinem Leben.“

Zum 90. Geburtstag widmete die Stadt Triest dem Jubilar eine Ausstellung unter dem Titel „Ich will wissen warum“. 170 Werke und Projekte sind noch bis 6. März 2008 in der alten Fischhalle im Salone degli Incanti zu sehen. Einige davon werden erstmals öffentlich gezeigt. Man solle die Gegenstände fühlen und nicht nur benutzen. Wenige Tage vor seinem Tod äußerte Ettore Sottsass einen einzigen Wunsch: „Ich möchte, dass die Leute die Ausstellung mit Tränen in den Augen verlassen.“

Der Standard, Fr., 2008.01.04



verknüpfte Akteure
Sottsass Ettore

03. Januar 2008Wojciech Czaja
Der Standard

Druckerschwärze im Raum

Sie kennen das sicher: ein kleiner Windstoß - und plötzlich fliegen sorgsam gehortete und geschlichtete Papierstöße durch die Luft und verteilen sich im...

Sie kennen das sicher: ein kleiner Windstoß - und plötzlich fliegen sorgsam gehortete und geschlichtete Papierstöße durch die Luft und verteilen sich im...

Sie kennen das sicher: ein kleiner Windstoß - und plötzlich fliegen sorgsam gehortete und geschlichtete Papierstöße durch die Luft und verteilen sich im ganzen Raum. Ein Chaos.

Im Innsbrucker aut (architektur und tirol) ist jetzt eine solche Momentaufnahme zu sehen. Gleichsam wie von Geisterhand gehalten, schweben da weiße Blätter scheinbar schwerelos im Raum und machen den Ausstellungsbesucher durchaus neugierig.

Was steht denn da eigentlich drauf? Es sind Texte über Architektur. „Gerade die Dominanz des Bildlichen in der gegenwärtigen Vermittlung von Architektur hat uns dazu gebracht, einmal die gewohnten Pfade der Vermittlung zu verlassen“, sagen die beiden Kuratoren des Projektes, Gabriele Kaiser und Kurt Zweifel, und bringen den Leser auf diese Weise an den Titel der Ausstellung heran: „Architektur in Wörtern“.

Etwa 40 solcher Zettel gewähren interessante Einblicke in alles, was so über Architektur geschrieben werden kann. Schwarz auf weiß. Auszüge aus dem quadratroman von Friedrich Achleitner hängen da neben interessanten Zitaten von Adolf Loos und Franz Kafka - Hermann Czech wiederum schreibt „Nur keine Panik“, wenn gleich nebenan Auszüge aus einem Juryprotokoll oder aus der Wiener Bauordnung an den Nagel gehängt werden. Das ergibt harte Kontraste.

Der Kontext

„Belanglose bürokratische Texte bekommen plötzlich etwas Poetisches“, meint Kaiser, „in jedem Fall ist Sprache nämlich abhängig vom Kontext.“ Den besten Beweis dafür liefert das weiße Blatt mit der Seitenzahl 37. Schlagzeilen aus unterschiedlichen Architekturberichten der letzten Jahre wurden hier zu einem kleinen Sonett zusammenmontiert.

Auch der eine oder andere Titel aus dem Standard findet sich darunter. Und die Zielgruppe zu dem Ganzen? Nicht zuletzt richtet sich die „Architektur in Wörtern“ vor allem an all jene, die ein Sensorium für Sprache haben. Das kann man eigentlich so im Raum stehen lassen.

[ „Architektur in Wörtern“ im aut (architektur und tirol); Lois-Welzenbacher-Platz 1, 6020 Innsbruck. Zu sehen bis 9. Februar. ]

Der Standard, Do., 2008.01.03

29. Dezember 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Reifeprozesse im virtuellen Raum

Wozu bauen? Das New Yorker Büro asymptote hat es auch ohne größere Baustellen in den Olymp geschafft. Statt zu bauen, hatte man virtuell vor sich hin geträumt. Die Welt weiß das lange Warten zu schätzen und bedankt sich ihrerseits mit einer Vielzahl an Aufträgen.

Wozu bauen? Das New Yorker Büro asymptote hat es auch ohne größere Baustellen in den Olymp geschafft. Statt zu bauen, hatte man virtuell vor sich hin geträumt. Die Welt weiß das lange Warten zu schätzen und bedankt sich ihrerseits mit einer Vielzahl an Aufträgen.

Wer sein Architekturbüro nach einer mathematischen Kurve benennt, der hat sich schon etwas dabei gedacht. Gemeinsam mit seiner Frau Lise Anne Couture betreibt der gebürtige Ägypter Hani Rashid in New York das Büro asymptote. Bei den Gymnasiasten klingelt's: Eine Asymptote ist eine geometrische Kurve, die sich einer anderen Kurve zwar annähert, diese aber niemals erreicht - ein unbefriedigendes Unterfangen also. Doch Hani Rashid hat eine Erklärung parat: „Es geht um die Sehnsucht. Man kann sich der Sehnsucht nur annähern, man kann sie aber niemals ergreifen. Das wäre ihr Ende.“ Rashid schmunzelt. „Aber ich gebe zu, für ein Architekturbüro ist der Name asymptote durchaus problematisch. Kein Mensch weiß, was das ist, kein Mensch weiß, wie man das richtig ausspricht.“

Rashid (50) und Couture (49) haben mit ihrem Büro einen gewaltigen Start hingelegt. Noch bevor sie ein einziges Bauwerk gebaut haben, war asymptote in aller Munde. Weltweit. Bis heute hält sich die Anzahl der Realisierungen - um es gelinde auszudrücken - in Grenzen, und doch geht das Büro mitsamt seinen 40 Mitarbeitern regelrecht in Arbeit unter. Das Geheimnis des Nichtbauens?

der Standard: In den meisten Fällen bauen Architekten bis zum Umfallen, und wenn sie Glück haben, werden sie eines Tages berühmt. Bei Ihnen ist das anders: Sie sind weltberühmt geworden, bevor Sie noch etwas realisiert haben. Wie geht das?

Hani Rashid: Wir haben uns nie als Dienstleister gesehen. Wir sind Träumer, wir sehnen uns nach neuen Technologien, nach Experimenten, wir sehnen uns nach innovativer und zukunftsweisender Architektur. Selbst wenn wir bis jetzt nur ganz wenig gebaut haben, schätzen uns die Leute wohl für unsere Zielstrebigkeit, mit der wir unsere Ziele verfolgen. Hinter jedem Projekt, das wir machen, steckt eine fundierte Theorie und eine mühsam erarbeitete Überzeugung. Wenn wir etwas machen, dann mit 100 Prozent. Und wenn die Umstände nicht passen, dann kommt es eben auch nicht zur Realisierung. Darauf bin ich stolz.

Das klingt ganz so, als hätten Sie freiwillig beschlossen, so wenig zu bauen. Glaube ich Ihnen nicht!

Rashid: Louis Kahn hat einmal den schönen Satz von sich gegeben: Gute Architekten fangen nicht an zu bauen, ehe sie 50 sind. Als ich diesen Satz das erste Mal hörte, war ich 26, Panik hat mich überkommen! In Europa ist das ganz anders. Europa ist dafür bekannt, dass die Architekten hier schon in ihren Zwanzigern ein Haus nach dem anderen bauen. Das ist zwar einerseits beachtlich, andererseits ist das ein sehr riskantes Geschäft. Denn sie fangen an zu bauen, obwohl sie eigentlich nie genügend Zeit hatten, sich mit der Materie ernsthaft auseinanderzusetzen. Wo bleibt da die individuelle Forschung, wo bleibt das virtuelle Abenteuer, wo bleibt das theoretische Unterfutter, das sich jeder Architekt einmal aneignen muss? Das, was all diese jungen und unerfahrenen Menschen bauen, sieht zwar aus wie Architektur, ist es aber nicht.

Wie lange muss ein Architekt denn reifen?

Rashid: Wir haben unser erstes architektonisches Projekt erst vor fünf Jahren realisiert, und zwar den Hydra-Pier in Holland. In den Jahren davor haben wir geforscht und studiert. Ganz so wie ein Pianist - der setzt sich ja auch nicht gleich auf die Bühne und spielt vom Blatt. Zuerst einmal verbringt er viele Jahre damit, Klänge und Proportionen einzustudieren, erst dann ist er reif für die Bühne. Und wissen Sie was? Er wird richtig gut sein.

Das heißt: Wer eines Tages ein guter Architekt sein will, der muss erst einmal jahrelang nur virtuelle Architektur produzieren und Renderings zeichnen?

Rashid: Es ist erstaunlich, wie sich unterschiedliche Begriffe und Berufe im Laufe der Zeit ändern. In alten Tagen war nur der ein Architekt und Baumeister, der auch wirklich gebaut hat. Ich bin davon überzeugt, dass man heute nicht mehr unbedingt bauen muss, um sich als Architekt bezeichnen zu dürfen. Architekt wird man, wenn man imstande ist, virtuell und räumlich zu denken, und wenn dieses Denken über alles Bekannte hinausgeht. Architektur ist eine Kunstform und eine eigene Wissenschaft geworden. Virtuelles Entwerfen, also die Arbeit am Computer und im World Wide Web, ist zu einem essenziellen Bestandteil unserer Arbeit geworden. Einerseits ist sie ein eigenständiger Arbeitsbereich, andererseits ist sie eine gute Übungsarbeit, um später im realen Raum zu bauen.

Würden Sie Ihre Herangehensweise an Architektur als avantgardistisch bezeichnen?

Rashid: Die wirklichen Avantgardisten wussten nie, dass sie Avantgardisten sind. Was soll ich Ihnen sagen? Wir versuchen, an vorderster Front mitzumischen und immer einen Schritt voraus zu sein. Ich weiß nicht, ob uns das gelingt.

Ich bin wohl begriffsstutzig. Wie kann man an vorderster Front sein, wenn man kaum etwas gebaut hat?

Rashid: Wie ich schon gesagt habe: Architektur wird oft mit Bauen verwechselt. Die Praxis im Bauen hat meiner Erfahrung nach nichts mit der Praxis im räumlichen Denken zu tun. Unser intensiver Reifeprozess der letzten Jahre scheint nun jedenfalls zu fruchten. Zur Zeit arbeiten wir an einigen Projekten, die in den nächsten Jahren fertiggestellt werden. In Budapest befindet sich ein Bürohaus in Bau, in Abu Dhabi bauen wir gerade einen Luxus-Wohnturm, der ähnlich wie das Burj al Arab auf einer künstlichen Insel steht. Beide Projekte werden 2009 fertiggestellt. Doch die richtig großen Projekte dauern noch ein paar Jahre. In Asien entstehen gleich zwei Projekte von wahrlich städtischen Ausmaßen. In Busan in Südkorea werden wir das World Business Center bauen, in Penang in Malaysia das sogenannte Global City Center.

Das Global City Center Penang ist das größte und aufregendste Projekt in Ihrer bisherigen Firmengeschichte.

Rashid: Es ist sicherlich eines der aufregendsten - sagen wir es mal so. Penang ist im Norden von Malaysia und gilt als Tor zu einer sehr hoch entwickelten und wirtschaftlich starken Region. Das Global City Center ist eine Initiative der Regierung und soll die sogenannte Northern Corridor Economic Region aufwerten. Um diesen Umstand sichtbar zu machen, braucht es dort ein starkes Zeichen. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, vor dem Hintergrund der natürlich belassenen Landschaft eine dichte, urbane Architektur zu machen. Das ist ein sehr spannender Kontrast. Das Projekt umfasst ein Einkaufszentrum, ein Convention Center, ein Museum sowie Wohnungen, Büros und Hotels.

Das Gebäude sieht aus wie in „Star Wars“.

Rashid: Durch die beiden Türme - und die haben immerhin 60 Stockwerke - wird das Projekt sehr zeichenhaft. Das Design ist inspiriert von der umgebenden Landschaft, von den Bergen und vom Meer, aber auch von der kulturellen Vielfalt in dieser Gegend. Dennoch möchte ich betonen, dass es sich dabei vor allem um ein technologisch innovatives Projekt handelt. Das Gebäude wird über eingebaute Windräder verfügen, es wird eine Hochleistungsfassade mit integrierten Fotovoltaik-Zellen geben sowie ein umfangreiches Sturmwasser-Management und ein Wasser-Recycling-Programm.

Ein riesiges Bauvorhaben. Wie wollen Sie das mit Ihrer bisherigen Praxiserfahrung bewältigen?

Rashid: Ja, das stimmt. Das Global City Center ist sehr umfangreich. Aber wir haben genug Zeit gehabt, um heranzureifen und um uns die Basis für ein Projekt in diesen Ausmaßen anzueignen. Ich sehe dem also gelassen entgegen.

Der Standard, Sa., 2007.12.29



verknüpfte Akteure
Asymptote

15. Dezember 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Gletscher mit den Händen bauen

Es geht alles, wenn man nur daran glaubt. Mit diesem Glauben schlägt sich die britische Architektin Zaha Hadid seit Jahren durch die Männerdomäne. Jüngstes Beispiel: die Hungerburgbahn in Innsbruck. Ein Ausflug.

Es geht alles, wenn man nur daran glaubt. Mit diesem Glauben schlägt sich die britische Architektin Zaha Hadid seit Jahren durch die Männerdomäne. Jüngstes Beispiel: die Hungerburgbahn in Innsbruck. Ein Ausflug.

Gegner hat sie immer schon gehabt. Als die Feuerwehrstation in Weil am Rhein in ein Designmuseum umgewandelt wurde, lachte sich die Welt ins Fäustchen. Für die geplante Nutzung erwies sich das Gebäude als gänzlich untauglich. Die Kurvenradien waren zu schmal bemessen, in der Eile des brennenden Gefechts schafften es die Feuerwehrleute nicht, ohne zu reversieren aus dem Feuerwehrhaus herauszufahren. Doch Hadid weiß darauf zu antworten: „Die Feuerwehrstation ist später zum Vitra-Museum umgebaut worden, weil es viele neugierige Besucher gegeben hat, die von dieser Architektur angezogen wurden.“

Eines muss man der mächtigen Dame aus London lassen: Zaha Hadid ließ sich niemals unterkriegen. „Wenn ich mich je durch die internationale Meinung über meine Arbeit hätte beeinflussen lassen, hätte ich die Arbeit schon vor zwanzig Jahren hingeschmissen“, sagt sie heute, spielt mit ihrem wuchtigen Silberring, klackert mit den hochhackigen Stilettos am Boden, „wenn man Fantasie will, dann muss man sie auch ausreizen.“ Punktum.

Hadids jüngster Wurf ist die Hungerburgbahn in Innsbruck. Die Seilbahnstationen wirken wie Botschafter aus einer fernen Architekturzukunft. Als hätte man den Glasgebilden Leben eingehaucht, ruhen sie auf einem massiven Sockel aus Sichtbeton und sind im Begriff, jeden Moment ihre innewohnenden Kräfte zusammenzuballen und schwungvoll abzuheben. Warum die Glasdächer so sind, wie sie sind? „Wir haben uns bewusst für diese elastische Formensprache entschieden, damit wir uns den jeweiligen Bedingungen vor Ort besser anpassen können“, erklärt Thomas Vietzke, Projektleiter im Büro von Zaha Hadid, „schließlich darf man nicht außer Acht lassen, dass sich die Stationen gegen die unterschiedlichen städtebaulichen Einflüsse behaupten müssen.“

Fließende Eislandschaften

Die etwas leichtfüßigere Erklärung lieferte Hadid bei der Eröffnung vor zwei Wochen höchstpersönlich: „Die Architektur scheint zu fließen. Wir haben die Stahlkonstruktion unsichtbar belassen, damit der Eindruck einer fließenden Eis- und Gletscherlandschaft entsteht. Schließlich sind wir hier mitten in den Alpen.“ Das mit der Gletscherlandschaft sei selbstverständlich nicht buchstäblich gemeint, obwohl Architekten immer schon versucht hätten, die Natur zu imitieren. „In diesem Projekt war es jedoch technisch möglich. Wir sind der Form von fließendem Eis sehr nahe gekommen.“

Wiewohl, die smoothen Gletscher haben riesige Schrammen davongetragen. Das ist schade, denn gerade große High-End-Architektur wie diese braucht Fingerspitzengefühl und Raffinesse bis ins kleinste Detail. Im Fall der Hungerburgbahn hat Hadid jedoch einmal mehr bewiesen, dass ihre Architektur den Gesetzen des technisch Machbaren um Lichtjahre voraus ist. Mit offenen Mündern marschieren die wackeren Skifahrer, Snowboarder und wochenendfröhlichen Pensionisten durch die Stationen und recken den Kopf nach oben. „Isch guat, die Hadid.“ Aber da: ein ausgestreckter Zeigefinger mitten auf eine ordinäre Glasfuge, wo zwei Glasscheiben windschief aneinander vorbeisausen, anstatt bündig in einer Fläche zu liegen: „Isch nit guat.“

„Mit derartiger Architektur umzugehen, ist nicht leicht“, gesteht sich Christian Schleich ein. Er ist Projektleiter im Innsbrucker Planungsbüro Malojer, das die Generalplanung Hochbau innehatte und dafür sorgte, die kühnen Schwünge Hadids in die Realität zu übersetzen. Keine leichte Aufgabe. „Das Schwierigste war, dass wir in unserer Anbotsphase noch nicht wussten, dass wir mit Zaha Hadid zusammenarbeiten würden.“ Die Kosten von 35 Millionen Euro (Gesamtbetrag Hochbau, Tiefbau und Seilbahntechnik) mussten dennoch eingehalten werden - da wurde seitens der Auftraggeber Strabag, Stadt Innsbruck, Land Tirol und Tourismusverband Innsbruck-Igls freilich kein Auge zugedrückt.

Man musste tricksen. Die Produktion der 1200 Glasscheiben, die in Summe mit 2,18 Millionen Euro zu Buche schlägt, wurde aus finanziellen Gründen kurzerhand nach China ausgelagert. „Es blieb uns nichts anderes übrig, doch im Nachhinein stellte sich die Zusammenarbeit mit China als Problem heraus“, so Schleich, „die Qualität entspricht ganz einfach nicht unseren Vorgaben. Ein Drittel der Gläser wurde von uns bemängelt.“ Zu kurz, zu breit, zu flach, zu ungenau.

Montiert wurden die 300 bemängelten Scheiben dennoch. Schließlich musste man der Urheberin Zaha Hadid, die die neuen Stationen bei der Eröffnung zum ersten Mal gesehen hat, den rund 80 aus aller Welt angereisten Journalisten und den zigtausenden Besuchern ein hübsches Bild bieten. Ob, wie und wann die mangelhaften Glasscheiben im Laufe der kommenden Monate ausgetauscht werden, steht nach Auskunft des Büros Malojer noch offen.

„Wir haben gesehen, dass die Firmen und sogar einzelne Leute bei ihrer Arbeit an die Grenzen des Machbaren stoßen“, sagt Christian Schleich. Der Stand der Technik sei noch nicht so weit. „Aber scheinbar ist genau das ein Indiz für zeitgenössische und innovative Architektur. Andernfalls gäbe es keinen Fortschritt.“

Das ist ganz im Sinne Hadids: „Ich persönlich glaube sehr stark an Entwicklungen und Erfindungen“, erklärt die Architektin in einem Interview, „doch das größte Problem ist, dass die anderen nicht daran glauben. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass man Fantasie mit den eigenen Händen machen kann.“

Erstes PPP im Seilbahnbau

Und was sagt Hans Peter Haselsteiner, Mitinitiator des ersten Public Private Partnerships im Bereich Seilbahnbau? Immerhin hat der Strabag-Chef stolze 13,5 Millionen Euro in das Gesamtprojekt Hungerburgbahn und Nordkettenbahn investiert und wird nun für die Dauer von 30 Jahren die Einnahmen kassieren. „Es ist ein Projekt, von dem ich hoffe, dass es auch die kritischen Stimmen in Innsbruck überzeugen wird. Wer das erste Mal mit der Hungerburgbahn fährt, oben aussteigt und dann die skulpturale Architektur sieht, der muss - wenn er nicht blind ist oder ein Vorurteil hat - wohl anerkennen: Das ist etwas, worauf die Menschen in dieser Stadt stolz sein können.“

Fingerdickes Silikon in den Fugen, schiefe Gläser und eine verpatzter Auftrag nach China - das ist die eine Seite des Projekts. Doch der kritische Blick des Architekturkenners wird nicht von Dauer sein. Viel wichtiger ist, dass Innsbruck mit der Hungerburgbahn einen weiteren Schritt in Richtung Alpenmetropole gesetzt hat. Nach dem Rathaus (Dominique Perrault), dem in Bau befindlichen Kaufhaus Tyrol (David Chipperfield), der Sprungschanze am Bergisel (ebenfalls Zaha Hadid mit Malojer) und etlichen verheißungsvollen Projekten aus der Feder lokaler Architekten setzt Innsbruck einmal mehr auf die Architekturkarte.

Der Standard, Sa., 2007.12.15



verknüpfte Bauwerke
Hungerburgbahn-Stationen

15. Dezember 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Die grüne Alternative

Architekten haben große Furcht vor Farbe. Man kann von Glück sprechen, wenn man ein Haus findet, das abseits von Schwarz, Grau und Weiß angesiedelt ist. Das Vorarlberger Büro Hein Troy hat tief in den Bottich gegriffen - und ein knallgrünes Haus herausgezogen.

Architekten haben große Furcht vor Farbe. Man kann von Glück sprechen, wenn man ein Haus findet, das abseits von Schwarz, Grau und Weiß angesiedelt ist. Das Vorarlberger Büro Hein Troy hat tief in den Bottich gegriffen - und ein knallgrünes Haus herausgezogen.

Das Farbspektrum eines Architekten ist rasch geklärt. Dunkelgrau und Schwarz auf der einen Seite, Hellgrau und Weiß auf der anderen. Die Welt dazwischen ist mausgrau. Den beiden Herren Juri Troy und Matthias Hein ging das ewige Grau auf die Nerven. Prompt stellten sie ihren beiden Bauherren Mathias und Susanne ein pistaziengrünes Einfamilienhaus aufs Grundstück.

Zugegeben, mit der umliegenden Wiese beißt sich das Grün ein wenig, von den eher konservativen Farbvorstellungen der Vorarlberger gar nicht erst zu sprechen. Aber wen kratzt das schon? „Es war eine intuitive Entscheidung, völlig aus dem Bauch heraus“, sagen die beiden Architekten, „mittlerweile können wir uns von dieser Farbe kaum mehr trennen.“ Beeindruckt zeigen sich auch die Wandersleute. Bisweilen komme es vor, dass sie sich in Scharen ans Haus heranpirschen und dann völlig fassungslos vor der Fassade stehenbleiben. Mit sanften Zügen streichen sie über den rauen Putz, läuten an und erkundigen sich nach der exakten Farbbezeichnung.

Den Bauherren Mathias und Susanne war die Farbentscheidung im Rückblick betrachtet nur recht: „Viele haben schon ganz klare Vorstellungen vom Haus, noch ehe der erste Strich gezeichnet ist. Wir wussten nicht einmal, in welcher Farbe wir uns unser neues Haus vorstellen sollen.“

Innen Holz und Beton

Nur an den Innenraum hatte man schon klare Anforderungen. Sämtliche Wände sind aus Sichtbeton. Grob, rau und unbehandelt. Die beiden Bauherren: „Wir hatten beide etwas für Beton übrig. Dass wir das Material im Haus verwenden wollen, war eigentlich von Anfang an beschlossene Sache.“ Der Appell an die Ehrlichkeit des Materials richtete sich auch an den Boden: Zu Füßen liegt ein sägerauer Schiffboden aus Weißtanne, der mittels Fußbodenheizung für Behaglichkeit sorgt.

Dunkle Höhle, möchte man meinen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wohnräume sind unterschiedlich hoch und sind je nach Himmelsrichtung und Funktion wild ineinander geschachtelt. Hier ein flüchtiger Durchblick, dort eine voyeuristische Luke. Frei nach Le Corbusiers Modulor messen manche Räume kaum 2,30 Meter, während die großen Aufenthaltsbereiche bis zu 3,50 Meter Raumhöhe erlangen.

Auffällig ist, dass das Haus durch und durch kompakt angelegt ist. Die Wohnnutzfläche beträgt - das Haus liegt im Rahmen der Wohnförderung - gerade mal 135 Quadratmeter. Nirgends gibt es einen riesigen Salon, nirgends kann man beschleunigen, ohne sich spätestens nach ein paar Metern wieder einbremsen zu müssen. Beengtheit kommt dennoch nirgendwo auf. „Wir haben viele unterschiedliche Wohnbereiche mit ebenso unterschiedlichen Stimmungen geschaffen“, sagen Hein und Troy, „es gibt mehrere Zonen, die für die Erwachsenen und für die Kinder je nach Lust und Laune als Wohnzimmer dienen können.“

Die Bauherren seien verspielt und fröhlich. Was liegt daher näher, als ihnen aus diesem Grund einen Abenteuerspielplatz mit vielen Nischen zu bieten? Das stillste Eck des Hauses schließlich liegt ganz oben. Hier verbringt man ruhige Stunden in der Familie, sieht fern oder liest ein Buch. Die grüne Alternative: Man geht hinaus auf die Terrasse, blickt auf die Hausfassade und gibt sich der Freude hin, dass das Wohnen nicht grau in grau geworden ist.

Der Standard, Sa., 2007.12.15



verknüpfte Bauwerke
Grünes Haus

12. Dezember 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Woanders ist der Himmel blauer

Die Wiener Architekten Coop Himmelb(l)au feiern ihr 40-jähriges Bestehen. Während die einstigen Enfants terribles im Ausland ein Projekt nach dem anderen hochziehen, ehrt man sie hierzulande mit einer umfassenden Werkschau im Gemäuer des MAK.

Die Wiener Architekten Coop Himmelb(l)au feiern ihr 40-jähriges Bestehen. Während die einstigen Enfants terribles im Ausland ein Projekt nach dem anderen hochziehen, ehrt man sie hierzulande mit einer umfassenden Werkschau im Gemäuer des MAK.

Wolf Prix hat einen Lieblingssatz. Mit Anzug und ausnahmsweise ohne Zigarre wandelt der Protagonist des Architekturbüros Coop Himmelb(l)au durch die Ausstellungshalle im MAK und erklärt den Journalisten: „Himmelblau ist keine Farbe, sondern die Idee, Architektur mit Fantasie leicht und veränderbar wie Wolken zu machen.“ Fest entschlossen und wild um sich schlagend entfleuchte ihm der Satz schon im Jahre 1968. Vierzig Jahre später hat die Firmenphilosophie nichts an Aktualität eingebüßt - und wird immer noch gerne zu Protokoll gegeben.

Aus Anlass von vier Jahrzehnte lang andauernder architektonischer Sturheit zeigt das Museum für Angewandte Kunst ab heute, Mittwoch, die bislang umfangreichste Werkschau von Coop Himmelb(l)au. Unter dem Titel Beyond the Blue werden rund 80 Projekte gezeigt: angedachte, durchgeplante, abgeblasene und realisierte. Was verbirgt sich hinter dem titelgebenden, ominösen Blau? „Man muss nicht alles zerreden“, sagt Prix, „das ist ein Wortspiel mit dem Überdrüber-Blau, wo das Himmelblau zum tatsächlichen Himmelbau wird.“

Wildheit ist gewichen

Zu den ersten Projekten, als Prix und sein damaliger Partner Helmut Swiczinsky gerade mal 25 Lenze hinter sich hatten, zählen visionäre Entwürfe und temporäre Rauminstallationen wie The Cloud (1968), Inflatable Suit (1969) oder etwa City Soccer Wien (1971). In aufblasbaren Plastikzellen marschierten die einstigen Enfants terribles durch die Fußgängerzonen, animierten die Passanten zum Fußballspiel mit überdimensionalen Fußbällen, fackelten selbst gebaute Skulpturen ab, träumten vom Weltall, von Schwerelosigkeit, von fernen Zukunftstagen.

Was ist aus den wilden Kerlen geworden? „In den Sechzigerjahren waren wir junge Männer. Jetzt bin ich 65. Forever young spielt's in Wirklichkeit nicht. Die äußere Wildheit ist daher schon lange nicht mehr da. Geblieben ist dafür die Freiheit im Denken und im Durchsetzen von außergewöhnlichen Bauten.“

Vor kurzem fertiggestellt wurde die BMW-Welt in München. Die gigantische Vermarktungsmaschine, in der fröhliche und erwartungsvolle BMW-Kunden ihr neu erstandenes Gefährt abholen können, ist der bisher größte realisierte Bau in der Geschichte von Coop Himmelb(l)au. Doch die richtig großen Knüller kommen erst: In Lyon baut man bereits emsig am Musée des Confluences (Fertigstellung 2008), bis die Europäische Zentralbank indes ihr neues Hauptquartier - einen Doppelturm mit 47 Geschoßen - besiedeln kann, muss sie sich noch bis 2011 gedulden.

Vereiste Zustände

Coop Himmelb(l)au baut überall, nur nicht in Österreich. Warum? „Österreich ist mutlos und feig, was das Zulassen und Fördern von Spitzenleistungen betrifft“, erklärt Wolf Prix, „daher bauen wir in diesem Land so gut wie nichts.“ In der Tat: Der große Wurf im Heimatland blieb den Coops bis jetzt verwehrt, stattdessen gibt's den Trostpreis: Auszeichnungen und Anerkennungen zuhauf. „Die Wahrheit ist: Man hat Angst vor Veränderung. Das kann ich in Österreich einfach nicht leiden. Denn Angst vereist bestehende Zustände.“

Wenn schon nicht in der Architektur, dann eben in der Kunst. Im bergenden Umfeld des Museums für Angewandte Kunst fahren die Coops mit allen Geschützen auf und schaffen sich das Fundament, das ihnen hierzulande nie vergönnt wurde: eine Bühne. Auf einem überdimensionalen Podest werden 170 Architekturmodelle aus 40 Jahren zur Schau gestellt.

Vom hässlichen Arbeitsmodell aus Pappe bis hin zum fast vier Meter hohen Wolkenkratzer sind Kaliber jeder erdenklichen Größe zu finden. Da verliert man leicht den Überblick. Damit das nicht passiert, wurde für die Ausstellungsbesucher eigens eine Zuschauertribüne gefertigt. Hochklettern, Platz nehmen, hinabsehen auf das Geschehen Himmelblau.

Die gläserne Bühne, erraten, ist in blaues Licht getaucht. Die schummrige Farbe umhüllt die Architekturmodelle und verwandelt sie in silhouettenhafte Skulpturen. Im Hintergrund laufen Videoinstallationen und Interviews mit Wolf Prix. Wie ein Klangteppich breitet sich seine Stimme im ganzen Raum aus. Irgendwann im Laufe des 15-minütigen Films fällt der alles entscheidende Satz, unbeirrbar wird daran festgehalten: „Himmelblau ist keine Farbe, sondern die Idee, Architektur mit Fantasie leicht und veränderbar wie Wolken zu machen.“ Irgendwie traurig angesichts der Hassliebe, die Prix mit Österreich verbindet.

Die Ausstellung Beyond the Blue ist ein Ausflug ins wundersame Aufbrechen von Gesetzmäßigkeiten. Nach jahrzehntelanger Knochenarbeit trägt der Glaube an die Idee Himmelblau endlich Früchte. Gratulation. Im Ausland sind die wilden Keime der 68er-Generation zu prallen Äpfeln herangereift. Hierzulande hat es gerade gereicht, das Fallobst auf einer gläsernen Bühne im Museum zu drapieren

Der Standard, Mi., 2007.12.12

24. November 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Die Stadt im Abverkauf

São Paulo ist im Biennale-Fieber. Was es auf der größten Nabelschau Südamerikas heuer zu sehen gibt und wie sich die brasilianische Metropole neuerdings gewandelt hat, erzählt Österreich-Kommissärin Lilli Hollein.

São Paulo ist im Biennale-Fieber. Was es auf der größten Nabelschau Südamerikas heuer zu sehen gibt und wie sich die brasilianische Metropole neuerdings gewandelt hat, erzählt Österreich-Kommissärin Lilli Hollein.

der Standard: Der erste Eindruck von der 7. Architekturbiennale?

Hollein: Das Thema der heurigen Biennale lautet „Architecture - The Public and the Private“. Und damit wird ein Trend der letzten Jahre aufgegriffen, nämlich die Frage nach dem öffentlichen und privaten Raum bzw. die Aneignung der Öffentlichkeit. São Paulo ist für mich die ideale Plattform, um dort mit jungen Architektinnen und Architekten und deren konzeptionellen Projekten aufzutreten. Deutschland hingegen kommt mit einer riesigen, zu einem Teppich gewobenen schwarz-rot-goldenen Flagge daher, auf der Attribute wie etwa Disziplin, Ordnungssinn und Pünktlichkeit draufstehen. Nachdem Humor ja nicht gerade zu den augenscheinlichsten deutschen Attributen zählt, könnte man das deutsche Projekt auch als Hardcore-Verkaufsstrategie auffassen.

Kann man auf der Biennale einige architektonische Trends ausmachen?

Hollein: Die einzelnen Länderbeiträge sind völlig unterschiedlich. In erster Linie handelt es sich dabei in gewisser Weise um eine Leistungsschau der einzelnen Architekturnationen. Einen wirklichen roten Faden gibt es nicht. Interessant habe ich aber gefunden, dass sich Südafrika und Österreich offensichtlich die selben Fragen stellen.

Die wären?

Hollein: Wie wird der öffentliche Raum in Besitz genommen? Wie wird der öffentliche Raum reglementiert? Wer macht die Regeln? Und vor allem: Warum nimmt man sich so selten das Recht, etwas einzufordern und gewisse Regeln auch einmal zu brechen?

Als österreichische Kommissärin haben Sie ein junges Büro in den Ring geschickt.

Hollein: Ich finde es bemerkenswert, dass Österreich so eine junge und innovative Architekturszene hat und dass sich die Öffentlichkeit auch voll und ganz zu dieser jungen Generation bekennt. Das ist ein öffentliches und politisches Statement. Meines Erachtens gibt es unter den jungen Architekten in Österreich niemanden anderen, der sich mit dem Thema „Öffentlicher Raum“ auf eine so herausragende Weise befasst wie das Büro feld72. Die Arbeiten sind zum einen performativ und experimentell, zum anderen deckt feld72 aber auch die klassischen Architekturaufgaben und Wettbewerbs-Beteiligungen ab.

Der Beitrag von feld72 lautet „Urbanism for Sale“. Findet jetzt der Ausverkauf der Städte statt?

Hollein: Wenn man einen Blick nach Brasilien, nach Indien oder etwa nach China wirft, dann ist klar: Ja, die Städte werden ausverkauft. In São Paulo werden die Favelas schon bald wertvoller Grund sein. Die Investoren werden alles Mögliche daran setzen, um die Liegenschaften innerhalb der Stadt zu verwerten und teuer weiterzuverkaufen. Das Gleiche passiert in Mumbai, das gleiche passiert in Peking. Wo gestern noch traditionelle Hutongs waren, steht heute ein Hochhaus von Baumschlager Eberle. Im Eiltempo wechselt der Raum hier nicht nur die Besitzer, sondern auch seine Wertigkeit oder - um es noch unmissverständlicher zu sagen - seinen Marktwert. Viele Leute bleiben dabei auf der Strecke.

Also ein schlechtes Attest für den Städtebau?

Hollein: Aus meiner Sicht als Kuratorin stelle ich fest, das der Wandel der Städte in einem rasanten Tempo stattfindet. An vielen Orten dieser Welt wird es dadurch irgendwann zu einem kulturellen Stillstand kommen. Städte sind etwas Organisches, sie sind in ihrem Wachsen a priori etwas Langsames. Dieser Zellhaufen braucht Zeit, um sich zu entwickeln und zu gedeihen. Aber nachdem ich keine fatalistische Weltuntergangsanhängerin bin, glaube ich, dass sich vieles wieder fügen wird. Man muss aber die Investoren und Politiker an ihrem sozialen Gewissen packen - Architektur hat die Mittel dazu.

Der Beitrag „Urbanism for Sale“ von feld72 kommt gerade recht. Vor einiger Zeit hat Gilberto Kassab, Bürgermeister von São Paulo, ein Werbeverbot über die gesamte Stadt verhängt.

Hollein: Ja, das ist ein ungewöhnlicher Schritt gewesen. Plötzlich gibt es in der 20-Millionen-Metropole einen Bürgermeister, der davon überzeugt ist, dass Werbung im öffentlichen Raum eine visuelle Umweltverschmutzung ist. Mit dem Wegfall der gesamten Werbeflächen, wie dies im letzten Jahr der Fall gewesen ist, wird eine riesige Sehnsuchtsmaschinerie gestoppt. Erstmals ist São Paulo in der einzigartigen Situation, dass die materiellen Begehrlichkeiten nicht mehr überlebensgroß über den Köpfen der Brasilianer hängen. Ein derartiges Werbeverbot hat natürlich immense soziale und ökonomische Konsequenzen. Ich frage mich, ob ein derart boomender Standort wie São Paulo so eine Maßnahme verträgt oder ob man da nicht auch einen Schuss nach hinten abfeuert. Eines ist klar: Man hat ein Instrument aus der Hand gegeben, das für Reichtum und Wohlstand steht.

Ist São Paulo nun eine Geisterstadt?

Hollein: Am augenscheinlichsten ist der Wegfall der Werbung für mich vor allem in der Nacht. Sie stehen im 30. Stock eines Hochhauses und schauen in die Nacht hinaus. Das Einzige, das blinkt, sind die Hubschrauber-Warnlichter an den Spitzen der Antennenmaste. Und dann gibt es noch eine riesige Datums- und Temperatur-Anzeige, die über der ganzen Stadt thront und von überall sichtbar ist. Stellen Sie sich den Times Square ohne Licht vor, stellen Sie sich Tokyo ohne Glitzerwerbung vor! Das wirkt zwar beim ersten Hinhören wahnsinnig erschreckend, ist es aber nicht. São Paulo hat von seiner Lebendigkeit nichts verloren. Die Stadt strotzt immer noch vor Energie. Aber sie glitzert nicht.

Findet sich der Kapitalist in dieser Welt zurecht?

Hollein: Das Viertel, in dem ich gewohnt habe, ist übersät von Schönheitskliniken, von plastischen Chirurgen und von Laser-Depilations-Praxen. Aber nirgendwo in der Stadt gibt es Plakate, die den Konsumenten mitteilen, wie das Schönheitsideal aussieht, auf das da hinoperiert werden soll. Diese Abbildungen fehlen einem merklich - vor allem, wenn man aus Wien kommt, wo es bekanntlich die höchste Dichte an Plakatwänden gibt.

Der Ausverkauf der Werbung sozusagen?

Hollein: Die Brasilianer sind ja nicht unkreativ! Nachdem die Werbung nicht mehr auf den Gebäuden stattfindet, wandern die Werbebotschaften nun auf die Körper der Menschen. Burschen und Mädels gehen als Sandwich-Plakatträger auf dem Gehsteig spazieren. Oder sie stehen am Straßenrand und winken ohne Unterlass mit großformatigen Werbeflaggen, um Sie ins gewünschte Geschäft zu lotsen. Ein Einkaufssamstag in São Paulo hat neuerdings etwas zutiefst Archaisches.

Die 7. Architekturbiennale in São Paulo läuft noch bis 16. Dezember 2007.

Der Standard, Sa., 2007.11.24

24. November 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Puppenfetisch made in Austria

Das Wiener Büro feld72 ist bekannt für große Überraschungen. Statt einer klassischen Architekturausstellung präsentiert sich Österreich mit 77 Schaufensterpuppen,...

Das Wiener Büro feld72 ist bekannt für große Überraschungen. Statt einer klassischen Architekturausstellung präsentiert sich Österreich mit 77 Schaufensterpuppen,...

Das Wiener Büro feld72 ist bekannt für große Überraschungen. Statt einer klassischen Architekturausstellung präsentiert sich Österreich mit 77 Schaufensterpuppen, die im Saal herumtänzeln und die Besucher dazu animieren, ihnen mal gehörig auf die Brust zu sehen. Ein Schelm, wer jetzt Böses denkt, denn über die durchwegs bedruckten T-Shirts wird, jawohl, Architektur kommuniziert. „T-Shirts sind ein Fetischprodukt unserer Zeit und es gibt wohl kein anderes Bekleidungsstück, das derart viel Persönlichkeit, Markenbewusstsein und Botschaften transportiert“, sagt Anne Catherine Fleith von feld72, „wir wollten dieses Textil bewusst als Trägermedium un- serer Ausstellung verwenden.“

Die Puppen dienen einem guten inhaltlichen Zweck. Die künstlichen Menschen, Inbegriff des Modekonsums, zeigen auf, wie der öffentliche Raum kommerzialisiert und vermarktet wird. „Natürlich ist das Ausstellungskonzept subversiv“, so Fleith, doch offenbar hätten die Leute die Idee verstanden. „Vielleicht findet sich ja der eine oder andere Ausstellungsbesucher in einer dieser Puppen wieder.“

Essenzieller Bestandteil der Ausstellung „urbanism for sale“ sind 20.000 magentafarbene Aufkleber, die während der Biennale verteilt werden. Die Besucher sind dazu aufgerufen, die Sticker in der ganzen Stadt zu posten und auf diese Weise öffentlichen Raum einzunehmen. Fleith. „Hier geht es nicht nur um Architektur, hier geht es auch um Performance.“ Und das mögen die Menschen. Schnappschüsse als Beweisstück der öffentlichen Reviersmarkierung bitte an www.flickr.com.

Der Standard, Sa., 2007.11.24

10. November 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Der dritte Lehrer ist der Raum

Gestern, Freitag, wurde der Österreichische Bauherrenpreis 2007 vergeben. Einer von insgesamt sechs Preisträgern ist die Sonderschule in Schwechat.

Gestern, Freitag, wurde der Österreichische Bauherrenpreis 2007 vergeben. Einer von insgesamt sechs Preisträgern ist die Sonderschule in Schwechat.

Christoph blättert in seinem neuen Ratatouille-Buch, das zum gleichnamigen Disney-Film erschienen ist. Er ist völlig vertieft in die Materie der gezeichneten Nagetiere und hat der Lektüre selbst schon ein paar Ecken abgebissen. Plötzlich steht die Schuldirektorin in der Tür. Christoph schnellt empor, läuft zu ihr hin und umarmt sie. Minnea sitzt in der Zwischenzeit im Wintergarten und malt mit ihren Händen Schattenbilder an die Wand. Und Hanna muss weinen, wenn nach neun Schulstunden der Unterricht zu Ende ist und der Heimweg bevorsteht.

Eine Schule wie im Schlaraffenland - ja, gibt's denn das? „Jeden Abend haben wir mit einigen Kindern zu kämpfen, denen es in der Schule so gut gefällt, dass sie gar nicht nach Hause gehen möchten“, sagt Ingeborg Schramm, Direktorin der Sonderschule Schwechat, „einige Kinder fragen mich täglich, ob sie auch am Wochenende zur Schule gehen dürfen.“ Die Sonderschule Schwechat ist in jeder Hinsicht ein Sonderfall. Sie beherbergt Schüler und Schülerinnen, die einer speziellen Form der Betreuung bedürfen. Viele Kinder sind verhaltensauffällig, manche haben das Down-Syndrom, andere sind von Geburt an geistig, körperlich und mehrfach behindert.

„Es sind 81 Schüler mit 81 Lernzielen“, sagt die Direktorin und verweist auf die vor einem Jahr eröffnete Schule, die all diesen Anforderungen scheinbar mühelos gerecht wird. Es gibt enorme Gangflächen zum Herumtoben, Wintergärten zum Entspannen, Nischen zum Alleinsein. Es gibt einen Turnsaal, der sich im Sommer zum Garten hin öffnen lässt und dann für große Schulaufführungen genutzt werden kann, und es gibt ein eigenes Therapiebecken, in dem man die ganz normalen Schulsorgen einmal am Tag im buchstäblichen Wasser ertränken kann. Schramm: „Der Swimmingpool ist unser absoluter Hit!“

Dass all diese Anforderungen in ein intelligentes Korsett namens Schulgebäude geschnürt werden konnten, ist das Verdienst der Wiener Architekten fasch&fuchs. Doch ihre ganze Planungs- und Überzeugungsarbeit wäre mit einem Schlag zunichte, stünde hinter dem Projekt nicht eine ebenso ambitionierte Gemeinde, die dieses umfangreiche Raumprogramm gewünscht, beschlossen und schließlich auch finanziert hat. So erklärt sich auch der kürzlich gefällte Beschluss der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs: Die Sonderschule in Schwechat ist eines von insgesamt sechs Projekten, die heuer mit dem Bauherrenpreis 2007 ausgezeichnet wurden. Die Preisverleihung fand gestern, Freitag, statt.

„Es freut mich sehr, dass einer der Bauherrenpreise an uns gegangen ist“, erklärt Schramm, „wenn ich ehrlich sein muss, ist das der perfekte Abschluss eines guten Projekts.“ Die Zusammenarbeit zwischen der Sonderschulgemeinde Schwechat, der Schulleitung und den Architekten Hemma Fasch und Jakob Fuchs sei ausgezeichnet und vorbildlich gewesen. „Ich habe schon so oft gehört, dass Architekten im Umgang schwierig sind - und von Behörden weiß man das ja auch. Aber stattdessen hat sich hier eine allseits befruchtende Partnerschaft ergeben.“

Lernen im modernen Umfeld

Die Schule ist das, was man auf den ersten Blick als kühlen Stahl-Glas-Bau abqualifizieren würde. Und das für eine Sonderschule, die armen Kinder! Das Gegenteil ist der Fall. Das Gebäude bietet Offenheit und Freiheit, die den Kindern nach vielen Jahren des dunklen Lernens im alten und schäbigen Schulhaus sichtlich entgegenkommt. Ein Toben und ein Laufen, ein Innehalten und ein Lachen. Ein Kind habe drei Lehrer, sagt der deutsche Pädagoge Otto Seydel, „der erste Lehrer sind die anderen Kinder, der zweite Lehrer ist der Lehrer, der dritte Lehrer ist der Raum.“ Erst wenn all diese Lehrer an einem Strang ziehen, kann schönes und erfolgreiches Lernen gedeihen. Die Architektur leistet ihren Part.

„Den meisten Schulen fehlen Räume zum Wohnen“, sagt Hemma Fasch, „wir wollten einen schnellen Wechsel zwischen Lern- und Wohnatmosphäre, damit sich die Kinder gleich zurückziehen können, wenn sie überfordert sind.“ Möglichkeiten gibt es genug: In jeder Klasse gibt es einen so genannten Time-out-Raum, in dem man sich mal ordentlich austoben und gegen schaumstoffverkleidete Wände treten kann, wenn einem gerade danach ist. Doch des Kindes liebster Punkt ist der so genannte Snoezelen-Raum. Snoezelen ist ein ursprünglich niederländisches Kunstwort und bezeichnet ein spezielles Freizeitangebot für behinderte Menschen: Ein zehn Quadratmeter großer Raum ist mit Wasserbett, Kuschelhöhle, Discokugel, schummrigem Licht und Beschallungsanlage ausgestattet. Wer einmal genug von der Welt hat, kann sich hierher zurückziehen und im Taumel von Licht und Musik wieder zur Ruhe finden.

„Früher war Sonderschule ein Unwort. Die eigene Tochter oder den eigenen Sohn in die Obhut einer Sonderschule zu geben, war für Eltern die letzte aller Möglichkeiten“, sagt Schuldirektorin Ingeborg Schramm, „das hat sich nun geändert. Manche Eltern entscheiden sich bewusst für unsere Sonderschule, weil ihnen die Atmosphäre bei uns zusagt.“ Natürlich liege es nicht in erster Linie an der Architektur, dass in der Schule so eine entspannte Stimmung herrscht: „Es sind in erster Linie die Lehrerinnen und Lehrer, die dazu beitragen“, erklärt Architekt Jakob Fuchs, „aber zu einem kleinen Teil macht es auch uns glücklich, dass die Schule so gut angenommen wird. Man kann guten Gewissens sagen: Diese Schule animiert zum Wohnen. Was Besseres kann man sich als Architekt nicht wünschen.“

Detail am Rande: Lernen muss keinem starren Schulsystem folgen. Da die Kinder oft länger in der Schule bleiben als sie müssten, wollten sie die Pflege und Instandhaltung des Gebäudes gleich selbst in die Hand nehmen. Die Schuldirektorin hat darauf reagiert und drei neue Schulfächer namens Landschaftspflege, Gebäudereinigung und Küchendienst eingeführt. Statt Vandalismus gibt es heute sittsam gestutzte Bäumchen, Salatköpfe im Garten und blitzblank polierte Fensterscheiben. Die Errichtungskosten der Sonderschule Schwechat belaufen sich auf 7,7 Millionen Euro.

Der Standard, Sa., 2007.11.10



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2007

03. November 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Gestern war die Zukunft noch modern

In den Sechziger- und Siebzigerjahren stand die Architektur der Slowakei in ihrer Blüte. Heute sind die einstigen Prachtbauten vom Verfall bedroht. Aus gegebenem Anlass: ein Ausflug nach Bratislava.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren stand die Architektur der Slowakei in ihrer Blüte. Heute sind die einstigen Prachtbauten vom Verfall bedroht. Aus gegebenem Anlass: ein Ausflug nach Bratislava.

Wer von der Slowakei spricht, der denkt vielleicht an die Hohe Tatra, an geräucherten Käse und an hölzerne Kochlöffel mit mühselig eingeschnitztem Ornament im Stiel. Kaum jemand wagt auch nur einen Gedanken an Architektur und außergewöhnliches Design, schon gar nicht, wenn es um die Sechziger- und Siebzigerjahre geht. „Im Bewusstsein der westlichen Welt hat die Slowakei bis heute keine Konturen“, sagen die beiden Architekten Benjamin Konrad und Maik Novotny, „Bratislava ist eine der jüngsten Hauptstädte Europas, doch nur die wenigsten haben ernsthaft ein Bild davon.“

Gemeinsam mit der Fotografin Hertha Hurnaus reisten die beiden Architekten jahrelang durch die entferntesten Winkel der Slowakei und zoomten in Vergessenheit geratene Bauwerke heran, die dereinst in der stolzen Blüte des Sozialismus entstanden waren: Kurhotels, Fernsehtürme, Skisprungschanzen, Krematorien und Schulen. Auch in der Hauptstadt Bratislava fand sich eine Handvoll bedeutender Baudenkmäler aus den Sechzigern und Siebzigern. Zu den dokumentierten Bauten zählen die Neue Brücke über die Donau (1968-1973), die auf dem Kopf stehende Pyramide des Slowakischen Rundfunks (1962-1985), die oft verteufelte Nationalgalerie von Vladimír Dedecek (1967-1979) sowie das 20-stöckige Hotel Kyjev, das wie ein steinerner Koloss hinter der pittoresken Altstadt in den Himmel ragt (1961-1973).

Wie Grüße aus einer nie eingetretenen Zukunft stehen die baulichen Artefakte in der Stadt herum und verstören die Gemüter bis heute. Die einen finden sie hässlich, die anderen sind von der slowakischen Moderne schlichtweg fasziniert. Aus dieser Spannung ergibt sich, dass viele dieser Bauten heute wie vergessene Kulissen aus einem Science-Fiction-Film wirken, abgenutzt und ausgestorben, geisterhaft und menschenleer. „Die slowakische Architektur dieser Zeit ist einzigartig, ja beinahe absurd“, erklärt das fanatische Trio, das seit 2004 unter dem Vereinstitel Ostmoderne firmiert, „für uns war Bratislava eine Goldgrube an Baudenkmälern, die es in dieser Art in Österreich nicht gibt. In einem demokratischen System sind derartige langfristige, aufwändige und zum Teil irrationale Planungen kaum möglich.“

Das gehört gewürdigt. Nach langer Zeit der minutiösen und intensiven Recherche schnürten die drei Ostmodernisten ihre unbändigbare Euphorie in ein Buch, das dieser Tage im Springer Verlag erschienen ist. Der prächtige Bildband gibt Einblick in die heldenhafte Baumeisterkunst der Slowakei, in gestrige (aber nicht immer überholte) Visionen von morgen, schließlich auch in die politischen Umstände des Sozialismus nach 1960. „Wenn man mit den Hintergründen der damaligen Zeit nicht vertraut ist“, sagt Maik Novotny, „dann kann man nicht nachvollziehen, wie diese Gebäude überhaupt entstehen konnten.“ Tatsache ist, dass die Stadtregierung von Bratislava davon geträumt hatte, quer durch die ganze Stadt eine repräsentative Straßenachse zu legen. Gemäß den Ansätzen der Moderne sollten in der untersten Ebene die Autos fahren, während im ersten Stock die Fußgänger über Galerien und Brücken von einem Gebäude zum anderen gelangen sollten. Einzelne Projekte wurden realisiert, die Achse selbst blieb jedoch eine Vision auf dem Papier.

Verkannte Ostmoderne

In der antrainierten Abneigung gegen alles, was der sozialistischen Ära entsprungen war, sind sich die Slowaken bisweilen nicht dessen gewahr, welche kulturellen Werte in diesen Bauwerken schlummern. „Manche Leute verstehen die Architektur dieser Zeit ausschließlich als Produkte des kommunistischen Regimes“, sagt Henrieta Moravcíková, Architekturhistorikerin und Slowakei-Vorsitzende des internationalen Erhaltungskomitees docomomo, „emotionell hängen viele Slowaken an diesen repräsentativen Gebäuden, weil dort jeder schon einmal Studentenfeste, Hochzeiten oder Banketts gefeiert hat, aber in rationeller Hinsicht werden diese Gebäude abgelehnt - sie sind zu abstrakt und zu monumental.“

Die Original-Einrichtung des Panoramarestaurants auf der Neuen Brücke etwa wurde in einer Nacht- und Nebelaktion entfernt und gegen billiges und geschmackloses Allerweltsmobiliar ausgetauscht. Von manchen Gebäuden lösen sich die Fassadenplatten, Feuchtigkeit dringt ein, Fenster sind zersprungen, die Tore für immer verschlossen. In diesem Sinne kommt das Buch von Hertha Hurnaus, Benjamin Konrad und Maik Novotny gerade recht. Denn dem größten Hotel des Landes droht das Aus. „Wir wissen nicht, wie es weiter geht“, sagt Oleg Kuchar, Direktor des Hotel Kyjev, „wir werden den Hotelbetrieb aufrechterhalten, solange es geht - und eines Tages wird die Abrissbirne anrollen.“

Verantwortlich dafür ist das tschechische Development-Unternehmen Lordship Estates. Schon vor Jahren hatte man es auf das Areal des Kyjev-Hotels und des benachbarten Tesco-Kaufhauses abgesehen. Wenn alles nach Plan geht, soll nächstes Jahr die gesamte Parzelle dem Erdboden gleichgemacht werden. An ihre Stelle tritt ein 30.000-Quadratmeter-Projekt mitsamt Büros, Einkaufszentrum und Multiplex-Kino. „Der Entwurf für die neue Centre Plaza ist im Grunde schon fertig“, erklärt Juraj Malý, zuständiger Projektmanager bei Lordship auf Anfrage des Standard, „nähere Informationen wollen wir vorerst jedoch nicht aus der Hand geben. Im Augenblick laufen die Verhandlungen mit der Stadt.“ Zwar hatte die Stadtregierung für das 200 Millionen Euro teure Projekt ein Wettbewerbsverfahren eingefordert, doch wie es scheint, haben sich die Dinge in der Zwischenzeit anders entwickelt.

Und was sagt Architekt Ivan Matusík? Mit nur 30 Jahren hatte der Jungspund einst den Wettbewerb für das Hotel Kyjev gewonnen. „Ich habe mich schon einmal für die Erhaltung eines meiner Bauwerke eingesetzt. In den Neunziger Jahren habe ich einen Protestbrief gegen den Umbau des Kaufhauses geschrieben. Ich wurde angezeigt und musste vor Gericht. Es hieß, ich würde den neuen Besitzer in seinen Eigentumsrechten behindern.“ Autorenrecht zähle in der Slowakei eben nicht viel, schon gar nicht, was die Gebäude der späten Ostmoderne betrifft. Sich mit dem Grundstückseigentümer des Hotel Kyjev anzulegen, hätte wohl wenig Sinn. Der gesamte Komplex ist mittlerweile in Besitz des Investors.

„Was die Zukunft des Hotel Kyjev betrifft, bin ich mittlerweile sehr skeptisch“, sagt Henrieta Moravcíková, „wie immer werden die ökonomischen Aspekte überwiegen, und wir haben nicht genug Kraft, um diese Entwicklung zu stoppen.“ Die Tage des großen Hotel Kyjev sind gezählt. Staatsbonzen mit Hornbrille und Geschäftsleute aus dem Westen stiegen hier einst ab. Im Konferenzsaal wurden Besprechungen abgehalten, in der roten Bar trank man dann Vodka-Drinks und hörte schummrige Musik. In den Räumlichkeiten des Hotel Kyjev kann man sich von dieser eigenartigen Zeit noch ein Bild machen. Bald nur noch im Buch.

Hertha Hurnaus, Benjamin Konrad, Maik Novotny: Eastmodern. Architecture and Design of the1960s and 1970s in Slovakia, in englischer Sprache, 220 Seiten, 200 Farbfotos, Springer-Verlag, € 38,45.

Am Mittwoch, den 14. November, wird im Architekturzentrum Wien das Buch präsentiert. Im Anschluss gibt es eine Podiumsdiskussion mit Henrieta Moravcíková, Georg Schöllhammer, Jan Tabor und Adolph Stiller. Moderation: Monika Platzer. 19 Uhr.

Der Standard, Sa., 2007.11.03

13. Oktober 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Mit Vollgas in den Zukunftsrausch

Was wären die großen Automarken ohne die großen Architekten? Kommenden Mittwoch eröffnet in München die BMW-Welt von Coop Himmelb(l)au. Wojciech Czaja leitet den Trommelwirbel ein.

Was wären die großen Automarken ohne die großen Architekten? Kommenden Mittwoch eröffnet in München die BMW-Welt von Coop Himmelb(l)au. Wojciech Czaja leitet den Trommelwirbel ein.

Wenn es um Autos geht, dann verstehen die Deutschen keinen Spaß. Weh dem, der glaubt, das Auto sei nur ein Gefährt! Nein, es ist eine Visitenkarte, eine intelligente Maschine, ein Mitglied der Familie. Als Dank für die guten Fahrverdienste fährt Papa Deutscher sonntags in die Waschstraße, dann wird geschrubbt, gesaugt und blitzeblankpoliert. „Alle Theorien, die das Auto als Transportmittel charakterisieren, vergessen eine ganze Dimension“, spricht der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk, „es ist ein rollender Uterus, der sich von seinem biologischen Vorbild dadurch vorteilhaft unterscheidet, dass er mit Selbstbeweglichkeit und Autonomiegefühlen verbunden ist. Das Auto ist eine um den Fahrer herumgebaute platonische Höhle mit dem Vorzug, dass man in ihr nicht angeschmiedet sitzt, sondern dass die fahrende Privathöhle Ausblicke auf eine vorbeigleitende Welt gewährt.“

Von Kritik am goldenen Kalb der Moderne wollen die Deutschen jedoch nichts wissen. Mit vollster Überzeugung formieren sie sich zur stärksten Autofahrerlobby Europas, bringen auf ihren Straßen sämtliche Tempolimits zu Fall und treten mächtig auf die Tube. Wer hat mehr Hubraum, wer hat mehr Pferdepower, und wer bitte schön ist der König der Straße? Längst sind die Konkurrenten im Rückspiegel verschwunden, an vorderster Front kämpfen nur noch die Bayern gegen die Schwaben, BMW gegen Mercedes. Es ist wie Coca-Cola und Pepsi, wie Chips und Pringles, wie Maggi und Knorr. Man kann nur an den einen glauben, alles andere wäre Verrat.

Vor eineinhalb Jahren wurde in Stuttgart das Mercedes-Benz-Museum fertiggestellt. Das niederländische Architekturbüro UN-Studio hatte beste Arbeit geleistet und katapultierte die Marke mit dem Stern ordentlich nach vorne. Autsch, das tat weh, dachte man sich in Bayern und holte in der Zwischenzeit zum alles vernichtenden Rückschlag aus. Ein Museum? Das kann jeder! Wir, BMW, binden unsere Kunden mit einem noch nie da gewesenen Auslieferungszentrum: Vor drei Jahren wurde mit dem Bau begonnen, kommende Woche wird feierlich eröffnet. Der stolze Name des neuen Automobiltempels: BMW-Welt München.

Seit jeher hatte der Vorstand der Bayerischen Motorenwerke etwas für gute Architektur übrig. 1972 baute Karl Schwanzer den famosen Vierzylinder-Turm, im Jahr darauf folgte das benachbarte Museum in Schwammerl-Form. Im Sinne der kulturellen Tradition war klar, dass auch das 21. Jahrhundert mit einem Keulenschlag unvergleichlicher Qualität beginnen muss. Zaha Hadid baute das BMW-Werk in Leipzig, nun raffte sich der Konzern abermals auf und lud Ende 2001 zu einem offenen Wettbewerb, um auch den Hauptsitz in München zu krönen. Aus insgesamt 275 Bewerbern - darunter Kaliber wie MVRDV, Future Systems, Massimiliano Fuksas oder etwa Dominique Perrault - ging das Wiener Büro Coop Himmelb(l)au als Sieger hervor.

Schwerelose Wolken und brennende Flammenflügel - das kennen wir von Coop Himmelb(l) bereits. Aber wie baut man eine ganze Welt? „Architektur hat nicht nur Aufgabe, Hülle von Funktionen zu sein“, sagt Wolf Prix, „entlang diesem Konzept ist hier ein Gebäude entstanden, das man als hybrides Gebäude bezeichnen kann. Die ästhetischen Paradigmen dieser Architektur heißen Eleganz, Dynamik, Geschwindigkeit.“ Im Klartext: Die BMW-Welt ist viele Gebäude in einem. Hier gibt es Café und Restaurant, Ausstellungen, Schulungsräume, Veranstaltungsräumlichkeiten und Theatersaal, in erster Linie jedoch dient die bayrische Welt als Abholzentrum.

Wem also die Fahrt zum BMW-Händler nach Memmlingen, Mommenheim und Mimmenhausen zu öd und zu alltäglich ist, der ist in Zukunft herzlich dazu eingeladen, das Portemonnaie einzupacken und sein Auto direkt in der Mutterstadt München abzuholen. Funkelnd, glänzend und eingewachst wird die Doppelniere aus den Untiefen des Tiefspeichers herausgeholt und wird sodann von einem Chauffeur mit weißen Zwirnhandschuhen auf einer sich drehenden Scheibe drapiert. Da rotiert es also, das neue Auto, und wird bestaunt wie ein saftiges Stück Fleisch auf dem Teller. Unter Spotlight-Beleuchtung, mit musikalischer Untermalung und auf Wunsch sogar mit Blumenstrauß und Fotoshooting ist das Fahrzeug bereit für die ultimative Übergabe an seine neuen Besitzer. Ein unvergesslicher Moment.

Wenn eine Automarke mit derartig emotionellen Geschützen auffährt, dann ist klar, dass weder Kosten, noch Mühen gescheut wurden. 14.000 Quadratmeter fasst die Halle, an manchen Stellen ist sie 28 Meter hoch. Das 3000 Tonnen schwere Dach scheint wie ein Wölkchen über allem zu schweben. Gerade einmal elf Stützen sind notwendig, um diesen gewaltigen Kraftakt zu vollziehen. „Kann man sich das vorstellen, nur elf Stützen?“, fragt Prix die Besucher der ersten Stunde, „die griechischen Tempel waren viel kleiner und hatten 40 oder 50!“

Im Endeffekt ist auch die BMW-Welt nichts anderes. Sie ist ein sakraler Ort, eine Markthalle für den Menschen von heute, ein Umschlagplatz des Kapitalismus. 170 Fahrzeuge wird man hier täglich ausliefern, die Generalprobe mitsamt Fahrzeugübergabe an die eigenen Werksmitarbeiter ist bereits überstanden. Bei derart vielen Autos, die Tag für Tag durchgeschleust werden, kann man sich vorstellen, was sich hier abspielen wird. Ganze Familien werden einander in die Arme fallen, Väter werden herumtollen wie die Kinder, die Konzentration an Glück und Freude wird die kritische Marke haushoch überschreiten. „Hier in der BMW-Welt werden die Bürger die Marke BMW anfassen können“, sagt Helmut Panke, Vorstandsvorsitzender der BMW AG, „wir möchten, dass unsere Besucher hier die Zeit vergessen, dass sie in die Marke eintauchen und dass sie sich vom Mythos BMW mitreißen lassen.“

Im Rausch der Sinne wird in Zukunft kein Mensch mehr nachvollziehen können, welcher Aufwand notwendig war, um den Kunden in diese Welt des Seins und Scheins zu entführen. Damit der Tiefspeicher mit den bereits vollgetankten Autos nicht zur Brandgefahr wird, hat man diesen hermetisch abgeriegelt und ihm Sauerstoff entzogen. Das Regallager ist damit für Menschen nicht zugänglich und wird ausschließlich von einem Roboter bedient. Auf der so genannten Premiere, wo die Besucher ihre Autos entgegennehmen, wird im Bodenbereich Unterdruck erzeugt - so werden die Abgase abgesaugt, noch bevor sie sich im gesamten Raum ausbreiten können. Und in der Fassade zirkuliert innerhalb der Fensterprofile je nach Jahreszeit kaltes oder warmes Wasser. Auch so kriegt man das Klima in den Griff.

Was kostet der ganze Spaß? Für den Kunden ändert sich nicht viel. Ganz gleich, ob der Wagen beim BMW-Händler oder in der BMW-Welt abgeholt wird, beträgt die Abholgebühr 460 Euro - geschickt getarnt als sogenanntes Gute-Fahrt-Paket. In einer etwas anderen Liga spielen die Baukosten. Über genaue Zahlen schweigen sich Auftraggeber und Architekt aus. Lediglich zwei Eckdaten werden verraten, aus denen sich die unendliche Weite des Budgets erahnen lässt. Erste Information: Die BMW Welt kostete mehr als 100 Millionen Euro. Zweite Information: Die Sanierung des BMW-Hochhauses und des BMW-Museums sowie der Bau der BMW-Welt verschlangen in Summe 500 Millionen Euro. Das ist kein Pappenstiel.

Wolf Prix resümiert: „Wir sind mit dem Projekt zufrieden. Viele architektonische Elemente, die wir gerne verwenden, kommen BMW sehr gelegen. Die Architektur der neutralen Box hat sich überholt. Jetzt beginnt die Zukunft der Himme(l)bau-Sprache!“ Während die Mercedes-Leute in Stuttgart wahrscheinlich schon an Racheplänen schmieden, überfliegt den Besucher ein pragmatisch weltlicher Zweifel: So viel Glas, wie soll man das nur reinigen können? Es sei für alles gesorgt, sagt Prix, und pafft Zigarre. „Aber Tempel putzt man nicht.“

Der Standard, Sa., 2007.10.13



verknüpfte Bauwerke
BMW-Welt München

06. Oktober 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Die nackte Wahrheit

Beton spaltet die Gemüter. Während Architekten von Glückshormonen überschüttet werden, runzeln die Bewohner ihre Stirn. Ausflug in die Mustersiedung 9=12 in Wien-Mauerbach.

Beton spaltet die Gemüter. Während Architekten von Glückshormonen überschüttet werden, runzeln die Bewohner ihre Stirn. Ausflug in die Mustersiedung 9=12 in Wien-Mauerbach.

Unter einem rattert das Geleis, seitlich zieht in schnellen Bildern die Landschaft vorbei. Es gibt keine schönere Beschäftigung, als während der Zugfahrt im Speisewagen zu sitzen und Melange schlürfend beim Fenster hinauszuschauen. Westbahnstrecke, Wienerwald, Wiesen links und rechts. Die Ellbögen sind aufgestützt, Hände wärmend wird die Tasse umklammert. Kurz vor Wien ein flüchtiger Blick nach Norden: Ruckartig verdreht man bei 120 Sachen den Kopf und schüttet sich den Kaffee über die Finger. Zehn betonierte Häuschen purzeln den Hang herab und lassen einen kurz am eigenen Sehsinn zweifeln. War das jetzt echt?

Die Mustersiedlung 9=12, die in Wien-Mauerbach dieser Tage fertig gestellt wird, ist ein Vorzeigeprojekt der Beton- und Zementindustrie. Sie ist der ambitionierte Versuch, sich mit vereinten Kräften dem unaufhaltsamen Erfolg der Holzlobbyisten und der Ziegelindustrie zu stellen. Das Projekt dürfte von besonderer Wichtigkeit sein, denn sämtliche betonaffine Unternehmen zogen an einem Strang und stellten nicht unwesentliche Mengen an Naturalien und Arbeitszeit zur Verfügung.

Wie rohe Betonskulpturen sind die Häuser auf dem Grundstück verteilt. Ein Satteldach wird man hier nicht zu Gesicht bekommen, stattdessen erscheinen die einzelnen Gebäude als minimalistische Klötze. Nur die wenigsten von ihnen sind verputzt oder gestrichen, die meisten erstrahlen in nacktem Beton. Wo Architekten das Herz aufgeht, zucken Max und Monika Mustermann innerlich zusammen. Alles nur Beton? „Vor ein paar Tagen hatten wir im Büro einen Anruf von einer zukünftigen Mieterin“, erzählt Patrick Fessler, Projektleiter im Architekturbüro Adolf Krischanitz, „sie hat sich recht besorgt darüber erkundigt, ob die Oberfläche ihres Hauses etwa schon die endgültige ist.“ Für die Dame dürfte das Telefonat alles andere als erfreulich gewesen sein.

Doch man kann hoffen, dass sich die Einstellung zu authentischem Bauen - so heißt es unter Architekten, wenn man ganz verrückt danach ist, alles so zu zeigen, wie es ist - in Bälde ändern wird. Für Materialfetischisten und Ästheten ist das Grundstück nämlich ein Dorado der Möglichkeiten. Einmal ist der Beton aalglatt, dann wieder grob und zerfurcht und zeigt die sägeraue Oberfläche der Schalungsbretter. Meist ist er grau, gelegentlich aber ist er auch mit beigen, braunen oder schwarzen Farbpigmenten versetzt. Architekt Adolf Krischanitz: „Wir haben hier nicht versucht, lustige Häuser und Gags zu machen, sondern wollten den Leuten demonstrieren, wozu Bauen in Beton imstande ist.“

Ein zynisches Lächeln kann man sich nicht verkneifen. Wer jemals schon in einem Plattenbau der Siebzigerjahre gestanden hat, der weiß: Diese Grundrisse sind für die Ewigkeit betoniert. Unter halbwegs wirtschaftlichen Bedingungen erlauben sie den Bewohnerinnen und Bewohnern kaum mehr, nachträglich irgendwelche Änderungen vorzunehmen. Ganz zu schweigen von Behaglichkeit oder Bauökologie. „In Wien ist die Grundriss-Kultur völlig verschlampt, die Architektur hört meist schon an der Fassade auf“, beklagt Krischanitz, „was dann drinnen passiert und wie die Leute mit der meist geringen Wohnfläche zurande kommen, ist den Wohnbauträgern völlig egal.“

Mit der Mustersiedlung 9=12 will Bauträger ÖSG (Stadtentwicklung und Wohnbaumanagement GesmbH) Abhilfe schaffen und mit gutem Beispiel vorangehen. Und die besten Beispiele kommen bekanntlich aus der Schweiz. „Dort lebt die Grundriss-Kultur fort wie in keinem anderen Land in Europa“, sagt Krischanitz, „die Schweizer begreifen es einfach, mit wenigen gekonnten Handgriffen dem Menschen Behaglichkeit und Flexibilität zu vermitteln.“ Nicht zuletzt deshalb ist die Siedlung ein Jointventure der Architekturnationen geworden. Insgesamt neun Architekturbüros - jeweils drei aus Österreich, Deutschland und der Schweiz - zerbrachen sich den Kopf über neue Grundriss-Lösungen. In Österreich waren dies Hermann Czech, Heinz Tesar und Adolf Krischanitz als Planer und Koordinator, aus Deutschland beteiligten sich Otto Steidle (+), Max Dudler und Hans Kollhoff, aus der Schweiz schließlich Peter Märkli, Roger Diener sowie Marcel Meili und Markus Peter.

Das Potpourri könnte nicht vielfältiger und widersprüchlicher sein. Die einen setzten auf klare Kisten und wohl proportionierte Räume, die anderen auf ein paar vereinzelte Wandscheiben, die mittels Schiebetüren und Faltwänden immer wieder zu neuen Raumkonstellationen inspirieren. Eine einheitlich durchgehende Linie wird man nicht erkennen. „Ich mag dieses Kabinett an Möglichkeiten, ich mag die gebotene Vielfalt“, sagt Krischanitz, „zudem ist sie äußerst konsumentenfreundlich, weil sich jeder das aussuchen kann, was ihm gefällt.“ Zur Auswahl stehen luftige Apartments mit einem Hauch von Loft, Split-Level-Wohnungen und sogar mehrgeschoßige Reihenhäuser - verschachtelt und ineinander verkeilt, als hätten die Architekten Tetris gespielt.

„Als Vorzeigeprojekt ist die Mustersiedung 9=12 durchaus ein Erfolg“, sagt Architekt Adolf Krischanitz, „mit einer einzigen Ausnahme: Die finanzielle Komponente haut überhaupt noch nicht hin.“ Ohne das Sponsoring der beteiligten Firmen sei ein solches Projekt niemals möglich gewesen. Lafarge Perlmoser lieferte den Zement, Oberndorfer die Betonfertigteile, Pittsburgh Corning die gesamte Wärmedämmung, und die gelben Betonschaltafeln, die man von jeder Baustelle kennt, kommen vom österreichischen Unternehmen Doka. Die Liste ist noch länger. Ein nicht unwesentlicher Zuschuss ist schließlich der Baufirma selbst, der Strabag, zu verdanken - sie steuerte einen Teil der Baukosten bei.

„Wir sind alle in einem Boot gesessen und waren uns völlig darüber im Klaren, dass das Projekt im Rahmen des herkömmlichen geförderten Wohnbaus nicht funktionieren kann“, sagt Gernot Tritthart, Marketingleiter des Zementproduzenten Lafarge Perlmooser, „um das Bauvorhaben mit Fördermitteln realisieren zu können, mussten wir alle unseren Obolus leisten.“ Wenn sich schon die Gelegenheit ergibt, sich zu formieren und gemeinsamen ein Demonstrationsbauvorhaben aus der Taufe zu heben, dann müsse man sie auch nutzen.

Deutlich weniger euphorisch zeigt sich der hauptverantwortliche Architekt: „Genau das ist mein größter Kritikpunkt. Denn selbst bei derartigen innovativen und zukunftsweisenden Sonderprojekten wie 9=12 werden die strengen Regelungen für geförderten Wohnbau keinen Millimeter gelockert. Wir kriegen keinen Euro mehr als für jedes andere, normale Bauvorhaben auch.“

Das Werk ist vollbracht, Ende Oktober werden die ersten Bewohner einziehen. Eine Betonsiedlung nach derartig radikalem Strickmuster und mit derartig konsequentem Materialeinsatz wird es kein zweites Mal geben - das liegt in der Natur von Mustersiedlungen. Was bleibt, ist die Irritation in der vorbeiziehenden Landschaft. Viele Jahre noch werden die ÖBB-Passagiere der Westbahnstrecke kurz vor Wien den Kopf verdrehen und sich ob der ewigen Baustelle wundern. Ist denen das Geld für den Außenputz ausgegangen? Die Kenner unter ihnen wissen nun Bescheid.

Der Standard, Sa., 2007.10.06



verknüpfte Bauwerke
Mustersiedlung 9=12

29. September 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Was kostet ein Plan?

Bisher wusste niemand so recht, wie die Honorare von Architekten zustande kommen. Besonders verwirrt waren die Geld gebenden Bauherren. Nun ist eine Reform in Kraft getreten. Sie bietet mehr Transparenz - und fordert allen Beteiligten mehr Köpfchen ab.

Bisher wusste niemand so recht, wie die Honorare von Architekten zustande kommen. Besonders verwirrt waren die Geld gebenden Bauherren. Nun ist eine Reform in Kraft getreten. Sie bietet mehr Transparenz - und fordert allen Beteiligten mehr Köpfchen ab.

„Wenn ein Baumeister einem Bürger ein Haus fix und fertig baut, so gibt er ihm als Honorar für ein Musar Wohnfläche zwei Säckel Silber.“ Die etwas altertümlich klingende Richtlinie stammt aus dem Codex Hammurabi und wurde 1700 v.Chr. mühsam in einen Diorit-Block gemeißelt. Im Wesentlichen haben sich die Honorarrichtlinien für die bauende Zunft bis in die heutige Zeit nicht verändert. Der Bauherr kommt zum Architekten, dieser steckt seine Nase in nebulose und nicht nachvollziehbare Prozenttabellen und offenbart dem potenziellen Auftraggeber schließlich, dass die Planung des gewünschten Objekts einen bestimmten Prozentsatz der Baukosten in Anspruch nehmen werde.

„Die bisherige Honorarordnung für Architekten und Ingenieurkonsulenten basiert zum Teil auf völlig unlogischen Annahmen“, sagt Bundeskammerpräsident Georg Pendl, „wenn ein Architekt eine Baukostenexplosion verursacht, dann kann er daran verdienen. Doch wenn er durch clevere Planung dazu beiträgt, Baukosten einzusparen, dann schneidet er sich damit ins eigene Fleisch, weil dadurch auch sein Honorar sinkt.“ Dass man einem Architekten zur Abgeltung seiner Leistung einen gewissen Prozentsatz der Baukosten zubilligt, geht auf eine Richtlinie aus dem 18. Jahrhundert zurück, doch die Umstände hätten sich seitdem drastisch verändert, so Pendl. „Heute gibt es billige und teure Baustoffe, es gibt einfache und komplizierte Projekte. Der Bedarf nach einer betriebswirtschaftlich ausgelegten Novelle war daher enorm.“

Seit 1. Jänner 2007 ist alles einfacher und transparenter - sowohl für Auftraggeber als auch für Auftragnehmer. Nicht zuletzt geschah dies auf Drängen der Bundeswettbewerbsbehörde und des Bundeskartellanwalts - mit Inkrafttreten des Kartellgesetzes im Jahre 2005 fielen verbindliche Honorarrichtlinien ins Kartellverbot. Die neue AHA 2007 (Analyse Honorare für Architektinnen) - so der aktuelle Name laut Auskunft der Bundeskammer - liefert stattdessen empirische Werte darüber, wie viele Arbeitsstunden die jeweiligen Bauaufgaben von der Kleingartenhütte bis zum hochkomplexen Krankenhaus in Abhängigkeit von der Bruttogeschoßfläche durchschnittlich in Anspruch nehmen. Untersucht und ausgewertet wurden österreichweit rund 900 Projekte.

„Das neue System liefert keine verbindlichen Richtlinien mehr, sondern spricht lediglich Erfahrungswerte aus“, sagt Architekt Hubert Kempf, der an der Reform des Honorarwesens maßgeblich beteiligt war, „in Zukunft kann der Architekt dem Bauherrn eine Schätzung über die voraussichtliche Stundenanzahl liefern.“ Und wer bestimmt den Stundensatz? „Früher haben sich die jungen Idealisten völlig unter ihrem Wert verkauft“, so Kempf, „aufgrund betriebswirtschaftlicher Überlegungen, die zunehmend auch in dieser Branche an Bedeutung gewinnen, kann nun jede Architektin und jeder Architekt den jeweiligen Stundensatz frei bestimmen.“ In Zukunft, ist sich Kempf sicher, werde man damit jede Art von Korruption unterbinden können - beide Parteien spielen mit offenen Karten und können über den Umfang der Architektenleistung frei verhandeln.

Preisdumping?

Das klingt im ersten Moment nach grünem Licht für noch mehr Preisdumping, als dies bislang schon der Fall war. „Den Architekten geht's jetzt schon schlecht“, sagt Rechtsanwalt Hannes Pflaum, „in Zukunft wird es ihnen noch viel schlechter gehen.“ Nicht so tragisch sehen das Reformisten in der Kammer. „Umbruchphasen sind immer ungewohnt. Bis zur vollständigen Eingewöhnung werden Jahre vergehen, und bis dahin kann sich ja noch jeder an der Honorarordnung orientieren“, erklärt Bundeskammerpräsident Pendl. Kempf hingegen: „Ich sehe kein Problem. Selbst große Investoren und Bauträger, mit denen wir schon seit Langem im Gespräch sind, haben anklingen lassen, dass sie die neue Analyse als Grundlage akzeptieren.“ Wichtig sei nur, dass sich die Architektenschaft in Ausdauer übt und dass sie an die Reform glaubt.

„Es kann nicht mehr sein, dass jede zweite Arbeitsstunde eines Architekten gratis ist. Architekten erwirtschaften im Jahr gerade mal 22.000 Euro brutto!“ Noch schlimmer ist es übrigens bei den Frauen. Hier beträgt das durchschnittliche Jahreseinkommen unter Architektinnen nicht mehr als 10.000 Euro. Mit der AHA 2007 soll sich das ändern.

Der Standard, Sa., 2007.09.29

22. September 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Utopien im Aufwind

Vor einer Woche wurde der üppig ausstaffierte Zumtobel Group Award vergeben. Preisträger sind ein innovatives Hochhaus in San Francisco und die konkrete Utopie eines neuartigen Kraftwerks.

Vor einer Woche wurde der üppig ausstaffierte Zumtobel Group Award vergeben. Preisträger sind ein innovatives Hochhaus in San Francisco und die konkrete Utopie eines neuartigen Kraftwerks.

Der Mann hat Ausdauer. Seit 25 Jahren arbeitet er immer wieder am gleichen Projekt. Rechnet, entwirft, optimiert. Unentwegt tritt er mit Verantwortlichen in Kontakt, unterbreitet ihnen die Sinnhaftigkeit seiner Ideen, bemüht sich um ihre Zustimmung. Doch ohne Erfolg. Die Politik hat kein Interesse an effizienter Stromerzeugung in der Dritten Welt, mehr als trockene Lorbeeren lassen sich damit nicht ernten. Wer will dafür schon in die Bresche springen? „Die Minister reisen alle auf Klimakonferenzen, aber wenn es darauf ankommt, dann ziehen sie den Schwanz ein“, sagt er.

Vor ein paar Tagen war alles anders. Plötzlich stand der deutsche Architekt Jörg Schlaich im Rampenlicht, trat auf die Bühne des Kunsthauses Bregenz und nahm unter tosendem Applaus den Zumtobel Group Award in der Kategorie „Research and Initiative“ entgegen. Der herrschaftlich dotierte Geldpreis - 60.000 Euro sind kein Lercherl - gilt der jahrelangen und stetig weiterentwickelten Erfindung des so genannten Aufwindkraftwerks. Es ist ein solares Kraftwerk, das eigens für die sonnenreichen und ressourcenarmen Gegenden der Erde entwickelt wurde - beispielsweise für wüstenreiche Staaten und Länder der Dritten Welt. Die notwendigen Baumaterialien Beton, Stahl und Glas sind weltweit verfügbar.

Das System könnte einfacher nicht sein: Unter einem riesigen Kollektordach wird die Sonne wie in einem Glashaus erhitzt. Da das Dach zur Mitte hin leicht ansteigt, strömt die heiße Luft zum höchsten Punkt, kühle Luft strömt in der Zwischenzeit von den Rändern nach. In der Mitte staut sich's dann. Unter einem enormen Druck versucht die zusammengestauchte Luft zu entweichen und wird nach oben gepresst. Die Sogwirkung des Kamins verstärkt diesen Effekt. Eine eingebaute Turbine dient als Generator und erzeugt auf diese Weise Strom.

„Es ist eine unglaublich einfache Funktionsweise“, sagt Schlaich, „und weil es so einfach ist, können sich viele gar nicht vorstellen, dass es funktioniert.“ Doch während manche noch zweifeln, ist das Konzept zu einem komplexen und vielschichtigen Allzweck-Kraftwerk herangereift. Zusätzlich eingebaute Wasserschläuche unter den Kollektoren speichern untertags die Hitze und geben sie erst in der Nacht wieder ab. Paradoxerweise funktioniert das solare Kraftwerk also rund um die Uhr. Jörg Schlaich und sein Partner Rudolf Bergermann haben alles parat. In aufwändigen Kalkulationsprogrammen rechneten sie sich die Effizienz des Kraftwerks aus. Eine einzelne Turbine könne für 100 bis 200 Megawatt Leistung ausgelegt werden. Damit ließe sich bereits ein großes Kernkraftwerk ersetzen. Doch der tatsächliche Trumpf im Ärmel soll erst folgen: Eine Kilowattstunde Strom würde in der Produktion - langfristig ausgelegt - zwischen fünf und sieben Cent kosten. „Vor einigen Jahren noch hätte man das für abstrus gehalten und hätte sich darüber lustig gemacht“, sagt Schlaich, „doch um damit wirklich handlungsfähig zu sein, ist das Öl offensichtlich noch viel zu billig.“

Warum sich die hochkarätig besetzte Jury aus Stefan Behnisch, Yung Ho Chang, Colin Fournier, Peter Head, Enrique Norton, Sejima Kazuyo, Peter Sloterdijk, Anna Kajumulo Tibaijuka und Zumtobel-Group-Geschäftsführer Andreas Ludwig für das Kraftwerksprojekt entschieden hat, ist leicht gesagt: „Sinnvolle Technologien für die breite Nutzung erneuerbarer Energien müssen einfach, verlässlich und auch für weniger entwickelte Länder zugänglich sein. Das Aufwindkraftwerk erfüllt alle diese Bedingungen.“ Dass es in der Praxis tatsächlich funktioniert, ist ebenfalls belegt. Zwischen 1982 und 1988 wurde in Spanien eine Versuchsanlage installiert. Gegenwärtig planen Schlaich Bergermann Solar ein Aufwindkraftwerk in Fuente el Fresno, Spanien. Mit 750 Metern Turmhöhe und drei Kilometern Kollektordurchmesser wird das Kraftwerk eine Kapazität von 30 Megawatt haben.

Doch weil sich mit Träumen allein kein Aufsehen erregender Award auf die Beine stellen lässt - zum ersten Mal schlägt Zumtobel diesen Weg ein -, sei man nicht umhin gekommen, auch ein bereits realisiertes Projekt auszuzeichnen. „Wir möchten versuchen, den Zumtobel Award in den nächsten Jahren in der Architekturwelt zu einem anerkannten Preis zu machen“, erklärt Geschäftsführer Ludwig, „da der Award für uns in weitester Linie ein Marketingsinstrument ist, das an die Architekten gerichtet ist, darf unter den Auszeichnungen innovative und moderne Architektur nicht fehlen.“ Klare Worte.

Während man sich die Kategorie „Research and Initiative“ 60.000 Euro kosten ließ, wurde die Kategorie „Built Environment“ sogar noch höher beziffert. Für sein Federal Building in San Francisco wurden an Thom Mayne vom Architekturbüro Morphosis wohlfeile 80.000 Euro überreicht. „Wir haben uns zu diesem Projekt schweren Herzens durchgerungen. Keiner würde auf Anhieb verstehen, warum wir beispielsweise nicht eine selbst gebaute Lehmschule in Bangladesh auszeichnen“, sagt der Juror und Architekt Stefan Behnisch, „doch wir kamen zu der Überzeugung, dass es eines zeichenhaften Projekts in der westlichen Welt, in den großen Metropolen bedarf.“ Es seien die industrialisierten Länder, die für den Klimawandel hauptverantwortlich sind. „Das Projekt von Thom Mayne zeigt, wozu Architektur imstande ist und wie sie sich in punkto Nachhaltigkeit positionieren kann. Viele Kolleginnen und Kollegen bekennen sich nicht dazu.“

Thom Maynes Federal Building ist das erste Bürohochhaus in den Vereinigten Staaten, in dem man bewusst auf natürliche Belüftung gesetzt hat. 70 Prozent des Gebäudes werden natürlich belüftet, 90 Prozent der Arbeitsplätze verfügen über Tageslicht und über manuell öffenbare Fenster, Klimaanlagen tun ihre Dienste nur in den hintersten Ecken des Hauses. Das gefaltete Metallkleid im Süden spendet Schatten, bewegliche Paneele passen sich den täglichen und jahreszeitlichen Klimaschwankungen an. Hinzu kommen so genannte Skip-Stop-Aufzüge, die nur in jeder dritten Etage halten - „die gestiegene Mobilität der Menschen verleiht dem Turm die Lebendigkeit einer Straße“, heißt es im Juryprotokoll. In Summe ist es gelungen, den Energieverbrauch auf ein Minimum zu reduzieren, der Lichtbedarf ist gar auf die Hälfte gesunken. „Es hat etwas Humorvolles, dass Zumtobel ein Gebäude auszeichnet, in dem nur die Hälfte des Kunstlichts benötigt wird“, sagt Mayne, „mit jedem anderen Architekten hätte die Zumtobel Group an diesem Projekt den doppelten Umsatz gemacht.“

Werden die USA nun grün? „Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Wichtigkeit ein solches Projekt in einem republikanisch geführten Land hat“, meint Mayne, „und es ist kein Wunder, dass so ein Projekt gerade im nachhaltig orientierten Kalifornien realisiert werden konnte.“ Thom Mayne bekennt sich zum Optimismus: „Bush bleibt mit seiner Erdöl-Mentalität nicht ewig an der Macht. Schon die nächste Generation wird von Grund auf wissen, was Nachhaltigkeit alles bedeutet - nämlich ein Zusammenspiel aus Politik, Wirtschaftlichkeit, Ökologie und integrativem Sozialleben.“

Mit dem Zumtobel Group Award hat der Vorarlberger Lichtplaner und Leuchtenhersteller Zumtobel nicht nur ein Statement gemacht, sondern auch kräftig die Werbetrommel gerührt. Eine Werbekampagne mit soziopolitischem Hintergrund, die als Anstachelung an die Industrienationen gedacht ist - das ist mehr als legitim. Der Stolz der beiden Büros Morphosis und Schlaich Bergermann Solar ist ungebremst. Thom Mayne wird sein Preisgeld an die NGO Global Green USA spenden, Jörg Schlaich möchte seinen Betrag für weitere Forschungsarbeit aufwenden. Das Aufwindkraftwerk müsse endlich konkret werden. „Eines Tages wird man Aufwindkraftwerke bauen. Aber ob ich das noch erleben werde, ist fraglich.“

Der Standard, Sa., 2007.09.22



verknüpfte Akteure
Zumtobel AG

01. September 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Design auf Irrwegen

Viele Fertighaus-Hersteller schmücken sich mit großen Designernamen. Doch hinter Pininfarina, Colani und Co lauert bisweilen der ganz normale Wahnsinn.

Viele Fertighaus-Hersteller schmücken sich mit großen Designernamen. Doch hinter Pininfarina, Colani und Co lauert bisweilen der ganz normale Wahnsinn.

Mit dem Herbst naht die neue Bausaison. Architekten und Baumeister arbeiten auf Hochtouren, Baugruben werden ausgeschaufelt, Kellerwände betoniert, abertausende Euros wechseln ihren Besitzer. Dabei wird oft vergessen: Ein Haus zu bauen ist auch für den Bauherrn ein Fulltimejob. Viele sind der psychischen Belastung nicht gewachsen und greifen daher zur Architektur aus der Instant-Packung - zum Fertighaus. An die 4500 Fertigteilhäuser werden jährlich verkauft, damit ist nahezu jedes dritte in Österreich errichtete Haus ein Fertighaus. Die meisten davon stehen in Niederösterreich.

Dass der Fertigteilbau durchaus Tradition hat, ist angesichts der oft schauderhaften Einfamilienhaus-Varianten längst in Vergessenheit geraten. „In der Antike ließen die Griechen Wandelemente für den Tempelbau in den Kolonien Kleinasiens vorfertigen“, erklärt Christian Muhrhammer, Geschäftsführer des österreichischen Fertighausverbandes, „Leonardo da Vinci entwickelte ein vorgefertigtes Bürgerhaus, und die ersten englischen Siedler Nordamerikas hatten fertige Wandelemente auf ihren Schiffen mit dabei.“

Was mit großen Namen begann, muss mit großen Namen fortgesetzt werden. Immer wieder greifen Fertighaus-Unternehmen daher zu dem, was sie Stararchitekt oder weltberühmter Designer nennen, und lassen sich von diversen namensschweren Herrschaften (ja, es sind ausschließlich Männer, die hier herhalten dürfen) einen Entwurf anfertigen. Im Endeffekt ist es nicht anders als bei Karl Lagerfeld und seiner Billigkollektion für H & M. Luigi Colani zeichnet für Hansehaus, Matteo Thun für Griffnerhaus, Gustav Peichl für Hanlo und Pininfarina für den Marktgiganten Elk. Doch während man sich bei diesem Name-Dropping in höchster Gestaltungsqualität zu besten Preis-Leistungs-Verhältnissen zu wähnen glaubt, belehrt einen ein genaues Hinsehen eines Besseren.

„Wir wollten ein modernes Haus entwickeln, das in unverwechselbarer Stilgebung unsere Produktpalette nach oben hin abschließt“, sagt Andreas Toifl, Marketingleiter der Elk Fertighaus AG, „natürlich richtet sich das Projekt von Pininfarina in erster Linie an eine besser verdienende Klientel.“ Zur Klarstellung: Wir sprechen hier von 350.000 Euro - ohne Keller, wohlgemerkt. Toifl: „Wir wollen mit dem Haus vor allem Kompetenz zeigen. Es geht nicht darum, das Haus möglichst oft zu verkaufen, sondern aufzuzeigen, wozu man als Hersteller imstande ist.“ Wer Kompetenz an den Tag legt, der könne auch die kleineren Produkte besser verkaufen.

In der Regel ist Pininfarina der Meister schnittiger Karosserien, denen im Windkanal in anschmiegsamen Liebkosungen unverkennbar italienische Form verliehen wird: dem Alfa Spider, dem Ford Focus Cabrio, dem Maserati Quattroporte. Das Modell „elk.arte“ mit seinen wahlweise 150 bis 230 Quadratmetern wirkt dagegen etwas - nennen wir es einmal - stämmig. Mehrere Bauteile gruppieren sich um ein zentrales Vorzimmer und werden von wilden Pultdächern abgedeckt. Besonders auffällig ist der sechseckige Annexbau, in dem sich das so genannte Family-Center befindet: Wohnzimmer, Küche, Essplatz, Kamin. Ist das etwa Design aus norditalienischer Feder?

„Natürlich muss man im Laufe eines Industrialisierungsprozesses einige Kompromisse schließen. Es hätte ja keinen Sinn, ein Kunstwerk zu machen, das sich dann niemand leisten kann“, erklärt Francesco Lovo, Chefdesigner bei Pininfarina Extra, auf Anfrage des Standard, „aber um ehrlich zu sein, gab es in dieser Zusammenarbeit sehr viele Kompromisse. Elk hat unseren Entwurf wieder zu einem sehr traditionellen Haus zurückgeführt.“ Doch Lovo sieht der Wahrheit ins Auge: „Es ist wie immer bei großen Namen: Im Vordergrund stand nicht ausschließlich der Wunsch nach einem Haus von Pininfarina, sondern wahrscheinlich eher der Wunsch nach einer bekannten Marke, mit der man in Folge werben kann.“

Dass es sich mit großen Namen - zumindest imagemäßig - besser lebt, beweist auch der Fertighaus-Produzent Griffnerhaus. Vor mehr als zehn Jahren hatte Matteo Thun für das österreichische Unternehmen das erste „Designerhaus“ skizziert, bis heute ist das Pultdach-Modell „O sole mio“ vielen Österreicherinnen und Österreichern ein Begriff. „Am Anfang hat man mit Matteo Thun automatisch Griffnerhaus verbunden“, sagt Bettina Walten, Marketingchefin bei der Griffnerhaus AG, „es hat sich zu Beginn zwar nicht sehr oft verkauft, aber es war die ganze Zeit über das Zugpferd unseres Unternehmens.“ Dass der Verkauf in Österreich im Gegensatz zu Deutschland und der Schweiz eher schleppend vonstatten gegangen ist, hängt nicht zuletzt mit der österreichisch-provinziellen Bauordnung zusammen. Wer kein Satteldach überm Kopf will, der darf in vielen Gemeinden nicht bauen. Punktum.

Die Häuser aus Designerhand sind durch die Bank teurer. Aufgrund von Konstruktion, technischem Aufwand und Markennamen sind im Schnitt bei allen Herstellern gut 25 bis 30 Prozent an Mehrkosten draufzuschlagen. Hinzu kommt der übliche Fertighaus-Definitionsparcours mit Rohbau, Ausbau, Keller und Schlüsselfertigkeit. Wer es fixfertig haben will, der muss dann schon tief in die Tasche greifen. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass in Gänserndorf schon seit etlichen Monaten ein Hanlo-Fertighaus - ein Entwurf von Gustav Peichl - um 400.000 Euro samt Grund auf einen Käufer wartet. „Peichl ist zwar eine Super-Geschichte, aber schon lange nicht mehr am Puls der Zeit“, sagt Hanlo-Marketingleiterin Karin Trummer, „das Peichl-Haus wurde schon seit Ewigkeiten nicht mehr verkauft.“

Der Appell am Beginn der Bausaison soll daher lauten: Fertighäuser haben durchaus ihre Berechtigung. Kaufen und Bauen geht schnell voran. Oft ist es sogar billiger. Und man muss sich nicht wahnsinnig anstrengen, um bald mit Sack und Pack einziehen zu können. Wem diese Bequemlichkeit wichtig ist, der hat sich richtig entschieden. Doch wer mit dem Gedanken spielt, 300.000 Euro oder mehr in einen scheinbar innovativen Designerkasten zu investieren, der ist bei einem Architekten zweifelsohne besser aufgehoben. Wenn man schon viel Geld zahlt, dann darf man sich auch das Recht herausnehmen, sich nicht mit Konfektionsgröße herumplagen zu müssen. Zum Wohl der Baukultur.

Der Standard, Sa., 2007.09.01

18. August 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Das kleine Schwarze für zu Hause

Vier Wände? Von wegen. Die Architekten Flöckner & Schnöll schlugen ein Wohnen im Glashaus vor und hüllten das ungewöhnliche Ein-familienhaus in einen schwarzen Vorhang.

Vier Wände? Von wegen. Die Architekten Flöckner & Schnöll schlugen ein Wohnen im Glashaus vor und hüllten das ungewöhnliche Ein-familienhaus in einen schwarzen Vorhang.

Ein schwarzer Vorhang weht im Wind. Einmal zuckt er poetisch und gibt den Blick aufs Salzachtal frei, einmal peitscht er mit großer Wucht gegen die Glasfassade. Dass es sich bei dem flachen Beton-Sandwich tatsächlich um ein Einfamilienhaus handelt, glauben nur die Wenigsten. „Wildfremde Leute stehen plötzlich auf der Terrasse und drücken sich die Nase an der Glasscheibe platt“, sagt Maria Flöckner vom Architekturbüro Flöckner & Schnöll.

Manche halten das Haus für ein Aussichtsrestaurant, einmal sei es sogar vorgekommen, dass Mountainbiker stehen blieben, um sich in der coolen Hütte mit Red Bull und Jausensnack zu stärken. Vergeblich. Und auch die Salzburger Kühe sind sich nicht so sicher. Ungeniert treten die gefleckten Wiederkäuer bis an die Hauskante vor und stecken ihren Kopf durch den schwarzen Vorhang, der die Terrasse in kühlen Schatten hüllt.

Mit dem Polyethylen-Vorhang wollte man den Bauherren eine Reverenz erweisen. Schließlich sind Friedrich und Heike - so viel darf verraten werden - in der Kunststoffbranche tätig und haben ein Faible für das Material. Für gewöhnlich ist das Gewebe grün und kommt auf Baustellen- gerüsten zum Einsatz. Hier wurde das grobe Netz schwarz eingefärbt und hüllt das Haus in ein dunkles Geheimnis, als wäre es ein zerknittertes Kleid von Issey Miyake.

„Man glaubt es kaum, aber bis vor wenigen Monaten haben wir sehr traditionell in einem Salzburger Altbau gewohnt“, erzählen die Bauherren, „ein paar Monate der Eingewöhnungsphase hat es dann freilich gebraucht.“ Doch um nichts in der Welt sei man heute noch bereit, das schwarze Glashaus gegen irgendein anderes zu tauschen. Schließlich habe man sich mit dem neuen Refugium einen lang gehegten Traum erfüllt: Man wohnt ohne Wände - und weitestgehend auch ohne Räume. Fast nahtlos geht ein Bereich in den anderen über, nur über geschickt versteckte Schiebetüren lässt sich nachts einmal ein Schlafzimmer, einmal ein Bad vom alles umfassenden Wohnbereich trennen.

Schwarzes Loch?

Gewohnt wird im ganzen Haus auf schwarzem Boden, zwischen schwarzen Wänden und größtenteils in schwarzen Möbeln. Doch auf die homogene Bodenfläche ist man besonders stolz: Der fein geschliffene Asphalt - gewärmt wird er mittels Fußbodenheizung - ist mit vielen kleinen, grünlichen Diabas-Steinen versehen. Das macht die Oberfläche wohnlich und edel. Eine rohe Straßenatmosphäre kommt daher gar nicht erst auf. Auch nicht unter der rohen Decke aus Sichtbeton.

Doch warum wohnt man völlig ohne Farben? Architekt Hermann Schnöll erklärt: „Vor dem Haus breitet sich eine wunderbare Natur in den kräftigsten Farben aus, die man sich nur vorstellen kann. Aus diesem Grund haben wir die Innenräume bewusst farblos gehalten.“ Die umliegenden Wiesen und Gebirgsketten kommen dadurch noch besser zur Geltung. Ganz zur Freude der Bauherrin: Sie kann vom hügeligen Ausblick nicht genug kriegen. Denn im norddeutschen Lande, aus dem sie stammt, da ist die Erde flach wie ein Brett.

Zur farblichen Auffrischung tragen nicht zuletzt auch die hauseigenen Autos bei - sie sind Teil des Wohnkonzepts. Durch eine riesige Trennwand aus Glas kann man unentwegt vom Wohnzimmer in die Garage blicken. Hier ein Audi, da ein Volkswagen, getoppt wird der farbenfrohe Fuhrpark von einem knallgelben Porsche. Auto und Bewohner können sich auf diese Weise gegenseitig fesche Blicke zuwerfen, den ganzen lieben Tag. „Die Bauherren haben sich für ein offenes Wohnkonzept entschieden“, so die Architekten, „und das haben sie dann auch konsequent durchgezogen.“

Der Standard, Sa., 2007.08.18



verknüpfte Bauwerke
Haus 47°40´48´´N / 13°8´12´´E

11. August 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Langer Atem, harte Nerven, keine Frage

Der Dachstein und die Eishöhlen bekommen eine neue Corporate Identity verpasst. Das Mammutprojekt soll dafür sorgen, dass das Weltnaturerbe auch in den nächsten tausend Jahren nichts von seiner Faszination einbüßt. Das Ungewöhnliche: Auftragnehmer ist die Kunstuniversität Linz.

Der Dachstein und die Eishöhlen bekommen eine neue Corporate Identity verpasst. Das Mammutprojekt soll dafür sorgen, dass das Weltnaturerbe auch in den nächsten tausend Jahren nichts von seiner Faszination einbüßt. Das Ungewöhnliche: Auftragnehmer ist die Kunstuniversität Linz.

Es ist ein Knochenjob. Keinen Tag und keinen Cent zu viel darf die Arbeit in Anspruch nehmen, denn der Kunde ist streng. Exakt zwei Millionen Euro lässt er sich den Spaß kosten, nach zwei Jahren muss alles endgültig fertig sein: die Architektur, die Innenräume, die neuen Wanderwege, die Wegweiser, die Visitenkarten, die Briefkuverts, die Homepage, die Sehenswürdigkeiten, die Kunstinstallationen, die Skipässe, das Logo, der Schriftzug - ja sogar auf diese fürchterlichen Merchandising-Produkte, vom Radiergummi über das Bäseball-Käppi bis hin zum bedruckten T-Shirt, legt er Wert.

Nichts für einen blutjungen Anfänger, möchte man meinen. Da muss ein mit allen Wassern gewaschener Profi her! Aber dem ist nicht so. Denn der stattliche Generalunternehmer-Auftrag, von dem hier die Rede ist, erging vor einiger Zeit an die Kunstuniversität Linz, genauer gesagt an das Institut raum&designstrategien. „Wir haben fünf Firmen anbieten lassen“, sagt Andreas Pangerl, Geschäftsführer der Dachstein und Eishöhlen GmbH & Co KG, „und die Kunstuni hat einfach das beste und überzeugendste Anbot abgegeben. Niemand anderer hat sich derartig genau an unsere Vorgaben gehalten.“

Zurück zum Anfang. Den Dachstein und die riesigen Eishöhlen kennt jedes Kind. Draußen muss man wandern, und drinnen ist es klirrend kalt. Das war vor zwanzig Jahren nicht anders als heute. Doch die Österreichischen Bundesforste und die Dachstein & Eishöhlen GmbH & Co KG, die dieses Naturschutzgebiet in Obhut haben, waren ihrer alten Tage überdrüssig und wollten sich einer kleinen Imagepolitur unterziehen. Schließlich will man für die Familien von morgen mit neuen Attraktionen und neuer Frische gerüstet sein. Das Gesamtbudget, das man dafür aufwenden wollte, betrug zwei Millionen Euro - Honorare, Bau-, Produktions- und Druckkosten sowie diverse Nebenkosten inklusive. Da man sich nicht mit unzähligen Firmen und Bauunternehmen abrackern wollte, beschlossen die Höchsten im Amt, all ihre Wünsche in einem Stück einem so genannten Generalunternehmer anzuvertrauen. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben. Doch die Ergebnisse des ambitionierten Unterfangens waren eher enttäuschend - bis auf eines.

„Unser Trumpf war, dass wir dem Auftraggeber eine völlig neue Herangehensweise an die Aufgabe anbieten konnten“, sagt Architektin Elsa Prochazka, die an der Linzer Kunstuni das Institut raum&designstrategien leitet, „anstatt nur über wirtschaftliche und realitätsnahe Aspekte zu reden, können wir als Universität auf weit mehr Ressourcen zurückgreifen - wir können uns dem Thema wissenschaftlich annähern und am Ende konzeptionelle Arbeit anbieten.“ In einem einzigen Punkt hat Prochazka gezittert: „Das Schwierigste war, dass ich dem Auftraggeber nicht sagen konnte, wohin das Projekt führen würde. Da in diesem Projekt 60 Studentinnen und Studenten involviert sind, war das Ergebnis nicht vorwegzunehmen.“

Doch die heranwachsenden Raum- und Designstrategen lieferten eifrigste Arbeit. Und - „der Teamgeist war immer da“. Gemeinsam verhandelten sie mit den Behörden, saßen mit dem Welterbe-Komitee an einem Tisch, unterhielten sich mit Naturschutzexperten, mit Ökonomen, Fachplanern, Statikern und Bauphysikern. Die unwirtlichen Bedingungen verlangen einem höchste Präzision ab: Es müssen unzählige Einreichungen bei der Naturschutzbehörde gemacht werden, die Hänge sind steil, Baustellen hier oben sind kompliziert, zudem herrscht in den Höhlen während des ganzen Jahres eine konstante Temperatur von -1° Celsius und eine Luftfeuchtigkeit von 98 Prozent - sehr ungemütlich.

Das Härteste aber war das Einholen von Anboten. Als Universität habe man keinen besonders seriösen Status, in diesem Punkt bedürfe es schon einer Hilfestellung von außen, erinnert sich die Professorin. „Es gelten hier die Spielregeln beinharter Wirtschaftsunternehmen: Seriosität, Realisierbarkeit, Kompetenz, Budgeteinhaltung und Pünktlichkeit. Kein Mensch traut einer Universität ein solches Business zu.“ Am Ende ist auch das geglückt. Prochazka: „Man braucht einen langen Atem, aber es geht.“

Belohnt wird der Dachstein mitsamt seinen Eishöhlen mit einer völlig neuen Corporate Identity. Die Studenten haben ein neues Logo entworfen und liefern die komplette Büroausstattung sowie den gesamten medialen Auftritt von der Homepage bis hin zu den Drucksorten - Lieferung vor die Haustüre inklusive. Sie haben ein künstlerisches Konzept für die Eishöhlen entwickelt und überlagern solcherart die Natur mit der Kunst. Ein Dutzend permanenter und temporärer Installationen haben in den gigantischen Eishöhlen ein neues Zuhause gefunden. Fein für die Besucher. Anstatt sich nach hundert Metern gelangweilt zwischen Stalaktiten und Stalagmiten durchzuwurschteln, können sie nun auf Entdeckungsreise gehen. Es gibt Land-Art, Skulpturen, Licht, Ton und Interaktion.

Auch für neue Architektur wird gesorgt. Die bisher gesichtslosen Liftstationen und Jausenhütten möchte man in ein neues Kleid aus Aluminium wickeln. „Wir haben uns ganz bewusst für dieses moderne und fremde Material entschieden“, erklärt Elsa Prochazka, „denn wir wollten den traditionellen Holzhütten-Erwartungen entgegenwirken.“ Sehr zum anfänglichen Schock der Österreichischen Bundesforste, die ebenfalls maßgeblich in das Projekt involviert sind. Sie fürchteten um ihr liebes Holz. „Die Argumente der Kunstuniversität haben jedoch für sich gesprochen“, sagt Erwin Klissenbauer, Leiter des Vorstandsbüros der Bundesforste, „mit dem neuen Konzept haben wir bekommen, was wir uns insgeheim gewünscht haben.“

Und letztendlich liefert das Institut raum&designstrategien auch die nötige Infrastruktur: Stege und Geländer werden ausgetauscht, die Gebäude werden umgebaut, Shops werden nachträglich eingeplant, ja nicht einmal vor den Gondeln und Autobussen macht man Halt. Da wie dort schlug man ein neues Oberflächendesign für die schwebenden und fahrenden Transportmittel vor. Jeder Profi weiß: Wenn schon Corporate Design, dann auch richtig.

„Aus unserer Sicht sind derzeit rund 50 Prozent umgesetzt“, erklärt Klissenbauer, „und bis zum heutigen Tage sind all unsere Erwartungen komplett erfüllt worden. Eines muss ich den Studenten zugute halten: Sie sind perfekt organisiert, das befürchtete künstlerische Chaos blieb aus.“

Wo ist der Haken? Warum traut sich sonst kein wirtschaftliches Unternehmen an eine solche Zusammenarbeit heran? „Die Kunstuni hat zwar ein enormes Kreativpotenzial und hat extrem professionell gearbeitet“, erklärt Andreas Pangerl von der Dachstein und Eishöhlen GmbH & Co, „aber man muss als Unternehmen erst einmal das Umfeld dafür schaffen, um ein solches Projekt mit Studenten überhaupt zu ermöglichen.“ Es sei wichtig, gegenseitiges Vertrauen zu haben und mit voller Überzeugung die Jungen aktiv fördern zu wollen. Doch Pangerl ist ehrlich: „Nicht alle haben in der Zusammenarbeit mit den kreativen Jungspunden an den Erfolg geglaubt. Und auch als Optimist muss man in manchen Situationen Nerven haben, keine Frage.“

Was bleibt, ist der Erfolg einer riesigen Mannschaft. Zur Halbzeit des Projekts ist klar: Wenn alle Beteiligten eine kleine Brise Risikofreudigkeit mitbringen, dann profitiert am Ende jeder davon. „In ein paar Jahren werden die Studenten und Studentinnen ihr Studium abgeschlossen haben, dann werden sie ein Portfolio haben wie andere erst nach fünf Jahren in der freien Marktwirtschaft“, sagt Elsa Prochazka, „ein besseres Lernen für die Zukunft gibt es nicht.“

Der Standard, Sa., 2007.08.11

21. Juli 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Wunder, Wunder, Welt

Die neuen sieben Weltwunder sind gekürt. Nicht alles ist mit rechten Dingen zugegangen. Anmerkungen zur Unsinnigkeit eines Spektakels.

Die neuen sieben Weltwunder sind gekürt. Nicht alles ist mit rechten Dingen zugegangen. Anmerkungen zur Unsinnigkeit eines Spektakels.

Die Welt liebt die Sieger, die Hitlisten und die Rankings. Ganz gleich, ob in Sport, Politik oder Kultur, die gegenwärtige Gesellschaft funktioniert nach den immergleichen Spielregeln: Sie trennt die Spreu vom Weizen, die Verlierer von den Gewinnern. Wenn es nach dem Philosophen Peter Sloterdijk geht, dann können sich die Menschen dem Wettkampf um den Besten, Höchsten und Größten gar nicht verwehren, handelt es sich dabei doch um „alte biologische Programme mit tief sitzender Erfolgsorientierung“.

Und nicht einmal die Historie bleibt verschont. Mit der weltweiten Medienkampagne „The New 7 Wonders“ ist der nicht enden wollende Wettstreit um die Superlative jetzt auch noch auf altes Kulturgut aus längst vergangenen Tagen übergeschwappt. Bernard Weber, seines Zeichens eine Art Filmemacher, Kurator und Abenteurer, sah in den sieben Weltwundern der Antike einen großen Nachteil - bis auf die Pyramiden in Gizeh stünden Sie alle nicht mehr. Webers Ziel war es daher, die Idee der großen sieben in die Gegenwart zu holen und auf jene Bauwerke zu beschränken, die heute noch existieren.

