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13. Oktober 2017Susanne Frank
Marko Sauer
TEC21

«Neben Handschrift braucht es auch Überraschendes»

Das Interesse an Stoff und Raum verbindet die Architektin Anna Jessen und den Modedesigner Albert Kriemler. Wie begründet sich die gegenseitige Affinität? Und was inspiriert sie in ihrem kreativen Schaffen?

Das Interesse an Stoff und Raum verbindet die Architektin Anna Jessen und den Modedesigner Albert Kriemler. Wie begründet sich die gegenseitige Affinität? Und was inspiriert sie in ihrem kreativen Schaffen?

TEC21: Herr Kriemler, Sie haben ein enormes Interesse an Architektur. Hätten Sie auch Architekt werden können?'
Albert Kriemler: Ja, da ist eine grosse Nähe. Und ich wäre vielleicht auch Architekt geworden, wenn ich nicht die letzten 35 Jahre gemeinsam mit meinem Bruder Peter unsere Firma entwickelt hätte.
Anna Jessen: Ich finde, man könnte dich durchaus als Architekten bezeichnen.
Albert Kriemler: Es gibt interessante Gemeinsam­keiten. Aber das macht mich noch lang nicht zum Architekten. Dazu braucht man das Wissen, das aus Ausbildung, Gefühl und Erfahrung erwächst. Ich diskutiere gern über Architektur und bin ein Partner für Architekten, weil mich das Thema nicht nur in meiner Arbeit interessiert.

TEC21: Inwiefern lässt sich Ihre Arbeit mit der eines Architekten vergleichen?
Albert Kriemler: Architekten, Designer und Künstler arbeiten jeweils mit ihrer Kreativität. Grundsätzlich denken Architekten und Modedesigner über Pro­portionen nach. Was uns verbindet, ist der Zweck. Wir dienen einem Zweck. Ein Künstler drückt sich selbst aus. Bei mir steht das Material am Anfang, daraus folgt die Idee. Das ist sicher bei jedem Einzelnen anders, ob Designer oder Architekt.

TEC21: Sehen Sie noch weitere Parallelen?
Albert Kriemler: Wir fragen beide: Was ist der Mensch im Raum? Natürlich kann man auch von Architektur sprechen, wenn es um das Formulieren eines Volumens bei einem Kleid geht. Mit dem Thema Material ist der Aspekt Farbe eng verbunden.

TEC21: Frau Jessen, Sie beschäftigen sich schon seit geraumer Zeit mit dem Thema des «textilen Raums». Wo liegt für Sie die Faszination darin?
Anna Jessen: Die Beziehungen zwischen Stoff und Raum sind sehr vielfältig und ursprünglich. Das Gegenmodell zur Höhle und zum Erdhügel ist das nomadische Zelt. Da weist die Wand eine textile, gewobene und strukturelle Qualität auf. Der Begriff der «Wand» leitet sich ja offenbar vom althochdeutschen «want» ab, das wiederum verwandt ist mit dem heutigen Verb «winden» und das auf ein mit Lehm bestrichenes Geflecht zurückgeht. Die sprachliche Nähe zwischen Wand und Gewand drückt eine noch direktere Beziehung aus. Auch der Begriff der «Decke» als oberer Raumabschluss verweist auf einen sehr ursprünglichen Zusammenhang zum textilen Raum. Ähnlich verhält es sich mit dem Wort «Knoten», mit dem in der Architektur meist eine starre Verbindung bezeichnet wird, die eigentlich aber eine geknüpfte war, wie Semper es ausführlich dargestellt hat.

TEC21: Sie bauen einen neuen Studiengang für Architektur an der FHS in St. Gallen auf, der im Herbst den Betrieb aufnimmt. Wie lassen Sie dieses Thema dort einfliessen?
Anna Jessen: Unter dem Begriff «textiler Raum» unterscheide ich zwei Denkrichtungen. Es gibt die direkte Übersetzung und die Anwendung im übertragenen Sinn. Beide weisen ein grosses Potenzial auf. Ich glaube, dass das Textile wieder stärker ein Thema in der Architektur werden wird. Daneben gibt es den Begriff «Stoffwechsel», wie ihn Semper eben geprägt hat. Wir leben in einer Zeit des intensiven Stoffwechsels, in der plötzlich altüberlieferte Baustoffe neue Leistungsmerkmale erhalten und ihre klassische Verwendung neu interpretiert wird. Holz ist ein gutes Beispiel dafür. Da passieren spannende Dinge – bei textilen Materialien werden wir Ähnliches erleben.

TEC21: Sie haben aber auch eine ganz persönliche Beziehung zum Textilen.
Anna Jessen: Ich habe vor dem Architekturstudium eine Schneiderausbildung gemacht und immer Bekleidung für mich selbst angefertigt. Weil ich nirgends die Kleider bekommen konnte, die ich mir wünschte.

TEC21: Was hatten Sie denn vermisst?
Anna Jessen: Ich glaube, es hatte etwas mit der eigenen haptischen Wahrnehmung der Kleider zu tun. Sie sind dann natürlich auch so etwas wie eigene Zelte, erste Häuser, die du dir selber baust. Wir sind ständig umgezogen als Kinder – für mich ist es tatsächlich ein eigenes Haus gewesen, das ich mitnehmen kann. Und das ist es auch heute noch.

TEC21: Hat dies Auswirkungen auf Ihr architektonisches Schaffen?
Anna Jessen: Natürlich. Wenn ich heute beim Bauen Dinge füge, dann ist es oft das Bild: Wie und mit welcher Naht füge ich zwei Stoffteile zusammen?

TEC21: Worin gleichen sich für Sie die beiden Disziplinen?
Anna Jessen: Vor allem in der Bekleidung eines Körpers – wobei wir dann schon bei den Unterschieden wären: Denn wir entwerfen den Körper, sprich die Struktur ja mit. In beiden Disziplinen geht es um die Frage: Was sind Raumbeziehungen? Der ganze Entwurfsprozess hat Parallelen. Schnittstellen gibt es natürlich auch in der Art des Fügens, der Art eben, wie Nähte zusammenkommen. Das ist ganz nah an architektonischen Fragen.

TEC21: Ein Architekt, der sich dezidiert zu Mode und Architektur geäussert hat, ist Adolf Loos.
Albert Kriemler: Das Interesse an Loos begleitet mich in meiner Arbeit täglich. Für mich ist er ein wirklich genialer Architekt – gerade in Fragen der Materialiät und der Reduktion. Loos ist viel gereist und hat von jeder Reise Material mit nach Hause gebracht: japanische Tapeten, chinesische Seide, er wusste auch von Kaschmir und Tweed, alles war vom Feinsten.
Anna Jessen: Zur Frage der Materialität beschäftigt mich Mies van der Rohe noch mehr als Loos. Da ist der Stoff sehr präsent. Bei Mies hat das Pure des Materials eine grosse Bedeutung, die man in seinen Häusern sehr stark fühlt. Es gibt da eine haptische Verbindung zum Haus – während das Primäre bei Loos wirklich die Raumfügungen sind, wie die Räume dreidimensional miteinander verwoben sind.
Albert Kriemler: Ich sehe das etwas anders. Wenn Mies das Material in der Reduktion anwendet – und das tut er –, trifft er den Gedanken, den Loos zu wertvollen Materialien formuliert hat, ins Schwarze. Die Onyxwand in der Villa Tugendhat wirkt als massiver Wandkörper, der das Wohnzimmer von der Bibliothek trennt. Mies verwendet Stein, Hölzer wie Mahagoni und edle Stoffe. All diese Materialien sind wertvoll, sie besitzen Farbe und Struktur, benötigen also keine weitere Aufwertung durch Dekoration. Beim Wert und bei der Reduktion treffen sich Loos und Mies. Bei Loos gab es immer auch das Einfache.

TEC21: Um nochmals zu Loos zurückzukommen: Er hat auch Wesentliches zum Ornament geschrieben. Herr Kriemler, wie sieht Ihr Bezug zum Ornament aus?
Albert Kriemler: Das Zitat mit dem Ornament und Verbrechen wird immer ganz schnell aufgegriffen. In meiner Kollektion gibt es aufwendig gestaltete und verarbeitete Stoffe, oft moderne St. Galler Stickerei oder im Haus entwickelte Materialien, die man in ihrer Gesamtstruktur als Ornament bezeichnen könnte. Diese Ornamentik ist vollständig als Stoff in ein Kleidungsstück integriert und wirkt nie wie eine hinzugefügte Dekoration. So hat es die New Yorker Museumskuratorin Valerie Steele einmal beschrieben. Das Prinzip gilt auch für Drucke.
Anna Jessen: Mich interessieren bei Bauwerken nur die Dinge, die etwas fürs Ganze tun. Es gibt strukturelle und dekorative Ornamente. Auch deswegen ist die Mode von Akris interessant, weil das Ornament sehr stark strukturell ist. Wir suchen das ebenfalls in unseren Bauten.

TEC21: Können Sie das illustrieren?
Anna Jessen: Wo gehören zum Beispiel die Bronzerahmen der äusseren Verglasung im Verwaltungszentrum Oberer Graben hin? Auf jeden Fall haben die Öffnungen im Blech eine Funktion. Ihre Zahl und Anordnung ist hinsichtlich Strömungsverhalten und Lüftung des Kastenfensters im Computer simuliert worden. Aber erst die Übersetzung der Öffnungen in je zwei Halbkreise, die sich im Wechsel drehen, macht aus dem einfachen Loch im Blech – sprich aus dem Lochblech – ein spielerisches Element, das die reine Funktion sublimiert, poetisch sanft überhöht und den Charakter des Hauses akzentuiert.
Albert Kriemler: Wenn die Funktionalität unter der Idee leidet, dann darf man das nicht machen. Für mich hat die Funktionalität viel mit der Modernität und Selbstverständlichkeit eines Kleidungsstücks zu tun. Wenn es in irgendeiner Form kompliziert ist, dann ist es schon obsolet.

TEC21: Und doch braucht es eine Balance zwischen Entwurf und Funktionalität – so wie zwischen Tradition und Innovation.
Albert Kriemler: Das ist das Schwierige in der Architektur – und in der Mode ist es dasselbe: Wie entwickelst du deine Handschrift? Und überraschst trotzdem immer wieder mit dem Neuen? Ich habe gelernt, in unserem Entwurfs- und Entwicklungsprozess Raum für Überraschungen zu schaffen. Mode lebt von der Abwechslung, deshalb ist sie Mode. Und dennoch müssen wir innerhalb unserer Handschrift erkennbar bleiben, also Konstanz zeigen. Aber das ist es, was die Passion für den Beruf aufrecht erhält. Es ist eine permanente Evolution. Und das ist bei Architekten vielleicht nicht anders.

TEC21: Sie haben sich für Ihre Sommerkollektion 2016 von der Arbeit des japanischen Architekten Sou Fujimoto inspirieren lassen. Wie würden Sie diese Zusammenarbeit beschreiben? Wie erfolgte dieser Austausch?
Albert Kriemler: Die Auseinandersetzung mit der Architektur von Fujimoto war einer der Momente, wie ich sie immer wieder erlebe, wenn ich reise. Als ich seinen Serpentine-Pavillon von 2013 in London gesehen habe, war ich fasziniert davon, wie man mit einem weissen Metallstab und ein bisschen Glas so ein wunderbares Gebäude schaffen kann, das nicht nur eine fantastisch fragile, schöne Wolke ist, sondern auch als Pavillon funktioniert. Dieses Überraschungsmoment, wenn eine attraktive Erscheinung mit verblüffender Funktionalität zu­sammenfällt, ist für mich eine Parallele zur Mode.
Bei einem Akris-Kleid geht es um ähnliche Faktoren: Attraktivität, Angemessenheit, Freude an Funktio­na­lität und das Ausreizen der Reduktion in jedem Detail hin zu einer einfachen Erscheinungsform.

TEC21: Wie war die Begegnung mit dem Architekten?
Albert Kriemler: Ich habe mit ihm auf Vermittlung des Fotografen Iwan Baan, mit dem ich befreundet bin, über Skype telefoniert und gesagt, dass ich gern eine Kollektion mit der Inspiration seiner Architektur entwerfen möchte. Und obwohl er keinen Bezug zur Mode hatte, hat es ihn interessiert, seine eigenen Arbeiten in einem anderen Kontext zu sehen. Dieser Vertrauensvorschuss ist eine wichtige Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit. So war es auch mit den Künstlern Thomas Ruff und Carmen Herrera. Das verpflichtet zu grösstem Respekt und zum Einsatz all dessen, was mein Team und ich zu geben haben. Danach haben wir uns zweimal in Paris getroffen und beschlossen, zusammenzuarbeiten. Im Sommer darauf habe ich ihn in Tokio besucht und ihm vorgelegt, was wir entwickelt hatten.

TEC21: Wie finden seine Bauten Eingang in Ihre Kollektionen?
Albert Kriemler: Es war seine Auswahl aus meinen Entwürfen. Seinen Naoshima-Pavillon hatte ich auf meiner Japanreise besucht, das Musikhaus in Budapest war ein Entwurf – wir hatten Lasercut-Technostoffe entwickelt, aber auch eine klassische Broderie Anglaise, in der sich jeweils die geplanten Öffnungen im Dach darstellten. Die Bambusstruktur seines Taiwan Towers – ein unrealisierter Entwurf – wurde zum feinsten Strickgewebe, das wir bis anhin gefertigt hatten. In Anlehnung an sein Miami-Projekt aus blauem Glas habe ich einen Stoff entwickelt, der an blaues Plexi erinnert. Die rote Tinte, mit der er alle Skizzen und Notizen festhält, wurde zu einem feinen Sommertweed. Und ein Foto von Iwan Baan vom «House N», seinem ersten gebauten Haus, wurde zu einem digitalen Fotodruck auf Seide. So gab es acht oder neun Themen um Fujimoto, die dann meine Sommerkollektion formulierten.
Anna Jessen: Du lässt dich inspirieren durch Fujimotos Architekturen, durch Teile seiner Archi­tekturen, durch Wandgestaltung, durch Baustoffe, die er verwendet. Sie werden übersetzt in ein ­Kleidungsstück, das dann in einem Nachbau seiner Räume präsentiert wird. Der Raum und der sich darin bewegende, bekleidete Körper sind plötzlich miteinander verwandt und bauen so eine neuartige, spezifische Raumbeziehung auf.
Albert Kriemler: Das «House N» haben Appenzeller Schreiner aus Trogen für das Defilee massstabsgetreu auf dem Set im Grand Palais in Paris nachgebaut, weil ich mit den Pariser Handwerkern nicht zurechtkam. Die Rekonstruktion wurde zur Bühne für den Laufsteg und zum Eingang für alle Gäste. Sie war das erste Posting der New York Times von diesem Defilee.

TEC21: Gibt es weitere räumliche Interpretationen im Entwurf Ihrer Kollektionen?
Albert Kriemler: Ein schönes Beispiel war die Herzog-&-de-Meuron-Kollektion 2007/2008. Die Materialität und die aussergewöhnliche Gestaltung der Fassade, zum Beispiel des Walker Art Center in Minneapolis oder des de Young Museum in San Francisco, waren für mich die Inspiration. Ich habe versucht, diese aufregende Mehrlagigkeit im Erscheinungsbild der Stoffe zu spiegeln, zum Beispiel mit gebrochenem Aluminium in einer Seidengeorgette-Hülle oder einer St. Galler Spitze, die wie Asphalt aussah.

TEC21: Frau Jessen, wie gehen Sie mit dem Thema Inspira­tionen um?
Anna Jessen: Ich bin fasziniert, wie klar sich eine Kollektion auf eine Inspirationsquelle ausrichten kann. Bei uns Architekten läuft das meist unbewusster und über längere Zeiträume ab. Wir bauen uns einen Referenzraum auf, der durch Werke der Architektur, der Kunst und Alltagskultur geprägt ist. Wenn dann das Programm und der Ort dazukommen, dann muss dieser Referenzraum spezifisch und explizit werden. Das äussert sich dann zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit ruraler Holzarchitektur oder dem Funktionalismus der 1960er-Jahre. Deswegen sehen unsere Häuser und Ensembles auch immer anders aus. Für mich muss ein gutes Stück Architektur am Ort ankommen, auch wenn es neu ist und vielleicht provoziert.
Albert Kriemler: Was bei euch der Ort ist, ist bei mir der Stoff. Der steht im Vordergrund, und es ist schon typisch für uns, dass ich immer zuerst den Griff des Stoffs fühle. Und dann weiss ich, wie sich der Stoff verhält und was ich damit machen kann. Das ist ein Sinn für Haptik, den ich von meiner Grossmutter, der Firmengründerin, und meinem Vater geerbt habe.
Anna Jessen: Wir leben ja in einer sehr visuell dominierten Welt. Und doch behaupte ich, das Erste, was man von Architektur wahrnimmt, wenn man einen Raum betritt, ist es nicht das Visuelle, sondern es ist ein Gemisch aus Licht, Klang, aus Geruch …

TEC21: Könnte man das als Atmosphäre zusammenfassen?
Anna Jessen: Genau. Und manchmal beginnt auch bei uns der Entwurf mit einem Material. Am Schaffhauser Rheinweg haben wir mit einem Stück Holz angefangen und sind danach zum Städtebau gekommen. Nicht weil wir uns das vorgenommen haben, sondern weil ich finde, dass das Wohnen am Wasser sich am besten in Holz ausdrückt, vielleicht weil man an ein Boot denkt. Wenn ich morgens barfuss auf meinen Balkon trete, dann ist ein Stück Holz unter meinen Füssen etwas völlig anderes als ein Stück Beton. Da denke ich wieder, Material und Struktur sind entscheidend, wenn es um die haptische Wahrnehmung geht.
Albert Kriemler: Das Interessante ist die Erscheinung in der Bewegung. Die visuelle Seite der Mode ist für viele das Entscheidende – der «Look» ist ja die Hautpsache in der Mode geworden. Für mich ist das nur ein Aspekt. Es beginnt mit dem Fühlen, und ich glaube, dass sich dieses Gefühl letztlich auf die Körpersprache der Trägerin auswirkt, auf ihre Präsenz. Es ist dieses Denken, das mich in der Arbeit für Akris prägt. Alles zusammen ergibt die Selbst­verständlichkeit, die ich suche – wie du sie wohl auch suchst – beim Tragen und in der Erscheinung.
Anna Jessen: Darin liegt ein grosses Potenzial für die Architektur. Die Wahrnehmung in der Bewegung – des Betrachters, aber auch als Veränderung des Bauwerks durch seine Benutzung, im Tagesverlauf oder im Lebenszyklus. Vielleicht öffnet gerade die ephemere Kunst des Textilen wieder den Blick für die Zeitlichkeit der scheinbar immobilen Architektur.

TEC21, Fr., 2017.10.13



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|41 Stoff und Raum II – die Arbeit am Textilen

11. August 2017Marko Sauer
TEC21

Das Reptil am Stadtrand

Das neue Naturmuseum in St. Gallen von Meier Hug Architekten und Armon Semadeni Architekten bietet Platz und neue Möglichkeiten für die beeindruckende Sammlung des Hauses. Das Museum selbst nimmt Themen und Wesenszüge der Ausstellung auf.

Das neue Naturmuseum in St. Gallen von Meier Hug Architekten und Armon Semadeni Architekten bietet Platz und neue Möglichkeiten für die beeindruckende Sammlung des Hauses. Das Museum selbst nimmt Themen und Wesenszüge der Ausstellung auf.

Fast 140 Jahre war das Naturmuseum am Stadtpark von St. Gallen beheimatet. Architekt Johann Christoph Kunkler (1813 – 1898) entwarf das Haus im Stil der Neurenaissance, von Beginn an beherbergte es das Natur- und das Kunstmuseum. Es gilt als eines der ältesten Museen der Schweiz und zudem als eines der herausragendsten klassizistischen Gebäude. In diesen 140 Jahren erlebte das Natur- und Kunstmuseum eine wechselvolle Geschichte: Trotz seiner kunsthistorischen Bedeutung verkam das Haus zu einer Ruine – die älteren Architekten in St. Gallen erzählen gern Anekdoten, wonach man vom Keller aus den Himmel sehen konnte und die Bäume aus dem Dach sprossen –, und 1971 schloss die Stadt das Gebäude wegen Baufälligkeit. Erst nachdem 1978 mit einer Stiftung der institutionelle Rahmen für den weiteren Betrieb geschaffen war, konnte die Sanierung in Angriff genommen werden.

1987 feierte das Natur- und Kunstmuseum seine Wiedereröffnung, und die Ostschweizer überraschten mit einem mutigen, dezidiert postmodernen Projekt von Architekt Marcel Ferrier, das präzise den Nerv der damaligen Zeit traf. Doch er wies den beiden Institutionen ihren Platz im Haus zu: Erd- und Ober­geschoss gehörten der Kunstgeschichte, die Natur­geschichte wurde im neu erstellten Untergeschoss ­untergebracht. Auch wenn die geschwungenen Räume im Untergrund unbestrittene Qualitäten aufweisen, limitierten sie doch die Entwicklung des Naturmuseums, das mit rund 300 000 Exponaten einiges mehr zu zeigen hätte – ebenso fehlte der Kunst Raum für Ausstellungen.

«3 Museen, 3 Häuser»

Ein erster Wettbewerb für die Erweiterung des Kunstmuseums von 2003 sollte die beiden Institutionen besser entflechten und mehr Platz schaffen. Dafür hätte der Stadtpark umgezont werden müssen, was jedoch an der Urne scheiterte. Die Stadt St. Gallen reagierte darauf mit einer umfassenden Vorwärtsstrategie: «3 Museen – 3 Häuser» lautete das einleuchtend klingende, aber ­politisch schwierig umzusetzende Credo, das neben dem Natur- und Kunstmuseum auch das benachbarte Historische und Völkerkundemuseum (HVM) umfasst.

