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23. Juni 2003Matthias Boeckl
ORF.at

Städtebau als Kommunikations-Kunst

Ist es noch Illusion oder schon Realität des postindustriellen Medienzeitalters, dass ein grundlegender und nachhaltiger Stadtumbau eher durch „weiche“ Kulturfunktionen als durch traditionelle „harte“ Jobfaktoren wie Industrie und Gewerbe gelingen kann?

Ist es noch Illusion oder schon Realität des postindustriellen Medienzeitalters, dass ein grundlegender und nachhaltiger Stadtumbau eher durch „weiche“ Kulturfunktionen als durch traditionelle „harte“ Jobfaktoren wie Industrie und Gewerbe gelingen kann?

Die „europäische Kulturhauptstadt Graz 2003“ bietet viele Antworten auf brennende Fragen der aktuellen Stadtdebatte wie diese. Sie versteht sich, worauf Wolfgang Lorenz, Fernsehmacher und Programmintendant der Hauptstadt-Veranstaltungen, insistiert, eben nicht als „Festival“, sondern als eine Art Bewegung zur Formulierung einer neuen Stadtidentität, eines neuen Selbstverständnisses der Grazer.


Die Probleme einer Kulturhauptstadt

Der Anlass für die zahlreichen Maßnahmen im Bereich Architektur und öffentlicher Raum war die Ernennung zur (einzigen) „Kulturhauptstadt“ Europas für das Jahr 2003. Was das bedeutet, weiß niemand, denn mit der Ernennung ist keine feste Programmplanung verbunden. Jede Stadt muss ihre Inhalte selbst definieren.

Jede Stadt hat aber auch andere Problemlagen, manche Städte haben intakte urbane Strukturen, funktionierende öffentliche Institutionen und Infrastruktur, ausreichend Arbeitsplätze, Wohnungen und Freizeiteinrichtungen, viele jedoch nicht.


Zwischen bürgerlicher Idylle und Avantgarde

Was waren die „Probleme“ von Graz vor der „2003“-Bewegung? Die Landeshauptstadt der Steiermark hatte unter den europäischen Städten mittlerer Größe (226.244 Einwohner) schon bisher eine eigenartig ambivalente Positionierung. Graz, das stand lange Zeit für eine gewisse Isolierung in der südöstlichen Ecke des „freien“ Europa.

Graz lebte stets aus ziemlich eindeutigen Gegensätzen. Hier die beeindruckende Altstadt und die konservative Bourgeoisie nebst untergründigen NS-Nostalgien, da die „Avantgarde“, die es leicht hatte, mit Realismus und Aktionismus jede bürgerliche Idylle zu verstören.


Stagnation in den 80er Jahren

Wirtschaftlich stand die Stadt stets unter dem starken Einfluss ihrer großen Industriebetriebe und ihrer natürlichen Funktion als administratives Regionalzentrum. Beides wirkte sich eher konservierend aus, bis in die 1980er Jahre waren hier kaum Faktoren wirksam, die zu einer regelrechten Stadttransformation hätten führen können.


Kultur als urbaner Kick-Off?

Mit den Projekten zu „Graz 2003“ könnte der Kick-Off zu einer wirklich zeitrichtigen Stadtentwicklung entstanden sein. Und hier hat man die Chance, bereits aus den Gefahren des „New Economy“-Hype zu lernen.

Keine Kultur ausschließlicher Virtualität künstlich hochzufahren, sondern das Kunststück zustande zu bringen, physisch greifbare Stadtinterventionen in Form von Bauten und Infrastruktur mit der „virtuellen“ Stadt einerseits und dem gewachsenen Bestand andererseits derart zu verweben, dass (etwa durch Kulturtourismus) sowohl rasche Aufwertungseffekte entstehen als auch Keime für nachhaltige Entwicklungen und die Möglichkeit der Änderung und Anpassung der nun entworfenen Strukturen.


Quadratur der Kreises

Das klingt nach der Quadratur des Kreises, in der Praxis zeigt sich aber, dass Stadtumbau durch Kulturfunktionen tatsächlich die eminente Gefahr der Reduktion einer historischen Kernstadt auf eine nur saisonal genutzte und von langjährigen Einwohnern klinisch gesäuberte Kulisse für den Tagesausflug der kulturinteressierten A-Schicht oder den einfachen Bummel anderer Besucher wird. Diese Gefahr ist in Innsbruck und Salzburg bereits zur Realität der Verödung der historischen Kernstadt geworden.


Wende durch Termindruck

„Graz 2003“ brachte weniger durch einen langjährig von Stadtplanern erarbeiteten Masterplan die (hoffentlich funktionierende) Wende zustande, sondern eher durch den Termindruck, der die Stadtverwaltung förmlich zwang, den Ideen von Programmintendant Lorenz zu folgen, um nicht zum Eröffnungszeitpunkt ohne spektakuläre Events und Institutionen dazustehen.


Neues Bauen in Graz

An Bauten entstanden sowohl Projekte, die direkt auf Initiative der Programmplanung zurückgehen als auch solche, die gleichsam parallel dazu mit Rückenwind des zunehmend dynamischen Planungsgeschehens von unabhängigen Bauträgern errichtet wurden.

Das Bauspektrum umfasst das Literaturhaus von Riegler Riewe, die Stadthalle von Klaus Kada, die „Listhalle“ von Markus Pernthaler, das Kindermuseum von fasch & fuchs, das Kunsthaus von Cook & Fournier (ein Joint Venture von Bund, Stadt und Land, ohne Beteiligung des Programmbudgets für Graz 2003), die von der Bundesbahn vorgezogene Bahnhofsrenovierung von Zechner & Zechner mit der Kunstintervention von Peter Kogler, die Murinsel von Vito Acconci, die Gestaltung der Stadteinfahrten durch mehrere junge Architektengruppen, die Umbauten am Flughafen von Markus Pernthaler, der ironische „Uhrturmschatten“ von Markus Wilfing, zahlreiche Großplastiken im öffentlichen Raum unter dem Titel „Concrete Art“, das Café „Graz 2003“ von Hans Gangoly und der „Marienlift“ bei einer barocken Mariensäule von Richard Kriesche. Und nun wurde auch das Volkskundemuseum der jungen Architektengruppe BEHF eröffnet.


Identifikationsfaktor Kultur

Diesmal sollte das Kulturprofil der Stadt nicht unabsichtlich entstehen, wie das in jenen seligen Avantgardejahren der Fall war, als Graz seine Kunstschaffenden eher als Plage empfand, die nur noch mehr ähnliche Plagegeister anzog. Sondern es wurde bewusst auf eine hochwertige kulturelle Infrastruktur gesetzt, mit der sich alle Grazer identifizieren sollten und die zumindest eine Chance auf zukünftige Plattform weiterer Entwicklungen bot.


Vito Acconcis Event-Arena

Das Motto „für jeden etwas“ scheint der Schlüssel für eine breite Identifikation der Bevölkerung mit dem Gebotenen zu sein, das dadurch zu einem Erarbeiteten wird. Und in dieser Unbekümmertheit entstanden fast beiläufig oder zufällig die städtebaulich interessanten Kunst-Verdichtungen. Eher intuitiv scheint im Intendanten die Erkenntnis gereift zu sein, dass die Mur, jener Fluss, der die Stadt in zwei ungleichwertige Hälften teilt, das Gelenk und der Brennpunkt einer integrierenden Neudefinition sein muss.

Das Angebot des New Yorker Universalkünstlers Vito Acconci, eine künstliche Insel im Fluss zu errichten, lag bereits längere Zeit vor, als Lorenz plötzlich sein Potenzial erkannte. Mit dieser räumlichen Verbindung zwischen den traditionellen Kulturstätten der Innenstadt und der eher gewerblich-industriell orientierten „anderen“ Flussseite konnten - neben der gelungenen Stadtstimulation - gleich mehrere Effekte erzielt werden.


Neues Kunsthaus

Das neue Kunsthaus, ein regionales Museum moderner Kunst, das auf eine lange und traumatische Planungszeit in mehreren Wettbewerben an immer wieder verworfenen Standorten zurückblickt, war bereits unter dem Erfolgs- und Termindruck des Hauptstadtjahrs auf dieser „anderen“ Seite angesiedelt worden. Gleich daneben befindet sich schon seit langem ein weiteres Kunstzentrum: Die Veranstaltungsräume der Minoriten, die hier seit Jahrzehnten einen gut eingeführten Kunstplatz betreiben.

Diese beiden Häuser ließen sich nun durch die Insel nicht nur gut mit der am anderen Flussufer liegenden Altstadt verbinden. Das muschelförmig-bizarre Stahlobjekt von Acconci, das halb eingeschlossener Raum, halb ausgehöhlte Event-Arena ist, definiert auch seinen eigenen Raum, besetzt den bislang als Niemandsland und als Zäsur fungierenden Fluss, und es generiert in seinem Umfeld neue Wege, eine Aufwertung des Umfeldes und neue Sichtachsen. „Es ist heute unvorstellbar für alle, dass diese Insel wieder demontiert wird“, sagt Lorenz, „es ist ein Herzstück von Graz 2003, das kräftig schlägt, wir haben hunderttausende Besucher auf dieser Insel gehabt, es ist immer voll.“


[Graz 2003 als Bewegung zur Formulierung einer neuen Stadtidentität? Den Originalbeitrag von Matthias Boeckl finden Sie in architektur aktuell.]

ORF.at, Mo., 2003.06.23

29. Januar 2003Matthias Boeckl
ORF.at

Kill Speed

In einer Jahrhunderte alten, großen Wallfahrtskirche lagern sich die baulichen Eingriffe verschiedenster Perioden lesbar in Schichten ab.

In einer Jahrhunderte alten, großen Wallfahrtskirche lagern sich die baulichen Eingriffe verschiedenster Perioden lesbar in Schichten ab.

In einer Jahrhunderte alten, großen Wallfahrtskirche lagern sich die baulichen Eingriffe verschiedenster Perioden lesbar in Schichten ab. Sie reflektieren das kontinuierlich erneuerte religiöse Verständnis in seiner baulichen Fassung.

Auf Initiative der neuen geistlichen Führung des Wallfahrtsbetriebs ergänzt und verbessert nun eine aktuelle Interpretation der Liturgie im Altarbereich der Basilika und eine auch denkmalpflegerisch subtile Anpassung des benachbarten geistlichen Wohnhauses an heutige Bedürfnisse die historischen Sedimente.


Langer Atem gefordert

Wie in allen bedeutenden und großen historischen Baukomplexen ist auch im kirchlichen Bereich die langsame Anpassung an aktuelle Nutzungsanforderungen eine zähe Angelegenheit, die dem Architekten ein Höchstmaß an Geduld, Einfühlungsvermögen und geschickter Kommunikation mit dem Bauherrn abverlangt.

Hier winkt nicht der Ruhm eines in Schnellschüssen erreichten spontanen Geniestreichs, sondern nur das beharrliche und bedächtige Voranschreiten über viele Jahre hinweg. Kontinuierlich auf ein Ergebnis hinzuarbeiten, das dann letztlich als Selbstverständlichkeit, nicht als spektakuläre Architektur-„Intervention“ erscheint, ist hier das tägliche Brot des Planers. Und es ist keineswegs ein trockenes, wie manche meinen, sondern ein saftiges, opulentes Eintauchen in kulturelle und religiöse Werte vergangener Jahrhunderte, die noch sehr lebendig sind und unter der Hand des Architekten auch in heutigen Zeiten aufblühen können.

Wie in allen anderen Bauaufgaben spielt aber auch hier der Bauherr eine entscheidende Rolle. In großen Institutionen kann seine leitende Funktion leicht hinter Gremien und verschachtelten Zuständigkeiten verschwinden - das gilt für Wirtschaftsunternehmen ebenso wie für Staat und Kirche. Gibt es jedoch eine engagierte Führungskraft, die das Weiterbauen am Betrieb zur Kernaufgabe des Managements macht, dann gibt es - Fortschritt!


Neue Besen

Als 1991 ein neuer Superior für die, vom Benediktinerstift St. Lambrecht in der Steiermark seit ihrer legendenumwobenen Entstehung 1197 als Filialbetrieb betreuten, weitaus größten Wallfahrt Österreichs eingesetzt wurde, war das alte Wohnhaus der Mönche schon ein Sanierungsfall. Zudem war die Pilgerfrequenz nach der Ostöffnung sprunghaft angestiegen - Mariazell ist immer noch eine Art zentrale Wallfahrt für alle Länder der ehemaligen Habsburgermonarchie - und erforderte in Basilika und Wallfahrtsadministration grundlegende Neuerungen.

Der neue Superior Pater Karl Schauer, für Architekturfragen im Umkreis des kunstsinnigen Bischofs Egon Kapellari sensibilisiert, trat mit kleinen Umbauideen zunächst an Hubert Riess heran, der diesen „Auftrag“ an Wolfgang Feyferlik weitergab. Der erarbeitete 1992 gemeinsam mit Georg Giebeler eine Studie, die nun bis 2007 nach und nach umgesetzt werden soll.


Komplexe Anforderungen

Das „geistliche Haus“ ist ein historisch gewachsenes Konglomerat verschiedenster Funktionen. Der behäbige, breit hinter der Basilika lagernde, Bau dient nicht nur den Mönchen von St. Lambrecht, die hier den Wallfahrtsbetrieb organisieren und geistlich betreuen, als Wohnhaus mit Hauskapelle, sondern auch als Büro für ihr Superiorat, der lokalen Pfarre als Amtssitz, beiden gemeinsam als Archiv und Depot sowie dem Bischof und anderen hohen geistlichen Würdenträgern als repräsentatives Pied-a-terre.

Mit dieser Aufzählung sind vermutlich längst nicht alle Funktionen dieses hybriden Baus genannt, der schon seit Jahrhunderten, längst vor Erfindung des Architekturjargons, allen möglichen Zwecken „generic spaces“ zur Verfügung stellt.


Neuorganisation

Die Aufgaben der Architekten bestanden hier vor allem in der Sanierung, Neuorganisation und Einrichtung der Innenräume. Der Reihe nach wurden ein Aussprachezimmer, der Gebetsraum, zehn Wohnräume mit eingestellten Nasszellen, eine Studiengalerie für Votivbilder, ein anstelle der ehemaligen Geschoß-WCs eingestellter „Bäderturm“, eine Bibliothek, die Prälatur (repräsentative Wohnräume für Abt, Bischof u.ä.), das Superioratsbüro, die Pfarrkanzlei, der Dachboden mit Archivräumen sowie im Untergeschoß ein Veranstaltungsraum für Pilger eingerichtet.

