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09. Juli 2021Christian Holl
Bauwelt

Heidelberger Balanceakt

Einer der ambitioniertesten Beiträge der IBA Heidelberg, der Vorzeigestadtteil Pat­rick­Henry­Village, wird erst nach dem Ende der IBA­Phase realisiert werden.

Einer der ambitioniertesten Beiträge der IBA Heidelberg, der Vorzeigestadtteil Pat­rick­Henry­Village, wird erst nach dem Ende der IBA­Phase realisiert werden.

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Bauwelt 2021|14 Kleine Wohnungen

21. Januar 2020Christian Holl
db

Wohltuender Widerpart

Stadtbaustein nennen die Architekten ihren Erweiterungsbau des Landratsamts in Bad Kissingen, der sich tatsächlich passgenau, als wäre es das letzte Stück eines Baukastens, in den Bestand fügt. Auch farblich gelang diese Einpassung. Beeindruckend, wie genau jedes Detail behandelt wurde. Das streng Geordnete dient dabei als wohltuender Widerpart des Spontanen, Gewachsenen, Vielfältigen ringsumher.

Stadtbaustein nennen die Architekten ihren Erweiterungsbau des Landratsamts in Bad Kissingen, der sich tatsächlich passgenau, als wäre es das letzte Stück eines Baukastens, in den Bestand fügt. Auch farblich gelang diese Einpassung. Beeindruckend, wie genau jedes Detail behandelt wurde. Das streng Geordnete dient dabei als wohltuender Widerpart des Spontanen, Gewachsenen, Vielfältigen ringsumher.

Es herrscht trübes Wetter am Tag der Projektbesichtigung im November. Der Weg vom Bahnhof führt durch die Innenstadt des gerade mal knapp 25.000 Einwohner zählenden, aber selbstbewussten unterfränkischen Kurorts Bad Kissingen. Hier hat sich früher einmal die internationale Haute Vaulet zur Kur eingefunden, aber auch um Geschäfte zu machen, Politik zu betreiben oder sich dem ein oder anderen Techtelmechtel zu widmen.

Wenngleich es nicht mehr diese Bedeutung hat, steht Bad Kissingen heute gut da. Die Delle, die die Gesundheits-Strukturreform von 1996 hervorgerufen hatte, liegt in der Vergangenheit, zuletzt zählte man über 1,6 Mio. Übernachtungen im Jahr.

Selbst im November zeigt sich die Stadt alles andere als grau. Die Putzfassaden sind in verschiedenen Gelb-, Rot-, Braun- oder Grüntönen gehalten, Buntsandstein in rötlicher, grünlicher und gelblicher Tönung ist zu finden, Ziegel-, Metall- und Betonfassaden ebenso. Mögen auch die hellen und warmen Farben überwiegen – der etwas weiter gefasste Kontext gibt keine eindeutige Empfehlung dafür ab, wie hier ein neuer Baukörper zu gestalten ist.

Das galt auch für den Erweiterungs-Neubau des Landratsamts, selbst dann, wenn man nur dessen Nachbarbebauung am Altstadtrand ins Visier nimmt. Er war notwendig, um dem gestiegenen Platzbedarf Rechnung zu tragen. Zwei niedrigere Gebäude aus der Nachkriegszeit wurden dafür abgerissen. 2019 eröffnet, ergänzt er zwei Bestandsbauten des Amts. Einer davon, gerade frisch saniert und energetisch ertüchtigt, ist aus den 60ern und besteht aus einem freistehenden Sitzungssaal mit einer dunkel eloxiertem Metallhülle sowie einem Verwaltungsbau, dessen weiße Fassade zeittypisch das Skelettraster der Tragstruktur ablesbar macht – inklusive Staffelgeschoss und Flugdach. Der andere, aus den 80ern, zeigt den eher hilflosen Versuch, historische Formen zu adaptieren: mit Krüppelwalmdächern und weißgerahmten, ockerfarbenen Fassadenelementen über einem grauen Natursteinsockel, wenig elegant proportioniert. Weitere Nachbarn des Erweiterungsbaus sind u. a. ein Fachwerkhaus mit ockerfarbenen Ausfachungen, Gebäude mit sand- und orangefarbenen Putzfassaden, eine davon bemalt. Letztlich diente den Architekten der mächtige Sandsteinbau des Rathauses in Sichtweite, 1709 als Adelssitz errichtet, als entscheidende Referenz für die Fassade des Neubaus.

Gut ausbalanciert

Schon im Wettbewerb, den Steimle Architekten 2016 nach einem Bewerbungsverfahren gewinnen konnten (ein zweiter Preis wurde nicht vergeben), hatte man das Fassadenmaterial definiert, an dem bis zur Realisierung festgehalten wurde: großflächige Betonfertigteile, die mit Zuschlägen aus Mainsand und Kalkstein eine dem Sandstein ähnliche, hellbeige Farbe bekommen. Die Betonfertigteil-Fassade soll die angestrebte monolithische Wirkung des prägnant und kompakt proportionierten Bauvolumens unterstreichen. Es wirkt, als wären ein drei- und ein viergeschossiger Baukörper ineinandergeschoben. Dadurch nimmt das Gebäude die unterschiedlichen Höhen der Umgebung auf: Zum Rathaus und den niedrigeren Nachbarn hin ist es dreigeschossig, zu den höheren Bestandsgebäuden des Amts wiederum viergeschossig.

Wie aus einzelnen Quadern genau in den Kontext eingepasst, ergeben sich dabei leichte Rücksprünge, führen zum Haupteingang an der Nordseite und lassen auf der Westseite eine Lücke zur Nachbarbebauung, sodass der Charakter der Altstadt aus kleinen Plätzen und Gassen fortgeschrieben wird. Der Stadtbaustein, wie die Architekten das Haus nennen, wird dem Kontext eingefügt, ohne jedoch auf eine eigenständige Präsenz im Stadtraum zu verzichten.

Die Balance aus Eingliederung und Selbstbewusstsein der Zeitgenossenschaft ist auch an der Fassadendifferenzierung abzulesen: Sockel und Faschen, beide leicht eingerückt, sind aus scharriertem Beton, wirken dadurch etwas heller und gehen ins Gräuliche. Die champagnerfarbenen Fensterrahmen aus eloxiertem Aluminium sind farblich fein darauf abgestimmt. Selbst die Sonnenschutzblenden zeigen sich in der Farbe der Betonfertigteile, sodass auch bei Verschattung der Fenster der homogene Charakter nicht beeinträchtigt wird. Einen kräftigen Kontrast dazu bildet das Dunkelbraun des Verbindungsstegs zwischen Neubau und Bestand im 2. OG sowie des eingeschobenen Volumens für den Sitzungssaal im EG an der Nordwestecke. Nie steht in Zweifel, dass dies ein moderner Bau ist, aber genauso wenig sollte er nach Absicht der Architekten seine Nachbarn übertrumpfen oder erdrücken – was auch bestens funktioniert.

Lohnender Aufwand

Viel Wert wurde auf die sehr akkurate Planung und Verarbeitung der Beton-Fertigteile gelegt. So auch bei ihrer Farbgebung, die man in mehreren Varianten bis hin zum Maßstab 1:1 untersuchte – zu wichtig war sie den Planern, als dass man sie dem Zufall hätte überlassen wollen. Das gilt auch für weitere ­Details: Die geschlossenen Fugen zwischen den Betonfertigteilen sind ockerfarben besandet, die Betonoberflächen selbst wurden gesäuert, um eine leicht strukturierte Oberfläche, die das Licht in einer dem Sandstein vergleichbaren Weise bricht, zu erzeugen. Die einzelnen Fertigteile zeigen sich ein klein wenig unterschiedlich, was der Gesamtwirkung aber eher guttut als schadet. Der Aufwand hat sich gelohnt – farblich vermittelt das Haus gelungen innerhalb seiner heterogenen Nachbarschaft, es ergänzt die eigenwilligen Nachbarbauten, anstatt sie herauszufordern.

Damit Regenwasser nicht bald schon Spuren hinterlässt und den makellosen Eindruck trübt, wurden die Fertigteile tiefenhydrophobiert. Das müsse man, so die Architekten, sicher irgendwann wiederholen, eine Betonfassade muss eben gepflegt werden, wie Putzfassaden auch.

Von außen fallen zudem wenige, bündig in der Fassade stehende, geschosshohe Fensterelemente auf – diese Prallscheiben aus Sonnenschutzglas zeigen an, wo die Flure liegen. Weiß man dies, könnte man also von außen bei sehr sorgfältiger Analyse schon erkennen, wie das Innere organisiert ist: Wie Windmühlenflügel sind die einzelnen Bürotrakte um einen zentralen Kern angeordnet, der wie die Geschossdecken aus Sichtbeton ist. Die Bauteile lassen sich somit thermisch aktivieren: Wasser vom nahegelegenen Liebfrauensee, der in einem unter dem Haus durchführenden Kanal mündet, kann zur Raumtemperierung genutzt werden. Der Kanal im Untergrund ist vor dem Haus an einer Stelle geöffnet, sodass er nicht vollkommen verborgen bleibt. Auf dem Dach des viergeschossigen Gebäudeteils ist eine Photovoltaikanlage installiert. Da man von den obersten Fluren auf das Dach des dreigeschos­sigen Bereichs sieht, verzichtete man dort darauf.

Nichts Nebensächliches

Wie an der Gebäudehülle hat man auch im Innern sehr penibel darauf geachtet, dass sich das Gebäude als präzise ineinander gefügtes Volumen zeigt. Kein Detail war zu nebensächlich, um es nicht zu beachten. Fugen und Spann­löcher der Sichtbetonflächen sind akkurat gesetzt und aufeinander abgestimmt. Der gläserne Aufzug gewährt im Treppenhaus den Blick über die Geschosse hinweg: Überall sind die einzelnen Bauteile streng flächenbündig gesetzt. Beschläge und Türbänder sind so angebracht, dass sie nicht stören. Nischen, etwa vor den Teeküchen und den Sanitärräumen, wurden in einem weiß lasierten Eichenfurnier eingefasst, sodass sie wie saubere Inlays wirken.

Der Fußboden ist in den Büros mit einem »Enomer«-Bodenbelag, in den ­Fluren mit 60 x 120 cm messenden, hellgrauen Großformatfliesen belegt, im Sitzungssaal kamen sie sogar in einem großzügig wirkenden und anspruchsvoll zu verarbeitenden Format von 120 x 240 cm zum Einsatz. Die Trockenbauwände in hellem, fast weißem Cremeton gehalten, wurden mit einer schmalen Fuge von der Sichtbetondecke abgesetzt und auch die Türen erhielten eine umlaufende Schattenfuge. Die Büros werden akustisch durch von der Decke abgehängte Baffeln gezähmt und die ­Fenster können erfreulicherweise von den Mitarbeitern nach eigenem Bedarf geöffnet werden.

Ist im Kontext des unregelmäßigen und vielfältigen Außen die Präzision und ruhige Farbgebung wohltuend und beruhigend, so bekommen sie im Innern fast schon etwas Erzieherisches. Der große Ehrgeiz, Fugen, Bauteile, Farb­nuancen aufeinander abzustimmen, das Fehlen von Fehlern oder Unfertigem macht es schwer, sich vorzustellen, wie sich das Haus durch die Nutzung und die (warum auch nicht) bisweilen eigenwilligen Vorlieben der Menschen, die hier arbeiten, verändern wird – und ob es das eigentlich darf. Dass die Fläche sehr effektiv genutzt wurde und das Innere so kaum Großzügigkeit ausstrahlen kann, ist nicht den Architekten anzulasten.

Vielleicht hätte im Innern ein bisschen Farbe dann doch gutgetan. Ein wenig Farbe holen aber dann doch die Ausblicke ins Haus: Die Stadt ist bunt, selbst im November.

db, Di., 2020.01.21



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db 2020|01-02 Greige

08. März 2019Christian Holl
Bauwelt

Anspruchsvolle Zurückhaltung

Marte.Marte Architekten aus Vorarlberg gewinnen den Wettbewerb für ein Besucherzentrum an der Darmstädter Mathilden­höhe mit einem noblen und dezenten Entwurf. Im Ideenteil machen sie es sich allerdings etwas zu einfach.

Marte.Marte Architekten aus Vorarlberg gewinnen den Wettbewerb für ein Besucherzentrum an der Darmstädter Mathilden­höhe mit einem noblen und dezenten Entwurf. Im Ideenteil machen sie es sich allerdings etwas zu einfach.

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Bauwelt 2019|05 Nordische Bibliotheken

21. September 2018Christian Holl
Bauwelt

Heimat für alle

Wie der Begriff der Heimat zum Teil benutzt wird, ist beklemmend und beunruhigend. Eingeschränkt und zurecht gestutzt, wird er zu einem Instrument des Ausschlusses – das lässt sich auch in der Architektur ablesen. Dabei könnte Heimat auch anders verstanden werden.

Wie der Begriff der Heimat zum Teil benutzt wird, ist beklemmend und beunruhigend. Eingeschränkt und zurecht gestutzt, wird er zu einem Instrument des Ausschlusses – das lässt sich auch in der Architektur ablesen. Dabei könnte Heimat auch anders verstanden werden.

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Bauwelt 2018|19 Digitale Stadt

04. September 2018Christian Holl
db

Städtische Galerie Kornwestheim

Die noch nicht einmal 30 Jahre alte Städtische Galerie Kornwestheim, seit 2003 »Museum im Kleihues-Bau« genannt, wurde im vergangenen Jahr unter Denkmal-schutz gestellt: als »gutes Beispiel für eine Spiel-art der postmodernen Architektur mit zeittypischer, reicher motivischer Gestaltung und künstlerischer Durchdringung von der Großform bis ins Detail«. Vollkommen zu Recht.

Die noch nicht einmal 30 Jahre alte Städtische Galerie Kornwestheim, seit 2003 »Museum im Kleihues-Bau« genannt, wurde im vergangenen Jahr unter Denkmal-schutz gestellt: als »gutes Beispiel für eine Spiel-art der postmodernen Architektur mit zeittypischer, reicher motivischer Gestaltung und künstlerischer Durchdringung von der Großform bis ins Detail«. Vollkommen zu Recht.

Es hat den Anschein, als wäre eigentlich nichts gewesen. Ein paar Gräser wachsen aus den Ritzen der flachen Treppe, die neben einer Rampe zum Eingang führt. Und beim Gang ums Haus entdeckt man dort, wo die Kunst angeliefert werden kann, eine eingedrückte Platte der Natursteinfassade. Aber ansonsten gibt es am Zustand eines Baus, der fast dreißig Jahre »auf dem Buckel hat«, nichts auszusetzen.

Kultur und Sparzwang

In den 80er Jahren hatte sich die Stadt Kornwestheim bei Stuttgart – eine damals etwa 28 000, heute 33 000 Einwohner zählende Gemeinde – entschieden, sich einen Museumsneubau für die stadteigene Kunstsammlung zu gönnen. Die seit 1974 bestehende Galerie der Stadt Kornwestheim verfügte in ihren ersten Jahren zwar über kein eigenes Haus, konnte aber dennoch – begünstigt durch eine Schenkung aus dem Nachlass des Malers und Kunstprofessors Manfred Henninger (1894-1986) – in den 80er Jahren damit beginnen, eine Sammlung aufzubauen. 1987 wurde der hierfür ausgeschriebene Wettbewerb unter vier eingeladenen Büros entschieden. Der erstplatzierte Entwurf von Josef Paul Kleihues wurde realisiert und bereits 1989 eröffnet. Trotz eines engagierten Programms – man zeigte u. a. Joesph Beuys, Georg Baselitz und A. R. Penck – blieb die Besucherzahl weit hinter der Erwartung zurück. In der Zeit von 2000 bis 2003 wurde das Gebäude deswegen an ein Auktionshaus als Galerie verpachtet. 2003 wagte man den Neustart mit angezogener Handbremse: Der Auktionator Gert Nagel konnte im OG ein eigenes Privat-Museum für »bürgerliche Kunst und Kultur« führen – keine gute Idee, wie die 2003 bis Anfang 2018 für städtischen Ausstellungsbetrieb zuständige Irmgard Sedler im Rückblick meinte: man habe »ein Ausstellungsprofil in das Haus für moderne Kunst gebracht, das damit nicht vereinbar war.« [1] Seit dieser Wiedereröffnung firmiert es unter dem Namen »Museum im Kleihues-Bau«. Die Doppelbelegung war freilich nicht von langer Dauer. 2010 heißt es in einer Gemeinderatsvorlage für ein neues Museumskonzept: »Der Kleihues-Bau mit seiner ausgeprägt anspruchsvollen musealen Bauausrichtung fordert ein nuanciertes, wohl überlegtes Präsentationskonzept, da er eine Erwartungshaltung beim Publikum weckt, die nicht enttäuscht werden sollte. Daran sind die privaten Aussteller von 2000 bis 2003 gescheitert.« Seither wird die Sammlungs- und Ausstellungsaktivität um eine die Stadtgeschichte einbeziehende, kulturhistorische Sparte erweitert. So präsentiert sich das Museum bis heute – in diesem Sommer etwa mit Werken von HAP Grieshaber und Gert Fabritius in einer Kunstausstellung im EG, während im OG die Geschichte Kornwestheims während der NS-Zeit beleuchtet wird. 2017 noch musste das Museum die Diskussion überstehen, ob es zu Sparzwecken erneut an ein Auktionshaus verpachtet, oder gar in Teilen als Mensa für die benachbarte Schule dienen solle. Glücklicherweise hat sich der Gemeinderat dafür entschieden, den Museumsbetrieb weiterzuführen, wenn auch mit reduziertem Budget ausgestattet. Dass das Gebäude – noch keine 30 Jahre alt – kurz zuvor auf Initiative des Landesdenkmalamts unter Denkmalschutz gestellt worden war, mag das Verantwortungsbewusstsein des Rats gefördert haben. In seiner Würdigung betonte das Denkmalamt die hohe gestalterische Qualität und den sorgfältigen Entwurf des Baus, der von der Architektur bis ins Ausstattungsdetail reiche.

Beiläufige Rationalität

»Architektonische Konzeptionen« so hatte Kleihues einmal formuliert, »sollten sich weder beliebig in Verstand auflösen noch umgekehrt durch Verstand allein beim Entwerfen verschlüsseln lassen.« [2] Diese Spannung aus Rationalität einerseits und Emotion oder Subjektivität andererseits sowohl in Rezeption als auch im Entwurfsprozess ist bei Kleihues in einer Mischung aus strenger Geometrie und einem irrationalen Element aufgebaut. Dieses irrationale Element kann auch durch eine überbordende Rationalität erzeugt werden – etwa indem das Rationalität vermittelnde Element (z. B. ein Quadrat) einer Komposition derart häufig eingeschrieben ist, dass hieraus eine gänzlich eigenständige Wirkung entstehen kann. Ein solches zutiefst postmodernes Denken mag uns heute fremd sein, um sich jedoch von der Dominanz eines verengten und dogmatisch gewordenen Moderneverständnisses zu lösen, war diese reflektierende Beschäftigung mit der Sprache der Architektur nicht nur Therapie, sondern auch ein Weg zu neuen Ausdrucksmitteln. Die Gratwanderung zwischen Poesie und Bemühtheit gelingt freilich leichter, wenn sie mit Elementen kombiniert wird, die aus anderen Referenzsystemen entnommen sind und das rationale System durch Unregelmäßigkeit brechen. In Kornwestheim findet sich die rationale Komponente in einer Kombination aus geometrischen Formen – Halbkreis, Rechteck, Dreieck und Parallelogramm, die (nicht wahrnehmbar) einem Quadrat eingeschrieben sind. Diese Konzeption ergibt ein solch sinnfälliges Ganzes, dass sich diese geometrische Grundordnung nicht aufdringlich in den Vordergrund spielt. Zwischen Ausstellungstrakt, Eingangs- und Erschließungsbereich und dem in der Halbrotunde untergebrachten und separat erschließbaren Vortragsraum wurde eine sich nach oben verjüngende Treppe eingefügt. Dazu kommen eigensinnige formale Elemente: die spitz zulaufenden Sheds des oberen Saals, die weiß lackierten Stahlelemente mit großem rundem Loch, die strenge Ornamentik der Fassadenanker aus Edelstahl, mit denen die Platten aus – auch ansonsten in Kornwestheim vielerorts eingesetztem – Cannstatter Travertin befestigt sind.

»Das erwartet man in Köln«

Entwurfserfindungen im Innern wie der als Glaskasten in den Ausstellungsraum gedrehte Kassenbereich sorgen für Belebung und sind zudem praktisch: Die Person an der Kasse kann so auch Aufsichtsfunktionen übernehmen. Dieser Raum mag aus heutiger Sicht etwas klein dimensioniert erscheinen – die mittlerweile ausufernde Verkaufsaktivität war jedoch hier, wie auch in anderen Museen der 80er Jahre, noch nicht vorhergesehen worden.

Auch an anderen Stellen im Gebäude finden sich funktionale Gründe für den formalen Eigensinn. Allen voran die raffinierte Tageslichtführung der beiden übereinandergestapelten Ausstellungsräume: der obere erhält Licht durch die nach Norden gerichteten Sheds unter denen eine konvexe Lichtdecke angebracht ist, der untere, 400 m² messende, durch ein Oberlicht entlang der Längsseite im Osten unterhalb eines leicht nach innen gekippten Fensterbands im OG. Ein über beide Geschosse offener Bereich verbindet die beiden Ausstellungsebenen miteinander und sorgt dafür, dass der obere Galerieraum, 320 m² groß, nicht zu einem langen Schlauch wird.

Präsenz am Ort

Zum Museum gelangt man über einen großen Platz, der von der Innenstadt zu einem Park überleitet. Der markante Turm des Rathauses von Paul Bonatz (1935) befindet sich in Sichtweite. Der Kleihues-Bau liegt etwas zurückgesetzt und prägt so in nobler Zurückhaltung, aber durchaus als selbstbewusste Erscheinung, die Szenerie am Platz. Die Sheddächer, die weißen Stahlteile und die wenigen Fenster verleihen der hermetischen Präsenz des Museums eine maßstäbliche Griffigkeit, die es trotz aller Strenge zu keinem Moment monumental oder erzieherisch wirken lässt. Im Innern bewirkt v. a. die Sorgfalt von Lichtplanung, Raumkomposition und Funktionalität, dass sich die zeittypischen Details, wie etwa der Teppichboden, nicht in den Vordergrund drängen. Sorgfältige Detailplanung und Ausführung haben dafür gesorgt, dass bis heute nicht grundlegend saniert werden musste.

Und so ist man auch kaum überrascht, wenn die Museumsdirektorin Saskia Dams, erst seit Kurzem im Amt, von dem Gebäude schwärmt: »So etwas ­erwartet man in Köln.« Sie betont die Verknüpfung von räumlicher Qualität und guter Nutzbarkeit, wie z. B. bei der durchdachten Anlieferung von Kunstwerken oder den Präsentationsmöglichkeiten selbst für größere Skulpturen.

Wurde zur Eröffnung vom Ärger der Bürger über die Verschwendung der Steuergelder berichtet, sei das Museum heute »essentieller Bestandteil des Kulturangebots der Stadt Kornwestheim«, so die Oberbürgermeisterin Ursula Keck. »Dass das Museum im Kleihues-Bau nicht nur Kunst zeigt, sondern sich auch stadtgeschichtlichen Ausstellungen widmet, unterstreicht die Verankerung des Museums in der Kornwestheimer Bürgerschaft.«

Mit dem neuen Kultur- und Kongresszentrum, das seit 2013 den Vorgängerbau aus der Nachkriegszeit ersetzt, hat es ein dominantes Gegenüber bekommen, das die Bedeutung dieses »Kulturkarrees« stärkt. Die Feinfühligkeit des Kleihues-Baus freilich ist vom neuen Nachbarn nicht erreicht worden, sie ist dadurch jedoch umso besser wahrnehmbar.

db, Di., 2018.09.04



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db 2018|09 Kunst und Architektur

01. März 2016Christian Holl
db

Mit Bauch und Hirn

Auf Klischees kindgerechten Bauens haben die Architekten beim Bau dieses Kinder- und Familienzentrums erfreulicherweise verzichtet. Sie haben sich darauf...

Auf Klischees kindgerechten Bauens haben die Architekten beim Bau dieses Kinder- und Familienzentrums erfreulicherweise verzichtet. Sie haben sich darauf...

Auf Klischees kindgerechten Bauens haben die Architekten beim Bau dieses Kinder- und Familienzentrums erfreulicherweise verzichtet. Sie haben sich darauf konzentriert, Klarheit durch reduzierte und abstrahierte Formen zu schaffen. Zum Glück sind sie auch darin nicht zu weit gegangen.

Poppenweiler ist heute zwar ein Stadtteil von Ludwigsburg, bis 1975 war es aber eine selbstständige Gemeinde. Durch Neckar und Felder von der Kernstadt getrennt, hat sich der etwas mehr als 4 000 Einwohner zählende Ortsteil seinen ‧eigenständigen, von Landwirtschaft und Weinbau geprägten Charakter bewahrt. Direkt an die ehemalige Kelter grenzt das Schul- und Freizeitgelände Poppenweilers. Grundschule, Turn- und Schwimmhalle sowie zwei Sportplätze sind dort um ein Familien- und Kinderzentrum erweitert worden. Dazu hat die Stadt ein Wohnhaus aus den frühen 90er Jahren aufgekauft und kleinere Nachbargebäude abgerissen. Für den Umbau des Wohnhauses und den Neubau des Kindergartens ist das junge Büro VON M Architekten aus Stuttgart in einem VOF-Verfahren u. a. jungen Büros ausgewählt worden.

In der Abstraktion liegt die Kraft

Der Entwurf nimmt Elemente des Bestands und der Umgebung auf und entwickelt daraus eine ruhige, abstrahierende Sprache. Der Bestandsbau hatte Loggien, die geschlossen wurden sowie einen vorstehenden Erker mit Balkonen, der bis auf die Ebene der Längswand rückgebaut wurde, auch der Dachüberstand wurde auf ein Minimum reduziert. Der mit einem WDVS und einem sandfarbenen Putz versehene Altbau lässt sich nun nicht mehr ohne Weiteres zeitlich einordnen – man könnte ihn auch für ein deutlich älteres, saniertes Bauernhaus halten. An ihn schließt sich der Neubau des Kindergartens mit 103 Plätzen an, von denen 30 für die Kleinkinderbetreuung reserviert sind. Die Traufkante des Bestands wird übernommen, ansonsten aber unterscheidet sich der Neubau deutlich. Das war auch das erklärte Ziel und einer der Gründe für die Wahl von Holz als Konstruktions- und Fassadenmaterial. Die Gemeinde war einverstanden, gerade für Kindergärten und Kitas ist Holz ein auch von den Bauherren geschätztes Material. Inspiriert wurden die Architekten zudem von den Remisen, Anbauten und Scheunen der Bauernhöfe, wie sie für die Region typisch und im Ort sowie in der unmittelbaren Nachbarschaft zu finden sind. Doch letztlich sei die Entscheidung für Holz aus dem Bauch heraus gefallen, so Dennis Müller, einer der Architekten.