Grob umrissen beinhaltet die Strategie, dass die drei grossen Museen der Stadt jeweils in einem eigenen Gebäude zu neuer Strahlkraft finden sollen. In einem ersten Schritt ist das HVM zu erneuern, danach folgt ein neues Naturmuseum, und zuletzt wird das Kunstmuseum in eine neue bauliche Zukunft geführt. Die ersten beiden Bausteine sind gelegt: 2014 wurde das HVM umfassend saniert, im November 2016 feierte das neue Naturmuseum seine Eröffnung, und für die Erneuerung des Kunstmuseums erfolgte bereits 2012 ein Wettbewerb. Die Umsetzung des letzten Projektbausteins muss jedoch mit der Finanzierung und der Abstimmung noch politi­sche und gesellschaftliche Hürden nehmen.

Diese Hürden hat das neue Naturmuseum mit Bravour gemeistert: Mit fast 60 % Ja-Stimmen für den Neubau fiel der Entscheid im November 2012 deutlich aus. In diesem Glanzresultat widerspiegelt sich gewiss das Engagement der Walter-und-Verena-Spühl-Stiftung: Das Legat der beiden Ostschweizer Mäzene übernahm 13 der knapp 40 Millionen Franken teuren Baukosten. Die Summe wurde ursprünglich für die Erweiterung des Kunstmuseums gestiftet, nach dem negativen Entscheid an der Urne aber für den Umbau des Naturmu­seums umgewidmet. Denn mit dem Auszug des Naturmuseums erhält auch die Kunst wieder mehr Raum. Genau vier Jahre nach der Abstimmung konnten die St. Galler ihr neues Museum erstmals besuchen.

Botanischer Garten als Nachbar

Für das Naturmuseum wurde eine Parzelle am östlichen Rand der Stadt ausgewählt. Der Ort bietet ideale Bedingungen, denn in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich der Botanische Garten, dessen Infrastruktur das Museum nutzt und dessen Arbeit in die Vermittlung eingebunden wird, auch wenn ihn eine Strasse trennt (Abb. unten). Doch auch ein anderer Nachbar bereichert das Programm: Zwischen der katholischen Kirche St. Maria Neudorf und dem Naturmuseum entsteht ein thematischer Park, der den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie wagt: Mit Schöpfung und Evolutionstheorie treffen hier demnächst zwei Welt­anschauungen aufeinander, die kaum vereinbar scheinen. Der Titel des Museumsparks klingt vielversprechend und deutet mit einem Zitat von Max Frisch einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma an: «Der Mensch erscheint im Holozän.»

Doch umgekehrt vermag das Naturmuseum auch dem Ort selbst Impulse zu geben. Entlang der Rorschacher Strasse löst sich die Stadt langsam auf – ebenso wie die Häuserzeilen, die in St. Fiden und bis zur Haltestelle Neudorf noch geschlossen sind und danach gegen Osten immer grössere Lücken aufweisen. Eine dieser Leerstellen füllt nun das neue Naturmuseum – es bietet einen attraktiven Anziehungspunkt, bevor das Tal, in dem St. Gallen liegt, sich weitet und zum Bodensee hin abfällt.

Passgenaue Lösung für die Lücke

Um ein Projekt für diese sensible Stelle im städtischen Gefüge zu finden, führte die Stadt 2009 einen offenen Wettbewerb durch. Das Siegerprojekt der Architekten-ARGE bot eine passgenaue Lösung, die zwischen den unterschiedlichen Dimensionen vermittelt: Das Naturmuseum reiht sich ein in die Folge von grossen Gebäuden entlang der Rorschacher Strasse, zugleich reagiert es aber mit seinem aufgelösten Volumen auch auf die Körnung der Einfamilienhäuser in seinem Rücken. Durch das vor- und rückspringende Volumen und die daraus resultierenden Platzsituationen trägt das Haus dazu bei, dass ein Stück Öffentlichkeit ent­steht, wo vorher eine Wiese war.

Wollte man das neue Naturmuseum als ein Lebewesen beschreiben, dann gewiss als Chamäleon: Das bewegte Dach gleicht dem gezackten Rücken der exotischen Echse; dank den Kanneluren im Sichtbeton der Fassaden ändert das Haus mit dem Lauf der Sonne seinen Ausdruck, so wie das Reptil die Farbe seiner Haut wechselt; und so mannigfaltig, wie das Chamä­leon in Erscheinung tritt, so vielgestaltig sind die Räume, die das Naturmuseum in St. Gallen bietet.

In einem intelligent angelegten Rundlauf, der über Split-Levels durch das Haus führt, bietet das Museum vielfältige Sammlungen: Die erste Ausstellungsebene bietet Raum für Wechselausstellungen, in den oberen Geschossen ist die Dauerausstellung beheimatet. Dabei evoziert das Museum auch in seinem räumlichen Reichtum die Natur: Analog zu einer Landschaft ändern sich die Höhe der Räume und deren Topografie. Wie bei einer Bergwanderung wechseln sich enge und weite Säle ab: Die beiden eindrücklichsten und wichtigsten Räume sind das Foyer mit der Cafeteria und der grosse Saal rund um das Kantonsmodell. Von einer Galerie aus lässt es sich in der Übersicht betrachten, auf den Wänden rundherum bindet eine expressive Wandmalerei die Exponate ein, die rund um das Modell aufgestellt sind.

Split-Levels im Innern

Im Gebäudeinnern überrascht die Ausrichtung der ­gros­sen Räume: Während von aussen betrachtet die wie aus einem Extruder gepressten, lang gezogenen Giebeldächer eine Ost-West-Richtung vorgeben, entwickeln sich die Split-Levels orthogonal dazu. In den unteren Geschossen kommt dies noch nicht zum Tragen, da die Geschossdecken nicht gerichtet sind. Doch im stützenlosen Oberlichtsaal, wo der Dachverlauf sichtbar ist, verwirrt diese Drehung der Räume: Die statische Struktur scheint der räumlichen Typologie entgegenzulaufen. Doch dies sind Irritationen für Eingeweihte – die Säle mit den prägenden Oberlichtbändern schaffen Raum für die Ausstellung, und besonders das riesige Dinosaurierskelett kommt wunderbar zur Geltung.

Das Naturmuseum St. Gallen ist berühmt für seine Präparate und die Sammlung: Das fast fünf ­Meter lange Nilkrokodil (mit dem 1623 die Sammlung begann), der Höhlenbär vom Wildkirchli und das ­Formicarium, ein lebender Ameisenberg, sind bekannte Highlights und Publikumsmagnete unter den über 300 000 Sammlungsstücken. Neu kommt das 37 m² grosse Kantonsrelief im Massstab 1 : 10 000 hinzu, auf dem die Topografie der Region dargestellt ist und auf dem mit Teleskopen verschiedene Informationen abgerufen werden können. Diese reiche Sammlung konnte im Kunklerbau kaum je gezeigt werden, die Räume waren dafür schlicht zu eng. Zudem sind die Ansprüche des Publikums an die Ausstellungsgestaltung gestie­gen und die Aufgaben des Museums in seiner wissenschaftlichen Dokumentation sowie der Vermittlung von Wissen enorm angewachsen.

Zwischen Natur und Künstlichkeit

Das Museum soll die Vielfalt der Natur darstellen und die Zusammenhänge erklären. Dies beginnt bereits beim Gebäude: Es spielt mit den Begriffen Natur und Künstlichkeit und macht dies bereits mit dem Bau­material zum Thema. Die Fassaden bestehen aus Sichtbeton, in den öffentlichen Räumen im Erd- und ersten Obergeschoss sind die Wände mit Nagelfluh aus Süddeutschland belegt – einem natürlichen Gesteins­kon­glomerat, in dem wie beim Beton einzelne Kiesel und Geröll in einer feinkörnigen Matrix stecken.

Innerhalb der anregenden Raumfolge des Museums bieten inszenierte Themenwelten kleine Lernräume, in denen die Exponate Teil einer Rauminstallation werden. Die Zeiten, in denen ausgestopfte Tiere in neutralen Vitrinen präsentiert werden, scheinen definitiv vorbei zu sein. Auch ein Museum vermittelt das Wissen an seine Besucherinnen und Besucher mit ausgeklügelten Geschichten und erlebnisorientiert: Die Inhalte sind interaktiv und atmosphärisch verpackt, sei es als Höhle des Bären oder als mit Kristallen versetzte Felsgrotten. Dies ist verständlich, da die Museen in harter Konkurrenz zueinander stehen – formal betrachtet geht die verspielte Ausstellungsarchitektur von 2nd West jedoch kaum auf den räumlichen Reichtum ein, den das Haus ihr bieten würde. Die beiden Elemente kommen sich zwar nah, werden aber selten eins. Der Besucher fragt sich, ob nicht die Ausstellung ein integraler Teil der Architektur sein könnte, so wie es mit der Malerei rund um das Kantonsmodell gelungen ist.

Nicht nur Vermittlung, auch Forschung

Trotz der ausgeklügelten Ausstellungsarchitektur stehen jedoch immer noch die Fundstücke aus der Natur und die ausgestellten Tiere im Mittelpunkt. Solche, die sich noch bewegen, wie in der Vogelpflegestation, oder die Präparate, die kunstvoll von den Taxidermisten und Präparatorinnen im Haus hergerichtet wurden. Das Sammeln ist eine der drei Aufgaben des Museums. In den Werkstätten konservieren Fachleute die kleinen und grossen Tiere, in den Kellerräumen lagern die Präparate in riesigen Archivregalen.

Die Arbeit an den Exponaten erfordert ein gerüttelt Mass an Technik und gut ausgebaute Werkstätten: Im Sockelgeschoss befinden sich die Räume, in denen an den wertvollen Präparaten gearbeitet wird und wo im Mazerationsbad Enzyme die Weichteilgewebe der Kadaver für Knochenpräparate zersetzen. Ein Arbeitsbereich, der mit hohen Anforderungen an die Technik einhergeht und der sich im enormen Raumbedarf im Untergeschoss äussert. Gleich hoch waren die Ansprüche bezüglich Energievorgaben: Der Neubau erfüllt die Vorgaben des Labels Minergie-P-Eco.

Die beiden anderen Aufgaben eines Museums sind die Forschung und die Vermittlung. Im modernen, geräumigen Bürotrakt können die Angestellten ihrem Forschungsauftrag nachgehen, der grösste Teil des Museums ist jedoch der Vermittlung gewidmet: Sie belegt 2400 von total 5600 m². Der beiden Mäzene wird mit einem Vortragssaal im Erdgeschoss gedacht, der ihren Namen trägt.

TEC21, Fr., 2017.08.11



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|32-33 Lokale Museen: Raum und Inhalt

12. August 2016Marko Sauer
TEC21

Unvollendeter Brückenschlag

Mit dem Erweiterungsbau für das Bündner Kunstmuseum in Chur gelingt den Architekten Barozzi/Veiga ein gut gesetzter, expressiver Solitär. Bei der Verbindung zum ebenso qualitätsvollen Bestand aber hapert es.

Mit dem Erweiterungsbau für das Bündner Kunstmuseum in Chur gelingt den Architekten Barozzi/Veiga ein gut gesetzter, expressiver Solitär. Bei der Verbindung zum ebenso qualitätsvollen Bestand aber hapert es.

Die Bündner Identität ist bisweilen eine fragile Angelegenheit: Die Bundesverwaltung zählt das Bündnerland zwar zur Ostschweiz, doch den Kantonen von Schaffhausen bis Glarus fühlen sich die Bündnerinnen und Bündner nicht zugehörig. Vor einigen Jahren wurde für dieses Bewusstsein der Begriff «Südostschweiz» geprägt, der sich aber erst mit dem gleichnamigen Medienhaus verbreitete.

Das kulturelle Selbstverständnis der Bündner hatte im Kunstmuseum Chur immer eine prominente Bühne und die als autochthon erlebte Kultur einen wunderbaren Ort, an dem sie sich manifestieren konnte. Junge Künstlerinnen und Künstler starteten ihre Karrieren als Laureaten des Manor-Kunstpreises mit einer Ausstellung in der Villa Planta – unter ihnen Zilla Leutenegger 2004 oder Mirko Baseglia mit seinem fantastischen Kabinett von verstörenden Objekten, die 2013 auf höchst charmante Art das Bündner Kunstmuseum besetzten.

Im gleichen Jahr fanden auch die beiden Ausstellungen «Ansichtssache – 150 Jahre Architekturfotografie in Graubünden» und die Jahresausstellung der Bündner Künstlerinnen und Künstler statt – all dies formte das Bild des Bündnerlands gegen innen und gegen aussen. Und über alldem thronen die Titanen: Segantini, Kirchner, Giacometti.
Erweitern, aber nicht bedrängen

Das Bündner Kunstmuseum ist das Gravitationszentrum dieser kulturellen Identität und sein Mittelpunkt wiederum die eigenwillige Villa Planta, die Ende des 19. Jahrhunderts für den Baumwollhändler Jacques Ambrosius von Planta erstellt wurde, der aus Alexandria in die Heimat zurückkehrte (vgl. Kasten unten). Das reich verzierte, neopalladianische Gebäude erinnert mit seinem ausschweifenden baukünstlerischen Schmuck an die Villa Patumbah in Zürich (vgl. TEC21 41–42/2013).

Nach dem Umbau 1987–1989 wurde das ehemalige Naturmuseum, der sogenannte «Sulserbau», über eine Passerelle verbunden und für Wechselausstellungen genutzt, das Untergeschoss der Villa diente als katakombenartiges Kabinett. Der nun erfolgte Erweiterungsbau sollte das Bündner Kunstmuseum in eine neue Liga hieven: Um rund 2500 m² Nutzfläche sollte das Haus anwachsen und damit auch die Möglichkeiten, völlig anders ausgerichtete Ausstellungen zu zeigen.

An dieses Programm, das einen Zuwachs zum Bestand von rund 140 Prozent bedeutet, haben sich 18 Teams im selektiven Wettbewerb gewagt. Die zentrale Aufgabe bestand darin, der Villa Planta einen Nachbarn an die Seite zu stellen, der mit ihr zwar eine Einheit bildet, sie aber nicht zu sehr bedrängt. Unter dem Titel «Die Kunst der Fuge» haben die Architekten Barozzi/Veiga aus Barcelona ihr Siegerprojekt abgegeben – die namensgebende Fuge bezog sich ebenso auf das Verhältnis zum Stammhaus wie auf die Fügung der Fassaden aus vorgefertigten Betonelementen.
Gut gesetzt, aber schlecht verbunden

Die Erweiterung zeigt eine überzeugende Lösung für die gestellte Aufgabe: Die zwei Ebenen der Ausstellung sind im Boden versenkt, wodurch im Stadtraum ein gut proportioniertes Volumen übrig bleibt, das Distanz zum Stammhaus wahrt und dennoch seine Selbstständigkeit behält. Im Schnitt zeigt sich die Konsequenz dieser klaren Haltung: Der oberirdische Teil umfasst lediglich einen Bruchteil des Volumens.

Was sich bereits im Wettbewerb andeutete, wurde mit der Umsetzung belegt: Das Gebäude fügt sich sehr gut in diese Ecke der Stadt. Ebenso gelungen sind die abstrakt ausgeführten Fassaden mit Betonelementen. Ihre wenigen, präzise gesetzten Öffnungen unterstützen die beinahe sakrale Erscheinung der aus profilierten Quadern gefügten Oberfläche. Die Verkleidung der Fassaden wechselt ab zwischen geschlossenen Teilen und durchlässigen, hinter denen sich Fenster verbergen.

Auf diese Weise treten auf den ersten Blick lediglich die Öffnungen im Erdgeschoss in Erscheinung: der in eine betonierte Laibung gefasste Eingang, ein liegendes Fensterband im betonierten Sockel gegen Osten und das geschosshohe Panoramafenster zur Villa Planta. Die Architekten berufen sich in ihrem Entwurf wiederholt auf Eigenschaften der Villa Planta: Symmetrie und Ornament sind die beiden Begriffe, die in ihrem Erläuterungsbericht wie auch bei der Führung vor Ort immer wieder fallen.

Um diese Themen kreist der Entwurf der katalanischen Architekten, dank ihnen verknüpfen sie Bestand und Neubau. Doch in welcher Gestalt tauchen diese beiden Motive in der Erweiterung auf? Erschöpft sich die Verwandtschaft in der Narration des Entwurfs, oder führen die beiden Begriffe zu einer tieferen Verbindung der beiden Häuser? Die Verwandtschaft ist zwar nachvollziehbar, aber es fällt schwer, sie auch nachzuempfinden.

Die Symmetrie der Villa Planta ist fein moduliert und der Eingangsbereich zur Bahnhofstrasse ist als Portikus ausgebildet – ein Element, das die Architekten mit ihrem scharf geschnittenen Portal aus Beton aufnehmen und damit ihr Haus auf die Grabenstrasse ausrichten.

Auch der Blick auf die Grundrisse zeigt eine Verwandtschaft bezüglich Symmetrie, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: In der Villa sind die Räume rund um ein zentrales Treppenhaus als Enfilade angeordnet, während im Erweiterungsbau durchgehende Säle zwischen den beiden raumhaltigen Schichten liegen.

Dies führt dazu, dass die oberirdischen Räume der Erweiterung über die Längsseite betreten werden, was zwar in den Obergeschossen mit Labor (Wechselausstellung, 1. OG), Museumspädagogik (2. OG) und Werkstätten (3. OG) durchaus funktioniert, in der Eingangshalle jedoch zu Irritationen führt: Gegen Osten geht der Blick in die banale Ecke zwischen Zeughaus- und Grabenstrasse, nach Westen ist auf der ganzen Breite die Rückseite der Villa Planta zu sehen.

Just an dieser Stelle stand früher die Passerelle, die das Stammhaus mit dem für den Neubau abgerissenen Sulserbau verband. Sie war eines der zentralen Elemente im Umbau von 1987–89 von Peter Calonder, Hans-Jörg Ruch (der auch in der Jury für den Wettbewerb der Erweiterung sass) und Urs Hüsler sowie Peter Zumthor – und sie war ein sehr poetisches Bauteil.[01]

Es mag eine Sentimentalität sein, dass diese Leerstelle dem Besucher schmerzhaft ins Auge sticht, doch die Panoramafenster richten den Blick auf ein Manko des Entwurfs: die Anbindung an die Villa. Diese will auf der Ebene der Details nicht gelingen, denn die vollflächige Pflasterung mit Bundsteinen rund um die Erweiterung findet keine Entsprechung im Kiesbelag des Haupthauses.

Eine kniehohe Mauer schneidet zudem das neue Haus aus dem Geviert heraus – eine verpasste Chance, wenn man bedenkt, wie gut sich das Volumen sonst in seine Umgebung einfügt. Als Fremdkörper wirkt zudem ein bündig in den Kiesbelag eingelassenes und mit einem Ornament versehenes Glas vor dem Sockel der Villa: Es ist das Oberlicht über dem Verbindungsgang zum Altbau.
Räume wie Versprechen

In den unterirdischen Ausstellungsgeschossen zeigt sich das Konzept von Barozzi/Veiga vielgestaltig und variantenreich. Eine zusätzliche Raumschicht umgibt die beiden Kerne, und im 1. Untergeschoss folgt eine Enfilade von neutralen, länglichen Ausstellungsräumen, in deren Decken grosse Leuchtenfelder eingelassen sind. Die Decken leuchten die Säle als Grundbeleuchtung aus, rund um die Felder sind Schienen eingelassen, an denen bei Bedarf Spots und Projektoren hängen.

Als Leuchtmittel dienen im gesamten Haus LED-Leuchten, die ein überraschend angenehmes Licht verbreiten: Lediglich wenn sie gedimmt werden – wie dies bei der grafischen Sammlung der Fall ist –, hat das Licht einen eigenartigen Stich ins Graue. Die Detaillierung ist abstrakt gehalten: Nur wenige Installationen stören die glatten weissen Wände. Zwischen den Stützmauern und den Ausstellungswänden verläuft eine umlaufende Installationsschicht, in der die Medien geführt werden.

Das 1. Untergeschoss mit seinem kammerartigen Grundriss beherbergt die Sammlung. Da die Trennwände entfernt werden können, bietet es Raum für unterschiedlich grosse Ausstellungen mit verschiedenen Konzepten. Die Architekten präsentieren hier zeitgemässe Ausstellungsräume auf Augenhöhe mit anderen Häusern. Ihr wahres Potenzial zeigen die Räume aber im 2. Untergeschoss, in dem die trennenden Wände weggelassen wurden und der Raum sich rund um die beiden Kerne herum entwickelt.

Im Teil mit den Wechselausstellungen beweist das Team um Museumsdirektor Stephan Kunz eindrücklich, dass es diese neuen Räume auch zu nutzen versteht. Die Eröffnungsausstellung «SOLO WALKS» wartet mit grossformatigen Werken auf, die viel Platz benötigen: Im Bündner Kunstmuseum wird in Zukunft mit der grossen Kelle angerührt.
Die Kunst solls richten

Besonders interessant ist auch in den Ausstellungsgeschossen die Verbindung zum Altbau. Was sich an der Oberfläche abzeichnet, wiederholt sich im Untergeschoss: Die Anbindung an die Villa Planta ist nicht mit der gleichen Konsequenz und Liebe zum Detail gelöst wie die restliche Erweiterung.

Das Konzept lässt sich keinem der beiden Häuser zuordnen: Das bereits erwähnte Glas mit geometrischem Muster dient als Oberlicht über dem Verbindungsgang, die Treppe vermag weder die räumlichen Qualitäten der Erweiterung zu transportieren noch diejenigen der Villa Planta aufzunehmen. Mehr noch, in der neuen Halle im Untergeschoss der Villa stellt sich zum zweiten Mal ein Phantomschmerz ein: Der ehemals eigenwillige, katakombenartige Raum ist einer sterilen Halle mit einer Tendenz zum Monumentalen gewichen.