Dass die Deutschen mit dem Schloss Neuschwanstein in den Ring gestiegen waren, zauberte den Weltenbewohnern ein Schmunzeln ins Gesicht. Als die deutschen Politiker knapp vor der Endausscheidung erfahren hatten, dass ihr Kandidat nicht mehr unter den Favoriten der letzten Runde weile, sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier seine ursprünglich zugesagte Teilnahme in Lissabon doch glatt wieder ab. Deutsche Medien amüsierten sich ob der peinlichen Aktion.

Zu welchem Ergebnis die jahrelange Kampagne bei der Endausscheidung am 7. Juli 2007 geführt hat, war am Folgetag in den Zeitungen zu lesen. Doch eine Frage bleibt unbeantwortet: Warum? „Die Kultur dieser Welt soll aus der verstaubten Ecke der Museen herausgeholt werden“, sagt Tia Viering, Pressesprecherin des Schweizer Medienstars, „wir wollten eine Auswahl an architektonischen Kunstwerken treffen, die die Leute in ihr Herz schließen können.“ Schöne Worte. Was sich hinter dem rührenden Geständnis verbirgt, zeigt ein Blick auf den großen Präsentations-Event in Lissabon, der vor zwei Wochen über die Bühne ging. Neil Armstrong, José Carreras, Jennifer Lopez, Chaka Kahn, Hilary Swank und viele andere - alle waren sie da, um das große Rambazamba vor laufenden TV-Kameras zu unterstützen. Allein, trotz großer Namen blieben die großen TV-Sender aus.

Jordanien, Brasilien, Peru, Indien und China standen mit ihren TV-Kameras an Ort und Stelle, doch aus Europa und Nordamerika kam kein Mensch. Gibt es seitens der USA und der europäischen TV-Sender denn kein Interesse an den neuen sieben Weltwundern? „Europa und USA interessieren sich offensichtlich nicht für Kultur“, sagt Viering, „da schauen die Menschen lieber Big Brother, als dass sie daran teilhaben, ein Stück Geschichte mitzuprägen.“ Schade für Bernard Weber und sein Team, hatte man sich wahrscheinlich einen größeren Erlös am Verkauf der Übertragungsrechte erhofft. Doch auch mit den wenigen Ausstrahlungsinteressenten aus Südamerika und Asien sei es gelungen, nach jahrelangen Investitionen - rund zehn Millionen Euro wurden in die Kampagne bisher hineingebuttert, der Großteil des Geldes wurde gespendet - den Break-even-Point zu erreichen.

Ab sofort, heißt es aus dem Büro von Bernard Weber, sei man dabei, Gewinn zu machen. Hinzu kommen die Rechte am Logo, am Konzept sowie an Büchern, Filmen und sogar Kinderspielzeug. Erste Anfragen sind bereits erfolgt. Was will man mit dem Geld machen? „Wir haben uns verpflichtet, 50 Prozent der Gewinne in Zukunft in die Restaurierung der neuen sieben Weltwunder und einiger anderer Monumente zu investieren“, erklärt Viering. Die Bauwerke werden aufgezeichnet, dokumentiert und photogrammetrisch erfasst. In Folge möchte man von den sieben gekürten Bauwerken dreidimensionale Modelle anfertigen. „Sollte den neuen Weltwundern eines Tages das Gleiche widerfahren wie den antiken, dann möchten wir zumindest auf genaue Aufzeichnungen zurückgreifen können. Es wäre schade, irgendwann einmal nicht mehr zu wissen, wie das eine oder andere Weltwunder überhaupt ausgesehen hat.“ Was mit den restlichen fünfzig Prozent der Erlöse geschehen wird, darüber schweigt man sich aus.

Die Unesco hat sich von diesem medialen Spektakel bereits längst distanziert. „Sentimentale und symbolische Werte allein reichen nicht aus, um ein Bauwerk auf eine neue Liste zu setzen“, heißt es in einer offiziellen Stellungnahme aus Paris, „wissenschaftliche Kriterien müssen definiert werden, die Qualität der einzelnen Stätten muss evaluiert werden, ein juristisches und organisatorisches System muss aufgestellt werden.“ Bei der Privatinitiative von Bernard Weber sei all das nicht passiert. Fazit: „Zwischen Webers medialisierter Kampagne und der wissenschaftlichen und aufklärerischen Arbeit der Unesco gibt es keinerlei Vergleichsmöglichkeit.“

Mona Mairitsch, Welterbe-Beauftragte der Unesco und deren stellvertretende Generalsekretärin in Wien, schließt sich im Gespräch mit dem Standard den Zweifeln an: „Die mediale Kampagne von Bernhard Weber entspricht einfach nicht den universellen, objektiven und wissenschaftlichen Ansprüchen, denen wir uns beispielsweise verpflichten.“ Allein dass die Weltwunder per Internet ausgewählt wurden, aber nur zwei Prozent der Weltbevölkerung überhaupt ans Netz angeschlossen sind und davon 90 Prozent in industrialisierten Ländern leben, spreche nicht für die Repräsentativität der 7 neuen Weltwunder.

Auch die Wunderwahl selbst wirft einige brennende Fragen auf. Die Nominierung und die eigentliche Endauswahl erfolgte per Publikumsvoting via SMS und Internet. Ganz so wie bei Starmania und beim Songcontest. Das Auswahlverfahren dazwischen lief über eine eigens zusammengestellte Jury aus internationalen Architekten (Vorsitz hatte Federico Mayor): Cesar Pelli (USA), Harry Seidler (Australien), Zaha Hadid, (Großbritannien), Tadao Ando (Japan), Yung Ho Chan (China) und Aziz Tayob (Südafrika). Die prominenten Namen in Ehren, doch Geschichtsexperten sind sie alle nicht. Selbst Aziz Tayob - im Übrigen das einzige Jurymitglied, das auf Anfrage des Standard Auskunft erteilen wollte - zweifelt an der Kompetenz der Juroren: „Das sind alles großartige Architekten, keine Frage. Aber wir wissen, dass ihre Namen hier mehr gezählt haben als ihr geschichtliches Fachwissen.“

Experten und Konsulenten wurden den Juroren nach Auskunft Tayobs nicht zur Seite gestellt. „Ich habe auf eigene Faust mit zwei Fachleuten zusammengearbeitet. Außerdem habe ich beschlossen, dass man die eigenen Favoriten in Natura sehen muss. Also bin ich zu jenen Bauwerken hingeflogen, die ich noch nicht gekannt hatte.“ Würden Sie so einen Job noch einmal annehmen? Tayob: „Ich hätte mir gewünscht, dass Weber an die Sache wissenschaftlicher herangeht. Mich wundert auch, dass die sechs Jurymitglieder einander nie getroffen haben. Wir haben ausschließlich via E-Mails korrespondiert. Unter derartigen Umständen würde ich wahrscheinlich nicht mehr teilnehmen wollen.“

Nicht unwesentliche Kleinigkeit am Rande: Die sechs Architekturjuroren arbeiteten ehrenamtlich. Nach Auskunft von Aziz Tayob erhielten sie nicht einmal Spesen und Aufwände rückerstattet. „Die Architekten fanden unsere Initiative ganz toll und wollten aus diesem Grund unbedingt mitmachen“, heißt es aus dem Büro von Bernard Weber, „eine finanzielle Entschädigung hätte hier nicht gepasst.“

Was den Erdenbewohnern bleibt, sind sieben neue Weltwunder. Insgesamt 100 Millionen Menschen haben ihre Stimme abgegeben. Die Identifikation dürfte bei den Gewinnern dementsprechend groß sein. Doch hinter den Kulissen ist das neue „Wundergesiebt“ nichts anderes als Starmania, Dancing Stars oder Big Brother - über den Umweg demokratischer Illusion bindet man die Leute an sich und erhält dadurch Zuschauerquoten, Ruhm und finanziellen Profit. Schade, dass die kapitalistische Trickkiste nicht auf tanzende und singende Sternchen beschränkt ist. Jetzt wird auch noch die Baukunst aufgefressen.

Die nächsten Weltwunder-Wahlen stehen indes schon an. Kommendes Jahr geht es der Natur an den Kragen, gefolgt von technischen Errungenschaften und Friedensleistungen. Die Sieger werden lauten: Ayers Rock, Internet und Mutter Teresa. Wetten?

Der Standard, Sa., 2007.07.21

07. Juli 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Der Architekt als Sozialarbeiter

Im Zukunftsdrill drohen die Kleinen und Schwachen jämmerlich unterzugehen. Damit das nicht passiert, nehmen sich ihrer ein paar Architekten an.

Im Zukunftsdrill drohen die Kleinen und Schwachen jämmerlich unterzugehen. Damit das nicht passiert, nehmen sich ihrer ein paar Architekten an.

Architektur ist eine wunderbare Sache. Doch wenn man einigen Koryphäen und Kapazundern zuhört, wie sie sich die Stadt von morgen vorstellen, dann kann es schon passieren, dass man urplötzlich zusammenzuckt und unter der Last ihrer Zukunftsvisionen in panische Angst verfällt. Hochhäuser strecken sich nach den Wolken, Städte werden immer schneller und größer, das Bauen verkommt zu einem einzigen großen Monopoly-Spiel der Eitelkeiten. Wer in diesem Drill überleben will, der muss schon über den richtigen sozialen Status, vor allem aber über das nötige Kleingeld verfügen - sonst wird's bitter.

Umso erfreulicher war letztes Wochenende die Urban Prototyping Conference an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Wolf Prix, Vorstand des Instituts für Architektur, lud Rang und Namen ein, um sich zwei Tage lang über den Stadt-Prototypen von morgen zu unterhalten. Das Gute zuerst: Europa hat ein Herz für Schwache. Denn während nordamerikanische und asiatische Architekten wieder einmal den menschenverachtenden Hightech-Utopien frönen, zerbricht man sich auf diesem Kontinent eher den Kopf über die soziale Verantwortlichkeit von Architekten - und bietet Lösungen für die kleine Frau und den kleinen Mann an.

„Der Raum ist kein Gegenstand, er ist eine soziale Form“, hatte der französische Philosoph und Soziologe Henri Lefebvre einst gesagt. Stimmt das? „Wenn die soziale Form die Art und Weise ist, wie man lebt - ja, dann hat er Recht“, sagt die Pariser Architektin Anne Lacaton. Gemeinsam mit ihrem Partner Jean-Philippe Vassal entwickelt sie von jeher Projekte, die fürs kleine Portemonnaie bestimmt sind und die aus kleinsten Ressourcen das Maximum herausholen. Ihre Bauherren leben in Gebäuden aus Polycarbonat-Stegplatten, in Gewächshäusern, in adaptierten Containern. Und alle sind sie glücklich.

„Mit der Zeit haben wir erkannt, dass das Billigbauen eine riesige Chance ist und uns ständig neue Horizonte eröffnet. Man denkt aus diesem Blickwinkel irgendwie kreativer“, sagt Lacaton, „manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass wir all unsere Projekte nicht hätten machen können, wenn mehr Geld da gewesen wäre.“ Das Motto von Lacaton & Vassal ist ganz einfach: „Wir wollen aus jedem Projekt das Maximum herausholen: das Maximum an Fläche, an Raum, an Entfaltungsmöglichkeiten, letztendlich auch das Maximum an Luxus.“

Seit Kurzem entwickeln die französischen Querdenker ihre Konzepte nicht nur für ein paar auserwählte Auftraggeber, sondern gleich für eine ganze Meute. Mit einem gewonnenen Wettbewerb ist es geglückt, die unkonventionellen Wohnideen erstmals einem 60er-Jahre-Wohnblock in der Pariser Banlieue überzustülpen. Wie sieht das konkret aus? Das Haus bleibt im Kern im Großen und Ganzen bestehen und wird nur geringfügig saniert. Die tatsächliche Änderung betrifft die Fassade: Sie wird komplett entfernt. Rund um das bestehende Gebäude kommt eine Stahlkonstruktion, die die Wohnräume nach außen erweitert und mit einer Loggia abschließt.

Damit das ganze Projekt effizient über die Bühne gehen kann, werden die Wohnraum-Erweiterungen zur Gänze vorgefertigt. Sodann werden die Module vor Ort gebracht und gestapelt, bis vom alten Haus nichts mehr zu sehen ist - also 20 Stockwerke hoch. Für die nunmehr größeren Schlaf- und Wohnzimmer heißt es dann: Geblickt wird ab sofort durch eine vollverglaste Fassade. Davor kann man noch auf eine Loggia treten, die mit Schiebetüren aus Kunststoff-Paneelen geöffnet oder geschlossen werden kann.

Das Anbauen an der äußersten Schicht ist für die Bewohner äußerst praktisch: Monatelang wird es vor ihren Fenstern zwar lärmen und stauben, dafür aber können die Menschen in ihren Wohnungen verbleiben und müssen sich nicht nach einem Notquartier umschauen. „Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass kein Mensch an den ursprünglichen Ort zurückkehrt, sobald er einmal umgesiedelt ist“, sagt Anna Lacaton, „ich bin daher froh darüber, dass wir in diesem Projekt alle Bewohner halten können. Kein Einziger ist abgesprungen.“

Mit dem Umbau von Lacaton & Vassal ging ein Mediations- und Partizipationsverfahren einher. Es stellte sich heraus, dass manche Bewohner in ihrer bisherigen Wohnung nicht mehr glücklich sind - entweder hat sie die falsche Himmelsrichtung oder die falsche Größe, oder sie liegt schlichtweg im falschen Stockwerk. Durch langes Hin- und Herschieben gelang es schließlich, innerhalb des Wohnblocks die Wohnungen untereinander so zu tauschen, dass alle Bewohner zufrieden gestellt sind. „Die Diskussionen mit den Bewohnern haben das ganze letzte Jahr in Anspruch genommen“, sagt die Architektin, das sei eine ganz schön lange Zeit. „Doch es hat sich ausgezahlt.“

Nicht unwesentliches Detail am Rande: Die Kosten für einen Umbau dieser Art liegen bei nicht einmal 50 Prozent gegenüber einem Neubau - dabei sind die Abbruchkosten in dieser Kalkulation noch nicht einmal berücksichtigt. „Die Baukosten pro Quadratmeter sind für uns eigentlich nicht relevant, denn wir arbeiten ausschließlich mit Wohnungspreisen“, sagt Lacaton", je günstiger wir bauen, desto mehr Quadratmeter hat die Wohnung." Für Bauherren und Bauträger sei das ein ungewöhnlicher Ansatz. Aber er scheint zu funktionieren. Baubeginn ist im Dezember 2007. Ein Jahr später wird dann emsig gesiedelt und getauscht.

Die soziale Ader der Architekten ist jedoch keineswegs auf ein paar Wohnungen beschränkt. Das dänische Architekturbüro BIG arbeitet schon seit Jahren daran, die öffentlichen Flächen innerhalb der Stadt zu maximieren. Allein für Kopenhagen gibt es eine Handvoll Projekte, die entweder in Planung oder bereits realisiert sind. Mit dem so genannten Harbour Bath setzte Architekt Bjarke Ingels, sozusagen der Big Boss, eine schwimmende Holzlandschaft mitten in den Hafen. Die drei Becken samt Sprungturm stehen der Bevölkerung - wohlgemerkt kostenlos - zur Verfügung.

Eine Gratisnutzung verspricht auch jene übergreifende Terrasse, die demnächst auf die Kopenhagener Dachlandschaft gelegt werden soll. Der öffentliche Platz in luftiger Höhe wird den Menschen als Sonnendeck, als Partyfläche und als Strandbar mitsamt Beach-Volleyball dienen. „Wir müssen uns genau überlegen, wie sich das zeitgenössische Leben in unseren Städten zunehmend verändern wird“, erklärt Ingels, „die neuen politischen, wirtschaftlichen, technologischen, aber auch die soziologischen und ethnischen Gegebenheiten verlangen einen neuen Weg in der Architektur.“

Einen solchen ging auch der Österreicher Hubert Klumpner. Vor einigen Jahren kehrte er der Heimat den Rücken und emigrierte nach Venezuela, wo er gemeinsam mit seinem US-Kollegen Alfredo Brillembourg das Büro Urban Think Tank gründete. Bei der Konferenz in Wien präsentierten die beiden Architekten ein Projekt, das vor wenigen Wochen zu bauen begonnen wurde: Mit einer ebenso simplen wie effizienten Idee gelang es ihnen, die Slumsiedlungen von Caracas, die bisher ohne befestigte Straßen und ohne infrastrukturelle Versorgung die Berghänge emporkletterten, ans öffentliche Verkehrsnetz anzubinden - mit einer Seilbahn. In Kooperation mit dem österreichischen Seilbahn-Produzenten Doppelmayr wurde ein Bauvorhaben geboren, das mit einem Schlag den Alltag von etlichen Tausend Caraceños verbessern wird. Auf einer Länge von knapp drei Kilometern - insgesamt wird es fünf Haltestellen geben - wird sich die Seilbahn ihren Weg durch die hügelige Slumsiedlung bahnen und dabei gute 300 Höhenmeter überwinden.

Ist das der europäische Traum einer Architektur von morgen? Wie es scheint, wurde man dem Titel der Urban Prototyping Conference in Wien gerecht. Hier ist er also - der Prototyp für die Zukunft. Doch die Sozialarbeit wäre nicht, was sie ist, wenn nicht stets ein Fünkchen Selbstkritik mitschwänge. „Wenn wir von einer Protoyp-Stadt ausgehen, dann heißt das, dass wir diesen Prototyp auch vervielfältigen müssen“, sagt Architekt Hubert Klumpner, „doch das blinde Kopieren widerstrebt jeder sozialen Betrachtungsweise. Im Endeffekt wären alle Städte gleich.“

Stille im Saal. „Die größten Probleme der Welt können Architekten nicht lösen“, sagt Gastgeber Wolf Prix. Wie Recht er damit hat! Anne Lacaton, Bjarke Ingels und Hubert Klumpner haben jedoch vorgezeigt, wie man die großen Probleme etwas kleiner machen kann.

Der Standard, Sa., 2007.07.07

30. Juni 2007Wojciech Czaja
Der Standard

James Bond geht schwimmen

Luxushäuser in Klosterneuburg? Das sieht bald einmal altbacken und bieder aus. Architekt Andreas Schmitzer tritt den Gegenbeweis an. Sein Einfamilienhaus schwebt in der Luft.

Luxushäuser in Klosterneuburg? Das sieht bald einmal altbacken und bieder aus. Architekt Andreas Schmitzer tritt den Gegenbeweis an. Sein Einfamilienhaus schwebt in der Luft.

Klosterneuburg ist ein edles Pflaster: Wohlhabende Menschen tummeln sich auf herausgeputzten Straßen, fahren in blank polierten Autos durch die Gegend und haben eine vorzügliche Kaufkraft. Das einzige, das in lebensqualitativer Hinsicht dem Luxus beschämend hinterherhinkt, ist die zeitgenössische Architektur. Denn am kleinen Städtchen hinter dem Leopoldsberg ist die Avantgarde seit jeher schnurstracks vorbeigeritten.

Doch vor einigen Jahren hat ein Umdenken eingesetzt. Junge Architekten mit viel Elan sagen der messingfarbenen und schmiedeeisernen Tradition den Kampf an und bringen frischen Wind ins Kleinod. Eines der waghalsigsten Beispiele dafür liegt mitten in den Wohnhügeln und stammt aus der Feder des Architekturbüros project A.01. Der Kontrast könnte nicht gewaltiger sein: Statt bodenständiger Häuslbauerei schwebt das weiße Einfamilienhaus bodenenthoben über dem Grundstück und erinnert an eine dieser coolen James-Bond-Hütten aus den guten alten Siebzigern.

Möchte man das Haus betreten, muss man nicht etwa einen ordinären Türknauf in die Hand nehmen und die Tür dann banalerweise ins Haus drehen. Nein, man drückt auf einen Knopf, auf dass sich die Haustüre lautlos zur Seite schiebe. Könnte von Q sein. Ein paar Sekunden später schiebt sich die Türe wieder zu. Gespenstisch.

Sandstein zum Greifen

Was außen mit viel Naturstein beginnt, setzt sich auch im Innenraum fort. Das gesamte Foyer ist an Wand und Boden mit sandgestrahltem Kalkstein ausgekleidet und bleibt in eleganten Weiß- und Beigetönen. Ob die Atmosphäre nicht etwas zu kühl ist? „Ganz und gar nicht“, entgegnet Architekt Andreas Schmitzer, „die Oberfläche ist rau und unregelmäßig, und strahlt dadurch eine sogar eine gewisse Wärme aus.“

Rein ins Wohnzimmer. Rechts schält sich eine eigens entworfene Küche aus dem Hang, links offenbaren sich die Weiten des Wohnens und Essens. Gelegentlich tänzeln ein paar schräge Stahlsäulen durch den Raum und halten die Obergeschoße in Balance. Im hinteren Teil des Wohnzimmers wird es bequem: Die Sitzlandschaft wird von einem in die Wand integrierten Kamin gewärmt. Über der Feuerstelle hängt das einzige Mitbringsel aus der alten Wohnung - ein Porträt des Ururgroßvaters, das anno 1894 in die Leinen gepinselt wurde.

Nach dem Essen solle man nicht schwimmen, heißt es im Volksmund. Doch der Versuchung kann man nicht widerstehen: Erst einmal angegessen, kann man die raumhohen Schiebetüren zur Seite drücken und direkt vom Essplatz in den Pool köpfeln. Innerhalb weniger Sekunden genießt man absolute Schwerelosigkeit. Wer untertaucht, kann durch ein Fenster in der Beckenwand - es besteht aus vier Zentimeter dickem Plexiglas - sogar in den Keller blicken, wo die anderen bereits saunieren oder mit Hanteln ihren Körper stählen.

„Im Sommer ist der Swimming-Pool eindeutig die Mitte des Hauses“, erklärt Architekt Schmitzer, „je nach Fensterposition können Außen- und Innenraum dann nahtlos ineinander fließen.“ Nach Auskunft der Bauherren wird das nasse Blau rege genutzt.

Haus mit Schiebedach

Doch das Schwimmbecken ist nicht die einzige Stelle, wo man das Blau buchstäblich ins Haus holen kann. Im ersten Stock gibt es vor den beiden Kinderzimmern eine Galerie, die den Kids als Spielzimmer dient. Wieder mal ein Knopfdruck - im Nu schiebt sich das Dach zur Seite und macht aus der Galerie ein Atrium unter offenem Himmel. „In Autos funktionieren Schiebedächer schon seit vielen Jahren, warum also nicht in der Architektur?“ Der kleine Unterschied: Hier misst das Dach stolze zehn Quadratmeter.

„Die Bauherren waren ein Traum“, blickt Schmitzer zurück, „wir haben nicht nur über Alltägliches diskutiert, sondern haben uns auch über Architektur unterhalten.“ Letzteres ging mit größter Akribie über die Bühne. 6.500 Arbeitsstunden verschlang die Planung des Hauses. Da bekommt Klosterneuburger Luxus eine neue Dimension.

Der Standard, Sa., 2007.06.30



verknüpfte Bauwerke
Villa Klosterneuburg

30. Juni 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Wo sind die Visionäre?

Die Unternehmensgruppe Delta feierte gestern ihr 30-jähriges Bestehen. Das gibt Anlass zum Nachdenken: Welchen Stellenwert haben Generalplaner und Generalunternehmer heute - und wie sieht der Architekt von morgen aus?

Die Unternehmensgruppe Delta feierte gestern ihr 30-jähriges Bestehen. Das gibt Anlass zum Nachdenken: Welchen Stellenwert haben Generalplaner und Generalunternehmer heute - und wie sieht der Architekt von morgen aus?

Die Immobilien- und Baubranche ist ein fetter Apparat. Die Fäden, die dabei gesponnen, und die Drähte, die dabei gezogen werden, sind für die meisten unsichtbar. Für die Wenigen jedoch, die sie sehen, sind sie ein undurchdringliches Knäuel von permanentem Auftraggeben und Auftragnehmen. Es gibt Stadtplaner, Verkehrsplaner, Projektentwickler, Projektsteuerer, Architekten, Konsulenten, Consulter, Controller, Coaches, Bauträger, Baumanager, Generalübernehmer - und die stille Zuversicht, dass nach vielen atemlosen Jahren und vielen ausgeschütteten Euro-Millionen eines Tages ein schlüsselfertiges Gebäude dasteht, hoffentlich ohne große Baumängel.

Für einen Investor ist diese Gewaltentrennung freilich eine Zitterpartie ohne Ende. Sind nämlich erst einmal alle Interessen und Meinungen unter Dach und Fach, braucht es in der Regel nicht lange, bis der Streit eskaliert. Spätestens beim ersten Rohrbruch oder beim ersten Riss in der Decke beginnt eine Lawine zu rollen, die oft erst vor Gericht abgebremst werden kann. Die Folgen sind unliebsam und unangenehm. Am Ende muss irgendwer in den sauren Apfel beißen.

Kein Wunder also, dass sich Investoren mit Vorliebe an jene Büros wenden, die alle Planungsleistungen - und meist auch den Bau selbst - aus einer Hand anbieten. Ein solches Büro sitzt in Wels und trägt den einprägsamen Namen Delta. Gestern, Freitag, feierte man mit großem Rambazamba und viel Tamtam das 30-jährige Bestehen, genauer gesagt bejubelte man „30 Jahre Visionen“. Hier eine Body-Performance („Delta Flying High“), dort ein Live Talk („Delta Next Generation“), abgerundet wurde das Ganze dann von Wein und DJ-Klängen („Delta Fusion“ und „Delta Mix“).

Stellt sich unweigerlich die Frage: Welche Visionen hat die Unternehmensgruppe Delta denn überhaupt verfolgt? „Eine der größten Visionen vor dreißig Jahren war, eines Tages zu den größten Projektentwicklern im Handelsbereich zu werden und damit in den Osten Europas vorzudringen“, erklärt Geschäftsführer Knut Drugowitsch, „aus diesen beiden Visionen heraus sind die meisten Projekte entstanden.“

Heute ist die Unternehmensgruppe Delta größtenteils als Generalplaner tätig, gelegentlich schlüpft sie sogar in die Rolle des Generalunternehmers und bietet dann Planung und Bauabwicklung in einem Stück an. Die Projekte reichen von Österreich über die neuen EU-Länder bis runter zur Ukraine und beinhalten unter anderem Shopping-Center, Bürogebäude und - das mag ein wenig überraschen - Krankenhäuser. Warum gerade Krankenhäuser? „Wegen der hoch komplizierten Haustechnik ist die Abwicklung bei einem Krankenhaus viel komplexer als bei vielen anderen Projekten.“ Für einen Investor sei das ein guter Grund, alle Planungsleistungen innerhalb eines einzigen Hauses zu vergeben.

Doch es hilft nichts. Sosehr ein Generalplaner bzw. Generalunternehmer mit seinem breiten Serviceangebot beim Investor ins Schwarze trifft, so schlecht ist sein Image aus dem Blickwinkel der Architektur und Kultur. „Der Generalplaner hat nicht den besten Ruf, denn viele Architekten schauen sehr kritisch auf Kollegen, die Architektur und Projektentwicklung aus einer Hand anbieten“, sagt Drugowitsch, im Übrigen selbst Architekt, „in dieser Branche wird einem bald der Kommerzstempel aufgedrückt.“ Natürlich habe es auch in der Delta-Gruppe Zeiten gegeben, da man in Hinblick auf die Architektur nicht allzu selbstkritisch gewesen ist. Doch diese scheinen nun überstanden, gibt sich der Geschäftsführer stolz.

Der Trend zur Generalplanung lässt sich nicht leugnen. Als die Delta-Gruppe vor 30 Jahren gegründet wurde, war die Zusammenfassung der Instanzen in Österreich noch ein Fremdwort, heute ist der erweiterte Architekturbegriff bereits gang und gäbe. „Generalplanung ist ein Trend, auf den Architekten in Zukunft aufspringen müssen, wenn sie in einer guten Position bleiben und letztlich auch überleben wollen“, sagt Georg Pendl, Präsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, „man muss verstehen, dass der Auftraggeber ja nicht unbedingt zehn unterschiedliche Firmen beauftragen möchte. Ihm ist es lieber, wenn die Verantwortung in einer Hand liegt.“

Das bestätigt freilich auch die Delta: „Viele Teams rund um Architekt, Statiker, Bauphysiker und Fachplaner geraten sich oft in die Haare. Der Bauherr weiß dann nicht, woran er ist“, sagt Knut Drugowitsch, „es ist eine Frage der Haltung, doch ich habe nun mal den ganzheitlichen Ansatzpunkt und bevorzuge es, wenn das gesamte Team an einem Strang zieht.“ Wird der Bogen überspannt, könne ein Projekt auch einmal platzen. Bestes Beispiel dafür ist die unendliche, schließlich gescheiterte Genese von Wien Mitte. Drugowitsch: „Einer der großen Nachteile ist, dass der Investor hinsichtlich Rendite, Gewinn und Flächenmaximierung seine eigenen Ziele verfolgt. Auf die Öffentlichkeit nimmt er dabei keine oder nur kaum Rücksicht.“ Es liege daher in der Verantwortung des Planers, Objektivität zu wahren und sich auf die Interessen der Öffentlichkeit zu konzentrieren.

Schwierig wird es allerdings dann, wenn der Architekt von morgen auch den Bau bzw. das Baumanagement übernimmt. Waren so genannte Totalunternehmerverfahren bisher nur bei privaten Projekten erlaubt, ist dies mit dem neuen Vergabegesetz, das heuer in Kraft getreten ist, auch bei öffentlichen Bauten möglich, erklärt Christian Aulinger, Vorsitzender der ig architektur. Er leitete im April heurigen Jahres eine Arbeitsgruppe, die im Auftrag des Wirtschaftsministeriums den „Leitfaden für eine innovationsfördernde Vergabe“ erstellt hat. „Wenn der Planende gleichzeitig der Bauende ist, dann kann das dem Projekt unmöglich gut tun. Bei solchen Gesamtpaketen leidet zwangsläufig die Architektur, denn für Innovation ist dann kein Platz mehr.“

Wie weit darf die totale Architektur also reichen? „Natürlich gibt es Grenzen für die Generalplanung, nicht überall hat dieses Modell Berechtigung“, gesteht sich Drugowitsch ein, „bei öffentlichen Bauten beispielsweise hat Generalplanung meiner Meinung nach nichts verloren.“ Richtig eingesetzt sei sie hingegen überall dort, wo Architektur zur wirtschaftlichen Bewertung einer Immobilie und zur Imagesteigerung eines Unternehmens beitragen kann.

Die Unternehmensgruppe Delta leistet auf ihrem Gebiet ganz gute Arbeit. Die Projekte brauchen sich nicht zu verstecken, die Bauherren sind glücklich, der Imagegewinn dürfte ganz passabel sein. Immerhin verbaut die Delta jährlich rund 100 Millionen Euro. Doch den Innovationspreis für Architektur wird ein ganzheitlicher Anbieter wie die Delta nicht einheimsen können - dafür ist man im Geschäftsbild viel zu sehr den Spielregeln der Immobilienbranche verpflichtet.

Was bleibt, ist der Appell an den gesunden Menschenverstand der Investoren und Immobilienhaie. Was hat Vorrang? Die gebotenen Vorteile bezüglich Kostensicherheit, Termin-sicherheit, Bauzeitverkürzung und Verwaltungsoptimierung - oder doch die kulturelle und soziale Komponente, die in jedem Bauvorhaben steckt? Das muss jeder für sich selbst beantworten. Die Delta zeigt jedenfalls vor, in welche Richtung sich der Beruf des Architekten in Zukunft weiterentwickeln wird. Nun liegt es an den Architekten, sich diesem allmählichen Berufswandel zu stellen und das zu entwickeln, was ohne intensives Engagement zu kurz kommen wird - Visionen für die kommenden 30 Jahre.

Der Standard, Sa., 2007.06.30

30. Juni 2007Gisela Gary
Wojciech Czaja
Der Standard

Facelifting für betagte Häuser

Sanieren ist leichter gesagt als getan. Die Renovierung alter Bausubstanz ist nämlich nicht nur ein technisches, wirtschaftliches und architektonisches Thema, sondern vor allem auch ein soziales. Eindrücke vom 1. Internationalen Sanierungskongress in Wien.

Sanieren ist leichter gesagt als getan. Die Renovierung alter Bausubstanz ist nämlich nicht nur ein technisches, wirtschaftliches und architektonisches Thema, sondern vor allem auch ein soziales. Eindrücke vom 1. Internationalen Sanierungskongress in Wien.

In der Immobilienbranche gibt es klare Worte. Man spricht von Grundstücksflächen, bebaubarem Volumen, Baukosten, Rendite - und meint damit letztlich immer nur den Neubau. Was im gängigen Jargon zu kurz kommt, ist oft die alte Bausubstanz. Altbau? Das schreit nach veralteten Raumstrukturen, nach technischem Nachholbedarf, nach einem Haufen unlösbarer Probleme. Um die Berührungsangst mit Umbau und Sanierung etwas zu zügeln, fand in Wien vor einigen Tagen der 1. Internationale Sanierungskongress statt. Der Ort hätte nicht besser sein können: Zum Diskutieren fanden sich die Experten aus aller Herren Länder in der Wiener Hofburg zusammen.

Natürlich sind die herrschaftlichen Räumlichkeiten, die zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert entstanden sind, nicht stellvertretend für alles Alte, wenn von Immobilien die Rede ist. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, auf in die Tage gekommene Bausubstanz zu treffen, ziemlich hoch. In Wien lag der Anteil der Wohnungen aus der Gründerzeit (1848-1914) vor 15 Jahren noch bei 37,7 Prozent. Durch Wohnungszusammenlegungen und teilweisen Abbruch ist dieser mittlerweile auf 36 Prozent gesunken.

Dass es weit mehr Möglichkeiten gibt als Abbruch oder rigorosen Umbau, war Thema des Sanierungskongresses. Bei den Experten herrschte Einigkeit: Die Rahmenbedingungen für Revitalisierungen müssten sich entscheidend verbessern. Denn immer noch gibt es eine Vielzahl an Stolpersteinen, die es Planern und Ausführenden nicht leicht macht, schützenswerte Gebäude wirtschaftlich zu sanieren. Schließlich müsste der ökonomische Aspekt auf beiden Seiten zum Tragen kommen - sowohl beim Bauherrn als auch beim Auftragnehmer.

Für die Veranstalter des Kongresses - das sind Vasko+Partner und Michael Balak vom Österreichischen Forschungsinstitut für Chemie und Technik (ofi) - war dies jedenfalls eine wichtige Botschaft. Der Handlungsbedarf der öffentlichen Hand habe sich auch in den Diskussionen widergespiegelt, sagt Wolfgang Poppe vom Ingenieursbüro Vasko+Partner, „Sanierung und Erhaltung von alter Bausubstanz ist mehr als nur eine Bauaufgabe - dabei geht es um Gesellschaftspolitik und um den Umgang mit alter Bausubstanz im Interesse aller Beteiligten“.

Interesse steigern

Das Hauptinteresse des Kongresses war, einige vertretbare Investitionsmöglichkeiten und Amortisationsmodelle für die Nutzung und den Erwerb von Altbauten aufzuzeigen. Das ist geglückt. Der Ball liege nun eindeutig bei der öffentlichen Hand. Rudolf Schicker, Planungsstadtrat für Wien, zeigte Interesse: „Wir wollen einerseits alte Gebäude bestmöglich erhalten und andererseits den Klimaschutz einbinden.“ Für eine historische Stadt wie Wien sei ein solcher Kongress, der an zwei Tagen Planer, Gewerbe, Industrie und die Immobilienbranche zusammenführt, daher besonders wichtig.

„Es hat sich herauskristallisiert, dass im Rahmen der Altbausanierung nicht die normative Vorgangsweise maßgebend sein soll, sondern die ingenieursmäßige und kreative Planung“, sagt Veranstalter Michael Balak, darüber hinaus müsse man die Schulung von Bauherren, Planern und Ausführenden hinsichtlich neuester Technologien zunehmend forcieren. „Der Sanierungsbedarf ist ein internationales Thema, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die volkswirtschaftliche Bedeutung aufgrund des Zusammenhanges mit der stark expandierenden Tourismusbranche“, gibt Balak zu verstehen. Eine Grundvoraussetzung bei der Altbausanierung sei selbstverständlich ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander mit den Denkmalpflegern.

Soziales fördern

Einen Output aus fernen Gefilden lieferte Billy C. L. Lam, Exklusivgast aus China. Er berichtete über Hongkong und seinen problematischen Umgang mit bestehenden Altbauten. Einen positiven Umstand streichte er jedoch heraus: die Balance zwischen sozialen Interessen, Eigentümerinteressen und der Erhaltung historischer Substanz.

Margarete Funk, Liegenschaftsbewertungs- und Immobilienexpertin, betonte den Stellenwert des Nutzers: „Bei allen Betrachtungen ist die Nutzung das Wesentlichste. Das ist ein wichtiger Ansatz. Eine Immobilie erklärt sich nicht als Gebäude allein, sie muss in ihrer Gesamtheit betrachtet werden.“

Der Standard, Sa., 2007.06.30

09. Juni 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Neues von der Front

Diese Woche fand in Wien eine internationale Städtekonferenz zum Thema „Waterfront Development“ statt. Was mit einem Studentenprojekt begann, könnte bald Wirklichkeit werden. Und wieder einmal heißt es: Wien an die Donau.

Diese Woche fand in Wien eine internationale Städtekonferenz zum Thema „Waterfront Development“ statt. Was mit einem Studentenprojekt begann, könnte bald Wirklichkeit werden. Und wieder einmal heißt es: Wien an die Donau.

Als Besucher der Waterfront-Konferenz in Wien war man vergangenes Wochenende nah am Wasser gebaut. Detroit, Chicago, Boston, Vancouver und Seoul, aber auch europäische Städte wie Hamburg, Glasgow und Oslo zeigten sich von ihrer besten Seite - und präsentierten bereits abgewickelte und noch geplante Projekte, die unter dem hübschen Begriff „Waterfront Development“ bald in die Annalen des Städtebaus eingehen könnten: Die Umstrukturierungen, Revitalisierungen und fantasievollen Neunutzungen von brachliegenden Flächen waren allesamt so überzeugend gelöst, dass man sich bisweilen das Grinsen nicht verkneifen konnte.

Und Wien? Mit ambitionierten Projekten rund um den Donaukanal schaffte man in den vergangenen Jahren wahrlich Beachtliches. Hier ein Badeschiff, dort eine Strandbar, da ein paar Hochhaus-Attraktoren und nicht zuletzt der hoffentlich ernst genommene Brückenschlag aus der Feder von Gregor Eichinger, besser bekannt unter dem Namen „Trialto“. An der Donau, der stolz besungenen Mutter aller Arme und Kanäle, herrscht indes planerische Dürre. Zwar sind Donauinsel und linkes Donauufer hochwertige Naherholungsgebiete, die europaweit keinen Vergleich zu scheuen brauchen, doch die baulichen Übergänge zum großstädtischen Treiben sind bis auf wenige Ausnahmen beschämend und ergeben eine Perlenkette verspielter Chancen.

„Keine andere Domäne einer Stadt birgt so viel Potenzial für Außergewöhnliches oder Festliches wie ihre Waterfront“, sagt Alex Krieger, Stadtplanungsprofessor an der Harvard Graduate School of Design in Cambrigde, „mehr denn je und aus vielschichtigen Gründen fühlen wir uns zu ihr hingezogen.“ Krieger sinniert von neu gestalteten Waterfronts in Boston und Pittsburgh, erzählt von Schanghai und Kairo, aber auch von traurigen Zeitgenossen wie beispielsweise New Orleans oder Washington D. C.

„Das größte Problem ist, dass die Flüsse oft Barrieren sind, nicht nur zwischen den beiden gegenüberliegenden Ufern, sondern auch entlang des Flussverlaufs selbst.“ Vielerorts mangle es an attraktiven Uferpromenaden, auf denen man kilometerweit flanieren kann, an Abwechslung zwischen städtischem Trubel und Ruhe im Grünen, vor allem aber an Interaktion mit dem Wasser, sei es in Form von Wassersport oder lediglich in der Bequemlichkeit eines gemieteten Wassertaxis. Zum Teil treffe dieses Problem auch auf Wien zu.

Gemeinsam mit dem Wiener Architekten Christoph Lechner betreute Krieger in Cambridge im Wintersemester 2006/2007 den Studentenworkshop „Reconnecting Vienna to its Danube“ - ein Versuch einer Wiederannäherung an den großen Strom aus der Distanz des fernen Amerika. „In diesem Studio haben die Studenten untersucht, wie sich moderne Städte zu ihrer Waterfront ausrichten, und haben im Anschluss daran Entwürfe und Planungskonzepte für ein neues Wien an der Donau entwickelt.“ Der Output: insgesamt zwölf Entwurfsideen, die vom Einschneiden brutaler Stadtachsen bin hin zu sensiblen Eingriffen die ganze Skala an Machbarkeit und Utopie abdecken. „Einige Studenten haben Wien ganz einfach nicht verstanden, andere aber haben die Probleme dieser Stadt sehr rasch erfasst“, kommentiert Krieger die Studentenprojekte.

Für Wien interessant dürften vor allem jene Visionen sein, die entlang der Uferkante gelegentlich für Action sorgen und den scheinbar unendlich langen Treppelweg hinter dem scheinbar unendlich langen Handelkskai in unterschiedliche Teilstücke gliedern. Es geht um den richtigen Mix. „Mit Monostrukturen, die entweder nur Wohnen oder nur Shopping oder nur Büro vorsehen, werden Sie einen neuen Stadtteil niemals beleben können“, erklärt Jürgen Bruns-Berentelg, Geschäftsführer der HafenCity Hamburg GmbH. Das kleine Einmaleins der Stadtplanung führt am Beispiel Hamburg jedoch zu Resultaten, die man aus Wien (vorerst) nicht kennt.

Die Grundstücke der neuen HafenCity werden nicht etwa blindlings an den erstbesten Investor verkauft, sondern wechseln den Besitzer ausschließlich über Optionsverträge. Erst nachdem die vorvertragliche Kooperation zu einem beiderseits zufrieden stellenden Ergebnis geführt hat, geht's ans Eingemachte. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass Stadtplanung und Privatwirtschaft effizient zusammenarbeiten und dass zu jedem Zeitpunkt der Projektentwicklung Konsens herrscht. Zugute kommt dies vor allem einer lebendigen Erdgeschoßzone.

„Ein derartiges Regulativ gibt es in Wien nicht“, sagt der grüne Abgeordnete Christoph Chorherr, „so strukturell man bereits im Wohnbau arbeitet, so gibt es im Bürobau bis heute überhaupt keine Kontrolle seitens der Stadt. Die Büroentwicklung erfolgt ganz nach dem Motto: Ich verkaufe dir das Grundstück, und du machst, was du willst.“ Mischnutzungen nach dem Vorbild Hamburgs seien in Wien allein deshalb schon schwierig, weil die Wohnbauförderung dies gar nicht erst zulasse und weil Wohnfonds und Wirtschaftsförderungsfonds völlig getrennt agieren, so Chorherr.

Planungsstadtrat Rudolf Schicker hält kurz inne. „Für den heutigen Tag nehme ich mit, dass wir dem erstbesten Investor nicht alles zulassen dürfen.“ Man müsse sich erst die Planung des gesamten Ufers ansehen, erst dann könne man abschätzen, ob die Absichten des Investors auch wirklich förderlich sind. Unter Umständen müsse der eine oder andere Plan auch wieder ins Wasser fallen.

Wie konkret sind Schickers Absichten? „Das Projekt an der Harvard School war jetzt ein erster Impuls. Ich gehe davon aus, dass wir bereits bei der EURO 2008 wissen werden, welches Waterfront-Projekt wir als Erstes angehen werden.“ Zur Auswahl stehen punktuelle Überbrückungen des Handelskais, eine neue Marina, ein neues Schiffsterminal an der Reichsbrücke und - auch das klingt sehr konkret - ein neuer Wohnbau auf dem Gelände des Brigittenauer Bahnhofs. In Zukunft könne man sich die Donau außerdem mit herumflitzenden Wassertaxis vorstellen. Erste Gespräche seien bereits am Laufen.

Das sind hehre Ziele, die sich Wien da steckt. Spät, aber doch möchte man Johann Straußens Walzer Genüge tun und rückt an die Donaukante vor. Vorerst in Gedanken, bald vielleicht in Taten. Wie viel man mit ambitionierter und nachhaltiger - also über die Legislaturperiode hinaus denkender - Stadtplanungspolitik erreichen kann, beweist das Revitalisierungsprojekt „Clyde Waterfront“ in Glasgow. Noch vor zehn Jahren wurde Glasgow in den Medien als „höllischer Mix“ und „schlimmste Stadt Großbritanniens“ abgehandelt. Heute spricht man vom „neuen Berlin“, vom „Manhattan mit schottischem Flair“ und von der „coolsten Stadt auf der Insel“. Möge dies Ansporn sein.

Der Standard, Sa., 2007.06.09

02. Juni 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Kahlenberg mit Schlag

Der schönste Blick auf Wien: 1936 baut Erich Boltenstern hier ein Restaurant. 1964 baut Hermann Kutschera ein Hotel. 2007 wird renoviert. Aber wie! Eine Leidensgeschichte zwischen öffentlichem Interesse und unternehmerischem Tun.

Der schönste Blick auf Wien: 1936 baut Erich Boltenstern hier ein Restaurant. 1964 baut Hermann Kutschera ein Hotel. 2007 wird renoviert. Aber wie! Eine Leidensgeschichte zwischen öffentlichem Interesse und unternehmerischem Tun.

Am 28. Juli 2003 kam die Hotelruine auf dem Kahlenberg unter den Hammer. Kein Mensch hatte damals geahnt, welche Ausmaße das neue Projekt rund um Hotel und Tourismusfachschule eines Tages annehmen würde. Vier Jahre später ist die schwelende Furcht schauderhafter Gewissheit gewichen. Großbäcker Leopold Wieninger, der für McDonald's Österreich die Brötchen macht, hob während der Versteigerung im richtigen Moment die Hand und lieferte in der Folge die perfekte Rezeptur für ein elegantes Vorbeischummeln an Flächenwidmungs- und Denkmalschutzbestimmungen. Während das Großprojekt angemengt wurde und zu einer stattlichen Größe aufging, schwieg die Stadt Wien still - und schaute dem längst bewilligten Bau beim Wachsen zu.

Eine große Liebe war dem Restaurant von Erich Boltenstern (1936) und dem Hotelbau von Hermann Kutschera (1964) von Anfang an nicht beschieden. Grundstückseigentümer und Investor Leopold Wieninger konnte sich für die alte Materie nicht so recht begeistern. Sein Interesse galt der Rendite - und somit der Variante Abbruch und Neubau. Schon wenige Monate nach dem Kauf beauftragte Wieninger das Wiener Architekturbüro Neumann+Steiner mit dem Entwurf für ein völlig neues Hotel mitsamt einer Zweigstelle der Hotelfachschule Modul.

„Wir haben einen totalen Abbruch vorgesehen“, erklärt Architekt Eric Steiner gegenüber dem Standard, „natürlich wissen wir, dass es sich da oben um Bauten von Boltenstern und Kutschera handelt, aber unserer Meinung nach war die Originalsubstanz bereits erheblich zerstört.“ Etliche Um- und Zubauten hätten dem Gesamtensemble über Jahrzehnte hinweg schlecht zugesetzt. „Das, was man tatsächlich hätte erhalten können, wäre ein Torso gewesen“, so Steiner, „doch es macht keinen Sinn, von einem Denkmal nur einen kleinen Teil zu konservieren. Und deswegen haben wir uns für die radikale Lösung entschieden.“

Das Projekt wurde eingereicht, die Abbruch- und Baubewilligungen wurden erteilt. Recht spät schaltete sich das Bundesdenkmalamt ein und verlangte den Architekten eine Machbarkeitsstudie ab. Erste Gedanken wurden laut, denen nach das Boltenstern-Restaurant unter Denkmalschutz gestellt werden könnte. „Sollte das Bundesdenkmalamt die Bauteile aus dem Jahr 1934 unter Schutz stellen, ist das gesamte Projekt gestorben“, mokierte sich Wieninger damals, „dann lasse ich es stehen, so wie es ist.“

Die Drohungen des Investors stellten sich als leer heraus. Denn selbst nachdem das Kahlenberg-Restaurant zum Denkmal erklärt worden war, blieb es beim beharrlichen Quadratmeter-Schinden. Die Wiederherstellung der Straßenfassade und des nordwestlichen Einganges werde „den Charakter von 1936 erkennen lassen“, hatte Planungsstadtrat Rudolf Schicker noch im Dezember 2004 prophezeit. Die Ankündigung blieb vage.

Die baulichen Maßnahmen, die unter Wieningers Ägide getroffen wurden, sprengen alle Befürchtungen. Von behutsamer Sanierung keine Spur. Die ehemalige Aussichtsterrasse wurde mit zwei Stockwerken überbaut, neue Portale, gläserne Stiegenhäuser und kreisrunde Fenster in der Fassade lachen dem österreichischen Denkmalschutz ins Gesicht. Der einst so stolze Bau der Moderne schaut drein wie ein zweitklassiges Dorfhotel.

Selbst die so genannte alte Bausubstanz riecht verdächtig nach neuem Stahlbeton und blitzblanken Ziegelsteinen. Ist das alles noch original? Wieninger hat eine Antwort parat: „Ja, es ist alles in Original-Boltenstern-Dimension.“ Die Ziegelmauern seien unstabil gewesen, vielerorts seien statt Ziegeln gar lockere Steinsbrocken in der Mauer gesteckt, und überhaupt hätten manche Wände bereits altersschwach gewackelt. Wie schätzen Sie das Verhältnis von Alt zu Neu? Wieninger: „Fünfzig zu fünfzig.“ Für ein Gebäude, das unter Denkmalschutz steht, ist das ein jugendlich spritziger Schnitt.

Doch nicht nur die Sanierung des historischen Restaurants, die insgesamt zehn Millionen Euro verschlungen hat, lässt ein Auseinanderklaffen von theoretischer Vorschrift und praktischer Ausführung vermuten. Auch der viergeschoßige Neubau an der Stelle des alten Kutschera-Hotels (Investitionsvolumen 15 Millionen Euro) hat eine eigentümliche Entstehungsgeschichte hinter sich.

„Die größte Schwäche am gesamten Projekt ist wahrscheinlich, dass so ein Grundstück überhaupt in die Hände eines Privaten kommen konnte“, erklärt Architekt Eric Steiner, „ein Areal mit diesem bedeutenden Potenzial müsste eigentlich im Eigentum der Stadt liegen.“ Im Hinblick auf die heutigen Diskussionen rund um Flächenwidmung und Nutzung sei Steiner selbst nicht wahnsinnig unglücklich darüber, dass Wieninger die Zusammenarbeit mit den Architekten bereits vor drei Jahren beendet hatte. Was nur Wenige wissen: Die Architekten Neumann+Steiner haben mit dem Projekt längst nichts mehr zu tun. Seit drei Jahren liegt das Projekt in den Händen der SBC Bauconsulting GmbH, die die gesamten Planungsarbeiten über die Bühne brachten und schließlich den Bau abwickelten.

Worauf spielt Architekt Eric Steiner an, wenn er von Flächenwidmung und Nutzung spricht? Ursprünglich hatte die Flächenwidmung für das prominente Kahlenberg-Grundstück eine gewerbliche Nutzung vorgesehen. Projektentwurf und Einreichung ordneten sich der Flächenwidmungsvorschrift verständlicherweise unter - und sprachen von einem Hotel. Schon bald wechselte der Projektbetreiber Leopold Wieninger sein Wording: Es sei nie die Rede von einem Tageshotel gewesen, vielmehr von einem Apartment-Hotel für „temporäres Wohnen“, also für einen mehrere Monate dauernden Aufenthalt.

Das eine führte zum anderen. Im April 2006 gab's plötzlich die ersten Wohnungsangebote im Internet. Exquisite Luxuswohnungen mit bis zu 340 Quadratmetern und riesengroßen Terrassen warteten da auf betuchte Klientel. Nicht lange. Einige der insgesamt elf Nobelwohnungen sind schon längst verkauft. „Die Apartment-Wohnungen haben den marktüblichen Preis“, erklärte Grundstückseigentümer Wieninger letzte Woche auf Anfrage des Standard, „7000 Euro pro Quadratmeter - oder aber Sie mieten die Wohnungen zum Quadratmeterpreis von 15 Euro.“ Interessanter Aspekt am Rande: Auf Wunsch gibt es die Wohnungen mit Hotelservice.

Geplant war ein touristisches Hotel mit 53 Zimmern. Geworden ist daraus offenbar ein halbes Wohnhaus mit der klingenden Adresse Kahlenberg 1-3. Fragt sich nur: Wie kommt es dazu? „Dieses Finanzierungsmodell ist in der Tourismusbranche üblich“, bemüht sich Immobilienmakler Ernst Thomas. Man nehme eine Wohnung, verkaufe sie einem Privatbauherrn und fordere ihn dazu auf, die Wohnung seinerseits wieder an den Hotelbetreiber zu vermieten. Schließlich sei laut Anzeige ja eine gewerbliche Nutzung vorgesehen. „Wenn ein Käufer sich dann entscheidet, selbst in einem Apartment zu wohnen, kann man ihn daran nicht hindern.“ Das geht runter wie Öl.

Die Stadt Wien steckt den Kopf in den Sand. „Wir haben eine schriftliche Zusage des Eigentümers, dass ein Hotel und eine Hotelfachschule errichtet wird, und gehen davon aus, dass sich Wieninger daran hält“, hieß es im April 2006 aus dem Büro von Stadtrat Rudolf Schicker. Was er heute dazu sagt, wissen wir nicht. Für eine Stellungnahme war er nicht zu gewinnen.

Der Standard, Sa., 2007.06.02

26. Mai 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Mausgrau zugeschüttet

Vor zwei Tagen eröffnete das Museumszentrum Mistelbach - nicht unbedingt ein Diamant zeitgenössischer Architektur, aber durchaus ein fesches Dach für die Kunst von Hermann Nitsch.

Vor zwei Tagen eröffnete das Museumszentrum Mistelbach - nicht unbedingt ein Diamant zeitgenössischer Architektur, aber durchaus ein fesches Dach für die Kunst von Hermann Nitsch.

In der Zeitrechnung der Kunst ist es gerade einmal einen Wimpernschlag her, dass Hermann Nitsch noch als Perversling und Skandalist bezeichnet wurde. Was gestern noch eine Schweinerei war, kann man heute schon als kleines Präsent mit rotem Mascherl in den Warenkorb legen. Rechtzeitig zur Eröffnung des Museumszentrum Mistelbach und somit zum frisch eingeweihten Nitsch-Museum brachte die ortsansässige Confiserie Hynek eine eigene Edition so genannter Schütt-Trüffel heraus: zuckersüße Schokokugeln mit blutroten Einsprengseln. Runterspülen kann man das Ganze mit einem kräftigen Schluck aus dem Nitsch-Doppler. Der bärtige Mann ist eine Vermarktungskanone.

Vorgestern, Donnerstag, eröffnete das Museumszentrum Mistelbach, kurz MZM. Bevor sich die Ausstellungsräume im Laufe der Zeit neutralisieren und zum Teil auch anderen Ausstellungen und Themenkreisen zur Verfügung gestellt werden, steht das MZM jedoch ganz im Zeichen des Schüttmeisters Hermann Nitsch, dessen Orgien-Mysterien-Residenz Prinzendorf nur 20 Kilometer entfernt liegt. Aus Rücksicht auf seine Abneigung gegenüber zeitgenössischer Architektur (siehe Interview rechts) war an einen Neubau gar nicht erst zu denken. Wo Rinderblut und breiige Farbkleckse am Leinen haften, da muss die Architektur schon mehr zu bieten haben als nur sich selbst.

Eine Schicksalsfügung: Die Räumlichkeiten des MZM sind geschichtlich durchtränkt. Denn in den altehrwürdigen Hallen hatte man einst Pflüge fürs umliegende Ackerland geschmiedet. Dann kamen Globalisierung, steigende Konkurrenz und schließlich das Aus für die Mistelbacher Pflugfabrik. „Erste Ideen, hier ein Nitsch-Museum anzusiedeln, gehen schon etliche Jahre zurück“, erklärt Christian Resch, Bürgermeister von Mistelbach, „ich habe Nitsch die Hallen gezeigt, er war vom Fleck weg begeistert.“

Die allerersten Konzepte skizzierte gleich der Bürgermeister höchstpersönlich aufs Papier, doch bald war klar, dass ein professionelles Händchen so schlecht nicht sein kann. Gemeinsam mit Wolfgang Denk - vormals Direktor der Kunsthalle Krems, heute Chef des Nitsch-Museums - und Johannes Kraus (Archipel-Architekten, derzeit besser bekannt als die Sängerknaben-Kristallisten) gründete man eine ARGE und machte sich an die Arbeit. Da die Planung des Museums von Anfang an als Gesamtkunstwerk von Kunst und Architektur konzipiert war, hatte man an der Selbstverständlichkeit eines öffentlichen Wettbewerbs vorbeimanövrieren können. Nach Auskunft des Bürgermeisters belaufen sich die Gesamtinvestitionen auf etwa fünf Millionen Euro.

Das Museumszentrum Mistelbach ist weder eine fliegende Untertasse noch eine unverwechselbare architektonische Landmark. Das wäre bei der vorgefundenen Bausubstanz und beim beschränkten Budget auch kaum möglich. Stattdessen ist es ein adrett zurechtgerücktes Ensemble aus alten Häusern, viel Fabriksduft und einigen baulich gar nicht uninteressanten Industriehallen. „Dem gesamten Areal und den Hallen im Speziellen lag ein monumentaler, archaischer, sakraler Ausdruck inne“, sagt Architekt Johannes Kraus, „das traf sich perfekt mit dem Werk und der Person von Hermann Nitsch, denn Religion stellt für ihn bekanntlich einen wichtigen Impuls dar.“ Es habe daher nahe gelegen, im Zuge der architektonischen Konzeption auf eine Klosteranlage zurückzugreifen.

Nun denn. So heißen die unterschiedlichen Gebäudeteile - sie alle stehen heute unter Denkmalschutz - beispielsweise Langhalle, Kathedrale, Seitenschiff, Claustrum oder Krypta. Sogar ein Campanile mit 25 Meter Höhe war geplant, doch die finanzielle Daumenschraube zwang zu Abstrichen. Kraus: „Wir hatten die Wahl zwischen unterirdischer Krypta und oberirdischem Campanile, damit ist der Turm leider gefallen.“ Macht nichts. Denn, so Kraus, nachträgliche Zubauten könne man später immer noch vornehmen.

Um innerhalb der Museumsanlage einem zentralen Freibereich Platz zu schaffen, wurde eine der Hallen einfach abgeschnitten und verkleinert. So wurde Platz geschaffen für eine Sitzarena, ein Wasserbecken und ein bissl Grün. Tagsüber werden Passanten die Anlage durchqueren, um die Wohnviertel beiderseits des Museumszentrums zu erreichen, vor allem aber wird Hermann Nitsch hier Schüttungen, Tierschnetzelungen und Malaktionen vornehmen können. Eine wuchtige Betonscheibe am Ende des Platzes wird so manchem Stiervieh als Hängealtar dienen.

Um das heterogene Ensemble wieder zu einer Einheit zu fassen, griffen Archipel-Architekten zum Farbkübel und schütteten, jawohl, über das gesamte Areal einen grauen Schleier. „Manchmal greifen Architekten zu mausgrau, weil sie nicht weiter wissen oder weil sie sich nichts anderes trauen“, so Kraus, „in unserem Falle war die gewählte Farbe aber Fügung des Schicksals, denn jede andere ist bei Nitsch bereits mit Symbolik behaftet.“

Die letzten Handgriffe sind gemacht, die Eröffnung ist überstanden, ein paar Kleinigkeiten stehen noch aus. Nichts Aufregendes so weit. Sehr viel aufregender indes ist die Tatsache, dass das kleine Mistelbach nun über ein eigenes Museumsquartierchen verfügt. Und damit erklimmt Bürgermeister Christian Resch wieder einmal ein paar Sprossen auf seiner bisher ohnehin schon Aufsehen erregenden Zeitgenössische-KunstLeiter. Resch: „Was soll ich Ihnen sagen? Wir haben hier weder eine Chance auf große Industrie, noch ist das Weinviertel landschaftlich besonders interessant. Wenn wir als Gemeinde daher auffallen wollen, dann sicher nicht mit dem 600. Heimatmuseum.“

Mistelbach ist ein Vorzeigebeispiel kultureller Positionierung, es punktet vor allem das ohnehin imageschwache Niederösterreich. Schon im Angesichte früher Kunstprojekte hatte Bürgermeister Resch einmal gesagt: „Natürlich schimpfen manche Leute am Stammtisch, doch es ist die Aufgabe der Politik, sich mit der Kunst, die genau jetzt passiert, auseinanderzusetzen.“ Mit ein paar besoffenen Schütt-Trüffeln und einem Gläschen Nitsch-Wein wird auch dieses Nörgeln verstummen.


„Ich liebe Stonehenge“

der Standard: Viel Stress vor der Eröffnung?

Hermann Nitsch: Sagen Sie dieses Wort nicht! Ich ertrage diese Modewörter nicht. Es sind Wörter wie Hula-Hoop-Reifen, sie kommen und gehen.

Viel zu tun vor der Eröffnung?

Nitsch: Ja.

Was sind Ihre letzten Handgriffe, bevor das Museum der Öffentlichkeit übergeben wird?

Nitsch: Ich muss noch alle Sachen einrichten, aber nicht einrichten im herkömmlichen Sinn. Alle Räume müssen gestaltet sein und sollen sakrale Wirkung haben. Das Museum soll über eine reine Ausstellung hinausgehen.

Das heißt?

Nitsch: Das Museum soll nicht nur ein Ausstellungsraum sein, sondern soll auch als Ort für Malaktionen und Sommerakademien dienen. Da müssen Stimmung und Komposition passen.

Wann dachten Sie das erste Mal an ein eigenes Nitsch-Museum?

Nitsch: Ich bin mit dem Bürgermeister Christian Resch gut befreundet. Er ist in Sachen Kunst und Kultur sehr engagiert. So viel dazu. 1987 habe ich in der Wiener Secession eine große Malaktion gehabt. Die Resultate davon hat dann ein oberösterreichischer Sammler gekauft. Es stellte sich die Frage nach einem dauerhaften Ort. Dann bin ich zum Resch gegangen und habe gesagt: Schau, das könnten wir bei euch doch ausstellen. Ich wäre niemals so vermessen zu sagen: Baut ein Museum für mich! Aber es gab einen ungenutzten Altbau in Mistelbach - und den haben wir genutzt.

Sind Sie mit dem Resultat zufrieden?

Nitsch: Mit dem Bau bin ich sehr zufrieden. Ob ich mit dem Projekt als Ganzes zufrieden bin, kann ich noch nicht sagen. Das kann man erst beurteilen, wenn alles fertig ist.

Warum ist alles grau?

Nitsch: Ja, es ist alles gräulich. Aber da müssen Sie die Architekten fragen. Und die werden Ihnen dann eine Antwort darauf geben. Ich wurde in viele Entscheidungen mit eingebunden. Aber es tut mir leid, dass man mich bei der Farbe gar nicht gefragt hat. Ich hätte ja alles in einem gebrochenen Weiß gemacht. Das wäre eine Entsprechung zu Prinzendorf gewesen, dort ist auch alles weiß. Aber was soll ich sagen. Der Kunst ihre Freiheit, der Architektur ihre Freiheit.

Wie war die Zusammenarbeit mit den Architekten?

Nitsch: Innen ist ja alles Gott sei Dank weiß, sonst hätte ich ja kein Bild da reingehängt. Aber Spaß beiseite. Die Zusammenarbeit war sehr gut. Ich war sogar angenehm überrascht, als die Architekten von sich aus den Einbau einer unterirdischen Krypta vorgeschlagen haben.

Welchen Stellenwert hat Architektur für Sie?

Nitsch: Ich liebe Stonehenge, und ich liebe die Pyramiden. Otto Wagner und Le Corbusier sind auch noch ganz okay. Und ich mag Land Art, auch das ist eine Art Architektur. Eine Architektur ohne Zweck ist mir ohnehin am liebsten.

Stonehenge und Pyramiden sind ja nicht die jüngsten Beispiele.

Nitsch: Aber die besten. Mit zeitgenössischer Architektur habe ich meine Probleme, das gebe ich zu. Da kann ich leider nicht so viele schöne Sachen entdecken. Aber was sein muss, muss sein. Das ist schon in Ordnung. Doch man möge den Anstand haben, und die zeitgenössische Architektur in der Erde eingraben. Die Welt muss ja nicht noch mehr verschandelt werden. Mit Architekt Johannes Kraus hatte ich ja schon ein Riesenglück. Stellen Sie sich vor, ich wäre auf den Hollein gestoßen.

Der Standard, Sa., 2007.05.26



verknüpfte Bauwerke
MZM Museumszentrum Mistelbach

05. Mai 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn Busse schlafen

Den Wiener Linien mangelte es an einer modernen Großgarage für ihre Flüssiggas-Flotte. Das Architektur-büro fasch & fuchs beteiligte sich vor Jahren an einem EU-weiten Wettbewerb - und kam zum Bus. In wenigen Wochen wird eröffnet.

Den Wiener Linien mangelte es an einer modernen Großgarage für ihre Flüssiggas-Flotte. Das Architektur-büro fasch & fuchs beteiligte sich vor Jahren an einem EU-weiten Wettbewerb - und kam zum Bus. In wenigen Wochen wird eröffnet.

Wozu braucht man Architekten? Der Großteil der Bevölkerung wird schnurstracks antworten: für Einfamilienhäuser, für Wohnbauten, für Bürogebäude, Schulen und Museen. Und, ach ja, bestenfalls noch für Bahnhöfe und Kirchen. Dass ein beträchtlicher Teil der architektonischen Tätigkeit in den Bereich des städtischen Nutzbaus fällt, wird oft vergessen. Welchen Stellenwert alltägliche Selbstverständlichkeiten wie Kraftwerk, Kläranlage, Umspannwerk und diverse Verkehrsbauten im Stadtbild tatsächlich einnehmen, zeigt beispielsweise ein Blick in den ehemaligen Ostblock. So manche Stadt in Polen, in Ungarn und in der Slowakei versumpert im graubraunen Einheitsbrei und fühlt sich einem farbenfrohen Stadtbild-Relaunch kaum mehr gewachsen. Seit Jahrzehnten nämlich liegt die gesamte Industrie und Infrastruktur unter einem rostigen Schleier der kulturellen Demenz.

„Im Wiener Nutzbau wurden bereits etliche markante Zeichen gesetzt“, sagen die Ausstellungskuratorinnen Barbara Feller und Maria Welzig, „die bewusste architektonische Gestaltung transportiert ein neues Bewusstsein in den öffentlichen Ämtern.“ Vor einigen Jahren trugen sie mit ihrer Ausstellung „Vom Nutzen der Architektur“ im Wiener Künstlerhaus das gestalterische Treiben des zweiten Blicks zusammen: Wasseraufbereitungsanlagen, Friedhöfe, Müllabfuhrzentralen und städtische Werkstätten. Die Ausstellung war ein interessanter Blick hinter die Kulissen, denn in der Regel bleibt das infrastrukturelle Herz des Mikrokosmos Stadt für den Endverbraucher unattraktiv und unsichtbar.

Frühjahr 2007. Was im einstigen Ausstellungskatalog noch als computergezeichnetes Bildchen in den Sternen stand, ist nun Realität geworden und eröffnet in Bälde seine Pforten: die Autobusgroßgarage der Wiener Linien in der Leopoldau. An die 150 Normal- und Gelenkbusse werden in wenigen Wochen an den nördlichen Stadtrand von Wien siedeln, wo sie ein neues Dach über dem Kopf erhalten. Die altersschwachen Remisen in der Vorgartenstraße und in Grinzing werden im Gegenzug aufgelassen. Zeichnende Architekten und damalige Wettbewerbssieger: das Wiener Büro fasch & fuchs.

Was war das Schwierigste an diesem Projekt? „Einer der heikelsten Punkte drehte sich rund ums Flüssiggas, mit dem die neue Flotte der Wiener Linien fährt“, erklärt Architekt Jakob Fuchs, „denn die Gefahren, die in diesem Treibstoff lauern, sind sehr hoch.“ Die Auflagen sind es auch. Hier Brennbarkeit, dort Explosionsgefahr, rundherum die prophylaktische Maßnahme absoluten Rauchverbots sowie Löschhilfeanlagen. Zudem ist das gesamte Gelände von einem Netz aus so genannten Schnüffelköpfen überzogen, die es einzig und allein auf entwichenes Gas abgesehen haben. Rund um die Uhr. „Auch wenn man es dem Bauwerk auf den ersten Blick nicht ansehen mag“, so Fuchs, „die Busgarage Leopoldau ist ein komplexes Bauwerk, das eine extrem aufwändige Sicherheitstechnik in sich birgt.“

Ein weiterer Faktor, der im Alltag normalsterblicher Architekten wohl eher zur großen Ausnahme gehört, ist der riesige Maßstab: 20.000 Quadratmeter verbaute Grundfläche. Das Gebäude, das darauf steht, ist so breit und so flach wie eine Flunder. In Zahlen: Eine Fassadenlänge von 150 Metern ist an diesem Gebäude keine Seltenheit. „Wenn man den ganzen Tag vor dem Computer sitzt, dann lernt man, mit solchen Dimensionen natürlich geschickt umzugehen“, erklärt Hemma Fasch, „doch wenn man dann das erste Mal auf der Baustelle steht, merkt man erst, dass das Arbeiten im Kastl mit der Realität nichts zu tun hat.“ Das macht nichts. Zu Fuß geht hier niemand, hier fahren ohnedies alle mit dem Bus.

Zweihundert Menschen werden sich zu Spitzenzeiten in der neuen Großgarage aufhalten. Die meisten werden nur in der Früh und am Abend da sein, um sich umzuziehen, Kaffee zu trinken und sich in den Aufenthaltsräumen über den neusten Klatsch auszutauschen. Frühmorgens - das bedeutet in der Öffi-Sprache: noch vor Sonnenaufgang. Denn spätestens um fünf Uhr befindet sich ein Großteil der Chauffeure und Chauffeurinnen - zehn Prozent, immerhin - bereits auf Achse.

Für die wenige Zeit, in der das Gebäude für die volle Meute gerüstet sein muss, ist für jeden nur erdenklichen Komfort gesorgt. Es gibt Aufenthaltsräume, Schulungszimmer, Garderoben, Duschen, stille Rückzugsorte und gleich eine ganze Schar an lichtdurchfluteten Atrien, in denen hoffentlich schon bald die ersten Topfpflanzen und Zitronenbäumchen gedeihen werden. Hemma Fasch: „In der Planungsphase ist oft betont worden, was für ein Händchen die Busfahrer und -fahrerinnen denn nicht fürs Grüne hätten! Hier werden sie die Möglichkeit haben, diesen Spleen auszuleben.“ Mit den Mitarbeitern werden die Pflanzen einziehen. Letzteres ist ein Geschenk der Architekten. Damit geht man der eigenen Gepflogenheit nach, dem Bauherrn nach erfolgreichem Projektablauf ein Pflänzchen zur Pflege in die Hand zu drücken.

Das erlesene Arbeitsklima in Ehren, doch im Mittelpunkt einer Busgarage steht immer noch der Bus. Die fünf riesigen Hallen bieten überdachte Stellplätze für 180 Normalbusse oder 120 Gelenkbusse. In der Praxis, das weiß man, werden sich diese beiden Typen zu einer transdanubischen Melange vermengen. Im Wettbewerb hatte man den Wiener Linien als Dachhaut noch eine Membran vorgeschlagen. „Die Membran wäre unterm Strich eine sehr clevere und praktische Lösung gewesen“, sagt Projektleiter Fred Hofbauer, „im Brandfall hätte sich ganz einfach ein Loch ins Dach gebrannt, und damit hätten wir alle Auflagen der Brandrauchentlüftung abgedeckt.“ Leider war der Bauherrschaft die Lösung ein wenig zu ungewöhnlich, man wollte sich die Finger nicht verbrennen. Doch dies ist das Wesen von Kompromissen. Dem Projekt tut dies jedenfalls keinen Abbruch.

Immer noch kann sich die Konstruktion sehen lassen. Wie von Engelshand getragen wird jede einzelne der fünf Garagenhallen von einem zarten Raumfachwerk bedeckt. Durch Knickung zu Sheddächern - ein altbewährtes Element aus den Anfängen des Industriebaus - gelangt reichlich Streulicht in die Hallen. Eine künstliche Belichtung wird man untertags wohl gar nicht brauchen.

Die Großgarage Leopoldau dient den Bussen nicht nur als nächtliche Schlafstatt. Täglich werden sie auf Gasdichtheit und Fahrwerk überprüft, täglich rollt man durch die Waschstraße, täglich wird neuerlich Flüssiggas in den Schlund gepumpt. In regelmäßigen Abständen wird die gesamte Niederflurflotte einem Check unterzogen: Reifendruck, Öl und Kühlflüssigkeit, Bremsweg, Kraftstoffverbrauch und - last but, not least - vorsichtiges Parken über dem Hubstempel und rauf in die Höh.

Eine Garage für Busse also. Als ob es eine Rolle spielen würde, unter welchem Dach der bereifte Fuhrpark der Wiener Linien steht. Vielleicht hätten die Baukosten statt 35 Millionen Euro unter normalen Umständen nur 34 Millionen betragen. Mag sein. Doch Busse reparieren sich nicht von selbst. Busse tanken sich nicht von selbst. Und vor allem fahren sich Busse nicht von selbst - zumindest gilt diese Aussage für die nähere Zukunft.

Den Großteil der Tages verbringen die Chauffeure auf einem Arbeitsplatz, der gerade mal so groß ist wie ein Lenkrad und ein Fahrersitz. Im Fond sitzt nicht etwa ein fröhliches, südländisches Völkchen, sondern der grantige Wiener. Es ist ein Knochenjob. Eine fesche Homebase ist daher das Mindeste, was man der Berufsgruppe am Ende eines Tages bieten kann. „Nicht zuletzt ist eine intelligente und erfrischende Planung dieser Bauten auch eine Form von Respekt und Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitern, die diese Betriebe am Laufen halten“, sagen die beiden Ausstellungsmacherinnen Barbara Feller und Maria Welzig.

In wenigen Wochen werden die Remisen in der Vorgartenstraße und in Grinzing der Vergangenheit angehören. Ab dann wird die allmorgendliche Kolonne rot-weißer Busse von der neuen Busgarage in der Leopoldau ausfahren. Sollten die Personen hinter dem Lenkrad ein wenig freundlicher durch die Windschutzscheibe blicken als sonst - Sie wissen, woran das liegt.

Der Standard, Sa., 2007.05.05



verknüpfte Bauwerke
Autobusgroßgarage Leopoldau

21. April 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Magritte lässt grüßen

Bauen in historischer Umgebung? In der Regel kann man damit niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Doch in Paris ist gelungen, wovon Wien nur träumen kann. Ein Blick hinter die Fassade des Nobelhotels Fouquet's Barrière.

Bauen in historischer Umgebung? In der Regel kann man damit niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Doch in Paris ist gelungen, wovon Wien nur träumen kann. Ein Blick hinter die Fassade des Nobelhotels Fouquet's Barrière.

Wien hat seine Lipizzaner, Sachertorten und Pferdeäpfel. Paris hat dafür Haute Couture, Crêpes und Chansons d'Amour. Da wie dort hat man mit einem großen historischen Erbe zu hadern und muss permanent abwägen: Bleibt man wohlbehütete Klischeestadt unter nobler Käseglocke oder lässt man doch lieber die moderne Metropole raushängen? Dass Paris Meisterin der Ambivalenz ist und anderen europäischen Hauptstädten meilenweit davongaloppiert, weiß man schon seit Langem.

Wer in letzter Zeit die emsigen Touristenströme der Avenue des Champs-Élysées verlassen und sich in eine der malerischen Seitenstraßen verirrt hat, der durfte recht staunen. Ein altes Eckpalais ist zu einem steinernen Koloss erstarrt: Surrealismus in höchster Perfektion, René Magritte hätte es nicht besser machen können. Fenster und Türen sind im Angesichte der Zeit erblindet, an ihre Stelle treten Fragmente eines modernen Hauses, das sich wie ein Parasit durch die ausgediente Fassade nagt. Vorbei die Mühsal architektonischer Komposition und geschichtlicher Behutsamkeit, hier macht sich jemand über altbewährte Architekturspielregeln in der Pariser Innenstadt offenkundig lustig.

Dieser Jemand nennt sich Édouard François. Bei seinem jüngsten Wurf im Abseits der Champs-Élysées handelt es sich um einen Erweiterungsbau des Nobelhotels Fouquet's Barrière, das in den Himmel der Pariser Hotellerie emporgestiegen ist: Es darf sich der seltenen Auszeichnung erfreuen, neben Ritz Carlton, Le Meurice und Konsorten das insgesamt sechste Palace-Hotel der Seine-Metropole zu sein. In Zahlen ausgedrückt: Eine Nacht kostet zwischen 700 und 15.000 Euro, gefrühstückt wird gegen Aufpreis.

Die Gretchenfrage: Wie baut man in historischer Umgebung? „Die Bauherren kamen zu mir und wollten quasi direkt auf den Champs- Élysées ein grünes Gebäude, eine absurde Idee“, mokiert sich Architekt François, „die gesamte Straße lebt von einem mondänen Flair und ist von der Architektur Haussmanns geprägt: Stein für Stein.“ Ein ökologisch orientiertes Gebäude mache in diesem historischen Kontext keinen Sinn und sei nichts anderes als reiner Dekor. François wollte sich mit der Problematik des Bauens in hochkultureller Umgebung auf unkonventionellere Weise auseinandersetzen. Über seine Lösung - der Architekt spricht von „moule troué“, also von einer durchlöcherten Schale - waren die Bauherren anfänglich schockiert, heißt es.

Dass sich hinter dem surrealen Gebilde der Kern eines Bürogebäudes aus den Siebzigerjahren verbirgt, lässt sich heute bestenfalls an der niedrigen Geschoßhöhe erahnen. Zu sehr irritiert die schwere Fassade mit ihren betonierten Versatzstücken aus längst vergangenen Tagen. „Sie werden sich jetzt fragen, wie diese Fassade zustande kommt, doch das ist ganz einfach“, sagt François, „ich habe die Optik des bestehenden Hotels kopiert und hier eingefügt. Neusprachlich würde man wohl copy and paste dazu sagen.“

Damit habe der Architekt Édouard François - wie er selbst sagt - die Geschichte auf eine Art und Weise interpretiert, wie dies zuvor von niemandem anderen getan wurde. „Ich wollte die Passanten auf der Straße dazu bringen, eine gewisse Sensibilität zu entwickeln. Sie sollen durch die Gasse gehen und plötzlich vor diesem einen Haus stehen bleiben. An der Störung des Gefüges sollen sie erkennen, wie schön die Haussmann'schen Fassaden eigentlich sind und über welche Schönheit Paris an diesem Ort verfügt.“ Mit dem erdgeschoßgerichteten Blick auf Auslagen von Chanel und Cartier, wie er gerade in dieser Gegend allzu oft angewandt werde, sei dies nicht zu erzielen.

In neuer Interpretation gibt sich übrigens auch das Innenleben des Hotels, das in Zusammenarbeit mit dem Innenraumgestalter Jacques Garcia entstand. Auch Garcia entschied sich für die Arbeitsweise copy and paste, jedoch mit einem noch üppigeren Schuss Karikatur. Lobby und Zimmer scheinen der Ära von Louis XV entfleucht. In goldenem Schwung geben sich Sitzmöbel und Kredenzen, in Samt und Seide gehüllt buhlen die 107 Zimmer und Suiten um die Gunst ihrer zahlungskräftigen Gäste. Dominique Desseigne, Geschäftsführer der Gruppe Barrière erklärt: „Bei aller Liebe zu ausgefallener Architektur muss man letzten Endes doch die Klientel berücksichtigen. Garcia und François haben diese Anforderung verstanden und haben ein ausgewogenes Gebäude auf die Beine gestellt.“

Drängt sich am Ende die brisante Frage auf: Was sagt die öffentliche Stimme zu einem derart waghalsigen Bau, der sich zwischen hochfrequentierten Touristenpfaden mitten in ein intaktes historisches Ensemble setzt? Édouard François: „Baurechtlich ist die Gegend rund um die Avenue des Champs-Élysées total blockiert. Hier zu bauen ist ein Privileg, das in Paris nicht jeder bekommt. Ich gebe es vom ganzen Herzen zu: Es war eine Ehre, die mir hier als Architekt zuteil wurde.“ In Pariser Beamtengefilden gilt François als kulturinteressierter Mann von Welt, der die letzte Dekade kaum etwas gebaut, dafür sehr viel entworfen und sich mit Konzepten aller Art über Wasser gehalten hatte.

„Ich bin Mitglied in der Sammlung des Centre Georges Pompidou und in der Guggenheim-Sammlung, das ist in Frankreich wohl mehr wert als jede Bekanntschaft“, erklärt der Architekt, „ich glaube, dass das ein nicht unwesentliches Kriterium für die Beauftragung an mich war.“ Doch alle Mühe war umsonst, denn das präsentierte Projekt wurde vom Gremium abgeschossen. Nein, das wäre nicht das, was man sich vorgestellt habe. Stadtverschandelung, Provokation und eine Karikatur auf Georges-Eugène Haussmanns Werk rief die aufgehetzte Beamtenmeute. Doch was machte François? „Ich habe meine Sachen zusammengepackt und bin ins Kulturministerium gegangen, um dort vorzusprechen. Dort hat man sich darauf geeinigt, dass es sich bei dem Projekt tatsächlich um zeitgenössische Architektur handelt.“ Die Baubewilligung wurde erteilt.

Ein Bundesministerium, das der zeitgenössischen Architektur eine starke Schulter ist? In Österreich ist so ein Schritt undenkbar. Be- säße ein normal sterblicher Architekt die Dreis-tigkeit, mit seinen Planrollen vor dem Minister höchstpersönlich aufzukreuzen, würde man ihm bestenfalls die kalte, gewiss aber nicht die starke Schulter zeigen. Mit dem Bau des Fouquet's Barrière auf der Nobelmeile Champs-Élysées beweist eine Nation wieder ihre Vorliebe für die Facetten des kulturellen Lebens - und Architektur gehört nun einmal dazu. Das hat man im Land von Haute Couture, Crêpes und Chansons d'Amour bereits begriffen.

Die Baukosten des Hotels belaufen sich auf fünfzig Millionen Euro. Für das Konzept „moule troué“ ist das europäische Patent angemeldet.

Der Standard, Sa., 2007.04.21

14. April 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Magritte lässt grüßen

Bauen in historischer Umgebung? In der Regel kann man damit niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Doch in Paris ist gelungen, wovon Wien nur träumen kann. Ein Blick hinter die Fassade des Nobelhotels Fouquet's Barrière.

Bauen in historischer Umgebung? In der Regel kann man damit niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Doch in Paris ist gelungen, wovon Wien nur träumen kann. Ein Blick hinter die Fassade des Nobelhotels Fouquet's Barrière.

Wien hat seine Lipizzaner, Sachertorten und Pferdeäpfel. Paris hat dafür Haute Couture, Crêpes und Chansons d'Amour. Da wie dort hat man mit einem großen historischen Erbe zu hadern und muss permanent abwägen: Bleibt man wohlbehütete Klischeestadt unter nobler Käseglocke oder lässt man doch lieber die moderne Metropole raushängen? Dass Paris Meisterin der Ambivalenz ist und anderen europäischen Hauptstädten meilenweit davongaloppiert, weiß man schon seit Langem.

Wer in letzter Zeit die emsigen Touristenströme der Avenue des Champs-Élysées verlassen und sich in eine der malerischen Seitenstraßen verirrt hat, der durfte recht staunen. Ein altes Eckpalais ist zu einem steinernen Koloss erstarrt: Surrealismus in höchster Perfektion, René Magritte hätte es nicht besser machen können. Fenster und Türen sind im Angesichte der Zeit erblindet, an ihre Stelle treten Fragmente eines modernen Hauses, das sich wie ein Parasit durch die ausgediente Fassade nagt. Vorbei die Mühsal architektonischer Komposition und geschichtlicher Behutsamkeit, hier macht sich jemand über altbewährte Architekturspielregeln in der Pariser Innenstadt offenkundig lustig.

Dieser Jemand nennt sich Édouard François. Bei seinem jüngsten Wurf im Abseits der Champs-Élysées handelt es sich um einen Erweiterungsbau des Nobelhotels Fouquet's Barrière, das in den Himmel der Pariser Hotellerie emporgestiegen ist: Es darf sich der seltenen Auszeichnung erfreuen, neben Ritz Carlton, Le Meurice und Konsorten das insgesamt sechste Palace-Hotel der Seine-Metropole zu sein. In Zahlen ausgedrückt: Eine Nacht kostet zwischen 700 und 15.000 Euro, gefrühstückt wird gegen Aufpreis.

Die Gretchenfrage: Wie baut man in historischer Umgebung? „Die Bauherren kamen zu mir und wollten quasi direkt auf den Champs- Élysées ein grünes Gebäude, eine absurde Idee“, mokiert sich Architekt François, „die gesamte Straße lebt von einem mondänen Flair und ist von der Architektur Haussmanns geprägt: Stein für Stein.“ Ein ökologisch orientiertes Gebäude mache in diesem historischen Kontext keinen Sinn und sei nichts anderes als reiner Dekor. François wollte sich mit der Problematik des Bauens in hochkultureller Umgebung auf unkonventionellere Weise auseinandersetzen. Über seine Lösung - der Architekt spricht von „moule troué“, also von einer durchlöcherten Schale - waren die Bauherren anfänglich schockiert, heißt es.

Dass sich hinter dem surrealen Gebilde der Kern eines Bürogebäudes aus den Siebzigerjahren verbirgt, lässt sich heute bestenfalls an der niedrigen Geschoßhöhe erahnen. Zu sehr irritiert die schwere Fassade mit ihren betonierten Versatzstücken aus längst vergangenen Tagen. „Sie werden sich jetzt fragen, wie diese Fassade zustande kommt, doch das ist ganz einfach“, sagt François, „ich habe die Optik des bestehenden Hotels kopiert und hier eingefügt. Neusprachlich würde man wohl copy and paste dazu sagen.“

Damit habe der Architekt Édouard François - wie er selbst sagt - die Geschichte auf eine Art und Weise interpretiert, wie dies zuvor von niemandem anderen getan wurde. „Ich wollte die Passanten auf der Straße dazu bringen, eine gewisse Sensibilität zu entwickeln. Sie sollen durch die Gasse gehen und plötzlich vor diesem einen Haus stehen bleiben. An der Störung des Gefüges sollen sie erkennen, wie schön die Haussmann'schen Fassaden eigentlich sind und über welche Schönheit Paris an diesem Ort verfügt.“ Mit dem erdgeschoßgerichteten Blick auf Auslagen von Chanel und Cartier, wie er gerade in dieser Gegend allzu oft angewandt werde, sei dies nicht zu erzielen.

In neuer Interpretation gibt sich übrigens auch das Innenleben des Hotels, das in Zusammenarbeit mit dem Innenraumgestalter Jacques Garcia entstand. Auch Garcia entschied sich für die Arbeitsweise copy and paste, jedoch mit einem noch üppigeren Schuss Karikatur. Lobby und Zimmer scheinen der Ära von Louis XV entfleucht. In goldenem Schwung geben sich Sitzmöbel und Kredenzen, in Samt und Seide gehüllt buhlen die 107 Zimmer und Suiten um die Gunst ihrer zahlungskräftigen Gäste. Dominique Desseigne, Geschäftsführer der Gruppe Barrière erklärt: „Bei aller Liebe zu ausgefallener Architektur muss man letzten Endes doch die Klientel berücksichtigen. Garcia und François haben diese Anforderung verstanden und haben ein ausgewogenes Gebäude auf die Beine gestellt.“

Drängt sich am Ende die brisante Frage auf: Was sagt die öffentliche Stimme zu einem derart waghalsigen Bau, der sich zwischen hochfrequentierten Touristenpfaden mitten in ein intaktes historisches Ensemble setzt? Édouard François: „Baurechtlich ist die Gegend rund um die Avenue des Champs-Élysées total blockiert. Hier zu bauen ist ein Privileg, das in Paris nicht jeder bekommt. Ich gebe es vom ganzen Herzen zu: Es war eine Ehre, die mir hier als Architekt zuteil wurde.“ In Pariser Beamtengefilden gilt François als kulturinteressierter Mann von Welt, der die letzte Dekade kaum etwas gebaut, dafür sehr viel entworfen und sich mit Konzepten aller Art über Wasser gehalten hatte.

„Ich bin Mitglied in der Sammlung des Centre Georges Pompidou und in der Guggenheim-Sammlung, das ist in Frankreich wohl mehr wert als jede Bekanntschaft“, erklärt der Architekt, „ich glaube, dass das ein nicht unwesentliches Kriterium für die Beauftragung an mich war.“ Doch alle Mühe war umsonst, denn das präsentierte Projekt wurde vom Gremium abgeschossen. Nein, das wäre nicht das, was man sich vorgestellt habe. Stadtverschandelung, Provokation und eine Karikatur auf Georges-Eugène Haussmanns Werk rief die aufgehetzte Beamtenmeute. Doch was machte François? „Ich habe meine Sachen zusammengepackt und bin ins Kulturministerium gegangen, um dort vorzusprechen. Dort hat man sich darauf geeinigt, dass es sich bei dem Projekt tatsächlich um zeitgenössische Architektur handelt.“ Die Baubewilligung wurde erteilt.

Ein Bundesministerium, das der zeitgenössischen Architektur eine starke Schulter ist? In Österreich ist so ein Schritt undenkbar. Be- säße ein normal sterblicher Architekt die Dreis-tigkeit, mit seinen Planrollen vor dem Minister höchstpersönlich aufzukreuzen, würde man ihm bestenfalls die kalte, gewiss aber nicht die starke Schulter zeigen. Mit dem Bau des Fouquet's Barrière auf der Nobelmeile Champs-Élysées beweist eine Nation wieder ihre Vorliebe für die Facetten des kulturellen Lebens - und Architektur gehört nun einmal dazu. Das hat man im Land von Haute Couture, Crêpes und Chansons d'Amour bereits begriffen.

Die Baukosten des Hotels belaufen sich auf fünfzig Millionen Euro. Für das Konzept „moule troué“ ist das europäische Patent angemeldet.

Der Standard, Sa., 2007.04.14

07. April 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Wo ist der Garten Eden?

Der diesjährige Architekturkongress in Münster widmete sich schwerpunktmäßig der Ökologie und der Zukunft unserer Städte. Doch so rasch wird sich nichts ändern, befürchten die großen Protagonisten von Welt.

Der diesjährige Architekturkongress in Münster widmete sich schwerpunktmäßig der Ökologie und der Zukunft unserer Städte. Doch so rasch wird sich nichts ändern, befürchten die großen Protagonisten von Welt.

Wer März sagt, muss auch Münsterland sagen. Für die Dauer von drei Tagen schnellte die Dichte an Architekten und Architekturinteressierten in Münster wieder einmal in exorbitante Höhen. Das kleine, steinerne Städtchen, das in der Regel durch Bockwurst, Bischofskathedrale und abertausende Radfahrer auf sich aufmerksam macht, vereinte heuer zum vierten Male architektonischen Rang und Namen aller Herren Länder. Es referierten David Chipperfield, Moshe Safdie, Ken Yeang, Mark P. Sexton, Zena Malek, Hani Rashid sowie eine stolze Riege an Österreichern, angeführt von Altmeister Hans Hollein.

Die Vorträge und Diskussionen standen unter dem Eindruck des Klimawandels. Ohne tief schürfendes Schuldbekenntnis traut sich kaum mehr ein Architekt auf die Bühne. Der taiwanische Architekt Adam Chen stellt mit Entsetzen fest: „Nachhaltige Architektur hat es 5000 Jahre lang gegeben.“ Erst mit der Hochkonjunktur des Industriezeitalters, also während der vergangenen hundert Jahre, habe man vergessen, was es heißt, nachhaltig zu bauen. „Jeden Fehler, den wir auf dieser Welt gemacht haben, haben wir bisher einige Male wiederholt“, erklärt US-Architekt Moshe Safdie, „und bis heute sind wir nicht klüger geworden.“ Schließlich Ken Yeang, malaysischer Architekt und Wegbereiter des so genannten grünen Bauens: „Wir haben nur noch ein paar Jahre Zeit, um unseren Lebensstil zu ändern und völlig umzusatteln. Andernfalls steht eine wirkliche Klimakatastrophe bevor.“ Die medialen Einschüchterungsmaßnahmen und Hetzkampagnen unserer Tage seien dagegen harmlos.

Schließlich schüttelt Yeang sein Lieblingsthema aus dem Ärmel: grüne Hochhäuser. „Im Grunde ihrer Natur sind sie eine sehr unökologische Art zu bauen. Um ehrlich zu sein, es ist die schlimmste Art überhaupt.“ Doch Yeang möchte das Übel so klein wie möglich halten, er sieht sein so genanntes „green design“ daher als groß angelegtes Reparaturwerkzeug für die bisher durch Menschenhand erfolgten Verwüstungen und Vernichtungen. „Die Menschen wollen Hochhäuser. Irgendjemand Vernünftiger muss sich schließlich dieser Aufgabe annehmen und etwas Vernünftiges daraus machen.“

Seine Antworten sind bereits zuhauf gebaut. Das neueste Projekt, das sich derzeit noch in Geburtsvorbereitung befindet, hört auf den Namen Editt-Tower und räumt der Flora allein ein Drittel des gesamten Hochhauses ein. Die Begrünung wird zur Kühlung und Isolierung genutzt und dient den Mitarbeitern als psychologische Wohlfühloase.

An einem noch größeren Wurf arbeitet derzeit Moshe Safdie. Er nahm sich einer Stadterweiterung in Singapur an. Statt einer einzigen Hochhauswand, wie dies gefordert war, trennte Safdie seine Gebäude. Zwischen den Bollwerken wird man stadtein- und -auswärts hindurchsehen können.

Erst auf dem Dach werden die Gebäude miteinander verbunden - durch ein Gartenplateau mit fast 9000 Quadratmeter Fläche. Moshe Safdie sinniert: „Es ist wie ein Garten Eden im 50. Stock, mit fantastischem Ausblick, mit Wiesen, Bäumen und Swimming-Pools. An den beiden Enden ragt das Gartenplateau um 60 Meter aus.“

„Eigentlich habe ich den Garten auf dem Dach als Vision gesehen. Mir war klar, dass man die Ausmaße auf ein technisch machbares Maß reduzieren müsste. Aber was machen die Asiaten? Sie fangen an zu rechnen, und nach ein paar Wochen kommen sie daher und sagen: Ja, das machen wir.“ Marina Bay Sands befindet sich bereits in Bau, die Fertigstellung ist für 2009 angepeilt.

Doch mit solchen Projekten allein werde man nicht weit kommen, darin sind sich alle Protagonisten der diesjährigen Architec- tureWorld einig. Denn die hohe Schule der ökologischen Architektur kann weniger bewegen, als man denkt. Am Ende des Tages zückt ein Redner ein zerknülltes Papier aus der Jackentasche. Es ist die „Europäische Charta für Solarenergie in Architektur und Stadtplanung“. Sie ist ein Stück vergilbter Geschichte aus dem Jahre 1996, unterzeichnet von Bonzen wie etwa Renzo Piano, Frei Otto, Sir Richard Rogers, Lord Norman Foster, Françoise-Hélène Jourda, Thomas Herzog, Nicholas Grimshaw oder Gustav Peichl.

Kaum ein Mensch hatte von dieser Charta je gehört. So rasch, wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder - und mit ihr all die gut gemeinten Intentionen. Es ist zu befürchten, dass die dramatisch geschwungenen Reden heutiger Tage das gleiche Schicksal ereilen wird wie anno dazumal: Sie werden sich in nichts auflösen. „Wir leben in einer bequemen Welt und sind zutiefst komfortsüchtig“, sagt Ken Yeang, „unter solchen Umständen wird man niemanden finden, der sich freiwillig einem Lifestyle-Wandel unterzieht.“ Fazit der diesjährigen ArchitectureWorld: Alles bleibt beim Alten, denn noch ist Energie zu billig. Nächstes Jahr sehen wir weiter.

Zu Wort gekommen

Makoto Sei Watanabe / Tokio
Es ist nicht zu verantworten, dass sich Architekten vor ihren ökologischen Aufgaben verstecken. Es wird allerdings nicht genügen, grüne Architektur zu propagieren. Wichtig ist es, in den Köpfen der Menschen Architektur als wichtige Gestaltungskomponente ihres Lebens zu verankern. Architektur muss sie in ihrem tiefsten Inneren fesseln. Ich denke, dass diese Entwicklung in Japan bereits sehr fortgeschritten ist. Das liegt an unserer Vergangenheit, an unserer Kultur, an unserer Auseinandersetzung mit Material, mit Raum, mit unserem persönlichen Umraum. In Europa kann ich diesen Prozess nicht so gut einschätzen. Doch ich habe das Gefühl, dass man auf diesem Kontinent noch weite Wege zu gehen hat. Und ich meine nicht in den Erkenntnissen und Entwicklungen der Industrie, sondern in der Überzeugung jedes einzelnen Menschen.

Zena Malek / Libanon, Kuwait und Dubai
Dubai macht mir das Leben nicht leicht. Die Menschen da sind verrückt. Sie bauen wie Wahnsinnige, und das auf so eine unreflektierte Art und Weise, dass es einem manchmal schon den Atem nimmt. Nachhaltigkeit ist kein Thema. Und damit kann ich alle Vorurteile, die gegenüber Dubai herrschen, aus dem Alltag nur bestätigen. Vor einiger Zeit habe ich in einer Tageszeitung ein Projekt entdeckt, das nun direkt neben den neuen Flughafen Jebel Ali gebaut werden soll. Es handelt sich dabei um ein etwa 50-stöckiges Haus in Form eines Scheichs. Arme, Gesicht und Gewand sind deutlich zu erkennen und bis ins Detail ausgearbeitet. Der Scheich soll in Zukunft die ankommenden Flugpassagiere in Dubai begrüßen. Als ich den Artikel in der Zeitung gesehen habe, war mein erster Gedanke: Koffer packen und weg von diesem Ort!

Moshe Safdie / Somerville und Jerusalem
Ökologie ist inzwischen eine Frage des Überlebens. Dass manche Architekten angesichts der Dringlichkeit immer noch nicht zur Vernunft gekommen sind, hängt wohl damit zusammen, dass Architektur einen viel zu hohen Kunststatus genießt: Architektur ist Selbstausdruck, ist Selbstbesessenheit, ist Selbstzweck. Dabei wäre es so leicht umzudenken. Ich habe ein Buch mit dem Titel The City after the Automobile geschrieben. Es wird zwar immer noch Autos geben, aber im Gegensatz zu heute werden wir sie nicht besitzen, sondern mieten. Es ist so ähnlich wie mit den Mietfahrrädern in den Niederlanden. Man schnappt sich gegen Gebühr ein Auto, fährt damit irgendwohin und gibt es dort wieder zurück. Das ist zwar nur eine mögliche Antwort auf die Problematik. Doch es beginnt immer im Kleinen. Durch gezielten Einsatz von menschlichem Verstand wäre schon viel gewonnen.

Ken Yeang / Kuala Lumpur und London
Architekten sind wie Kinder. Sie gehen unbedarft an die Bauaufgabe heran und bauen ihre Träume. Mit so einem kindischen Ansatz kann man sich einer Konfrontation mit dem Klima nicht stellen. Man muss das Hochhaus so grün wie möglich machen. Nur so kann man dazu beitragen, dass unterm Strich die Ökobilanz unserer kapitalistischen Architektur zwar nicht besonders gut, aber immerhin nicht katastrophal ist. Begonnen habe ich damit 1971. Damals waren ökologische Hochhäuser noch im Luxussegment angesiedelt, heute sind sie in einigen Teil der Erde bereits Pflichtsache. Der Hauptkrisenherd der Umweltverschmutzung nennt sich immer noch USA. Die wenigen engagierten Vorzeigestädte wie Portland und Sacramento gehen dort unter. Denn alle orientieren sich daran, was Washington sagt. Doch aus Washington sind nur Lippenbekenntnisse zu hören.

Der Standard, Sa., 2007.04.07

17. März 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Schlachtfeld Augarten

Im barocken Garten ist es alles andere als still. An der Front wird gekämpft.

Im barocken Garten ist es alles andere als still. An der Front wird gekämpft.

Das Vogelgezwitscher und die Pracht der barocken Gartenarchitektur sind ohne Zweifel die hübscheste Facette des Augartens. Doch hinter den Kulissen ist die ansonsten ruhige Insel inmitten des dichten Stadtgetöses in den vergangenen Jahren und Monaten zu einem regelrechten Schlachtfeld mutiert. Für das Areal rund um den so genannten Augartenspitz liegen zurzeit gar drei Projekte vor.

Begonnen hat dieses Augarten-Posse bereits vor fünf Jahren, als Ernst Kieninger, Leiter des Filmarchivs Austria, das Architekturbüro fasch&fuchs um einen Konzeptentwurf für zwei Kinoräume und ein anschließendes Open-Air-Kino gebeten hatte. „Ziel war es, so wenig wie möglich ein herkömmliches Gebäude im sensiblen Augarten entstehen zu lassen“, erklärt Jakob Fuchs das architektonische Konzept. Das Resultat ist eine Art begrünter Hügel, der nur an der Seite erkennen lässt, dass hier Architekten am Werk waren. „Bis vor wenigen Monaten wussten wir selber nichts davon, dass unser Projekt bereits der Vergangenheit angehört“, sagt Fuchs gegenüber dem Standard.

Warum dies so ist, erklärt sich am besten anhand der medial ausgetragenen Schlacht zwischen den Wiener Sängerknaben und dem Filmarchiv Austria in Kooperation mit der Viennale. Die einen wollen das Eck für sich beanspruchen, um darin einen Aufführungssaal für die singenden Matrosen unterzubringen, die anderen träumen davon, das in der Erhaltung völlig überteuerte Stadtkino aufzulassen, um es im Augarten neu anzusiedeln.

Die Vision des Filmarchivs Austria basiert auf einem Entwurf der Architekten Delugan Meissl, der aus einem kleinen, geladenen Wettbewerb hervorgegangen ist: zwei Kinosäle mit insgesamt 230 Sitzplätzen, Shops und Gastronomie. „Hier kann eine Architektur entstehen, die weder Denkmal noch Monument sein will“, sagt Architekt Roman Delugan, „stattdessen kann der Entwurf als zeitgemäßes Statement wirksam werden.“ Auch Delugan Meissl haben ihr Projekt in der Erde vergraben. Alles in Passivhaus-Bauweise, äußerst fesch außerdem, doch eine gewisse Affinität zu dem in die Jahre gekommenen Entwurf von fasch&fuchs lässt sich nicht von der Hand weisen.

Gekrönt wird die Schlacht um den Augarten vom Sängerknabensaal aus der Feder der Archipel-Architekten. Architekt Johannes Kraus erklärt das 430 Zuschauer fassende Konzertgebäude wie folgt: „Gleich einem geschliffenen Smaragd dockt der schlanke, kristalline Baukörper am Ufer des Augartens an. Die gläserne Spitze des Konzerthauses bildet eine Vitrine in den Stadtraum.“ Hier sollen die Sängerknaben singen, musizieren und proben; nebenbei soll die Stätte als neue Heimstätte des Wiener Kindertheaters fungieren.

Wie geht es weiter? Ratlosigkeit. Das Projekt von fasch&fuchs ist angesichts der Bauherren-Entscheidung offensichtlich für tot erklärt, Delugan Meissl (Baukosten 6 Millionen Euro) und Archipel (Baukosten 10 Millionen Euro) stehen nun an vorderster Front. Eine endgültige Entscheidung für das eine oder andere Projekt steht noch aus. Nur so viel: Das Team rund um Filmarchiv Austria und Viennale bemüht sich zurzeit um eine Finanzierung, die Sängerknaben hingegen stehen in der hohen Gunst des deutschen Mäzens und Investors Peter Pühringer. Auf die kongeniale Idee, Sängerknaben-Spielstätte und Kinokomplex in einem Gebäude zu kombinieren, war man schon vor Jahren gekommen. Unter Umständen wäre diese Alliance imstande, den gordischen Knoten zu zerschlagen und das Kriegsbeil endlich zu begraben. Doch davon will Pühringer nichts wissen. Ende März werde man den Konzertkristall einreichen.

Der Standard, Sa., 2007.03.17

12. März 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Architektur schwebt schwerelos im Raum

Das Festival „Turn on“ lieferte einen Überblick über die heimische Architekturszene

Das Festival „Turn on“ lieferte einen Überblick über die heimische Architekturszene

Zum fünften Mal öffnete am Wochenende das ORF-RadioKulturhaus seine Pforten für das heuer von der Architekturstiftung Österreich veranstaltete Festival Turn on. An die 20 Architekten präsentierten ihre Bauwerke. Mit von der Partie waren u. a. AllesWirdGut, Hermann und Johannes Kaufmann, Boris Podrecca, Peter Lorenz, gerner°gerner plus, Gerhard Steixner, Heinz Tesar und Hertl.Architekten. Den internationalen Input lieferten das binationale Büro AS-IF berlinwien sowie das niederländische UNStudio.

Lassen sich der calvinistische Westen und der barocke Osten - so spricht zumindest die Architektenschaft, wenn sie Vorarlberg und Wien zu umschreiben sucht - gar unter einen Hut bringen? Wie jedes Jahr stellte Organisatorin Margit Ulama den Rednern die essenzielle Frage nach der Identität österreichischer Architektur. Doch der größte gemeinsame Nenner ward nicht gefunden.

Boris Podrecca stellte fest: „Heute steht oft das Branding im Vordergrund und nicht mehr das architektonische Produkt selbst, wie es früher der Fall war.“ Marie-Therese Harnoncourt schien dies zu bestätigen. Österreich sei in den vergangenen Jahren beispielgebend nach außen getreten. Der Tiroler Architekt Peter Lorenz brachte die Diskussion überhaupt auf den Punkt: „Ich frage mich, ob die Frage nicht obsolet ist. Als Architekt schwebt man irgendwo schwerelos im Raum. Vor allem, wenn man ein so nationalloser Architekt ist wie ich.“

Ein Blick von außen sollte helfen. „In Österreich herrscht eine sehr große Vielfalt, das kann man an den unterschiedlichen Bundesländern und Kulturen ausmachen“, erklärte Hubertus Adam, Redakteur des Schweizer Magazins Archithese, und setzte hinzu: „Doch es ist schwierig, eine Nationalpsychologie auf formaler Ebene zu generieren.“

Heinz Tesar fasste das Architekturfestival zusammen: „Es hat keinen Sinn, das zu diskutieren, denn ein Spezifikum hat jede Architektur. Ob man sie jedoch an einem politischen Land festmachen kann, traue ich mich nicht zu sagen.“ Mit solchen Fragen habe man sich bereits in den 60er-Jahren herumgeschlagen - und scheiterte.

Bleibt der Eindruck eines soliden Architekturfestivals, in dessen Rahmen ein vielfältiger und wertvoller Überblick über die österreichische Szene geboten wurde. Nicht zuletzt wurde dies durch ein ebenso vielfältiges Publikum bestätigt, das sich nicht ausschließlich aus den üblichen Verdächtigen zusammensetzte. Sehr erfreulich. Doch vielleicht könnte man sich nächstes Jahr einer leichter zu beantwortenden Frage widmen.

Der Standard, Mo., 2007.03.12

03. März 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Frei hinter Gittern

Vor genau zwei Jahren wurde die Justizanstalt Leoben bezogen. Hat sich das innovative Modell bewährt?

Vor genau zwei Jahren wurde die Justizanstalt Leoben bezogen. Hat sich das innovative Modell bewährt?

Vor zwei Jahren hatte die Justizanstalt Leoben ihre Pforten geöffnet - beziehungsweise geschlossen. Je nach Sichtweise der Dinge. Das völlig unorthodoxe Gefängnis von Architekt Josef Hohensinn, der als Sieger aus einem EU-weiten Wettbewerb hervorgegangen war, geisterte durch alle Zeitungen, Lifestylemagazine und TV-Sender. Die Rede war vom Designerhäfen, Architektenknast und Fünfsternehotel. Doch was ist wirklich dran am „Schöner Sitzen“ - wie seinerzeit ein Bericht in der Wochenzeitung profil betitelt wurde?

Zeit für eine Zwischenbilanz nach 24 Monaten Betrieb. Besonders in der Architektur hinter Gittern ist jede Diskussion obsolet, wenn sie nicht aus der alltäglichen Praxis genährt werden kann, sind doch die Häftlinge dazu verdonnert, wider Bestreben eine Langzeitbeobachtung ihres einstweiligen Wohnens zu machen. Zu den gängigen Fragen des Ästhetischen, Technischen und Funktionalen gesellt sich die nicht unwesentliche Komponente des Sozialen.

Man möge es als eine geistige Entwicklung des Menschen betrachten, dass die Zeiten des unwürdigen Einkerkerns schon lange vorbei sind. Heute ist hinlänglich bekannt, dass Inhaftierung und Alltagsentzug zu folgenreichen Haftschäden führen. Nicht selten haben ehemals Inhaftierte mit enormen Resozialisierungsproblemen zu kämpfen. Die Gründe dafür liegen in der Art und Weise des Inhaftierens: „In der Regel werden Häftlinge an den Pranger gestellt und entmündigt“, erklärt Architekt Josef Hohensinn, „doch unabhängig ihrer Geschichte hat man immer noch mit Menschen zu tun und muss ihnen ermöglichen und zubilligen, aufrechte Haltung zu wahren.“

Hohensinn stellte daher nicht nur ein fesches Haus auf die Beine, sondern setzte sich auch mit der Geschichte und Kultur des Bestrafens auseinander: „Erst seit den Siebzigerjahren ist es in Österreich nicht mehr gestattet, physisch - also beispielsweise durch Nahrungsentzug oder Dunkelhaft - zu strafen. Das heißt, dass das Justizsystem vor dreißig Jahren neu überdacht wurde“, so Hohensinn, „doch die Architektur ist nach wie vor die gleiche.“ Und tatsächlich ist in Österreich in den vergangenen vierzig Jahren kein Gefängnisneubau mehr erfolgt.

„Schöner Sitzen“ in Leoben - das beinhaltet reichlich Kunst am Bau, vor allem aber helle und luftige Räume mit einem eigenen WC und einer Dusche innerhalb der Zelle sowie Möbel, die nicht nach Justizanstalt riechen, sondern den unbeschwerten Eindruck von Ikea, kika und Leiner versprühen. Letzteres ist übrigens ein Kunstbeitrag von Flora Neuwirth; sie wollte Standardmöbel eingesetzt wissen, die man womöglich auch von zu Hause kennt.

Doch den radikalsten Eingriff ins österreichische Justizsystem heckte Hohensinn mit den so genannten Wohngruppen aus - und hatte dabei vollste Unterstützung von Justizministerium, Anstaltsleitung und Vollzugszentrum. Als Ergänzung zum Normalvollzug, in dem sich die Insassen 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle aufhalten müssen, gibt es in Leoben zusätzlich einen Wohngruppenvollzug, in dessen Rahmen sich die Häftlinge innerhalb ihrer Gruppe mit 14 anderen Wohnkollegen frei bewegen können. Zu den Gemeinschaftsbereichen innerhalb einer solchen Riesenzelle gehören Wohnküche, Wohnzimmer und eine Loggia, die es ermöglicht, selbst im Knast an die frische Luft zu treten. Dass die Loggia, wie alles andere auch, vollends vergittert ist, versteht sich von selbst.

Nach zweijährigem Betrieb lässt sich feststellen, dass der Strafvollzug bisher ohne Blessuren über die Bühne ging. Anstaltsleiter Manfred Gießauf erklärt: „Es überrascht uns sehr, dass es innerhalb der gesamten Zeit in den Wohngruppen keine Streitereien und Eskalationen gegeben hat.“ Zwar obliege es letztlich der Gefängnisleitung, wer in Einzelhaft und wer in Wohngruppen untergebracht wird, doch können die Häftlinge Wünsche äußern. „Einige werden von uns auch gegen ihren Willen zu einer Unterbringung in der Wohngruppe forciert, vor allem dann, wenn das Ende der Inhaftierungszeit naht und wir die Leute auf ihre Resozialisierung vorbereiten müssen.“

Viele Menschen seien von diesem lockeren Vollzugssystem überrascht, zumal es in Österreich einmalig und in Europa in dieser Form immer noch einzigartig ist. „Der Wunsch nach einer solchen Anstalt reicht schon fast 25 Jahre zurück, doch ohne persönliches Engagement wäre die Realisierung niemals zustande gekommen“, erklärt Gießauf, „mein Amtsvorgänger Josef Adam ist für seine Liberalität bekannt und hat einen wesentlichen Schritt in diese Richtung gesetzt.“ Gelegentlich komme es vor, dass konservativere Gefängnisdirektoren Leoben besuchen und sich über die vorgefundene Lockerheit alterieren. Ein Gefängnis sei schließlich immer noch ein Gefängnis, nicht wahr? So solle es doch bitteschön sein.