Die Räume der Geistlichen sollten im südlichen Trakt konzentriert und um den Innenhof (in dem noch ein unschöner Einbau vergangener Jahrzehnte steht) halböffentliche Zonen situiert werden. Die letzte Ausbaustufe sieht vor, dass der Innenhof vom Zubau befreit und von neuen Galerien gefasst wird.


Zeitgemäße Liturgie

Den Auftrag zum Umbau des Altarraums der Basilika nahm Feyferlik erst nach reiflicher Überlegung an. In seinem Sanierungskonzept von 1992 war nur die für Reliquien vorgesehene Turmkammer angesprochen worden, der 1693 bis 1704 von keinem Geringeren als Johann Bernhard Fischer von Erlach errichtete Hochaltar hingegen erschien eher als Arbeitsgebiet der hier erfolgreich und engagiert tätigen Restauratorin Erika Thümel und einer eigens eingerichteten Liturgiekommission.

Im 20. Jahrhundert war der Altarbereich zweimal umgestaltet und dabei unter anderem auch der markante Tabernakel in Form einer Weltkugel von Fischer von Erlach versetzt worden. Clemens Holzmeister hatte später das Presbyterium neu eingerichtet.

Superior Pater Karl wünschte ursprünglich eine sofortige und radikale Umgestaltung durch Feyferlik, 1997 entschied jedoch die Liturgiekommission, einen geladenen Wettbewerb mit einer Handvoll Architekten aus der Region für die Umgestaltung des Altarbereichs samt Orgel auszuloben, den Feyferlik für sich entschied.


Arbeit am Altar

Das Wettbewerbsprojekt sah einen Altarblock aus Paraffin vor, ein Material, das der Kommission jedoch unangemessen erschien. Feyferliks alternativer Vorschlag, den deutschen Bildhauer Ulrich Rückriem mit der Anfertigung des Altars zu beauftragen, wurde jedoch umgesetzt.

Die übrigen Möbel entwarfen die Architekten selbst, und wie schon im Geistlichen Haus waren alle Maßnahmen auf Klärung und Herausarbeiten der originalen Charakterzüge des Baus ausgerichtet: Die rezente Marmorierung der Wände wurde weiß abgedeckt, die störenden Buntfenster hinter dem Kruzifix am Hochaltar von einer weißen Textilbespannung ausgeblendet, die Bodenfläche des Presbyteriums klar definiert und vor allem eine neue Orgel gestaltet.


Architektonische Antithese

Otto Kapfinger hat in einer Beschreibung der fünfzehnjährigen Kampagne zur Sanierung und Adaptierung von geistlichem Haus und Basilika von Mariazell die Formel „Kill Speed“ geprägt, um auf eine angemessene Geschwindigkeit solch komplexer Vorhaben hinzuweisen, die im radikalem Kontrast zum modischen „Speed Kills“-Eifer selbsternannter „Sanierungsprofis“ steht. Nach mehr als 800 Jahren Wallfahrtsbetrieb am Platz ist auch keinerlei Hektik angebracht - denn die Interventionen von Feyferlik/Fritzer haben schon nach kürzester Zeit ihre positive Wirkung bewiesen, die im Endausbau noch gesteigert sein wird.


[Den ungekürzten Originalbeitrag von Matthias Boeckl finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.]

ORF.at, Mi., 2003.01.29



verknüpfte Bauwerke
Orgel Basilika Mariazell

11. Dezember 2002Matthias Boeckl
ORF.at

Schule in Wien-Donaustadt

Das Flächenwachstum einer Stadt kann - selbst unter den streng kontrollierten Wiener Bedingungen - zu ungewöhnlichen Maßstabskollisionen führen.

Das Flächenwachstum einer Stadt kann - selbst unter den streng kontrollierten Wiener Bedingungen - zu ungewöhnlichen Maßstabskollisionen führen.

Das Flächenwachstum einer Stadt kann - selbst unter den streng kontrollierten Wiener Bedingungen - zu ungewöhnlichen Maßstabskollisionen führen. Der alte Ortskern des Stadtrand-Dorfes Aspern, wo man bis vor wenigen Jahren nur kleine und niedrige Bebauungen kannte, wird nun von einer Welle großer Wohnbauten umspült, deren dort heranwachsende Schülergeneration wieder neue, großvolumige Schulbauten fordert.

Die Wiener Architekten henke und schreieck haben es verstanden, diese schwierige Lage in einer Struktur zu lösen, die vor allem auf die Qualität der Offenheit setzt. Die Maßstabskollisionen in Aspern verlaufen entlang scharf gezogener Frontlinien: Hier das alte Dorf mit seiner ein- bis zweigeschossigen Bebauung, an seinem Westrand die neuen Wohnbauten der „Erzherzog-Karl-Stadt“.


Das Umfeld

Im Norden des Dorfes liegt die Siedlung Pilotengasse von „Herzog & de Meuron, Steidle und Krischanitz“: Hier wollte die Stadt Wien noch in den 80er Jahren beweisen, dass Suburbanisierung auch in Gartenstadt-Proportionen funktionieren kann. Diese ortsüblichen Maßstäbe wurden auch im dörflichen Gewebe selbst erprobt: „Ceska/Priesner“ realisierten hier 2000 einen Wohnbau mit höherem, mulitfunktionalen Frontteil zum langgezogenen alten Dorfplatz hin (architektur.aktuell 1-2/2001).

Er heißt übrigens „Siegesplatz“, was ausnahmsweise einmal nicht, wie in Bozen, auf Konflikte des 20. Jahrhunderts anspielt, sondern auf einen Schlachterfolg der österreichischen gegen die napoleonischen Heere vor zweihundert Jahren. Im Süden des Dorfes, zwischen Einfamilienhäusern, einem postmodernen Wohnbau-Experiment der Stadt Wien (Tesar, Pruscha und andere) und einem großen offenen Feld, entstand nun nach einem Wettbewerb des ambitionierten Bauherren, der Immobiliengesellschaft der Republik Österreich, ein großes Schulzentrum mit drei darin angesiedelten einzelnen Schultypen, um dem zu erwartenden Bedarf dieses Stadterweiterungsgebietes gerecht zu werden.


Wettbewerb notwendig

Es wäre schön, wenn im österreichischen Schulbau - einer klassisch „öffentlichen“ Bauaufgabe, die etwa in Großbritannien schon fast vollständig „privatisiert“ ist - nun tatsächlich so etwas wie ein positiver Wettbewerb zwischen zwei Anbietern entstanden wäre: dem seit der Ära von Stadtrat Swoboda ehrgeizigen Schulprogramm der Stadt Wien und den seit der Ausgliederung in die „Bundesimmobiliengesellschaft“ aus der unmittelbaren Ministerialverwaltung entlassenen Bundesbauten. Denn dabei gibt es nur Gewinner: Nutzer, Bauherr und Umfeld am Standort.


Leicht und schwebend

Die Ästhetik von „henke/schreieck“ ist mittlerweile zum kreativen Leitbild einer ganzen Generation geworden (und unlängst in einer Ausstellung im neuen österreichischen Kulturforum in New York auch so präsentiert worden): Man könnte fast von einer Fortsetzung des Internationalen Stils der 30er Jahre mit den Zugaben der heute möglichen Glas- und Betontechnik sowie einer leichten, schwebenden, geradezu fernöstlichen Anmutung sprechen.

Das Architekten-Team hat als erstes in Österreich diese Sprache entwickelt, kultiviert und mit steigender Erfahrung zu immer präziseren technischen Lösungen geführt, die allerdings auch den hier Tätigen einen Abschied von alten Schau- und Nutzungsgewohnheiten abverlangen.


Konflikte um „Glaskisten“

Denn das sind die Kernpunkte der Konflikte um die aktuellen „Glaskisten“: Sie erfordern (und ermöglichen ressourcenbewusst) nicht nur andere Heiz- und Lüftungsmaßnahmen als das traditionelle Mauerwerk mit Fensterlöchern, sondern stimulieren auch völlig andere Raumempfindungen, als man das jemals mit einer Schule in Zusammenhang zu bringen gewohnt war - ein Eck-Klassenraum etwa lässt Schüler und Lehrer mit seinen tatsächlich durchgehend raumhoch verglasten Außenwänden in Baumwipfelhöhe zwischen Vegetation und Wohnhäusern schweben.


Spielerische Bewältigung

Gewiss ist es nicht leicht, 1.000 Schüler samt dem nötigen pädagogischen und administrativen Apparat zum Schweben zu bringen. „henke/schreieck“ bewältigen das scheinbar spielerisch mit wenigen Gesten:

Das nötige Volumen wird auf vier Trakte verteilt, die einen locker umfassten Innenhof bilden, erhebliche Teile werden unter das Bodenniveau gedrückt und die Erschließungszonen fast wie Freiräume mit zumindest einer durchlaufenden Glaswand ausgebildet. Nur im Brückentrakt über dem Eingang, der konstruktiv wie eine Waage auf wenigen ultraschlanken Stahlstützen balanciert, gibt es die berüchtigte Mittelflurerschließung, die aber von Glaswänden an beiden Enden und Lichtkuppeln von jedweder Dumpfheit befreit wird.


Gleiten und Fassen

Die Bibliothek sitzt als Glashaus in einem Verbindungstrakt, der sich wiederum auf die Terrasse über den rückseitig angelagerten Sportsaal öffnet, der „Innenhof“, der in Wahrheit ein einladend offenes Atrium ist, geht über ein paar Treppenstufen unter der holzverschalten „Brücke“ in den Straßenraum über, und die eigentlichen Klassenräume wirken, als ob sie in den umgebenden Kornfeldern lägen.

Der Bau ist ein subtiles Spiel von Gleiten und Fassen. Trotz - oder gerade wegen - der technischen Raffinesse von Fassaden, Konstruktion und Disposition der Volumina ist dieses „Stilelement“ (ja, es gibt ihn noch, den Stil!) stark wirksam. Die Elemente gleiten durch den Bau und zeigen an den Kanten ihre Materialstärke oder Schnittflächen: Die Geschossplatten gehen als umlaufendes Gesims von Kante zu Kante durch, die Sichtbetonwände und die Glasflächen laufen bündig aus, etc. Das alles ist natürlich nur auf Basis einer klaren Konstruktion mit großzügigem Stützenraster der schlanken Säulen möglich. Alles ist auf Horizontalität und Reihung abgestellt, die Ablesbarkeit des Gebäudes ergibt sich daraus ganz selbstverständlich.


Verschiedene Raumgrenzen

Die Asymmetrie der Volumina (das forderten schon 1932 Johnson und Hitchcock im Manifest zu ihrem „International Style“) bildet zum Innenhof hin verschiedene Raumgrenzen aus - eine abgetreppte mit Dachterrasse links und eine zweigeschossige Glaswand rechts. In diesem Trakt ist auch das Untergeschoss für Spezialklassenräume genutzt und an der Gebäudeaußenseite am angesenkten Terrain verglast.

Der gegenüberliegende Trakt ist ebenfalls dreigeschossig, nutzt aber das Untergeschoss für die Garage. Das Klimakonzept - essentiell für Glashäuser - basiert auf der Zirkulation kühler Luft, die sich (manchmal aus dem unterirdischen „Frischluftbrunnen“) durch halbgeöffnete Türen, Lüftungsklappen in den Glasfassaden und Ventilatoren am Dach bewegt. Die Verschattung der Fassaden erfolgt durch außenliegende Jalousien an den Klassentrakten und Lamellen am Sportsaaltrakt.


Raum für alle

Die öffentlichen Räume machen den Bau auch zu einer Art Gemeindezentrum: Die abgesenkte Dreifachturnhalle (mit raffinierter Dachkonstruktion) kann als mittelgroßer Veranstaltungssaal genutzt werden.

Die Raumeinheit von Bühne und Speiseraum bildet ein weiteres Forum und der Innenhof kann ebenfalls für außerschulische Aktivitäten genutzt werden. Die kühle Eleganz, die Präzision und die gleitende Selbstverständlichkeit aller Bewegungen im Haus tragen dabei einiges zur Attraktivität des Veranstaltungsortes bei.


[Den Originalbeitrag von Matthias Boeckl finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.]

ORF.at, Mi., 2002.12.11



verknüpfte Bauwerke
AHS Heustadelgasse

03. August 2002Matthias Boeckl
Der Standard

Gefangen in der Moralfalle

Was ist und wie verändert sich die Rolle von Architektur heute? Ein breit angelegter Berliner Kongress auf der Suche nach Antworten.

Was ist und wie verändert sich die Rolle von Architektur heute? Ein breit angelegter Berliner Kongress auf der Suche nach Antworten.

Um die 4000 Architekten versammelten sich vergangene Woche in Berlin beim Kongress der „Union Internationale des Architectes“. Das globale Megaevent der Architektur findet in dreijährigem Rhythmus statt und wurde diesmal unter das Motto „Ressource Architektur“ gestellt. In zahllosen Referaten, begleitenden Ausstellungen und Diskussionen versuchte die Weltgemeinde der Architekten fünf Tage lang, ihre Rolle im Zeitalter von Globalisierung, sozialen und ökologischen Krisen neu zu definieren. Im Mittelpunkt standen dabei - was unter deutscher Regie zu erwarten war - tief bohrende Fragen an die eigene Moral sowie politische Forderungen, wie man sie sonst eher von NGO-Meetings am Rande der G-8-Gipfel kennt.

Eines war schon 1922 dem Modernepionier Le Corbusier klar: Architekten können sich im Industriezeitalter nicht mehr darauf beschränken, einfach nur schöne Häuser zu bauen, sondern sie müssen avancierte Technologien adaptieren und in der Architektur künstlerisch einsetzen. So entstand das „Wohnhaus als Maschine“. Achtzig Jahre später hat sich das komplexe Fachwissen, das Architekten im täglichen Überlebenskampf erwerben und einsetzen müssen, vervielfacht.

Nach der Industrieverklärung Le Corbusiers stürzte eine wahre Wissensflut über die Planer: Mit dem Ölschock das Öko-Know-How, im Zeitalter des Neoliberalismus grundlegende Strategiekenntnisse der Investmentpolitik und nun, im globalisierten Infoage, auch noch digital gestütztes „globales“ Verantwortungsbewusstsein - und das alles in der Zwickmühle zwischen extremem Kostendruck und hinterfragbaren Investorenwünschen auf Bauherrenseite einerseits und den humanitären Idealen des Planers lebenswerter Umwelten andererseits.