Auch wenn mit den durch die unterschiedliche Dachneigung voneinander getrennten Segmenten auf die Kleinteiligkeit der Umgebung Bezug genommen wird, so hat der Neubau doch nichts von einer sentimentalen Reminiszenz an landwirtschaftliche Gebäude oder ängstlicher Anpassung, sondern formuliert in der Klarheit des (großen) Baukörpervolumens eine eigene Sprache, die das Bild variiert, das wir von der Grundform des Hauses haben. Damit diese Konzeption überzeugt, musste sorgfältig geplant werden. Das Holz ist im Fassadenbereich durchgehend mit einer mit Aluminiumpartikeln versetzten Lasur behandelt, die den Eindruck des natürlich ergrauten Holzes vorwegnimmt, ohne dass die Schattierungen auftreten, die sich ohne diese Lasur unweigerlich ergeben würden. Die vertikale Lattung aus Fichteleisten, offen vor den Fenstern, als Boden-Deckel-Schalung vor den Wänden, wird lediglich im Bereich der Geschossteilung unterbrochen und vereinheitlicht die Straßenfassade. Dass der Kindergarten nach Süden, zur Straße hin geschlossen ist und keine Freiräume angelegt sind, liegt daran, dass die Anwohner direkt gegenüber nicht gestört werden sollten – auch der Eingang wurde deswegen auf die Nordseite gelegt. Man hat sich darauf konzentriert, den Baukörper nach Norden großzügig mit bis zum Boden reichenden festverglasten Fenstern zu öffnen. Öffnungsflügel liegen hinter den auf Lücke gesetzten Fassadenbekleidungen und sind von außen nicht sichtbar. Dank des nach Norden abfallenden Grundstücks kann sich das halb im Erdreich liegende EG, in dem die Kleinkinder betreut werden, ebenerdig an den Außenraum anschließen.

Konstruiert ist der Kindergarten aus vorgefertigten Holzständertafeln in Schottenbauweise, die Ständerkonstruktion aus Fichte ist mit DWD-Platten außen und OSB-Platten innen beplankt. Dach und Geschossdecken wurden aus massivem Brettsperrholz gefertigt. Eine Splittschüttung unter dem Estrich half, die Lärmschutzwerte einzuhalten. In die auf dem Betonfundament montierten Tafeln ließen sich die umfangreichen Technikinstallationen (u. a. für eine kontrollierte Be- und Entlüftung) integrieren. Konstruktionsebene und Technikebene der Tafelelemente verspringen am Schnittpunkt der unterschiedlich geneigten Dachflächen gegeneinander – so konnte die Geometrie der Dächer auch konstruktiv schlüssig bewältigt werden, die Giebelaußenflächen liegen in derselben Ebene. Auch das ein Vorteil des Bauens mit vorgefertigten Holzelementen – ihn zu nutzen bedarf es freilich umso sorgfältigerer Planung, denn Fehler können vor Ort nicht mehr gutgemacht werden.

Lebendig durch Variation

Bis auf die innenliegenden Sanitärbereiche und Schlafkojen im EG, die mit farbig beschichteten Gipskartonplatten bekleidet wurden, sind die Holztafeln mit hell lasierten Dreischichtplatten beplankt. Sie hellen die Räume auf, vor Ort wirken sie glücklicherweise weniger steril, als es auf den Bildern den Anschein hat. Grundsätzlich haben die Architekten nur an wenigen Stellen Farbe eingesetzt: die Lebendigkeit kommt durch die Kinder und die Nutzung, so die Überzeugung. Die helle Lasur mindert die Dominanz der Maserung; aus Kostengründen wurde darauf verzichtet, auf die beste Oberflächenqualität zurückzugreifen. Und tatsächlich liegen die Kosten für den Neubau in einem moderaten Bereich: mit etwa 1750 Euro pro Quadratmeter reine Baukosten ist man innerhalb des vorgegebenen Gesamtbudgets von rund 3,8 Mio. Euro geblieben.

Die Raumaufteilung folgt der Konstruktion, drei Galerien im DG sind untereinander über einen Gang verbunden, Einschnitte im OG sorgen dafür, dass auch in die im Erdreich liegenden Bereiche des EGs ausreichend Licht fällt. Die Fläche der Galerien ist soweit reduziert, dass sie baurechtlich nicht als DG ‧gewertet wird, was den Brandschutz erheblich erleichtert: Fluchtwege in beide Längsrichtungen der untereinander verbundenen Räume erfüllen die Anforderungen ausreichend, die Abbrandraten werden entweder durch die Dimension der Beplankung oder durch die Verwendung von Gipskartonplatten gewährleistet.

Die Verbindung der Räume ist aber auch aus Sicht der Nutzung sinnvoll. Im Kindergarten sind die Räume nicht nach Gruppen, sondern thematisch geordnet – einer ist Lesen und Spielen vorbehalten, die weiteren für Theater und Kunst, Rollenspiel sowie Werken eingerichtet. Ein Musikraum ist im Altbau, in dem sich auch eine Küche und ein Essraum, die Büros und ein getrennt zugänglicher Familienraum befinden. Dieser kann für Besprechungen, kleine Veranstaltungen, Seminare oder auch einfach nur als Treffpunkt genutzt werden. Als Bodenbelag wurde meist graues Linoleum verwendet. Die Möbel und Einbauten sind größtenteils von den Architekten zum Preis von Serienprodukten entworfen worden, einige wurden auch aus den hier zusammengefassten Einrichtungen übernommen. Man mag das z. T. aufgenommene Hausmotiv etwas überstrapaziert finden, allerdings drängt es sich einem vor Ort nicht übermäßig auf.

Das Hausmotiv, das dem Entwurf zugrunde liegt, ist glücklicherweise im Gesamten mehr eine intellektuelle Stütze, als ein sich in den Vordergrund spielendes Element. Das, in Verbindung mit Holzfassaden gerade im ländlichen Kontext schon seit geraumer Zeit überstrapazierte Bild des vermeintlichen Haus-Urtyps ist schließlich nur ein Konstrukt. Es bekommt hier dank der variablen Interpretation eine Lebendigkeit, derer es bedarf, um nicht zum unhinterfragten Klischee zu verkümmern.

db, Di., 2016.03.01



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db 2016|03 Holz

20. Februar 2015Christian Holl
Bauwelt

Kein Leitbild ist keine Lösung

Karlsruhe wagt sich an den großen Plan. Bis 2016 soll ein räumliches Leitbild für die Gesamtstadt entwickelt werden. Das Verfahren ist aufwendig, die Methode ein Wagnis, aber man öffnet wieder die Perspektive, die ganze Stadt in den Blick zu nehmen – ein von deutschen Städten lange vernachlässigter Anspruch.

Karlsruhe wagt sich an den großen Plan. Bis 2016 soll ein räumliches Leitbild für die Gesamtstadt entwickelt werden. Das Verfahren ist aufwendig, die Methode ein Wagnis, aber man öffnet wieder die Perspektive, die ganze Stadt in den Blick zu nehmen – ein von deutschen Städten lange vernachlässigter Anspruch.

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Bauwelt 2015|08 Kantor, Krieg und Kernkraft

08. März 2013Christian Holl
TEC21

Vulkanwelt, Gräserwald und Regenbogengarten

Architektur muss keine Geschichten erzählen. Sie kann aber Impulse setzen, damit die Nutzer in einer spezifischen Atmosphäre dazu angeregt werden, sich durch eigene Geschichten die Architektur anzueignen.
«Die Baupiloten» aus Berlin gehen diesen Weg – indem sie sich früh intensiv mit den Nutzerinnen und Nutzern über deren Vorstellungen von Architektur auseinandersetzen.

Architektur muss keine Geschichten erzählen. Sie kann aber Impulse setzen, damit die Nutzer in einer spezifischen Atmosphäre dazu angeregt werden, sich durch eigene Geschichten die Architektur anzueignen.
«Die Baupiloten» aus Berlin gehen diesen Weg – indem sie sich früh intensiv mit den Nutzerinnen und Nutzern über deren Vorstellungen von Architektur auseinandersetzen.

Architektur sagt etwas darüber aus, wie Menschen ihren Umgang miteinander regeln, wie sie einander und sich selbst sehen beziehungsweise gesehen werden wollen. Architektur kann zu einer Erzählung werden, die von dem berichtet, wie Menschen sie nutzen.

Gemeint ist mit «Erzählung» nicht die Wiedergabe eines Geschehens, sondern eine Form, sein Leben zu begreifen, seine Rolle in der Welt zu verstehen und zu gestalten. Wenn Menschen der Architektur ihre eigenen Geschichten einschreiben, dann kann man davon sprechen, dass sie sich mit einem Gebäude identifizieren. Eine solche Identifikation stellt sich umso eher ein, je besser die Kommunikation zwischen Architekten und Nutzern funktioniert. Behinderungen erfährt der verbale Austausch, weil je andere Vokabulare verwendet werden. Vorstellungen und Wahrnehmung von Architektur sind oft divers, Fachsprache und alltagsweltliche Bedürfnisse artikulieren sich unterschiedlich. Die Möglichkeiten der Verständigung zwischen Profis und Laien loten «Die Baupiloten» an der Schnittstelle von Lehre, Forschung und Praxis in partizipativen Prozessen aus. Die Grundthese dabei ist, dass Atmosphären als zentrales Instrument der Verständigung zwischen Architekt und Nutzer geeignet sind, weil sie die präzise architektonische Festlegung meiden. Auf der anderen Seite können sich Nutzer mitteilen, ohne von der vermeintlichen Notwendigkeit einer korrekten Formulierung überfordert zu werden.

Es lohnt sich, einen Blick auf die konkrete und jeweils spezifische Form zu werfen, mit der die Baupiloten methodisch auf verschiedene Situationen reagieren.

Ausführliche Entscheidungsfindung

An der Nikolaus-August-Otto-Oberschule in Berlin, einer Montessori-Gemeinschaftsschule, sollte, nachdem 2011 ein mehr oder weniger konventioneller Neubau eingeweiht wurde, ein experimenteller Begegnungspavillon entstehen. In einem ersten Schritt hatten die Schüler mit Collagen dargestellt, welche Atmosphäre ein solcher Pavillon ausstrahlen könnte. Diesen Collagen wurden Namen gegeben, die die bildliche Atmosphäre um eine sprachliche erweiterten. Die Schüler und die Studierenden der Baupiloten wählten gemeinsam einen Favoriten aus, und zwar den «tropischen Gräserwald», auf dessen Grundlage die Studierenden erste architektonische Fantasien entwickelten. In einem nächsten Schritt tauschten sich Schüler und Studierende über die Orte aus, die sie regelmässig besuchen, und darüber, was sie ihnen bedeuten, sodass die Studierenden ein Gefühl dafür bekamen, wie Schüler den Raum nutzen. Dann wurden in einem Workshop erneut gemeinsam Entwürfe von Elementen konzipiert mit Qualitäten, die sich Schüler von ihrem Pavillon erwarten – ein besondere Schaukel etwa oder ein Versteck, das die Beobachtung anderer zulässt. Diese Elemente wurden von den Studierenden zu einem modular aufgebauten Konzept für einen Pavillon weiterentwickelt. Nach erneuter Diskussion über die Entwürfe wurde eine Wahl getroffen. Realisiert wurde schliesslich ein aus Holzelementen aufgebauter Pavillon, mit Sitznischen und Rückzugsbereichen unterschiedlicher Grösse, dessen farbige und transluzente Fenster für verschiedene Stimmungen sorgen (Abb. 05).

Straffer Partizipationsprozess

Nicht immer ist ein solch ausführlicher Beteiligungsprozess möglich oder gewünscht. Beim Neubau der Kindertagesstätte (Kita) Lichtenbergweg für etwa 100 Kinder in Leipzig sollte der Partizipationsprozess straff durchgeführt werden, nicht zuletzt, weil innerhalb der Bauherrenschaft Skepsis bestand, ob die Beteiligung für die Bauaufgabe ausreichend belastbare Ergebnisse liefern würde. Das in einem grossen Garten mit vielen Bäumen gelegene Grundstück sollte so bebaut werden, dass es sich in die Nachbarschaft der von Eigenheimen geprägten Strasse fügt. In einer ersten Diskussion wurden mit den Pädagogen, den Bauherrenvertretern (Hochbauamt und Jugendamt), dem Träger und der Kita-Leitung Wünsche und Erwartungen, Prioritäten und Raumnutzungen, der Zusammenhang zwischen pädagogischem Konzept und Architektur erfasst. Ergänzt wurde dies durch atmosphärische Begriffe, die auch gegensätzlich sein konnten – etwa geborgen, lichtdurchflutet, veränderbar. Der Partizipationsworkshop mit den Kindern griff ein bereits vorher in der Kita behandeltes Thema auf: die vier Elemente. Bilder von Traumwelten der Kinder gaben erste Einblicke in deren Wünsche. Die Drei- bis Vierjährigen bauten in Kartons Modelle eines Waldgartens, «mit all den fantastischen Dingen zum Klettern, Liegen, Schaukeln, dem raschelnden Laub oder dem erdigen Boden». Die Vorschulklasse entschied, in Gruppen einen Regenbogengarten und eine Vulkanwelt zu bauen. Die Baupiloten liessen den Kindern Zeit, erinnerten sie aber hin und wieder an das Thema. Dabei sorgten Begriffe wie «Vulkan», «warm», «kuschelig», «Regenbogentreppe» und «Aussichtswolke» dafür, dass der Bezug zum Ausgangspunkt des Prozesses präsent blieb.

Die Modelle wurden anschliessend auch hier Schritt für Schritt über Fotomontagen und Schnittskizzen einer architektonischen Umsetzung zugeführt. Der Bau Kita wurde im Frühling 2011 begonnen und 2012 fertiggestellt.

Nicht nur für Kinder und Jugendliche

Ein drittes Beispiel illustriert, dass der an Atmosphären gebundene Partizipationsansatz, entsprechend variiert, auch mit Erwachsenen durchgeführt werden kann. Bei der Sanierung des zwischen Spree und Tiergarten in Berlin gelegenen, denkmalgeschützten Studentenwohnheims Siegmunds Hof aus den 1960er-Jahren wurden auf der Basis von 300 Interviews mit Studierenden zum gemeinschaftlichen Wohnen mögliche Aktivitäten und atmosphärische Beschreibungen destilliert. Im Planspiel «Spiel deinen Wohntraum – Wohn deinen Spielraum» wählten sie verschiedene Aktivitäten, sortierten sie räumlich und charakterisierten sie atmosphärisch.

Das Ergebnis gab Aufschluss über Prioritäten und Defizite des Bestands und das Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit innerhalb gemeinschaftlichen Wohnens. So war dem Freizeitsport ursprünglich zu wenig Bedeutung beigemessen worden, und die Studierenden empfanden die Verbindungen zwischen Innen- und Aussenräumen als unzureichend.

Zusätzlich zur energetischen und bautechnischen Sanierung wurden daher die Wohnungen so umgebaut, dass aus einer rigiden Einzelzimmerreihung eine Struktur aus verschiedenen Wohnungstypen entstand, vom Einzelzimmer bis zur Vierzimmer-Wohngemeinschaft. Terrassen schaffen Übergänge zum Garten, die Freibereiche werden durch grosse Sitzmöbel nutzbar, der Platz vor dem Haus öffnet sich zur Strasse, Gemeinschaftsräume werden thematisch differenziert. Die Häuser werden durch die Namensgebung charakterisiert: Es gibt ein Haus für Kunst- und Gartenfreunde, eines für Sportfreaks und eines für Workaholics.

Die drei Beispiele zeigen die Bandbreite, in der die Partizipationsmethoden der Baupiloten angewendet werden; sie dienen dazu, sinnliche und atmosphärische Qualitäten zu finden, die räumlich interpretiert und mit Namensgebungen, Farben sowie Lichtstimmungen umgesetzt werden können. Bei aller Weiterentwicklung der ersten Ansätze bleiben die Bezüge zu den ersten atmosphärischen Aussagen stets bestehen. Prinzipiell kann diese Methode weiter ausgebaut werden, auch für die Gestaltung von Arbeitswelten etwa ist eine Adaption vorstellbar. Die letztlich gefundenen ungewöhnlichen Konstruktionen und Formen sind dabei in direktem Bezug zu den Ideen der Nutzer entstanden, greifen die narrativen Impulse aus Collagen auf und setzen durch deren Übertragung selbst ihrerseits narrative Impulse.

TEC21, Fr., 2013.03.08



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TEC21 2013|11 Mitmischen

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Publikationen

Presseschau 12

09. Juli 2021Christian Holl
Bauwelt

Heidelberger Balanceakt

Einer der ambitioniertesten Beiträge der IBA Heidelberg, der Vorzeigestadtteil Pat­rick­Henry­Village, wird erst nach dem Ende der IBA­Phase realisiert werden.

Einer der ambitioniertesten Beiträge der IBA Heidelberg, der Vorzeigestadtteil Pat­rick­Henry­Village, wird erst nach dem Ende der IBA­Phase realisiert werden.

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Bauwelt 2021|14 Kleine Wohnungen

21. Januar 2020Christian Holl
db

Wohltuender Widerpart

Stadtbaustein nennen die Architekten ihren Erweiterungsbau des Landratsamts in Bad Kissingen, der sich tatsächlich passgenau, als wäre es das letzte Stück eines Baukastens, in den Bestand fügt. Auch farblich gelang diese Einpassung. Beeindruckend, wie genau jedes Detail behandelt wurde. Das streng Geordnete dient dabei als wohltuender Widerpart des Spontanen, Gewachsenen, Vielfältigen ringsumher.

Stadtbaustein nennen die Architekten ihren Erweiterungsbau des Landratsamts in Bad Kissingen, der sich tatsächlich passgenau, als wäre es das letzte Stück eines Baukastens, in den Bestand fügt. Auch farblich gelang diese Einpassung. Beeindruckend, wie genau jedes Detail behandelt wurde. Das streng Geordnete dient dabei als wohltuender Widerpart des Spontanen, Gewachsenen, Vielfältigen ringsumher.

Es herrscht trübes Wetter am Tag der Projektbesichtigung im November. Der Weg vom Bahnhof führt durch die Innenstadt des gerade mal knapp 25.000 Einwohner zählenden, aber selbstbewussten unterfränkischen Kurorts Bad Kissingen. Hier hat sich früher einmal die internationale Haute Vaulet zur Kur eingefunden, aber auch um Geschäfte zu machen, Politik zu betreiben oder sich dem ein oder anderen Techtelmechtel zu widmen.

Wenngleich es nicht mehr diese Bedeutung hat, steht Bad Kissingen heute gut da. Die Delle, die die Gesundheits-Strukturreform von 1996 hervorgerufen hatte, liegt in der Vergangenheit, zuletzt zählte man über 1,6 Mio. Übernachtungen im Jahr.

Selbst im November zeigt sich die Stadt alles andere als grau. Die Putzfassaden sind in verschiedenen Gelb-, Rot-, Braun- oder Grüntönen gehalten, Buntsandstein in rötlicher, grünlicher und gelblicher Tönung ist zu finden, Ziegel-, Metall- und Betonfassaden ebenso. Mögen auch die hellen und warmen Farben überwiegen – der etwas weiter gefasste Kontext gibt keine eindeutige Empfehlung dafür ab, wie hier ein neuer Baukörper zu gestalten ist.

Das galt auch für den Erweiterungs-Neubau des Landratsamts, selbst dann, wenn man nur dessen Nachbarbebauung am Altstadtrand ins Visier nimmt. Er war notwendig, um dem gestiegenen Platzbedarf Rechnung zu tragen. Zwei niedrigere Gebäude aus der Nachkriegszeit wurden dafür abgerissen. 2019 eröffnet, ergänzt er zwei Bestandsbauten des Amts. Einer davon, gerade frisch saniert und energetisch ertüchtigt, ist aus den 60ern und besteht aus einem freistehenden Sitzungssaal mit einer dunkel eloxiertem Metallhülle sowie einem Verwaltungsbau, dessen weiße Fassade zeittypisch das Skelettraster der Tragstruktur ablesbar macht – inklusive Staffelgeschoss und Flugdach. Der andere, aus den 80ern, zeigt den eher hilflosen Versuch, historische Formen zu adaptieren: mit Krüppelwalmdächern und weißgerahmten, ockerfarbenen Fassadenelementen über einem grauen Natursteinsockel, wenig elegant proportioniert. Weitere Nachbarn des Erweiterungsbaus sind u. a. ein Fachwerkhaus mit ockerfarbenen Ausfachungen, Gebäude mit sand- und orangefarbenen Putzfassaden, eine davon bemalt. Letztlich diente den Architekten der mächtige Sandsteinbau des Rathauses in Sichtweite, 1709 als Adelssitz errichtet, als entscheidende Referenz für die Fassade des Neubaus.

Gut ausbalanciert

Schon im Wettbewerb, den Steimle Architekten 2016 nach einem Bewerbungsverfahren gewinnen konnten (ein zweiter Preis wurde nicht vergeben), hatte man das Fassadenmaterial definiert, an dem bis zur Realisierung festgehalten wurde: großflächige Betonfertigteile, die mit Zuschlägen aus Mainsand und Kalkstein eine dem Sandstein ähnliche, hellbeige Farbe bekommen. Die Betonfertigteil-Fassade soll die angestrebte monolithische Wirkung des prägnant und kompakt proportionierten Bauvolumens unterstreichen. Es wirkt, als wären ein drei- und ein viergeschossiger Baukörper ineinandergeschoben. Dadurch nimmt das Gebäude die unterschiedlichen Höhen der Umgebung auf: Zum Rathaus und den niedrigeren Nachbarn hin ist es dreigeschossig, zu den höheren Bestandsgebäuden des Amts wiederum viergeschossig.

Wie aus einzelnen Quadern genau in den Kontext eingepasst, ergeben sich dabei leichte Rücksprünge, führen zum Haupteingang an der Nordseite und lassen auf der Westseite eine Lücke zur Nachbarbebauung, sodass der Charakter der Altstadt aus kleinen Plätzen und Gassen fortgeschrieben wird. Der Stadtbaustein, wie die Architekten das Haus nennen, wird dem Kontext eingefügt, ohne jedoch auf eine eigenständige Präsenz im Stadtraum zu verzichten.

Die Balance aus Eingliederung und Selbstbewusstsein der Zeitgenossenschaft ist auch an der Fassadendifferenzierung abzulesen: Sockel und Faschen, beide leicht eingerückt, sind aus scharriertem Beton, wirken dadurch etwas heller und gehen ins Gräuliche. Die champagnerfarbenen Fensterrahmen aus eloxiertem Aluminium sind farblich fein darauf abgestimmt. Selbst die Sonnenschutzblenden zeigen sich in der Farbe der Betonfertigteile, sodass auch bei Verschattung der Fenster der homogene Charakter nicht beeinträchtigt wird. Einen kräftigen Kontrast dazu bildet das Dunkelbraun des Verbindungsstegs zwischen Neubau und Bestand im 2. OG sowie des eingeschobenen Volumens für den Sitzungssaal im EG an der Nordwestecke. Nie steht in Zweifel, dass dies ein moderner Bau ist, aber genauso wenig sollte er nach Absicht der Architekten seine Nachbarn übertrumpfen oder erdrücken – was auch bestens funktioniert.

Lohnender Aufwand

Viel Wert wurde auf die sehr akkurate Planung und Verarbeitung der Beton-Fertigteile gelegt. So auch bei ihrer Farbgebung, die man in mehreren Varianten bis hin zum Maßstab 1:1 untersuchte – zu wichtig war sie den Planern, als dass man sie dem Zufall hätte überlassen wollen. Das gilt auch für weitere ­Details: Die geschlossenen Fugen zwischen den Betonfertigteilen sind ockerfarben besandet, die Betonoberflächen selbst wurden gesäuert, um eine leicht strukturierte Oberfläche, die das Licht in einer dem Sandstein vergleichbaren Weise bricht, zu erzeugen. Die einzelnen Fertigteile zeigen sich ein klein wenig unterschiedlich, was der Gesamtwirkung aber eher guttut als schadet. Der Aufwand hat sich gelohnt – farblich vermittelt das Haus gelungen innerhalb seiner heterogenen Nachbarschaft, es ergänzt die eigenwilligen Nachbarbauten, anstatt sie herauszufordern.

Damit Regenwasser nicht bald schon Spuren hinterlässt und den makellosen Eindruck trübt, wurden die Fertigteile tiefenhydrophobiert. Das müsse man, so die Architekten, sicher irgendwann wiederholen, eine Betonfassade muss eben gepflegt werden, wie Putzfassaden auch.

Von außen fallen zudem wenige, bündig in der Fassade stehende, geschosshohe Fensterelemente auf – diese Prallscheiben aus Sonnenschutzglas zeigen an, wo die Flure liegen. Weiß man dies, könnte man also von außen bei sehr sorgfältiger Analyse schon erkennen, wie das Innere organisiert ist: Wie Windmühlenflügel sind die einzelnen Bürotrakte um einen zentralen Kern angeordnet, der wie die Geschossdecken aus Sichtbeton ist. Die Bauteile lassen sich somit thermisch aktivieren: Wasser vom nahegelegenen Liebfrauensee, der in einem unter dem Haus durchführenden Kanal mündet, kann zur Raumtemperierung genutzt werden. Der Kanal im Untergrund ist vor dem Haus an einer Stelle geöffnet, sodass er nicht vollkommen verborgen bleibt. Auf dem Dach des viergeschossigen Gebäudeteils ist eine Photovoltaikanlage installiert. Da man von den obersten Fluren auf das Dach des dreigeschos­sigen Bereichs sieht, verzichtete man dort darauf.

Nichts Nebensächliches

Wie an der Gebäudehülle hat man auch im Innern sehr penibel darauf geachtet, dass sich das Gebäude als präzise ineinander gefügtes Volumen zeigt. Kein Detail war zu nebensächlich, um es nicht zu beachten. Fugen und Spann­löcher der Sichtbetonflächen sind akkurat gesetzt und aufeinander abgestimmt. Der gläserne Aufzug gewährt im Treppenhaus den Blick über die Geschosse hinweg: Überall sind die einzelnen Bauteile streng flächenbündig gesetzt. Beschläge und Türbänder sind so angebracht, dass sie nicht stören. Nischen, etwa vor den Teeküchen und den Sanitärräumen, wurden in einem weiß lasierten Eichenfurnier eingefasst, sodass sie wie saubere Inlays wirken.

Der Fußboden ist in den Büros mit einem »Enomer«-Bodenbelag, in den ­Fluren mit 60 x 120 cm messenden, hellgrauen Großformatfliesen belegt, im Sitzungssaal kamen sie sogar in einem großzügig wirkenden und anspruchsvoll zu verarbeitenden Format von 120 x 240 cm zum Einsatz. Die Trockenbauwände in hellem, fast weißem Cremeton gehalten, wurden mit einer schmalen Fuge von der Sichtbetondecke abgesetzt und auch die Türen erhielten eine umlaufende Schattenfuge. Die Büros werden akustisch durch von der Decke abgehängte Baffeln gezähmt und die ­Fenster können erfreulicherweise von den Mitarbeitern nach eigenem Bedarf geöffnet werden.