Doch Architekt und Direktor können aus zwei Jahren Erfahrung schöpfen: „Die Außensicherung dieser Anlage ist perfekt und entspricht dem technischen Stand der Dinge. Es spricht nichts dagegen, den Ablauf innerhalb dieser Mauern für alle Beteiligten so angenehm wie möglich zu gestalten.“ Der Freiheitsentzug strafe bereits zu Genüge. Daher gelte es, innerhalb dieser ohnehin eingeschränkten Umstände Anstand zu wahren.

Das entspricht auch einem in die Gefängnismauer gemeißelten Satz, der einen Bestandteil von „Kunst am Bau“ ausmacht - ein Projekt von Eugen Hein. Zitiert wird der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ aus dem Jahre 1966: „Jeder, dem seine Freiheit entzogen ist, muss menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde behandelt werden.“

Den hieb- und stichfestesten Beweis, der für das Leobener Modell spricht, liefert eine Studie des Institutes für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien. Im Auftrag des Justizministeriums startete Ireen Friedrich, ihres Zeichens wissenschaftliche Assistentin, eine empirische Untersuchung in zwei Schritten. „Zunächst haben wir eine Erhebung im alten Dominikanerkloster gemacht“, erklärt Friedrich, „nach fünf Monaten haben wir mit den Insassen und Justizwachbediensteten die gleiche Prozedur im Neubau wiederholt.“

Auf einen Aspekt dürfe man in der Diskussion jedoch nicht vergessen: Den 200 Häftlingen stehen rund 60 Bedienstete gegenüber. Auch sie sitzen innerhalb der Gefängnismauern, auch sie sehen den ganzen Tag Stacheldraht. Der Job sei nicht zu unterschätzen. Ireen Friedrich bringt das Ergebnis ihrer Studie, die im Juni dieses Jahres veröffentlicht wird, auf den Punkt: „Die präventiven Maßnahmen im gelockerten Strafvollzug haben gegriffen, zwischen Insassen und Personal hat sich im Verhältnis zum alten Gefangenenhaus ein überaus entspanntes Verhältnis eingestellt, und die Vandalismusrate ist drastisch gesunken.“

Und was sagen die Häftlinge? Zwei Drittel aller Inhaftierten bewerten die neue Anlage mit der Note „sehr gut“, im Dominikanerkloster hatte sich gerade einmal eine einzige Person zu einem „sehr gut“ überwinden können. Die Hälfte der Befragten zeigt sich sehr erfreut über Kunst und Architektur, 43 Prozent sind sogar der Meinung, an der Anstalt müsse nichts geändert werden. Der Preis für dieses überaus positive Zeugnis: 46 Millionen Euro. Damit liegen die Baukosten für ein Gefängnis dieser Größenordnung im internationalen Durchschnitt.

Doch auch abseits aller statistischen Werte ist die Stimmung innerhalb der Justizanstalt angenehm entspannt. Anstaltsleiter und Häftlinge plaudern, nehmen einander aufs Korn und haben gelernt, hierarchielos miteinander zu kommunizieren. Ganz kurz muss man schmunzeln und lachen. Die Architektur ist hier ihrer ureigensten Aufgabe nachgekommen: Sie hat den Lebensraum des Menschen schön und würdevoll geformt. Das ist der kleine Beitrag, den sie leisten kann. Zu nicht mehr und nicht weniger ist Architektur imstande.

Und den populistischen Skeptikern dieses mit Applaus zu begrüßenden und sichtlich erfolgreichen Modells, jenen Nörglern, die mit Begriffen wie Luxusknast und Fünfsternehotel um sich werfen, sei gesagt: Knast bleibt Knast - ganz gleich, wie viele bunte Ikea-Stühle es vom Himmel regnet. Q

In Kürze wird die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) einen EU-weiten Wettbewerb für das Justizzentrum Wien Mitte ausloben. Der Neubau in der Baumgasse wird Gericht und Gefängnis beherbergen. Vielleicht lassen sich die teilnehmenden Architektinnen und Architekten vom Erfolgsbeispiel inspirieren. Siehe auch: Justizanstalt Innsbruck von Architekt Dieter Mathoi.

Der Standard, Sa., 2007.03.03



verknüpfte Bauwerke
Justizzentrum Leoben

24. Februar 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Alte Gaupe in neuer Tracht

Meistens wird das Wohnen im Dachgeschoß von einem kleinteiligen Fensterhäuschen namens Gaupe beeinträchtigt. Dass eine Gaupe aber auch mit ganz anderem Kaliber auffahren kann, beweist eine zukunftsträchtige Aufstockung der Squid-Architekten.

Meistens wird das Wohnen im Dachgeschoß von einem kleinteiligen Fensterhäuschen namens Gaupe beeinträchtigt. Dass eine Gaupe aber auch mit ganz anderem Kaliber auffahren kann, beweist eine zukunftsträchtige Aufstockung der Squid-Architekten.

Manche Menschen werden vom Glück verfolgt. Herr O., seines Zeichens Industriedesigner und Lehrer desselbigen Fachs an der HTL Ferlach, befand sich auf Wohnungssuche in Wien und antwortete auf ein recht unspektakulär klingendes Inserat in der Tageszeitung. Nüchtern wurde darin eine „Dachgeschoßmaisonette beim Margaretenplatz, 90 Quadratmeter, mit Dachterrasse und Atrium“ angeboten. Ein Anruf, eine Besichtigung, den Rest kann man sich denken.

Was Herr O. zu sehen bekam, war alles andere als eine herkömmliche Dachmaisonette. Vielmehr handelte es sich dabei um ein futuristisches Cockpit in der sonst recht schnöden Dachlandschaft über Wien. Architekt Gundolf Leitner vom Architekturbüro Squid, der für die Aufstockung verantwortlich zeichnet, erinnert sich an die ersten Gespräche mit der Baupolizei MA 37 zurück: „Aufgrund der Ecksituation des Hauses hat sich die Stadt Wien an dieser Stelle mit allen Mitteln einen Eckturm gewünscht.“ Doch die Architektur der Nullerjahre will nicht gemäß alten Vorbildern geschichtsträchtig emporsteigen, sondern will dynamisch in die Breite flitzen. Leitner: „Schließlich konnten wir die Baupolizisten davon überzeugen, dass wir nicht historisch, sondern futuristisch bauen wollen.“

Spleen für die Sixties

Das Resultat ist ein breiter Panoramamonitor - definitionsgemäß handelt es sich dabei um eine schlichte, blechverkleidete Gaupe -, der wie ein Breitmaulfrosch in der Dachschräge sitzt. Was sich von außen bereits erahnen lässt, findet im Innenraum seine Bestätigung: Der Architekt lebte mit diesem Projekt seinen ausgeprägtes Spleen für die Sechzigerjahre aus. Ecken und Kanten finden sich in dieser Wohnung nur spärlich, denn die meisten Wände sind von nahtlosen Rundungen gesäumt. Unweigerlich fließt ein Raum in den anderen, das Auge kommt erst gar nicht auf die Idee, Enge zu verspüren.

Nicht von ungefähr liegt das auch an der Tatsache, dass die Zimmertrennwände nicht bis zur Decke reichen, sondern in einer Höhe von etwa 2,20 Metern ein Ende finden. Leitner: „Wir haben zwar angedacht, die so entstandenen Deckenschlitze nachträglich mit Glas zu schließen, wenn dies die Bewohner wünschen, doch dieser Wunsch wurde bisher nicht geäußert.“ Und somit bilden Wohnküche, Schlafzimmer und Bad, die sich allesamt in der unteren Etage befinden, nicht nur ein optisches, sondern auch akustisches Kontinuum. Herrn O. stört's nicht.

Gelb ist die Helligkeit

Der Vorteil dabei: Da das Tageslicht durch die glaslosen Oberlichten in die Wohnungsmitte eindringen kann, ist das Vorzimmer den ganzen Tag über lichtdurchflutet. Reflektiert wird das Licht zusätzlich durch den hellen Boden - nichts anderes als handelsübliche OSB-Holzwerkstoffplatten, die nachträglich lackiert wurden. Die Oberfläche glänzt und pendelt sich auf der Farbskala irgendwo zwischen Zitrone und Vanillesauce ein.

Auf dem Weg ins Obergeschoß fällt ein Stück originales Architektenwerk auf. Denn das Geländer der Treppe ist kein alleiniges Werk des Schlossers, sondern auch eine Signatur von Squid. Das drahtige Flechtwerk - eine Art Architektenspinnennetz - hat Gundolf Leitner eigenhändig durch die Ösen gezogen. „Bei solchen Details kann man keinem Professionisten erklären, wie man es eigentlich haben möchte. Da hilft nur, selbst Hand anzulegen.“ Erst einmal angekommen, wandert man sehnsüchtig zur halb rund ausgeschnittenen Glasfassade - und befindet sich mitten in der Gaupe. In diesen Rundungen und Wölbungen entfalten sich die Sechziger in voller Blüte.

Und was sagt Herr O.? „Die erste Reaktion war hysterisch, auf Anhieb habe ich mich von der Formgebung und Struktur der Wohnung angesprochen gefühlt. Und ich wusste: Diese Wohnung muss ich haben.“ Gesagt, getan. Eingerichtet ist die Wohnung übrigens vollends in Weiß: eine Parade an Designerstücken von Patricia Urquiola bis Eero Aarnio. Herr O.: „Für die Mischung aus Alt und Neu habe ich nichts übrig. Wenn schon Sechziger, dann auch radikal.“

Der Standard, Sa., 2007.02.24



verknüpfte Bauwerke
Living Roof I

23. Februar 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Einstürzende Urheberrechte

Architekten sind Meister des Entwerfens, des Verhandelns und des Bauens. Neuerdings gelten sie auch noch als Profis im Reich der Rechte und Gesetze. Was darf die Architektur? Und vor allem: Was darf der Architekt? Ein Gespräch mit Thomas Höhne und Georg Pendl.

Architekten sind Meister des Entwerfens, des Verhandelns und des Bauens. Neuerdings gelten sie auch noch als Profis im Reich der Rechte und Gesetze. Was darf die Architektur? Und vor allem: Was darf der Architekt? Ein Gespräch mit Thomas Höhne und Georg Pendl.

Welches Dach braucht die Architektur? Für den Lehrter Bahnhof in Berlin sah Architekt Meinhard von Gerkan ein pompöses Tonnengewölbe vor. Die Deckenelemente waren bereits vorproduziert, da beschloss Bahnchef Harmut Mehdorn, die Pläne des Architekten einfach zu durchkreuzen und eine Flachdecke einzuziehen. „Das sieht ja aus wie eine Aldi-Decke“, alterierte sich von Gerkan in Interviews, fühlte sich auf den Schlips getreten, klagte die Bahn - und gewann.

Manchmal scheint es, als sei Architektur eine Berufssparte der ewig Getretenen. Mit dem medienstarken Vorfall in Deutschland wurde das Gegenteil bewiesen. Doch wie sieht es in Österreich aus? Der auf Urheberrecht spezialisierte Rechtsanwalt Thomas Höhne hat eben einen maßgeschneiderten Ratgeber herausgegeben. Unter dem trocken pragmatischen Titel Architektur und Urheberrecht widmet er sich den Untiefen des architektonischen Dürfens und Müssens und bringt ein bisschen Licht in das ewige Kräftemessen um das so genannte geistige Eigentum oder - Neudeutsch - um das Copyright.

Thomas Höhne und Georg Pendl, Präsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, gehen im Gespräch mit dem Standard der Frage nach, ob es in Österreich eine ausgeprägte Streitkultur gibt und welchen Beitrag Kammer und Architektenschaft leisten können.

Standard: Das Verhältnis von Architektur und Urheberrecht ist mit dem Lehrter Bahnhof und dem Sieg von Meinhard von Gerkan so richtig zum Thema geworden. Wie aussichtsreich bzw. wie riskant war sein Schritt, gegen die Deutsche Bahn zu prozessieren?

Thomas Höhne: Theoretisch war seine Entscheidung zu klagen sehr aussichtsreich, praktisch jedoch hoch riskant. Im Unterschied zur österreichischen Gesetzeslage, wo der Bauherr in die Ausführung der Planung nach Belieben reinpfuschen kann, hat nach deutscher Rechtslage der Planer eines Bauwerks dieselben Rechte wie jeder andere Urheber auch. Wenn ein Bauwerk gegen seinen Willen bearbeitet wird, kann er sich also dagegen wehren. Praktisch endet die deutsche Rechtsprechung in solchen Fällen aber immer in einer Interessensabwägung. In aller Regel geht dann der Architekt, obwohl er theoretisch Recht hatte, leer aus. Besonders spektakulär ist das Roland Rainer mit seiner Bremer Stadthalle passiert. In den Neunzigerjahren wurde die Stadthalle aufgestockt, Rainer hat geklagt - erfolglos.

Standard: Das heißt, vergleichbare Präzedenzfälle zum Lehrter Bahnhof gibt es in Österreich gar nicht?

Georg Pendl: Um es vorwegzunehmen: Ich als Architekt bin nicht daran interessiert, Denkmäler zu bauen. Das ist meine Kernaussage zu diesem Thema. Aus meiner Sicht ist der primäre Sinn des Urheberrechts nicht die Erhaltung von Bauwerken auf Jahrzehnte und Jahrhunderte hinaus, sondern der Schutz vor Ideendiebstahl. Der Urheberschutz soll nicht zu einem Glassturz führen. Schließlich darf man nicht vergessen, dass ein Architekt seinen Entwurf weiterverkauft. Sobald das Projekt abgegolten ist, darf der Bauherr meiner Meinung< nach damit machen, was er will. Dass das einigen Architekten gegen den Strich geht, ist klar.

Höhne: In Österreich darf der Bauherr mit einem Gebäude machen, was er will: verändern, verkommen lassen, vernichten - alles erlaubt. Damit ist die Architektur die funktionalste und zweckbestimmteste aller Künste.

Standard: Was kann man gegen Vernichtung unternehmen?

Höhne: In Wirklichkeit ist Denkmalschutz in Österreich der viel effizientere Weg, ein Bauwerk zu schützen. Doch beim Denkmalschutz ist Behutsamkeit von allen Seiten gefordert. Manchmal wird der Denkmalschutz beinahe schon inflationär über Gebäude drübergestülpt. Wenn der Denkmalschutz sich dorthin entwickelt, dass sich jeder hütet, ein Denkmal zu besitzen, weil mit dieser Zwangsbeglückung für den Bauherren nur Schwierigkeiten und strenge Auflagen einhergehen, dann ist das ja kontraproduktiv!

Pendl: Das Bild des Malers hat den Vorteil, dass es mit Samthandschuhen angefasst wird, hat jedoch den Nachteil, dass es in irgendeinem Lager im Museum eingesperrt ist. Das Haus des Architekten steht mitten im Weg und ist präsent, hat aber den - so empfundenen - Nachteil, dass es benützt wird. Unterm Strich: Das Haus muss leben. Und wenn es nicht lebt, dann ist es eine Mumie.

Standard: Welche Auflagen muss ein Bauwerk erfüllen, damit ein Architekt den Urheberrechtsschutz anwenden kann?

Höhne: Die primäre Frage lautet: Ist es ein Werk im Sinne des Urheberrechts oder nicht? Denn der Aufhänger für die Anwendung des Urheberrechts ist das so genannte Werk. Ein Werk ist eine eigentümliche, geistige Schöpfung. Und das führt uns zur nächsten Frage: Wann ist ein Entwurf oder ein Bauwerk eigentümlich genug? Wenn sich der Planer einfach nur aus dem herkömmlichen Formenschatz bedient, ohne dabei Individualität in den Entwurf einfließen zu lassen, dann ist dies kein Werk. Es muss persönlich sein, es muss individuell sein. Oder es muss möglich sein, die Handschrift des Schöpfers zu erkennen.

Standard: Angenommen, jemand bemächtigt sich nun eines Entwurfes oder einer Idee - welche Leistung kann sich ein betroffener Architekt dabei von der Architektenkammer erwarten?

Pendl: Wenn solche Fälle passieren, dann gibt es seitens der Kammer natürlich Rechtsbeistand. Das ist eine der heiligen Aufgaben der Berufsvertretung. Aber ich muss gestehen, dass dies im Laufe meiner Kammerfunktion, also in einem Zeitraum von acht Jahren, erst ein einziges Mal der Fall war.

Höhne: Das ist eine zivilrechtliche Angelegenheit. Man geht mit Unterlassungsklage vor. Allerdings ist eine Unterlassungsklage nur dann möglich, solange das Haus nicht steht. Sobald es steht, gibt es für den betroffenen Architekten nur noch Geld.

Standard: Warum wird der Diebstahl geistigen Eigentums so selten eingeklagt?

Pendl: Schärfen kann man eine Verletzung des Urheberrechtsschutzes nur an einem konkreten Fall. Wenn keine Klagen seitens der Architekten zu verzeichnen sind, dann gibt es in der Praxis auch keine Diskussion um das Urheberrecht. In diesem Punkt kann ich all meine Kollegen nur dazu ermutigen, etwas wehrhafter zu sein. Viele regen sich intern auf - und schlucken die ganze Angelegenheit dann einfach.

Höhne: Man weiß ja, dass es der Architektenzunft im Großen und Ganzen nicht besonders gut geht. Viele verkaufen sich unter ihrem Wert, schenken Entwürfe her, lassen sich gratis ausbeuten. Sich vor dem Hintergrund solcher Umstände gegen einen Bauherren zu wehren, kann sehr riskant sein. Wenn man sich aber für seine Rechte nicht einsetzt, dann verkommen sie.

Standard: Das heißt, man müsste das Problem an seiner Wurzel anpacken?

Pendl: Eines der schlimmsten Phänomene ist tatsächlich, dass sich manche Architekten unter ihrem Wert verkaufen - und auch unter dem Wert der gesamten Zunft! Das entzieht allen den Boden und in weiterer Folge dem Beruf seine Berechtigung. Ich habe in meiner ganzen Laufbahn kein einziges Mal einen Gratisentwurf angefertigt. Was hat man denn selbst noch für eine Wertigkeit als Architekt?

Höhne: In diesem Punkt kann man sich von den Fotografen ein Scheibchen abschneiden. Sie haben sich formiert und einen eigenen Rechtsschutzverband der Fotografen auf die Beine gestellt. Die Folge ist: Es gibt in Zeitungen und Zeitschriften kaum mehr ein abgedrucktes Foto ohne Hinweis auf den Fotografen. Und wie oft passiert es, dass Bauwerke publiziert werden, ohne dass der Urheber des Werks ersichtlich ist? Das ist ein schludriger Umgang und zeugt von einer gewissen Unkultur und Unsensibilität.

Standard: Dagegen könnte die Kammer ja vorgehen.

Pendl: Dagegen vorzugehen ist die Aufgabe jedes einzelnen Architekten, jedes Bauherrn und vor allem eine Aufgabe der Medien.

Standard: Und keine Aufgabe der Kammer?

Pendl: Ja, das wäre eine gute Idee. Ich denke, dass man in diesem Punkt nicht rechtlich vorgehen muss. Aber ich kann mir vorstellen, dass wir einiges bewegen können, wenn wir eine Zeit lang die Medien auf ihre Pflicht der Urhebernennung aufmerksam machen. Ich fürchte, dass wir da eine Ganztagskraft einstellen könnten.

Höhne: Wichtig ist, dass sich endlich Bewusstsein formiert. Der Architekt muss wissen, dass er Rechte hat. Er muss wissen, wann seine Rechte verletzt werden. Und er muss sich dessen im Klaren sein, dass er nicht nur sich selbst gegenüber eine Verantwortung hat, sondern auch gegenüber seinem Stand.

[ Thomas Höhne, „Architektur und Urheberrecht.“ € 38,- /204 Seiten. Manz Verlag, Wien 2007. ]

Der Standard, Fr., 2007.02.23

10. Februar 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Wie man Baustellen gesundschrumpft

Welchen Beitrag kann die Architektur zum Klimaschutz leisten? In Wien entsteht zurzeit ein ökologisches Vorzeigeprojekt im Zeichen von RUMBA, den Richtlinien für eine umweltfreundliche Baustellenabwicklung.

Welchen Beitrag kann die Architektur zum Klimaschutz leisten? In Wien entsteht zurzeit ein ökologisches Vorzeigeprojekt im Zeichen von RUMBA, den Richtlinien für eine umweltfreundliche Baustellenabwicklung.

Kyrill und Olli haben sich ordentlich ins Zeug gelegt. Seit der kürzlich präsentierten IPCC-Studie (Intergovernmental Panel on Climate Change) steht es nun Schwarz auf Weiß: Es findet ein Klimawandel statt, schuld daran ist der Mensch. Sollte es in den kommenden Jahren nicht gelingen, den CO2-Haushalt in den Griff zu bekommen, drohen für Mensch und Mutter Erde ziemlich heiße Zeiten. Dass man dabei die 2005 gefassten Kioto-Ziele nicht nur verfehlt, sondern völlig aus den Augen verloren hat, fällt als nachgeweinte Krokodilsträne nicht weiter ins Gewicht.

Jährlich bläst Österreich weit über 90 Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre, Tendenz steigend. Allein der Gebäude- und Bausektor verantwortet davon über ein Drittel. Noch schlimmer sieht es beim Feinstaubaufkommen aus. Laut des so genannten Emissions-Katasterplans für Wien (Emikat), erstellt von arsenal research, beträgt das jährliche Feinstaubaufkommen in Wien über 1000 Tonnen. Allein der Baustellenverkehr schlägt mit 70 Tonnen Feinstaub zu Buche, die Partikelemissionen der Baumaschinen verursachen jährlich sogar zusätzliche 270 Tonnen des nicht zu bändigenden Staubes.

Mit den mittlerweile halbwegs etablierten Standards rund um Niedrigenergie- und Passivbauweise wurden in den letzten Jahren bereits erste Schritte gesetzt, um die Umweltauswirkungen innerhalb der Architektur auf ein Minimum zu reduzieren. Wer nachhaltig baut und in Folge weniger heizen muss, schont dabei nicht nur die Ökologie, sondern auch sein Portemonnaie. Mit diesem Argument lässt sich ein erheblicher Anteil der Häuslbauer locken. Das ist nur gut und recht.

Doch wie sieht es mit dem Bauen selbst aus? Zu keinem anderen Zeitpunkt verbraucht ein Gebäude mehr Energie als während seiner Entstehung. 90 Millionen Tonnen Material werden in Österreich im Zuge der Wertschöpfungskette jährlich verbaut - das sind 43 Prozent des gesamten Ressourceneinsatzes innerhalb von Österreich. „Bauen ist nichts Ökologisches, ja es ist sogar die größte Umwelt-Belastung, die es gibt“, erklärt Architekt Martin Treberspurg, der auf dem Gebiet ökologischen Bauens einer der Vorreiter ist. Die Abrissbirne verschlingt Energie, ebenso der Abtransport von altem Schutt und Aushubmaterial, von der Herstellung neuer Materialien und dem eigentlichen Bauprozess gar nicht erst zu sprechen. Trebers-purg: „Der Energieaufwand für die Herstellung von Baumaterialien beträgt rund zehn Prozent jener Energie, die das Bauwerk in der Zeitspanne seiner 80-jährigen Lebensdauer benötigen wird. Das ist enorm.“

Aus diesem Grund gab die Stadt Wien vor einigen Jahren ein Forschungsprojekt in Auftrag, das sich vor allem den Themen Baustellen-Logistik und Emissionslinderung widmen sollte. Gefördert wurde es zu einem erheblichen Anteil aus EU-Life-Geldern. Nach insgesamt drei Jahren kam das Projektkonsortium - bestehend aus der Ökotechna, der Mischek Bau AG und dem Wiener Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds - zu einem vorläufigen Schluss und präsentierte die neuen Richtlinien für eine umweltfreundliche Baustellenabwicklung, kurz RUMBA genannt. Die erstellten Richtlinien sollten nicht in der Theorie-Schublade verkommen, es wurde der Bau eines Demonstrationsvorhabens beschlossen.

Wien 2007. Unweit des Zentralfriedhofs werden knapp tausend Wohnungen aus dem Boden gestampft. Der erste Bauteil des städtebaulichen Areals Thürnlhofgasse steht unmittelbar vor Übergabe und ist zum Teil sogar schon bezogen, der zweite Bauteil wird gerade betoniert. Auf den ersten Blick ist dieses Areal, dessen einzelne Projekte im Zuge eines Bauträger-Wettbewerbs generiert wurden, nichts Ungewöhnliches: geförderter Wohnbau aus unterschiedlichster Architektenhand, ein Gebäude reiht sich ans andere, teilweise ganz hübsch, teilweise ganz fad. Ins Guinness-Buch der Rekorde wird es die Architektur wohl nicht schaffen. Gewiss aber die Baustelle. Denn sie gilt als „die umweltfreundlichste Baustelle Europas“. Und das ist nicht nur ein PR-Gag, sondern im europaweiten Vergleich eine Wahrheit, die sich in Zahlen ausdrücken lässt, bestätigt Thomas Romm vom beteiligten Mediations- und Beratungsunternehmen raum & kommunikation.

Bereits in der Ausschreibungsphase wurde den Teilnehmern ein Konvolut mit dem RUMBA-Forschungsergebnis in die Hand gedrückt. Bauträger und Architekten wurden gleichermaßen dazu aufgefordert, im Zuge der Projekteinreichung logistische, technische und gestalterische Vorschläge miteinzubringen, wie dem Aspekt der Bauökologie am besten Rechnung zu tragen sei. Die einen schlugen vor, das Baumaterial per Schiff und Güter-Bim an Ort und Stelle zu bringen, die anderen überlegten sich, wie sich der Bauaushub reduzieren oder etwa als Akustikbarriere für die nahe gelegene Schnellstraße S1 verwenden lässt. Wiederum andere setzten auf eine umfassende Fertigteilbauweise oder den gezielten Einsatz lokal verfügbarer Baustoffe.

Von den umgesetzten Ideen betrifft die erheblichste Maßnahme den Materialtransport. Wo es möglich war, wurde die Bahn eingesetzt, Lkw-Fahrten hingegen wurden lediglich bis zu einer Distanz von 15 Kilometern gestattet. Jene Baufirmen, die diese Distanz überschritten, mussten pro Lkw-Fahrt ein zusätzliches Entgelt von 75 Euro leisten. Auch wer mit alten und ausrangierten Fahrzeugen der Emissionsklasse Euro 1 oder Euro 2 unterwegs war, musste tief in die Tasche greifen. „Es hat uns schon verblüfft, dass tatsächlich 90 Prozent aller Fahrten mit emissionsarmen Euro-3-Fahrzeugen unternommen wurden“, sagt Thomas Romm, „das bedeutet, dass der ohnehin benachteiligte Ballungsraum nicht zusätzlich mit unnötigem Feinstaub belastet wird.“

Unterm Strich ist es gelungen, mit den strengen RUMBA-Richtlinien so manchen Bauunternehmer-Starrsinn ein wenig zu lockern. Die meisten Baufirmen lieferten per Bahn, setzten emissionsarme Lkws ein und steigerten die Effizienz, indem sie ihre Fahrzeuge um einen Anhänger erweiterten. „Der Güterverkehr macht in der Stadt einen erheblichen Anteil an Lärmbelästigung und umweltschädlichen Emissionen aus“, erklärt Robert Korab, Geschäftsführer von raum & kommunikation, „und ich muss gestehen, dass mich die Einsparungspotenziale selbst verblüfft haben.“

Rechnet man im Massenwohnbau mit rund 60 (!) Lkw-Fahrten pro zu errichtende Wohnung, konnten die Lkw-Fahrten beinahe auf die Hälfte reduziert werden. Bei 450 Wohnungen, die bisher fertig gestellt wurden, sind das immer noch 14.200 Fahrten. Dadurch dass entweder aus unmittelbarer Nähe geliefert oder auf größere Distanzen die Bahn verwendet wurde, konnte auch die Gesamtzahl der gefahrenen Kilometer reduziert werden. Während ein herkömmliches Bauvorhaben dieser Größe - empirische Werte belegen das - die Lkws auf eine 1,2 Millionen Kilometer weite Fahrt schicken, fuhren die Fahrzeuge im Fall von RUMBA lediglich 150.000 Kilometer. Das ist eine Einsparung von über 85 Prozent. Der Bedarf an Baustrom konnte um 20 Prozent verringert werden, bei den Emissionswerten wurde eine CO2-Einsparung im Ausmaß von über 800 Tonnen erzielt, bestätigt Marianne Leitgeb-Zach vom Verkehrsplanungsbüro Rosinak & Partner.

„Früher galt, dass die Errichtungskosten nur zehn Prozent der Erhaltungskosten eines Gebäudes ausmachen“, erklärt Thomas Romm, „doch im Niedrigenergiesektor sieht das Verhältnis anders aus, bei Passivhäusern kann man sogar davon ausgehen, dass die Errichtung beinahe 90 Prozent der Gesamterhaltungskosten ausmacht.“ Umso mehr sei dies ein Grund, Bauherren und Bauträger zum ökologischen Bauen aufzufordern.

Die Mehrkosten für eine sorgfältig gecoachte Baustelle anhand der RUMBA-Richtlinien machen gerade einmal ein Prozent der Gesamtbaukosten aus. Das ist ein billiger Obolus, wenn man bedenkt, welch hohe Langzeitkosten im Bereich von Gesundheit und Umweltschutz eingespart werden können. In diesem Sinne ist das ressourcenschonende Bauen nicht nur ein Tribut an die Ökologie, sondern auch an die Volkswirtschaft.

Der Standard, Sa., 2007.02.10

03. Februar 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Von Freunderlwirtschaft zur Friends Economy

Wer baut Wien? Das fragte sich in den vergangenen Jahren auch Stadtplaner Reinhard Seiß. Soeben ist in Buchform eine erste Antwort auf diese verzwickte Frage entstanden. Und sie liest sich wie ein Wirtschaftskrimi

Wer baut Wien? Das fragte sich in den vergangenen Jahren auch Stadtplaner Reinhard Seiß. Soeben ist in Buchform eine erste Antwort auf diese verzwickte Frage entstanden. Und sie liest sich wie ein Wirtschaftskrimi

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte Wien endlich seine große Chance gewittert. Man wollte hoch hinaus, am Horizont stand der hehre Traum einer Weltstadt. Man wünschte sich Hochhäuser. Man bekam sie. Man wünschte sich revitalisierte Industriebrachen. Man bekam sie. Man wünschte sich sogar ganze neue Stadtteile auf Geländen, die erst geschaffen werden mussten. Man bekam auch diese.

Manchmal scheint es, als habe die Stadt Wien ihre Visionen um jeden Preis umgesetzt. Mit der Wienerberg-City und dem Monte Laa entstanden Stadtteile fernab hochqualifizierter öffentlicher Anbindung. Beim Projekt des Millennium-Towers wurden Flächenwidmungen umgangen und maximal zulässige Gebäudehöhen überschritten. In der Donau-City ist der Wind so stark, dass er einen geruhsamen Aufenthalt im Freien beinahe unmöglich macht. Spielplätze fehlen da wie dort. Bisweilen fragt man sich, nach welchen Kriterien derartige Stadterweiterungen und -verdichtungen beurteilt und bewilligt werden konnten.

Der Raumplaner Reinhard Seiß hat die Geschehnisse der letzten fünfzehn Jahre analysiert und in ein Buch gefasst. „Wer baut Wien?“, zeigt auf, in welcher Wechselbeziehung Politik und Wirtschaft zueinanderstehen. Es ist - wie Friedrich Achleitner es im Vorwort zu dem Buch ausdrückt - ein Führer in die Katakomben der Planungs- und Baupolitik.

„Die Intention des Buches ist, ein breites, öffentliches Bewusstsein für die Abläufe in der Stadt zu schaffen“, erklärt Seiß. Manchen wird das Buch aus der Seele sprechen. Für andere wird es eine unbequeme Lektüre sein. Den Funktionären in den Chefsesseln der Wiener Kommunalpolitik ist nun zu wünschen, dass sie sich nicht in Kränkung vergrämen, sondern dem Autor folgen und die eben eröffnete Diskussion fortführen. Zum Wohle der Stadt, wie es so schön heißt.

der Standard: Nach der Lektüre Ihres Buches hat man den Eindruck, dass in Wien die Investoren und Developer das Sagen haben. Wird die Politik zu einem machtlosen Strohhalm im Wind?

Seiß: Im Gegenteil. Wir leben ja nicht in einer kapitalistischen Wildwest-Stadt, in der einige Clans alle Fäden in der Hand haben und nach Belieben herumfuhrwerken können. Nein, in Wien ist es das Traurige, dass all die Akteure, die an der Stadt mitbauen - seien es die großen Baukonzerne, seien es die Wohnbauträger oder die Immobilientöchter der Banken und Versicherungen - dies ja nicht gegen den Willen der Stadt tun, sondern vonseiten des Rathauses regelrecht unterstützt werden. Im Fall von so problematischen Neubauvierteln wie der Wienerberg-City und des Monte Laa hat der ehemalige Wohnbaustadtrat Werner Faymann stolz betont, dass diese Stadtteile überhaupt erst durch die Wohnbauförderung entstehen konnten. Die Politik trägt eine massive Mitverantwortung an vielen Fehlentwicklungen, die in der öffentlichen Darstellung allerdings gern ins Gegenteil verkehrt und mitunter sogar als Best Practices der Stadtentwicklung dargestellt werden. Die Wienerberg-City beispielsweise als Weiterentwicklung des sozialen Wohnbaus zu bezeichnen, ist schon eine ziemliche Chuzpe.

Liegt das nicht auch daran, dass die Stadt Wien in wirtschaftlicher Hinsicht perfekt vernetzt ist? Teilweise liegen politische und gewerbliche Interessen ja in einer Hand.

Seiß: Ganz richtig. Ein Beispiel: Die Bank Austria ist bekanntlich aus der Zentralsparkasse hervorgegangen, also aus einer damals stadteigenen Bank. Nach wie vor hält die Stadt Wien über die AVZ-Stiftung maßgebliche Anteile an der Bank Austria, die mit ihren Immobilientöchtern unbestritten eine der größten privaten Stadtentwickler Wiens war und ist. Ähnlich sieht es beim Baukonzern Porr aus, der direkt über der meist befahrenen Autobahn Österreichs den Stadtteil Monte Laa entwickelt. Die Porr befindet sich zur Hälfte im Eigentum der Bank Austria, die Stadt Wien ist aber auch direkter Aktionär der Porr und bildet mit ihr sogar Jointventures. Der Gipfel war, als der ehemalige Vizebürgermeister, Wirtschafts- und Finanzstadtrat Hans Mayr unmittelbar nach Ende seiner politischen Karriere Aufsichtsratspräsident von Porr wurde. Auf diese oder ähnliche Art sind viele wirtschaftliche Akteure in Wien mit dem Rathaus verbunden - und das schlägt sich nicht zuletzt in der Stadtentwicklung nieder.

War das immer schon so? Oder ist das eine Erscheinung der vergangenen ein, zwei Jahrzehnte?

Seiß: Es läuft vermutlich schon länger so. Früher war alles vielleicht ein bissl versteckter. Heute ist es dank einer größeren Medienvielfalt und einer wachsenden Öffentlichkeit in allen Bereichen wahrscheinlich schwieriger, solche Zusammenhänge bedeckt zu halten.

In Ihrem Buch wird ja so manch bezeichnendes Vorgehen der Wiener Kommunalpolitik geschildert. Ist es in anderen Ländern beispielsweise auch üblich, zuerst ein Projekt hinzustellen und danach dann den Flächenwidmungsplan hinzubiegen?

Seiß: Es ist tatsächlich beschämend, dass es keinerlei Sanktionen gibt, wenn jemand - wie im Fall des Millennium-Towers - die Flächenwidmung quasi ignoriert und deutlich mehr und deutlich höher baut als erlaubt gewesen wäre. Beschämend ist in der Folge dann auch, dass man stattdessen den Rechtsstand an die Bausünden anpasst - und diese damit legitimiert. In Ländern mit einer ausgeprägteren Planungskultur wie in der Schweiz oder den Niederlanden wäre so etwas wohl nicht denkbar.

Warum sind die übergeordneten Konzepte wie der Stadtentwicklungsplan, der Masterplan Verkehr, das Hochhauskonzept oder das Klimaschutzprogramm in Wien nicht verbindlich?

Seiß: In allen Konzepten, die Sie nennen, stecken viel Engagement und Hirnschmalz drin, aber solange sie keinerlei Rechtskraft besitzen, sind es bloß nette Gesten an die Fachwelt. 2004 hat dies sogar der Rechnungshof harsch kritisiert und an die Stadtregierung appelliert, den Stadtentwicklungsplan verbindlich zu machen. Doch die Stadt Wien will das nicht, zumal die Politik dadurch ihren Handlungsspielraum und damit ihre Machtfülle selbst einschränken würde.

Rudolf Schicker, Werner Faymann, Hannes Swoboda & Co kommen in Ihrem Buch nicht ungeschoren davon. Für den Leser entsteht der Eindruck von Freunderlwirtschaft und teilweise sehr rasch gefällten Entscheidungen in großen Belangen.

Seiß: Den von Peter Pilz geprägten Begriff der Friends Economy kann man von der damals schwarz-blauen Bundesebene eins zu eins auf das rote Wien herunterbrechen - wenn sie in Wien nicht sogar in noch größerer Perfektion beherrscht wird. Immerhin konnte die SPÖ hier über Jahrzehnte recht ungestört ein engmaschiges Netz aufbauen, das von Wohnbauträgern über Banken bis hin zu Medienkonzernen reicht. Allgemein ist zu sagen: Es gab in den Ressorts Stadtentwicklung und Wohnbau in den letzten Jahren Politiker, die sich in den Dienst ihres Amtes gestellt haben - und Politiker, die ihr Amt mehr in den Dienst ihrer selbst stellten. Gestaunt habe ich schon, als ich in den Protokollen des Untersuchungsausschusses zum Wiener Flächenwidmungsskandal lesen konnte, dass der ehemalige Planungsstadtrat Hannes Swoboda freimütig bekannte, einzelnen Grundeigentümern eine so genannte Verwendungszusage für eine Umwidmung gegeben zu haben. Damit hat er nämlich sowohl die Entscheidungen seiner Fachabteilungen als auch die Beschlussfassung des Gemeinderats mehr oder weniger vorweggenommen.

In manchen US-amerikanischen Städten gibt es klare Regelungen für Bauwerber, die die maximal zulässige Bebauungsdichte und -höhe eines Viertels überschreiten wollen. Sie müssen sich im Gegenzug verpflichten, bestimmte Beträge in den öffentlichen Verkehr oder in die Grünflächen des Stadtteils zu investieren. Das ist doch clever. Warum gibt es das in Wien nicht?

Seiß: Weil die Politik das nicht will. Es könnte ja den Wirtschaftsstandort Wien schwächen oder manchen Investor für immer vergraulen. Auch wird argumentiert, dass es - leider - verfassungsrechtlich nicht möglich wäre. Dabei frage ich mich: Ist der Draht zwischen dem Rathaus und der Löwelstraße so schlecht, dass es nicht möglich ist, die bundesgesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, um Investoren an den Folgekosten ihrer Projekte zu beteiligen? Dass sich hochrangige Politiker jahrelang auf eine mangelhafte Gesetzeslage ausreden, lässt vermuten, dass sie mit der bestehenden Situation gar nicht so unzufrieden sind.

In Ihrem Buch haben Sie teilweise Brisantes aus dem Rathaus und seinen Magistratsabteilungen aufgedeckt. Wer waren Ihre Informanten?

Seiß: Zum einen waren es aufrechte Beamte, die bereit waren, offen zu sprechen - wiewohl manche von ihnen anonym bleiben wollten. Und zum anderen waren es Gemeinderäte der politischen Opposition - wobei es für mich interessant war zu erfahren, dass den Mandataren des Landtags bzw. Gemeinderats - immerhin die obersten politischen Organe Wiens - in maßgeblichen Bereichen der Stadtentwicklung kein Einblick gewährt wird. Ich erachte das für ein ziemliches Defizit an demokratischer Kultur.

Wer baut Wien?

Seiß: In erster Linie die Politik und die mit ihnen verbundenen Konzerne und Investoren. Und leider muss man auch manch maßgebliche Medien dazuzählen, die sich in den Dienst der Stadtentwicklungsoligarchen stellen, anstatt ihre so wichtige Kontrollfunktion wahrzunehmen. Q

[ Reinhard Seiß, „Wer baut Wien?“, mit einem Vorwort von Friedrich Achleitner und einem Nachwort von Christian Kühn. Verlag Anton Pustet. € 22,00/216 Seiten. ]

Der Standard, Sa., 2007.02.03



verknüpfte Publikationen
Wer baut Wien?

27. Januar 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Mit Farbe gegen die graue Eminenz

Wenn es nach vielen Architekten ginge, dann würde die ganze Welt in Anthrazit erstrahlen. Oft scheint es, als sei Farbe eine reine Banalität und daher ein Dorn im Auge des Erbauers. Die Architekturpsychologie liefert chromatische Alternativen zum mausgrauen Einheitsbrei.

Wenn es nach vielen Architekten ginge, dann würde die ganze Welt in Anthrazit erstrahlen. Oft scheint es, als sei Farbe eine reine Banalität und daher ein Dorn im Auge des Erbauers. Die Architekturpsychologie liefert chromatische Alternativen zum mausgrauen Einheitsbrei.

Alles blüht, die Wiesen sprießen, und der Himmel ist himmelblau. Schenkt man den Architekturfotografen, Fertigteilhaus-Katalogen und Werbebroschüren von Immobilienunternehmen Glauben, so herrscht in Österreich der ewige Sommer. Nicht selten werden potenzielle Kunden und Bauherren an der Nase herumgeführt, nicht selten werden ihnen schmucke Konzepte verkauft, die oft nicht viel länger währen als gerade einmal sechs Monate im Jahr.

Die Realität sieht anders aus. Was Architekten als Silbergrau, Seidengrau, Schiefergrau, Anthrazit und Architektenschwarz verkaufen, trägt in den Wintermonaten zur perfekten Stadtdepression bei. Unter wolkenverhangenem Himmel und im tiefen Dunst winterlichen Nebels verlieren die aufgeschwatzten Konzepte rasch an Farbe. „Wenn Architektur über eine Sprache verfügt, so wird diese offensichtlich von der breiten Masse nicht verstanden“, schreibt der deutsche Architekt Holger Pump-Uhlmann in einem Essay über Architekturkritik, „muss man Architektur erst lernen, um sie zu begreifen und mit ihr leben zu können?“

Aus diesem Grund etablierte sich vor einigen Jahren die neue Sparte der so genannten Architekturpsychologie. Sie befasst sich mit der Wirkung bebauter Umwelt sowie mit dem Erleben und Verhalten des Menschen. „Manche Architekten fühlen sich in ihrem künstlerischen Ausdruck bedroht, sobald von einem Architekturpsychologen die Rede ist“, erklärt Diplompsychologe Ralf Zeuge, der in Leipzig das Unternehmen PsySolution leitet, „das liegt auch am Umstand, dass sich viele Architekten selbst als Psychologen verstehen.“ Doch Zeuge beschwichtigt: Die diesbezügliche Sensibilität und Kooperationsbereitschaft seitens der Architekten sei im stetigen Wachsen begriffen.

„Wenn man von Architekturpsychologie spricht, dann meint man zu einem großen Teil die Psychologie der Farben“, sagt Bettina Wanschura. Gemeinsam mit Kollegen betreibt sie in Wien das auf Planungs- und Kommunikationsaufgaben spezialisierte Büro PlanSinn. „Man möchte meinen, dass die Farbe der Straße wenig Spielraum zulässt“, so Wanschura, „doch bei genauerer Betrachtung ergeben sich gerade in der Stadt ungeahnte Möglichkeiten zur visuellen Belebung.“

Die Stadt als Leinwand

Als Beispiel nennt sie die Belebung der Erdgeschoßzonen, den Umgang mit künstlichem Licht und die Materialität der Straßenbeläge. Während man in Wien auf grauen und schwarzen Asphalt setzt, wird in den Niederlanden beispielsweise rötlicher Klinker auf den Gehsteigen eingesetzt. Dadurch entstehen andere Farben und Strukturen.

Einen Farbimpuls, der in dieser chromatischen Dichte nur selten anzutreffen ist, findet sich im neuen Freiraumkonzept der Wiedner Hauptstraße. Bettina Götz und Richard Manahl vom Architekturbüro Artec, die als Gewinner aus einem Wettbewerb hervorgegangen waren, griffen mutig in den Farbkübel und setzten in ihrer Gestaltung knalliges Rot ein. In das komplexe Umbauprojekt der Wiedner Hauptstraße flossen übrigens die Ergebnisse eines Bürgerbeteiligungsverfahrens ein, die Gesamtbaukosten betrugen 9,24 Millionen Euro.

Die Wiener Architektin Margarethe Cufer hat in farblicher Hinsicht ähnliche Prinzipien, wenngleich ihre Maßnahmen im Vergleich zu einer herkömmlichen Lösung mit keinerlei Mehrkosten verbunden sind. Ihre Bauwerke werden von Anfang an in Farbe konzipiert, vorzugsweise in Orange. „Ich bin fest da- von überzeugt, dass das in Wien mit den Schlechtwetterphasen zusammenhängt. Ein graues Gebäude im Winter mag zwar architektonisch - sagen wir einmal - spannend sein, aber dem Großteil der Bevölkerung ist es einfach zu trist. Da kann man sagen, was man will.“

Doch Architekturpsychologie ist mehr als nur Farbe im mausgrauen Straßenallerlei. „Eine nutzerorientierte Planung und Gestaltung architektonischer Projekte setzt meines Erachtens einen engen Wissenstransfer zwischen Psychologie und Architektur voraus“, erklärt Zeuge, „und zwar in allen Bereichen.“ Zu den häufigsten Aufgaben des Psychologen zählen Beratungen im Bereich von Arzt- und Zahnarztpraxen. „Stress- und stressreduzierende Faktoren sind in der Gesundheitspsychologie bereits seit Jahren gut erforscht. Jetzt springt der Funke auf die Architekturpsychologie über.“

Der Standard, Sa., 2007.01.27

13. Januar 2007Wojciech Czaja
Der Standard

Der Berg ruft

Nicht nur in der Stadt gilt Architektur als wesentlicher Bestandteil eines guten und frischen Marketings. Auch in luftiger Höh' hat man die Macht der Architektur erkannt - und weiß sie gut zu nutzen

Nicht nur in der Stadt gilt Architektur als wesentlicher Bestandteil eines guten und frischen Marketings. Auch in luftiger Höh' hat man die Macht der Architektur erkannt - und weiß sie gut zu nutzen

Die hohen Gipfel liegen voll im Trend, die mittelmäßige Berglandschaft jedoch ist tot. Das ist das vernichtende Urteil eines städtebaulichen Porträts der Schweiz, das vom ETH-Studio Basel in Auftrag gegeben wurde. Marcel Meili, Jacques Herzog, Pierre de Meuron und Roger Diener, die famosen Autoren der kürzlich erschienenen Studie, sagen allem Land, das nicht Großstadt ist, eine trübe Zukunft voraus. Zwar erklären sie den hochalpinen Raum zum touristischen Hotspot, nicht aber die anderen Berg- und Voralpenregionen - und diese sind in der großen Überzahl. Lieblos werden sie zu „stillen Zonen“ deklariert, ja sogar von „Brachland“ ist die Rede.

Angesichts eines Winters, der nicht kommen mag, stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Schlussfolgerung der Schweizer Studie nicht auch mit den vernichtenden Prognosen der Meteorologen zusammenhängt. Im Alpenraum ist die Rede von bis zu 4,5 Grad Celsius Temperaturanstieg bis zum Jahr 2100. So mancher Schnee wechselt dabei seinen Aggregatzustand, in den niederen Regionen ist es ums Skifahren somit geschehen. Da wird es Österreich nicht anders ergehen als der Schweiz. Doch bevor der teure Wintersport endgültig den Bach runtergeht, greifen die Investoren noch einmal tief in die Tasche und holen aus der Ressource Berg heraus, was zu retten ist.

Gleich eine Hand voll neuer Liftstationen wurde in der vergangenen Saison eröffnet oder deren Entwürfe von berühmten Händen in den Block skizziert. Prominentestes Beispiel ist die Hungerburgbahn von Zaha Hadid, womit Innsbruck - nach der Sprungschanze auf dem Bergisel und dem Rathaus von Dominique Perrault - ein weiteres Mal auf die Karte der Stararchitektur setzt. Die teilweise unterirdische Standseilbahn beginnt mit der Haltestelle „Kongress- und Konzerthaus“ direkt im Stadtzentrum und endet nach vier Stationen bei der Hungerburg. Mit diesem Novum erhält Innsbruck eine Art U-Bahn ins hoch gelegene Naherholungsgebiet. Kostenpunkt für die Hungerburgbahn inklusive der anschließenden Nordkettenbahnen: 50,6 Millionen Euro, die Eröffnung ist im Herbst 2007 geplant.

Das Konzept der neuen Architektenbahn lautet „Schale und Schatten“. Die Stationen erscheinen in Hadid'scher Manier als glatte Skulpturen, die vom Zeitgeist poliert und glattgeschleckt wurden. Die Meisterin: „99 Prozent der Architektur auf der Welt werden nicht von Architekten bestimmt, sondern von Bauherren.“ Das meiste sei immer noch sehr konventionell und gehorche vor allem kommerziellen Erwägungen. Daher sei es wichtig, möglichst vieles von dem, was als theoretische Konzeption gilt, in den architektonischen Mainstream überzuführen.

Hadid zeichnete sich ihre Ideen vom Leibe; Sichtbeton und Glas sollten es sein. Die „schillernde Ästhetik“ der Schalen nehme Bezug auf topografische Phänomene wie Gletscher-, Eis- oder Schneelandschaften. Doch die eigentliche Arbeit hatte der vor Ort ansässige Planer und Projektmanager Georg Malojer: „Der planerische Aufwand war enorm, das Glas hat uns bisweilen große Sorgen bereitet. Es gibt keine Wand ohne Verformung.“ Die Tiroler Unternehmen seien mit solchen Aufgaben nicht vertraut gewesen. Schließlich wurde das Glas in China produziert.

Ähnlich expressiv zeigt sich die neue Talstation der Galzigbahn in St. Anton am Arlberg. Wie ein wildes Reptil lauert das Gebäude von driendl* architects an der Straße und spuckt nacheinander dunkelblaue Gondeln aus. Das Glas enthüllt das technische Innenleben und lässt den Fahrgast schon von außen das Schauspiel der Bergfahrt erahnen. Statt der sonst üblichen Umlenkung in der Horizontalen holt das Rad in diesem Falle die Gondelkabinen nach unten (Seilbahntechnologie Doppelmayr). Nicht zuletzt ermöglicht dies einen ebenerdigen Zugang. Architekt Georg Driendl: „Uns war wichtig, die zukunftsorientierte Beförderungstechnik und den spektakulären Bewegungsablauf sichtbar in den Mittelpunkt zu stellen.“ Die Baukosten für die gesamte Liftanlage belaufen sich auf 22 Millionen Euro, die Talstation selbst schlug mit vier Millionen Euro zu Buche.

Ähnliches vernimmt man aus Schladming. Um die beiden Skigebiete Planai und Hochwurzen miteinander zu verbinden, wurden Hofritter-Richter Architekten zu einem Entwurf für eine Talstation geladen, in der gleich zwei Lifte entspringen. Sie fassten die beiden Gebäude mit einem riesigen, geschwungenen Paravent aus Glas zusammen. Mit der Großform soll einer späteren Verhüttelung durch Standln und Geschäfte vorgebeugt werden. Dennoch weiß auch Gernot Ritter über den Alltag alpinen Bauens Bescheid: „Gerade im Tourismus, wo es dauernd um trendige, poppige, auch oberflächliche Dinge geht, ist es absurd zu sagen, dass alles vom Architekten geplant werden muss.“

Albert Baier, Chef der Planai-Hochwurzen-Bahnen verspricht sich vom neuen Gebäude vor allem „mehr Emotion“ - und natürlich eine dementsprechende Umsatzsteigerung. Nicht von ungefähr hört die Gondelbahn auf den Namen „Golden Jet“. Der benachbarte Konkurrent hatte seine erst kürzlich eröffnete Bahn „Silver Jet“ genannt. Doch Kleinkrieg und Konkurrenz hin oder her - auch in Schladming bringen die Architekten den unwiderruflichen Beweis, dass die Architektur mitunter der kleinste Anteil am fetten Baugeschehen ist. Die Kosten der gesamte Anlage beliefen sich auf 11 Millionen Euro, die der Talstation selbst auf 1,8 Millionen Euro. Sehr viel billiger wäre das Traditionsmodell Lederhose auch nicht gewesen.

Die steilen Hänge sind erklommen, auf geht's zum Jagatee mit Stil. Schon einmal hinterließ der Münchner Architekt Peter Schuck seine Handschrift im tirolerischen Nobelsportort Sölden. Nicht weit davon entfernt wurde er nun nach Hochgurgl zu einer Bauaufgabe in großer Höh' eingeladen. Es galt, die Ötztaler Alpen dem rundum schweifenden Blick zu erschließen. Auf 3000 Meter Höhe wird der schroffe Grat vom so genannten Top Mountain Star gekrönt. „Eine solche Aufgabe zu bekommen, ist wie ein Sechser im Lotto“, erklärt Schuck in ausladenden Gesten, „viele Skifahrer sehen den Berg nur noch als Höhendifferenz, um hinunterwedeln zu können. Dabei ist das Potenzial der Berge enorm.“

An die Stelle einer abbruchreifen Schutzhütte stellte Schuck eine rundum verglaste Hightech-Torte hin, die einen 360-gradigen Ausblick auf die schneebedeckten Gipfel ermöglicht: Im Norden sieht man nach Österreich, im Süden reicht der Blick nach Italien bis hin zu den Dolomiten. Die Fassade kann aufgeschoben werden, bei Schönwetter kann man draußen sitzen und sich mit seiner Stärkung ans Geländer lehnen. Starke Nerven sind Voraussetzung angesichts von Glas und Gitterrost.

Der Top Mountain Star hat den Marketing-Beinamen „Diamant in den Alpen“ verpasst bekommen. So unbeholfen der Titel scheint, so pragmatisch ist seine Begründung: Die Glasbrüstung wurde mit tausenden Swarovski-Steinchen ausgeschmückt, auf dass sie in der eisigen Wintersonne kräftig funkeln mögen. Peter Schuck kann nach eigener Auskunft mit Werbung durchaus leben: „Swarovski verwendet zu haben, bedeutet 100 Prozent Marketing und null Prozent Architektur. Das traue ich mich ehrlich zu sagen.“

Was sagen die Schweizer? Um eine Profitmaximierung zu erzielen, müsse man die schwächeren Regionen mit gezielten, architektonischen Interventionen zu so genannten „unique selling propositions“ (UPS) aufpäppeln.

Dezember 2006. Top Mountain Star wird feierlich eröffnet. Journalisten aus ganz Europa sind mit dabei, auch der deutsche Privatsender Sat.1 ist eigens angeflogen. Es wird ein Film gedreht, es wird viel fotografiert. Einmal vom Hubschrauber aus, dann live vor Ort. Der Architekt steht vor der Kamera. Er erklärt das Gebäude: „Wenn man hier schon baut, dann muss das Bauwerk aus dem Augenwinkel glitzern.“ Am Ende bekommt jeder ein Swarovski-Steinchen geschenkt. Das ist weder eine „stille Zone“, noch unhübsches „Brachland“. Das ist die neue Sprache der rufenden Berge.

Der Standard, Sa., 2007.01.13

06. Januar 2007Wojciech Czaja
Der Standard

In den Sand gesetzt

Dubai ist die größte Baustelle der Welt. Eifrig baut das wohlhabende Emirat an seiner Zukunft - und an einem recht zwiespältigen Image.

Dubai ist die größte Baustelle der Welt. Eifrig baut das wohlhabende Emirat an seiner Zukunft - und an einem recht zwiespältigen Image.

Etwa 120.000 Baukrane sind über die ganze Erde verstreut, Tag für Tag stemmen sie ein weiteres Stück Architektur in den Himmel. Allein ein Viertel aller weltweit existierenden Krane steht in Dubai. Für die einen ist die Metropole am Persischen Golf ein Dorado, für die anderen ist es ein Trip in die Hölle. „Die Leute wissen zwar, dass hier in Dubai viel gebaut wird“, erzählt Sibylle Mueller, Pressesprecherin des Nobelhotels Grosvenor House, „aber wenn sie dann die wahren Ausmaße sehen, sind sie regelrecht geschockt.“

Meeresrauschen sucht man in Dubai vergeblich, stattdessen kann man der Stadt, die mittlerweile über 50 Kilometer Küstenlinie in baulichen Anspruch genommen hat, täglich beim Wachsen zusehen. Nirgendwo sonst auf der Welt wird der Aspekt des Unmöglichen so eifrig bekämpft wie in den Arabischen Emiraten. Um für die Zeit nach dem letzten Tropfen Öl vorzubauen, setzt man auf die Tourismuskarte - und keilt die Sensationsurlauber, die den Wohlstand des Emirats nachhaltig stärken sollen, mit Gigantomanie und Superlative.

Bekannt ist Dubai vor allem für seine palmenförmigen Landgewinnungsprojekte, die dem Meer unter immenser Anstrengung luxuriösen Bauplatz abringen. Die Palm Jumeirah ist mittlerweile vollständig aufgeschüttet und größtenteils bebaut, das Nachfolgeprojekt Palm Jebel-Ali befindet sich derzeit in Bau, und von der Palm Deira (Fertigstellung in zehn Jahren) weiß man bereits, dass sie die ersten beiden Projekte an Größe und Attraktion haushoch überbieten wird. Man spricht davon, dass die letzte der drei Palmen die Ausmaße von San Franciscos Stadtzentrum erreichen wird.

Hatte man auf der Palm Jumeirah einst noch von luxuriös dimensionierten Grundstücken geträumt, musste man - als Folge der regen Nachfrage - die ursprünglich geplante Großzügigkeit etwas straffer fassen. Das gesamte Projekt wurde dichter bebaut, die Bevölkerung von Dubai ließ sich dennoch nicht vergrämen: Nach Auskunft des Projektentwicklers Nakheel war die Insel innerhalb von 72 Stunden vollständig verkauft. In Kürze werden 60.000 Einwohner ihre Wüste verlassen und ihr artifizielles Idyll zwischen den Meereswogen beziehen. Weitere 60.000 Touristen werden folgen - beispielsweise ins Hotel Atlantis, das mit 2000 Zimmern die größte Herberge auf der Palmeninsel sein wird (Baukosten 1,1 Milliarden Euro, Eröffnung Dezember 2008).

„Creating the 8th Wonder of the World“, heißt es auf einem Werbeplakat über die Palm Jumeirah. Auf Anfrage des Standard bestätigt Maria Abdel-Rahman, Marketing-Managerin bei Nakheel, die nicht gerade kleinliche Metapher des Baukonzerns: „Die erste der drei Palmen ist einer der wichtigsten Immobilienstandorte der Welt. Die anderen beiden Palmen werden dann einfach die Rolle des neunten und zehnten Weltwunders einnehmen.“ Aufgeschüttet wurden Stamm und Palmenwedel per Sandkanone von einem Frachtschiff aus, umgeben wird die Palme von einem Wellenbrecher aus Stein, der Wellen bis zu vier Meter Höhe aufhalten soll.

In Ergänzung zu den drei Palmen wird etwas weiter draußen im Meer „The World“ aufgeschüttet. Statt Kommerz und Konsum werden die 300 Inseln, die in Summe ein fragmentiertes Abbild der Erde ergeben, einzig und allein dem vornehmen und abgeschiedenen Wohnen dienen. Verkauft werden in diesem Falle nur die Inseln, die Bebauung erfolgt - unter strengsten gestalterischen Vorgaben - im Alleingang. Die billigsten Inseln innerhalb der Konturen Afrikas beispielsweise sind für knapp 10 Millionen Euro zu haben, für das heiß begehrte Europa, Amerika und Australien muss man bis zu 40 Millionen Euro hinblättern. 30 Prozent der Inseln sind verkauft.

Doch auch Dubai hat verstanden, dass sich mit Sand im Meer - wie schön auch immer seine Konturen ausfallen mögen - keine wirklich reißerischen Aushängeschilder für ein ganzes Emirat erschaffen lassen. Als Parameter beim Mitmischen unter den absoluten Hotspots der Welt hat sich im internationalen Hochhauskampf die Angabe von Höhenmetern etabliert. Die beiden größten Baufirmen Dubais - Nakheel und Emaar - geben sich ein einsames Stelldichein in den höchsten Gefilden. Zu einem spannenden Wettbewerb gehört, dass noch keiner der beiden Mitstreiter die tatsächliche Höhe und Stockwerksanzahl publik gemacht hat. Fürs Erste lassen sich diese Größen nur erahnen. Das Konzept für den Al Burj, den größten Stolz Nakheels, hält mit etwa 180 Stockwerken die Stellung, Emaars Schöpfung soll es - nach derzeitiger Information - ebenfalls auf 180 Stockwerke bringen (Baukosten 760 Millionen Euro). Letztere ist bereits in Bau, Fertigstellung 2009. Auch Giorgio Armani mischt im Zukunftsspiel ein wenig mit: Einen Teil des Burj Dubai wird sein Luxus-Etablissement namens Armani-Hotel für sich beanspruchen.

Skidmore, Owings & Merrill (SOM), die Gestalter des 800-Meter-Riesen: „Das Design des Burj Dubai leitet sich von der Geometrie der Wüstenblume ab, es vereint historische und kulturelle Aspekte mit der Technologie eines High-Performance-Buildings.“ Selbstredend, dass die Fundamente und die Tragstruktur des Burj Dubai für den absoluten Ernstfall ausgelegt sind. Sollte der Erzkonkurrent Nakheel mit seinem Nachfolge-Wolkenkratzer tatsächlich zu einem Meter-Duell herausfordern, lässt sich der Burj Dubai notfalls noch aufstocken. Und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, denn Nakheel meint es bitterernst: „Und wenn wir uns da persönlich raufstellen und den Antennenmast in den Himmel halten müssen - wir werden das höchste Gebäude der Welt sein!“

Der Himmel wird erobert, im Meer wird Bauland geschaffen, in der Wüste werden Flüsse und Seen gegraben. Umweltverträglichkeits-Prüfungen sind dabei ein Fremdwort. Die Luft im Premium-Segment der Architektur ist dünn. Nur allzu leicht lässt sich der Mensch von der Superlative blenden. Schon heute verbraucht Dubai mit 510 Litern Wasser pro Kopf und Tag rund doppelt so viel wie ein westliches, mitteleuropäisches Land. Mit steigenden Flächen und wachsenden Häusern wird dieser Wert kontinuierlich zunehmen. Fernab der touristischen Ströme werden täglich 750 Millionen Liter Salzwasser in die entlegendsten Ecken der Wüste gepumpt, um dort in riesigen Entsalzungsanlagen zu Süßwasser verwandelt und danach wieder nach Dubai zurückgepumpt zu werden.

Kein Gebäude kommt im heißen Wüstenstaat ohne Klimaanlage aus, und dennoch hat es die Architektur verabsäumt, ihre Gebäude in Wärmedämmung einzupacken. Burgen, die lediglich aus Stahl, Glas und Beton bestehen, schlagen sich im Betrieb ordentlich zu Buche. Madan Kulkarni, Haustechnik-Leiter im kulissenhaft anmutenden Hotel Ritz Carlton erklärt: „Das Design der Gebäude zählt in Dubai mehr als jeder Energieaspekt.“ Das sei bei Hotels nicht anders als bei allen anderen Bauwerken auch.

Selbst wenn Dubais Reichtum schon bald auf dem Tourismus statt auf der Erdölgewinnung aufbauen wird, sind die fossilen Rohstoffe nach wie vor die wichtigste Nahrung arabischer Visionen. Strom wird aus Erdgas gewonnen, die Kraft aus der Sonne und die starken Winde über dem Meer und in der Wüste bleiben ungenützt. Allein die Parkuhren auf den Pkw-Parkplätzen werden mit Sonnenenergie gespeist - und darauf ist man stolz.

Mit der Zeit könnte Abhilfe geschaffen werden, denn Dubai ist wahrscheinlich der letzte Ort auf Erden, der für immer und ewig hinbetoniert ist. „Unsere Hochhäuser sind für eine Lebensdauer von zwanzig Jahren konzipiert“, erklärt der Feuer- und Sicherheitsingenieur Lester De Souza, „wenn sie ausgedient haben, werden sie einfach ersetzt.“ Unter der Regierung von Scheich Mohammed bin Rashid al-Maktoum, dem unbeirrbaren Zukunftsbastler und Machthaber von Dubai, gibt es sogar ein Dekret, das Sanierungen und Renovierungen jeglicher Art ausdrücklich untersagt. Die umstrittene Alternative in der Hochburg des Mittleren Ostens lautet daher Abbruch und Neubau.

Gibt es eine ethische Grenze für die Machbarkeit allen menschlichen Denkens? Maria Abdel-Rahman von Nakheel gibt eine unmissverständliche Antwort: „Der Scheich hat bestimmte Visionen, und diese Visionen setzen wir um.“ 30.000 Baukrane stehen derzeit in Dubai herum. Sie bauen an einer Zukunft, die keine Zukunft hat.

Der Standard, Sa., 2007.01.06

23. Dezember 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Die Sprache der Religion

Welche Häuser hat die Religion in letzter Zeit gebaut? Und gibt es überhaupt ein Miteinander? Ein Überblick über Kirche, Synagoge und Moschee.

Welche Häuser hat die Religion in letzter Zeit gebaut? Und gibt es überhaupt ein Miteinander? Ein Überblick über Kirche, Synagoge und Moschee.

Es klingelt das Telefon in Columbus, Ohio. „Bonjour, who is speaking?“ Die knisternde Stimme gehört einem älteren Mann namens José Oubrerie. Der 73-jährige Franzose, der seit nunmehr 20 Jahren in den USA lebt, hat einen besonderen Trumpf im Ärmel: Er ist einer der letzten heute noch lebenden Mitarbeiter von Le Corbusier. Aus besonderem Anlass möchte sich der Standard mit Monsieur Oubrerie über Architektur, über Kirchen, über die Église Saint-Pierre im Speziellen unterhalten. „Ich spreche nicht mit der Presse, au revoir, bye-bye.“ Monsieur Oubrerie hat aufgelegt.

Die Vorgeschichte: In den Jahren 1961 bis 1965 arbeitete Le Corbusier im französischen Firminy, einem Städtchen mit 26.000 Einwohnern, nicht weit von Lyon. Er bastelte an seiner Vision einer grünen Stadt - und realisierte unter anderem eine Unité d'Habitation und ein Kulturhaus. Am leidenschaftlichsten jedoch verfolgte er die Pläne für die Kirche Saint-Pierre. Für Corbusier selbst blieb der Betonbau nur eine Skizze im Kopf. Denn bevor das Projekt so weit war, dass man mit dem Bau hätte beginnen können, ertrank der Architekt am 27. August 1965 im Mittelmeer.

Jetzt kommt José Oubrerie ins Spiel. Schließlich ist es seinem Engagement zu verdanken, dass das Projekt nach Corbusiers Tod doch noch gebaut wurde. Immer wieder war die Finanzierung gefährdet, 1978 musste der Bau wieder eingestellt werden. Auf Corbusiers Traum machten sich Pflanzen und Tierchen breit. Über ein Vierteljahrhundert waren die kargen Stahlbetonmauern Wind und Wetter ausgesetzt, bis Oubreries permanente Bemühungen endlich zu greifen begannen und man eine finanziell und juristisch tragbare Lösung fand.

Mit Mitteln der Kommune und der EU wurden die Arbeiten 2003 ein letztes Mal in Angriff genommen, vor vier Wochen wurde das Gebäude seiner endgültigen Bestimmung übergeben. Da Frankreich aufgrund seiner strikten Trennung von Kirche und Staat keine Sakralräume errichten darf, musste der Bau kurzerhand umgewidmet werden. Er dient nun offiziell als Museum für Moderne Kunst, inoffiziell als Architekturmekka, nur gelegentlich mietet sich die Kirche ein.

In der Tat ist die monolithische Betonstruktur weniger ein Gotteshaus denn ein Denkmal für den großen Corbusier. Wofür der unverwechselbar bebrillte Erfinder des Modulors stand, das scheint in diesem Gebäude vereint. Über eine betonierte Brücke erreicht man das eigentliche Gebäude, das sich wie ein Kraftwerk in die Höhe stemmt. Von Prismen und Kanälen ist der abgerundete Pyramidenstumpf durchbrochen - sie bringen Licht in den Raum, Licht in seinen buntesten Facetten. „Mit jedem Schritt fangen Sie einen neuen Blick ein“, erklärt Yvan Mettaud, Stadtkonservator von Firminy-Vert, „anhand von Corbusiers Plänen haben wir uns vor allem bemüht, einen starken Kontrast zwischen der lichtdurchfluteten Basis und der dunklen Schale darüber herzustellen.“ Die Baukosten für die mysteriöse Höhle belaufen sich auf 7,6 Millionen Euro.

Für den großen Corbusier hatte José Oubrerie in den Sechzigerjahren sogar sein Architekturstudium hingeschmissen. Der Bau der Église Saint-Pierre in Firminy-Vert sollte sich als eine letzte Prüfung erweisen. Noch einmal traut man sich nach Ohio durchzuwählen. Bonjour. Mit besänftigenden Worten gelingt es dem Journalismus, die Architektur lieblich zu umgarnen. Monsieur Oubrerie fasst sich kurz. „Mit diesem Bauwerk habe ich meine Ausbildung beendet, vielleicht bekomme ich jetzt ja einen Abschluss.“

Ein Gebetshaus, das ebenfalls erst vor wenigen Wochen fertig gestellt wurde, ist die neue Hauptsynagoge in München. Nach Jahren der Unscheinbarkeit in einer gesichtslosen Seitengasse kehrte die Israelitische Kultusgemeinde endlich wieder in die Stadtmitte zurück. Das Planungsreferat entschied sich für den Jakobsplatz, dessen urbane Leere schon ganzen Generationen von Stadtplanern und Architekten im Magen gelegen hatte. „Wer ein Haus baut, hat eine Heimat gefunden“, sagte Charlotte Knobloch, Präsidentin der Kultusgemeinde München und Oberbayern anlässlich der Eröffnung Anfang November. Immerhin geht es hier um die Heimat von insgesamt 9300 jüdischen Mitgliedern - die zweitgrößte Gemeinde Deutschlands.

Der von den Architekten Wandel Hoefer Lorch konzipierte Bau ist Teil eines Kulturzentrums, das aus insgesamt drei Gebäuden besteht (Gesamtbaukosten 57 Millionen Euro). Der erste Eindruck ist ein wenig abweisend. Es bedarf nicht viel Fantasie um nachvollziehen zu können, dass es sich um einen der größten Synagogen-Neubauten Europas handelt. Ein Sockel aus grob behauenem Travertin stülpt sich - gleichsam einer Bastion - um den eigentlichen Gebetsraum. Hier soll man sich an die Klagemauer in Jerusalem erinnert fühlen. Erst im oberen Teil des Gebäudes getraut man sich, mit Glas zu arbeiten und den Raum mit Tageslicht zu füllen. Die Architekten: „Während der Sockel symbolisch für das Dauerhafte steht, wird die mehrschichtige, von einem Bronzegewebe umhüllte Laterne im Licht aufgelöst.“

Hat man erst einmal den Gebetsraum betreten, vermischen sich Zedernholz, Bronze und Glas zu einer gediegenen Stimmung. Erst auf den zweiten Blick hat es die Architektur geschafft, ihre wahre Schönheit zu entfalten. Warum auch nicht, Unaufdringlichkeit ist eine schöne Tugend. Doch die Gegenwart von tonnenschweren Bronzetüren und bombensicheren Glaswänden, die sich als monströse Sicherheitsmaßnahmen in den rituellen Alltag quetschen, lässt sich nicht von der Hand weisen.

„Keine Kriege werden zugleich so ehrlos und unmenschlich geführt als die, welche Religionsfanatismus und Parteihass im Inneren eines Staates entzünden“, hatte Friedrich Schiller einst gesagt. Dies zu entkräften, vermag auch die Architektur nicht. Ganz im Gegenteil, sie wird zum wörtlichen Schutzpanzer. Bei der Grundsteinlegung im November 2003 hatte man gerade noch einen Anschlag der Neonazis vereiteln können. Abi Pitum, Vorstandsmitglied der Kultusgemeinde, sieht der Realität ins Auge: „Normal wird jüdisches Leben in Deutschland erst dann sein, wenn zur Eröffnung eines Gotteshauses mit 500 Plätzen kein Bundespräsident mehr kommen muss.“

Weit weniger glanzvoll als um die christliche und jüdische Architektur ist es in Europa um die muslimische bestellt. Die atemberaubende Moschee sucht man vergeblich. Zaha Hadid hatte sich im Jahr 2000 für einen internationalen Wettbewerb ihre Vorstellung einer Großen Moschee für Straßburg von der Hand skizziert. Die klassische Formensprache ist zur Gänze einer Dachlandschaft aus betonierten Wellen gewichen. Einen gänzlich anderen Weg hatte ihr Kontrahent und nunmehrige Gewinner Paolo Portoghesi eingeschlagen. Der italienische Architekt entschied sich für eine postmoderne Orgie aus Kuppeln und Türmchen. Doch auch davon ist bis heute nichts zu sehen. Der symbolische Grundstein wurde zwar schon 2004 gelegt, doch erst vor zwei Monaten - kurz bevor die Baubewilligung ihre Gültigkeit verloren hätte - rollte der erste Bagger heran.

Von den kühnen Träumen einer zeitgenössischen Moschee ist der deutschsprachige Raum noch weit entfernt. Als im tirolerischen Telfs die Pläne für ein 20 Meter hohes Minarett öffentlich gemacht wurden, verfiel ein Viertel der österreichischen Bevölkerung in Panik und startete eine Bürgerinitiative gegen den muslimischen Gebetsturm. Der Kompromiss zwischen Bevölkerung und dem türkisch-islamischen Verein Atib: Der Turm wurde auf mickrige 15 Meter zusammengestutzt.

Währenddessen sprechen sich in der Schweiz einige Politiker bereits für ein generelles Bauverbot für Minarette aus. „Ein Minarett dient bloß dem Zweck, Präsenz zu markieren, und ist ein Eroberungssymbol, das viele Andersgläubige als Provokation empfinden“, heißt es in einer parlamentarischen Initiative im Kanton Tessin.

Vor exakt 500 Jahren wurde in Rom der Grundstein für den Petersdom gelegt. Besinnliches Fest 2006.

Der Standard, Sa., 2006.12.23

09. Dezember 2006Eduard Steiner
Wojciech Czaja
Der Standard

St. Petersburger Kukuruz

Die Zeit der fossilen Brennstoffe geht zu Ende. Doch bevor es so weit ist, haut die Gasprom noch einmal so richtig auf den Putz und zieht in St. Petersburg einen 300-Meter-Turm hoch. Eduard Steiner und Wojciech Czaja erzählen eine Geschichte des Wahnsinns.

Die Zeit der fossilen Brennstoffe geht zu Ende. Doch bevor es so weit ist, haut die Gasprom noch einmal so richtig auf den Putz und zieht in St. Petersburg einen 300-Meter-Turm hoch. Eduard Steiner und Wojciech Czaja erzählen eine Geschichte des Wahnsinns.

Der Osten greift nach dem Westen. Bukarest, Sofia, Warschau, Kiew und allen voran Moskau ziehen ihre Immobilien-Projekte wie die Schwammerln hoch. Fesche Architektur wird zum neuen Aushängeschild ehemals kommunistischer Länder, über Ethik und Geschmack braucht man nicht zu diskutieren. Was zählt, ist Gigantomanie.

Lediglich St. Petersburg mit seinen etwa fünf Millionen Einwohnern humpelt ein wenig hinterher. Die romantische Stadt an der Newa - gerne spricht man auch vom Venedig des Nordens - wird vom großen Machtzentrum Moskau regelrecht überschattet. Wirtschaftlich und politisch spielt man hier nur die zweite Geige. Und so bleiben St. Petersburg nicht viel mehr als die weißen Nächte und die goldenen Spitzhauben der Admiralität. Allein, den Touristen gefällt's.

Doch jetzt haut man auf die Pauke. Putin und Konsorten haben beschlossen, St. Petersburg auf Vordermann zu bringen. Den Leithammel dieser Tendenz gibt niemand Geringerer als eine der größten russischen Ölfirmen - Gasprom-Neft. Schon zu Jahresbeginn kam die Stadtverwaltung auf die Idee, am rechten Flussufer einen Bürokomplex von etwa einer Million Quadratmeter zu errichten. Zentrum dieser so genannten Gasprom-City sollte ein 300 Meter hoher Turm sein.

Untypisch für Russland, dessen postsowjetische Architektur bislang von einem traditionellen Einheitsbrei einheimischer Monopolarchitekten geprägt ist, trat erstmals eine Reihe internationaler Architekten auf und schaffte es tatsächlich an die Spitze des Wettbewerb-Verfahrens, an dem sich insgesamt 45 Firmen beteiligt hatten. Mit Rem Koolhaas, Daniel Libeskind, Jean Nouvel, Massimiliano Fuksas, Herzog & de Meuron sowie dem britischen Büro RMJM wurden sechs Architekten zu einem Entwurf geladen. Vor wenigen Tagen tagte die Jury und gab der Presse Bescheid: Das Hochhaus-Projekt von RMJM wird zur Realisierung empfohlen. Kaum war das Ergebnis verlautbart, hatte das Kind auch schon einen Namen: Die russischen Medien nennen den neuen Wolkenkratzer schlichtweg Kukurus, den Maiskolben.

77 Stockwerke hoch wird sich der Turm an der Newa in die Wolken schrauben. Der fünfeckige Grundriss und die elegante Torsion, verlautbaren die Architekten, leite sich vom wandelnden Charakter des Wassers ab, von seinen Lichtspielen, Brechungen und Reflexionen. Tony Kettle, Managing Director des britischen Architekturunternehmens, kommentiert den Entwurf: „Wir haben etwas Einzigartiges und Zeitloses geschaffen, eine wunderschöne Landmark für eine Stadt, die in Zukunft neue Maßstäbe in puncto Energieerhaltung und Nachhaltigkeit setzen wird.“

Doch die euphemistischen Worte des international tätigen Büros, das dieser Tage in Moskau sein weltweit elftes Büro eröffnete, können den Groll der betroffenen Instanzen nicht beschwichtigen. „Und wenn der Turm aus purem Gold wäre“, wütet Vladimir Popow, Präsident des Petersburger Architektenverbandes, „er würde die Stadt doch umbringen.“ Popow hatte sich sogar geweigert, an der aus Wirtschaftsleuten, Politikern und Architekten bestehenden Jury teilzunehmen. Juri Sdobnov, Vizechef des russischen Architektenbundes, nannte die Möglichkeit eines solchen Baus überhaupt einen „Frevel“.

Geschlossen schrieb man einen Brief an Präsident Putin und an die Gouverneurin Walentina Matwijenko, in dem man darauf hinwies, dass man drauf und dran sei, den Status als Unesco-Weltkulturerbe zu verspielen. Und das für ein einziges Hochhaus. „Erst die niedrige Skyline macht die Vertikalen St. Petersburgs so großartig. Ein 300-Meter-Turm, der von allen wichtigen Plätzen der Stadt aus zu sehen ist, wird die fragile Silhouette der Stadt zerstören.“ Ein Wiener Déjà-vu, möchte man meinen. Doch im Vergleich zu den Wiener Luxusproblemchen steht im Falle von St. Petersburg tatsächlich einiges auf dem Spiel.

Schon seit dem 19. Jahrhundert kämpft die Stadt an der Newa gegen den größeren Bruder Moskau an. Damals stritten die Gelehrten darüber, welche der beiden Städte Russland wohl besser repräsentieren möge. Später entschieden sich die Bolschewiken für Moskau. Wenn heutzutage 80 Prozent aller finanziellen Transaktionen Russlands durch Moskau fließen, stellt sich die Frage längst nicht mehr. In der nunmehrigen Offensive, St. Petersburg an die westliche Marktwirtschaft anzuschließen, könnte man vom rollenden Rubel geblendet werden. So manch goldene Dachnadel der einzigartigen Stadtsilhouette könnte dabei zu Bruch gehen.

Nicht zufällig hat Putin große Veranstaltungen seiner Präsidentschaft in seiner nördlichen Heimatstadt abhalten lassen. Die 300-Jahr-Feier der Stadt 2003 war aufgelegt, der G-8-Gipfel im heurigen Sommer stellte sich als kräftige Aufwertung heraus. Der Hafen wurde umgebaut und wickelt den aus dem Baltikum abgezogenen Ölexport ab. Russische Firmen siedeln mit ihren Headquarters allmählich nach St. Petersburg. Und der Umzug des Verfassungsgerichts in den Norden ist nur noch eine Frage der Zeit.

Dass der Ölgigant Gasprom da mitzieht, ist keine große Überraschung. Mit insgesamt 330.000 Mitarbeitern, 14,7 Milliarden Umsatz und drei Milliarden Dollar Gewinn kann man sich schon ein Stelldichein mit einer historischen und sensiblen Stadtstruktur erlauben. Die Selbstherrlichkeit des monopolistischen Gaskonzerns, der sich wie selbstverständlich über die Baunormen der ganzen Stadt hinwegsetzt, erzeugt Unmut, der von den Architekten, Behörden und Denkmalschützen längst auf die übrige Bevölkerung übergeschwappt ist - sogar auf einige wenige Bänke in der Politik.

Die Abgeordnete Natalja Evdokomova, die sich einer Protestgruppe aus Parlamentsabgeordneten - immerhin drei aus 49 - angeschlossen hat, erinnert: „Im Zielprogramm der Stadtverwaltung hat man die maximal erlaubten 48 Meter festgeschrieben. Hat man das jetzt vergessen?“ Prominente Unterstützung erhielten die Gegner vom Direktor der Eremitage, Michail Piotrowski, der in der Petersburger Zeitung Vedomosti seiner Furcht um das Antlitz der Stadt Ausdruck verlieh: „Wir haben diese fantastische Stadt durch Zufall geerbt. Wir dürfen sie nicht beschädigen.“

Die kleine Abgeordnetengruppe richtete ihr Ersuchen bereits an den russischen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika. Dieser soll nun die Stadtsubvention für das Projekt überprüfen. Insgesamt 60 Milliarden Rubel (1,75 Milliarden Euro) sollen in den kommenden Jahren aus der Stadtkasse in die Gasprom-City - und ihre Managerwohnungen - fließen.

Mit zunehmender Straffheit des autoritären Regimes wird Kritik obsolet. Derzeit deckt die mächtige Gasprom ein Viertel des europä-ischen Gasbedarfs. Glaubt man den Wünschen, die aus dem Kreml dringen, so soll die Gasprom noch mächtiger werden und zur Nummer eins auf dem Weltenergiemarkt heranwachsen. Dann ist jede Kritik ohnehin sinnlos. „Was gut ist für Gasprom, ist gut für den Staat“, lautet das Motto des Gasmonopolisten.

Bleibt noch die Frage der Realisierung. Immer wieder führt der sumpfige Grund dazu, dass Wasser in die unendlich tief gebaute U-Bahn eintritt. Das wird auch beim Gasprom-Turm nicht anders sein. Seine Fundamente - so wird gemunkelt - sollen in preislicher Hinsicht dem oberirdischen Gebäude beinahe gleichkommen. Doch darüber brauchen sich die Architekten von RMJM nicht den Kopf zu zerbrechen. Aus der Stadtregierung ist zu vernehmen, dass RMJM lediglich Konzept und Entwürfe vorlegen dürfe. Den Rest erledige man schon lieber selbst.

„Natürlich gibt es Debatten und viel Widerstand“, sagen die Architekten und vergleichen sich prompt mit Monsieur Gustave Eiffel, „aber denken Sie nur einmal an Paris! Durch den Eiffelturm mit seinen 324 Meter Höhe wurde das wertvolle Paris sogar noch wertvoller.“ Die Grenzen zwischen Kultur und Turbokapitalismus scheinen verschwommen. Leider ist die Architektenschaft in der Riege der Besten um jeden Preis käuflich. Sie bricht ihr Versprechen, einen guten Beitrag für eine bessere Welt leisten zu wollen. Und damit macht sich die Stararchitektur zur Hure der Mächtigen

Der Standard, Sa., 2006.12.09

02. Dezember 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Die Stadt zwischen den Zeilen

Von Hackern ausgeheckt: das kapitalistische Werbeformat Plakatwand einmal anders.

Von Hackern ausgeheckt: das kapitalistische Werbeformat Plakatwand einmal anders.

Weihnachten ist die normative Kraft des Faktischen. Gegen Jingle Bells, Shopping-Misanthropie und stenzeltrotzende Punschhütten ist selbst die coolste Architektur machtlos - und das Feuilleton kann einpacken. Doch wenn man sich schon dem Duktus des Irdischen beugen muss, dann kann man zumindest im Denken entfliehen. In Bücher verpackt wird die Stadt wieder erträglich, mit dem Lesen legt sich ein Schleier der Schönheit über sie. Einige Werke der letzten Saison kehren der herkömmlichen Stadt den Rücken und versuchen, sie auch mal zwischen den Zeilen zu lesen.

Um es mit den Worten der beiden Herausgeber Florian Haydn und Robert Temel auszudrücken, ist Weihnachten in Anbetracht seiner Kurzfristigkeit gar nicht übel. Ganz im Gegenteil: „Temporäre Nutzungen sind Symptome eines alternativen Stadtplanungsverhältnisses.“ In ihrem Buch Temporäre Räume (Birkhäuser, ¬ 29,90) versammeln sie Essays von Peter Arlt, Barbara Holub, Elke Krasny und vielen anderen, die sich alle dem Phänomen der Temporalität - ja, so heißt das - aus politischen, praktischen und theoretischen Betrachtungswinkeln nähern. Klaus Ronneberger: „Das urbane System erfährt eine grundlegende Transformation. Überspitzt könnte man sagen: Waren die Metropolen zuvor über den Prozess der Verarbeitung materieller Ressourcen definiert, so fungieren sie nun als Orte der Produktion und der Transfers von Symbolen und Wissen.“

Eines der weitreichendsten Beispiele temporärer Stadtnutzung ist wohl das „Permanent Breakfast“, das heuer sein zehnjähriges Bestehen feiert. Gefrühstückt wurde bereits in Papua-Neuguinea, im Sudan, in Brasilien und in Chile - und zwar durchwegs auf offener Straße. „Die gängige Erlaubniskultur, also die Annahme, nur was explizit erlaubt sei, sei nicht verboten, zieht die Grenzen der eigenen Möglichkeiten meist wesentlich enger als notwendig“, schreiben die beiden Initiatoren Ursula Hofbauer und Friedemann Derschmidt, „die Zurückhaltung gegenüber nicht vorformulierten Verhaltensweisen ist kulturell tief verankert.“

Doch zum Glück gibt es sie, die wertvollen Widersacher der globalen Stadt, die stets gegen den Strom schwimmen. Thomas Düllo und Franz Liebl vereinen sie - die Designer, Künstler, Manager, Aktivisten und Wissenschafter - in einem dicken Schmöker namens Cultural Hacking (Springer Verlag, EUR 37,00). Gezeigt werden Theorien und Projekte des so genannten strategischen Handelns. War ein Hacker ursprünglich ein Journalist, der seine Arbeit mit unorthodoxen Mitteln machte, wandelte sich der Begriff sehr rasch und übertrug sich auf den Bereich der elektronischen Medien.

Nichts anderes machen die Protagonisten des Cultural Hacking: Sie klicken sich auf legale oder illegale Weise in das Geschehen der Großstadt ein und eignen sich vornehmlich all jene Botschaften an, die den anderen gehören: Werbung. Die Fotokünstlerin Aude Tincelin stellt sich die Frage, welche globalen Player sich in unser aller Köpfe bereits so tief eingenistet haben, dass wir ihre Sprache auch schon ohne Schrift zu lesen vermögen. „Was wir in Aude Tincelins Fotostrecke Sans Titre sehen, sind nur noch uniforme und merkwürdig mediokre Lifestyle-Welten, denen ein zentraler Bedeutungsgehalt abhanden gekommen ist“, schreibt Franz Liebl über die „amorphe, desorientierte Melange aus H&M, The Gap, Aubade, Boss und Adidas. Kurz: this could be anything.“

Und doch sind wir alle in der Lage, die Stadt zu lesen. Das liegt nicht zuletzt an der sprache der strasse (Sonderzahl Verlag, ¬ 15,00), an die sich die Herausgeber Mark Gilbert, Wolfgang Niederwieser und Hans Hinterholzer herangemacht haben. „Identität gehört zu den wichtigsten Eigenschaften einer Stadt“, so Gilbert, „die Straße ist nicht nur die Sphäre aggressiven Verkaufs, sondern auch der Ort, an dem Individuen jene Identitäten ausleben, die nicht gekauft und nicht verkauft werden können.“ Einerseits basiert das Buch auf der offensiven Stadtplanungs-Intervention making it 2, die letztes Jahr in leer stehenden Geschäftslokalen in Wien Margareten über die Bühne gegangen ist, andererseits gehen die Herausgeber mit unzähligen Autoren der Frage nach, was man dem Qualitätsverlust der städtischen Einkaufsstraßen entgegensetzen kann. Die Geschäftsnutzung wandert in Einkaufszentren ab, die Straße wird zur „shrinking street“.

Schuld an der ganzen Misere ist unter anderem der österreichische Architekt und Stadtplaner Victor Gruen (1903-1980). Von den Nationalsozialisten enteignet, emigrierte Gruen nach New York, wo er sich mit Boutique-Umbauten auf der Fifth Avenue einen großen Namen machte. Wenig später folgte seine Erfindung der vollklimatisierten und gedeckten Shopping Town, einer eigenen Stadt am Rande des Stadt. Soziologin Annette Baldauf und Fotografin Dorit Margreiter widmeten dem ambivalenten Mann ein kleines Kunststück-Buch unter dem Titel Der Gruen Effekt (herausgegeben von Florian Pumhösl, Verlag Montage Wien, ¬ 9,00, zu beziehen über die Galerie Krobath Wimmer).

„Victor Gruen gilt heute als einer der einflussreichsten westlichen Städteplaner“, schreibt Annette Baldauf in ihrer Einleitung, „Gruens frühe Arbeiten werden heute vielfach als Impuls zur Zerstörung der westlichen Städte interpretiert.“ Nachdem der „people's architect“ - wie er sich selbst nannte - insgesamt 15 Millionen Quadratmeter Einkaufsfläche allein in Shopping Towns realisiert hatte, musste er sich am Ende seines Lebens einen grundsätzlichen Fehler eingestehen: „Amerika darf man nicht kopieren, man muss es kapieren.“ In einem Vortrag im Jahre 1974 appellierte er an sein Publikum: „Widmen Sie ihre Schöpfkraft nicht länger einer verlorenen Sache. Das Einkaufszentrum ist tot.“

Genug der Markenbühne Stadt. Augen schließen. Ohren auf höchste Aufmerksamkeit. Rewind. Und Play: In Bücher verpackt wird die Stadt wieder erträglich, mit dem Lesen legt sich ein Schleier der Schönheit über sie. Doch man kann der Stadt auch entfliehen, indem man sie durchschreitet, indem man die Kopfhörer aufsetzt, indem man sich nur auf Bild und Ton konzentriert - und die physische Kausalität mal bei Seite lässt. Die in Kanada lebende Künstlerin Janet Cardiff ist diesen Weg schon vorgegangen und hat ihre Erfahrung in The Walk Book verewigt (herausgegeben von Mirjam Schaub, Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, ¬ 70,00). Was für eine Typografie, ein Genuss! Das Buch wurde mit dem Certificate of Typographic Excellence 2005 ausgezeichnet.

Cardiffs Routen durch Metropolen wie New York, Montreal, London oder Paris - abgegangen zwischen 1991 und 2005 - werden zu abstrakt zusammengestellten Sinnenseindrücken auf 343 Seiten: Text, Fotos, überschmierte Spazierdrehbücher. Eine beigelegte CD navigiert den Leser durch die Stadt. Für Liebhaber gibt es eine Sonderausgabe mit hellblauem CD-Player und handsignierter Fotografie (limitierte Auflage 100 Stück, 468,00). „Ich weiß nicht, warum ich im Park war, es hat mich dort hingezogen“, erzählt Cardiff mit tiefer, sonorer Stimme, „manchmal fällt man regelrecht in eine Geschichte rein. Ich möchte, dass Sie mich begleiten.“ Glockenläuten, Vogelgezwitscher, Schüsse, Alarmanlage, Helikopterlärm. Irgendwann muss auch die Kunst niesen. Hatschi. Cardiff entschuldigt sich beim Zuhörer.

Wann hat man die Nase voll von der Stadt? Autorin Barbara Motter und Fotograf Konrad Rainer lassen sich vom City-Walken nicht beeindrucken, sie ergreifen die Flucht in den Westen, konkret ins untere Rheintal. In ihrem - beschützende Mutterinstinkte fördernden - Büchlein Gartenhüsle (Studien Verlag, EUR 22,90) frönen sie der guten alten Holzhütte. Einsam rottet sie vor sich hin - oder steht liebevoll gealtert am Ende des Gartens. So passioniert und liebevoll war ein Architekturbuch noch nie. Man muss es richtig fest an die Brust drücken. Da ist sie also wieder - die Hütte. Bald ist Weihnachten.

Der Standard, Sa., 2006.12.02

02. Dezember 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Der Kampf um den Höchsten

Im Sinne der Superlative kann man das europäische Hochhaus getrost abschreiben. Doch statt im Kampf um den Höchsten mitzumischen, verschreibt man sich ganz der Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Der Hochhauspreis 2006 erging an Jean Nouvel.

Im Sinne der Superlative kann man das europäische Hochhaus getrost abschreiben. Doch statt im Kampf um den Höchsten mitzumischen, verschreibt man sich ganz der Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit. Der Hochhauspreis 2006 erging an Jean Nouvel.

Keine andere Bauaufgabe wird mit so viel Ruhm und Publikumswirksamkeit geehrt wie das Hochhaus. Vor allem aber ist das Hochhaus ein Werkzeug unentwegter Macht und Konkurrenz. Der Kampf zwischen Rivalen ging sogar so weit, dass gleichzeitig mit dem New Yorker Chrysler Building zwischen 1928 und 1930 die Bank of Manhattan hochgezogen wurde. Man wollte es genau wissen: Letztere hatte bis zum letzten Tag mit 283 Metern Höhe die Nase vorn. Doch Chrysler-Architekt William van Alen hatte damals die geniale Idee, die Turmspitze im Heizungsschacht aufzubauen und sie dem Gebäude in einem Stück aufzusetzen. Fazit: 319 Meter - und die Bank of Manhattan schaute blöd aus der Wäsche.

An den tückischen Spielchen um den höchsten Wolkenkratzer der Stadt hat sich bis heute nichts verändert. Amerika zog sich aus dem Kampf bereits zurück, das Schlachtfeld verlagerte sich nach Südostasien und in den Mittleren Osten. Mal trumpft Kuala Lumpur (452 Meter) auf, dann wieder Taipeh (509 Meter), in Kürze könnte Schanghai folgen - vorausgesetzt, dass die derzeit veröffentlichten 492 Meter ein Bluff im Stile der altehrwürdigen Chrysler-Company sind. Die Baukosten für das World Financial Center sind mit 850 Millionen US-Dollar (646 Millionen Euro) veranschlagt, als Bauherr tritt ein japanisches Konsortium aus 36 Banken auf, das durch die Mori Building Co. of Tokyo angeführt wird.

Wie hoch ist Europa?

Der europäische Kontinent hätte selbstredend keine Chance zu gewinnen - zumindest nicht, wenn es um die Größe geht. Dafür hat man sich der Aufgabe verschrieben, statt in Höhenmeter das Hirnschmalz in die Qualität der Bauwerke fließen zu lassen. An vorderster Stelle stehen technische und ökologische Innovationen, die - im Gegensatz zum asiatischen Markt - jedoch nicht der Reputation, sondern der Nachhaltigkeit dienen sollen. In diesem Sinne wurde heuer unter Juryvorsitz von Architekt Werner Sobek der Internationale Hochhauspreis 2006 vergeben. Die Preisträger und weitere eingereichte Projekte sind noch bis 11. Februar 2007 im Deutschen Architekturmuseum Frakfurt zu sehen.

Die diesjährige Auszeichnung erging an den französischen Architekten Jean Nouvel für seinen auffälligen Torre Agbar. Der Firmensitz des Grupo Agbar (Agua Barcelona) böte auf mehreren Ebenen einen herausragenden Beitrag zur aktuellen Hochhausdebatte, heißt es seitens der Jury. „Im Gegensatz zu üblichen Hochhäusern mit ihren gläsernen Vorhangfassaden reagiert die Gebäudehülle des Torre Agbar auf das heiße, spanische Klima.“ Entgegen seiner äußeren Erscheinung handelt es sich nämlich um eine Betonhülle, die nicht nur der Statik, sondern auch als Hitzeschutz dient. Die nach außen hin sichtbare Fassade aus beweglichen Glaslamellen bildet einen thermischen Puffer.

Wie ist es um das Hochhaus in Wien bestellt? Das restliche Österreich kann man in dieser Diskussion getrost ausklammern, denn mehr als 20 Stockwerke sind in den Bundesländern nicht drin. „Hochhäuser stellen eine besondere Herausforderung für den Projektentwickler dar“, erklärt Thomas Jakoubek, Geschäftsführer der Wiener Entwicklungsgesellschaft für den Donauraum (WED), „daher lautet die oberste Devise: Hochhäuser ja, aber nicht um jeden Preis.“

Die WED kaufte der Stadt Wien 17,4 Hektar Land auf der Donauplatte ab. Damit die Investitionskosten langfristig wieder zurückfließen können, müsse die WED rund 1,65 Millionen Kubikmeter verbauen. Das entspricht einer Bruttogeschoßfläche von etwa 500.000 Quadratmetern. Jedoch könnte die Donau-City nach Auskunft des Geschäftsführers sogar bis zu zwei Millionen Kubikmeter vertragen. „Am effizientesten sind dabei natürlich Hochhäuser“, erklärt Jakoubek, „dennoch haben auch Hochhäuser eine wirtschaftliche Obergrenze.“ Wird sie überschritten, fällt das Verhältnis zwischen Brutto- zur Nettofläche rapid ab.

Das Investitionsvolumen für das gesamte Großprojekt beträgt zwischen 1,5 und 2,0 Milliarden Euro. Mit den Zwillingstürmen von Dominique Perrault, die mit 160 und 220 Meter Höhe zum höchsten Ensemble Österreichs werden, erreicht man eine Flächeneffizienz von etwa 75 Prozent. „Eigentlich wollten wir es bei 190 Metern bewenden lassen, doch eine Zwei am Anfang macht sich ganz gut.“ Da ist er ja, der Kampfgeist.

Der Standard, Sa., 2006.12.02

25. November 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Wer Museum sagt, muss auch Bilbao sagen

Das Guggenheim-Museum in Bilbao hat die Latte hoch gelegt. Können das die neuen Museen überhaupt noch überbieten?

Das Guggenheim-Museum in Bilbao hat die Latte hoch gelegt. Können das die neuen Museen überhaupt noch überbieten?

Als Normalsterblicher ahnt man gar nicht, wofür man alles Architekten braucht. Wer denkt im Alltag ernsthaft an Wasserkraftwerke, Kläranlagen und Großbäckereien? Hans Hollein mag also Recht behalten, wenn er meint, „alles ist Architektur.“ Doch auf der großen Karriereleiter kratzt das niemanden. Ganze Trauben von schwarzen Architekten hängen daran und raufen um die nächst höhere Sprosse. Im Visier haben sie nur eines. Denn wer ganz nach oben möchte, der braucht nur die erstrebenswerteste aller Bauaufgaben zu meistern - ein Museum.

Je spektakulärer das Gebäude ausfällt, desto größer die Chance, von der Presse zum Stararchitekten gekürt zu werden. Und ehe man sich versieht, ist man ein Gehry, eine Hadid, ein Libeskind. Fällt Ihnen ein Museum ein? Vor zehn Jahren hätte man noch Louvre, Prado und Eremitage geantwortet, heute spricht man nur noch von Bilbao. Eine ganze Stadt, ein ganzes müdes Baskenland ist durch die Hilfe von Bauherr und Architekt von einem Tag auf den anderen zu Weltruhm gelangt.

„Die Städte haben die Museen als Marketingfaktoren entdeckt“, schreibt der Autor Thierry Greub in einem Essay über die Ausstellungsbauten des 21. Jahrhunderts, „ein spektakulärer Museumsbau besitzt überregionale Ausstrahlung, sichert der Stadt im besten Fall sowohl ein markantes Wahrzeichen als auch Zentrumsfunktion.“ Waren es bisher nur die Gemälde und Skulpturen, die eine Reise in das eine oder andere Museum nahe legten, bilden jetzt die Museumsbauten die Hauptattraktion.

Der deutsche Maler und Bildhauer Markus Lüpertz hat schon 1984 hellsichtig formuliert: „Die Architektur sollte die Größe besitzen, sich selbst so zu präsentieren, dass die Kunst in ihr möglich wird, dass die Kunst nicht durch den Eigenanspruch der Architektur, Kunst zu sein, vertrieben wird.“ Angesichts einer immer lauter werdenden Architektur ist die Frage daher durchaus berechtigt: Wo bleibt da noch Platz für die Kunst?

„Gebt mir ein Museum, und ich werde es füllen“, soll Picasso gesagt haben. Etwas bereits Gefülltes noch mehr anzufüllen, wie dies zunehmend der Fall ist - das ist keine leichte Aufgabe. Doch das Klagelied des allzu üppigen Museumsbaus ist kein neues. Seit jeher trachtete man danach, für die Unterbringung der Kunst ein eindrucksvolles Gebäude im passenden Stil zu errichten. Nur so kann man den Louvre, den Prado und die Eremitage in St. Petersburg verstehen, denn schlicht und neutral waren all diese Räume beim besten Willen nicht.

Erst die Kunst des 20. Jahrhunderts forderte eine minimalistische Hülle ein - das war die Geburtsstunde des so genannten White Cube. Die Hülle nahm sich als nacktes Nichts zurück, im Rampenlicht stand die Kunst. Gerade einmal ein paar Jahrzehnte hat der weiße Minimalismus heute auf dem Buckel, schon wird er als veraltet erachtet, abgelegt und gegen den visuellen Barock einer Bilbao-Architektur eingetauscht. Seit dem großen baskischen Wurf Frank O. Gehrys gilt - zumindest bei Kunstmuseen - einmal mehr das Prinzip, dass ihr Baustil eine Verbindung zur ausgestellten Sammlung aufweisen soll.

Kaum hat sich die Menschheit vom Guggenheim-Museum in Bilbao, vom Jüdischen Museum in Berlin oder vom Grazer Kunsthaus-Blob erholt, wird sie ein weiteres Mal strapaziert. Denn der Museumsboom hat seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht, die wirklich großen Würfe stehen erst an. Die Hauptprotagonisten der neuen Kunstarchitektur sind an erster Stelle Frank O. Gehry, Zaha Hadid und Daniel Libeskind, gefolgt von Santiago Calatrava, Bernard Tschumi, Coop Himmelb(l)au, Shigeru Ban und - gerade in den Vereinigten Staaten ein viel gefragter Mann - Renzo Piano.

Einige Museumsbauten wirken wie aus einer fernen Zukunft, doch sie werden durchwegs Realität sein. So manches Projekt befindet sich sogar schon in der Bauphase. Zaha Hadids MAXXI in Rom (Museo nazionale delle arti del XXI secolo) ist eine spektakuläre urbane Maschine, die ein wenig an die Gleisverläufe eines Bahnhofs erinnert. Zaha Hadid kontert: „Ich habe dabei nicht unbedingt an Eisenbahnschienen gedacht. Vielmehr soll es an die Linien der Landschaft oder an die gewundene Linie des nahe gelegenen Tibers erinnern.“ Die Ausstellungsräume sind als betonierte Tröge ausgebildet, die Belichtung erfolgt ausschließlich über Glasdecken. „Es gibt eine starke Beziehung zwischen dem Gebäude und dem Himmel. Mit dem mediterranen Licht hier in Rom umzugehen, ist eine Herausforderung und ein Spaß für sich“, erklärt Hadid.

Die Eröffnung ist für 2008 geplant. Ursprünglich waren die Baukosten mit 70 Millionen Euro veranschlagt, Experten sprechen mittlerweile von 100 Millionen. Derzeit droht ein Baustopp wegen Geldmangels. Um den schlimmsten Fall zu verhindern, erklärte vorgestern Donnerstag die italienische Regierung, dass sie das Projekt mit 24 Millionen Euro unterstützen werde.

Weniger dramatisch geht es im französischen Metz zu, wo gerade eine Zweigstelle des Pariser Centre Pompidou entsteht. Baukosten 36 Millionen Euro, Eröffnung 2008. Der Entwurf von Shigeru Ban und Jean de Gastines ist einem chinesischen Bambushut nachempfunden. Der sechseckige Flechtschirm aus Schichtleimholz und einer lichtdurchlässigen Kunststoff-Membran wird dem Haufen aus unterschiedlichen Ausstellungsräumen ganz einfach aufgesetzt. Untertags erinnert die Gebäudehülle an ein Zewa-Softis-Taschentuch, nachts scheint die ungewöhnliche Holzkonstruktion durch.

Auch in Lyon ist bereits eine Baustelle voll in Betrieb. Das Musée des Confluences von Coop Himmelb(l)au ist ein riesiger Apparat, der auf eine gottverlassene Landzunge am Zusammenfluss zwischen Rhône und Saône gestellt wird. Der Monsterbau aus Stahl, Glas und Stahlbeton ist über 150 Meter lang und an seiner höchsten Stelle 40 Meter hoch. Laut Architekten dürfe man sich das neue Wissenschafts- und Ethik-Museum jedoch nicht als abgeschlossenen Bau vorstellen, sondern ganz im Gegenteil als ein Ensemble „voller Zwischenräume, Undeutlichkeiten und Hybridisierungstendenzen“. Klar und deutlich indes: Baukosten 100 Millionen Euro, Fertigstellung 2008.

„Die meisten Dummheiten in der Welt muss sich wahrscheinlich ein Gemälde in einem Museum anhören“, schrieb der französische Schriftsteller Edmond de Goncourt Ende des 19. Jahrhunderts. Trifft das immer noch zu? Längst scheint es, als wären die Museen selbst an deren Stelle getreten. Die Frage, die sich angesichts der musealen Bauwut aufdrängt, lautet unweigerlich: Wie viel Museum verträgt die Welt? Längst könnte man all die Bilder abhängen und die unnützen Skulpturen verstauen. Denn die Menschen wären bereit, auch für die Besichtigung der alleinigen Architekturhüllen Eintrittsgeld zu zahlen. Fragt sich nur, ob das bloße Spektakel für eine Langzeitwirkung ausreichend ist.

Kürzlich eröffnete das Denver Art Museum von Daniel Libeskind (Baukosten 70 Millionen Euro). Hier gibt es ein Déjà-vu. Die geschlitzte Metallfassade weckt Erinnerungen an das Jüdische Museum in Berlin - mit dem einzigen Unterschied, dass das Denver Art Museum noch ein bisschen zerknüllter wirkt als sein europäischer Vorgänger. Und - Libeskind ist nicht der Einzige, der sich mittlerweile selbst zitiert. Die Beispiele sind zahlreich.

Die Zwischenbilanz über die post-bilbaotische Generation von Museumsbauten fällt am Ende ernüchternd aus. Wahrzeichen, Attraktionen und Blickfänge sind sie allesamt, doch es ist nicht zu übersehen, dass die formalen und funktionalen Spielmöglichkeiten weit gehend ausgereizt sind. So atemberaubend die einzelnen Gebäude auch sein mögen - seit Bilbao ist die Luft draußen. Q

Ausstellung im Lentos Kunstmuseum Linz: „Museen im 21. Jahrhundert: Ideen, Projekte, Bauten“. Zu sehen bis 18. Februar 2007. Täglich außer Dienstag 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 22 Uhr. Ernst-Koref-Promenade 1, 4020 Linz. Zur Ausstellung ist ein Katalog im Prestel-Verlag erschienen. Die Ausstellungsgestaltung stammt von Caramel architekten.

Wer Museum sagt, muss auch Bilbao sagen

Die Zweig-stelle des Centre Pompidou in Metz ist einer der wenigen autonomen Lichtblicke unter den neuen Museen. Im Gegensatz zu Shigeru Ban und Jean de Gastines nehmen es Hadid, Libeskind und Coop Himmelb(l)au mit der Individualität nicht allzu ernst. Seit Bilbao gilt: Erlaubt ist, was gefällt. Déjà-vus spielen dabei keine Rolle.

Der Standard, Sa., 2006.11.25

17. November 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Der Architekt als Marke

Hadi Teherani ist nicht nur Architekt, sondern auch ein ausgefuchster Marketing- Experte. Als einer von wenigen hat er sich so stark positioniert, dass man ihn heute als Markenboss wahrnimmt.

Hadi Teherani ist nicht nur Architekt, sondern auch ein ausgefuchster Marketing- Experte. Als einer von wenigen hat er sich so stark positioniert, dass man ihn heute als Markenboss wahrnimmt.

Man stelle sich eine Umfrage auf der Straße vor: „Nennen Sie einen lebenden österreichischen Architekten!“ Uff. Mit ziemlicher Sicherheit werden irgendwann einmal Namen wie Peichl, Prix und Hollein dahertröpfeln. Ganz anders in Deutschland. Da würden alle die Hände vor dem Mund falten und galant in die Kamera kundtun: „Hadi.“

Die Rede ist von Hadi Teherani, jenem Architekten, der eben nicht nur Architekt ist, sondern auch Designer, Prominenter und Genussmensch. Das publikumswirksame Zugpferd und dritte Initial des Hamburger Architekturbüros BRT wird bei unserem deutschen Nachbarn als Star gehandelt. Sein Konterfei lächelt regelmäßig aus allerlei Gazetten heraus und beliefert die Leserschaft mit Zitaten, Kommentaren und subjektiven Meinungen. In Bälde - so viel lässt sich bereits prognostizieren - könnte jeder Deutsche einen echten Hadi besitzen. Denn der gebürtige Perser hat seine Unterschrift schon an Stühlen, Teppichen und Waschbecken gelassen. Neuerdings sogar an Schuhen.

Doch mehr als alles andere hat Teherani sich selbst entworfen. In britischen Autos und aalglatten Anzügen gleitet er durch die Welt der Investoren und proklamiert die Architektur als Marke. Wo bleibt da Zeit für Architektur? Gespräch mit einem Mann, ohne den die hanseatische Stadt heute ganz anders wäre, als sie ist.

der Standard Die Presse bejubelt Sie als Star unter deutschen Architekten. Sind Sie ein Star?

Hadi Teherani: Star kann man nicht sein, zu einem Star wird man gemacht. Ich weiß auch nicht, woher das kommt. Ja, die Leute sprechen mich auf der Straße als Star an, sie geben mir zu verstehen, dass sie meine Arbeit schätzen. Ich nehme das als Label, als Auszeichnung gerne an. Und es ist auch ein großes Kompliment. Denn in der Regel sind wir Architekten so erzogen worden, dass wir fast ausschließlich in unserer Gemeinschaft, in unserer Kaste leben und uns aus diesen Kreisen nur selten befreien können.

An diesem Label sind Sie nicht unbeteiligt, denn Sie proklamieren Ihren Lifestyle in den Medien. Wenn Sie das Heck Ihres Aston Martin überarbeiten, weil es Ihnen „zu weich“ ist, dann weiß ganz Deutschland Bescheid.

Teherani: Die Sache ist im Grunde recht einfach. Wenn ich mir ein Auto kaufe, gestalte ich all jene Nuancen um, die mir vielleicht nicht so gut gefallen. Ich habe mir einen Mini Cooper gekauft und einfach ein paar Details verbessert. Aber das sind ausschließlich persönliche Bedürfnisse. Ich finde den Mini Cooper von der äußeren Erscheinung her absolut gelungen, aber ich wollte mich gerne auch im Innenraum wiederfinden, so wie ich es auch in meinen anderen Fahrzeugen tue. Im Mini war mir viel zu viel Plastik, es hat so kunterbunt ausgesehen wie My First Sony. Daher habe ich diese Accessoires im Innenraum so umgewandelt, dass das Auto heute in meinem Augen seriöser auftritt. Beispielsweise habe ich den Drehzahlmesser entfernen lassen - er hat mich in der Symmetrie gestört.

Sie selbst behaupten von sich, Perfektionist zu sein. Muss denn alles perfekt sein?

Teherani: Natürlich gibt es Grenzen. Und manchmal gibt es auch Dinge, die schön sind, ganz einfach weil sie unperfekt sind. Ansonsten dürfte ich ja keine englischen Autos fahren, die sind ja nicht unbedingt ganz perfekt. Bei englischen Autos stimmt dafür das Emotionelle, sie sprechen einen an. Aber jene Dinge, die ich in meiner Umgebung sehr wohl persönlich beeinflussen kann, möchte ich tatsächlich so lange verbessern, bis ich hundert Prozent dahinter stehen kann. Wenn ich einen Anzug anziehe, möchte ich, dass er nicht nur perfekt geschnitten ist, er sollte sich auch toll anfühlen, der Stoff muss eine gute Qualität haben.

Weg von den Luxusproblemen, zurück zur Architektur. Welchen Stellenwert nimmt Architektur in der Gesellschaft ein?