Kein Wunder, dass sich da mitunter Resignation breit macht und so mancher Architekt sich auf eine Philosophie des „Machbaren“ zurückzieht. Ginge es nach den Organisatoren des jüngsten „Weltkongresses“ der Architekten, dann müssten die Baukünstler angesichts der prekären Lage unseres Planeten und seiner Bewohner noch radikalere Konsequenzen ziehen - und ihr Ureigenstes, den Entwurf neuer Bauten, sofort aufgeben. Architekten dürften dann bestenfalls umbauen und ergänzen, und auch das nur mit einem Rück- und Abbauplan im Kopf, der den umweltgerechten Kreislauf der verwendeten Materialien sicherstellt - das forderte Karl Ganser, Sprecher des wissenschaftlichen Komitees, im Habitus eines Priesters.

Doch nicht alle Architekten denken derart fundamentalistisch: „Das ist gegen alles, was in der Architektur Spaß macht“, meint dazu der experimentierfreudige Shootingstar der deutschen Architekturszene, Matthias Sauerbruch. Und: Die Architektur sei doch vor allem eine Disziplin der Innovation, des räumlichen Ausdrucks und der Formen.

In der Tat besteht die Gefahr einer Moral-Falle: Denn die Architekturdisziplin sieht sich heute von derart vielen Harte-Fakten-Wissenschaften und moralischen Forderungen umstellt, dass kaum mehr Raum und Zeit für ihre „Kernkompetenz“ bleibt - nämlich die (nicht selten intuitive) Schöpfung von funktionierendem und stimulierendem Lebensraum. Oft genug werden zudem „unflexible“ Architekten von Investoren an der Planung großer Baukomplexe nur mehr am Rande und ohne jeden Einfluss beteiligt.

Auf dem Berliner Kongress wurde anlässlich dieses Krisenszenarios vielerlei diskutiert: Das Bild des Architekten schwankte zwischen dem eines Experten, der sich immer weiter von seinen ursprünglichen Handlungsfeldern weg-entwickelt, und weiterhin dem des Bauers „schöner Häuser“. Das war zwar nicht die Sache der großen Stars, von denen nur Dominique Perrault und Lord Norman Foster am Programm standen.

Die expressive Fraktion zwischen Frank Gehry und Zaha Hadid ersparte sich lieber die quälende Selbstbefragung. Für größte Vielfalt war aber allein schon durch die Herkunft der Teilnehmer aus China, Kasachstan, Brasilien und Ländern der westlichen Hemisphäre gesorgt. Besonders die beginnende Selbstkritik der bisher weitgehend an schlechten westlichen Praktiken orientierten neuen chinesischen Architektur scheint viel versprechend, ebenso ökologische Ansätze aus Südamerika.

Unter allen Positionen der Architektenpraxis steht jedoch, so scheint es, heute nur noch eine einzige, noch dazu eine klassische, als weitgehend integer da: Ausgerechnet die Ingenieure, die oft für die desaströsen Auswirkungen der Großtechnologie auf unsere Umwelt verantwortlich gemacht werden, können heute ästhetische, ökologische, wirtschaftliche und soziale Forderungen an das Bauen perfekt zur Deckung bringen.

Der konstruktive Ingenieurbau, so referierte es eindrucksvoll Jörg Schlaich, der globale Doyen dieser Disziplin aus Stuttgart, sei nicht nur materialsparend und elegant. Die technische Infrastruktur nehme auch eine geradezu geopolitische Bedeutung an: Das beweise weltweit die direkte Koppelung des Bruttoinlandsprodukts an das Ausmaß vorhandener Straßen- und Bahnkilometer. Vor allem den radikalen Ökologen schrieb Schlaich Unerhörtes ins Stammbuch: Man solle mittels der funktionierenden, aber politisch boykottierten Technik riesiger Solarkraftwerke, die just in den ärmsten Ländern der Welt am besten funktionierten, doch die Entwicklungsländer an unserem Konsum verdienen lassen.

Ein neues, lustvolles Energiekonsumieren hierorts wäre die aparte Folge davon. Nicht immer werden die Architekten derart Fundamentales zur Weltzukunft beisteuern können. Dennoch hatte ihre Weltversammlung immerhin den Erfolg, sich Mut zu machen in der unverzichtbaren gesellschaftlichen Rolle, die Architekten nach wie vor spielen: als gestaltende, nicht bloß moderierende Koordinatoren verschiedenster Disziplinen. Diese kreative, eigentliche Triebkraft des Architektendaseins sollte die heute unverzichtbare Ressourcen-Moral eigentlich schon eingebaut haben.

Der Standard, Sa., 2002.08.03

28. Juni 2001Matthias Boeckl
ORF.at

Amnestie für die Realität

Den Originalbeitrag von Matthias Boeckl zur Planungsphilosophie von Ortner & Ortner finden Sie in architektur aktuell.

Den Originalbeitrag von Matthias Boeckl zur Planungsphilosophie von Ortner & Ortner finden Sie in architektur aktuell.

Nach fünfzehn Jahren Konzept-, Planungs- und Bauzeit kann über die architektonischen Aspekte der Idee von Ortner & Ortner für das MuseumsQuartier eine erste Bilanz gezogen werden. Im Mittelpunkt muss dabei ihr Konzept der dichten Monolithen und des darüber gelegten layers an filigranen Nutzungsarten stehen.


Reaktion auf „Kraftfelder“

Der strukturelle Grundansatz aller Projekte von Ortner & Ortner für das MuseumsQuartier ist die Reaktion auf „Kraftfelder“ der Stadt - eine Reaktion, die sich oberflächlich in bestimmten Ausrichtungen der Bauten manifestiert, in der inneren Neuinterpretation etwa des Typus „Museum moderner Kunst“ jedoch weit über diese formale Ebene hinausgeht.

Dahinter steht eine Vorstellung von Stadt, die Ortner & Ortner seit ihren Experimenten der 1960er Jahre (damals noch in der Formation der „Haus-Rucker-Co“) während einer internationalen Karriere als in Österreich lange Zeit unterschätzte Teilnehmer der weltweiten urbanistischen Debatte entwickelt haben. Die „Amnestie für die Realität“ und der Abschied von idealistischen Denkmustern der Stadtplanung ist die Leitlinie dieses Bewusstseins, das in europäischen Regionen fortgeschrittener Urbanisierung und eines hohen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwicklungsstandes (vor allem in den Niederlanden) inzwischen selbstverständlich ist und bald auch die anderen urbanen Zentren Europas dominieren wird.

Die urbane Zivilisation - das ist das Prinzip dieser Überzeugung - bildet mit ihren unüberschaubaren, durch demokratische, wirtschaftliche und technologische Entwicklung forcierten heterogenen Kultur- und Lebenspraktiken ein System von Kräften, das sichtbar gemacht und infrastrukturell unterstützt werden muss, um dieser demokratischen Vielfalt neue Räume und damit auch neue gesellschaftlich/wirtschaftliche Produktivität zu geben.


Antimodernistische Tradition

Hier liegt eine traditionelle Schwachstelle im österreichischen Verständnis von Zivilisation. Denn Infrastrukturen sind in der Regel auch sichtbar, sei es die traditionelle „hardware“ der Straßen und öffentlichen Versorgungsstränge - oder die bauliche Vernetzung und Überlagerung mit neuartigen Funktionen, wie es Ortner & Ortner noch radikal im ersten Wettbewerbsprojekt vorschwebte.

Aber sichtbare Modernisierung, das gebietet die lokale Kultur des schönen Scheins, ist in Österreich weniger beliebt als eine getarnte, versteckte. Exakt an diesem Punkt entwickelte sich jene Diskussion, die sich in der nunmehrigen Realisierung des „größten Kulturbaus der Ersten und Zweiten Republik“ abbildet. Es waren weniger die Funktionen, die Kritik hervorriefen, als vielmehr die Formen, in denen sie sich darstellten.


Die Kraft der Beharrung

In der Ausdauer der Ortners, all diese Hoffnungen und auch die Bedingungen in ihrem Projekt abzubilden, liegt die auf den ersten Blick nicht sichtbare Kraft dieser Architektur. Gefordert ist ein immaterielles statt einem bloß mechanischen Wahrnehmungsvermögen. Erwartet wird ein „fluid environment“, das sich aus dem gewerblich dominierten Stadtbezirk Neubau hinter dem MuseumsQuartier über die „dunklen Gassen“ seiner rückseitigen Trakte über Treppen, Terrassen und Freiräume bis in die imperiale Sphäre des Heldenplatzes entwickelt. Und nötig ist die wesentlich entschlossenere Forcierung dieser zeitrichtigen Stadtidee der Ortners durch weitere Durchbrüche, Vernetzungen, unter- und oberirdische Verbindungen sowie das bauliche Signal alles dessen im öffentlichen Raum vor dem Quartier.

Sollte das gelingen, dann sind die anderen europäischen innerstädtischen Kulturkomplexe wie der Pariser Grand Louvre und die Berliner Museumsinsel nicht nur die gegebenen Klassenpartner, sondern könnten in der Durchmischung und im Urbanisierungsgrad vom Wiener Beispiel sogar noch profitieren.

ORF.at, Do., 2001.06.28



verknüpfte Bauwerke
MuseumsQuartier Wien - MQ

12. Mai 2001Matthias Boeckl
ORF.at

Literarischer Rationalismus

Massimiliano Fuksas näherte sich dem Entwurf in einer literarischen statt rationalistischen Haltung, die man ja gerade hier hätte erwarten können - und...

Massimiliano Fuksas näherte sich dem Entwurf in einer literarischen statt rationalistischen Haltung, die man ja gerade hier hätte erwarten können - und...

Massimiliano Fuksas näherte sich dem Entwurf in einer literarischen statt rationalistischen Haltung, die man ja gerade hier hätte erwarten können - und das Ergebnis ist eine Art literarischer Rationalismus. Dies ist wohl auch die einzige Möglichkeit, eine hochgradig kodifizierte und regulierte Bauaufgabe in jenem gestalterischen Niveau zu bewältigen, das für diesen Schlüsselplatz der Stadtsilhouette unbedingt erforderlich ist.


Radikaler Wechsel

Die ersten Entwürfe des Doppelturms zeigten noch eine organoide, teilweise geradezu surrealistische Formensprache. Der Sprung von diesen Varianten zu der fast konträren Form der Ausführung scheint sich anlässlich eines Besuches seines Salzburger Einkaufszentrums „Europark“ ebenso spontan in Fuksas eingestellt zu haben, wie seine gesamte künstlerische Haltung ist. Jedenfalls war die Entscheidung für die klaren Glasprismen zweifellos die richtige - eine transparente, leichte, elegante Form neben den massiven Volumina der Nachbarschaft, zwei Glassäulen, die in endloser Wiederholung der gleichen Module in den Himmel ragen - ein System wie in Constantin Brancusis „Endloser Säule“.


Klassische Vorbilder

Die Assoziationen mit der klassischen Moderne, allen voran natürlich mit Mies van der Rohes Hochhausentwürfen von 1919 für die Berliner Friedrichstraße, lassen sich kaum unterdrücken. Und damit auch die Heilserwartungen, die sich an diese „Urform“ des vollständig glasummantelten Skelettbaus knüpfen. Mies stand den expressionistischen Visionen einer humanen „Glasarchitektur“ à la Paul Scheerbart nahe, und auch heute noch wirkt dieser Mythos.


Prekäre Materialwahl

Voraussetzung dafür ist aber die Lesbarkeit dieser Idee, und diese hängt entscheidend vom verwendeten Glas ab. Die spezielle Entwicklung der Firma Interpane sollte so transparent wie möglich ausfallen, um die innere Skelettkonstruktion so klar wie möglich als eine gebaute Metapher des „Auftürmens“ des immer gleichen Tischelements, als ein technizistisches Faszinosum ersten Ranges lesbar zu machen. Die übliche Grünfärbung wie beim benachbarten älteren Büroturm reflektiert fast total und ist ungeeignet, irgendwelche immateriellen Botschaften zu vermitteln. Dagegen wurde das hier verwendete Weißglas mit einer High-Tech-Beschichtung versehen, die nur eine sehr leichte Grüntönung bringt.

Leider wird diese Errungenschaft jedoch von hemmungslosen Büromietern zunichte gemacht, denen die geschoßhohe Verglasung nichts anderes ist als eine ideale Werbefläche nach außen.


Zwillinge erzeugen Spannung

Ein zweiter wesentlicher Effekt ist die Stellung der beiden Türme in einem Winkel von 59º zueinander, für den es keine rationalen Gründe gibt. Fuksas Begründung bezieht sich nicht ganz unberechtigt auf vorbeifahrende Autofahrer, die wohl tatsächlich die häufigste Wahrnehmungsart des Baus repräsentieren: „Die Spannung, die sich aus der Stellung der beiden Objekte zueinander ergibt, erlebt der Autofahrer, indem sich beim Vorbeifahren die Hochhäuser ständig zueinander verschieben.“ Mit der sich öffnenden und schließenden Fuge und den Brücken zwischen den Türmen entsteht so eine Art abstraktes Ballett, das ebenfalls (siehe Oskar Schlemmer) gut in die Atmosphäre der hier evozierten mystischen Pioniermoderne passt.

Sollte die Anbindung an die weiteren Bauten der Wienerberg-City, wie sich nun Wiens neuestes Hochhausquartier nennt, gelingen und die öffentlichen Funktionen im Sockel des Twin Tower von den zukünftigen Bewohnern der Nachbarbauten angenommen werden, dann hat Wien eine urbanistisch und intellektuell überaus befriedigende Landmark gewonnen.


[ Der Originalbeitrag von Matthias Boeckl ist in der Mai-Ausgabe von architektur aktuell erschienen ]

ORF.at, Sa., 2001.05.12



verknüpfte Bauwerke
Vienna Twin Tower

08. Februar 2001Matthias Boeckl
ORF.at

Bewegung im Block

Waren Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky bis vor zehn Jahren noch mit Szene-Kleinbauten wie Bars, Restaurants, Bühnenbildern, Ausstellungen, Dachbodenausbauten...

Waren Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky bis vor zehn Jahren noch mit Szene-Kleinbauten wie Bars, Restaurants, Bühnenbildern, Ausstellungen, Dachbodenausbauten...

Waren Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky bis vor zehn Jahren noch mit Szene-Kleinbauten wie Bars, Restaurants, Bühnenbildern, Ausstellungen, Dachbodenausbauten und - vor allem - unausgeführten Visionen neuer, „offener“ urbaner Lebensräume beschäftigt, so stehen jetzt nicht nur ihre Position als internationale Stars, sondern realiter auch drei in nur sieben Jahren realisierte große Wohnbauten zur Überprüfung der gebauten Gestalt dieser Visionen an.


Engagement im Wohnbau

Vielversprechend ist ihr Engagement, als ehemals radikalste Gruppe der Wiener Achtundsechziger („Unsere Architektur ist dort zu finden, wo die Gedanken schneller sind als die Hände, um sie zu begreifen“) just das Gebiet des hochgradig regulierten kollektiven Wohnbaus als Prüfstein ihrer dynamischen und expressiven Lebensreformkonzepte zu wählen.