Auch hier schliesst wieder ein geätztes Glas die Decke ab, diesmal geht der Blick durch ein Motiv, das den Bodenplatten nachempfunden ist, nach oben ins Atrium der Villa.

Die Instandstellung der Villa Planta wurde in einem separaten Verfahren ausgelobt: Das Planerwahlverfahren gewann das Büro Gredig Walser Architekten AG aus Chur. Es musste die Anforderungen der unterschiedlichen Nutzungen (Ausstellung, Cafébetrieb, Verwaltung) mit der Ertüchtigung bezüglich Brandschutz, Feuchteschutz und dem Ersatz des Dachs vereinen.

Das Resultat ist in sich ebenso überzeugend wie der Erweiterungsbau, doch die Verbindung der beiden Häuser ist noch nicht vollzogen. Vielleicht gelingt dieser Spagat folgenden Generationen Bündner Künstlerinnen und Künstler – Brücken zu bauen ist schliesslich auch wesentlicher Teil ihrer Kultur.


Anmerkung:
[01] Der Churer Bauingenieur Patrick Gartmann konnte die Passerelle retten. Momentan wartet sie auf einer Brache auf einen neuen Einsatz.

TEC21, Fr., 2016.08.12



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20. Mai 2016Susanne Frank
Marko Sauer
TEC21

«Wir bauen Brücken zu Politik, Planung und Forschung»

Die Stadt der Gegenwart hält sich nicht an politische Grenzen. Sie entwickelt sich als Funktionalraum. An der Schnittstelle zwischen Gemeinden, Regionen und Kanton unterstützt die Regionalplanung Zürich und Umgebung ihre Mitglieder bei der Entwicklung dieser Räume. Deren Direktor Angelus Eisinger zieht nach drei Jahren eine erste Bilanz.

Die Stadt der Gegenwart hält sich nicht an politische Grenzen. Sie entwickelt sich als Funktionalraum. An der Schnittstelle zwischen Gemeinden, Regionen und Kanton unterstützt die Regionalplanung Zürich und Umgebung ihre Mitglieder bei der Entwicklung dieser Räume. Deren Direktor Angelus Eisinger zieht nach drei Jahren eine erste Bilanz.

TEC21: Herr Eisinger, was ist die originäre Aufgabe der Regionalplanung Zürich und Umgebung (RZU)?

Angelus Eisinger: Die RZU ist als Planungsdachverband im Kernraum der Metropolitanregion Zürich tätig. Sie hat aber als privatrechtlicher Verein keine hoheitlichen Kompetenzen wie etwa das Amt für Städtebau der Stadt Zürich oder das kantonale Amt für Raumentwicklung. Das macht die Einrichtung so besonders und schafft der Planung ungewöhnliche Optionen auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Entwicklung des Funktionalraums.

TEC21: Wie sehen diese Optionen aus? Was macht die RZU anders als andere Organisationen?

Angelus Eisinger: Im Grunde verstehen wir uns als «empathische Beobachter» der räumlichen Entwicklung. Als Institution, die permanent präsent ist und mitdenkt, die aber nicht direkt ins Geschehen involviert ist. Daraus ergibt sich eine grosse Freiheit in der Betrachtungsweise. Diese Freiheitsgrade wollen wir zugunsten der Regionen und Gemeinden im RZU-Gebiet nutzen. Wir verstehen uns dabei als Plattform und Netzwerk, das die doppelte Rolle eines alltagsnahen Thinktanks und eines vielfältigen Vermittlers ­zwischen Politik, Planungspraxis und Forschung einnimmt.

TEC21: Das hört sich nach einer komplexen Aufgabe an. Wie bringen Sie das Wissen auf den Boden?

Angelus Eisinger: Die Ergebnisse aus unseren Prozessen sollen so aufbereitet werden, dass sie von den Regionen und Gemeinden in der Praxis umgesetzt werden können. Unsere Arbeitsweise lässt sich als Zyklus beschreiben. Dieser setzt bei den Fragestellungen und Herausforderungen der konkreten Praxis an und endet wieder dort. Dazwischen wechselt aber die Bearbeitung dieser Aufgabenstellungen auf die abstraktere Ebene der Expertenkompetenz und der Recherche, um den konkreten Fragestellungen und Orten in unserem Gebiet angemessener begegnen zu können.

TEC21: Sie haben eine Stelle als Professor an der HafenCity Universität in Hamburg verlassen, um Direktor ­der RZU zu werden. Weshalb sind Sie gewechselt?

Angelus Eisinger: Es war ganz wesentlich eine inhaltliche Motivation, die mich zum Wechsel bewogen hat. Über die letzten Jahre haben mich immer mehr Fragen ­der Funktionalräume beschäftigt, die in den letzten ­50 bis 60 Jahren entstanden sind. Für eine nachhaltige Weiterentwicklung dieser urbanisierten Landschaften zwischen Dorf, Agglomeration und Stadt reichen die gängigen Planungsansätze und tradierten Leitvorstellungen wie Urbanität nicht aus. Unter den Vorzeichen der Innenentwicklung, der Verdichtung und der Entwicklung im Bestand hat sich das Vakuum bezüglich geeigneter Ansätze noch einmal akzentuiert.

TEC21: Mit welchen Methoden muss man solche Probleme angehen?

Angelus Eisinger: Es braucht Ansätze und Vorgehensweisen, die gezielt unterschiedliche Kompetenzen und Methoden verbinden. Solche Fragen aus einer strategischen, aber immer praxisnahen und praxisbezogenen Perspektive heraus zu bearbeiten reizt mich. Als Institution im Dreieck zwischen Planung, Politik und Forschung ist die RZU einmalig. Die Übernahme der Leitung der RZU sah ich deshalb als aussergewöhn­liche Gelegenheit. Dabei erachtete ich es als gute Startbedingung für meine neue Tätigkeit, dass ich mit dem Grossraum Zürich inhaltlich, institutionell und bezüglich wichtiger Stakeholder schon sehr vertraut war.

TEC21: Sie sind seit drei Jahren RZU-Direktor. Was haben Sie seither verändert?

Angelus Eisinger: Wir haben in dieser Zeit die Ausrichtung und die Arbeitsweisen der Geschäftsstelle justiert, neue Angebote entwickelt und eine ganze Palette von aktuell drängenden Themen in Angriff genommen, so unter anderem zur Zukunft der Ortszentren, zur Kulturlandschaft, zur Weiterentwicklung der Testplanung oder einer gesamträumlichen Betrachtung der Wohnungsfrage.

TEC21: Themen mit einer beachtlichen Flughöhe.

Angelus Eisinger: Das ist richtig. Gleichzeitig sind dies alles Themen, die der Praxis unter den Finger brennen. Im Tagesgeschäft ist oft die Zeit nicht vorhanden, diesen Fragen in der angemessenen Tiefe nachzugehen. An diesem Punkt setzen wir mit unseren Arbeiten an. Charakteristisch für unsere Arbeitsweise ist, dass wir die Inhalte gemeinsam mit den Verantwortlichen in Politik und Behörden entwickeln und vermitteln. Wir möchten so das reiche Erfahrungs- und Prozesswissen der Praktiker in Planung, Politik und Behörden aktivieren. Deshalb wollen wir auch die Erkenntnisse unserer Reflexionsprozesse Schritt für Schritt im Sinn des oben angesprochenen Zyklus wieder in die Praxis zurückführen. Mit dieser gezielten Vernetzung von Praxis, Politik und Wissenschaft arbeiten wir an einer eigentlichen Lücke in der Planung.

TEC21: Woher stammt diese Lücke?

Angelus Eisinger: Bislang existieren in Verwaltung, Planung und Hochschulen jeweils parallele Wissenskulturen mit meist nur punktuellen und wenig systematischen Begegnungen zwischen diesen Kompetenz- und Erfahrungsbeständen.

TEC21: Und was tun Sie dagegen?

Angelus Eisinger: Kurz gesagt: Wir möchten Brücken schlagen, indem wir Austausch- und Denkräume schaffen, um Politik und Planung fokussiert und themenorientiert zu vernetzen und mit externen Experten und Expertinnen und der Forschung zu verbinden.

TEC21: Sie füllen sozusagen die Lücke aus, die sich in der hoheitlichen Arbeitsteilung zwischen Gemeinden, Regionen und Kanton ergibt?

Angelus Eisinger: Genau. Wir betrachten die räumlichen funk­tionalen Zusammenhänge aus einer anderen, etwas unabhängigeren Warte, die aber mit dem Hoheitlichen vertraut ist. Als Planungsdachverband haben wir die funktional zusammenhängenden Räume in all ihren Facetten im Blick. Damit rücken diese aus meiner Sicht interessantesten, aber auch herausforderungsreichsten Räume in den Fokus.

TEC21: Und wie agiert die RZU in diesem Funktionalraum?

Angelus Eisinger: Wir bringen einmal das Wissen zwischen den Partnern zusammen und ergänzen es gezielt. Wir suchen weiter einen Rahmen, um die einzelnen, sehr heterogenen Teilräume in Stadt, Land oder Region ihrem Charakter entsprechend weiterzuentwickeln. Die Reinformen von Landschaft, Dorf und Stadt gibt es in unserem Raum nicht mehr.

An ihre Stelle sind unzählige neue, wenn Sie so wollen, hybride Verbindungen getreten. Auf diese müssen wir uns einlassen. Infrastrukturprojekte wie die S-Bahn, die Limmattalbahn oder landschaftliche Projekte wie der Agglo-Park oder der «fil bleu» im Glatttal haben hier wich­tige Zeichen gesetzt.

TEC21: Wie finden Sie Ihre Themen? Kommen die Mitglieder auf Sie zu, oder suchen Sie autonom nach interessanten Fragestellungen?

Angelus Eisinger: Wir handeln vergleichbar zu einem Seismografen oder einem Radar. Da geht es primär darum, aufmerksam zu beobachten, zuzuhören, die Alltags­arbeit der Gemeinden und Regionen und ihre Herausforderungen kennenzulernen. Es geht aber auch darum, die fachlichen und wissenschaftlichen Debatten zu verfolgen. Aus diesen Quellen ergeben sich die Themen und Aufgaben, denen wir nachgehen.

Die RZU bietet den Vorzug, dass wir kontinuierlich im gleichen Raum in unseren Netzwerken und zusammen mit den Akteuren vor Ort arbeiten können. Das schafft Nähe, Vertrautheit und Kontinuität, wie sie zum Beispiel der Hochschulforschung nicht möglich sind.

TEC21: Wie kann man das verstehen? Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Angelus Eisinger: Die Studie «Räume zur Alltagserholung» zeigt das sehr gut. Wir haben uns damit ein Thema vorgenommen, das entscheidend zur Lebensqualität in und um Zürich beitragen kann. Massnahmen, die die Erholungsqualität in siedlungsnahen Räumen steigern, bedürfen häufig eines vergleichsweise bescheidenen Mitteleinsatzes. Allein: Diese Option ist noch viel zu wenig bekannt, und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Begeisterung dafür zu wecken.

TEC21: Steht das Thema bisher noch nicht auf der Agenda der Verwaltung? Und wie wollen Sie diese Begeisterung anfachen?

Angelus Eisinger: Das Projekt illustriert unsere Arbeitsweise sehr gut: Wir stossen gemeinsam mit unseren Mitgliedern auf interessante Phänomene, analysieren sie und überlegen, welches Potenzial zur Bereicherung der Planungspraxis besteht. Dann ziehen wir externe Experten bei, in diesem Fall Landschaftsarchitekten, die das Thema in engem Austausch mit uns weiterentwickeln. Den letzten Schritt macht dann die praxisnahe Aufbereitung durch entsprechende Dokumentationen, aber auch durch Workshops oder thematische «Expeditionen» wie auch öffentliche Veranstaltungen.

TEC21: Welche weiteren Dienstleistungen bietet die RZU denn konkret für die Gemeinden und Regionen an?

Angelus Eisinger: Neben Weiterbildungsangeboten oder Unterstützung bei aktuell anstehenden Themen, den Plattformen des Austauschs und den Projekten gibt es seit vergangenem Sommer ein Beratungsangebot, das unsere Regionen und Gemeinden bei strategischen Fragen zielgerichtet unterstützen soll. Dabei stehen die Vorphasen von Planungsvorhaben im Zentrum.

TEC21: Welche Ziele verfolgen Sie damit?

Angelus Eisinger: Wir möchten unsere Mitglieder dabei unterstützen, dass sie die Aufgaben, die sich für sie konkret vor Ort stellen, in der gebotenen Breite und Tiefe bearbeiten können. Der Einstieg geschieht über einen Augenschein, über den Austausch mit den Verantwortlichen einer Gemeinde oder einer Region und über das Studium von Unterlagen. Auf diesen Grundlagen entwickeln wir dann unsere Vorschläge, spiegeln sie zurück, entwickeln sie auf Basis der Rückmeldungen weiter.

TEC21: Das deckt sich doch weitgehend mit dem üblichen Vorgehen einer Gemeinde.

Angelus Eisinger: Das mag auf den ersten Blick banal erscheinen. Entscheidend ist aber der Fokus unserer Beratungstätigkeit: Die Erfahrung zeigt nämlich, dass den Planenden und politisch Verantwortlichen bei der Formulierung und Plausibilisierung der Fragestellung oft das Gegenüber fehlt, um die Aufgabe richtig eingrenzen zu können. Für solche Formen von ­gemeinsamer Reflexion gibt es keinen Markt. Wir beraten gänzlich ohne Eigeninteresse. Wenn die Frage plausibel und präzisiert ist, ziehen wir uns wieder zurück und überlassen das Feld den gängigen Akteuren der Planung.

TEC21: Die grenzüberschreitende Planung stellt eine grosse Herausforderung dar. Wie gehen Sie damit um?

Angelus Eisinger: Tatsächlich halte ich die grenzüberschreitende Planung für eine Schlüsselaufgabe, die bislang ganz allgemein zu wenig behandelt wird. Dementsprechend nehmen wir uns dieser Dimension in verschiedenen Projekten an. Bei unserem Beratungsangebot geben wir den Gemeinden und Regionen die Möglichkeit, gemeinsam Planungsfragen auch über deren Grenzen hinweg anzugehen. Dabei zeigt sich ein grundlegender Aspekt der Planung heute: Sie kann nicht mehr in einer ausschliesslich hierarchischen Struktur politischer Zusammenhänge gelingen, sondern sie verlangt nach dem Austausch mit allen relevanten Akteuren.

TEC21: Dazu fehlen uns heute aber noch entsprechende Werkzeuge, die den Dialog zwischen den hoheit­lichen Ebenen ermöglichen würden.

Angelus Eisinger: Das sehe ich auch so. Wir brauchen neue Arbeits- und Austauschformen zwischen den planenden Disziplinen, der Politik und den Behörden, aber auch neue Formen des Einbezugs der übrigen Stakeholder. Diese Modi muss die Planung erst noch erlernen.

TEC21: Hat sich der Rahmen der Planung verändert?

Angelus Eisinger: Ich bin davon überzeugt, dass die nachhaltige Transformation des Funktionalraums und seiner urbanen, suburbanen und ländlichen Teilräume nicht primär mit Macht zu tun hat, sondern vor allem aus Dialog resultiert. Der Grund dafür ist einfach: Bisher konnte sich Planung darauf verlassen, dass sie die Flächen, um die es geht, kontrollieren kann. Genau diese Voraussetzung ist aber im Zeitalter der Innenentwicklung nicht mehr durchwegs gegeben. So bestehen in und um Zürich praktisch keine Möglichkeiten der Aussenentwicklung auf der «grünen Wiese» mehr, die Kapazitäten der Bauzonen sind zu 90 bis 95 % ausgeschöpft.

TEC21: Gibt es Modelle, die Hinweise darauf liefern könnten, wie solche Aufgaben anzugehen sind?

Angelus Eisinger: Ich möchte an dieser Stelle zwei Projekte hervorheben, bei denen wir vielversprechende ­Planungsansätze bzw. Realisierungen unter die Lupe genommen haben. Zum einen haben wir das Instrument der Testplanungen untersucht und uns ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme nach weiteren Methoden und Konzepten umgeschaut, ­um den anstehenden Herausforderungen in den Gemeinden und Regionen planerisch gerecht werden zu können. Wir sind dabei, diese Palette auszuwerten und für die Praxis aufzubereiten. Andererseits haben wir über eine europaweite Umfrage interessante Realisierungen in der Stadt- und Raumentwicklung erfragt. Die Hinweise dazu kamen aus so unterschiedlichen Bereichen wie der Landschaftsentwicklung, der Verkehrspolitik, der sozial sensiblen Transformation im Bestand oder neuen Formen der Kooperation.

TEC21: Was kann man daraus für die weitere Entwicklung des Zürcher Grossraums lernen?

Angelus Eisinger: Zunächst ist es wichtig, über den Tellerrand hinaus zu schauen und das Gewohnte und Vertraute kritisch zu beleuchten. Es gibt europaweit viele Beispiele für unterschiedliche Herangehensweisen. So ist in Kopenhagen die Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohnern seit Langem ein selbstverständlicher und elementarer Bestandteil jeglicher Planung. Im Sinn einer möglichst frühen und intensiven Aus­einandersetzung werden sie als spezifische Experten des urbanen Alltags verstanden und in die Strate­­gie- und Konzeptentwicklung miteinbezogen.

TEC21: Partizipation wird auch in der Schweiz zunehmend erprobt. Gibt es noch überraschendere Ansätze?

Angelus Eisinger: Es gibt Projekte, die Dinge vereinen, die im Zürcher Kontext als absolute Widersprüche erscheinen. Zum Beispiel betreibt in Antwerpen die Stadt Quartiersentwicklung, indem sie die Eigentumsverhältnisse verändert. Sie hat eine Entwicklungsgesellschaft unter dem Namen AG Vespa gegründet. Diese saniert prekäre Quartiere über Neu- und Umbau­projekte und zeitgemässe Architektur. Die AG Vespa verkauft die Objekte dann zu Konditionen wie vor der Planung, allerdings mit Auflagen, die der Spekulation entgegenwirken und das Leben im Quartier stärken. Unsere Beispielsammlung umfasst mittlerweile weit über 300 Einträge. Ein wegweisendes Beispiel wie das Antwerpener lädt uns dazu ein, nach den Bedingungen und Voraussetzungen seiner Entstehung zu fragen und zu überlegen, wie ein Transfer solcher Qualitäten in unsere Planungspraxis gelingen kann.

TEC21: Wie wird sich die RZU in Zukunft entwickeln? Haben Sie noch weitere Ziele, die Sie erreichen möchten?

Angelus Eisinger: Wir haben ja im Grunde gerade erst begonnen. Ich sehe zwei unserer prägenden Schwerpunkte auch zukünftig darin, unabhängig und uneigennützig zu unterstützen und zu beraten bzw. die vorhandenen Kompetenzen und Erfahrung im Raum produktiv zu vernetzen. Die RZU muss dazu ihre Funktion als Vermittlerin und Drehscheibe weiter ausbauen und stärken. Ihr Fokus wird die Planungspraxis im Funktionalraum bleiben. Damit will sie für ihre Mitglieder mitten in den Baustellen und konkreten Laboren der Stadt der Gegenwart tätig sein, fokussiert und mit einer weiten Perspektive. Hierin sieht die RZU als Verband und als Geschäftsstelle ihren Schlüsselbeitrag zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung des RZU-Gebiets.

TEC21, Fr., 2016.05.20



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22. April 2016Marko Sauer
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Luxus des Einfachen

Kast Kaeppeli Architekten haben in Bern ein bescheidenes Arbeiterhaus umgebaut. Die beengten Grundrisse waren eine Herausforderung, ­doch sie erwiesen sich als treibende Kraft. Eine Subtraktion brachte die Lösung: Ein präziser Eingriff schaffte Raum für überraschende Qualitäten.

Kast Kaeppeli Architekten haben in Bern ein bescheidenes Arbeiterhaus umgebaut. Die beengten Grundrisse waren eine Herausforderung, ­doch sie erwiesen sich als treibende Kraft. Eine Subtraktion brachte die Lösung: Ein präziser Eingriff schaffte Raum für überraschende Qualitäten.

Bei einem Umbau sind die Leitplanken des Entwurfs enger gesteckt als bei einem Neubau. Der Bestand bildet den Rahmen, in dem sich das Projekt entwickeln kann. Neben den üblichen Einschränkungen wie den Baukosten, Baugesetzen, Sicherheitsauflagen und statischen Gegebenheiten bildet die physische ­Präsenz des Gebäudes eine unumstössliche Realität, mit der sich der Entwurf arrangieren muss, an der er aber auch wächst.

Dies kann rebellisch bis ironisch ausfallen, wie bei den «jungen Wilden» in Belgien, namentlich architecten de vylder vinck taillieu und 51N4E. Oder aber die Reaktion auf den Bestand führt dazu, dass die Historie aufgenommen und elegant weitergeführt wird. Der Wiederaufbau des Ostflügels am Museum für Naturkunde in Berlin von Diener & Diener zeigt diese Herangehensweise ebenso wie die Neuinterpretation von Mustern in Putzfassaden von Hild und K Architekten in München. Wie auch immer die Strategie ist – die Konzepte reiben sich am Bestand und führen zu einer Synthese, die ohne den Dialog mit dem bestehenden Gebäude undenkbar wäre. Erst in Kombination mit einem Haus, an dem sich die Gedanken wetzen und schärfen können, entsteht ein neues Drittes.

Leben im alternativen Quartier

Dieses Dritte kann seine Wirkung auch weit unspektakulärer entfalten als in den oben aufgeführten Beispielen. Im Bestand kann ungenutztes Potenzial schlummern, das erst durch eine sorgfältige Lektüre erkannt und aktiviert werden muss. Bei grossbürgerlichen ­Villen und verschrobenen Altstadthäusern fällt dies naturgemäss leichter als bei ärmlichen oder gar kargen Gebäuden. Dementsprechend ist die Freude und Überraschung grösser, wenn unverhoffte Qualitäten zum Vorschein treten. Beim Umbau an der Jurastrasse 59 in Bern war genau dies der Fall.