Teherani: Die Architektur hat einen sehr hohen Stellenwert - doch das wird nicht immer so gesehen. Architekten schaffen Identität, sie schaffen das Gesicht der Städte, und sie schaffen Lebensräume für Menschen. Wir fahren gerne nach Venedig, London, Paris. Und warum machen wir das? Weil man in diese Städte damals offensichtlich gut investiert hat. Heute ist die öffentliche Hand verantwortungslos und langweilig geworden, das Resultat sind gesichtslose Städte. Dagegen muss man ankämpfen! Und das geht nur, wenn man nicht immer nur aus den Architekturmagazinen herauslächelt. Dafür setze ich mich ein, und zwar überall. Ich bin sowohl in den Tageszeitungen zu sehen als auch in Boulevardmedien oder in der Gala. Auf diese Weise kann ich für mich eine Bresche schlagen. Und natürlich nicht nur für mich, sondern ganz allgemein für hochwertige Architektur.

Das klingt ja selbstlos.

Teherani: Ich sage noch einmal ganz klar: Ich bemühe mich zurzeit sehr darum, eine Lanze für alle Architekten zu brechen. Wenn mich das Publikum in den Medien sieht und es dann heißt „Ach, guck mal, der schon wieder!“, dann rufe ich damit die Disziplin der Architektur stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung. Und das ist es, was zählt. Denn Architektur steht für Qualität, für Lebensstil, für Geschmack.

Fühlen Sie sich in den Medien wohl?

Teherani: Ja, es geht. Ein bisschen Extrovertiertheit tut dem Menschen schon gut. Das ist aber nicht nur mit Vorteilen verbunden, es gibt auch Nachteile. Manchmal will man anonym sein, doch man ist es nicht. Aber das ist der Preis, den ich bereit bin zu zahlen.

Mittlerweile sind Sie nicht nur Architekt und Medienmensch, sondern auch noch Designer.

Teherani: Ich verkörpere nicht ausschließlich eine Sache, ich bin von allem etwas. Ich mache Badkeramik, Tapeten, Fußbodenbeläge und vieles mehr. Ganz neu im Programm ist eine Schuhserie von Hadi Teherani, an der ich gerade arbeite. Ich finde diese Ausflüge in die Mode und ins Design sehr schön. Damit kann ich in die Haushalte eindringen und werde noch bekannter und trage noch einmal dazu bei, ein gewisses Ästhetikbewusstsein in der Bevölkerung zu verankern. Da ist das Produktdesign eben anders als die Architektur: Sie entwerfen einen Aschenbecher, denken das Ganze nur einmal, und plötzlich steht das in tausenden von Haushalten. Das ist ein Modell der Wiederholung, der Serie, der Redundanz, gegen das sich Architekten immer schon gewehrt haben. Der Grund ist ganz einfach: Jeder will unique sein! Doch wenn dann am Ende alle unique geworden sind, dann schwimmen wir wieder in der gleichen Suppe, obwohl trotzdem nichts zum anderen passt.

Also eine Speerspitze für das ewig Gleiche?

Teherani: Nein, natürlich nicht. Wir haben viele Konzepte entwickelt, wir haben uns mittlerweile ein großes Know-how erarbeitet. Was uns aber verloren gegangen ist, das ist das Haptische, das Erdberührte, das Gefühlsbetonte. Die Bevölkerung hängt in der Luft und ist ein bisschen verdutzt ob unser aller Gefühlslosigkeit und verloren gegangener Sensibilität. An uns Architekten liegt es nun, diese Gegensätze wieder zusammenzuführen. Doch das funktioniert nur langsam, denn der Westen ist verkorkst. Blättern Sie einmal ein Buch über orientalische Architektur durch, und Sie werden sehen, wie reich die Architektur dort ist und wie nackt die Architektur in Westeuropa im Gegenzug erscheint. Sagen Sie das einmal einem Investor! Der wird Sie auslachen und wird Ihnen nahe legen, sich wieder den so genannten wichtigen Dingen zu widmen.

Orientalisch wirkt Ihre Architektur aber nicht. Und: Die Investoren fahren voll darauf ab.

Teherani: Ornament ist nichts anderes als ein Eingeständnis an die Emotion. Doch diese Art der Architektur ist mit den heutigen Werten und Wertverständnissen nicht mehr durchführbar. Da würden Ihnen alle Soziologen und Stadtplaner an die Gurgel springen! Meine Gebäude wirken eher solitärhaft, weil sie auch so lange bearbeitet wurden, dass sie unique erfassbar sind. Doch - und das ist der springende Punkt - wir entwickeln sie so lange weiter, bis sie perfekt sind. Und zwar so perfekt, dass sie sie danach auf ein Silbertablett und eigentlich auch auf jedes andere Grundstück in ganz Deutschland stellen können.

Das ist praktisch.

Teherani: Tatsache ist: Ein Gebäude braucht Identität. Den Beweis dafür können Sie in jeder touristischen Stadt sehen. Die Städtetouristen steigen aus ihren Bussen aus, um sich ein Gebäude von BRT anzusehen. Wenn eine deutsche Stadt für sich wirbt, dann tut sie das mittlerweile auch schon mit meinen Gebäuden. Ich sage Ihnen mal etwas, ohne jetzt überschwänglich zu werden: Wenn Sie alle meine Gebäude von heute auf morgen aus Hamburg entfernen, dann entfernen Sie damit vielleicht auch ein Symbol für Fortschritt und Innovation.

Der Standard, Fr., 2006.11.17

11. November 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Wintergarten voll Südafrika

Seit einem guten Jahrzehnt ist Entwicklungshilfe mehr, als sie einmal war. Bauen in der Fremde hat sich als eigene architektonische Disziplin etabliert. Manch einer warnt dabei vor einem neuen Kolonialismus.

Seit einem guten Jahrzehnt ist Entwicklungshilfe mehr, als sie einmal war. Bauen in der Fremde hat sich als eigene architektonische Disziplin etabliert. Manch einer warnt dabei vor einem neuen Kolonialismus.

Vor ziemlich genau einem Jahr berichtete der Standard an dieser Stelle über ein Kinderheim in den Townships von Johannesburg. „Ästhetik ohne Geld“ lautete damals das Motto von Architekt Roland Gnaiger, der gemeinsam mit seinen Studenten der Kunstuniversität Linz ein Konzept für Orange Farm erstellte - und dieses vor Ort dann auch realisierte. Gebündelt flog die studierende Meute in die beinharte Realität des afrikanischen Südens und stellte dort - unter Miteinbeziehung der ansässigen Bevölkerung - die eigens entworfenen Pavillons aus Holz, Lehm, Erde, Grasmatten und Wellblech hin. Die Gelder und Baustoffe wurden aus der Industrie zusammengeschnorrt und bis zur letzten Türschnalle aufgebraucht.

Das Projekt in Orange Farm ist nur eines von vielen, eines von vielen in Südafrika, eines von vielen weltweit. Denn während Entwicklungshilfe bis vor wenigen Jahren ein missionarisch gefärbter Begriff war, mit dem sich hauptsächlich Hilfsorganisationen und kirchliche Verbände schmückten, hat sich das Bauen in der Dritten Welt mittlerweile zu einer eigenen Sparte der Architektur gemausert. Ganz gleich, ob Architekten ohne Grenzen, das von Samuel Mockbee ins Leben gerufene Rural Studio in Alabama oder etwa Architecture for Humanity - niemand möchte sich heute noch damit zufrieden geben, einen weiteren „white elephant“ in die Wüste, in die Steppe, in den Urwald zu stellen. Längst geht es nicht mehr darum, es besser zu machen als die anderen, sondern um das gegenseitige Lernen. So heißt es.

„Wir verstehen unsere Arbeiten und dieses Projekt nicht als Entwicklungshilfe, sondern als beidseitiges Lernen und Verstehen“, erklärt Grünen-Politiker Christoph Chorherr, der 2004 in Südafrika den gemeinnützigen Verein „Sarch“ (social sustainable architecture) gründete, „unter dieser Prämisse entstehen Bauten, die vor allem im Bildungsbereich bessere Möglichkeiten eröffnen sollen.“ Zu den jüngsten Projekten von „Sarch“, die in Zusammenarbeit mit TU Wien, TU Graz, TU Innsbruck, Kunstuniversität Linz, RWTH Aachen und Fachhochschule Kuchl entstanden, zählen Kindergärten, Schulen, Bibliotheken, Ambulanzen, Werkstätten und Wohnheime.

Bei all den Projekte gilt die Devise: Die Studenten freuen sich über eine Reise in warme Gefilde und über hart erarbeitete Semesterwochenstunden, die Einheimischen indes freuen sich über ein neues - und gestalterisch nicht uninteressantes - Dach über dem Kopf. Fast scheint es, als wäre die neue Entwicklungshilfe nach dem sanften Modell der Nullerjahre bereits hip geworden. So sieht es zumindest Johannes Porsch, der im Architekturzentrum Wien die Ausstellung „Bottom up. Bauen für eine bessere Welt“ kuratiert, die kommenden Mittwoch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden wird: „Man begibt sich an den so genannten Rand, an einen prekären Ort, an dem deregulierte Verhältnisse vorherrschen, befriedigt damit seine Neugier und implantiert dort eine eurozentristische, weiße und nicht selten hegemoniale Architektur“, bekrittelt Porsch, „da wird die Architektur zum Werkzeug einer neuen Bio-Politik.“

Porsch, selbst studierter Architekt, nahm die Partizipationsprojekte von „Sarch“ etwas genauer unter die Lupe und erkannte eine neue Architektursprache, die zwar durchaus gefällig ist, längst aber zur wiedererkennbaren Trade-mark der österreichischen Architekturschulen avanciert ist. Der Gedanke, hier mit einer frech- bunten Variante eines gewissen Postkolonialismus zu tun zu haben, lasse sich nicht ganz von der Hand weisen. Bei aller Liebe zur helfenden Hand werde man nicht umhinkommen, sich in der Durchführung der Entwicklungshilfe-Projekte auch eine gehörige Portion Werbung und Marketing einzugestehen.

„Es reicht, einen Blick auf die mediale Darstellung der Bauprojekte zu werfen“, so Porsch, im Vordergrund steht nicht nur das Projekt an sich, sondern auch eine kulturindustrielle Verwertung der betroffenen Menschen, deren Leben vor der Kamera in Schauwerte verwandelt wird." Die Auswahl an „Sarch“-Projekten stehe exemplarisch für diese neue Tendenz, die sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat.

Was sagt Christoph Chorherr dazu? „Für mich schwingt bei der vielen Kritik mit, dass Afrika unbedingt ganz afrikanisch ausschauen muss. Mit dem Vorwurf von Postkolonialismus kann ich daher gut leben. Was ist schon Schlechtes dabei, in Teilen Südafrikas eine europäische, ja von mir aus eine österreichische Ästhetik walten zu lassen?“ In Europa wird Internationalität mit allen Mitteln angestrebt, auf einem anderen Kontinent soll der gleiche Wunsch schließlich unterdrückt werden? „In unseren Köpfen herrscht oft ein völlig falsches Bild von Afrika, von Townships, von Armut. Das sind Klischees, die von den Einwohnern in den betroffenen Regionen völlig abgelehnt werden.“ Chorherr resümiert: „Wenn das schon kritisierbar ist, dann gibt es eine einzige Konsequenz - nämlich gar nichts mehr zu machen. Und das lehne ich strikt ab.“

In dieser Debatte zwischen Kulturpolitik und Politkultur bleibt der Ausstellungsbesucher von „Bottom up. Bauen für eine bessere Welt“ auf sich selbst gestellt. Gezeigt werden neun Projekte aus der Region von Johannesburg, an denen „Sarch“ von Beginn an als Zugpferd und Initiator miteingebunden war. Den Rahmen der Ausstellung bildet ein stilisierter Wintergarten in vornehmem Weiß, sozusagen ein Raum im Raum. „Un jardin d'hiver“ - so der Untertitel der Ausstellung - ist eine Anspielung auf Marcel Broodthaers gleichnamiges Ausstellungsprojekt aus dem Jahre 1974 und steht für einen beliebten Aufenthaltsort der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts. Porsch: „Der Wintergarten ist ein Hort exotischer Pflanzen und ein Fluchtpunkt in die Fremde. Nicht zuletzt steht er als Metapher für Einverleibung, Domestizierung und für eine große Sehnsucht nach Unmittelbarkeit.“

Um diesen luxuriös romantischen Ort namens Wintergarten ranken sich allerlei malerische und literarische Werke. Auch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule blieb nicht unbeeindruckt vom kleinen Urwaldimplantat an der Fassade der eigenen vier Wände. In der „Dialektik der Aufklärung“ schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer über die fetischisierenden Symbole, denen der Wintergarten ohne Zweifel angehört, wie folgt: „Die Wiederholung der Natur, die sie bedeuten, erweist im Fortgang stets sich als die von ihnen repräsentierte Permanenz des gesellschaftlichen Zwangs. Der zum festen Bild vergegenständlichte Schauder wird zum Zeichen der verfestigten Herrschaft von Privilegierten.“

Was bleibt, ist ein Häufchen Ratlosigkeit mit großen Sympathien für beide Lager. In der Brust pochen zwei Herzen: Das eine schlägt für die Architektur-Safari mit Spaß an der Arbeit und gegenseitigem Lehren und Lernen, das andere schreckt vor einer um sich greifenden Kulturglobalisierung zurück. „Ich habe die Verhältnisse in Südafrika nie erlebt. Doch selbst wenn ich einen Monat vor Ort wäre, würde ich die Verhältnisse noch immer nicht verstehen“, sagt Johannes Porsch, „daher ziehe ich mich in eine elitäre Hochburg zurück - eben in den sprichwörtlichen Wintergarten.“ Auch das ist legitim. Das Publikum ist nun eingeladen, sich anhand der Südafrika-Exponate im Architekturzentrum Wien selbst ein Bild zu machen.

[ Die Ausstellung „Un jardin d'hiver präsentiert: Bottom up. Bauen für eine bessere Welt“ wird am Mittwoch, dem 15. November, um 19 Uhr eröffnet. Zu sehen bis 5. Februar 2007. Architekturzentrum Wien, Museumsplatz 1, 1070 Wien

Vom 17. bis 19. November findet im Architekturzentrum Wien der 14. Wiener Architektur-Kongress statt. Auch dieser widmet sich dem „Bauen für eine bessere Welt“. Vorträge von Bart Lootsma, Johannes Porsch, Christoph Chorherr, Steve Badanes, Andrea Rieger-Jandl, Peter Burk u. v. m. Vorgestellt werden u. a. die einzelnen Sarch-Projekte. ]

Der Standard, Sa., 2006.11.11

08. November 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Den Küniglberg unter Denkmalschutz stellen

Bundesdenkmalamt will marodes ORF-Zentrum noch bis Jahresende zum Denkmal machen

Bundesdenkmalamt will marodes ORF-Zentrum noch bis Jahresende zum Denkmal machen

Der Beton des Roland-Rainer-Baus auf dem Küniglberg ist mit etlichen Rissen und Korrosion übersät. Bevor das gesamte Gebäude nun endgültig in wärmedämmendes Styropor eingepackt wird, will das Bundesdenkmalamt dem ORF-Zentrum noch bis Jahresende Denkmalschutz verordnen.

„Das Bundesdenkmalamt ist zu der Erkenntnis gekommen, dass es sich beim ORF-Zentrum um ein Denkmal der Nachkriegsmoderne handelt“, sagt Andreas Lehne vom Denkmalamt. Ende des Jahres werde daher eine Denkmalschutz-Verordnung vorliegen.

Solange der ORF gegen den neuen Status, der übrigens auch im Grundbuch aufscheinen wird, nicht beruft, gilt mit der Verordnung der Denkmalschutz. Alle baulichen Maßnahmen müssen dann die Instanz des Bundesdenkmalamtes durchlaufen.

Sträubt sich der ORF gegen sein verliehenes Prädikat, beginnt zwischen Denkmalamt und ORF ein Hickhack von Bescheiden und Befunden, das sich Jahre ziehen kann.

„Manche sind der Meinung, dass es sich bei diesem Gebäude um ein Denkmal der Moderne handelt, andere nicht“, sagt ORF-General Alexander Wrabetz dem Standard: „Klar ist, dass wir uns nicht in ein Museum verwandeln können.“ Der ORF berechnet noch Sanierung oder Neubau an anderem Standort, Ergebnisse folgen im ersten Quartal 2007.

Der ORF-Führung schrieb die IG Architektur: „Dieses bauliche Ensemble ist durch untransparente, kurzsichtige Entscheidungen im Zuge notwendiger Sanierungs- und Adaptionsarbeiten in akuter Gefahr.“ Montagabend lud die IG zur Debatte über den Küniglberg, auch Vertreter des ORF. Bloß kamen sie nicht. „Solange wir intern keine Entscheidung gefällt haben, macht es auch keinen Sinn, an solchen Diskussionen teilzunehmen“, sagt Wrabetz.

Epoche machen

Franz Kobermaier von der Magistratsabteilung für Architektur und Stadtgestaltung der Stadt Wien (MA 19) kann die hermetische Zurückhaltung des ORF nur bestätigen: „Bisher hat es seitens des ORF keine Ansuchen und keinen einzigen Kontakt mit der MA 19 gegeben.“ Ohne eine positive Zustimmung der Stadt Wien ist ein Bauvorhaben dieser Größe - zumindest in der Theorie - nicht durchführbar.

Man müsse die Architektur der Nachkriegsmoderne einfach nur zur Epoche erklären, sagt Eva Rubin, Rainer-Tochter und selbst langjährige Mitarbeiterin des Architektur-Doyens, damit wäre schon ein großer Schritt getan.

„Wieso gelingt es der Architektenschaft nicht, die historische Bedeutung dieser Bauwerke der Allgemeinheit deutlich zu machen?“, fragt die grüne Gemeinderätin Sabine Gretner: „Doch vor dem Prädikat Denkmalschutz fürchtet man sich in Österreich nur.“ Stattdessen setze der ORF derzeit so genannte Optimierungsspezialisten ein: „Wenn man sich jedoch verstellt, wie ein Optimierungsspezialist auf einen Denkmalschützer trifft, kann sich an einer Hand ausrechnen, wer als Gewinner hervorgehen wird.“

Der Standard, Mi., 2006.11.08



verknüpfte Bauwerke
ORF Zentrum Küniglberg

04. November 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Das Leben in der Kulisse

Viele Menschen sehnen sich nach einem Leben in einer vorgegaukelten Realität. Doch der amerikanische Traum vom Wohnen in künstlicher Umgebung ist globaler, als man vermuten möchte.

Viele Menschen sehnen sich nach einem Leben in einer vorgegaukelten Realität. Doch der amerikanische Traum vom Wohnen in künstlicher Umgebung ist globaler, als man vermuten möchte.

Las Vegas ist verrucht, kitschig und zutiefst unauthentisch. Als wohl erzogener Intellektueller gehört es zum guten Ton, das neue Babylon mitten in der Wüste verächtlich abzuqualifizieren. Ohne Geld ist man aufgeschmissen, ohne Auto sowieso, und was die kulturelle Positionierung der mittlerweile 1,7 Millionen Einwohner zählenden Entertainment-Metropole betrifft, kann man sich nur peinlich abwenden und sich in Grund und Boden schämen.

Gerade zu einer Zeit, als sich die Energiekrise zusammenbraute, haben die beiden Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown eine Huldigung an ebendiese postmoderne Stadt in die Tasten gehauen. Ihr Buch Learning from Las Vegas aus dem Jahre 1972 stellte sich als jahrzehntelang gültiges Regelwerk heraus. Doch kann man von Las Vegas, von dieser billigen Nachahmung der Realität denn wirklich lernen? „Eine Stadt, die einzig und allein von einer ganz bestimmten Hochkultur dominiert wird, verliert ihre Lebensqualität“, erklären Venturi und Scott Brown in einem Interview, „sehr gut und sehr schlecht vereint - das ist besser als mittelmäßig, mittelmäßig, mittelmäßig.“

Die Welt hat von Las Vegas gelernt - mehr als ihr lieb ist. Nicht wenige Menschen sehnen sich in der Zwischenzeit danach, der großen, unübersichtlichen und kriminellen Welt da draußen den Rücken zu kehren. Sie wünschen sich ein Leben hinter Potemkin'schen Fassaden, ein Leben in Friede, Freude, Eierkuchen. Der Disney-Konzern erkannte diese gesellschaftliche Tendenz recht früh und stampfte in den Neunzigerjahren die Retortenstadt Celebration aus dem Boden des Bundesstaates Florida. Obwohl das etwa 10.000-Einwohner-Städtchen unmittelbar an die Walt Disney World angrenzt, wird das Markenlogo nicht aufdringlich in den Vordergrund gerückt. Vielmehr ist Celebration - und das verwundert auf den ersten Blick - ein Hort der Markenlosigkeit.

„Natürlich handelt es sich dabei um eine Illusion“, schreibt Naomi Klein in ihrem Bestseller-Wälzer No Logo!, „die Familien, die Celebration zu ihrem Wohnort erkoren haben, sind die Ersten, die ein Leben im Zeichen der Marke führen.“ Freiheit und Unabhängigkeit sind leere Begriffe, mit denen sich die Stadtverwaltung nur oberflächlich schmückt, denn in der Praxis machte sich Michael Eisner, damaliger Geschäftsführer der Walt Disney Company, seine Einwohner untertan. Eisner schreckte nicht einmal davor zurück, das städtische Ausbildungs- und Schulsystem der großen Obhut von Mickey Mouse und Donald Duck zu unterstellen.

„Celebration ist wahrscheinlich das infamste Stadtplanungsexperiment des auslaufenden 20. Jahrhunderts“, erklärt die in Wien und New York lebende Soziologin Annette Baldauf, die Stadt sei ein Hybrid zwischen der so genannten Experimental Prototype City of Tomorrow (EPCOT) und Walt Disneys früher Vision einer „all American Reality Show“ - eines Lebens in Dekor und Kulisse. Die nostalgische Masterplanung, die auf den Grundsätzen des 19. Jahrhunderts aufbaut, stammt von den beiden Büros Cooper, Robertson & Partners und Robert Stern Architects. Die öffentlichen Gebäude entwarfen Architekturgrößen wie Philip Johnson, Michael Graves, Cesar Pelli, Aldo Rossi und - keine wirklich große Überraschung - Robert Venturi. „Wenn man abends die Straßen entlangspaziert oder Rad fahren geht, fühlt man sich beinahe wie in einer Filmkulisse“, erzählt Miss Hancock. Sie muss es ja wissen, sie ist Einwohnerin seit zehn Jahren.

Wer sich nun im beruhigenden Glauben wiegt, die voranschreitende Verunwirklichung der Welt sei ein zutiefst amerikanisches Phänomen, der irrt. Denn das großmaßstäbliche Bauen von Kulissen - oftmals in der Weite ganzer Städte - gibt es auch in anderen Teilen der Welt. Auch Österreich hat mit seinem ganz eigenen Parndorf-Syndrom zu kämpfen. Wohingegen das burgenländische Designer-Outlet jedoch rein dem Konsum dient, wird man im nordpolnischen Elbing, einer unaufregenden Stadt in der Nähe von Danzig, Zeuge einer rigorosen Rekonstruktionsorgie. Hier werden nicht etwa einzelne Geschäftsgebäude aus dem Erdboden gestampft, hier entsteht gleich eine ganze Altstadt.

Nach einem Masterplan der Architekten Ryszard Semka und Szczepan Baum wird das kriegszerstörte Stadtzentrum - bis vor Kurzem toter Punkt in Elbings Mitte - nach historischem Vorbild wieder neu aufgebaut. Mit der originalgetreuen Rekonstruktion nimmt es die Stadtverwaltung jedoch nicht so ernst, schließlich gilt das Hauptaugenmerk dem Ziel, alle Grundstücke so schnell wie möglich an den Mann und Investor zu bringen. Allzu große Einschränkungen würden die potenziellen Käufer womöglich nur vergrämen.

Und so ist das im Werden befindliche Elbing ein Konglomerat postmoderner Fassaden mit Fensterfaschen und Gaupen, mit bemühten Giebeln und Fachwerk-Spielereien. Stolz prangt auf den Bautafeln das architektonische Patentrezept: „Hier entsteht ein historisches Gebäude.“ Selbst mit der letzten Baulückenschließung wird die Stadt nie vollendet sein, denn das Zentrum ist ein Openairmuseum und lässt erst gar keine menschliche Belebung zu. Alles bleibt proper, Werbung ist tabu, und parkende Autos werden nach 18 Uhr erbarmungslos abgeschleppt. „Die ersten Ergebnisse dieses für noch viele Jahre zur Realisierung vorgesehenen Planes kann man schon heute bewundern“, schreibt die polnische Autorin Wieslawa Rynkiewicz-Domino, „die pasticheartigen und pseudomodernen Formen haben ihre Enthusiasten und Gegner.“

Was in Europa noch in relativ kleinem Maßstab vonstatten geht, wird im fernen Osten bereits in extra large aus der Taufe gehoben. Der deutsche Superstar Meinhard von Gerkan konzipierte eine Satellitenstadt am Rande der explodierenden Boom-Metropole Schanghai. Ursprünglich hieß die Retortenstadt Luchao und sollte 300.000 Einwohnern ein Dach über dem Kopf geben. Plötzlich heißt sie Lingang und wurde auf 800.000 Menschen ausgeweitet. Alles kein Problem in dem auf Superlative getrimmten China. Das Außergewöhnlichste an Lingang ist aber sein Stadtzentrum: „Lingang hat eine Mitte, die nicht bebaubar ist - in der Mitte befindet sich ein See“, umreißt von Gerkan mit großen Gesten sein Konzept, „statt eines dichten Zentrums gibt es einen neun Kilometer langen Küstenstreifen, der einer sehr großen Zahl an Bauten eine erste Adresse in der Stadt verschaffen wird. Was gibt es Wunderbareres?“

Ist Lingang eine utopische Stadt? „Nein, denn spätestens in dem Moment, da sie gebaut wird, ist sie nicht mehr utopisch.“ Heute ist Lingang eine infrastrukturelle Hülle aus Straßen, fertig gepflasterten Gehsteigen und adrett zurechtgestutzten Bäumchen. Das einzige Gebäude, das hier steht, ist das Rathaus mit angrenzendem Besucherzentrum. Unrealer kann das Herz einer Stadt nicht aussehen.

Was fehlt, sind Häuser und Menschen. Wo eines Tages 800.000 Personen in ihren bunten Häuschen leben werden, biegen sich heute noch die Grashalme im Wind. Chinesische Touristen und österreichische Journalisten sind die einzigen Gestalten, die durch die unbelebte Landschaft schleichen. Sie richten das Objektiv ins Nichts und halten die gähnende Leere fest. Kurz bleibt ein weit gereistes Schanghai-Taxi am Straßenrand stehen. Schon eilt ein Polizist herbei und bläst in seine Trillerpfeife. Auch hier im Niemandsland ist Parken verboten.

Celebration, Elbing, Lingang, aber auch die unzähligen Sun Cities in Südafrika und in den USA sind der reale Beweis dafür, dass die „Truman Show“ - vor einigen Jahren noch auf die Hollywood-Kinoleinwand verbannt - längst Wirklichkeit geworden ist. Das heile und idyllische Seahaven, in der Truman Burbank, perfekt dargestellt von Jim Carrey, tagtäglich in die Arbeit radelt, mag von den einen belächelt und befürchtet werden, von den anderen aber wird diese Wunschvorstellung sehnsüchtig angestrebt. Sie wollen ein Leben in Freiheit und Unabhängigkeit - und entscheiden sich für die totale Kontrolle durch Kommerz und Politik.

Der Standard, Sa., 2006.11.04

27. Oktober 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Mut gewinnt: Auftraggeber mit Vision

Am Mittwoch wurde im Architekturzentrum Wien der Bauherrenpreis 2006 vergeben

Am Mittwoch wurde im Architekturzentrum Wien der Bauherrenpreis 2006 vergeben

Vor 40 Jahren wurde erstmals der Österreichische Bauherrenpreis vergeben. Völlig richtig hatte die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs, Auslober des Preises, damals erkannt, dass hinter jedem innovativen Projekt nicht nur ein Architekt, sondern stets auch ein visionärer Auftraggeber steht. Nicht selten standen die Bauwerke im Kreuzfeuer öffentlicher Kontroversen.

Heuer war das Rennen besonders dicht. „Mit 132 Einreichungen haben wir in diesem Jahr den absoluten Rekord erzielt“, erklärt Jurymitglied Martha Schreieck. „Überraschend war vor allem die Fülle an wirklich herausragenden Bauten, egal welchen Maßstabs und Typs.“ So sei man nicht umhin gekommen, die Anerkennung gleich 15-mal auszusprechen.

Im Bereich des Wohnbaus gewann das Haus H. auf dem Linzer Pöstlingberg (Caramel Architekten), die Wohnhausanlage Nussberggasse in Wien von Hans Peter Petri, das Wohnprojekt „Look“ von Gert Mayr-Keber, das in Zusammenarbeit mit dem Künstler Gerwald Rockenschaub realisiert wurde, sowie die St. Pöltner Gartenstadt von Roland Rainer. Letzteres ist besonders hervorzuheben, da sich der Bauträger Alpenland nach dem Tod Rainers dafür ausgesprochen hat, das Projekt ohne Abstriche nach den Plänen des Architekten auszuführen.

Eine ebenso hohe Trefferquote erzielten Projekte aus der Fraktion der Bürogebäude sowie der öffentlichen bzw. kulturellen Bauten. Dass das T-Center in St. Marx (Architekten Domenig, Eisenköck, Peyker) nach dem Staatspreis für Architektur abermals einen Preis keilen konnte, ist angesichts seiner österreichweit seltenen Imposantheit nicht weiter verwunderlich. Weitere Bürogewinner: die Wirtschaftskammer Niederösterreich von Rüdiger Lainer, der Uniqa-Tower von Neumann+Partner sowie das BTV-Stadtforum Innsbruck (Architekt Heinz Tesar).

Zum Glück wurde in den letzten Jahren auch das kulturelle Leben schmackhafter gemacht - beispielsweise mit dem Bibliothek-Tiefspeicher im Rathaus (Hempel Architekten), dem silbrigen Weinwürfel Loisium (Steven Holl mit sam/ott-reinisch) oder mit dem Zubau zur Wiener Stadthalle von Dietrich/Untertrifaller. Doch auch die Republik Österreich wurde prämiert. Wollte sie ursprünglich nur kleine Sanierungsmaßnahmen unter der Rampe des Parlaments vornehmen, ist daraus gleich ein neues Besucherzentrum geworden (Geiswinkler & Geiswinkler).

Zu guter Letzt seien die stolzen Einzelgänger erwähnt: Die Fertigungshalle Obermayr von F2 Architekten, die Buchhandlung Wiederin - völlig in Schwarz getaucht - von Rainer Köberl und die architektonische Begleitung der Brucker Schnellstraße S35 (Bramberger Architects): Schallschutzmaßnahmen, die in der Regel architekturkulturelles Niemandsland sind.

Der Standard, Fr., 2006.10.27



verknüpfte Auszeichnungen
ZV-Bauherrenpreis 2006

21. Oktober 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Freiraum für Soziales

Nur eine rentable Idee ist auch eine gute Idee. Das ist die wichtigste Spielregel in der Massenware Wohnbau. Mit einem beispielhaften Projekt in Wien-Donaustadt belehren Bauträger und Architekten eines Besseren

Nur eine rentable Idee ist auch eine gute Idee. Das ist die wichtigste Spielregel in der Massenware Wohnbau. Mit einem beispielhaften Projekt in Wien-Donaustadt belehren Bauträger und Architekten eines Besseren

Dunkler Schatten bedroht Anrainer!", heißt es im Mai 2004 in fetten Lettern auf der Titelseite des Donaustädter Bezirksjournals. „Wir hätten nie gedacht, dass wir es einmal auf die Titelseite einer Zeitung schaffen würden“, witzelt die betroffene Architektin Gerda Gerner, gegen die hier unter anderem die Fäuste erhoben werden. Mit großer Neugier schlägt man das Blatt auf, wo sich inzwischen eine regelrechte Revolution zusammengebraut hat: „Bürger protestieren gegen Monsterbau!“ Das ist sie, die Krux der Politik und der nicht unparteilichen Medien, die alles Neue in den Boden stampfen und unentwegt versuchen, der Bevölkerung das Hirn auszusaugen.

Entgegen der medialen Hetzkampagne entpuppt sich der vermeintliche Monsterbau in der Meißauergasse als fröhliches Ding mit gelbem Hut, den der Ostwind wie ein Schlagobershäubchen einmal heftig zur Seite geblasen hat. Dass das vornübergebeugte Haus überhaupt steht, ist nicht nur der Statik, sondern auch den überaus zufriedenen Anrainern zu verdanken, die sich vom gar dunklen Schatten offensichtlich gar nicht so bedroht fühlten, wie man ihnen ursprünglich unterjubeln wollte. Bei der Bauverhandlung gab es keinen einzigen Einspruch. Sehr zum Leidwesen der kleinformatigen Presse, möchte man meinen.

Insgesamt 147 Wohnungen wurden hier - in unmittelbarer Nähe der nunmehr verlängerten U1 - aus dem Boden gestampft. Früher lärmte an dieser Stelle ein altes Industrieunternehmen, heute wird eifrig umgezogen und gewohnt. Die Hälfte der Einwohner bezog den zipfelbemützten Bauteil der Architekten gerner°gerner plus, die anderen den etwas klassischeren Bruder nebenan, für den die s & s architekten verantwortlich zeichnen. Weggegangen seien die Wohnungen in beiden Fällen wie die warmen Semmeln, ist vom Bauträger Gesiba zu vernehmen, „selbst die letzten Wohnungen sind schon seit Monaten vergeben“.

Eine breite Rampe sticht ins Haus hinein. Man steht zwischen zwei Bauteilen, mitten in einer städtischen Schlucht, die ein bisschen an die engen Gässchen von Napoli erinnert. Gelegentlich öffnet sich eine Tür, Silhouetten mit Einkaufstaschen gehen ein und aus, Kindergeschrei füllt den Raum. Die Wäscheleinen, die von einer Wand zur nächsten gespannt sind, fehlen in diesem Bilde noch, gewiss werden sie bald folgen. Dass dieser Freiraum selbst bei Regenguss und Schneegestöber trocken bleibt, liegt an der Tatsache, dass sich das Dachgeschoß waghalsig hinauslehnt und die Schlucht überdeckt.

Warum so eine überbordende Geste? „Der Bauträger wollte dieses offene Konzept mit uns durchsetzen, als Kompromiss hat er jedoch gefordert, einen Teil der Terrassen und Laubengänge zu überdachen“, erklärt Architektin Gerda Gerner. Damit könne man auf kostspielige Schneeräumung verzichten und spare langfristig einen Teil der Betriebskosten ein.

Hundertzwanzig Meter misst der Wohnriegel in der Länge. Hofseitig dient der erste Stock ausschließlich dem sozialen Zusammenleben der Bewohner. Hier ist - wie es bei der Gesiba in den Außenbezirken in der Regel praktiziert wird - eine Betreuungseinrichtung untergebracht, hier wird mit Blick in den Hof Wäsche gewaschen, hier können Kindergeburtstage gefeiert werden. „Natürlich hätten wir statt der Gemeinschaftsräume auch Wohnungen unterbringen können“, was - wenn man einzig und allein die Rendite vor Augen gehabt hätte - der ungleich sinnvollere Weg gewesen wäre. Doch Halt! Wohin dieser kurzsichtige und schmale Pfad der maximalen Wertschöpfung führt, hat die Vergangenheit schon zur Genüge aufgezeigt. Nämlich zu jenen glorreichen Massenwohnbauten, zu jenen stolzen Aushängeschildern moderner Stadterweiterung, die dann zwanzig Jahre später als asoziale Gettos verteufelt werden.

Kein Grund zur Sorge. Der Wohnbau Meißauergasse steht unter keinem bösen Stern. Bauherr und Architekten bewiesen insofern Konsequenz und Weitsicht, als hier die räumlichen und sozialen Qualitäten nicht allein für eine Hand voll zusätzlicher Wohnungen aufs Spiel gesetzt wurden. Mehr noch wurde das Gebäude so konzipiert, dass sich im vierten Obergeschoß eine riesige Gemeinschaftsterrasse ergeben hat. Und damit greift die Partnerschaft von Gerner'scher Architektur und bauherrlicher Gesiba jenes Prinzip auf, das Architekt Harry Glück mit seinen Wohntürmen in Alt-Erlaa schon vor 30 Jahren vorexerzierte. Glück hatte damals richtig erkannt, dass sich die Bewohner zum sozialen Austausch und zur Kommunikation gerne auf den Dächern seiner Häuser versammeln. Das läge am Ausblick, an der frischen Luft und an der Entfernung zu den Autos und zum Lärm.

Die Gefahr, dass diese Terrasse eines Tages - wenn der allererste Reiz verflogen sein wird - zu einem öden Raum verkommen wird, besteht jedenfalls nicht. Denn hier wird Mehrwert mit Notwendigkeit verknüpft: Ein Dutzend Wohnungen wird über diesen hoch liegenden Freiraum erschlossen.

Am Ende der Terrasse wird es eng, die breite Fläche verjüngt sich dann zu einem schmalen Laubengang, der noch zu der einen und anderen Wohnung führt. Blickt man nach unten, sieht man die Kagraner Bevölkerung aus der Vogelperspektive, Autos werden klein, Hunde winzig. Blickt man nach oben, stülpt sich in bedrohlicher Gebärde die gelbe Zipfelmütze über einen drüber. „Nicht von ungefähr haben die Bauarbeiter dieses Eck der Baustelle Messnersteig getauft“, sagt Gerda Gerner. Das hat seinen guten Grund, richtig gemütlich ist es hier nicht.

Der Bau ist bezugsfertig und gereinigt, die Hochglanz-Fotos sind geschossen, jetzt gehört der Bau den Bewohnern. Und so füllt sich die Straße mit Lkws, auf denen kika, Michelfeit und Möbel Ludwig draufsteht. Umzugskartons stapeln sich vor den Wohnungstüren, mühsam werden Sitzlandschaften hindurchgepresst. Am Ende aller Tage wird der Kraftakt des Massenumzugs überwunden sein. Dann darf man gespannt sein, welchen Stellenwert die vorerst undefinierten Flächen und Räume einnehmen werden.

In seinem Essay Zukunft bauen hält der große Architekturschreiber Manfred Sack ein Plädoyer für eine „schöne“ Architektur. Das anonyme Wohnen hingegen verpönt er als „eine Architektur von armseliger Gestalt, Massenware, nicht mehr bestimmt vom Gestaltungsanspruch ausdrucksbesessener Architekten, sondern inzwischen von den Finanzabteilungen der Wohnbaugesellschaften“. Mancher Bauträger wird sich an den Kopf greifen und sich wundern, wie man so wertvolle Rendite-Flächen nicht zu Geld machen kann. Wie wird man ihm in einer wirtschaftlichen Tiefkonjunktur, die sich ganz und gar dem Sparen verschrieben hat, den Aspekt des Mehrwerts beibringen können?

Nicht jeder Wert lässt sich in Euro ausdrücken, manche Wertigkeit bleibt maßstablos. Fakt ist: Räumt man dem Sozialen nicht genügend Freiraum ein, dann droht der Kollaps eben jenes Systems, das sich sozialer Wohnbau nennt. Manfred Sack: „Verloren der soziale Anspruch des Ästhetischen - ebenso wie die ästhetische Qualität des Sozialen.“

Der Standard, Sa., 2006.10.21



verknüpfte Bauwerke
mei Wohnbau Meissauergasse - Bauteil B

14. Oktober 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Ohne Prunk und Pomp

Franz Liszt reiste viel, doch lebte er bescheiden. Morgen eröffnet das neue Franz-Liszt-Zentrum in Raiding: eine schlichte Konzertkiste aus niederländischer Feder.

Franz Liszt reiste viel, doch lebte er bescheiden. Morgen eröffnet das neue Franz-Liszt-Zentrum in Raiding: eine schlichte Konzertkiste aus niederländischer Feder.

Ein sonniger Herbsttag im Mittelburgenland. In der Auslage der Bäckerei „Raidinger Brotstadl“ am zentral gelegenen Franz-Liszt-Platz wird das Franz-Liszt-Törtchen - ein Süßgebäck aus Haselnüssen und Marmelade - für 1,60 Euro angeboten. Neben dem Schanigarten prangt auf einem Sockel das steinerne Haupt des Komponisten. Franz Liszt, das berühmteste Kind Raidings, scheint also nicht weit zu sein. Und wahrlich: Hinter der Mauer, die entlang dem plätschernden Rinnsal verläuft, bestätigt sich die Vermutung. Rosenumrankt und mitten im grünen Dickicht eines mit Liebe gehegten Gartens steht ein kleines, weiß verputztes Schmuckkästchen. Es ist das Geburtshaus des fleißig vermarkteten Romantikers.

Zu seinem heurigen 120. Todestag hatte man sich Großes vorgenommen. Die kleine Gemeinde Raiding mit ihren knapp tausend Einwohnern wollte das Geburtshaus zu einem Franz-Liszt-Zentrum ausbauen. Was dazu noch fehlte, war - selbstredend - eine Konzerthalle. Zu diesem Behufe wurde ein EU-weiter Wettbewerb ausgeschrieben, den Zuschlag bekam das niederländische Architekturbüro Atelier Kempe Thill.

„Glücklich, wer mit den Verhältnissen zu brechen versteht, ehe sie ihn gebrochen haben“, sagte einst der weit gereiste Liszt. Die Architekten Andre Kempe und Oliver Thill scheinen dieser Tradition gefolgt zu sein. Denn wie es sich für hochrangige Architektur offensichtlich gehört, sind die Connaisseurs des Fachs begeistert, wohingegen das Volk noch ein bisschen damit kämpft, sich das neue Konzerthaus anzueignen. „In unserer ländlichen Struktur ist moderne Architektur dieser Art eine Seltenheit“, erzählt Gemeinderätin Elisabeth Ackerler. Christian Zimmer, Objektbetreuer und sozusagen der gute Geist des Hauses, setzt hinzu: „Einige Leute haben es zähneknirschend zur Kenntnis genommen.“

Mit der Aufklärung kommt die Akzeptanz. Vergangenes Wochenende gab man sich ein Stelldichein in Form eines Tages der offenen Tür, am morgigen Sonntag wird schließlich feierlich eröffnet. Dann werden sich zum ersten Mal die riesigen Drehtore öffnen und die 600 Besucher, die der Saal fasst, ins Innere des blitzblanken Gebäudes einlassen.

Auf den ersten Blick macht sich gähnende Langeweile breit. Der kreative Urknall, den man von niederländischen Architekturkollegen kennt, bleibt aus. Stattdessen steht da eine weiße Kiste mit großen Fenstern und Türen aus Holz. Ein Haus ohne Details und ohne Maßstab, das war's. Ja, man ist geradezu verleitet zu glauben, anstelle einer Fotografie ein CAD-Rendering aus der Feder eines angehenden Architekturstudenten vor Augen zu haben. Doch das schlichte Bild ist Realität. Und das irritiert.

Ähnlich wie der bucklig gewölbte Putz des alten Geburtshauses schimmert auch das Konzertgebäude mit Schattenspielen im Sonnenlicht. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die vermeintliche Putzfassade als Hightech-Material, das in Österreich nur selten anzutreffen ist: Über das gesamte Haus wurde eine homogene Haut aus Polyurethan-Spritzguss gelegt. Ein wenig erinnert die unebene Fassade an die Unterseite eines Tretbootes. Während man in den riesigen Panoramafenstern Glas vermutet, entpuppen sich diese als massive Platten aus Plexiglas. Bis zu fünf Tonnen wiegt so ein durchsichtiges Teil, das in einem Stück auf die Baustelle geliefert wurde. Aus Glas wäre ein fugenloses Fenster dieser Größe nie und nimmer möglich gewesen. Seine Vorteile erklären sich spätestens dann, wenn man im Foyer steht und durch das Fenster Liszts Geburtshaus in mächtiger Präsenz wahrnimmt.

„Das ist wahrscheinlich das einfachste Kulturgebäude, das in Europa in letzter Zeit gebaut wurde“, erklärt Architekt Oliver Thill gegenüber dem Standard. „Die Geldmittel waren knapp, große architektonische Gesten waren daher nicht möglich.“ Wenn die materiellen Ressourcen beschränkt sind (5,55 Millionen Euro Nettoherstellungskosten für das gesamte Areal), dann konzentriert man sich eben auf den immateriellen Wert der Architektur. In diesem Falle ist dies die Tradition des lokalen Bauens. „Ländliche Architektur ist ein großer Indikator für den Geist eines Landes, und die Baukultur im Burgenland ist historisch bedingt sehr reichhaltig.“

Das Herzstück des Gebäudes ist der Konzertsaal. Kein österreichischer Architekt hätte sich je getraut, sich an die Bauaufgabe in solch hölzernen Schritten heranzuwagen. Was die Architekten aufgrund der klassischen Proportionen als „Schuhdose“ bezeichnen, entfacht beim Besucher den Eindruck, als stünde man im überdimensionalen Resonanzkörper eines Cellos oder eines Klaviers - oder mitten in einer hochalpinen Zirbenstube. Ist das regionale Architektur?

„So etwas würden wir bei uns zu Hause niemals hinstellen“, erklären Kempe und Thill, „in den Niederlanden gibt es nämlich überhaupt keine Holzkultur.“ Warum man sich im Burgenland - dermaßen holzig empfindet sich wohl kein Burgenländer weit und breit - dann dennoch in vollen Zügen dem Holze hingegeben hat, hat einfache wie pragmatische Gründe: Die Akustik in einem hölzernen Saal komme am ehesten jenen Räumen nahe, in denen auch Liszt einst seine kammermusikalischen Künste zum Besten gegeben hat. Mit dem Münchner Akustik-Guru Karlheinz Müller wagte man sich an die Aufgabe heran, einen Konzertsaal ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts hochzuziehen, als Architektur und Akustik noch in unzertrennlicher Symbiose vereint gewesen waren.

Anstatt sich mit unbeholfenen Paneelen, Verkleidungen und Gegenschall-Anlagen herumzuplagen, wollte man in Raiding Bauen und Musizieren endlich wieder zusammenführen. Das Resultat ist ein Raster aus Holzleimbindern und Kassetten, die an den Wänden und an der Decke kaum merklich dreidimensional gekrümmt sind. Unter Verwendung von rein architektonischen Mitteln wird eine Akustik geschaffen, die völlig ohne technische Hilfsmittel auskommt. Für Kammermusik sei der Klang schlichtweg berauschend, heißt es. Es wird gemunkelt, dass es sich dabei um einen der weltweit besten Säle handelt. Einige Tonaufnahmen haben hier bereits stattgefunden, andere werden bald folgen.

Ständig wird der Architektur abverlangt, sie möge doch bitte nicht nur zum Schauen da sein, sondern auch all die anderen Sinne ansprechen. Hier ist sie, die Herausforderung, die Franz-Liszt-Halle primär mit den Ohren und nur sekundär mit den Augen zu erfassen. Schön ist sie in beiderlei Sinne, doch im ersteren ganz besonders. „Liszt ist zurückgekehrt“, zeigt sich Raidings Bürgermeisterin Anna Schlaffer stolz. Als Würdigungsstätte wird das Gebäude bestens dem Andenken Franz Liszts gerecht. Schon Jahre vor seinem Tod hatte sich der romantische Komponist Gedanken zu seinem höchst unromantischen und bescheidenen Abschied gemacht: „Ich wünsche, bitte und befehle nachdrücklichst, dass meine Bestattung ohne Prunk geschehe, so einfach und schlicht wie möglich. Keinen Pomp, keine überflüssige Beleuchtung.“

Der Standard, Sa., 2006.10.14



verknüpfte Bauwerke
Franz-Liszt-Konzerthaus

30. September 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Das Kreuz mit dem Kreuzerl

Architekturpolitik ist ein langweiliger Ladenhüter. Selbst im Wahlkampf kratzt das Bauen nur die wenigsten. Doch wenn man sucht, dann findet man: die Parteiprogramme zur Baukultur, Versuch einer Gegenüberstellung.

Architekturpolitik ist ein langweiliger Ladenhüter. Selbst im Wahlkampf kratzt das Bauen nur die wenigsten. Doch wenn man sucht, dann findet man: die Parteiprogramme zur Baukultur, Versuch einer Gegenüberstellung.

Der Wahlkampf hat seinen Höhepunkt erreicht. Es wurde debattiert und gekämpft, Taferln wurden in die Kamera gehalten, Geschenke überreicht, Schweißperlen von der Oberlippe gewischt. Zur Diskussion stan- den Kindergeld, Krankenpflege und Postenschacherei, die einen wollen sich der Bildungsministerin entledigen, die anderen der Ausländer. Dass die bescheidene Zunft der Architekten angesichts solcher heißen, teilweise populistischen Diskussionen links liegen gelassen wird, ist langfristig betrachtet zwar bedauerlich, in der Kürze des Gefechts jedoch nur allzu verständlich. Und so ist auch die Aussage des Schreiberkollegen Christian Kühn zu deuten, als er bei der parlamentarischen Enquete 2004 meinte: „Mit Architektur lässt sich nicht die nächste Wahl gewinnen, bestenfalls die übernächste.“

Selbst wenn der Architekturpolitik auf Plakaten und in Fernsehduellen kein Platz eingeräumt wird, so kann doch jede im Parlament vertretene Partei ein einschlägiges Programm vorweisen. Die Grünen stellten ihr „Programm zur Architekturpolitik und Baukultur“ am 1. September 2006 der Öffentlichkeit vor, alle anderen rückten damit auf Anfrage heraus. Was die einzelnen Parteien unter dem Begriff Architektur verstehen, fällt höchst unterschiedlich aus und ist nicht zuletzt ein Spiegel der wirtschaftlichen Positionierung der jeweiligen Partei.

Die ÖVP sieht das Bauen als einen elementaren Bestandteil der Kreativwirtschaft; SPÖ und FPÖ sind der Meinung, dass Kultur und Wirtschaft in der Architektur keine Gegensätze und daher unbedingt zu vereinen seien. Ganz anders die Grünen: „Baukultur ist in erster Linie eine Kultur und kein Wirtschaftsfaktor“, erklärt Wolfgang Zinggl, Kultursprecher der Grünen. Man könne nicht die gesamte Architektur einzig und allein auf Kreativwirtschaft reduzieren. „Wenn ich das Wort schon höre, kriege ich Ausschlag.“

Eine klassisch konservative Haltung zum Metier der Baukunst nimmt das BZÖ ein: „In der Architektur geht es immer um den Zweck, dem ein Bauwerk genügen soll, vor allem um seine künstlerische Form.“ Und so beruft sich das BZÖ in seinem Parteiprogramm unter anderem auf Otto Wagners Worte: „Alles modern Geschaffene muss dem neuen Material und den Anforderungen der Gegenwart entsprechen.“

In Bezug auf die Bedeutung der Architektur ist man sich jedoch einig, es ist nur eine Frage des verbalen Ausdrucks: „Architektur ist ein wesentlicher Teil unseres täglichen Lebens und bestimmt unsere Lebensqualität“ (Christine Muttonen, SPÖ). „Kaum etwas ist mehr in das alltägliche Leben des Menschen miteinbezogen wie Architektur und Baukultur“ (Henriette Frank, FPÖ). „Architekten und Ingenieure stellen ein wichtiges Element in unserem Staate dar“ (Günther Barnet, BZÖ). Oder noch knapper: „Architektur ist eine Querschnittsmaterie“ (Carina Felzmann, ÖVP). Sowie: „Bauen ist ein öffentlicher Akt“ (Wolfgang Zinggl, Grüne).

Die großen und zustimmenden Jubelschreie sind nicht weiter verwunderlich. Den ansonsten unbeachteten Protagonisten der Baubranche, die hinter den Kulissen tagein, tagaus an den Strukturen dieses Landes arbeiten, wird der Hof gemacht - stellen doch die rund 40.000 Architekturschaffenden und Ingenieure in Österreich einen beträchtlichen Teil der Wahlberechtigten dar.

Seit geraumer Zeit klagen diese über die vertrackte baurechtliche Situation im Bauwesen. Der Großteil der Parteien will sich denn auch in Zukunft dafür stark machen, dass die neun länderspezifischen Bauordnungen endlich zugunsten einer bundesweit übergreifenden Fibel zusammengefasst werden. Einzig die ÖVP stemmt sich dagegen: Eine einheitliche Bauordnung sei nicht zielführend, da sich die Bundesländer allein schon hinsichtlich Geografie, Topografie, Wetter und Kulturkreis wesentlich voneinander unterscheiden würden.

Beinahe einheitlichen Konsens scheint es auch im Bereich des Wettbewerbswesens zu geben. Ein weiteres Debakel wie beim Haus für Mozart in Salzburg - da ist man sich einig - soll es kein zweites Mal geben. „Bei Wettbewerben ist es unabdingbar, dass jene, die den ersten Platz belegen, auch wirklich zum Zug kommen“, erklärt Frank (FPÖ). Die Politik müsse unter allen Umständen die Entscheidung einer Jury anerkennen, „alles andere führt das Wettbewerbswesen ad absurdum“. Dem stimmen auch ÖVP und SPÖ zu. Die Grünen ergänzen in ihrer Deklaration vom 1. September zudem: "Bei Verfahren, die geistige Dienstleistungen zum Gegenstand haben, gilt im Sinne der Nachhaltigkeit eindeutig ausnahmslos der Grundsatz „Bestbieter vor Billigstbieter“." Und was sagt das BZÖ zum österreichischen Wettbewerbswesen? Kein Wort davon in ihrem Baukulturprogramm. Einzig Detlev Neudeck, Mitglied des Freiheitlichen Parlamentsklubs und als solcher im Namen des BZÖ tätig, rechtfertigt so manchen Salzburger Vergabefehler: „Überall, wo Sie mit Menschen zu tun haben, wird es immer wieder zu Fehlern kommen.“ Wer sich zur Baukultur bekenne, der müsse sich daher auch zu ihren Fehlern bekennen.

„Wenn Architektur schon in aller Köpfe verankert wäre, dann wären auch schon die Häuslbauer auf den Geschmack gekommen, mit Architekten zusammenzuarbeiten“, sagt Felzmann von der ÖVP. Neben dem Austausch von Best-Practice-Modellen wünscht sie sich daher eine intensivere Vernetzung der gesamten Thematik. Das betrifft auch die Präsenz in den Medien, vor allem im Fernsehen. Über den derzeitigen Zustand des ORF - vermeintliches Stichwort „Bildungsauftrag“ - zeigt man sich durch die Bank empört. Dieses Defizit zu beheben sei ein wesentlicher Punkt.

SPÖ, FPÖ und Grüne fordern zudem, dass Architektur - beispielsweise als Schwerpunktthema innerhalb der Bildnerischen Erziehung - verstärkt Kindern und Jugendlichen näher gebracht werde. Die Grünen sprechen von „Gestaltung der gebauten Umwelt“, die Freiheitlichen setzen dafür eine hochwertige, fachliche Schulung der Pädagogen voraus, SPÖ-Kultursprecherin Muttonen unterstreicht die Wichtigkeit der Architektur einmal mehr: „Daher sollte im Rahmen der kulturellen Bildung bereits an den Schulen das Verständnis für Baukultur gefördert werden.“

Wie geht es weiter? Wird man Architektur endlich einmal auch nach der Wahl - und nicht bloß mitten im Wahlkampf - als essenzielles Anliegen der Politik begründet sehen? Als Wahlzuckerl geht so mancher Nationalratsabgeordneter sogar so weit, dass er von einer ressortübergreifenden Verankerung der Architektur spricht. Wann soll es denn kommen - das neue Bundesministerium für Baukultur?

Die SPÖ will einen so genannten Architekturrat einrichten. Christine Muttonen: „Seine Aufgabe wäre es, hochwertige Langzeitstrategien zu entwickeln und ein Architekturleitbild für den öffentlichen Auftraggeber zu erstellen.“ Ähnliches vernimmt man bei den Grünen: „Die oberste Prämisse heutiger Architektur ist die Rendite, die Letztverantwortung liegt im Wirtschaftsministerium“, kritisiert Wolfgang Zinggl, „aber sollte Architektur nicht eher in den Verantwortungsbereich eines Kulturministeriums fallen?“ Die FPÖ kontert: „Politische Verankerung kann nicht stattfinden, solange die Architektur und Baukultur an der jeweiligen Landesgrenze aufhört.“ Das gehöre behoben.

„Benötigen wir wirklich ein eigenes Baukulturressort?“, fragt Carina Felzmann. „Sehr wohl kann ich mir aber ein Ministerium oder ein Staatssekretariat vorstellen, in das die verschiedensten Bereiche der Kreativwirtschaft einfließen.“ Dazu zähle sie auch die Architektur. Infrastrukturelle Eiszeit indes beim BZÖ: „Im Rahmen einer zukünftigen Architekturpolitik sollte die Schaffung einer neuen Bürokratie verhindert werden.“ Stattdessen gibt man den Ball ab: Die Rolle der „Architekturanimatoren“ könnten ja nach wie vor die bestehenden Institutionen übernehmen, heißt es seitens des Klubdirektors Günther Barnet.

Die 2003 gegründete Plattform für Baukultur und Architekturpolitik fordert von der zukünftigen Regierung mehr Engagement und ein größeres Budget. Statt der bisher 2,5 Millionen Euro, die jährlich in die Architekturförderung einfließen, verlangt man neuerdings 73 Millionen. Das ist eine Stange Geld - nämlich genau jener Arbeitswert, den die österreichischen Architektinnen und Architekten Jahr für Jahr unentgeltlich in Wettbewerbe reinbuttern. Für ein besseres Österreich. Oder für die Katz.

Der Standard, Sa., 2006.09.30

23. September 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Baukunst? Kunst baut

Niederösterreich ist für seine Architektur nicht gerade weltberühmt. Was im Bauen nicht gelingt, das vermag die Kunst zu leisten. Einblick in ein außergewöhnliches Programm vor einem ebenso außergewöhnlichen Hintergrund.

Niederösterreich ist für seine Architektur nicht gerade weltberühmt. Was im Bauen nicht gelingt, das vermag die Kunst zu leisten. Einblick in ein außergewöhnliches Programm vor einem ebenso außergewöhnlichen Hintergrund.

Architektur made in Austria ist in den vergangenen Jahren vermehrt zu einem international anerkannten Gütesiegel geworden. Viele Gebäude zeugen von diesem hart erarbeiteten Renommee. Das ist nicht zuletzt den einzelnen Bundesländern zu verdanken, die in jahrzehntelanger Arbeit die regionale Messlatte fürs Bauen immer höher und höher gelegt haben.

Niederösterreich gehört nicht dazu. „In Niederösterreich gibt es nach wie vor Berührungsängste mit professionellen Planern, die Bevölkerung ist einfach skeptisch“, erklärt Peter Obleser, Leiter der niederösterreichischen Gestaltungsakademie, „vor 20 Jahren waren wir der Meinung, dass wir uns um eine einheitliche niederösterreichische Architektursprache bemühen müssten.“ Doch mittlerweile wisse man es besser: „Architektur ist der Spiegel der Gesellschaft.Mankann die Leute zu nichts zwingen.“ Und so habe man sich im Laufe der Zeit auf Service und Beratung spezialisiert und bedient damit in erster Linie jene Bauschaffenden, die sich auf der unentwegten Flucht vor der Architektur befinden: die Häuslbauer.

Franziska Leeb –wie Obleser ist auch sie ehrenamtliches Vorstandsmitglied des niederösterreichischen Architekturnetzwerks ORTE – kontert: „Ich glaube nicht, dass die Berührungsängste kulturellen Ursprungs sind, denn das Interesse der Bevölkerung ist ja da.“ Viel eher leide Niederösterreich an seiner geografischen Weitläufigkeit und an der Tatsache, dass es keine eigene Ausbildungsstätte und keine Szene gibt. „Niederösterreich hat seit Ewigkeiten das Image, das Umland von Wien zu sein. Ein Großteil derArchitekturdiskussion wird von Wien aufgesaugt.“ Und Niederösterreich geht leer aus.

„Alle Baukunst bezweckt eine Einwirkung auf den Geist, nicht nur einen Schutz für den Körper“, sagte einst John Ruskin, Architekturtheoretiker im Großbritannien des 19. Jahrhunderts. Auf das heutige Niederösterreich umgemünzt ist zu ergänzen: Wozu die Baukunst nicht imstande ist, das muss eben die Kunst leisten. Und diese genießt in Niederösterreich eine Sonderstellung, die ihresgleichen sucht.

„Kunst im öffentlichen Raum“ nennt sich jener Apparat der niederösterreichischen Landesregierung, der im Background werkelt und bereits seit den Achtzigerjahren danach trachtet, künstlerische Projekte aller Art der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Anfänglich war es ein Malheur“, erinnert sich Katharina Blaas, zuständige Sachbearbeiterin der Kulturabteilung, an die ersten Jahre zurück, „die Architektur war nicht gut, und die Künstlerinnen und Künstler hatten überhaupt keine Lust, sich vor diesem Hintergrund mit ihrer Kunst zu beteiligen.“

azit: Die berühmte „Kunst am Bau“ blieb auf der Strecke, die Förderungen verfielen, die Luft war draußen. Erst mit der Einführung des so genannten HamburgerModells im Jahre 1996 – ein Prozent der gesamten Landesbaukosten wird projektunabhängig in einen gemeinsamen Topf eingezahlt – gelang es, die Kunstschaffenden langfristig zu einer regen Teilnahme an den vielen Kunstwettbewerben zu animieren. Insgesamt 400 Arbeiten sind auf Initiative der Landesregierung bis heute entstanden. Vom lokalen No-Name bis hin zum internationalen Kapazunder.

Die Disziplin der Kunst wurde dem weitläufigen Bundesland flächendeckend übergestülpt, selbst im entlegensten Kaff taucht schon einmal eine Platzgestaltung, eine Bushaltestelle oder einfach nur eine Skulptur auf. Das wirklich interessante Phänomen an der blau-gelben Kunst ist jedoch vor allem ihre Affinität zur Architektur. Einerseits werden immerwieder auch Architekten zu den Wettbewerben geladen, andererseits zieht es selbst waschechte Künstler in den reizvollen Bereich des Bauens. „Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Architektur in Niederösterreich dermaßen zu wünschen übrig lässt“, so Blaas, natürlich seien Bemühungen da, aber es werde einfach nicht besser. „Ich nehme an, dass die Kunst dieses Defizit erkannt hat und nun eingreift, wo es ihr möglich erscheint.“

Einen frühen Beginn dieser architekturaffinen Kunst lieferten PRINZGAU/podgorschek vor über zehn Jahren mit der „Entdeckung der Korridore“ in Paasdorf. Sie inszenierten eine Archäologie des Fahrens und gruben ein Stück automobiler Kulturform in die Erde ein. Auf sechs Meter Länge und 35 Meter Breite wirkt dieses Fragment als Ausgrabung einer nie da gewesenen Autobahn. Katharina Blaas schwelgt in Erinnerungen: „Bei der Eröffnung hat damals sogar der zuständige Politiker abgesagt, weil das für ihn keine Kunst dargestellt hat.“ Heute ist die „Entdeckung der Korridore“ eines der bestbesuchten Exponate in ganz Niederösterreich. Nebenbei wird hier gegrillt und gefeiert – oder man spielt Tennis über die Leitplanke.

Ähnlich verhielt es sich beim Beitrag der Künstlergruppe gelatin in Staatz, eröffnet im Jahre 2000. Die hintere Hälfte eines völlig ausrangierten Gelenksbusses dient seither als Wartehäuschen einer Bushaltestelle. In diesem Falle ging die Bevölkerung sogar so weit, dass der zuständige Bürgermeister in der Lokalzeitung aufgefordert wurde, sein Amt niederzulegen. Heute haben sich die Wogen geglättet. Als vor einiger Zeit dann auch noch ein Kamerateam von 3sat anmarschierte, war alle einstige Feindschaft im Nu verflogen, seitdem wird der Bus von allen geliebt.

Noch einen Schritt weiter in Richtung Architektur wagte sich der Bildhauer Hans Kupelwieser. Seine Seebühne in Lunz am See (2004) entstand in Kooperation mit einem Statikerbüro. Indem Wasser ein- oder ausgepumpt wird, kann die Bühne entweder versenkt werden oder aber auf der Wasseroberfläche schwimmen. Direkt anschließend gibt es ein abgetrepptes Sonnendeck für Badegäste, das sich während der Lunzer Sommerspiele in ein überdachtes Theater verwandelt – ein absolutes Multifunktions-Tool also. Klingt das etwa nach Kunst? Ein Architekt hätte es nicht besser machen können.

Zu guter Letzt sei angemerkt, dass Künstler sogar in der Lage sind, städtische Plätze zu gestalten. Iris Andraschek und Hubert Lobnig verwandelten das Forum Campus Krems in einen orientalisch anmutenden Marktplatz, dermit Teppichen ausgelegt ist. Doch nicht aus gewebter Seide ist der täuschend echte Bodenbelag gefertigt, sondern aus venezianischen Emailsteinchen, Stück fürStück verfliest. „Mit den Teppichenwerden imaginäre, kommunikative Orte geschaffen“, erläutern die Künstler ihre Idee, sie sprechen weiters von Flexibilität, von Raum und Identität. Ja, auch das klingt nach Architektur.

Beinahe scheint es, als wäre in Niederösterreich die Kunst als Surrogat für die Architektur eingesprungen. Die Initiatoren hinter der „Kunst im öffentlichen Raum“ haben hart geschuftet, sie haben clevere Strategien erarbeitet, und sie haben jahrelangen, sanften Druck auf die Bürger und ihre Bürgermeister ausgeübt. Auf diese Weise gelang es, was einige andere Bundesländer schon zuvor geschafft hatten, nämlich Niederösterreich als internationale Trademark zu etablieren. „Wenn man das gleiche Rezept nun auch auf die Architektur anwenden könnte“, sagt Franziska Leeb, „dann wäre das niederösterreichische Problem gelöst.“

[ Kommenden Freitag findet im NÖ Dokumentationszentrum für Moderne Kunst in St. Pölten die Finissage der Festausstellung „kunst im öffentlichen raum niederösterreich – 10 Jahre Kulturförderungsgesetz“ statt. 29. September, 17 Uhr. Im Anschluss daran wird im Cinema Paradiso Rudi Pallas Dokumentarfilm „public art II“ über die niederösterreichische Kunst im öffentlichen Raum gezeigt, 18.30 Uhr. ]

[ Demnächst erscheint der Katalog „ORTE – Architektur in Niederösterreich 1997–2007“, herausgegeben von Walter Zschokke und Marcus Nitschke, € 39,95 / 244 Seiten, Springer Verlag, Wien – New York. ]

Der Standard, Sa., 2006.09.23

16. September 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Mutter, Geschwister, Haus, Stadt

Diese Woche eröffnet Wiens erstes SOS-Kinderdorf. Es ist mehr Stadt als Dorf, vor allem aber ist es ein unmissverständliches Statement für den Umgang mit Kindern.

Diese Woche eröffnet Wiens erstes SOS-Kinderdorf. Es ist mehr Stadt als Dorf, vor allem aber ist es ein unmissverständliches Statement für den Umgang mit Kindern.

Hermann Gmeiner hat Großes geleistet. Unter dem braven Scheitel steckten Visionen, Durchsetzungsvermögen und nicht zuletzt auch der gedankliche Grundstein eines Dorfes, das einzig und allein den Kindern galt. Allein Medizin zu studieren war dem damals Dreißigjährigen zu wenig. Gebeutelt vom Krieg, schenkte er seine Liebe daher den Kindern und Jugendlichen, für die mit dem Ende des Krieges auch das Ende ihrer Familie einhergegangen war - und baute im tirolerischen Imst das erste SOS-Kinderdorf der Welt. Im Winter 1949 erhalten die Kinder nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch eine neue Mutter. Die vier Grundprinzipien des neuzeitlichen Waisenhauses sind damit für alle Zeiten einbetoniert: „Mutter, Geschwister, Haus, Dorf.“

Nach insgesamt neun Kinderdörfern in Österreich - weltweit sind es über 430 - kam man in der Chefetage auf die Idee, den Aspekt mit dem Dorf nicht immer so wörtlich zu nehmen. Nein, auch in einer Großstadt wie Wien, in jenem Dickicht aus Autokolonnen, Huperei und wuseligen Menschenmassen lassen sich Gmeiners Dörfer vorzüglich integrieren. „Um die 50 Wiener Kinder wachsen derzeit in den SOS-Kinderdörfern rund um Wien und in den Bundesländern auf“, erklärt Erwin Roßmann, Projektleiter des ersten Wiener SOS-Kinderdorfes, die Erfahrung zeige allerdings, dass diese Kinder im Erwachsenenalter oftmals wieder in die Stadt zurückkehren. „Deswegen haben wir gesagt: Nicht die Kinder sollen aufs Land, sondern wir kommen mit dem Dorf in die Stadt.“

Wie sieht es nun aus, das erste Dorf in der Stadt? Ewig hatte man nach einem passenden Grundstück gesucht. In die wahren Facetten urbanen Lebens traute man sich bis zuletzt nicht vor, da man eine Zeit lang beim hoffnungsvollen Kompromiss der Reihenhäuser hängen geblieben war - doch daraus wurde nichts. Auf einem riesigen Baustellen-Areal in Floridsdorf wurde man schließlich fündig und beschloss, sich im bergenden Schoß des sozialen Wohnbaus einzunisten. Die neuen Gebäude von Rüdiger Lainer, Margarethe Cufer und Dietrich Untertrifaller harren ihrer Fertigstellung, mancherorts wird bereits der letzte Feinschliff vorgenommen. Insgesamt sechs Wohneinheiten wurden darin an die speziellen Bedürfnisse der SOS-Kinderdorf-Familien angepasst - sei es ein zweites Bad, ein größeres Wohnzimmer oder schlichtweg nur ein riesiger Garderobenbereich für die kinderreiche Familie.

Das Herzstück des neuen SOS-Kinderdorfes ist jedoch ohne Zweifel das so genannte Familienrathaus mit Büroräumlichkeiten, Café, Festsaal, einer Abteilung der Mag Elf und einer Wohnung für den Kinderdorf-Leiter. Das Familienrathaus wird zentrale Anlaufstelle sein. Hier werden Kids aller Altersstufen auf einandertreffen, hier wird man in Therapien Schwierigkeiten und Lösungsansätze besprechen, hier wird ab kommender Woche die gesamte Wiener SOS-Kinderstadt verwaltet und geleitet werden.

Dass es sich dabei um ein Gebäude für Kinder handelt, sieht man dem schlichten Bau der Runser/Prantl/Architekten - zumindest auf den ersten Blick - bei Gott nicht an. Eher denkt man an herausgeputzte City-Lofts oder an den neuen Firmensitz der österreichischen Baustoffindustrie: Sichtbeton in Reinkultur, viel Aluminium an der Fassade und reichlich Glas in den Varianten durchsichtig und flaschengrün gefärbt. Doch was spräche denn dagegen, ein Haus für Kinder nicht auch einmal ästhetisch und elegant zu gestalten? Oder anders gefragt: Was spricht dafür, wieder einmal auf das geistig bescheidene Konzept von Ritterburgen und Märchenschlössern zurückzugreifen?

Architekt Alexander Runser: „Wir sehen einfach nicht ein, warum Gebäude für Kinder immer nur nett und lieblich aussehen sollten - das ist unseriös.“ Ganz im Gegenteil steht für Runser und Prantl das Begreifen des Dreidimensionalen, die Raumerfassung und Raumerfahrung im eigentlichen Vordergrund dessen, was unter den hübschen Begriff der Kinderfreundlichkeit eigentlich zu fallen habe. „Diese Eigenschaften sind spezielle Leistungen des Gehirns und werden in der Kindheit determiniert. Um ein frühzeitiges Lernen zu ermöglichen, müssen Räume ergeh- und erlebbar sein.“

Es beginnt im Hof. Schaukelgerüste aus Holz, Rutschen und Kraxelbäume wird man hier nicht finden. „Am Anfang wollte die Leitung des SOS-Kinderdorfes herkömmliche Spielgeräte von der Stange in den Hof stellen“, so Runser, „gemeinsam mit dem Landschaftsplaner Jakob Fina haben wir nun eine reduzierte Lösung gefunden.“ Und die lautet: Statt den Kindern die Form des Spielens aufzuzwingen, hat man mittels gummiweichen Kautschukgranulats kleine Hügel und Mulden geformt. Einmal tennisplatzrot, einmal blau, einmal türkis. Die Hügel sind grenzenloser Ort für Fantasie, die Mulde indes fasst jenen Sand, der in der Regel in ein rechteckiges Kisterl aus Spielplatzholz gequetscht ist.

Aus den oberen Stockwerken betrachtet verschwindet die dritte Dimension der Kautschukberge, übrig bleibt ein färbiger Teppich aus amorphen Formen. Unweigerlich muss man an Miró denken. Unweigerlich wird auch klar, weshalb Alexander Runser und Christa Prantl statt eines 08/15-Balkongeländers zum coolen, grünen Glas gegriffen haben. Nicht alle Kinder im SOS-Kidnerdorf sind weit über einen Meter groß. Hätte man die Balkone mit Gitterstäben eingefasst, würden die Kleinsten unter den Kleinen jahrelang das Bild schwedischer Gardinen vor Augen haben.

Doch auch im Innern sieht man auf den feinen zweiten Blick nette Kinder-Gadgets, ohne dass sich das Haus den Stempel des Infantilen aufdrücken lässt. Ein hoher Handlauf führt die Großen bergauf und bergab, ein niedriger hilft den weniger Großen bei der Überwindung der einzelnen Geschoße. In den Sanitärräumen gibt es einen gemeinsamen Waschtisch für alle Körpergrößen, wobei die Kinder ihre Hände in eine Mulde strecken und die Erwachsenen die ihrigen in ein Aufsatzbecken. Das Kleine kann unbekümmert neben dem Großen koexistieren, eine Wertung nimmt hier niemand vor.

Der ambitionierte Kinderdorf-Vater Hermann Gmeiner hatte einst eine Botschaft in die Nachwelt entsandt: „Alles Große in der Welt wird nur dadurch Wirklichkeit, dass irgendwer mehr tut, als er tun müsste.“ Das neue SOS-Kinderdorf in der Stadt ist so ein Fall. Architekten und Bauherren ist es gleichermaßen gelungen, sich weit aus dem Fenster der gut gemeinten, aber vermeintlichen Kinderfreundlichkeit zu lehnen. Das ist eine Architektur, die die Kinder zum Lernen anspornt. Das ist eine Architektur, die die Kinder bis zu einem gewissen Grad ganz schön herausfordert.

Still hört man die Leserschaft jetzt sagen: Als ob die SOS-Dorfkinder keine anderen Probleme hätten! Und die Antwort darauf lautet: Doch, diese Kinder haben - wiewohl die meisten glücklich und zufrieden sind - eine Schicksalskarte gezogen, die nicht zu den schönsten des Lebens zählt. Wir beneiden sie nicht darum. Doch wie anmaßend wäre es vonseiten der Architektur, diese intimen Probleme auf immer und ewig in den Beton zu ritzen.

[ Die Eröffnung des SOS-Kinderdorfes findet am Freitag, dem 22. September, statt. Anton-Bosch-Gasse 29, 1210 Wien - sowie etwas festlicher auf der nahe gelegenen Lorettowiese. Ab 15.00 Uhr ]

Der Standard, Sa., 2006.09.16



verknüpfte Bauwerke
SOS-Kinderdorf FamilienRAThaus

09. September 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Ich hätte gerne mehr gebaut

Anstatt zu bauen, hat er mehr gedacht, gerettet und geschrieben: Friedrich Kurrent, einer der wenigen der alten Schule. Ein Gespräch aus Anlass des 75. Geburtstages.

Anstatt zu bauen, hat er mehr gedacht, gerettet und geschrieben: Friedrich Kurrent, einer der wenigen der alten Schule. Ein Gespräch aus Anlass des 75. Geburtstages.

Es gibt türkischen Kaffee. Friedrich Kurrent sitzt in seinem Garten in Sommerein und trägt sommerlichen Arbeitslook: einen Strohhut und einen eingeklemmten Bleistift hinterm Ohr. Dass er zeit seines Lebens leidenschaftlicher Kritiker und Opponent war, sieht man ihm heute kaum noch an. Aber man hört es heraus.

Dabei ist es unter anderem ihm zu verdanken, dass das famose Wittgenstein-Haus in Wien Landstraße heute überhaupt noch steht - die Stadt Wien hatte bereits die Baubewilligung für ein Hotel-Hochhaus erteilt. Dabei ist es gerade seiner Initiative zu verdanken, dass der barocke Wiener Spittelberg nicht demoliert und geschliffen wurde - auch da hatte die Stadt Wien bereits die Baubewilligung für eine völlige Neubebauung erteilt. Und die Existenz der Österreichischen Gesellschaft für Architektur geht ebenfalls auf ihn zurück. Gemeinsam mit ein paar Freunden - darunter auch sein ehemaliger Schulfreund Friedrich Achleitner - hat er das Kind 1965 aus der Taufe gehoben.

Kurrents jüngster Protest galt den Bürotürmen in Wien Mitte. Mit einigen Kollegen - und unter dem großen Deckmäntelchen des Unesco-Weltkulturerbes - brachte er auch dieses Projekt zu Fall. Spätestens mit diesem Vorpreschen spaltet der selten bauende, wenngleich viel schreibende und politisch agierende Architekt die jüngeren Generationen in Fans und Feinde.

Standard: Warum durfte Wien Mitte nicht gebaut werden?

Friedrich Kurrent: In dieser Massivität, in dieser Größenordnung und in dieser Höhe waren die Türme zu nah an der inneren Stadt. Das ist der Punkt. Selbst wenn sie schön gewesen wären, selbst wenn man sie aus Gold gebaut hätte, wären sie an dieser Stelle schlichtweg falsch. Ein paar Architekturkollegen und ich - allesamt sind wir keine Stararchitekten, aber schon über 70 und mit reichlich Erfahrung gesegnet - haben einen Brief an den Bürgermeister und an den Planungsstadtrat Schicker geschrieben. Ein wichtiger Satz darin war: „Ob mit oder ohne Weltkulturerbe: Wien Mitte ist in dieser Form falsch.“ Das hat überhaupt nichts mit einer absoluten Ablehnung von Hochhäusern zu tun, nur kann man in Wien mit hohen Häusern einfach nicht richtig umgehen.

Standard: In Ihrer Biografie haben Sie sich allerdings noch nie für Hochhäuser begeistern können.

Kurrent: Ja, das stimmt. Über den Ringturm habe ich immer geschrieben, er sei ein Grenzfall. Alle anderen Hochhäuser im Einflussbereich der inneren Stadt haben wir immer stark kritisiert.

Standard: 1958 bis 1963 wollten Sie den Wiener Flaktürmen Hochhäuser aufsetzen, die bis zu hundert Meter Höhe erreichen sollten. Also doch Hochhaus?

Kurrent: Ja, der Schicker hat auch schon versucht, mich auszutricksen. Er hat mir das Flakturm-Projekt ebenfalls unter die Nase gerieben. Natürlich wollten wir den Flaktürmen Hochhäuser aufsetzen, nur in einem Punkt hat mich Schicker nicht drangekriegt: Fünf der sechs Flaktürme wären in die Höhe gewachsen, nur der Gefechtsturm in der Stiftskaserne wäre niedrig geblieben, denn er ist viel zu nahe an der Wiener Innenstadt. Diesen einen wollten wir damals als hoch gelegenen Hubschrauber-Landeplatz für Mittelstrecken nutzen. Ein bissl laut wäre das für die Stadt gewesen, die Hubschrauber hätten halt still sein müssen.

Standard: Mit der Entfernung wird ein Hochhaus also wientauglich?

Kurrent: Was haben der Johannes Spalt und ich nicht alles gezeichnet und nachgedacht über das Wien der Zukunft! Wien jenseits der Donau, das war unser Thema! Für uns war es wichtig, auf dem anderen Donauufer in erster Linie den Gürtel zu schließen - dort sollten dann unsere Hochhäuser stehen. Und im Endeffekt sind wir wahrscheinlich die einzigen Architekten geblieben, die dort kein einziges Hütterl gebaut haben.

Standard: Sie sind Schreiber, Denker und Architekt. Ein älteres Buch beschließen Sie mit dem Satz: „Viel ist es nicht, was ich (bisher) bauen konnte. Nur einige Häuser, Kirchen und dergleichen.“ Bereuen Sie's?

Kurrent: Ich hätte gerne mehr gebaut. Vor allem in Wien ist nur sehr wenig entstanden. Mit Johannes Spalt habe ich die Sparkasse am Floridsdorfer Spitz gebaut, hoffentlich wird sie noch lange stehen. Das letzte große Projekt war die Umnutzung des alten AKH zum Universitätscampus. Selbst in München, wo ich als Lehrer 25 Jahre meines Lebens verbracht habe, steht kaum ein Haus von mir. Die Lehre und das permanente Nachdenken nimmt einem bauenden Architekten Zeit und Kraft weg. Wie gern hätte ich Wohnhäuser gebaut! Wie gern hätte ich Schulen gebaut! Wie gern hätte ich ein Museum gebaut! Immerhin habe ich für meine verstorbene Frau Maria Biljan-Bilger in Sommerein ein Ausstellungsgebäude bauen können. Das Einzige, was ich jetzt noch unbedingt bauen möchte, ist eine Synagoge für Wien.

Standard: Einige Ihrer Gebäude sind im Rahmen der arbeitsgruppe 4 entstanden. Besteht mit Ihren ehemaligen Kollegen Johannes Spalt und Wilhelm Holzbauer heute noch eine Verbundenheit?

Kurrent: Mit Johannes Spalt pflege ich nach wie vor eine Freundschaft, leider ist er seit zwei Jahren schwer krank. Was den Holzbauer betrifft, ist dies eine traurige Geschichte. Die Freundschaft zu Holzbauer würde bestehen, wenn er nicht das Salzburger Festspielhaus verhaut hätte. Das muss man klipp und klar sagen. Die Architektur ist in dem Fall so wichtig, dass die Freundschaft dadurch einen enormen Schaden erleidet. Das Festspielhaus hätte in seiner heutigen Form niemals passieren dürfen. Die gesamte Front von Clemens Holzmeister wurde schamlos abgerissen, ein Zeitdokument wurde vernichtet. Und man bedenke: Der alte Holzmeister war nicht nur mein Lehrer, sondern auch Holzbauers Lehrer. Hinzu kommt, dass sich Holzbauer diesen Auftrag von den ursprünglich erstplatzierten Wettbewerbssiegern juristisch erstritten hat - das ist schlimm. Mit diesem Projekt hat sich Wilhelm Holzbauer seinen Namen selbst ruiniert.

Standard: In Ihrem neuen Buch schreiben Sie von der „Wiener Krankheit“. Damit man von ihr nicht befallen wird, müsse man entweder flüchten oder sie an Ort und Stelle bekämpfen. Ist diese Krankheit denn gefährlich?

Kurrent: Gefährlich ist sie schon. Und ein bissl ansteckend auch. Die Wiener Krankheit ist eine, die die schöne Oberfläche, sozusagen die Haut der Architektur, sehr stark ins Rampenlicht rückt. Architekten, die der Wiener Krankheit anheim gefallen sind, produzieren einfach nur noch schöne Häuser. Und das Außergewöhnliche an der Wiener Krankheit ist, dass nichts dahinter steckt.

Standard: Macht die Wiener Krankheit einen gar zum Star?

Kurrent: Schrecklich dieses Wort! Stararchitektentum ist etwas Mafioses. Und das Unerträglichste an Stararchitekten sind ihre unentwegten Aussprüche, Werbung in Worten. Wenn ich das schon höre! In der Fernsehsendung „Treffpunkt Kultur“ hat Wolf Prix einmal den Spruch losgelassen: „Die Verpflichtung des Architekten ist es, am Turm von Babel weiterzubauen - sonst ist man kein Architekt.“ Das ist doch lächerlich. Ich habe weder am Turm von Babel weitergebaut, noch habe ich überhaupt Türme gebaut, und schon gar nicht habe ich viel gebaut. Aber ich bin Architekt.

Der Standard, Sa., 2006.09.09



verknüpfte Akteure
Kurrent Friedrich

26. August 2006Wojciech Czaja
Der Standard

So viele Zimmer frei

Mitten im hügeligen Süditalien steht seit Kurzem das „Million Donkey Hotel2“. Eine Schnittstelle zwischen Kunst, Architektur, Partizipation und Entwicklungshilfe.

Mitten im hügeligen Süditalien steht seit Kurzem das „Million Donkey Hotel2“. Eine Schnittstelle zwischen Kunst, Architektur, Partizipation und Entwicklungshilfe.

Eine Landschaft so idyllisch wie in der Pietro-Pizzi-Werbung. Feigenkakteen und Zypressen säumen beidseits die Straße. Hinter dem Felsvorsprung blökt eine Schafherde ihrer abendlichen Heimreise entgegen, an der römischen Brücke vorbei hinein in die Höhle, die sodann mit Baustellengitter und Vorhängeschloss versperrt wird. Buona sera. Es ist der Ort Prata Sannita, ein unbedeutendes, ein so genanntes „authentisches“ Dorf mitten in Italien, genauer gesagt in der neapolitanischen Region Campania. Das scheinbar einfache Glück der Bewohner zaubert dem seltenen Touristen glänzende Augen und ein Lächeln ins Gesicht.

Doch hinter den Kulissen ist das historische Örtchen, das wie eine Ansammlung von Steinhaufen am abschüssigen Hang klebt, ein ewiger Zeuge von Armut und Arbeitslosigkeit, von starker Abwanderung, politischem Vergessen und mafiösem Treiben seitens der Camorra. Scharenweise ist die Bevölkerung der umliegenden Provinz gegen Ende des Ersten Weltkriegs sowie in den 50er-Jahren ins übrige Europa und in die USA ausgewandert. Aus manchen Ortschaften sind sogar mehr Leute nach New York geflüchtet, als daheim geblieben sind. Heute ist Prata Sannita das Überbleibsel eines Dorfes, das anstatt aus Häusern hauptsächlich aus Ruinen besteht - manche hat sich die Natur längst wieder zurückerobert. Nur die Alten sind den steilen Treppen im mittelalterlichen Borgo, dem Stadtkern, treu geblieben. Nachmittags sitzen sie vor ihren Häusern, trinken Tee und spielen Schach.

Anfänglich waren es 3000, heute zählt der Ort nur noch 1700 Einwohner, Tendenz fallend. Genau dieser Geisterschloss-Atmosphäre und demografischen Katastrophe widmet sich seit vorigem Sommer das künstlerische Projekt „Villaggio dell'Arte“, aufgezogen vom italienischen Architekturbüro Paeseaggio, das für dieses Vorhaben aus eigenem Antrieb sogar Gelder von der EU lukrieren konnte. Das Konzept ist so einfach wie sympathisch: Jede Gruppe von Künstlern oder Architekten nimmt sich jeweils eines Dorfes an, entwickelt dafür ein Konzept, das dann in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung umgesetzt wird, und zieht zu diesem Zweck für die Dauer eines Monats ins Dorf. Partizipation at its best.

Ziel ist es, die Bewohner darin zu motivieren, von den reichlich leer stehenden Häusern zu profitieren und aus ihrer kulturellen Agonie auszubrechen. Das zur Verfügung gestellte Budget in der Höhe von 10.000 Euro ist bescheiden; dank der damit verbundenen Auflage, das Material lediglich aus dieser wirtschaftlich schwachen Region beziehen zu dürfen, hat es jedoch sichtlich gereicht. Die Resultate, die während des Festivals „Villaggio dell'Arte“ erzielt wurden, sind stolz. Das Wiener Architekturbüro feld72, das die konzeptionelle Patenschaft über das Sorgenkind Prata Sannita innehatte, war mit von der Partie.

Ihr Beitrag ist eine Auseinandersetzung mit Migration jeglicher Art - sie schlugen den Dorfbewohnern ein Hotel vor. „Ihr seid ja verrückt“, opponierten die temperamentvollen Südländer anfänglich. „Ihr aber auch, denn ihr macht mit!“, antworteten die Architekten. Beide sollten Recht behalten. In einem stillen und besonders steilen Eckerl der Stadt wurde ein paar maroden Häusern neues Leben eingehaucht.

Im vorigen Sommer wurde die alte Substanz erst einmal leer geräumt, der Schutt entfernt. Manche Mauern waren schon seit einem Jahrhundert ungenutzt. Daraufhin nahm man das tatsächliche Bauen in Angriff: drei Hotelzimmer, ein Gemeinschaftsbad und eine kleine Bar - alles einzelne Räume, die von den Gässchen direkt zu betreten sind.

In Anlehnung an den Hollywood-Film Million Dollar Hotel wurde das neue Etablissement „Million Donkey Hotel“ genannt. Erklärung der Architekten: „Nun, eine Million Dollar haben wir nicht, und eine Million Esel bräuchten wir, um da oben auch nur einen Stein zu bewegen.“ Doch es ging auch ohne Esel. Stattdessen meldeten sich freiwillige Ortsansässige sonder Zahl zu Wort. „Eigentlich sind wir von zehn oder 15 Helfern pro Tag ausgegangen“, erklären die Architekten von feld72. Doch es kam anders: Bis zu vierzig Freiwillige arbeiteten mit, teilweise sogar 70-jährige Pensionisten, die früher als Schmiede, Maurer oder Maler tätig gewesen waren. Insgesamt hat das Dorf beachtliche 4300 Arbeitsstunden in das Hotel der tausend Esel hineingebuttert.

Mancher Streit zwischen alten und stolzen Padroni machte dem engagierten Zusammentrommeln auch schon einmal einen Strich durch die Rechnung. Man nahm den Hut und ging. Wie sieht es nun aus, das so genannte Hotel? Von außen sieht man nicht viel. Allein ein schwarz-weißer Schriftzug, der einen glauben macht, man habe sich in einen Spaghetti-Western verirrt, prangt über der Tür und flackert in die Nacht hinaus. Der Rest steht bereit zum Erkunden und Erschlafen. Das aufregendste Zimmer heißt „Il letto volante“, das fliegende Bett.

Über ein Betonschammerl erklimmt man das hoch gelegene Bett, das auf einfach zusammengeschweißten I-Trägern aufgelagert ist, und rollt sodann wie ein ratternder Zug durch das Fenster hinaus. Und schon befindet man sich außerhalb des Hauses, ja sogar außerhalb des Dorfes, und blickt hoch ins Gestirn. Damit das Freiluftabenteuer auch bei hyperaktivem Schlafverhalten nicht allzu kurz kommt, wird der Gast durch einen Käfig geschützt. Highlight des wenigzimmrigen Hotels ist aber ohne Zweifel das Bad - ein fetter, gusseiserner Schlüssel öffnet einem den Weg. In tiefes Froschgrün getaucht, sieht man von einem Ende des Raumes zum anderen nicht. Dicht an dicht hängen die durchsichtigen Gummifäden der Moschiera, des italienweit anzutreffenden Fliegenvorhangs von der Decke herab.

Von den insgesamt fünf Kilometer Hängeware sind lediglich die eigentlichen Sanitärbereiche ausgespart worden - man ertastet sie im vorsichtigen Schleichen. Das „Million Donkey Hotel“ in Prata Sannita ist ein neues Ziel für sanften Tourismus. Mehr noch ist es ein behutsamer, sozio-architektonischer Eingriff in einen Ort, der lange Zeit von einem Schleier der Traurigkeit bedeckt war. Mittlerweile hat sich - nur wenige Schritte von den Zimmern entfernt - ein Padrone gefunden, der die Hotelgäste des Morgens mit einem Frühstück verköstigt.

Andere wiederum haben sich bereit erklärt, die Organisation in die Hand zu nehmen und als Putzkolonne mit frischer Bettwäsche aufzutreten. Ein weiteres Zimmer befindet sich - auf Eigeninitiative der Bewohner - bereits in Bau. Was kostet eine Nacht? „Jeder gibt so viel, wie es ihm wert erscheint“, erklärt Annamaria Lauro, die zuständige Dame im Dorf. Ein teurer Spaß also.

Der Standard, Sa., 2006.08.26

26. August 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Baumhaus reloaded

In den vergangenen Wochen präsentierte der ImmobilienStandard verschiedene Beispiele des Wohnens in Holz. Nach Haus am See, im Wald und am Hang findet die Serie ihren hölzernen Höhepunkt und Abschluss im mehrgeschoßigen Wohnbau. Ein Blick nach Wien-Strebersdorf.

In den vergangenen Wochen präsentierte der ImmobilienStandard verschiedene Beispiele des Wohnens in Holz. Nach Haus am See, im Wald und am Hang findet die Serie ihren hölzernen Höhepunkt und Abschluss im mehrgeschoßigen Wohnbau. Ein Blick nach Wien-Strebersdorf.

Holz hin oder her - trotz Aufsehen erregender Alternativprojekte aus den Bundesländern bekennen sich jüngsten Umfragen zu Folge 56 Prozent aller befragten Privatbauherren immer noch zum Massivbau. „Der Massivbau ist die beliebteste Bauweise in Österreich“, so sieht es zumindest die Initiative „Bau massiv!“. Und das habe auch seinen Grund, denn „massiv gebaute Gebäude sind keine Produkte von der Stange, sondern sind maßgeschneidert und stellen Werte dar.“

Mehr noch als im Einfamilienhausbau gedeiht vor allem der soziale Wohnbau in Ziegel und Beton. Gegenbeispiele aus Holz finden sich - zumindest in Österreich und da vor allem Wien - so selten wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Städtisches Wohnen in Holz? Vor der Ödnis beinahe gähnender Leere rettet nur noch die Historie, denn den hölzernen Löwenanteil beanspruchen die vielen Tram- und Dippelbaumdecken in den gründerzeitlichen Häusern für sich. Kaum jemand weiß, dass er dabei auf Holz wohnt. In der Bundeshauptstadt ist es überhaupt erst seit einer Bauordnungsnovelle vor einigen Jahren wieder gestattet, mehrgeschoßig in Holz zu bauen.

Ein solches Prestigeprojekt wird zurzeit in Wien Strebersdorf aus der Taufe gehoben. Auf Initiative des Wohnfonds Wien und der Holzforschung Austria entstand im Rahmen des „Klimaschutzprogramms der Stadt Wien“ eine einzigartige Wohnbauanlage auf einem Areal von knapp 22.000 Quadratmetern, Gesamtinvestitionsvolumen rund 31 Millionen Euro.

Holz an der Decke

Drei holzerfahrene Archidas Projekt am Mühlweg österreichweit, ja vielleicht sogar europaweit einzigartig", so Martin Teibinger, Zuständiger für Wohnbau und Bauphysik. Nach Auskunft des Wohnfonds Wiens ist das Mieterecho auf Bauen in Holz durchaus rege. Silvia Hofer, Projektleiterin im Bereich Liegenschaftsmanagement und Projektentwicklung, erklärt auf Anfrage des STANDARD: "Bis auf die Erdgeschoßwohnungen ist der Andrang sehr groß, die meisten Wohnungen sind betekturbüros, die aus einem Bauträger-Wettbewerb hervorgegangen waren, machten sich an das Grundstück entlang des Mühlwegs heran: Hermann und Johannes Kaufmann, Hubert Rieß und Dietrich Untertrifaller. Gebaut wurde - wo es erlaubt war - mit Holz, das im Wohnbereich hie und da sogar in Form von Sichtholzdecken ans Tageslicht tritt. Gemein ist allen Beteiligten jedoch nicht nur der natürliche Baustoff, sondern auch der Fokus auf die Betriebskosten. Alle Wohnungen weisen Niedrigenergie-Standard auf, manche erfüllen sogar das Anforderungsprofil für Passivbauweise.

"Mit dem Demonstrationsgebäude „Am Mühlweg“ zeigen wir, dass höchste Ansprüche an Energieeffizienz bis hin zum Passivhausstandard durch Holzmischbauweisen auch im sozialen Wohnbau kostengünstig umgesetzt werden können", erklärt Forschungsstaatssekretär Eduard Mainoni. Auch die Holzforschung Austria zeigt sich stolz: „In dieser Größe ist das Projekt österreichweit, ja sogar europaweit einzigartig.“

Holznation Österreich?

Dennoch ist Wien kein einsamer Pionier auf diesem Gebiet. Andere Länder legen andere Sitten an den Tag. Und diese sind bisweilen hölzerner und mutiger als hier zu Lande. Im norwegischen Trondheim ist ein Wohnhaus hochgezogen worden, das auch über seine reine Materialität hinweg die Blicke auf sich zieht (Brendeland & Kristoffersen Arkitekter). In Zürich hat die Architektengruppe EM2N ebenfalls ein großes Stück Wohnen aus dem Boden gestampft. Gleiches vernimmt man aus Meran, wo das österreichische Büro unter dem programmatischen Namen Holzbox seine Vorstellungen des zukünftigen Wohnens unter Beweis gestellt hat.

„Holz hat längst nicht mehr nur das traditionalistische Image von früher“, erklärt Kurt Zweifel von pro:Holz Austria, „eine der kommenden Herausforderungen wird daher sein, für die Planer und Endverbraucher noch mehr technisches Know-how zur Verfügung zu stellen und die Wertschöpfung des Rohstoffs weiter zu steigern.“ Eindeutiges Fazit daher: „Das Wohnbauprojekt am Mühlweg ist keinesfalls das Ende der Fahnenstange, sondern erst der Beginn einer Entwicklung.“

Der Standard, Sa., 2006.08.26



verknüpfte Ensembles
Wohnhausanlage am Mühlweg

19. August 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Das Material, es spricht zu dir

Um ein Haus zu bauen, nehme man Ziegel, Mörtel, Holz und Stahl. Oder man werfe einen Blick nach Japan und lasse sich von der Architektur Kengo Kumas inspirieren. Ein Appell zu Weitblick.

Um ein Haus zu bauen, nehme man Ziegel, Mörtel, Holz und Stahl. Oder man werfe einen Blick nach Japan und lasse sich von der Architektur Kengo Kumas inspirieren. Ein Appell zu Weitblick.

Architektur wirft viele Fragen auf. Eine davon ist beispielsweise voll und ganz dem Material gewidmet. Die Liste der möglichen Baustoffe ist eingedenk unserer kulturellen Wurzeln und der klimatischen Verhältnisse kurz: Ziegelstein, Beton, Holz, Stahl und Glas. Doch Einfamilienhäuser müssen nicht immer gemauert und gemörtelt sein. Und Bürogebäude müssen nicht immer nur aus Stahl und Glas sein. Holzhütten hingegen - ja, die müssen aus Holz sein.

Ein Blick ins Land der aufgehenden Sonne jedoch beweist, dass die Frage nach dem Material noch viel mehr Antworten zulässt, wenn man erst einmal die gewohnten Pfade und Denkmuster hinter sich lässt. Eine besondere Materialvielfalt zeigt die Architektur des japanischen Architekten Kengo Kuma. „Wie können wir endlich der Massivität unserer Kisten entkommen?“, fragt der 52-Jährige, „diese Frage zu beantworten war mein Bestreben in den vergangenen Jahren.“ Seine emsige Arbeit trägt Früchte. Zu den klassischen Materialien der Architektur gesellen sich heute Naturstein, Adobe, Onyx, Bambus, Reispapier, rohe Baumstämme, ja, sogar mit Plastik hat er schon gebaut.

Das Plastic House - ein Einfamilienhaus mitten in Tokio - besteht bis auf die stählerne Tragkonstruktion durch und durch aus Kunststoff. Die Wände sind nicht aus Ziegel, die Fenster nicht aus Glas, die Böden nicht aus Holz. Alle Bauteile, die wir intuitiv mit einem herkömmlichen Material assoziieren würden, sind hier aus strapazierfähigem Polymer. Konsequenterweise sind sogar der Zaun und der Lattenrost auf der Terrasse aus Kunststoff gegossen. Verschraubt ist das Ganze - selbstverständlich - mit Schrauben aus Plastik. Kuma: „Es ist ein einzigartiges Material, das je nach Lichtstimmung einmal wie Reispapier, einmal wie Bambus nach außen scheint.“

Doch der Japaner gesteht sich ein: Das Plastic House war ein Experiment, ein kleiner Exkurs in unbekannte Gefilde. Denn eigentlich hat Kengo Kuma für tote Materie nichts übrig: „Ich glaube an natürliche Materialien, an das Leben in jedem einzelnen Werkstoff. Ein Haus muss wie ein Mensch sein: Es muss atmen können, es muss durchlässig sein wie die Haut des Menschen, es muss mit uns kommunizieren können.“ Und das funktioniere eben nur mit Materialien aus der Natur.

Zu den extremen Beispielen seiner buchstäblich materiellen Architektur zählt das Community Center in Takayanagi. Obwohl es sich dabei um ein öffentliches Gebäude handelt, scheute Kuma nicht davor zurück, die Außenwände aus zartem Reispapier zu bauen. „Ein schwaches Material wie beispielsweise Reispapier ist eines, das lebt, das sich bewegt, sich verändert, atmet und sich der Umwelt anpasst.“ Schwache Häuser benötigen mehr Pflege, daran gebe es nichts zu rütteln. „In so einem Haus können Sie nicht um sich schlagen, Sie können nicht mit dem offenen Messer herumlaufen. Aber wenn die Bewohner das Haus mit Respekt behandeln, dann kann die Lebensdauer eines solchen Bauwerks sehr lange sein.“

Das seltene Gebäude in Takayanagi hat mittlerweile schon sechs Jahre auf dem Buckel. Kein Kratzer, kein Riss, von Graffiti gar nicht erst zu sprechen. Zur Pflege des sachten Reispapiers empfiehlt Kuma frische Khaki-Früchte und den Saft von Tomaten. „Die natürliche Kraft ist manchmal stärker, als man glauben möchte. Es ist nur eine Frage der Einstellung: Welche Beziehung wollen Mensch und Material miteinander eingehen?“

Eine derart intensive Auseinandersetzung mit dem Bauwerk könne in der zeitgenössischen Architektur niemals entstehen, so Kuma. Da gelten Stärke, Steifigkeit und Stringenz. Gebäude müssen Erdbeben, Überschwemmungen und Flugzeugkollisionen standhalten. Vor allem aber sind Gebäude schonungsloser Nutzung und Vandalismus ausgesetzt. „Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass so ein traditioneller und respektvoller Ansatz nur in Japan möglich ist“, erklärt Kuma, "in Europa oder Amerika müssten Sie ein Schild anbringen mit der Aufschrift: „Bitte auf das Haus zu achten!“. Und es wird Ihnen trotzdem nichts nützen. Denn die Europäer und Amerikaner sind im Vergleich zu uns Japanern ziemlich roh."

Und aus diesem Grund wirft er erst gar keinen Blick in den Westen, wo wahrscheinlich ein zerschmetterndes Erlebnis das andere jagen würde, sondern bleibt dem Fernen Osten treu, wo man stets freundlich ist und sich verbeugt - nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor den Häusern. Ein solcher Ort der Stille und des Respekts ist das Projekt „Great Bamboo Wall“ in Peking, Bestandteil eines weit gestreuten Apartment-Areals entlang der Chinesischen Mauer (Commune by The Great Wall, betrieben von Kempinski). Kuma ließ sich von der Bauweise der nahe gelegenen Mauer inspirieren und hüllte seine Residenz rundum in Bambus. Einmal trägt der Bambus das Haus, einmal steht er einfach da, einmal gleitet er als Rollladen vor dem Fenster auf und ab. So eine Architektur lässt sich nicht einzig und allein mit Computerprogrammen generieren. Sie verlangt einem Herz und Seele ab.

„Wir Japaner sind detailverliebt, wir schätzen die Feinheit, wir haben eine gewisse Ehrfurcht vor dem Material und natürlich vor der Tradition“, erklärt Kuma. Selbst wenn er ein Haus aus Glas entwirft, ist das Glas nicht einfach nur durchsichtig und architektenhübsch. In seiner Villa „Water / Glass“ interpretiert er das Glas als still und fest gewordenes Wasser. Fast scheint es, als würde das eine Material ohne das andere keinen Sinn mehr ergeben.

In der Architektur von Kengo Kuma wird der Baustoff zum eigentlichen Konzept. Jedes Projekt verdient seinen eigenen Entwurf, mehr noch verdient jedes Projekt seinen ganz eigenen Rohstoff. „Am Anfang eines Projekts gibt es noch keine Materialidee. Die entsteht erst, wenn ich zum jeweiligen Grundstück fahre, und dort das Material mit mir zu sprechen beginnt.“ Man müsse eigentlich nur zuhören, der Rest erledige sich dann von selbst.

Der Standard, Sa., 2006.08.19

29. Juli 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Wohnfabrik in progress

Auf dem Gelände des ehemaligen Kabelwerks entsteht derzeit eine Stadt in der Stadt. Alle Beteiligten sind happy. Das Rezept lautet Bürgerbeteiligung

Auf dem Gelände des ehemaligen Kabelwerks entsteht derzeit eine Stadt in der Stadt. Alle Beteiligten sind happy. Das Rezept lautet Bürgerbeteiligung

Kräne drehen sich im Kreis. Bagger schaufeln Baugruben aus. Mischmaschinen rühren frischen Beton an. Keine Frage, das sind Bilder einer Baustelle. Einer gar nicht kleinen wohlgemerkt, denn auf dem Gebiet des ehemaligen Kabelwerks in Wien Meidling entsteht derzeit mit rund tausend Wohnungen eine neue Stadt in der Stadt. Im Gegensatz zu herkömmlichen Stadtverdichtungs- und Stadterweiterungsprojekten gab man sich hier jedoch nicht mit Wohnbau von der Stange zufrieden, sondern griff zu einem komplexen Procedere samt Ideenwettbewerb, Bürgerbeteiligung und kultureller Zwischennutzung. Gesamtinvestitionsvolumen: 150 Millionen Euro.

„Es ist unmöglich, Urbanität vom leeren Blatt aus zu entwickeln“, meinte unlängst der französische Landschaftsarchitekt Alexandre Chemetoff, „es gibt immer Spuren zu entdecken und eine Kontinuität herzustellen.“ Selbst in einer Wüste sei der Boden nicht jungfräulich, und auch der Boden des Wiener Kabelwerks ist ganz und gar nicht unbefleckt, er trieft geradezu von schmieröldurchtränkter Historie.

Das Kabelwerk, wo man seit 1905 auf diesem Areal - in direkter Nachbarschaft zu Josef Franks und Erich Fabers Hoffingersiedlung - Isolierkabel, Drähte und sogar Lockenwickler aus Drahtresten hergestellt hatte, schloss am 19. Dezember 1997 für immer seine Pforten. Ein Schicksalsschlag für viele. „Es gibt nur wenige Familien in Meidling, die nicht im Laufe ihrer Generationen irgendetwas mit dem Kabelwerk zu tun gehabt hätten“, meint Volkmar Pamer von der Magistratsabteilung 21 für Stadtteilplanung und Flächennutzung: „Es war immerhin eine der größten Kabelfabriken der Welt und somit auch ein großer Arbeitgeber.“

Drei Monate später, als die Stadtplaner zwecks Besichtigung das verlassene Gelände zum ersten Mal betraten, standen die eingetrockneten Kaffeetassen noch auf ihrem Platz, die vergilbten Tageszeitungen waren stumme Zeugen des schwarzen, vorweihnachtlichen Tages. „Alles war da, nur keine Menschen.“ Eine Identität ist weggefallen. Da lässt sich nicht einfach ein x-beliebiger Flächenwidmungsplan aus dem Ärmel schütteln, da kann man nicht willkürlich den Bestand abreißen, um danach in Reih und Glied geförderten Wohnbau hinzustellen. 1998 hatte die Stadt Wien daher ein Bürgerbeteiligungsverfahren gestartet und im Anschluss einen städtebaulichen Ideenwettbewerb ausgeschrieben.

Es gewann das architekturtheoretische Projekt von Rainer Pirker und The Poor Boys Enterprise. Das städtebauliche Konzept mitsamt seinen so genannten „Impulsatoren“, „Attraktoren“ und „Transformatoren“ schlug in der Architektenschaft Wellen. Die einen kritisierten die unpräzise und laxe Herangehensweise, die anderen sahen in dem strategischen Plan die einmalige Chance, aus einer vagen Idee mit Hilfe der Bevölkerung einen Stadtteil mit sozialem und künstlerischem Fokus zu entwickeln. Rainer Pirker: „Das Wesentliche an unserem Entwurf waren nicht die allgemeinen Parameter, die man aus der Stadtentwicklung gemeinhin kennt, sondern die Schaffung von neuartigen Räumen, die für eine ebenso neuartige soziale Entwicklung dienlich sind.“

Erster Schritt war die Miteinbeziehung der Bevölkerung. Fragebögen wurden verschickt, als Interessensvertretung der Anrainer wurde ein Bürgerbeirat gegründet, in zahlreichen gemeinsamen Workshops mit Alt und Jung baute man die ersten groben Wünsche zu einer präzisen Ideensammlung aus, auf deren Basis Rainer Pirker und The Poor Boys Enterprise einen Flächenwidmungs-Bebauungsplan anfertigten. „Keine Hochhäuser und keine ausschließliche Wohnnutzung“ war der Wunsch der meisten Beteiligten.

Wesentliches Anliegen vieler Teilnehmer war die teilweise Erhaltung der alten Bausubstanz, dem man mit Beibehaltung der Backsteinbauten und der längst graffitiübersäten Mauern Folge leistete. Auf Anregung der beteiligten Planer wird der Straßenzug an der alten Einfriedung in Zukunft sogar Graffitistraße heißen - die Taufe wurde im Gemeinderat bereits beschlossen.

Während Architekten, Stadtplaner und Bürger an der perfekten Stadt in der Stadt feilten, startete man parallel dazu eine temporäre Zwischennutzung der ungenutzten industriellen Brache. Unter dem Arbeitstitel der „Zwischenstadt“ (© Thomas Sieverts) rief man über einige Jahre hinweg rund 500.000 Besuchern die Existenz des Kabelwerks ins Gedächtnis. Hamlet wurde aufgeführt, es wurde getanzt und akrobatisiert, Rockmusiker schrieen sich die Kehle aus dem Hals, die größte LAN-Party Europas öffnete hier ihre Pforten, und nicht zuletzt sorgte auch die Big-Brother-Soap „Taxi Orange“ für rege Bekanntheit unter den Teenies und Groupies.

Derzeit wird gebaut und gebaggert. Im Norden des knapp sieben Hektar großen Areals gibt es erst ein paar Baugruben, während die alten Fabrikgebäude noch ihrer Sanierung harren, etwas weiter im Zentrum ist der Rohbau im Fertigwerden, ganz am südlichen Ende hingegen sind bereits die Mieter und Eigentümer einzogen. Wäscheleinen und gelb gestreifte Markisen, die zum Kampf gegen die Sonne ausgefahren sind, sind erste Zeugen des frischen Wohnens.

Vom Atriumhäuschen bis zum Industrieloft ist alles vorhanden, Vielfalt und Chaos sind die eindeutigen Sieger über Monotonie und Ordnung. Zum Zug kamen jene Architekten, die ursprünglich auch am städtebaulichen Ideenwettbewerb teilgenommen hatten: Mascha & Seethaler mit Wohnbau, Hotel und Konferenzzentrum; pool-Architekten, Hermann & Valentiny und Partner, Martin Wurnig und Branimir Kljajic mit etlichen - völlig heterogenen - Wohngebäuden; Georg Schwalm-Theiss und Horst Gressenbauer mit kunterbunten Atriumhäusern; sowie Werkstatt Wien mit Markus Spiegelfeld, die sich um die Sanierung und Adaptierung der bestehenden Industriebauten kümmern. Die Freiraumplanung stammt übrigens von Heike Langenbach + Partner.

Viele Köche verderben den Brei, heißt es. Hier ist die Mischung gut und sämig geworden. Das „Stück Stadt“ - so der Slogan des Kabelwerks - ist bereits zum Zeitpunkt seiner Baustelle weit über die Stadtgrenzen hinaus zu einem internationalen Fallbeispiel für eine neue Generation der Stadtplanung geworden. Volkmar Pamer: „Für ein Bauvorhaben dieser Größenordnung ist das ein noch nie da gewesener Fall.“

Es könne schon jetzt behauptet werden, dass eine Bürgerbeteiligung und ein Kooperationsverfahren, wie sie beim Projekt Kabelwerk praktiziert wurden, zu keiner Verlängerung der Verfahrensdauer führt. Mehr noch habe man der Bevölkerung jene Portion Vertrauen und Identifikation entgegengebracht, die notwendig ist, um ein Projekt wie dieses mit großen Schritten in die Zukunft zu tragen.

Die Anrainer zeigen sich mit ihrer neuen Nachbarschaft zufrieden, und die Wartelisten für die rund 1000 Wohnungen sind lang. Vergangenen Mittwoch wurde auf der Baustelle der großen Piazza der Schotter gerecht - Grundlage für das erste große Boccia-Turnier in der neuen Stadt in der Stadt.

Der Standard, Sa., 2006.07.29



verknüpfte Bauwerke
Kabelwerk Wien

22. Juli 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Glück für alle

Bisweilen grenzen die brutalen Wohnsilos der Menschen an die Massenhaltung von Tieren. Die Wohnbauten von Harry Glück indes waren und sind ein seltenes Beispiel für schönes Wohnen in der Menge.

Bisweilen grenzen die brutalen Wohnsilos der Menschen an die Massenhaltung von Tieren. Die Wohnbauten von Harry Glück indes waren und sind ein seltenes Beispiel für schönes Wohnen in der Menge.