Ist im Kontext des unregelmäßigen und vielfältigen Außen die Präzision und ruhige Farbgebung wohltuend und beruhigend, so bekommen sie im Innern fast schon etwas Erzieherisches. Der große Ehrgeiz, Fugen, Bauteile, Farb­nuancen aufeinander abzustimmen, das Fehlen von Fehlern oder Unfertigem macht es schwer, sich vorzustellen, wie sich das Haus durch die Nutzung und die (warum auch nicht) bisweilen eigenwilligen Vorlieben der Menschen, die hier arbeiten, verändern wird – und ob es das eigentlich darf. Dass die Fläche sehr effektiv genutzt wurde und das Innere so kaum Großzügigkeit ausstrahlen kann, ist nicht den Architekten anzulasten.

Vielleicht hätte im Innern ein bisschen Farbe dann doch gutgetan. Ein wenig Farbe holen aber dann doch die Ausblicke ins Haus: Die Stadt ist bunt, selbst im November.

db, Di., 2020.01.21



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db 2020|01-02 Greige

08. März 2019Christian Holl
Bauwelt

Anspruchsvolle Zurückhaltung

Marte.Marte Architekten aus Vorarlberg gewinnen den Wettbewerb für ein Besucherzentrum an der Darmstädter Mathilden­höhe mit einem noblen und dezenten Entwurf. Im Ideenteil machen sie es sich allerdings etwas zu einfach.

Marte.Marte Architekten aus Vorarlberg gewinnen den Wettbewerb für ein Besucherzentrum an der Darmstädter Mathilden­höhe mit einem noblen und dezenten Entwurf. Im Ideenteil machen sie es sich allerdings etwas zu einfach.

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Bauwelt 2019|05 Nordische Bibliotheken

21. September 2018Christian Holl
Bauwelt

Heimat für alle

Wie der Begriff der Heimat zum Teil benutzt wird, ist beklemmend und beunruhigend. Eingeschränkt und zurecht gestutzt, wird er zu einem Instrument des Ausschlusses – das lässt sich auch in der Architektur ablesen. Dabei könnte Heimat auch anders verstanden werden.

Wie der Begriff der Heimat zum Teil benutzt wird, ist beklemmend und beunruhigend. Eingeschränkt und zurecht gestutzt, wird er zu einem Instrument des Ausschlusses – das lässt sich auch in der Architektur ablesen. Dabei könnte Heimat auch anders verstanden werden.

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Bauwelt 2018|19 Digitale Stadt

04. September 2018Christian Holl
db

Städtische Galerie Kornwestheim

Die noch nicht einmal 30 Jahre alte Städtische Galerie Kornwestheim, seit 2003 »Museum im Kleihues-Bau« genannt, wurde im vergangenen Jahr unter Denkmal-schutz gestellt: als »gutes Beispiel für eine Spiel-art der postmodernen Architektur mit zeittypischer, reicher motivischer Gestaltung und künstlerischer Durchdringung von der Großform bis ins Detail«. Vollkommen zu Recht.

Die noch nicht einmal 30 Jahre alte Städtische Galerie Kornwestheim, seit 2003 »Museum im Kleihues-Bau« genannt, wurde im vergangenen Jahr unter Denkmal-schutz gestellt: als »gutes Beispiel für eine Spiel-art der postmodernen Architektur mit zeittypischer, reicher motivischer Gestaltung und künstlerischer Durchdringung von der Großform bis ins Detail«. Vollkommen zu Recht.

Es hat den Anschein, als wäre eigentlich nichts gewesen. Ein paar Gräser wachsen aus den Ritzen der flachen Treppe, die neben einer Rampe zum Eingang führt. Und beim Gang ums Haus entdeckt man dort, wo die Kunst angeliefert werden kann, eine eingedrückte Platte der Natursteinfassade. Aber ansonsten gibt es am Zustand eines Baus, der fast dreißig Jahre »auf dem Buckel hat«, nichts auszusetzen.

Kultur und Sparzwang

In den 80er Jahren hatte sich die Stadt Kornwestheim bei Stuttgart – eine damals etwa 28 000, heute 33 000 Einwohner zählende Gemeinde – entschieden, sich einen Museumsneubau für die stadteigene Kunstsammlung zu gönnen. Die seit 1974 bestehende Galerie der Stadt Kornwestheim verfügte in ihren ersten Jahren zwar über kein eigenes Haus, konnte aber dennoch – begünstigt durch eine Schenkung aus dem Nachlass des Malers und Kunstprofessors Manfred Henninger (1894-1986) – in den 80er Jahren damit beginnen, eine Sammlung aufzubauen. 1987 wurde der hierfür ausgeschriebene Wettbewerb unter vier eingeladenen Büros entschieden. Der erstplatzierte Entwurf von Josef Paul Kleihues wurde realisiert und bereits 1989 eröffnet. Trotz eines engagierten Programms – man zeigte u. a. Joesph Beuys, Georg Baselitz und A. R. Penck – blieb die Besucherzahl weit hinter der Erwartung zurück. In der Zeit von 2000 bis 2003 wurde das Gebäude deswegen an ein Auktionshaus als Galerie verpachtet. 2003 wagte man den Neustart mit angezogener Handbremse: Der Auktionator Gert Nagel konnte im OG ein eigenes Privat-Museum für »bürgerliche Kunst und Kultur« führen – keine gute Idee, wie die 2003 bis Anfang 2018 für städtischen Ausstellungsbetrieb zuständige Irmgard Sedler im Rückblick meinte: man habe »ein Ausstellungsprofil in das Haus für moderne Kunst gebracht, das damit nicht vereinbar war.« [1] Seit dieser Wiedereröffnung firmiert es unter dem Namen »Museum im Kleihues-Bau«. Die Doppelbelegung war freilich nicht von langer Dauer. 2010 heißt es in einer Gemeinderatsvorlage für ein neues Museumskonzept: »Der Kleihues-Bau mit seiner ausgeprägt anspruchsvollen musealen Bauausrichtung fordert ein nuanciertes, wohl überlegtes Präsentationskonzept, da er eine Erwartungshaltung beim Publikum weckt, die nicht enttäuscht werden sollte. Daran sind die privaten Aussteller von 2000 bis 2003 gescheitert.« Seither wird die Sammlungs- und Ausstellungsaktivität um eine die Stadtgeschichte einbeziehende, kulturhistorische Sparte erweitert. So präsentiert sich das Museum bis heute – in diesem Sommer etwa mit Werken von HAP Grieshaber und Gert Fabritius in einer Kunstausstellung im EG, während im OG die Geschichte Kornwestheims während der NS-Zeit beleuchtet wird. 2017 noch musste das Museum die Diskussion überstehen, ob es zu Sparzwecken erneut an ein Auktionshaus verpachtet, oder gar in Teilen als Mensa für die benachbarte Schule dienen solle. Glücklicherweise hat sich der Gemeinderat dafür entschieden, den Museumsbetrieb weiterzuführen, wenn auch mit reduziertem Budget ausgestattet. Dass das Gebäude – noch keine 30 Jahre alt – kurz zuvor auf Initiative des Landesdenkmalamts unter Denkmalschutz gestellt worden war, mag das Verantwortungsbewusstsein des Rats gefördert haben. In seiner Würdigung betonte das Denkmalamt die hohe gestalterische Qualität und den sorgfältigen Entwurf des Baus, der von der Architektur bis ins Ausstattungsdetail reiche.

Beiläufige Rationalität

»Architektonische Konzeptionen« so hatte Kleihues einmal formuliert, »sollten sich weder beliebig in Verstand auflösen noch umgekehrt durch Verstand allein beim Entwerfen verschlüsseln lassen.« [2] Diese Spannung aus Rationalität einerseits und Emotion oder Subjektivität andererseits sowohl in Rezeption als auch im Entwurfsprozess ist bei Kleihues in einer Mischung aus strenger Geometrie und einem irrationalen Element aufgebaut. Dieses irrationale Element kann auch durch eine überbordende Rationalität erzeugt werden – etwa indem das Rationalität vermittelnde Element (z. B. ein Quadrat) einer Komposition derart häufig eingeschrieben ist, dass hieraus eine gänzlich eigenständige Wirkung entstehen kann. Ein solches zutiefst postmodernes Denken mag uns heute fremd sein, um sich jedoch von der Dominanz eines verengten und dogmatisch gewordenen Moderneverständnisses zu lösen, war diese reflektierende Beschäftigung mit der Sprache der Architektur nicht nur Therapie, sondern auch ein Weg zu neuen Ausdrucksmitteln. Die Gratwanderung zwischen Poesie und Bemühtheit gelingt freilich leichter, wenn sie mit Elementen kombiniert wird, die aus anderen Referenzsystemen entnommen sind und das rationale System durch Unregelmäßigkeit brechen. In Kornwestheim findet sich die rationale Komponente in einer Kombination aus geometrischen Formen – Halbkreis, Rechteck, Dreieck und Parallelogramm, die (nicht wahrnehmbar) einem Quadrat eingeschrieben sind. Diese Konzeption ergibt ein solch sinnfälliges Ganzes, dass sich diese geometrische Grundordnung nicht aufdringlich in den Vordergrund spielt. Zwischen Ausstellungstrakt, Eingangs- und Erschließungsbereich und dem in der Halbrotunde untergebrachten und separat erschließbaren Vortragsraum wurde eine sich nach oben verjüngende Treppe eingefügt. Dazu kommen eigensinnige formale Elemente: die spitz zulaufenden Sheds des oberen Saals, die weiß lackierten Stahlelemente mit großem rundem Loch, die strenge Ornamentik der Fassadenanker aus Edelstahl, mit denen die Platten aus – auch ansonsten in Kornwestheim vielerorts eingesetztem – Cannstatter Travertin befestigt sind.

»Das erwartet man in Köln«

Entwurfserfindungen im Innern wie der als Glaskasten in den Ausstellungsraum gedrehte Kassenbereich sorgen für Belebung und sind zudem praktisch: Die Person an der Kasse kann so auch Aufsichtsfunktionen übernehmen. Dieser Raum mag aus heutiger Sicht etwas klein dimensioniert erscheinen – die mittlerweile ausufernde Verkaufsaktivität war jedoch hier, wie auch in anderen Museen der 80er Jahre, noch nicht vorhergesehen worden.

Auch an anderen Stellen im Gebäude finden sich funktionale Gründe für den formalen Eigensinn. Allen voran die raffinierte Tageslichtführung der beiden übereinandergestapelten Ausstellungsräume: der obere erhält Licht durch die nach Norden gerichteten Sheds unter denen eine konvexe Lichtdecke angebracht ist, der untere, 400 m² messende, durch ein Oberlicht entlang der Längsseite im Osten unterhalb eines leicht nach innen gekippten Fensterbands im OG. Ein über beide Geschosse offener Bereich verbindet die beiden Ausstellungsebenen miteinander und sorgt dafür, dass der obere Galerieraum, 320 m² groß, nicht zu einem langen Schlauch wird.

Präsenz am Ort

Zum Museum gelangt man über einen großen Platz, der von der Innenstadt zu einem Park überleitet. Der markante Turm des Rathauses von Paul Bonatz (1935) befindet sich in Sichtweite. Der Kleihues-Bau liegt etwas zurückgesetzt und prägt so in nobler Zurückhaltung, aber durchaus als selbstbewusste Erscheinung, die Szenerie am Platz. Die Sheddächer, die weißen Stahlteile und die wenigen Fenster verleihen der hermetischen Präsenz des Museums eine maßstäbliche Griffigkeit, die es trotz aller Strenge zu keinem Moment monumental oder erzieherisch wirken lässt. Im Innern bewirkt v. a. die Sorgfalt von Lichtplanung, Raumkomposition und Funktionalität, dass sich die zeittypischen Details, wie etwa der Teppichboden, nicht in den Vordergrund drängen. Sorgfältige Detailplanung und Ausführung haben dafür gesorgt, dass bis heute nicht grundlegend saniert werden musste.

Und so ist man auch kaum überrascht, wenn die Museumsdirektorin Saskia Dams, erst seit Kurzem im Amt, von dem Gebäude schwärmt: »So etwas ­erwartet man in Köln.« Sie betont die Verknüpfung von räumlicher Qualität und guter Nutzbarkeit, wie z. B. bei der durchdachten Anlieferung von Kunstwerken oder den Präsentationsmöglichkeiten selbst für größere Skulpturen.

Wurde zur Eröffnung vom Ärger der Bürger über die Verschwendung der Steuergelder berichtet, sei das Museum heute »essentieller Bestandteil des Kulturangebots der Stadt Kornwestheim«, so die Oberbürgermeisterin Ursula Keck. »Dass das Museum im Kleihues-Bau nicht nur Kunst zeigt, sondern sich auch stadtgeschichtlichen Ausstellungen widmet, unterstreicht die Verankerung des Museums in der Kornwestheimer Bürgerschaft.«

Mit dem neuen Kultur- und Kongresszentrum, das seit 2013 den Vorgängerbau aus der Nachkriegszeit ersetzt, hat es ein dominantes Gegenüber bekommen, das die Bedeutung dieses »Kulturkarrees« stärkt. Die Feinfühligkeit des Kleihues-Baus freilich ist vom neuen Nachbarn nicht erreicht worden, sie ist dadurch jedoch umso besser wahrnehmbar.

db, Di., 2018.09.04



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db 2018|09 Kunst und Architektur

01. März 2016Christian Holl
db

Mit Bauch und Hirn

Auf Klischees kindgerechten Bauens haben die Architekten beim Bau dieses Kinder- und Familienzentrums erfreulicherweise verzichtet. Sie haben sich darauf...

Auf Klischees kindgerechten Bauens haben die Architekten beim Bau dieses Kinder- und Familienzentrums erfreulicherweise verzichtet. Sie haben sich darauf...

Auf Klischees kindgerechten Bauens haben die Architekten beim Bau dieses Kinder- und Familienzentrums erfreulicherweise verzichtet. Sie haben sich darauf konzentriert, Klarheit durch reduzierte und abstrahierte Formen zu schaffen. Zum Glück sind sie auch darin nicht zu weit gegangen.

Poppenweiler ist heute zwar ein Stadtteil von Ludwigsburg, bis 1975 war es aber eine selbstständige Gemeinde. Durch Neckar und Felder von der Kernstadt getrennt, hat sich der etwas mehr als 4 000 Einwohner zählende Ortsteil seinen ‧eigenständigen, von Landwirtschaft und Weinbau geprägten Charakter bewahrt. Direkt an die ehemalige Kelter grenzt das Schul- und Freizeitgelände Poppenweilers. Grundschule, Turn- und Schwimmhalle sowie zwei Sportplätze sind dort um ein Familien- und Kinderzentrum erweitert worden. Dazu hat die Stadt ein Wohnhaus aus den frühen 90er Jahren aufgekauft und kleinere Nachbargebäude abgerissen. Für den Umbau des Wohnhauses und den Neubau des Kindergartens ist das junge Büro VON M Architekten aus Stuttgart in einem VOF-Verfahren u. a. jungen Büros ausgewählt worden.

In der Abstraktion liegt die Kraft

Der Entwurf nimmt Elemente des Bestands und der Umgebung auf und entwickelt daraus eine ruhige, abstrahierende Sprache. Der Bestandsbau hatte Loggien, die geschlossen wurden sowie einen vorstehenden Erker mit Balkonen, der bis auf die Ebene der Längswand rückgebaut wurde, auch der Dachüberstand wurde auf ein Minimum reduziert. Der mit einem WDVS und einem sandfarbenen Putz versehene Altbau lässt sich nun nicht mehr ohne Weiteres zeitlich einordnen – man könnte ihn auch für ein deutlich älteres, saniertes Bauernhaus halten. An ihn schließt sich der Neubau des Kindergartens mit 103 Plätzen an, von denen 30 für die Kleinkinderbetreuung reserviert sind. Die Traufkante des Bestands wird übernommen, ansonsten aber unterscheidet sich der Neubau deutlich. Das war auch das erklärte Ziel und einer der Gründe für die Wahl von Holz als Konstruktions- und Fassadenmaterial. Die Gemeinde war einverstanden, gerade für Kindergärten und Kitas ist Holz ein auch von den Bauherren geschätztes Material. Inspiriert wurden die Architekten zudem von den Remisen, Anbauten und Scheunen der Bauernhöfe, wie sie für die Region typisch und im Ort sowie in der unmittelbaren Nachbarschaft zu finden sind. Doch letztlich sei die Entscheidung für Holz aus dem Bauch heraus gefallen, so Dennis Müller, einer der Architekten.

Auch wenn mit den durch die unterschiedliche Dachneigung voneinander getrennten Segmenten auf die Kleinteiligkeit der Umgebung Bezug genommen wird, so hat der Neubau doch nichts von einer sentimentalen Reminiszenz an landwirtschaftliche Gebäude oder ängstlicher Anpassung, sondern formuliert in der Klarheit des (großen) Baukörpervolumens eine eigene Sprache, die das Bild variiert, das wir von der Grundform des Hauses haben. Damit diese Konzeption überzeugt, musste sorgfältig geplant werden. Das Holz ist im Fassadenbereich durchgehend mit einer mit Aluminiumpartikeln versetzten Lasur behandelt, die den Eindruck des natürlich ergrauten Holzes vorwegnimmt, ohne dass die Schattierungen auftreten, die sich ohne diese Lasur unweigerlich ergeben würden. Die vertikale Lattung aus Fichteleisten, offen vor den Fenstern, als Boden-Deckel-Schalung vor den Wänden, wird lediglich im Bereich der Geschossteilung unterbrochen und vereinheitlicht die Straßenfassade. Dass der Kindergarten nach Süden, zur Straße hin geschlossen ist und keine Freiräume angelegt sind, liegt daran, dass die Anwohner direkt gegenüber nicht gestört werden sollten – auch der Eingang wurde deswegen auf die Nordseite gelegt. Man hat sich darauf konzentriert, den Baukörper nach Norden großzügig mit bis zum Boden reichenden festverglasten Fenstern zu öffnen. Öffnungsflügel liegen hinter den auf Lücke gesetzten Fassadenbekleidungen und sind von außen nicht sichtbar. Dank des nach Norden abfallenden Grundstücks kann sich das halb im Erdreich liegende EG, in dem die Kleinkinder betreut werden, ebenerdig an den Außenraum anschließen.

Konstruiert ist der Kindergarten aus vorgefertigten Holzständertafeln in Schottenbauweise, die Ständerkonstruktion aus Fichte ist mit DWD-Platten außen und OSB-Platten innen beplankt. Dach und Geschossdecken wurden aus massivem Brettsperrholz gefertigt. Eine Splittschüttung unter dem Estrich half, die Lärmschutzwerte einzuhalten. In die auf dem Betonfundament montierten Tafeln ließen sich die umfangreichen Technikinstallationen (u. a. für eine kontrollierte Be- und Entlüftung) integrieren. Konstruktionsebene und Technikebene der Tafelelemente verspringen am Schnittpunkt der unterschiedlich geneigten Dachflächen gegeneinander – so konnte die Geometrie der Dächer auch konstruktiv schlüssig bewältigt werden, die Giebelaußenflächen liegen in derselben Ebene. Auch das ein Vorteil des Bauens mit vorgefertigten Holzelementen – ihn zu nutzen bedarf es freilich umso sorgfältigerer Planung, denn Fehler können vor Ort nicht mehr gutgemacht werden.

Lebendig durch Variation

Bis auf die innenliegenden Sanitärbereiche und Schlafkojen im EG, die mit farbig beschichteten Gipskartonplatten bekleidet wurden, sind die Holztafeln mit hell lasierten Dreischichtplatten beplankt. Sie hellen die Räume auf, vor Ort wirken sie glücklicherweise weniger steril, als es auf den Bildern den Anschein hat. Grundsätzlich haben die Architekten nur an wenigen Stellen Farbe eingesetzt: die Lebendigkeit kommt durch die Kinder und die Nutzung, so die Überzeugung. Die helle Lasur mindert die Dominanz der Maserung; aus Kostengründen wurde darauf verzichtet, auf die beste Oberflächenqualität zurückzugreifen. Und tatsächlich liegen die Kosten für den Neubau in einem moderaten Bereich: mit etwa 1750 Euro pro Quadratmeter reine Baukosten ist man innerhalb des vorgegebenen Gesamtbudgets von rund 3,8 Mio. Euro geblieben.

Die Raumaufteilung folgt der Konstruktion, drei Galerien im DG sind untereinander über einen Gang verbunden, Einschnitte im OG sorgen dafür, dass auch in die im Erdreich liegenden Bereiche des EGs ausreichend Licht fällt. Die Fläche der Galerien ist soweit reduziert, dass sie baurechtlich nicht als DG ‧gewertet wird, was den Brandschutz erheblich erleichtert: Fluchtwege in beide Längsrichtungen der untereinander verbundenen Räume erfüllen die Anforderungen ausreichend, die Abbrandraten werden entweder durch die Dimension der Beplankung oder durch die Verwendung von Gipskartonplatten gewährleistet.

Die Verbindung der Räume ist aber auch aus Sicht der Nutzung sinnvoll. Im Kindergarten sind die Räume nicht nach Gruppen, sondern thematisch geordnet – einer ist Lesen und Spielen vorbehalten, die weiteren für Theater und Kunst, Rollenspiel sowie Werken eingerichtet. Ein Musikraum ist im Altbau, in dem sich auch eine Küche und ein Essraum, die Büros und ein getrennt zugänglicher Familienraum befinden. Dieser kann für Besprechungen, kleine Veranstaltungen, Seminare oder auch einfach nur als Treffpunkt genutzt werden. Als Bodenbelag wurde meist graues Linoleum verwendet. Die Möbel und Einbauten sind größtenteils von den Architekten zum Preis von Serienprodukten entworfen worden, einige wurden auch aus den hier zusammengefassten Einrichtungen übernommen. Man mag das z. T. aufgenommene Hausmotiv etwas überstrapaziert finden, allerdings drängt es sich einem vor Ort nicht übermäßig auf.

Das Hausmotiv, das dem Entwurf zugrunde liegt, ist glücklicherweise im Gesamten mehr eine intellektuelle Stütze, als ein sich in den Vordergrund spielendes Element. Das, in Verbindung mit Holzfassaden gerade im ländlichen Kontext schon seit geraumer Zeit überstrapazierte Bild des vermeintlichen Haus-Urtyps ist schließlich nur ein Konstrukt. Es bekommt hier dank der variablen Interpretation eine Lebendigkeit, derer es bedarf, um nicht zum unhinterfragten Klischee zu verkümmern.

db, Di., 2016.03.01



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db 2016|03 Holz

20. Februar 2015Christian Holl
Bauwelt

Kein Leitbild ist keine Lösung

Karlsruhe wagt sich an den großen Plan. Bis 2016 soll ein räumliches Leitbild für die Gesamtstadt entwickelt werden. Das Verfahren ist aufwendig, die Methode ein Wagnis, aber man öffnet wieder die Perspektive, die ganze Stadt in den Blick zu nehmen – ein von deutschen Städten lange vernachlässigter Anspruch.

Karlsruhe wagt sich an den großen Plan. Bis 2016 soll ein räumliches Leitbild für die Gesamtstadt entwickelt werden. Das Verfahren ist aufwendig, die Methode ein Wagnis, aber man öffnet wieder die Perspektive, die ganze Stadt in den Blick zu nehmen – ein von deutschen Städten lange vernachlässigter Anspruch.

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Bauwelt 2015|08 Kantor, Krieg und Kernkraft

08. März 2013Christian Holl
TEC21

Vulkanwelt, Gräserwald und Regenbogengarten

Architektur muss keine Geschichten erzählen. Sie kann aber Impulse setzen, damit die Nutzer in einer spezifischen Atmosphäre dazu angeregt werden, sich durch eigene Geschichten die Architektur anzueignen.
«Die Baupiloten» aus Berlin gehen diesen Weg – indem sie sich früh intensiv mit den Nutzerinnen und Nutzern über deren Vorstellungen von Architektur auseinandersetzen.

Architektur muss keine Geschichten erzählen. Sie kann aber Impulse setzen, damit die Nutzer in einer spezifischen Atmosphäre dazu angeregt werden, sich durch eigene Geschichten die Architektur anzueignen.
«Die Baupiloten» aus Berlin gehen diesen Weg – indem sie sich früh intensiv mit den Nutzerinnen und Nutzern über deren Vorstellungen von Architektur auseinandersetzen.

Architektur sagt etwas darüber aus, wie Menschen ihren Umgang miteinander regeln, wie sie einander und sich selbst sehen beziehungsweise gesehen werden wollen. Architektur kann zu einer Erzählung werden, die von dem berichtet, wie Menschen sie nutzen.

Gemeint ist mit «Erzählung» nicht die Wiedergabe eines Geschehens, sondern eine Form, sein Leben zu begreifen, seine Rolle in der Welt zu verstehen und zu gestalten. Wenn Menschen der Architektur ihre eigenen Geschichten einschreiben, dann kann man davon sprechen, dass sie sich mit einem Gebäude identifizieren. Eine solche Identifikation stellt sich umso eher ein, je besser die Kommunikation zwischen Architekten und Nutzern funktioniert. Behinderungen erfährt der verbale Austausch, weil je andere Vokabulare verwendet werden. Vorstellungen und Wahrnehmung von Architektur sind oft divers, Fachsprache und alltagsweltliche Bedürfnisse artikulieren sich unterschiedlich. Die Möglichkeiten der Verständigung zwischen Profis und Laien loten «Die Baupiloten» an der Schnittstelle von Lehre, Forschung und Praxis in partizipativen Prozessen aus. Die Grundthese dabei ist, dass Atmosphären als zentrales Instrument der Verständigung zwischen Architekt und Nutzer geeignet sind, weil sie die präzise architektonische Festlegung meiden. Auf der anderen Seite können sich Nutzer mitteilen, ohne von der vermeintlichen Notwendigkeit einer korrekten Formulierung überfordert zu werden.

Es lohnt sich, einen Blick auf die konkrete und jeweils spezifische Form zu werfen, mit der die Baupiloten methodisch auf verschiedene Situationen reagieren.

Ausführliche Entscheidungsfindung

An der Nikolaus-August-Otto-Oberschule in Berlin, einer Montessori-Gemeinschaftsschule, sollte, nachdem 2011 ein mehr oder weniger konventioneller Neubau eingeweiht wurde, ein experimenteller Begegnungspavillon entstehen. In einem ersten Schritt hatten die Schüler mit Collagen dargestellt, welche Atmosphäre ein solcher Pavillon ausstrahlen könnte. Diesen Collagen wurden Namen gegeben, die die bildliche Atmosphäre um eine sprachliche erweiterten. Die Schüler und die Studierenden der Baupiloten wählten gemeinsam einen Favoriten aus, und zwar den «tropischen Gräserwald», auf dessen Grundlage die Studierenden erste architektonische Fantasien entwickelten. In einem nächsten Schritt tauschten sich Schüler und Studierende über die Orte aus, die sie regelmässig besuchen, und darüber, was sie ihnen bedeuten, sodass die Studierenden ein Gefühl dafür bekamen, wie Schüler den Raum nutzen. Dann wurden in einem Workshop erneut gemeinsam Entwürfe von Elementen konzipiert mit Qualitäten, die sich Schüler von ihrem Pavillon erwarten – ein besondere Schaukel etwa oder ein Versteck, das die Beobachtung anderer zulässt. Diese Elemente wurden von den Studierenden zu einem modular aufgebauten Konzept für einen Pavillon weiterentwickelt. Nach erneuter Diskussion über die Entwürfe wurde eine Wahl getroffen. Realisiert wurde schliesslich ein aus Holzelementen aufgebauter Pavillon, mit Sitznischen und Rückzugsbereichen unterschiedlicher Grösse, dessen farbige und transluzente Fenster für verschiedene Stimmungen sorgen (Abb. 05).