Das unscheinbare Haus gehört zu einem Ensemble aus vier Gebäuden und steht im Berner Lorraine­quartier. Eingeklemmt zwischen den Viadukt der SBB, auf dem die Züge Richtung Wankdorf gegen Osten verbeirollen, und der Aare mit dem nahe gelegenen Freibad bietet der Ort in direkter Nachbarschaft herausragende Qualitäten wie auch Faktoren, die den Aufenthalt beeinträchtigen. Neben dem Schatten und den Emis­sionen des Bahnviadukts stört vor allem eine Hochspannungsleitung, die zwischen dem Haus und der Aare steht. Sie gehört zum Dotierwerk Engehalde, das «Energie Wasser Bern» auf der gegenüberliegenden Ufer betreibt.

Und doch ist die Lorraine ein sehr beliebtes Quartier. Es ist im 18. Jahrhundert als Folge des Bahnlinienbaus entstanden und erfüllt einige der Klischees, die Aussenstehende der Stadt Bern gern anhängen: Ein nonchalanter Umgang mit dem Aussenraum weist auf ein reges und vergleichsweise ungezwungenes Leben hin. Auf dem Weg vom Helvetiaplatz in Richtung Aare­ufer hängen Reggae-Beats in der Luft: Sie dringen aus dem Studio des Lokalsenders Radio RABE.

Suffizienz avant la lettre

In den Häusern lebten und leben heute noch oft Arbeiterfamilien – auch wenn dort ebenfalls die Gentrifizierung langsam um sich greift und die finanziell schwächeren Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Quartier drängt. Um dieser schleichenden Entwicklung etwas entgegenzusetzen, sollte das Haus an der Jurastrasse – das sich im Vermögen der Stadt Bern befindet – auch weiterhin günstigen Wohnraum bieten.

Die Ausgangslage war herausfordernd: Auf jedem Stock des 14.5 × 8 m messenden Grundrisses waren vier Wohnungen von etwa 25 m² Fläche angeordnet. Die Erschliessung erfolgte über den Laubengang gegen die Aare hin. Von diesem Laubengang aus führte ein durchgehender Korridor ins Gebäude und trennte das Haus in zwei Hälften. Die Kleinstwohnungen wurden über die Küchen betreten, die in einer parallel zum Korridor liegenden Raumschicht untergebracht waren. Erst danach folgten die annähernd quadratischen ­Zimmer mit einer Grösse von 16 m².

Die Wohnungen waren sehr beengt und bescheiden: ein Vorläufer der Suffizienz, der allerdings der wirtschaftlichen Not geschuldet war. Das planerische Schlagwort der Stunde liesse sich in diesem Zusammenhang eher mit «Einschränkung» als mit «Genügsamkeit» übersetzen.

Die Wie-viele-Zimmer-Wohnung

Wie kann man einer Wohnung unter diesen Verhältnissen Qualität abringen? Mit viel Instinkt für räumliche Zusammenhänge haben Kast Kaeppeli Architekten die Enge der Grundrisse in eine Stärke des Projekts verwandelt. Thomas Kaeppeli beschreibt den entscheidenden Moment, der ihren Entwurf beeinflusste: «Als wir die Wohnung besichtigt hatten, standen alle Türen offen, und der Blick quer zum Korridor war frei. Dabei entdeckten wir den Reiz, der in der Verbindung der Schichten liegt.» Die Strategie lautete also, die Durchlässigkeit zwischen den Räumen auszureizen und die Anzahl der Verbindungen zu erhöhen.

Die Trennwände zwischen den Küchen sind verschwunden, der Eingang um eine Achse zum offenen Treppenhaus hin gerutscht: Das Resultat ist eine Wohnung, von der man nicht sagen kann, wie viele Zimmer sie genau hat. Die mittleren drei Schichten üben einen enormen räumlichen Reiz aus und gehören zu einem Grundriss, den man sich «from scratch» wohl kaum zu entwerfen getrauen würde.

Lob dem Spezifischen

Auch wenn das Thema der Durchschusszimmer bekannt und weidlich durchexerziert ist, entstand in der Jura­strasse aufgrund der Dimensionen des Raums eine einmalige Lösung. Der mittlere Gang ist lediglich 1.20 m breit, seine Nutzung wurde um 90° gedreht: Man ­durchschreitet ihn in Gegenrichtung, während an den Enden Bad und Toilette untergebracht sind – getrennt lediglich durch eine Falttüre. In den Details hat das «Badezimmer» viel Aufmerksamkeit erhalten. Das Feinsteinzeug ist von hoher Qualität und aufwendig verlegt; ein umlaufendes Fries fasst die diagonal angeordneten Bodenplatten.

Die parallel zum ehemaligen Korridor verlaufenden Zimmer sind in ihren Proportionen weniger pointiert als das Bad, doch sie fallen immer noch reichlich eng aus. In ihnen findet ein Tisch gut Platz – allerdings darf auch er nicht allzu breit sein.

Die Erfahrung weiter nutzen

Dieser Umbau ist bemerkenswert, da die Grundrisse sich ebenso vom Einheitsbrei der 4.5-Zimmer-Wohnungen abheben wie von den seltsam unbestimmten Experimenten mit Clusterwohnungen. Dem vorliegenden Beispiel kommt zugute, dass die Leitplanken sehr eng gelegt waren und der räumliche Befreiungsschlag eine Erfindung nötig machte, die spezifisch auf die Gegebenheiten vor Ort eingeht. Die eigenwilligen Proportionen erzeugen einen Raum, der an die Obergeschosse der durchgesteckten Wohnungen in den Unités d’Habita­-tion von Le Corbusier erinnert.

Und bereits haben Kast Kaeppeli Architekten ihre Entdeckung auf ein neues Projekt angewendet: Der Wettbewerb für das Schulhaus Kleefeld in Bern (vgl. TEC21 51–52/2014) nimmt das Motiv der geschichteten Gänge wieder auf – in einem anderen Massstab und Kontext.

Zu den räumlichen Qualitäten kommt die neue Behaglichkeit hinzu: Auslöser für die Instandsetzung waren die fehlende Wärmedämmung und die mangelhafte Haustechnik. Die Fassade erhielt eine Isolation aus 20 cm Mineralfaserplatten und eine neue Verkleidung aus einer stehenden, geschuppten Bretterverkleidung aus grau lasiertem Holz. In diesem Detail haben die Architekten ein wohlbekanntes Thema interpretiert: Das Haus war ursprünglich mit Holzschindeln eingekleidet, die in der Zwischenzeit durch Schindeln aus Faserzement ersetzt wurden. Mit der neuen Verkleidung zitieren sie das Material und die Fügung der ursprünglichen Eindeckung.

Der Umbau wurde letztes Jahr mit dem «atuprix, auszeichnung berner baukultur» bedacht. Juror Phi­lippe Cabane bringt es in seiner Wertung auf den Punkt: «Das Projekt ist für Modernisierungsvorhaben vorbildlich und zeigt, dass Bauten wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltig erhalten und umgenutzt werden können, wenn sich Architekten und Bauherren von herkömmlichen Standardvorstellungen emanzipieren.»

TEC21, Fr., 2016.04.22



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30. Oktober 2015Marko Sauer
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Den Toten eine Heimat

Als Einwanderer brachten sie ihren Glauben mit, als Eingewanderte möchten sie nach dessen Geboten beigesetzt werden: Die Muslime in Vorarlberg haben seit 2012 ihren eigenen Friedhof – gesellschaftlich und gestalterisch einmalig.

Als Einwanderer brachten sie ihren Glauben mit, als Eingewanderte möchten sie nach dessen Geboten beigesetzt werden: Die Muslime in Vorarlberg haben seit 2012 ihren eigenen Friedhof – gesellschaftlich und gestalterisch einmalig.

Der Islam ist Teil von Deutschland», stellte 2010 der damalige deutsche Bundespräsident Christian Wulff fest. Und trat damit zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit eine Debatte los, die auch fünf Jahre später noch nicht verebbt ist. Wie auch immer man zu diesem Thema steht, es ist Tatsache, dass Einwanderer ihren Glauben mit in die neue Heimat nahmen und den Islam in Westeuropa heimisch machten: zunächst «Gastarbeiter» aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien und der Türkei, dann Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten. Viele dieser Migrantinnen und Migranten kehrten im Alter in die Heimat zurück, wo sie auch beigesetzt wurden, doch mittlerweile sind ihre Kinder und Enkelinnen oft Bürger des ehemaligen Gastlands – eine Rückkehr hiesse die Familie verlassen.

Deswegen bleiben viele Muslime und Muslimas bis zu ihrem Tod in den Einwanderungsländern, und rund um ihr Ableben tobt eine Kontroverse um eine schickliche Ruhestätte, die neben theologischen Auslegungen und gesellschaftlichen Querelen auch gestalterische Fragen aufwirft. In der Schweiz sind in grösseren Städten erste Grabfelder für Muslime eingerichtet worden, doch einen eigenen Friedhof nach islamischem Ritus gibt es hierzulande nicht. Ganz ähnlich sah es auch im österreichischen Bundesland Vorarlberg aus: Dort gab es in den 96 Gemeinden überhaupt keine Möglichkeit, den muslimischen Einwohnerinnen und Einwohnern eine Bestattung nach ihren religiösen Vorschriften zu gewähren. Deshalb wurden die meisten Toten repatriiert und beigesetzt (vgl. Kasten auf S.33).

Um den Vorarlberger Muslimen eine Bestattung vor Ort zu ermöglichen, wurde im Juni 2012 der erste islamische Friedhof des Landes mit Platz für 700 Gräber eröffnet. Die rituellen Vorgaben werden erfüllt: Es sind nur Erdbestattungen erlaubt, im umfriedeten Grabfeld werden nur Muslime beigesetzt, die Gesichter der Toten sind nach Mekka ausgerichtet. Die Grabesruhe ist jedoch nicht wie im Islam vorgeschrieben «ewig», da unbefristete Grabstätten österreichischem Recht widersprechen.

In einem jahrelangen partizipativen Prozess haben islamische Gemeinschaften zusammen mit dem Vorarlberger Gemeindeverband und der Landesregie-rung, unterstützt von der Katholischen Kirche und der Integrationsfachstelle «okay. zusammen leben.», eine salomonische Lösung gefunden: Der Friedhof ist kommunal getragen und kann deshalb für Muslime aus allen Gemeinden zur letzten Ruhestätte werden. So werden die Toten innerhalb der Umma – der Gemeinschaft der Gläubigen – und dennoch in der neuen Heimat beigesetzt. Die Gemeinde Altach hat den Friedhof auf ihrem Gemeindegebiet aufgenommen. Die Gegend scheint traditionell ein gastlicher Ort zu sein, befindet sich doch in Hohenems, keinen Steinwurf entfernt, seit 1617 ein jüdischer Friedhof. Nach den Vorgaben für das Projekt hat das Architekturbüro von Bernardo Bader aus Dornbirn 2007 den Wettbewerb für den ersten islamischen Friedhof in Vorarlberg gewonnen.

Gemeinsame kulturelle Basis

Der Entwurf vereint den hohen Abstraktionsgrad der islamischen Kultur mit der handwerklichen Perfektion des Vorarlbergs: Der oft zitierte «Clash of cultures» führt in diesem Fall zu einem höchst produktiven Zusammenprall der Traditionen. Mit kühner entwerferischer Intelligenz verwandelt Bernardo Bader das lokal verankerte Fachwerk zu einem orientalischen Ornament – und stellt damit die Lesart der eigenen Tradition zur Disposition. Auf der Gegenseite bändigt er das oftmals verspielte Raumverständnis der islamischen Welt mit einer präzisen und dennoch vielgestaltigen Figur, die an die Aussegnungshalle in München-Riem (2000) von Meck Architekten erinnert. Im Modell zeigt sich, wie sich Gebäude, Grabfeld und Umfassungsmauer zu einem Gesamtkunstwerk fügen. Selbst der Beton erfährt eine Verwandlung: Dank den verschieden starken Latten in der Schalung nimmt der eingefärbte Kunststein den Duktus des Holzes auf. Der Friedhof bietet ein Vexierspiel auf höchstem Niveau.

Dieses Wechselspiel von Heimat und Herkunft findet im Gebetsraum eine sehr persönliche Note: Er wurde von Azra Akšamija gestaltet, einer Künstlerin und promovierten Architekturhistorikerin mit bosnischen Wurzeln, die in Vorarlberg aufgewachsen ist und am MIT in Boston lehrt. Der Teppich wurde von Frauen aus Sarajevo geflochten, ein Vorhang mit eingewobenen und vergoldeten Schindeln zitiert die alpine Bautradition – gleichzeitig ist deren Anordnung eine abstrahierte Darstellung der beiden Worte «Allah» und «Mohammed». Kalligrafie, Konzept und Gestaltung gehen eine Einheit ein, die ohne den Ein uss der jeweils anderen Kultur undenkbar wäre. Zu Recht ist der Friedhof mit dem Aga Khan Award 2013 ausgezeichnet worden.

Man mag einwerfen, dass der Ort nicht besonders besinnlich sei – der Friedhof liegt an einer viel befahrenen Route am Rand des Rheintals zwischen Tankstellen und Kreiseln. Und selbst nach drei Jahren ist lediglich ein Dutzend Gräber auf dem weiten Feld besetzt: Noch scheint eine Rückführung in die alte Heimat für viele Migranten unumgänglich zu sein. Doch der islamische Friedhof ist ein starkes Zeichen für den gesellschaftlichen Wandel, und er zeigt, wie breit die gemeinsame kulturelle Basis der vermeintlich unterschiedlichen Traditionen ist.

So wie die Glaubensgemeinschaften der Minderheiten langsam aus den Hinterhöfen und Fabrikhallen heraustreten und sich ihren Platz in der hiesigen Baukultur suchen – das Haus der Religionen in Bern (vgl. beiliegendes Sonderheft) ist ein besonders beredtes und gelungenes Beispiel dafür –, werden auch deren Friedhöfe wohl einen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Damit auch die Toten in der Wahlheimat ihre Ruhenden.

TEC21, Fr., 2015.10.30



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18. September 2015Marko Sauer
TEC21

«Wir entdeckten die andere Hälfte der Welt»

In der Lehre entwickelte die Analoge Architektur pointierte Positionen. Doch wie sieht ihre Umsetzung in der Praxis aus? Die fünf Architekten, deren Studentenarbeiten letzte Woche im Heft zu sehen waren,
reflektieren im Gespräch, wie Theorie und Praxis aufeinandertrafen.

In der Lehre entwickelte die Analoge Architektur pointierte Positionen. Doch wie sieht ihre Umsetzung in der Praxis aus? Die fünf Architekten, deren Studentenarbeiten letzte Woche im Heft zu sehen waren,
reflektieren im Gespräch, wie Theorie und Praxis aufeinandertrafen.

TEC21: Wie war Ihr Start nach dem Studium? Konnten Sie die Prinzipien der Analogen Architektur gleich umsetzen?
Conradin Clavuot: Bei den ersten Wettbewerben hatte ich mit «analogen» Entwürfen keine Chance. Das war damals wohl noch zu sehr 19. Jahrhundert. Die Projekte mussten so weit runtergekocht werden, bis die Jury sich noch auf den Entwurf einlassen wollte und ihre eigenen Vorstellungen darin projizieren konnte.
Alberto Dell’Antonio: Je nachdem hat es sogar eine Abwehrhaltung provoziert, wenn die Juroren die Analoge Architektur bereits gekannt haben.
Joseph Smolenicky: Was Conradin sagt, stimmt genau – und es hatte Auswirkungen auf unsere Praxis: Mit den ersten beiden Wettbewerben kriegst du einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Und in einem vorauseilenden Darwinismus ver­wässerst und trimmst du deine Projekte, damit du wenigstens durch den Wettbewerb kommst. Wir mussten uns aber auch klar werden, dass wir mit vielen Realitäten umgehen mussten.

Inwiefern?
Smolenicky: Mein erstes Projekt war 1992 ein Coiffuresalon – total farbig, so in Richtung Pop-Art. Ich hatte die Analoge Architektur immer so verstanden, dass man als Architekt fähig sein muss, in eine fremde Welt einzutauchen. Auch wenn diese Welt eine hippe, poppige, verspielte, latent kitschige Welt ist. Mit dieser Interpretation war Miroslav Šik (vgl. Interview TEC21 37/2015) sicher nicht einverstanden.
Quintus Miller: Bei der Brücke in Sevelen von 1989, einer der ersten Arbeiten von Paola und mir, die wir später zusammen mit Christoph Mathys haben realisieren können, haben wir es genau so gemacht, wie wir es bei Miroslav gerlernt hatten: Schritt für Schritt. Und es hat funktioniert. Wir hatten ein Thema und eine Vorstellung, die wir wie eine Geschichte über den Ort erzählen konnten. Damit gelang es auch, die Denkmalpflege zu gewinnen. Das ist eine Erfahrung, die mich bis heute prägt. Ich will meine Auftraggeber auf eine Reise mitnehmen. Dabei erfahren sie eine Geschichte, die sie verstehen und nachvollziehen können.
Peter Joos: Ich glaube, wir funktionieren noch nach derselben Methode, die wir als Studenten gelernt und über die Jahre verfeinert haben. Wir fragen uns im Büro ja immer, was das Gebäude am jeweiligen Ort soll. Wie machen wir die Eingriffe, damit aus einer einfachen Aufgabe etwas Spezifisches wird? Manchmal erkennt man das erst auf den zweiten Blick.

War dies das Besondere am Studium bei Fabio Reinhart und Miroslav Šik?
Joos: Sie haben uns gezeigt, dass alles vor Ort vorhanden ist. Man muss nicht alles über Renais­sance­paläste wissen, wenn man in Zürich Riesbach baut. Der Fundus in der Umgebung genügt, um das Projekt zu entwickeln. Natürlich ist es gut, wenn man die Geschichte kennt, aber primär ist es wichtig, dass man vor Ort Bescheid weiss: Wo geht das Trottoir durch? Wie steht das Haus zur Strasse? Wie baut man in Riesbach? Was sind die Materialien?
Clavuot: Und du musst kein Künstler sein, um mit der Arbeit beginnen zu können.
Dell’Antonio: Der Bezug zum Metier und zum kulturellen Kontext war sehr präsent. Ich lernte, dass auch das Umfeld einen Einfluss auf meine Entwürfe haben kann. Das war eine Bewusstseinssteigerung im dem Sinn, dass die Alltagsarchitektur viel breiter wurde als das, was bis dahin den Rahmen bildete. Der Blick wurde plötzlich verfeinert. Man lernte, das zu lesen, was in der Nähe ist.
Clavuot: Ich denke, das sind die Wurzeln des «analogen» Denkens. Ich muss mich fragen: Wie kann ich so entwerfen, dass die Leute verstehen, was ich meine?
Miller: Nach den ersten vier Semestern an der ETH war mir nicht klar, weshalb ich 400 Meter lange Schlitten mit Bandfenstern und runden Stützen machen sollte. Warum gab es nur diese eine modernistische Sprache? Mit Fabio, Miroslav und Luca waren endlich Leute da, die uns erklären konnten, was uns Dinge sagen und was die Bedeutung dessen war, was wir taten.
Smolenicky: In dem Moment, als ich die ersten Versuche der «Analogen» gesehen habe, merkte ich: Das ist lebendig! Das hat mit der Welt zu tun!
Wir gehen raus und entdecken, was es da alles gibt: Sinnlichkeit, Materialität, Formen, Identität. Und all dies in irgendwelchen Hinterhöfen. Alles, was die akademische Welt eines Mario Campi damals an der ETH nicht gekannt hat, ist auf einmal greifbar geworden. Mir haben sich die anderen 50 % der Welt erschlossen, von denen niemand sonst gesprochen hatte.
Joos: Zudem war auch die anonyme Architektur gültig. Es mussten nicht mehr die Werke der Klassik herangezogen werden. Man konnte sich vor Ort orientieren.
Clavuot: Und es wurde viel räumlicher als bei den Postmodernen. Es ging nicht mehr nur um Zeichen und die Fassaden, sondern man wollte konsistente Welten kreieren.

Daneben wurden auch unentdeckte Archive durchforstet.
Miller: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Im Atelier hat man geschaut, was da für neue Bücher im Umlauf waren. Auch Miroslav hat sich immer dafür interessiert. Wir waren wie Schwämme und haben alles aufgesogen. Wir waren immer in dem Teil der Bibliothek unterwegs, für den sich sonst niemand interessierte.
Smolenicky: Es herrschte Goldgräberstimmung bei unseren Streifzügen durch die Bibliothek. Davon hat auch Miroslav profitiert – in einem Ausmass, wie es eine Einzelperson gar nicht schaffen kann. Während wir die Grundlagen zusammengetragen haben, hat er daraus gleichzeitig die Prinzipien der Analogen Architektur formuliert.
Dell’Antonio: Darin lag für mich die grösste Faszination. Ich war als Student an einer Schluss­kritik, und die Diskussionen dort waren unglaublich engagiert. Da habe ich gemerkt: Da ist echtes Interesse dahinter! Dort wird nach etwas gesucht und ex­perimentiert. Es hatte eine grosse Anziehungskraft, dass die Gruppe gemeinsam geforscht und gesucht hat.
Miller: Wir haben dann mit den Jaxon-Bildern angefangen. Erst wusste niemand so recht, wie man das macht. Ich bin in die Stadt gefahren und habe das Vogue-Magazin gekauft. Ich wollte verstehen, wie Licht und Schatten auf guten Bildern funktionieren, wie Materialien wirken. Was ich bei Miroslav gelernt habe, ist, ganz genau hinzuschauen. Die Dinge genau zu hinterfragen, um danach zu wissen: Was willst du, und wie kannst du das erreichen?
Smolenicky: Genau! Das war eine Wahrnehmungsschule. Wir haben mit dieser Form der Dar­stellung architektonische Primärerfahrungen gemacht in Bezug auf sinnliche Phänomene, die die Architektur bestimmen: Licht, Schatten, Oberflächen, Material. Doch die «Analogen» sind immer über die Form diskutiert worden, nie über ihre konzeptionelle Relevanz, nie über ihre Inhalte und ihre Untersuchungen zur Wahrnehmung. Das kommt in der Diskussion immer zu kurz.