Aktuelles Projekt: Remise

Der erste Eindruck des Wohnbaus Remise entspricht der Erwartung: Ein bewegtes, expressives Raumgefüge, das auch von der forcierten Materialsprache aus Stahl, Sichtbeton und geputzten Kuben lebt. In die Luft gehobene Volumina, offene Diagonalpassagen, dynamische Schräg- und X-Stützen, all das zählt zum bekannt ausdrucksstarken Vokabular von Coop Himmelb(l)au und hat ihnen das (missverständliche) internationale Prestige als dekonstruktivistische Vorzeigegruppe eingebracht.


Pop-Artisten, nicht Dekonstruktivisten!

Frank Werner hat in seiner soeben erschienenen Monografie jedoch klar gezeigt, dass dieser Dynamismus jedenfalls nicht aus den linguistischen Wurzeln der Dekonstruktivisten schöpft. Vielmehr hat er psychologische und künstlerische Vorstufen im Experimentarium der Pop-Ära, deren Lebensgefühl nun in dem auf breite Akzeptanz angewiesenen Wohnbau erprobt wird.


Basisdemokratie der Lebensstile

Wohnbau als Versuchslabor neuer Lebensstile - das hat in Wien jedoch eine vielfältige, brisante Bedeutung. Einerseits gibt es hier im sozialen und privaten Geschoßwohnungsbau eine stolze und lange Tradition mit entsprechend verifizierten und verlässlichen Erfahrungen bei Typen, Standards, Akzeptanz, möglichen Konstruktionsarten und infrastruktureller Anbindung. Andererseits wünschen gerade die Wiener sich immer wieder schicke Outfits und prestigeträchtig gehobene Standards.

So übersichtlich diese Lage bisher war, so undurchsichtig sind die Fronten in der digital aufgerüsteten, enthemmten Konsumgesellschaft heute geworden. Denn nun sind es gerade die ehemaligen Standardbewahrer, nämlich Wohnbaugesellschaften und Stadtverwaltung, die sich der „Avantgardisten“ bedienen, um am Markt oder politisch überleben zu können. Der Wohlstand hat eine Art Basisdemokratie der Lebensstile gebracht.


Wandelbare Genossenschaften

Träger dieser neuen Politik sind heute jene Lifestyleanbieter, die vom Wohnpark direkt am Freizeit-Wasser-Paradies bis zum Fernblick über Wien oder dem hemmungslos kultivierten alten Wohn-Sehnsuchtsbild im Grünen jede Wohnmode verkaufen und mittlerweile fast jede vom Nettodurchschnittseinkommen österreichischer Familien ermöglichte Nachfrage befriedigen können. Garanten dieser paradiesisch anmutenden Zustände sind eine gezielte Förderpolitik sowie langfristig berechenbare Rahmenbedingungen am Ort und in der Region (EU und restriktive Zuwanderungspolitik sei „Dank“).


Himmelblauer Formenkanon

Coop Himmelb(l)aus Beiträge zum neuen opulenten Lifestyle-Angebot des Wiener Wohnens sind Experimente mit Raumformen und -funktionen, Lichtverhältnissen - und mit Repräsentation. Auflockerung hoher vorgegebener Dichten, Bewegung von Form und Raum, Vielfalt der Wohnungstypen (um die dreißig Varianten wurden hier realisiert), verglaste Loggien, all das führte in der Folge zu einer skulptural durchgearbeiteten, aber vor allem in den Innenhof hin wirksamen Form.

Es gibt sogar eine Skybridge auf erheblicher Höhe. Die straßenseitigen Außenwände der Anlage lassen - bis auf die auffälligen X-Stützen - kaum Derartiges erwarten. Die vorgegebenen Funktionen wie Geschäftslokale, Kinderbetreuung und ausreichend Garagenstellplätze bieten beträchtlichen Komfort.


Die Coops am Ziel

Der eingangs beschriebene soziologische Trend der Wiener Wohnbauszene zeigt sich auch deutlich im Marketing der Bauherren: Das für hiesige Verhältnisse neue Phänomen der Internetwerbung für Bauvorhaben akzentuiert - wie jede Werbung - vor allem Prestige- und Standardfragen. Wenn aber die ehemalige Architekturavantgarde diesem Unternehmen eine überdurchschnittliche räumliche, funktionelle, energetisch-ökologische und ästhetische Qualität zu (geförderten) Eigentumspreisen liefert, die für die Mittelklasse erschwinglich sind, dann ist Coop's Parforce-Marsch durch die Institutionen wohl als gelungen zu bezeichnen.

ORF.at, Do., 2001.02.08



verknüpfte Bauwerke
Remise

18. Januar 2001Matthias Boeckl
ORF.at

Einfach angemessen

Was ist die angemessene Form der Erinnerung und Aufklärung über die NS-Zeit - und zwar an einem Ort der Täter, nicht der Opfer?

Was ist die angemessene Form der Erinnerung und Aufklärung über die NS-Zeit - und zwar an einem Ort der Täter, nicht der Opfer?

Am Obersalzberg, Hitlers Bergidyll in Oberbayern, das er nach der Machtergreifung 1933 von einer beschaulichen Sommerfrische zu einem zweiten Regierungssitz mit eigenen Häusern aller Mitglieder seiner Machtclique ausgebaut hatte, sammelt man seit einem Jahr Erfahrung mit einer nüchternen Dokumentation, die in einer unspektakulären, dennoch einprägsamen Architektur untergebracht ist.


Keine Inszenierung

Auch Nicht-Architekten unter den Besuchern - und auf die kommt es schließlich an - wird auf den ersten Blick klar, dass die steinernen Erdgeschoßmauern von Hitlers „Gästehaus Hoher Göll“ von einer eindeutig zeitgenössischen Holz-Glas-Konstruktion mit Satteldach gleichsam kritisch kommentiert werden. Auf weitergehende Architektureffekte wurde zugunsten der präzisen Ausstellung des renommierten Münchner Instituts für Zeitgeschichte bewusst verzichtet.

Der einfache und in vielerlei Hinsicht funktionierende Entwurf stammt nicht aus der Feder eines Stararchitekten, sondern - vom Staatlichen Hochbauamt Traunstein. Ein Beleg für die Vermutung, dass das Unsägliche eben nicht nur mit Symbolen, sondern auch mit nüchternen Dokumentationen in unprätentiösen Bauformeln eindringlich vergegenwärtigt werden kann.


Die Probleme des Feuilletons

Sarkastische Feuilletonberichte zeigen die Unfähigkeit des Milieus, sich aus der wichtigeren Sicht der Nutzer, statt bloß jener der bauenden Zeichensetzer und Kunstschreiber mit der heiklen Materie auseinander zu setzen. Besonders die „Süddeutsche“ ließ diesbezüglich keine Platitude aus. Sie illustriert damit aber nur die herrschende Ratlosigkeit angesichts der offensichtlichen Verzichtbarkeit auf theatralische Inszenierungen für sachliche Dokumentationen im Kontext eines Täterorts.


Schlichte Aufbereitung

Die Dokumentationsstelle ist keine auf spektakuläre Formen hin angelegte Überwältigungsinszenierung, sondern eine schlichte bauliche Hülle (in den Abmessungen des zerstörten Vorgängerbaus), in der kompakt und kritisch die Geschichte des Orts und jene des Regimes referiert wird - übrigens begleitet von den wohl besten zur Zeit erhältlichen Kurzdarstellungen in Buchform über „Die tödliche Utopie“ (von Horst Möller, Volker Dahm und Hartmut Mehringer) und den „Obersalzberg, das Kehlsteinhaus und Adolf Hitler“ (von Ernst Hanisch).

Die Einrichtung der Ausstellung vom Münchner Büro Claus + Forster bespielt das „filigrane“ Volumen auf zwei Ebenen in einer nicht weniger unaufgeregten Haltung: Architekturmodelle der zahlreichen Nazibauten am Obersalzberg sind hier ebenso zu sehen wie Fotos, Videos, reproduzierte Dokumente und Originalgegenstände. In der von Holzlamellenwänden leicht gedämpften Tagesdurchlichtung des Pavillons erscheinen diese Exponate keineswegs „magisch“ oder sonst wie irrational, sondern sind, was sie sind: Verdichtete Information.


Geschichte einer Dokumentation

Beim Besuch hat man nicht den Eindruck, dass es einer anderen, spektakuläreren Darstellung bedurft hätte. Wer den Weg von der Straße zur Dokumentation hinuntersteigt und dabei an den Fundamentmauern der NS-Einrichtungen vorbeigeht, wer durch ein Waldstück weiter hinunter zu den Grundmauern des 1952 von der US Army gesprengten „Berghofs“ Hitlers geht, der hat mit Sicherheit ein offenes Auge für die Brisanz des Terrains.

Das Projekt kam zustande, als die Vereinigten Staaten das 1945 bombardierte und seither in ihrer Armeeverwaltung befindliche Gelände 1995 dem Freistaat Bayern übergaben. Die schwierige Frage des angemessenen Umgangs damit (ein Verkauf, womöglich an
Nazinostalgiker, kam nicht in Frage) wurde durch Vergaben in Erbpacht gelöst, so dass der Freistaat bei unerwünschten Betriebsformen die Güter auch wieder einziehen kann. Ein Ort jedoch, und hier fiel die Wahl auf die Ruine des „Gästehauses Hoher Göll“, sollte der objektiven Information über die Geschichte des Berges dienen, auf dem vor 1933 auch Arthur Schnitzler und Sigmund Freud Sommerfrischen verlebt hatten.

Das für Staatsliegenschaften zuständige Finanzministerium entschloss sich jedoch nicht, wie die Berliner bei ihrer Topographie des Terrors (Informationsräume über den Ruinen des „Reichssicherheitshauptamtes“), zu einer künstlerischen Diskussion, sondern plante in Eigenregie den Dokumentationspavillon. Wie immer man zu dieser Vorgangsweise stehen mag - fest steht, dass auf diese Weise rasch ein inzwischen sehr gut besuchter, eindringlicher Informationsort entstanden ist.


Ausbau folgt

Manko oder Bestätigung - der Raum ist bereits zu eng und so trägt man sich mit dem Gedanken, im nahegelegenen ehemaligen „Plattnerhof“, dem ersten Tourismusbetrieb am Ort, der nach 1945 den Amerikanern als Erholungsheim diente und eigentlich abgebrochen werden sollte, eine Erweiterung um Seminarräume einzurichten. Auch hier sollen historische Bauschichten (Jahrhundertwende, NS-Zeit, US-Zeit) klar erfassbar freigelegt werden. Die einfache Demonstration bei gleichzeitiger begleitender Dokumentation ist auch hier das Mittel der Wahl - und womöglich effizienter als anspruchsvollere künstlerische Interpretationen.

ORF.at, Do., 2001.01.18

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Presseschau 12

23. Juni 2003Matthias Boeckl
ORF.at

Städtebau als Kommunikations-Kunst

Ist es noch Illusion oder schon Realität des postindustriellen Medienzeitalters, dass ein grundlegender und nachhaltiger Stadtumbau eher durch „weiche“ Kulturfunktionen als durch traditionelle „harte“ Jobfaktoren wie Industrie und Gewerbe gelingen kann?

Ist es noch Illusion oder schon Realität des postindustriellen Medienzeitalters, dass ein grundlegender und nachhaltiger Stadtumbau eher durch „weiche“ Kulturfunktionen als durch traditionelle „harte“ Jobfaktoren wie Industrie und Gewerbe gelingen kann?

Die „europäische Kulturhauptstadt Graz 2003“ bietet viele Antworten auf brennende Fragen der aktuellen Stadtdebatte wie diese. Sie versteht sich, worauf Wolfgang Lorenz, Fernsehmacher und Programmintendant der Hauptstadt-Veranstaltungen, insistiert, eben nicht als „Festival“, sondern als eine Art Bewegung zur Formulierung einer neuen Stadtidentität, eines neuen Selbstverständnisses der Grazer.


Die Probleme einer Kulturhauptstadt

Der Anlass für die zahlreichen Maßnahmen im Bereich Architektur und öffentlicher Raum war die Ernennung zur (einzigen) „Kulturhauptstadt“ Europas für das Jahr 2003. Was das bedeutet, weiß niemand, denn mit der Ernennung ist keine feste Programmplanung verbunden. Jede Stadt muss ihre Inhalte selbst definieren.

Jede Stadt hat aber auch andere Problemlagen, manche Städte haben intakte urbane Strukturen, funktionierende öffentliche Institutionen und Infrastruktur, ausreichend Arbeitsplätze, Wohnungen und Freizeiteinrichtungen, viele jedoch nicht.


Zwischen bürgerlicher Idylle und Avantgarde

Was waren die „Probleme“ von Graz vor der „2003“-Bewegung? Die Landeshauptstadt der Steiermark hatte unter den europäischen Städten mittlerer Größe (226.244 Einwohner) schon bisher eine eigenartig ambivalente Positionierung. Graz, das stand lange Zeit für eine gewisse Isolierung in der südöstlichen Ecke des „freien“ Europa.

Graz lebte stets aus ziemlich eindeutigen Gegensätzen. Hier die beeindruckende Altstadt und die konservative Bourgeoisie nebst untergründigen NS-Nostalgien, da die „Avantgarde“, die es leicht hatte, mit Realismus und Aktionismus jede bürgerliche Idylle zu verstören.


Stagnation in den 80er Jahren

Wirtschaftlich stand die Stadt stets unter dem starken Einfluss ihrer großen Industriebetriebe und ihrer natürlichen Funktion als administratives Regionalzentrum. Beides wirkte sich eher konservierend aus, bis in die 1980er Jahre waren hier kaum Faktoren wirksam, die zu einer regelrechten Stadttransformation hätten führen können.


Kultur als urbaner Kick-Off?

Mit den Projekten zu „Graz 2003“ könnte der Kick-Off zu einer wirklich zeitrichtigen Stadtentwicklung entstanden sein. Und hier hat man die Chance, bereits aus den Gefahren des „New Economy“-Hype zu lernen.

Keine Kultur ausschließlicher Virtualität künstlich hochzufahren, sondern das Kunststück zustande zu bringen, physisch greifbare Stadtinterventionen in Form von Bauten und Infrastruktur mit der „virtuellen“ Stadt einerseits und dem gewachsenen Bestand andererseits derart zu verweben, dass (etwa durch Kulturtourismus) sowohl rasche Aufwertungseffekte entstehen als auch Keime für nachhaltige Entwicklungen und die Möglichkeit der Änderung und Anpassung der nun entworfenen Strukturen.