Das Wort „Massenwohnbau“ mag er nicht besonders. Er spricht lieber vom „Wohnen für die große Zahl“. Unter dieser Prämisse hat Harry Glück vor 30 Jahren die Wohnhausanlage in Alt Erlaa hochgezogen. Ein Wahrzeichen der etwas besseren 70er-Jahre. Von der Architektenschaft wird er seitdem für seine pauschale, massenabfertigende Architekturauffassung abqualifiziert, die Bewohner indes suhlen sich im grünen Glück ihrer rundumblickenden Wohnungen. „Alt Erlaa ist das Konzept meiner Bauten, weil es mein bisher größtes Projekt ist“, erklärt der Architekt, „aber die Prinzipien sind an vielen kleineren Bauten genauso gut ablesbar.“

Architektenkenner werden in seinen Wohntürmen die „Ville Radieuse“ von Le Corbusier wiedererkennen. Auch dieser verfolgte in seiner Vision das Bild einer vertikalen Stadt, um zwischen den Häusern mehr Grün übrig zu lassen. Glück: „Natürlich gibt es da eine Verbindung. Aber es ist ja auch keine Schande, sich an Le Corbusier ein Beispiel zu nehmen.“ Architekt Harry Glück im Gespräch über das Wohnglück und die Zufriedenheit vom Urwald auf der Terrasse und vom Wasser auf dem Dach.

STANDARD: Es gibt kaum ein Foto von Ihnen ohne Hund.
Harry Glück: Meine Hunde haben mir immer schon große Freude bereitet. Der einzige Kummer, den sie bieten, ist der Umstand, dass sie nicht sehr lange leben. Der Hund ist eine Verbindung zur Natur. Ich weiß nicht, ob das jeder versteht - aber ich empfinde es so.

STANDARD: Aktuellen Studien zufolge gelten die Terrassenhäuser in Alt Erlaa nach wie vor als hoch geschätzt und gepriesen. Das hat sich nach 30 Jahren nicht geändert. Das Geheimnis Ihres Erfolges?
Glück: Vor über hundert Jahren hat sich ein gewisser Carl Hagenbeck in Hamburg ein Patent darauf geben lassen, Tiere in ihrer artgerechten Umwelt zu zeigen. Wir bauen heute für unsere Hühner und Kühe artgerechte Ställe und Ausläufe, damit sie glücklich sind. Doch es ist noch niemand auf den Gedanken gekommen nachzuforschen, was zu machen ist, um die Menschen glücklich zu machen. Die längste Zeit der Geschichte konnten sich nur die durch Besitz und Macht Privilegierten eine artgerechte Wohnform verschaffen. Meine Ambition war es, diese Vorteile auch für die große Zahl zu ermöglichen. Das sind eigentlich die grundlegenden Prinzipien der Aufklärung.

STANDARD: Sie wenden in Ihren Bauten grundlegende Parameter der Reichen an. Wie lauten die?
Glück: Sie können heute mit der Business-Class nach Bali fliegen. Sie können das Gleiche auch in der Touristenklasse machen. Herr Meinl segelt mit unserem Finanzminister auf einer privaten Yacht durch das Mittelmeer, weniger Privilegierte können das Gleiche auf einem Urlaubsschiff machen. Der Unterschied zwischen oben und unten ist graduell geworden. Auf dem Gebiet des Wohnens allerdings sind die Unterschiede nicht graduell, sondern grundsätzlich. Die Grundsätze der Reichen sind ganz einfach: Naturnähe, Verlangen nach Nähe und Erreichbarkeit klaren Wassers, Verlangen nach freier Aussicht und die Möglichkeit zur Kommunikation. Der Mensch ist ein soziales Wesen, gestraft wird er mit Einzelhaft. Der Mensch kann sich nur als Gruppe sein Überleben sichern - es konnte einer allein ja kein Mammutschnitzel erlegen. All diese Elemente gibt es in den Wohnformen der Reichen und Mächtigen. In meinen Wohnbauten versuche ich, so viel wie möglich von diesen Parametern einfließen zu lassen.

STANDARD: Anderen Großbauten in Wien ist diese hohe Wohnqualität in diesem Ausmaß nicht beschert.
Glück: Das ist eine Frage von Ambitionen. Der heutige Wohnbau ist gesellschaftspolitisch zu wenig ambitioniert! Meine Bauten hingegen definieren sich nicht über die Fassaden, sondern über die Angebote und Nutzungsmöglichkeiten. Ich folge dem Modell der englischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts: das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl. Meine Bauten sind eingebettet in Grün, sind behindertengerecht und für Nichtbehinderte bequem, bieten Freiräume und Wasser. Das Schwimmbad auf dem Dach ist ein Ort der Schwerelosigkeit und außerdem jener Ort, an dem die Kommunikation zwischen den Bewohnern beginnt. Die meisten Großwohnbauten der 70er- und 80er-Jahre haben diese grundlegenden Komponenten der menschlichen Zufriedenheit ignoriert.

STANDARD: Ist der Swimming-Pool auf dem Dach ein Rezept, das allseits anwendbar ist?
Glück: Nein, aber der Pool hilft. Das offene Schwimmbad auf dem Dach ist außerdem ein Naturerlebnis. Die Schwimmbäder in unseren Wohnhausanlagen werden statistisch von über 90 Prozent der Bewohner aufgesucht, und zwar von zwei Dritteln regelmäßig, von einem Drittel gelegentlich. Das reicht offenbar aus, um Kommunikation in Gang zu setzen. Wenn jemand von der Arbeit heimkommt, sich auszieht und mit dem Lift aufs Dach fährt, so trifft er dort wahrscheinlich Tag für Tag die gleichen Nachbarn. Spätestens am dritten Tag wird er sie grüßen.

STANDARD: Was macht er im Winter?
Glück: Im Winter hat er die anderen schon kennen gelernt. Und deswegen fährt er zum Skifahren in die Berge.

STANDARD: Ist das Wohnen in der großen Menge nach heutigen Maßstäben noch gerechtfertigt?
Glück: Was heißt gerechtfertigt? Das Leben in der Stadt ist ein Leben mit der großen Zahl. Die Leute argumentieren immer mit romantischen Stadtvierteln und elitären Bezirken. Die 10.000 Bewohner von Alt Erlaa können das Stadtzentrum mit einem öffentlichen Verkehrsmittel sehr rasch und bequem erreichen. Im achten Bezirk brauchen Sie für 30.000 Einwohner ein paar Straßenbahnen, drei Autobusse und viel Fußmarsch dazwischen. Sie werden vom Straßenlärm gequält und haben enorme Parkplatz-Probleme.

STANDARD: Sie selbst aber wohnen mitten in der Stadt.
Glück: Ich bin zwar nicht so wohlhabend wie Herr Mateschitz, aber ich habe vor allem in früheren Jahren mehr verdient, als ein Bewohner von Alt Erlaa maximal verdienen darf, um dort eine Wohnung zu bekommen. Durch Zufall wohne ich in einem Haus im achten Bezirk an einem großen Park, von dem ein Teil sogar mir gehört. Ohne diese konkrete oder eine ähnliche oder vergleichbare Situation wäre ich schon längst am Stadtrand - in irgendeiner Wohnung in Alt Erlaa.

STANDARD: In der Architektenschaft wird Ihre Architektur in ästhetischer und kultureller Hinsicht wenig bis gar nicht geschätzt. Die Bewohner indes lieben ihre Wohnsituation. Warum klaffen hier akademische Auffassung und Praxiserfahrung so weit auseinander?
Glück: Die Relevanz dessen, was das Architekturfeuilleton als ästhetisch und anspruchsvoll bezeichnet, ändert sich alle fünf bis sechs Jahre. Ist diese Meinung daher relevant? Ich behaupte allerdings, dass einige meiner Bauten mit den angeblichen Musterbeispielen ästhetisch durchaus mithalten können. Sie sind nur nicht ganz so modisch. Bei der Ablehnung der Kollegen spielt aber sicherlich auch der Neid gegenüber einem materiell erfolgreichen Kollegen eine nicht unwesentliche Rolle.

STANDARD: Ich kann es mir nicht verkneifen: Sind Sie glücklich?
Glück: Eigentlich schon. Als Architekt habe ich sicherlich nicht alles erreicht, was ich für gut hielt. Aber ich kann mich - im Vergleich zu einem großen Teil meiner Kollegen - nicht beklagen. Und privat: Solange ich auf keine verrückten Ideen komme, muss ich mich ebenfalls nicht beklagen. Ich bin erträglich gesund und ich lebe seit 50 Jahren mit derselben Frau.

STANDARD: Sie sind mittlerweile 81 Jahre alt und arbeiten immer noch?
Glück: Ich arbeite ganz gerne.

STANDARD: Möchten Sie als weiser Mann der jungen Architektenschaft einen Ratschlag auf den Weg mitgeben?
Glück: Ich würde den Kollegen empfehlen, so schnell wie möglich auf Jus umzusatteln. Denn den meisten Architekten geht es um Selbstverwirklichung und nicht darum, für Menschen zu arbeiten. Wenn es weniger Architekten gäbe, wäre das wahrscheinlich kein Fehler.

Der Standard, Sa., 2006.07.22



verknüpfte Akteure
Glück Harry

04. Juli 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Haus formt Mensch

Der Staatspreis für Architektur wurde heuer ausnahmsweise doppelt verliehen: für das T-Center in St. Marx vom Team Domenig-Eisenköck-Peyker; und für das Verwaltungsgebäude der Travel Europe in Tirol von Oskar Leo Kaufmann und Albert Rüf.

Der Staatspreis für Architektur wurde heuer ausnahmsweise doppelt verliehen: für das T-Center in St. Marx vom Team Domenig-Eisenköck-Peyker; und für das Verwaltungsgebäude der Travel Europe in Tirol von Oskar Leo Kaufmann und Albert Rüf.

Jubel und Applaus im Semperdepot. Am gestrigen Montagabend wurde durch Bundesminister Martin Bartenstein der Staatspreis für Architektur 2006 verliehen. Die Auszeichnung, die im Abstand von zwei Jahren verliehen wird, richtete sich heuer an Gebäude für Büronutzung, Verwaltung und Handel, insbesondere mit dem Fokus auf „Neue Arbeitswelten“- so der Titel der diesjährigen Ausschreibung.

Das Rennen blieb diesmal zugunsten zweier erster Preise unentschieden. In Wien kommt das T-Center in St. Marx von Domenig, Eisenköck, Peyker (Architek-tur Consult) zum feierlichen Zug, im tirolerischen Stans wurde das Verwaltungsgebäude der Travel Europe (Architekten Oskar Leo Kaufmann und Albert Rüf) ausgezeichnet.

„Eine Entscheidung zugunsten eines der beiden Projekte ist der Jury deshalb so schwer gefallen, weil die Rahmenbedingungen nicht unterschiedlicher sein könnten“, erklärt die hochkarätig besetzte Jury aus Architekten und Funktionären des Ministeriums, „das T-Center ist ein Projekt im großstädtischen Kontext und entsprechendem Maßstab, das Travel-Europe-Gebäude ein vergleichsweise kleines Objekt in einem dörflichen Umfeld.“

Kaffee statt Anonymität

Winston Churchill sagte einst: "Zuerst gestalten wir unsere Gebäude und dann formen sie uns."Das gilt auch für Unternehmen, ganz gleich ob dies nun der Telefonie-Gigant T-Mobile ist oder das mittelgroße Reiseunternehmen Travel Europe. Das T-Center in St. Marx, das sich über einen Viertelkilometer Länge erstreckt, ist ein seltener Beweis dafür, dass derartige Dimensionen nicht immer in architektonischer Kreativlosigkeit enden müssen. Architekt Günther Domenig über seinen Koloss an der Südost-Tangente: „Dieser Flügel gehört mir!“

Das gigantische Flaggschiff besticht durch einen großzügigen Innenhof und eine breite Freitreppe, die ihre Angestellten allmorgendlich empfängt. So knallt man nach dem erreichten Haupteingang nicht etwa gleich auf den Liftblock, über den man anonym in seine Bürozelle schlüpft, sondern gelangt zuerst auf eine Ebene, die allein der Erschließung und Kommunikation dient. Hier können Besprechungen und Präsentationen genauso wie der Kaffeetratsch dazwischen abgehalten werden. Außerdem werden hier auf dezentrale Art und Weise 2500 Menschen auf 11 Stiegenhäuser und 23 Aufzüge verteilt.

Ganz anders die Situation in Stans. Der Neubau ist die notwendig gewordene Hülle für ein Reiseunternehmen, das nach 20-jährigem Bestehen und Expandieren nun aus allen Nähten platzte. Das Gebäude von Oskar Leo Kaufmann und Albert Rüf ist ein auf der Höhe der Zeit stehendes Objekt, wenn nicht sogar seiner Zeit voraus. Wo sonst werden 130 Mitarbeitern weitläufige Büros, eine Arbeitsstätte mit baumbepflanzten Atrien und eine voll nutzbare Dachterrasse als Pausenzone geboten?

Auslober des Staatspreises ist das Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft gemeinsam mit der Wirtschaftskammer Österreich, mit der Architekturstiftung Österreich, mit dem Bundeskanzleramt sowie der Bundeskammer für Architekten und Ingenieurkonsulenten. Preisgeld gibt es keines. Aber eine handsignierte Urkunde des Ministers.

Der Standard, Di., 2006.07.04



verknüpfte Bauwerke
T-Center St. Marx
Travel Europe

03. Juli 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Das Ornament der harten Schule

So wie Otto Wagner auf ewige Zeiten ein Sohn Wiens bleiben wird, so hat auch Laibach seinen ganz eigenen Architektensohn. Der Zufall wollte es, dass dieser...

So wie Otto Wagner auf ewige Zeiten ein Sohn Wiens bleiben wird, so hat auch Laibach seinen ganz eigenen Architektensohn. Der Zufall wollte es, dass dieser...

So wie Otto Wagner auf ewige Zeiten ein Sohn Wiens bleiben wird, so hat auch Laibach seinen ganz eigenen Architektensohn. Der Zufall wollte es, dass dieser Josef Plecnik justament bei Otto Wagner an der Akademie der bildenden Künste sein Studium absolvierte. Zurück in seiner Geburts- und Sterbestadt setzte Plecnik dem Zentrum von Laibach eine unverwechselbare Handschrift auf, wie sie in dieser Reinkultur - und städtebaulichen Sensibilität - im europäischen Raum kein zweites Mal zu finden ist.

Doch nicht nur Slowenien konnte von seinem eigensinnigen Gestaltungswillen profitieren, auch Wien und Prag bekamen ihre verschnörkelten Gebäude ab. Unter den wenigen Wiener Bauten gilt vor allem das Zacherlhaus auf dem Wildpretmarkt - eingehüllt in Granit und Kupfer - als Meilenstein der Art Nouveau. An der Fassade tragen gigantische Atlanten das beschwerliche Gesims, im Stiegenhaus hingegen tänzeln hunderte stilisierte Insekten und barock geschmiedete Engel an Kandelabern und Brüstungen empor.

„Ich habe ihn noch persönlich gekannt“, erzählt Damjan Prelovsek, der gemeinsam mit Adolph Stiller die Ausstellung Josef Plecnik. Architekt in Wien, Prag und Laibach im Wiener Ringturm kuratierte, „er war ein Liebhaber des Details.“ Plecniks frühe Jahre, die er in der väterlichen Tischlerei verbrachte, sollten sich in seinem späteren Werk wiederfinden. Fassaden und Mobiliar sind stets fein ausgearbeitet, niemals hatte den bärtigen Mann die Geduld verlassen - diese Botschaft vermittelt zumindest sein architektonischer Nachlass.

Hinter den Fassaden aus Backstein und Ornamenten harren dennoch avantgardistische Visionen. Den Kirchturm im Prager Stadtteil Vinohrady kann man auf einer Rampe selbst mit dem Rad erklimmen, das Treppenhaus mit dem Aufzug in die Präsidentenwohnung auf der Prager Burg wird selbst heute noch seiner Funktion gerecht.

Friedrich Achleitner meint im Katalog, die Unbekanntheit Plecniks läge u. a. an der Ignoranz der Geschichtsschreibung, die die zentraleuropäischen Länder jenseits des Eisernen Vorhangs nicht wahrgenommen hätte. Im Ringturm kann man den Betrachtungswinkel nun etwas weiten.

Der Standard, Mo., 2006.07.03

24. Juni 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Manifest der Individualität

In Wien Simmering wurde dieser Tage ein Wohnbauprojekt schlüsselfertig übergeben: Damit nicht wieder alles zum faden und tristen Einheitsbrei wird, hat der Künstler Gerwald Rockenschaub ein paar Farben angemischt.

In Wien Simmering wurde dieser Tage ein Wohnbauprojekt schlüsselfertig übergeben: Damit nicht wieder alles zum faden und tristen Einheitsbrei wird, hat der Künstler Gerwald Rockenschaub ein paar Farben angemischt.

Der Wiener Wohnbau habe in den vergangenen Jahren eine schlimme Kehrtwendung gemacht, sagt Gert Mayr-Keber, seines Zeichens Architekt, und schaut erbost in Richtung der Wohnhochhäuser auf dem Wienerberg: „Ich bin zwar kein Hochhausgegner, aber fürs Wohnen ist diese Bauform eine Unerhörtheit.“ Geschoße werden so hoch übereinander gestapelt, bis die Flächenwidmung irgendwann einmal ausgereizt sei, den Maßstab habe man dabei völlig außer Acht gelassen. Die Projektdeveloper freuen sich zwar über die höhere Rendite, doch dass man aus dem Wohnzimmerfenster die Kleinen im Hof nicht mehr in Sichtweite hat, kümmert dabei keinen. Mayr-Keber: „Im Grunde genommen ziehen wir in einem sozialistischen Wien bisweilen asoziale Bauten hoch.“

Dennoch: Sozialer Wohnbau ist eine zutiefst österreichische Tradition. Während das linksliberale System hier zu Lande weiter gepflegt und gehegt wird - allein Wien verfügt über 210.000 Gemeindewohnungen -, hat man in vielen anderen europäischen Staaten längst darauf verzichtet. Großbritannien hat das integrative Modell überhaupt abgeschafft und liebäugelt nach vielen Jahren der kommunalpolitischen Stagnation erst jetzt mit der Idee, den Wohnbau auch für sozial Schwache wieder zu öffnen (siehe Immobilien-STANDARD).

Vorigen Donnerstag wurde in Wien ein solcher sozialer Wohnbau seinen Bewohnern übergeben. Die Schlüsselübergabe der insgesamt 88 Wohnungen ging einher mit einem feierlichen Stelldichein von Bezirksvorstehung, Wohnbaustadtratschaft, Architektur, Kunst und 88 erwartungsvollen Mietern und Eigentümern. Ort des Geschehens: Wien Simmering, jener Wiener Gemeindebezirk, der von der intellektuellen Wiener Riege als Tatort von Südosttangente, Industriebauten und riesigen Wohnsilos abgestempelt ist, den Zentralfriedhof miteingeschlossen.

So manchen auf Minimal Art getrimmten Architekten mag es schaudern angesichts der Buntheit und Tonnengewölbelei der neuen Wohnhausanlage von Gert Mayr-Keber. Doch nicht für den Architekten baut der Mensch, sondern für den Bewohner. Das Konzept hinter dem Projekt mit dem appellierenden Titel „Look“ scheint aufgegangen zu sein. Denn die Flächenwidmung des bisher brachliegenden Grundstücks sah eine niedrige Bebauung vor, und angesichts der dürftigen Rendite hatten die meisten Wohnbauträger bis dato davon die Finger gelassen. Bis sich die Buwog (seit rund zwei Jahren in Besitz der Immofinanz) der verwaisten Parzelle annahm und eben das darauf setzte, was der Plan erlaubt hatte: niedrige Mietwohnriegel mit viel Freiraum dazwischen und jene Eigentumswürfel, die seitens des Architekten so liebevoll als Stadtvillen bezeichnet werden.

Sozialer Wohnbau eben: gut geschnittene Grundrisse, nette Loggien, der architektonische Herzschlag in der Brust des Kenners jedoch schnellt dabei nicht empor. Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass es justament dem planenden Architekten zu verdanken ist, dass ein Teil der Baukosten - nebenbei bemerkt bescheidene 1060 Euro pro Quadratmeter - in das Töpfchen der „Kunst am Bau“ floss. Beauftragt wurde der Wiener Künstler Gerwald Rockenschaub: „Ich bin zwar schon früh in das Projekt eingestiegen, aber die Architektur war eigentlich schon fertig.“

Kunst am Bau - das ist in diesem Fall keine Skulptur, die unbeholfen neben dem Spielplatz klotzt, sondern schlicht und einfach ein Farbkonzept, das über die gesamte Wohnhausanlage gepinselt wurde. „Im Grunde genommen bin ich kein Freund von Kunst am Bau, weil sie oft keinerlei Zweck erfüllt“, erklärt Rockenschaub, „und eine nutzlose Plastik oder nur ein funktionsloses, dekoratives Element wäre hier nicht sinnvoll gewesen.“

Stattdessen strahlen die 28 Erker, in die sich jeweils die Wohnzimmer einer Wohnung ausbeulen, in den buntesten Farben. Die Unordnung war intendiert, und diese kann man nur erzeugen, wenn man auch wirklich wild in den Farbtopf taucht: „Jeder Künstler hat früher oder später einmal mit Farbe zu tun, und bei diesem Projekt bin ich mit der Farbe halt sehr freestyle umgegangen.“

Machen 28 bunte Erkerchen die qualitativ gute, wenngleich nicht sonderlich aufregende Architektur etwa schöner? „Der Mensch ist ein Individuum“, meint Architekt Mayr-Keber, „alle lieben das Einfamilienhaus mit dem kleinen Gemüsegartl davor.“ Und da diesem persönliche Kleinrefugium bei größeren Wohnformen in der Regel nur wenig Platz eingeräumt werde, sei es umso wichtiger, jede erdenkliche Chance auf Heterogenität auch wirklich zu nutzen.

Edelbert Köb hatte den Vorsitz des Kunstbeirats, der Rockenschaub hier mit Kunst am Bau beauftragt hatte. Warum Rockenschaub? „Der gesamte Beirat wollte sich den sonst üblichen Pastelltönen des sozialen Wohnbaus entziehen. Mit der Entscheidung, Rockenschaub ins Projekt einzubeziehen, erwartete man ein farbkräftigeres Konzept.“ Nebenbei bemerkt der Mumok-Direktor, dass diese intensive Farbgebung ganz in der Tradition des Wohnbaus stehe. Denn auch schon Mondrian, Rietveld und das Bauhaus griffen in ihren Design- und Architekturentwürfen gerne in den knalligen Bereich des Farbkastens.

Dass die Buntheit die zukünftige Bewohnerschaft nicht zwangsbeglückt, zeigen die innenarchitektonischen Reaktionen auf die künstlerische Farbwalterei. Einige Mieter und Eigentümer haben sich schon vor der offiziellen Schlüsselübergabe am Fassadencouleur orientiert und die Farben im Innenraum fortgeführt. Was will man mehr?

Der Architekt spricht von einem „Manifest der Individualität“, der Künstler meint, das Projekt habe ihm Spaß gemacht, und Buwog-Geschäftsführer Gerhard Schuster erfreut die Tatsache, dass so gut wie alle Wohnungen bereits vermietet und verkauft wurden.

Die Wohnhausanlage „Look“ wird wahrscheinlich nicht den Weg in die Hochglanz-Gazetten der Architektenschaft finden, und Gert Mayr-Keber wird mit diesem Projekt auch nicht als nächstjähriger Pritzker-Preisträger infrage kommen. Doch es ist etwas gelungen, was von wahrscheinlich größerer Bedeutung ist: „Look“ hat die Herzen seiner Bewohner erschlossen. Das war den Gesichtern bei der Schlüsselübergabe vorigen Donnerstag deutlich anzusehen - und damit hat auch der Buwog-Werbeslogan seine Richtigkeit unter Beweis gestellt: „Glücklich wohnen.“

Der Standard, Sa., 2006.06.24

10. Juni 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Auf der Suche nach dem Wunderland Europa

In den letzten Tagen des österreichischen EU-Vorsitzes kann man sich auch die Frage stellen: Gibt es so etwas wie eine europäische Architektur?

In den letzten Tagen des österreichischen EU-Vorsitzes kann man sich auch die Frage stellen: Gibt es so etwas wie eine europäische Architektur?

Europa ist - zumindest auf politischer Ebene - auf der Suche nach seiner Identität. Wie steht es aber um die Architektur innerhalb der Grenzen dieser Europäischen Union?

Eines vorweg: Einen nationenübergreifenden Konsens um die viel beschworene Berufssparte gibt es nicht. In manchen Ländern ist das Interesse am hochklassigen Bauen enorm, in anderen Gefilden schert man sich kaum darum. Auch der Berufsstand selbst zeigt länderweise große Unterschiede: Während etwa in Italien jeder Fünfhundertste Architekt sein will, kommen beim Schlusslicht Rumänien auf einen Architekten weit über 4000 Einwohner. Dieses länderspezifische Gefälle erklärt auch den Umstand, weshalb der österreichische Markt seit einigen Jahren von deutschen Architekten buchstäblich überrannt wird, gibt es in Deutschland - gemessen an der Bevölkerungszahl - immerhin fast viermal so viele Architekten wie hier zu Lande.

Die Situation in Deutschland ist dermaßen aussichtslos, dass sich viele junge Büros auf die Suche nach kleinen Marktnischen begeben müssen, um zu überleben. Das Ergebnis ist eine Vielzahl an Visionen und Utopien, die sich oft im Grenzbereich zur Bildenden Kunst ansiedeln. „Viele Büros in Deutschland sind mehr oder weniger auftragslos“, erklärt die Architektin Elisabeth Leitner, die sich im Zuge einer Ausstellungskonzeption („Wonderland“, siehe unten) einen umfassenden Europa-Überblick verschaffen konnte: „Ihre einzige Überlebenschance besteht in der Erfindung hypothetischer Aufgaben.“

Und Holland? Galten die Niederlande noch in den Neunzigerjahren als europäisches Architekturwunderland, ist es um die einstige Avantgarde-Elite still geworden. Denn die fetten staatlichen Förderungen von damals, die nicht zuletzt vor allem den Jungen zugute kamen, wurden wieder gestrichen. Bart Lootsma, selbst Niederländer und Intimus der dortigen Szene, erklärt leicht gebeugten Hauptes: „Man findet mittlerweile bessere Superdutch-Beispiele in Kroatien als in den Niederlanden.“

Das zumindest ist eines der wichtigen Landmarks auf der europäischen Landkarte: Architekten beginnen verstärkt international zu arbeiten, die Architektur überschreitet die Grenzen. Der Holländer Rem Koolhaas beispielsweise baut in Portugal und Deutschland, die Britin Zaha Hadid zeichnet verantwortlich für deutsche, italienische und österreichische Projekte, den Franzosen Dominique Perrault treibt es ebenfalls nach Österreich und Deutschland, Kollege Jean Nouvel hinterlässt seine Spuren in Madrid und Barcelona, Hans Hollein streckt seine Fühler nach Frankreich aus.

„Wenn man zwanzig, dreißig Jahre zurückgeht, dann war Architektur noch viel nationaler“, erläutert Lootsma, doch das sei nun vorbei. „Heute sind wir in der Situation, dass wir Architektur gemeinsam vermarkten wollen.“ Diese Vermarktung ist jedoch vor allem ein Spiel der Großen und Bekannten, denn die wirklich Prominenten werden selbst aus Übersee eingeflogen.

Der Amerikaner Frank Gehry verschaffte der Langeweile-Kapitale Bilbao mit dem Guggenheim-Museum ein viel beachtetes Wahrzeichen und trug damit wesentlich zum medialen Bekanntheitsgrad der baskischen Hauptstadt bei. Rem Koolhaas machte sogar den Vorschlag, man möge Gehry doch nicht nur mit einem Architektenhonorar abspeisen, sondern solle ihm den „Bilbao-Effekt“ mit einer Umsatzbeteiligung des Museums abgelten.

Doch wie steht es um „normale“ Architekten, die „normale“ Architektur machen? Am ehesten gelingt das in jenen liberalen Staaten, die den Architekten das Leben nicht durch eine übermäßige Fülle von Auflagen und Bürokratien zur Hölle machen. In den Niederlanden, in Dänemark, in Finnland und in der Schweiz beispielsweise darf man direkt nach dem Abschluss des Architekturstudiums in den Architektenstatus wechseln.

In vielen anderen Ländern, wie auch in Österreich, muss man Praktikumsjahre nachweisen, eine aufwändige Ziviltechnikerprüfung absolvieren, bevor man einer Kammer beitreten und seinen Beruf selbstständig ausüben kann. „Veränderte sozioökonomische Rahmenbedingungen lassen kaum die Möglichkeit offen, am klassischen Berufsbild des Architekten festzuhalten“, lautet das Fazit des Wiener Architekten Paul Rajakovics in der ersten Ausgabe des neuen Architekturmagazins wonderland, der wirtschaftliche Neoliberalismus habe auch in der Architektur Einzug gehalten.

Die europäische Architekturszene ist also von wenigen Platzhirschen und vielen weniger im Rampenlicht stehenden Architekten geprägt, die untereinander heftig konkurrieren und einander die - wenigen - Aufträge vor der Nase wegschnappen.

Georg Pendl, Vorsitzender der Bundessektion der Architekten in der Kammer für Architekten und Ingenieurkonsulenten, sieht dennoch das Gemeinsame in Europa: „Ich glaube an ein europäisches Bild in der Architektur. Dieses zeichnet sich durch Heterogenität und durch eine ausgeprägte Identität aus.“

Der Standard, Sa., 2006.06.10

26. Mai 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Das gibt es nur auf dem Papier

Architekten haben eine sonderliche Sprache. Wenn sie den Mund aufmachen, versteht sie keiner. Um diesem Problem vorzubeugen, wurde vor vielen, vielen Jahren der Plan erfunden.

Architekten haben eine sonderliche Sprache. Wenn sie den Mund aufmachen, versteht sie keiner. Um diesem Problem vorzubeugen, wurde vor vielen, vielen Jahren der Plan erfunden.

Vor einiger Zeit erreichte ein Leserbrief unsere Redaktion. Frau S. fragte darin ganz klipp und klar: „Wie wär's mal mit Grundrissen auf der Architekturseite? Oder überhaupt eine philosophische Betrachtung über die Schönheit von Grundrissen und deren Bedeutung in der Architekturgeschichte?“ Gähnende Leere machte sich bei uns breit. Grundrisse? Grottenfad.

Zur Erklärung an Frau S. möchten wir hiermit antworten: Wir zeigen äußerst selten Grundrisse. Denn ein Grundriss ist nichts anderes als ein grafisches Werkzeug der Architektur, und dieses möge doch bitte unter den Architekten bleiben. Aber warum nicht einmal eine Ausnahme machen?

Der französische Architekt Le Corbusier alias Charles Edouard Jeanneret vertrat zwar schon im Jahre 1923 die Meinung, aus dem Grundriss entstehe alles, und ohne Grundriss sei alles Unordnung, sei alles Willkür. Doch im gleichen Jahr schrieb er in seinem Buch „Vers une architecture“ noch ein anderes gewichtiges Satzerl nieder, das da lautet: „Alles ist Betrug, ist Blendwerk.“ Denn man dürfe beim Zeichnen eines Grundrisses nie vergessen, dass es das menschliche Auge ist, welches die Wirkungen aufnimmt.

Doch das vergisst man gerne, von diesem Fliegen und Schweben über die Lüfte und die Länder hat sich schon so mancher Architekt und Künstler verleiten lassen. Das Re- sultat sind fesch geformte Städte und Städtchen. Mit einem Wermutstropfen: Wenn man nicht gerade die Stadt überfliegt oder über den ausgebreiteten Stadtplan gebeugt ist, dann bekommt man von den städtebaulichen Bemühungen der plansinnenden Avantgardisten nicht all zu viel mit.

Ein frühes und prominentes Projekt, das auf dem radikalen Reißbrett entstand, ist die norditalienische Idealstadt Palmanova, ein Aushängeschild der Renaissance. Palmanova wurde 1593 als Festungsstadt der Republik Venedig zum Schutz vor den Türken angelegt, die massiven Stadtmauern erinnern noch heute an die groß geschmiedeten Pläne. Vor allem aber wollte man die Stadt zum wichtigsten Stützpunkt der Venezianer auf dem Festland ausbauen. Wenn man sich heute in die Mitte der sechseckigen Piazza stellt und ein bisschen die zentrale Einsamkeit über sich ergehen lässt, dann wird bald klar, dass aus dem stolzen Vorhaben nicht allzu viel geworden ist. Palmanova ist ein verträumtes Open-Air-Museum mit einem Hauch nordischer Italianità. Ein genießerischer Cappuccino mit einer großen, fetten Milchschaumhaube zählt so ziemlich zum Besten, was die Stadt heute zu bieten hat.

Haben sich die Mühen des 16. Jahrhunderts bezahlt gemacht? Aus der Vergangenheit lernt man, möchte man meinen. Doch 200 Jahre später passiert das Gleiche nochmal. Diesmal sind es die Franzosen, die an das grundgerissene Glück glauben. Claude Nicolas Ledoux, der französische Revolutionsarchitekt schlecht- hin, entwarf die Salinenstadt in Chaux. Innerhalb einer perfekten Kreiskontur sind Salinen-und Verwaltungsgebäude sowie eine Wagenremise und diverse Arbeiterhäuser untergebracht. Eine hermetisch geschlossene Arbeitswelt ganz im Sinne des Absolutismus. Betont wird dieses politische System einmal mehr durch die Tatsache, dass in der Mitte der kreisförmigen Anlage das Haus des Direktors thront. Doch das absolutistische Projekt, das Geburt, Arbeit und Tod in eine geometrische Form pressen wollte, ist missglückt. Die erste Hälfte wurde gebaut, die andere wollte dann keiner mehr. Der Halbkreis dient heute als Ausstellungs- und Seminarzentrum.

Reist man in der Architekturgeschichte ein weiteres Mal zwei Jahrhunderte in Richtung Gegenwart, wird einem der wiederholte Beweis erbracht, dass die Menschheit noch immer keines Besseren belehrt wurde. Denn immer noch werden die Pläne aus der Vogelperspektive ausgebrütet, immer noch verliebt man sich in die planerische Ästhetik des Zweidimensionalen. Beispielsweise während der Planungsarbeiten der Großstadt Brasilia. Die Idee einer eigenständigen brasilianischen Hauptstadt gibt es schon seit über hundert Jahren. Doch der endgültige Entwurf geht auf eine gekritzelte Skizze auf einem Stück Papier zurück, das der Stadtplaner Lúcio Costa mit Verspätung der Wettbewerbs-Jury in die Hand drückte. Es war das Jahr 1956. Der „Plano Piloto“ - wie der Grundriss in Form eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln kurzum genannt wird - wurde in planerischer Zusammenarbeit mit Oscar Niemeyer in nur vier Jahren realisiert. 1960 war das Prestigeprojekt der Moderne dann fertig. Zumindest baulich.

Heute leidet Brasilia an katastrophalen demografischen und sozialen Werten. Seitdem das großspurige Kulturdenkmal 1987 in die Unesco-Liste aufgenommen wurde, geht nichts mehr. Der Plano Piloto darf nicht angetastet werden, ein Speckgürtel aus Favelas und Satellitenstädten hat sich rund um die Kapitale angesiedelt. In einem Dokumentarfilm von Jens Dücker heißt es, die brasilianische Normalität habe die Retortenhauptstadt eingeholt. „In alten Städten wirkt eine Atmosphäre aus Geruch und Körperlichkeit. In Brasilia überwiegt das Visuelle.“ Ist das also der nüchterne Siegeszug jener architektonischen Vokabel, die wir Grundriss nennen?

Grundrisse sind nichts anderes als ein Mittel zum Zweck. Sie können funktional sein, sie können soziale Spielregeln determinieren, ja sie können bisweilen sogar ästhetisch sein. Doch letztere Qualität ist eine rein intellektuelle. Denn mit Ausnahme städtischer Freiräume ist die Gesamtform eines Grundrisses niemals mehr rezipierbar - schon gar nicht für einen Laien. Wir wissen, dass die Piazza del Campo in Siena halbkreisförmig ist, dass die Place Vêndome einem Achteck gleicht, und wir wissen nur zu gut, dass es sich beim christlichen Petersplatz um eine symbolische Ellipse handelt.

Doch wer ist schon ernsthaft in der Lage, den Stadtplan von Brasilia durch die reine Begehung zu rekonstruieren? Wer kann das komplexe Gefüge einer barocken Kirche nachzeichnen? Und wer findet sich im Schloss Versailles zurecht?

Wie unwichtig Grundrisse abseits ihrer kommunikativen Funktionalität sind, zeigt sich anhand eines ehemaligen Tempels in der sizilianischen Stadt Siracusa. Im 7. Jahrhundert wurde der griechischen Urform auf brutalste Art und Weise ganz einfach eine Kirche übergestülpt. Eine Art Umbau mit etwas martialischen Spielregeln, die heute - so viel ist sicher - absolut undenkbar wären. Der Experte erkennt im Grundriss gewiss eine Ähnlichkeit, der Laie jedoch verlässt sich auf die optische Erkundungstour durch die zeitlichen Überlagerungen. Und mit Sicherheit - Letzterer wird der Klügere sein.

„Die zentralen Bauten der Architekturgeschichte und -gegenwart sind häufig Gebäudetypen, bei denen die Nutzungsqualitäten hinter den symbolischen Ausdrucksgehalt zurücktreten“, schreibt der deutsche Architekturdenker Riklef Rambow, „zum Beispiel Kirchen, Museen, Konzerthallen und andere Repräsentationsgebäude.“ Was jedoch passiert, wenn die Symbolik überhand nimmt, beschreibt Le Corbusier anhand von Versailles, dem eitlen Projekt von Ludwig XIV.: „Zu Füßen des Thrones legen ihm die Architekten Baupläne in Vogelperspektive nieder, die einer Sternkarte gleichen: ungeheure Achsen, Sterne. Der Sonnenkönig bläht sich vor Stolz, die gigantischen Arbeiten werden ausgeführt.“ Und Le Corbusier lacht sich ins Fäustchen: „Jedoch hat der Mensch nur zwei Augen in 1,70 Meter Höhe über dem Boden, und sie können auf einmal nur einen einzigen Punkt erfassen.“

Der stolze Sonnenkönig ist seiner eigenen Propaganda zum Opfer gefallen. Das Argument mit den zwei Augen ist in der Tat ein hieb- und stichfestes. Selbst die besten Architekten Österreichs werden uns vom Gegenteil nicht überzeugen können. Denn wir nehmen die Welt nicht in Plänen wahr, sondern in unendlichen Blickachsen und verzerrten Perspektiven, in bewegten Bildern und belebten Momenten. Jeder Grundriss ist - sofern er mehr erfüllen möchte als seinen ureigentlichen Zweck des architektonischen Behelfs - nur eine fahle Ästhetik von kurzer Dauer und von geringem Genuss. In diesem Sinne: Liebe Frau S., genießen Sie diese Grundrisse! Denn sie werden die letzten sein, für eine lange, lange Zeit auf dieser Seite.

Der Standard, Fr., 2006.05.26

20. Mai 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Flüchtet vor dem iPod!

Ohne Big Brands würde seine Architektur gar nicht existieren. Doch gleichzeitig führt er Krieg gegen den Kommerz: Eric Owen Moss. Gespräch mit einem Hin- und Hergerissenen.

Ohne Big Brands würde seine Architektur gar nicht existieren. Doch gleichzeitig führt er Krieg gegen den Kommerz: Eric Owen Moss. Gespräch mit einem Hin- und Hergerissenen.

In einem Vortrag sagte er kürzlich: „Los Angeles ist zwar die Stadt der Architekten, aber nicht die Stadt der Architektur.“ Und in der Tat, in der Welt der großen Filmsternchen und der noch größeren Konzerne zu bauen gehört in der Branche der Raumträumer mittlerweile zum guten Ton. Nicht wenige Architekten beugen sich diesem reputationskapitalistischen Diktat.

Architekt Eric Owen Moss ist so einer. Selbst in Los Angeles geboren, wütet er heute quer durch die Stadt (und auch durch viele andere Städte) und baut für langjährige und treue Bauherren ein Bauwerk nach dem anderen. Zu den Auserwählten gehören betuchte Privatkunden, Museumsbetreiber und Fakultäten, vor allem aber Big Brands wie beispielsweise Kodak oder Sony. Und dennoch: Das Leben in L.A. ist hart. Auch für EOM - wie sich der dreinamige Architekt gerne selbst bezeichnet.

Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb unter einigen anderen ausgerechnet auch EOM als Vortragender für die Post-Graduate-Lehrgänge an die Universität für angewandte Kunst eingeladen wurde? Unter dem Titel „Urban Strategies“ können die hiesigen Studenten für die Dauer von drei Semestern auf ihren späteren Job in den brutalen Mühlen vorbereitet werden. DER STANDARD hat Eric Owen vors Mikrofon gebeten: Wie kann man vom Kapitalismus profitieren? Gibt es noch Visionen im abgekarteten Global Commerce? Und wie lebt es sich überhaupt in der iPod-Generation?

STANDARD: Der Name Eric Owen Moss fällt oft in Verbindung mit großen US-Unternehmen. Sind Sie ein Architekt des Brandings und der Marktwirtschaft?
Eric Owen Moss: Allein schon ein Blick auf die Architekturszene zeigt die wahren Verhältnisse: iPod, Nokia, Motorola oder Kodak. Auf der einen Seite gibt es den iPod-Architekten, auf der anderen Seite gibt es den Motorola-Architekten. Und für mich gilt: Schaut her, ich habe meine Handschrift bei Kodak hinterlassen! Es ist cool, sich mit einer Marke schmücken zu können. Kids machen das auf ihren Sweatern und Schuhen, Architekten machen das in ihrem Werkverzeichnis. Und die Presse springt ihnen wohlwollend hinterher. Nein, ich mag Branding nicht, ich finde Branding sogar schrecklich. „War on Terror“ - das ist ein Brand. Solche Markennamen sind in meinen Augen sehr gefährlich. Aber wahrscheinlich unterstütze ich sie insofern, als ich dieses System nicht boykottiere. Schließlich ist Architektur mein Job.

Die Projekte für Ihren langjährigen Bauherrn Frederick Samitaur Smith sind in Peter Noevers Buch „Visionary Clients for New Architecture“ vertreten. Verlangt Ihre Architektur nach visionären Auftraggebern?
Moss: Keine Ahnung. Es wäre leicht, jetzt ganz einfach Ja zu sagen. Aber das macht uns beide wahrscheinlich nicht glücklich. Daher hole ich aus und frage zurück: Was bedeutet visionär? Derzeit heißt es in Amerika, das Land sei voller Visionen, und man spricht vom so genannten „New Urbanism“. Soll ich Ihnen was sagen? Der so cool beworbene New Urbanism ist purer Nonsens! Da hat man ganz einfach nur einen hübschen Begriff verwendet, um endlich einmal von der nicht enden wollenden Ausbreitung der Suburbs abzulenken. Die Suburbanisierung hat in Amerika niemand mehr im Griff, sie breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür. New Urbanism - ha! Und gleichzeitig stirbt eine historische Stadt wie New Orleans. Diese Stadt ist von den Vereinigten Staaten ganz einfach aufgegeben, verlassen, vergessen worden.

Sehen Sie in einem so treuen Bauherren wie Smith so etwas wie die Rolle eines Mäzens?
Moss: Wenn man für Smith arbeitet, dann arbeitet man gleichzeitig erstens für viele Menschen und zweitens bereits für die Presse. Und wenn Sie von Smith sprechen, dann können Sie auch gleich von Sony, AOL, Nike oder Kodak sprechen. Das erklärt vieles. Smith ist ein gutes Beispiel für einen Unternehmer, der Markenarchitektur einkauft, so wie andere Jeans kaufen. Aber ich weiß nicht, ob Smith ein Mäzen im klassischen Sinne ist, denn er profitiert vom Architekten in ähnlicher Weise, wie der Architekt von ihm profitiert. Was er betreibt, ist Architektur mit einem Etikett - das Label ist stets gut ersichtlich.

Sie werden schwach gegenüber Ihren persönlichen Prinzipien?
Moss: Ich denke, dass Architekten grundsätzlich immer schwach sind. Sie versuchen permanent, auf irgendeinen Zug aufzuspringen. Hier ist die Rede von Metabolismus, was eigentlich den Stoffwechsel bezeichnet. Da ist die Rede von Dekonstruktivismus, was eigentlich eine literarische Bewegung rund um Jacques Derrida und um seine Gesinnungsgenossen ist. Und dort spricht man wiederum von der Postmoderne, und diese ist in erster Linie eine philosophische Sichtweise auf das Leben. Sie sehen: Technik, Literatur, Philosophie, Politik und Biologie - sie alle geben den Ton an und rennen der Architektur schnurstracks davon! Vielerorts ist es einfach nur ein ganz eigenartiges Hinterherhecheln, was die Architekten so betreiben und glauben, erfunden und entdeckt zu haben. Man schnappt eine Idee auf und kommt eigentlich sehr bequem an sein Ziel.

Wie bequem ist das Leben eines Eric Owen Moss?
Moss: Es ist schon ein eigenartiges Leben als Eric Owen Moss. Heute hier, morgen dort. Man schwirrt durch die Weltgeschichte, hält jeden zweiten Tag einen Vortrag, jeden dritten Tag bläst man sich auf und verhandelt mit Kunden. Es ist ein Leben zwischen First Class und Business Class. Dieses kosmopolitische Leben birgt eine große Gefahr, mitunter verliert man leicht den Boden unter den Füßen. Denn wenn man ständig an vielen Orten gleichzeitig arbeitet und an jedem dieser Orte neu ist, neigt man sehr leicht dazu, redundant zu werden und sich nur noch selbst zu zitieren. Sie erzählen und bauen immer das Gleiche, Sie reproduzieren nur noch, doch das Publikum ist fortan begeistert. Der Einzige, der irgendwann aufhört weiterzulernen und sich weiterzuentwickeln, sind Sie! Es kostet mich viel Energie, dieser Spirale nicht zu verfallen.

Eric Owen Moss ist den Leuten ein Begriff. Welche Auswirkung hat Ihre Bekanntheit auf die Arbeitsweise? Das Risiko zu enttäuschen wird in dünner Luft immer höher.
Moss: Alle wollen immer nur wissen: What's next? Es geht niemanden etwas an, was als Nächstes kommt. Und daher nehme ich auch keine Rücksicht darauf. Es ist mir egal, wenn ich jemanden enttäusche. Viel wichtiger ist mir, nicht mich selbst zu enttäuschen. Wie ich gerade gesagt habe - das Traurigste überhaupt ist, wenn man beginnt, sich selbst zu zitieren. Also weg mit den Erwartungshaltungen!

Wie machen Sie Ihren Studenten klar, dass sie sich von diesen Erwartungshaltungen distanzieren sollen?
Moss: Man muss höllisch aufpassen, dass man nicht in diese gähnend langweiligen, intellektuellen Diskussionen verfällt, denn sie bringen nichts. Ganz im Gegenteil, Sie müssen Studenten wachrütteln und sie anschreien, damit sie aus ihrem iPod-Schlaf endlich aufwachen! Alle rennen mit diesen weißen Stöpseln im Ohr herum, sind am Handy festgekettet und laptoppen im Stehen und Gehen. Das sind Abonnenten des puren Kapitalismus! Ich sage Ihnen einmal etwas aus meinem ganz verklärten, historistischen US-Blickwinkel auf diese Stadt Wien, die auch schon längst vom Starbucks-Geschwür aufgefressen ist: Wien ist mittlerweile so eine bequeme Großstadt geworden wie jede andere Stadt auf der Welt auch. Sie ist brav und fett geworden. Peter Noever war einst ein gefährlicher Mann, und das wäre er gerne immer noch. Doch das war einmal. Man muss endlich wieder alles daran setzen, dass die Zukunft von diesem geschichtsträchtigen Raum zwischen Wien und Bratislava nicht einzig und allein auf Kommerz basiert. Wenn es nicht gelingt, wieder kritische - also wientypische - Perspektiven zu gewinnen, dann wird diese Stadt nie wieder einen Freud oder Wittgenstein hervorbringen. Das Rezept lautet also: Flüchtet aus dem System, wenn ihr erfolgreiche Architekten werden wollt!

Der Standard, Sa., 2006.05.20



verknüpfte Akteure
Moss Eric Owen

22. April 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Wie redet man mit einem Dorf?

Architekten wissen alles, haben immer schon alles gewusst. Doch nun gibt es die Idee, mit Sack und Pack vor Ort zu fahren - und dort gemeinsam mit der Bevölkerung zu planen. Architektur live sozu- sagen.

Architekten wissen alles, haben immer schon alles gewusst. Doch nun gibt es die Idee, mit Sack und Pack vor Ort zu fahren - und dort gemeinsam mit der Bevölkerung zu planen. Architektur live sozu- sagen.

Molln? Molln! Während man hinter dem Wort auf den ersten Blick einen lautmalerischen Klang aus weit geöffnetem Munde vermuten möchte, entspringt daraus ein kleines, aber feines Dorf irgendwo in der Mitte von Oberösterreich. Den eingefleischten Musikfans ist Molln längst schon ein Begriff, denn schließlich fand hier 1998 das „3. Internationale Maultrommel-Festival“ statt. An die 4000 Maultrommler aus aller Welt haben damals den Weg nach Molln gefunden, um hier - wie man es bereits bei den ersten beiden Malen in Iowa City und im sibirischen Jakutsk gemacht hatte - um die Wette Maul zu trommeln. Doch auch das ist nicht weiter verwunderlich, denn schließlich ist Molln der einzige Ort Österreichs, in dem noch die metallenen Schwing- instrumente - auch Brummeisen genannt - hergestellt werden. Jährlich 300.000 Stück, und das sogar in drei Werken gleichzeitig.

Ansonsten wurde hier auch noch Mel Gibsons Schwert für den Hollywood-Schinken Braveheart geschmiedet. Und: Molln ist seit dem Jahre 2000 offizielle Nationalparkgemeinde mit einem feschen Nationalparkzentrum. Doch mit Superlativen allein kann man nicht leben. Und so ist - am Rande aller Sensationen und Skurrilitäten - Molln ein ganz normaler Ort, wie man ihn in Österreich des Öfteren vorfindet. Mit ganz normalen Problemen und städtebaulichen und architektonischen Wehwehen.

Der Hauptplatz - sofern man die geometrische Mitte des Ortes als solchen bezeichnen kann - wirkt ein wenig unbeholfen und gammelt vor sich hin. In der Mitte steht ganz stolz ein mannshohes Maultrommel-Denkmal aus Bronze und Stein (so wie man das von großen Musikern kennt), rundherum halten ein paar schmucke Blumentröge die Stellung. An der Fassade des Gemeindezentrums ist ein hübsches 50er-Jahre-Relief zu finden, hinter Ruß und Staubpartikel ein bisschen altersschwach vergraut. Daneben prangt die Aufschrift: „Wir formen und verwalten, richten wird der Herr.“

So lange wollte man dann aber auch nicht warten. Denn vor lauter Verwaltungskram ist in den vergangenen Jahren nichts mehr weitergegangen. „Es hat schon viele Konzepte und Ideen gegeben“, erklärt der Vizebürgermeister Josef Illecker, doch bis jetzt habe es immer an den essenziellen Kräften von außen gemangelt, um diese Ideen dann auch wirklich umzusetzen. „Molln ist wirtschaftlich extrem stark und befindet sich am Rande des Nationalparks. Nun ist uns endlich klar geworden, dass wir aus unserem Potenzial auch etwas machen müssen.“

Die Lösung lautet Partizipation. Zwar ist die Teilhabe von Laien an einem architektonischen Planungsprozess längst nichts Neues mehr, doch in dieser Form ist die Zusammenarbeit ein österreichweites Novum. Haben Eilfried Huth und Ottokar Uhl - die Urahnen des Mitmachens - in den 70er-Jahren noch mit den wenigen Eigentümern ihrer Wohnhausanlagen gebastelt und geschachtelt, so kommt hier gleich eine ganze Gemeinde zum Zug. Das waghalsige Kommunal-Konzept stammt vom Architekturbüro noncon:form und stellt einmal mehr unter Beweis, wie treu die Architekten Elisabeth Leitner, Caren Ohrhallinger, Peter Nageler und Roland Gruber ihrem programmatischen Büronamen geblieben sind.

Das Programm ist ganz einfach. Und ganz schön riskant. „Wir packen Computer, Drucker und Papier ins Auto und fahren damit direkt vor Ort“, erzählt Elisabeth Leitner im Sendeformat „Metro“ auf Puls-TV. Auf diese Weise wird direkt mit der Bevölkerung Kontakt aufgenommen, Meinungen werden gehört, Pläne werden geschmiedet. Und das Ganze, ohne permanent von Pontius zu Pilatus und wieder zurückzufahren. Roland Gruber: „Die Bevölkerung äußert einen Wunsch, wir machen daraus eine Idee. Die Bevölkerung sagt uns daraufhin ihre Meinung, und wir können gleich vor Ort darauf reagieren.“ It's just as simple. Daher auch der Projektname „noncon:form vor Ort“.

„Uns war wichtig, so viele Bewohner wie möglich in den Prozess einzubinden“, erzählt Bürgermeister Alois Stein, „es ist schön, ein Architekturbüro gefunden zu haben, das die gleichen Interessen vertritt.“ Und an die Meinung der Bevölkerung kommt nur heran, wer auch imstande ist, einen Dialog im Maßstab 1:1 herzustellen. Der Architekturjargon wurde also in Wien gelassen, und statt der minimalistischen, hauseigenen Architektengrafik regierte einige Tage lang die regionale Excel-Kunst. Weg von allzu cooler Technologie, stattdessen Flip-Chart, Edding und Post-it. Hier lassen sich Architekten tagelang von Fremden auf die Finger schauen, ganz nebenbei decken sie - recht uneitel eigentlich - ein wohl gehütetes Firmengeheimnis auf.

Vier Tage lang wurde in großen und kleinen Gruppen diskutiert, braingestormt, gestritten und erfunden. „Open Space“ nennt sich die ursprünglich amerikanische Ideenfindungsstrategie; hier wurde das befremdliche Wort kurzerhand in „Stammtisch“ umgetauft. Insgesamt 250 Einwohner nahmen an diesen Stammtischen teil. Darüber hinaus gab es zwischendurch Expertenrunden, Gastvorträge, Impulsreferate und viele vage Antworten auf viele konkrete Fragen.

Am letzten Tag dann der Tag der Wahrheit: Molln hat seine Stimme abgegeben.

Die hohe Kunst der Demokratie bedingt, dass sich nicht alle Parteien mit der getroffenen Wahl identifizieren können. Aber eben die meisten. Und damit bietet dieses Planungsmodell all jene Vorteile, die einer architektonischen Planung im stillen Kämmerlein stets verwehrt bleiben. „Studien, Masterpläne und Entwicklungskonzepte arbeiten meist nur mit Plänen und Texten“, erklärt Roland Gruber, „hier haben wir jedoch mit Bildern gearbeitet.“ Die Bilder sind zwar abstrakt, gleichzeitig aber sind sie konkret genug, sodass sich darunter jeder etwas vorstellen konnte.

Gewiss, in dieser einen Woche ist weder ein Haus aus der Taufe gehoben worden, noch gibt es bereits konkrete Pläne für die Zukunft von Molln. Sehr wohl aber sind in dieser Woche Ideen gebündelt worden. Kleinere Projekte sind geboren, Leute haben ihren Verantwortungsbereich erkannt. „Nach der Schlussabstimmung haben sich sofort fünf Leute gefunden, die sich bereit erklärt haben, die Verantwortung für kleinere Projekte zu übernehmen“, erklärt noncon:form dem STANDARD gegenüber, „das ist gebündelte Energie. Man kann sich engagieren und einbringen, und man muss den Mund aufmachen. Ansonsten ist der Zug abgefahren.“

Ein Tag mit „noncon:form vor Ort“ kostet 5000 Euro, Vorträge und Gastredner inklusive. Die tatsächliche Dauer ist abhängig vom jeweiligen Auftraggeber - ob öffentliche Hand, Wirtschaft oder Privatbauherr. Im Falle von Molln waren das vier Tage, denn „so lange braucht es bei einer Gemeinde schon“. Nach Adam Riese ergibt das eine stolze Summe. Architekt Peter Nageler: „Das Entwicklungskonzept eines Raumplaners vertilgt mindestens das Zehnfache. Und dann besteht noch die Möglichkeit einer Ablehnung seitens der Bevölkerung.“ Außerdem erspare man sich den bürokratisch aufwändigen Weg über den Gemeinderat. Und Zeit spart es natürlich auch, denn wo sonst lässt sich binnen vier Tagen ein Leitkonzept entwickeln, mit dem sich die Bevölkerung dann auch identifizieren kann?

„Nun gibt es eine Richtungsweisung, wir sind mit dem Prozess und mit der getroffenen Vorgangsweise sehr zufrieden“, vernimmt man von Vizebürgermeister Illecker, „der Rest liegt nun an uns. Erkennen wir diesen Schritt als Chance?“ Diese Chance kann heißen, das hart erarbeitete Wissen und Wollen als Basis für Ausschreibungen und Wettbewerbe zu verwenden. Sie kann aber auch heißen, im kleineren Rahmen nun selbst anzupacken.

Am letzten Tag gibt es Feedback seitens der Bevölkerung. „Ich möchte mich für die Tage bedanken. Es wurden Dinge aufgezeigt, die eigentlich selbstverständlich sein müssten. Anscheinend wird man im Laufe der Jahre betriebsblind und erkennt die eigenen Qualitäten nicht mehr.“ Ein Blick von außen kann eben Wunder wirken. Mit diesem Ansatz ist es dem Büro noncon:form gelungen, endlich eine Marktlücke zu schließen. Denn Architektur bedeutet nicht nur, Häuser zu bauen, sondern auch zu stimulieren, motivieren und zuhören. Selbst wenn das Gegenüber gleich ein ganzes Dorf ist.

Der Standard, Sa., 2006.04.22



verknüpfte Akteure
nonconform

15. April 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Nur kein zweites Graz!

Linz an der Donau befindet sich vollends im Kulturhauptstadt-Fieber. Einige architektonische Mammut-Projekte geleiten ins Event-Jahr 2009 - wenngleich auf wackeligen Beinen.

Linz an der Donau befindet sich vollends im Kulturhauptstadt-Fieber. Einige architektonische Mammut-Projekte geleiten ins Event-Jahr 2009 - wenngleich auf wackeligen Beinen.

Graz durfte alles. Und nun darf natürlich auch Linz alles. Wer hätte das gedacht, nicht wahr? Zugegeben, es ist schon recht eigenartig, dass justament ein Land mit acht Millionen Einwohnern innerhalb von wenigen Jahren gleich zwei europäische Kulturhauptstädte aus dem Ärmel schüttelt. Denn schließlich ist der zahlreiche Rest von Europa auch nicht zu vernachlässigen.

Warum gerade Linz? Ähnlich, wie man am Grazer Kulturstadt-Krönchen gute 15 Jahre gewerkelt hatte, kam auch die Linzer Idee bereits in den Neunzigerjahren zustande. „1998 hatte Linz den Auftrag, den europäischen Kulturmonat auszurichten“, erklärt Erich Watzl, Vizebürgermeister und Kulturreferent der Stadt Linz, „das war ein erster Probegalopp, ob sich denn Linz auch tatsächlich im Kunst- und Kulturbereich etablieren könne.“

Das konnte es ganz offensichtlich. Am 14. November 2005 erfolgt der endgültige Beschluss seitens der europäischen Kulturminister: Linz wird Kulturhauptstadt 2009. Wer hätte das gedacht? Nicht jedenfalls der Spiegel-Redakteur Wolfgang Höbel, der Linz unlängst als den „Arsch der Welt“ bezeichnet hatte. Linz sei demnach „die Ghetto-Stadt Österreichs, das Härteste, was Österreich zu bieten hat“. SP-Bürgermeister Franz Dobusch ist vergrämt, dennoch: Das halte Linz schon aus. Also noch einmal, warum gerade Linz? „Vor 25 Jahren hat es hier noch Ruß herabgeschneit“, erklärt der 2009-Intendant Martin Heller auf Anfrage des STANDARD, „seitdem hat sich in dieser Stadt viel getan.“ Linz befinde sich heute im allmählichen Wandel zu einer postindustriellen Stadt. Im Klartext heißt das: Tradierte Kultur und Repräsentation im Bereich der Kunst seien bei Weitem nicht so ausgeprägt wie in einigen anderen österreichischen Städten, daher herrsche in Linz eine sehr offene und unvoreingenommene Stimmung.

Das sind doch schon gute Bedingungen für 2009. Und da so ein Kulturstadt-Etikett nicht nur den Tourismus ankurbelt, sondern auch die Bauwirtschaft, hat sich der STANDARD ein wenig umgesehen und fasst nun zusammen, was vor und nach 2009 alles zu erwarten ist.

Die Geschichte um das Musiktheater Linz, dessen vorläufiger Ausgang vorletzte Woche präsentiert wurde, reicht schon knappe 30 Jahre zurück. LIVA-Chef Horst Stadlmayr forderte bereits im Jahre 1977 ein Opernhaus für Linz. Ein geeignetes Platzerl hatte es zwar schon gegeben, doch bis zum ersten Standort-Clinch verging nicht allzu viel Zeit. 1998 schließlich wurde ein zweistufiger Wettbewerb ausgeschrieben, aus dem Architekt Otto Häuselmayer als Sieger hervorgegangen war. Doch Blau sei Dank kam wieder einmal alles anders, die FPÖ trommelte mit medialer Unterstützung der Kronen Zeitung zu einer Volksbefragung zusammen. Das ablehnende Ergebnis - knapp 60 Prozent stimmten am 25. November 2000 mit Nein - war zwar nicht bindend, nichtsdestoweniger senkte ein Politiker nach dem anderen sein Haupt und ließ blaubürokratisches Treiben walten. Nach Auskunft von Architekt Häuselmayer wurden mit dem Veto - das Opernhaus befand sich bereits in Planung - rund 18 Millionen Euro in den Wind geschossen.

Ein neuer Anlauf, ein neuer Wettbewerb. Am 5. April entschied sich die Jury unter Vorsitz von Carlo Baumschlager für das schlichte Projekt des britischen Architekten Terry Pawson. „Wir haben nach einem Projekt gesucht, das nicht nur ein Theater ist, sondern auch städtebauliche Qualitäten aufweist und auf den benachbarten Volksgarten eingeht“, erklärt Baumschlager. 900 Sitzplätze wird das neue Opernhaus fassen, eine Garage ist im Konzept ebenfalls inbegriffen. Die Baukosten belaufen sich auf rund 143 Millionen Euro. Mit einer Fertigstellung bis zum Hauptstadtjahr ist jedenfalls nicht zu rechnen.

Wäre die FPÖ für ein Statement zur Verfügung gestanden, hätte man sie fragen können, wie sie nun dazu steht, dass ein paar Jahre zuvor ein Opernprojekt für rund 110 Millionen Euro wie eine heiße Kartoffel wieder fallen gelassen wurde. Kalkuliert man die damals sinnlos entstandenen Planungskosten mit ein, schlägt sich das aktuelle Verfahren mit rund 50 Millionen Mehrkosten zu Buche. Wenn man sich schon mit Sparefroh-Federn schmücken möchte, ist dies alles in allem nicht unbedingt die wirtschaftlichste Methode, mit Steuergeldern zu hantieren.

Baumschlager: „Wir hätten den Vorzug lieber einem außergewöhnlicheren Projekt gegeben. Aber es ist nun einmal die Aufgabe der Jury, auch die politische Umsetzbarkeit zu bedenken.“ Hätte der Aufsehen erregende Turm von Wolfgang Tschapeller gewonnen, würde man ein weiteres Mal Gefahr laufen, dass sich das politische Szenario von 2000 wiederholen könnte.

Was für 2009 ebenfalls auf etwas wackeligen Beinen steht, ist der Schlosszubau (Baukosten 24 Millionen Euro). Zwar soll laut oberösterreichischem Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) in den kommenden Wochen die Ausschreibung für den Architekturwettbewerb abgeschlossen sein. Doch wenn man - durch Wettbewerbs-Erfahrungen geläutert - kurz die nötigen Zeitspannen zusammenzählt, kann sich eine Fertigstellung bis 2009 wohl kaum ausgehen.

Hinzu kommt, dass das zukünftige Bauareal bis November heurigen Jahres noch von ein paar Archäologen durchkämmt werden soll. „Das gesamte Schlossareal war durch alle Zeiten ein wichtiges Siedlungsgebiet“, erzählt Museumsdirektor Peter Assmann, „wir sind gespannt, was die Archäologen in den nächsten Monaten freilegen werden.“ Na denn!

Und wie steht es um die Erweiterung des Ars Electronica Centers? Den Wettbewerb hat gegen 37 internationale Mitbewerber der Wiener Architekt Andreas Treusch gewonnen. Damit das neue AEC (6500 statt bisher 2500 Quadratmeter) rechtzeitig zur europäischen Kulturhauptstadt fertig wird, müsste der Baubeginn für die 26 Millionen teure Erweiterung noch kommendes Jahr erfolgen. Die neue Form am Linzer Donauufer wird das bisherige AEC verschlucken, was ja an sich keinen großen optischen Verlust darstellt. Ganz im Gegenteil, „der Leitgedanke des Entwurfs ist die Ausbildung eines skulpturalen Gebäudes, dessen Struktur begehbar und somit erlebbar ist“, kommentiert Treusch seinen Entwurf, „die kristalline Form bildet in ihrer Umgebung ein homogenes Ensemble und eine Landmark.“

Über ein mögliches Planetarium (14 Millionen Euro) und über das zukünftige Outfit der Pöstlingbergbahn (mindestens drei Millionen Euro) ist man sich politisch noch nicht einig. Daher endet der Linzer Spaziergang vorerst einmal in der Nähe des neuen Hauptbahnhofs. Hier ist in den vergangenen Monaten bereits der so genannte Wissensturm der Linzer Architekten Franz Kneidinger und Heinz Stögmüller in die Höhe geschossen. Eine euphorische Architekturdiskussion wird das im Auftrag der Stadtbibliothek errichtete Gebäude wohl nicht vom Zaun brechen, aber immerhin: Dieses Gebäude befindet sich nicht nur in Planung, sondern bereits in Bau (Baukosten 28 Millionen Euro). Die Eröffnung des öffentlichen Bildungshauses ist für Herbst 2007 vorgesehen.

Die Summe all dieser Projekte beläuft sich auf rund 240 Millionen Euro. Das ist ziemlich genau das Sechsfache jener Kosten, die für die Abwicklung des eigentlichen Hauptstadt-Events 2009 zur Verfügung stehen (vergleiche Graz 2003: 55 Millionen Euro).

Intendant Martin Heller setzt auf Nachhaltigkeit: „In der Planung und Konzeption ist für uns das Jahr 2010 genauso wichtig wie das Jahr 2009.“ Der kulturelle Eingriff in die Stadt müsse nach Ende der einjährigen Frist weiterhin spürbar bleiben. „Nachhaltigkeitsfragen werden bei derartigen Kunst-Events zwar oft diskutiert, aber an die Radikalität von Linz 2009 kommt so rasch kein anderer heran.“

Rund 120 unterschiedliche Kunstprojekte sind für das Kulturhauptstadt-Jahr geplant. Und fest steht: „Linz darf nur kein zweites Graz werden.“ Die Chancen, die hechelnde Kurzatmigkeit von Graz 2003 nicht zu wiederholen, stehen gut. Gleiches kann man von den architektonischen Gegebenheiten, die den Rahmen der Kulturhauptstadt 2009 bilden werden, indes nicht behaupten.

Der Standard, Sa., 2006.04.15

08. April 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Alles, was glänzt, ist Gold

Der Bauherr befiehlt, der Planer führt aus. Dieses klassische Bild der Rollenverteilung hat zeitgemäße Alternativen gefunden, indem etwa Architektur und Development in Symbiose treten. Ein erster Eindruck von „Archilopern“ und „Develekten“, gewonnen in Graz.

Der Bauherr befiehlt, der Planer führt aus. Dieses klassische Bild der Rollenverteilung hat zeitgemäße Alternativen gefunden, indem etwa Architektur und Development in Symbiose treten. Ein erster Eindruck von „Archilopern“ und „Develekten“, gewonnen in Graz.

„Architektur muss brennen“, haben die Enfants terribles von Coop Himmelb(l)au im Jahr 1980 hinausgeschrien. Und selbst heute noch vernimmt man aus der Architekturszene immer wieder, Architektur müsse fliegen, Architektur müsse dematerialisiert werden - mit einem Wort: müsse geil sein. Das wollen wir doch alle, oder?

Tatsache ist, dass gerade Österreich zu jenen Ländern zählt, in denen das Wohneigentum so langweilig ist wie sonst wo. Kaum geht es um die eigenen vier Wände, finden wir zu unseren konservati- ven Grundzügen zurück. Die Nachfrage bestimmt das Angebot, und dieses zwingt sowohl den Developer als auch den Architekten zu einem Kniefall vor dem Phänomen 08/15.

Das Grazer Architekturbüro Innocad hat sich dieser Schraube entzogen und das Projekt der Träume allein aus der Taufe gehoben. „Die Baulücke in der Grazer Altstadt hat uns schon während des Studiums interessiert“, erklärt Architekt Martin Lesjak, „eines Tages haben wir dann beschlossen, uns dem Risiko zu stellen und die Projektentwicklung selbst in die Hand zu nehmen.“ Im Klartext heißt das, die Abklärung sämtlicher Rahmenbedingungen, der Grundstücksverkauf, die Planung und der Bau bis hin zur Bewerbung sind zur Gänze im Verantwortungsbereich der Architekten geblieben.

Güldene Goldgrube?

„So ein Projekt funktioniert nur über Fremdfinanzierung - die Prozesse sind sehr heikel, und alles in allem bleibt es ein Experiment“, so Lesjak, „und zwar bis zur letzten Minute, bis dann alle Wohnungen verkauft waren.“ Drei Büroeinheiten und fünf Wohnungen sind in dem treffend „Golden Nugget“ getauften Gebäude untergebracht. Alle Wohnungen sind bereits verkauft, im Schnitt hat sich der Verkaufspreis bei rund 2600 Euro pro Quadratmeter eingependelt. Und, hat sich das Golden Nugget als Goldgrube herausgestellt? „Das kann man heute noch nicht sagen, denn die Immobilie wird erst in etwa zwanzig Jahren vollkommen fertigfinanziert sein.“

Das straßenseitig ebenerdige Büro haben die Innocad-Architekten selbst bezogen. Und damit finden sie sich in der glücklichen Situation wieder, nicht nur das Büro, sondern gleich das ganze Haus als Visitenkarte an die Kundschaft bringen zu können. Jedem Grazer ist das Golden Nugget längst schon ein Begriff - und wahrlich: Unauffällig ist das glamourös glitzernde Goldstück in der Grazbachgasse in der Tat nicht. Lesjak: „Gold ist unsere CI-Farbe.“ Denn: „Wir müssen an diesem Standort - am Rande des so genannten Scherbenviertels - mit einem sehr starken Image reagieren.“

Was Innocad in den vergangenen Jahren entwickelt hat, folgt einem Modell, das es in Deutschland seit einem guten Jahrzehnt gibt. Architekt Wolfram Popp ist bereits in den Neunzigerjahren als Developer aufgetreten und hat die allgemeine Auffassung widerlegt, dass es im Wohnbereich nichts mehr zu entwickeln gebe. Sein Estradenhaus in der Berliner Choriner Straße ist der Beweis dafür, dass ein Architekt mehr sein kann als nur ein Architekt. Das loftartige Innenraumkonzept ist mit seinen wenigen Klappschiebewänden radikal - wer weiß, ob ein Bauherr auf diesen Zug aufgesprungen wäre.

Nische für Architekten

Was ist der Grund für diese umfassende Geschäftserweiterung? „Einerseits ist das Phänomen auf die schwindende Auftragslage in Deutschland zurückzuführen, andererseits auch auf den Überschuss an Architekten“, erklärt Olaf Bahner vom Bund deutscher Architekten. Deutschland, Italien und Spanien weisen die größte Architektendichte innerhalb der EU auf, und so haben sich einige mutige Architekten eine Marktnische gesucht.

Keine Rücksicht auf den Bauherrn nehmen zu müssen - ist das wirklich das Paradies? Bahner: „Alles tun und lassen zu können - das sehe ich gar nicht so. Denn auch der Architekt muss auf die Marktsituation reagieren und Rücksicht nehmen, andernfalls bleibt er auf seiner Immobilie sitzen.“

Der Standard, Sa., 2006.04.08



verknüpfte Akteure
INNOCAD

02. April 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Dachlandschaft für Esterházys Erben

Aufstockungen sind ein heikles Thema. Doch selbst wenn der Denkmalschutz das Gebäude unter einen Glassturz stellt und vis-à-vis justament das Schloss Esterházy thront, kann man mit dem Bundesdenkmalamt als Partner Modernes tun, wie sich in Eisenstadt zeigt.

Aufstockungen sind ein heikles Thema. Doch selbst wenn der Denkmalschutz das Gebäude unter einen Glassturz stellt und vis-à-vis justament das Schloss Esterházy thront, kann man mit dem Bundesdenkmalamt als Partner Modernes tun, wie sich in Eisenstadt zeigt.

Hier sei die Geschichte eines Projekts erzählt, in dem Bauherr, Architektur und Bundesdenkmalamt einen schönen und richtungweisenden Konsens gefunden haben. Die Rede ist vom neuen, wiewohl denkmalgeschützten Hauptsitz der Esterházy-Betriebe in Eisenstadt, geplant und umgesetzt vom Wiener Architekturbüro Pichler & Traupmann. Wo bis vor Kurzem noch ein unscheinbares Kupferdach das ehemalige Quartier der Hauptwache abgedeckt hatte, wurde nun vis-à-vis vom barocken Schlosskoloss Esterházy eine eigenwillig geknickte Dachlandschaft geschaffen.

„Dachlandschaft“ - wird mancher jetzt seufzen - schon wieder so ein vertracktes Architektenwort! Doch in diesem Falle ist das Bild berechtigt. Denn da oben geht es drunter und drüber. Was sich nach außen als Kupferkappe über dem alten Trakt aus dem Jahre 1790 tarnt, birgt im Innern die Immobiliendirektion der Esterházy-Betriebe GmbH.

„Ursprünglich sind wir an die Bauaufgabe sehr konservativ herangegangen“, erzählt Architekt Christoph Pichler, „doch weder wir noch die Behörden hatten Freude mit dem Entwurf.“ Aus dem ersten Scheitern wurde dann ein zweiter Anlauf unter dem Motto „Was würden wir ohne Denkmalschutz machen?“ Das Resultat ist heute zu begutachten: Eine massiv erscheinende Kupferplatte, die von unten von ungeahnten Kräften aufgebrochen scheint. Von der Straße kaum auszumachen, doch ein Hauch des Dekonstruktivistischen lässt sich nicht von der Hand weisen.

Was von bösen Blicken als architektonische Spinnerei abgetan werden könnte, stellt sich schon bald als Sonnen-Reich heraus. Je nach Standort im etwa 60 Meter langen und zehn Meter breiten Dachgeschoß dringt das Tageslicht mal als Streiflicht aus Norden, mal als direktes Hallo aus dem Süden in die Innenräume.

Und auch diese sind im modernen Jargon ausgedrückt, was so viel bedeutet wie offen, offen, offen. Lediglich ein paar Glaswände trennen die unterschiedlichen Zonen voneinander. Die WC-Gruppen und Teeküchen sind in kompakten Boxen untergebracht und kaum zu verfehlen, denn bei den tiefroten Einbauten aus Holzfaserplatten handelt es sich um die einzige Farbgeste. Zu einer der beiden Sanitärboxen führt sogar eine Wendeltreppe hinauf und erschließt ein kleines Refugium.

Fragt sich nur: Wo blieb die Strenge des Bundesdenkmalamtes? „Die Zusammenarbeit hat gut funktioniert“, erzählt Stefan Ottrubay, Generaldirektor der Esterházy Betriebe GmbH und der Esterházy Privatstiftung. „Beim Landeskonservator hatten wir das Gefühl, er sei schon auf die Baustelle gezogen, so viel Zeit hat er hier verbracht.“

Unterm Strich ist der Sitz der Esterházy-Betriebe ein Aushängeschild ganz im Sinne der Unternehmens-Philosophie. Denn auch für die anderen 30 historischen Immobilien, die sich im Besitz der burgenländischen Dynastie befinden, gilt: „Der historische Geist soll erhalten bleiben. Wo das nicht möglich ist, muss man mit neuen Mitteln antworten“, so Ottrubay.

So einfach ist es also, das burgenländische Aufstockungsrezept. Könnte man sich im zwangsbeerbten und weltkulturellen Wien vielleicht ein Scheibchen davon abschneiden?

Der Standard, So., 2006.04.02



verknüpfte Bauwerke
Esterhazy Büros

01. April 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn die Zukunft an den Wolken kratzt

Historische und futuristische Eindrücke vom letzten Architektur- congress in Münster. Undein Gespräch mit dem hoch hinausblickenden Leslie E. Robertson, dem Vater vieler Häuser

Historische und futuristische Eindrücke vom letzten Architektur- congress in Münster. Undein Gespräch mit dem hoch hinausblickenden Leslie E. Robertson, dem Vater vieler Häuser

Vergangenes Wochenende ging in Münster der SFT-Architekturcongress zu Ende. Geredet wurde drei Tage lang über visionäre Architektur, über Innovationen in der Baubranche, vor allem aber über die Zukunft unserer Städte. Höhepunkt der architektonischen Diskussion war ein romantisches und ebenso hochkarätig besetztes Kamingespräch im Rittersaal des kleinen Schlösschens Wilkinghege am Rande der Stadt. Internationale Kapazunder von Kengo Kuma bis Eric Owen Moss teilten sich Wein und Wort, um einer möglichen Lösung unserer unmöglichen Situation näher zu kommen. Hier schrumpft die Erdbevöl- kerung, dort wuchert sie, hier lebt es sich vorbildlich, dort geht man jämmerlich zugrunde.

Einer dieser Redner war ein stiller und freundlich blickender Mann aus New York: Leslie E. Robertson ist zwar auch Architekt, arbeitet jedoch hauptsächlich als Bauingenieur und Statiker mit dem Schwerpunkt Hochhausarchitektur, und das rund um die Welt. Zu seinen technischen Leistungen zählen Wolkenkratzer von Philip Johnson, Cesar Pelli und I. M. Pei. Seine Gebäude heißen Sony Building, Bank-of-China-Tower und Shanghai World Financial Center. Internationale Bedeutung wird ihm nicht zuletzt dadurch zuteil, dass Leslie E. Robertson einst auch das Tragsystem des World Trade Centers in Manhattan berechnet hatte.

Heute klafft ein Loch. Sowohl auf dem Ground Zero als auch in Leslies Herzen. - Ein Gespräch mit einem Genie, das seit nunmehr 50 Jahren backstage werkelt und die Welt um die sagenumwobene und machtumflossene z-Achse bereichert. Ist das also die Zukunft unserer Städte?

DER STANDARD: Der Titel Ihres Münster-Vortrages war „How high can high-rise go?“. Nun, wie hoch kann man gehen?

Leslie E. Robertson: Das hängt von vielen Umständen ab, nicht zuletzt auch vom Investor. Aber um einen Zweifel gleich einmal vorwegzunehmen: Was das rein Technische betrifft, gibt es keinerlei praktische Grenzen. Das ist keine Träumerei, das ist die Realität. Sie sagen uns, wie hoch Sie das Gebäude wollen, und wir berechnen die Tragstruktur. Das klingt jetzt unglaubwürdig, nicht wahr? Nun, ich sage Ihnen: Unglaubwürdig sind Konzepte, die vorsehen, dass man einen Kaugummi bis zum Mond hochzieht und dann in einer Luftblase auf den Planeten herabsieht. Aber mit Beton und Stahl können Sie alles machen. Es ist nur eine Frage des Sinns und der Ästhetik.

Gerade im Fernen Osten wird man das Gefühl nicht los, dass Hochhausarchitektur als Allheilmittel für Überbevölkerung und fehlende Infrastruktur verstanden wird. Ist sie tatsächlich eine mögliche Antwort auf diese Probleme?

Robertson: Die Bevölkerungszahl ist mit Sicherheit einer der Gründe, die die Stadtplanung zu Hochhäusern antreiben. Aber ich sehe die grundlegende Motivation der High-Rise-Architektur nicht so sehr im Technischen und Ökologischen, sondern in erster Linie im allumfassenden Aspekt der Kommunikation. Und um diese Kommunikation im weitesten Sinne geht es schließlich, denn die Städte im Fernen Osten haben alle mit dem gleichen Problem zu kämpfen, und zwar mit dem täglichen Pendeln. In der Früh hin, am Abend wieder zurück. Jeden Tag das Gleiche. Das belastet die eigene Lebensqualität, und das belastet die Qualität der Stadt.

Ist ein Hochhaus nicht auch ein Imageträger?

Robertson: Freilich spielt Image eine gewisse Rolle, aber das sind wenige Ausnahmen von großen Firmen und großen Brands, die ihre Skulpturen unbeirrt in den Himmel ziehen und die der Bevölkerung dadurch im Kopf besser hängen bleiben als andere Beispiele. Den Großteil der hohen Skyline aber bilden unbedeutende und unauffällige Infrastrukturen des Wohnens und Arbeitens. Und genau da muss ich den Developern ein Kompliment aussprechen, denn die pauschale Ignoranz von früher ist längst schon einem großen Verantwortungsgefühl gewichen. Viele Projektentwickler zerbrechen sich mittlerweile sehr wohl den Kopf über soziale und stadtpolitische Konsequenzen ihrer Projekte.

Wie Energie und Ressourcen schonend ist so ein Wolkenkratzer?

Robertson: Sehr! New York City ist eine der am meisten Energie sparenden Städte der Welt. Warum das so ist? Weil das gesamte Leben übereinander gestapelt ist und man sich die gesamte Infrastruktur teilen kann. Und draußen in den Suburbs findet die pure Energieverschwendung statt: Die Häuser verlieren Wärme nach allen vier Seiten, jedes Haus benötigt ein eigenes Herz, was Strom und Heizung betrifft. Hinzu kommt, dass sich die Vorstädter eine Mobilität ohne Auto gar nicht mehr vorstellen können. Selbst wenn es sich nur um einen kurzen Sprung zum Bäcker handelt.

Wie sparsam sind die asiatischen Städte?

Robertson: Natürlich sind Städte wie Schanghai kurzfristig betrachtet Energiefresser, da dort rund um die Uhr gebaut wird. Doch das ist wie ein Kredit, denn langfristig betrachtet wird sich der Aufwand zugunsten der Umwelt gerechnet haben.

Das Stichwort lautet Nachhaltigkeit, denn je länger ich ein Gebäude nutzen kann, desto mehr zeugt das von einer intelligenten und Ressourcen schonenden Planung. Die Statistiken verbessern sich von Jahr zu Jahr. Heute zählen Hochhäuser bereits zu den energiesparendsten Architekturformen überhaupt. Wenn man sich heute Hongkong ansieht - und da ist der große Bauboom bereits abgeklungen -, ist das heute in ökologischer Hinsicht eine vorbildliche Stadt.
Am 11. September 2001 ist ein Teil Ihrer Arbeit eingestürzt.
Robertson: Ich habe gute zehn Jahre am World Trade Center gearbeitet, mehr oder weniger Tag und Nacht. Wenn ich Ihnen sagte, dass mir 9/11 nicht Tränen in die Augen getrieben hätte, dann wäre das ein dumme Lüge. Glauben Sie mir, in so einem Augenblick beginnt man, an seiner eigenen, jahrzehntelangen Arbeit zu zweifeln. Man fasst sich an den Kopf und stellt sich unentwegt die Frage: Woran habe ich in diesen zehn Jahren nur gearbeitet? Ich blicke tagtäglich von meinem Büro genau auf den Ground Zero. Das macht es mir unmöglich, nicht unentwegt an 9/11 zurückzudenken. Ich wünschte, die Türme würden einfach wieder stehen.

Viele Leute rufen mich auch heute noch an und möchten mich treffen, manchmal werde ich sogar zu Therapiesitzungen eingeladen. Ich muss gestehen, das ist zu viel für mich. Ich bin Bauingenieur und Architekt, aber dem großen Unglück von 9/11 bin ich nicht gewachsen. Es tut weh, und mit der Zeit macht es einen verrückt. Bemerkenswert aber ist, dass gerade in den beiden betroffenen Städten - nämlich New York City und Washington D.C. - der Widerstand gegen George W. Bushs „War on Terror“ am größten gewesen ist. Denken Sie doch einmal darüber nach!

War Ihre Karriere zu irgendeinem Zeitpunkt jemals ernsthaft gefährdet?

Robertson: In Hinsicht auf meine zukünftigen Projekte habe ich mit dem Schlimmsten gerechnet. Doch die Arbeit ging weiter. Monate später waren die ersten Gutachten und Untersuchungen zum World Trade Center abgeschlossen. Das Ergebnis war, dass die beiden Türme ausreichend dimensioniert worden waren. Ich weiß, das klingt zynisch. Versuchen Sie, das einmal den betroffenen Familien zu erklären! Aber Tatsache ist, dass das WTC eine sehr redundante Konstruktion aufgewiesen hat. Das heißt, dass man viele Säulen hätte entfernen können, ohne dass das Gebäude dadurch einstürzt. Freilich trifft das nicht auf den Fall zu, dass man alle Säulen einer Fassade entfernt, wie das am 11. September passiert ist.

Sie arbeiten gerade an einem Gebäude, das 2500 Meter hoch werden soll. Traum oder Projekt?

Robertson: Wer weiß das schon! Oft bekommen wir Aufträge von Visionären, die sich ganz einfach gerne nur mit einem bestimmten Gedanken auseinandersetzen möchten. Und dann heißt es: Berechne das einmal für mich! Und das machen wir dann. Die meisten dieser Spinnereien landen in der Schublade. Aber wer weiß, vielleicht bleibt eine diese Spinnereien eines Tages auf dem Schreibtisch liegen.

Am Ende einer Debatte angelangt - wie sieht die Zukunft unserer Städte aus?

Robertson: Die Städte werden weiter wachsen. Unaufhaltsam, auch wenn uns das nicht gefällt. Denn die Weltbevölkerung wächst - international betrachtet - rasant weiter, und die bestehenden Infrastrukturen platzen aus allen Nähten. Das betrifft auch Städte, die wir mit dem Thema High-Rise in erster Linie gar nicht in Verbindung bringen würden. Wenn Sie sich einmal ansehen, wie viele Hochhausprojekte in Mumbai auf ihre Realisierung warten, bringt das Ihren Kopf zum Bersten! Ja, auch das sind Eckpfeiler der Globalisierung. Ich denke, dass unser kapitalistisches Weltbild schon so weit gestrickt ist, dass sich uns ohnehin kein Ausweg daraus mehr erschließen wird.

Fazit also ist: In den großen Ballungsräumen und Megastädten der Welt gibt es nur eine einzige Antwort auf das Wachsen. Und diese lautet: Wolkenkratzer.

Der Standard, Sa., 2006.04.01

18. März 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Auf die Architektur-Karte setzen

„Unterschiedliche Architekturstile für unterschiedliche Menschen“, lautet der Werbeslogan der Blauen Lagune. Daher fragen wir im Fertighaus-Jargon: Wo ist das billige Architektenhaus geblieben, gibt es das überhaupt? Hier eine Antwort

„Unterschiedliche Architekturstile für unterschiedliche Menschen“, lautet der Werbeslogan der Blauen Lagune. Daher fragen wir im Fertighaus-Jargon: Wo ist das billige Architektenhaus geblieben, gibt es das überhaupt? Hier eine Antwort

In einem schönen, feinen Gärtchen irgendwo in Wien befindet sich seit einigen Jahren ein konzeptionell zugespitztes und feuchtfröhliches Kleinod namens Schwimmbad und Saunahaus. Ja, das klingt wie der Beginn eines süßen Architekturmärchens, hätte es da bloß nicht den Streit zwischen Bauherrin und Architekten gegeben, der die Parteien für alle Zeiten auseinander gerissen hat. Der Grund der Sache: Die überzeugte Anhängerin zeitgenössischer Architektur wollte sich etwas Gutes tun und beauftragte eines dieser coolen Büros aus dem Wien der Jahrtausendwende. Bezahlt hat die Kundin mit einer Kostenexplosion in der Höhe von 250 Prozent.

Bitter. Doch dieser Vorfall ist Bestandteil der beinharten Realität. Architektur mag zwar eine schöne Disziplin sein. Manchmal aber verkommen die Bauherren schnurstracks zu unterdrückten Mäzenen eines teilweise arroganten und schwarz gekleideten Künstlertums, dessen oberste Prämisse nicht etwa die Zufriedenheit aller ist, sondern einzig und allein die eigene Publicity (DER STANDARD berichtete in der Vorwoche). Um den medial eingeschüchterten Geist der Architektur jedoch nicht allzu sehr im Trockenen sitzen zu lassen, wollen wir diese Woche zu einem überraschenden und optimistischen Aber umschwenken.

Schauplatzwechsel. Nicht weit von Graz befindet sich - am oberen Ende eines Steinbruchs thronend - das Domizil der Familie Sablatnig. So viel gleich einmal vorweg: Ein Meilenstein in der österreichischen Architekturgeschichte ist das Bauwerk in Seiersberg gewiss nicht. Aber es ist ein individuell geplantes Haus aus der Feder von Patricia Ibounigg-Strasser, das selbst ein Jahr nach Inbetriebnahme - nach einem ersten Sommer und einem ersten Winter - die Bauherren immer noch mit Glück und Stolz erfreut.

Eckdaten: Vater, Mutter, Kind. Steilhang, Holzriegelbauweise, Niedrigenergiehaus. Und zwei vorgelagerte Terrassen sind sich neben den knapp 150 Quadratmeter Wohnnutzfläche auch noch ausgegangen. Das alles um sage und schreibe 200.000 Euro. Und damit es in der nettohantierenden Szene nicht zu Missverständnissen kommt, sei noch angemerkt, dass hier bereits vom allseits gefürchteten Bruttopreis die Rede ist. „Beim Erstgespräch habe ich nicht daran geglaubt, dass wir das Haus in diesem Kostenrahmen durchkriegen werden“, erzählt der inbrünstige Peter Sablatnig. Doch offensichtlich hat hier eine Architektin ihren Auftrag ernst genommen und diesen gewissenhaft zu Ende gebracht.

Von der Straße birgt das Haus ein gewisses Geheimnis, wie wir es schon von einem ganz, ganz großen Bruder kennen, nämlich von der Villa Tugendhat in Brünn. Der Eingang wirkt bescheiden, auf der einen Seite gibt es einen Carport, auf der anderen Seite verstecken sich ein paar Mülltonnen verschmitzt hinter einem Bretterverschlag. Ein Obergeschoß sucht man vergeblich, stattdessen schließt ein Flachdach das Haus nach oben ab. Wie es die Topografie mit einer Selbstverständlichkeit fordert, findet im Obergeschoß das familiäre Wohnen statt, während im Untergeschoß privatisiert und staugeraumt wird.

Bei den dicken Kunststoff-Profilen, die es mit der bildhaften Rahmung der Landschaft leider allzu gut meinen, zwickt es einen kurz in der Brust. Sablatnig: „Schön sind die Kunststoff-Fenster natürlich nicht, was hätte ich nicht alles gegeben für eine Nurglas-Anlage!“ Kommt Zeit, kommt Geld, die paar Fenster lassen sich in ein paar Jahren auch noch austauschen. So sehen sie aus, die Kompromisse zwischen Substanz und Luxus, die ein Bauherr mit seinem Architekten angesichts so enger Kostenvorgaben eingehen muss. Genauso wie die Tatsache, dass hier nicht unbedingt Klein-Bilbao aus dem Boden gestampft wurde, sondern dass das Haus oben am Berg wahrscheinlich sogar einen Vorarlberger neue Lektionen in puncto Pragmatik lehrt. „Wenn es billig sein muss, fängt alles damit an, wie man die eigenen Arbeitsstunden und die Stunden der Professionisten auf ein Minimum reduzieren kann“, erklärt die Architekturschaffende.

Das klingt alles nicht so sexy, nicht wahr? Und ein Großteil der (architektonischen) Leserschaft ist wahrscheinlich schon kurz davor, die Lektüre zu schmeißen. Wer braucht schon diese billige Immobilienwerbung aus Seiersberg! Doch genau das ist der springende Punkt. Einerseits gibt es die Architektur für die Architekten, doch andererseits haben wir es auch mit der Architektur für die Bauherren zu tun. Leider - das muss man sich eingestehen - sind diese beiden Szenarien in Österreich nicht unbedingt deckungsgleich. Das beweist der schon seit Jahren anhaltende Ansturm auf die Fertighaus-Branche. Rund 350.000 Besucher strömen jährlich in „Europas Hauptstadt der Fertighäuser“, wie sich die Blaue Lagune so hübsch selbst bewirbt.

Wie spannt man den Spagat zwischen Architekten und Laien? Und muss man diesen Weg denn unbedingt schwimmend durch die Blaue Lagune zurücklegen? Ein grober Kostenvergleich und ein kurz gehaltener Spaziergang durch das Fertighausdorf im Süden von Wien brachte am eigenen Leibe nicht nur visuell bedingte Magengeschwüre, sondern auch die Erkenntnis, dass das traute Eigenheim von der Stange nicht zwingend billiger sein muss. Wie man sieht, wollen auch Kompositionen aus Fensterfaschen und schmucke Dachziegel en masse ordentlich entgolten werden. Ganz gleich also, ob die Produkte „Generation X“, „Concept“, „Magic“ oder „Familiy 3000“ genannt werden, müssen sie sich doch ein bisschen anstrengen, um mit einem günstigen und intelligent geplanten Individualhaus vom Architekten mithalten zu können. Einzige Variable bei der Planung nach Wunsch ist die Tatsache, dass es nach oben keine Grenze gibt.

Und da wird es dann wieder interessant für den nicht gerade medienscheuen Architekten der 00er-Jahre: Denn steigt das Budget, dann steigt damit auch gleich das Image. Selbst wenn es sich dabei „nur“ um Einfamilienhäuser handelt, das betonierte Urhaus in Leymen (Herzog & de Meuron) und die Maison à Bordeaux (Rem Koolhaas) kennt wohl jeder.

„Das Haus muss nicht nach allen Mitteln nach außen protzen“, erklärt Ibounigg-Strasser, „gerade bei einem niedrigen Budget ist die innere Qualität sicherlich das Wichtigste.“ Man habe nichts davon, ein schönes Einfamilienhaus entworfen zu haben, das dann die gesamte Familie in Unzufriedenheit stürzt. Auch Architekt Roland Gnaiger, Mediator im ewigen Dilemma zwischen Architekten und Laien, erklärt dem STANDARD gegenüber, man müsse Architektur endlich wieder „als kulturelle, künstlerische Aufgabe und - nicht oder, sondern und! - als Dienstleistung ernst nehmen“. Den Bauherren lediglich als Mittel zum Zweck seines eigenen Architekturschaffens zu verwenden, das werde schon viel zu oft praktiziert.

Da steht man also, gescholten und nicht klüger als zuvor. Von den vielen Architekten, die am Rande ihres bauenden Schaffens auch ein bisschen Theorie betreiben, gibt es einige wenige, die die Meinung vertreten, man müsse nicht mit jedem Projektchen den Pritzker-Preis gewinnen können. Ganz im Gegenteil, im Mittelpunkt stehe der Mensch, zumindest steht dieses einprägsame Satzerl auf jeder zweiten Homepage eines österreichischen Architekturbüros.

Zurück zum Haus Sablatnig in Seiersberg - hier stand der Mensch tatsächlich im Mittelpunkt. Für alle anderen Menschen ist die grau verputzte Hangschachtel wahrscheinlich gähnend langweilig. Auch o. k. „In dem Moment, wo es ums Leben geht, kann man keine allzu großen Experimente eingehen“, erzählt Patricia Ibounigg-Strasser, „gerade bei einem Einfamilienhaus hat man es in der Regel mit Bauherren zu tun, die genau nur einmal im Leben bauen.“ Darauf müsse ein Architekt Rücksicht nehmen können. Das gilt es zu respektieren.

Der Standard, Sa., 2006.03.18

06. März 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Identität - der renitente Trotz

Das Architekturfestival Turn On im Radiokulturhaus

Das Architekturfestival Turn On im Radiokulturhaus

Wien - Wieder einmal füllte sich das Radiokulturhaus mit der beredten Disziplin der Architektur. Am Wochenende hatte die Universität für Angewandte Kunst zum vierten Mal zu diesem breit gestreuten Architekturfestival geladen. Mit von der vortragenden Partie waren PPAG, Innocad, Caramel, aber auch etwas personifizierte Namen wie Walter Angonese, Hermann Czech, Peter Cook, Jean Nouvel und viele andere mehr.

An die zwanzig Vorträge - beginnend mit Gedanken zum Wohnbau im außerwienerischen Österreich bis hin zu sozialem Wohnbau und kulturellen Bauten in Wien und Graz - spannten einen weiten Bogen, um damit letzten Endes nur eine einzige quirlige Frage zu beantworten: Gibt es eine Identität österreichischer Gegenwartsarchitektur?

Architektin Elsa Prochazka gewährte Einblick in den bürokratischen Dschungel des sozialen Wohnbaus, in dem sich in letzten Jahren sowohl Ausstattungsqualität als auch architektonische Qualität gebessert hätten. „Wien ist eine Stadt, in der der geförderte Wohnbau eine Selbstverständlichkeit ist, doch im internationalen Vergleich zeigt sich, dass das gar nicht so selbstverständlich ist.“

Auch Adolf Krischanitz beteuerte, dass es sich beim sozialen Wohnbau um ein Unikat handle, das es in der Form fast nur noch in Österreich gibt: „Vom Ausland her wird dieser skeptisch betrachtet, und sogar in Berlin wurde er bereits abgeschafft.“ Wohnbau - dieser anfängliche Konsens hat sich bald verfestigt - ist nicht zuletzt eine Frage des Machbaren, denn die Realität abseits konzeptioneller Träumerei ist hart.

Ist das also die allseits erwartete Antwort, die die Seele der hiesigen Architekturlandschaft auf den Punkt bringt? Den alteingesessenen Denkern ist das zu wenig. Bart Lootsma, Architekturtheoretiker an der Uni Innsbruck, Wolf Prix, Professor an der Angewandten, und Arno Ritter, Leiter des Tiroler Architekturhauses AUT, ließen sich auf eine identitätsstiftende Architekturdebatte ein.

„Man weiß, dass es hier zu Lande keine mehrheitliche Theorie gibt“, erklärte Prix, „doch wenn man internationalen Einfluss haben will, dann muss man sich um eine theoretische Basis bemühen“.

Und das ist offensichtlich leichter gesagt als getan. Denn, so Ritter: „Österreich ist kein theoriefähiges Land.“ Und dennoch scheint sich die österreichische Identität gut zu verkaufen. Lootsma: „Vor 20, 30 Jahren war Architektur noch viel nationaler. Heute sind wir in der Situation, dass wir Architektur gemeinsam vermarkten wollen.“

Im sozialen Wohnbau ist das schon der Fall, wenngleich auf einem Niveau, das auf dem hochkarätigen Podium niemanden so recht hinter dem Ofen hervorlockt. Tatsache ist: Österreichische Architektur ist längst vermarktet und etabliert. Am Ende beißt sich die Katze in den Schwanz, denn Prix hat auf die Identitätsfrage schon eine Antwort gefunden: „Das typisch Österreichische ist das Provinzielle, nie über den Tellerrand hinauszuschauen. Der renitente Trotz ist eine Eigenheit von Österreich.“

Der Standard, Mo., 2006.03.06

18. Februar 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Wenn Passivhäuser Wellen schlagen

Auf dem Passivhaussektor hat sich wahrlich einiges getan. Low Energy und Hightech lassen sich heutzutage bereits mit allen Stückeln der High Architecture vereinen. jungerbeer treten mit der Villa K. in der Nähe von Wels den Beweis dafür an.

Auf dem Passivhaussektor hat sich wahrlich einiges getan. Low Energy und Hightech lassen sich heutzutage bereits mit allen Stückeln der High Architecture vereinen. jungerbeer treten mit der Villa K. in der Nähe von Wels den Beweis dafür an.

Vor zehn Jahren noch hat man panisch die Hände vorm Gesicht zusammengeschlagen, wenn in einer Gesprächsrunde das Wort Passivhaus gefallen ist. Da musste man unweigerlich an diese Biogebäude denken, die aussehen wie aus Dinkelmehl und Aloe Vera zusammengeklopft. Das watscheneinfache Rezept: Ein vollverglastes G'schau an der Südfassade, darauf ein schräges Pultdach, das wie ein Baseballkäppi in die Landschaft hinausragt. Mahlzeit.

„Nicht jedes Haus muss lautstark schreien: Hallo ich bin grün!“, hat der Vorarlberger Architekt Much Untertrifaller einmal gefordert. „Je weniger man die Ökologie einem Haus ansieht, desto gelungener ist es. Und genau das ist für viele Fundamentalisten ein großer Jammer.“ Doch diese visuell aufgezwungene Öko-Ära, von der Untertrifaller hier spricht, ist nun endgültig vorbei. Zumindest bei den Architekten des 21. Jahrhunderts. Das Passivhaus der Nullerjahre darf nun endlich auch fesch sein, und es darf auch ein bissl mehr nach Architektur aussehen.

Die Villa K. in Sipbachzell (jungerbeer Architekten) ist so ein Haus. Zwei kolossale Dachschwünge wellen sich über dem Haus, das bis auf eine kleine Rückzugskoje nur erdgeschoßig ausgeführt ist. Allein schon Größe und Proportion - üppige 600 Quadratmeter Wohnnutzfläche auf einer einzigen Ebene - machen es einem schwer, von einem klassischen Einfamilienhaus zu sprechen.

Wohnen in Zonen

Wie soll man dieses Refugium aus nicht enden wollender Flachheit und zwei Wellen darauf denn sonst benennen? „Unsere anfängliche Idee war die einer Landschaft“, erklärt Stefan Beer. „Aus diesem Grund soll das Dach nicht nur dem Innenraum einen Schutz geben, sondern auch eine Klammer für die Wohnlandschaft sein.“ Und in der Tat: Von einer Zimmeraufteilung à la „Trautes Heim, Glück allein“ kann man nicht sprechen. Eher sind es unterschiedliche Wohnzonen, die wie Gassen und Plätze das Gebäude durchziehen.

So gibt es beispielsweise ein Foyer, das sich bald schon in die privateren Bereiche für die Eltern, Kinder und Gäste verzweigt; auch ein großzügiger Arbeitsbereich und ein bebaumtes Atrium haben hier Platz gefunden. Architekt Beer: „Man wandelt durch eine Landschaft von sehr weichen Wänden, hinter denen sich immer etwas Neues befindet.“ Einmal ist dies eine freistehende Sichtziegelwand, ein anderes Mal ist es eine mit Akazienholz vertäfelte Rückwand im Wohnzimmer. Und sogar eine gewagte Komposition aus kräftig angepinselten Wandflächen in den Neonfarben Grün, Orange und Pink ist in diesen Gängen und Gässchen zu finden. Sehr heftig! Die Farben geben einem das Gefühl, sich nachts auf dem hell ausgeleuchteten Times Square zu befinden.

Über dem Wohnzimmer schließlich - Mittelpunkt und Marktplatz der Villa K. - schwebt die imposante Dachwelle, die unter sich bis zu sieben Meter Raumhöhe zulässt. Von hier aus kann man hedonistische Blicke in die Landschaft werfen, und dieser Blick fällt unweigerlich auch auf den eigens ausgehobenen Hausteich.

Fragt sich nur, was daran „passiv“ ist. Stefan Beer: „Natürlich erwartet man sich in der Regel das kleine Passivhaus-ABC, das da lautet: klein, kompakt und wenig Außenflächen.“ Die Villa K. ist - das ist nach wenigen Augenblicken unmissverständlich klar - nichts von alledem. Und dennoch ist es hier gelungen, die Grundregeln der passiven Bauweise anzuwenden:

Das Passivhaus-ABC

Hoch wärmegedämmter Holzbau, viel speicherfähige Masse, überall 3-Scheiben-Isolierglas, Luftdichtheit, kontrollierte Wohnraumbelüftung, Erdwärmetauscher und auf dem Dach ein Mischsystem aus Fotovoltaik und Warmwasser-Kollektoren.

Das gesamte Passivhauskonzept und die Haustechnik stammen vom Österreichischen Institut für Baubiologie und -ökologie (IBO). Der Beweis in Zahlen: Die Eckdaten für ein Passivhaus setzen einen maximalen Heizwärmebedarf von 15 kWh/m2 pro Jahr voraus. Die Villa K. in Sipbachzell ernährt sich jährlich von 14,8 kWh/m2.

Der Standard, Sa., 2006.02.18

11. Februar 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Die Ware Landschaft

Schnee schon wieder. Doch der Winter wird vorüber- ziehen und dann wird die Stadtlandschaft wieder einen unverzichtbaren Stellenwert einnehmen. Was Land- schaft so alles bedeuten und beinhalten kann, das zeigt sich am besten anhand der Projekte von heri&salli

Schnee schon wieder. Doch der Winter wird vorüber- ziehen und dann wird die Stadtlandschaft wieder einen unverzichtbaren Stellenwert einnehmen. Was Land- schaft so alles bedeuten und beinhalten kann, das zeigt sich am besten anhand der Projekte von heri&salli

Die Frage musste einfach sein. Kaum sitzt man mit heri&salli an einem Tisch, muss man sofort an diese andere Tischszene denken, in der sich halt Harry und Sally gegenübersitzen und - na ja, den Rest kennt man. Aber nein, so versichern Heribert Wolfmayr und Josef Saller, mit dem Hollywood-Spielfilm habe ihr Büroname nichts zu tun. Vielmehr ist er aus der Not entstanden, als man im Zuge des allerersten gemeinsamen Projekts innerhalb weniger Stunden plötzlich auch noch nomenklatorisch kreativ sein musste. Und mit dem Familiennamen alleine tritt es sich auf dem heiß bebauten, österreichischen Architektenmarkt - wie man ja weiß - nicht so gut auf.

Heribert Wolfmayr und Josef Saller haben zwar gemeinsam studiert, doch so richtig aufgespürt haben die beiden einander erst Jahre später. Nach den ersten anfänglichen Konzepten und Installationen hat man eines fernen Tages dann die Liebe zur Landschaft entdeckt. Und zwar in all ihren Facetten. Dass heri&salli ihren ersten Landschaftsversuch justament auf dem Salzburger Residenzplatz verwirklichen wollten, haben ihnen die Bewohner wohl bis heute nicht verziehen. Heri: „Die Struktur unseres Eingriffes war eigentlich nur ein Spiegelbild des Bestandes rund um den Residenzplatz. An dieser einen Stelle wollten wir die Stadt auf ihre alleinige Oberfläche reduzieren, und zwar in Form einer begrünten Fläche.“

Als die beiden Architekten das temporäre Projekt der Stadtverwaltung vorgestellt hatten, machte sich ein tiefer Graben breit. Die Politik, allen voran Bürgermeister Heinz Schaden, suhlte sich anfänglich noch in Begeisterung, die Presse jedoch buhte das junge Vorhaben von Beginn an aus. „Wahnsinn, Rasengag oder Kunst?“, titelten die Tageszeitungen, wobei mit ersterem Begriff vor allem der Salzburger Landeskonservator Walter Schlegel zitiert wurde. Eine dreimonatige Kunstinstallation auf einem historisch gepflasterten Platz mitten in der Stadt? Ein Ding der Unmöglichkeit! Zeitgeist ist auf Salzburgs Plätzen wohl nicht denkbar, was - nebenbei bemerkt - im Jahre 2003 ein weiteres Mal unter Beweis gestellt wurde, als der Künstlergruppe gelatin und ihrem Triumphbogen ebenfalls eine zwar späte, doch glatte Abfuhr erteilt wurde. Wie auch immer, nach knapp zwei Jahren Vorbereitungszeit und nach vielen veröffentlichten Karikaturen in Rage über den Rasen wurde das Projekt von heri&salli nolens volens abgeblasen.

2004 war es dann schließlich so weit. Wenn auch nicht in der Landeshauptstadt, so doch in Bischofshofen. Sechs Künstler und Architekten wurden eingeladen, ihre Vorstellung einer „Wahren Landschaft“ zum Besten zu geben. Grundidee der Initiatoren war es, entlang eines Weges - quer durch das asphaltiere Ortsgebiet und weiter durch den angrenzenden Wald - so genannte wahre Landschaftsobjekte auszuarbeiten. heri&salli: „Dieses Thema in einer gewissen Art von Direktheit und Eindeutigkeit zu formulieren, birgt das Fundament des Scheiterns in sich.“ Warum das so ist? Die wahre Landschaft existiere bereits, wahre Landschaft könne sich daher nur selbst bauen. Die einzige Möglichkeit einzugreifen, bestünde darin, „echte fehler“ zu machen - und schon hat man einen Titel.

Im Gegensatz zu ihren installierenden Kollegen haben heri&salli entlang der gewünschten Route mitten durch Bischofshofen nicht etwa einen weiteren Punkt inszeniert, sondern haben die bereits existierenden Kunstpunkte in Form eines Zebrastreifens miteinander verbunden. Wahrlich, ein vier Kilometer langer Fußgängerübergang hat Seltenheitswert. Vor allem, wenn er über erdigem Boden plötzlich in die dritte Dimension emporwächst und mitten durch den Wald führt. „Ein Zebrastreifen ist ein gewisser transitorischer Code, selbst Orte einer anscheinend völligen Banalität werden dadurch plötzlich interessant.“

700 Zebrastreifen auf den Asphalt zu pinseln - da stellt sich doch unweigerlich die Frage nach der Bodenmalerei. Denn bei aller Liebe zur Konzepthaftigkeit jeder Kunstidee war die Umsetzung in Bischofshofen selbstverständlich ein ganz schön großer Brocken Arbeit. Geholfen haben den beiden Architekten die Schüler und Schülerinnen der beiden örtlich ansässigen Hauptschulen. Statt Werkerziehung wurde im Akkord gepinselt, statt bildnerischer Erziehung wurde großflächig gemalt. Alle hatten Spaß, alle hatten weiß gestreifte Jeans am Ende. Doch genau so sieht sie aus, die Idee der viel zitierten Interdisziplinarität. Im Übrigen wurden die „echten fehler“ für den Adolf-Loos-Staatspreis nominiert, des weiteren wurde das Projekt bei einem japanischen Wettbewerb („A Town Landmark“, Juryvorsitz Toyo Ito) ausgezeichnet.

Was alles passieren kann, wenn man dem Zebrastreifen nicht den nötigen Respekt zugesteht, zeigt sich in der Ausstellung „Niemandsland“ im Wiener Künstlerhaus (2004). Dort bildet ein weißer Opel Kadett nach dem Totalschaden den Mittelpunkt der Installation „Zeit.Punkt“. Ein schwarzer Raster als örtliches Bezugssystem zieht sich über Raum und Karosserie, so schön kann Opel sein! „Niemandsland ist dort, wo Zeit und Ort auf den Nullpunkt reduziert werden“, erklärt Salli, „dieser Moment des absoluten Nullpunkts ist ein Crash.“ Hmm. Einstein hätte mit dem brutalen Umgang mit seiner hoch geschätzten vierten Dimension wohl keine Freude gehabt. Doch es reicht ja, wenn Architekten in den ihrigen dreien schon Meister sind, da muss man sich nicht allseits gewandt auch noch mit der Zeit herumschlagen. heri&salli indes bleiben cool: „Wir sind uns sehr wohl dessen bewusst, dass unser Zugang zu Kunst und Architektur sehr reich an Metaphern ist. Daher ist es auch nicht schlimm, wenn das nicht für jedermann verständlich ist.“

Heribert Wolfmayr und Josef Saller sind Stellvertreter einer neuen Generation voll konzeptioneller Stärke, voll von Biss und Vision. Freilich ist diese Generation auch der Inbegriff konzeptioneller Rebellion und unbeschwerter Unvoreingenommenheit. Ein ähnliches Phänomen war in der österreichischen Architekturszene schon vor einem Jahrzehnt zu beobachten, als die so genannten Boygroups wie Schwammerl aus dem fruchtbaren Berufsboden schossen. Ein Büro nach dem anderen, eines frecher als das andere.

Mit heri&salli zeigt sich exemplarisch, dass nun eine neue Generation dabei ist, sich durch die Kruste des harten Berufslebens zu boxen. Der alten Architektenclique der Graumelierten haben die Emporkömmlinge rund um querkraft, propeller z und awg vor rund zehn Jahren schon mühsamst die Show abgerungen, zumindest einen Teil davon. Nun liegt es an ihnen, den Ball wieder weiterzugeben.

Genau dieser Generation widmete sich eine Ausstellung in der Berliner Galerie Aedes. Unter dem Titel „AustriArchitektur“ haben sieben österreichische Büros an einem gemeinsamen Präsentationsstrang gezogen. Mit an Bord waren auch heri&salli, die sich der allseits verbindenden Ausstellungsarchitektur gewidmet haben. Das immergleiche Problem des geringen Budgets hat aus der Not eine Tugend gezaubert. Zehn Kilometer Infusionsschläuche wurden rot eingefärbt und bildeten den Hintergrund der österreichischen Architekturlandschaft. heri&salli: „Der Raum an sich ist nicht die Architektur, sondern nur eine Ansammlung von möglichen architektonischen Horizonten.“ Wahnsinn, Krankenhausgag oder Kunst? - Architektur.