Und genau diese Art von Formensprache taucht nun vermehrt in aktuellen Wettbewerben auf.
Miller: Du kannst heute in Deutschland Renderings machen lassen, die den Jaxon-Perspektiven von damals sehr ähnlich sehen. Sie sind auf hohem technischem Niveau gemacht, ihr Charakter ist aber einem anderen Zusammenhang entlehnt und nicht mehr kongruent zum Projekt.
Joos: Früher konntest du nicht einfach ein Rendering bestellen, da mussten wir noch vonein­ander abschauen, wie das gemacht wird. Aber es ist sehr einfach geworden, Bilder mit ein bisschen abartigen Dächern zu erzeugen. Doch es ist nicht mehr aus der Konstruktion oder aus der Funktion heraus abgeleitet, sondern nur vom Bild her gedacht.
Dell’Antonio: Vielleicht müssen wir da schon von Manierismus sprechen. Dies ist ja immer wieder Teil einer Bewegung, und das hat wenig mit den spezifischen Inhalten zu tun. Selbst wenn die Bilder ähnlich sind, transportieren sie aber eine vollkommen andere Botschaft als damals.
Miller: Wir haben eine vergleichbare gesellschaftliche Entwicklung heute wie im späten 19. Jahrhundert. Man ist sehr bild- und formgläubig. Der Inhalt erfährt nicht die notwendige Wertschätzung. Form und Inhalt klaffen meist weit auseinander. Wir leben in einer Zeit, in der die Vermittlung von Inhalt über ein fahles Abbild genügt, weil der Weg vom Inhalt zur Form nicht interessiert.

Läuft man da nicht Gefahr, dass es nun überall auf der Welt gleich aussieht, wenn diese Bilderflut globale Ausmasse annimmt?
Smolenicky: Genau das macht die Analoge Architektur relevant. In einer Welt, die dazu tendiert, die Hypes einfach mal kreuz und quer über den ganzen Globus zu reproduzieren, ist es immer mehr die Aufgabe eines Architekten, eine spezifische Identität zu erzeugen. Ich gehe nach Dänemark und finde mich in Zürich Oerlikon wieder. Ich gehe nach New York und finde mich in Zürich Oerlikon wieder. Ich bin ständig in Zürich Oerlikon, wenn ich irgendwo neue Wohnbauten anschauen gehe.
Miller: Es gibt viele Dinge, die sind überall zu finden. Und es gibt ganz viele Sachen, die sind nicht überall. Wenn du reist, dann realisierst du, dass die kulturellen Unterschiede enorm gross sind. Die Globalisierung dauert eher noch tausend als hundert Jahre, bis sie sich global vollzogen hat.
Smolenicky: Es gibt aber auch grosse Veränderungen bei uns. Wir betrachten erst seit ein paar Jahren unser Land auch als urbanes Phänomen. Damals hatte die Analoge Architektur überhaupt keine Antworten darauf. Sie liebte diese kleinen Welten.
Clavuot: Ich glaube, das war nie das Ziel. Die Stadt war einer der Feinde aus der Welt der Moderne. Beim Diplom hat niemand ein städtisches Thema gewählt, alle haben sich immer für das Objekt entschieden. Miroslav konnte da auch nicht besonders weiterhelfen. Ich glaube, das hat ihn nicht interessiert. Es gibt tatsächlich keine grösseren Planungen der Analogen Architektur. Kann man mit der Methode nicht auf Ebene der Stadt operieren?
Joos: Ich glaube, man kann mit den Methoden der «Analogen» keinen klassischen Städtebau in grossen Dimensionen machen. Wenn alles gleich­zeitig erstellt werden soll, widerspricht das ihren Prinzipien.
Clavuot: Wir haben aber immer wieder Quartierplanungen wie die Bernoulli-Siedlung in Zürich besprochen. Aber die «tabula rasa» war kein Thema, und wir haben nie eine chinesische Neugründung für 400 000 Menschen diskutiert. Da gäbe es nichts, worauf man sich beziehen könnte.
Miller: Ich glaube schon, dass es möglich ist. Wir konnten den Beweis nicht antreten, aber das Projekt für Andermatt wäre ein gutes Siedlungskonzept geworden. Miroslav und wir waren auf dem ersten Platz, und wir konnten zusammen einen dichten Masterplan entwickeln. Aber den wollten sie nicht wirklich, und so sind wir nach anderthalb Jahren aus dem Projekt ausgestiegen.
Joos: Das ist genau das, was ich meine. Analoge Architektur im grossen Massstab ist nicht investorentauglich. Wir schaffen über Wettbewerbe kleinere Einzelbauten, Schulen, öffentliche Bauten. Aber sobald es gross wird, dann sind wir mit unserem Ansatz zu widerspenstig. Das wird nicht akzeptiert.

Hat sich deshalb die Analoge Architektur nie auf breiter Basis durchgesetzt?
Smolenicky: Ich glaube, wir hatten nie eine Lobby. Der Modernismus hatte immer Leute wie Herzog & de Meuron, Diener oder Hotz, die ihre begabten Leute unterstützt haben. Bei den «Analogen» hat sich nie eine Kultur entwickelt, in der man sich gegenseitig hätte beschützen können. Bei den grossen Projekten haben sich immer nur Moderne durchgesetzt.
Joos: Beim Bauen gibt es viele Akteure. Da hörst du einzelne Figuren wie die Vertreter der Analogen Architektur gar nicht. Ausser es gibt einen Multiplikator, der diese Positionen mitträgt. Den gibt es aber nicht, und so ist jeder von uns einfach ein Einzelkämpfer.
Clavuot: Dafür hat sich die Methode in der Lehre etabliert. In jeder Schule präsentieren die Studenten zunächst eine Analyse des Orts mit Stimmung, Identität und spezifischen Faktoren. Das hat sich in der ganzen Breite durchgesetzt und stabilisiert. Früher waren das soziologische Studien und funktionelle Nutzungsschemata. Heute wird der Ortsbezug schon fast übertrieben, und alle behaupten, dass nur genau dieses Projekt hier stehen kann.
Smolenicky: Methodisch ist das «Analoge» ein Erfolgsmodell. Das referenzielle Arbeiten ist an vielen Lehrstühlen inzwischen eine verankerte, aber auch inzwischen stark differenzierte und erweiterte Entwurfsmethode geworden.
Wenn sich die Methode an den Schulen durchgesetzt hat, dann müssten doch eigentlich die Anliegen der «Analogen» und deren entwerferischer Furor gegenwärtig eine grosse Verbreitung finden?
Dell’Antonio: Ein Teil dieses Schwungs, den wir durch das Studium erhalten haben, war dem manifestartigen Charakter zu verdanken. Das hatte eine Kraft, auch wenn es überspitzt und plakativ war. Doch die Zeiten sind heute ganz anders. Es war früher viel einfacher, eine Antithese zu formulieren.
Miller: Zürich hat nach der Jahrtausendwende mit der internationalen Öffnung der Märkte und der S-Bahn einen grossen Entwicklungsschub erfahren. Wir hatten keine Gelegenheit, daran aktiv teilzuhaben. Ich glaube aber nicht, dass es am «analogen» Ansatz lag, denn der hat für mich seinen Wert nicht im Formalen, sondern in der Vermittlung von Inhalten. Es lag eher darin, dass wir in Zürich nicht so vernetzt waren. Hingegen haben wir in Basel an verschiedenen städtebaulichen Fragestellungen mitgearbeitet, die nun kurz vor der Realisierung stehen: Charakter und Stimmung sind sehr wohl städtebauliche relevante Argumente.
Joos: Oder man schafft es einfach nicht, an diese Projekte heranzukommen mit einer «analogen» Strategie. Was Conradin über die Wettbewerbe gesagt hat, gilt wohl immer noch.

TEC21, Fr., 2015.09.18



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TEC21 2015|38 Analoge Architetkur II: die Praxis

11. September 2015Marko Sauer
TEC21

«Wir antworten mit leisen Tönen»

Miroslav Šik, einer der Protagonisten der Analogen Architektur, wirft einen Blick zurück auf deren Anfänge. Er reflektiert, wie in seiner Lehre das Mischen die Verfremdung ablöste – und wo die Grenzen der analogen Entwurfsmethode liegen.

Miroslav Šik, einer der Protagonisten der Analogen Architektur, wirft einen Blick zurück auf deren Anfänge. Er reflektiert, wie in seiner Lehre das Mischen die Verfremdung ablöste – und wo die Grenzen der analogen Entwurfsmethode liegen.

TEC21: Herr Šik, wie war der gesellschaftliche Kontext, in dem die Analoge Architektur entstanden ist?
Miroslav Šik: Wir befanden uns in den 1980er-Jahren am Beginn eines starken gesellschaftlichen Wandels. Die Industrie verliess Europa, und damit ging das Ende der linken Bewegung einher. Die Skepsis gegenüber der Technik wuchs aufgrund der Unfälle in den Atomkraftwerken, zudem bahnte sich der Ausgleich zwischen Ost und West an. In Zürich hatten die Studentenunruhen weitreichende Folgen.

Und wie würden Sie das kulturelle Umfeld beschreiben?
Auf dem Gebiet der Kultur gab es noch eine stärkere Polarisierung und eine präzisere Vorstellung einer Elite. Dies äusserte sich in der Musik ebenso wie in den Museen. Der Mainstream war noch nicht als Kultur anerkannt. Die Zeit der Postmoderne war mit einem radikalen Wechsel verbunden: Die damalige Leitkultur ist heute eine Nischenkultur.

In der Architektur war die Postmoderne sehr einflussreich. Wie stehen die «Analogen» zu ihr?
Die Analoge Architektur ist wohl eine Enkelin der postmodernen Bewegung. Denn vieles, was die Postmoderne ausformuliert hatte, war auch für sie bestimmend. Die Postmoderne hat eine präzise Definition erfahren, indem sie sich gegen die Spätmoderne aufgelehnt hat. Diese Definition ex negativo war stark, bis hin zur Übertreibung. Allerdings haben wir dann einen eigenen Weg eingeschlagen.

Wie hat sich das in der Lehre ausgedrückt?
Der Ansatz von Fabio Reinhart und Bruno Reichlin, diese manierierte Vielfalt in der Fassade, hat die Studenten nicht mehr interessiert. Sie machten sich auf die Suche nach neuen Referenzen, und jeder von ihnen öffnete ein anderes Archiv: skandinavischer Klassizismus, Arts and Crafts, Otto Wagner oder Shaker-Architektur. Wir durchforsteten die Archive; für mich war jedes dieser Kapitel so neu wie vorher der Konstruktivismus und Leonidov.

Welchen Einfluss hatten diese Entdeckungen auf Sie persönlich?
Obzwar ich mich bis dahin als Neo-Modernist verstanden hatte, war ich gezwungen, auf drei, vier Klaviaturen gleichzeitig zu spielen. Als Assistent musste ich mich empathisch in die verschiedensten Welten einleben. Das war ein Novum, denn früher gab es eine Referenz und basta. Ich musste lernen, mich auf unterschiedlichste Quellen einzulassen.

Was war das verbindende Element, wenn alle ihren eigenen Vorlieben nachgingen?
Zur Zeit, als im Atelier Reinhart die Analoge Architektur anlief, kamen wichtige Monografien auf den Markt. Dies hatte einen direkten Einfluss auf die Entwürfe. Es ist nicht zufällig, dass die Projekte den damaligen Wiederentdeckungen ähneln. Ich habe immer wieder den Begriff der «Verfremdung» eingebracht, denn ich spürte ein Unbehagen, wenn gewisse Studenten Asplund oder Lewerentz perfekt kopierten. Damals hatten wir viel darüber diskutiert, ob es sinnvoll sei, zu zitieren, eine Anspielung zu machen oder zu verfremden.
Das hört sich bis auf die Verfremdung ein wenig nach Ecole des Beaux-Arts an.
Eine Ecole des Beaux-Arts, aber mit neuen Referenzen. Oder ein Exercice de style, das jedoch mit einer unglaublichen Akribie und Ernsthaftigkeit umgesetzt wurde. Und, was ganz wichtig war, es fehlte jeder Bezug zur reinen Kunst, zu einem postmodernen Event, zur Ironie. Damit hatten die Studenten die Postmoderne eines Rossi oder Venturi hinter sich gelassen; allerdings verschwand dadurch ebenso die Auseinandersetzung mit dem Mainstream und mit dem Normalen. Die Referenzen und die Stimmung kamen aus der gehobenen und gebildeten Welt, und meistens hatten diese Dinge nicht viel mit dem Ort zu tun. Zumindest in dieser ersten Phase (vgl. Kasten S. 31) hatte die Analoge Architektur den Kontext idealisiert, ähnlich wie vormals die Moderne.

Das hat Sie gestört?
Für mich war die Arbeit mit Klassikern legitim, im Sinn von überprüften Lösungen und von gelebten Prototypen. Aber gleichzeitig erwachte bei mir das Interesse für Baracken, alte Bahnhöfe – alles gebaute Dinge, deren Architektur nicht einmal einen Autorennamen haben musste. Ich machte einen entscheidenden Schritt und verliess die Welt der Klassiker. Zu jener Zeit fuhr ich ins Ruhrgebiet, fotografierte die alltägliche Architektur, schaute mir die Filme von Wim Wenders und Jim Jarmusch an.

Hat dies die Entwürfe auf den Boden gebracht?
In der dritten Phase wurde der Kontext stärker. Man wählte eine Referenz aus, weil sie in einer Relation zum Ort und zum Programm stand, und nicht, weil man in einem Antiquariat ein schönes Buch gefunden hatte. Entwurf und Bild rieben sich am Kontext. Unter dem Begriff des «Regionalismus» griffen wir auf die gelebten, tradierten Vorbilder zurück. Darin unterschieden wir uns von anderen Entwurfsklassen, denn rund um uns herum waren immer noch die Stilübungen der Neo-Modernen im Gang. In einer vierten Phase brachte ich dann noch einen zusätzlichen Dreh herein, indem der Kontext zusätzlich trivial werden musste. Die Analoge Architektur sollte imstand sein, die verschiedensten Nutzungen anzuwenden, die nicht mehr gross zu orchestrieren waren: Zivilschutzzentren, Brockenhäuser. Das war die ultimative Elimination der Exercices de Style.

Weil es dafür keine klassischen Vorbilder mehr gab?
Ich habe gemerkt, dass ich die Leute nicht zum Beton bringe. Es war der Versuch, in die 1960er- und 1970er-Jahre zu gelangen. Sie sollten auch den Hinterhof bearbeiten, die abgewandte Seite, die nicht gehobene und nicht beleuchtete Architektur, aus der sich später der Begriff «Ensemble» entwickelt hat. Es war das Heterogene, das überhaupt keine Architektur mehr ist, sondern von diesem Zusammengesetzten lebte, das so typisch ist für die Schweiz. Das haben wir in den letzten beiden Semestern unter dem Begriff der «Peripherie» gestreift. Das war dann 1991 aber gleichzeitig auch das Ende der Analogen Architektur in der Lehre.

Welche Bilanz ziehen Sie für diese Jahre?
An der ETH hat die Analoge Architektur die Verfremdung nie ganz geschafft. Zuerst waren es unverfremdete Klassiker, dann waren es unverfremdete, kleine regionale Klassiker und am Ende war es die unverfremdete, kaputte Peripherie: Die Analoge Architektur blieb bis zum Schluss objekt- und referenzhaft. Ich überlege mir die ganze Zeit, was der methodische Fehler gewesen ist. Vermutlich lag es an der Arbeit mit Referenzen. Darunter verstehen die Leute meistens, dass man eine einzelne Referenz auswählt. Doch ich merkte später, dass ich selbst in meinen Entwürfen schon von Anfang an mehrere Dinge zusammenfügte. Damals war ich noch nicht imstande, meine eigene Entwurfsmethode so weit zu reflektieren.

Wie sind Sie diesem methodischen Fehler begegnet?
Erst langsam hat sich die Analoge Architektur in die Tiefe entwickelt, und plötzlich hat sie etwas entdeckt, was sie am Anfang nicht wusste: Wenn wir den Ort bauen, dann gibt es ihn irgendwann nicht mehr, weil jeder Eingriff ihn verändert. Je präziser die Analoge Architektur ihre Anliegen entwickelt hat, umso mehr hat sie die schweizerische Vielfalt verinnerlicht. Sie ist ja eine Vorgehensweise und nicht ein Stil. Als ich dann zehn Jahre später als Professor wieder an die ETH zurückkam, redete ich nur noch von Fenstern, von Türen – und vom Mischen. Ich habe immer versucht, diese Elemente zu verschmelzen, zu verschleifen. Ob das eine Stärke oder Schwäche ist, lasse ich offen. Ehrlich. Dieses ständige Sich-Einfühlen, das dauernde Sich-Anpassen ist nicht jeder kulturellen Landschaft gegeben.

Was bedeutet dies für die Lehre?
Alle meine Vorlesungen drehen sich jetzt ums Mischen. Es ist gleich wie in der Küche: ein bisschen Salz, ein bisschen Pfeffer, ein bisschen Mehl.
Es ist kein Gourmetrezept, was für die Studierenden extrem schwierig ist. Manchmal gelingt ihnen dieses Verschleifen und Verschmelzen, manchmal nicht?? Aber vielleicht ist auch das wieder ein methodischer Fehler.
Inwiefern?
Die Analoge Architektur war immer eine noble Welt. Sie hat zwar gezeichnet wie ein Wim-Wenders-Film, aber eigentlich war sie immer sehr objekthaft und gepflegt. Den Leuten war bewusst, auf welchen Referenzen sie sich beziehen. Sie waren immer stolz auf die Entdeckungen, mit denen sie gearbeitet haben. Das hat sich verflüchtigt. Die heutige Generation redet weniger darüber und mischt mehr intuitiv. Dadurch verliert sie die Schärfe – ob sie dadurch aber Exzellenz erreichen wird? Die erste Generation hat ihre Klassiker sehr gut gekannt und viel von ihnen gelernt.

Dafür gab es dann diese Verfremdung nicht.
Genau. Im Gegenzug waren die Entwürfe dafür extrem präzise. Die Leute können heute ganz gut verfremden und produzieren schöne neue Dinge. Aber erzeugt das per se Poesie? Ich lasse
dies ebenfalls offen. Erstaunlich ist, dass die alten analogen Ungenauigkeiten wiederentdeckt werden. Ich habe Leute im Semester, die benutzen als Reaktion auf die digitale Präzision wieder rossianische Schraffuren und patinieren wie mit den Jaxon-Kreiden! Wenn etwas Mainstream wird, dann suchen die jungen Leute sehr schnell einen neuen, eigenen Weg. Für mich selbst ist es nicht mehr von Bedeutung, aber meine Studierenden reiben sich stark am Mainstream.

Und welchen Ausweg zeigen Sie ihnen aus diesem Konflikt?
Ich lege den Fokus auf die Konstruktion und die technische Realisation. Die jungen Leute sind sehr hungrig auf neue, echte Dinge, und die Realität fasziniert sie sehr. Dies bestimmte die letzten zehn Jahre meiner Lehre, wobei ich jetzt das Ensemble und Midcomfort[1] übersprungen habe. Aber bereits bei Midcomfort beginnt die Auseinandersetzung mit der Konstruktion und dem Bauen. Damit fallen schon einige Formen weg. Wenn ich jetzt die schwarze Kassette[2] aufmache, dann ist alles wunderbar, aber es ist nur gezeichnet. Vom heutigen Standpunkt aus erscheint mir das unmöglich.

Zeigt sich das auch in der Praxis Ihres Büros?
Das Wort Reform habe ich bisher bewusst weggelassen. Nehmen wir die Wohnbaugenossenschaften: Da wird die Bescheidenheit zur Zierde gemacht. Ich würde behaupten, dass hier der Bruch zwischen der Analogen Architektur und den späteren Tendenzen von «altneu» und «Ensemble» liegt. Dazwischen passierte etwas ganz Wesentliches: So wie die Analoge Architektur auf ihre Zeit reagierte, sind die späteren Strömungen eine Reaktion auf den immer lauter werdenden Mainstream. Darauf beziehen wir uns auch heute. Und wir antworten mit leisen Tönen – selbst auf die Gefahr hin, dass wir überhört werden.

Caruso St John waren Teil Ihrer «Ensemble»-Ausstellung an der Biennale in Venedig, und jetzt bauen sie in der Europaallee. Ist das nicht auch Mainstream?
Dank dem Kampf der Analogen Architektur ist es möglich, dass Caruso St John nun auch an einem so prominenten – und geradezu modernen – Ort für das gehobene Segment des Gewerbes und Wohnens bauen. Doch schon in London ist dies nicht mehr ganz der Fall. Da sind die Postmodernen bis auf zwei, drei Ausnahmen nie richtig zum Zug gekommen.
Der ganze Rest ist dieser neo-modernen Architektur zuzuordnen mit ihren grossen Transparenzen, ihrer Flut von Bildern, ihren extremen Raumkombinationen und vornehmen Materialien. Das widerspricht dem Wesen der Analogen Architektur: Wir müssen diese Zierde der Bescheidenheit und den unscheinbaren Luxus aufrechterhalten.