Quadratur der Kreises

Das klingt nach der Quadratur des Kreises, in der Praxis zeigt sich aber, dass Stadtumbau durch Kulturfunktionen tatsächlich die eminente Gefahr der Reduktion einer historischen Kernstadt auf eine nur saisonal genutzte und von langjährigen Einwohnern klinisch gesäuberte Kulisse für den Tagesausflug der kulturinteressierten A-Schicht oder den einfachen Bummel anderer Besucher wird. Diese Gefahr ist in Innsbruck und Salzburg bereits zur Realität der Verödung der historischen Kernstadt geworden.


Wende durch Termindruck

„Graz 2003“ brachte weniger durch einen langjährig von Stadtplanern erarbeiteten Masterplan die (hoffentlich funktionierende) Wende zustande, sondern eher durch den Termindruck, der die Stadtverwaltung förmlich zwang, den Ideen von Programmintendant Lorenz zu folgen, um nicht zum Eröffnungszeitpunkt ohne spektakuläre Events und Institutionen dazustehen.


Neues Bauen in Graz

An Bauten entstanden sowohl Projekte, die direkt auf Initiative der Programmplanung zurückgehen als auch solche, die gleichsam parallel dazu mit Rückenwind des zunehmend dynamischen Planungsgeschehens von unabhängigen Bauträgern errichtet wurden.

Das Bauspektrum umfasst das Literaturhaus von Riegler Riewe, die Stadthalle von Klaus Kada, die „Listhalle“ von Markus Pernthaler, das Kindermuseum von fasch & fuchs, das Kunsthaus von Cook & Fournier (ein Joint Venture von Bund, Stadt und Land, ohne Beteiligung des Programmbudgets für Graz 2003), die von der Bundesbahn vorgezogene Bahnhofsrenovierung von Zechner & Zechner mit der Kunstintervention von Peter Kogler, die Murinsel von Vito Acconci, die Gestaltung der Stadteinfahrten durch mehrere junge Architektengruppen, die Umbauten am Flughafen von Markus Pernthaler, der ironische „Uhrturmschatten“ von Markus Wilfing, zahlreiche Großplastiken im öffentlichen Raum unter dem Titel „Concrete Art“, das Café „Graz 2003“ von Hans Gangoly und der „Marienlift“ bei einer barocken Mariensäule von Richard Kriesche. Und nun wurde auch das Volkskundemuseum der jungen Architektengruppe BEHF eröffnet.


Identifikationsfaktor Kultur

Diesmal sollte das Kulturprofil der Stadt nicht unabsichtlich entstehen, wie das in jenen seligen Avantgardejahren der Fall war, als Graz seine Kunstschaffenden eher als Plage empfand, die nur noch mehr ähnliche Plagegeister anzog. Sondern es wurde bewusst auf eine hochwertige kulturelle Infrastruktur gesetzt, mit der sich alle Grazer identifizieren sollten und die zumindest eine Chance auf zukünftige Plattform weiterer Entwicklungen bot.


Vito Acconcis Event-Arena

Das Motto „für jeden etwas“ scheint der Schlüssel für eine breite Identifikation der Bevölkerung mit dem Gebotenen zu sein, das dadurch zu einem Erarbeiteten wird. Und in dieser Unbekümmertheit entstanden fast beiläufig oder zufällig die städtebaulich interessanten Kunst-Verdichtungen. Eher intuitiv scheint im Intendanten die Erkenntnis gereift zu sein, dass die Mur, jener Fluss, der die Stadt in zwei ungleichwertige Hälften teilt, das Gelenk und der Brennpunkt einer integrierenden Neudefinition sein muss.

Das Angebot des New Yorker Universalkünstlers Vito Acconci, eine künstliche Insel im Fluss zu errichten, lag bereits längere Zeit vor, als Lorenz plötzlich sein Potenzial erkannte. Mit dieser räumlichen Verbindung zwischen den traditionellen Kulturstätten der Innenstadt und der eher gewerblich-industriell orientierten „anderen“ Flussseite konnten - neben der gelungenen Stadtstimulation - gleich mehrere Effekte erzielt werden.


Neues Kunsthaus

Das neue Kunsthaus, ein regionales Museum moderner Kunst, das auf eine lange und traumatische Planungszeit in mehreren Wettbewerben an immer wieder verworfenen Standorten zurückblickt, war bereits unter dem Erfolgs- und Termindruck des Hauptstadtjahrs auf dieser „anderen“ Seite angesiedelt worden. Gleich daneben befindet sich schon seit langem ein weiteres Kunstzentrum: Die Veranstaltungsräume der Minoriten, die hier seit Jahrzehnten einen gut eingeführten Kunstplatz betreiben.

Diese beiden Häuser ließen sich nun durch die Insel nicht nur gut mit der am anderen Flussufer liegenden Altstadt verbinden. Das muschelförmig-bizarre Stahlobjekt von Acconci, das halb eingeschlossener Raum, halb ausgehöhlte Event-Arena ist, definiert auch seinen eigenen Raum, besetzt den bislang als Niemandsland und als Zäsur fungierenden Fluss, und es generiert in seinem Umfeld neue Wege, eine Aufwertung des Umfeldes und neue Sichtachsen. „Es ist heute unvorstellbar für alle, dass diese Insel wieder demontiert wird“, sagt Lorenz, „es ist ein Herzstück von Graz 2003, das kräftig schlägt, wir haben hunderttausende Besucher auf dieser Insel gehabt, es ist immer voll.“


[Graz 2003 als Bewegung zur Formulierung einer neuen Stadtidentität? Den Originalbeitrag von Matthias Boeckl finden Sie in architektur aktuell.]

ORF.at, Mo., 2003.06.23

29. Januar 2003Matthias Boeckl
ORF.at

Kill Speed

In einer Jahrhunderte alten, großen Wallfahrtskirche lagern sich die baulichen Eingriffe verschiedenster Perioden lesbar in Schichten ab.

In einer Jahrhunderte alten, großen Wallfahrtskirche lagern sich die baulichen Eingriffe verschiedenster Perioden lesbar in Schichten ab.

In einer Jahrhunderte alten, großen Wallfahrtskirche lagern sich die baulichen Eingriffe verschiedenster Perioden lesbar in Schichten ab. Sie reflektieren das kontinuierlich erneuerte religiöse Verständnis in seiner baulichen Fassung.

Auf Initiative der neuen geistlichen Führung des Wallfahrtsbetriebs ergänzt und verbessert nun eine aktuelle Interpretation der Liturgie im Altarbereich der Basilika und eine auch denkmalpflegerisch subtile Anpassung des benachbarten geistlichen Wohnhauses an heutige Bedürfnisse die historischen Sedimente.


Langer Atem gefordert

Wie in allen bedeutenden und großen historischen Baukomplexen ist auch im kirchlichen Bereich die langsame Anpassung an aktuelle Nutzungsanforderungen eine zähe Angelegenheit, die dem Architekten ein Höchstmaß an Geduld, Einfühlungsvermögen und geschickter Kommunikation mit dem Bauherrn abverlangt.

Hier winkt nicht der Ruhm eines in Schnellschüssen erreichten spontanen Geniestreichs, sondern nur das beharrliche und bedächtige Voranschreiten über viele Jahre hinweg. Kontinuierlich auf ein Ergebnis hinzuarbeiten, das dann letztlich als Selbstverständlichkeit, nicht als spektakuläre Architektur-„Intervention“ erscheint, ist hier das tägliche Brot des Planers. Und es ist keineswegs ein trockenes, wie manche meinen, sondern ein saftiges, opulentes Eintauchen in kulturelle und religiöse Werte vergangener Jahrhunderte, die noch sehr lebendig sind und unter der Hand des Architekten auch in heutigen Zeiten aufblühen können.

Wie in allen anderen Bauaufgaben spielt aber auch hier der Bauherr eine entscheidende Rolle. In großen Institutionen kann seine leitende Funktion leicht hinter Gremien und verschachtelten Zuständigkeiten verschwinden - das gilt für Wirtschaftsunternehmen ebenso wie für Staat und Kirche. Gibt es jedoch eine engagierte Führungskraft, die das Weiterbauen am Betrieb zur Kernaufgabe des Managements macht, dann gibt es - Fortschritt!


Neue Besen

Als 1991 ein neuer Superior für die, vom Benediktinerstift St. Lambrecht in der Steiermark seit ihrer legendenumwobenen Entstehung 1197 als Filialbetrieb betreuten, weitaus größten Wallfahrt Österreichs eingesetzt wurde, war das alte Wohnhaus der Mönche schon ein Sanierungsfall. Zudem war die Pilgerfrequenz nach der Ostöffnung sprunghaft angestiegen - Mariazell ist immer noch eine Art zentrale Wallfahrt für alle Länder der ehemaligen Habsburgermonarchie - und erforderte in Basilika und Wallfahrtsadministration grundlegende Neuerungen.

Der neue Superior Pater Karl Schauer, für Architekturfragen im Umkreis des kunstsinnigen Bischofs Egon Kapellari sensibilisiert, trat mit kleinen Umbauideen zunächst an Hubert Riess heran, der diesen „Auftrag“ an Wolfgang Feyferlik weitergab. Der erarbeitete 1992 gemeinsam mit Georg Giebeler eine Studie, die nun bis 2007 nach und nach umgesetzt werden soll.


Komplexe Anforderungen

Das „geistliche Haus“ ist ein historisch gewachsenes Konglomerat verschiedenster Funktionen. Der behäbige, breit hinter der Basilika lagernde, Bau dient nicht nur den Mönchen von St. Lambrecht, die hier den Wallfahrtsbetrieb organisieren und geistlich betreuen, als Wohnhaus mit Hauskapelle, sondern auch als Büro für ihr Superiorat, der lokalen Pfarre als Amtssitz, beiden gemeinsam als Archiv und Depot sowie dem Bischof und anderen hohen geistlichen Würdenträgern als repräsentatives Pied-a-terre.

Mit dieser Aufzählung sind vermutlich längst nicht alle Funktionen dieses hybriden Baus genannt, der schon seit Jahrhunderten, längst vor Erfindung des Architekturjargons, allen möglichen Zwecken „generic spaces“ zur Verfügung stellt.


Neuorganisation

Die Aufgaben der Architekten bestanden hier vor allem in der Sanierung, Neuorganisation und Einrichtung der Innenräume. Der Reihe nach wurden ein Aussprachezimmer, der Gebetsraum, zehn Wohnräume mit eingestellten Nasszellen, eine Studiengalerie für Votivbilder, ein anstelle der ehemaligen Geschoß-WCs eingestellter „Bäderturm“, eine Bibliothek, die Prälatur (repräsentative Wohnräume für Abt, Bischof u.ä.), das Superioratsbüro, die Pfarrkanzlei, der Dachboden mit Archivräumen sowie im Untergeschoß ein Veranstaltungsraum für Pilger eingerichtet.

Die Räume der Geistlichen sollten im südlichen Trakt konzentriert und um den Innenhof (in dem noch ein unschöner Einbau vergangener Jahrzehnte steht) halböffentliche Zonen situiert werden. Die letzte Ausbaustufe sieht vor, dass der Innenhof vom Zubau befreit und von neuen Galerien gefasst wird.


Zeitgemäße Liturgie

Den Auftrag zum Umbau des Altarraums der Basilika nahm Feyferlik erst nach reiflicher Überlegung an. In seinem Sanierungskonzept von 1992 war nur die für Reliquien vorgesehene Turmkammer angesprochen worden, der 1693 bis 1704 von keinem Geringeren als Johann Bernhard Fischer von Erlach errichtete Hochaltar hingegen erschien eher als Arbeitsgebiet der hier erfolgreich und engagiert tätigen Restauratorin Erika Thümel und einer eigens eingerichteten Liturgiekommission.

Im 20. Jahrhundert war der Altarbereich zweimal umgestaltet und dabei unter anderem auch der markante Tabernakel in Form einer Weltkugel von Fischer von Erlach versetzt worden. Clemens Holzmeister hatte später das Presbyterium neu eingerichtet.

Superior Pater Karl wünschte ursprünglich eine sofortige und radikale Umgestaltung durch Feyferlik, 1997 entschied jedoch die Liturgiekommission, einen geladenen Wettbewerb mit einer Handvoll Architekten aus der Region für die Umgestaltung des Altarbereichs samt Orgel auszuloben, den Feyferlik für sich entschied.


Arbeit am Altar

Das Wettbewerbsprojekt sah einen Altarblock aus Paraffin vor, ein Material, das der Kommission jedoch unangemessen erschien. Feyferliks alternativer Vorschlag, den deutschen Bildhauer Ulrich Rückriem mit der Anfertigung des Altars zu beauftragen, wurde jedoch umgesetzt.

Die übrigen Möbel entwarfen die Architekten selbst, und wie schon im Geistlichen Haus waren alle Maßnahmen auf Klärung und Herausarbeiten der originalen Charakterzüge des Baus ausgerichtet: Die rezente Marmorierung der Wände wurde weiß abgedeckt, die störenden Buntfenster hinter dem Kruzifix am Hochaltar von einer weißen Textilbespannung ausgeblendet, die Bodenfläche des Presbyteriums klar definiert und vor allem eine neue Orgel gestaltet.


Architektonische Antithese

Otto Kapfinger hat in einer Beschreibung der fünfzehnjährigen Kampagne zur Sanierung und Adaptierung von geistlichem Haus und Basilika von Mariazell die Formel „Kill Speed“ geprägt, um auf eine angemessene Geschwindigkeit solch komplexer Vorhaben hinzuweisen, die im radikalem Kontrast zum modischen „Speed Kills“-Eifer selbsternannter „Sanierungsprofis“ steht. Nach mehr als 800 Jahren Wallfahrtsbetrieb am Platz ist auch keinerlei Hektik angebracht - denn die Interventionen von Feyferlik/Fritzer haben schon nach kürzester Zeit ihre positive Wirkung bewiesen, die im Endausbau noch gesteigert sein wird.


[Den ungekürzten Originalbeitrag von Matthias Boeckl finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.]

ORF.at, Mi., 2003.01.29



verknüpfte Bauwerke
Orgel Basilika Mariazell

11. Dezember 2002Matthias Boeckl
ORF.at

Schule in Wien-Donaustadt

Das Flächenwachstum einer Stadt kann - selbst unter den streng kontrollierten Wiener Bedingungen - zu ungewöhnlichen Maßstabskollisionen führen.

Das Flächenwachstum einer Stadt kann - selbst unter den streng kontrollierten Wiener Bedingungen - zu ungewöhnlichen Maßstabskollisionen führen.