Der Standard, Sa., 2006.02.11



verknüpfte Akteure
heri&salli

11. Februar 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Alte Halle, voll mit heißer Luft

Bestimmte Unternehmensstrukturen verlangen auch der Architektur so manch Bestimmtheit ab. Was passiert, wenn beispielsweise ein Pneu-Hersteller auf eine alte Backsteinhalle aus dem Jahre 1907 trifft? Ein Umbau von BEHF, Lokalaugenschein in Wien-Favoriten.

Bestimmte Unternehmensstrukturen verlangen auch der Architektur so manch Bestimmtheit ab. Was passiert, wenn beispielsweise ein Pneu-Hersteller auf eine alte Backsteinhalle aus dem Jahre 1907 trifft? Ein Umbau von BEHF, Lokalaugenschein in Wien-Favoriten.

Wie verbindet man Alt mit Neu? Nun, da gibt es zunächst einmal die Möglichkeit, mit dem Neuen das Alte zu erschlagen. Dann kann man mit dem Neuen das Alte irgendwie durchbohren. Alternativ kann man sich wie ein UFO bedingungslos draufsetzen. Ach ja, und dann kann man so tun, als wäre man ja gar nicht neu, und tut ganz einfach ein bisschen auf Alt. Diese unethische Mimikry tarnt sich auf dem Immobiliensektor übrigens gerne als „Stilaltbau“. Eine eher fragwürdige Herangehensweise.

Ein gänzlich anderes Schicksal ist einem Backsteinbau aus dem Jahre 1907 widerfahren, Produkt industrieller Stadterweiterung im einst noch dünn besiedelten Wiener Gemeindebezirk Favoriten. Die mittlerweile denkmalgeschützte Halle, in der anno dazumal noch große Baumaschinen gefertigt worden waren, stand die letzten Jahre hindurch leer. Alles, was nicht gerade aus Stahl und Ziegel war, knirschte schon unter dem Zahn der Zeit und moderte vor sich hin.

Mit dem Neubau-Implantat inmitten dieser historischen Backsteinhalle haben die BEHF-Architekten einen mustergültigen Dialog zwischen Denkmalschutz und cooler Sichtbeton-Architektur in Gang gesetzt. Armin Ebner, das E-Teilchen des Architekturbüros: „Mit dem Bundesdenkmalamt wurde vereinbart, die äußere Erscheinung nicht zu verändern, und an der Fassade nur Substanzsicherung vorzunehmen.“

Alt darf alt bleiben

Auch im Inneren sind die Spuren der Vergangenheit und des Vergänglichen beibehalten worden. Alte Mauer ist nach wie vor alte Mauer, auch der nicht so hübsche Putz darf noch das sein, was er das letzte Jahrhundert hindurch schon gewesen ist. Das Glasdach wird ausgetauscht, die Holzbeplankungen werden erneuert und die Stahlkonstruktion wird nur saniert, wo der Statiker es gefordert hat, ansonsten wird sie sandgestrahlt und lackiert. Fertig.

Doch dann kommt das Neue. Anstelle der alten modrigen Holzgalerie im Obergeschoß gesellt sich nun das rundumlaufende Bürogeschoß aus Beton-Fertigteilen, ganz glatt und sehr sexy. Ein flächenbündiges Fensterband verbindet die Zuschauerloge mit dem Motiv der unten liegenden Hallenmitte. Architekt Armin Ebner: „Als einzig ablesbare Intervention ist von uns die Galerie eingezogen worden. Außerdem ist Beton in diesem Gebäude das einzige Material, das wir neu dazugenommen haben.“ Und das gilt an der Wand genauso wie am Boden und an der Decke.

Fazit dieses architektonischen Eingriffs: Im Erdgeschoß eine alte Industriehalle, darüber fesch geschniegelte Büroräume. Hier ein schöner Neubau, dort hingegen altbewährte Altbauspuren, die sich schon vor längerer Zeit abgezeichnet haben. Fragt sich letztlich nur, wer mit so einem speziellen Raumprogramm und mit so einem zielbewussten Konzept etwas anfangen kann.

Raum für Luftschlösser

Balloonart Vienna nennt sich der neue Hausherr dieser Liegenschaft in der Wiener Siccardsburggasse. Was das Unternehmen macht, lässt sich mit zwei Worten erklären: heiße Luft. Und zwar in Form von herumkreisenden Zeppelinen, frei schwebenden Werbeträgern oder auch in Form diverser pneumatischer Konstruktionen.

Auf den Büroalltag umgemünzt heißt das, dass im Obergeschoß hauptsächlich verhandelt, telefoniert, entworfen und genäht wird, während in der großen Halle die angefertigten Sonderkonstruktionen im Anschluss daran zur Generalprobe kurz noch aufgeblasen werden, ehe sie abheben und in die himmlischen Gefilde der jeweiligen Auftraggeber entschwinden. Auch knatschbunte Hüpfburgen sind in dieser Manipulationshalle schon so manches Mal herumgestanden.

BEHF spricht von den gleichermaßen funktionalen Trennungen wie optischen Verbindungen innerhalb des neuen Firmenstandorts. Alexander Munninger, Bauherr und Geschäftsführer von Balloonart Vienna: „Ich hatte von Anfang an das Gefühl, BEHF beschäftigt sich tatsächlich mit dem Projek. Die anderen Architekturbüros haben teilweise nur UFOs präsentiert.“

Alte Halle, endlich wieder neu. Keine Frage, das ist eine sehr maßgeschneiderte Aufgabe. Doch wenn es Luftschlösser in Sonderanfertigung gibt, warum dann nicht auch Architektur?

Der Standard, Sa., 2006.02.11



verknüpfte Bauwerke
Balloonart Halle

04. Februar 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Zurück in eine schwebende Zukunft

Eine Holzkiste aus dem Jahr 1963 – natürlich in Vorarlberg. Der Zahn der Zeit hatte dem Wegbereiter des neuen Wohnens schon stark zugesetzt. Heike Schlauch und Robert Fabach vom Architekturbüro raumhochrosen haben das Kleinod gefühlvoll saniert und erweitert.

Eine Holzkiste aus dem Jahr 1963 – natürlich in Vorarlberg. Der Zahn der Zeit hatte dem Wegbereiter des neuen Wohnens schon stark zugesetzt. Heike Schlauch und Robert Fabach vom Architekturbüro raumhochrosen haben das Kleinod gefühlvoll saniert und erweitert.

Blob oder Box? Das ist eine Frage wie kalt oder warm, wie schwarz oder weiß. In einem Architektenleben – so scheint es – muss man sich eines Tages wohl oder übel für das eine oder andere entscheiden. Außer man betreibt sein Architekturbüro in Vorarlberg, denn da wird einem die Qual der Wahl abgenommen: Das Ländle ist unblobbig.

Eine von diesen vielen hölzernen Kisten, die in Vorarlberg anzutreffen sind, steht in Dornbirn. Und zwar schon seit 1963. Es handelt sich dabei um das Erstlingswerk des Roland- Rainer-Schülers Gunter Wratzfeld, um das Haus Watzenegg. Logisch strukturiert, großflächig verglast und dunkel beplankt stellt es weithin ein Musterbeispiel der „Vorarlberger Bauschule“ dar, die sich in den 60er-Jahren um neue Konzepte für eine qualitativ hochwertige und dennoch preisgünstige Wohnarchitektur bemüht hatte.

Sperriger Charme

Doch die Ästhetik der 60er- Jahre ist im Laufe der Zeit recht sperrig geworden, so richtig erschließen wollte sich einem der Charme des einstigen Kleinods trotz aller gestalterischen und funktionellen Qualität schon lange nicht mehr.

Andrea und Stefan Grabher haben sich der etwas angejährten Holzkiste mit Optimismus angenommen, über Empfehlung landete das Ehepaar, das sich beruflich selbst mit Wohnen und Einrichten befasst, schließlich beim Architekturbüro raumhochrosen. Zu den klassischen Bauherrenwünschen wie beispielsweise Erweiterung der Nutzfläche und Anpassung an den heutigen Stand der Technik gesellte sich jedoch noch ein weiterer, und zwar die originalgetreue Rekonstruktion des noch jungen, aber doch schon historischen Gebäudes.

Dialog mit der Zeit

„Die Arbeit mit vorhandener Bausubstanz bedeutet für uns vor allem Dialog“, erklären die beiden Architekten Heike Schlauch und Robert Fabach, „und zwar Dialog mit der Gestaltungswelt des vorangegangenen Planers, mit dem kulturellen Umfeld einer historischen Zeitspanne, aber auch mit dem Zeitgeist.“

Um sich zu vergegenwärtigen, was dieser theoretische Ansatz in der praktischen Handhabe heißt, sei Folgendes kurz umrissen: Sämtliche überkreative Eigenbau- und Anbau-Ausgeburten der letzten Jahrzehnte, die das ursprüngliche Konzept von 1963 eher verschleiert hatten, wurden kompromisslos entfernt. Eine Art morphologische Katharsis, denn dadurch konnte der Schwebezustand des Holzhauses wiederhergestellt werden.

Flair der Sixties

Das Obergeschoß wurde behutsam saniert, Bestandspläne und alte Fotografien standen dafür Pate. Auf diese Weise ist es gelungen, das typische Flair des 60er-Jahre- Apartments in all seinen Facetten zu behalten und – wo nötig – in seinen Urzustand zurückzuführen.

Eine freistehende Wendeltreppe, dunkler Teppichboden, helles Holz, schwarz lackierte Säumungen um die Türen. Das Bild des oben gelegenen Wohnzimmers flasht wie aus einer anderen Zeit – ein bisschen Wintersportort, ein bisschen Adolf Loos. „Wir haben uns sehr rasch und bewusst von der konventionellen Sanierungsstrategie eines demonstrativen Kontrasts entfernt“, so die Architekten. Nur so sei es möglich gewesen, den stillen Atem der originalen Ordnung nicht zu zerstören.

Im Untergeschoß dann der ultimative Clou in Form einer kleinen Betonkiste, die dem Holzbau sanft untergejubelt und sorgsam bis ganz nach hinten geschoben wurde. Die Auskragung ist groß genug, sodass der Schein des Schwebens gewahrt bleibt. Hinzu kommt die ersehnte Wohnraum- Maximierung mit zwei neuen Zimmern.

Gänzlich ins Erdreich eingeschoben, müssen die Räume mit einer einseitigen Belichtung auskommen, doch das tun sie auch. Die Stimmung ist ein wenig schummrig und erdig, nicht zuletzt durch die Belassung der Sichtbetonflächen im Innenraum. Einzig und allein zum vollflächigen Fenster schließt ein Holzpodest den Raum gemütlich ab.

Keck gedrehte Kiste Im oberen Baukörper ist die Schalung vertikal, in der unten ergänzten Betonkiste war man (auf vorarlbergische Weise halt) etwas keck und drehte die Schalungsrichtung der Holzplanken in die Waagrechte. „Die Akribie der Planung hat sich als sinnvoll erwiesen“, blicken alle Beteiligten heute zurück.

Fazit: Ein großartiges Wohnambiente im respektvollen Sinne alter Vorarlberger Architekturbaukunst, Detailverliebter Spaß fürs Auge inklusive. Im Übrigen wurden dem Haus Watzenegg schon des Öfteren raumhoch Rosen gestreut, darunter auch mit dem Bauherrenpreis 2005.

Der Standard, Sa., 2006.02.04



verknüpfte Bauwerke
Erweiterung Haus Grabher

03. Februar 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Das 20er Haus steht vor dem Verfall

Die Österreichische Galerie im Wiener Belvedere platzt aus allen Nähten, für die Sammlung des 20. Jahrhunderts gibt es dort de facto keinen Platz. Gleichzeitig...

Die Österreichische Galerie im Wiener Belvedere platzt aus allen Nähten, für die Sammlung des 20. Jahrhunderts gibt es dort de facto keinen Platz. Gleichzeitig...

Die Österreichische Galerie im Wiener Belvedere platzt aus allen Nähten, für die Sammlung des 20. Jahrhunderts gibt es dort de facto keinen Platz. Gleichzeitig steht das 20er Haus im nahen Schweizer Garten seit dem Kunstumzug ins Museumsquartier leer und verfällt.

Belvedere-Direktor Gerbert Frodl, dem eine fortwährende Nutzung des Ausstellungspavillons bereits zugesagt wurde: „Das 20er Haus befindet sich derzeit in einem sehr beklagenswerten Zustand, der von Monat zu Monat schlimmer wird.“ Aus Anlass der seit Langem ausstehenden Sanierung werden ab Freitag dieser Woche sowohl die obdachlosen Kunstwerke der Moderne als auch die Pläne fürs neue 20er Haus in einer Ausstellung im Belvedere der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Das 20er Haus gilt als Meilenstein zeitgenössischer Architektur. Auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958, für die das Gebäude von Architekt Karl Schwanzer ursprünglich konzipiert worden war, wurde der Österreich-Pavillon sogar mit dem Grand Prix d'Architecture ausgezeichnet.

1962 sorgte die kühne Konstruktion in Österreich noch einmal für Aufsehen: Auf Anregung des damaligen Unterrichtsministers Heinrich Drimmel wurde der Pavillon im Schweizer Garten wieder aufgebaut und als Museum des 20. Jahrhunderts eröffnet.

Doch die Ära der legendären Vernissagen und Kunsthappenings, die hier stattfanden, ist lange vorbei. Den 2003 ausgeschriebenen Wettbewerb zur seit Langem ausstehenden Sanierung und Erweiterung konnte Architekt Adolf Krischanitz für sich entscheiden, doch bis heute ist die Umsetzung der Wettbewerbspläne nicht komplett ausfinanziert.

Die Burghauptmannschaft als Auslober des zweistufigen Verfahrens konnte für die Umsetzung des Wettbewerbs bis heute rund fünf Millionen Euro zusagen, doch damit sei laut Architekt Krischanitz nur die Grundrenovierung gesichert. Weitere sechs bis sieben Millionen Euro für die Umbauarbeiten und für die Erweiterung des Gebäudes, die für einen funktionierenden Museumsbetrieb erforderlich sind, stehen noch aus.

Finanz-Kick fehlt noch

Derzeit werden dem Vernehmen nach intensive Gespräche mit Interessenten, darunter auch mit Banken geführt. Diese könnten als mögliche Sponsoren dem Projekt den bisher noch fehlenden Finanz-Kick verpassen.

Burghauptmann Wolfgang Beer: „Über den Erfolg des neuen 20er Hauses mache ich mir keine Sorgen, das Objekt steht im Mittelpunkt der Öffentlichkeit.“

[ „Kunst fürs 20er Haus“ - Ausstellungseröffnung am Freitag, 3. Februar 2006, um 19 Uhr, Österreichische Galerie Belvedere, Prinz-Eugen-Straße 27, 1030 Wien. ]

Der Standard, Fr., 2006.02.03

14. Januar 2006Wojciech Czaja
Der Standard

Wie singt der Schwan für Roland Rainer?

Kommenden Freitag eröffnet auf dem Areal der Wiener Stadthalle die neue Halle F. 2000 Sitzplätze fasst der Saal, adrett hingelegt scheint das Gebäude. Doch gibt es auch Platz für respektvolle Zitate inmitten der Eventkultur? Ein erster Spaziergang mit den Architekten Helmut Dietrich und Much Untertrifaller.

Kommenden Freitag eröffnet auf dem Areal der Wiener Stadthalle die neue Halle F. 2000 Sitzplätze fasst der Saal, adrett hingelegt scheint das Gebäude. Doch gibt es auch Platz für respektvolle Zitate inmitten der Eventkultur? Ein erster Spaziergang mit den Architekten Helmut Dietrich und Much Untertrifaller.

Höhepunkt des sozialen Städtebaues in Wien, eine der größten Schöpfungen dieses Jahrhunderts, nicht nur für ganz Österreich, sondern darüber hinaus für Europa." Wir schreiben das Jahr 1958, es ist dies die feierlich geschwungene Rede von Stadtrat Leopold Thaller angesichts der eben eröffneten Wiener Stadthalle. Ein Riesenbauwerk aus Stahlbeton und Glas, eines der kompliziertesten Bauvorhaben der Nachkriegszeit. Fünf Jahre Bauzeit, mit rund 250 Millionen Schilling sind die Baukosten fast doppelt so hoch ausgefallen wie ursprünglich angenommen.

Architekt Roland Rainer hebt in seiner Ansprache hervor, den Menschen als das Maß aller Dinge herangezogen zu haben, und bezeichnet das Veranstaltungsbauwerk als „eine Symphonie der Bautechnik“ und als „Huldigung für das Leben.“

Knapp 48 Jahre später feiert Wien ein weiteres Mal, wenngleich der 2004 verstorbene, ehemalige Stadtplaner Roland Rainer heuer leider nicht anwesend sein wird können. Wieder handelt es sich um einen baulichen Beitrag zum großen Komplex des Stadthallen-Areals, wieder entspringt dieses Resultat einem gewonnenen Wettbewerb. Helmut Dietrich und Much Untertrifaller, die mit dem Wettbewerbsprojekt Nr. 11 vor drei Jahren den Sieg für sich beanspruchen konnten, haben dem Rainer-Bau eine kleine Halle dazugesellt, die nun auf den Namen F hören wird.

Manche kleinformatige Werbebroschüren und diverse Stadtmagazinchen haben nicht einmal davor zurückgeschreckt, die notwendig gewordene Erweiterung des riesigen Event-Komplexes als putziges „Stadthallenbaby“ zu bezeichnen. Doch dagegen kann sich nun einmal kein Architekturbüro wappnen, genauso wenig wie gegen den Zustand, dass sich der Vorhang der Halle F justament für das ABBA huldigende Jenseitsmusical Mamma mia! erstmals öffnen wird. Bitter. Glitzernde Premiere ist am 20. Jänner 2006.

Doch wollen wir hier keine musikalischen Krokodilstränen vergießen, wissen wir doch alle, dass die Disziplin der Architektur an einem bestimmten Punkt immer eine Grenze erreichen muss. Und dann gilt es, jedes noch so anspruchsvolle Werk dem breiten Publikum zu übergeben. Widmen wir uns also jenem Bereich, in dem tatsächlich Dietrich und Untertrifaller das Sagen hatten. „Natürlich haben wir versucht, bestimmte gestalterische Konzepte von Roland Rainer zu übernehmen“, erklären die Architekten gegenüber dem STANDARD, „so konnten wir ein kohärentes Ensemble schaffen, ohne zwangsweise auf den 50er-Jahre-Zug aufgesprungen zu sein.“

Konkret heißt das - und das ist für einen zeitgenössischen Bau innerhalb der kurzlebigen Eventkultur eine ziemliche Seltenheit: Die kleine Halle von Dietrich Untertrifaller bauscht sich nicht zu einem lauten Hallo auf, sondern überlässt den Vorrang nach wie vor dem Roland-Rainer-Bau. Ein feines Zitat der Moderne, ohne dass ihnen in den bösen Wogen der Retromanie das Steuer entglitten wäre. Kein unnötiger Wulst, kein aufgeblasener Blob - solcher Zierrat aus der Feder eines Vorarlberger Architekturbüros hätte auch verwundert.

Das einzige tatsächliche Rufzeichen ist ein rotes F, das als freistehende, serifenlose Skulptur dem Neubau aufgesetzt wurde und nun den Namen der neuen Halle nach außen trägt. Der Bau selbst prahlt nicht nach allen Regeln der Entwurfskunst, mit irgendwelchem 3-D-Programm generiert worden zu sein, sondern hat - ganz nach Tradition der CAD-losen Zeit etwas Geknicktes, etwas Geschnitztes. Auch das kann als gewisser Tribut Roland Rainer gegenüber gedeutet werden, der für die große, morphologisch auch nicht unspannende Stadthalle einst an die tausend Pläne hatte fertigen müssen.

Die Stadthallenerweiterung ist sicherlich mehr als viele andere Realisierungen ein städtebauliches Projekt gewesen, das den bestehenden Komplex von Roland Rainer als Impuls aufgenommen hat", erläutern Dietrich Untertrifaller ihre Absichten. Doch wie ist es um die Halle bestellt, wenn man das Terrain der urbanen Großmaßstäblichkeit nun endlich hinter sich lässt und sich an das Herz des Gebäudes heranpirscht? Während die Architekten im Außenbereich stadthallengrau geblieben sind, haben sie in den Innenräumen zu einer wärmeren Farbskala gegriffen. Sämtliche Vorbereiche und die rundumlaufenden Foyers sind an den Wänden und an Boden und Decke in gedämpfter Akazie gehalten. Um sich den Farbton etwas zu veranschaulichen: Man fühlt sich geborgen wie in einem luxuriösen Zigarren-Humidor, so als wäre das Deckelchen über einem geschlossen worden. Genau dieser Luxus ist es auch, der den Leuten vermittelt wird, wenn sich der eigentliche Zuschauerraum ins Foyer stülpt und dort seine volumetrischen Spuren hinterlässt. Tiefes Rot an den Außenwänden des Saals, da spürt man, was der Begriff „Baukörper“ alles bedeuten kann. Und man kann es gar nicht missverstehen, Helmut Dietrich und Much Untertrifaller haben sichtlich Freude gehabt, den Zuschauerraum als Herzstück der neuen Halle F zu zelebrieren und hier die Formensprache der Außergewöhnlichkeit walten zu lassen.

Man betritt die Halle mit gestrecktem Rücken und einer derartig erhabenen Eleganz, die man am eigenen, schreibtischgeräderten Körper gar nicht für möglich gehalten hätte. Man betritt die Halle, als würde man hinter dem Vorhang schon einen sterbenden Ballett-Schwan erahnen, als würde man hinter dem Bühnenvorhang das von Hermann Nitsch gegossene Kulissenbild zur bibeldramatischen Hérodiade vermuten.

Wahrlich blutrot, als monochrom eingefärbte Schatulle entpuppt sich der Saal. Roter Teppich, rote Wände, rote Sitze. An die zweitausend Stück davon. Auffällig ist die Tatsache, dass der Raum mit einer sehr geringen Neigung auskommt und dass von allen Sitzplätzen perfekte Sicht auf die Bühne herrscht. Als besonderen Clou zur Umgehung der meist unerträglichen Hitze und Stickigkeit während der Theateraufführungen haben sich Dietrich und Untertrifaller eine ausgefuchste Belüftung des Saals einfallen lassen: Anstatt durch gewöhnliche Gitter im Randbereich des Saals strömt die frische Zuluft direkt aus den Stuhlbeinen und sorgt beim Zuschauer auf diese Weise für eine permanente kühle Brise während des Kunstgenusses.

Am Komplex der Wiener Stadthalle wurde bis weit in die Siebzigerjahre hinein gebaut. Es zeugt von einem gewissen Weitblick, dass es Rainer trotz aller Plastizität gelungen ist, eine dicht bebaute Stadthallen-Zukunft nicht auszuschließen. Die bisher letzte Ausbauphase ist nun abgeschlossen. Und man fragt sich, warum es die Halle F nicht immer schon gegeben hat.

Roland Rainers Schwanengesang - als solchen könnte man es jedenfalls bezeichnen - war sein letztes Buch unter dem Titel Das Werk des Architekten - Geplant Errichtet Verändert Vernichtet. Den Vorarlberger Architekten Dietrich Untertrifaller ist es mit diesem Projekt jedoch gelungen, den fahlen Nachgeschmack des Buchtitels zumindest eingedenk Roland Rainers zum Positiven zu wenden und das Postulat aufzustellen: „Geplant Errichtet Ergänzt Verdichtet“.

Mit dieser Geste ist die so schwer fassbare Disziplin des Städtebaus um neue Aspekte der Rücksichtnahme und des Wertschätzens bereichert worden. Auch wenn Roland Rainer selbst sich gegen den öffentlichen Wettbewerb um die Erweiterung „seiner“ Stadthalle gesperrt hat, da so manche Skizze zu diesem Thema schon in seiner Lade gelegen hatte, so gibt es doch einen schönen Ausklang auf der Bühne der nunmehr realisierten Halle F. Und der klingt besser als das sich an den Kopf fassende Mamma mia!. Denn die kleine, neue Stadthalle hat den leeren Ort im Märzpark mit souveräner Selbstverständlichkeit aufgefüllt. Ein Projekt, das als stiller, wenngleich hypothetischer Schwanengesang unter Umständen auch aus Rainers Brust zu hören gewesen wäre.

Der Standard, Sa., 2006.01.14



verknüpfte Bauwerke
Stadthalle Wien Halle F

31. Dezember 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Wo es sich brüstet

Was verbindet Julia Capulet, Hans-Dietrich Genscher und Benedikt XVI.? Sie alle standen auf einem Balkon, als sie etwas Wichtiges zu sagen hatten. Der Balkon: unersetzlich in der Historie genauso wie zu Silvester. Rechtzeitig zum Jahreswechsel also eine Ode an Balkonien

Was verbindet Julia Capulet, Hans-Dietrich Genscher und Benedikt XVI.? Sie alle standen auf einem Balkon, als sie etwas Wichtiges zu sagen hatten. Der Balkon: unersetzlich in der Historie genauso wie zu Silvester. Rechtzeitig zum Jahreswechsel also eine Ode an Balkonien

Luxusgut, Freiheitstraum und Immobilienhit: Die Rede ist vom Balkon, von jenem Gebäude-Anhängsel, das jeder haben muss, obwohl es niemand braucht. Doch wer denkt da nicht träumerisch an Romeo und Julia, an dieses kitschtriefende Bild, in dem lediglich ein winziger Balkon (und eine rabiate Sippschaft im Nacken) den Kavalier von seiner Dame trennt? Wer denkt da nicht - wem Verona zu weit erscheint - an Ulrich Seidls zutiefst wienerische Hundstage, an denen Mann und Frau teintbegierig in der Sonne brutzeln? Dann einmal ein bisschen Kräuter rupfen, Balkon-Frühstück servieren, spätabendlich schließlich Gelsenschwärme in toxische Wölkchen einsprühen.

Doch kaum ist der Sommer in weiter Ferne, was Ende Dezember zweifelsohne der Fall ist, scheint das einst noch pelargoniengesättigte Blumenbild wie weggewischt. Stattdessen reiht sich ein Outdoor-Abstellraum an den anderen, prall gefüllt mit Sommerreifen, gestapelten Gartenstühlen und feinstaubverhüllten Holzrodeln, die schon dem ersten Schneefall entgegeneifern. Ein architektonischer Nichtsnutz also? Ein Trugbild unserer sommerfrischen Sehnsüchte in einem Land, in dem die kühle Brise der Herr des Wetters ist?

Aber nichts davon, ganz im Gegenteil erweist ein kleiner Rückblick in die Geschichte, wie entscheidend der so bezeichnete „offene Austritt an Gebäudeobergschoßen“ schon immer gewesen ist. Man kann es nicht ändern, die Definition in Reclams Kleinem Wörterbuch der Architektur ist von der Sinnlichkeit des Shakespeare-Dramas nun einmal meilenweit entfernt. Wichtiger Nachsatz: „Meist auf Deckenvorkragungen mit Brüstungsabschluss nach außen.“

Genau diesem Phänomen schließlich verdankt der Balkon sein historisches Erbe, ist er doch irgendwo zwischen dem Drinnen und dem Draußen an das Haus geheftet. „Vielleicht ein Ort des Heraustretens aus sich, aber nicht, um sich von seinem seelischen Selbst zu verabschieden“, schreibt Christoph Leitgeb in einem Essay, „sondern um in der Distanz zum Zeichen zu werden für das Ganze des Gebäudes.“

Gleich zwei Mal hat der Balkon heuer als jener rühmliche Ort fungiert, der offen genug ist, um sich dem Publikum zu präsentieren, der andererseits aber auch wieder durchaus verschlossen auftritt, indem er die repräsentative Kulisse des jeweiligen Bauwerks hinter sich hat. Es war der Balkon am Petersdom, wo Joseph Ratzinger am 19. April 2005 zum ersten Mal Benedikt XVI. war. Feierlich drapiert, im Hintergrund die Staffage des geistlichen Weltzentrums, in der Nähe der Sixtinischen Kapelle, aus der kleinweise weißer Rauch herauspuffte.

In Österreich indes hat man des Staatsvertrags gedacht. Rechtzeitig zum Gedankenjahr 2005 sind einige Plastikduplikate des Belvedere-Balkons auf Österreich-Tournee gefahren, genau genommen eines pro Bundesland. Von einem Autokran in die Höh' gehievt, konnte der streng gedenkende Österreicher den Platz des ehemaligen Außenministers Leopold Figl einnehmen und bei Belieben aus tiefster Inbrunst „Österreich ist frei!“ herausschreien. Heute steht der in der Zwischenzeit ausgediente und ausrangierte Beitrag der „25 Peaces“ in mehrfacher Ausfertigung auf dem Gelände des Schlachthofs St. Marx. Ein zwittriges Objekt vor einem feinen Restaurant, unwissend, ob es nun als Werbeträger oder schlichtweg als Kultursondermüll sein Dasein fristen wird.

Was hat man nicht schon alles geboten bekommen auf Balkons! Romy Schneider vergnügte sich im ersten Teil der Sissi-Trilogie (Österreich 1955, Regie Ernst Marischka) mit Karlheinz Böhm in der Rolle von Kaiser Franz Joseph auf dem - wie könnte es anders sein - Balkon. Das frisch vermählte Brautpaar Lady Diana Spencer und Prince Charles boten im Juli 1981 den jubelnden Schaulustigen einen Kuss auf dem Balkon des Buckingham Palace, der fürwahr in die Geschichte des Schmusens einging.

Anders in Spanien anno 2004: andere Zeiten, andere Länder, andere Sitten. Das spanische Brautpaar Letizia und Felipe spannte die neugierige Schar vor der Fassade des Palacio Real auf die Folter, zum heiß ersehnten Kuss auf dem Hoffnungsträger Balkon kam es nicht, Felipe gab seiner Frau lediglich ein Küsschen auf die Wange.

Doch abgesehen von Lippenspielen und Glamour bleiben auch andere Balkonszenen unvergesslich, die etwas mehr Einfluss auf den Lauf der Geschichte haben sollten. Wie wären beispielsweise die Recherchen rund um den Watergate-Skandal weiterverlaufen, hätten Mark Felt und Bob Woodward nicht den Balkon als subtiles Kommunikationsmedium verwenden können? Ein kleiner Blumentopf auf dem Balkon, darin ein rotes Tuch. Allein die jeweilige Position des Blumentopfes gab dem Informanten „Deep Throat“ Aufschluss über die Dringlichkeit eines geheimen Treffens. „Wie er täglich meinen Balkon überwachen konnte, ist für mich noch immer ein Rätsel“, erklärt Woodward in seinen Erinnerungen an den Watergate-Skandal, „mein Balkon hätte von dutzenden Wohnungen und Büros aus gesehen werden können, soweit ich das beurteilen kann.“

Wann etwa würde die Berliner Mauer unter der politischen Last nachgegeben haben, hätte der Lauf der Geschichte auf die historische Prager Balkonszene am 30. September 1989 verzichten müssen? „Liebe Landsleute“, leitete Außenminister Hans-Dietrich Genscher damals seine Rede ein, „wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.“

Staatsverträge und vereinigende Geschichtsschreiberei auf der einen Seite, Prominente, Royals und regelmäßig der Öffentlichkeit präsentierte Neugeborene als Zeugen blaublütigen Familienglücks auf der anderen Seite. Da stelle noch jemand die Wichtigkeit des architektonischen Attributs namens Balkon in Frage! Unter diesem historischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkt stellt der Balkon seine baulichen Vettern Loggia und Terrasse gehörig in den Schatten, wenngleich der Balkon - im österreichischen Wohnbau zumindest - der einzige der drei Freiräume ist, der nicht der Wohnnutzfläche zugeschlagen wird. Minderwertig und minderbemittelt, a priori dazu verdonnert, allwinterlich als jämmerliches Gerätschaftsdepot missbraucht zu werden? Da scheint es nicht weit hergeholt, wenn diesen Balkon das gleiche Schicksal ereilt, wie es um jenes bauliche Beiwerk in Thomas Bernhards Stück Elisabeth II. (1984) bestellt war, als die steinerne Platte unter der Last der allzu großen Menschenschar nachgab und in die Tiefe stürzte.

Ein Balkon ist eben mehr als nur ein simpler Freiraum, der der Wohnung sozusagen gratis und nutzflächenindifferent zugeschlagen wird. Ein Balkon ist vielmehr ein städtisches und historisch gefestigtes Symbol, das wie der Bug der Titanic aus dem Haus herausragt und Loge wie Bühne in sich vereint. Zurückgezogener Schauplatz der stillen und heimlichen Voyeure zwar, doch im gleichen Atemzug auch schamlose Plattform von publicitysüchtigen Exhibitionisten. Und mehr noch gilt der Balkon als hochkulturelles Objekt der Begierde in Kunst und Politik, während er uns auch Ruhe und Entspannung beschert.

Genug der verwirrenden Theorie. Am Ende eines Jahres voller Päpste und Möchtegern-Figls zwischen Rom und der Provinz ist nun endlich Spaß angesagt. Ein Balkon zu Silvester - das mag sich als durchwegs praktisch erweisen angesichts so mancher Raketen- und Feuerwerkslaune, die dieser Tage unter uns grassiert. Gilt doch der Jahreswechsel als wahrscheinlich einziger Zeitpunkt im klirrend kalten Winter, zu dem das oftmals begehrte Sommerrefugium zur Abwechslung einmal einem bombastischen Nutzen näher gebracht wird. Auf dass es zische und knalle!

Gar so leicht ist das Zielen in den Himmel dann allerdings auch wieder nicht. Kaum hat man sich's versehen, kann es einem schon so gehen wie einst dem echten Wiener Edmund Sackbauer, dessen Feuerwerksversuch den Himmel gar nicht erst erreichte und stattdessen ein Fenster im Haus vis-à-vis zum Bersten brachte: „Die is danebengangen.“ Doch Mundl hatte ja auch keinen Balkon.

Der Standard, Sa., 2005.12.31

24. Dezember 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Am Sonntag wird gerastet

Justo Gallego und sein Lebenswerk am Rande von Madrid - Zwischenbilanz nach 42 Jahren. Ein Lokalaugenschein.

Justo Gallego und sein Lebenswerk am Rande von Madrid - Zwischenbilanz nach 42 Jahren. Ein Lokalaugenschein.

Justo Gallego trinkt immer Wasser mit Zucker, jeden Tag, und das schon seit Jahrzehnten. Dies sei gut gegen Muskelkater, meint er. Und wenn man sich den autodidaktischen Baumeister genau ansieht, dann weiß man recht bald, dass Justo schon viele Muskelkater überstanden haben muss, seine stark zerfurchten Hände verraten es. Seit nunmehr 42 Jahren baut er im Alleingang an einer Kathedrale, welche die konservative Tageszeitung El Mundo als eines der bedeutendsten Bauwerke der Gegenwart gerühmt hat. Ort des Geschehens: Mejorada del Campo, ein nettes Städtchen im östlichen Irgendwo von Madrid. Ein Hauptplatz, ein Kreisverkehr, eine Kathedrale - was will man mehr.

Fragt sich nur: Wie kommt man auf die Idee, eine Kirche zu bauen, so ganz allein? Ursprünglich war Justo Gallego glücklicher Mönch im Kloster Santa María de la Huerta gewesen, doch zehn Jahre später erwies sich Santa Maria als scheinheilig und schickte den überzeugten Kleriker aufgrund seiner Tuberkulosekrankheit zurück ins weltliche Exil. Das ist wahre christliche Nächstenliebe - allemal den anderen gegenüber. Genesen und voller Tatendrang, beschloss Gallego kurzerhand, sein gesamtes Hab und Gut zu verkaufen und die Grundstückserbschaft seiner Eltern anzutreten. In der Ära Franco noch durfte jeder bauen, der Grund und Geld hatte. Damit also war die grundlegende Idee geboren, sich sein eigenes Gotteshaus zu erschaffen.

Keine heilige Maria zwar, aber immerhin einen so genannten „Templo consagrado a la madre de Dios Nuestra Senora del Pilar“ hat der heute 80-jährige Gallego innerhalb von 42 Jahren auf die Beine gestellt - in Grundzügen zumindest. Der Rohbau steht, könnte man sagen. Der Rest der Geschichte ist erfinderischer und bodenlos kreativer Baustellenalltag, wenngleich die Bezeichnung „Tag“ für eine Zeitspanne, die an mittelalterliche Bauvorhaben denken lässt, einem ein wenig absurd erscheint. Justo arbeitet sechs Tage in der Woche, bis zu 15 Stunden am Tag. Am siebenten Tag rastet er wie dereinst Der da oben und wärmt sich den ganzen Tag an den vielen Ölkanistern, aus denen sommers wie winters Flammenfeuer emporschnellt.

Ist ja auch nicht verwunderlich, das Blut gefriert einem in den Adern: Bis heute hat Justo Gallego keine Unterstützung von Kirche oder Staat erhalten. Vor Kurzem hat der Bürgermeister den Aufgang in das Obergeschoß expressis verbis untersagt. Nicht nur für die vielen Besucher ist der Aufgang versperrt und plombiert worden, auch der Meister selbst muss sich nun einzig und allein mit den Arbeiten zu ebener Erde begnügen: „Ich wollte oben schon längst die Christusfiguren anbringen, doch ich darf nicht mehr hinauf.“ Das Kreuz auf der Laterne ist zumindest schon angebracht.

Die Stadtverwaltung argumentiert mit fehlenden Baubescheiden und einer unzureichenden Statik. Ein ziviltechnisches Gutachten habe es laut einer Dokumentation in „3sat“ zwar schon gegeben, doch man braucht nicht vom Fach zu sein, um das bedenkliche Resultat zu erahnen. Ein bloßer Blick genügt, und man hält über der verwunderlichen Tatsache inne, dass das Gotteshaus überhaupt noch steht. Doch es steht.

„Ich habe kein Geld, aber mit dem Hammer in der Hand gebe ich ein Beispiel für die Menschen.“ Architekten hätten zwar den Titel, meint der baustellenerprobte Praktiker, aber das reiche bei Weitem nicht aus, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Stattdessen liefert Justo seine eigene kleine Enzyklopädie der Baukunst.

Der Kreativmönch hat es immerhin geschafft, sich ein durchgängig eigenes und ausgefuchstes Bauvokabular zusammenzutragen. Gratismaterialien gibt's nicht allzu viel in der Baubranche, und so begnügt sich die Architektur mit wenigen unterschiedlichen Elementen - davon dann aber reichlich. Was in den vergangenen Jahrzehnten offensichtlich zur Genüge vorhanden war, dürfte so eine Art spiralförmige Bewehrung gewesen sein. In unterschiedlichen Radien verwendet, ergibt das ein schier unerschöpfliches Repertoire an architektonischen Details. Die kleineren Radien werden formgebend für Brüstungen, Fensterteilungen und Stiegen verwendet, aus den etwas größeren gelang es Justo, so manche Säule aufrecht zu stellen, die ganz großen Spiralbewehrungen schließlich fristen ihr Dasein als statische Überspannung des Querschiffes.

Auch das, was man im Architekturjargon gemeinhin so trefflich als Wandaufbau bezeichnen würde, bekommt in Mejorada del Campo eine ganz neue Dimension verliehen. Auf technische Perfektion wird gezwungenermaßen verzichtet, gestapelt wird alles, was stapelbar ist. Hohlblockziegel beispielsweise werden ihrer statischen Vernunft schlichtweg beraubt und werden in die Horizontale gelegt. Die Ziegelreihen sind einmal sehr regelmäßig, dann aber auch wieder nicht. Fest steht hier vor allem die Tatsache, dass ohne die hartnäckige Klebkraft des Mörtels die gesamte Kathedrale wahrscheinlich unter der Last des Irdischen zusammenfallen würde.

Manchmal werde ich mit Antonio Gaudí verglichen", erzählt Gallego in einem Interview, „aber mich deshalb als Künstler zu bezeichnen? Das geht doch nicht.“ Enthaltsamkeit kennt eben keine Grenzen. Schon gar nicht dort, wo sie in das Gebiet des eigenen Stolzes vordringt. Stattdessen konzentriert er seine negative Energie - auch davon hat er genug - auf die grundbösen Journalisten. „Immer diese Journalisten!“ Und für den Rest seiner Verbalattacken reichen die Spanischkenntnisse gerade noch aus, um festzustellen, dass das viele Baustellenmilieu dem Mönch nicht gut getan hat. „Nein, Sie dürfen kein Porträt von mir machen. Sie sehen doch, ich muss arbeiten!“ Viel Zeit bleibe ihm sowieso nicht mehr, da wolle man ihm noch welche wegnehmen?

Man tat es, wie die Fotos unmissverständlich zeigen. Die darauf folgenden Minuten waren reuevoll. Von einem Mann dieses Kalibers, mit blauer Arbeitskluft und roter Kappe des Grundstückes verwiesen zu werden, hat etwas Hässliches an sich. Aber mit einer kleinen Spende kann man sich aus der Verdammnis des publizistischen Fegefeuers wieder freikaufen. Der schrullige Justo steckt es ein und schreitet mit der Arbeit voran.

Im Hintergrund flackert eine Kerze auf dem provisorischen Altar. Einen anderen als diesen wird Justo Gallego in seiner selbst gebastelten Kathedrale - so viel muss man sich eingestehen - wahrscheinlich niemals mehr zu Gesicht bekommen. Der Mönch ist müde und schmerzgeplagt, an manchen Tagen könne er kaum noch seine Arme heben, erklärt er. Doch eines ist sicher: "Ich will weitermachen. Ob ich es je schaffen werde, weiß ich nicht. Doch ich kann nicht aufhören und werde für diese Kathedrale wohl sterben.

Der Standard, Sa., 2005.12.24

18. Dezember 2005Wojciech Czaja
zuschnitt

Balkonien mitten in der Stadt

Neue Umstände verlangen nach neuen Lösungen. Die belgische Stadt Namur beispielsweise kann von dieser Kausalitätskette ein Klagelied singen. Knapp 100.000...

Neue Umstände verlangen nach neuen Lösungen. Die belgische Stadt Namur beispielsweise kann von dieser Kausalitätskette ein Klagelied singen. Knapp 100.000...

Neue Umstände verlangen nach neuen Lösungen. Die belgische Stadt Namur beispielsweise kann von dieser Kausalitätskette ein Klagelied singen. Knapp 100.000 Einwohner zählte die nur 60 Kilometer von Brüssel entfernte Stadt, als 1986 beschlossen wurde, Namur zur wallonischen Regionalhauptstadt zu erklären. Mit der Veränderung der Stadt in ein administratives Zentrum gingen freilich institutionelle und stadtplanerische Veränderungen einher, nicht alle nur von positivem Ausmaß.

Mehr Verwaltung und mehr Menschen verlangten in erster Linie – abseits aller architektonischen Überlegungen – nach mehr Raum. Dieser Notwendigkeit Folge leistend, entrückte ein urbaner Aspekt nach dem anderen, neben Menschen mussten in der Stadt schließlich auch noch ihre dazugehörigen Fahrzeuge Platz finden. Erst verschwand daher der Markt auf dem zentral gelegenen Rathausplatz, bald einmal auch noch die umliegenden Fußgängerzonen. Vor ein paar Jahren zog die Stadtregierung der zum Parkplatz gewordenen Stadt die Notbremse, verbannte sämtliche Parkflächen in den Untergrund und schrieb einen Wettbewerb zur Neugestaltung aller öffentlichen Freiflächen aus.

Das atelier 4d konnte das Revitalisierungsprojekt für sich beanspruchen, 2004 wurde die umstrukturierte Innenstadt von Namur feierlich eröffnet. Manche Straßenzüge wurden miteinander wieder verwoben, Barrieren entfernt, Autos unter die Erde verbannt.

»Das Herzstück des neuen Projekts aber bildet die zentral gelegene Place d’Arme. Dany Poncelet und Jean Liard, die beiden Köpfe des Architekturateliers, haben das Unmögliche gewagt und den gesamten Platz – bis auf einen schmalen rundum gepflasterten Streifen – in Holz beplankt. Wieder die vermisste Sinnlichkeit in einen sonst so harten Freiraum der anonymen Stadtlandschaft zu bringen, war die Motivation der beiden Architekten. Und tatsächlich: In der Haptik warm und wohlig vertraut, knirscht der Platz leicht, schwingt bei jedem Schritt ein wenig und ist Teil eines subtil eingearbeiteten Wegleitsystems, doch diesmal auch für Sehende. Drei Brunnen im leichten Abseits, ein halbes Dutzend Holzbänke, das war’s dann auch schon mit der Möblierung.

Die gesamte Konstruktion besteht aus Ipé, einem robusten und strapazierfähigen tropischen Hartholz, das auch Lapacho oder Guayacan genannt wird und in Zentral- und Südamerika wächst. Verlegt wie ein herkömmlicher Industrie-Parkettboden, doch hier ausnahmsweise in einem etwas anderen Maßstab. Um selbst bei Regen eine rutschfeste Oberfläche zu garantieren, befindet sich zwischen zwei aneinander stoßenden Holzplanken jeweils ein schmaler Steg aus Edelstahl, der die glatte Holzebene um einen Hauch überragt. Bei schönem Wetter wird die Place d’Arme zur öffentlichen Terrasse für die Stadt. Während sich die einen dem Sonnenschein hingeben, betreten andere den Platz als Bühne, um ihr skatendes und tanzendes Können zum Besten zu geben. An den Wochenenden hingegen wird er endlich wieder seiner historischen Nutzung zugeführt. In den frühen Morgenstunden beginnt sich der längst schon verloren geglaubte Markt über den neuen/ alten Rathausplatz auszubreiten; das klackende Geräusch der regen Arbeiten auf dem hölzernen Boden gibt selbst dann noch Aufschluss über die Besonderheit der revitalisierten Place d’Arme.

zuschnitt, So., 2005.12.18



verknüpfte Bauwerke
Stadtplatz in Namur



verknüpfte Zeitschriften
zuschnitt 20 Holz urban

13. Dezember 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Zehn Kilometer von Ost nach West

Wenn man eine Galerie betritt, dann erwartet man sich meistens schöne Bilder an schönen Wänden. Im Falle einer Architekturausstellung sind es dann schöne...

Wenn man eine Galerie betritt, dann erwartet man sich meistens schöne Bilder an schönen Wänden. Im Falle einer Architekturausstellung sind es dann schöne...

Wenn man eine Galerie betritt, dann erwartet man sich meistens schöne Bilder an schönen Wänden. Im Falle einer Architekturausstellung sind es dann schöne Modelle auf schönen Podesten. Ganz gewiss rechnet man aber nicht damit, über Stahlgerüste und quer gespannte Infusionsschläuche steigen zu müssen.

Doch keine Sorge, was sich wie ein medizinisches Fiasko anhört, ist in Wirklichkeit die Ausstellung AustriArchitektur, die nach Berlin nun Wien angesteuert hat. Kuratorin Lilli Hollein zeigt „Sieben Debüts aus Österreich“ - so der Untertitel der kleinen, aber feinen Schau. Hollein: „Eine klassische Projektausstellung kann man jederzeit machen, doch ich wollte jene wertvolle und kurz andauernde Etappe aufzeigen, die vor diesem Schritt in die Realität stattfindet.“

Hier werden dem Publikum ganz individuelle und persönliche Zugänge zur Architektur präsentiert. Lorenz Potocnik beispielsweise implantiert eine verkleinerte Nachbildung seines Wohnzimmers in den Ausstellungsraum. Siebbedruckt und aufkaschiert sieht man des Architekten Bücherregale, bekommt Einblick in seinen Kleiderkasten, sieht man selbst das Bett und darf zu guter Letzt auch noch in seinem persönlichen Notizbuch schmökern.
Exhibitionismus oder humorvolles Umdenken? „Bei großen Meistern der Architektur wird dieser Privatvoyeurismus gewürdigt, ja nahezu verlangt“, erklärt die Kuratorin, „warum also nicht auch früher?“ Irgendwo hat sich sogar eine kleine Lade mit persönlichen Gegenständen des Architekten versteckt - ein Freibrief für Diebstahl? Das nennt sich dann wohl Interaktion.

Die restlichen Beiträge von raumhochrosen, touzimsky+ herold, synn, span und des poolbar-Festivals werden von einem Ausstellungskonzept aus der Feder von heri&salli, die übrigens auch selbst exponieren, zusammengefasst. Ein sperriges Stahlgerüst mit bespannten Schnüren schafft die unterschiedlichen Raumkojen, in denen sich jedes einzelne Büro nach Belieben präsentieren kann. Was auf den ersten Blick wie ein überdimensionaler Gartenstuhl aus den Fünfzigerjahren aussieht - Sie wissen schon, der mit den färbig umwickelten Gummischnüren - entpuppt sich letzten Endes als handelsüblicher Infusionsschlauch, der eigens rot eingefärbt wurde. Davon nicht wenig, nämlich zehn Kilometer, wurden insgesamt verwickelt.

Nicht ganz so weit davon entfernt, harrt das Semperdepot, in dem noch bis kommenden Samstag die Wanderausstellung Austria West zu sehen ist. Über 70 Projekte von insgesamt 26 Architekten aus Tirol und Vorarlberg werden auf riesigen, aber niedrigen Stahltischen gezeigt und bieten einen Überblick über das außergewöhnliche Schaffen in der titelgebenden Himmelsrichtung dieses Landes.

„Die westösterreichische Architektur zählt heute zu den lokalen Baukultur-Landschaften mit der größten internationalen Durchschlagskraft in Europa“, so Kuratorin Liesbeth Wachter-Böhm, „es gibt sicher nur wenige Regionen, die eine vergleichbare Dichte und Intensität architektonischer Äußerungen vorweisen können.“ Den Abschluss bildet nächstes Wochenende eine große Finissage mit den präsentierenden Architekten.

[ „AustriArchitektur - Sieben Debüts aus Österreich“, zu sehen im Lichtforum Zumtobel Staff, Jasomirgottstraße 3-5, bis 23. Dezember 2005.
„Austria West“, zu sehen im Semper-Depot, Lehárgasse 8. Finissage am 17. Dezember 2005 um 19 Uhr. ]

Der Standard, Di., 2005.12.13

10. Dezember 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Runter von meiner Wolke, du böse Werbung!

Gute Miene zum bösen Spiel? Damit das beim Öffnen der Packerln nicht passiert, hat Wojciech Czaja einmal ein bisserl vorselektiert und sich die Frage gestellt: Was hat Weihnachten mit Werbung und Städtebau zu tun? Bücher geben Antwort.

Gute Miene zum bösen Spiel? Damit das beim Öffnen der Packerln nicht passiert, hat Wojciech Czaja einmal ein bisserl vorselektiert und sich die Frage gestellt: Was hat Weihnachten mit Werbung und Städtebau zu tun? Bücher geben Antwort.

Machen wir uns nichts vor. Diese bevorstehende Nervenprobe eignet sich bestenfalls dazu, einmal laut Hilfe zu schreien angesichts der Erkenntnis, zum geknickten Misanthropen mutiert zu sein. Da helfen auch die vielen eingewickelten Gaben nicht weiter, die unter der Fichte ihrer Entblößung harren. Max Goldt spricht in seinem heuer erschienenen Buch Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens (Rowohlt, € 18,40) von ebenjenem Zauber des seitlich dran Vorbeigehens, sobald er sich Weihnachtsmärkten und Punschhütten nähert: „Weihnachten ist eine der drei großen Volksschwächen“, meint er darin. Zur ersten Stillung der großen Neugier: „Die anderen beiden sind Autos und Fußball.“

Doch bleiben wir bei ersterer Schwäche, bei W wie Weihnachten, bei W wie Wahnsinn und bei W wie Werbung. Was mit uns alljährlich und unbewusst geschieht, wenn wir durch die urbanen Straßenzüge geschoben werden, darüber haben sich in letzter Zeit einige Autoren, Architekten und Systemkritiker den Kopf zerbrochen. Das Buch Marken - Labels - Brands (herausgegeben von Martin Baltes, Orange Press, € 15,50) widmet sich den stillen Produktmelodien im Supermarkt und den ganz subtilen Marketingstrategien der Global Player, die uns unter anderem dazu verzaubern, mit buchgefüllten Einkaufstaschen nach Hause kommen.

Interviews und Essays aus dem 20. und 21. Jahrhundert - wie das klingt! - werden zusammengetragen (unter anderem kommen Karl Marx, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Roland Barthes und Paolo Landi zu Wort), die letzte Seite zitiert Andy Warhols berühmtes Städtebautheorem aus den 60er-Jahren: „Das Schönste an Tokio ist McDonald's, das Schönste an Stockholm ist McDonald's, das Schönste an Florenz ist McDonald's. Peking und Moskau haben bis jetzt nichts Schönes.“

Wem das zu viel Fastfood-Werbung ist, dem sei die Lektüre des nicht ganz so neuen, aber immer noch grandiosen und brandaktuellen Buches Culture Jamming (Kalle Lasn, ebenfalls Orange Press, € 18,50) ans Herz gelegt, ein Meisterwerk der zynischen Schreibe und - wenn man so will - die Partnerlektüre zu Naomi Kleins No Logo! aus dem Jahre 2000 (z.B. Goldmann, € 10,30).

Culture Jamming bezeichnet die kulturelle Praxis, gegen die Inbesitznahme öffentlicher Räume durch die Industrie vorzugehen. Aufgezeigt werden unter diesem Betrachtungswinkel neue Marketingstrategien aus den USA, wie etwa kleine Immobilien-Sujets in Golf-Holes, die bereits auf die bückfreudigen Nobelsportler warten, oder die Offensive des australischen Schülers David Bentley, der seinen Kopf für viel Geld an diverse Unternehmen vermietet; im Monatsrhythmus rasiert er sich das jeweilige Logo ins Haar. Die amerikanische Multiplex-Kette wiederum wirbt mittels kleiner, Chiquita-ähnlicher Aufkleber auf echt gesunden Supermarkt-Bananen, ein australischer Radiosender stempelt sein Logo auf zwei Millionen echt glückliche Eier, und IBM beamt seine Trademark in den Wolkenhimmel über San Francisco. Der echt blanke Horror? Oder etwa Städtebau à la Gotham City?

Und weil Weihnachten auch wirklich gar nichts mit Werbung, Branding und dem umtriebigen Treiben der Konzerne zu tun hat, sei noch auf ein letztes antikapitalistisches Buch verwiesen. Friedrich von Borries wirft die Frage auf: Wer hat Angst vor Niketown? Die Antwort darauf ist bei Episode Publishers erschienen und kostet € 20,80. Der Bösewicht Nike wird streng unter die Lupe genommen: Ist Niketown tatsächlich eine Stadt? Und wie kann man mit Sportschuhen Urbanismus betreiben?

Ganz einfach: Zur Eröffnung von Niketown Berlin wurde - John F. Kennedy zu Ehren (?) - folgender Werbeslogan plakatiert: „Lass dich nicht von Deiner Stadt ausnutzen - nutze Deine Stadt aus.“ Nike beherrscht die Polemik des Kapitalismus zweifelsohne. Borries knüpft an und versucht, mit der gleichen Akribie dem Leser eine Ahnung davon mitzugeben, welch fatale Auswirkungen die Werbepolitik auf die Stadt hat.

Haben Sie sich die Werbebotschaften, die uns in der Stadt regelrecht anplärren, schon einmal bewusst angesehen, beispielsweise die Neubaugasse im dicht bebauten siebenten Wiener Innenstadt-Bezirk? Im Juni heurigen Jahres wurde es einem ganz leicht gemacht, als die beiden Künstler Rainer Dempf und Christoph Steinbrener in einem Teilstück der besagten Einkaufsstraße sämtliche Werbebotschaften in knallgelber Farbe gelöscht haben. Delete! Die Entschriftung des öffentlichen Raums lautete damals die städtische Intervention und ist nun in einer ebenso gelben Publikation dokumentiert worden (Mitherausgeber Siegfried Mattl, Orange Press, € 18,50).

Doch was der Kunst gelingt, kann die Disziplin des Urban Planning allemal. „Interaktiver Urbanismus“ nennt sich das neue Phänomen, dem das Buch Serve City nachgegangen ist (herausgegeben von Regina Sonnabend, englisch/deutsch, Jovis, € 25,50). Die Herausgeberin: „Erdulden wir die Veränderung unserer Lebensbedingungen nur, oder nehmen wir aktiv Einfluss auf deren Gestaltung?“

Am Beispiel eines stillgelegten Güterbahnhofs am Rande von Sydneys Innenstadt wird ein Stadtplanungskonzept der etwas anderen Stadt betrieben. Anhand von infrastrukturellen Experimenten und unter Miteinbeziehung von Wissensarbeiten werden „dynamische Planungswerkzeuge“ entwickelt. Was das alles genau heißt, kann man schließlich nachlesen. Und man wird insofern überrascht, als dass die anfänglich hohl klingenden Lifestyle-Floskeln, derer man sich hier so gern bedient, nicht schon die eigentliche Materie dieser Lektüre sind (was ja leider allzu oft der Fall ist), sondern eben nur bildliches Mittel zum Zweck.

Wer es dennoch abgehoben schätzt, sei dazu eingeladen, € 30,60 bei Hatje Cantz auszulegen und sich dem aggressiven Appell der Rolling Stones, aufgegriffen von Coop Himmelb(l)au, zu stellen: Get Off of My Cloud (herausgegeben von Martina Kandeler-Fritsch und Thomas Kramer. Und man denkt sich: Das ist es, was sich die Wolken über San Francisco aus der Kehle schreien würden, wären sie bloß nicht stumm . . . Das dunkelblaue Buch ist eine Art monocolore Monografie über das gesamte Sein und Schaffen des Wiener Büros, die mit 1500 Gramm fast schon so gewichtig ist wie beispielsweise die Bibel von Rem Koolhaas. Dennoch, S, M, L, XL bringt immerhin ein gutes Kilogramm mehr auf die Waagschale.

So richtig auf den Boden der Realität holt uns - als kosmopolitischer Abschluss - die ewig andauernde Diskussion rund um Ground Zero zurück. Die Odyssee eines Stadtplanungsareals, das ein weiteres Mal den Beweis antritt, dass Städtebau ohne Politik und Wirtschaft und ohne deren aggressive Werbestrategien nicht existiert. Daniel Libeskind hat zwar den Wettbewerb für die Bebauung des Ground Zero gewinnen können, doch Architekt David Childs, Traumarchitekt eines jeden US-Immobilienhais, weiß leider etwas besser, wie der Hase läuft.

Rendite statt städtebaulicher Symbolik lautet die erfolgreiche Devise. Noch mehr ärgern kann man sich über die Weltwirtschaftsmaschine, wenn man in der überaus spannend zusammengestellten Dokumentation Imagining Ground Zero nachschlägt (Official and Unofficial Proposals for the World Trade Center Site, herausgegeben von Suzanne Stephens, engl., Rizzoli New York, € 72,00).

Für diejenigen, denen trotz bester und bemühtester Werbung und Buchwiegerei für das eine oder andere spannende Buch die Lust am Konsum nun total vergangen ist, gibt es noch einen allerletzten Rettungsanker: Architektur & Baustilkunde, hübsch kompakt, ein wenig bunt und fein billig (Moses, € 5,10). Wer schon immer wissen wollte, aus welchem Land der Architekt des ehemaligen World Trade Centers stammt, für den ist das Kartenspiel mit 150 Fragen und Antworten gerade richtig. Beim neuen World Trade Center wird's dann ja etwas leichter: a) Amerikaner, b) Amerikaner oder etwa c) Amerikaner?

Der Standard, Sa., 2005.12.10

26. November 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Schönheit kostet nichts

Die Kunstuniversität Linz hat sich in raue Gefilde vorgewagt. Einblicke in ein Kinderheim fernab von Hochglanzästhetik und aalglatten Renderings. Südafrika - oder - der Unterschied zwischen Entwicklungshilfe und Entwicklungshilfe.

Die Kunstuniversität Linz hat sich in raue Gefilde vorgewagt. Einblicke in ein Kinderheim fernab von Hochglanzästhetik und aalglatten Renderings. Südafrika - oder - der Unterschied zwischen Entwicklungshilfe und Entwicklungshilfe.

Die Welt der Architekturpublikationen ist voll mit den Hochglanzbildern teuerster Architekturen und wohldesignter Objekte. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der dem Überflüssigen viel mehr Hinwendung, Zeit und Geld zufließt als dem Notwendigen“, erklärt Architekt Roland Gnaiger, Leiter der Architektur an der Kunstuniversität Linz: „Es scheint paradox, aber: Luxus zieht alle Energie an sich und steigert den Mangel!“ Mehr noch, Gnaiger bezeichnet diese Architektur als die perfideste Form des Bauens überhaupt.

Reichtum und Überschuss - das sind genau jene Faktoren, mit denen der Großteil der Erdbevölkerung gar nicht erst konfrontiert wird. Die Rede ist von jener machtlosen Mehrheit, die weder medial noch politisch oder wirtschaftlich über jene Mittel verfügt, um im Sog der Globalisierung jemals oppositionell auftreten zu können.

Christoph Chorherr bringt es dem STANDARD gegenüber auf den Punkt: „Die Zukunft unseres Planeten wird nicht ausschließlich in den westlichen Ländern entschieden“, es sei daher wichtig, Ressourcen und Know-how intelligent untereinander aufzuteilen. Eine Erkenntnis, die den Global Playern längst nicht mehr fremd ist. Zumindest diesen einen Aspekt gibt es also, den man sich als dünnes Scheibchen von den großen Konzern-Bösewichten abschneiden kann.

Das hat für den Grünen-Politiker ausreichend Motivation geboten, den gemeinnützigen Verein Sarch zu gründen. Hinter der Namensgebung verbirgt sich der Begriff der social sustainable architecture. Chorherr: „Sarch ist der Versuch, die unglaubliche Energie und Kraft, die in den Universitäten steckt, herauszukitzeln und ihr endlich ein intelligentes Ventil zu geben.“

Vergangenes Jahr gab es bereits ein erfolgreiches Projekt in Zusammenarbeit mit der TU Wien, heuer wurden die Architekturstudierenden der Kunstuni Linz zur Kooperation eingeladen. Architekturprofessor Roland Gnaiger: „Zu Beginn wussten wir gar nicht, ob wir genügend Studenten für dieses abenteuerliche Wagnis zusammentrommeln können, und am Ende mussten wir die Liste der Interessenten sogar noch kürzen.“

Universitäten und NGOs arbeiten ernsthaft zusammen - endlich wurde das intelligente Ventil auch auf der nicht universitären Seite montiert. Die milde Süße des Wolkenkuckucksheims Bildungsstätte wird verlassen, flügge steuert man der beinharten Realität entgegen. Und fliegt in den Süden. Beispielsweise nach Johannesburg, genauer gesagt nach Orange Farm, einem jener unzähligen Townships, die während der Apartheid für farbige Bevölkerungsschichten errichtet wurden und die noch lange nicht der Vergangenheit angehören werden.

Nein, in diesen Vororten spielt's nicht die Desperate Housewives auf südafrikanisch, tatsächlich haben diese Gettos riesige, verzweifelte Ausmaße angenommen und ringen seit jeher mit Armut, Aids, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus. Was darüber hinaus fehlt, ist einerseits eine funktionstüchtige Infrastruktur, andererseits eine ebenso funktionstüchtige Bauweise, die die kleinen Häuser im Sommer nicht in Grillstationen und im Winter in Kühltruhen verwandelt.

Es sei unvorstellbar, erklärt Gnaiger, doch die Bewohner dieser ungedämmten „shacks“, wie die meist blechgedeckten Baracken in Südafrika genannt werden, seien zwischen Sommer und Winter Temperaturschwankungen von über 40 Grad ausgesetzt. (Spätestens jetzt kann sich jeder Laie unter dem Berufsbild des Bauphysikers etwas vorstellen.)

Am konkreten Beispiel der längst überfälligen Erweiterung eines Kinderheims in Orange Farm wuchsen die Studentinnen und Studenten zu ebensolchen bauphysikalischen Profis heran. Teilweise sogar in autodidaktischer Eigenregie, denn am Schreibtisch sitzend ist da nichts mehr zu erreichen. Und das bedeutet Trial and Error, unermüdliche Empirie oder - wie es Sarch ausdrückt - „build together, learn together“.

Neben einem klugen Konzept, das neue Räumlichkeiten für die behinderten Kinder des Tebogo-Kinderheims vorsieht, galt der studentische Eifer vor allem also der Auseinandersetzung mit den klimatischen Bedingungen, der Rücksichtnahme auf die örtlich verfügbaren Materialien, einer schweißtreibenden Keilerei und Sponsorensuche, und nicht zuletzt auch der Realisierung der entwickelten und herangereiften Planung.

Dreieinhalb Monate Vorbereitungszeit - gebaut wurden das Therapiegebäude, das Küchenhaus und die Pergola dann in nur fünf Wochen. Dem gebührt hoher Respekt. Wie im Übrigen auch den vielen tat- und finanzkräftigen Sponsoren dieses Projekts.

Ich verstehe Sarch nicht als Entwicklungshilfe-Organisation", erklärt Chorherr, „denn es geht in erster Linie darum, zu lernen und sich dem schwierigen Thema der Nachhaltigkeit unter finanziellen wie technischen Mangelbedingungen zu widmen.“ Ohne Kooperation mit Anrainern und behördlich versierten Einheimischen wäre das alles nicht möglich gewesen.

Den Studenten hat Sarch die nahezu absolute Narrenfreiheit erteilt. Die einzige Vorgabe: Wenn ein Projekt begonnen wird, soll es so dimensioniert werden, dass die Studenten tatsächlich in der Lage sind, es auch bis zur letzten Schraube fertig zu stellen. „Es darf auf keinen Fall ein weiterer White Elephant in die Landschaft gestellt werden“, das sei ohnehin schon eine beliebte Eigenschaft von vielen Entwicklungshilfe-Projekten.

Beim Bau des Tebogo-Kinderheims hat man sich beispielsweise nicht damit zufrieden gegeben, irgendwelche Ziegelwände hochzuziehen, sondern hat sich einer Bauweise angenähert, die - bis auf die Arbeitszeit der miteingebundenen Einheimischen - mehr oder weniger gratis war. Ein Skelett aus Holz, dieses wurde mit geflochtenen Grasmatten verkleidet, der Zwischenraum wurde ganz einfach mit Erde ausgestopft, schließlich wurde der fertige Wandaufbau in Lehm eingepackt. Mit einem Wort: Alle Materialien wurden aus dem All-you-can-use-Buffet von Mutter Erde beigezogen, das ist gebaute afrikanische Tradition.

Das Gustostückerl an der Sache: Hier ist nicht nur ein fruchtbarer und neuer Boden für ein Kinderheim in Orange Farm geschaffen worden, hier ist auch Schönheit gebaut worden. Nein, nachhaltige Architektur muss nicht wie ein abgestellter und vergessener Lehmhaufen ausschauen. Und ja, Low-Cost-Technologie und Hilfe zur Selbsthilfe darf auch den objektiv nur schwer fassbaren Blickwinkel der Ästhetik miteinbeziehen. Es wäre mittlerweile an der Zeit, dass sich diese Einsicht in der Architekten- und Bauherrenschaft endlich herumspräche!

Die wahnwitzige Formel lautet, dass Schönheit mit Eitelkeit, Luxus und Verschwendung gleichzusetzen sei, mokiert sich Roland Gnaiger. „Also: Wo Armut herrscht und Not, muss auch Hässlichkeit sein?“ Schönheit ist ein Grundrecht. Auch dort, wo sie nicht glänzt.

Der Standard, Sa., 2005.11.26

11. November 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Hüttenzauber

Hale County in Alabama hat andere Sorgen als die Muse der Architektur. Und doch ist es gelungen, selbst in der sozial schwachen Unterschicht charmante Baukunst walten zu lassen. Obdach einmal anders, Einblick in die Tätigkeit des Rural Studio

Hale County in Alabama hat andere Sorgen als die Muse der Architektur. Und doch ist es gelungen, selbst in der sozial schwachen Unterschicht charmante Baukunst walten zu lassen. Obdach einmal anders, Einblick in die Tätigkeit des Rural Studio

Sweet Home Alabama. Ein Hollywood-Schinken aus dem Jahr 2002. Ein - wiewohl zynischer - Titel, dahinter aber eine aalglatte Story über eine in New York lebende Modedesignerin, gespielt von Reese Witherspoon, aus der eines Tages die südstaatliche Vergangenheit herauszubröckeln beginnt. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein euphemistischer Bilderreigen aus der Traumstadt labyrinthisch an den eigentlichen Facts einer Region vorbeiführt.

Und diese wären: einer der ärmsten Staaten der USA, eine offizielle Armutsrate - wie auch immer sich diese definiert - von fast 40 Prozent, damit eine der höchsten Arbeitslosenzahlen in den Südstaaten. Hinzu kommt neben der Problematik fortwährenden Rassismus auch die Tatsache, dass viele ländliche Gebiete in Alabama an einem regen Abzug der Mittel- und Oberschicht leiden, was eine Besserung der Umstände in weite Ferne rückt.

Grund zu handeln, dachte sich die Auburn University schon vor gut zehn Jahren und schickte ihre Studenten vor Ort. Damit war das so genannte Rural Studio geboren, jene mehr oder weniger autonome On-the-Road-Meisterklasse, die heute von Andrew Freear geleitet wird und quer durch Hale County vagabundiert. Hier werden keine feschen Pläne geschmiedet, hier werden mit den Brocken der Realität tatsächlich Häuser gebaut.

Für die Dauer von ein bis zwei Semestern werden die Studenten als Arbeitskräfte tätig. Nein, das ist kein Arbeitslager, sondern ein Entwurfsseminar - ein Studio eben -, an dem man teilnehmen kann, um Wochenstunden zu ergattern und um statt der üblichen, gähnenden Theorie auch einmal Landluft und Mörtelduft einzuatmen.

Auf den ersten Blick sieht das alles ein wenig nach aggressiver Architekturpolitik auf dem Land aus, vor allem aber klingt das nach neureichen Dandys, die gemeinsam einen Ausflug in den Sozial-Zoo unternehmen. „Was für ein erzieherisches Statement soll das sein, wenn ein Haufen junger, weißer Mittelstands-Kids eine unterprivilegierte Familie aussucht, der wir dann ein Haus hinstellen?“

Freears Ansatz hingegen: „Der eigentliche Weg, an Klienten zu kommen, ist hinzufahren und zu warten, bis die Leute von selbst zu uns kommen, weil sie von uns gehört haben.“ Das Echo scheint groß zu sein, in den rund zwölf Jahren, in denen das Rural Studio in Hale County nun tätig gewesen ist, konnte es bereits rund 50 realisierte Projekte verbuchen. „Das Rural Studio erarbeitet Projekte, die ein stinknormales Architekturbüro prestigemäßig wahrscheinlich nicht annehmen würde und die sich für ein herkömmliches Büro auch gar nicht rechnen könnten. Wenn wir keine Studenten als kostenlose Arbeitskräfte hätten, könnten wir das Programm vergessen.“

Doch auch in Hale County hat Architektur ihren Preis, um den der Kunde nicht umhinkommt. Die Bauherren müssen einen Vertrag unterzeichnen und beweisen, dass sie die rechtmäßigen Grundstücksbesitzer sind und dass sie am Hausbau auch mit anpacken werden. „Man muss schon damit rechnen, dass sich so ein Bau über viele Monate hinzieht“, schildert Freear die Umstände auf der Baustelle, „ohne Bagger und schnell aufgestellte Stahlbetonwände können wir natürlich nur langsam arbeiten, aber dafür warten wir mit einem verlockenden Endergebnis auf.“ Es geht nicht nur um eine funktionelle Alternative zu den teilweise desolaten Mobile Homes, in denen die Menschen oftmals wohnen, sondern um ein unverwechselbares Haus, das in der Form wahrscheinlich kein zweites Mal zu finden ist. Die Architektur, um die es hier geht, konzentriert sich auf Recycling und auf die unorthodoxe Wiederverwertung von Baustoffen und Produkten, je nach Sammlertrieb und Sachspenden aus der Industrie. Verwendet werden etwa Windschutzscheiben von ausrangierten Taxis, kurz bevor sie in der Schrottpresse zerquetscht werden, die Wände beispielsweise bestehen aus übereinander gestapelten Autoreifen, die anschließend mit Lehm beworfen werden. Doch auch mit gepresster Pappe oder mit alten Teppichfliesen, wie man sie aus Großraumbüros kennt, hat man schon einige Erfahrungen gemacht.

Fazit: Home sweet home einmal anders, jenseits speckiger Hochglanzästhetik und weit entfernt von den üblichen normativen Mustern der freien Marktwirtschaft. Doch am beeindruckendsten ist der erbrachte Beweis, dass Recycling-Architektur nicht gezwungenermaßen trashig sein muss. Ganz im Gegenteil, sie ist sogar im Stande, ein neidvolles Lächeln zu entlocken. Womöglich auch Reese Witherspoon.

Der Standard, Fr., 2005.11.11

09. November 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Adieu Tristesse!

Kann Architektur glücklich machen? Muss immer alles in Anthrazit ange- pinselt sein? Und wer will überhaupt Authentizität? Fragen über Fragen, ein paar neue Konzepte, und wenn alles gut geht, sind am Ende sogar die Bewohner glücklich

Kann Architektur glücklich machen? Muss immer alles in Anthrazit ange- pinselt sein? Und wer will überhaupt Authentizität? Fragen über Fragen, ein paar neue Konzepte, und wenn alles gut geht, sind am Ende sogar die Bewohner glücklich

Beim allabendlichen Durchblättern der Hochglanz-magazine frisst uns der Neid. Es reicht weder die Zeit noch das Geld, um sich dem medial so viel propagierten und Lifestyle-tauglichen „Wohntraum“ hinzugeben. Stattdessen fragt uns Ikea: „Wohnst du noch oder lebst du schon?“, und in der Realität finden wir nur allzu schwer Antwort auf diese rhetorische Frage.

Flashback: Zimmer, Küche, Kabinett. Zu wenig Stauraum, alles quillt über. „Der Wohnbau ist noch lange nicht zu Ende gedacht. Wir sind nur wenige Schritte von dem veralteten Gesamtkunstwerk entfernt, das keine Verletzung duldet“, so Architekt Helmut Wimmer, der in Österreich schon so manchen sozialen Wohnbau auf die Beine gestellt hat. Für Wimmer ist das alles erst „der Anfang eines freien Wohnbegriffs, der der heutigen Gesellschaft und den heutigen Gesellschaftsformen gerecht wird. Wohnung ist ein wertvolles Gut, das unterschätzt nur jeder.“

Der hoch gepriesene Le Corbusier hat expressis verbis vor dem schlechten Geschmack der Gesellschaft kapituliert, wie soll man also für die Masse bauen? „Authentische Materialien“, lautet die Devise im Architektenclub - anders kann man sich nicht erklären, warum alle Wohnhäuser - meistens in unverblümt ehrlichen, manchmal recht hässlichen Oberflächen und Farben daherwatscheln. Und wenn schon Farbe, dann bitte Anthrazit - das jedenfalls ist die Insider-Bezeichnung für einen edlen Farbton, den andere ganz gerne als dunkles Mausgrau bezeichnen würden.

Margarethe Cufer, eine der wenigen Bauenden, die sich stets traut, einen knallorangen Farbkübel über ihre Gebäude zu schütten, über die farblos monochrome Mode in der Architektur: „Damit kann ich in letzter Zeit immer weniger etwas anfangen. Und ich bin fest davon überzeugt, dass das in Wien mit den Schlechtwetter-Phasen zusammenhängt. Ein graues Gebäude im Winter mag zwar architektonisch gesehen spannend sein, aber dem Großteil der Bevölkerung ist es einfach zu trist.“

Glücklich Wohnen, Variante 1: Nein, es muss nicht immer Grau sein. Dass Farbe nicht nur zu einem besseren Gemüt, sondern auch zu einer besseren Orientierung beitragen kann, beweist eine Siedlung in Süßenbrunn. Architekt Adolf Krischanitz hat in Zusammenarbeit mit dem Farbkünstler Oskar Putz eine Reihenhausanlage geplant, in der sich die Bewohner wie kleine Farbpigmente fühlen dürfen. Jedes Haus in einer leicht anderen Form, jedes Haus vor allem in einer leicht anderen Farbe. Oskar Putz: „Farbe geht jeden etwas an, sie ist Bestandteil des Alltags, sie ist Teil der Mode.“ Nein, bunt ist die Siedlung in der Wiener Pilotengasse nicht, sie ist lediglich farblich gestaltet, denn - so der Farbkünstler: "Heute macht man einfach alles bunt. Heute so bunt, morgen wieder anders bunt. In meinen Augen ist „bunt“ ein furchtbares Schimpfwort, das nichts anderes bedeutet als fleckig, sinnlos nebeneinander platzierte Farbkleckse."

Glücklich Wohnen, Variante 2: Askese lautet die Devise. Die einen verweigern sich der Farbe, die anderen der Buntheit, es gibt aber noch ganz andere Formen der Askese in den eigenen vier Wänden. In Wien sind in den vergangenen Jahren unterschiedliche (themenbezogene) Wohnsiedlungen aus dem Boden gestampft worden. Die Sargfabrik, die autofreie Mustersiedlung oder die Frauenwerkstatt, die ausschließlich von Frauen geplant wurde - sie alle verbindet das Phänomen des Verzichts, seien es nun die Autos oder die Männer. Entgegen der amerikanischen Devise der disneyländlichen Üppigkeit finden sich in diesen Siedlungen Menschen zusammen, die gemeinsam der Devise „Weniger ist mehr“ frönen möchten. Am augenscheinlichsten wird das in der so genannten Sargfabrik der Architektengruppe BKK-2. Hier gilt die Absage ganz eindeutig der Privatsphäre, denn die kompakten Wohneinheiten, die auf engstem Raum minutiös gestapelt wurden, sind besonders einsichtig und stülpen recht unverfroren den Aspekt der Gemeinschaft über den der eigenen Intimsphäre.

Glücklich Wohnen, Variante 3: Ein Grundriss in Grundzügen. „Meine Optimalvariante wären grundrisstechnisch drei, vier oder fünf gleich große, neutrale Räume, weil diese Altbaustrukturen am freiesten bespielbar sind“, erklärt Architektin Margarethe Cufer, „aber die Bauträger sind aus ihrer Sicht der Dinge natürlich nicht ganz so angetan von derartigen Ideen.“ Stattdessen Vorzimmer, Wohnzimmer, Kinderzimmer und Schlafzimmer. Fläche kostet. Dennoch tauchen immer öfter Architekturkonzepte auf, die richtig Spaß zu machen scheinen. Offen, flexibel, drehbar, mehrgeschoßig und lichtdurchflutet. Ein kurzes Hallo aus den Avantgarde-Niederlanden: „Es gibt eine unendliche Vielzahl an Möglichkeiten, wie Menschen leben können“, schreibt Maarten Kloos in seinem Buch „Formats for Living“, in dem zeitgenössische Grundrisse aus Amsterdam präsentiert werden. „Das Bild des städtischen Wohnens wird immer offener, expressiver und spezifischer.“

Der Standard, Mi., 2005.11.09

05. November 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Fröhliche Fehler in der Matrix

Eben erst gelandet und eingehüllt in eine Architektenwaffel aus Aluminium: das neue Loisium-Hotel von Steven Holl, dem Meister der Irritation.

Eben erst gelandet und eingehüllt in eine Architektenwaffel aus Aluminium: das neue Loisium-Hotel von Steven Holl, dem Meister der Irritation.

Eine Landschaft wie in Öl gepinselt. Weingärten säumen die weichen Kanten der Hügel, herbstliche Farben haben sich über die Trauben und Stöcke hergemacht. Noch hängen die letzten Früchte von den Reben herab und harren der ersten Minusgrade, um als künftiger Eiswein gelesen zu werden. Nicht enden wollender Altweibersommer, tiefe Sonne macht langen Schatten. Jetzt aber genug der triefenden Weinviertel-Romantik - noch mehr Stimmung würde nicht einmal Architekt Steven Holl ertragen. Und das will schon etwas heißen.

Dieser eben genannte Architekt aus New York ist ein Meister des Gemütlichen, gleichzeitig ist er ein Meister der Irritation. Und - Steven Holl ist nicht irgendwer, denn als Export-Markenname aus den USA gilt er im niederösterreichischen Kamptal zurzeit als der letzte Baukunst-Schrei. Ziemlich genau vor zwei Jahren öffnete in Langenlois jener wundersame Alu-Würfel seine Pforten, der auf den zungenbrecherischen Namen Loisium hört.

Und nun - lediglich einen Architektursprung von dieser Weinwelt entfernt - gibt es auch ein Platzerl, um sich von der strapaziösen Weindegustation nächtens wieder zu erholen. Eben ist es fertig gestellt, kommenden Freitag wird offiziell eröffnet: Die Rede ist vom Loisium-Hotel (Herstellungskosten netto neun Millionen Euro). Und man möchte sich gar nicht erst ausmalen, was man aus dem Wort - vielleicht Loisium Hoteleum - semantisch noch alles hätte herausholen können.

Holl über den edlen Tropfen aus der Flasche: „Alkohol, vor allem aber Wein, hat eine gewisse Stärke und weckt Phänomene in uns, die intellektuell bzw. rationell nicht so leicht zu ergründen sind.“ Genau auf diese Sinnlichkeit habe er es abgesehen, erklärt er im Gespräch mit dem STANDARD. Kommerzielle Architektur interessiere ihn überhaupt nicht, im Vordergrund stehe vielmehr die Auseinandersetzung auf der Gefühlsebene. Nun, es ist wahrlich kein Leichtes, dieses ambitionierte Unterfangen des Emotionellen in - wohlgemerkt intelligente - Worte zu fassen.

Wenn man das Loisium-Hotel das erste Mal sieht, fühlt man sich mit dem trügerischen Gefühl konfrontiert, noch niemals zuvor mit Architektur zu tun gehabt zu haben. Frohen Gemüts baumelt es schwerelos über den Weingärten; von der Vielschichtigkeit und den vielen kleinen Geschichten, die es zu erzählen vermag, fühlt man sich zu Beginn geradezu überrumpelt. Und während das Besucherzentrum etwas weiter hügelabwärts den Eindruck vermittelt, als sei ein grob behauener Quarzbrocken aus der Schwerelosigkeit herabgedonnert und im Sand stecken geblieben, so erweckt das dazugehörige Hotel den Anschein eines sachte gelandeten Raumschiffs zum Zwecke der Architektur-Aufklärung.

In der Tat, hier läuft einem ein Laienpublikum über den Weg, das - am Zielort seines weit gesteckten Sonntagsausfluges wohl angekommen - allen Ernstes über Architektur fachsimpelt: „Mensch, guck doch, dat Balkönchen hat een Gitter davor, dat andere hat nur Glas.“ Wahre Begebenheit. Steven Holl jedoch dürfte diese Episode nicht weiter verwundern, ist doch genau dieses Szenario sorgfältig vorprogrammiert: „Bei diesem Gebäude handelt es sich um mehr als nur ein Hotel mit 82 Zimmern. Für das kleine Langenlois soll es vielmehr ein öffentlicher Ort der Zusammenkunft und des Dialogs sein.“ Gesprächsstoff gibt es offenbar zur Genüge.

Sind die drei Farben des Hotels verfremdete Zitate von Wein, Laub und Traube? Warum ist es hier grün, hier gelb, dort aber rot? Die Ampel-Koalition wird wahrscheinlich mit der U-Form des Gebäudes zu tun haben und - Hand aufs Herz - einfärbig wäre es ohnehin langweilig geworden.

Das gesamte Hotel ist durchzogen von einer wilden Textur an Fenstern, Schlitzen, sonstigen Öffnungen und Balkonen, die sich auf Anhieb nicht so richtig erschließen möchte. Getoppt wird das Ganze durch eine noch wildere Fassade aus Aluminiumgittern. Die Wiener Architekten Franz Sam und Irene Ott-Reinisch, durch die das Projekt des Übersee-Architekten hier in Österreich überhaupt erst realisiert werden konnte: „Die Platten wickeln sich wie eine Aluminiumfolie um das ganze Gebäude. Einmal sieht man mehr hindurch, einmal weniger.“

Nein, nicht immer decken sich die Öffnungen der Fenster mit den Aussparungen in der Metallhaut, manchmal ist der Rhythmus eben versetzt. Die vielen Unregelmäßigkeiten des zweiten Blicks weisen immer wieder auf kleine Fehler in der Matrix hin. Entweder wurde ein Loch in der Aluwaffel nicht ausgestanzt, oder aber mehrere Löcher wachsen zu größeren Gebilden zusammen. Und zwischen all den charmant oberflächlichen Details meint man, Steven Holl schelmisch herausgrinsen zu sehen.

Fröhlich in die Landschaft zu blicken - das kann man aus den Zimmerfenstern übrigens sehr gut. Einmal im Stehen aus dem großen Panoramafenster, einmal im Sitzen aus jenem etwas weiter unten, und sogar für die bereits liegende Besucherschaft gibt es in den größeren Zimmern ein entsprechend positioniertes Bonusloch in der Wand.

Der Rest der Zimmer ist eine zurückhaltende Mischung aus loftartiger Nacktheit und hotelöser Bequemlichkeit. Einerseits ein dumpfer, dunkler Holzboden, andererseits die rohe Wand, die nichts anderes ist als geweißter Beton. Und zwar inklusive aller Luftblasen und mangelhaft verrüttelter Stellen, an denen nun ab und zu ein schlecht vermengter Kieselstein in der Wand klafft und um die Aufmerksamkeit des Besuchers ringt. Charmant, das alles gehört zum Zufall dazu.

Ganz zufällig - nein, das würde man ihm nicht abnehmen - sind in Holls Hotel nur wenige Dinge genau so, wie man sie kennt. Das Badezimmer ist kein Zimmer, sondern eine Zone, die je nach Position der Drehtür immer wieder anders aussieht. Die Türschnallen sind mit weich glibberigem Gummi überzogen, als müssten sie einem den toten Fisch in die Hand legen.

Die Single-Zimmer sind im Übrigen alle in einem Ende des Hotel zusammengepfercht worden. Warum eigentlich nicht - bestenfalls kann dies zu Synergie-Effekten führen. In den Zimmergängen zeichnet sich eine grobe und unregelmäßige Struktur der Schalungsbretter ab. Kurz muss man nachdenken, ob die Wände aus Holz oder aus Beton sind. Und der Eingangsbereich rund um Lobby und Rezeption sieht aus, als wäre er mit schludrig sämiger Currysauce ausgemalt. Hinter all diesen gestalterischen Exponaten verbergen sich kleine Storys, die den Besucher zum Entdecken animieren.

Architektur muss im Begehen immer mehr aufweisen können als im alleinigen Betrachten von außen", erklärt der New Yorker beim Durchschreiten seines Gebäudes, „wenn das erfüllt ist, dann handelt es sich nicht mehr bloß um Formalismus.“ Und tatsächlich, hier lernt man das Lesen und Verstehen, ohne dass einem die Architektur mit ausgestreckter Zunge und schick designten Details schon von Weitem entgegenschreit. Unter dieser Prämisse kommen die coolen Schachteln der Haute Architecture in der Regel eh nicht weit.

Wenn DER STANDARD eines Tages die beiden Rubriken „Good Mood“ und „Try to Cry“ einführte - aber das tun wir selbstverständlich nicht -, dann würde über das mediale Schicksal des Hotels kein Zweifel mehr bestehen. Im Übrigen geht die Fröhlichkeit dieses Gebäudes recht praktisch mit der Tatsache einher, dass es sich dabei schließlich um einen intimen Wohnort für eine gewisse Klientel und einen gewissen Zeitraum handeln soll. Auf zu den Balkönchen nach Langenlois! Sprecht über die Gitter, zerbrecht euch die Köpfe und kehrt entspannt wieder heim.

Der Standard, Sa., 2005.11.05



verknüpfte Bauwerke
Hotel Loisium

22. Oktober 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Die Bauten schlagen aus

Holzbau in Wien? Woody Woodpecker hat sich sieben richtungsweisende Projekte für eine Preisverleihung herausgepickt. der Standard präsentiert die Resultate des wienwood 05.

Holzbau in Wien? Woody Woodpecker hat sich sieben richtungsweisende Projekte für eine Preisverleihung herausgepickt. der Standard präsentiert die Resultate des wienwood 05.

Es nachtet in Simmering, Stille und Dunkelheit haben sich am Leberberg breit gemacht. Nur ab und zu rast ein Auto vorbei, drosselt vor dem Zebrastreifen die Geschwindigkeit, überwindet den hinderlichen Bremshügel, zischt gleich wieder weiter. Groß und dramatisch beleuchtet steht da ein silbrig grau schimmerndes Wohnhaus. Irgendwie sehr cool auf den ersten Blick, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Dass justament dieses Haus bei einem Holzbaupreis den Sieg einsacken kann, macht einen dann doch etwas stutzig. Keine einzige Bestätigung all unserer Vermutungen, die im tiefen Fundus der sperrig holzigen Klischees so mühsam herausgewühlt wurden.

Die Rede ist vom Holzbaupreis, der erstmals auch in der Bundeshauptstadt vergeben wird. wienwood 05 nennt sich die - auf Initiative von proHolz - vergebene Ehrung, die heuer an sieben Projekte verliehen wurde; weitere sechs erhielten eine lobende Auszeichnung. Doch zurück zum besagten Leberberg, wo Geiswinkler & Geiswinkler für „Neues Leben“ die so genannte Gartensiedlung am Hofgartel planten und umsetzten. Weithin bekannte Parameter des neuen sozialen Wohnbaus prägen das ästhetisch strenge Korsett des Wohnhauses: Laubengangerschließung, schlicht und zurückhaltend im Geiste der Zeit, gelegentlich ein wenig Sichtbeton - ganz kann man sich dem Reiz der Architekturnacktheit wohl auch nicht entziehen.

Doch - und das ist das Außergewöhnliche - das Skelett des Hauses ist bis ins vierte Geschoß aus Holz. Kein Knarren und Knistern, kein fichtenes oder kieferliches Almglück, stattdessen werden die urbanen Großstadtbewohner an ihrer materiell etwas irritierten Nase herumgeführt. Dass die Kombination aus Holz, Beton und Stahl nicht zwangsweise einen Widerspruch bedeuten muss, stellt sich als architektonisch weitsichtiger Beitrag heraus.

Ganz anders tritt der mehrgeschoßige Wohnbau in der Spöttlgasse auf. Architekt Hubert Rieß stülpt das Material der Begierde nach außen, wo es wie ein Bücherregal vor der eigentlichen Fassade des Gebäudes abgestellt scheint. Noch stehen die einzelnen Fächer leer, doch im Gegensatz zum kleinmaßstäbigen Paten aus dem Möbelhaus werden die Bewohner hier keine gebundenen Zeugen des Wissens ausstellen; vielmehr sind sie dazu aufgefordert, die großzügige Loggia im Laufe der Zeit mit dem ganz persönlichen Wohnkrempel zu bespielen. Jedes Fach anders, jedes Fach belebt - und das ist keine Selbstverständlichkeit angesichts der sonst so beliebten Volksdisziplinierungsversuche mancher Architekten. Mitunter bricht andernorts schon eine ästhetische Tragödie aus, wenn jemand seine scheckige Bettwäsche zum Lüften hinausgehängt hat.

Derselbe Architekt, ein anderes Projekt: Beim Haus Sigmund musste man in erster Linie mit den Nachteilen städtischer Beglückung fertig werden. Recht enge Platzverhältnisse auf dem Grundstück - eine Bauweise aus Holzmodulen schien die unausweichliche Antwort. Dass in dieser beplankten Architekturlandschaft sechs großzügige Wohnungen untergebracht sind, sieht man der Holzkiste - ganz im Geiste der Vorarlberger Kistenbauer, der Architekt indes ist Grazer - wahrlich nicht an. Holz ist also nicht mehr eine alleinige Frage der Region, sondern wird interregional. Allmählich, immerhin.

Kennen Sie die Situation, in der man als Normalsterblicher dem Faible für Abgefucktes und Verbrauchtes einfach nicht auf die Spur kommen möchte? Die schwarz gekleideten Entwerfer - da haben wir also wieder die Klischees - deuten auf ein rostiges und runzelig verwittertes Häufchen Architektur und sprechen von der ach so angehimmelten Patina, die nach Jahren das traute Heim in einen hübschen Schleier der Abnützung hüllen soll. Oft nimmt man den Planern diesen argumentativen Allzweck-Gag ab, meist aber humpelt die alte Baronin Patina als hatscherte Ausrede eben dafür hinterher, dass man die Langzeitwirkung nicht besser in den Griff bekommen hat. Selbst denkt man dabei immer an die Kupferkuppel der Karlskirche, den Atem verschlägt es einem dabei aber nicht.

Doch in der Tat kann diese Patina mehr sein, und sie kann auch wirklich schön sein. Das Haus W. von kunath-trenkwalder ist so ein abgewitterter Zeitzeuge. Weniger ein Wohnhaus als vielmehr ein holziges Geisterschloss. Von außen kann man dem witterungsgezeichneten Haus die Anzahl der Geschoße gar nicht ablesen. Doch kaum einmal drinnen, entpuppt sich das Einfamilienhaus als stiller Tribut an den verschachtelten Raumplan von Adolf Loos. Hier gibt es keine Stockwerke, sondern lediglich eine respektable Summe an unterschiedlichen Ebenen, die räumlich sehr spannend und intelligent gelöst sind.

Mit Einfamilienhäusern geht es auch weiter. Frank und Erschen Architekten haben in Wien-Liesing ein bestehendes Häuschen zu einem ausgewachsenen Haus Grabler aufgestockt. Der Bestand ist in seinen Grundzügen erhalten geblieben, diesem Sockel allerdings ist ein expressives Hallo aufgesetzt worden. Wie ein Trichter saugt das oben liegende Wohnzimmer die Landschaftsbilder ein. Hier deutet nichts auf einen Holzbau hin, das Material nimmt sich bis zum konstruktiven Understatement zurück.

Wien hat auch Hänge, viele davon in Wien-Penzing, an den Ausläufern des Wienerwaldes. Gleich zwei Bauwerke, die den wienwood 05 einheimsen konnten, sind dort zu finden. thaler.thaler architekten mit ihrem Patiohaus und Ablinger, Vedral & Partner mit dem unmissverständlich getauften Haus am Hang. In beiden Fällen hat sich das Holz diesmal wieder an die Fassade getraut und ist ausschlaggebendes Gestaltungsmittel.

Ist es ein Zufall, dass sämtliche sieben wienwood-Preise an Wohnbauten vergeben wurden? „Die architektonische Qualität war hier mit Abstand am dichtesten“, so die Jury, der auch Archiv-Doyen Friedrich Achleitner angehörte. Mit Holz zu bauen, wird einem in Wien aber nicht wirklich leicht gemacht. Zwar ist es in der Wiener Bauordnung in den vergangenen paar Jahren zu etwas aufgelockerten Novellierungen gekommen, doch nach wie vor wird alles, was über einen gewöhnlichen Gartenschuppen hinausgeht, bereits als bedrohliche Brandlast angesehen.

Holz brennt? Ja, natürlich. Aber gleichzeitig ist Holz auch der beste Brandschutz, den es überhaupt gibt. In der Steiermark beispielsweise hat sich das schon etwas schneller herumgesprochen, da steht mehrgeschoßiger Wohnbau in Holzbauweise bereits an der - hölzern ehrlicherweise noch etwas schlanken - Tagesordnung der Architekturschaffens.

„Holz ist genial“, besagt der Werbespot in deutschsprachigen Kinos. Und so viel muss man sich schon eingestehen: Stahl, Glas und Beton sind natürlich auch nicht ohne. Ein materielles Patentrezept können weder Architekten noch Medien an den Mann und an die Frau bringen. Doch wie die Preisträger des diesjährigen, ersten wienwood belegen, gibt es selbst in der dicht bebauten Bundeshauptstadt ganz fesche Anschauungsbeispiele, was man mit Holz alles machen kann. Es muss ja nicht immer der Kleingartencharme der Geräteschuppen sein, die man im Baumarkt kaufen und gleich mit heimnehmen kann.

Der Standard, Sa., 2005.10.22



verknüpfte Auszeichnungen
wienwood 05

22. Oktober 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Sie war nicht mehr ganz dicht

Begonnen hat es eigentlich mit ganz uncharismatischen Trockenlegungsarbeiten zu Füßen der Pallas Athene. Doch kaum hat man sich's versehen, haben sich Palais Epstein und Parlament schon in Schale geworfen.

Begonnen hat es eigentlich mit ganz uncharismatischen Trockenlegungsarbeiten zu Füßen der Pallas Athene. Doch kaum hat man sich's versehen, haben sich Palais Epstein und Parlament schon in Schale geworfen.

Bauarbeiter und Architekten setzen zum absoluten Endspurt an, der Countdown läuft. Letzter Feinschliff, da und dort noch Farbe an die Wand, die vielen Flatscreens einjustieren, schließlich den Putztrupp in die neuen Räumlichkeiten entsenden. Dass sich in ein paar Tagen schon der gesamte Baustellenstaub aus dem neuen Foyer des Parlaments verflüchtigt haben soll, ist nur schwer vorstellbar. Aber irgendwie klappt's immer. Wahrscheinlich wird es sich so abspielen wie in Jacques Tatis Film Playtime: Die letzten Handwerker werden links aus dem Bild treten, während rechts schon die ersten Besucher die neue Örtlichkeit stürmen.

Gedankenjahr 2005, der Nationalfeiertag steht ins Haus. Die Besonderheit des diesjährigen Tages der offenen Tür im Wiener Parlament - und das ist natürlich Resultat eines langjährigen Kalküls - ist neben dem 50-jährigen Jubiläum des Österreichischen Staatsvertrags aber vor allem die Einweihung des neuen Besucherzentrums und der sanierten Rampe. Die Riesenbaustelle an der Wiener Ringstraße ist endlich abgeschlossen. „Wir werden die Türen weit öffnen“, betont Nationalratspräsident Andreas Khol.

Begonnen hat das Ganze natürlich ganz anders. „Die Pallas Athene war nicht mehr ganz dicht“, erzählt Kinayeh Geiswinkler-Aziz vom Architekturbüro Geiswinkler & Geiswinkler. Und tatsächlich, im Fundament hat's getropft. Der Brunnen, der der griechischen Göttin der Weisheit zu Füßen liegt, wurde in den vergangenen Jahrzehnten undicht, der Wasserverlust betrug zuletzt bis zu acht Kubikmeter pro Woche. Und durch irgendwelche Ritzen musste sich die Feuchtigkeit ihren Weg schließlich bahnen.

Während Architekt Herbert Beier also mit der Sanierung der Rampenfundamente und der Brunnenanlage beschäftigt war, nutzte man die Gunst der Stunde und schrieb einen geladenen, EU-weiten Wettbewerb für ein neues Besucherzentrum unter der Rampe aus. Geiswinkler & Geiswinkler konnten sich durchsetzen.

Ein neues Foyer für das alte Parlament - das ist wahrlich keine leichte Aufgabe. Wie bauen für Vater Staat? „Natürlich ist das Parlament von Theophil Hansen als völlig herrschaftliches und hermetisches Gebäude konzipiert worden“, erklärt Architekt Markus Geiswinkler. Diesen Umstand zu ändern habe viel Feingefühl erfordert. „Modische Gadgets sind hier fehl am Platz, letztlich soll das Foyer in einem Jahrzehnt immer noch einen aktuellen Eindruck vermitteln.“ Dass die Architektur in diesem Sinne etwas zurückgenommen erscheint, wird daher nicht verwundern. Elegant, gediegen, ja sogar klassisch tritt das neue Besucherzentrum im Schatten der Pallas Athene auf.

Wo früher nur Erdreich war, haben Geiswinkler & Geiswinkler nun einen luftigen Raum auf drei Ebenen herausgebuddelt. Schwarz und weiß, viel Glas, viel Stein und viel zukunftsreiches Image, ganz im Sinne der Nationalhymne. Über Stiegen, Rampen und Lifte gelangt man ins Herz des neuen Besucherzentrums. Mit jedem weiteren Schritt in die Gefilde unter der Parlamentsrampe eröffnen sich neue Einblicke in die Spielregeln repräsentativer Architektur, die ganz selbstverständlich in die heutige Zeit hinübergetragen und neu interpretiert wurden. Von hier aus werden auch die Führungen durch das Hohe Haus starten. „Das neue Foyer ist Zeuge eines völligen Paradigmenwechsels im Parlament“, resümiert Andreas Khol, „aus einem alten Herrenhaus ist ein offenes Parlamentsgebäude für alle Bürger und Bürgerinnen geworden.“

Politische Architektur wird attraktiv. Norman Foster hat schon vor geraumer Zeit dem Berliner Reichstag die gläserne Kuppel aufgesetzt, vergangenes Jahr ist in Edinburgh das steinig gläserne schottische Parlamentsgebäude fertig gestellt worden. Und nun nimmt sich auch Österreich ein Beispiel und bringt frischen Wind ins alte Gemäuer.

Dennoch gilt auch in Wien das Motto der Stunde, demnach das Parlament zur touristischen Institution geworden ist. Statt der bisherigen 60.000 Besucher jährlich rechnet man nun mit 100.000 Interessierten. Hoch gesteckte Ziele auch im Bereich des Vorplatzes, Khol spricht von einem „städtischen Platz im Stile des Museumsquartiers; Menschen sollen sich hier frei und ungezwungen aufhalten können.“

Während man im Bereich des schweren Rampensockels um Öffnung und Orientierung ringt, platzt das Hohe Haus andernorts aus allen Nähten. Der Wiener Stadtschulrat ist aus dem benachbarten Palais Ep- stein - ebenfalls ein Werk Theophil Hansens - schon vor geraumer Zeit ausgezogen; rechtzeitig zum Nationalfeiertag eröffnet nun auch dieses Gebäude, das von der Hausbesitzerin BIG eigens für Parlamentszwecke adaptiert und von Grund auf saniert wurde.

Unzählige Umbauten und Erweiterungen hatten aus dem einst herrschaftlichen Palais im Laufe eines Jahrhunderts ein unerträgliches Flickwerk entstehen lassen. Zerstörte Böden, penetrant ignorierte Wandvertäfelungen und ein nicht mehr wiedererkennbares Grundkonzept des Architekten waren die Folge.

Doch ein EU-weiter, offener Wettbewerb sollte im Frühjahr 2002 auch hier Klarheit schaffen. Als das Kuvert des anonymen Siegerbeitrags geöffnet wurde, staunten nicht wenige über die jungen und noch unbekannten Verfasser des überzeugenden Projekts. Georg Töpfer und Alexander van der Donk, beide gerade einmal 40 Jahre alt, haben im Zuge des Projekts aber durchaus Kompetenz an den Tag gelegt.

Eine behutsame Analyse hat ergeben, dass ein gezieltes Herausreißen des - baulich recht uninteressanten - Dienstbotentraktes der größte Gewinn für das historische Palais bedeuten würde. Der Übergang von Alt zu Neu ist heute dezent spürbar, in diesem Neubauteil wurde das gesamte Rückgrat des Gebäudes von Lift und Stiegenhaus bis hin zu den Sanitär- und Serverräumen untergebracht.

Der Rest des Gebäudes ist Resultat einer vorbildlichen Sanierung und damit ein neues Aushängeschild für BIG und Bundesdenkmalamt. Vor allem aber ist das Palais Epstein ein Gebäude, das sich wie ein Kriminalroman der Architekturgeschichte liest. So entdeckte man hinter hässlichen Einbauten beispielsweise eine riesige Glasschiebetür, die den Tanzsaal zum Wintergarten hin großzügig öffnet - nach über hundert Jahren immer noch vollkommen funktionsfähig.

Im Erdgeschoß wiederum, wo sich früher das Bankhaus Epstein befand, haben die Architekturdetektive endlich herausgefunden, wozu die rätselhaften Holzknöpfe im Bereich der Fensternischen dienten. Schwere Stahlkurtinen ließen sich mittels dieser Entriegelung aus dem Kellergeschoß hochhieven, womit man sozusagen den architektonischen Ursprung des Einbruchschutzes entdeckt und erkundet hat.

Eine Ausstellung wird in den ehemaligen Bankräumen im Erdgeschoß Aufschluss über die Geschichte des Palais Epstein geben. In den Stockwerken darüber werden die Parlamentarier hausen, um an Vater Staat weiterzumodellieren. „Das Palais Epstein und das Parlament ergänzen einander in wunderbarer Art und Weise“, so Nationalratspräsident Khol, „das Palais ist ein elegant saniertes Relikt einer glanzvollen Vergangenheit, das Besucherzentrum im Parlament hingegen ist ein impulsiver und vor allem jugendorientierter Ort.“

Und um vom politischen O-Ton wieder auf den Pfad der Architektur zurückzufinden: Parlament und Palais Epstein sind überzeugende Boten einer neuen kulturellen Weitsichtigkeit. Es ist letzten Endes als schöne Geste aufzufassen, dass die Gestaltung von zwei derart bedeutenden Bauwerken in die Hände einer - um in der verzerrten Zeitrechnung der Architekturbranche zu sprechen - so jungen Generation gelegt wurde.

Der Standard, Sa., 2005.10.22



verknüpfte Bauwerke
Besucher- und Pressezentrum des Österreichischen Parlaments

21. Oktober 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Blick auf den Aufbruch

Redlich, solide und funktional: Das Wien Museum zeigt eine Retrospektive auf das Werk des Architekten Erich Boltenstern und die Baukultur in Wien nach dem Zweiten Weltkrieg.

Redlich, solide und funktional: Das Wien Museum zeigt eine Retrospektive auf das Werk des Architekten Erich Boltenstern und die Baukultur in Wien nach dem Zweiten Weltkrieg.

„Das ist nicht Amerika, das ist Österreich!“, berichtete am 14. Juni 1955 die Austria Wochenschau begeistert über die Eröffnung des Ringturms. Damals noch eines der höchsten Gebäude Europas, zählt der Turm von Erich Boltenstern heute nicht einmal mehr zu den Top Ten in Wien. Aber immer noch verkörpert der Ringturm im österreichischen Maßstab den Begriff des Hochhauses, vor allem die Stimmung eines Aufbruchs, die Stimmung eines gleichermaßen gedrückten wie ambitionierten Wiederaufbaus.

Man kann ihr im Wien Museum bei der Retrospektive auf das Werk des Architekten Erich Boltenstern, einer Schlüsselfigur jener Zeit, nachgehen. Unter dem Titel „moderat modern“ gehen die Kuratorinnen Judith Eiblmayr und Iris Meder der Frage nach, wie sich die damalige Ambivalenz zwischen Notstand und schwungvoller Moderne auf die Stadt ausgewirkt hat: „Gerade die nicht revolutionäre, eher nüchterne Architektur der Fünfziger kann erst von der heutigen Generation anerkannt und vorurteilsfrei bewertet werden.“

Verlässlichkeit statt Risiko, Sparsamkeit statt Großzügigkeit: Dennoch eignet sich dieser zurückhaltende Ansatz auch heute immer noch für viele repräsentative Räumlichkeiten in Österreich. „Wenn es einen typischen Stil der Wiederaufbauära und eine Architekturhandschrift des offiziellen Österreich gibt“, erklärt Direktor Wolfgang Kos, „dann ist es eine zurückhaltende und angepasste Moderne - redlich, solid und funktional.“

Dieser Prämisse Folge leistend, feiert am 4. Novemver 1955 die Wiener Staatsoper ihre Wiedereröffnung. Wie das 1946 gegründete „Opernkomitee“ festgelegt hatte, erstrahlte die Oper in ihrer „ursprünglichen Gestalt“. Lediglich im Stiegenhaus und im Pausenraum sind Boltensterns Visionen bis heute spürbar. Architekt Boltenstern: „Mein Ziel war es, einen festlichen, beschwingten und befreienden Raum zu gestalten, der in einem gewissen Sinn zeitlos wirken soll.“

Neben Ringturm und Staatsoper stammt aus dieser Zeit auch das Hotel am Parkring, die Österreichische Nationalbank in Linz - deren Originalmobiliar in der Ausstellung übrigens als benutzbare Lounge-Ecke verwendet wurde - und das Restaurant am Kahlenberg, das damals schon für 4.500 Besucher konzipiert war. Meder und Eiblmayr überraschen gleich zu Beginn der Ausstellung mit einem Nachbau der so genannten „Rotunde“, der sich direkt vor der Oper unter der Ringstraße befindet - kleiner natürlich als die echte Rotunde, aber umso effektvoller: „Wir haben versucht, durch einen echten Teaser die Leute für die Architektur sensibel zu machen“, sagen die Macherinnen.

Der Standard, Fr., 2005.10.21

14. Oktober 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Ein gewagter Griff in den Farbbottich

Für einen großen Coup eignen sie sich immer: Coop Himmelb(l)au, jenes Architekturbüro mit dem eingeklammerten „l“. Irgendwie muss man ja darauf aufmerksam...

Für einen großen Coup eignen sie sich immer: Coop Himmelb(l)au, jenes Architekturbüro mit dem eingeklammerten „l“. Irgendwie muss man ja darauf aufmerksam...

Für einen großen Coup eignen sie sich immer: Coop Himmelb(l)au, jenes Architekturbüro mit dem eingeklammerten „l“. Irgendwie muss man ja darauf aufmerksam machen, dass nun nicht mehr einzig und allein ins Himmelblaue hinein geträumt, sondern tatsächlich auch gebaut wird. Gestern, Donnerstag, fand die feierliche Eröffnung des aktuellsten Wiener Projekts von Coop Himmelb(l)au statt. Unter Beisein von Bürgermeister Michael Häupl und ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch wurde der neue Hauptsitz der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) in Wien-Landstraße eingeweiht. Dass die GPA den Enfants terribles des Dekonstruktivismus gegenüber große Sympathie hegt, hatte sie schon vor einigen Jahren bewiesen - damals ließ sie Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky einen Gasometer umbauen.

Das ehemalige Mautner-Markhof'sche Kinderspital wurde abgerissen. Dort, am Alfred-Dallinger-Platz 1 - benannt nach dem ehemaligen Vorsitzenden der GPA -, entstand nun das neue Flaggschiff der Gewerkschaft. Die Baukosten des Komplexes (Wohn- und Bürohaus) betragen cirka 24 Mio. Euro. In die unteren fünf Bürogeschoße ist die GPA eingezogen; die Stockwerke fünf bis sieben werden ans Berufsförderungsinstitut Österreich vermietet.

„Für die Menschen, die in diesem Haus arbeiten, ist die interne Kommunikation ein Quantensprung“, so GPA-Vorsitzender Wolfgang Katzian,

Und die Architektur? Grau, metallisch, silbrig - und nach langer Zeit erstmals ein derart gewagter Griff in den Farbbottich, standesgemäß im Corporate-würdigen GPA-Rot. Zur Schlachthausgasse hin ziert eine Symphonie an Vordächern den unüberschaubaren Portikus. Einmal hier rechts, dann wieder dort oben mittig, nebenan eine große schlanke Stele ganz aus Licht.

Die rote Tröte

An der Rückseite zeigt sich das - dereinst so hoch beworbene - dekonstruktive Element von Coop Himmelb(l)au. Dynamisch zwar, aber wohldesignt und penibel gestaltet, schiebt sich der Veranstaltungssaal über die Gasse hinaus. Im Jargon der GPA-Mitarbeiter schlichtweg „Tröte“ genannt, ist diese architektonische Geste der unmissverständliche Beweis, dass - zumindest in Wien - die Ära des wilden Dekonstruktivismus endgültig vorbei ist.

Die internationalen Glas-Stahl-Projekte in Lyon, Frankfurt, München oder etwa Guadalajara - allesamt noch im Planungsstadium - glauben nach wie vor an ihre ureigentliche Aura des dynamischen Chaos. Doch das massiv geziegelte und betonierte Wien will sich auf diesen quirligen Kraftakt irgendwie nicht einlassen.

Der Standard, Fr., 2005.10.14



verknüpfte Bauwerke
Wohn- und Bürogebäude Schlachthausgasse

08. Oktober 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Windschief im schiefen Licht

Vor zehn Jahren hat die viel versprechende Odyssee in der Wiener Spittelau begonnen. Mittlerweile ist die Reise vorbei. Was wurde aus Zaha Hadids Projekt in den Stadtbahnbögen?

Vor zehn Jahren hat die viel versprechende Odyssee in der Wiener Spittelau begonnen. Mittlerweile ist die Reise vorbei. Was wurde aus Zaha Hadids Projekt in den Stadtbahnbögen?

Mittlerweile kennt sie jeder, die Grande Dame aus Bagdad. Und wenn es darum geht, eine Stararchitektin zu nennen, dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Name fällt, irgendwo bei knapp 100 Prozent. Selbstverständlich ist die Rede von Zaha Hadid. Spätestens seit ihrer Innsbrucker Sprungschanze, die einem Dinosaurier gleich ihren kantigen Kopf in die Gebirgswelt reckt, gilt sie auch in Österreich als architektonische Koryphäe. Bösartige Zungen sprachen einst von der wichtigsten nicht bauenden Architektin der Welt, doch diese Phase bangen Wartens auf lukrative Aufträge scheint nun endgültig vorbei.

„Wir haben beschlossen, alles anders zu machen“, kehrt Hadid schon seit einem Vierteljahrhundert ihren Kritikern den Rücken. Nun, ihre Devise passt gut zu Wien, das angeblich auch anders ist. Und so richtig schräg geht es zurzeit am Ufer des Donaukanals zu. Denn auch Wien verfügt jetzt über eine nahezu waschechte Hadid. Weit und breit kein rechter Winkel, wie aus Plastilin zurechtgeknetet stehen ein paar verzerrte Brocken Architektur herum. Dynamisch abgeschrägt, und dennoch hinbetoniert für die Ewigkeit. Eine künstliche Architekturlandschaft, ein kleines Ensemble, das exakt für dieses Grundstück maßgeschneidert wurde.