Straffer Partizipationsprozess

Nicht immer ist ein solch ausführlicher Beteiligungsprozess möglich oder gewünscht. Beim Neubau der Kindertagesstätte (Kita) Lichtenbergweg für etwa 100 Kinder in Leipzig sollte der Partizipationsprozess straff durchgeführt werden, nicht zuletzt, weil innerhalb der Bauherrenschaft Skepsis bestand, ob die Beteiligung für die Bauaufgabe ausreichend belastbare Ergebnisse liefern würde. Das in einem grossen Garten mit vielen Bäumen gelegene Grundstück sollte so bebaut werden, dass es sich in die Nachbarschaft der von Eigenheimen geprägten Strasse fügt. In einer ersten Diskussion wurden mit den Pädagogen, den Bauherrenvertretern (Hochbauamt und Jugendamt), dem Träger und der Kita-Leitung Wünsche und Erwartungen, Prioritäten und Raumnutzungen, der Zusammenhang zwischen pädagogischem Konzept und Architektur erfasst. Ergänzt wurde dies durch atmosphärische Begriffe, die auch gegensätzlich sein konnten – etwa geborgen, lichtdurchflutet, veränderbar. Der Partizipationsworkshop mit den Kindern griff ein bereits vorher in der Kita behandeltes Thema auf: die vier Elemente. Bilder von Traumwelten der Kinder gaben erste Einblicke in deren Wünsche. Die Drei- bis Vierjährigen bauten in Kartons Modelle eines Waldgartens, «mit all den fantastischen Dingen zum Klettern, Liegen, Schaukeln, dem raschelnden Laub oder dem erdigen Boden». Die Vorschulklasse entschied, in Gruppen einen Regenbogengarten und eine Vulkanwelt zu bauen. Die Baupiloten liessen den Kindern Zeit, erinnerten sie aber hin und wieder an das Thema. Dabei sorgten Begriffe wie «Vulkan», «warm», «kuschelig», «Regenbogentreppe» und «Aussichtswolke» dafür, dass der Bezug zum Ausgangspunkt des Prozesses präsent blieb.

Die Modelle wurden anschliessend auch hier Schritt für Schritt über Fotomontagen und Schnittskizzen einer architektonischen Umsetzung zugeführt. Der Bau Kita wurde im Frühling 2011 begonnen und 2012 fertiggestellt.

Nicht nur für Kinder und Jugendliche

Ein drittes Beispiel illustriert, dass der an Atmosphären gebundene Partizipationsansatz, entsprechend variiert, auch mit Erwachsenen durchgeführt werden kann. Bei der Sanierung des zwischen Spree und Tiergarten in Berlin gelegenen, denkmalgeschützten Studentenwohnheims Siegmunds Hof aus den 1960er-Jahren wurden auf der Basis von 300 Interviews mit Studierenden zum gemeinschaftlichen Wohnen mögliche Aktivitäten und atmosphärische Beschreibungen destilliert. Im Planspiel «Spiel deinen Wohntraum – Wohn deinen Spielraum» wählten sie verschiedene Aktivitäten, sortierten sie räumlich und charakterisierten sie atmosphärisch.

Das Ergebnis gab Aufschluss über Prioritäten und Defizite des Bestands und das Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit innerhalb gemeinschaftlichen Wohnens. So war dem Freizeitsport ursprünglich zu wenig Bedeutung beigemessen worden, und die Studierenden empfanden die Verbindungen zwischen Innen- und Aussenräumen als unzureichend.

Zusätzlich zur energetischen und bautechnischen Sanierung wurden daher die Wohnungen so umgebaut, dass aus einer rigiden Einzelzimmerreihung eine Struktur aus verschiedenen Wohnungstypen entstand, vom Einzelzimmer bis zur Vierzimmer-Wohngemeinschaft. Terrassen schaffen Übergänge zum Garten, die Freibereiche werden durch grosse Sitzmöbel nutzbar, der Platz vor dem Haus öffnet sich zur Strasse, Gemeinschaftsräume werden thematisch differenziert. Die Häuser werden durch die Namensgebung charakterisiert: Es gibt ein Haus für Kunst- und Gartenfreunde, eines für Sportfreaks und eines für Workaholics.

Die drei Beispiele zeigen die Bandbreite, in der die Partizipationsmethoden der Baupiloten angewendet werden; sie dienen dazu, sinnliche und atmosphärische Qualitäten zu finden, die räumlich interpretiert und mit Namensgebungen, Farben sowie Lichtstimmungen umgesetzt werden können. Bei aller Weiterentwicklung der ersten Ansätze bleiben die Bezüge zu den ersten atmosphärischen Aussagen stets bestehen. Prinzipiell kann diese Methode weiter ausgebaut werden, auch für die Gestaltung von Arbeitswelten etwa ist eine Adaption vorstellbar. Die letztlich gefundenen ungewöhnlichen Konstruktionen und Formen sind dabei in direktem Bezug zu den Ideen der Nutzer entstanden, greifen die narrativen Impulse aus Collagen auf und setzen durch deren Übertragung selbst ihrerseits narrative Impulse.

TEC21, Fr., 2013.03.08



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TEC21 2013|11 Mitmischen

24. August 2012Christian Holl
Bauwelt

Ad-hoc-Städtebau rund um die Uhr

Als „ersten Echtzeit-Architekturwettbewerb der Welt“ bezeichnen die Auslober von 72 Hour Urban Action ihre Veranstaltung. Nicht allein Format und Aufgabenstellung sind etwas Besonderes – bei der zweiten Ausgabe des Festivals haben vor allem die Energie und die Euphorie beeindruckt, mit denen die Teil­nehmer den Wettbewerb bestritten.

Als „ersten Echtzeit-Architekturwettbewerb der Welt“ bezeichnen die Auslober von 72 Hour Urban Action ihre Veranstaltung. Nicht allein Format und Aufgabenstellung sind etwas Besonderes – bei der zweiten Ausgabe des Festivals haben vor allem die Energie und die Euphorie beeindruckt, mit denen die Teil­nehmer den Wettbewerb bestritten.

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Bauwelt 2012|33 Industriebauten, neu genutzt

27. Mai 2011Christian Holl
TEC21

Symbol und Figuration

Die neue Synagoge in Mainz von Manuel Herz ist nicht nur ein spektakulärer Neubau. Er thematisiert, wie Architektur produziert wird, welche Beziehung zwischen Form und Inhalt, Symbol und Figuration spielen könnte – verweist damit auf ein heute oft ungenutztes architektonisches Ausdruckspotenzial.

Die neue Synagoge in Mainz von Manuel Herz ist nicht nur ein spektakulärer Neubau. Er thematisiert, wie Architektur produziert wird, welche Beziehung zwischen Form und Inhalt, Symbol und Figuration spielen könnte – verweist damit auf ein heute oft ungenutztes architektonisches Ausdruckspotenzial.

Der Frage nach der Farbe des Synagogenraums weicht der Architekt Manuel Herz aus – sie sei eine eigens angefertigte Mischung, die keinen Namen habe. Sie ist weder Braun noch Gelb, weder Gold noch Bronze und trägt doch von allem etwas in sich. Die Strategie bei der Farbwahl ist symptomatisch für den Entwurf der neuen Synagoge in Mainz, die im September 2010 nach nicht einmal zweijähriger Bauzeit eröffnet wurde. Einer eindeutigen Zuweisung von Bedeutung entzieht sich das Gebäude, soll es sich entziehen. Aber nicht durch eine grösstmögliche Neutralität – im Gegenteil: Nicht neutral soll die neue Synagoge sein, sondern eine Vielfalt von Assoziationen, von Zusammenhängen herstellen, von Lesarten ermöglichen. Die Synagoge von Mainz ist narrativ, sie ist figurativ, aber sie behauptet nichts, sie schafft einen Raum, der jenseits der Narration besteht, der in der Figuration und in der Form Heimat und Trost, Kritik und Denkanstoss zugleich ist.

Die Sprache als Objekt der Welterkundung

Wenn auch in kurzer Zeit gebaut, so reicht die Geschichte der Mainzer Synagoge doch weit zurück. Nach 1945 zählte die Jüdische Gemeinde von Mainz, im 11. und 12. Jahrhundert einer der Mittelpunkte jüdischen Geisteslebens überhaupt, nur noch wenige Mitglieder. Das änderte sich substanziell erst mit der Öffnung von Osteuropa: Namentlich durch Zuzüge aus der ehemaligen Sowjetunion wuchs die Gemeinde auf über 1000 Mitglieder an. Ein Wettbewerb für einen Synagogenneubau wurde ausgeschrieben und 1999 zugunsten des damals gerade 30 Jahre alten Manuel Herz entschieden. Schon Jahre zuvor war der Ort in einem innenstadtnahen Gründerzeitviertel, an dem die 1912 erbaute und 1938 zerstörte Hauptsynagoge gestanden hatte, zum Bauplatz für die neue Synagoge bestimmt worden.

Finanzierungsschwierigkeiten zögerten den Bau hinaus, und mag man auch die Spuren der 1990er-Jahre, allen voran die Syntax Daniel Libeskinds, in der neuen Synagoge erkennen, so hat sie 2010 nichts an Aktualität eingebüsst. Diese Qualität ist nicht zuletzt dem sorgsam entwickelten und durchdachten Konzept zu verdanken. Das zeigt sich bereits in der städtebaulichen Konfiguration.

An zwei Seiten setzt die Synagoge die Baufluchten der Randbebauung des trapezförmigen Blocks fort, wird aber an der dritten so eingeknickt, dass ein Platz vor der Synagoge entsteht, der das Ensemble einbindet, aber auch dessen besonderer Bedeutung gerecht wird (Abb. 2). Die 1988 wiederentdeckten und rekonstruierten Säulenreste des zerstörten Altbaus sind nun Teil dieses Platzes, verbinden Geschichte und Gegenwart ohne Pathos (Abb. 16). Die neue Synagoge umschliesst einen lauschigen Hof, um den sich die angegliederten Wohnungen, die Büroräume, die Schul- und Besprechungszimmer sowie die Räume des Kindergartens legen. Durch die Anordnung des Gebäudes können Sicherheitszäune und Absperrungen auf ein kaum sichtbares Minimum reduziert werden. So recht selbstverständ lich ist das jüdische Leben in Deutschland eben doch noch nicht wieder geworden. Auch wenn Kubatur und Fassadenfarbe mit der Umgebung und den strassenbegleitenden Platanen angenehm harmonieren – dass hier ein aussergewöhnliches Gebäude steht, ist nicht zu übersehen. Die geknickte und gefaltete Gebäudeform ist aus den fünf hebräischen Buchstaben abgeleitet, die für «Qadushah» stehen. Qadushah bedeutet Segnung, Heiligung oder Erhöhung. Dabei ist die Schrift in der jüdischen Tradition, in der die Form der Buchstaben als von Gott gegeben verstanden wird, deutlich mehr als nur eine Form des Zeichens, dem willkürlich eine Bedeutung zugeordnet wird. Die Form selbst und das, was sie bedeutet, bilden eine Einheit: Die Schrift ist selbst das, was sie bezeichnet, die Buchstaben sind reale Objekte, die die Verbindung zu Gott herstellen, sie ermöglichen die konkrete Herstellung von Sinnzusammenhängen, die sich nicht in der Semantik erschöpfen.

Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass die Schrift und die Thora selbst einen räumlichen Kontext bilden. Für die Juden in der Diaspora, verstreut in aller Herren Ländern, stellen sie den gemeinsamen Raum her, in dem sich die Gemeinschaften der Gläubigen durch die Sprache, durch das Lesen der Thora begegnen. Zwischen konkretem Ort und diesem Raum jenseits der realen Erfahrung vermittelt die Mainzer Synagoge: Das geschriebene Wort wird zum realen Ort und verweist auf die Existenz der weltweiten spirituellen Gemeinschaft. Villem Flusser hat diese Komplexität vielleicht am besten zusammengefasst, wenn er von der Sprache als einem «Möglichkeitsfeld, aus dem die Welt wird» spricht, sie als «symbolische Form, als Wohnort des Seins, als Enthüllung und Verhüllung, als Kommunikationsmittel, als Feld der Unsterblichkeit, als Kunstwerk, als Eroberung des Chaos» beschreibt.

Korrespondenzen zwischen Innen und Aussen

Den beiden aus dem Schriftzug sich ergebenden Hochpunkten sind im Innern die Gemeinschaftsräume zugeordnet, unter dem einen liegt ein Versammlungsraum, die Synagoge wird von einem auskragenden Keil markiert, in dem sich das Widderhorn wiedererkennen lässt – es steht für den Bund Gottes mit den Menschen, der Widder war von Abraham anstelle seines Sohnes geopfert worden. Das Blasen des Widderhorns ruft die Gemeinde zusammen, sein Schall soll die Himmelstore öffnen können.

Der Dinglichkeit der Schrift und der Sprache ist auch die Fassade verpflichtet: Es scheint, als seien in sie Rillen eingeritzt, die sich um die unregelmässigen Formen der Fenster legen. Tatsächlich setzt sich die Fassade aus zu Feldern gefügten, trapezförmigen Keramikelementen zusammen, massiv in den Randbereichen der Felder, profiliert in den Mitten. Glänzend glasiert mit einem dunklen Grün, ergeben sich je nach Licht und Standpunkt raffinierte Lichtspiele, Grafiken, Flächen, spiegeln sich Farben und Stimmungen der Umgebung. Durch eine mit Schriftzeichen versehene Tür kommt man ins Innere (Abb. 17). Ein zweigeschossiges, expressives Foyer mit einer schrägen Treppe und schiefen Ebenen öffnet sich, verknüpft den Gemeinschaftsraum für etwa 300 Personen und die weiteren Gemeinderäume zur Rechten mit dem Synagogenraum zur Linken, geradeaus kommt man in den Hof. Die Synagoge ist kein Raum einer durch Segnung inhärenten Heiligkeit, wie das bei christlichen Kirchen der Fall ist – das Gemeindeleben kann und soll sich direkt und unmittelbar in all seiner Vitalität begegnen und befruchten.

Dass die Nutzung der Räume und die Form des Gebäudes sich wunderbar ergänzen, zeigen die beiden Gemeinschaftsräume. Der Versammlungsraum wird von einem aufsteigenden Volumen geprägt, das ihm Grosszügigkeit verleiht, der hintere Bereich hingegen ist flacher und intimer, für kleinere Gruppen lässt sich der Raum auch teilen.

Der durch voluminöse Möbel und breite Brüstungen mächtig wirkende Synagogenraum verbindet zwei Raumideen (Abb. 1). Die Orientierung nach Osten, nach Jerusalem, verlangt nach einer Ausrichtung des Raums, die Praxis der Nutzung, die stärker als in der christlichen Liturgie dem Gemeinschaftlichen verpflichtet ist, hingegen Zentralität. Herz verbindet diese beiden Ansprüche miteinander, indem er den Raum durch das Licht, das durch das gewaltige Widderhorn wie durch eine Schütte in den Raum fliesst, ausrichtet, das Licht aber an den zentralen Punkt in der Mitte, auf das Vorlesepult, fallen lässt. Raumform, Lichtführung und äussere Form werden mit überraschender Selbstverständlichkeit zur Deckung gebracht. In die umlaufende Galerie wurde eine Bibliothek integriert, die Oberflächen sind von einem in Stuck gegossenen Ornament aus hebräischen Buchstaben bedeckt, aus denen sich immer wieder Gebete, Bibelstellen und Piyutim herauslösen – religiöse Dichtungen, die Mainzer Rabbiner während des Mittelalters verfasst hatten. Sie berichten von der Liebe zur Thora, aber auch von der Zerstörung der Gemeinden in der Zeit der Kreuzzüge – es sind diese Zeichen, die auch auf den Genozid im 20. Jahrhundert verweisen, ohne dass die Erinnerung an den Holocaust Macht über den zuversichtlichen Geist des Hauses gewinnt.

Diskurspotenzial durch Synthese

Man mag an den durch die Aussenform vor allem den Wohnungen oder den Nebenräumen auferlegten Zwängen mäkeln, sich fragen, ob man die Form der Fenster innen durch dunkle Rahmen hätte betonen und die Öffnungen damit kleiner erscheinen lassen müssen – aber damit geht man am Wesen dieses Hauses vorbei, das mehr ist als ein Nutzbau. Das Verhältnis zwischen Inhalt und Form stellt sich komplexer dar, als dass es sich mit «deckungsgleich» übersetzen liesse. Die Synagoge zeigt, welches Potenzial Architektur hat, wenn man darauf verzichtet, Figuration und Symbolik, Form und Nutzung getrennt voneinander verstehen zu wollen. Architektur bekommt damit eine Kraft, die anregen kann, die eine Kritik an der banalen Einordnung in einen als Gesetz missverstandenen Kontext formuliert. Diese Architektur reibt sich an der Weigerung vieler Bauten, vieler Architekten, Zeichen und Formen auf ihre Relevanz und ihre Bedeutung hin zu befragen und aktiviert damit ein brachliegendes gesellschaftliches Diskurspotenzial.

Bedauerlich ist, dass sich dieses Potenzial meist nur in Sonderbauten, namentlich denen mit jüdischem Bezug, manifestiert – die Sonderrolle der Juden wird damit zum einen betont, wenn sie nicht gleichzeitig von einer Form der Normalität im Alltag, durch jüdische Läden oder Restaurants begleitet wird. Zum anderen wird die widerständige Kraft der Architektur durch die Sonderrolle wieder geglättet. Und trotzdem: Dieses Haus erzählt von einem Verständnis von Architektur, zu dem uns der Zugang schwerfällt – weil man gelernt hat, ihre Aspekte analytisch voneinander zu trennen, anstatt sie als Einheit zu verstehen. Herz wehrt sich gegen eindeutige Zuweisungen, die im gebauten Wort eine Monokausalität von Entwurfsentscheidung und Formfindung sehen wollen, weil man damit die Qualität der Architektur verkennt. Dieses Misstrauen ist verständlich, wird aber durch das Werk entkräftet: Das Haus spricht für sich selbst.

TEC21, Fr., 2011.05.27



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TEC21 2011|22 Zeichen und Wunder

25. Februar 2011Christian Holl
TEC21

Stäbeschar

Die Aufgabe, einen Aussichtsturm zu entwerfen, hat ein Stuttgarter Teamaus Architekten und Ingenieuren zum Anlass genommen, die Leistungsfähigkeit von Holz für eine Konstruktion aus hyperboloiden Schalen nachzuweisen. Das Ergebnis überzeugt sowohl architektonisch als auch tragwerksplanerisch – und bescherte der deutschen Stadt Hemer ein neues Wahrzeichen.

Die Aufgabe, einen Aussichtsturm zu entwerfen, hat ein Stuttgarter Teamaus Architekten und Ingenieuren zum Anlass genommen, die Leistungsfähigkeit von Holz für eine Konstruktion aus hyperboloiden Schalen nachzuweisen. Das Ergebnis überzeugt sowohl architektonisch als auch tragwerksplanerisch – und bescherte der deutschen Stadt Hemer ein neues Wahrzeichen.

Es kommt nicht oft vor, dass zeitgenössische Architektur auf sogenannten touristischen Hinweistafeln gezeigt wird, mit denen die Autofahrer auf Schnellstrassen und Autobahnen auf Sehenswertes der Umgebung aufmerksam gemacht werden, die sie gerade durchqueren. Der Jübergturm hat dies geschafft, und das gleich im Jahr seiner Fertigstellung. Man übertreibt also wohl nicht, wenn man ihn als neues Wahrzeichen der Stadt, in der er steht, bezeichnet. Er ist allerdings nicht nur dies – er ist auch ein Beispiel dafür, wie gewinnbringend eine Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur sein kann.

Errichtet wurde der Jübergturm für die Landesgartenschau im deutschen Hemer, einer Gemeinde im Mittelgebirge Sauerland, etwa 45 km südöstlich von Dortmund gelegen. 2004 hatte der damalige Verteidigungsminister Struck bekannt gegeben, dass die Bundeswehrkaserne in Hemer aufgegeben werden soll. Zwei Jahre später, bevor die Bundeswehr das Areal verlassen hatte, bewarb sich die Stadt für die Ausrichtung einer Landesgartenschau, nicht zuletzt um das 30 ha grosse Gelände als Park Bürgerinnen und Bürgern zugänglich machen zu können.

Tragende Schalen aus Holzstäben

Den Wettbewerb für einen Aussichtsturm auf dem Jüberg östlich der Innenstadt von Hemer hatte 2008 eigentlich das Schweizer Büro bm architekten mit einer Treppenskulptur gewonnen. Sie scheiterten allerdings an den Baukosten – und so kam schliesslich der Entwurf zum Zuge, mit dem die jungen Stuttgarter Architekten Birk & Heilmeyer und das Ingenieurbüro Knippers Helbig – auch verantwortlich für das Membrandach des Eingangsboulevards der Expo in Shanghai – beim Wettbewerb den dritten Platz belegt hatten. Lediglich die zum ursprünglich geplanten Turm gehörende Treppenanlage war bereits ausgeführt worden.

Die Architekten Stephan Birk und Liza Heilmeyer waren durch eine intensive Recherche darin bestärkt worden, dass diejenigen Türme am prägnantesten wirken, deren Gestalt aus der Konstruktion entwickelt worden ist. Vor allem Vladimir Grigorjewitsch Suchov (1853–1939) war ihnen dabei immer wieder begegnet – die Faszination für die Arbeiten des grossen russischen Konstrukteurs ist dem neuen Turm anzusehen. In Hemer wollten Architekten und Ingenieure nun Suchovs Prinzipien in Holz umsetzen.[1]

Wie viele von Suchovs Bauten ist der Jübergturm als Schalenhyperboloid entwickelt worden. Zwei alle vertikalen und horizontalen Lasten tragende konzentrische Schalen aus Scharen paralleler, gerader Stäbe aus Brettschichtholz sind schräg gegeneinander an zwischen den Schalen liegende Ringe aus Stahl montiert (Abb. 2, 4–6). An diese Ringe sind die wie Speichenräder aufgebauten fünf Podeste montiert. Sie wirken als Scheiben und sind über biegesteife Speichen mit dem Innenring verbunden. Wendeltreppen verbinden die Podeste. Je zwei zusätzliche Ringe zwischen den Podesten verkürzen die Knicklänge der Stäbe. Aus den gegeneinander versetzten, in einem Ringfundament eingespannten Stabscharen und den horizontalen Ringen ergeben sich stabile Dreiecke. Die intelligente Konstruktion erlaubte es, ausschliesslich Stäbe eines Querschnitts von lediglich 8 × 8 cm zu verwenden

Ideale Kooperation

In der Zusammenarbeit zwischen Architekten und Ingenieuren sind weitere Besonderheiten entwickelt worden, die den Charakter des Turms bestimmen und die auf Spezifika des Ortes reagieren. Umgeben ist der Turm zu grossen Teilen von Wald – die Wahl des Materials Holz war daher naheliegend, zumal sowohl Architekten als auch Ingenieure schon Erfahrungen mit diesem Baustoff und ähnlichen Konstruktionen aufzuweisen hatten. Die Situierung im Wald hat zur Folge, dass die aufregende Rundumsicht erst über den Bäumen genossen werden kann. Diesem Wechsel der Atmosphäre entspricht eine sich nach oben öffnende Form, der Turm hat oben mit einem Durchmesser von 9 m seine grösste Plattform. Im Windkanal waren die zu erwartenden Belastungen ermittelt worden, die der Bemessung zugrunde gelegt wurde. Entsprechend der statischen Belastung löst sich das filigrane Stabtragwerk mit zunehmender Höhe auf: Bestehen die Schalen zuunterst aus je 20 Scharen zu je sechs Stäben – alle ohne Montagestoss –, reduzieren sie sich bis zuoberst auf jeweils deren zwei; auf jedem Geschoss endet jeweils ein Stab. Das Hinaufsteigen beginnt also in einem von dichtem Geflecht umgebenen Turm, wie im umgebenden Wald wird es umso lichter, je höher man kommt, bis schliesslich oben, über den Baumkronen, die vollständige Aussicht genossen werden kann (Abb. 7).

Die Holzlatten sind bewittert und mit einem lösemittelhaltigen Holzschutzöl mit insektizider und fungizider Wirkung behandelt, Abdeckbleche schützen die Hirnholzflächen. Die exponierte Lage und regelmässiger Wind gewährleisten, dass die Hölzer nach feuchter Witterung rasch wieder trocknen.

Bauzeit: Sechs Wochen

Architekten und Ingenieure hatten nicht zuletzt auch den Ehrgeiz, mit diesem Turm etwas zu bauen, das es als Konstruktion so noch nicht gegeben hatte. Dass sich zu diesem Ehrgeiz noch die Herausforderung einer kurzen Planungs- und Bauzeit gesellen würde, hatten sie nicht ahnen können. Gerade mal neun Monate hatte das Stuttgarter Team von der Auftragserteilung bis zum Eröffnungstermin Zeit. Eine echte Herausforderung, die durch den ungewöhnlich harten, bis weit in das Frühjahr reichenden Winter noch grösser wurde. Von Hemers Innenstadt aus gut sichtbar, wurden mit einer Hilfskonstruktion zunächst Treppen und Podeste errichtet. Auf einer Montagefläche am Bauplatz wurden die Stabpakete zusammengefügt, indem sie an Segmente der Zwischenringe montiert wurden. Diese Scharen wurden von innen nach aussen im Fundament eingespannt und montiert, die Segmente der Zwischenringe über Stirnplatten miteinander verschraubt. Die Stäbe sind dabei mit von Stabdübeln gehaltenen, verzinkten Schlitzblechen versehen, an die eine Lasche angeschraubt wurde, die wiederum an den Zwischenring geschweisst wurde. Die Zwischenringe sind ihrerseits über Laschen an der inneren Konstruktion befestigt. Letztlich wurde der insgesamt 23.5 m hohe Turm in sechs Wochen errichtet.

Fast eine Million Besucher haben den Turm während der Landesgartenschau bestiegen – wenn der Turm nach dem Abbau der Schau im nächsten Frühling wieder geöffnet werden wird, wird er weiterhin rege benutzt werden; unter diejenigen, die die Aussicht bewundern, wird sich sicher auch der eine oder andere Architekt und Ingenieur mischen.

TEC21, Fr., 2011.02.25



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TEC21 2011|09 Holz gestrickt

200 Microcittà – eine Metropole

Die Peripherie Roms litt in den letzten Jahrzehnten unter der Vernachlässigung durch die Stadtverwaltung, die sich auf das Zentrum konzentrierte. Der neue Piano Regolatore Generale (PRG), der 2008 in Kraft trat, revidiert das Bild der Stadt vom Zentristischen zum Polyzentristischen: Die Metropole birgt 200 Microcittà. Die peripheren Quartiere sollen nicht mehr ausfransende, wuchernde Auswüchse der Stadt, sondern identifizierbare Ortschaften sein.