Das Flächenwachstum einer Stadt kann - selbst unter den streng kontrollierten Wiener Bedingungen - zu ungewöhnlichen Maßstabskollisionen führen. Der alte Ortskern des Stadtrand-Dorfes Aspern, wo man bis vor wenigen Jahren nur kleine und niedrige Bebauungen kannte, wird nun von einer Welle großer Wohnbauten umspült, deren dort heranwachsende Schülergeneration wieder neue, großvolumige Schulbauten fordert.

Die Wiener Architekten henke und schreieck haben es verstanden, diese schwierige Lage in einer Struktur zu lösen, die vor allem auf die Qualität der Offenheit setzt. Die Maßstabskollisionen in Aspern verlaufen entlang scharf gezogener Frontlinien: Hier das alte Dorf mit seiner ein- bis zweigeschossigen Bebauung, an seinem Westrand die neuen Wohnbauten der „Erzherzog-Karl-Stadt“.


Das Umfeld

Im Norden des Dorfes liegt die Siedlung Pilotengasse von „Herzog & de Meuron, Steidle und Krischanitz“: Hier wollte die Stadt Wien noch in den 80er Jahren beweisen, dass Suburbanisierung auch in Gartenstadt-Proportionen funktionieren kann. Diese ortsüblichen Maßstäbe wurden auch im dörflichen Gewebe selbst erprobt: „Ceska/Priesner“ realisierten hier 2000 einen Wohnbau mit höherem, mulitfunktionalen Frontteil zum langgezogenen alten Dorfplatz hin (architektur.aktuell 1-2/2001).

Er heißt übrigens „Siegesplatz“, was ausnahmsweise einmal nicht, wie in Bozen, auf Konflikte des 20. Jahrhunderts anspielt, sondern auf einen Schlachterfolg der österreichischen gegen die napoleonischen Heere vor zweihundert Jahren. Im Süden des Dorfes, zwischen Einfamilienhäusern, einem postmodernen Wohnbau-Experiment der Stadt Wien (Tesar, Pruscha und andere) und einem großen offenen Feld, entstand nun nach einem Wettbewerb des ambitionierten Bauherren, der Immobiliengesellschaft der Republik Österreich, ein großes Schulzentrum mit drei darin angesiedelten einzelnen Schultypen, um dem zu erwartenden Bedarf dieses Stadterweiterungsgebietes gerecht zu werden.


Wettbewerb notwendig

Es wäre schön, wenn im österreichischen Schulbau - einer klassisch „öffentlichen“ Bauaufgabe, die etwa in Großbritannien schon fast vollständig „privatisiert“ ist - nun tatsächlich so etwas wie ein positiver Wettbewerb zwischen zwei Anbietern entstanden wäre: dem seit der Ära von Stadtrat Swoboda ehrgeizigen Schulprogramm der Stadt Wien und den seit der Ausgliederung in die „Bundesimmobiliengesellschaft“ aus der unmittelbaren Ministerialverwaltung entlassenen Bundesbauten. Denn dabei gibt es nur Gewinner: Nutzer, Bauherr und Umfeld am Standort.


Leicht und schwebend

Die Ästhetik von „henke/schreieck“ ist mittlerweile zum kreativen Leitbild einer ganzen Generation geworden (und unlängst in einer Ausstellung im neuen österreichischen Kulturforum in New York auch so präsentiert worden): Man könnte fast von einer Fortsetzung des Internationalen Stils der 30er Jahre mit den Zugaben der heute möglichen Glas- und Betontechnik sowie einer leichten, schwebenden, geradezu fernöstlichen Anmutung sprechen.

Das Architekten-Team hat als erstes in Österreich diese Sprache entwickelt, kultiviert und mit steigender Erfahrung zu immer präziseren technischen Lösungen geführt, die allerdings auch den hier Tätigen einen Abschied von alten Schau- und Nutzungsgewohnheiten abverlangen.


Konflikte um „Glaskisten“

Denn das sind die Kernpunkte der Konflikte um die aktuellen „Glaskisten“: Sie erfordern (und ermöglichen ressourcenbewusst) nicht nur andere Heiz- und Lüftungsmaßnahmen als das traditionelle Mauerwerk mit Fensterlöchern, sondern stimulieren auch völlig andere Raumempfindungen, als man das jemals mit einer Schule in Zusammenhang zu bringen gewohnt war - ein Eck-Klassenraum etwa lässt Schüler und Lehrer mit seinen tatsächlich durchgehend raumhoch verglasten Außenwänden in Baumwipfelhöhe zwischen Vegetation und Wohnhäusern schweben.


Spielerische Bewältigung

Gewiss ist es nicht leicht, 1.000 Schüler samt dem nötigen pädagogischen und administrativen Apparat zum Schweben zu bringen. „henke/schreieck“ bewältigen das scheinbar spielerisch mit wenigen Gesten:

Das nötige Volumen wird auf vier Trakte verteilt, die einen locker umfassten Innenhof bilden, erhebliche Teile werden unter das Bodenniveau gedrückt und die Erschließungszonen fast wie Freiräume mit zumindest einer durchlaufenden Glaswand ausgebildet. Nur im Brückentrakt über dem Eingang, der konstruktiv wie eine Waage auf wenigen ultraschlanken Stahlstützen balanciert, gibt es die berüchtigte Mittelflurerschließung, die aber von Glaswänden an beiden Enden und Lichtkuppeln von jedweder Dumpfheit befreit wird.


Gleiten und Fassen

Die Bibliothek sitzt als Glashaus in einem Verbindungstrakt, der sich wiederum auf die Terrasse über den rückseitig angelagerten Sportsaal öffnet, der „Innenhof“, der in Wahrheit ein einladend offenes Atrium ist, geht über ein paar Treppenstufen unter der holzverschalten „Brücke“ in den Straßenraum über, und die eigentlichen Klassenräume wirken, als ob sie in den umgebenden Kornfeldern lägen.

Der Bau ist ein subtiles Spiel von Gleiten und Fassen. Trotz - oder gerade wegen - der technischen Raffinesse von Fassaden, Konstruktion und Disposition der Volumina ist dieses „Stilelement“ (ja, es gibt ihn noch, den Stil!) stark wirksam. Die Elemente gleiten durch den Bau und zeigen an den Kanten ihre Materialstärke oder Schnittflächen: Die Geschossplatten gehen als umlaufendes Gesims von Kante zu Kante durch, die Sichtbetonwände und die Glasflächen laufen bündig aus, etc. Das alles ist natürlich nur auf Basis einer klaren Konstruktion mit großzügigem Stützenraster der schlanken Säulen möglich. Alles ist auf Horizontalität und Reihung abgestellt, die Ablesbarkeit des Gebäudes ergibt sich daraus ganz selbstverständlich.


Verschiedene Raumgrenzen

Die Asymmetrie der Volumina (das forderten schon 1932 Johnson und Hitchcock im Manifest zu ihrem „International Style“) bildet zum Innenhof hin verschiedene Raumgrenzen aus - eine abgetreppte mit Dachterrasse links und eine zweigeschossige Glaswand rechts. In diesem Trakt ist auch das Untergeschoss für Spezialklassenräume genutzt und an der Gebäudeaußenseite am angesenkten Terrain verglast.

Der gegenüberliegende Trakt ist ebenfalls dreigeschossig, nutzt aber das Untergeschoss für die Garage. Das Klimakonzept - essentiell für Glashäuser - basiert auf der Zirkulation kühler Luft, die sich (manchmal aus dem unterirdischen „Frischluftbrunnen“) durch halbgeöffnete Türen, Lüftungsklappen in den Glasfassaden und Ventilatoren am Dach bewegt. Die Verschattung der Fassaden erfolgt durch außenliegende Jalousien an den Klassentrakten und Lamellen am Sportsaaltrakt.


Raum für alle

Die öffentlichen Räume machen den Bau auch zu einer Art Gemeindezentrum: Die abgesenkte Dreifachturnhalle (mit raffinierter Dachkonstruktion) kann als mittelgroßer Veranstaltungssaal genutzt werden.

Die Raumeinheit von Bühne und Speiseraum bildet ein weiteres Forum und der Innenhof kann ebenfalls für außerschulische Aktivitäten genutzt werden. Die kühle Eleganz, die Präzision und die gleitende Selbstverständlichkeit aller Bewegungen im Haus tragen dabei einiges zur Attraktivität des Veranstaltungsortes bei.


[Den Originalbeitrag von Matthias Boeckl finden Sie in architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift.]

ORF.at, Mi., 2002.12.11



verknüpfte Bauwerke
AHS Heustadelgasse

03. August 2002Matthias Boeckl
Der Standard

Gefangen in der Moralfalle

Was ist und wie verändert sich die Rolle von Architektur heute? Ein breit angelegter Berliner Kongress auf der Suche nach Antworten.

Was ist und wie verändert sich die Rolle von Architektur heute? Ein breit angelegter Berliner Kongress auf der Suche nach Antworten.

Um die 4000 Architekten versammelten sich vergangene Woche in Berlin beim Kongress der „Union Internationale des Architectes“. Das globale Megaevent der Architektur findet in dreijährigem Rhythmus statt und wurde diesmal unter das Motto „Ressource Architektur“ gestellt. In zahllosen Referaten, begleitenden Ausstellungen und Diskussionen versuchte die Weltgemeinde der Architekten fünf Tage lang, ihre Rolle im Zeitalter von Globalisierung, sozialen und ökologischen Krisen neu zu definieren. Im Mittelpunkt standen dabei - was unter deutscher Regie zu erwarten war - tief bohrende Fragen an die eigene Moral sowie politische Forderungen, wie man sie sonst eher von NGO-Meetings am Rande der G-8-Gipfel kennt.

Eines war schon 1922 dem Modernepionier Le Corbusier klar: Architekten können sich im Industriezeitalter nicht mehr darauf beschränken, einfach nur schöne Häuser zu bauen, sondern sie müssen avancierte Technologien adaptieren und in der Architektur künstlerisch einsetzen. So entstand das „Wohnhaus als Maschine“. Achtzig Jahre später hat sich das komplexe Fachwissen, das Architekten im täglichen Überlebenskampf erwerben und einsetzen müssen, vervielfacht.

Nach der Industrieverklärung Le Corbusiers stürzte eine wahre Wissensflut über die Planer: Mit dem Ölschock das Öko-Know-How, im Zeitalter des Neoliberalismus grundlegende Strategiekenntnisse der Investmentpolitik und nun, im globalisierten Infoage, auch noch digital gestütztes „globales“ Verantwortungsbewusstsein - und das alles in der Zwickmühle zwischen extremem Kostendruck und hinterfragbaren Investorenwünschen auf Bauherrenseite einerseits und den humanitären Idealen des Planers lebenswerter Umwelten andererseits.

Kein Wunder, dass sich da mitunter Resignation breit macht und so mancher Architekt sich auf eine Philosophie des „Machbaren“ zurückzieht. Ginge es nach den Organisatoren des jüngsten „Weltkongresses“ der Architekten, dann müssten die Baukünstler angesichts der prekären Lage unseres Planeten und seiner Bewohner noch radikalere Konsequenzen ziehen - und ihr Ureigenstes, den Entwurf neuer Bauten, sofort aufgeben. Architekten dürften dann bestenfalls umbauen und ergänzen, und auch das nur mit einem Rück- und Abbauplan im Kopf, der den umweltgerechten Kreislauf der verwendeten Materialien sicherstellt - das forderte Karl Ganser, Sprecher des wissenschaftlichen Komitees, im Habitus eines Priesters.

Doch nicht alle Architekten denken derart fundamentalistisch: „Das ist gegen alles, was in der Architektur Spaß macht“, meint dazu der experimentierfreudige Shootingstar der deutschen Architekturszene, Matthias Sauerbruch. Und: Die Architektur sei doch vor allem eine Disziplin der Innovation, des räumlichen Ausdrucks und der Formen.

In der Tat besteht die Gefahr einer Moral-Falle: Denn die Architekturdisziplin sieht sich heute von derart vielen Harte-Fakten-Wissenschaften und moralischen Forderungen umstellt, dass kaum mehr Raum und Zeit für ihre „Kernkompetenz“ bleibt - nämlich die (nicht selten intuitive) Schöpfung von funktionierendem und stimulierendem Lebensraum. Oft genug werden zudem „unflexible“ Architekten von Investoren an der Planung großer Baukomplexe nur mehr am Rande und ohne jeden Einfluss beteiligt.

Auf dem Berliner Kongress wurde anlässlich dieses Krisenszenarios vielerlei diskutiert: Das Bild des Architekten schwankte zwischen dem eines Experten, der sich immer weiter von seinen ursprünglichen Handlungsfeldern weg-entwickelt, und weiterhin dem des Bauers „schöner Häuser“. Das war zwar nicht die Sache der großen Stars, von denen nur Dominique Perrault und Lord Norman Foster am Programm standen.

Die expressive Fraktion zwischen Frank Gehry und Zaha Hadid ersparte sich lieber die quälende Selbstbefragung. Für größte Vielfalt war aber allein schon durch die Herkunft der Teilnehmer aus China, Kasachstan, Brasilien und Ländern der westlichen Hemisphäre gesorgt. Besonders die beginnende Selbstkritik der bisher weitgehend an schlechten westlichen Praktiken orientierten neuen chinesischen Architektur scheint viel versprechend, ebenso ökologische Ansätze aus Südamerika.

Unter allen Positionen der Architektenpraxis steht jedoch, so scheint es, heute nur noch eine einzige, noch dazu eine klassische, als weitgehend integer da: Ausgerechnet die Ingenieure, die oft für die desaströsen Auswirkungen der Großtechnologie auf unsere Umwelt verantwortlich gemacht werden, können heute ästhetische, ökologische, wirtschaftliche und soziale Forderungen an das Bauen perfekt zur Deckung bringen.

Der konstruktive Ingenieurbau, so referierte es eindrucksvoll Jörg Schlaich, der globale Doyen dieser Disziplin aus Stuttgart, sei nicht nur materialsparend und elegant. Die technische Infrastruktur nehme auch eine geradezu geopolitische Bedeutung an: Das beweise weltweit die direkte Koppelung des Bruttoinlandsprodukts an das Ausmaß vorhandener Straßen- und Bahnkilometer. Vor allem den radikalen Ökologen schrieb Schlaich Unerhörtes ins Stammbuch: Man solle mittels der funktionierenden, aber politisch boykottierten Technik riesiger Solarkraftwerke, die just in den ärmsten Ländern der Welt am besten funktionierten, doch die Entwicklungsländer an unserem Konsum verdienen lassen.