Zehn Jahre ist es nun her, dass der ehemalige Stadtrat Hannes Swoboda die in London lebende Architektin zu einer ersten Skizze eingeladen hat. „Dadurch, dass Otto Wagners Viadukt nicht mehr für den Verkehr genutzt wird, ist es zur Landschaft, zum Gelände geworden“, kommentierte Zaha Hadid damals das Vorhaben der Stadt Wien, „das ist zwar sehr schön, da kann man aber nicht einfach zusehen aus der Sicht der Stadt.“ Was tun? Zum Beispiel einen Wohnbau planen. Drei dynamische Baukörper, die sich um die Stadtbahnbögen winden, ohne diese auch nur ein einziges Mal zu berühren. Ungewohnte Grundrisse, eine neue Ära des Residierens sollte anbrechen in Wien.

Nach vielen expressiven Zeichnungen und schwebenden, fliegenden Gebäudeteilen, die in der Hitze des Gefechts am Siemens-Lufthaken zum Stillstand kamen, musste Hadid bald zu ihrer anfänglich geäußerten Pragmatik zurückkehren. Beton fliegt nicht, nicht in London, und schon gar nicht in Wien. Und so konnte man zusehen, wie aus dem einst noch schwerelosen Albatros allmählich eine schwächelnde Großstadttaube wurde, gezwungenermaßen auf Krücken gestützt. Hadid, noch vor drei Jahren: „Ich mag diese Stützen überhaupt nicht. Und ich wünsche mir, dass sie auch nicht ausgeführt werden. Sie allein sind Grund genug, das Projekt noch einmal zu überdenken.“

Schnitt. Wir schreiben das Jahr 2005. Nicht nur ein paar Stützen, ein Säulenwald ist daraus geworden. Was in den zehn Jahren der Projektentwicklung und noch während des Baus so verheißungsvoll schien, ist nun einer unüberschaubaren Flut an Kompromissen zum Opfer gefallen. Verblechte Fassade? Weißer Putz. - Riesige Panoramafenster zum Donaukanal hin? Schmale Schießscharten in der Fassade. - Großzügige Lofts und luxuriöse Apartments? Boarding House mit kleinen Zimmern. - Ein neues Gefühl von Wohnen und Architektur? Weiße Fliesen und PVC-Belag im Wohnzimmer. Bonjour, tristesse.

Und tatsächlich, an die Schönheit des gespenstischen Rohbaus kommt das fertig gestellte Projekt nicht heran. Viel eher hat es den Anschein, als habe man an den Enden eines 70er-Jahre-Wohnbaus ein bisschen herumgedehnt, gedrückt und gezogen, bis er schließlich in dieser Form blieb. Vor allem die Wohnungen selbst (dabei geht es doch bei einem Wohnbau, oder?) können sich ihres recht spröden Billigcharmes leider nicht mehr entledigen.

Was ist hier nur passiert? The Rise and Fall of the House of Usher nannte Edgar Allan Poe eine seiner gruseligen Kurzgeschichten, in der ein Haus ein schädliches Eigenleben entwickelt. Der einzige Unterschied zum House of Usher ist, dass es sich bei Hadids Bau um ein Stück anfänglich engagierter Architekturgeschichte für das nächste Jahrhundert handelte. Als solches zumindest war das Projekt konzipiert. Geglückt ist dieses Vorhaben nicht.

Architektin, Bauträger, Stadt Wien - von irgendjemandes Schuld zu sprechen wäre an dieser Stelle völlig fehl am Platz. Hadids Bau beweist nur einmal mehr die scheinbar unmögliche Kombination von sozialem Wohnbau und so genannter Stararchitektur an topografisch komplizierten Orten. „Zaha Hadid war stets klar, dass wir dieses Projekt reduzieren müssen“, erzählt Projektleiter Stephan Langmann vom Bauträger SEG, „ohne ein Minimum an Kosteneinsparung wäre das Bauvorhaben überhaupt nicht durchführbar gewesen.“

Allein, immer noch sind es zehn Millionen Euro für einen Gegenwert von bescheidenen 3200 Quadratmeter Nutzfläche. Da traut man sich gar nicht mehr, den horrenden Quadratmeterpreis auszurechnen, Schweißperlen machen sich auf der Stirn des Ökonomen bemerkbar. Mehr noch: Hätte man das Projekt ganz ohne Abstriche realisiert, wäre es nicht nur unwirtschaftlich geworden, wie es heute der Fall ist - für einen Wohnbauträger wäre es schlichtweg Utopie geblieben.

Dass ein so irrationales Gebäude letzten Endes doch noch realisiert wird, ist ein Gewinn. Ein Gewinn für die Bewohner, die so einen Bau sehnlichst erwartet haben. Ein Gewinn für die Kommunalpolitik. Und freilich ein Gewinn für den Bauträger. Einzig die Architektin hat sich indes vom Bauvorhaben distanziert. Die riesig angedachten High-End-Wohnungen sind zu kompakten Wohngemeinschaftseinheiten parzelliert worden. Ein kleines WG-Zimmer mit schiefen Winkeln und geböschten Wänden - das in den Griff zu bekommen ist für eine studentische Brieftasche kein Leichtes. In diesem anspruchsvollen Topos fühlt sich selbst der sonst so flexible Ikea-Billy unwohl. Von anderen Möbeln - so bescheiden sieht die Realität nun aus - braucht man hier gar nicht erst zu sprechen, hat die SEG doch beschlossen, die Apartments für die Dauer von sechs Monaten bis zu maximal zwei Jahren zu vermieten. Danach muss wieder übersiedelt werden. Ein Interimszuhause für die modernen Nomaden sozusagen, um eines Tages behaupten zu können, in dem einen Haus von Zaha Hadid gewohnt zu haben.

Utopie ist eine Sache, ihre Durchführung eine andere. Schade eigentlich, dass die SEG aus Gründen der Kostenrechnung offenbar nicht dazu in der finanziellen Lage war, an diesem außergewöhnlichen Ort ein ebenso außergewöhnliches Gebäude hinzustellen. Die Realisierung eines solchen Projekts lässt sich mit den Quadratmeterpreisen herkömmlichen Wohnbaus nicht vergleichen, man hat so lange an allen Ecken und Enden herumgefeilt, bis das Gebäude letztlich nicht einmal mehr als Aushängeschild des eigenen Bauträger-Unternehmens herangezogen werden konnte.

Gibt es Kompromisse in der Spitzenarchitektur? Nein. Das ist der unbezahlbar hohe Preis, den Projekte von Zaha Hadid & Co einfordern. Ist die Kür der Kompromisslosigkeit erst einmal unterbrochen, dann ist das meist das vorprogrammierte Ende jedes noch so ambitionierten Versuchs. Das war's dann also mit Platz eins. Und das erklärt auch, weshalb Bauwerke wie die Sprungschanze am Bergisel oder das kurz vor Fertigstellung stehende Phaeno, Wolfsburgs neues Science-Center, die besseren Kandidaten für einen großen architektonischen Wurf aus der unbeschwerten Feder Zaha Hadids sind.

Was Wien betrifft: Vielleicht ist es manchmal besser, auf die Eier legende Wollmilchsau zu verzichten. Zaha Hadid sagte einmal in einem Interview: „Wenn man Fantasie will, muss man sie auch ausreizen.“ Dem kann man nur hinzufügen, dass man zu diesem Zweck nicht um jeden Preis das harte Pflaster der Realität betreten muss.

Der Standard, Sa., 2005.10.08



verknüpfte Bauwerke
Wohnbau Spittelau

07. Oktober 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Fliegende Campus-Teppiche in Krems

Die neue Leichtigkeit der Bildungsbauten: Eröffnung des neuen Campus Krems

Die neue Leichtigkeit der Bildungsbauten: Eröffnung des neuen Campus Krems

Krems - Rechtzeitig zum zehnjährigen Jubiläum der Donau-Universität findet heute, Freitag, die feierliche Eröffnung des neuen Campus Krems mit seiner benachbarten Fachhochschule und dem Zentrum für Film statt. Steigende Studierendenzahlen hatten eine Erweiterung der Kremser Donau-Universität unausweichlich gemacht.

Aus einem 2001 ausgeschriebenen Wettbewerb ging Architekt Dietmar Feichtinger (gebürtiger Grazer, heute lebt er in Paris) als Gewinner hervor. Die Voraussetzungen seien gut gewesen, so Feichtinger, schließlich präsentiere sich Krems als „ein Ort mit einem für seine Größe außergewöhnlichem Angebot an kulturellen Einrichtungen.“

Um 10,3 Millionen Euro wurde zuerst das bestehende Gebäude der Universität saniert, doch den architektonischen Schwerpunkt bildet freilich der Neubau, in den das Land Niederösterreich insgesamt 56,4 Millionen Euro investierte. Auf 34.000 Quadratmetern sind Audimax, Mensa, Bibliothek und das Zentrum für Bauen und Umwelt untergebracht.

Dunkles Gemäuer, modrige Hörsäle? Lange genug hat die Erkenntnis auf sich warten lassen, dass marode Bildungsbauten nicht die anspornendsten Bedingungen für erfolgreiches Lernen und Studieren bieten. Die Donau-Universität Krems schafft es, ganz in der jungen Tradition der neuen Uni-Bauten in Graz und Innsbruck, diese Linie der gebauten Leichtigkeit fortzusetzen.

Natürlich ist alles aus Stahl und Glas, wie könnte es anders sein. Doch mit Gewissheit ist hier keine Visitenkarte für Architekten, sondern ein ästhetischer und funktioneller Campus entstanden. Bewegliche Aluminium-Lamellen an der Fassade dosieren die Sonneneinstrahlung in den Glasbau auf ein bauphysikalisch verträgliches Maß; mal offen, mal geschlossen, verändert die spielerische Hülle permanent ihr Aussehen.

Orientalisch sitzen

Die einzige Uni übrigens, die einen eigenen kleinen Bahnhof hat. Doch nicht nur einer angemessen modernen Architektur ist hier Raum geboten worden, auch die Kunst kommt voll auf ihre Kosten. Installationen von unterschiedlichen Künstlern (Peter Kogler, Dara Birnbaum u.a.) überlagern die intellektuelle Ebene einer Uni mit - ausnahmsweise - wirklich erfrischenden Exponaten.

Am fröhlichsten: Iris Andraschek und Hubert Lobnig verteilen Teppiche aus unterschiedlichen Kulturkreisen über den Campushof, ein charismatischer Ort der Zusammenkunft. Täuschend echt: Diese scheinbar flauschigen Teppiche sind aus Mosaikfliesen zusammengesetzt.

Dass im alten Kesselhaus der ehemaligen Fabrik dann auch noch ein Programmkino Platz gefunden hat, ist eine Kür.

[ Feierliche Eröffnung ab 10 Uhr mit Campus-Führungen, Filmvorführungen und DJ-Night. ]

Der Standard, Fr., 2005.10.07



verknüpfte Bauwerke
Bildungszentrum Campus Krems

24. September 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Dirndl auf der Rodel

Dieses Wochenende geht die Expo in Nagoya zu Ende. Rückblick auf eine Weltausstellung. Gedanken zu einem Auslaufmodell

Dieses Wochenende geht die Expo in Nagoya zu Ende. Rückblick auf eine Weltausstellung. Gedanken zu einem Auslaufmodell

Es dämmert in der Präfektur Aichi. Die ersten Besucher stellen sich vor dem Expo-Gelände bereits an, hauptsächlich Japaner. Ausländer wurden auf dieser Weltausstellung nur wenige gezählt. Auch gut, die Geduld für die ewig lange Warterei hätten sie ohnehin kaum aufbringen können. Um neun Uhr öffnet die Expo ihre Pforten, die Warteschlange hat die magische Grenze von zwei Kilometern erreicht. Die Japaner sind ruhig und gelassen, exerzieren vor, wie eine Nation mit 130 Millionen Einwohnern auf engstem Raum zusammenleben kann.

Mit vereinten Kräften stürmen sie auf die begehrtesten Pavillons zu. Wer nicht jetzt schon ansteht, wird bei manchen Ausstellungsgebäuden mit bis zu sieben Stunden Wartezeit rechnen müssen. „Wisdom of Nature“ lautet das Motto der Expo 2005, die dieser Tage nun zum letzten Mal Besucherströme aufnehmen wird. 300.000 Menschen pro Tag werden erwartet. Anfänglich hatte sich Nagoya für die Olympischen Sommerspiele 1988 beworben, doch den Zuschlag bekam - hinlänglich bekannt - Seoul. Der Misserfolg sollte nicht von Dauer sein, die neue Vision war die diesjährige Weltausstellung. Mit dem zurückliegenden Event in Hannover hat Nagoya jedoch wenig gemein. Und mit dem ursprünglichen Gedanken einer Weltausstellung sowieso nicht.

Gerade Japan, das Land auf der technologischen Überholspur, ist auf die schier veraltete, jahrmarktähnliche Messe der materiellen Exponate nicht mehr angewiesen. Gewiss, Länder stellen sich vor, doch die Prämisse gilt hier nicht dem Prahlen und Protzen der einzelnen Nationen, sondern - das ist bald klar - einzig und allein der Unterhaltung. Unendlich viele Kinderwagen, unendliche viele Kinder, das Publikum mag zwar wissensdurstig sein, in erster Linie aber ist der Besuch auf dem Expo-Gelände ein familiär ersehnter Wochenendausflug samt Luftballon und Sonnenschirm.

Knappe zwei Quadratkilometer, an die hundert Nationen, die ihre Errungenschaften und Klischees zum Besten geben. Früher ein Naherholungsgebiet, soll der Nagakute-Park nach der Expo wieder vollständig rückgepflanzt werden. Wisdom of Nature also. Die gesamte Architektur ruht daher unter dem gar nicht so unsichtbaren Mäntelchen des Temporären, bis auf wenige herausstechende Pavillons handelt es sich durchwegs um normierte und modulare Stahlbauhallen, die für diesen Zeitraum an die unterschiedlichen Länder vermietet wurden. Lediglich eine Fassade als Identitätsstifter, um Korea von der Tschechischen Republik zu unterscheiden, ab kommendem Montag wird sich die leichte Demontage der Hallen beweisen müssen. Und bald werden sich die beiden Expo-Maskottchen Kiccoro (klein und freundlich) und Morizo (alt und grimmig) wieder ganz unbemerkt und wohl getarnt in ihren Wald zurückziehen können.

Die Länderpavillons: allesamt recht traditionell und trachtenmäßig. Haben die Niederlande beispielsweise in Hannover noch mit einem unorthodoxen Architektur-Big-Mac auf sich aufmerksam gemacht (gestapelte Stadt von MVRDV), so müssen die Niederlande diesmal als Kitschsujet herhalten. Unwürdiger als in Form eines Holland-Blumen-Marktes kann man gar nicht mehr auftreten. Im Innern ein Mole-Nachbau, aufgepinselte Hafenfassaden, eine schmerzhafte Gratwanderung zwischen edlem Trash und verzweifelter Nostalgie. Auch Russland richtet seinen Blick sehr mutig in die Vergangenheit: Die Fassade des russischen Pavillons zeigt lauter glückliche Menschen, und das Ganze - man kann sich's nicht verkneifen - erinnert ein wenig an die sozialistischen Verherrlichungen von pflügenden Mägden und euphorischen Bauarbeitern. Perestroika, was ist das? Very thrilling.

Und Österreich? „Der österreichische Pavillon wird auf der Expo als Symbolträger und Interaktionsplattform zur Stärkung des positiven Images Österreichs in der japanischen Bevölkerung beitragen“, erklärt Regierungskommissärin Mares Rossmann. Im Klartext und in chronologischer Reihenfolge beim Durchschreiten des Pavillons: Walzer, Almglück, Gletscher, Sachertorte und Rodelpartie. Hermann Dorn und Klaus Baumgartner, die unter dem Titel „trecolore architects“ zusammenarbeiten, sind mit ihrem Projekt „The Slope“ vergangenes Jahr als Gewinner des zweistufigen Verhandlungsverfahrens hervorgegangen.

Mit einem kleinen Trick ist es den beiden Kärntner Architekten gelungen, Österreich als Brandmark auf der diesjährigen Expo zu etablieren. Das Zauberwörtchen lautet Interaktion, und zwar überall. Anfänglich die kleine Nachbildung eines historischen Wiener Ballsaals, vollflächig verspiegelt, krönende Lobmeyr-Luster von der Decke baumelnd: Zwei geübte, des Walzers Mächtige nehmen sich der eintretenden Besucher und Besucherinnen an und geleiten diese im Dreivierteltakt ans andere Ende des Raumes, von wo es nun weitergeht. Duft einer Heuwiese, Klang eines Wasserfalls, schließlich und endlich die lang ersehnte Eisbar, von der die ganze Expo spricht. Sehr kalt, sehr vereist, Hingreifen ist angesagt. Zu guter Letzt ab in den Austro-Shop, wo Ribiselwein, Manner-Schnitten und sonstige, mehr oder weniger heimische Exponate mit nach Hause genommen werden möchten.

Michael Schmidt, Deputy-Director des Österreich-Pavillons: „In Japan wird bewusst mit Klischees gearbeitet, die man in einem europäischen Umfeld gar nicht mehr präsentieren dürfte. Ein österreichisches Dirndl ist hier ein absolut positiver Imageträger.“ Und auch die Pavillon-Direktorin Katharina Steinkellner: „Japan funktioniert anders als Europa. Dass der Besuch einer derartigen Ausstellung eine ablenkende und unterhaltsame Flucht aus der harten Arbeitswelt bietet, darf man als Europäer unter gar keinen Umständen kritisieren.“

Stattdessen möge man rodeln, den hölzernen Berghang des Österreich-Pavillons hinab. Lachende Kinder, doch auch den Erwachsenen ist auf diesen zwanzig Metern sichtlich gute Unterhaltung abzulesen. Irgendwie erinnern diese Szenen ein wenig an Lost in Translation, jenen Film, in dem Bill Murray und Scarlett Johansson sich etwas schwer damit tun, die uns so fremd erscheinenden Facetten der japanischen Kultur zu begreifen. In Europa würde dieser Pavillon, würde wahrscheinlich die gesamte Expo erfolglos bleiben - die Spielregeln sind da wie dort nicht die gleichen. Dass ein Land wie Japan auf derartige österreichische Bilder angewiesen ist, liegt letztendlich nicht an Japan selbst, sondern an der beharrlichen Tourismusmaschinerie hier zu Lande, die sich unentwegt um Mozart und Apfelstrudel dreht. Doch wo Distanz, da auch Toleranz - oder?

Als Präsentationsplattform von technischen und allerlei sonstigen Errungenschaften neigt sich das Modell „Weltausstellung“ allmählich einem Ende zu, keine Frage. Auf medialer Ebene funktioniert der Wettkampf ohnehin viel besser. Das bevorstehende Schanghai 2010 dürfte dann noch so ein letztes heroisches Aufflackern sein. Doch die Eventgesellschaft Japan hat die Expo um neue, unterhaltsame Aspekte bereichert, unter diesem Blickwinkel lässt sich die diesjährige Expo überhaupt erst begreifen. Zwanzig Millionen Besucher - das sind um 30 Prozent mehr als erwartet. Ein stolzes Zehntel davon hat den österreichischen Beitrag bereist. Die österreichischen Veranstalter haben - sozusagen - transkulturelle Weitsicht an den Tag gelegt, die Zahlen sprechen für sich.

Der Standard, Sa., 2005.09.24

17. September 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Voll im Baurausch

Vor einiger Zeit ist die Kunst des Gärens auf die Kunst des Bauens gestoßen. Oder auch umgekehrt. Seitdem sind die beiden in ihrer Symbiose, der Weinarchitektur, jedenfalls nicht mehr zu trennen.

Vor einiger Zeit ist die Kunst des Gärens auf die Kunst des Bauens gestoßen. Oder auch umgekehrt. Seitdem sind die beiden in ihrer Symbiose, der Weinarchitektur, jedenfalls nicht mehr zu trennen.

Wein ist unter den Getränken das nützlichste, unter den Arzneien die schmackhafteste, unter den Nahrungsmitteln das angenehmste", schrieb der griechische Philosoph Plutarch schon im Jahre 100 nach Christus. Noch einen Schritt weiter ging der römische Schriftsteller Plinius, als er meinte, der Nutzen des Weins könne der Kraft der Götter gleichgesetzt werden. Welch Ode an Bacchus, jener nützlichen Gottheit, die jeden guten Rausch zu rechtfertigen weiß - während sich die einen dem Vollrausch hingaben, widmeten sich die anderen bereits mit Vorliebe der Dichtkunst. Bis in etwas jüngerer Zeit Theodor Heuss einen ganz schön harten Schlussstrich zog und sagte:„Wein saufen ist Sünde, Wein trinken ist Beten. Lasset uns beten.“

Heussens Anspruch ist in die Gegenwart getragen worden, denn von der alkoholischen Komponente des Weins traut sich heute niemand mehr zu sprechen. „Wein ist nicht Alkohol, Wein ist Kultur“, lautet die allseits respektierte Maxime. Und von der Kultur zur Architektur ist es - das scheint sich ja schon herumgesprochen zu haben - nicht mehr allzu weit. In vino veritas, und in der Tat: Es gibt keinen anderen Nischenbereich der - um es einmal beim Namen zu nennen - Nahrungsmittelindustrie, der sich derart intensiv mit seiner eigenen Etikette beschäftigt. Wein trifft auf Grafik, Wein trifft auf Design, vor allem aber trifft die Kunst der Önologie auf die Kunst der Gebäudegestaltung.

Die großen Namen des Weinbaus verbünden sich mit den großen Namen der Baubranche, im Nu ist die Bauwut unter den Winzern voll entfacht. Das Bauen auf den Weingütern rund um die Welt beschert dem Begriff „Weinbau“ auf diese Weise eine neue, verbalsymbiotische Facette. Das Langenloiser Loisium (mit schwerer Zunge kaum mehr auszusprechen) ist zum Austro-Label avanciert und kann sogar mit einigen Wiener, Salzburger und Grazer Sehenswürdigkeiten mithalten. Zumindest im österreichischen Werbefenster des deutschen Privatsenders Vox, wo der funkelnde Kubus von Steven Holl prächtig die Fernsehröhre füllt. Ein New Yorker Architekt, der in Langenlois baut - das hat Seltenheitswert!

Doch entgegen den kalifornischen, französischen und sonstigen globalen Projekten der Big Names ist die önologische Architekturszene in Österreich - außerhalb von Langenlois - etwas differenzierter, etwas subtiler. Weit und breit kein Gehry, kein Calatrava, wie es andernorts mitunter der Fall sein möchte. Ein einziges Mal hat das burgenländische Weingut Esterházy sich getraut, die Grande Dame des schiefen Winkels zu einem Entwurf einzuladen. Expressiv, skulptural war die Forderung an Zaha Hadid - zum Bau ist es jedoch nicht gekommen. Stattdessen kehrte man zu den Vorzügen des Regionalen zurück und vergab den Auftrag an den lokalen Architekten Anton Mayerhofer.

Qualität still und leise statt mit großem Pomp und Paukenschlag? „Niemand, der schlanke, elegante Weine produziert, ließ sich ein protziges Château in den Weinberg stellen“, schreibt der weinerprobte Christian Sailer, „der Baustoff Psychologie erweist sich als überraschend konstruktiv.“ Und so greifen die bauwütigen Winzer in Österreich lieber auf die vornehm zurückhaltende Architektursprache zurück.

In burgenländischen Jois etwa hat das Architekturbüro gerner°gerner dem Weinbauern Leo Hillinger sein neues Reich geschaffen. Die Weine heißen Hill, stets chronologisch durchnummeriert, die Adresse lautet ebenfalls Hill, und zum perfekten Brandname gesellt sich nun auch noch das dazugehörige Haus. Eine expressive Schuhschachtel ragt aus dem Hang heraus, im riesigen Panoramafenster wird die Landschaft des Leithagebirges gerahmt. Innen ist alles ebenso transparent, selbst der industrialisierte Pro-

duktionsablauf. „Blick auf Barrique“,lautet das heiße Motto der Stunde, überall Glas, überall wird Neugier geweckt, im gleichen Moment gleich wieder gestillt.

Auch das - sehr ähnlich klingende - Büro g2 plus ist in seiner Arbeit ganz der „edelsten Verkörperung des Naturgeistes“ verfallen, wie Friedrich Hebbel einst den göttlichen Trunk so schön umschrieben hatte. Und weil man sich von der Rebe halt nur so schwer trennen kann, haben die beiden Planer die Weinstöcke im Grassnitzberger Weingut Polz symptomatisch bin ins Innere fortgesetzt. Architektin Martina Grabensteiner: „Es ist schön zu sehen, dass die Leute diese Stöcke wie einen normalen Weinstock behandeln, im Herbst werden sie zugeschnitten und gelesen. Wunderbar!“ Einziger - durchaus verkraftbarer - Wermutstropfen: „Eiswein kann daraus keiner werden.“ Als Ergänzung zum Rudiment des gedeckten Weingartens ist die eigentliche zweite Haut des Weines in den großzügigen Glasfassaden zum Einsatz gekommen: Gestapelte grüne Glasflaschen filtern den Blick einmal mehr, einmal weniger.

Ein ähnlich poetisches Spiel mit Flaschen ziert den Degustationsraum im Weinkulturhaus Gols, für die Gestaltung zeichnen Eberstaller & Co verantwortlich, ein Designerpaar mit ebenfalls sehr rebensaftbehaftetem uvre. Ganz benommen werden die degustierenden Hobby-Sommeliers darin herumstehen, vor lauter Flaschen den Wein nicht mehr sehen. Stark herangezoomt richtet sich die Kamera auf den Flaschenhals, mit Blick mitten hinein in den Rohstoff berauschender Freude. Schlicht und einfach ist das großformatige Foto als diffuse Lichtquelle verwendet worden.

Zu den vielen feinen und zarten Konzepten gesellt sich dann doch noch die monumentale Variante der Weinarchitektur. Vielleicht ist die ewig lange Natursteinmauer, die den Reifekeller Arachon in Horitschon nach einer Seite abschließt, eine Art Weindenkmal? Die beiden Architekten Wilhelm Holzbauer und Dieter Irresberger haben die minutiös geschlichtete Steinmauer in der Mitte ein bisschen emporgestemmt, erst hinter der flachen und weiten Öffnung erspäht man das eigentliche Gebäude, in dem der ersehnte Tropfen vor sich hinreift.

„Kam der Kunde früher mit dem Opel Kadett und packte die Dopplerflaschen in den Kofferraum, so kommt er heute im schwarzen Porsche und schlichtet die Sechserkartons auf den Rücksitz“, erklärt AZW-Direktor Dietmar Steiner. Also doch Lifestyle-Faktor Wein? Was früher ein geschmackvoller und stets nobler Zweig der Landwirtschaft war, hat heute an neuen Aspekten dazugewonnen. Die Tradition ist geblieben, doch zu ihr gesellen sich neue technische Standards. Die Zeit der alten Weinkeller und Weinpressen ist damit endgültig vorbei. Der Sparte Architektur ist es (nicht zuletzt dank der engagierten Winzer) gelungen, auf diesen Wandel mit unverwechselbaren Charakterzügen zu reagieren.

„Im Wein birgt sich viel“, schrieb der Lyriker Georg Britting: „Spiel, Schwermut und Lust.“ Und Letztere hat unverkennbar ihre Spuren in der architektonischen Ausformulierung hinterlassen.

[ Ein Glaserl Vernissage-Wein gefällig? Kommenden Mittwoch um 19.00 Uhr wird die Ausstellung „WeinArchitektur. Vom Keller zum Kult“ eröffnet. Architekturzentrum Wien, Museumsplatz 1, 1070 Wien. Zu sehen bis 6. Februar 2006. ]

Der Standard, Sa., 2005.09.17

09. September 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Haus von Dr. Flex

Die einen sprechen von einer Modeerscheinung, die anderen von der lang ersehnten Emanzipation in der Architektur: Multifunktionalität goes cubic. And beyond

Die einen sprechen von einer Modeerscheinung, die anderen von der lang ersehnten Emanzipation in der Architektur: Multifunktionalität goes cubic. And beyond

„Ich bin 24 Jahre jung, ledig, ehrgeizig und halte mich für flexibel.“ Ausschnitt aus einem Bewerbungsschreiben um einen Universitätsposten, aus irgendeinem Chat-Forum herausgegoogelt, recht flexibel erarbeitet also. Angesichts der Tatsache, diese gegenstandslose Eigenschaft mittlerweile jeder Zahnbürste abzuverlangen, ist Flexibilität heutzutage keine großartige Ressource mehr. Dr. Flexens Beitrag zur Flexibilität ist die eine Art, andere wiederum buhlen mit dem Zuckerl der mobilen Videotelefonie um neue Handykunden - now you can, now you have to! Egal wie und wo, was bleibt, ist der unausweichliche Trend, der Flexibilität in erster Linie mit Mobilität und Multifunktionalität gleichsetzt.

Ein bisschen schwieriger gestaltet sich die ganze Sache, wenn justament die Immobilie zum mobilen Etwas werden muss. Heidegger meint: „Wohnen? Das gotische Wort Wunian bedeutet: zufrieden sein, zum Frieden gebracht sein, in ihm bleiben. Das Wort Friede meint das Freie, bewahrt vor Schaden und Bedrohung.“ Nicht befreit wird die Wohnung jedoch von anbahnender Unruhe, sogar der letzte Rückzugspunkt der eigenen vier Wände muss sich dem Kanon der heiß umgarnten Unterhaltungsgesellschaft beugen. Heidegger muss enttäuscht werden, alles muss sich drehen, klappen, wenden, schieben, sich sonst irgendwie fortbewegen. Je mehr, desto besser, und je unterschiedlicher, desto cooler. Ohne Unruh' also kein Friede, am besten überhaupt, die gesamte Wohnung lässt sich auf Knopfdruck umbauen.

„Flexibilität ist ein ungemein modisches Füllwort geworden. Wenn etwas gut verkauft werden muss, wird es sofort als flexibel bezeichnet, und schon fährt der Markt darauf ab“, so Architektur-Absolventin Stephanie Joussein, die sich eingehend mit ebengleichem Thema im sozialen Wohnbau beschäftigt hat, „vielleicht ist diese Eigenschaft also nur eine Mode- erscheinung?“ Als so ein - auf den ersten Blick - einmaliges Wow kommt das multiple Hamsterrad „turn on“ der Wiener Architektengruppe AllesWirdGut daher. Weit draußen die unendlichen Weiten der Natur, doch innen ist alles minutiös durchexerziert bis ins letzte Detail. Die unterschiedlichen Funktionen von Kochen und Essen bis hin zu Arbeiten, schließlich bis zur freizeitlichen Ruhe des Nichtstuns und des Schlafens sind im Kreis angeordnet. Was man gerade braucht, wird in die gewünschte Position gedreht, der Rest harrt einer späteren Nutzung und hängt als Fledermaus kopfüber einfach von der Decke herab.

Alles Utopie, könnte man meinen. Doch nicht zuletzt der intensiven Vorarbeit solcher visionärer Experimente ist zu verdanken, dass beispielsweise auch Ikea so erfolgreich zum Zug kommt: 2003 stand der Ikea-Katalog ganz unter dem Motto „Go cubic“ - ein neues Konzept im erschwinglichen Einrichtungssektor zwar, in der restlichen Welt der Architektur und des Designs aber längst schon ein alter Hut. Ganz dem Zeichen des Dreidimensionalen hat sich auch Barbara Pitschmann verschrieben. Ihr Projekt „Notpalast“ ist eine Art Ikea für Arme, konkret ein mobiles Minihaus für Obdachlose. Geschoben und gezogen, quer durch die ganze Stadt - sogar zwischen den Entwerter-Backen auf den U-Bahn-Steigen passt er hindurch - wird das mobile Zuhause soweit befördert, bis der Obdachlose im Heidegger'schen Sinne zur Ruhe kommen möchte. Untertags ein Koffer auf Rädern, in dem alles vom Flaschenöffner bis zur Konservendose seinen Platz hat, in der Nacht entwickelt die weiße Box hingegen campingplatztaugliche Qualitäten.

Mobilität an ihrem Höhepunkt also. Da lächelt der moderne Mensch zwischen dem leeren Begriff der Freiheit und dem Zwang zur Beweglichkeit. Doch das ist zeitgemäß, vor allem aber ist es erwünscht: „In den 60er-Jahren war das alles nur eine Lifestyle-Bewegung, die von den Architekten ausgegangen ist“, erklärt Gerhard Kalhöfer, der mit seinem Partner Stefan Korschildgen schon manches Haus und manche Küche in Bewegung gebracht hat, „doch die Nutzer sind in der Zwischenzeit emanzipierter geworden.“ Ein Tribut an den Menschen, voller Variabilität und Anpassungsfähigkeit - nicht zuletzt wird auch noch der Spieltrieb des Bewohners befriedigt. Die Architekten Kalhöfer-Korschildgen sprechen auch von der Ästhetik des Unvorhergesehenen.

Schöner wohnen also. Im Nu gelangt ein oft missbrauchtes Schlagwort zu neuer Bedeutung. Denn kaum ist so ein Wohnraum mit vielen potenziellen Urzuständen einmal bewohnt, hält einen nichts mehr davon ab, die jahrelange Erkundungsreise durch alle Launen, Höhen und Tiefen der eigenen Befindlichkeit anzutreten. In einer Villa in Bordeaux (Architekt Rem Koolhaas) wird die Veränderung öfter stattfinden, denn hier ist sie ein raumgewordener Aufzug, der den gehbehinderten Bauherrn auf und ab hievt. In den Berliner Estradenhäusern von Wolfram Popp dagegen ist die Klapp-Schiebewand eine spielerische Matrix, die sowohl mit der Privatheit als auch mit der Repräsentanz zu liebäugeln vermag. Der beinahe verschwindende Aspekt des Nötigen wird hier einzig durch die alltägliche Phobie dreckigen Geschirrs getragen. Immerhin.

Der wohnbauerprobte Helmut Wimmer bringt es auf den Punkt: „Wir sollten die Mittel, die Bedingungen und die Möglichkeiten dafür schaffen, dass jedes einzelne Individuum in eigener Regie seine Umwelt gestalten und nach Bedarf, Lust und Laune immer wieder verändern kann.“ Übertroffen wird er nur noch durch Bertolt Brecht, denn dieser meint: „Die wirklich groß geplanten Werke sind unfertig.“

Der Standard, Fr., 2005.09.09

27. August 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Bunt und rund und voll daneben

Kinderfreundlichkeit - ein Begriff mit üblem Nachgeschmack: Vermeintlich kreative Architektur, und schon hat man „kindlich“ mit „kindisch“ verwechselt.

Kinderfreundlichkeit - ein Begriff mit üblem Nachgeschmack: Vermeintlich kreative Architektur, und schon hat man „kindlich“ mit „kindisch“ verwechselt.

Die kleine Architekturkunde: Wozu gibt es Fenster? „Damit kein Regen oder Schnee ins Haus kommt. Jedes Haus muss zwei Fenster haben, sonst kann man nicht bleiben.“ Klare Sache. Und was ist ein Haus? „Da kann man schlafen. Gibt's Tisch und Sessel, drei Fenster, Tür, Uhr, Lampe. Alle schlafen im Zimmer, alle essen in der Küche.“ Kaum begriffen, ist man schon verwirrt - eben waren es noch zwei, schon sind es deren drei. Doch das macht nichts, denn so eine architektonische Umschreibung kann ja mitunter sehr subjektiv sein.

Schriftstellerin Helga Glantschnig, die in Wien mehrere Jahre als Volksschullehrerin tätig war, hat diese Definitionen ihrer Schüler über Jahre hinweg zusammengetragen und schließlich in einem Buch unter dem herzerfrischenden Titel „Blume ist Kind von Wiese“ veröffentlicht. Süß, nicht wahr? Doch wo man eingangs noch schmunzeln musste, beginnt man bald schon zu grübeln. Wenn es dann etwa heißt: „In Wohnung kann man sitzen, da sind Sessel, da kann man leben. Kasten, Tisch, Glas und Wasser gibt's, Kühlschrank, Bett und Fenster gibt's auch, Licht und Blumen. Meine Haus hat eine Zimmer und eine Küche. In Zimmer schlafen, in Küche essen und fernsehen und reden.“

Klar, da lassen sich gewisse soziale und finanzielle Bilder ableiten, nicht die besten offenbar, gewiss auch keine schlechten. Vor allem aber - das haben die Kids hier unmissverständlich bewiesen - haben sich im Alter von sieben, acht Jahren bereits Muster eingeschlichen, die man so rasch nicht mehr ablegen können wird. Ganz nach asketischem Prinzip ein Bett, ein Schrank, ein Tisch - das ist Architektur. Fazit: Als Architektin, als Pädagoge, als Planer oder Lehrerin muss man wahrscheinlich doppelte Arbeit leisten, wenn man innovative Konzepte erst einmal aufzeigen, womöglich auch umsetzen möchte. Verkrustete Strukturen haben sich eingeschlichen, das ist eine Tatsache, und die Kritik gilt hier sichtlich nicht nur den institutionellen und behördlichen Instanzen.

Die Abhilfe? Das ist ganz einfach. Klein, bunt und rund. Sehr gelb, sehr rot und sehr blau. Oder noch viel schlimmer: „Manchmal wollen Architekten der Fantasie von Kindern auf die Sprünge helfen“, so Elisabeth Plessen, Chefredakteurin der Deutschen Bauzeitung, „dann entstehen Häuser, die aussehen, wie Schiffe, Drachen oder Burgen.“ Und tatsächlich, solche Häuser werden auch gebaut. Sie tragen den Stempel des angestrengt Konstruierten und der Zwangsbeglückung, machen sie in Wahrheit doch nur den einen Erwachsenen glücklich, aus dessen Feder der geniale Entwurf denn auch stammt. Für den Rest macht es keinen großen Unterschied. Die erste Euphorie solcher gestalterischen Exzesse hat sich bald einmal gelegt, es bleibt der üble Nachgeschmack vermeintlicher Originalität, der die Kreativität des Kindes statt zu fördern nun hemmt. Oder sogar unterbindet.

Der Architekt als vermeintliches Kind - des Architekten zweite Chance? Hier ist jemand der Verwechselbarkeit zwischen „kindlich“ und „kindisch“ erlegen, die Vorstellungen von Kindsein wurden durch eigene Kindheitssehnsüchte sichtlich getrübt. Die omnipotente These „Less is more“ darf man ruhig auch schon für junge Jahre anwenden, denn - so eine österreichische Architekturzeitschrift - „erst das Zurücknehmen eines erwachsenen Schaffenwillens ermöglicht das Wachsen der kindlichen Kreativität und damit den erwünschten Freiraum.“

Was also - wenn man sie schon nicht mit den simplen Bausteinen unserer Imagination erreichen kann - ist Kinderfreundlichkeit? Das regelmäßig erscheinende „konstruktiv“, interne Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, hat da ein paar Antworten parat: keine schwer zu öffnenden Türen, rutschfeste Bodenbeläge, Steckdosenschutz oder etwa das Klingeltableau in 120 Zentimeter Höhe. Noch viel unbefriedigender ist die Lektüre so genannter Leitfäden oder Richtlinien der einzelnen Länder: „In erster Linie muss das Ziel dieser Bauten sein, den Kindern eine Hülle zu geben, die sie vor äußeren Einflüssen dieser Welt schützt.“

Angetrieben vom Helferlein-Syndrom ist auch die ÖVP, im Sommer 2003 stellt sie ihre Vorstellungen einer urbanen Kinder-Offensive vor. Gemeinderat Wolfgang Gerstl, Leiter der Gruppe „Vernünftig fließender Verkehr“, träumt „vom kleinen Verkehrszeichen in ein Meter Höhe, kindgerechter Beschriftung in Museen bis hin zum Kinderpissoir.“ Rosige Aussichten also, sehr schnuckelig. Doch bedarf es tatsächlich dieser plakativen Eingriffe? Kindergerechtigkeit als Vorwand zum Bau eines Elfenbeinturms? Das Zurechtfinden in der Welt der Erwachsenen hat noch nie ein Problem dargestellt. Sich zu strecken oder gar zu hüpfen, um im Lift oder auf der Gegensprechanlage das Knopferl zu drücken, das macht die Kindheit nicht unüberwindbar - das macht sie nur spannender und spielerischer. Wer im wahnwitzigen Reagieren auf diese herbeikonstruierte Sorge mittels Herabsetzen der Höhe von Klingeln, Türgriffen, Verkehrsschildern oder Stufen auf Zwergenhöhe einen ernst gemeinten Beitrag einer Stadtregierung sieht, hat hier sichtlich etwas missverstanden.

„Was ist schon kinderfreundlich?“, fragen sich Arno Lederer und Jórunn Ragnasdóttir, zwei schulbaugezeichnete Architekten aus Deutschland, „Ein zweiter Handlauf, niedrige Waschbecken, oder ein Fenster mit Brüstungshöhe auf 60 cm? Das alles sind doch Selbstverständlichkeiten, die mit Kinderfreundlichkeit nichts zu tun haben.“ Und auch Architekt Herman Hertzberger betont in einem Interview: „Man spricht gern auch vom kindlichen Maßstab. Daran glaube ich nicht. Kinder gehen Treppen wie Erwachsene. Ich habe noch niemals gesehen, dass man für Kinder kleine Treppen braucht.“

Man kann sich anstrengen, wie viel man möchte - Kinderfreundlichkeit lässt sich nicht planen, schon gar nicht lässt sie sich bauen. Wie denn auch? Kinder lieben das Unfertige, sie werden dort zum Gestalter und Akteur, wo es noch etwas zu entdecken gibt, wo nicht alles determiniert ist, wo sie vor allem eigene Ideen hinzufügen können. Heidi Schroft, Direktorin am Bundesgymnasium Rahlgasse in Wien: „Oft bleibt kein Platz mehr für Neugier. Wird kindliche Neugier erst einmal unterdrückt, wird ein großer und schöner Aspekt des Lernens zerstört.“

Seien wir doch ehrlich: Kinderspielplätze sind langweilig. Holzig, bunt, eine Schaukel, eine Rutsche, und ab geht die Post. Der Lernaspekt dabei hält sich in Grenzen, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass hier eher die Wünsche der Erwachsenen, als die Bedürfnisse der Kinder erfüllt werden. Eingebettet in rindenmulchige Sicherheit und in des Mutters Blick aus dem Wohnzimmerfenster - das ist nicht wirklich sexy. „Tatsächlich spielen Kinder auf Rampen von Tiefgaragen, auf Autoparkplätzen, Podesten und Stiegen - überall dort, wo es nicht erlaubt, zumindest nicht geplant ist“, erzählt Architekt Volker Giencke. Er nennt sie Sehnsuchtsbündel, Kreativkapseln und Systemverweigerer, sein unüberhörbarer Appell lautet daher: „Baut die schönsten Tiefgaragen der Welt und Parkplätze primär für Kinder und sekundär für Daihatsus und Maseratis.“

In Artikel 13 der UN-Kinderkonvention vom 20. November 1989 heißt es: „Das Kind hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere vom Kind gewählte Mittel sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.“ Man wird also nicht umhin kommen, endlich einmal die Kinder als seriöse Ansprechpartner wahrzunehmen. Denn jemand anderer als das Kind selbst wird uns den Schlüssel zum Begriff der Kinderfreundlichkeit nicht liefern können.

Ist das nun der blauäugige Aufruf, Kinder an den Einreichplan heranzulassen? Nein, das nicht. Doch warum es beispielsweise im Schulbau - schließlich sind Kinder ja die Endverbraucher - niemals zur Kommunikation zwischen Bauherren, Planern und Kindern kommt, ist ein unentschuldbares Versäumnis. Fakt ist, dass Bund, Land und Gemeinde, dass Bauherren und Architekten, dass Erwachsene im Allgemeinen diese junge Generation unserer Gesellschaft schier unterschätzen. Kleine süße Gschrappen, die jüngste Randgruppe unserer Gesellschaft? Solange gelb behaubte Knirpse in der Zweierreihe durch die Straßen ziehen und es nicht einmal den Kindergartenerziehern und Lehrerinnen gelingt, sich ihres dümmlichen Babytonfalls zu entledigen, wäre auch alles andere wohl zu viel verlangt.

Der Standard, Sa., 2005.08.27



verknüpfte Publikationen
Wir spielen Architektur

13. August 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Gute-Laune-Mehrwert

Wirtschaftskammer? Das klingt nach gestärktem Hemd und ernster Miene. Doch mit dem eben fertig gestellten Neubau in St. Pölten entlockt uns Rüdiger Lainer ein breites Lächeln.

Wirtschaftskammer? Das klingt nach gestärktem Hemd und ernster Miene. Doch mit dem eben fertig gestellten Neubau in St. Pölten entlockt uns Rüdiger Lainer ein breites Lächeln.

Zugegeben, beim Wort Wirtschaftskammer verfällt man nicht sofort in lustvolle Schwärmerei. Die zur institutionellen Macht gehörigen physischen Hüllen, der üppige Bürokraten-Barock, die hässlichen Waschbetonfassaden und die absurden, achteckig labyrinthischen Grundrissen motivieren keine positiveren Gedanken. .
Nun, was geschehen ist, ist geschehen - ein Grund mehr, es heute besser zu machen. Im unbeirrbaren Kanon prächtiger Stahl-Glas-Architektur wird daher investiert, entwickelt und gemanagt, was das Zeug hält. Kräftig werkelt man an der - heutigen - Vorstellung von Zukunft und verstreut in der Landschaft ein Büromonster nach dem anderen. Immergleich stolze Exponate einer Gegenwartsarchitektur, die ihre jeweilige Existenz besser rechtfertigen wollen als die inzwischen viel propagierten Bausünden der 70er-Jahre. Ein weit gestecktes Ziel.
Man kann aber auch einen Schritt weiter denken. Man kann beispielsweise so weit denken, dass man mit dem Enthusiasmus von heute nicht nur das Grauen von morgen vorproduziert - das ist eine gewisse Weitsicht, deren Lorbeeren - wohlgemerkt - erst nach reifer Zeit geerntet werden können. So ein zukunftsträchtiges Ding in der Landschaft, das kurz vor der Fertigstellung steht, ist die neue Niederösterreichische Wirtschaftskammer in St. Pölten, Resultat eines zweistufigen Wettbewerbs von 2002, Architekten sind Rüdiger Lainer + Partner.

In einem Monat startet der Umzug in die neuen Räumlichkeiten, Ende des Jahres wird der Standortwechsel vollzogen sein. Dann wird die Wiener Herrengasse nur noch leer stehender Zeitzeuge einer viel zu lang gehegten Nabelschnur zur Wiener Mutterbrust sein.

Wie auch immer, gut Ding braucht eben ein wenig Weile. Wenn alles gut geht, könnte der voreilig holprige Stadtslogan „St. Pölten - mitten in Europa“ eines Tages auch mehr einbeziehen als einzig und allein ein vermeintlich geografisches Faktum.
„Keine weitere Tintenburg“, so Rüdiger Lainer, und es bewahrheitet sich sehr bald. Direkt im Anschluss an das bestehende WIFI im Süden St. Pöltens, mittels Glassteg an die Bauteile von Karl Schwanzer und Günther Domenig angedockt, ist die neue Wirtschaftskammer der extrovertierte Abschluss eines großen Wirtschaftskomplexes.

Selten verspürt man so viel gute Laune, wenn man vor einem Büroneubau steht. Doch dieses Bauwerk lächelt einen nahezu an, als hätte es eine Geschichte mitzuteilen. Und irgendwann grinst man dann zurück: Nach einem Farbkonzept von Oskar Putz steht die WKNÖ ziemlich rot da, es ist ein Zeichen kühnen Humors, eine finanztechnisch so behaftete Farbe an die Fassade zu pinseln.

Irgendwo Fenster, in jedem Geschoß anders, in jedem Geschoß versetzt. Leicht erhaben treten sie aus der grob verputzten Fassade heraus und schweben davor wie eine eingeglaste Fotografie vor einer Ausstellungswand. „Eigentlich sind spiegelnde Fassaden ja entsetzlich“, gesteht sich Lainer ein, „doch vor diesem Hintergrund musste es ganz einfach bildhaft werden.“ Emaillierte Quadrate, jedes davon drei Quadratmeter groß.

Gerhard Richter hat einmal für das Deutsche Guggenheim Museum die Auftragsarbeit „Acht Grau“ angefertigt, grau emaillierte Glastafeln, die nichts anderes wiedergeben als das Spiegelbild im Auge des Betrachters. Die Architektur antwortet: „Nein, die Fenster sind kein direktes Zitat an Richters Arbeiten, denn das wäre vermessen. Aber es stimmt, wir haben uns von ihm durchaus inspirieren lassen.“
Irgendwo zwischen diesen Glastafeln tummeln sich in der Fassade große Loggien, die als orangene Löcher aus dem zackigen Ding ausgestanzt sind. Eckig, unregelmäßig, gelungenermaßen tatsächlich sehr zufällig, so als träumte der Architekt von der Quadratur des Emmentalers. Konsequenterweise haben Rüdiger Lainer und sein Partner Oliver Sterl - kraft geplanten Zufalls - dabei nicht einmal den unwahrscheinlichen Fall ausgeschlossen, in dem zwei orthogonale Käselöcher durch Berührung schließlich zusammenwachsen. Blob.
Doch rein in den Käselaib, denn schließlich besteht ein Büroalltag aus mehr als nur Fassaden-Sightseeing. „Man wohnt auch im Büro“, so die Architekten, „wie ist es denn in Wirklichkeit? Wir verbringen mehr Zeit im Büro als zu Hause.“ Diese überstündliche Unsitte ist in diesem Falle aber kein Graus. Haben die rund 250 Mitarbeiter das inszenierte Nadelöhr namens Eingang erst einmal hinter sich, eröffnet sich nach wenigen Schritten eine Weite, die dem Gebäude von außen gar nicht anzusehen war.

Ein überschwängliches Atrium bis unters Glasdach, von oben dringt Tageslicht in den Schlund der unteren Geschoße. Alles in strahlendes Weiß getaucht, die massiv geschwungenen Brüstungen tanzen unregelmäßig von Stockwerk zu Stockwerk. Irgendwie erweckt es den Anschein, dass man sich den Innenraum des New Yorker Guggenheim Museums für hiesige Zwecke ein wenig eigen gemacht hat, es ist sozusagen ein lang, lang gedehnter Frank Lloyd Wright auf der Streckbank der Architekturgeschichte.
Keine drückenden Raumhöhen, kein verächtliches Warten in den zu engen Gängen einer thrombosegeplagten Behörde. Stattdessen Licht und Luft, gelegentlich sogar ein schluchtenübergreifendes Hallo zum Kollegen aus der anderen Etage. Oder auch Mahlzeit - schließlich ist man unter Beamten. Hauptsache, man sieht sich also.

Und was noch erfreulicher ist: Man sieht auch Wasser, Sträucher und immer wieder das eine oder andere kleine Bäumchen. Denn der Luftraum, der alle Ebenen miteinander verbindet, tut nicht nur dem Überblick und der Kommunikation gut, er ist vor allem auch ein mikroklimatischer Clou. Eine Wasserebene am Boden des Atriums und großzügige vereinzelte Pflanzentröge schaffen den Spagat zwischen psychologischem und klimatischem Wohlbefinden, ohne großes Zutun kann sich die Luft 24 Stunden lang regenerieren. Fehlen eigentlich nur noch die Tiere. Das ist - ausgehend von Architekt und Auftraggeber - ein Tribut ans menschliche Wohlbefinden, der einem so reinrassig selten über den Weg läuft. Meist sind es nämlich genau diese Spompanadeln, die unterm abgedrehten Geldhahn jämmerlich verdursten müssen.
Doch Grünzeug gibt es nicht nur im Innenraum - nun endlich kommen die Emmentaler-Löcher ins Spiel. Immer wieder tauchen an unerwarteter Stelle die Loggien auf, einmal eingeschoßig, einmal zweigeschoßig, einmal flächig, einmal übers Eck. Im Sonnenlicht strahlt das knallige Orange der Fassadenlöcher bis ins weiße Atrium hinein, bald werden auch die grün wuchernden Sträucher die Freiräume (und Raucherbalkone) unverkennbar kennzeichnen. Im Sommer wird sich hier der Qualm der gerauchten Zigaretten niederlassen, im Winter der Schnee. Es ist der Austritt ins Freie, es ist der Respekt einer arbeitenden Person gegenüber.

Die rationale Frage nach dem Bedarf wird gar nicht erst ins Spiel gebracht, denn sie ist längst schon beantwortet. Aus tiefster Überzeugung ein Büro mit Mehrwert - und nicht die Bausünde von morgen. Ein Plus an Qualität? Ein so oft postuliertes und so selten eingelöstes Sprücherl in der großen Architektenwelt, dabei würd's so einfach gehen.

Der Standard, Sa., 2005.08.13



verknüpfte Bauwerke
Wirtschaftskammer Niederösterreich

30. Juli 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Wetten, dass . . .

. . . sie es immer wieder schaffen? Wettbewerbe können einem liegen. Oder auch nicht. Die drei Burschen von Caramel haben allem Anschein nach den richtigen Riecher.

. . . sie es immer wieder schaffen? Wettbewerbe können einem liegen. Oder auch nicht. Die drei Burschen von Caramel haben allem Anschein nach den richtigen Riecher.

Wettbewerbe sind eine feine Sache. Sie sorgen für die Demokratie in der Architektur, wenngleich diese gelegentlich diktatorischen Ansätzen verfällt. Doch damit alles schön transparent abläuft, gibt es (leider Gottes nicht immer, aber doch gelegentlich) recht seriöse Juryprotokolle, die jede Entscheidung der Jury nachvollziehbar machen. Der Preis der Sache: An diesem kopfgeburtigen Juristen-Architekten-Slang kann man sich die Zähne ausbeißen - egal, man verreckt, ehe man den ersten Satz fertig gelesen hat. So trocken und spröde, als hätte man Sand gelöffelt. Da wird in einer Tour bemerkt, festgehalten, angeregt und hervorgehoben, ja schlimmer noch, es wird sogar konstatiert. Killer der Kreativität, mit dem bürokratischen Bulldozer kann man im Nu jeden poetischen Ansatz plattfahren.

Doch es geht auch anders. Das wissen die drei Burschen von der Architektengruppe Caramel. Ist das Staniolpapierl rund ums fiktive Zuckerl erst einmal entwuzelt, kommt das Trio zutage: Günter Katherl, Martin Haller und Ulrich Aspetsberger - so zwischen gerade noch in den Dreißigern und doch schon 40 Jahre alt - kennen sich von den unterschiedlichsten Unis und Jobs, seit 1999 arbeiten sie unter dem süßen Deckmantel Caramel zusammen. Wie eine zähe Masse - dem Namen alle Ehre erweisend - picken sie sich an jedem nur greifbaren Wettbewerb fest und steigen in den öffentlichen Ring des permanenten Architekturkampfes. Doch sie sind ganz fit, neben vielen anderen haben sie unlängst auch am Wettbewerb für den Science Park der Johannes-Kepler-Universität in Linz teilgenommen. 40 Teilnehmer EU-weit, Caramel ging schließlich als Gewinner hervor. Der erste Satz aus dem Protokoll: „Den Architekten gelingt es scheinbar mit Leichtigkeit, die schwierige und komplexe Aufgabenstellung zu bewältigen.“ Da kann man sich ob der Sprache und ob der Architektursprache gleich doppelt freuen: „Das Ergebnis ist eine überzeugende Neuinterpretation des Themas Universitätscampus, das seine besondere Stärke daraus bezieht, dass die spezifischen Potenziale des Ortes sehr sensibel und kreativ genutzt werden.“

Euphorisch geht es weiter, denn auch Rudolf Ardelt, Rektor der Johannes-Kepler-Universität, zeigt sich vollends zufrieden: „Das Modell entspricht exakt unseren Vorstellungen einer höchst innovativen und funktionalen Hochschuleinrichtung.“ Das schreit doch verheerend nach Glückssträhne - dabei hat man an einen möglichen Sieg gar nicht mehr gedacht. Katherl: „Für uns war das die einzig richtige Lösung. Aber wir haben so ewig lang daran herumgefeilt, dass wir mit dem ersten Platz gar nicht mehr gerechnet haben.“

Ein Wettbewerb, wie er im Buche steht. Klare Ausschreibung, klare Anforderungen. Und der Hund fängt da sogar schon im Städtebau an, denn das Grundstück im Stadtteil Dornach-Auhof liegt an einem windtechnisch linzexistenziellen Hang. Klimaforscher haben es schwarz auf weiß gefordert: Da muss der Wind durchpfeifen können, der logische Schluss ist eine Anordnung quer zum Hang. Kein Kabelsalat also, sondern ein adrettes Arrangement parallelbemühter Kabelstückchen wie auf dem gewinnträchtigen Wettbewerbs-Schnappschuss.

Nachdem die Finanzierung des Science Centers (Bauherr ist die BIG) teils öffentlich, teils privatwirtschaftlich erfolgt, muss sich diese Geldgeber-Struktur der Public Private Partnership irgendwo auch abzeichnen. Caramel ist da ganz unverblümt an die Sache herangegangen und hat klar definiert: Der universitäre Verwaltungstrakt ist konventionell ausgeführt, schmal und zweihüftig. Ein Büro istein Büro - aus. Es ist die Brutalität der nackten Tatsache, mehr Geld gibt's nicht. Man kann es auch nicht herzaubern, sondern kann aus den widrigen Umständen nur eine angemessene Lösung herausholen. Dafür aber wird es richtig lustig, wenn man die universitären Büroflächen hinter sich lässt und den Bereich des privat finanzierten Forschungszentrums betritt. Statt eines Gangs gibt es eine riesige, öffentliche Zone zum Knozen und Kommunizieren, Lufträume verbinden die Geschoße miteinander, Tageslicht gibt's ohne Ende. Der karamellisierte Martin Haller: „Forscher sitzen zwar immer in ihrem stillen Kämmerlein, aber die wirklich guten Ideen entstehen meist beim Kaffee.“

Das mit den guten Ideen ist auch bei Caramel nicht anders. Kaffee spornt nicht nur den wissenschaftlichen, sondern auch den kreativen Erfindergeist an. Auch die Hauptwerkstätte der städtischen Müllabfuhr in Wien - hinlänglich bekannt als MA 48 mit der herzerlgewordenen Acht - war Resultat eines von Caramel gewonnenen Wettbewerbs. Dem firmeneigenen Slogan „Ohne Mist geht's besser!“ Folge leistend, wurde hier selbst im Bereich des Mülls kein Schrott gebaut. Von der Straße aus gut sichtbar ragt hinter den Hernalser Plakatwänden ein schwarzes Ding aus vorverwittertem Blech hervor. Das abgerundete Eck am sonst so klaren Quader mutet fast ein bisschen designt an, doch es ist die beinharte Umsetzung von Louis Sullivans altem, altem Credo, dem gemäß die Funktion die Form bedingt, und nicht umgekehrt. Caramel: „Es ist der einzige Punkt im gesamten inhomogenen Areal, an dem der Verkehr kulminiert.“ Und so ist es nicht verwunderlich, wenn die Gebäudeform den Kurvenradius eines knallorangenen Müllwagens aufnimmt. Im ersten Stock hat man die Gegebenheit des Ortes schließlich luxuriös zu nutzen gewusst und in der Rundung die Mitarbeiter-Kantine angesiedelt. Durch ein Panoramafenster übers Eck dringt das Wienbild ganz mächtig in den Raum.

Wenn wir schon beim Müll sind: Auch das Landeskrankenhaus Salzburg mit einer Zweigstelle für Transfusionsmedizin und Stammzellenforschung war ein gewonnener Wettbewerb. Es ist ja in Österreich gang und gäbe, dass ein erster Platz - daran hat man sich verrichteter Dinge schon gewöhnt - nicht unbedingt Garant für eine Realisierung ist. Doch ein Wettbewerbsprojekt mitten im Bau abzubrechen - das klingt schon nach einer Anekdote aus Schilda. Die Architekten: „Man sieht die Baugrube von der Westbahnstrecke ganz gut, heute stehen da ein paar Autos herum.“ Mit 2,5 Millionen Euro dürfte dies einer der teuersten Parkplätze der Welt sein. Wie so etwas passieren kann? Es ist die unsichtbare Kurbel der Politik. „Sie wissen ja, dass alle vier Jahre eine neue Regierung gewählt wird“, vernimmt man von SALK, den Salzburger Landeskliniken, „und im Zuge des Regierungswechsels ist es unter Landeshauptfrau Gabi Burgstaller zur Prüfung des gesamten Projekts gekommen.“ Fazit expressis verbis: Die Baustelle ist gestoppt, der Neubau ist in dieser Form und auf diesem Areal gestorben.

Und wie geht es weiter? Mit dem LKH Salzburg gar nicht, ansonsten wie eh und je. Über dreißig Wettbewerbserfolge sind es bisher - dieses bisweilen riskante Modell der Projektakquisition scheint bei Caramel ja tatsächlich zu fruchten. Einige zweite Preise sind darunter, doch noch häufiger gab es den ersten Preis. So etwa auch für das Wifi in Dornbirn, an dem bereits heftigst gearbeitet wird. Was darf man erwarten? - Ein bissfestes Zuckerl mit süßem Geschmack. Doch das beruht alles auf Spekulationen, denn der wahre Grund für die karamellisierte Namensgebung - man lasse es sich auf der Zunge zergehen - will nicht verraten werden.

Der Standard, Sa., 2005.07.30



verknüpfte Akteure
Caramel

23. Juli 2005Wojciech Czaja
Der Standard

Kein großes, weißes Rauschen

Meistens denkt er, manchmal schreibt er, selten baut er: Hermann Czech und der Versuch, das Wiener Messehotel zu verstehen.

Meistens denkt er, manchmal schreibt er, selten baut er: Hermann Czech und der Versuch, das Wiener Messehotel zu verstehen.

Auf ins Büro von Hermann Czech, eine kleine Weltreise im Herzen Wiens. Man hastet durch einige verwinkelte Stiegenhäuser, steht irgendwann einmal keuchend vor einer Metallpforte im obersten Geschoß und dringt ein in einen würdevoll angestaubten Mikrokosmos von Wissen und Walten. Als sarkastisch, distanziert und gelassen beschreibt Friedrich Achleitner seinen praktizierenden Kollegen, und in der Tat zählt er unter den stillen sicherlich zu den lustigsten. Gemächlich gestikulierend, wozu denn auch der ganze Stress? Während sich in Wien die Generation der etwa 70-Jährigen eher im Schuttkegel ihrer nicht enden wollenden Karrieren suhlt, verschwindet Czech ganz subtil hinter der Silhouette seiner Bücherstapel, als wolle er einen seiner alten Aussprüche ganz wörtlich nehmen: „Architektur ist nicht das Leben. Architektur ist Hintergrund. Alles andere ist nicht Architektur.“

Nicht von ungefähr findet man sich hie und da an einem Ort wieder, von dem man gar nicht annimmt, dass je ein bestrebter Architekt, geschweige denn Hermann Czech, seine Hand über der Bauaufgabe hatte ruhen lassen: So unscheinbar und auf den ersten Blick höchst uninteressant ist auch das neueste Produkt aus dem Atelier Czech, selbst dessen Nutzung als Messehotel der Austria-Trend-Kette lockt uns nicht hinter dem Ofen hervor. Noble Zurückhaltung? „Die Tageszeitungen und Lifestyle-Magazine zwingen einen ja förmlich dazu, Wirbel zu machen. Aber wenn alle einen Wirbel machen, sind wir wieder an einem Punkt der Kapitulation angelangt. Das ist dann das große, weiße Rauschen. Die Rolle der Architektur ist missverständlich, wenn die Leute glauben, dass Architektur immer Grimassen schneiden muss.“

Still und leise, schön ist es zwar nicht, Czechs Hotel, und dennoch - mit dem richtigen Architektur-Riecher bleibt man irgendwie hängen. Was soll man von diesem Hotel nur halten? Ein geladenes Gutachterverfahren anno 2002, die Ausnützung des Grundstücks und die städtebauliche Einbettung in den zerfledderten Genius Loci rund um das Messegelände scheinen Czech damals den Sieg eingebracht zu haben. Aus dem Jury-Protokoll: „Das gegenständliche Projekt ermöglicht einen harmonischen Übergang von der Messe in den Prater, der Baukörper überzeugt durch markante Ausformulierung ohne überzogene Geste“. Mit Letzterem ordnet sich das Hotel als Adapter gefügig in die Umgebung ein. Auf der einen Seite taumelt in luftiger Höhe das blinkende Unterhaltungsleben des Praters, auf der anderen Seite - ganz nach dem Motto, wo ein Zipferl, da auch eine Messe - ragt das rot-weiß eingedrehte Zuckerstangerl von Peichls zu kurz geratenem Messeturm in den Himmel.

Hartes Pflaster also, doch auch beim so „markanten“ Messehotel hat das Auge zu kämpfen. Die Perspektive an diesem Eck der Stadt scheint zerquetscht, ehe man merkt, dass das gesamte Gebäude leicht aus der Kurve kippt. Vier Grad sind es, gerade so viel, dass man sich kräftig die Augen reiben muss. „Diese Kurve - im Prater an dem Ort durchaus zulässig - ist eine nette Geste, die irritiert und die dazu beiträgt, dass man die Gesamtsituation unbewusst vielleicht etwas besser im Gedächtnis behält.“ Dass sich dann noch fünf Streifen auf sieben Geschoßen tummeln - 5:7, in der Musik wäre das ein quietschendes Prélude von Schostakowitsch - raubt einem den letzten Nerv. Da versteht man, dass sich schon so mancher Architekturkritiker über die „Ästhetik des Hässlichen“ ausgelassen hat. Der Architekt indes, schmunzelnd, sachlich: „Ja, bei der Gestaltung der Fassade habe ich an Loos gedacht.“

Auch sonst scheint beim Entwerfen in der Kiste der älteren und jüngeren Architekturgeschichte herumgewühlt worden zu sein: Das Sockelgeschoß ist - technisch ganz banal - schwarz-weiß kariert, es ist ein Zitat der Münchner Glyptothek von Leo von Klenze. Immerhin hat diese Musterung beinahe zwei Jahrhunderte auf dem Buckel. Czech meint, es wären nicht „paukenschlagartige Überraschungswirkungen gefordert, sondern eine profunde Eigenart, an die man sich erinnert, wenn man das Gebäude einmal gesehen hat - und wenn man einmal darin war“.

Nun denn: Eine Hotellobby sei halt nur eine Hotellobby, möchte man annehmen. Doch dem ist nicht so. Man hätte es ahnen können: Die wirklich eigenwilligen Zitate beginnen hier an der Schwelle. Das Bauwerk ist weder außen noch innen genau datierbar. Eigentlich könnte es bereits seit zehn Jahren da stehen, wäre da nicht der Duft eines fabrikneuen Automobils in der Luft. Es riecht nach Kunststoff und nach viel, viel Leder. Das kommt von den herumstehenden Fauteuils. Im Hinterkopf klingelt's, es ist der LC2 von Le Corbusier, genauso bequem oder unbequem - das muss der eigene Körper mit der Architekturgeschichte ausstreiten - wie das Vorbild, nur an der Farbe scheitert's ein wenig.

Das Original mag schön sein, doch wenn man das Rohrgestell eines so berühmten Polstermöbels in Pistazieneis-Farbe taucht, kann ganz einfach nichts Gutes dabei herauskommen. Czech wäre nicht Czech, wenn er trotz respektvoller Hommage nicht noch ein klitzekleines Detailchen addiert hätte. Und so warten zwei hölzerne Griffe darauf, vom messeermüdeten Businessmenschen ergriffen zu werden, damit sich dieser leichter erheben kann. Interessant? Praktisch allemal. Man muss ja nicht immer der abgeschleckten Allerwelts-Architekten-Ästhetik den Vortritt lassen.

Ein Feature von Welt gibt es auch in den Zimmern. Soweit es die stringente und erwartungsvolle Klientel eines Messehotels zulässt, hat sich der Architekt auch hier intellektuell ausgetobt. Ein Kasten? Kein Kasten, denn der ist ohnehin nur der überflüssig verschlossene Ort, an dem die Socken einer viel zu kurzen Verweil vergessen werden. Czech stellt das häusliche Konzept des Kleidungsbehälters daher auf den Kopf und bietet eine offene Variante an. Der Schatten des sakkogekleideten Gentleman ergibt eine stille Metapher in der Kontur des Möbels - der Tischler hatte viel Arbeit mit der Produktion, der Gast ist für die Dauer seines Aufenthalts zur aufmerksamen Rezeption herausgefordert.

„Ich will keine Menschen verstören. Das passiert ja sowieso automatisch“, erklärt Hermann Czech. Doch trotz des guten Willens ist der Mensch wieder einmal arm dran. Gänzlich verstört blickt man auf das soeben fertig gestellte Gebäude, das so altbacken dasteht. Man greift sich an den Kopf - die Verwirrung des Intellekts wird ja tatsächlich angezettelt - und man greift sich auch aufs Herz, denn das gebaute Biotop des beinahe Bewährten schafft wohliges Behagen.

Dass hier kein Trendhotel für eine einmalige Rezension im Hochglanz-Architektenporno geschaffen wurde, erweist sich hinter dem Dickicht unserer absehbaren Erwartungshaltungen als ein architektonisches Juwel.

Der Standard, Sa., 2005.07.23



verknüpfte Bauwerke
Hotel Messe Wien

09. Juli 2005Wojciech Czaja
Spectrum

Beton? Stahl? Plastik!

Der „Skylink“ von Schwechat oder der gebaute Beweis, dass auch eine Eintagsfliege Würde haben kann: Wiens Flughafen hat einen neuen Terminal, zumindest für die nächsten drei Jahre.

Der „Skylink“ von Schwechat oder der gebaute Beweis, dass auch eine Eintagsfliege Würde haben kann: Wiens Flughafen hat einen neuen Terminal, zumindest für die nächsten drei Jahre.

Am 4. Juni 1783 stieg erstmals ein Stück Menschenwerk völlig gravitationswidrig in den Himmel empor. Erhitzte Luft ist leichter, dachten sich die Gebrüder Montgolfier und zeigten der Öffentlichkeit, wie sich so ein Ballon an einem Siemens-Lufthaken mitten im Nichts halten kann. Die ersten Fluggäste waren ein Schaf, ein Hahn und eine Ente, den größten Nervenkitzel an der ganzen Sache darf man dabei wahrscheinlich dem Schaf zuschreiben. Bereits am 21. November desselben Jahres waren es zwei Menschen, die als erste Passagiere (im üblichen Sinne des Wortes) den Luftraum erschlossen. Ob sich die beiden Montgolfiers damals wohl schon ausmalen konnten, wie das mit der Luftfahrt so weitergehen würde?

200 Jahre später: Wo früher noch wochenlange Strapazen zwischen A und B auf sich genommen werden mussten, rücken die Destinationen durch Globalisierung, Vernetzung und Verdichtung heute immer näher zusammen. Nicht zuletzt auch dank des Fliegens. Bis in die 70er-Jahre gab die Aviatik viel Stoff für Cinecittà und Hollywood her, als die Captains und ihre Stewardessen noch die hohe Loge einer exzentrischen Lebensweise für sich beanspruchen konnten. Steven Spielbergs „Catch me if you can“ aus dem Jahre 2002 ist eine kleine Reminiszenz an diese Epoche. Rasch hat sich auch das gelegt, mittlerweile hat der moderne Weltenbürger sogar schon für 29 Euro die Qual der Wahl, ob ihn an sein Ziel etwa Niki oder Lauda befördern soll.

Und während die Welt auf diese Weise zu einem Dorf mutiert, werden die Transiträume immer mehr zu eigenen Städten. Faszination Mikrokosmos zwischen Himmel und Erde? Man darf wohl annehmen, dass Flughäfen zu den schnellst wachsenden Agglomerationen der Welt zählen. Kein Land, das nicht an neuen Terminals oder gar an Landgewinnungen für neue, immer internationalere Airports bastelt. So hat auch Wien vor einigen Jahren sein Potenzial erkannt, definiert sich seitdem als Drehscheibe für den Osten Europas. Wien-Schwechat platzt aus allen Nähten, 1998 schreibt die Flughafen Wien AG einen internationalen zweistufigen Wettbewerb für die städtebauliche Konzeption einer Flughafen-Erweiterung aus. Unter 38 geladenen Teilnehmern geht die schweizerisch-vorarlbergische Arbeitsgemeinschaft Itten + Brechbühl/Baum
schlager & Eberle als Gewinner hervor. Aus dem nüchternen Juryprotokoll: „Insgesamt überzeugt diese Arbeit in ihrer der Aufgabe angemessenen großzügigen Haltung, weil sie versucht, im Kern der zukünftigen Flughafenanlage die notwendige Ausstrahlung und den notwendigen Orientierungskomfort umzusetzen.“

Nun denn, Fertigstellung ist für 2008 vorgesehen. Der neue Skylink - so der offizielle Projekttitel für die Erweiterung - befindet sich bereits in reger Planung, in einem eigens errichteten Gebäude auf dem Flughafenareal hat die Arbeitsgemeinschaft Baumschlager & Eberle, Itten + Brechbühl sogar ihre Wiener Büro-Dependance aufgeschlagen. Doch wie sich herausstellte, kommt die Zukunft rascher, als man sie planen kann - aufgrund des hohen Passagierwachstums musste jetzt schon ein neuer Check-in-Bereich geschaffen werden: Ein temporäres Bauwerk für die Dauer von drei Jahren, wie bei der provisorischen Kunsthalle am Karlsplatz von Adolf Krischanitz ist auch in diesem Fall das Bauwerk von einem absehbaren Ende besiegelt. „Bauen für die Ewigkeit“, heißt es in der Regel so schön, wenn es darum geht, die eigene Eitelkeit durch Technik und materielle Langlebigkeit zu untermauern. Doch in der Würze der zeitlichen Kürze verliert sich so manches architektonische Argument bald einmal. Wie baut man also temporär, ohne dem Gebäude den hässlichen Stempel des Provisorischen aufdrücken zu müssen?

Die Herangehensweise an den neuen Terminal 1A zeugt von Größe. Jeder Entscheidung wohnt ein zukünftiger Gedanke inne, hier wickelt man die Planung von hinten nach vorne ab, Recycling und Wiederverwendung werden zu einem unorthodoxen Designer-Tool. Was dabei entsteht, ist zwar eine Kiste, doch diese huldigt eher dem Vorarlbergischen als dem Geiz des Ökonomischen. Schon die Höhe der Halle ist kein Zufall. Denn eines Tages, wenn der Terminal 1A wieder Geschichte geworden ist, werden die steifen Stahlrahmen eine andere Verwendung finden können - sie sind genau so konzipiert, dass ein Norm-LKW mit einer Höhe von 4,40 Metern hindurchfahren kann. Eine Garage, ein Lagerhaus, eine simple Durchfahrt vielleicht? 120 Tonnen Stahl, die in nur zehn Tagen auf die Beine gestellt wurden, werden für ein Leben nach dem Tod dann zur Verfügung stehen.

Baumschlager & Eberle und Itten + Brechbühl, die inzwischen perfekte Meister der mehrschichtigen Fassade geworden sind, haben auch diesmal bei der Fassade ein richtiges Händchen bewiesen. Kein Glas, kein Beton, kein Stahl, schlicht und einfach nur eine Plastikfassade. Die Polycarbonatplatten mit Mehrkammersystem - immerhin eine drastische Verbesserung der bauphysikalischen Werte - überziehen den gesamten Terminal als eine transluzente Haut. Die Leichtigkeit des Materials, eine ganz klare Metapher der Luftfahrt, macht den gar nicht so kleinen Baukörper zu einem differenzierten Abbild nach außen. Tagsüber dringt das Sonnenlicht in den Innenraum, recht sakral eigentlich, nachts hingegen wird sich die künstliche Beleuchtung an der Außenfassade abzeichnen. Ein paar Silhouetten von eincheckenden Passagieren werden Schatten an die halbdurchsichtige Wand werfen, konterkariert von einem Grafikkonzept des Pariser Büros intégral ruedi baur & associés: Auf der Außenhaut klebt eine stilisierte Vegetation in Form von Grashalmen, dazu gesellen sich abhebende Flugzeug-Piktogramme und eine simple Beschriftung zur Festigung der bildhaften Zeichensprache. Simpel und schön, ein flüchtiges Schmunzeln ist es allemal wert.

Der New Yorker Architekturkritiker Kenneth Frampton hat in der Architektur von Baumschalger & Eberle eine „Absage an die Form“ erkannt. Dietmar Steiner, Direktor des Architekturzentrum Wien, spricht sogar von einer „Architektur vom Nullpunkt“. In der Tat, freilich mit Ausstattung und Innenleben auf dem neuesten Stand der Technik zwar, doch mit recht unkonventionellen Materialien ist es gelungen, einen neuartigen Architekturansatz zu vertreten. Mitten im hektischen Treiben des modernen Nomadentums steht der erbaute Beweis, dass auch eine Eintagsfliege (eine Zeitspanne von nur drei Jahren ist in der Architektur ja nichts anderes) Würde ausstrahlen kann. Ein neues Verständnis von Mobilität: Die Reise als Konsumartikel, zumindest bei den Billigfluglinien kann man von keinen finanziellen Strapazen mehr sprechen. „Je edler ein Ding in seiner Vollkommenheit, desto grässlicher in seiner Verwesung“, sagt ein hebräisches Sprichwort. Da es keine Verwesung geben wird, hat der Terminal 1A einen gelungenen Gegenbeweis angetreten.

Spectrum, Sa., 2005.07.09

04. Juni 2005Wojciech Czaja
Spectrum

Mit Ziegel und Lenden

Warum hat Schokolade Rippen, warum ist ein Gummibär durchsichtig? Und warum sieht ein Fischstäbchen nicht aus wie ein Fisch? Food-Design oder: Essen - die kleine Architektur auf Tisch und Teller.

Warum hat Schokolade Rippen, warum ist ein Gummibär durchsichtig? Und warum sieht ein Fischstäbchen nicht aus wie ein Fisch? Food-Design oder: Essen - die kleine Architektur auf Tisch und Teller.

Warum ist der Himmel blau, warum kann ein Flugzeug fliegen, ein Schiff schwimmen, und warum - ja, warum - hat eine Semmel fünf Teile? Mit dieser Frage sind wir schon beim Food-Design angelangt, jener formvollendenden Wissenschaft, die sich der Gestaltung von Lebensmitteln widmet. Ein Haribo-Bär ist transluzent, eine Schokolade hat Rippen, ein Soletto ist lang und bricht. Oder wenn das Motto gilt: Rupp hat's beschte Eck vom Käs. Einem Fischstäbchen darf man dafür den Fisch nicht ansehen, ein Würstl schließlich muss knacken. Food, Design, oder handelt es sich dabei gar um Architektur?

Wer hinter dem anglizistisch fesch dahergekommenen Begriff eine neue Design-Offensive vermutet, der irrt gewaltig. Denn Food-Design widmet sich nicht nur der Form an sich, auch auf dem Gebiet des Essens gilt Louis Sullivans viel zitiertes Allround-Motto „Form follows Function“. Und diese architektonische Erkenntnis geht ja bekanntlich auf das Jahr 1896 zurück, im Geheimen darf man die Genesis dieses Phänomens noch ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende früher vermuten. Essen - die kleine Architektur auf dem Tisch und auf dem Teller, wunderschön und nützlich zugleich? Architekt und Filmemacher Peter Kubelka, im Grunde seines Wesens dann doch kulinarischer Esskultur-Theoretiker, stellt ganz hohe Ansprüche: „Jeder Architekt soll kochen lernen, jeder Architekt muss kochen können.“ Noch eindeutiger lassen sich die beiden Disziplinen des Bauens - einmal mit dem Ziegelstein und einmal mit dem Lendenstück - miteinander nicht verweben.

„Wenn alle Künste untergehn, die edle Kochkunst bleibt bestehn“, sagt der Volksmund, womit die Verwirrung rund um das Essen perfekt wäre: Architektur, Design und jetzt noch die Kunst? In seinem Düsseldorfer Lokal Spoerri hat der gleichnamige Künstler regelmäßig zu Fressgelagen geladen, die ihm mitunter das Grundmaterial für seine sogenannten Fallenbilder lieferten. 1968 bauen Hausrucker & Co ein Architekturmodell aus Brot und Gebäck, 1983 stellt Koch und Food-Stylist (ja, diesen Beruf gibt es) Manfred Buchinger eine Damenfrisur mit applizierten chinesischen Glasnudeln vor, und 1997 darf man im Museum für Angewandte Kunst - zumindest im übertragenen Sinne - Platz nehmen: In der Ausstellung „mäßig und gefräßig“ stellt Jana Sterbak ihre Arbeit „Apollinaire“ aus, ein Fauteuil aus zusammengenähten Rinderkoteletts.

Man kann es also drehen und wenden, wie man will - Essen und wohl auch die Auseinandersetzung damit sind eine grundlegende Voraussetzung fürs Überleben. Sowohl in biologischer als auch in kultureller Hinsicht. Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter, Autoren des jüngst erschienenen Buchs „Food Design - Von der Funktion zum Genuss“, sprechen den ultimativen Verdacht aus: „Essen ist mindestens genauso intim und unerschöpflich wie Sex.“ Die wichtigste Nebensache im Leben braucht sich mit der wichtigsten Hauptsache also nicht mehr zu messen, beide widmen sich der Verschmelzung, der Aufnahme von Dingen in den eigenen Körper. Die Erfindung des Sauerteigs, laut Stummerer und Hablesreiter die zweite große kulinarische Revolution nach der Entdeckung des Feuers, gab schließlich auch Auskunft über die Fruchtbarkeit der Frau: Blieb der Teig trotz der Hefekulturen sitzen, wurde dies als Indiz für die Unfruchtbarkeit der Köchin gedeutet.

Vom historischen Handwerk zurück in die Industriegesellschaft. Alle Mythen sind längst verblasst, an ihre Stelle treten Berechenbarkeit und Marktforschung. Ein Gummibär hat demnach eine bestimmte Größe, damit selbst das Kindergebiss mit ihm so lange ringen kann, bis er sich chancenlos ergibt. Die Schokoglasur der Sachertorte etwa ist dick genug, um dem Wiener Souvenir selbst auf langen Postwegen hohe Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten. Und die Toblerone, ein Produkt von Theodor Tobler, der davon geträumt hatte, ein Symbol für sein Heimatland zu schaffen, muss dank der Kerben nicht gebrochen werden - das sachte Zusammendrücken zweier Matterhorn-Gipfel reicht aus, um den Schokoriegel in mundgerechte Stücke zu zerteilen.

Herstellungsbedingte Machbarkeit, Grundeigenschaften der Zutaten oder schlicht und einfach die Erwartungshaltung des Konsumenten bestimmen die Eigenschaften des jeweiligen Produkts. Viele Entscheidungen am Kühlregal spielen sich unterbewusst ab und werden aus dem sprichwörtlichen Bauch heraus getroffen. Vor allem Kinder sind in ihrer konsumfreudigen Offenheit dem krachenden und knirschenden Fun-Food gegenüber leicht zu ködern, hat man erst einmal die elementaren Parameter in Bezug auf Gestalt, Größe, Farbe, Konsistenz und nicht zuletzt Sound erforscht und in die Produktentwicklung einfließen lassen.

So testet die Firma Nestlé anhand eigens entwickelter „Krustimeter“ die akustischen Eindrücke während des Bruch- und Essvorgangs. Ottakringer wiederum hat vor kurzem erst eine neue Produktverpackung am Markt lanciert: Statt des vertrauten „Zisch“ beim Öffnen des Flaschenkorkens soll eine spezielle Plastikapplikation an der Unterseite der Bierkappe nun „Plopp“ machen. Plopp, so der Vorstand von Ottakring, stehe nämlich für noch mehr Frische. Ich muss gestehen, trotz Plopp-Korkens ist es bei zwei von zwei Versuchen beim bewährten Zisch geblieben. Womöglich war der Flaschenöffner ganz einfach nicht foodfreundlich genug designed.

So viel ist nach einem Spaziergang durch den Supermarkt klar: Die Globalisierung hat vor Food-Design gewiss nicht Halt gemacht. Produkte können neuerdings in Symbiose treten, denn vom Toastblock und seinem Schmelzkäse bis hin zur Kaisersemmel und ihrer Extrawurst wurden sämtliche Nahrungsmittel dieser Welt anhand von Normen und empirisch generierten Definitionen aufeinander abgestimmt. Der hungrige und nach Experimenten dürstende Kunde macht es einem dabei aber nicht leicht. Denn die Avantgarde macht der Nahrungsmittel-Industrie immer wieder einen Strich durch die Rechnung - und spornt sie im Gegenzug zu immer neuen Geschmackskombinationen an.

So rasch, wie sich die Stile in der Architektur ändern und die Modekollektionen in und gleich wieder out sind, geht es auch in der kulinarischen Branche zu. Immer rascher und immer unvorhersehbarer verhalten sich Angebot und Nachfrage zueinander, die Kreativität der Konkurrenz schläft freilich auch nicht. „Avantgarde gibt es immer“, konstatiert Peter Kubelka, „doch wenn sie Galerien, Gourmetlokale, Kunstzeitschriften und Restaurantführer erreicht hat, ist sie meist schon gegessen.“ Aus einer Not stets eine Tugend, Unverwechselbarkeit ist das Nonplusultra. Und so wird so mancher Produzent durch ein herausstechendes Produkt- und Marketingkonzept zum Trendsetter. Es ist wie in der Architektur. Sagen Sie also niemals Leberkäse zu ihm. Das verleiht Flügel.

Das Buch „Food Design“ von Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter (Springer Verlag) wird am 7. Juni, 18 Uhr, im Ferstl-Trakt der Universität für angewandte Kunst, Wien I, Oskar-Kokoschka-Platz 2, präsentiert.

Spectrum, Sa., 2005.06.04

03. Mai 2005Wojciech Czaja
Die Presse

Die Lust auf Scheußlichkeiten Architektur

Ein Spaziergang durch Architektopolis würde uns wohl die Sprache verschlagen: Gerade Fluchten, authentische Materialien, feine Schattenfugen an den Oberflächen,...

Ein Spaziergang durch Architektopolis würde uns wohl die Sprache verschlagen: Gerade Fluchten, authentische Materialien, feine Schattenfugen an den Oberflächen,...

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Die Presse“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

16. April 2005Wojciech Czaja
Spectrum

Es zuckt, es blitzt, es blinkt

Eine Site, ein Flash, ein Absturz? Die Architektur hat längst den großen Auftritt im World Wide Web entdeckt. Oft fragt sich, für wen und wozu. Ein virtueller Rundgang.

Eine Site, ein Flash, ein Absturz? Die Architektur hat längst den großen Auftritt im World Wide Web entdeckt. Oft fragt sich, für wen und wozu. Ein virtueller Rundgang.

Ein Klammeraffe ist kein Tier, nein. Erinnern Sie sich, als vor wenigen Jahren noch alles so neu war? Ob nun googlen, downloaden oder anschließend copy-pasten, die Generation @ ist jedenfalls mit viel neuem Vokabular aufgewachsen. Mancherorts, abseits von Großstädten ist die Faszination an den vielen C@fés und Meg@stores im Dorfbild noch nicht abgeklungen. Selbst die Kinobranche - eigentlich sollte man meinen, sie sei am Puls der Zeit - macht auf ganz cool, wenn sie sich peinlicherweise an die Youngsters von heute wendet und bonmotet: „ICU @ UCI“. Aber was soll's, das Internet ist eine gute Sache. World-wide ein Web voll von Freude, Wissen und Information. Und wahrscheinlich ist die virtuelle Welt bereits der größte Mistplatz der kapitalistischen Industriegesellschaft. In Zeiten, da sich jeder VIP - längst auch schon jeder vermeintliche IP, man selbst als Architekturpublizist ist ja keinen Deut besser - mit einer ganz eigenen Site rühmen muss, wird es allmählich schwer, im Schlechten das Gute herauszuklauben.

Sie haben es also nicht leicht, die Architekten. In Kooperation mit Grafikern und Webdesignern - mitunter auch im Alleingang - müssen sie beweisen, dass sie nicht nur imstande sind, dreidimensionale Räume zu entwerfen, sondern dass sie auch Herren des Virtuellen sind. Eine Startseite, ein Flash, eine Animation, ein Computerabsturz. Manchmal ist man softwaremäßig gar nicht gerüstet für den einen oder anderen Internetauftritt. Eigentlich wollte man nur die Telefonnummer herausfinden, und schon braucht man die brandaktuellste Variante von irgendwelchen, noch nie gehörten Programmen. Im Jahre 2005, das wird jedenfalls bald klar, hat das Internet seine Funktion als selbstverständliche Informations- und Kommunikationsplattform noch nicht erreicht. Verbissen wird das Medium nach wie vor dazu missbraucht, die eigene Auffassung eines Kunstwerks darin zu postulieren. Es blitzt und blinkt, jedem „Bobo“ seine eigene Lounge-Musik dazu, bei so manchem Intro wird man alt.

Architektur-Homepages, ein weites Thema! Breit gestreut, und konsequenterweise müsste man bei jenen beginnen, die keine haben. Glauben Sie mir, als Schreiberling könnte man an der anti-technischen Sturheit einiger Architekten verzweifeln, wenn man sich dazu genötigt fühlt, eine Bibliothek oder Buchhandlung aufzusuchen, ein einziges Was-glauben-die-eigentlich-wer-sie-sind! Anziehen, reinfahren in die Stadt, recherchieren wieder mal auf die alte Tour. Da ist es doch wirklich eine Freude, dass es auch Architekten gibt, die schon längst im Netz herumstreunen und einem dabei die Arbeit der peniblen Suche abnehmen.

„So wie in der Architektur der Affekt sich auf den Verstand und nicht die Struktur stützt, so tut es auch das Auge“, schreibt Peter Eisenman in seinem Essay „Der Affekt des Autors“ anno 1991, „es ist letztendlich die Idee des Blicks, die den Moment der Leidenschaft für die Architektur bestimmt.“ Weit mehr als ein Jahrzehnt später stellt sich Eisenmans Postulat auch in der virtuellen Architektur als richtig heraus. Ein kurzes Enter nach dem Eintippen der Homepage-Adresse, und auf den ersten Blick bereits macht sich Sympathie breit. Oder aber auch ein nach vorn gereckter Kopf, ein weit geöffnetes Augenpaar, ein Achselzucken.

Absolut beeindruckend die Site von Innocad, sie zuckt und blinkt, allein, man weiß nicht so recht, ob man sich nicht auf die Homepage des neuesten Psychothrillers aus der Traumfabrik Hollywood verirrt hat. Man wird durch Projekte und Ideen geguided - und hat einem etwas ganz besonders gefallen, findet man so leicht nicht wieder dahin zurück. Welcher Sache also wird hier Priorität zugestanden? Ist es die Information oder einzig und allein das visuelle und kognitive Erlebnis des Surfens?

Bleiben wir im Wasser. Aquaphobie ist nichts für Leute, die das Webportal von urbanFish besuchen. Der Cursor wird zum Angelhaken, konzeptionell richtig angebracht, denn die dahinschwimmenden Menübegriffe wollen auch erst einmal gefangen werden. Ab und an ein Hintergrundfischerl im bunten Tropenlook - hier ist eine süße Idee aufgegriffen worden, die trotz der vielen Bubbles (mit Synthesizer-Untermalung wohlgemerkt) so rasch nicht öde wird. Richtig Spaß haben kann man auch bei Rataplan. Die fünf Architekten präsentieren sich mit einem Sujet, mit dem sie - im Wechselspiel von Architektur und wirtschaftsorientierter Akquisition - den Nagel auf den Kopf treffen. Spiele wie „Das Kaufmännische Talent“ (DKT) beziehungsweise „Monopoly“ haben hier Pate gestanden, als Besucher kann man die unterschiedlichen Straßennamen abgrasen und sehen, was sich dahinter verbirgt. Wo kaufe ich ein, wo will ich hin? Rataplan ist ehrlich genug, Ihrem Job jenen wirtschaftlichen Ehrgeiz und jenes aufbauschende Ankaufdelirium zuzugestehen, dem auch die jungen Broker am Spielbrett ständig anheimfallen.

In einem etwas anderen Delirium spukt die einsame Startseite von Neumann und Partner durchs Netz. „Wenn Sie über Architektur sprechen wollen, rufen Sie mich an.“ Und dann ein dreieinhalbminütiges Video zum Downloaden, in dem Neumann höchstpersönlich über Architektur spricht. Man braucht ihn de facto also gar nicht mehr anzurufen, recht praktisch eigentlich. Vorm lodernden Kamin, mit einem Glaserl Wein in der Hand: „Wir müssen mit unserer gebauten Umwelt sehr vorsichtig und sorgfältig umgehen, denn wir, unsere Gesellschaft, unsere heutige Zeit, werden irgendwann einmal nach unseren Bauwerken beurteilt werden.“ Schenkt man den unzähligen Prognosen Glauben, so wird das Virtuelle immer bedeutender und alltäglicher. Treffen die Bedenken des Architekten also nicht auch auf die gebaute Umwelt im Internet zu?

Immer wieder die gleiche schwarzweiße Landschaft im binär verschlüsselten Netz. Vom minimalistisch weißen Nichts mit kleinen bunten Icons zum Anklicken bis hin zum pompösen Trauermarsch im erdrückenden Schwarz reicht die Palette. Und Leute: Hört auf mit dem Schwarz! Die Vorurteile bezüglich gleichfarbigem Rollkragenpulli haben sich in letzter Zeit medial wieder reduziert, stattdessen braucht man nun ein antistatisches Staubtuch am Arbeitsplatz, um hellgraue Fusel von hellgrauen Buchstaben unterscheiden zu können. Nicht selten sind Lupe und Beruhigungsmittel vonnöten, um die Informationsquelle von so manchem Büro auch wirklich anzapfen zu können. Will man auf diese Art und Weise denn wirklich Kunden ansprechen? Oder ist der Aspekt der Dienstleistung in der Architektur ohnehin schon so sehr in den Hintergrund gerutscht, dass sich diese Frage in den 00er-Jahren längst nicht mehr stellt? Fast scheint es, als seien die vielen Homepages nur noch Mittel zum Zweck, mit dem die Idee einer vereinten Architekturszene ins neue Jahrtausend getragen wurde. Der Computer wird heruntergefahren, was bleibt, ist das Bild einer fest eingeschweißten Architektengemeinde. Der User ist willkommen zum Staunen angesichts einer so fremden Sprache, die manchmal nur ein einziges Architekturbüro spricht. Und sonst niemand.

Spectrum, Sa., 2005.04.16

22. März 2005Wojciech Czaja
Die Presse

Es musste eine neue Form geben

Grobes Ziegelmauerwerk, unverputzt. Man tritt auf unbehandelte Spanplatten, manche davon sind blau. So will es der Zufall. Auch bei den Tischen: Rohspanplatten...

Grobes Ziegelmauerwerk, unverputzt. Man tritt auf unbehandelte Spanplatten, manche davon sind blau. So will es der Zufall. Auch bei den Tischen: Rohspanplatten...

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Die Presse“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

12. März 2005Wojciech Czaja
Spectrum

Fassade mit Layout

Bauen ist nicht immer ein Spaziergang im Garten Eden, manchmal eher eine Höllentour voller Kompromisse: der neue Mischek-Tower von Delugan Meissl auf dem Wienerberg.

Bauen ist nicht immer ein Spaziergang im Garten Eden, manchmal eher eine Höllentour voller Kompromisse: der neue Mischek-Tower von Delugan Meissl auf dem Wienerberg.

Immer wenn ich am Wienerberg vorbeifahre, muss ich an diesen Film mit dem feschen Hugh Grant denken. „Der Engländer, der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam“ handelt von einem kleinen Dorf in Wales, das eines Tages Bekanntschaft mit einem Kartografen aus London macht. Angereist aus der Ferne kam er, um den Dorfbewohnern mitzuteilen, dass dem Hausberg der Bergtitel aberkannt werden müsse. Einst der „first mountain inside of Wales“, nun durch natürlich bedingte Schrumpfung zu einem Hügel degradiert, beschließt das schrullige Dorf unisono, die fehlenden Meter ganz einfach aufzuschütten.

Sie suchen den Zusammenhang zwischen Wales und Wienerberg? Es erweckt den Anschein, als wäre Letzterer durch zu regen Lehmabbau der nahe gelegenen gleichnamigen Ziegelfabrik im Laufe der Jahrzehnte ebenfalls zu einem Hügel geschrumpft. Nun reicht es nicht, dass Massimiliano Fuksas ein weithin sichtbares - und nebenbei beeindruckendes - Landmark an der Einfahrt nach Wien hinstellt. Nein, da muss der einstige Wienerberg - im Namen der Stadt - gleich mit einer Menge an Hochhäusern zu dem zurückgezwungen werden, was er früher mal war. Wenn nicht topografisch, dann eben architektonisch.

Anders erklärt sich die städtebauliche Dichte an diesem infrastrukturell katastrophal erschlossenen Unort nicht. Im flächengewidmeten Zickzack geben sich österreichische Architekturbüros ein Stelldichein, ganz nebenbei kann man beobachten, wie Coop Himmelb(l)au den Dekonstruktivismus im konkreten Fall so lange variiert hat, bis das gebaute Ergebnis plötzlich postmoderne Zitate verschluckt zu haben scheint. Aber das macht nichts, Wienerberg City klingt gut, und die wienweit verstreuten grünen Hinweisschilder tun ihr Bestes, um das neue Grätzel auf der leichten Wiener Anhöhe lautstark zu proklamieren.

Ja, der Fuksas hat die Latte da oben hoch gelegt, die formale Unterordnung ist des Architekten Sache aber nicht. Und so erfindet ein jeder Hochhaus-Bauer neue Farben und Materialien, trägt zu einem Kampf mit ungleichen Gegnern eher bei als zu einer urbanen Symbiose.

Doch siehe da, eine stille Ausnahme auf kryptisch benannter Parzelle: C. Delugan Meissl ist im Begriff, das schwarze Mischek-Wohnhochhaus fertig zu stellen. Die Fassade ist bereits vollbracht, der Innenausbau von der Schlüsselübergabe nicht mehr weit entfernt. Ein 99 Meter hoher Monolith auf einer knappen Grundfläche von nur 16 mal 40 Metern. Nach Norden und Osten gibt sich der archaische Bau hermetisch introvertiert, der grüne Südwesten von Wien jedoch wird mit aufgelösten Fassaden und einer zwischengeschalteten Loggien-Schicht gewürdigt. „Wohnen mit Ausblick“ so der fernsüchtige Slogan, ohnehin eine Seltenheit in Wien. Bis zum 24. Stock reine Mietangelegenheit, die letzten zwölf Stockwerke bis zum 36. Abschlussgeschoß gibt es dann zu kaufen.

Als Projektfan der ersten (oder zweiten) Stunde ist man freilich ein wenig erstaunt über die teils deftigen Abstriche, mit denen der Wohnbau in den letzten Jahren fertig werden musste - konzeptionell geschwächt, im Bautechnischen den üblichen Standards wieder angepasst, visuell aber nach wie vor im strengen deluganschen Korsett. Wie Elke Delugan-Meissl und Roman Delugan in der letztsamstäglichen „Diagonal“-Sendung auf Ö1 bereits klargestellt haben, dass beim ersten Mischek-Tower auf der Donauplatte schließlich nur die Fassadengestaltung auf Delugan Meissl zurückzuführen ist, so darf beim Mischek-Tower am Wienerberg Ähnliches vermutet werden. Architektursprache an der Fassade, truely made by the architects, Grundrissplanung und Ausbaustandard tragen hier seit der Detailplanung und Kostenkontrolle eine andere Handschrift. Doch der soziale Wohnbau setzt - verständlicherweise - eben andere Prioritäten. Und so soll es nicht darum gehen, über die Bauträgerschaft zu klagen, als vielmehr, die vorhandene Architektur ins Visier zu nehmen.

240 Wohnungen - die Menge wird von der einheitlichen Fassadengestaltung beruhigend kaschiert. „Gerade im sozialen Wohnbau, wo sich jede Wohnung an der Fassade abzeichnet“, so die Architekten, „muss man sich einer zusammenfassenden Struktur bedienen, um dieses heterogene Bild vieler Wohneinheiten in einer einzelnen Einheit zu beruhigen.“ Die Loggien-Fassaden sind an der äußersten Schicht vollständig verglast, nur vereinzelte Aussparungen fangen Bilder aus der Landschaft und rahmen sie ein. Im Siebdruckverfahren - ein Steckenpferd von Delugan Meissl - sind die Glastafeln in eine Matrix aus vertikalen weißen Streifen eingehüllt. In den unteren Geschoßen dichter, oben, wo die Konkurrenz der neugierigen Einblicke schon deutlich abgenommen hat, hat der Raster mehr Durchlässigkeit zugelassen.

Außergewöhnlicher schließlich die breite Fassade Richtung Stadt. Die homogene Haut aus schwarz durchgefärbtem Eternit ist durch vereinzelte französische Fenster perforiert. Damit nicht der Eindruck von Glaslisenen entsteht, die die Fassade vertikal aufschlitzen, wurden die Maueröffnungen, dem Zufallsprinzip folgend, versetzt angeordnet. Solange sich die grafische Maßnahme nicht negativ auf den Innenraum auswirkt, sondern im besten Falle positiv (im schlechtesten indifferent), ist ein Layout-Denken legitim: „Grafik spielt selbstverständlich eine essentielle Rolle“, so Projektleiter Christopher Schweiger, „es wäre total falsch, nicht grafisch zu arbeiten, solange diese Arbeitsweise nicht ausschließlich ist.“ Nun fragt man sich, welche Funktion die weiß auskragenden Schilde haben, die so vereinzelt - noch lapidarer als die Fenster - über die große Fassadenfläche verstreut sind. Sonnenschutz etwa, rein grafische Spielerei oder gar brüstungslose Balkone für den Freitod aus der Höhe? In einem früheren Projektstadium haben die Schilde noch den Brandüberschlag verhindert. Baupolizeilich vorgeschrieben, architektonisch mit poetischer Leichtigkeit eingelöst. Mittlerweile hat Mischek den Brandschutz anderweitig - billiger - in den Griff bekommen, die heutigen Stahlelemente sind ein leises Zitat dessen, wie schön selbst behördliche und technische Parameter eine Fassade einst determinieren konnten.

Ist da etwa Sentimentalität zum obersten Prinzip erkoren worden? Eine architektonische Irrfahrt vielleicht? Entgegen vielen Wienerberger Nachbarprojekten, denen man getrost Manierismus nachsagen darf, war die Entscheidung zugunsten eines am Ende unnötigen Luxus in diesem Fall der letzte Rettungsanker, um eine ursprünglich gewagte Poesie des Projekts in die Realisierung hinüberzuretten. Bauen ist eben nicht immer ein Spaziergang im Garten Eden, sondern manchmal eine Höllentour voller Kompromisse zwischen Bauherrn und Architekten. Hart, aber herzlich: Der Mensch ist im Grunde seiner Natur mitunter ein oberflächliches Wesen, und für den Betrachter bleibt es letztlich gleich, ob logisch oder nicht, ob authentisch oder künstlich. Das kleine Dorf in Wales hat seinen Berg wieder, und bald einmal wird niemand mehr darüber sprechen, wann und wo und wie viele Meter. Und wer ist eigentlich Hugh Grant?

Spectrum, Sa., 2005.03.12



verknüpfte Bauwerke
Mischek Tower

24. Dezember 2004Wojciech Czaja
Spectrum

Was war, war was?

2004: das Jahr, in dem das Bild die Architektur erschlug? Der Auftakt zum Abschied von der Star-Architekten-Architektur? Erste Hoffnung auf eine bessere Wettbewerbskultur? Architekten ziehen Bilanz. Eine Umfrage von Wojciech Czaja

2004: das Jahr, in dem das Bild die Architektur erschlug? Der Auftakt zum Abschied von der Star-Architekten-Architektur? Erste Hoffnung auf eine bessere Wettbewerbskultur? Architekten ziehen Bilanz. Eine Umfrage von Wojciech Czaja

Hermann Czech
AUS DEM GEISTE DES TRASH
Jetzt haben wir sie endlich: die Qualität. Bilder schwirren umher, auf denen man alles sieht; nur nicht, was gemacht wird. Das Bild, nicht der Gedanke, trägt die mediale Vermittlung der Architektur. Österreich bei der Architektur-Biennale 2004: Eine Redaktionskonferenz von „News“ hätte dieselbe Auswahl getroffen. Das Architekturzentrum Wien zeigte etwas von den Anfängen: The Austrian Phenomenon (Wien und Graz 1958-1973). Nicht das Buch - wie Victor Hugo voraussagte -, das Bild erschlug die Architektur. Aber wer eine Entwicklung aufhalten will, befindet sich immer auf der falschen Seite. Die Ausstellung „Reserve der Form“ im Wiener Künstlerhaus zeigte alles, was link ist, und fand die Richtung. In den Ebenen der Wahrnehmung, im Wechsel der Bedeutungen bewegt sich der architektonische Gedanke. Der Ausblick? Was vor uns liegt: die Instandsetzung der Architektur aus dem Geiste des Trash.

Walter Stelzhammer
HOFFNUNG: WETTBEWERBSKULTUR! Tausendfach europareife Gesichter, viele davon mit einem Durchschnittsalter unter 25 Jahren, in einer der Fußgängerzonen der Metropole Istanbul. Eine unglaublich pulsierende Stadt voller junger Menschen. Und im fernen Europa? Dank Schüssel und Gusenbauer ist es in der Türkei derzeit angebracht, seine österreichische Herkunft zu verschweigen.

Ach ja, beinahe hätte ich jetzt die Architektur vergessen. Wo sich durch räumliche Distanz der Nebel der Jahresereignisse lichtet, gewinnt man im Rückblick etwas Überblick. Kein schlechtes Jahr war das vergangene. Einige Niederlagen wie in den Jahren davor, aber auch kleinere und größere Erfolge, die Zuversicht aufkommen lassen. Und dann gab es da ja noch diese dubiose Auslobung des Wiener Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds für ein Terrassenhaus auf den Tarbuk-Gründen. 30 der 35 Auserwählten haben endlich einmal erkannt, worum es geht. Und siehe da, Solidarität aus der Not heraus kann bisweilen doch Linderung bewirken, die Ausschreibungsgrundlagen wurden abgeändert - ein Hoffnungsschimmer für bessere Wettbewerbskultur im kommenden Jahr!

Margarethe Cufer
DONNERSTALKS BEI DER BAUPOLIZEI
2004 war geprägt von heller Freude über den Sieg von Henke[*]Schreieck beim Wettbewerb für eine Veranstaltungshalle in meiner Heimatstadt Kitzbühel, mit der Hoffnung, dass die Stadtpolitik klug genug sein wird, das Ergebnis auch umzusetzen - 2004 war ein wenig Bedauern darüber, dass das Hilton trotz Genehmigung ohne „Holleindachlandschaft“ verwirklicht wurde, aber große Begeisterung für Joe Zawinul, der mir mit dem „Birdland“ wieder eine Heimat gab - 2004 war amüsant durch meine „Donnerstalks“ ([*] Alfred Dorfer) bei der Baupolizei, wo eine neue Generation von Baupolizisten die Bauordnung auslegt wie Zeugen Jehovas die Bibel, was glücklicherweise ausgeglichen wurde durch überraschend bezaubernde Bauherren - . . . und übrigens: Ich mag den neuen Schwarzenbergplatz!

Friedrich Kurrent
DER BAUER SCHLÄGT DEN KÖNIG
Am 1. Mai dieses Jahres konnten wir in Sommerein das Schatzhaus für die Werke von Maria Biljan-Bilger eröffnen. Ich versuchte mit diesem Bau, den Allerwelts-Glaskästen das Konzept „Rohbau“ entgegenzustellen. Ein Lichtblick und vielleicht eine Wende scheint mir der Erweiterungsbau des Museum of Modern Art in New York zu sein - weg von der weltweit gepushten Star-Architekten-Architektur.

Die drohenden Türme von Wien Mitte sind gefallen. In Köln und München grassiert dieselbe Turm-Manie. Und auch New York macht aus Ground Zero keinen Park. Dies beweist, dass es keine Stadtplanung mehr gibt. Die Investoren bestimmen die Stadtplanung. Zum Ende des Jahres noch eine letzte Meldung: Das alte Salzburger Festspielhaus von Clemens Holzmeister ist bereits vollständig abgerissen - der Bauer schlägt den König.

Siegfried Loos, IG Architektur
BEDROHTE ART: BERUF ARCHITEKT
Die ig architektur hat sich 2004 mit den gesetzlichen Grundlagen für die Berufsausübung auseinander gesetzt und vier Kritikpunkte eingebracht. Denn die dem Ministerium zur Begutachtung vorliegende Novellierung des Ziviltechnikergesetzes schafft weitere Verschlechterungen! Kommt das Gesetz in dieser Form zum Tragen, wird 2004 als das Katastrophenjahr in die österreichische Architekturgeschichte eingehen. Die junge Generation und alle nachfolgenden werden es sich nicht mehr leisten können, den Beruf in Österreich überhaupt noch legal auszuüben. Die unsere Aktionen begleitende breite Öffentlichkeit hat uns darin bestärkt: Noch viel weiter reichende Reformen sind unausweichlich. Erst wenn die Basis für eine zeitgemäße gesetzliche Grundlage für die Berufsausübung geschaffen ist, wird man über die Architektur selbst reden können.

Rüdiger Lainer
UNIFORMITÄT AUF HOHEM NIVEAU
Der mediale Stellenwert der Architektur wächst kontinuierlich. Das Besondere, das Einzigartige besetzt die Oberflächen publizistischer Aktion, gleichzeitig wird es immer langweiliger, Architekturzeitschriften zu betrachten. Dazu liefert die Architektur einige Phänomene: Die Gleichförmigkeit des Außergewöhnlichen von verknüpften Schleifen oder Faltungen, die bei Claude Parent noch Entdeckungen waren, bestimmen heute die Bilder. Währenddessen geht die subtile Mutation des Alltäglichen verloren, nur wenige beeinflusst das unspektakuläre Vorangehen eines Hermann Czech. Angesagt ist eine Uniformität auf hohem Niveau, präzise flach gesetzte Details, eine Ästhetisierung ohne Widersprüche. Und dennoch: Die mediale Präsenz stärkt das Bewusstsein für Architektur als das Leben bestimmende gesellschaftliche Kraft. Das motiviert.

Delugan[*]Meissl
ALLE ELF TAGE EIN NEUES PROJEKT
2004 - war schön. Weil wir 33 Versuche unternehmen konnten, großartige Architektur zu realisieren. Also alle elf Tage ein neues Projekt, eine neue Studie, ein neuer Wettbewerb. Es gab zwei Fertigstellungen, drei Baustellen und immer noch spannende Optionen. All dies geschah mit Offenheit, Gelassenheit und Leidenschaft. Wir hatten die Freiheit, in alle Richtungen zu denken: Möbel, Apartments, Einfamilienhäuser, Wohnbauten, Museen, Schulen, Industriehallen, Hochhäuser, Städtebau und wieder zurück. Das hieß, offen zu sein für Verschiedenes und sich auf das Einzelne zu konzentrieren. Es gab Architektur auf dem Dach, auf dem Berg, im Hang, auf der Wiese, im Wald, in der Stadt und auf dem Land, in Österreich, Europa und in China. Es war schön, weil wir entwerfen, bauen, lernen, lehren, diskutieren konnten. Wir haben mit guten Leuten zusammengearbeitet, eine gemeinsame Sprache gesprochen und viele Ideen zum Leben erweckt.

Spectrum, Fr., 2004.12.24

15. Dezember 2004Wojciech Czaja
Die Presse

Grassierende Eisenmanamnesie

Das MAK stellt den Architekten und Theoretiker Peter Eisenman mit einer irritierenden Ausstellungs-Installation vor: „Barfuß auf weiß glühenden Mauern“.

Das MAK stellt den Architekten und Theoretiker Peter Eisenman mit einer irritierenden Ausstellungs-Installation vor: „Barfuß auf weiß glühenden Mauern“.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Die Presse“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

11. Dezember 2004Wojciech Czaja
Spectrum

„Lego-Haus“: Lauter kleine Bonbons

Schon einmal eine Kreuzung aus zweistöckigem Haus und VW-Käfer gesehen? Oder ein „Lego-Haus“ für zwei Personen? Von Spieltrieb, zuckersüßen Architekturbüros und dem Hang zum Kleinen.

Schon einmal eine Kreuzung aus zweistöckigem Haus und VW-Käfer gesehen? Oder ein „Lego-Haus“ für zwei Personen? Von Spieltrieb, zuckersüßen Architekturbüros und dem Hang zum Kleinen.

Zeige mir, wie du baust, und ich sage dir, wer du bist", sagte Christian Morgenstern einst. Keine Frage, Architektur ist stilprägend, Architektur ist imagebildend. Doch Morgenstern hat ungewollterweise nicht nur für die Architektur gedichtet, auch die Automobilindustrie hat sich ein Scheibchen vom Poem abgeschnitten und brutal adaptiert. Frei nach dem Motto „Zeige mir, was du fährst“ und so weiter werden ständig neue Kundenkreise angesprochen, ja sie werden sogar neu definiert. Jedem Typ schließlich sein Auto, die Kampagnen sind offensiv, direkt und vereinnahmend.