Die Peripherie Roms litt in den letzten Jahrzehnten unter der Vernachlässigung durch die Stadtverwaltung, die sich auf das Zentrum konzentrierte. Der neue Piano Regolatore Generale (PRG), der 2008 in Kraft trat, revidiert das Bild der Stadt vom Zentristischen zum Polyzentristischen: Die Metropole birgt 200 Microcittà. Die peripheren Quartiere sollen nicht mehr ausfransende, wuchernde Auswüchse der Stadt, sondern identifizierbare Ortschaften sein.

Fünf Piani Regolatori Generali (PRG)[1] hat die Stadt Rom bisher gehabt: Diejenigen von 1873 und 1883 fielen in die Regierungszeit König Umbertos I. Der Plan von 1909 war der erste, der nicht mehr unter aristokratischer Führung, sondern unter der Leitung einer von demokratischen, republikanischen und sozialistischen Kräften getragenen Administration entwickelt wurde, an deren Spitze der Bürgermeister Ernesto Nathan stand. Nach seinem Urheber Edmondo Sanjust als «Piano Sanjust» bezeichnet, wurde der Plan für eine Bevölkerung von einer Million dimensioniert (1908 hatte Rom knapp 600 000 Einwohner). 1931 – die Stadt war nunmehr auf über eine Million Einwohner angewachsen – wurde der Perimeter ausgedehnt und eine Einwohnerzahl von zwei Millionen anvisiert. Roms Gouverneur Boncompagni Ludovisi präsidierte die Kommission, die den Plan ausarbeitete. «[…] die hehren Versicherungen, das historische Zentrum nicht anzutasten, [wurden] den Bedürfnissen des Strassennetzes geopfert», schrieb dazu der Architekt Piero Ostilio Rossi.[2] In der Folge setzten die Faschisten zu den grössten«sventramenti» (Ausweidungen) der Geschichte der Stadt an – unter anderem um die Schneise der Via dei Fori Imperiali zu legen.

1962 schlug die Geburtsstunde der «asse attrezzato» – eine Schnellstrasse, die in Nord- Süd-Richtung die Autostrada del Sole mit dem EUR (Esposizione Universale di Roma) verbinden sollte.[3] An diese Achse sollte das Sistema Direzionale Orientale (SDO) andocken, ein gigantisches Überbauungsprojekt in der östlichen Suburbia der Stadt, in dem die Funktionen der öffentlichen Hand – Ministerien, Verwaltung etc. – hätten konzentriert werden sollen, um das historische Zentrum zu entlasten und durch den frei werdenden potenziellen Wohnraum seiner Verwaisung Einhalt zu gebieten. Man bot Kenzo Tange auf, um das Projekt zu planen, Urheber des Ende der 1980er-Jahre errichteten Centro Direzionale in Neapel. Gegliedert wurde das SDO in vier Zonen: Pietralata, Tiburtina, Casilino, Centocelle. Doch diese Planung bleib in den Anfängen stecken und kam nicht über eine Rumpfbebauung im EUR und auf dem ehemaligen Flughafen von Centocelle hinaus. Daher wurde auch vier Jahrzehnte später und obwohl nun, ab 1993, ein neuer PRG in Arbeit war, noch über die «asse attrezzato» gestritten. Das SDO blieb der Papiertiger einer technokratischen und fortschrittsgläubigen Epoche. Mit dem neuen PRG, über dem nun, da Francesco Rutelli das Bürgermeisteramt antrat, die «grüne» Flagge wehte, wurde das SDO auf eine «centralità urbana» im Quartier Pietralata reduziert, verbunden mit dem Ausbau des Bahnhofs Tiburtina für Hochgeschwindigkeitszüge (Alta Velocità). Gleichzeitig wurde die Nord-Süd- Achse ad acta gelegt und durch ein tangentiales Erschliessungssystem ersetzt, das vor allem auch auf dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs basieren sollte.

«19 Städte, eine einzige Metropole»

Motor dieses Richtungswechsels ist die radikale Revision der Idee von Stadt, die nun rund 6 Millionen Einwohner umfasst – mehr als die Hälfte davon in der Peripherie: Ging die Planung im Gefolge des Piano Regolatore der 1960er-Jahre von der Erweiterung nach aussen aus, vom Wachstum durch Neubau und Neuerschliessung, steht hinter dem neuen Planungsinstrument die Devise der Aufwertung nach innen, innerhalb des Stadtgewebes. Und die zentralistische Auffassung von einer Kapitale weicht der Vision eines polizentristischen Stadtgebildes, in dem nun auch die Peripherie stärkeres Gewicht hat. In Anlehnung an die verwaltungstechnische Gliederung in 19 Municipi will die Stadt ihr Image von der Metropole zur «19 città una sola metropoli» («19 Städte, eine einzige Metropole ») wandeln.[4] Die reale Bebauungsstruktur der Stadt findet ihren Niederschlag in dem Bild eines Haufens von «microcittà», deren 200 identifiziert werden (Abb. 2 und 3).

Es werden 18 «urbane Zentren» definiert, nahezu eines pro Municipio (Stadtbezirk), und 60 Ortszentren («Centralità locali») destilliert und im neuen Piano Regolatore festgelegt.[5] Sie bilden die Knotenpunkte der lokalen Identität, der Prozesse der Modernisierung und der Qualitätssicherung der Perpherie – mittels öffentlicher Einrichtungen, Anbindung an den ÖV, Bau von Kulturzentren und Verbesserung der Qualität der Grünzonen. Der neue PRG brachte aber noch eine weitere Einsicht: dass nicht nur das Planungsinstrument von der zentralistischen Doktrin abrücken muss, sondern auch der Planungsprozess kein zentralistisch geführter sein und nicht Top-down verlaufen darf, sondern der Einbindung der Planungsinstanzen der Region und der Municipi sowie der Bewohner bedarf.

Identität und Katalysator

In diesem Kontext sind die verschiedenen Programme des Dipartimento XIX – Politiche per lo Sviluppo e il Recupero delle Periferie zu sehen[6]: territoriale Laboratorien, Quartiervereinbarungen, Plätze und öffentlicher Raum, Zonen mit einst widerrechtlicher Bebauung, Programme zur städtebaulichen Aufwertung, ökologische Entwicklung, Kulturzentren in der Peripherie sowie Landschaft und Identität der Peripherien. Leitmotiv des Programms «Paesaggi e identità delle periferie» (Landschaft und Identität der Peripherien) ist der Gedanke, den traditionellen Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie aufzubrechen. Es verfolgt zwei Intentionen: Zum einen soll die Identität der Ortszentren, der Microcittà, gestärkt, zum andern ihre Integration in die Stadt gefördert und der Segregation vorgebeugt werden. Auf der einen Seite soll also der Charakter der urbanen Inseln im Meer des Grünraums, von dem die Peripherie nach wie vor durchzogen ist, betont, auf der andern sollen sie ans Zentrum der Stadt angedockt werden. Die ausgeworfenen Anker beschränken sich nicht auf die Anbindung an den öV und das Strassennetz. Vielmehr soll durch die Verbesserung der städtebaulichen Qualitäten und die Förderung der wirtschaftlichen Kapazität die Grundlage gelegt werden, um stabile Nachbarschaften zu bilden – Gemeinschaften, die ebenso selbst- wie des Gefühls bewusst sind, Teil eines grösseren Ganzen, der Stadt Rom, zu sein. Die Viertel der Peripherie sollen nicht mehr als auf das Zentrum bezogene Entlastungsstandorte, sondern als eigene «Ortschaften» begriffen werden. Daher wird versucht, auf den Ort einzugehen, sowohl inhaltlich als auch in der Wahl der Mittel. Inhaltlich wird nach Eigenheiten geforscht, die den Orten wieder eine Identität geben können: Landschaftliche Qualitäten wie die Weinberge im Prato Fiorito (vgl. «Blumenwiese», S. 48 ff.), bauhistorische oder archäologische Zeugnisse wie das Aquädukt im Quartier Alessandrino (vgl. «Aquädukt », S. 51 ff.), ein kulturelles Ereignis wie die Friedensdemonstration in den 1960er-Jahren in Colline della Pace oder ein einst prägendes, aber mit den Jahren verwässertes städtebauliches Konzept wie die Brücken im Laurentino 38 (vgl. «Inseln und Brücken», S. 40 ff.). «Paesaggi e identità delle periferie» hat ausserdem eine Katalysatorfunktion für die anderen Programme des Dipartimento XIX. So engagierte sich in Prato Fiorito auch das Programm für Zonen mit einst widerrechtlicher Bebauung und in Laurentino das Programm zur städtebaulichen Aufwertung. Eingebunden ist es ausserdem in die Errichtung von 20 Kulturzentren, die mit je eigenem inhaltlichen Schwerpunkt (Sport, Kultur, Ökologie) als Kristallisationspunkte der Quartiersentwicklung helfen sollen.[7]

PS: Ob und inwiefern die Peripherie nach dem Regierungswechsel einen Spitzenplatz auf der politischen Agenda halten kann? Den Verdacht, dass sich der Brennpunkt verschieben könnte, nährte Bürgermeister Gianni Alemanno mit der Ankündigung, das Kolosseum renovieren und «Fahrende» in Randgebiete umsiedeln zu wollen. Bis zu den Wahlen von Ende März bildete die mitte-links regierte Region Latium, die manche Projekte mitfinanziert, immerhin noch ein politisches Gegengewicht zu Gianni Alemannos Partito delle Libertà (PdL). Nun ist auch sie in der Hand einer Berlusconi-Anhängerin, Renata Polverini, und nur die Provinz Rom ist mit Nicola Zingaretti noch vom Partito Democratico (PD) besetzt.


Anmerkungen:
[01] Der Piano Regolatore Generale (PRG) ist einem Richtplan vergleichbar. Der PRG formuliert das Planungsleitbild und die Entwicklungsschwerpunkte der Stadt. Die Revision, die 2008 in Kraft trat, wurde 1993 an die Hand genommen
[02] P. O. Rossi: Roma – Guida all’architettura moderna 1909–2000. Editori Laterza, 2000, S. 65
[03] EUR (Esposizione Universale di Roma) wird heute ein Stadtviertel im Süden Roms bezeichnet, das nach dem Willen Mussolinis die Weltausstellung 1942 beherbergen sollte. Die ursprüngliche Bezeichnung lautete E42 (Esposizione Universale 1942). Städtebaulich verbindet es das historische Zentrum Roms mit dem Meer bei Ostia. Die Planung wurde Marcello Piacentini übertragen, der 1938 sein definitives Projekt vorlegte. E42 ist geprägt vom Spannungsfeld zwischen der Architektur des Razionalismo und neoklassischen Tendenzen, die auf die römische Baukunst der Antike zurückgreifen, aber auch Elemente der Pittura metafisica aufweisen. Vgl. Anm. 2, S. 248–249
[04] Bis 1992 war Rom in 20 Municipi (Stadtteile) gegliedert. Damals spaltete sich das XIV. ab und bildete die Comune di Fiumicino. Die Nummerierung aber wurde beibehalten und die 14 einfach übersprungen. Es sind nun also 19 Municipi, gezählt wird aber trotzdem bis 20.
[05] Die 18 metropolitanen und urbanen Zentren sind: Alitalia Magliana, Bufalotta, Eur Sud Castellaccio, Fiera di Roma, Ostiense, Pietralata, Polo Tecnologico, Ponte di Nona Lunghezza, Tor Vergata, Acilia, Madonnetta, Anagnina Romanina, La Storta, Massimina, Torre Spaccata, Cesano, Ponte Mammolo, Santa Maria della Pietà, Saxa Rubra. Die 60 centralità locali sind: Piazza Vittorio Emanuele II (Municipio I), Flaminio (II), Città Universitaria (III), Settebagni, Fidene, Conca d’Oro, Talenti, Castel Giubileo (IV), Pietralata, San Basilio, Casal Monastero, Casal Bruciato (V), Pigneto, Teano, Serenissima, Piazza Marranella (VI), Tor Sapienza, Alessandrino, Mirti, La Rustica Centro, Tor Tre Teste, Quarticciolo (VII), Finocchio, Torre Gaia, Torre Angela, Lunghezza (VIII), Assisi/Mandrione (IX), Cinecittà, Casal Morena (X), Giustiniano Imperatore, Grotta Perfetta (XI), Laurentina, Mostacciano, Trigoria (XII), Ostia Antica, Acilia Sud, Acilia/Piazza Capelvenere,Ostia Lido, Axa/ Malafede, Infernetto (XIII), Villa Bonelli, Corviale, Trullo, Magliana, Largo La Loggia, Ponte Galeria (XV), Monteverde, Bravetta, Pisana, Colli Portuensi (XVI), Piazza Mazzini (XVII), Casalotti, Montespaccato, Cornelia (XVIII), Selva Candida, Torrevecchia/ Primavalle (XIX), Labaro, Cassia/Tomba di Nerone, La Storta, Vigna Stelluti, Collina Fleming (XX)
[06] Die Stadtverwaltung ist in 19 Departemente gegliedert. Dipartimento XIX befasst sich mit der Aufwertung und Entwicklung der Peripherie
[07] Die 20 Kulturzentren sind: Fidene, Monte Sacro Talenti, San Basilio, Casal dei Pazzi, Pigneto Biblioteca del Cinema, La Rustica, Torre Maura, Villaggio Prenestino, Appio Latino, Cinecittà Est, Cinecittà Tuscolano, Laurentino Piazzale Elsa Morante, Centro Giano/Acilia, Infernetto, Bravetta, Quartaccio, Volusia, Labaro Prima Porta, Pigneto Nuovo Cinema Aquila, Borgata Finocchio Collina della Pace

TEC21, Fr., 2010.04.23



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14. August 2009Christian Holl
TEC21

Prinzipien diskutieren, Prozesse herausfordern

Der Siegerentwurf im städtebaulichen Wettbewerb für das Kabelwerkareal im Südwesten Wiens liess nicht erkennen, wie das bebaute Gebiet aussehen würde. Strukturgebend war die Planung der Freiräume, die gewisse formale Freiheiten bei der Bebauung ermöglichte. Der Plan war eine Herausforderung, sich einem Prozess mit nicht vorhersehbarem Ergebnis und der Auseinandersetzung zu stellen. Die Verantwortlichen sind das Risiko eingegangen, aus dem Chaos der Unübersichtlichkeit Strukturen entstehen zu lassen.

Der Siegerentwurf im städtebaulichen Wettbewerb für das Kabelwerkareal im Südwesten Wiens liess nicht erkennen, wie das bebaute Gebiet aussehen würde. Strukturgebend war die Planung der Freiräume, die gewisse formale Freiheiten bei der Bebauung ermöglichte. Der Plan war eine Herausforderung, sich einem Prozess mit nicht vorhersehbarem Ergebnis und der Auseinandersetzung zu stellen. Die Verantwortlichen sind das Risiko eingegangen, aus dem Chaos der Unübersichtlichkeit Strukturen entstehen zu lassen.

Im Dezember 1997 wurde die Produktion in der Kabel- und Drahtwerke AG in Meidling, dem 12. Wiener Gemeindebezirk, eingestellt. Kurz danach erwarb eine Eigentümergemeinschaft aus acht Bauträgern das Areal, und Ende November 1998 war bereits der städtebauliche Ideenwettbewerb für ein gemischt genutztes Quartier entschieden. Gewonnen hatte ihn die Arbeitsgemeinschaft dyn@mosphäre (Rainer Pirker Architexture Team und The Poor Boys Enterprise). Aus Bebauungsregeln, Haustypen, Wegeverbindungen und kontextuellen Bezügen hatten sie in einem strategischen Konzept eine Ordnungsstruktur entwickelt, ohne vorzuschlagen, wie die Bebauung tatsächlich auszusehen habe. Diese sollte sich in einem Prozess entwickeln dürfen, in dem durch Bürgerbeteiligung, Aushandlungen über Form und Nutzung erst das ganze Potenzial des Gebiets auf sozialer, räumlicher und kultureller Ebene entdeckt würde. Die Ausschreibung hatte dafür bereits den Weg gewiesen, hatte sie doch explizit den konzeptionellen Ansatz, instrumentelle Vorschläge und Prozesshaftigkeit gefordert.

Chaos als Strategie

Das Siegerprojekt entsprach den Hoffnungen, die man in diese Ausschreibung gesetzt hatte. Chaos wird zum einen im Bild und in der Darstellung erzeugt, um die Offenheit, deren es für einen echten Beteiligungs- und Verhandlungsprozess bedarf, herauszufordern: Keine Vorstellung davon, wie das Gebiet aussehen wird, sollte der Entwicklung der künftigen Form im Wege stehen und Diskussionen determinieren oder dominieren. Festgelegt wurden Freiräume, Attraktivitätszentren, Blickrichtungen, Ordnungslinien – die bebaubare Fläche bleibt dabei grösser als die, die insgesamt bebaut werden darf. Chaos ist aber auch als Konzept angelegt; denn nicht nur das Planbild weigert sich, eine Form preiszugeben, die erst gefunden werden muss. Auch übliche Planungsfestlegungen wurden infrage gestellt. Konkrete, flächendeckende Nutzungsfestlegungen fehlen, statt dessen wird über vier Stufen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf spezifische Bedürfnisse der Bevölkerung nach Gemeinschaftsräumen, erweitertem Wohnraum, flexibler Nutzung des Raums reagiert. Die Entwurfsverfasser führen die Variabilität im Umgang mit den damit verbundenen Festlegungen als neues Element planerischer Strategie ein. Flexibilität, Förderung und Ermutigung zu Aktivitäten, Aktivierung der Bevölkerung und kleinteilige Planungsfelder sollten helfen, ein Stück Stadt entstehen zu lassen, damit es nicht erst Jahre braucht, um nicht mehr als Fremdkörper in der Umgebung wahrgenommen zu werden.

Elf Jahre später ist das mehr als acht Hektar grosse Gelände fast vollständig neu bebaut. Mehr als 950 Wohnungen wurden hier seit 2004 errichtet, dazu sind etwa 30 % der Fläche gewerblich und kulturell genutzt. Breit variiert das Angebot an Wohnungsgrössen und -typen sowie an Rechtsformen, es reicht von Eigentumswohnungen bis zu studentischem Wohnen und temporär vermietbaren Appartements. Hinzu kommen Arztpraxen, Büros und Geschäfte sowie ein Kulturzentrum und ein Kindergarten in erhaltenen und umgebauten Fabrikbauten. Auf dem nach Süden hin abfallenden Gelände wurden Dichte und Gebäudehöhen gestaffelt, um jede Wohnung gut belichten zu können. Auf dem Dach eines Gebäudes im dichteren Norden steht den Kabelwerk-Bewohnern ein Schwimmbad zur Verfügung. Von hier aus hat man einen grandiosen Ausblick, unter anderem auf Alt-Erlaa, wo ebenfalls ein Schwimmbad auf dem Dach zum Erfolg der Anlage beiträgt. Die Ausnutzungsziffern steigen von 1.2 im Süden auf 3.9 im Norden des Areals an. Schade, dass von den alten Fabrikanlagen bis auf einen Rest am Westrand nur wenig erhalten blieb.

Arbeitsgruppen, Begleitung, Beteiligung

Mit dem Otto-Wagner-Städtebaupreis wurde das Kabelwerk-Projekt allerdings schon 2004 ausgezeichnet, als vom neuen Stadtteil vor Ort noch so gut wie nichts zu sehen war. Gewürdigt wurde ein aussergewöhnlicher, intensiver Planungsprozess, eingeleitet von einem bereits 1996 abgehaltenen Workshop und begleitet von einer regelmässigen Bevölkerungsbeteiligung. Für ein kooperatives Planungsverfahren hatte man eine Arbeitsgruppe aus Siegern des städtebaulichen Wettbewerbs, Vertretern des Magistrats und der Bauträger, Freiraumplanern sowie dem von den Bauträgern bestimmten Architekten gebildet, die in über zwanzig Sitzungen das Projekt konkretisierten und die einzelnen Bausteine aufeinander abstimmten. Unter anderem erarbeitete diese Gruppe Testentwürfe, um zu überprüfen, wie sich das Konzept des Wettbewerbssiegers umsetzen lässt. Eine städtebauliche Begleitgruppe diskutierte und korrigierte die von der Arbeitsgruppe erstellten Ergebnisse und gab Impulse für deren weitere Arbeit. Von Anfang an hatten Anwohner die Gelegenheit, den Planungsprozess zu verfolgen und zu beeinflussen.

Ein weiteres strategisches Instrument half, dem Kabelwerk schon während der Planungsphase ein positives Image in der Nachbarschaft, aber auch in der Stadt Wien zu verschaffen. Seit 1999 bis zum Baubeginn 2004 wurde das Areal sozial und kulturell zwischengenutzt. Die Kulturarbeit, in die insbesondere Kinder und Jugendliche einbezogen wurden, erleichterte der Bevölkerung den Zugang zum Areal, die nach und nach selbst Initiativen im Rahmen der Zwischennutzung entwickelte.

Freiräume statt architektonische Vorgaben

Dennoch würde man dem Kabelwerk-Modell nicht gerecht, wenn für die Bewertung nur der intensive und erfolgreiche kooperative Planungsprozess in den Mittelpunkt gestellt würde. Denn ein genauso wichtiger Beitrag ist der kreative Umgang mit dem planungsrechtlichen Instrumentarium und der städtebaulichen Konfiguration. Letztere wirkt auf dem Plan zunächst unübersichtlich, stellt sich vor Ort aber als selbstverständlich und angenehm in den Verhältnissen von Freiraum und Bebauung dar.

Der Planung liegt das Prinzip zugrunde, nicht das architektonische Objekt oder eine Bebauungsfigur, sondern den Freiraum zum strukturellen Gerüst der Siedlung zu machen und die Bebauung sich um diesen herum erst entwickeln zu lassen. Entsprechend waren die den Freiraum strukturierenden Sockelgeschosse festgelegt, die das formale wie das funktionale Grundgerüst bilden. In ihnen sind Wohnungen ausgeschlossen, dafür können Gewerbe-, Gemeinschaftsräume und Werkstätten errichtet werden.

Im Bebauungsplan wurden ausserdem Raumkanten definiert, um sicherzustellen, dass Platzräume wie gewünscht entstehen. Auch Bebauungshöhen und die maximale Kubatur wurden festgelegt; wie das Volumen aber auf dem Baufeld unterzubringen ist, war planungsrechtlich nicht ausgewiesen worden.

Ein «Schüttmodell» half im diskursiven Planungsprozess, die Bebauungsform zu finden. Die prinzipiell bebaubaren Flächen waren dabei mit offenen Plexiglaswaben in den jeweils zulässigen Höhen belegt. Entsprechend dem zulässigen Volumen für dieses Grundstück stand eine grünes Granulat zur Verfügung, mit dem man die Waben befüllen und unterschiedliche Verteilungen innerhalb des möglichen Volumens gegeneinander abwägen konnte. Auf diese Weise entstand eine Mischung aus öffentlichen, halböffentlichen und privaten Freiräumen, aus autofreien und geschützten Plätzen, aus übersichtlichen Verbindungen und intimen Gassen mit differenzierten Räumen und Stimmungen. Im Norden ist die Bebauung allerdings zu dicht geraten, private Freiräume sind hier unzureichend vor Einblicken geschützt. Der offene Prozess, die Bewältigung von anfänglicher Unübersichtlichkeit in intensiven Verfahren hat sich gelohnt. Zwar liess sich einiges, was die Wettbewerbssieger vorgeschlagen hatten, etwa die radikale Flexibilität der Nutzungsbausteine, nicht umsetzen. Doch vieles hat sich bemerkenswert gut bewährt, etwa die Regelung der Bonuskubatur: Etwa 20 % des Volumens durfte zusätzlich errichtet werden, wenn in ihm eine grössere Raumhöhe realisiert wurde und dadurch die Gemeinschaftsanlagen erweitert und die Erschliessungsflächen vergrössert wurden. Dadurch entstanden Räume mit einer Grosszügigkeit, die einem Quartier gut tun. Im Ganzen ist die Aneignung eines neuen Quartiers durch die Bewohnerinnen und Bewohner in einem verblüffenden Masse gelungen.

TEC21, Fr., 2009.08.14



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06. August 2008Christian Holl
db

Nah am Vorbild – nah am Bürger

Seit seiner Gründung im Jahr 19951 hat das Bundesverfassungsgericht seinen Sitz in Karlsruhe. Zunächst im Prinz-Max-Palais untergebracht, bezog es 1969 sein heutiges, von Paul Baumgarten entworfenes Gebäude in unmittelbarer Nähe des Schlosses. Baumgarten hatte dies bewusst nicht als Justizpalast, sondern als Baukörperensemble geplant, das den Eindruck demokratischer Transparenz vermitteln sollte. Raumnot machte die Erweiterung um einen Bürobau notwendig. Das spannungsreiche, denkmalgeschützte Ensemble »weiterzubauen«, gelang den Architekten, indem sie sich am Bestand orientierten, ohne ihn nachzuahmen.

Seit seiner Gründung im Jahr 19951 hat das Bundesverfassungsgericht seinen Sitz in Karlsruhe. Zunächst im Prinz-Max-Palais untergebracht, bezog es 1969 sein heutiges, von Paul Baumgarten entworfenes Gebäude in unmittelbarer Nähe des Schlosses. Baumgarten hatte dies bewusst nicht als Justizpalast, sondern als Baukörperensemble geplant, das den Eindruck demokratischer Transparenz vermitteln sollte. Raumnot machte die Erweiterung um einen Bürobau notwendig. Das spannungsreiche, denkmalgeschützte Ensemble »weiterzubauen«, gelang den Architekten, indem sie sich am Bestand orientierten, ohne ihn nachzuahmen.

So recht mag man die Aufregung um die Erweiterung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe im Nachhinein nicht verstehen. In dessen Gebäuden, zwischen Schlossplatz und Botanischem Garten am westlichen Rand des vom Karlsruher Schloss aufgespannten Fächers gelegen, war es eng geworden, da seit der Wiedervereinigung die Anzahl der hier verhandelten Verfahren gestiegen ist. Bereits 1995 war das ursprünglich öffentliche Casino im südwestlichsten Baukörper in Büros umgewandelt worden. Eine Aufstockung oder Nachverdichtung des von Paul Baumgarten (1900–84) von 1965–69 errichteten Ensembles aus fünf Pavillons, mit denen er der Idee einer modernen, demokratischen Rechtsprechung ein sehr eigenständiges Gesicht gab, kam aus denkmalpflegerischen Gründen nicht infrage. So entschied man sich, am südwestlichen Ende der Anlage, auf einem kleinen Teilstück des Botanischen Gartens, einen Neubau für vierzig Büros zu errichten. Das Land Baden-Württemberg hatte dem Bund dieses Teilgrundstück angeboten und verkauft. 2002 wurde ein Wettbewerb in einem zweistufigen Verfahren durchgeführt und nach einer Überarbeitungsphase das Berliner Büro Schrölkamp Architektur mit dem Bau beauftragt; nicht zuletzt, weil die Architekten in ihrem Entwurf sensibel Rücksicht auf den Botanischen Garten genommen hatten. Denn der Eingriff in dessen Bestand, wie ihn der vor der Überarbeitung Erstplatzierte Michael Auerbacher vorgeschlagen hatte, der einen aufgeständerten Riegel in die Grünfläche schieben wollte, war auf starke Kritik gestoßen. Eine Bürgerinitiative wollte verhindern, dass Flächen des Botanischen Gartens in Anspruch genommen werden, so wurden die vier Preisträgerentwürfe zur Überarbeitung ausgewählt – die Stadt hatte den Bund, um den Konflikt nicht eskalieren zu lassen, darum gebeten. Doch trotz Überarbeitung und intensiver Gespräche erhielt die Bürgerinitiative ihren Widerstand aufrecht, letztlich jedoch ohne Erfolg. Dabei hatten Schrölkamp Architektur sich intensiv mit der Kritik auseinandergesetzt und ihren ursprünglichen Entwurf in der Überarbeitung deutlich zurückhaltender gestaltet. Überzeugender als die anderen hatte er Rücksicht auf den Botanischen Garten und den denkmalgeschützten Bestand des Bundesverfassungsgerichts genommen, so dass dieser Entwurf nun auch von der Stadt Karlsruhe mitgetragen werden konnte.