Ein neues, lustvolles Energiekonsumieren hierorts wäre die aparte Folge davon. Nicht immer werden die Architekten derart Fundamentales zur Weltzukunft beisteuern können. Dennoch hatte ihre Weltversammlung immerhin den Erfolg, sich Mut zu machen in der unverzichtbaren gesellschaftlichen Rolle, die Architekten nach wie vor spielen: als gestaltende, nicht bloß moderierende Koordinatoren verschiedenster Disziplinen. Diese kreative, eigentliche Triebkraft des Architektendaseins sollte die heute unverzichtbare Ressourcen-Moral eigentlich schon eingebaut haben.

Der Standard, Sa., 2002.08.03

28. Juni 2001Matthias Boeckl
ORF.at

Amnestie für die Realität

Den Originalbeitrag von Matthias Boeckl zur Planungsphilosophie von Ortner & Ortner finden Sie in architektur aktuell.

Den Originalbeitrag von Matthias Boeckl zur Planungsphilosophie von Ortner & Ortner finden Sie in architektur aktuell.

Nach fünfzehn Jahren Konzept-, Planungs- und Bauzeit kann über die architektonischen Aspekte der Idee von Ortner & Ortner für das MuseumsQuartier eine erste Bilanz gezogen werden. Im Mittelpunkt muss dabei ihr Konzept der dichten Monolithen und des darüber gelegten layers an filigranen Nutzungsarten stehen.


Reaktion auf „Kraftfelder“

Der strukturelle Grundansatz aller Projekte von Ortner & Ortner für das MuseumsQuartier ist die Reaktion auf „Kraftfelder“ der Stadt - eine Reaktion, die sich oberflächlich in bestimmten Ausrichtungen der Bauten manifestiert, in der inneren Neuinterpretation etwa des Typus „Museum moderner Kunst“ jedoch weit über diese formale Ebene hinausgeht.

Dahinter steht eine Vorstellung von Stadt, die Ortner & Ortner seit ihren Experimenten der 1960er Jahre (damals noch in der Formation der „Haus-Rucker-Co“) während einer internationalen Karriere als in Österreich lange Zeit unterschätzte Teilnehmer der weltweiten urbanistischen Debatte entwickelt haben. Die „Amnestie für die Realität“ und der Abschied von idealistischen Denkmustern der Stadtplanung ist die Leitlinie dieses Bewusstseins, das in europäischen Regionen fortgeschrittener Urbanisierung und eines hohen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwicklungsstandes (vor allem in den Niederlanden) inzwischen selbstverständlich ist und bald auch die anderen urbanen Zentren Europas dominieren wird.

Die urbane Zivilisation - das ist das Prinzip dieser Überzeugung - bildet mit ihren unüberschaubaren, durch demokratische, wirtschaftliche und technologische Entwicklung forcierten heterogenen Kultur- und Lebenspraktiken ein System von Kräften, das sichtbar gemacht und infrastrukturell unterstützt werden muss, um dieser demokratischen Vielfalt neue Räume und damit auch neue gesellschaftlich/wirtschaftliche Produktivität zu geben.


Antimodernistische Tradition

Hier liegt eine traditionelle Schwachstelle im österreichischen Verständnis von Zivilisation. Denn Infrastrukturen sind in der Regel auch sichtbar, sei es die traditionelle „hardware“ der Straßen und öffentlichen Versorgungsstränge - oder die bauliche Vernetzung und Überlagerung mit neuartigen Funktionen, wie es Ortner & Ortner noch radikal im ersten Wettbewerbsprojekt vorschwebte.

Aber sichtbare Modernisierung, das gebietet die lokale Kultur des schönen Scheins, ist in Österreich weniger beliebt als eine getarnte, versteckte. Exakt an diesem Punkt entwickelte sich jene Diskussion, die sich in der nunmehrigen Realisierung des „größten Kulturbaus der Ersten und Zweiten Republik“ abbildet. Es waren weniger die Funktionen, die Kritik hervorriefen, als vielmehr die Formen, in denen sie sich darstellten.


Die Kraft der Beharrung

In der Ausdauer der Ortners, all diese Hoffnungen und auch die Bedingungen in ihrem Projekt abzubilden, liegt die auf den ersten Blick nicht sichtbare Kraft dieser Architektur. Gefordert ist ein immaterielles statt einem bloß mechanischen Wahrnehmungsvermögen. Erwartet wird ein „fluid environment“, das sich aus dem gewerblich dominierten Stadtbezirk Neubau hinter dem MuseumsQuartier über die „dunklen Gassen“ seiner rückseitigen Trakte über Treppen, Terrassen und Freiräume bis in die imperiale Sphäre des Heldenplatzes entwickelt. Und nötig ist die wesentlich entschlossenere Forcierung dieser zeitrichtigen Stadtidee der Ortners durch weitere Durchbrüche, Vernetzungen, unter- und oberirdische Verbindungen sowie das bauliche Signal alles dessen im öffentlichen Raum vor dem Quartier.

Sollte das gelingen, dann sind die anderen europäischen innerstädtischen Kulturkomplexe wie der Pariser Grand Louvre und die Berliner Museumsinsel nicht nur die gegebenen Klassenpartner, sondern könnten in der Durchmischung und im Urbanisierungsgrad vom Wiener Beispiel sogar noch profitieren.

ORF.at, Do., 2001.06.28



verknüpfte Bauwerke
MuseumsQuartier Wien - MQ

12. Mai 2001Matthias Boeckl
ORF.at

Literarischer Rationalismus

Massimiliano Fuksas näherte sich dem Entwurf in einer literarischen statt rationalistischen Haltung, die man ja gerade hier hätte erwarten können - und...

Massimiliano Fuksas näherte sich dem Entwurf in einer literarischen statt rationalistischen Haltung, die man ja gerade hier hätte erwarten können - und...

Massimiliano Fuksas näherte sich dem Entwurf in einer literarischen statt rationalistischen Haltung, die man ja gerade hier hätte erwarten können - und das Ergebnis ist eine Art literarischer Rationalismus. Dies ist wohl auch die einzige Möglichkeit, eine hochgradig kodifizierte und regulierte Bauaufgabe in jenem gestalterischen Niveau zu bewältigen, das für diesen Schlüsselplatz der Stadtsilhouette unbedingt erforderlich ist.


Radikaler Wechsel

Die ersten Entwürfe des Doppelturms zeigten noch eine organoide, teilweise geradezu surrealistische Formensprache. Der Sprung von diesen Varianten zu der fast konträren Form der Ausführung scheint sich anlässlich eines Besuches seines Salzburger Einkaufszentrums „Europark“ ebenso spontan in Fuksas eingestellt zu haben, wie seine gesamte künstlerische Haltung ist. Jedenfalls war die Entscheidung für die klaren Glasprismen zweifellos die richtige - eine transparente, leichte, elegante Form neben den massiven Volumina der Nachbarschaft, zwei Glassäulen, die in endloser Wiederholung der gleichen Module in den Himmel ragen - ein System wie in Constantin Brancusis „Endloser Säule“.


Klassische Vorbilder

Die Assoziationen mit der klassischen Moderne, allen voran natürlich mit Mies van der Rohes Hochhausentwürfen von 1919 für die Berliner Friedrichstraße, lassen sich kaum unterdrücken. Und damit auch die Heilserwartungen, die sich an diese „Urform“ des vollständig glasummantelten Skelettbaus knüpfen. Mies stand den expressionistischen Visionen einer humanen „Glasarchitektur“ à la Paul Scheerbart nahe, und auch heute noch wirkt dieser Mythos.


Prekäre Materialwahl

Voraussetzung dafür ist aber die Lesbarkeit dieser Idee, und diese hängt entscheidend vom verwendeten Glas ab. Die spezielle Entwicklung der Firma Interpane sollte so transparent wie möglich ausfallen, um die innere Skelettkonstruktion so klar wie möglich als eine gebaute Metapher des „Auftürmens“ des immer gleichen Tischelements, als ein technizistisches Faszinosum ersten Ranges lesbar zu machen. Die übliche Grünfärbung wie beim benachbarten älteren Büroturm reflektiert fast total und ist ungeeignet, irgendwelche immateriellen Botschaften zu vermitteln. Dagegen wurde das hier verwendete Weißglas mit einer High-Tech-Beschichtung versehen, die nur eine sehr leichte Grüntönung bringt.

Leider wird diese Errungenschaft jedoch von hemmungslosen Büromietern zunichte gemacht, denen die geschoßhohe Verglasung nichts anderes ist als eine ideale Werbefläche nach außen.


Zwillinge erzeugen Spannung

Ein zweiter wesentlicher Effekt ist die Stellung der beiden Türme in einem Winkel von 59º zueinander, für den es keine rationalen Gründe gibt. Fuksas Begründung bezieht sich nicht ganz unberechtigt auf vorbeifahrende Autofahrer, die wohl tatsächlich die häufigste Wahrnehmungsart des Baus repräsentieren: „Die Spannung, die sich aus der Stellung der beiden Objekte zueinander ergibt, erlebt der Autofahrer, indem sich beim Vorbeifahren die Hochhäuser ständig zueinander verschieben.“ Mit der sich öffnenden und schließenden Fuge und den Brücken zwischen den Türmen entsteht so eine Art abstraktes Ballett, das ebenfalls (siehe Oskar Schlemmer) gut in die Atmosphäre der hier evozierten mystischen Pioniermoderne passt.

Sollte die Anbindung an die weiteren Bauten der Wienerberg-City, wie sich nun Wiens neuestes Hochhausquartier nennt, gelingen und die öffentlichen Funktionen im Sockel des Twin Tower von den zukünftigen Bewohnern der Nachbarbauten angenommen werden, dann hat Wien eine urbanistisch und intellektuell überaus befriedigende Landmark gewonnen.


[ Der Originalbeitrag von Matthias Boeckl ist in der Mai-Ausgabe von architektur aktuell erschienen ]

ORF.at, Sa., 2001.05.12



verknüpfte Bauwerke
Vienna Twin Tower

08. Februar 2001Matthias Boeckl
ORF.at

Bewegung im Block

Waren Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky bis vor zehn Jahren noch mit Szene-Kleinbauten wie Bars, Restaurants, Bühnenbildern, Ausstellungen, Dachbodenausbauten...

Waren Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky bis vor zehn Jahren noch mit Szene-Kleinbauten wie Bars, Restaurants, Bühnenbildern, Ausstellungen, Dachbodenausbauten...

Waren Wolf D. Prix und Helmut Swiczinsky bis vor zehn Jahren noch mit Szene-Kleinbauten wie Bars, Restaurants, Bühnenbildern, Ausstellungen, Dachbodenausbauten und - vor allem - unausgeführten Visionen neuer, „offener“ urbaner Lebensräume beschäftigt, so stehen jetzt nicht nur ihre Position als internationale Stars, sondern realiter auch drei in nur sieben Jahren realisierte große Wohnbauten zur Überprüfung der gebauten Gestalt dieser Visionen an.


Engagement im Wohnbau

Vielversprechend ist ihr Engagement, als ehemals radikalste Gruppe der Wiener Achtundsechziger („Unsere Architektur ist dort zu finden, wo die Gedanken schneller sind als die Hände, um sie zu begreifen“) just das Gebiet des hochgradig regulierten kollektiven Wohnbaus als Prüfstein ihrer dynamischen und expressiven Lebensreformkonzepte zu wählen.


Aktuelles Projekt: Remise

Der erste Eindruck des Wohnbaus Remise entspricht der Erwartung: Ein bewegtes, expressives Raumgefüge, das auch von der forcierten Materialsprache aus Stahl, Sichtbeton und geputzten Kuben lebt. In die Luft gehobene Volumina, offene Diagonalpassagen, dynamische Schräg- und X-Stützen, all das zählt zum bekannt ausdrucksstarken Vokabular von Coop Himmelb(l)au und hat ihnen das (missverständliche) internationale Prestige als dekonstruktivistische Vorzeigegruppe eingebracht.


Pop-Artisten, nicht Dekonstruktivisten!

Frank Werner hat in seiner soeben erschienenen Monografie jedoch klar gezeigt, dass dieser Dynamismus jedenfalls nicht aus den linguistischen Wurzeln der Dekonstruktivisten schöpft. Vielmehr hat er psychologische und künstlerische Vorstufen im Experimentarium der Pop-Ära, deren Lebensgefühl nun in dem auf breite Akzeptanz angewiesenen Wohnbau erprobt wird.


Basisdemokratie der Lebensstile

Wohnbau als Versuchslabor neuer Lebensstile - das hat in Wien jedoch eine vielfältige, brisante Bedeutung. Einerseits gibt es hier im sozialen und privaten Geschoßwohnungsbau eine stolze und lange Tradition mit entsprechend verifizierten und verlässlichen Erfahrungen bei Typen, Standards, Akzeptanz, möglichen Konstruktionsarten und infrastruktureller Anbindung. Andererseits wünschen gerade die Wiener sich immer wieder schicke Outfits und prestigeträchtig gehobene Standards.

So übersichtlich diese Lage bisher war, so undurchsichtig sind die Fronten in der digital aufgerüsteten, enthemmten Konsumgesellschaft heute geworden. Denn nun sind es gerade die ehemaligen Standardbewahrer, nämlich Wohnbaugesellschaften und Stadtverwaltung, die sich der „Avantgardisten“ bedienen, um am Markt oder politisch überleben zu können. Der Wohlstand hat eine Art Basisdemokratie der Lebensstile gebracht.


Wandelbare Genossenschaften

Träger dieser neuen Politik sind heute jene Lifestyleanbieter, die vom Wohnpark direkt am Freizeit-Wasser-Paradies bis zum Fernblick über Wien oder dem hemmungslos kultivierten alten Wohn-Sehnsuchtsbild im Grünen jede Wohnmode verkaufen und mittlerweile fast jede vom Nettodurchschnittseinkommen österreichischer Familien ermöglichte Nachfrage befriedigen können. Garanten dieser paradiesisch anmutenden Zustände sind eine gezielte Förderpolitik sowie langfristig berechenbare Rahmenbedingungen am Ort und in der Region (EU und restriktive Zuwanderungspolitik sei „Dank“).


Himmelblauer Formenkanon

Coop Himmelb(l)aus Beiträge zum neuen opulenten Lifestyle-Angebot des Wiener Wohnens sind Experimente mit Raumformen und -funktionen, Lichtverhältnissen - und mit Repräsentation. Auflockerung hoher vorgegebener Dichten, Bewegung von Form und Raum, Vielfalt der Wohnungstypen (um die dreißig Varianten wurden hier realisiert), verglaste Loggien, all das führte in der Folge zu einer skulptural durchgearbeiteten, aber vor allem in den Innenhof hin wirksamen Form.