Ganz neu am Markt ist der kleine flinke Renault Modus, lustig türkis wie auf den Werbefotos grunzt der gestauchte und dennoch wohl proportionierte Frechdachs durch die Stadt und hat sich sogar schon einmal aufs Tageszeitungs-Cover verfahren. Anbei ein paar bunte Kleckse, in einem gelbroten Farbtupfer nun der lang ersehnte Modus-Slogan: „Grow up - what for?“ Ja, wofür auch? Statt eckig, schwarz, korrekt doch lieber „geradeaus zum Kind in Ihnen“, lautet der unüberhörbare Appell des Créateur d'Automobiles. Nun ist es endgültig: Der freche Modus stiehlt uns Erwachsenen damit nicht nur die Show, sondern auch noch die letzte Würde. Ernst sein kann man später immer noch, warum also nicht zurückfallen ins Alter von Spiel, Spaß und Schabernack? Unter dem Deckmantel der Leichtigkeit und des Humors ist es Renault gelungen, ganz präzise den Puls der Zeit zu treffen.

Doch zurück zur Baukunst. Auch die heimische Architekturszene ist schon seit Jahren dem Spieltrieb verfallen. Zumindest jene Architekten darunter, die noch jugendliche Frische in sich tragen und nicht etwa damit beschäftigt sind, sich selbst noch im hohen Alter und auf Kosten der nächsten Generation jeden Großauftrag unter den Nagel zu reißen. Aber ganz im Ernst, es ist erfreulich, wie fröhlich Häuser sein können. Selbst in der vielleicht etwas klassisch veranlagten salzburgischen Suburbia erlebte ich unlängst eine Begegnung der schlimmsten Art, eine genetische Kreuzung zwischen einem VW-Käfer und einer zweistöckigen Behausung. Irgendwie daneben, doch die Glupschaugen, die Rückscheinwerfer und - sic! - vor allem die vier „Räder“ (bitte sich dieses architektonische Attribut unbedingt unter Anführungsstrichen vorstellen!) haben ganz eindeutig auf jenen fahrbaren Untersatz hingewiesen. Man kann von Glück reden, dass das Plagiat höchstwahrscheinlich nicht die Stückzahl des formalen Vorbilds erreichen wird. Ich denke, selbst wenn der Name des Architekten eruierbar gewesen wäre, man hätte die Größe, an dieser Stelle gesenkten Hauptes einen Augenblick stillschweigend innezuhalten.

Doch es ist alles nicht so aussichtslos, wie es scheinen mag. Denn - entgegen einer anfänglichen Vermutung - ist Verspieltheit nicht in jedem Falle mit Verzichtbarkeit gleichzusetzen. Ganz im Gegenteil, viele Architekten beherrschen die Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit und Spaß. Man muss ja nicht gleich ein Automobil kopieren, um originell zu sein. Viel interessanter erscheint dagegen die vielfach subtilere Auseinandersetzung zwischen Spielzeug und Architektur. Denn nicht im blinden Übernehmen, sondern erst in einer nuancierten Neuinterpretation eines Vorgefundenen kann sich Architektur allmählich wieder an (Bau-)Kunst herantasten.

So ein Haus - aus der Feder des Wiener Architekturbüros Caramel - steht in Linz. Es ist ein Haus für zwei Personen und trägt den winzigen Projektnamen „xxs“. Während also die Niederländer, allen voran Koryphäe Rem Koolhaas, MVRDV und das UN-Studio immer mehr Richtung XXL tendieren, bleibt die heimische Architektenschaft dem Kleinen verhaftet.

Diese Vorliebe ist definitiv keine Frage der Qualität, im wahrsten Sinne des Wortes ist sie eine Frage der räumlichen Quantität. Die unbeschwerte Leichtigkeit des kompakten Zwei-Personen-Hauses erinnert ein wenig an Spielzeug, diese Assoziation kann der gewählte Projektname letztlich auch nicht entkräften. Die Statik scheint unbekümmert zu schweben, als hätte jemand - unbeeindruckt vom Unterschied zwischen Dekagramm und Tonnen - zuvor ein Modell aus Lego-Steinen gebaut. So wie die dänischen Bausteine aus Thermoplasten hergestellt sind, besteht auch das Haus in Linz aus Kunststoff. In diesem Fall eine Leichtkonstruktion aus Holz, um die abschließend eine glasfaserverstärkte Lastwagenplane gespannt wird. Ein eingepacktes Caramel-Zuckerl sozusagen.

Ein Haus xxs oder ein Duplo-Stein XXL, es ist alles nur eine Auslegungssache. Immerhin ein gutes Spiel für Architekten, nichts anderes bedeutet der Produktname Lego, eine phonetische Kombination aus den jeweils ersten Buchstaben des dänischen „leg godt“, auf Deutsch „spiel gut“. Der Konzern regt auf seiner Homepage außerdem an: „Neugierige, fantasievolle und aktive Menschen haben die besten Voraussetzungen, sich in einer ständig verändernden Welt besser zu orientieren und dadurch zu Architekten unserer Zukunft zu werden.“ Es hängt in der Luft, ob der Beruf des Architekten hier nur Metapher oder schon Exempel ist.

Da stehen wir also und blicken in die Architekturlandschaft hinaus. Die Projekte sind erfrischend, sie sind hochwertig, und jedes einzelne von ihnen stellt eine großartige Alternative zum Bewährten, Altbacken-Bekannten dar. Oder wie der Direktor des Architekturzentrums Wien, Dietmar Steiner, beim jüngsten Architekturkongress feststellte: „Es ist, als ob österreichische Architekten kleine Preziosen in die Gegend werfen, den urbanen und regionalen Zusammenhang berücksichtigen sie aber nicht.“ Als sähe man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, konzentriert man sich lieber auf das Projekt als auf die Disziplin, lieber auf das Detailverliebte als auf das nur schwer Fassbare. Architektur, das sind lauter kleine Bonbons, so der holländische Theoretiker Bart Lootsma, doch wie sieht die Bonbonniere aus? „Ich wundere mich als Holländer über die österreichische Abwehrhaltung, sich mit dieser Materie endlich auseinander zu setzen.“ Ganz gleich, ob Karamellbonbon oder nicht, etwas süßer oder saurer, besser oder schlechter: Die berufskritische Debatte ist bereits voll im Gange. Nun würde man sich von den Créateurs d'Architecture wünschen, mit der gleichen Menge an Elan und Esprit eine gesellschaftskritische Diskussion in Gang zu setzen.

Spectrum, Sa., 2004.12.11

04. Dezember 2004Wojciech Czaja
Spectrum

Lauter kleine Bonbons

Schon einmal eine Kreuzung aus zweistöckigem Haus und VW-Käfer gesehen? Oder ein „Lego-Haus“ für zwei Personen? Von Spieltrieb, zuckersüßen Architekturbüros und dem Hang zum Kleinen.

Schon einmal eine Kreuzung aus zweistöckigem Haus und VW-Käfer gesehen? Oder ein „Lego-Haus“ für zwei Personen? Von Spieltrieb, zuckersüßen Architekturbüros und dem Hang zum Kleinen.

Zeige mir, wie du baust, und ich sage dir, wer du bist", sagte Christian Morgenstern einst. Keine Frage, Architektur ist stilprägend, Architektur ist imagebildend. Doch Morgenstern hat ungewollterweise nicht nur für die Architektur gedichtet, auch die Automobilindustrie hat sich ein Scheibchen vom Poem abgeschnitten und brutal adaptiert. Frei nach dem Motto „Zeige mir, was du fährst“ und so weiter werden ständig neue Kundenkreise angesprochen, ja sie werden sogar neu definiert. Jedem Typ schließlich sein Auto, die Kampagnen sind offensiv, direkt und vereinnahmend.

Ganz neu am Markt ist der kleine flinke Renault Modus, lustig türkis wie auf den Werbefotos grunzt der gestauchte und dennoch wohl proportionierte Frechdachs durch die Stadt und hat sich sogar schon einmal aufs Tageszeitungs-Cover verfahren. Anbei ein paar bunte Kleckse, in einem gelbroten Farbtupfer nun der lang ersehnte Modus-Slogan: „Grow up - what for?“ Ja, wofür auch? Statt eckig, schwarz, korrekt doch lieber „geradeaus zum Kind in Ihnen“, lautet der unüberhörbare Appell des Créateur d'Automobiles. Nun ist es endgültig: Der freche Modus stiehlt uns Erwachsenen damit nicht nur die Show, sondern auch noch die letzte Würde. Ernst sein kann man später immer noch, warum also nicht zurückfallen ins Alter von Spiel, Spaß und Schabernack? Unter dem Deckmantel der Leichtigkeit und des Humors ist es Renault gelungen, ganz präzise den Puls der Zeit zu treffen.

Doch zurück zur Baukunst. Auch die heimische Architekturszene ist schon seit Jahren dem Spieltrieb verfallen. Zumindest jene Architekten darunter, die noch jugendliche Frische in sich tragen und nicht etwa damit beschäftigt sind, sich selbst noch im hohen Alter und auf Kosten der nächsten Generation jeden Großauftrag unter den Nagel zu reißen. Aber ganz im Ernst, es ist erfreulich, wie fröhlich Häuser sein können. Selbst in der vielleicht etwas klassisch veranlagten salzburgischen Suburbia erlebte ich unlängst eine Begegnung der schlimmsten Art, eine genetische Kreuzung zwischen einem VW-Käfer und einer zweistöckigen Behausung. Irgendwie daneben, doch die Glupschaugen, die Rückscheinwerfer und - sic! - vor allem die vier „Räder“ (bitte sich dieses architektonische Attribut unbedingt unter Anführungsstrichen vorstellen!) haben ganz eindeutig auf jenen fahrbaren Untersatz hingewiesen. Man kann von Glück reden, dass das Plagiat höchstwahrscheinlich nicht die Stückzahl des formalen Vorbilds erreichen wird. Ich denke, selbst wenn der Name des Architekten eruierbar gewesen wäre, man hätte die Größe, an dieser Stelle gesenkten Hauptes einen Augenblick stillschweigend innezuhalten.

Doch es ist alles nicht so aussichtslos, wie es scheinen mag. Denn - entgegen einer anfänglichen Vermutung - ist Verspieltheit nicht in jedem Falle mit Verzichtbarkeit gleichzusetzen. Ganz im Gegenteil, viele Architekten beherrschen die Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit und Spaß. Man muss ja nicht gleich ein Automobil kopieren, um originell zu sein. Viel interessanter erscheint dagegen die vielfach subtilere Auseinandersetzung zwischen Spielzeug und Architektur. Denn nicht im blinden Übernehmen, sondern erst in einer nuancierten Neuinterpretation eines Vorgefundenen kann sich Architektur allmählich wieder an (Bau-)Kunst herantasten.

So ein Haus - aus der Feder des Wiener Architekturbüros Caramel - steht in Linz. Es ist ein Haus für zwei Personen und trägt den winzigen Projektnamen „xxs“. Während also die Niederländer, allen voran Koryphäe Rem Koolhaas, MVRDV und das UN-Studio immer mehr Richtung XXL tendieren, bleibt die heimische Architektenschaft dem Kleinen verhaftet.

Diese Vorliebe ist definitiv keine Frage der Qualität, im wahrsten Sinne des Wortes ist sie eine Frage der räumlichen Quantität. Die unbeschwerte Leichtigkeit des kompakten Zwei-Personen-Hauses erinnert ein wenig an Spielzeug, diese Assoziation kann der gewählte Projektname letztlich auch nicht entkräften. Die Statik scheint unbekümmert zu schweben, als hätte jemand - unbeeindruckt vom Unterschied zwischen Dekagramm und Tonnen - zuvor ein Modell aus Lego-Steinen gebaut. So wie die dänischen Bausteine aus Thermoplasten hergestellt sind, besteht auch das Haus in Linz aus Kunststoff. In diesem Fall eine Leichtkonstruktion aus Holz, um die abschließend eine glasfaserverstärkte Lastwagenplane gespannt wird. Ein eingepacktes Caramel-Zuckerl sozusagen.

Ein Haus xxs oder ein Duplo-Stein XXL, es ist alles nur eine Auslegungssache. Immerhin ein gutes Spiel für Architekten, nichts anderes bedeutet der Produktname Lego, eine phonetische Kombination aus den jeweils ersten Buchstaben des dänischen „leg godt“, auf Deutsch „spiel gut“. Der Konzern regt auf seiner Homepage außerdem an: „Neugierige, fantasievolle und aktive Menschen haben die besten Voraussetzungen, sich in einer ständig verändernden Welt besser zu orientieren und dadurch zu Architekten unserer Zukunft zu werden.“ Es hängt in der Luft, ob der Beruf des Architekten hier nur Metapher oder schon Exempel ist.

Da stehen wir also und blicken in die Architekturlandschaft hinaus. Die Projekte sind erfrischend, sie sind hochwertig, und jedes einzelne von ihnen stellt eine großartige Alternative zum Bewährten, Altbacken-Bekannten dar. Oder wie der Direktor des Architekturzentrums Wien, Dietmar Steiner, beim jüngsten Architekturkongress feststellte: „Es ist, als ob österreichische Architekten kleine Preziosen in die Gegend werfen, den urbanen und regionalen Zusammenhang berücksichtigen sie aber nicht.“ Als sähe man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, konzentriert man sich lieber auf das Projekt als auf die Disziplin, lieber auf das Detailverliebte als auf das nur schwer Fassbare. Architektur, das sind lauter kleine Bonbons, so der holländische Theoretiker Bart Lootsma, doch wie sieht die Bonbonniere aus? „Ich wundere mich als Holländer über die österreichische Abwehrhaltung, sich mit dieser Materie endlich auseinander zu setzen.“ Ganz gleich, ob Karamellbonbon oder nicht, etwas süßer oder saurer, besser oder schlechter: Die berufskritische Debatte ist bereits voll im Gange. Nun würde man sich von den Créateurs d'Architecture wünschen, mit der gleichen Menge an Elan und Esprit eine gesellschaftskritische Diskussion in Gang zu setzen.

Spectrum, Sa., 2004.12.04

10. November 2004Wojciech Czaja
Die Presse

Ab an den Stadtrand?

Valencia: Unter dem optimistischen Titel SocióPolis entsteht ein Stadtteil für das Wohnen von morgen.

Valencia: Unter dem optimistischen Titel SocióPolis entsteht ein Stadtteil für das Wohnen von morgen.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Die Presse“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

16. Oktober 2004Wojciech Czaja
Spectrum

Nichts als städtische Poesie

Kreuz und quer durcheinander geschachtelt und ineinander verkeilt: vom riesigen Single- Loft bis zur kompakten Fünf-Zimmer-Wohnung. Zwei Wiener Wohnbauprojekte, die lieber polarisieren als Wohnmaschinen schaffen.

Kreuz und quer durcheinander geschachtelt und ineinander verkeilt: vom riesigen Single- Loft bis zur kompakten Fünf-Zimmer-Wohnung. Zwei Wiener Wohnbauprojekte, die lieber polarisieren als Wohnmaschinen schaffen.

Nach Biedermeier, Gründerzeit und Rotem Wien, nach dem offensiven Wiederaufbau in den Nachkriegsjahren und dem soziologischen Tatendrang der Achtzigerjahre befindet sich auch heute wieder der städtische Wohnbau auf einem neuerlichen Hoch. Wenngleich etwas pauschal durch die letzten 150 Jahre des Residierens durchgeschlüpft, so fällt am vorläufigen Ende dieser Entwicklung doch auf, dass der soziale Wohnbau für die breite Masse noch nie so unbeschwert und locker vom Hocker gegangen ist wie heute. Allem voran: ein gewisser Grad an Humor und an Individualisierung des Kollektivs.

Den Wunsch nach Individualität hat auch schon der Bauhaus-Architekt und „De Stijl“-Mitbegründer Jacobus Johannes Pieter Oud in seinem 1925 erschienenen Essay „Ja und Nein“ ausgesprochen. In diesen - wie er es nennt - „Bekenntnissen eines Architekten“ schreibt er: „Ich sehne mich nach einer Wohnung, welche alle Anforderungen meiner Bequemlichkeitsliebe befriedigt, doch ein Haus ist mir mehr als eine Wohnmaschine.“ Im Hinterkopf die Kritik am Maschinell-Seriellen, am permanent Gleichen, wird sich Ouds Kritik auch als Kritik an der Moskauer Narkomfin-Siedlung von Moses Ginsburg aus dem Jahre 1929 und den Unitées d'Habitation von Le Corbusier herausgestellt haben.

Auch heute noch lässt sich vielen heimischen Wohnbauten trotz 50 oder gar 80 dazwischenliegender Jahre eine Ähnlichkeit zu Ginsburgs oder Le Corbusiers Architektur nicht absprechen. Der State of the Art orientiert sich nach wie vor an den Errungenschaften der ewig gelobten und zitierten Moderne. Auch wenn sich das bisweilen allein auf die Ästhetisierung der eigentlich ja nie gestalteten, sondern immer nur „von innen nach außen“ entstandenen Fassade bezieht.

Zurück nach Wien, zurück ins Jetzt. Einmal Artec und einmal querkraft haben an unterschiedlichen Orten eben erst zwei völlig unterschiedliche Wohnbauten fertig gestellt, der eine steht in Margareten, der andere in Favoriten. Ihre Gemeinsamkeit jedoch liegt in einer gewiss hohen Übereinstimmung mit J. J. P. Ouds ehemals geäußerter Abneigung gegen eine Wohnmaschine. Schlagwort „flexible Grundrissgestaltung“: Vom riesigen Single-Loft bis zur kompakten Fünf-Zimmer-Wohnung reicht das genutzte Angebot beider Architekturbüros, kreuz und quer durcheinander geschachtelt und ineinander verkeilt. Dass das Durcheinander nicht nur den Grad des Innenausbaus, sondern letztlich auch das Bewohnerspektrum betrifft, ist in einer Umgebung gründerzeitlicher Monotonie eine wertvolle Nebenwirkung.

Die Artec-Architekten, weithin bekannt als Asketen des Materials und darum bemüht, dasselbe immer in seiner ursprünglichen Form zu verwenden, setzen auf Beton, Glas und Stahl. Die Mischek-Betonfertigteile sind mit zahllosen Tiefen und Vor- und Rücksprüngen vorgefertigt worden. Das Resultat erinnert an eines dieser 3D-Puzzles aus Karton, mit denen sich an mittelalterlich bedruckten Bergfrieden durch vorsichtiges Stecken eckige Erker andocken ließen. Diesmal jedoch in Artec-gerechtem Sichtbeton, versteht sich. „Der Eindruck des Skulpturalen stellt sich bei Bauwerken ein, die über eine sehr ausgeprägte strukturelle Komponente verfügen“, erklären die Artec-Architekten Bettina Götz und Richard Manahl und deuten dabei auf die Loggien und Balkone, die unterschiedlich weit die Straße überragen. Ein Spiel aus Vor und Zurück, als wäre jede Loggia eine Lade, die von innen heraus von unsichtbaren Hausgeistern gezogen und geschoben wird.

Und das fesselt. Denn das Haus hat eine große Fernwirkung. Nicht selten bleiben Passanten an dieser Kreuzung stehen, wo drei Straßen in einen Platz einmünden, und blicken etwas skeptisch acht Stockwerke hoch. Was man von da unten sieht, ist eine Collage aus Beton mit davor gesetzten Gitterrosten. Dass die kühle Strenge nicht allen gefällt, liegt auf der Hand. Doch selbst wenn spätestens im nächsten Sommer der Zufallsgenerator eingeklemmte Schilfrohr-Matten und darüber geworfene Perserteppiche hinzufügen wird, so animiert dieser Gedanke weniger zu einem Kopfschütteln als zu einem Lächeln. Selbst den beiden Architekten - auf der permanenten Suche nach der „komplexen Schönheit des Zufalls“ - kommt das durchaus gelegen.

Schließlich konnten es sich selbst diese beiden Asketen nicht verkneifen, ihrer Authentizitäts-These zum Trotz, im Spalt des optisch nach außen dringenden Stiegenhauses Farbe über acht Stockwerke zu gießen. Jedes Reglement lebt erst durch seine Ausnahmen - und das satte Grasgrün, das da aus der eigentlich recht unerotischen Zone der Vertikalerschließung in den Straßenraum dringt, ist sexy. Egal, ob Wand, Decke, Stiegengeländer, Liftschacht oder Türen - es grünt so grün, wenn Hundsturms Blüten blühen!

Grün ist auch die Leebgasse im ursprünglichen Arbeiterbezirk Favoriten. Wenngleich erst seit ein paar Wochen. Denn wenn schon von Erotik die Rede ist, so war diese Gasse ganz bestimmt meilenweit davon entfernt. An der querkräftigen Hausnummer 46 ragen nun Halme und Farne über die Straße. „Nur eine flexible Hülle zu bauen ist zu wenig“, erzählt querkraft, „ein Haus braucht ein Gesicht, vor allem im sozialen Wohnbau.“ Und in der Tat: Welch schönere Geste kann man sich in einer gänzlich zugebauten Gründerzeitgasse vorstellen, als etwas Grün eingestreut zu bekommen?

Konkret: Das Haus ist komplett verglast, als Gegenstück zu den hofseitigen Loggien ragen begehbare Gesimse (so die bauordnungsgemäße Definition der schmalen Stege) über die Straße. Glas auch hier. Um die Einblicke etwas zu filtern, hat Grafikerin Stephanie Lichtwitz, bekannt seit der grafischen Gestaltung für das Kunsthaus Graz, im Siebdruckverfahren ein unregelmäßiges Geflecht aus grasgrüner Flora auf die Glasscheiben drucken lassen.

Für innen also reine Funktion, für außen ist es nichts anderes als städtische Poesie. Genauso wie die dazwischengeworfenen Balkontüren, die diesmal - entgegen den Regeln der Baukunst - nicht transparent, sondern dicht sind. Nicht etwa weiß oder grau, sondern auch hier: tiefes, sattes Grün. Ein Alltagsbonus am Rande: Das bedeutet Geborgenheit im Winter, im heißen Sommer hingegen lassen sich die undurchdringlichen Elemente öffnen - eine Maßnahme, die die Fassaden in den Wohnräumen auf ein Minimum reduziert.

Ob es jedem gefällt? Und querkraft antwortet: „So ein Haus darf es geben, denn in einer Großstadt gibt es ja zum Glück ein breites Angebotsspektrum.“ Manchmal also ist es besser zu polarisieren. Denn Architektur ist und bleibt eine Frage des Geschmacks. So auch die Farbe. J. J. P. Oud im Jahre 1925: „Ich schwärme für die Wiederbelebung der Farbe in der Architektur.“

80 Jahre später geht sein Wunsch - zumindest auf lokaler Ebene - in Erfüllung: Wien blüht in Grün! Denn Humor darf sein. Und gleich daneben gesellt sich die chromatische Metapher, die vielleicht für einen neuerlichen Aufbruch im sozialen Wohnbau steht.

Spectrum, Sa., 2004.10.16



verknüpfte Bauwerke
LEE - Wohnhausanlage Baulücke
Wohnhaus am Hundsturm

11. September 2004Wojciech Czaja
Die Presse

Es klingt nach hohlem Gipskarton

Viele Modelle, viele Pläne, viele Fotos - und selbstverständlich verwackelte Handkamera-Videos: Eindrücke von einer bemühten, aber ermüdenden Biennale.

Viele Modelle, viele Pläne, viele Fotos - und selbstverständlich verwackelte Handkamera-Videos: Eindrücke von einer bemühten, aber ermüdenden Biennale.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Die Presse“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

07. August 2004Wojciech Czaja
Spectrum

Ein Hallo aus dem Hang

Wie eine Zunge streckt sich plötzlich eine grüne Plattform von der Straße weg, schleckt die Weite der Natur ab. Die neue M-Preis-Filiale im Osttiroler Matrei. Ein Lokalaugenschein.

Wie eine Zunge streckt sich plötzlich eine grüne Plattform von der Straße weg, schleckt die Weite der Natur ab. Die neue M-Preis-Filiale im Osttiroler Matrei. Ein Lokalaugenschein.

Früher hätte man es noch des öfteren mit dem Michelfeit-Logo verwechselt. Ein weißes M auf rotem Hintergrund, der parasitäre Michelfeit-Punkt vom kleinen i machte den einzigen Unterschied. Nein, hier geht es um keine Möbelhaus-Promotion, die Rede ist vom M-Preis. Eine Tiroler Lebensmittelkette, Ursprünge irgendwann in den Zwanzigerjahren, Gründerin Therese Mölk (daher also das M). So weit, so biografisch. Bis sich schließlich eines Tages Architekt Heinz Planatscher eines frei stehenden Neubaus in Sillian annahm - an ein dekonstruktuvistisches Frühwerk Frank O. Gehrys erinnernd - und gleich das neue M-Logo auf einem roten Würfel mit designte. Das war vor über zehn Jahren.

Seitdem expandierte M-Preis mehr und mehr auf bis zu 110 Filialen, punktet größtenteils mit seiner eigenen Logistik (Verzicht auf Warenlager, stattdessen tägliche Frischwaren-Belieferung vom Zentrallager aus), Jahresumsatz 400 Millionen Euro. Wäre da nicht noch die erfrischende Kleinigkeit der Architekturkomponente! Während es gerade im Gewerbe üblich ist, jede einzelne Marktfiliale vom Giebel über die Markise bis zum Türgriff mit corporate-designten Selbstzitaten auszugestalten, ist die Architektur von M-Preis keine Frage der Form, sondern der Positionierung. Geschäftsführer Hansjörg Mölk: „Die Herausforderung besteht darin, den Kunden nicht nur eine attraktive Produktauswahl, sondern auch ein räumliches Erlebnis zu bieten und ihnen den täglichen Einkauf zu verbessern. Gelungene Architektur fördert eindeutig das Wohlbefinden.“

Mittlerweile kann das Unternehmen auf über 20 Architekten zurückblicken, mit denen bisher zusammengearbeitet wurde. Kamen ursprünglich einzig und allein in Tirol ansässige Ziviltechniker zum Zug, wurde mit Dominique Perrault bei der Filiale in Wattens erstmals auch ein ausländischer Architekt beauftragt. International ist mittlerweile nicht nur das primäre Element des Bauens, längst auch schon das sekundäre Element der Rezension: Holzbaupreise, Architekturpreise, Bauherrenpreise, Auszeichnungen und Publikationen en masse. „Es gibt Supermärkte, super Märkte, und es gibt M-Preis“, schreibt in einer Schwerpunkt-Ausgabe das Lifestyle-Magazin „wallpaper“.

„Wenn man noch vor zehn Jahren erklärt hätte, dass einmal Lebensmittelmärkte, noch dazu in einer alpinen Region, Bestandteil eines modernen Architekturtourismus sein werden, wäre man als verrückt oder zumindest als Spaßvogel angesehen worden“, erklärte Friedrich Achleitner einmal in einer Architekturkritik. Wie die Zeit schnell vergeht, heuer ist M-Preis sogar schon Biennale-tauglich. Neben vier Architekturbüros nahm Kuratorin Marta Schreieck - und das ist eine Seltenheit - mit der Tiroler Lebensmittelkette auch einen Bauherrn mit ins Boot. Grund genug, im zeitlichen Voraus, abseits von venezianischem Pomp, Jubel und Trubel auf die neueste M-Preis-Filiale zu blicken. Der Standort: Matrei in Osttirol, der Architekt: Hans-Peter Machné. Die Filiale: in bewährter M-Tradition - wieder anders, wieder neu.

Feldertauernstraße. Rechts steigen die Hänge an, ohne Schnee ist das Bild der dahingleitenden Gondelboxen für unser Tirol-Klischee zu grün, irgendwie skurril. Weit hinter dem hoch gelegenen Sägezahn-Horizont der Bergkette verschwindet die Seilbahn im Nichts. Links ein geböschter Geländesprung, einige Meter darunter beginnt das Virgental. Grüne saftige Wiesen, ab und zu - als wären es grasende Kühe - irgendwelche typisch westösterreichische, mehr oder weniger schöne Holzkisten darin verstreut. Es ist ein ruhiges, aber sehr heterogenes Bild einer von Menschenhand bereits durchmodellierten Landschaft.

Wie eine Zunge streckt sich plötzlich eine grüne Plattform von der Straße weg, schleckt die Weite der Natur ab. Ihre Kanten sind weich, amorph. Da, wo die Zunge in die Straße mündet, schmiegen sich die beiden Kantenenden an die Straße an und kaschieren den Geländesprung. Unter der weit ausladenden Ebene - von Dach kann man hier kaum mehr sprechen - befindet sich das lang gestreckte Lebensmittelgeschäft. Die Fassade springt hinter die Dachkante weit zurück, im Freiraum sind auf diese Weise einige überdachte Parkplätze definiert. „Die fließenden Formen, die übers Eck jedoch kantig ausgeführt sind“, beschreibt Architekt Hans-Peter Machné, „sind Teil des Entwurfs, der im weitesten Sinne mit der Dualität zwischen Landschaft und architektonisch gesetzten Eingriffen spielt.“ Im Klartext: Rein grundrisstechnisch ordnet sich der M-Preis der städtebaulichen Situation unter, übernimmt Ausrichtungen und Achsen. Vom Ambiente her wirkt er aber weniger als Bauwerk denn als weit gerecktes Hallo aus dem Berghang heraus.

In dieser Ambivalenz zwischen Positiv- und Negativarchitektur ergeben sich freilich einige großartige Spielmöglichkeiten, die einem herkömmlichen Hochbau - zumindest konzeptionell - vorenthalten bleiben. Ach so oft spricht man von der berühmten fünften Fassade, vom berühmten Dach, aus dem man häufig mehr herausholen will, als ihm eigentlich innewohnt. Oft genug wurde die fünfte Fassade bereits intellektuell ausgestopft, visualisiert, cool gerendert. Allein, die potenziell Schaulustigen sind meist Vögel und Flugzeuge. Ob das denn dafür steht?

Im Falle von Matrei grenzt an den Supermarkt eine Skiliftstation an, der davon beschlagnahmte Berg steigt steil an, birgt Hänge und Einfamilienhäuser. Der Architekt: „Für die Integration des Bauwerkes in die Landschaft wurde das Dach und dessen Anschluss an die Umgebung in seiner Gestaltung als fünfte Fassade behandelt. Dies umso mehr, da das Dach vom Skilift aus gut einsehbar ist.“ Hier hat Machnés Dachlandschafts-Gestaltung Berechtigung, vor allem aber regt sie neben allem rationellen Background ganz einfach zum Schmunzeln an. Für das Kiesdach wurden zwei verschieden graue Kiesarten verwendet: Die hellere dient als Hintergrund, mit der dunkleren wurde emblemgerecht ein „M“ und ein „Preis“ hineingeschrieben. Eine Werbung XXL für alle Skifahrer und Bergsteiger - clever und erfrischend lustig! Im Winter ist das himmelwärts strebende Bild nicht etwa gesamtheitlich von Schnee bedeckt, sondern kommt als Negativrelief durch korrekt eingepasste Heizschläuche zum Vorschein. Im Angesicht des M-Preises schmilzt also selbst der tiefgefrorene Winterschnee dahin?

Im wahrsten Sinne des Wortes ist die Präsenz ausgereifter Architektur hier zu einem essenziellen Teil der Werbelinie von M-Preis geworden. Architektur als Imageträger, oder wie Machné betont: „Aufgrund der Architekturszene, die sich rund um M-Preis entwickelt hat, findet die Know-how-Weitergabe und der Austausch von Informationen vielfach bereits direkt zwischen den Architekturbüros statt - und jedes Büro versucht einen Schritt weiterzugehen.“ Von der Filiale bis zum Internetauftritt und zum mit Poesie bedruckten Verpackungsmaterial der Feinkostabteilung - hier geht der Gedanke des Interdisziplinären auf. In Matrei ist seit kurzem ein weiterer kleiner, aber feiner Beweis dafür vorzufinden.

Spectrum, Sa., 2004.08.07



verknüpfte Bauwerke
MPreis Matrei i. O.

05. Juni 2004Wojciech Czaja
Spectrum

Poesie in Flaschen

Umgeben von Truman-Show-artigem Familienglück ein plötzlicher Rhythmuswechsel: ein Wochenendhaus im burgenländischen Podersdorf. Ohne Fenster. Der Ausblick findet statt, wo Architektur ausgespart wird.

Umgeben von Truman-Show-artigem Familienglück ein plötzlicher Rhythmuswechsel: ein Wochenendhaus im burgenländischen Podersdorf. Ohne Fenster. Der Ausblick findet statt, wo Architektur ausgespart wird.

Der Nutzen des Weins kann der Kraft der Götter gleichgesetzt werden", wusste Plinius schon vor knapp 2000 Jahren. Wirft man einen Blick auf all die Bauten, die sich - wenn auch nur an der Peripherie ihres Nutzens - dem Weine widmen, so darf man Plinius heute einen neuen Wahrheitsgehalt zusprechen. In vino also veritas, denn seien es nun irgendwelche Weinwelten, eines der unzählig neuen Weingüter oder auch nur der Entwurf für ein fesches Flaschenetikett, so haben sich Gestaltung und Erschaffung rund um Bacchus mittlerweile zu einer neuen und feinen Nische in der architektonischen Disziplin hochgemausert.

Wein sei Poesie in Flaschen, meinte der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson. Nun, heute ist Wein vor allem die Poesie der Werbebranche und des Marktanteils. Architecture sells immer und überall: Wo eine Marke zu platzieren ist, ist das permanente Pochen auf Name, Logo, Standort und nicht zuletzt auf die Unverwechselbarkeit unverzichtbar. Umso beruhigender jeder Versuch, der sich dem Wein aus einer anderen Perspektive nähert.

Weingärten, grüne Streifen, eine linierte Landschaft. Ein Blick, eine Rahmung, ein eingefangenes Bild. Braun, Grün, Blau. Einmal im Jahr, während der Lese, knallblaue Bottiche auf den Rücken der Weinbauern. Idyllisch verklärt? Es ist die Landschaft, in die das burgenländische Podersdorf eingebettet ist. Dreht man sich kurz auf das Dorf zu, sehnt man sich gleich wieder nach der eingerahmten Idylle des Weins, möchte sich wieder abwenden vom Dorf. Zu Recht. Denn was sich hinter einem auftut, ist ein Truman-Show-artiges Spektrum an seriell aneinander gefügtem Familienglück. Das Orangerot der Tonziegeldächer (die Werbebranche war auf diesem Gebiet sehr erfolgreich) und die hellblauen und vanillegelben Putzfassaden ersticken jeden grünen Versuch der umliegenden Weingärten.

Doch: gegen Ende der Häuserzeile ein Rhythmuswechsel des Bebauten. Als Abschluss das Wochenendhaus eines Ärzteehepaares. Das Haus, es ist still. Der Architekt Johannes Baar-Baarenfels: „In diese ambivalente Situation zwischen banalem Gebauten und gekämmter Landschaft durfte nur ein sprachloses Haus gelegt werden.“ Zur Straße hin ist es nicht nur sprachlos, sondern geradezu stumm. Eine kurze Unterbrechung in der Baufluchtlinie ist eine deutliche Zäsur zum Nachbarhaus, markiert den Übergang zum Minimalistischen. Danach beginnt eine weiß verputzte Mauer. Kahl, allein drei vertikale Glaskiemen in der eigentlich fensterlos gedachten Fläche stellten sich als möglicher Kompromiss zwischen Bauherrschaft und Gemeinde heraus.

Wo die Fenster sind? Es gibt keine Fenster. Denn Architekt Baar-Baarenfels hat lediglich architektonische Elemente wie Körper, Säule, Wand und Dach aneinander gefügt. Teilweise sogar ohne Kontakt zueinander. Der Ausblick findet dort statt, wo Architektur ausgespart und daher mit Glasflächen abgeschlossen wurde. Fast könnte man meinen, man hätte dies einzig und allein den rauen Winterverhältnissen zum Trotz getan. Nicht zur Straße hin wird hinausgeblickt, sondern - als logische Konsequenz der prädestinierten Grundstückslage - auf die angrenzenden Weingärten und in den Himmel hinaus. Hier werden jene bewusst komponierten Bilder gerahmt, die die wenigen Hauptmotive während eines Wochenendes fernab großstädtischer Hektik sein sollen.

„Die Funktion muss auf die wesentlichen Dinge beschränkt sein“, so die Bauherren, „eine reduzierte Architektur wie diese war die einzig mögliche Konsequenz unserer Vorstellungen.“ Der Architekt fasst seine Methode noch präziser und spricht von „stripped to bare“. (Allein schon dem Begriff zuliebe müsste man an dieser Stelle jeden auch nur annähernd intellektuellen Diskurs über das Haus beenden.) Bis auf die nackte Haut also ausgezogen, war die Poesie des Ortes wichtiger als das Feilschen mit architektonischen und technischen Feinjustagen, die nun weder aufdringlich noch erkennbar sind. Das Pultdach beispielsweise - eine Art halbes Satteldach und mit 30 Grad die flachstmögliche Interpretation der hiesigen Baubestimmungen - ist zwar (bauphysikalisch bedingt) stolze 45 Zentimeter dick, doch wo die Auskragungen auf Wärmedämmung verzichten konnten, haben Isokörbe ihren Part übernommen und das Dach an seinen Kanten somit auf gerade einmal ein Viertel der Dicke verringert. Understatement als Planungsprämisse?

Jede Zurückhaltung der architektonischen Komponente ist Gewinn für den Bauherrn. Das macht das Projekt allen ELK-Fertighausvarianten und cool designten Architekturalternativen (schwebenden Kartoffeln, lindgrünen, windschief verzerrten Wohngebilden und aufdringlichen Selbstdarstellungsikonen) gegenüber höchst sympathisch. In letzter Instanz hat das auch die Gemeinde erkannt, die nach einem dreijährigen Kampf um die Baugenehmigung zu guter Letzt all ihre Vetos zurückgezogen hat. Doch es war nicht nur ein Kampf mit juristischen Details, sondern auch mit Spenglern, Glasern und Steinmetzen. Wie auch immer, am Ende sind die auskragenden Steinstufen nun vorgespannt, die großen Glasflächen selbst am Eck rahmenlos, die Spenglerdetails auf das Minimum reduziert oder gar entfallen. Ungewöhnlich auch die Innenraumbeleuchtung im Wohnzimmer, denn die konvexe Dachuntersicht wird indirekt beleuchtet. Und zwar durch wetterfeste Halogenleuchten von außen. Das bringt erstens die nötige Distanz, um auf der gewölbten Fläche eine schöne Lichtstreuung zu erzielen, zweitens bleiben selbst bei geöffneten Türen sämtliche fliegenden, blutsaugenden kleinen Ungeheuer draußen, wenn sie den hellen Quell ihrer Freude umwerben.

Lichtführung, Material und Raumklima senken Geschwindigkeit und Puls beim Betreten des Hauses. Die brodelnde Ruhe ist das Außergewöhnlichste in diesen Räumen, wo - in der zeitgenössischen Architektur selten genug der Fall - das architektonische Auge mit dem Genius Loci Freundschaft schließen kann. Glas, weißer Putz und heller Naturstein bilden sowohl im Innenraum als auch von außen betrachtet den zurückhaltenden Hintergrund für das Rundherum. Man wird das Gefühl nicht los, man stehe in einer dreidimensionalen Fotografie, in der ein verspielter Grafiker die Farbsättigung bis auf den Grad eines Schwarzweißfotos verringert hätte. Mehr noch: „Anfangs wollten wir um das Haus weißen Carrara-Marmor streuen“, so Johannes Baar-Baarenfels, „doch die Blendung wäre im Sommer unerträglich geworden.“

Stattdessen griff man nun zum grauen Kies der örtlichen Schottergrube. Das Material, das recht unverfroren bis über die Grundstücksflächen hinaus verstreut wurde und unter dem selbst der flächenwidmungstechnische Gehsteig spurlos verschwunden ist, lässt genug Raum für Interpretationen: Etwas gröber als der feine Sand am Meer, ist es die Projektionsfläche für den hier aufgesuchten Freizeitgedanken; etwas feiner als steiniges Geröll, ist es die überschwänglich ausgestreute Barrikade, um die Grausamkeiten des Traditionellen bereits ante portas abzuwürgen. Ein Freizeitdomizil als kleiner, aber feiner heterotoper Mikrokosmos in und gleichzeitig außerhalb von Podersdorf? Eine starke Geste, eine Gratwanderung zwischen Aggressivität und Poesie.

Spectrum, Sa., 2004.06.05



verknüpfte Bauwerke
Wochenendhaus

19. März 2004Wojciech Czaja
Spectrum

Zum Heulen!

Um die Gefühlskomponente in der Baukunst ist es schlecht bestellt, sowohl in der Praxis wie auch in der Theorie. Architektur ist und bleibt eine Disziplin allein des Intellekts. Leider. Ein Plädoyer für „Love, Sex and Architecture“.

Um die Gefühlskomponente in der Baukunst ist es schlecht bestellt, sowohl in der Praxis wie auch in der Theorie. Architektur ist und bleibt eine Disziplin allein des Intellekts. Leider. Ein Plädoyer für „Love, Sex and Architecture“.

Kennen Sie das Buch „Blume ist Kind von Wiese“? Eine Wiener Volksschullehrerin hat dafür jahrelang Begriffsumschreibungen von Kindern nichtdeutscher Muttersprache zusammengetragen. So lautet etwa die Definition von Philosophie: „Viel so viel, so viele Bücher, so viele Seiten, so viel denken, so viel Kopf.“ Aus geisteswissenschaftlicher Sicht eröffnet da ein Achtjähriger mit seiner Aussage freilich ein weites Kampffeld, doch er bringt auf den Punkt, was nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern auch die Architekturpublizistik und -kritik so prägt. Denn was da alles gedacht, analysiert, hinterfragt und kritisiert wird, ist mitunter zum Gähnen. So schreibt etwa Fritz Neumeyer, Professor für Architekturtheorie an der Technischen Universität Berlin, in seinem Essay „Nachdenken über Architektur“: „Modernes Denken bewegt sich im Vernehmen und Einvernehmen dessen, was ist, und zugleich auch immer dessen, was
sein kann und folglich möglich sein soll.“ Alles klar?

Wie schön wäre es, wenn die verschiedenen Disziplinen in Symbiose existieren könnten. Doch anstatt einander zu bereichern und die Möglichkeiten zuzulassen, voneinander zu profitieren, ist es mit dem interdisziplinären Gedanken in Österreich nicht weit her, und an seine Stelle tritt das schöne, weil klare lineare Schema: Zuerst die Architektur, dann die dazugehörige Publizistik. Und so verkommt alles Denken über Architektur zu einem Hinterher-hecheln, je nach zu publizierendem Projekt einmal etwas fröhlicher, dann wieder in Trockenheit verröchelnd. „Es gibt so viele Möglichkeiten der Äußerung von Architektur, notwendige und überflüssige“, fasst Rem Koolhaas zusammen. „Deshalb wird Architektur für mich besser definiert, wenn nur das gebaut wird, was auf keine andere Art vermittelt werden kann.“ Und so klingt selbst einer, der in der gesamten Szene mit jedem neuen Projekt regelmäßig für Aha-Effekte sorgt und der gemeinhin nicht unbedingt als Pragmatiker und Utilitarist unter den Architekten gilt, plötzlich gleich wieder langweilig und unspektakulär.

„Warum sollen wir Dinge nur dann machen, wenn sie funktionell sind?“, kontert Françoise-Hélène Jourda, Architektin und Professorin an der Technischen Universität Wien. Von den Verboten und Voraussetzungen der modernen Architektur will sie gar nichts mehr wissen, denn immer nur politisch korrekte Konzepte seien auf Dauer langweilig. „Wenn wir es nur schaffen würden, zu Spaß und Freude zurückzukehren!“ Und auch der amerikanische Architekt Steven Holl ist der festen Überzeugung: „Der Kopf muss leer sein!“ Weshalb er das unbedingt sein muss? Falsche Frage - unverzüglich verstrickt sich Holl in Erklärungen und Hypothesen, im Nu ist das eben noch leere Denkzentrum des Menschen wieder bis zum Bersten gefüllt. Doch Aerobic für die Ganglien gehört in der Architektenschaft mittlerweile ohnehin zum guten Ton, man kann es drehen und wenden, wie man will: Architektur ist und bleibt eine Disziplin allein des Intellekts. Was schade ist.

Etwas mehr Esprit gefällig? Nun, statt immer nur zu denken, könnte man auch einmal lachen und weinen, vor Begeisterung hüpfen oder sich melancholisch hinter Jan Turnovskys Mauervorsprung verstecken (der den Versuch, Architektur nicht nur rationell, sondern eben auch einmal - beispielsweise - poetisch anzugehen, zumindest gewagt hat). Disneyland, Wurstelprater, diverse Pavillons auf diversen Expos, Themenparks und Kinoplexxxxe aller Art stellen unter dem subsummierenden Begriff Fun-Architecture dar, wie statt der Psyche nun Körper und Herz zum Zug kommen. Zwischen sprechenden Schlumpfhäusern, überdimensionalen Karotten und potemkinschen Renaissance-Städten fragt man sich letztlich nur, ob das denn tatsächlich sein kann, was Jourda unter Spaß und
Freude versteht.

„Die Architektur ist seltsamerweise nicht allen Modifikationen des Schönen zugänglich wie die übrigen Künste“, meint Dagobert Frey in seiner 1925 erschienenen Untersuchung „Wesensbestimmung der Architektur“. „Es gibt keine tragische und es gibt keine komische Architektur.“ Aber gibt es emotionale Architektur? Obwohl Bauwerke letztlich immer nur nach formalästhetischen und streng konzeptionellen Kriterien beurteilt werden, wird selbst erstsemestrigen Architekturstudenten bereits nahe gelegt, nicht nur an die Rezeptionsfähigkeit des Auges allein zu denken. Und so ist jedes Projekt plötzlich haptisch aufregend, ist in eine auditive Kulisse eingebettet, verströmt olfaktorische Reize und - na ja, mit dem Schmecken hapert's noch. Was neben allen intellektuellen und Sinneswahrnehmungen unterm Strich aber immer noch zu
kurz kommt, ist ironischerweise die Gefühlsebene selbst.

Die Emotion als verstümmelter Appendix am unbesiegbaren Architektenhirn? „Mittler zwischen Hirn und Hand ist das Herz“, verrät schon der Vorspann von Fritz Langs „Metropolis“ aus dem Jahre 1927, der sich mit der Trennung von Denken und Handeln befasst. Ein Dreivierteljahrhundert später hat sich die ehemals beherzte Feststellung zum modernen Slogan „Love, Sex and Architecture“ gewandelt. Während Hans Hollein bereits 1958 seinen unverschämten Skyscraper in Form eines erigierten Penis für Chicago entworfen hat (im Endeffekt nichts anderes als ein verfrühtes Achtundsechziger-Provokationsexempel mit Gefühlen und Trieben), hat es noch einige Jährchen gedauert, bis erste visionäre Ansätze in Österreich tatsächlich zum Tragen kamen. So beispielsweise der nackte Salzburger Triumphbogen der Künstlergruppe Gelatine im Sommer 2003. Der Triumph der einen währte nicht lange, tatsächlich nämlich durfte ihn letztlich die Prüderie für sich verbuchen.

Wenn es also darum geht, Architektur zur Abwechslung einmal emotional statt rational zu rezipieren, bleibt das Spektrum nach wie vor recht schmal. Stets eine Gratwanderung zwischen Kunst und Kitsch, ist es schlecht bestellt um die Gefühlskomponente in der Baukunst. Sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Denn Perzeptionswerkzeuge wie Herz und Emotionen, die in Kunst, Literatur und Musik geduldet, ja sogar gefordert sind, sind an dieser Stelle gänzlich verpönt. Ganz zu schweigen von Lachen und Weinen.

Stattdessen spricht man hierzulande gerne vom Auslachen, oder - auch das ist en vogue - etwas ist gleich einmal zum Heulen. Statt Lebensräume von Menschen zu optimieren, bemüht man sich meist nur um die Umwelt derjenigen, deren Fähigkeit und Bereitschaft zur Architekturauffassung unseren Insider-Maßstäben überhaupt erst gerecht wird. „Die Architektur von uns Architekten ist sicherlich steril und schematisch im Vergleich zur Sensibilität des Dichters“, meint Juhani Pallasmaa, Professor an der Universität Helsinki. Sein Plädoyer für die emotionale Komponente in der Architektur fällt unüberhörbar aus: „Das Spektrum der von der heutigen Architektur übermittelten Emotionen ist auf die visuelle ästhetische Komponente verengt, und es mangelt ihm sowohl am Extrem der Melancholie und Tragik als auch an dem der Ekstase.“

Spectrum, Fr., 2004.03.19

08. November 2003Wojciech Czaja
Spectrum

Auf nach Disneylois

„Ich werde ständig gefragt, ob ich nun zum Winzer avanciert bin.“ Steven Holl, planender Architekt des „Loisiums“, über Weingärten, Kellergänge, Kork, grünes Flaschenglas, Etiketten und den Steven-Holl-Veltliner. Ein Gespräch.

„Ich werde ständig gefragt, ob ich nun zum Winzer avanciert bin.“ Steven Holl, planender Architekt des „Loisiums“, über Weingärten, Kellergänge, Kork, grünes Flaschenglas, Etiketten und den Steven-Holl-Veltliner. Ein Gespräch.

Vor wenigen Wochen eröffnete das zungenbrecherische Loisium in - Langenlois. Was auf den ersten Blick das neue Produktionsgebäude eines Weinbauern zu sein scheint, entpuppt sich sehr bald als kommerzielles Schlaraffenland. Aber nichts anderes wollte die „Loisium Kellerwelt Betriebs GmbH“, die nun in der Loisiumallee 1 ihren neuen Sitz hat. Planender Architekt: der US-Amerikaner Steven Holl, Jahrgang 1947. Auf dem Programm stand nicht nur ein neues Besucherzentrum - man rechnet mit 150.000 Gästen jährlich -, sondern auch eine „Erlebniswelt“: Da kann man nun durch kilometerlange unterirdische Gänge waten und sich durch (mehr oder weniger) künstlerische Installationen beeindrucken lassen. Unter dem Motto „Machen Sie mit!“ also auf nach Disneylois!

Sie werden gern mit der Aussage zitiert: „Ich möchte jedes Projekt mit einem klaren und leeren Kopf beginnen.“ War Ihr Kopf beim Loisium auch leer?

Anfangs ja. Sehr leer und frei für Inspirationen. Zuerst besichtigte ich die Weingärten und sah das gesamte Grundstück. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch überhaupt keine Idee, wie das Projekt aussehen könnte. Heute sieht man, dass es sich sehr stark an den umliegenden Weingärten und vor allem an den unterirdischen Weinkellern orientiert. Die Morphologie dieser Kellergänge beziehungsweise Tunnelröhren schlägt sich nun in der Form der Glaseinschnitte im Kubus nieder, auch im Griff des Haupteingangs. Dieses Konzept ist schon der allerersten Skizze abzulesen, die nun als Etikett auf der Flasche des Steven-Holl-Veltliners verkauft wird. Ich werde übrigens ständig gefragt, ob ich zum Winzer avanciert bin.

Wenn man neben den Weinkellern nun auch die Weingärten betrachtet - in welchen Teilen des Projekts tauchen die auf?

Irgendwer sagte mir unlängst: „Ach, das Gebäude sieht eigentlich nicht danach aus, dass es irgendwas mit Weingärten zu tun hätte.“ Tut es aber doch, und zwar in einer sehr abstrahierten Form. In sehr ungewohnter Weise entsteht durch die Lichteinschnitte ein neues Bild von den Weingärten rundherum, die Blickbezüge und das Einfangen von Bilden in verschiedenen Formaten sind ein essenzieller Bestandteil dieser Korrelation zwischen dem Loisium und dem Wein. Das Gleiche trifft auf das Material zu: Ich habe beispielsweise noch nie ein Projekt mit Kork gemacht, und hier ist gleich der gesamte Innenraum damit ausgelegt. Auch in den Glasbrüstungen kehrt er wieder, das sieht man an den wasserstrahleingeschnittenen Löchern, die die Struktur des Korks imitieren. All diese Ideen resultieren aus der Tatsache, dass der Kopf am Beginn leer war, um Gefühle und Inspirationen zuzulassen. Alles ändere wäre persönlicher Stil und vorgefasste Meinung.

Wie in Ihren Aquarellen ist eines der immer wiederkehrenden Grundbestandteile Ihrer Projekte das Licht. Welche Rolle spielte das Licht beim Loisium?

Beim Loisium geht es um Inversion, um das Gegenüberstellen von Gegensätzen: Die Weinkeller sind dunkel, das Loisium ist hell. Wo es unter der Erde dunkel ist, ist hier nun eine Öffnung, die Tageslicht in den Raum bringt. Die Figur des unterirdischen Kellers wird zum Schlitz in der Fassade, der Tageslicht in den Raum bringt. Und dann gibt es da noch einen zweiten Punkt: Im gesamten Innenraum gibt es keinen einzigen Pfeiler, keine einzige Säule. Diese urtypische und klassische, ja fast schon archaische Komponente der Architektur kommt als Abbild dennoch vor: Im Verbindungsgang zu den Kellerwelten befinden sich in der Decke fünf kreisrunde Bullaugen, die in Form von „Lichtsäulen“ Licht nach unten führen. Die Fläche über den Bullaugen ist mit Wasser gefüllt, sodass sich unten Lichtreflexionen des plätschernden Wassers an Wand und Boden abzeichnen.

Ist es aber nicht so, dass Sie durch die Lichtsäulen und durch die anderen Einschnitte in die Hülle des Loisiums so viel Licht einfangen, dass der Raum für eine geheimnisvolle, sakrale Stimmung bereits zu hell ist?

Was aus meiner Sicht im Nachhinein nicht gelungen ist, ist das grüne Glas, mit dem einige Fensteröffnungen verblendet wurden. Die ursprüngliche Idee war, in Anlehnung an die gesamte Thematik, grünes Flaschenglas zu verwenden. Da das technisch nicht möglich war, mussten wir auf eine Variante zurückgreifen und haben ein gewölbtes Glas mit einer grünen Folie laminiert.

Das Loisium wirkte auf den Modellfotos viel wuchtiger und größer, in Wirklichkeit sieht es ein bisschen geschrumpft aus.

Der gesamte Baukörper ist um fünf Grad gekippt. Diese Neigung kommt zum einen dem Raumeindruck zugute, da der Innenraum auf Grund seiner nicht versehrten, sondern nur gekippten kubischen Form als Einheit wahrnehmbar bleibt. Und es ist damit auch gelungen, das Einsinken des Baukörpers in die Erde sichtbar zu machen. Dass man dieses Versinken nun auch in Wirklichkeit bemerkt, ist vielleicht der Grund dafür, dass das Gebäude kleiner erscheint. Ich sehe das aber nicht als Nachteil. Ganz im Gegenteil: Das Loisium ist eine Landmark geworden - und auf die Größe beziehungsweise deren optische Erscheinung allein kommt es da nicht an.

Ihre Projektpartner, Franz Sam und Irene Ott-Reinisch, haben angemerkt, wie aufwändig das Projekt und wie schwierig viele Detaillösungen waren. Ott-Reinisch im O-Ton: „Holl arbeitet skulptural, ihm geht es ums Licht, er kümmert sich nicht um Technik.“

Die technischen Details wie Haustechnik, Klimakonzept und die überaus schwierige Statik - das alles sind wichtige Themen, die dieses Projekt geprägt haben. In Kombination mit dem großen Zeitdruck - die Bauzeit hat nur neu Monate betragen - waren das nicht gerade die günstigsten Umstände für eine reibungslose Umsetzung. Die beiden hatten sicher eine harte Zeit, aber sie haben es in den Griff bekommen und gut gemanagt. Ich denke, das war eine Partnerschaft, die als Konstellation geklappt hat und wo jeder seinen Part eingebracht hat.

Haben Sie bei den Kellergängen auch ein Wörtchen zu sagen gehabt?

Oh nein, in diese disneylandartige Sache war ich nicht involviert.

Wie gehen Sie mit dem kommerziellen, diesem disneyartigen Loisium-Hype inmitten dieser „malerischen“ Naturlandschaft um?

Ich hätte mir gewünscht, da unten einfach die nackten Gänge zu belassen, anstatt sich auf Inszenierungen einzulassen. Aber die Realität ist eben nicht so clean, wie sie auf Renderings und Fotomontagen dargestellt wird. Was wir lernen müssen, und das haben viele Architekten noch nicht kapiert, ist, mit Kompromissen umzugehen. In den seltensten Fällen steht ein Gebäude so solitär da, wie es den vermeintlich perfekten Umständen entsprechen würde. Stellen Sie sich vor, ich plane ein Innenstadt-Café mit ausgefuchsten Details à la Carlo Scarpa und inszeniere jede einzelne Kante. Was passiert? Daneben schießt plötzlich ein 99-Cent-Store aus dem Boden! Da knallen doch zwei Realitäten aufeinander. Es ist ganz einfach: Es gibt das eine, und es gibt das andere - und beides ist okay.

Es gibt das eine, das andere - und am Hotel, dem dritten Teil des Projekts, arbeiten Sie noch. Wie geht es da weiter?

Die Bauherren sind einfach großartig: Sie wollten kaum etwas geändert haben. Und so geht es nun auf in die nächste Projektphase. Das Gesamtkonzept des Loisiums ist recht simpel: Es gibt drei Projektteile, die sich auf ihrem Grundstück beziehungsweise in der Erde unterschiedlich verhalten: Die alten Weinkeller befinden sich unter der Erde, das eben fertig gestellte Loisium steckt schief in der Erde, und das Hotel - noch etwas weiter oben - befindet sich auf der Erde, wird also vollkommen überirdisch sein. Das Hotel als letztes Teilstück des Projekts ist daher sehr wichtig, da es essenzieller Bestandteil des Konzepts ist. Geplanter Baubeginn ist März 2004. Genaueres will ich noch nicht verraten - bis dahin muss die Zeichnung auf dem Weinetikett herhalten!

Spectrum, Sa., 2003.11.08



verknüpfte Bauwerke
Besucherzentrum Weinerlebniswelt Loisium

17. Mai 2003Wojciech Czaja
Spectrum

Schweizer Kiste mit Loch

In der Nacht leuchtet es in allen Farben, bei Tag nimmt es sich so weit zurück, dass seine Textur nur noch Spiegel ist: Lentos, das neue Linzer Kunsthaus. Zur Eröffnung am 18. Mai: eine Begehung.

In der Nacht leuchtet es in allen Farben, bei Tag nimmt es sich so weit zurück, dass seine Textur nur noch Spiegel ist: Lentos, das neue Linzer Kunsthaus. Zur Eröffnung am 18. Mai: eine Begehung.

Graz darf alles, Wien ist anders, in Linz aber beginnt's. Während man sich bisher über die dämli che Phonetik des Werbeslogans permanent den Kopf zerbrochen hatte, was denn da eigentlich beginne, gibt es seit kurzem eine erste zufrieden stellende Antwort. „Das Lentos ist mittlerweile der wichtigste Punkt in der Stadt geworden“, erklärt Bürgermeister Franz Dobusch. Museumsdirektor Peter Baum schwärmt von der „wunderbaren Leuchtmöglichkeit im Sinne eines Juwels“, unterm Strich aber ist bald klar, dass der neue Solitär an der Donau eine Diskussion ausgelöst hat, die sich im internationalen Wettbewerb behaupten wird können.

Am 16. November 1998 wird nach einem zweistufigen Wettbewerbsverfahren aus 219 Beiträgen der Sieger bestimmt. Das Projekt mit der Nummer 212 wird zur Realisierung empfohlen. Im Vergleich zwischen dem Siegerprojekt und dem heutigen, fertig gestellten Gebäude fällt auf, dass die Zürcher Architekten Weber + Hofer ihren Entwurf konsequent durchziehen konnten, ohne den Sex-Appeal des neuen Museums im Zuge der Planung geschmälert zu haben. Und das ist bei Wettbewerbsprojekten im öffentlichen Bereich keine Selbstverständlichkeit.

Die architektonische Hülle als Behältnis für die Kunst ist in einigen Landeshauptstädten bereits Thema qualitativ tief greifender Auseinandersetzungen geworden. Das Kunsthaus Bregenz von Peter Zumthor, das Kunsthaus Graz von Cook & Fournier, das noch heuer eröffnen wird, und nun das neue Lentos in Linz, spezialisiert auf Malerei des 20. Jahrhunderts, Grafik und Fotografie. (Lentos ist der keltische Name für Linz und bedeutet „an der Krümmung des Flusses liegend“, die kantige Alliteration macht das neue Museum zum Brandname.) Im Gegenzug: In Wien hat man zwar das außergewöhnliche MUMOK, wäre aber froh, wenn es nicht so wäre - denn anstatt sich auf einen normativen Diskurs über Museumsarchitektur einzulassen, überlegt man sich lieber, wie man am besten kreisrunde Bullaugen in die Sockel historischer Gebäude einschneiden kann. Der Deckmantel für die praktizierte Still-alive-Postmoderne ist der viel zitierte Bildungsauftrag, der in Wien offensichtlich gewichtiger ausfällt als anderswo - Beteiligung des Bundes am Bau des Lentos: null Euro.

Architekt Jürg Webers Trostpflaster: „Linz hat sich in politischer Hinsicht als so dynamisch herausgestellt - ein Mitspracherecht des Bundes hätte die ganze Abwicklung möglicherweise nur verkompliziert.“ Und so finanzierte man die „Schweizer Kiste mit Durchblick“, wie Direktor Baum das Konzept umreißt, aus Land, Stadt sowie privaten und öffentlichen Sponsorengeldern. Projektkosten: 33 Millionen Euro, Bauzeit: 29 Monate. Was macht die Schweizer Kiste also aus? „Wenn man das mit der bildenden Kunst vergleichen würde“, so der Architekt, „würde ich sagen, es ist Minimal Art, also die Reduktion auf das absolut Notwendigste.“ Im konkreten Fall ist das Notwendigste ein quaderförmiger Bau, der auf einer Länge von 130 Metern das vorrangige Wettbewerbsgebiet komplett ausfüllt. Die äußerste Hülle, das sind bedruckte Glasplatten. Das Loch in der Kubatur ist das Endergebnis einer städtebaulichen Überlegung: „Linz hat eine sehr schöne Stadtsilhouette, bei so einem niedrigen Gebäude ist es aber schwierig, zu diesem Stadtbild beizutragen.“ Anstatt mit dem Bauwerk also einen weiteren Hügel in der Skyline zu produzieren, haben Weber + Hofer das Gebäude zu einem Donaufenster reduziert, durch das sie auf die bereits vorhandene Skyline verweisen. Das eingefangene Bild im Panoramaformat zeigt die Kirchtürme im Stadtteil Urfahr, den Hintergrund bildet der mächtige Pöstlingberg. Oder anders: den Inhalt des Museums metaphorisch nach außen gekehrt, nichts anderes als eine zeitgenössische Antwort auf die Fotografie, Größe XXL.

Die Spannweite dieses schwebenden Balkens beträgt stolze 60 Meter, weit und breit keine Säule. Allein schon auf Grund der temperaturbedingten Materialausdehnung zwischen Sommer und Winter war es notwendig, den schwebenden Gebäudeteil als Brücke auszubilden. Wie ein riesiges Vierkantrohr aus Stahlbeton liegt das Galeriegeschoß wie auf Brückenpfeilern auf. Und zwar ohne das statische System jemals zum Selbstzweck zu erklären, wie es in der zeitgenössischen Architektur mittlerweile zum guten Ton gehört.

Bürgermeister Dobusch erinnert sich, wie während des Baus über den Stahlbetonkasten noch geschimpft wurde, aber „es hat einen großen Wandel in der Akzeptanz des Bauwerks gegeben“. Kein Wunder, denn seitdem hat sich auch einiges geändert. Diese Veränderung ist neben dem markanten Durchblicksfenster schließlich zur zweiten Visitenkarte des Lentos geworden: eine umgebende homogene Glashülle, die über den gesamten Baukörper gezogen wird. In einem Abstand von 80 Zentimetern zur Wand sind insgesamt 1800 Verbundsicherheitsgläser punktgehaltert. Wozu das Ganze? Ein ausgefuchstes, aber simples Manöver, wie man aus der zwar dreidimensionalen „Schweizer Kiste“, die an jeder Seite letztendlich dann aber doch nur zweidimensional ist, einen skulpturalen Baukörper machen kann, der auch in der Fläche noch Raum erzeugen kann. Ein Spiel mit Oberflächen und Oberflächlichkeiten also: 35.000 Mal ist der Schriftzug „kunstmuseum lentos“ in einer total reflektierenden Chromfolie angebracht. Aus der Nähe betrachtet, spiegelt man sich zwischen den Buchstaben in der diffusen Art und Weise, wie man das aus Schaufenstern kennt. In den spiegelnden Buchstaben aber kann man sich selbst und das reflektierte Stadtleben hinter sich dann genauer unter die Lupe nehmen.

Auf die Stadt übertragen, ergibt das nicht nur eine Vielschichtigkeit der Hülle, sondern auch eine der Erscheinungsformen: In der Nacht leuchtet das Gebäude wie ein diszipliniertes Feuerwerk in allen erdenklichen Farben und Helligkeiten. Am Tag hingegen gibt sich der Bau abweisend. Oder aber das Sonnenlicht wirft den Schatten der Chrombuchstaben auf die dahinter liegende dunkelgraue Ebene und erzeugt Tiefenschärfe. Oder - und das ist der subtilste Minimalismus am neuen Linzer Kunstmuseum - der Bau nimmt sich so weit zurück, dass seine Textur nur noch Spiegel für die Umgebung ist.

Jürg Weber: „Bauen ist nicht nur das Herstellen von Räumen, sondern ist immer auch ein Bauen der Stadt.“ Mit dem neuen Lentos ist ein Raum für Kunst geschaffen worden, der in sich stimmig und ruhig genug ist, um die Kunst Kunst sein zu lassen. Der Aspekt der Kunst ist vielmehr in den Außenraum getragen worden, um im Zwischenspiel verschiedenartiger „Bilder“ den österreichischen Städtebau um eine neue Facette zu bereichern.

Spectrum, Sa., 2003.05.17



verknüpfte Bauwerke
Lentos Kunstmuseum

09. Mai 2003Wojciech Czaja
Spectrum

Mit a bissl Gstätten

Er ist wahrlich ein Unikum, der erste naturnahe Erlebnisspielplatz Wiens: Das Stadtgartenamt überließ die Planung Privaten - und die bezogen gar die Kinder in den Entscheidungsprozess ein.

Er ist wahrlich ein Unikum, der erste naturnahe Erlebnisspielplatz Wiens: Das Stadtgartenamt überließ die Planung Privaten - und die bezogen gar die Kinder in den Entscheidungsprozess ein.

Alles kann man nicht wissen. Auch nicht als Architekt. Wenn es die Bauaufgabe also erfordert und einem der Stoff ausgegangen ist, wendet man sich an Chefköche, Schwimmbadexperten, Krankenschwestern oder Bestattungsunternehmer. Sie alle wissen es in ihrem Metier jeweils besser und stehen dem Architekten mit Rat und Tat zur Seite. Einzig den Jüngsten unserer Gesellschaft schenkt man wenig Vertrauen - das Allround-Argument: „Wir waren sowieso alle einmal Kinder.“ Dieses „sowieso“ wird zu einem sehr relativen Begriff, wenn der besagte Zustand einmal mehr als ein viertel oder halbes Jahrhundert zurückliegt.

Kinder besitzen Kompetenzen und Fähigkeiten, die ihnen Erwachsene nicht zutrauen. „Schon mit zwei bis drei Jahren können Kinder über sich selbst reflektieren und Entscheidungen treffen“, bemerkt Richard Schröder in seinem Buch „Freiräume für Kinder(t)räume“. Die Siebziger- und Achtzigerjahre waren rege Zeugen von Projekten, in die Kinder einbezogen wurden. Doch die Schul- und Wohnbauten aus dieser Zeit blieben allein, der Aspekt der Wirtschaftlichkeit hat dem idealistischen Bestreben dieser wenigen Architekten ein rasches Ende bereitet.

Umso erfreulicher ist nun ein Comeback in Wien-Hietzing: der erste naturnahe Erlebnisspielplatz. Ein Partizipationsprojekt, in das Erwachsene und Kinder gleichermaßen einbezogen wurden. Der Prozess reicht bis ins Jahr 1998 zurück, als der damalige Landtagsklub des Liberalen Forums eine Untersuchung zu Spielplätzen in Wien durchgeführt hat. Gibt es in Wien einen naturnahen Erlebnisspielplatz? Das Resultat war verheerend, weit hinter den Vorreitern Bayern und Zürich dümpelte irgendwo Wien.

Naturnähe bedeutet hierzulande Rindenmulch auf dem Boden und Sandkisten aus Vollholz, die Erlebniskomponente beschränkt sich auf die Schaukelei. „Naturnah bedeutet: nichts einzuzäunen, nichts zu versiegeln, sondern mit natürlichen Mitteln eine Landschaft zu bauen“, erklärt Volker Dienst von „in progress consulting“, zuständiger Koordinator des Projekts, „naturnah bedeutet aber auch, eine gewisse Gstätten zu akzeptieren.“ Ex-Stadträtin und Vizebürgermeisterin Grete Laska ließ das damals aber kalt, sie machte sich um die ohnehin guten Spielmöglichkeiten in Wien keine Sorgen. Und so sah sich die damalige Landtagsabgeordnete Michaela Hack-Sauer dazu veranlasst, im Wiener Gemeinderat ein Pilotprojekt zum Thema „Naturnaher Erlebnisspielplatz“ zu beantragen: keine Thujen, kein Gummibelag, keine Hundewiese unter blühenden Holunderbüschen. Stattdessen eine kleine Stadt-Oase, in der ausnahmsweise einmal nicht die Architekten und Magistrate das alleinige Sagen haben. Damit wird das Projekt dem neuen deutschen Kinder- und Jugendhilfegesetz gerecht, das Städte und Gemeinden auffordert, Kinder und Jugendliche zu beteiligen, und in dem es in ¶ 8, Abs. 1 heißt: „Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen.“ In Österreich ist ein entsprechender Passus auf Bundesebene nicht zu finden.

Wien ist - damit rühmt man sich heute immer noch - anders, aus der zuständigen Magistratsabteilung 42 (Stadtgartenamt) hörte man stolz: „Wir haben noch nie eine Projektplanung aus der Hand gegeben!“ Zum Glück haben sie es dann aber doch noch getan. Im Hietzinger Stadtteil Speising ist am Furtwänglerplatz letzte Woche der erste Spielplatz dieser Art fertig gestellt worden, für die Landschaftsarchitektur zeichnet das Büro „PlanSinn“ verantwortlich. Auf 5000 Quadratmetern gibt es einen Rodelhügel, verschlungene Wege und Wiesen, die je nach Topografie für Ballspiele zum Teil gemäht, zum Teil aber auch dem natürlichen Wachstum überlassen werden.

Doch dann fängt erst die Kür an: eine Schaukel für mehrere Kinder, eine Sandfläche, die über den Kistenstatus hinausgeht und in die man auf einem flachen Steg mit dem Rollstuhl hineinfahren kann, eine in der Sandfläche stehende mechanische Wasserpumpe und damit auch die daraus resultierende Konsistenz Matsch. Klettergestelle in den verschiedensten Formationen und Weideskulpturen, die gemeinsam mit den Kindern gebaut wurden und in die man hineinkriechen kann. Zu guter Letzt ein „Baumhaus ohne Baum“, aus einem Wettbewerb an der TU Wien hervorgegangen, an dem 600 Studenten teilnahmen und den Belinda Kainrath für sich entscheiden konnte.

Ein Juwel in Hietzing? „Die MA 42 wollte ständig alles einzäunen“, erklärt Michael Mellauner von „PlanSinn“, doch man müsse sich einmal vor Augen halten: „Die Einzäunung richtet sich nie an die Kinder, sondern immer gegen die Hunde.“ Statt eines Zauns ist die gesamte Spielfläche nun von einem leichten Niveausprung gesäumt. An der Geländekante sind sogenannte Gabionen zum Einsatz gekommen, „ein archaisches Element, das zwischen Künstlichem und Natürlichem steht“, so Mellauner. Man kennt die mit Steinen gefüllten Stahlgitterkäfige unter anderem von Herzog & de Meuron, die im Dominus-Weingut in Nappa Valley diese Gabionen erstmals zu einem architektonischen Gestaltungselement erklärt haben. Praktisches Detail am Rande: Die Gitter sind genau so grob, dass man in Kinderpatschen bequem drüberstapfen kann, für die Hundepfote wird's aber schon schmerzhaft.

„Freude am Abenteuer und Bestehen eines Risikos als Bestandteil des Spielwertes sind im Rahmen kalkulierter spielerisch-sportlicher Betätigung erwünscht“, schreibt die Deutsche Internationale Norm DIN 18034 über Spielplätze und Freiflächen zum Spielen vor. Wird das auch praktiziert? „Leider überhaupt nicht“, so Michael Mellauner, „wir haben nun für einen Park gekämpft, in dem man zumindest auch Essbares finden kann. Der erste in Wien!“ Im Klartext: Die Kinder können selbst entscheiden, ob sie von Kriecherln, Preiselbeeren oder von zwar essbaren, aber nicht eben wohlschmeckenden Beeren naschen möchten. Am Ende bleibt die Erfahrung am eigenen Leibe.

Und wo liegt nun die Partizipation an diesem Projekt? Sie liegt im relativ geringen Mehraufwand, nicht im Alleingang drauflos zu planen, sondern sich in jeder Planungsetappe mit Anrainern und Kindern zusammenzusetzen. Volker Dienst: „Insgesamt vier Informationsabende mit den Anrainern, an denen sie mit abstimmen und mitentscheiden können, und ein dreitägiger Workshop mit Kindern, deren Resultate dann in die Planung von ,PlanSinn' eingeflossen sind.“ Keine Hexerei also. Den planenden und ausführenden Instanzen wird zwar keine Arbeit abgenommen, doch sie können sich von konkreten Wünschen inspirieren lassen. Im Gegensatz zur allseits prakti-zierten „Wir-waren-sowieso-alle-einmal-Kin- der“-Attitüde ist diese Lösung eine Auseinandersetzung mit fundierten Tatsachen. Hoffentlich müssen nicht wieder zwanzig Jahre vergehen, bis jemand die Größe beweist, Verantwortung zu delegieren und sich über die bereichernde Komponente der Mitbestimmung drüberzutrauen.

Mittwoch, den 14. Mai, wird der erste naturnahe Wiener Erlebnisspielplatz um 15 Uhr eröffnet (Wien XIII, Furtwänglerplatz).

Spectrum, Fr., 2003.05.09



verknüpfte Bauwerke
Naturnaher Erlebnisspielplatz

29. März 2003Wojciech Czaja
Spectrum

Albatros, fliegend

Ach ja, das Schweben... Unerfüllte Sehnsucht von Architekten, Designern und Pro-Ego-Almdudler trinken-den Yogis. Anmerkungen zur neuen Strabag-Zentrale auf der Donauplatte.

Ach ja, das Schweben... Unerfüllte Sehnsucht von Architekten, Designern und Pro-Ego-Almdudler trinken-den Yogis. Anmerkungen zur neuen Strabag-Zentrale auf der Donauplatte.

EXPO 95, Wien - Budapest. Alles ausgebaggert, vorbereitet, geplant. Doch plötzlich blieben die Flächen leer, und so beschloss man in Wien kurzerhand, ein zweites Zentrum zu machen. Nach kaum sieben Jahren und einer zugebauten Donauplatte - allein zwei Grundstücke sind noch nicht verwertet - ist vor allem eines festzustellen: Fernab aller stadtplanerischen Diskurse kann man Atmosphäre wohl nicht gleich mit den Hochhäusern mitbauen, sondern muss abwarten. Abwarten, bis der Genius Loci eines Tages Einzug halten wird.

Doch bis es so weit ist, hat es keinen Zweck zu jammern. Und so befindet sich ein weiteres Projekt im Endspurt, Bezug im Sommer, Eröffnung im Herbst. Angesiedelt zwischen Ares-Tower und Tech-Gate, mit dem sich Holzbauer die eigene Sicht vom Andromeda-Veteranen hinaus auf die Donau verstellt hat, arbeitet die Strabag an ihrer neuen Konzernzentrale. Der Entwurf stammt aus der Feder der Architektenpartnerschaft Ernst Hoffmann und Franz Janz. Sinn und Zweck des Projekts: die Instanzen aus den derzeitigen drei Wiener Standorten unter einem Dach zusammenzufassen - ein Prestigeprojekt, das als solches gemeint war und als solches erkennbar sein wird.

Zwar ordnet sich die neue Strabag-Zentrale auf den ersten Blick dem bekannten Donauplatten-Kanon unter (kühl, streng, tot), doch auf den zweiten Blick ist es endlich wieder ein Projekt, das nach einer Flut gesichtsloser Klötze wieder an die Eleganz des deluganschen Riegels anknüpft. Die grundlegende Idee ist genauso rasch erklärt, wie man sie erkennt: Ein achtgeschoßiges, zackiges „S“ (S wie Strabag?), das unter Verschränkungen von 30 Grad die Fluchten der Neuen Donau und der umliegenden Straßen aufnimmt, wird um vier Vollgeschoße angehoben. Das Resultat: ein fliegender Albatros, stolze 13 Meter über Grund schwebend.

Ja, das Schweben . . . Unerfüllte Sehnsucht von Architekten, Designern und Pro-Ego-Almdudler trinkenden Yogis. In der Praxis werden es dann doch wieder mehr Stützen als im viel versprechenden Konzept, statt der schwebenden Baukörper sitzt dann meist ein Stahlbetonbaumhaus auf den obersten Wipfeln der Stahlbetonstämme. Welches Wunder also geschah, dass das Schweben der Strabag-Zentrale nun doch kein reiner Verkaufsgag war?

Die Antwort lautet: Statikerwettbewerb. Aus mehreren Entwürfen namhafter Statikbüros fiel die Entscheidung zu Gunsten des statischen Entwurfs von Gmeiner & Haferl, die nicht, wie üblich, auf Zug beanspruchte Stahlbauteile als hängendes „A“ einsetzten, sondern das statische Konzept auf den Kopf stellten und somit in ein stützendes „V“ verwandelten. So wird die Last der acht Geschoße direkt in die drei Stiegenhauskerne und in die herumstehenden Stahlbetonpfeiler eingeleitet. Das klingt zwar wieder einmal nach Stahlbetonwald (vor lauter Bäumen sieht man das Schweben des Hauses nicht mehr), doch die notwendigen statischen Elemente wurden in ihrer Anzahl auf ein Minimum reduziert und sind von der Fassadenfluchtlinie weit ab- und in die Gebäudemitte eingerückt. Die Konstruktion erscheint zurückhaltend, die Auskragung ist beachtlich.

Was außen konzeptionell stark begonnen hat, findet im Innern seine Fortsetzung: Die Büros folgen einem strengen modularen Raster, das nicht einmal der Statik erlaubt hineinzupfuschen. „Das ist unsere Vorstellung vom Bauen, und zwar im bildlichsten Sinne vom Aufbauen eines Hauses. Wir möchten immer den Rohbau vom Innenausbau trennen“, erklärt Architekt Franz Janz. Die Gründe sind evident: Erstens kann es irgendwie witzig sein, wenn zwei Systeme haarscharf aneinander vorbeilaufen (Architektenhumor), zweitens muss man im millimetergenauen Innenausbau nicht die üblichen fatalen Bau-Ungenauigkeiten des Rohbaus ausmerzen.

Das erlaubt in der Folge freilich die fescheren Details. Und davon gibt es eine Menge: Deckenelemente, die sich zur Glasfassade hin verjüngen und von außen betrachtet freilich sehr zart wirken; innen liegende Rollos, die mehr oder weniger luftdicht in der Führung sitzen, um die erwärmte Luft zwischen Glasfassade und Rollo absaugen zu können; viele integrierte Beleuchtungsideen; standardisierte Glasschiebetüren - und ein Farbkonzept von Oskar Putz, der die Teeküchen und WC-Boxen farblich hervorgehoben hat. Oskar Putz - die (etwas zu vorsichtig) wohlportionierte Menge an Lebensfreude im Innenraum, denn sonst ist alles aluminiumgrau, stahlgrau, RAL-grau, teppichgrau und mausgrau. Fast hat man das Gefühl, dass Hoffmann und Janz so viel Mut in die Statik investiert haben, dass für den Pinsel nicht mehr viel übrig blieb. Bleibt zu hoffen, dass die 800 farbigen Krawatten der Mitarbeiter die Fröhlichkeit des Farbkünstlers weiterspinnen werden.

Doch wenn einen nicht die Farben zum Kribbeln bringen, dann wohl zumindest Ausblick und Höhe. Man steht am Fenster und sieht unter dem seitlich anschließenden Trakt schon die Neue Donau. Da gibt es tatsächlich eine Anzahl an Arbeitszimmern, die einen im Panoramaausblick auf andere Arbeitszimmer und auf die Umgebung darunter die üblichen Dimensionen des Geschoßbaus neu überdenken lassen. Spätestens hier - beginnt man zu schweben.

Ein Gefühl, das in Zukunft nicht den „Strabagenten“ vorbehalten bleibt, sondern auch unzähligen anderen Glück bescheren können wird. Statt des ursprünglich angedachten Fitnesscenters im Dachgeschoß werden nun ein Restaurant und eine Bar als Aussichtsplattform über Wien fungieren. Und wer vor lauter Höhenangst den Weg ins Dachgeschoß nicht finden wird, ist auch auf ebener Erde gut aufgehoben. Sieben sogenannte „Kristalle“ - Glas-Stahl-Konstruktionen, die unter dem aufgeständerten Riegel in der Erde stecken - bergen infrastrukturelle Einrichtungen, die auf der Platte bisher nicht oder nur wenig zu finden waren: einige Restaurants, Shops, eine Veranstaltungshalle und vor allem das Strabag-Kunstforum, das sich der Förderung von Jungkünstlern verschrieben hat. Kunst zur Abwechslung einmal auf der anderen Seite der Donau - dem gebührt Respekt.

Alles in allem lockern die sieben kristallinen und windschiefen Boxen das konsequente und strenge Konzept von Hoffmann und Janz wieder etwas auf, was dem Projekt (und der Platte) sicherlich gut tut. Andererseits aber verlangen sie der Schlankheit des Projekts wiederum etwas Aufmerksamkeit ab: Wo im Endeffekt unten weniger Luft durchzischt, schwebt es oben auch weniger. Somit schaffen es Hoffmann und Janz, selbst aus diesem atemberaubenden Ding ein vergleichsweise unprätentiöses Projekt zu machen. Eine Geisteshaltung, die irgendwie sympathisch erscheint, bedenkt man, dass der Rest der Architekten meist zur gegenteiligen Masche neigt. Ob es jetzt sehr viel oder doch nur etwas weniger kribbelt, wenn man vor der neuen Strabag-Zentrale steht? Ein Urteil diesbezüglich scheint in Anbetracht aller übrigen Umstände unbedeutend.

Spectrum, Sa., 2003.03.29



verknüpfte Bauwerke
Strabag Zentrale

11. Januar 2003Wojciech Czaja
Spectrum

Und oben drauf einen Hut!

Es scheint der Mode zu entsprechen, bei Dachaufbauten die vorhandene Substanz als reine Erhöhung für das neu zu Errichtende zu benutzen. So kommt das Neue schön zur Geltung.

Es scheint der Mode zu entsprechen, bei Dachaufbauten die vorhandene Substanz als reine Erhöhung für das neu zu Errichtende zu benutzen. So kommt das Neue schön zur Geltung.

Was haben wir da nur geerbt vergangenes Jahr? Einen Haufen Schwierigkeiten, eine Quelle des Zwiespalts, lauter brisante Fragen. Wien im neuen Kleidchen, adrett herausgeputzt für den frischgedruckten Tourismusfolder - und im Rucksack eine aufgebürdete Portion Weltkultur. Da wird die neue Verleihung plötzlich zur Waffe gegen Fortschritt, zum omnipotenten Vorwand für alles mögliche, allem voran für die Beibehaltung der Schandflecke und Sauhaufen in dieser Stadt.

Das totgeredete Projekt Wien-Mitte stellt indessen andere Themen in den Schatten: Wie kann es sein, daß man sich über das eine Projekt die Köpfe einschlägt, auf der anderen Straßenseite aber deutlich weniger Hähne nach dem Unesco-Prädikat krähen? Da steht es also: das hübsche Hotel Hilton, bemühter Versuch, Bauhaus mit Jugendstil zu verweben. Der 18stöckige Bau galt schon zu seiner Eröffnung im Sommer 1975 als fragwürdig: „Als einziger Zierat Balkongitter, die so aussehen, als hätte sich ein nordafrikanischer Gastarbeiter den Scherz erlaubt, vierhundertmal das Wort Kitsch in arabischer Schrift schmiedeeisern zu verewigen“, schrieb ein politisch unkorrekter Rudolf John damals im „Kurier“.

Seit einem Vierteljahrhundert macht es schon ein bißchen auf Skyline, ließ sich irgendwann den fünften Stern wieder nehmen und galt seither als schwarzes Schaf unter den Luxushotels. „Wien kann auf sein Hilton stolz sein, denn es gleicht schier in nichts den anderen Hiltons überall auf dieser Welt“, schrieb „Die Presse“ am 7. Juni 1975. 27 Jahre darauf wurde das Wiener Hilton verkauft und wird nun umgebaut und aufgestockt. Geschätzte Baukosten: 175 Millionen Euro.

Während es in Österreich Brauch geworden ist, daß kleinformatige Zeitungen großformatige Projekte durch den Schlamm ziehen, bis sie zu Fall gebracht sind, verliert man dortselbst über das rege Treiben im dritten Wiener Gemeindebezirk kein Sterbenswörtchen. Der Grund liegt auf der Hand: Die Käufer sind Hanno Soravia - und Christoph Dichand, der sich im Schatten seines Vaters offenkundig sicher fühlen kann; planender Architekt wiederum ist Hans Hollein. Die Mischung könnte kaum besser sein: Macht und Marie haben sie alle.

Der erste Schritt ist getan, der letzte Gast ausgecheckt, in wenigen Tagen wird das gesamte Inventar des Hotels versteigert werden. Wenn es nach Plan geht, rollen in Kürze die ersten Bagger und Kräne an. „Die Fassade soll in den Grundelementen erhalten werden“, erklärt der Architekt.

Ein wenig holleinisiert wird sie wahrscheinlich aber doch werden. Das letzte Geschoß, das sich durch den Fassadenrücksprung von den anderen 17 Geschoßen abhebt, wird abgetragen; an seine Stelle tritt ein markanter dreigeschoßiger Aufbau. Die Stahl-Glas-Konstruktion schwebt deutlich über der vorhandenen Bausubstanz und verwendet diese nun als Podest. Der Architekt klopft sich auf die Schulter: „Fast wie eine dahinflimmernde Wolke!“

Hollein, jahrzehntelang Wiener Verkörperung der Postmoderne, entdeckt eine neue Formensprache: Was sich beim „News“-Tower als Schuhschachtel-Erker über der Taborstraße angekündigt hat, kulminiert in den aktuellen Projekten Monte Laa und Hilton als kristallines Schuhschachtel-Geschwür, als ob es in der x- und y-Achse horizontal explodieren würde. Selbstzitat und Schöpfer scheinen großen Gefallen aneinander gefunden zu haben. Doch zugegeben: Effekt und Ästhetik sind überzeugend.

Und auffällig. Auch für die Behörden. Zunächst einmal muß alles dem Flächenwidmungsplan entsprechen, bei der Baupolizei eingereicht und vom Fachbeirat für Stadtgestaltung abgesegnet werden. Und dann könnten auch noch der Kunstsenat und die Zentralvereinigung der Architekten ihren Senf dazugeben. Viele Entwürfe von vielen Architekten schaffen diese Hürden gar nicht erst. Da gehört nämlich auch eine gehörige Portion Glück dazu. Zum Beispiel das Glück, Hans Hollein zu sein. Und als solcher nicht nur das Projekt zu planen, sondern auch Präsident von besagtem Kunstsenat zu sein. Und auch von der Zentralvereinigung der Architekten. Und natürlich auch vom Fachbeirat für Stadtgestaltung. Nun, da hat man es freilich schon ein wenig leichter, wenn man gleichsam Partei und Richter in einem ist. Wenigstens kann man Hollein keine Freunderlwirtschaft vorwerfen, dazu sind bekanntlich mindestens zwei notwendig.

Auch was Wien an Aufstockungen sonst noch zu bieten hat, ist zumindest qualitativ mit einem Wort erklärt: Mix Max. Von den Spielen aus unserer Kindheit sicherlich eines der besten. Lustige Figuren, plakativ Berufe verkörpernd, sind der Lustigkeit halber horizontal geviertelt: unten Füße, darauf der dicke Bauch, dann der Kopf, als Abschluß ein Hut. Was man damit macht, muß an dieser Stelle nicht erläutert werden, jedenfalls haben am Ende alle großen Spaß gehabt und gelacht. Auf den Hochbau übertragen: Man mixt alles mögliche zusammen, um maximalen Nutzen zu erzielen.

Nicht selten entstehen dabei Gebäude, deren unterschiedliche Bestandteile scheinbar keinen Bezug mehr zueinander haben. Es scheint der aktuellen Mode zu entsprechen, dem Paradebeispiel Holleins zu folgen und im Zuge des Umbaus die vorhandene Substanz als reine Erhöhung für das neu zu Errichtende zu benutzen. So kommt das Neue schön zur Geltung.

Mit den Bauklötzen ausgetobt hat man sich in jüngster Zeit beispielsweise auch im zweiten Wiener Gemeindebezirk, einen Katzensprung vom Donaukanal entfernt. Hier thront „Galaxy 21“, ein altbekannter Freund, den einst die Fellners behausten. Martin Kohlbauer hat den Galaxy-Tower bis auf seine statische Struktur abgetragen, ihm eine neue, weiße Hülle verpaßt und einen sechsstöckigen Zylinder - sowohl in geometrischer als auch in kleidungstechnischer Hinsicht - aufgesetzt. Bei Kohlbauers Projekt ist ein geübter Architektenblick ratsam. Denn der Zylindergrundriß ist nicht kreisrund, sondern elliptisch, was angeblich der Schlankheit des Gebäudes zugute kommt.

Kohlbauer war auf Grund statischer Gegebenheiten im Umgang mit der Kubatur zwar stark eingeschränkt - für die 4100 Tonnen auf dem Dach mußte eine eigene Stützenkonstruktion bis zum Fundament durchgesteckt werden -, dafür folgt das Resultat aber auch dem Baukasten-Prinzip. Wie dem auch sei, Galaxy 21 ist „das Bürogebäude für die hohen Ansprüche des 21. Jahrhunderts“, versichert uns der Bauherr.

Mix Max inspiriert also rundum. So wie das Spiel seinen Reiz erst erhält, indem man sich nicht an den bereits vorhandenen Figurfragmenten orientiert, hat auch die Architektur ihre neuen Vokabeln entwickelt. Klar, Kontraste sind spannend. Und sie gehören mittlerweile zum guten Ton, unspannende Übergänge hingegen zum alten Eisen. So bringen die Beine des einen besser den Bauch des anderen zum Vorschein, dieser wiederum unterstreicht den Kopf des Künstlers. Ehe man sich's versieht, tüftelt man lieber an ausgefuchsten technischen Details des Aufbaus herum statt an einer ausgewogenen Gesamtkonzeption. Und so stülpt jeder seine feschen Denkmäler überall dort über, wo es unten noch recht mittelmäßig und oben schon ziemlich hoch ist.

Die vertikale Gliederung der Gebäude, wie sie in Wien zur Zeit überhand nimmt, ist an sich kein neues Phänomen. Die klassische Komposition Basis / Schaft / Kapitell beziehungsweise Sockelgeschoß / Regelgeschoß / Attikageschoß ist schon aus der griechischen Antike und aus dem Klassizismus des vergangenen Jahrhunderts bekannt. Doch unterschiedliche Motive bringen unterschiedliche Resultate zustande. Damals war es das Bestreben, die Elemente implizit zueinanderzufügen, heute ist es das Bestreben, eines davon explizit hervorzuheben.

Die Kritik gilt aber nicht allein den Architekten, sondern in erster Linie den kollegialen, familiären und sich auf die Schulter klopfenden Kontrollapparaten und Absegnungsinstanzen, in denen die besten Freunde zu Hause sind. Wird sich in den Gremien, Ausschüssen und Beiräten in Zukunft also etwas ändern? Wahrscheinlich nicht. Denn wer würde schon ernsthaft Macht und Marie abschlagen? Vor allem aber: In 70, 80 Jahren werden die heute ach so starken Kontraste längst verwischt sein, alles Moderne und Störende wird sich in Luft aufgelöst haben. Wer wird die Aufstockung des Hilton dann noch als Aufstockung wahrnehmen? Wer wird 2080 noch den Unterschied zwischen Siebziger- und Neunziger-Architektur des vorigen Jahrhunderts wahrnehmen können? Oder wem ist schon einmal die Naht aufgefallen, an der das herrschaftliche Ringstraßenhotel Imperial in den zwanziger Jahren aufgestockt wurde?

Spectrum, Sa., 2003.01.11

05. Oktober 2002Wojciech Czaja
Spectrum

Wenn der Hamamci schrubbt

Weltweit sind sie im Rückzug, in Wien wird einer neu gebaut: ein Hamam, ein türkisches Bad. Markus Spiegelfeld und Szolt Wanger haben nicht plump Orientalismus in einen Wiener Keller implantiert, sondern beide Kulturkreise an der Gestaltung teilhaben lassen.

Weltweit sind sie im Rückzug, in Wien wird einer neu gebaut: ein Hamam, ein türkisches Bad. Markus Spiegelfeld und Szolt Wanger haben nicht plump Orientalismus in einen Wiener Keller implantiert, sondern beide Kulturkreise an der Gestaltung teilhaben lassen.

Francesco, ein erfolgreicher römischer Architekt, erbt von seiner Tante, die sich schon vor langer Zeit in Istanbul niedergelassen hat, einen Hamam. Er bricht in die türkische Metropole auf, um seine Erbschaft anzutreten und sie daraufhin zu verkaufen, schließlich kommt doch alles anders. Der vorerst noch kühle und unsympathische Römer beschließt, in Istanbul zu bleiben, um gemeinsam mit Freunden und Bekannten seiner Tante den alten Hamam zu restaurieren. Wie zu erwarten war, verfällt Francesco während seiner Arbeit allmählich den Reizen dieser Stadt . . .

Regisseur Ferzan Ozpetek beschreibt in seinem 1997 erschienenen Film „Hamam“ das türkische Bad (wie auch der aufschlußreiche deutsche Untertitel ausgefallen ist) als einen Ort der Ruhe, der Inspiration, der homoerotischen Erlebnisse, schließlich als einen Ort, der die Liebe zu einer Kultur geweckt hat. Konstruierte Gefühlsduselei auf höchster Stufe? Und dennoch ein Film, der in den österreichischen Köpfen nachhaltige Bilder vom türkischen Baden produziert hat.

Verläßt man das Terrain der städtischen Hallenbäder, so ist in Wien das Saunieren bisher eine eher subkulturelle Angelegenheit für aufgeschlossene Paare. Das öffentliche Baden findet bestenfalls im Tröpferlbad statt, doch auch das ist schon längst zum Relikt vergangener Zeiten verkommen. Statt dessen (und wohl einige Preisklassen darüber) eröffnet dieser Tage (am 18. Oktober) ein Hamam. Christine Ruckendorfer, in Wien lebende Projektentwicklerin und Immobilienmaklerin, die vor vier Jahren das leerstehende Erdgeschoßlokal am Fuße der Mariahilfer Straße entdeckt hat: „Ich war fassungslos, mitten in der Stadt 1600 Quadratmeter zu finden, die so verwahrlost waren.“ Ob von Anfang an ein Hamam geplant war? „Das öffentliche Baden hat mich zwar immer schon fasziniert, doch erst mit dem Ort entstand die Idee.“ „Aux Gazelles“ - der frankophile Name des neuen Hamams in der Rahlgasse verspricht zum arabischen Raum eine größere Affinität als zum kleinasiatischen und signalisiert zudem, daß dieses Bad nicht in erster Linie ein multikultureller Beitrag zum Stadtleben, sondern eher „très chic“ ist.

Dadurch widerspricht der erste Eindruck der ursprünglichen Idee des Hamam-Besuchs, wie sie in dieser Form vor rund 800 Jahren in Anatolien entstanden ist. Damals vermischten sich die Rituale der Türken mit denen der Römer und Byzantiner: öffentliches Baden, nach Geschlechtern getrennt. Wichtiges Element ist das heiße und feuchte, aber ausgewogene Raumklima, das durch hypokaustische Wärme, also durch Beheizung über den Stein an Wand und Boden, erzielt wird. Die Architektur der ersten Hamams war maßgebend für die darauffolgenden Jahrhunderte: Nach einer genau vorgegebenen Raumabfolge betritt man den eigentlichen, achteckigen Waschraum. Das Oktogon - als polygonale Nachempfindung des vollendeten Kreises - ist durch eine Hauptkuppel bedeckt und erschließt kleinere, symmetrisch angeordnete Nischen, in die man sich zur Intimreinigung zurückziehen kann.

Der traditionelle Waschgang dauert einige Stunden, teilweise mit stoischem Daliegen auf den beheizten Marmorplatten, damit sich in der Hitze die Hautporen öffnen können, teilweise mit Selbstwaschung unter Zuhilfenahme von Kupferschalen. Den Höhepunkt eines Hamam-Besuchs bildet der Hamamci, der mit einem grobgewebten Tuch die abgestorbenen Hautzellen abschrubbt und dem westeuropäischen Besucher nach qualvollen Schmerzen lange Zeit in verklärter Erinnerung bleibt.

Einer der berühmtesten Hamams ist der Cemberlitas-Hamam in Istanbul, 1584 erbaut vom bekannten Architekten Mimar Sinan. Doch wer hat nun den Hamam in Wien gebaut? Heidulf Gerngroß erstellte das erste Konzept, wollte sich mit der Idee eines türkischen Bads nicht so recht anfreunden, präsentierte für das alte Gemäuer unter der Rahlstiege schließlich Entwürfe für ein Bierlokal. Ein Hamam in Wien? - Nein, das sei nicht systemimmanent. Der britische Architekt John Pawson kassierte daraufhin rund 30.000 Euro, um seine Bauherrin mit unbezahlbaren plätschernden Flüssen und Bächen für sich zu gewinnen. Der Grazer Architekt Hannes Lackner war ebenfalls bald aus dem Rennen, blieben letztlich nur noch Markus Spiegelfeld und Szolt Wanger, die das vorportionierte Projekt nun bis zur Umsetzung begleitet haben.

„Ich habe mir anfangs einfach immer die falschen Architekten ausgesucht“, blickt Christine Ruckendorfer zurück, „in vier Jahren fünf Architekten und 27 Mitarbeiter zu verschleißen war kein Vergnügen für mich.“ Viele Köche verderben den Brei, könnte man auf Anhieb meinen.

Und auf Anhieb könnte das auf „Aux Gazelles“ auch zutreffen. Doch bei genauerer Betrachtung haben Spiegelfeld und Wanger sensibel auf die Bauaufgabe reagiert. Nicht auf plumpe Art und Weise implantierten sie ein türkisches Bad in einen Wiener Keller, sondern ließen beide Kulturkreise gleichwertig an der Gestaltung teilhaben. Die unverputzten Spuren der Tonnengewölbe sind genauso ablesbar wie die sanften Pastelltöne auf ed-len Materialien; ein überdachter Gründerzeit-Innenhof als Bindeglied zwischen den beiden marmorverkleideten Hamams für Männer und Frauen.

Das beinahe Orientalische - will man der vorgefundenen Atmosphäre überhaupt einen Namen geben - ist in der architektonischen Umsetzung der vielen kleinen Räume als abstrahierte und zeitgenössische Metapher zu verstehen und nicht als sinnentleerter, disneyfizierter Orientalismus, der über alles Vorgefundene gestülpt wird, wovon beispielsweise viele österreichische Thermenhotels zeugen.

Während in Wien eines gebaut wird, sind die türkischen Bäder weltweit im Rückzug.

Vor 30 Jahren schon klagte Dogan Kuban, einst Direktor der TU Istanbul, über das Aussterben der Hamams: „Das Erhitzen von Wasser, die zahlreichen Reparaturen und die hohen Erhaltungskosten werden immer teurer.“ Die Errichtung eines Hamams in Wien wirkt Kubans frühen Zweifeln nicht entgegen, sondern verstärkt sie. Eine exotische und technisch unkonventionelle Bauaufgabe bringt hohe Errichtungs- und Erhaltungskosten mit sich, diese wiederum wirken sich auf den Eintrittspreis aus. Genau darin - da behält Heidulf Gerngroß recht, wenn er von Systemimmanenz spricht - besteht die langfristige Gefahr, Konzept und Publikum zu verfehlen.

Mit der Zeit und mit den Besuchern wird sich also weisen, ob „Aux Gazelles“ eine kulturelle Bereicherung für diese Stadt sein wird oder ob die 50.000 in Wien lebenden Türken und Araber nur ein Vorwand dafür sind, einen weiteren Lifestyle-Tempel für eine zahlungswillige gehobene Klientel zu eröffnen.

Spectrum, Sa., 2002.10.05

22. September 2001Wojciech Czaja
Spectrum

Baustelle in progress

„Ich bekenne mich zum Starsystem, weil die Architektur in den letzten 20 Jahren Teil der Kulturindustrie geworden ist.“ Dietmar Steiner, Leiter des „Architektur Zentrums Wien“, über architektonische Hard- und Software, das Museumsquartier und warum er nicht daran denkt, Hans Hollein ans Bein zu pinkeln. Ein Gespräch.

„Ich bekenne mich zum Starsystem, weil die Architektur in den letzten 20 Jahren Teil der Kulturindustrie geworden ist.“ Dietmar Steiner, Leiter des „Architektur Zentrums Wien“, über architektonische Hard- und Software, das Museumsquartier und warum er nicht daran denkt, Hans Hollein ans Bein zu pinkeln. Ein Gespräch.

Eine jahrzehntelange Diskussion hat ein Ende gefunden, auch ohne Leseturm läßt sich ein Museumsquartier eröffnen. Dichter, vielfältiger und größer entspringt aus dem roten MQ-Knopf unter dem Spittelberg auch das neue „Architektur Zentrum Wien“. In neuen Räumen, mit neuem Logo und unter seinem alten Leiter, Dietmar Steiner, beginnt hier am 11. Oktober der „Sturm der Ruhe“: Mit Projekten von Adolf Loos, Herzog & de Meuron, Adolf Krischanitz, Riegler & Riewe und vielen weiteren begibt man sich auf die Suche nach der emotionalen Komponente in der Architektur.

Dietmar Steiner, seit 1992, als das „Architektur Zentrum Wien“ auf Initiative von Minister Scholten und Planungsstadtrat Hannes Swoboda gegründet wurde, sind Sie nun Direktor. Wo hat Architektur in Wien vor 1992 stattgefunden?

Es hatte eben nie einen Ausstellungsraum für Architektur gegeben, was mit den aufkommenden Wanderausstellungen zu einem Problem geworden ist. Fallweise haben entweder das Zwanz'gerhaus oder das Museum für angewandte Kunst ausgeholfen. Diese Umstände waren eigentlich der Anlaß, von seiten der Politik eine professionelle Vermittlungsinstitution für Architektur vorzuschlagen.

Das Niederländische Architekturinstitut in Rotterdam (NAI) ist ein schreiendes Gebäude in einer Parklandschaft und macht sich selbst nach außen sichtbar. Der Baustellencharakter des AZW ist natürlich weitaus ungefährlicher als eine implizierte Stellungnahme zum aktuellen Baugeschehen.

Die Frage kommt immer wieder: Warum hat das „Architektur Zentrum Wien“ keinen Neubau? Erstens sind wir über unseren Standort glücklich, und diese Lage ist uns allemal wichtiger als ein neues Gebäude. Im Museumsquartier mitten in der Stadt an einer U-Bahn-Kreuzung - einen hochwertigeren Standort kann man sich nicht vorstellen. Und was das Gebäude betrifft: Die alten Räume, die uns zur Verfügung stehen, sind für die wechselnden Ausstellungen ein neutraler Hintergrund. Wir wollen bewußt keine architektonische Stellungnahme in unserer Hardware, da wir ja ohnehin wechselnde Architekturen präsentieren. Wir haben uns in zehn Jahren vom Provisorium bis zum heutigen Status quo gut entwickelt und sind sicherlich noch nicht am Ende: Ortner & Ortner hatten im Wettbewerbsentwurf für das Museumsquartier ein zusätzliches neues Gebäude für das AZW vorgesehen. Wer weiß, welchen Bedarf die Zukunft bringt.

Der In-progress-Ansatz einer Baustelle ist einerseits „cool“, andererseits macht Sie diese Tarnung nur für eine bestimmte Zielgruppe interessant, obwohl das AZW im Kulturcluster MQ weitaus größere Potentiale hat. Noch geht der Unwissende ahnungslos vorbei.

Da haben wir wirklich ein Problem, und wir werden das in nächster Zeit auch angehen. Für uns sind historische Fassaden nicht heilig, wir müssen mit zusätzlichen Maßnahmen auf uns aufmerksam machen. Leider haben wir nicht einen Ein- und Ausgang, sondern fünf Verbindungen in den öffentlichen Raum, daher müßte man alles extra kennzeichnen. Ich möchte mich vor allem vor der Fassade des Fischer-von-Erlach-Traktes bemerkbar machen. Und das wird sicherlich die Diskussion der nächsten Monate prägen.

Wiens zweitstolzeste Baustelle ist beendet - das AZW ist mitgewachsen. Ich nehme an, nicht nur räumlich.

Was wir bisher machten, wird sich im Grunde nicht ändern, nur können wir das ab sofort professioneller und effektiver realisieren. Es gibt nun zwei Ausstellungsräume, die man parallel bespielen kann. Wir haben auch das Podium für Diskussionen und Veranstaltungen dazubekommen. Neu ist auch die Bibliothek im Oktogon, die nun endlich auch öffentlich zugänglich ist. Es ist unser großer Wunsch, mit verschiedenen Aktivitäten der Idee der Zentrums näherzukommen. Es gibt bei uns keine Eintrittskarten, sondern nur Tagesmitgliedschaften, es ist also dem Besucher überlassen, wie und wohin er sich bewegt, was er sich ansieht und ob er sich nach der Ausstellung in die Bibliothek setzt, um noch etwas nachzulesen.

Vergangenes Jahr zeigte das „Architektur Zentrum“ eine Ausstellung unter dem Titel „Emerging Architecture“. Sie bemühen sich offensichtlich, neue österreichische Architektur zu forcieren.

Wir haben zwei Hauptaufgaben: internationale Entwicklungen nach Österreich zu bringen und nationale Entwicklungen ins Ausland zu bringen. Unsere selbstauferlegte Schamgrenze lautet, keine Einzelausstellung über einen lebenden österreichischen Architekten zu machen. Wir verstehen uns aber im wirtschaftspolitischen Sinne als Unterstützer österreichischer Architektur, und unser Konzept „Emerging Architecture“ ist daraufhin aufgebaut, jedes Jahr zehn junge Büros auszuwählen und diese Ausstellung inklusive Katalog dann auch auf Reisen zu schicken. Damit können wir jungen Büros, die sich noch nicht etabliert haben, einen Startschuß geben. Die letztjährige Ausstellung etwa war in Kopenhagen und Frankfurt und geht jetzt nach Budapest weiter. Für die heurige Ausstellung, die im Dezember stattfinden wird, sind wir noch in Verhandlungen mit Rom und Bordeaux. Diesen Export österreichischer Architektur verstehen wir mit aller Radikalität.

„Emerging Architecture“ und neue Architektur sind das eine. Andererseits schrecken Sie als Leiter eines unabhängigen „Architektur Zentrums Wien“ nicht vor regelrechten Kniefällen zurück, wie der superlative Artikel über „Unseren Mann von Welt“, Hans Hollein, im „profil“ bewiesen hat.

Das ist kein Kniefall! Ich erlaube mir auf Grund meines Alters, meiner Erfahrungen und meiner internationalen Kontakte eine gewisse Bewertung von Architekten. Über Hans Hollein kann ich das genausogut wie über jeden anderen machen. Hollein hat einfach internationale Bedeutung erlangt - da kann man ihm ans Bein pinkeln, soviel man will, das bleibt ein Faktum. Ich werde von vielen Architekten heftig dafür kritisiert, andererseits aber war eine viel größere Anzahl von Laien dankbar für so einen lockeren und unverkrampften Text. Ein Porträt über einen Architekten in einem Nachrichtenmagazin ist kein Diskurs im innerarchitektonischen Sinn, sondern es geht um Verständlichmachung, warum wer wichtig und berühmt ist und wer nicht.

Das Problem liegt nicht in der Berühmtheit eines Menschen, sondern darin, daß jemand zu Österreichs „wichtigstem Architekten der letzten 50 Jahre“ hochgelobt wird. Sie fügen sich diesem Starsystem?

Ich bekenne mich zum Starsystem, weil die Architektur in den letzten 20 Jahren Teil der Kulturindustrie geworden ist. Und das Starsystem ist Teil dieser Kulturindustrie. Wenn man eine Zeitschrift in die Hand nimmt, ist die Kritik unwesentlich. Die wichtigste Frage lautet: Ist das Projekt drin oder nicht? Natürlich gilt auf Grund der Gesetze der Kulturindustrie auch die Protegierung. Und wenn man Österreich im internationalen Zusammenhang betrachtet, so gibt es keinen österreichischen Architekten, der über dieses Land hinaus soviel Wichtigkeit erlangt hat wie Hollein.
Das AZW ist Teil der Kulturindustrie, wir müssen daher auch einem gewissen populären Starkult entgegenkommen. Wir versuchen aber trotzdem, uns eines Overkills von Starnamen zu enthalten. Das beste Beispiel wird im Oktober unsere Ausstellung „Sturm der Ruhe“ sein, in der kein Architektenname vorkommen wird. Es ist ein sehr riskantes Unterfangen, und ich kann mir auch vorstellen, daß wir schrecklich abstürzen werden.

Anläßlich der Eröffnung der Ausstellung „Detonation Deutschland“ haben Sie in einem Interview Adolf Loos zitiert: Es gebe keine Architektur ohne Zerstörung. Was ist im MQ zerstört worden?

Ein gewachsenes historisches Biotop. Der Charme des Vergessenen ist nun verschwunden, was mit der politischen Entdeckung aber natürlich Hand in Hand geht. Egal welches Projekt hier realisiert worden wäre - Shopping City oder Revitalisierung ohne Neubauten: alles hätte diese alten Spuren getilgt. Insofern war die Kombination Neubau/Altbau immer noch die beste Lösung, um in eine neue Zeit vorzurücken. Ich bin mit dem fertigen Ding dennoch nicht sehr glücklich, da das gesamte Areal homogenisiert wurde. Was das „Architektur Zentrum“ betrifft, haben wir uns - so gut es ging - dagegen gewehrt und hätten uns gewünscht, mehrere alte Spuren offensichtlich zu machen. Ich bin glücklich über das Lob des Bauleiters, der in unserem Hof gemeint hat: „Nur bei euch im AZW wird man in Zukunft merken, wie es einmal war.“ Das spricht für keine Nostalgie, sondern nur gegen das Suggerieren neuer Bausubstanz auf dem Niveau eines Gemeindebaus aus den fünfziger Jahren.

Spectrum, Sa., 2001.09.22

Profil

Wojciech Czaja, geboren in Ruda Śląska, Polen, ist freischaffender Journalist für Tageszeitungen und Fachmagazine, u.a. für Der Standard, Architektur & Bauforum, VISO, db Deutsche Bauzeitung, und DETAIL. Er ist Autor zahlreicher Wohn- und Architekturbücher, u.a. Wohnen in Wien (2012), Zum Beispiel Wohnen (2012), Überholz (2015) und Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden (2015). Zuletzt erschien HEKTOPOLIS. Ein Reiseführer in hundert Städte im Verlag Edition Korrespondenzen. Er arbeitet als Moderator und leitet Diskussionsrunden in den Bereichen Architektur, Immobilienwirtschaft und Stadtkultur und veranstaltet unter dem Titel Ähm, ja also... Praxis-Workshops zum Thema Kommunikation und Präsentation. Er ist Dozent an der Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz und unterrichtet dort Kommunikation und Strategie für Architekten. Außerdem ist er von 2015 bis 2021 Mitglied im Stadtbaubeirat in Waidhofen an der Ybbs.

Publikationen

Wir spielen Architektur. Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit, Sonderzahl-Verlag, Wien 2005
periscope architecture. gerner gerner plus, Verlag Holzhausen, Wien 2007
Stavba. Die Strabag-Zentrale in Bratislava, Wien/Bratislava 2009
Light/Night. The Nouvel Tower in Vienna, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010
Wohnen in Wien. 20 residential buildings by Albert Wimmer, Springer Verlag, Wien 2012
Zum Beispiel Wohnen. 80 ungewöhnliche Hausbesuche, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2012
Überholz. Gespräche zur Kultur eines Materials, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2015
Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden, Wien 2015
Der Fuß weiß alles. Markus Scheer, Ecowin Verlag, Wals bei Salzburg 2016
Der Erste Campus, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2017
motion mobility. Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien, Park Books, Zürich 2017
Hektopolis. Ein Reiseführer in hundert Städte, Edition Korrespondenzen, Wien 2018

7 | 6 | 5 | 4 | 3 | 2 | 1