Beim Hunziker-Areal (vgl. TEC21 13–14/2015), wo Sie die Häuser B, C und K gebaut haben, gibt es dennoch einen starken bürgerlichen Zug.
Das äussert sich aber nicht in reellen Kubikmeterpreisen. Mir geht es um den Versuch – auch den würde ich wiederum schweizerisch nennen –, dem gemeinen Volk einen Teil der gehobenen Bilder zur Verfügung zu stellen. Dort schliesst sich wieder der Kreis zur Reformarchitektur. Das haben früher schon die Wohnbaugenossenschaften so gemacht: Die ersten Bauten der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich wurden für Beamte der SBB und PTT erstellt. Das Bürgerliche hat auch dort seinen Platz, aber man darf es nicht zu dick auftragen.

Wie äussert sich dieses Erbe heute in Ihren Gebäuden?
Vielleicht in der Raumhöhe, indem ich versuche, einen Tritt höher zu bauen. Und wir sind bestrebt, quadratische Räume zu entwerfen, nicht diese viel zu engen Räume. Besonders wichtig sind zudem die Aussenräume, denn wir müssen den Leuten eine Alternative zum Einfamilienhaus in der Peripherie anbieten. Die bürgerlichen Züge lassen sich darüber hinaus an einzelnen Bauelementen aufzeigen: Parkettböden, eine besondere Auszeichnung der Türen, hochwertige Fenster- und Türgarnituren.

Entspricht diese Zurückhaltung noch der Mentalität der Menschen in der Schweiz?
Ich denke, dass eine natürliche Bescheidenheit zur Schweiz gehört und dass sie gleichzeitig einen neuen Wert darstellt. Den kannte ich früher nicht – vielleicht war er früher aber auch nicht nötig, oder er musste nicht herausgestrichen werden. Das ist mit der Architektur dasselbe. An sich ist die Deutschschweizer Architektur wunderbar: Jedes Haus ist etwas Besonderes, ebenso die Wohnungen. Jedes Wohnzimmer ist sorgfältig zusammengestellt. Wir reden jetzt immer von dieser städtischen Schicht, für die wir produzieren. Diese Leute haben schon
viel gelesen, und Architektur ist ein wichtiges Leitmedium für sie. Sie sind wahnsinnig gebildet und echte Connaisseurs.

Und Sie bedienen dieses Klientel dann mit erlesener Zurückhaltung.
Wenn Sie unsere Arbeiten verfolgen, merken Sie, wie wir immer leiser werden. Es kann durchaus passieren, dass wir aus lauter Bescheidenheit poetisches Know-how zerstören – weil ich das Gegenteil fast schon unanständig finde. Ich habe langsam Mühe mit der Rolle des Architekten, weil sich unsere Gesellschaft zu sehr mit der Architektur als Leitmedium beschäftigt. Umso mehr mache ich Gebäude, die sich dem entziehen. Früher waren unsere Entwürfe stark orchestriert, jetzt versuchen wir die Melodie möglichst einfach zu halten.

Ich habe das Gefühl, Sie suchen etwas, was ungekünstelt ist.
Ich habe den Eindruck, ich mache noch etwas Echtes. Bei den Wohnbaugenossenschaften zum Beispiel habe ich für Normalverdiener gebaut mit Mieten unter 2000 Franken. Diesen Hang zum
Elaborierten, immer Luxuriöseren bei vielen meiner Kollegen kann ich nicht nachvollziehen. Aber eine Tendenz, die immer bescheidener und schweigsamer wird, wird zu einem rein privaten Experiment. Sie droht so leise zu werden, dass sie die anderen nicht mehr wahrnehmen. Ich denke, das ist eine Eigengesetzlichkeit, die vielen Poesien eigen ist.

Wie bei den japanischen Meistern der Keramik, die nach Jahrzehnten der Perfektion wieder ganz einfache, unscheinbare Schalen gestalten?
Genau das meine ich. Leider merken wir den Dingen häufig nicht mehr an, dass sie das gesamte Wissen und die Erfahrung innehaben. Meistens erscheinen sie dann nur noch banal. Aber es liegt in der Natur der Dinge: Je länger ich mich mit etwas beschäftige, umso mehr Möglichkeiten und Verfahren fallen weg. Man wird immer disziplinierter. Bis die Leute dann nichts mehr darin sehen und hören.


Anmerkungen:
[01] Mit der Publikationsreihe «Midcomfort» haben Lukas Imhof und Miroslav Šik die Tradition des wohnlichen Bauens untersucht. «And Now the Ensemble!!!» hiess der Beitrag von Miroslav Šik in Zusammenarbeit mit Knapkiewicz&Fickert und Miller?& Maranta für die Architekturbiennale 2012 in Venedig.
[02] Die schwarze Kassette bildete den Katalog zur Ausstellung «Analoge Architektur» von 1988. In ihr sind beispielhafte Projekte versammelt. Analoge Architektur, hrsg. von Miroslav Šik, Edition Boga, Zürich 1988

TEC21, Fr., 2015.09.11



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13. Oktober 2017Susanne Frank
Marko Sauer
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«Neben Handschrift braucht es auch Überraschendes»

Das Interesse an Stoff und Raum verbindet die Architektin Anna Jessen und den Modedesigner Albert Kriemler. Wie begründet sich die gegenseitige Affinität? Und was inspiriert sie in ihrem kreativen Schaffen?

Das Interesse an Stoff und Raum verbindet die Architektin Anna Jessen und den Modedesigner Albert Kriemler. Wie begründet sich die gegenseitige Affinität? Und was inspiriert sie in ihrem kreativen Schaffen?

TEC21: Herr Kriemler, Sie haben ein enormes Interesse an Architektur. Hätten Sie auch Architekt werden können?'
Albert Kriemler: Ja, da ist eine grosse Nähe. Und ich wäre vielleicht auch Architekt geworden, wenn ich nicht die letzten 35 Jahre gemeinsam mit meinem Bruder Peter unsere Firma entwickelt hätte.
Anna Jessen: Ich finde, man könnte dich durchaus als Architekten bezeichnen.
Albert Kriemler: Es gibt interessante Gemeinsam­keiten. Aber das macht mich noch lang nicht zum Architekten. Dazu braucht man das Wissen, das aus Ausbildung, Gefühl und Erfahrung erwächst. Ich diskutiere gern über Architektur und bin ein Partner für Architekten, weil mich das Thema nicht nur in meiner Arbeit interessiert.

TEC21: Inwiefern lässt sich Ihre Arbeit mit der eines Architekten vergleichen?
Albert Kriemler: Architekten, Designer und Künstler arbeiten jeweils mit ihrer Kreativität. Grundsätzlich denken Architekten und Modedesigner über Pro­portionen nach. Was uns verbindet, ist der Zweck. Wir dienen einem Zweck. Ein Künstler drückt sich selbst aus. Bei mir steht das Material am Anfang, daraus folgt die Idee. Das ist sicher bei jedem Einzelnen anders, ob Designer oder Architekt.

TEC21: Sehen Sie noch weitere Parallelen?
Albert Kriemler: Wir fragen beide: Was ist der Mensch im Raum? Natürlich kann man auch von Architektur sprechen, wenn es um das Formulieren eines Volumens bei einem Kleid geht. Mit dem Thema Material ist der Aspekt Farbe eng verbunden.

TEC21: Frau Jessen, Sie beschäftigen sich schon seit geraumer Zeit mit dem Thema des «textilen Raums». Wo liegt für Sie die Faszination darin?
Anna Jessen: Die Beziehungen zwischen Stoff und Raum sind sehr vielfältig und ursprünglich. Das Gegenmodell zur Höhle und zum Erdhügel ist das nomadische Zelt. Da weist die Wand eine textile, gewobene und strukturelle Qualität auf. Der Begriff der «Wand» leitet sich ja offenbar vom althochdeutschen «want» ab, das wiederum verwandt ist mit dem heutigen Verb «winden» und das auf ein mit Lehm bestrichenes Geflecht zurückgeht. Die sprachliche Nähe zwischen Wand und Gewand drückt eine noch direktere Beziehung aus. Auch der Begriff der «Decke» als oberer Raumabschluss verweist auf einen sehr ursprünglichen Zusammenhang zum textilen Raum. Ähnlich verhält es sich mit dem Wort «Knoten», mit dem in der Architektur meist eine starre Verbindung bezeichnet wird, die eigentlich aber eine geknüpfte war, wie Semper es ausführlich dargestellt hat.

TEC21: Sie bauen einen neuen Studiengang für Architektur an der FHS in St. Gallen auf, der im Herbst den Betrieb aufnimmt. Wie lassen Sie dieses Thema dort einfliessen?
Anna Jessen: Unter dem Begriff «textiler Raum» unterscheide ich zwei Denkrichtungen. Es gibt die direkte Übersetzung und die Anwendung im übertragenen Sinn. Beide weisen ein grosses Potenzial auf. Ich glaube, dass das Textile wieder stärker ein Thema in der Architektur werden wird. Daneben gibt es den Begriff «Stoffwechsel», wie ihn Semper eben geprägt hat. Wir leben in einer Zeit des intensiven Stoffwechsels, in der plötzlich altüberlieferte Baustoffe neue Leistungsmerkmale erhalten und ihre klassische Verwendung neu interpretiert wird. Holz ist ein gutes Beispiel dafür. Da passieren spannende Dinge – bei textilen Materialien werden wir Ähnliches erleben.

TEC21: Sie haben aber auch eine ganz persönliche Beziehung zum Textilen.
Anna Jessen: Ich habe vor dem Architekturstudium eine Schneiderausbildung gemacht und immer Bekleidung für mich selbst angefertigt. Weil ich nirgends die Kleider bekommen konnte, die ich mir wünschte.

TEC21: Was hatten Sie denn vermisst?
Anna Jessen: Ich glaube, es hatte etwas mit der eigenen haptischen Wahrnehmung der Kleider zu tun. Sie sind dann natürlich auch so etwas wie eigene Zelte, erste Häuser, die du dir selber baust. Wir sind ständig umgezogen als Kinder – für mich ist es tatsächlich ein eigenes Haus gewesen, das ich mitnehmen kann. Und das ist es auch heute noch.

TEC21: Hat dies Auswirkungen auf Ihr architektonisches Schaffen?
Anna Jessen: Natürlich. Wenn ich heute beim Bauen Dinge füge, dann ist es oft das Bild: Wie und mit welcher Naht füge ich zwei Stoffteile zusammen?

TEC21: Worin gleichen sich für Sie die beiden Disziplinen?
Anna Jessen: Vor allem in der Bekleidung eines Körpers – wobei wir dann schon bei den Unterschieden wären: Denn wir entwerfen den Körper, sprich die Struktur ja mit. In beiden Disziplinen geht es um die Frage: Was sind Raumbeziehungen? Der ganze Entwurfsprozess hat Parallelen. Schnittstellen gibt es natürlich auch in der Art des Fügens, der Art eben, wie Nähte zusammenkommen. Das ist ganz nah an architektonischen Fragen.

TEC21: Ein Architekt, der sich dezidiert zu Mode und Architektur geäussert hat, ist Adolf Loos.
Albert Kriemler: Das Interesse an Loos begleitet mich in meiner Arbeit täglich. Für mich ist er ein wirklich genialer Architekt – gerade in Fragen der Materialiät und der Reduktion. Loos ist viel gereist und hat von jeder Reise Material mit nach Hause gebracht: japanische Tapeten, chinesische Seide, er wusste auch von Kaschmir und Tweed, alles war vom Feinsten.
Anna Jessen: Zur Frage der Materialität beschäftigt mich Mies van der Rohe noch mehr als Loos. Da ist der Stoff sehr präsent. Bei Mies hat das Pure des Materials eine grosse Bedeutung, die man in seinen Häusern sehr stark fühlt. Es gibt da eine haptische Verbindung zum Haus – während das Primäre bei Loos wirklich die Raumfügungen sind, wie die Räume dreidimensional miteinander verwoben sind.
Albert Kriemler: Ich sehe das etwas anders. Wenn Mies das Material in der Reduktion anwendet – und das tut er –, trifft er den Gedanken, den Loos zu wertvollen Materialien formuliert hat, ins Schwarze. Die Onyxwand in der Villa Tugendhat wirkt als massiver Wandkörper, der das Wohnzimmer von der Bibliothek trennt. Mies verwendet Stein, Hölzer wie Mahagoni und edle Stoffe. All diese Materialien sind wertvoll, sie besitzen Farbe und Struktur, benötigen also keine weitere Aufwertung durch Dekoration. Beim Wert und bei der Reduktion treffen sich Loos und Mies. Bei Loos gab es immer auch das Einfache.

TEC21: Um nochmals zu Loos zurückzukommen: Er hat auch Wesentliches zum Ornament geschrieben. Herr Kriemler, wie sieht Ihr Bezug zum Ornament aus?
Albert Kriemler: Das Zitat mit dem Ornament und Verbrechen wird immer ganz schnell aufgegriffen. In meiner Kollektion gibt es aufwendig gestaltete und verarbeitete Stoffe, oft moderne St. Galler Stickerei oder im Haus entwickelte Materialien, die man in ihrer Gesamtstruktur als Ornament bezeichnen könnte. Diese Ornamentik ist vollständig als Stoff in ein Kleidungsstück integriert und wirkt nie wie eine hinzugefügte Dekoration. So hat es die New Yorker Museumskuratorin Valerie Steele einmal beschrieben. Das Prinzip gilt auch für Drucke.
Anna Jessen: Mich interessieren bei Bauwerken nur die Dinge, die etwas fürs Ganze tun. Es gibt strukturelle und dekorative Ornamente. Auch deswegen ist die Mode von Akris interessant, weil das Ornament sehr stark strukturell ist. Wir suchen das ebenfalls in unseren Bauten.

TEC21: Können Sie das illustrieren?
Anna Jessen: Wo gehören zum Beispiel die Bronzerahmen der äusseren Verglasung im Verwaltungszentrum Oberer Graben hin? Auf jeden Fall haben die Öffnungen im Blech eine Funktion. Ihre Zahl und Anordnung ist hinsichtlich Strömungsverhalten und Lüftung des Kastenfensters im Computer simuliert worden. Aber erst die Übersetzung der Öffnungen in je zwei Halbkreise, die sich im Wechsel drehen, macht aus dem einfachen Loch im Blech – sprich aus dem Lochblech – ein spielerisches Element, das die reine Funktion sublimiert, poetisch sanft überhöht und den Charakter des Hauses akzentuiert.
Albert Kriemler: Wenn die Funktionalität unter der Idee leidet, dann darf man das nicht machen. Für mich hat die Funktionalität viel mit der Modernität und Selbstverständlichkeit eines Kleidungsstücks zu tun. Wenn es in irgendeiner Form kompliziert ist, dann ist es schon obsolet.

TEC21: Und doch braucht es eine Balance zwischen Entwurf und Funktionalität – so wie zwischen Tradition und Innovation.
Albert Kriemler: Das ist das Schwierige in der Architektur – und in der Mode ist es dasselbe: Wie entwickelst du deine Handschrift? Und überraschst trotzdem immer wieder mit dem Neuen? Ich habe gelernt, in unserem Entwurfs- und Entwicklungsprozess Raum für Überraschungen zu schaffen. Mode lebt von der Abwechslung, deshalb ist sie Mode. Und dennoch müssen wir innerhalb unserer Handschrift erkennbar bleiben, also Konstanz zeigen. Aber das ist es, was die Passion für den Beruf aufrecht erhält. Es ist eine permanente Evolution. Und das ist bei Architekten vielleicht nicht anders.

TEC21: Sie haben sich für Ihre Sommerkollektion 2016 von der Arbeit des japanischen Architekten Sou Fujimoto inspirieren lassen. Wie würden Sie diese Zusammenarbeit beschreiben? Wie erfolgte dieser Austausch?
Albert Kriemler: Die Auseinandersetzung mit der Architektur von Fujimoto war einer der Momente, wie ich sie immer wieder erlebe, wenn ich reise. Als ich seinen Serpentine-Pavillon von 2013 in London gesehen habe, war ich fasziniert davon, wie man mit einem weissen Metallstab und ein bisschen Glas so ein wunderbares Gebäude schaffen kann, das nicht nur eine fantastisch fragile, schöne Wolke ist, sondern auch als Pavillon funktioniert. Dieses Überraschungsmoment, wenn eine attraktive Erscheinung mit verblüffender Funktionalität zu­sammenfällt, ist für mich eine Parallele zur Mode.
Bei einem Akris-Kleid geht es um ähnliche Faktoren: Attraktivität, Angemessenheit, Freude an Funktio­na­lität und das Ausreizen der Reduktion in jedem Detail hin zu einer einfachen Erscheinungsform.

TEC21: Wie war die Begegnung mit dem Architekten?
Albert Kriemler: Ich habe mit ihm auf Vermittlung des Fotografen Iwan Baan, mit dem ich befreundet bin, über Skype telefoniert und gesagt, dass ich gern eine Kollektion mit der Inspiration seiner Architektur entwerfen möchte. Und obwohl er keinen Bezug zur Mode hatte, hat es ihn interessiert, seine eigenen Arbeiten in einem anderen Kontext zu sehen. Dieser Vertrauensvorschuss ist eine wichtige Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit. So war es auch mit den Künstlern Thomas Ruff und Carmen Herrera. Das verpflichtet zu grösstem Respekt und zum Einsatz all dessen, was mein Team und ich zu geben haben. Danach haben wir uns zweimal in Paris getroffen und beschlossen, zusammenzuarbeiten. Im Sommer darauf habe ich ihn in Tokio besucht und ihm vorgelegt, was wir entwickelt hatten.

TEC21: Wie finden seine Bauten Eingang in Ihre Kollektionen?
Albert Kriemler: Es war seine Auswahl aus meinen Entwürfen. Seinen Naoshima-Pavillon hatte ich auf meiner Japanreise besucht, das Musikhaus in Budapest war ein Entwurf – wir hatten Lasercut-Technostoffe entwickelt, aber auch eine klassische Broderie Anglaise, in der sich jeweils die geplanten Öffnungen im Dach darstellten. Die Bambusstruktur seines Taiwan Towers – ein unrealisierter Entwurf – wurde zum feinsten Strickgewebe, das wir bis anhin gefertigt hatten. In Anlehnung an sein Miami-Projekt aus blauem Glas habe ich einen Stoff entwickelt, der an blaues Plexi erinnert. Die rote Tinte, mit der er alle Skizzen und Notizen festhält, wurde zu einem feinen Sommertweed. Und ein Foto von Iwan Baan vom «House N», seinem ersten gebauten Haus, wurde zu einem digitalen Fotodruck auf Seide. So gab es acht oder neun Themen um Fujimoto, die dann meine Sommerkollektion formulierten.
Anna Jessen: Du lässt dich inspirieren durch Fujimotos Architekturen, durch Teile seiner Archi­tekturen, durch Wandgestaltung, durch Baustoffe, die er verwendet. Sie werden übersetzt in ein ­Kleidungsstück, das dann in einem Nachbau seiner Räume präsentiert wird. Der Raum und der sich darin bewegende, bekleidete Körper sind plötzlich miteinander verwandt und bauen so eine neuartige, spezifische Raumbeziehung auf.
Albert Kriemler: Das «House N» haben Appenzeller Schreiner aus Trogen für das Defilee massstabsgetreu auf dem Set im Grand Palais in Paris nachgebaut, weil ich mit den Pariser Handwerkern nicht zurechtkam. Die Rekonstruktion wurde zur Bühne für den Laufsteg und zum Eingang für alle Gäste. Sie war das erste Posting der New York Times von diesem Defilee.

TEC21: Gibt es weitere räumliche Interpretationen im Entwurf Ihrer Kollektionen?
Albert Kriemler: Ein schönes Beispiel war die Herzog-&-de-Meuron-Kollektion 2007/2008. Die Materialität und die aussergewöhnliche Gestaltung der Fassade, zum Beispiel des Walker Art Center in Minneapolis oder des de Young Museum in San Francisco, waren für mich die Inspiration. Ich habe versucht, diese aufregende Mehrlagigkeit im Erscheinungsbild der Stoffe zu spiegeln, zum Beispiel mit gebrochenem Aluminium in einer Seidengeorgette-Hülle oder einer St. Galler Spitze, die wie Asphalt aussah.

TEC21: Frau Jessen, wie gehen Sie mit dem Thema Inspira­tionen um?
Anna Jessen: Ich bin fasziniert, wie klar sich eine Kollektion auf eine Inspirationsquelle ausrichten kann. Bei uns Architekten läuft das meist unbewusster und über längere Zeiträume ab. Wir bauen uns einen Referenzraum auf, der durch Werke der Architektur, der Kunst und Alltagskultur geprägt ist. Wenn dann das Programm und der Ort dazukommen, dann muss dieser Referenzraum spezifisch und explizit werden. Das äussert sich dann zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit ruraler Holzarchitektur oder dem Funktionalismus der 1960er-Jahre. Deswegen sehen unsere Häuser und Ensembles auch immer anders aus. Für mich muss ein gutes Stück Architektur am Ort ankommen, auch wenn es neu ist und vielleicht provoziert.
Albert Kriemler: Was bei euch der Ort ist, ist bei mir der Stoff. Der steht im Vordergrund, und es ist schon typisch für uns, dass ich immer zuerst den Griff des Stoffs fühle. Und dann weiss ich, wie sich der Stoff verhält und was ich damit machen kann. Das ist ein Sinn für Haptik, den ich von meiner Grossmutter, der Firmengründerin, und meinem Vater geerbt habe.
Anna Jessen: Wir leben ja in einer sehr visuell dominierten Welt. Und doch behaupte ich, das Erste, was man von Architektur wahrnimmt, wenn man einen Raum betritt, ist es nicht das Visuelle, sondern es ist ein Gemisch aus Licht, Klang, aus Geruch …

TEC21: Könnte man das als Atmosphäre zusammenfassen?
Anna Jessen: Genau. Und manchmal beginnt auch bei uns der Entwurf mit einem Material. Am Schaffhauser Rheinweg haben wir mit einem Stück Holz angefangen und sind danach zum Städtebau gekommen. Nicht weil wir uns das vorgenommen haben, sondern weil ich finde, dass das Wohnen am Wasser sich am besten in Holz ausdrückt, vielleicht weil man an ein Boot denkt. Wenn ich morgens barfuss auf meinen Balkon trete, dann ist ein Stück Holz unter meinen Füssen etwas völlig anderes als ein Stück Beton. Da denke ich wieder, Material und Struktur sind entscheidend, wenn es um die haptische Wahrnehmung geht.
Albert Kriemler: Das Interessante ist die Erscheinung in der Bewegung. Die visuelle Seite der Mode ist für viele das Entscheidende – der «Look» ist ja die Hautpsache in der Mode geworden. Für mich ist das nur ein Aspekt. Es beginnt mit dem Fühlen, und ich glaube, dass sich dieses Gefühl letztlich auf die Körpersprache der Trägerin auswirkt, auf ihre Präsenz. Es ist dieses Denken, das mich in der Arbeit für Akris prägt. Alles zusammen ergibt die Selbst­verständlichkeit, die ich suche – wie du sie wohl auch suchst – beim Tragen und in der Erscheinung.
Anna Jessen: Darin liegt ein grosses Potenzial für die Architektur. Die Wahrnehmung in der Bewegung – des Betrachters, aber auch als Veränderung des Bauwerks durch seine Benutzung, im Tagesverlauf oder im Lebenszyklus. Vielleicht öffnet gerade die ephemere Kunst des Textilen wieder den Blick für die Zeitlichkeit der scheinbar immobilen Architektur.