Es gibt sogar eine Skybridge auf erheblicher Höhe. Die straßenseitigen Außenwände der Anlage lassen - bis auf die auffälligen X-Stützen - kaum Derartiges erwarten. Die vorgegebenen Funktionen wie Geschäftslokale, Kinderbetreuung und ausreichend Garagenstellplätze bieten beträchtlichen Komfort.


Die Coops am Ziel

Der eingangs beschriebene soziologische Trend der Wiener Wohnbauszene zeigt sich auch deutlich im Marketing der Bauherren: Das für hiesige Verhältnisse neue Phänomen der Internetwerbung für Bauvorhaben akzentuiert - wie jede Werbung - vor allem Prestige- und Standardfragen. Wenn aber die ehemalige Architekturavantgarde diesem Unternehmen eine überdurchschnittliche räumliche, funktionelle, energetisch-ökologische und ästhetische Qualität zu (geförderten) Eigentumspreisen liefert, die für die Mittelklasse erschwinglich sind, dann ist Coop's Parforce-Marsch durch die Institutionen wohl als gelungen zu bezeichnen.

ORF.at, Do., 2001.02.08



verknüpfte Bauwerke
Remise

18. Januar 2001Matthias Boeckl
ORF.at

Einfach angemessen

Was ist die angemessene Form der Erinnerung und Aufklärung über die NS-Zeit - und zwar an einem Ort der Täter, nicht der Opfer?

Was ist die angemessene Form der Erinnerung und Aufklärung über die NS-Zeit - und zwar an einem Ort der Täter, nicht der Opfer?

Am Obersalzberg, Hitlers Bergidyll in Oberbayern, das er nach der Machtergreifung 1933 von einer beschaulichen Sommerfrische zu einem zweiten Regierungssitz mit eigenen Häusern aller Mitglieder seiner Machtclique ausgebaut hatte, sammelt man seit einem Jahr Erfahrung mit einer nüchternen Dokumentation, die in einer unspektakulären, dennoch einprägsamen Architektur untergebracht ist.


Keine Inszenierung

Auch Nicht-Architekten unter den Besuchern - und auf die kommt es schließlich an - wird auf den ersten Blick klar, dass die steinernen Erdgeschoßmauern von Hitlers „Gästehaus Hoher Göll“ von einer eindeutig zeitgenössischen Holz-Glas-Konstruktion mit Satteldach gleichsam kritisch kommentiert werden. Auf weitergehende Architektureffekte wurde zugunsten der präzisen Ausstellung des renommierten Münchner Instituts für Zeitgeschichte bewusst verzichtet.

Der einfache und in vielerlei Hinsicht funktionierende Entwurf stammt nicht aus der Feder eines Stararchitekten, sondern - vom Staatlichen Hochbauamt Traunstein. Ein Beleg für die Vermutung, dass das Unsägliche eben nicht nur mit Symbolen, sondern auch mit nüchternen Dokumentationen in unprätentiösen Bauformeln eindringlich vergegenwärtigt werden kann.


Die Probleme des Feuilletons

Sarkastische Feuilletonberichte zeigen die Unfähigkeit des Milieus, sich aus der wichtigeren Sicht der Nutzer, statt bloß jener der bauenden Zeichensetzer und Kunstschreiber mit der heiklen Materie auseinander zu setzen. Besonders die „Süddeutsche“ ließ diesbezüglich keine Platitude aus. Sie illustriert damit aber nur die herrschende Ratlosigkeit angesichts der offensichtlichen Verzichtbarkeit auf theatralische Inszenierungen für sachliche Dokumentationen im Kontext eines Täterorts.


Schlichte Aufbereitung

Die Dokumentationsstelle ist keine auf spektakuläre Formen hin angelegte Überwältigungsinszenierung, sondern eine schlichte bauliche Hülle (in den Abmessungen des zerstörten Vorgängerbaus), in der kompakt und kritisch die Geschichte des Orts und jene des Regimes referiert wird - übrigens begleitet von den wohl besten zur Zeit erhältlichen Kurzdarstellungen in Buchform über „Die tödliche Utopie“ (von Horst Möller, Volker Dahm und Hartmut Mehringer) und den „Obersalzberg, das Kehlsteinhaus und Adolf Hitler“ (von Ernst Hanisch).

Die Einrichtung der Ausstellung vom Münchner Büro Claus + Forster bespielt das „filigrane“ Volumen auf zwei Ebenen in einer nicht weniger unaufgeregten Haltung: Architekturmodelle der zahlreichen Nazibauten am Obersalzberg sind hier ebenso zu sehen wie Fotos, Videos, reproduzierte Dokumente und Originalgegenstände. In der von Holzlamellenwänden leicht gedämpften Tagesdurchlichtung des Pavillons erscheinen diese Exponate keineswegs „magisch“ oder sonst wie irrational, sondern sind, was sie sind: Verdichtete Information.


Geschichte einer Dokumentation

Beim Besuch hat man nicht den Eindruck, dass es einer anderen, spektakuläreren Darstellung bedurft hätte. Wer den Weg von der Straße zur Dokumentation hinuntersteigt und dabei an den Fundamentmauern der NS-Einrichtungen vorbeigeht, wer durch ein Waldstück weiter hinunter zu den Grundmauern des 1952 von der US Army gesprengten „Berghofs“ Hitlers geht, der hat mit Sicherheit ein offenes Auge für die Brisanz des Terrains.

Das Projekt kam zustande, als die Vereinigten Staaten das 1945 bombardierte und seither in ihrer Armeeverwaltung befindliche Gelände 1995 dem Freistaat Bayern übergaben. Die schwierige Frage des angemessenen Umgangs damit (ein Verkauf, womöglich an
Nazinostalgiker, kam nicht in Frage) wurde durch Vergaben in Erbpacht gelöst, so dass der Freistaat bei unerwünschten Betriebsformen die Güter auch wieder einziehen kann. Ein Ort jedoch, und hier fiel die Wahl auf die Ruine des „Gästehauses Hoher Göll“, sollte der objektiven Information über die Geschichte des Berges dienen, auf dem vor 1933 auch Arthur Schnitzler und Sigmund Freud Sommerfrischen verlebt hatten.

Das für Staatsliegenschaften zuständige Finanzministerium entschloss sich jedoch nicht, wie die Berliner bei ihrer Topographie des Terrors (Informationsräume über den Ruinen des „Reichssicherheitshauptamtes“), zu einer künstlerischen Diskussion, sondern plante in Eigenregie den Dokumentationspavillon. Wie immer man zu dieser Vorgangsweise stehen mag - fest steht, dass auf diese Weise rasch ein inzwischen sehr gut besuchter, eindringlicher Informationsort entstanden ist.


Ausbau folgt

Manko oder Bestätigung - der Raum ist bereits zu eng und so trägt man sich mit dem Gedanken, im nahegelegenen ehemaligen „Plattnerhof“, dem ersten Tourismusbetrieb am Ort, der nach 1945 den Amerikanern als Erholungsheim diente und eigentlich abgebrochen werden sollte, eine Erweiterung um Seminarräume einzurichten. Auch hier sollen historische Bauschichten (Jahrhundertwende, NS-Zeit, US-Zeit) klar erfassbar freigelegt werden. Die einfache Demonstration bei gleichzeitiger begleitender Dokumentation ist auch hier das Mittel der Wahl - und womöglich effizienter als anspruchsvollere künstlerische Interpretationen.

ORF.at, Do., 2001.01.18

03. Oktober 2000Matthias Boeckl
ORF.at

Architektur ist eine Sache von Vertrauen und Liebe

Das Gespräch von Matthias Boeckl mit Enrique Norten erschien in der Originalfassung in Architektur aktuell.

Das Gespräch von Matthias Boeckl mit Enrique Norten erschien in der Originalfassung in Architektur aktuell.

Die JVC City in Guadalajara, Mexico, gehört zu den umfassendsten privat initiierten Stadtplanungsprojekten der Gegenwart. Auf ca. 300 Hektar Fläche entsteht ein Quartier mit vielfältigen privaten und öffentlichen Funktionen, darunter ein Kongress- und Ausstellungszentrum

Multi-Unternehmer Jorge Vergara, dessen Omnilife-Konzern Initiator und Bauherr des Großteils des Quartiers ist, zeigt sowohl als Unternehmer wie auch als Bauherr visionäre Qualität: Er beauftragte auf Empfehlung von Enrique Norten eine internationale Architektencrème um Daniel Libeskind, Philip Johnson, Coop Himmelb(l)au und Thom Mayne/Morphosis auf eine unkonventionelle Weise mit der Erarbeitung eines Masterplans für das Quartier und mit der Planung der einzelnen Bauten.

Was waren die Leitlinien Ihres Masterplans für die JVC City in Guadalajara? Wie sehen Sie überhaupt die Zukunft der Stadt?

Am Beginn des Projekts sprachen die Bauherren mit mehreren anderen Architekten, waren aber von deren Vorschlägen nicht überzeugt. Ich glaube nicht, dass irgendein einzelner Architekt die Kapazität hat, ein solches Projekt alleine zu bearbeiten. Es handelte sich immerhin um sechs sehr große einzelne Bauten. Ich meinte, warum laden wir nicht sechs wichtige Architekten unserer Generation ein, um am Masterplan zusammenzuarbeiten und dann jeweils ein Einzelgebäude zu planen?

Was waren die Absichten der Investoren und wer sind sie?

Guadalajara ist die zweitgrößte Stadt unseres Landes, war aber bis vor kurzem nur der siebtwichtigste Finanzplatz des Landes. Das ist ein ungünstiges Verhältnis. Und dann kam eine Gruppe junger und erfolgreicher Geschäftsleute. Ihre Leitfigur ist jener Mann, der all das zusammengebracht hat, sein Name ist Jorge Vergara. Er hat enorme Gewinne mit dem Verkauf von Vitaminen und anderen Gesundheitsprodukten in einem Pyramidensystem gemacht.

Nach zehn Jahren hatte die Firma eine Million Leute, die diese Produkte verkauften. Die größte Halle, die er in Mexiko finden konnte, fasste zehntausend Menschen. Also begann er, Kongresszentren in den USA zu mieten und stellte fest, dass solche Kongresszentren ein gutes Geschäft sind. In Mexiko gab es keine. Daher verbindet Vergara jetzt die Bedürfnisse seiner eigenen Firma mit einem neuen Geschäftszweig. Als er aber sah, dass ein Kongresszentrum alleine kaum lebensfähig ist, ordnete er ihm weitere Funktionen zu, wie Hotels, ein Entertainment-Center und Messehallen.

Sie sind ja als Architekt bekannt, der gerne im „Kollektiv“ arbeitet. Wie würden Sie diese Entwurfsstrategie beschreiben?

Ich glaube wirklich, dass Architektur sich zunehmend von der alten Idee der individuellen Schöpfung entfernt. In Wahrheit ist es doch eine komplexe Dynamik, die ein gutes Gebäude hervorbringt. So arbeitet auch mein Atelier. Wir stellen schon ganz am Anfang ein vielfältiges Team zusammen, in dem jeder Ideen beisteuert.

Aber bei allen kreativen Prozessen muss am Ende eine Entscheidung getroffen werden...

Am Ende steht ein Diktator, und das bin ich - in meinem Atelier. Um auf das JVC-Projekt zurückzukommen: Hier begannen wir genauso. Nicht alle Mitwirkenden kamen gleichzeitig dazu. Also begannen wir, mit den ersten Teilnehmern einige allgemeine Ideen auszuarbeiten. Am Anfang moderierte ich die Diskussionen. Dann kamen mehr Architekten dazu, sie klinkten sich in diesen Mechanismus ein und brachten zusätzliche Ideen. Das Prinzip war es, dass jede neue Idee die Möglichkeit hatte, alles andere zu verändern. Je nachdem, wo im Masterplan ein Projekt angesiedelt ist, empfängt es mehr oder weniger Energien von den anderen Projekten.

Wie würden Sie solche Kräfte definieren, die einen städtebaulichen Entwurf beeinflussen?

Eine Stadt kann nicht als ein einziges Diagramm gedeutet werden, weil sie eigentlich eine Überlappung verschiedenster Schichten ist. Die verschiedenen Schichten haben keine Ordnung, sie sind alle durcheinander gemischt. Die Stadt ist ein lebendiger Mechanismus. Sie ist vollständig unvorhersehbar. Ich glaube, dass alle Planungsparameter, die sich in den vergangenen 30 oder 40 Jahren eingebürgert haben, sich als völlig obsolet erwiesen haben. Sie können auf die Stadt nicht angewendet werden. Viel davon wurde für europäische Städte entworfen, aber in großem Maßstab in der Dritten Welt ausprobiert.

Was ist ein gutes Beispiel dafür?

Nun, Mexico City. In Mexico City gab es bis vor 20 Jahren noch jede Menge „Masterpläne“. Für jeden Stadtteil. Jetzt wurde all das weggeworfen, weil es nur eine ungeheure Verwirrung gestiftet hat. Die Pläne, die aus der physischen Perspektive erstellt wurden, waren unvereinbar mit jenen für die Finanzentwicklung. Und die Pläne, die sich im Prinzip mit der Bewegung von Autos, Zügen usw. beschäftigten, gerieten in Konflikt mit den anderen Schichten der Stadt. Es war einfach unmöglich.

Wie würden Sie die Rolle der architektonischen Gestaltung in diesem Projekt beschreiben? Wie wichtig ist sie den Investoren und bis zu welchem Grad kann sie von den Architekten bestimmt werden?

Oft werden die architektonischen Entscheidungen von vielen äußeren Faktoren bestimmt. Da wird oft der kreative Wille beiseite gelassen, aber in unserem Fall hat der Bauherr von Anfang an verstanden, dass die Kraft der Architektur ein wichtiger Teil des Projekts ist. Er gab uns Architekten nicht einmal ein Raumprogramm vor und am Anfang hatten wir nicht einmal ein Budget. Das überließ man der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit der Architekten.

Ist das eine Art soziologischer Realismus der Architektur?

Und Verantwortlichkeit. Schließlich hat man hier einen fantastischen Bauherren, der sagt, ich gebe euch kein Budget vor, ich gebe euch auch kein Raumprogramm, aber ihr müsst mir ein Projekt vorlegen, das auch finanziell einen Sinn ergibt.

Glauben Sie, dass zukünftige Investoren davon lernen können?

Ich bin davon überzeugt, dass dieses Projekt nach seiner Vollendung ein Auslöser neuer Investitionen sein wird. Wenn die Leute Vertrauen haben, dann ist das eine Art religiöser Akt. Architektur ist eine Sache von Vertrauen und Liebe. Und die Leute, die auf dieses Projekt vertrauen, werden einen großen Gewinn erzielen. Die Investoren werden in Zukunft mehr auf die Intuition der Kreativen vertrauen müssen.

ORF.at, Di., 2000.10.03

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