Bekenntnis zur Bürgernähe

Dass der 2007 bezogene Neubau inzwischen nicht mehr als Störung empfunden wird, beruht im Wesentlichen darauf, dass er die gleiche Haltung zur Öffentlichkeit ausdrückt, wie sie schon in den älteren Bauten repräsentiert wird. Anders als die Bauten der Bundesstaatsanwaltschaft (Oswald Mathias Ungers, 1998), die als Hochsicherheitstrakte vom Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit sprechen, wird hier die Nähe zum Bürger gesucht. Paul Baumgartens Ensemble, in fünf leichte und elegante, durch Brücken miteinander verbundene Baukörper aufgelöst, verzichtet auf jede Demonstration von Macht. Das höchste Gebäude beherbergt den Sitzungssaal, die inzwischen unterirdisch erweitere Bibliothek schließt sich nordwestlich an, im nordöstlich davon liegenden Gebäude mit Atrium sind die beiden Senate untergebracht. Ähnlich den Bauten Eiermanns für die Expo in Brüssel, wurde auch hier durch eine offene, in die Landschaft eingebettete Struktur, durch eine helle, transparente Architektur ein Zeichen für den Willen gesetzt, sich der Demokratie zu verpflichten. Der dreigeschossige Neubau nimmt Sprache und Struktur des Bestands auf, setzt sich aber in Anmutung und Materialwahl deutlich von ihm ab. Die strukturalistische Idee Baumgartens wird in dem Einzelbaukörper fortgeführt, der wie die bestehenden durch eine verglaste Brücke mit seinem Nachbarn verbunden ist; die offene Struktur des Ensembles, das die angrenzenden Freiräume durchlässig miteinander verbindet, findet hier ihre Fortsetzung. Die Außenkanten des »Neulings« führen die Fluchten der Bestandsbauten fort. Das Erdgeschoss ist gegenüber dem gleichen Geschoss des Bestands um 1,10 Meter abgesenkt, da die Höhe des Gebäudes limitiert worden war; denn zum einen sollte das Neue sich dem Bestand anpassen, zum anderen der Turm der Stadtkirche vom Botanischen Garten aus sichtbar bleiben. Über eine Brücke wird auf Halbgeschossniveau direkt die Treppe erreicht, sie gleicht den Höhenversatz aus, der durch das abgesenkte Erdgeschoss entstand.

Fassaden und Raumschichten

Der Entwurfsidee liegt der Gedanke parallel angeordneter Raumschichten zugrunde; vom Altbau her beginnend mit einen Senkgarten zwischen Neubau und Bestand – ausgelegt mit hellem, das Licht reflektierendem Kies –, darauf folgen der erste Bürobund, der Mittelflur und der zweite Bürobund und schließlich die Pergola, die wiederum gegliedert ist in einen Bedienungsgang, Pflanztröge und freiem Raum vor dem Abschluss der Stahlkonstruktion. Mit dreierlei Fassaden reagieren die Architekten auf die Umgebung. Zum schmalen Raum zwischen Neubau und Bestand, nach Südosten, zeigt sich eine unprätentiöse Pfostenriegelfassade aus anthrazitfarben beschichtetem Aluminium und raumhoher Verglasung, ergänzt durch Elemente aus emailliertem Glas. Die Stirnfassaden sind mit gedämmten Paneelen aus brüniertem Messing verkleidet, das sich den Farben der Umgebung anpasst. Nach Nordwesten, zum Botanischen Garten hin, wird mit einer vorgesetzten, anthrazitfarben beschichteten Stahlstruktur, einer Pergola mit eingesetzten Pflanztrögen aus Glasfaserbeton, zweierlei erreicht. Zum einen bilden die Pflanzen – Bambus, Weißdorn, kleinwüchsige Kiefer und Grüner Schlitzahorn – die Fortführung des Botanischen Gartens in der Vertikalen. Zum anderen stellen sie zusammen mit der vor der Pergola ansteigenden Böschung die gewünschte Distanz zum öffentlichen Raum des Botanischen Gartens her. Denn die Bürgernähe sollte nicht so weit gehen, dass Richter und Mitarbeiter bei der Arbeit gestört werden.

Schatulle für ein wertvolles Organ

Es ist ein einfaches Strukturprinzip: ein Bürobau in Stahlbetonskelettbauweise mit vorgesetzter Aluminiumfassade, der noch um eine Küche im Erdgeschoss, von der aus ein Speisesaal für 48 Personen im ersten Obergeschoss beliefert werden kann, ergänzt wurde. Denn exaltiert sollte der Neubau nicht werden, sich nicht gegenüber Baumgartens Bauten-Ensemble aufspielen, denn letztlich finden sich in ihm nur normale, natürlich belichtete und dem Stand der Technik entsprechend ausgestattete Zellenbüros – ohne aufwendige und experimentelle Technik, ohne Klimaanlage. Über französische Fenster sind die Bürozellen natürlich zu belüften. Angemessen blieben mit 2,9 Mio. Euro auch die Baukosten. Baumgarten hatte über den Untergeschossen aus einer massiven Stahlbetonkonstruktion Stahlskelettbauten errichtet. Mit großen Glasflächen, Holzelementen aus Oregonkiefer und Brüstungen aus edel wirkenden Aluminiumgussplatten hatte er den Gebäuden die ihrer Funktion angemessene Würde und zurückhaltende Eleganz verliehen. Der Neubau nun präsentiert sich als wertvolle Schatulle, erreicht diesen Eindruck durch die einfache Geometrie, das matt glänzende Messing und die anthrazitfarbene Beschichtung der Fassaden und der Pergola. Das Büro Schrölkamp Architektur hat einen Weg gefunden, den Erweiterungsbau dem Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts entsprechen zu lassen. Dabei wurden die Erwartungen an Bürgernähe und Repräsentanz erfüllt und die Achtung vor dem Ensemble Baumgartens gewahrt.

db, Mi., 2008.08.06



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db 2008|08 Weiterbauen

16. Juni 2008Christian Holl
zuschnitt

Die Fassade macht’s

Lange Wartelisten für einen Wohnheimplatz sind ein sicherer Indikator: Das Studentenwohnheim »Neue Burse« in Wuppertal ist beliebt. Das war allerdings nicht immer so.

Lange Wartelisten für einen Wohnheimplatz sind ein sicherer Indikator: Das Studentenwohnheim »Neue Burse« in Wuppertal ist beliebt. Das war allerdings nicht immer so.

Mitte der 90er Jahre sprach nicht mehr viel für die beiden 1977 errichteten, sternförmigen Baukörper mit den etwa 600 Wohnheimplätzen. Zentrale Küchen, Sanitäreinheiten für jeweils 16 Studierende, nur ein Eingang und ein zentrales Treppenhaus fast ohne Tageslicht waren die strukturellen Gründe, weshalb sich die Einheiten kaum noch vermieten ließen.

Dazu kamen bauphysikalische Mängel. Die Haustechnik war veraltet, die Wärmedämmung unzureichend, wegen undichter Fugen waren ganze Bauteile durchfeuchtet. Der Bauherr, das Hochschulsozialwerk Wuppertal, ließ die beiden Gebäude gründlich untersuchen, die möglichen Kosten der Sanierung ermitteln. Das Ergebnis zeigte, dass eine solche dem Abriss und Neubau vorzuziehen sei.

Mit der Sanierung wurde das Düsseldorfer Büro Petzinka Pink in Zusammenarbeit mit Architektur Contor Müller Schlüter aus Wuppertal betraut.

Der Entwurf der Architektenpartnerschaft wurde in zwei Bauabschnitten umgesetzt, in den zweiten Bauabschnitt konnten die bereits gewonnenen Erfahrungen einfließen.

Das Konzept besteht im Wesentlichen aus drei aufeinander abgestimmten Komponenten. Die Architekten ließen die zentralen Kerne mit Treppenhäusern, Gemeinschaftsbädern und Küchen entfernen, sie teilten dadurch jeden der beiden Baukörper in wiederum zwei L-förmige Häuser. Die neue Erschließung bildet nun je ein im Grundriss dreieckiges, einfachverglastes und unbeheiztes Treppenhaus, das als Scharnier zwischen den beiden Gebäudeflügeln fungiert.

Die stehen gebliebenen Riegel wurden entkernt, die tragenden Betonschotten blieben erhalten. Die kleinen Wohnzellen wurden zu etwa 19 m² großen Apartments mit Bad und Küchenzeile erweitert, ein Raumgewinn, der erst durch die Versetzung der Außenhaut um jeweils zwei Meter nach außen ermöglicht wurde. Stahlbetonschotten erweitern dafür die Decken- und Wandflächen des Bestands, mit dem sie biegesteif verdübelt wurden. Diese neuen Schotten übernehmen dadurch die Aussteifung, welche vorher die Treppenhauskerne geleistet hatten.

Letztlich wichtigster Baustein der Sanierung ist die Erneuerung der Fassade mit Elementen in Holztafelbauweise. Die neue Fassade ist für ein zeitgemäßes Äußeres verantwortlich, vor allem aber trägt sie zu wesentlich verbesserten bauphysikalischen Werten und zum deutlich reduzierten Energieverbrauch bei.

Die vorgefertigten, geschosshohen und 12 m langen Elemente wurden bereits werkseitig mit Dämmung, Fenstern, Absturzsicherung, Außen- und Innenbeplankung versehen. Die Stöße zwischen den Elementen wurden vor Ort geschlossen, indem die Folien miteinander verklebt und an den horizontalen Stößen durch Aluminium-Kantbleche geschützt wurden. Dank der Vorfertigung lässt sich jene Ausführungspräzision in den Details erreichen, die notwendig ist, um die Potenziale zur energetischen Verbesserung mit einer solchen Konstruktion auch auszuschöpfen. Die großen Elemente reduzieren außerdem die auf der Baustelle zu schließenden Fugen. Im ersten Bauabschnitt, dem östlichen der ursprünglich zwei Gebäudeteile, konnte durch die neue Fassade der Niedrigenergiestandard erreicht werden, der Heizwärmebedarf liegt hier nun nach Messungen des den Bau begleitenden Fraunhofer Instituts für Bauphysik in Stuttgart bei 68 kWh/m2a (vor der Sanierung hatte er bei 161 kWh/m2a gelegen). In diesem Bereich wurde beim zweiten Bauabschnitt nachgebessert: Die Dämmung wurde weiter optimiert und statt einer bedarfsorientierten Abluftanlage wurde eine zentral gesteuerte Lüftungsanlage installiert, so dass nun sogar der Passivhausstandard erreicht werden konnte (Heizenergiebedarf nach Energieeinsparungsverordnung und din 26 kWh/m2a).

Das ist für ein saniertes Gebäude wahrlich eine bemerkenswerte Leistung. Das Architektur Contor Müller konnte die gewonnenen Erkenntnisse bei einem weiteren Bau nutzen: Auch das Betriebs- und Verwaltungsgebäude der Remscheider Entsorgungsbetriebe wurden mit einer Fassade aus vorgefertigten Holzelementen saniert, auch hier tragen die Elemente maßgeblich zur Qualitätssicherung und Luftdichtigkeit des Gebäudes bei, so dass die gesetzlichen Vorgaben ebenfalls weit übertroffen werden konnten. Eine echte Erfolgsgeschichte.

zuschnitt, Mo., 2008.06.16



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zuschnitt 30 Holz bauen Energie sparen

Motiv oder Cliché?

Retro reicht von der Implementierung ganzer Stadtgestalten bis zur (meist nur äusserlich) lupenreinen «Kopie» eines Gebäudes, von der typologischen Anleihe bis zur Adaption einzelner Elemente, von der plumpen Applikation bis zur Rehabilitation des Ornaments, von der erklärten Hommage an einen Architekten bis zur versteckten Analogie. Die Art der Annäherung entscheidet, ob ein Bauwerk das «Vor-Bild» als Motiv würdigt oder nur als Cliché.

Retro reicht von der Implementierung ganzer Stadtgestalten bis zur (meist nur äusserlich) lupenreinen «Kopie» eines Gebäudes, von der typologischen Anleihe bis zur Adaption einzelner Elemente, von der plumpen Applikation bis zur Rehabilitation des Ornaments, von der erklärten Hommage an einen Architekten bis zur versteckten Analogie. Die Art der Annäherung entscheidet, ob ein Bauwerk das «Vor-Bild» als Motiv würdigt oder nur als Cliché.

Es gibt das Röhrenverstärker- ebenso wie das Käfer-Beetle-Prinzip (siehe Editorial und Bilder 1, 2): Typologische Anleihen, Hommagen und Transpositionen tendieren zu Ersterem. Sie entwickeln einen schon einmal gedachten Baugedanken inhaltlich weiter und machen den Ursprung in der formalen und / oder konstruktiven Umsetzung kenntlich. Stilzitate neigen zu Letzterem. Sie scheren sich kaum um die ursprüngliche Bedeutung, sondern inszenieren den dekorativen Effekt. Im besten Fall sind sie immerhin ironisch gebrochen.

Epochal und repräsentativ

Das «steinerne Berlin» hat keinen geringeren Ehrgeiz, als durch die Reproduktion seiner ­Architektur die Attribute einer ganzen Epoche neu zu implementieren, die lebendige Stadt des 19. Jahrhunderts wiederherzustellen. Doch so einfach ist das nicht. Angelus Eisinger konstatiert, da werde Stadtgestalt mit Stadtwirklichkeit verwechselt: «Die durchmischte Stadt des Flaneurs, die dieser nostalgisch-kultivierten Stadtvorstellung Pate gestanden hat, ereignet sich in diesen Räumen nicht.»[1]
Absichten und Ziel müssen ja nicht immer derart hehr und hochgesteckt sein. Gerade bei Prestigebauten spielte bei Fürsten früher und spielt bei Bürgermeistern heute das kindliche Verlangen mit, das haben zu wollen, was der andere hat. So hat man sich im süddeutschen Sigmaringen die Rathauserweiterung von Rafael Moneo, die dieser im spanischen Murcia 1999 errichtete, zum Vorbild für die eigene Erweiterung genommen (Architektengruppe Überlingen, Marion Roland-König). Fast rührt es einen an. Die Grösse stimmt nicht, Proportionen und Material auch nicht, das Verhältnis Öffnung zu Wand, mit dem Moneo ein raffiniertes Spiel trieb, wirkt hier dann doch etwas plump. Da der Meister nicht fürchten muss, dass hier sein geistiges Eigentum geraubt worden sei, sieht man in einem solchen Fall über die Parallelitäten hinweg und belässt es bei einem Achselzucken. (Bilder 3, 4)

Selbstreferenziell

Denn das ist ja das Heikle an der Sache: Wer zu unverfroren nachmacht, gilt als Dieb des geistigen Eigentums. Am einfachsten ist es daher, die eigenen Entwürfe zu recyclen. Das erspart die Probleme mit dem Urheberschutz, birgt aber die Gefahr, den Spott der Kritiker auf sich zu ziehen. So meinte Jörg Hentzschel in der «Süddeutschen Zeitung» einmal über Frank Gehry, er sei wie der Mann, der immer denselben Witz erzählt, nur weil sich die Leute beim ersten Mal geschüttelt hätten. Und doch zitiert Gehry nicht einmal nur sich selber: Oder sind seine Prager «Ginger und Fred» (1994–1996) etwa nicht eine – wenn auch nur floskelhafte – Replik auf Scharouns Stuttgarter «Romeo und Julia» (1954–1959)?
Eher ungeschoren kommt davon, wer sich unrealisierte Projekte oder Skizzen vornimmt – wenn auch, wie im Fall von Theo Hotz’ Projekt von 2005 für den 90 Meter hohen Turm beim Tramdepot am Escher-Wyss-Platz in Zürich (siehe TEC21, Nr. 13, 2006, S. 26) das Mies’sche Vorbild – der Entwurf für ein Hochhaus aus Glas von 1992 – stark im kollektiven Architekturgedächtnis verankert ist. Das gilt ebenso für Zaha Hadids 2005 präsentierten «Zhivopisnaya Tower» am Ufer der Moskwa, einen mehrflügeligen, mit Aluminiumbändern durchwirkten Turm, der «verdächtig» an Mies van der Rohes «Entwurf für das Hochhaus an der Friedrichsstrasse» von 1921 erinnert (Bilder 5, 6).

Verborgen

Reizvoller sind diejenigen Referenzen, deren «Vorbilder» in den verschütteten Gegenden des Architekturgedächtnisses schlummern: Herzog & de Meurons Bibliothek in Cottbus (1998–2004) ist oft in Beziehung gesetzt worden zum «Castel del Monte», das Friedrich II. Mitte des 13. Jahrhunderts in Apulien errichtete (1240–1250). Das macht Sinn für einen Hort des Wissens, war doch der Hohenstaufer-Kaiser einer der gebildetsten Herrscher jener Zeit. Doch die Basler Architekten haben sich immer auf die Grundrissform der Amöbe berufen, und hier wird man bei Wallace K. Harrison und seiner «Hall of Science» fündig, die er 1964 anlässlich der Weltausstellung in New York baute. Nicht nur hat sie einen Grundriss, den man mit der Form einer Amöbe assoziieren könnte. Auch Harrison verlieh dem Bau eine ­sakrale Wirkung. Er griff auf das Motiv bunter Kirchenglasfenster zurück, wie er sie in der First Presbyterian Church in Stamford 1958 eingesetzt hatte, und adaptierte sie: Die ondulierenden Aussenwände bestehen aus rechteckigen Kassetten, in die kobaltblaue Glasscherben eingesetzt sind. Harrisons Halle erscheint wie der archaische Ursprung der technologischen Fassung von Herzog & de Meuron – mit kryptischen Schriftzeichen bedrucktes Glas – in Cottbus. (Bilder 7, 8)

Typologisch

Die unverdächtigsten Anleihen sind die typologischen. Ein Gebäude nach oben hin abzutreppen, um jedem Stockwerk eine besonnte Terrasse zur Verfügung zu stellen, ist ein solches Motiv. Wie beim Arag-Verwaltungsgebäude von Paul Schneider-Eisleben in Düsseldorf von 1966 wird beim 2005 fertig gestellten Bürogebäude «Dockland» in Hamburg von Bothe Richter Teherani jedes Stockwerk mit Terrasse versehen, und diese werden untereinander über eine Treppe verbunden.
In Hamburg sind die Terrassen und das Dach sogar öffentlich zugänglich, und die Architekten haben es mit einem Kunstgriff verstanden, die Lage am Wasser so zu nutzen, dass genauso viel Raum wie in einem Quader zur Verfügung steht: Geformt wie ein Trapez wird vorne einfach angehängt, was hinten durch die Terrassierung verloren gegangen ist (Bilder 11, 12).

Respektvoll

Ähnlichkeiten müssen aber nicht unbedingt als Raub gelten. Sie können sogar beides sein: Kampfansage und Ehrfurchtsbekundung in einem. Zu ihnen gehörte die Tessiner Tendenza mit einem ihrer unlängst verstorbenen Protagonisten, Livio Vacchini, der 1997 mit der Mehrzweckhalle in Losone – in der Tradition von Schinkel und Mies van der Rohe – den griechischen Tempel neu interpretierte (siehe Seite 20).
Kürzlich gelegt wurde der Grundstein für die Elbphilharmonie in Hamburg (Herzog & de Meuron). Nicht nur der Name, auch die geschwungene Dachform verweist auf die Philharmonie von Scharoun in Berlin, und mit der Beschreibung der Fassade als «schillerndem Glaskörper» werden Scharouns Ideen einer kristallenen Architektur der 1920er-Jahre ebenfalls gewürdigt. Scharoun hat mit der Philharmonie eine Form des Konzerthauses erfunden, die noch so oft kopiert werden kann und trotzdem unvergleichlich bleibt. Und auch wenn Herzog & de Meuron auf sie anspielen, so wird die Philharmonie in Hamburg immer etwas anderes als die in Berlin sein, wird sie sich doch hier am Wasser auf dem Kaispeicher von Werner Kallmorgen (1966) erheben und ausserdem Hotel, Restaurants und Wohnungen aufnehmen (Bilder 9, 10). (Dass der Speicher nebenbei zur Prothese gemacht wird, ist eine andere Geschichte.)

Missverstanden

Unter dem Eindruck einer am Vorbild der europäischen Stadt des 19. Jahrhunderts orientierten Planung der letzten drei Dekaden gerieten die Alternativen zum standardisierten Wohnen in monofunktionalistischen Siedlungen der 1960er-Jahre in Vergessenheit. Die Collage von Wilfried Dechau aus den späten 1970er-Jahren – wieder aufgegriffen von Xavier Gonzales (Bild 13) – überlagert den Wunsch der Menschen nach Individualität à la Gartenhäuschen, mit der Architektur des Mietwohnungsbaus. Weniger radikal, nur mit der gleichen Technik der Collage, stellt sich der Wohnungsbau «Silodam» im Amsterdamer Hafen von MVRDV dar – wenn auch hier die Individualität nur noch aus einem bestehenden Angebot gewählt werden kann (Bild 14). Ähnlich ist es mit dem hochgradig ästhetisierten Konzept des auf der Möbelmesse in Köln vorgestellten «Ideal House» von Zaha Hadid. Raum und Möbel werden zu einem Kontinuum von höhlenartigen Konfigurationen komponiert. Es mag auf dem gleichen Misstrauen gegenüber funktionalistischen Standardformen gründen, die Friedrich Kiesler zu seinem «Endless House» führten. Dessen Innenräumen ähnelt Hadids Entwurf auffällig. Kiesler konnte sein Projekt nie verwirklichen, es war aber als Gegenteil einer Lösung gedacht, das dem Benutzer die Auseinandersetzung mit sich selbst abnimmt. Zaha Hadid hingegen liefert die vollendet inszenierte Lösung (Bilder 15, 16).

Auch in der Architektur stellt sich die Frage: Hat der Röhrenverstärker oder der New Beetle Pate gestanden? Orientiert sich der retrospektive Bau am Topos bzw. am Motiv des «Vor-Bilds» und verleiht ihm eine neue Bedeutungsebene, oder reduziert die Retro-Variante es auf die Phrase bzw. das Cliché?

TEC21, Mo., 2007.05.21



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25. März 2007Christian Holl
zuschnitt

Unter Strom

Mit dem neuen Taktfahrplan, der im Dezember 2004 im Rahmen des Projekts »Bahn 2000« in der Schweiz eingeführt wurde, musste mit einer Verdoppelung der...

Mit dem neuen Taktfahrplan, der im Dezember 2004 im Rahmen des Projekts »Bahn 2000« in der Schweiz eingeführt wurde, musste mit einer Verdoppelung der...

Mit dem neuen Taktfahrplan, der im Dezember 2004 im Rahmen des Projekts »Bahn 2000« in der Schweiz eingeführt wurde, musste mit einer Verdoppelung der Fahrgäste für den Bahnhof Bern gerechnet werden. Längere Züge im rascheren Wechsel erforderten die Verlängerung der Bahnsteige, weshalb auch der zweite Zugang zu den Gleisen westlich des Hauptbahnhofs, dort, wo die Gleise unter der Bebauung und der Schanzenbrücke ans Tageslicht kommen, nicht mehr das bleiben konnte, was er bislang war: ein schmaler, unattraktiver Notzugang, ungemütlich beleuchtet, mit dem Charme einer Unterführung. Mit der neuen Passerelle gelang es den Architekten, ihn zu einem großzügigen, hellen, übersichtlichen und eleganten Raum zu nobilitieren.

Die Welle

Den vor dem Bahnhof abgebremsten Verkehrsfluss in einer sich aufwölbenden Welle symbolisierend, verbindet nun ein Dach aus geschwungenen Holzträgern mit Aluminiumeindeckung die verlängerten Bahnsteige mit einer neuen, quergelagerten Brücke, von der aus die Bahnsteige erschlossen werden. Insgesamt wurden sechs Bahnsteige unterschiedlicher Länge und variierender Breite überdacht, jeweils gegliedert in einen Bereich der Welle, also des tatsächlich geschwungenen Trägers über der Passerelle, und einen flachen Abschnitt auf dem Bahnsteig. Die Konstruktion der Dächer und deren Abstützungen sind weitgehend durch die Geometrie der Gleisanlage bestimmt. Jeder Bahnsteig hat eine andere Form, außerdem sind die verschiedenen Höhen auf der Schanzenbrücke dafür verantwortlich, dass auch im Schnitt kein Dach dem anderen gleicht. Um die Klarheit der Form beizubehalten, vollständigen Witterungsschutz zu gewährleisten und gleichzeitig den durch die Holzuntersicht atmosphärisch angenehmen Raum offen und übersichtlich zu gestalten, wurden die Zwischenräume auf der Brücke mit Glas überdacht.

Montage unter Spannung

Aufgrund der zur Verfügung stehenden Bauzeit von lediglich neun Monaten wurde während des laufenden Bahnbetriebs umgebaut. Die meisten Bauteile wurden vorgefertigt und in kurzer Zeit, oft während der Nacht und teilweise zwischen fahrenden Zügen und stromführenden Leitungen, montiert. Unter diesen Umständen musste das Risiko für einen Unfall durch Stromschlag aus Sicherheitsgründen minimiert werden, weshalb man sich für eine Konstruktion aus Holz entschied.

zuschnitt, So., 2007.03.25



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19. Februar 2007Christian Holl
TEC21

Sehhilfe

Man kann das von Meixner Schlüter Wendt umgebaute und erweiterte Haus Wohlfahrt-Laymann in der Kleinstadt Oberursel im Norden von Frankfurt als ein System aufeinander bezogener Sehhilfen verstehen: Das Neue macht Qualitäten des Alten sichtbar und umgekehrt, beide müssen freilich dafür ihre Autonomie aufgeben. Das Alte und das Neue stehen zueinander in einer prothetischen Beziehung.

Man kann das von Meixner Schlüter Wendt umgebaute und erweiterte Haus Wohlfahrt-Laymann in der Kleinstadt Oberursel im Norden von Frankfurt als ein System aufeinander bezogener Sehhilfen verstehen: Das Neue macht Qualitäten des Alten sichtbar und umgekehrt, beide müssen freilich dafür ihre Autonomie aufgeben. Das Alte und das Neue stehen zueinander in einer prothetischen Beziehung.