TEC21, Fr., 2017.10.13



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TEC21 2017|41 Stoff und Raum II – die Arbeit am Textilen

11. August 2017Marko Sauer
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Das Reptil am Stadtrand

Das neue Naturmuseum in St. Gallen von Meier Hug Architekten und Armon Semadeni Architekten bietet Platz und neue Möglichkeiten für die beeindruckende Sammlung des Hauses. Das Museum selbst nimmt Themen und Wesenszüge der Ausstellung auf.

Das neue Naturmuseum in St. Gallen von Meier Hug Architekten und Armon Semadeni Architekten bietet Platz und neue Möglichkeiten für die beeindruckende Sammlung des Hauses. Das Museum selbst nimmt Themen und Wesenszüge der Ausstellung auf.

Fast 140 Jahre war das Naturmuseum am Stadtpark von St. Gallen beheimatet. Architekt Johann Christoph Kunkler (1813 – 1898) entwarf das Haus im Stil der Neurenaissance, von Beginn an beherbergte es das Natur- und das Kunstmuseum. Es gilt als eines der ältesten Museen der Schweiz und zudem als eines der herausragendsten klassizistischen Gebäude. In diesen 140 Jahren erlebte das Natur- und Kunstmuseum eine wechselvolle Geschichte: Trotz seiner kunsthistorischen Bedeutung verkam das Haus zu einer Ruine – die älteren Architekten in St. Gallen erzählen gern Anekdoten, wonach man vom Keller aus den Himmel sehen konnte und die Bäume aus dem Dach sprossen –, und 1971 schloss die Stadt das Gebäude wegen Baufälligkeit. Erst nachdem 1978 mit einer Stiftung der institutionelle Rahmen für den weiteren Betrieb geschaffen war, konnte die Sanierung in Angriff genommen werden.

1987 feierte das Natur- und Kunstmuseum seine Wiedereröffnung, und die Ostschweizer überraschten mit einem mutigen, dezidiert postmodernen Projekt von Architekt Marcel Ferrier, das präzise den Nerv der damaligen Zeit traf. Doch er wies den beiden Institutionen ihren Platz im Haus zu: Erd- und Ober­geschoss gehörten der Kunstgeschichte, die Natur­geschichte wurde im neu erstellten Untergeschoss ­untergebracht. Auch wenn die geschwungenen Räume im Untergrund unbestrittene Qualitäten aufweisen, limitierten sie doch die Entwicklung des Naturmuseums, das mit rund 300 000 Exponaten einiges mehr zu zeigen hätte – ebenso fehlte der Kunst Raum für Ausstellungen.

«3 Museen, 3 Häuser»

Ein erster Wettbewerb für die Erweiterung des Kunstmuseums von 2003 sollte die beiden Institutionen besser entflechten und mehr Platz schaffen. Dafür hätte der Stadtpark umgezont werden müssen, was jedoch an der Urne scheiterte. Die Stadt St. Gallen reagierte darauf mit einer umfassenden Vorwärtsstrategie: «3 Museen – 3 Häuser» lautete das einleuchtend klingende, aber ­politisch schwierig umzusetzende Credo, das neben dem Natur- und Kunstmuseum auch das benachbarte Historische und Völkerkundemuseum (HVM) umfasst.

Grob umrissen beinhaltet die Strategie, dass die drei grossen Museen der Stadt jeweils in einem eigenen Gebäude zu neuer Strahlkraft finden sollen. In einem ersten Schritt ist das HVM zu erneuern, danach folgt ein neues Naturmuseum, und zuletzt wird das Kunstmuseum in eine neue bauliche Zukunft geführt. Die ersten beiden Bausteine sind gelegt: 2014 wurde das HVM umfassend saniert, im November 2016 feierte das neue Naturmuseum seine Eröffnung, und für die Erneuerung des Kunstmuseums erfolgte bereits 2012 ein Wettbewerb. Die Umsetzung des letzten Projektbausteins muss jedoch mit der Finanzierung und der Abstimmung noch politi­sche und gesellschaftliche Hürden nehmen.

Diese Hürden hat das neue Naturmuseum mit Bravour gemeistert: Mit fast 60 % Ja-Stimmen für den Neubau fiel der Entscheid im November 2012 deutlich aus. In diesem Glanzresultat widerspiegelt sich gewiss das Engagement der Walter-und-Verena-Spühl-Stiftung: Das Legat der beiden Ostschweizer Mäzene übernahm 13 der knapp 40 Millionen Franken teuren Baukosten. Die Summe wurde ursprünglich für die Erweiterung des Kunstmuseums gestiftet, nach dem negativen Entscheid an der Urne aber für den Umbau des Naturmu­seums umgewidmet. Denn mit dem Auszug des Naturmuseums erhält auch die Kunst wieder mehr Raum. Genau vier Jahre nach der Abstimmung konnten die St. Galler ihr neues Museum erstmals besuchen.

Botanischer Garten als Nachbar

Für das Naturmuseum wurde eine Parzelle am östlichen Rand der Stadt ausgewählt. Der Ort bietet ideale Bedingungen, denn in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich der Botanische Garten, dessen Infrastruktur das Museum nutzt und dessen Arbeit in die Vermittlung eingebunden wird, auch wenn ihn eine Strasse trennt (Abb. unten). Doch auch ein anderer Nachbar bereichert das Programm: Zwischen der katholischen Kirche St. Maria Neudorf und dem Naturmuseum entsteht ein thematischer Park, der den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie wagt: Mit Schöpfung und Evolutionstheorie treffen hier demnächst zwei Welt­anschauungen aufeinander, die kaum vereinbar scheinen. Der Titel des Museumsparks klingt vielversprechend und deutet mit einem Zitat von Max Frisch einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma an: «Der Mensch erscheint im Holozän.»

Doch umgekehrt vermag das Naturmuseum auch dem Ort selbst Impulse zu geben. Entlang der Rorschacher Strasse löst sich die Stadt langsam auf – ebenso wie die Häuserzeilen, die in St. Fiden und bis zur Haltestelle Neudorf noch geschlossen sind und danach gegen Osten immer grössere Lücken aufweisen. Eine dieser Leerstellen füllt nun das neue Naturmuseum – es bietet einen attraktiven Anziehungspunkt, bevor das Tal, in dem St. Gallen liegt, sich weitet und zum Bodensee hin abfällt.

Passgenaue Lösung für die Lücke

Um ein Projekt für diese sensible Stelle im städtischen Gefüge zu finden, führte die Stadt 2009 einen offenen Wettbewerb durch. Das Siegerprojekt der Architekten-ARGE bot eine passgenaue Lösung, die zwischen den unterschiedlichen Dimensionen vermittelt: Das Naturmuseum reiht sich ein in die Folge von grossen Gebäuden entlang der Rorschacher Strasse, zugleich reagiert es aber mit seinem aufgelösten Volumen auch auf die Körnung der Einfamilienhäuser in seinem Rücken. Durch das vor- und rückspringende Volumen und die daraus resultierenden Platzsituationen trägt das Haus dazu bei, dass ein Stück Öffentlichkeit ent­steht, wo vorher eine Wiese war.

Wollte man das neue Naturmuseum als ein Lebewesen beschreiben, dann gewiss als Chamäleon: Das bewegte Dach gleicht dem gezackten Rücken der exotischen Echse; dank den Kanneluren im Sichtbeton der Fassaden ändert das Haus mit dem Lauf der Sonne seinen Ausdruck, so wie das Reptil die Farbe seiner Haut wechselt; und so mannigfaltig, wie das Chamä­leon in Erscheinung tritt, so vielgestaltig sind die Räume, die das Naturmuseum in St. Gallen bietet.

In einem intelligent angelegten Rundlauf, der über Split-Levels durch das Haus führt, bietet das Museum vielfältige Sammlungen: Die erste Ausstellungsebene bietet Raum für Wechselausstellungen, in den oberen Geschossen ist die Dauerausstellung beheimatet. Dabei evoziert das Museum auch in seinem räumlichen Reichtum die Natur: Analog zu einer Landschaft ändern sich die Höhe der Räume und deren Topografie. Wie bei einer Bergwanderung wechseln sich enge und weite Säle ab: Die beiden eindrücklichsten und wichtigsten Räume sind das Foyer mit der Cafeteria und der grosse Saal rund um das Kantonsmodell. Von einer Galerie aus lässt es sich in der Übersicht betrachten, auf den Wänden rundherum bindet eine expressive Wandmalerei die Exponate ein, die rund um das Modell aufgestellt sind.

Split-Levels im Innern

Im Gebäudeinnern überrascht die Ausrichtung der ­gros­sen Räume: Während von aussen betrachtet die wie aus einem Extruder gepressten, lang gezogenen Giebeldächer eine Ost-West-Richtung vorgeben, entwickeln sich die Split-Levels orthogonal dazu. In den unteren Geschossen kommt dies noch nicht zum Tragen, da die Geschossdecken nicht gerichtet sind. Doch im stützenlosen Oberlichtsaal, wo der Dachverlauf sichtbar ist, verwirrt diese Drehung der Räume: Die statische Struktur scheint der räumlichen Typologie entgegenzulaufen. Doch dies sind Irritationen für Eingeweihte – die Säle mit den prägenden Oberlichtbändern schaffen Raum für die Ausstellung, und besonders das riesige Dinosaurierskelett kommt wunderbar zur Geltung.

Das Naturmuseum St. Gallen ist berühmt für seine Präparate und die Sammlung: Das fast fünf ­Meter lange Nilkrokodil (mit dem 1623 die Sammlung begann), der Höhlenbär vom Wildkirchli und das ­Formicarium, ein lebender Ameisenberg, sind bekannte Highlights und Publikumsmagnete unter den über 300 000 Sammlungsstücken. Neu kommt das 37 m² grosse Kantonsrelief im Massstab 1 : 10 000 hinzu, auf dem die Topografie der Region dargestellt ist und auf dem mit Teleskopen verschiedene Informationen abgerufen werden können. Diese reiche Sammlung konnte im Kunklerbau kaum je gezeigt werden, die Räume waren dafür schlicht zu eng. Zudem sind die Ansprüche des Publikums an die Ausstellungsgestaltung gestie­gen und die Aufgaben des Museums in seiner wissenschaftlichen Dokumentation sowie der Vermittlung von Wissen enorm angewachsen.

Zwischen Natur und Künstlichkeit

Das Museum soll die Vielfalt der Natur darstellen und die Zusammenhänge erklären. Dies beginnt bereits beim Gebäude: Es spielt mit den Begriffen Natur und Künstlichkeit und macht dies bereits mit dem Bau­material zum Thema. Die Fassaden bestehen aus Sichtbeton, in den öffentlichen Räumen im Erd- und ersten Obergeschoss sind die Wände mit Nagelfluh aus Süddeutschland belegt – einem natürlichen Gesteins­kon­glomerat, in dem wie beim Beton einzelne Kiesel und Geröll in einer feinkörnigen Matrix stecken.

Innerhalb der anregenden Raumfolge des Museums bieten inszenierte Themenwelten kleine Lernräume, in denen die Exponate Teil einer Rauminstallation werden. Die Zeiten, in denen ausgestopfte Tiere in neutralen Vitrinen präsentiert werden, scheinen definitiv vorbei zu sein. Auch ein Museum vermittelt das Wissen an seine Besucherinnen und Besucher mit ausgeklügelten Geschichten und erlebnisorientiert: Die Inhalte sind interaktiv und atmosphärisch verpackt, sei es als Höhle des Bären oder als mit Kristallen versetzte Felsgrotten. Dies ist verständlich, da die Museen in harter Konkurrenz zueinander stehen – formal betrachtet geht die verspielte Ausstellungsarchitektur von 2nd West jedoch kaum auf den räumlichen Reichtum ein, den das Haus ihr bieten würde. Die beiden Elemente kommen sich zwar nah, werden aber selten eins. Der Besucher fragt sich, ob nicht die Ausstellung ein integraler Teil der Architektur sein könnte, so wie es mit der Malerei rund um das Kantonsmodell gelungen ist.

Nicht nur Vermittlung, auch Forschung

Trotz der ausgeklügelten Ausstellungsarchitektur stehen jedoch immer noch die Fundstücke aus der Natur und die ausgestellten Tiere im Mittelpunkt. Solche, die sich noch bewegen, wie in der Vogelpflegestation, oder die Präparate, die kunstvoll von den Taxidermisten und Präparatorinnen im Haus hergerichtet wurden. Das Sammeln ist eine der drei Aufgaben des Museums. In den Werkstätten konservieren Fachleute die kleinen und grossen Tiere, in den Kellerräumen lagern die Präparate in riesigen Archivregalen.

Die Arbeit an den Exponaten erfordert ein gerüttelt Mass an Technik und gut ausgebaute Werkstätten: Im Sockelgeschoss befinden sich die Räume, in denen an den wertvollen Präparaten gearbeitet wird und wo im Mazerationsbad Enzyme die Weichteilgewebe der Kadaver für Knochenpräparate zersetzen. Ein Arbeitsbereich, der mit hohen Anforderungen an die Technik einhergeht und der sich im enormen Raumbedarf im Untergeschoss äussert. Gleich hoch waren die Ansprüche bezüglich Energievorgaben: Der Neubau erfüllt die Vorgaben des Labels Minergie-P-Eco.

Die beiden anderen Aufgaben eines Museums sind die Forschung und die Vermittlung. Im modernen, geräumigen Bürotrakt können die Angestellten ihrem Forschungsauftrag nachgehen, der grösste Teil des Museums ist jedoch der Vermittlung gewidmet: Sie belegt 2400 von total 5600 m². Der beiden Mäzene wird mit einem Vortragssaal im Erdgeschoss gedacht, der ihren Namen trägt.

TEC21, Fr., 2017.08.11



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TEC21 2017|32-33 Lokale Museen: Raum und Inhalt

12. August 2016Marko Sauer
TEC21

Unvollendeter Brückenschlag

Mit dem Erweiterungsbau für das Bündner Kunstmuseum in Chur gelingt den Architekten Barozzi/Veiga ein gut gesetzter, expressiver Solitär. Bei der Verbindung zum ebenso qualitätsvollen Bestand aber hapert es.

Mit dem Erweiterungsbau für das Bündner Kunstmuseum in Chur gelingt den Architekten Barozzi/Veiga ein gut gesetzter, expressiver Solitär. Bei der Verbindung zum ebenso qualitätsvollen Bestand aber hapert es.

Die Bündner Identität ist bisweilen eine fragile Angelegenheit: Die Bundesverwaltung zählt das Bündnerland zwar zur Ostschweiz, doch den Kantonen von Schaffhausen bis Glarus fühlen sich die Bündnerinnen und Bündner nicht zugehörig. Vor einigen Jahren wurde für dieses Bewusstsein der Begriff «Südostschweiz» geprägt, der sich aber erst mit dem gleichnamigen Medienhaus verbreitete.

Das kulturelle Selbstverständnis der Bündner hatte im Kunstmuseum Chur immer eine prominente Bühne und die als autochthon erlebte Kultur einen wunderbaren Ort, an dem sie sich manifestieren konnte. Junge Künstlerinnen und Künstler starteten ihre Karrieren als Laureaten des Manor-Kunstpreises mit einer Ausstellung in der Villa Planta – unter ihnen Zilla Leutenegger 2004 oder Mirko Baseglia mit seinem fantastischen Kabinett von verstörenden Objekten, die 2013 auf höchst charmante Art das Bündner Kunstmuseum besetzten.

Im gleichen Jahr fanden auch die beiden Ausstellungen «Ansichtssache – 150 Jahre Architekturfotografie in Graubünden» und die Jahresausstellung der Bündner Künstlerinnen und Künstler statt – all dies formte das Bild des Bündnerlands gegen innen und gegen aussen. Und über alldem thronen die Titanen: Segantini, Kirchner, Giacometti.
Erweitern, aber nicht bedrängen

Das Bündner Kunstmuseum ist das Gravitationszentrum dieser kulturellen Identität und sein Mittelpunkt wiederum die eigenwillige Villa Planta, die Ende des 19. Jahrhunderts für den Baumwollhändler Jacques Ambrosius von Planta erstellt wurde, der aus Alexandria in die Heimat zurückkehrte (vgl. Kasten unten). Das reich verzierte, neopalladianische Gebäude erinnert mit seinem ausschweifenden baukünstlerischen Schmuck an die Villa Patumbah in Zürich (vgl. TEC21 41–42/2013).

Nach dem Umbau 1987–1989 wurde das ehemalige Naturmuseum, der sogenannte «Sulserbau», über eine Passerelle verbunden und für Wechselausstellungen genutzt, das Untergeschoss der Villa diente als katakombenartiges Kabinett. Der nun erfolgte Erweiterungsbau sollte das Bündner Kunstmuseum in eine neue Liga hieven: Um rund 2500 m² Nutzfläche sollte das Haus anwachsen und damit auch die Möglichkeiten, völlig anders ausgerichtete Ausstellungen zu zeigen.

An dieses Programm, das einen Zuwachs zum Bestand von rund 140 Prozent bedeutet, haben sich 18 Teams im selektiven Wettbewerb gewagt. Die zentrale Aufgabe bestand darin, der Villa Planta einen Nachbarn an die Seite zu stellen, der mit ihr zwar eine Einheit bildet, sie aber nicht zu sehr bedrängt. Unter dem Titel «Die Kunst der Fuge» haben die Architekten Barozzi/Veiga aus Barcelona ihr Siegerprojekt abgegeben – die namensgebende Fuge bezog sich ebenso auf das Verhältnis zum Stammhaus wie auf die Fügung der Fassaden aus vorgefertigten Betonelementen.
Gut gesetzt, aber schlecht verbunden

Die Erweiterung zeigt eine überzeugende Lösung für die gestellte Aufgabe: Die zwei Ebenen der Ausstellung sind im Boden versenkt, wodurch im Stadtraum ein gut proportioniertes Volumen übrig bleibt, das Distanz zum Stammhaus wahrt und dennoch seine Selbstständigkeit behält. Im Schnitt zeigt sich die Konsequenz dieser klaren Haltung: Der oberirdische Teil umfasst lediglich einen Bruchteil des Volumens.

Was sich bereits im Wettbewerb andeutete, wurde mit der Umsetzung belegt: Das Gebäude fügt sich sehr gut in diese Ecke der Stadt. Ebenso gelungen sind die abstrakt ausgeführten Fassaden mit Betonelementen. Ihre wenigen, präzise gesetzten Öffnungen unterstützen die beinahe sakrale Erscheinung der aus profilierten Quadern gefügten Oberfläche. Die Verkleidung der Fassaden wechselt ab zwischen geschlossenen Teilen und durchlässigen, hinter denen sich Fenster verbergen.

Auf diese Weise treten auf den ersten Blick lediglich die Öffnungen im Erdgeschoss in Erscheinung: der in eine betonierte Laibung gefasste Eingang, ein liegendes Fensterband im betonierten Sockel gegen Osten und das geschosshohe Panoramafenster zur Villa Planta. Die Architekten berufen sich in ihrem Entwurf wiederholt auf Eigenschaften der Villa Planta: Symmetrie und Ornament sind die beiden Begriffe, die in ihrem Erläuterungsbericht wie auch bei der Führung vor Ort immer wieder fallen.

Um diese Themen kreist der Entwurf der katalanischen Architekten, dank ihnen verknüpfen sie Bestand und Neubau. Doch in welcher Gestalt tauchen diese beiden Motive in der Erweiterung auf? Erschöpft sich die Verwandtschaft in der Narration des Entwurfs, oder führen die beiden Begriffe zu einer tieferen Verbindung der beiden Häuser? Die Verwandtschaft ist zwar nachvollziehbar, aber es fällt schwer, sie auch nachzuempfinden.

Die Symmetrie der Villa Planta ist fein moduliert und der Eingangsbereich zur Bahnhofstrasse ist als Portikus ausgebildet – ein Element, das die Architekten mit ihrem scharf geschnittenen Portal aus Beton aufnehmen und damit ihr Haus auf die Grabenstrasse ausrichten.

Auch der Blick auf die Grundrisse zeigt eine Verwandtschaft bezüglich Symmetrie, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: In der Villa sind die Räume rund um ein zentrales Treppenhaus als Enfilade angeordnet, während im Erweiterungsbau durchgehende Säle zwischen den beiden raumhaltigen Schichten liegen.