Das englische Sprichwort «You can’t have your cake and eat it, too» bezeichnet einen Sachverhalt, der sich in vielen Zusammenhängen nachvollziehen lässt: Der Gebrauch einer Sache zerstört seine Existenz, aber rechtfertigt eben auch erst diese Existenz.
Das lässt sich auf die Architektur beziehen: Der Gebrauch des Hauses verändert es, es wird nie das bleiben können, was es nach seiner Fertigstellung gewesen ist. Deutlich wird dies vor allem dann, wenn ein Gebäude nicht mehr den Anforderungen entspricht, die an es gestellt werden. Ein Haus zu erweitern, umzubauen, umzunutzen, ist nur um den Preis des Verlustes der Qualitäten zu haben, die es ursprünglich ausgezeichnet haben.

Wer einen Umbau konzipiert, kann das Alte aber trotzdem nutzen, ohne gleich des Eskapismus bezichtigt werden zu müssen. Man kann dem Bestehenden etwas hinzufügen, das in einer neuen Sprache spricht, durch den Kontrast das Neue wie das Alte zu seinem Recht kommen lässt und damit ausdrückt, dass das Bestehende das Entstehende beeinflusst. Oft wird dabei der Weg gewählt, das Neue in der alten Hülle zu entwickeln und nur in einzelnen Elementen aussen abzubilden; ebenso populär ist die Variante, Neues und Altes nebeneinanderzustellen.

Ein dritter Weg

Die Frankfurter Architekten Meixner Schlüter Wendt haben keine dieser beiden gängigen Strategien gewählt, sondern eine dritte entwickelt. Die Aufgabe stellte sich in einem Einfamilienhaus­gebiet in Oberursel nördlich von Frankfurt. Ein auf einem Natursteinsockel stehendes Holzhaus aus den 1930er-Jahren sollte abgerissen werden, weil es für ein zeitgemässes Einfamilienhaus zu klein und seine Bausubstanz ungenügend war. Doch die Architekten reizte das traditionelle Haus als Ausgangspunkt einer architektonischen Auseinandersetzung, die nicht nur die Spuren der Veränderung nachvollziehbar machen sollte. Auch die Qualität der Räume mit ihrer eigenen Atmosphäre lockte, zumal sich Raumanordnung und Zuschnitt als geeignet erwiesen, die gewünschten Nutzungen aufzunehmen.

Aus Studien, in denen sich die Architekten unabhängig von diesem Entwurf mit dem Verhältnis von innen und aussen, mit Form, Raum und Volumen beschäftigt hatten, die sich durch die Umkehrung und Reduktion gewöhnlicher Raumsituationen ergeben, hatten sie ein Gespür für das Potenzial entwickelt, das banal oder selbstverständlich wirkenden Anordnungen zu entlocken ist. Anstatt nun das bestehende Haus abzureissen, umhüllten sie es mit einem Kubus, der fast bis an den First des bestehenden Hauses reicht. Damit entledigten sie sich der Aufgabe, die einfache Konstruktion an aktuelle Ansprüche und Vorschriften für Schutz- und Dämmwirkungen anzupassen. Die neue Hülle übernimmt diese Aufgaben, die alte brauchte nur instand gesetzt zu werden. Das hiess auch, dass der neue Kubus konstruktiv nicht mit dem alten verbunden werden konnte; die zweigeschossigen Wände, eine Mischkonstruktion aus Mauerwerk und Stahlbeton, werden also nicht durch eine Geschossdecke ausgesteift, diese Rolle müssen Fundamente und das über die ganze Grundfläche spannende Dach übernehmen.

Raumgewinn

Aber auf diese Weise kann die alte Raumdisposition genutzt werden und musste nur leichten Änderungen unterworfen werden. Der alte Kellerabgang etwa wurde geschlossen und in den Raum zwischen alter und neuer Aussenwand gelegt. Das Raumangebot konnte erheblich erweitert werden, zunächst dadurch, dass durch die neue Kubatur sich die Bereiche nach oben öffnen lassen, die bislang durch die Dachschräge beeinträchtigt waren.

Ausserdem gewannen die Architekten Raum, indem sie die neuen Aussenwände in unterschiedlichem Abstand zu den alten setzten und Zwischenräume verschiedenen Charakters schufen. Zur nach Westen gerichteten Gartenseite ist ein neuer, über zwei Geschosse geöffneter Wohnraum mit verglaster Front entstanden, zwischen ihm und den Räumen das Altbaus vermittelt die alte Veranda als Übergangsraum. Der dunkle Holzboden des neuen Raums verbindet sich mit der vor der Glasfassade liegenden Terrasse zu einer Einheit, die lediglich durch die Glasfassade in einen inneren und einen äusseren Teil getrennt wird. Nach Süden hin ist der neu gewonnene Raum so breit, die neue Kellertreppe aufzunehmen, im Norden ist er schmaler und bietet einen Nischen- und Rückzugsraum. Nach Osten hin wurde der Raum zwischen alter und neuer Hülle für haustechnische Installationen genutzt. Die Räume werden in Schichten unterschiedlicher Privatheit zwischen innen und aussen zoniert. Auch in dieser Hinsicht ist der Schutzbedarf gestiegen, die Nachbarn sind näher gerückt, als es früher der Fall war.

Schnitte und Abstraktionen

Seine besondere Qualität bekommt das Entwurfskonzept aber erst durch die Idee, die Öffnungen des alten Hauses mit Stutzen bis zur neuen Hülle hin zu verlängern – und sie umgekehrt von dort, wo der Raum erweitert werden soll, wo mehr Licht notwendig ist, auf das Alte zu projizieren und es aufzuschneiden. Dies geschieht in vertikaler wie in horizontaler Richtung: in der Vertikalen, wo sich die Dachgeschosse zu einem neuen Luftraum öffnen, in der Horizontalen, etwa nach Westen, wo sich das Obergeschoss über einen in den Wohnraum hineinragenden Arbeitsraum erweitert, oder vom Essraum, von wo ein neuer Erker an die Aussenwand führt und in der Horizontalen und der Vertikalen räumliche Bezüge öffnet.
Man kann es auch anders herum lesen: Wie eine neue Schutzhülle wird die neue Kubatur um das Haus gelegt, spannt es ein und stützt es. Die Öffnungen in der neuen Hülle nehmen dieses Spiel auf, sie enthalten die Öffnungen der Erweiterungen, bilden aber auch die alten Fenster und die bisherige Gebäudeform ab und machen damit die Idee der Stutzen zu einem Thema der Fassade. Die Einschnitte in der tiefen Aussenwand geben den Blick auf den innen liegenden Kern frei.

Um ihr Konzept nicht zu plakativ werden zu lassen, um das alte Haus nicht zu einem Museumsstück, das mit Sentimentalität an alte Zeiten erinnert, zu degradieren, haben die Architekten es durch einen einheitlichen, elfenbeinfarbenen Farbanstrich verfremdet und abstrahiert. Erst so schafft die alte Form die Distanz zu seiner Geschichte, die es der neuen Aneignung öffnet. Die Volumen, die zwischen Alt und Neu verbinden, sind in einem Papyrusweiss gestrichen, das sich mit seiner leichten Grautönung vom warmen Weiss des Bestands und dem kalten der neuen Hülle absetzt. Die Aussenwand schliesslich ist in einem dunklen Grau gestrichen, das einen hohen Grünanteil enthält und sich der Vegetation der Umgebung, einem gewöhnlichen Einfamilienhausgebiet, einfügt. Die Einschnitte in diese Hülle machen den gelblichen Kern sichtbar, der durch den Farbkontrast weich und verletzlich wirkt und die neue Hülle als bewahrenden Schutzmantel erscheinen lässt. Letztlich braucht aber beides, das Alte wie das Neue, des jeweils anderen Hilfe, um seine Qualitäten entwickeln zu können.

Künstlerische Parallelen

Die Architekten weisen darauf hin, dass Analogien zwischen dem Haus Wohlfahrt-Laymann und Arbeiten von Künstlern wie Gordon Matta-Clark oder Gregor Schneider bestehen. Und in der Tat, so wie bei Schneider das Haus Ur durch Eingriffe in die selbstverständlich scheinende Struktur des Hauses, durch Aufbrechen seiner Oberflächlichkeit und Gewöhnlichkeit, neue Räume, ­Abbilder des Untergründigen und Unbewussten preisgibt, die in der Alltäglichkeit latent enthalten sind, so wie Gordon Matta-Clark Schnitte und Zerstörungen vornehmen muss, um die Tiefenstruktur eines Gebäudes sichtbar werden zu lassen, so wie beide das Vorhandene verändern und zerstören müssen, um etwas Verborgenes sichtbar zu machen, so haben auch die Architekten das alte Häuschen im traditionalistischen Gewand zu einem gewissen Grad zerstören müssen, um es zu einem Teil des Heute werden lassen zu können, das sich nicht dagegen sperrt, gebraucht zu werden, wie es eine Musealisierung bewirkt hätte. Es liesse sich auch die englische Künstlerin Raquel Whiteread in die Reihe der Referenzbeispiele einfügen, die den Abguss eines Londoner Allerweltshauses in Beton erstellen lassen konnte, weil es abgerissen werden sollte. Auch beim Haus, das Meixner Schlüter Wendt transformierten, stand am Anfang der Gedanke, das Haus abzureissen, bevor die Architekten dem Bauherrn ihre Strategie unterbreiteten und ihn überzeugten. Erst die Option des Abrisses eröffnete die Spielräume, ein bislang ungenutztes Potenzial des Hauses zu aktivieren – und auch das ging nur, weil das Alte in wesentlichen Elementen aufgegeben wurde. Das Haus Wohlfahrt-Laymann macht sichtbar, dass Bewahren und Nutzen weiter auseinander liegen, als es die Konzepte suggerieren, die die Veränderung verbergen.

Das Haus Wohlfahrt-Laymann ist auf mehreren Ebenen prothetisch. Zunächst einmal interagieren die beiden Baukörper konstruktiv nicht. Der Neue ist statisch unabhängig und tangiert den Alten auch in seiner Dämmwirkung nicht, der Neue übernimmt diese Funktion. Aber inhaltlich sind die beiden aufeinander bezogen: Die Stutzen bzw. Projektionen stärken und erweitern räumliche Qualitäten des Alten, indem sie sie in neue Raumgefüge überführen. Das Alte muss beschnitten werden, damit es mit dem Neuen wieder zu einem Ganzen wird. Das Neue «konserviert» die Geschichte des Alten, ohne es zu musealisieren, bewahrt es vor der Nutzlosigkeit, nur noch Torso zu sein, und ist mithin dessen Vehikel in die Zukunft.

TEC21, Mo., 2007.02.19



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11. September 2006Christian Holl
TEC21

Raum sein und Raum schaffen

Zuerst hing es an einem Haus in Köln, dann an einem in Leipzig. Die nächste Station ab Ende August wird die Zeche Zollverein in Essen sein, 2007 soll es weiter nach München ziehen.
Das «Rucksack House» des Münchner Künstlers Stefan Eberstadt ist wahrhaft nomadische Architektur. Konzipiert nicht nur, um selbst zu nomadisieren, sondern dank dieser Eigenschaft auch die Möglichkeit zu eröffnen, einen Raum mit auf die Reise zu nehmen und mit ihm anderenorts wieder anzufangen.

Zuerst hing es an einem Haus in Köln, dann an einem in Leipzig. Die nächste Station ab Ende August wird die Zeche Zollverein in Essen sein, 2007 soll es weiter nach München ziehen.
Das «Rucksack House» des Münchner Künstlers Stefan Eberstadt ist wahrhaft nomadische Architektur. Konzipiert nicht nur, um selbst zu nomadisieren, sondern dank dieser Eigenschaft auch die Möglichkeit zu eröffnen, einen Raum mit auf die Reise zu nehmen und mit ihm anderenorts wieder anzufangen.

Es ist, als hätte Eberstadt sich das Zitat Ernst Blochs aus den «Spuren» zu Herzen genommen: «Und verlässt man ein Zimmer, in dem man länger gewohnt hat, so sieht man sich sonderbar um, bevor man geht. Auch hier blieb etwas zurück, auf das man nicht kam. Man nimmt es ebenso mit und fängt woanders damit an.»[1]
Das Rucksack House ist nicht gross. Bis jetzt existiert es als Prototyp, dessen Inneres neun Quadratmeter bietet. Der Quader ist eine Skelettkonstruktion aus Vierkantstahl, aussen beplankt mit Furnierschichtplatten, innen mit Birkensperrholz. Mit vier Dornen wird es aussen an einer Fassade fixiert, über Stahlseile die Last von etwa 1.6 Tonnen des in den Strassenraum ragenden Volumens auf sein «Wirtshaus» übertragen. Die scharfkantige Kubatur wird durch bündig in die Fassade eingesetzte Fenster aus Plexiglas durchbrochen, die alle über die Quaderkanten hinweg in zwei Richtungen den Blick freigeben. Und dabei nicht nur die drei horizontalen Richtungen einbeziehen, sondern sich auch nach unten und oben öffnen. Im Innern lassen sich Flächen ausklappen, die als Sitzplatz, Tisch, Bett oder Regal benutzt werden können.

Kommentar zu Stadtraum und Architektur

Das Rucksack House ist, pragmatisch gesehen, zunächst einmal eine Wohn- oder Arbeitsraumerweiterung. Aber es ist mehr als das. Zum Ersten ist es ein Kommentar zu Architektur und Städtebau. Das Rucksack House fragt nach dem Stellenwert, der dem viel-fach zum Transitraum degradierten Strassenraum beigemessen wird, fragt danach, ob der Raum zwischen den Objekten selbst Raum sein kann, und danach, wie dieser gestaltet und differenziert werden könnte. Er fragt nach der Zugänglichkeit und Hierarchie des öffentlichen Raums – und nicht nur der öffentlichen Fläche. Denn der sonst selbstverständlich öffentliche Luftraum über der Strasse ist nun auf einmal privat, bleibt aber gleichwohl für jeden sichtbar. Dieses Vexierspiel aus öffentlich und privat, mit dem die Vorstellungskraft aktiviert und die Gewohnheit hinterfragt wird, rückt Eberstadts Arbeit in die Nähe derer des amerikanischen Künstlers Dan Graham; in der Polyvalenz von Skulptur, reinem Körper und benutzbarem, architektonischem Raum erkennt man die Nähe zu Donald Judd. Dieser hatte schon 1964 in einem Text zur Ausstellung «Twentieth Century Engineering» geschrieben, dass die Trennung zwischen Kunst und Nicht-Kunst kein Wertmassstab mehr sein könne.[2] Kunst und Nicht-Kunst seien an Kennerschaft, an Sammlertum geknüpft, die sich historisch entwickelt hätten, hatte Judd in Anbetracht der in der Ausstellung gezeigten Industriebauten konstatiert. Davon ausgehend, lässt sich die Arbeit Eberstadts auch aus der anderen Richtung interpretieren: Gerade wenn es keinen Sinn hat, zwischen Kunst und Nicht-Kunst zu unterscheiden, braucht der Anspruch an gestalterische Qualitäten nicht auf die Kunst reduziert zu bleiben.
Das ambivalente Verhältnis von öffentlich zu privat ist zudem in gewisser Hinsicht anarchisch. Die demonstrative Raumaneignung durch das Rucksack House ähnelt der eines Baumhauses, aber auch der der Hausbesetzung, die sich gegen die gesellschaftlichen Mechanismen der Raumzuweisung wehrt, auch wenn die Sprache Eberstadts diese anarchische Komponente eher glättet als betont – aber nur so bleibt die Arbeit nicht auf eine Bedeutungsebene reduziert, lässt sie sich nicht eindimensional vereinnahmen. Auch so schafft sie sich einen eigenen Freiraum jenseits der durch die Konvention vorgegebenen Orte. Und der Anspruch, der sich darin äussert, lässt sich zudem als Kritik an der Gleichgültigkeit dem öffentlichen Raum gegenüber lesen, in dem sich durch die vielfältigen Praktiken der Überwachung noch das Misstrauen gegenüber jeder Äusserung des Individuellen äussert.

In einem Interview spricht Eberstadt davon, dass er sich nach dem Raum jenseits des Fensters gefragt habe, wie er realer, begehbarer Raum werden könne. Das heisst: Eberstadt verweist auch auf den Raum der Fantasie, dessen Potenziale nur ausgeschöpft werden können, wenn man sich nicht der gegebenen Hierarchie der Räume beugt. Die Bezeichnung Lichtraum, die Eberstadt seiner Arbeit auch gegeben hat, verdeutlicht, dass das Rucksack House nicht nur pragmatisch zu sehen ist, nicht nur als eine Vergrösserung eines zu knappen Raumangebots.

Raum als Raum begreifen

Denn was hätte es sonst in Leipzig zu suchen, wo keine Raumknappheit herrscht? Diese Erweiterung, sie ist eine Erweiterung der räumlichen Erfahrung. Sie ist eine Erweiterung des eingeübten, abgestumpften Verhältnisses des Menschen zum Raum, sie durchbricht die konditionierten Selbstverständlichkeiten, die nicht mehr der Beweglichkeit unserer Zeit entsprechen. Mobilität, die sich die einen leisten können und zu der andere gezwungen sind, die auf jeden Fall aber die Wirklichkeit der Städte und deren soziales Gefüge bestimmt. Das Rucksack House ist auch gerade deswegen anarchisch, weil es seine Potenziale am stärksten dort entfaltet, wo sich die Privilegierung nicht ausdrücken kann: an glatten, hohen, geschlossenen Bauvolumen. Natürlich weist das Rucksack House dort zunächst einmal selbst dem Ort, den es erweitert, eine besondere Rolle zu. Aber man muss das Rucksack House eben auch in seiner doppelten Rolle und daher im dem Sinne als Kunst verstehen, als es die grundlegenden Bedingungen und Situationen reflektiert und sie pointiert zur Sprache bringt. In derselben Weise sind auch die Walking Cities von Archigram keine lediglich technoiden Utopien, sondern ein Kommentar zur Wirklichkeit, in der die Konvention die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher, sozialer und politischer Wirklichkeit blockiert. (Möglicherweise stehen genau deswegen die Bilder der alten europäischen Stadt so hoch im Kurs, weil sie nicht nur Sehnsüchte erfüllen und Ängste mildern, sondern weil sie dazu beitragen, Reibungen zwischen wirtschaftlichem und öffentlichem Interesse zu glätten.) Gerade weil es gleichzeitig Kunst und Nicht-Kunst ist, war das Rucksack House in Leipzig genau am rechten Platz: Weil der Leerstand uns wieder lehren könnte, Raum nicht stets nur funktional, an Nutzung gebunden und unter ökonomischen Gesichtspunkten zu sehen.

Das Rucksack House ist im Sinne Franz Erhard Walthers eine künstlerische Konfiguration: ein Raum, zu dem der «Körper ein Verhältnis entwickeln kann». Und er ist eine Hilfe dabei, zum Raum ausserhalb des eigentlichen Objekts ein Verhältnis zu entwickeln: zum Raum über, unter und neben dem Rucksack House. Auch das lässt sich als Kommentar zu einer entweder sich nur selbst als Objekt verstehenden Architektur oder sich in Raumvorstellung des Städtebaus einordnender Bebauung lesen. Architektur sollte immer beides sein: räumliches und raumschaffendes Objekt, und dabei braucht das raumschaffende sich nicht auf den Innenraum zu beschränken. Qualitäten, die in der klassischen Moderne, an deren Sprache sich Eberstadt anlehnt, verwirklicht wurden, die in der Rezeption aber oft vernachlässigt werden.

Das komplexe Verhältnis von Objekt zu Raum hat Eberstadt auch in anderen Arbeiten untersucht. In «stripwall» entwickelt sich aus dem Sockelbereich der Wand eine aufgefaltete Struktur, die in den Raum hineingreift. Und es geht auch umgekehrt: In seinem Mobil office von 2005, einer auf Rollen gelagerten Arbeitsbox, sind konventionelle Aussenwandfenster in die Wände und die Decke gesetzt. Der Raum um das Mobil office wird zum Aussenraum. Der Ausschnitt, mit dem das Fenster die Landschaft zum Bild werden lässt, richtet sich auf das Rauminnere. Die Landschaft aussen, die braucht kein Bild mehr zu sein. Sie soll Raum sein. Raum, zu dem der Körper ein Verhältnis entwickeln kann.

TEC21, Mo., 2006.09.11



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tec21 2006|37 Nomadische Architektur

06. Juli 2006Christian Holl
db

Fast jeder Neuwagen ein Museumsstück

Automarken versprechen das Gefühl jener Freiheit, die im Alltag auf den Straßen nicht mehr zu finden ist. Sie müssen daher durch immaterielle Werte zu Statussymbolen werden, die nur noch repräsentieren, was sie nicht mehr einlösen können. In diese Strategien ist die Architektur elementar eingebunden, die Marke benutzt die Stadt und deutet sie in ihrem Sinne um.

Automarken versprechen das Gefühl jener Freiheit, die im Alltag auf den Straßen nicht mehr zu finden ist. Sie müssen daher durch immaterielle Werte zu Statussymbolen werden, die nur noch repräsentieren, was sie nicht mehr einlösen können. In diese Strategien ist die Architektur elementar eingebunden, die Marke benutzt die Stadt und deutet sie in ihrem Sinne um.

Das zwanzigste Jahrhundert war eines der Massenproduktion, des Massenkonsums und der Massenkultur. Doch schon lange greifen die Mechanismen egalitärer und ubiquitärer Warenverbreitung nicht mehr. Ausgelöst durch die Grenzen der Wachstumsmöglichkeiten hat sich der Konkurrenzkampf unter den Firmen verschärft, werden Distanzierungsstrategien als Marketinginstrumente eingesetzt, um mit symbolischen Wertzuweisungen Produkten zu Prestige zu verhelfen. Das gilt natürlich auch für das Auto. Die Werte, die mit ihm verbunden werden, finden in der Realität kaum mehr ihre Entsprechung. Die autogerechte Stadt gilt als Sinnbild stadtplanerischer Fehlentwicklungen, der Verkehr ist restriktiv reglementiert, Staus gehören zur Alltagserfahrung des Autofahrers. Das nicht mehr einzulösende Versprechen nach Geschwindigkeit und Freiheit wird durch das Image von Noblesse, Eleganz, Schnelligkeit oder Kraft ersetzt. Doch das ist alles nicht neu. Relativ neu ist aber, dass in dieser Marketingstrategie die Architektur an Bedeutung gewinnt. Es ist kein Zufall, dass auf diesem Gebiet die Autofirma Pionier war, die die breite Masse als Zielgruppe bereits im Namen führt und daher einen höheren Aufwand treiben muss, um ihren Produkten ein distinktives Prestige zu verschaffen: Volkswagen (siehe Seite 23, Beitrag von Frank Roost).

Aufwertung und Besetzung Doch haben auch die Autofirmen, die schon aus Tradition als besondere Marken gelten, die Notwendigkeit erkannt, mit Hilfe von Architektur ihr Image zu pflegen und ihr Profil zu schärfen. Dabei werden unter anderem die Firmengeschichte und ihr Bezug zum Ort inszeniert. So plant Future Systems für Maserati und Ferrari ein Museum in Modena, in direkter Nachbarschaft zum Wohnhaus von Enzo Ferrari aus der Jahrhundertwende. Deutlicher noch wird dieser Aspekt bei den Projekten, die hier im Mittelpunkt stehen: Sowohl die Museen für die Stuttgarter Firmen Porsche und Mercedes-Benz als auch das „Erlebnis- und Auslieferungszentrum“ der BMW-Welt in München sind an die Standorte der Firmenstammwerke gebunden. Für die Städte ergibt sich daraus eine willkommene Entlastung, denn die neuen Attraktoren wirken wie Schrittmacher für die Entwicklung von schwierigen Standorten der innerstädtischen Peripherie. Freilich hat diese Entlastung ihren Preis: Die Orte werden über die Grundstücksgrenzen hinaus symbolisch von den Firmen, den Marken besetzt. Sie machen sich gerade eines der Merkmale zu Nutze, die sonst als Kennzeichen der Unwirtlichkeit stigmatisiert werden: Die leistungsstarke Verkehrsstraße der Nachbarschaft dient plötzlich zur Inszenierung der Architektur und mit ihr des Produkts, das sie repräsentiert. Wie ein Ausstellungsexponat wird die Straße in allen drei Fällen ins Gebäude geholt, bei Porsche durch eine im Gebäude besonders exponierte Aussicht, die den Einblick von außen zumindest bei Tag nicht gestattet, bei Mercedes-Benz als Teil jener Sammlungsebenen, die die Alltagserfahrung der Besucher in den Mittelpunkt stellen. In der BMW-Welt schließlich ist es die Ecksituation an der Kreuzung zweier Stadtautobahnen. Sie wird durch einen Doppelkegel markiert, eine an einem hyperbolischen Paraboloid orientierte „Event-Arena“. Ein BMW-Museum ist in München ja bereits seit 1972 auf dem Gelände der Werkszentrale auf der anderen Straßenseite präsent, entworfen von Karl Schwanzer im Weltraumdesign der siebziger Jahre. Doch bislang hat sich der Konzern als eine eigenständige und abgeschlossene Einheit, unabhängig von der unmittelbaren Umgebung präsentiert. Mit der im nächsten Jahr eröffnenden BMW-Welt wird sich dies ändern, da diese mit den Durchblicken und großen verglasten Flächen Bezüge zur unmittelbaren Umgebung aufbaut. In diese Bezüge ist selbstredend auch das Museum eingebunden, das im nächsten Jahr ohnehin erweitert, umgebaut und dann mit neuem Ausstellungsdesign präsentiert wird.

Neuwagen werden Exponate Damit wird nicht nur der Ort der Produktion musealisiert und als Teil der Firmengeschichte auratisiert und nobilitiert; der Konzern wird mit den neuen, repräsentativen Gebäuden in der Gegenwart und in der Stadt direkt und unmittelbar verortet. Gleichzeitig findet eine Projektion in die Zukunft statt: Einerseits als ein Schrittmacher, mit dem sich der Avantgardeanspruch der Automobilfirma formuliert - Ben van Berkel und Caroline Bos sprechen vom Mercedes-Benz Museum als einem Leitton, der die zukünftige Entwicklung dirigieren könnte; andererseits erfährt in diesen Ausstellungshäusern auch der Gebäudetyp des Museums einen Bedeutungswandel. Das Museum, traditionell ein Ort der bürgerlichen Selbstvergewisserung und Archiv anerkannten Bildungskanons, dient nun der Positionierung global agierender Unternehmen. Hier werden nicht nur die Produkte ausgestellt, die zur Geschichte des Unternehmens und zur allgemeinen Geschichte der Technik gehören. Mit der musealen Inszenierung von Technik als einer Verbesserung von individuellen Gestaltungsspielräumen reklamieren diese Museen den musealen Wert auch für die neuen Produkte. Noch ist ihr Ausstellungsort die Straße, nicht das Museum. Suggeriert wird aber, dass auch jeder Neuwagen bereits potenzielles Museumsexponat ist. In allen drei Fällen werden daher Museum, Neuwagenpräsentation und -auslieferung an einem Ort zusammengebunden.

Anhand des Mercedes-Benz Museums lässt sich dieses besondere Verhältnis zur Geschichte noch weiter verfolgen. Eine der beiden Ausstellungsrouten, die unter dem Begriff der Mythen steht, wird von einer Chronik begleitet, die die wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte aufgreift. Indem also die Geschichte des Automobils in einer allgemeinen Historiografie verortet wird, wird die Marke zu einem selbstverständlichen und von ihr nicht zu trennenden Element der Geschichte. Weniger rühmliche Einzelheiten der Firmengeschichte werden dabei wohlweislich, wenn überhaupt, nur dezent zur Sprache gebracht.

Bilder des zukünftigen Erfolgs Um jeden Verdacht an der Zukunftsorientierung auszuschließen, muss die Architektur der Ausstellungshäuser auf jede Form des geschichtlichen Zitats verzichten, jeden Verdacht einer traditionsbewussten und konservativen Architekturhaltung vermeiden: keine Klassizismen, keine Ziegelfassaden, keine historischen Herrschaftssymbole. Diese Ausstellungsarchitektur bedient sich der Architektur, die den Anspruch von Avantgarde nach außen repräsentiert, ob in den ingenieurtechnischen Leistungen des Mercedes-Benz Museums, der komplexen polygonalen Struktur des Porsche Museums oder der geschwungenen Körperhaftigkeit skulpturaler Individualität, wie sie in München realisiert wird.

Alle drei Museen materialisieren auf eine ihnen eigene Weise landschaftlich-topografische Assoziationen. Ist es in Stuttgart die Figur der Doppelhelix, die die Erfahrung der Landschaft im Automobil transformiert, wo sich dem Auge hinter jeder Kurve wieder etwas Neues bietet und eine Atmosphäre von Grenzenlosigkeit eröffnet, so ist es in München der enorm große und als offen erlebbare Raum, dessen Luftraum von mehreren Geschossen zusätzlich durch Rampen und Treppen inszeniert wird. Beim Porsche Museum schließlich sind es die der Form einer Spirale folgenden, ineinander übergehenden Ebenen und Terrassen, die den Ausstellungsraum charakterisieren.

Zudem werden die architektonischen Bilder durch Wortmetaphern um weitere symbolische Werte angereichert. Immer sind es Dynamik symbolisierende Raumkonfigurationen von Strudeln oder Spiralen. In München sind es außerdem die Wolke, der Himmel, das geschwungene Dach, das als eine Entsprechung des befreienden Fahrerlebnisses formuliert wird. „Wenn für Sie der Himmel auf Erden Ihr Auto ist, dann entsteht hier Ihre Welt“, heißt es auf einem Werbeplakat.
Die Spirale des Porsche Museums wie die Doppelhelix des Mercedes-Benz Museums vermitteln nochmals den Anspruch des in die Zukunft gerichteten Versprechens. Dem, was sich hier in den Museen als abgeschlossene Welt präsentiert, liegen Figuren zugrunde, die sich weiterdenken lassen, deren Ende nur für den Moment und willkürlich festgelegt ist. Spirale wie Doppelhelix lassen sich weiter fortsetzen als die willkürlichen Setzungen von Anfang und Ende im Gebäude nahe legen. Die erfolgreiche Geschichte dieser Marken, so die Botschaft, ist noch lange nicht zu Ende.

db, Do., 2006.07.06



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db 2006|07 Branding

19. Mai 2006Christian Holl
TEC21

Auto-Stadt

Branding reichert Produkte mit immateriellen Werten an. Aber auch Städte profitieren von solchen symbolischen Zuweisungen und dem durch sie geprägten Image. Wie Marke und Stadt mittels Architektur in eine Wechselbeziehung treten, zeigen das Phaeno von Zaha Hadid
in Wolfsburg und das Mercedes-Benz-Museum von UN Studio in Stuttgart.

Branding reichert Produkte mit immateriellen Werten an. Aber auch Städte profitieren von solchen symbolischen Zuweisungen und dem durch sie geprägten Image. Wie Marke und Stadt mittels Architektur in eine Wechselbeziehung treten, zeigen das Phaeno von Zaha Hadid
in Wolfsburg und das Mercedes-Benz-Museum von UN Studio in Stuttgart.

Unter der Erosion ihrer wirtschaftlichen Basis, der Einheit von Bürgerschaft, Wohn- und Arbeitsort, beginnen Städte, wie Unternehmen zu agieren. Ortsansässige Firmen werden zu Kunden, wirtschaftliche Interessen werden mit grösserem Gewicht gegen das öffentliche Gemeinwohl abgewogen, mittels Klientelpolitik wird versucht, Unternehmen und zahlungskräftige Bewohner anzulocken. Das Image der Stadt wird zu einem Thema der Politik, Marketing ein wichtiges Handlungsfeld.

Es mag derartige Strategien und politische Programmierungen schon immer gegeben haben, doch bekommen die Strategien des Branding der Stadt innerhalb globaler Konkurrenz eine andere Dimension. Zudem verwischen sich die Grenzen zwischen den Sphären des Kommerzes und der Kultur. Factory Outlets, Vergnügungsparks, Shopping Malls einerseits – Fussgängerzonen, historische Rekonstruktionen, von kommerziellen Angeboten durchdrungene Museen andererseits: Bild und Kulisse, kommerzielle Stimulanz und kulturelle Bedeutungsebenen vermischen sich.

Es ist kein Wunder, dass davon die Wechselbeziehung zwischen Stadt und dem sie vielleicht am meisten prägenden Konsumgut, dem Automobil, nicht unberührt bleibt. Exemplarisch illustrieren dies die beiden jüngsten «automobilen» Architekturen: das Phaeno von Zaha Hadid in Wolfsburg und das Mercedes-Benz-Museum von UN Studio in Stuttgart.

Wolfsburg: Rampen, schräge Wände, Krater

Dabei ist das erste Projekt im direkten Sinne nicht einmal ein Gebäude für oder im Dienste des Automobils. Das Phaeno in Wolfsburg von Zaha Hadid, die sich im Wettbewerb unter 23 geladenen Architekten durchgesetzt hat, ist ein «Science Center», ein Wissenschaftsmuseum, das physikalische Phänomene in interaktiven Versuchsanordnungen erfahrbar macht. Es ist denn auch architektonisch eine Experimentierlandschaft, eine offene und dynamische Raumkonzeption aus Rampen, schrägen Wänden, Kratern, weichen Formen, fliessenden Linien, im Innern wie im Äusseren: Das aufgeständerte Bauwerk (aufgeständert auf jenen Kegelstümpfen, die im Innern als Krater die Raumfigur dramatisieren) ist auch in seinem Aussenraum zwischen Stadt und Gebäude als Kontinuum gedacht und aus der Überlagerung von Bewegungsrichtungen, Blickachsen und der Topografie entwickelt worden. Unter dem Haus entsteht zwischen den rauen Betonoberflächen ein besonders gestalteter, öffentlicher Raum. Hier, direkt am Bahnhof, ist das Phaeno als eine urbane Drehscheibe gedacht, in der zwei Stränge zusammenlaufen. Der eine ist die von Süden über den Mittellandkanal geführte Brücke. Sie verbindet das Phaeno mit der «Autostadt», einem Veranstaltungspark mit Ausstellungspavillons für die Marken des VW-Konzerns und einem speziellen Serviceangebot für die Kunden, die sich hier, in direkter Nachbarschaft zum Werk, ihren Neuwagen selbst abholen. Zur andern Seite hin führt eine zentrale Achse in die Stadt Wolfsburg hinein. Der Raum unter dem Phaeno ist dezidiert unhierarchisch konzipiert, der Haupteingang ist nur wenig gegenüber anderen, fast gleichwertigen Eingängen hervorgehoben. In den Kegelstümpfen finden sich die öffentlichen Funktionen, die diesen Raum beleben sollen: Restaurant, Bistro, Laden, Kiosk.

Das baukünstlerische Meisterwerk ist kein Geschenk der Stadt an ihre Bürger, sondern Ausdruck und Zuspitzung ihres Bemühens, sich von der Abhängigkeit des Autokonzerns, dem sie ihre Gründung von 1937 verdankt, zu lösen und als «Wissenschaftsstadt» ein neues Profil aufzubauen. Da passt es, dass das Phaeno das bislang grösste in selbstverdichtendem Beton errichtete Gebäude ist und ein spektakuläres, etwas aufdringliches Dachtragwerk aufweist, fächerförmig aus Rauten verschiedener Grösse dreidimensional aufgebaut, das die 6000 m² Ausstellungsfläche frei überspannt. Diese bautechnische Innovation ist die Entsprechung der demonstrativen Zukunftsorientierung der Gebäudefunktion. Tourismus, Event, Standortmarketing – dahin zielt letztlich das Kalkül der Stadt, die dafür 79 Mio. Euro investiert hat. Allerdings ist diese Emanzipation eine im gegenseitigen Einvernehmen, denn der Autokonzern arbeitet daran selbst mit: nach der «Autostadt» unter anderem mit einer eigenen Hochschule, dem MobilLifeCampus», die 2006 öffnet.

Nicht zum ersten Mal sucht der Konzern aus einem Wechselspiel von Stadt und Fabrik Profit zu ziehen. In Dresden hat man mit der «Gläsernen Manufaktur» von Henn Architekten die Produktion als musealen Akt inszeniert – und gleichzeitig das museale Potenzial der Stadt vereinnahmt: Besuchern werden Besichtigungen der kulturellen Sehenswürdigkeiten Dresdens gleich mit angeboten. Die Stadt wird zu einem ausgelagerten Exponat im als Museum inszenierten Montagewerk.

Stuttgart: Doppelhelix, Mythos und Geschichte

Etwas anders stellt sich die Sache in Stuttgart dar. Hier entstand «echte» Autoarchitektur. Das neue Firmenmuseum von Mercedes-Benz vor den Werkstoren liegt nicht im Stadtzentrum, nicht an einem Ort, an dem man die Architektur in den Dienst einer stadträumlichen Aufwertung normalerweise stellen wollte. Und doch formuliert das Museum gerade von hier aus diesen Anspruch: Zwischen aufgeständerter Bundesstrasse, Stadion, Veranstaltungshallen, Festplatz und Industrie gelegen, ist der Neubau schon jetzt Wahrzeichen und wird bereits in einem Atemzug mit der Stuttgarter Neuen Staatsgalerie genannt, das heisst als ein Gebäude, das Architekturgeschichte schreiben wird. Im städtebaulichen Zusammenhang sprechen Ben van Berkel und Caroline Bos von einem Leitton, der die zukünftige Entwicklung dirigieren könnte – noch im Museum verkörpert sich das Auto als Schrittmacher der Zukunft.

Die allgemeine Begeisterung wird im Zentrum des Hauses verständlich. Dort erwartet den Besucher ein fast bis unter das Dach reichender Raum von überwältigender Perspektive. Die beeindruckende Konstruktion aus Sichtbeton mit gekrümmten und geneigten Ebenen verdichtet sich zu einem intensiven Raumerlebnis. Auch hier wurde ein konstruktives Experiment gewagt und der Anspruch der technologischen Avantgarde mit dem der kulturellen verknüpft. Um die dem Entwurf zugrunde liegende Raumfigur der gegeneinander versetzten schraubenförmigen Raumfolgen in dieser Grösse zu realisieren, wurden grosse, gedrehte Hohlkastenträger ausgebildet, so genannte Twists, die in einer aus dem Brückenbau übernommenen Konstruktion an die Treppenkerne angeschlossen sind. Den grossen Aufwand für diese aussergewöhnliche Raumkonzeption illustriert am besten die Tatsache, dass ein Twist als Prototyp im Massstab 1:1 angefertigt werden musste.
Das räumliche Prinzip der Doppelhelix transformiert raffiniert die bereits vor dem Architekturwettbewerb formulierte Ausstellungskonzeption. Zwei Routen bieten dem Besucher zwei Optionen: Er kann den Weg durch die fünf Räume der «Collectionen» wählen, oder er hat die Möglichkeit, durch die chronologisch geordneten sieben Räume der Spirale zu gehen, die unter dem Begriff des «Mythos» stehen. Die Wahl ist aber nie endgültig. Immer wieder hat der Besucher die Möglichkeit, von der einen Route in die andere zu wechseln.

Im Gegensatz zu den Mythen sind die «Collectionen» nicht chronologisch geordnet, sondern fassen die Exponate thematisch (etwa unter «Helfer», «Lasten» oder «Reisen») zusammen. Diese Räume erfüllen eher die Aufgabe des Archivs, der Präsentation von gefüllten Schatzkammern.

Aufwändiger sind die Mythen inszeniert. Auf Podesten im Zentrum der Räume stehen die ausgewählten Exponate, die man, auf einer Rampe abwärts schreitend, umkreist, bevor man an sie herantreten kann. Sie sind durch die Ausstellungsgestaltung als Ausdruck ihrer Zeit interpretiert, werden aber auch als Objekte verstanden, die die Zeit geprägt haben – erst aus dieser Wechselbeziehung erwächst ja der Mythos. Eine «illustrierte Chronik» entlang der Wände greift die wichtigsten Ereignisse der Zeitgeschichte auf. Eine besondere Variante der Inszenierung der Marke: Indem die Geschichte des Automobils in der allgemeinen Historiografie verortet wird, erfüllt das Museum den pädagogischen Anspruch, Geschichte zu vermitteln – und Mercedes-Benz ist dabei deren selbstverständlicher Teil.
In den Mythosräumen wird der Blick nach aussen verwehrt, doch stellt sich über das offene Atrium die Verbindung der Räume untereinander her. Die Welt der exponierten und inszenierten Mythen ist die der Imagination, die durch den Alltag draussen nur gestört würde. Umgekehrt ist es in den Räumen der «Collectionen», hier ist der Blick nach aussen möglich, unter anderem auf die sechsspurige Bundesstrasse. Die Verortung in der Gegenwart macht die Geschichte, das Archiv zur Voraussetzung für die neue Entwicklung: Die alten «Helfer» stehen im Museum, die neuen sind im Einsatz. Die Strasse, die Stadt, zuvor der eigentliche und natürliche Ausstellungsort des Automobils, wird nun als Exponat ins Museum geholt.

Die Figur der Doppelhelix ist bei alldem mehr als ein besonderer Kniff, Kontinuität erfahrbar zu illustrieren, ist mehr als Raumfigur, die die Bewegung um die zur Ruhe gekommenen Exponate erzeugt. Sie ist Bild für die Fortsetzung dessen, was sich hier präsentiert. Die Helix ist eine prinzipiell weiterzudenkende Figur, ihr Anfang und ihr Ende sind willkürlich. Die erfolgreiche Geschichte der Marke, so die Botschaft, wird sich fortsetzen.

Fortsetzen wird sich auch die Verzahnung zwischen Kultur und Kommerz – gerade mit dem Automobil als seinem Hauptakteur. In München steht die «BMW Welt» von Coop Himmelb(l)au kurz vor der Fertigstellung, und auch in Stuttgart ist das nächste Automuseum bereits in Planung: 2007 soll das Porsche-Museum nach Plänen von Delugan Meissl eröffnet werden.

TEC21, Fr., 2006.05.19



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tec21 2006|21 Auto-Architektur

05. März 2006Christian Holl
TEC21

Körperhaftes Abwesendes

Um mehr als die Hälfte haben Meixner Schlüter Wendt eine Kirche verkleinert. Der neue Raumabschluss wurde zu einer plastisch geformten Wand entwickelt und als ein Medium interpretiert, dem Elemente der Vergangenheit eingeprägt werden. Die Geschichte des Ortes wurde dabei nicht auf ein plattes Abbild reduziert, sondern zu einer neuen architektonischen Qualität geformt.

Um mehr als die Hälfte haben Meixner Schlüter Wendt eine Kirche verkleinert. Der neue Raumabschluss wurde zu einer plastisch geformten Wand entwickelt und als ein Medium interpretiert, dem Elemente der Vergangenheit eingeprägt werden. Die Geschichte des Ortes wurde dabei nicht auf ein plattes Abbild reduziert, sondern zu einer neuen architektonischen Qualität geformt.

Der Rückbau der Frankfurter Dornbuschkirche in einer innenstadtnahen Wohnsiedlung lässt sich zunächst einmal pragmatisch beschreiben. Ursprünglich für eine Gemeinde von 12000 Menschen als Teil der neuen Dornbuschsiedlung errichtet und 1962 geweiht, war die Kirche schon lange für die inzwischen auf 3500 Mitglieder zurückgegangene Gemeinde zu gross geworden (Bild 8). Nicht einmal zu Weihnachten oder bei Konfirmationen konnte die evangelische Kirche gefüllt werden. Dass der nüchterne, vom Bauamt des Evangelischen Regionalverbands geplante Bau - Teil eines Gemeindekomplexes aus Kirche, Gemeinde-, Pfarrhaus und Kindertagesstätte - besonders beliebt gewesen sei, lässt sich nicht behaupten.

Dazu kamen die ersten durch Alterung bedingten Bauschäden an Stahlbetonwänden und Flachdach - von der psychologischen Belastung, die von Gottesdiensten vor spärlich besetzten Rängen ausgeht, ganz zu schweigen. Die Gemeinde suchte zunächst nach Interessenten für eine Fremdnutzung - erfolglos. Sie erwog den Abbruch der Kirche und musste nach Protesten in der Presse auch diesen Plan verwerfen. Schliesslich schien der Abbruch, verbunden mit dem Neubau eines kleineren Andachtsraums, einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu bieten. Mit dieser Aufgabe wurden die Frankfurter Architekten Meixner Schlüter Wendt beauftragt. Die allerdings brachten nach Analyse und Planungsstudien eine Alternative aufs Tapet.

Ursprünglich bildete die Dornbuschkirche mit Kindertagesstätte und Gemeindehaus einen U-förmigen Komplex. Meixner Schlüter Wendt schlugen nun vor, den südlichen Teil der Kirche abzureissen und den nördlichen in Verlängerung des angrenzenden Gemeindehauses zu schliessen (Bild 4). Diese plausibel aus der Gebäudekonstellation entwickelte Konzeption fand sofort die Zustimmung der Gemeinde. Die Vorteile lagen auf der Hand: Bei geringen Kosten erhielt man einen Kirchenraum von ansprechender Grösse, der sich bei Bedarf auch zum angrenzenden Gemeindesaal öffnen lässt. Vor allem aber blieb so auch das beliebteste Element der Kirche erhalten, das grosse Buntglasfenster der Ostwand (Bild 1). Geblieben ist auch der Campanile auf dem neu entstandenen, geschützten öffentlichen Platz, der nun für Veranstaltungen genutzt werden kann. Der frühere Altarraum bildet zusammen mit dem Chor nun das Kirchenschiff, der neue, mobile Altar ermöglicht eine variable Raumaufteilung und -orientierung.

Mehrdeutige Referenzräume

Mit der Art der Behandlung des Platzes vor der neuen Südwand der von 570 auf 260 m² verkleinerten Kirche verdichten und transformieren Meixner Schlüter Wendt geschichtliche und alltäglich Spuren zu einem polyvalenten Referenzraum. Die asphaltierte Fläche entspricht der Grundfläche der Kirche, wie sie hier stand, bevor sie rückgebaut wurde. Die Zeichnungen auf dem Boden zeigen an, wo früher Kirchenbänke standen, wo der Eingang lag, wo eine Wendeltreppe auf die Empore führte. Hier sind Gottesdienste im Freien möglich. In Form und Farbgebung hat die Zeichnung auf dem Boden aber den Charakter von Verkehrszeichen auf Strassen oder von Markierungen auf Sportfeldern - der neue öffentliche Platz, seine profane Inanspruchnahme und seine Geschichte werden einander überlagert (siehe Titelbild). Die Zeichen drücken Geschichte und neu geschaffene Qualität aus. Die inzwischen dazugekommenen Schleifspuren der Skater sind den Architekten daher auch höchst willkommen, denn sie verstärken genau diesen ambivalenten Charakter des Ortes.

Die wichtigste Entwurfsentscheidung aber galt der neuen, sowohl Kirchen- als auch Platzraum abschliessenden Wand. Sie ist die entscheidende, prägende Intervention. Der mehrfach codierten Platzfläche fügt sie eine weitere Ebene der Polyvalenz hinzu, die nach innen und nach aussen lesbar wird (Bilder 4-6). Der neue Raumabschluss ist durch die von beiden Seiten an die Wand herangeführten Elemente der alten Kirche gestaltet, die sich ihr wie einer weichen Masse eingeprägt haben und als Abdruck auf der jeweils anderen Seite wieder auftreten (Bild 5). Altar, Taufbecken und Orgelempore mit Tragkonstruktion sind in einem plas-tischen Relief vereint.

Hülle und Form

Meixner Schlüter Wendt beschäftigen sich schon seit einiger Zeit mit dem Verhältnis von positivem zu negativem Raum. In Umkehrdarstellungen werden an einfachen, alltäglichen und überschaubaren ebenso wie an komplexen städtischen Situationen Räume als Volumen sichtbar gemacht und als skulpturale Figur interpretiert. Diese Sichtweise wird auf die konkreten Projekte übertragen: Beim Wohnhaus Wohlfahrt-Laymann in Oberursel (Taunus) beispielsweise wurde einem Haus aus den 1930er-Jahren eine neue, kubische Hülle übergestülpt, die aus einem ehemaligen Freiraum nun einen genau begrenzten Innenraum macht. In die entstandenen Zwischen- und Resträume ragen Erweiterungen des ursprünglichen Hauses als neue Volumen hinein und erschliessen neue Raumpotenziale.

Für die Dornbuschkirche liessen sich die Architekten durch Stanz- und Prägeformen von Verpackungen anregen, die die Form des darin Eingepackten als Negativform zeigen und als positives Volumen nach aussen abdrücken. Dieses Abbilden eines Abwesenden haben sie auf die Wand der Kirche übertragen: Was sich von der einen Seite in das Volumen der 2 m tiefen Mauer eingräbt, wird auf der anderen als ausgestülpte Form sichtbar. Die zerstörten und verschwundenen Teile der Kirche bleiben so als sie umspannende Hülle erhalten. Vor allem im Innern wird das Negativvolumen der ehemaligen Empore durch das Oberlicht zu einem Lichtraum, der nicht nur auf die Geschichte des Rückgebauten, sondern auch auf die durch den Glauben sichtbare Gottesanwesenheit jenseits der durch Erfahrung fassbaren Wirklichkeit weist. Auch von aussen kann gezielt beleuchtet und die Plastizität der Fassade bei Dunkelheit hervorgehoben werden.

Die Wand, eine Mischkonstruktion aus Mauerwerk und Stahlbeton, wurde innen wie aussen ebenso wie die gegenüberliegende Nordwand verputzt und seidengrau gestrichen. Die Gegenständlichkeit der eingeprägten und verschwundenen Relikte wird dadurch abstrahiert und in der Gesamtheit als neue Raumfigur lesbar, die eine eigene Qualität auch für den bekommt, der nicht von der Herkunft der sie zusammensetzenden Formen weiss. Gegenständlichkeit und Abstraktion werden in einen rätselhaften Schwebezustand versetzt, der auf das Verschwinden der sichtbar gemachten Elemente durch den Prozess des Rückbaus verweist.
Der warm-dunkle Boden aus geräuchertem Eichenparkett verbindet sich mit der dunklen Wand zum Gemeindehaus und der dunklen Unterseite der Decke zu einem den Kirchenraum einhüllenden und das Glasfenster einfassenden Band. Es definiert einen schützenden Raum, der sich dem Licht öffnet.

Mauer und Wand

Zur Ambivalenz zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, Schutz und Öffnung, Anwesenheit als positives und Abwesenheit als negatives Volumen kommt eine weitere Doppeldeutigkeit: die von Mauer und Wand - die Mauer als ein festes, körperhaftes Volumen, die Wand hingegen als Grenze und Schirm. Genauer gesagt, macht diese Ambivalenz erst die anderen möglich. Und auch sie wurde in Studien und anderen Arbeiten des Büros bereits mehrmals untersucht.

In einer Installation beispielsweise wurden die Volumina von Gegenständen lediglich als Linien dargestellt, zwischen denen sich die Grenze nur noch als imaginäre Fläche spannt. Nur die Kenntnis der Formen macht die Wahrnehmung der Raumgrenzen möglich, und so kann auf deren Wesen als materienlose Oberfläche verwiesen werden, gleichzeitig werden aber auch andere Körper als die der ursprünglichen Ausgangskomposition vorstellbar. Auch hierzu soll anhand eines Beispiels gezeigt werden, wie diese Studien Eingang in die architektonische Praxis gefunden haben. Im Wohnhaus Schlüter in Karlsruhe wurde ein Teil des dem Haus zugeordneten Freiraums als aus einem kubischen Gesamtvolumen ausgeschnittener Raum zusätzlich dadurch lesbar gemacht, dass die Aussenhülle des Gesamtvolumens dunkel, die Aussenflächen des aus diesem Körper herausgeschnittenen Volumens aber in Weiss gestrichen wurden. So verstärkt die Farbe wie eine dünne Haut die Struktur der Volumen.

Zurück zur Dornbuschkirche. Hier ist die den Raum definierende Grenzfläche der Wand auch die Grenze zu den imaginär eingehüllten, verlorenen Teilen der Kirche. Erst durch diesen Charakter der Wand als Haut können sie gleichzeitig dargestellt und abwesend präsent sein. Dazu trägt nicht unwesentlich das helle Grau bei, das die Materialität des Volumens, seine Konstruktion und Tiefe verbirgt. Doch dieser Charakter der Wand als Haut wird durch das massiv scheinende, ausgestülpte Volumen wieder aufgehoben. Körperhaftigkeit der Mauer und einhüllende Grenzfläche der Wand treten in ein Wechselspiel, durch das erst das Changieren zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit möglich wird.

Der Prozess des Rückbaus wurde auf diesen nun 2 m tiefen Volumenraum der neuen Fassaden verdichtet, ohne sich in der Erzählung von Verschwundenem zu erschöpfen. Der Rückbau wurde als Ausgangspunkt der Transformation wertvoll gemacht und damit seiner erniedrigenden Wirkung als Ausdruck des Niedergangs und Verlustes ins Versöhnliche - eben ins Positive - gewendet.

TEC21, So., 2006.03.05



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Kirche Dornbusch - Rückbau



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tec21 2006|10 Rückbau

Profil

Studium der Kunst und Kunsterziehung in Stuttgart und Münster/Westfalen
Architekturstudium an der rwth Aachen und der Universität Stuttgart
1997 – 2004 Redakteur der db – deutsche bauzeitung
2004 Gründung von frei04 publizistik mit Claudia Siegele und Ursula Baus
Kurator an der architekturgalerie am weißenhof
Seit 2010 Geschäftsführer des BDA Hessen
Mitherausgeber von Marlowes.de, Magazin für Architektur und Stadt

Lehrtätigkeit

Seit 2001 Lehraufträge an der Frankfurt University of Applied Sciences und den Universitäten Darmstadt, Stuttgart, Kaiserslautern und Wuppertal
2005 – 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Stuttgart

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften
BDA a.O., SRL

Publikationen

Buchveröffentlichungen und Buchbeiträge: siehe
http://www.frei04-publizistik.de/data/webserver/download/Holl_Veroeffentlichung_241228.pdf

Veranstaltungen

Ausstellungen: siehe http://www.frei04-publizistik.de/seite.php?pg=136
Vorträge: siehe http://www.frei04-publizistik.de/seite.php?pg=135

Auszeichnungen

Das von Christian Holl zusammen mit Ursula Baus und Claudia Siegele herausgegebene Magazin marlowes.de wurde 2018 mit dem Werkbund Label ausgezeichnet. 2021 wurde es im Rahmen des BDA Preises für Architekturkritik mit einer „Besonderen Auszeichnung“ gewürdigt.

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