Dies führt dazu, dass die oberirdischen Räume der Erweiterung über die Längsseite betreten werden, was zwar in den Obergeschossen mit Labor (Wechselausstellung, 1. OG), Museumspädagogik (2. OG) und Werkstätten (3. OG) durchaus funktioniert, in der Eingangshalle jedoch zu Irritationen führt: Gegen Osten geht der Blick in die banale Ecke zwischen Zeughaus- und Grabenstrasse, nach Westen ist auf der ganzen Breite die Rückseite der Villa Planta zu sehen.

Just an dieser Stelle stand früher die Passerelle, die das Stammhaus mit dem für den Neubau abgerissenen Sulserbau verband. Sie war eines der zentralen Elemente im Umbau von 1987–89 von Peter Calonder, Hans-Jörg Ruch (der auch in der Jury für den Wettbewerb der Erweiterung sass) und Urs Hüsler sowie Peter Zumthor – und sie war ein sehr poetisches Bauteil.[01]

Es mag eine Sentimentalität sein, dass diese Leerstelle dem Besucher schmerzhaft ins Auge sticht, doch die Panoramafenster richten den Blick auf ein Manko des Entwurfs: die Anbindung an die Villa. Diese will auf der Ebene der Details nicht gelingen, denn die vollflächige Pflasterung mit Bundsteinen rund um die Erweiterung findet keine Entsprechung im Kiesbelag des Haupthauses.

Eine kniehohe Mauer schneidet zudem das neue Haus aus dem Geviert heraus – eine verpasste Chance, wenn man bedenkt, wie gut sich das Volumen sonst in seine Umgebung einfügt. Als Fremdkörper wirkt zudem ein bündig in den Kiesbelag eingelassenes und mit einem Ornament versehenes Glas vor dem Sockel der Villa: Es ist das Oberlicht über dem Verbindungsgang zum Altbau.
Räume wie Versprechen

In den unterirdischen Ausstellungsgeschossen zeigt sich das Konzept von Barozzi/Veiga vielgestaltig und variantenreich. Eine zusätzliche Raumschicht umgibt die beiden Kerne, und im 1. Untergeschoss folgt eine Enfilade von neutralen, länglichen Ausstellungsräumen, in deren Decken grosse Leuchtenfelder eingelassen sind. Die Decken leuchten die Säle als Grundbeleuchtung aus, rund um die Felder sind Schienen eingelassen, an denen bei Bedarf Spots und Projektoren hängen.

Als Leuchtmittel dienen im gesamten Haus LED-Leuchten, die ein überraschend angenehmes Licht verbreiten: Lediglich wenn sie gedimmt werden – wie dies bei der grafischen Sammlung der Fall ist –, hat das Licht einen eigenartigen Stich ins Graue. Die Detaillierung ist abstrakt gehalten: Nur wenige Installationen stören die glatten weissen Wände. Zwischen den Stützmauern und den Ausstellungswänden verläuft eine umlaufende Installationsschicht, in der die Medien geführt werden.

Das 1. Untergeschoss mit seinem kammerartigen Grundriss beherbergt die Sammlung. Da die Trennwände entfernt werden können, bietet es Raum für unterschiedlich grosse Ausstellungen mit verschiedenen Konzepten. Die Architekten präsentieren hier zeitgemässe Ausstellungsräume auf Augenhöhe mit anderen Häusern. Ihr wahres Potenzial zeigen die Räume aber im 2. Untergeschoss, in dem die trennenden Wände weggelassen wurden und der Raum sich rund um die beiden Kerne herum entwickelt.

Im Teil mit den Wechselausstellungen beweist das Team um Museumsdirektor Stephan Kunz eindrücklich, dass es diese neuen Räume auch zu nutzen versteht. Die Eröffnungsausstellung «SOLO WALKS» wartet mit grossformatigen Werken auf, die viel Platz benötigen: Im Bündner Kunstmuseum wird in Zukunft mit der grossen Kelle angerührt.
Die Kunst solls richten

Besonders interessant ist auch in den Ausstellungsgeschossen die Verbindung zum Altbau. Was sich an der Oberfläche abzeichnet, wiederholt sich im Untergeschoss: Die Anbindung an die Villa Planta ist nicht mit der gleichen Konsequenz und Liebe zum Detail gelöst wie die restliche Erweiterung.

Das Konzept lässt sich keinem der beiden Häuser zuordnen: Das bereits erwähnte Glas mit geometrischem Muster dient als Oberlicht über dem Verbindungsgang, die Treppe vermag weder die räumlichen Qualitäten der Erweiterung zu transportieren noch diejenigen der Villa Planta aufzunehmen. Mehr noch, in der neuen Halle im Untergeschoss der Villa stellt sich zum zweiten Mal ein Phantomschmerz ein: Der ehemals eigenwillige, katakombenartige Raum ist einer sterilen Halle mit einer Tendenz zum Monumentalen gewichen.

Auch hier schliesst wieder ein geätztes Glas die Decke ab, diesmal geht der Blick durch ein Motiv, das den Bodenplatten nachempfunden ist, nach oben ins Atrium der Villa.

Die Instandstellung der Villa Planta wurde in einem separaten Verfahren ausgelobt: Das Planerwahlverfahren gewann das Büro Gredig Walser Architekten AG aus Chur. Es musste die Anforderungen der unterschiedlichen Nutzungen (Ausstellung, Cafébetrieb, Verwaltung) mit der Ertüchtigung bezüglich Brandschutz, Feuchteschutz und dem Ersatz des Dachs vereinen.

Das Resultat ist in sich ebenso überzeugend wie der Erweiterungsbau, doch die Verbindung der beiden Häuser ist noch nicht vollzogen. Vielleicht gelingt dieser Spagat folgenden Generationen Bündner Künstlerinnen und Künstler – Brücken zu bauen ist schliesslich auch wesentlicher Teil ihrer Kultur.


Anmerkung:
[01] Der Churer Bauingenieur Patrick Gartmann konnte die Passerelle retten. Momentan wartet sie auf einer Brache auf einen neuen Einsatz.

TEC21, Fr., 2016.08.12



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TEC21 2016|33-34 Kunstmuseen, erweitert

20. Mai 2016Susanne Frank
Marko Sauer
TEC21

«Wir bauen Brücken zu Politik, Planung und Forschung»

Die Stadt der Gegenwart hält sich nicht an politische Grenzen. Sie entwickelt sich als Funktionalraum. An der Schnittstelle zwischen Gemeinden, Regionen und Kanton unterstützt die Regionalplanung Zürich und Umgebung ihre Mitglieder bei der Entwicklung dieser Räume. Deren Direktor Angelus Eisinger zieht nach drei Jahren eine erste Bilanz.

Die Stadt der Gegenwart hält sich nicht an politische Grenzen. Sie entwickelt sich als Funktionalraum. An der Schnittstelle zwischen Gemeinden, Regionen und Kanton unterstützt die Regionalplanung Zürich und Umgebung ihre Mitglieder bei der Entwicklung dieser Räume. Deren Direktor Angelus Eisinger zieht nach drei Jahren eine erste Bilanz.

TEC21: Herr Eisinger, was ist die originäre Aufgabe der Regionalplanung Zürich und Umgebung (RZU)?

Angelus Eisinger: Die RZU ist als Planungsdachverband im Kernraum der Metropolitanregion Zürich tätig. Sie hat aber als privatrechtlicher Verein keine hoheitlichen Kompetenzen wie etwa das Amt für Städtebau der Stadt Zürich oder das kantonale Amt für Raumentwicklung. Das macht die Einrichtung so besonders und schafft der Planung ungewöhnliche Optionen auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Entwicklung des Funktionalraums.

TEC21: Wie sehen diese Optionen aus? Was macht die RZU anders als andere Organisationen?

Angelus Eisinger: Im Grunde verstehen wir uns als «empathische Beobachter» der räumlichen Entwicklung. Als Institution, die permanent präsent ist und mitdenkt, die aber nicht direkt ins Geschehen involviert ist. Daraus ergibt sich eine grosse Freiheit in der Betrachtungsweise. Diese Freiheitsgrade wollen wir zugunsten der Regionen und Gemeinden im RZU-Gebiet nutzen. Wir verstehen uns dabei als Plattform und Netzwerk, das die doppelte Rolle eines alltagsnahen Thinktanks und eines vielfältigen Vermittlers ­zwischen Politik, Planungspraxis und Forschung einnimmt.

TEC21: Das hört sich nach einer komplexen Aufgabe an. Wie bringen Sie das Wissen auf den Boden?

Angelus Eisinger: Die Ergebnisse aus unseren Prozessen sollen so aufbereitet werden, dass sie von den Regionen und Gemeinden in der Praxis umgesetzt werden können. Unsere Arbeitsweise lässt sich als Zyklus beschreiben. Dieser setzt bei den Fragestellungen und Herausforderungen der konkreten Praxis an und endet wieder dort. Dazwischen wechselt aber die Bearbeitung dieser Aufgabenstellungen auf die abstraktere Ebene der Expertenkompetenz und der Recherche, um den konkreten Fragestellungen und Orten in unserem Gebiet angemessener begegnen zu können.

TEC21: Sie haben eine Stelle als Professor an der HafenCity Universität in Hamburg verlassen, um Direktor ­der RZU zu werden. Weshalb sind Sie gewechselt?

Angelus Eisinger: Es war ganz wesentlich eine inhaltliche Motivation, die mich zum Wechsel bewogen hat. Über die letzten Jahre haben mich immer mehr Fragen ­der Funktionalräume beschäftigt, die in den letzten ­50 bis 60 Jahren entstanden sind. Für eine nachhaltige Weiterentwicklung dieser urbanisierten Landschaften zwischen Dorf, Agglomeration und Stadt reichen die gängigen Planungsansätze und tradierten Leitvorstellungen wie Urbanität nicht aus. Unter den Vorzeichen der Innenentwicklung, der Verdichtung und der Entwicklung im Bestand hat sich das Vakuum bezüglich geeigneter Ansätze noch einmal akzentuiert.

TEC21: Mit welchen Methoden muss man solche Probleme angehen?

Angelus Eisinger: Es braucht Ansätze und Vorgehensweisen, die gezielt unterschiedliche Kompetenzen und Methoden verbinden. Solche Fragen aus einer strategischen, aber immer praxisnahen und praxisbezogenen Perspektive heraus zu bearbeiten reizt mich. Als Institution im Dreieck zwischen Planung, Politik und Forschung ist die RZU einmalig. Die Übernahme der Leitung der RZU sah ich deshalb als aussergewöhn­liche Gelegenheit. Dabei erachtete ich es als gute Startbedingung für meine neue Tätigkeit, dass ich mit dem Grossraum Zürich inhaltlich, institutionell und bezüglich wichtiger Stakeholder schon sehr vertraut war.

TEC21: Sie sind seit drei Jahren RZU-Direktor. Was haben Sie seither verändert?

Angelus Eisinger: Wir haben in dieser Zeit die Ausrichtung und die Arbeitsweisen der Geschäftsstelle justiert, neue Angebote entwickelt und eine ganze Palette von aktuell drängenden Themen in Angriff genommen, so unter anderem zur Zukunft der Ortszentren, zur Kulturlandschaft, zur Weiterentwicklung der Testplanung oder einer gesamträumlichen Betrachtung der Wohnungsfrage.

TEC21: Themen mit einer beachtlichen Flughöhe.

Angelus Eisinger: Das ist richtig. Gleichzeitig sind dies alles Themen, die der Praxis unter den Finger brennen. Im Tagesgeschäft ist oft die Zeit nicht vorhanden, diesen Fragen in der angemessenen Tiefe nachzugehen. An diesem Punkt setzen wir mit unseren Arbeiten an. Charakteristisch für unsere Arbeitsweise ist, dass wir die Inhalte gemeinsam mit den Verantwortlichen in Politik und Behörden entwickeln und vermitteln. Wir möchten so das reiche Erfahrungs- und Prozesswissen der Praktiker in Planung, Politik und Behörden aktivieren. Deshalb wollen wir auch die Erkenntnisse unserer Reflexionsprozesse Schritt für Schritt im Sinn des oben angesprochenen Zyklus wieder in die Praxis zurückführen. Mit dieser gezielten Vernetzung von Praxis, Politik und Wissenschaft arbeiten wir an einer eigentlichen Lücke in der Planung.

TEC21: Woher stammt diese Lücke?

Angelus Eisinger: Bislang existieren in Verwaltung, Planung und Hochschulen jeweils parallele Wissenskulturen mit meist nur punktuellen und wenig systematischen Begegnungen zwischen diesen Kompetenz- und Erfahrungsbeständen.

TEC21: Und was tun Sie dagegen?

Angelus Eisinger: Kurz gesagt: Wir möchten Brücken schlagen, indem wir Austausch- und Denkräume schaffen, um Politik und Planung fokussiert und themenorientiert zu vernetzen und mit externen Experten und Expertinnen und der Forschung zu verbinden.

TEC21: Sie füllen sozusagen die Lücke aus, die sich in der hoheitlichen Arbeitsteilung zwischen Gemeinden, Regionen und Kanton ergibt?

Angelus Eisinger: Genau. Wir betrachten die räumlichen funk­tionalen Zusammenhänge aus einer anderen, etwas unabhängigeren Warte, die aber mit dem Hoheitlichen vertraut ist. Als Planungsdachverband haben wir die funktional zusammenhängenden Räume in all ihren Facetten im Blick. Damit rücken diese aus meiner Sicht interessantesten, aber auch herausforderungsreichsten Räume in den Fokus.

TEC21: Und wie agiert die RZU in diesem Funktionalraum?

Angelus Eisinger: Wir bringen einmal das Wissen zwischen den Partnern zusammen und ergänzen es gezielt. Wir suchen weiter einen Rahmen, um die einzelnen, sehr heterogenen Teilräume in Stadt, Land oder Region ihrem Charakter entsprechend weiterzuentwickeln. Die Reinformen von Landschaft, Dorf und Stadt gibt es in unserem Raum nicht mehr.

An ihre Stelle sind unzählige neue, wenn Sie so wollen, hybride Verbindungen getreten. Auf diese müssen wir uns einlassen. Infrastrukturprojekte wie die S-Bahn, die Limmattalbahn oder landschaftliche Projekte wie der Agglo-Park oder der «fil bleu» im Glatttal haben hier wich­tige Zeichen gesetzt.

TEC21: Wie finden Sie Ihre Themen? Kommen die Mitglieder auf Sie zu, oder suchen Sie autonom nach interessanten Fragestellungen?

Angelus Eisinger: Wir handeln vergleichbar zu einem Seismografen oder einem Radar. Da geht es primär darum, aufmerksam zu beobachten, zuzuhören, die Alltags­arbeit der Gemeinden und Regionen und ihre Herausforderungen kennenzulernen. Es geht aber auch darum, die fachlichen und wissenschaftlichen Debatten zu verfolgen. Aus diesen Quellen ergeben sich die Themen und Aufgaben, denen wir nachgehen.

Die RZU bietet den Vorzug, dass wir kontinuierlich im gleichen Raum in unseren Netzwerken und zusammen mit den Akteuren vor Ort arbeiten können. Das schafft Nähe, Vertrautheit und Kontinuität, wie sie zum Beispiel der Hochschulforschung nicht möglich sind.

TEC21: Wie kann man das verstehen? Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Angelus Eisinger: Die Studie «Räume zur Alltagserholung» zeigt das sehr gut. Wir haben uns damit ein Thema vorgenommen, das entscheidend zur Lebensqualität in und um Zürich beitragen kann. Massnahmen, die die Erholungsqualität in siedlungsnahen Räumen steigern, bedürfen häufig eines vergleichsweise bescheidenen Mitteleinsatzes. Allein: Diese Option ist noch viel zu wenig bekannt, und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Begeisterung dafür zu wecken.

TEC21: Steht das Thema bisher noch nicht auf der Agenda der Verwaltung? Und wie wollen Sie diese Begeisterung anfachen?

Angelus Eisinger: Das Projekt illustriert unsere Arbeitsweise sehr gut: Wir stossen gemeinsam mit unseren Mitgliedern auf interessante Phänomene, analysieren sie und überlegen, welches Potenzial zur Bereicherung der Planungspraxis besteht. Dann ziehen wir externe Experten bei, in diesem Fall Landschaftsarchitekten, die das Thema in engem Austausch mit uns weiterentwickeln. Den letzten Schritt macht dann die praxisnahe Aufbereitung durch entsprechende Dokumentationen, aber auch durch Workshops oder thematische «Expeditionen» wie auch öffentliche Veranstaltungen.

TEC21: Welche weiteren Dienstleistungen bietet die RZU denn konkret für die Gemeinden und Regionen an?

Angelus Eisinger: Neben Weiterbildungsangeboten oder Unterstützung bei aktuell anstehenden Themen, den Plattformen des Austauschs und den Projekten gibt es seit vergangenem Sommer ein Beratungsangebot, das unsere Regionen und Gemeinden bei strategischen Fragen zielgerichtet unterstützen soll. Dabei stehen die Vorphasen von Planungsvorhaben im Zentrum.

TEC21: Welche Ziele verfolgen Sie damit?

Angelus Eisinger: Wir möchten unsere Mitglieder dabei unterstützen, dass sie die Aufgaben, die sich für sie konkret vor Ort stellen, in der gebotenen Breite und Tiefe bearbeiten können. Der Einstieg geschieht über einen Augenschein, über den Austausch mit den Verantwortlichen einer Gemeinde oder einer Region und über das Studium von Unterlagen. Auf diesen Grundlagen entwickeln wir dann unsere Vorschläge, spiegeln sie zurück, entwickeln sie auf Basis der Rückmeldungen weiter.

TEC21: Das deckt sich doch weitgehend mit dem üblichen Vorgehen einer Gemeinde.

Angelus Eisinger: Das mag auf den ersten Blick banal erscheinen. Entscheidend ist aber der Fokus unserer Beratungstätigkeit: Die Erfahrung zeigt nämlich, dass den Planenden und politisch Verantwortlichen bei der Formulierung und Plausibilisierung der Fragestellung oft das Gegenüber fehlt, um die Aufgabe richtig eingrenzen zu können. Für solche Formen von ­gemeinsamer Reflexion gibt es keinen Markt. Wir beraten gänzlich ohne Eigeninteresse. Wenn die Frage plausibel und präzisiert ist, ziehen wir uns wieder zurück und überlassen das Feld den gängigen Akteuren der Planung.

TEC21: Die grenzüberschreitende Planung stellt eine grosse Herausforderung dar. Wie gehen Sie damit um?

Angelus Eisinger: Tatsächlich halte ich die grenzüberschreitende Planung für eine Schlüsselaufgabe, die bislang ganz allgemein zu wenig behandelt wird. Dementsprechend nehmen wir uns dieser Dimension in verschiedenen Projekten an. Bei unserem Beratungsangebot geben wir den Gemeinden und Regionen die Möglichkeit, gemeinsam Planungsfragen auch über deren Grenzen hinweg anzugehen. Dabei zeigt sich ein grundlegender Aspekt der Planung heute: Sie kann nicht mehr in einer ausschliesslich hierarchischen Struktur politischer Zusammenhänge gelingen, sondern sie verlangt nach dem Austausch mit allen relevanten Akteuren.

TEC21: Dazu fehlen uns heute aber noch entsprechende Werkzeuge, die den Dialog zwischen den hoheit­lichen Ebenen ermöglichen würden.

Angelus Eisinger: Das sehe ich auch so. Wir brauchen neue Arbeits- und Austauschformen zwischen den planenden Disziplinen, der Politik und den Behörden, aber auch neue Formen des Einbezugs der übrigen Stakeholder. Diese Modi muss die Planung erst noch erlernen.

TEC21: Hat sich der Rahmen der Planung verändert?

Angelus Eisinger: Ich bin davon überzeugt, dass die nachhaltige Transformation des Funktionalraums und seiner urbanen, suburbanen und ländlichen Teilräume nicht primär mit Macht zu tun hat, sondern vor allem aus Dialog resultiert. Der Grund dafür ist einfach: Bisher konnte sich Planung darauf verlassen, dass sie die Flächen, um die es geht, kontrollieren kann. Genau diese Voraussetzung ist aber im Zeitalter der Innenentwicklung nicht mehr durchwegs gegeben. So bestehen in und um Zürich praktisch keine Möglichkeiten der Aussenentwicklung auf der «grünen Wiese» mehr, die Kapazitäten der Bauzonen sind zu 90 bis 95 % ausgeschöpft.

TEC21: Gibt es Modelle, die Hinweise darauf liefern könnten, wie solche Aufgaben anzugehen sind?

Angelus Eisinger: Ich möchte an dieser Stelle zwei Projekte hervorheben, bei denen wir vielversprechende ­Planungsansätze bzw. Realisierungen unter die Lupe genommen haben. Zum einen haben wir das Instrument der Testplanungen untersucht und uns ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme nach weiteren Methoden und Konzepten umgeschaut, ­um den anstehenden Herausforderungen in den Gemeinden und Regionen planerisch gerecht werden zu können. Wir sind dabei, diese Palette auszuwerten und für die Praxis aufzubereiten. Andererseits haben wir über eine europaweite Umfrage interessante Realisierungen in der Stadt- und Raumentwicklung erfragt. Die Hinweise dazu kamen aus so unterschiedlichen Bereichen wie der Landschaftsentwicklung, der Verkehrspolitik, der sozial sensiblen Transformation im Bestand oder neuen Formen der Kooperation.

TEC21: Was kann man daraus für die weitere Entwicklung des Zürcher Grossraums lernen?

Angelus Eisinger: Zunächst ist es wichtig, über den Tellerrand hinaus zu schauen und das Gewohnte und Vertraute kritisch zu beleuchten. Es gibt europaweit viele Beispiele für unterschiedliche Herangehensweisen. So ist in Kopenhagen die Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohnern seit Langem ein selbstverständlicher und elementarer Bestandteil jeglicher Planung. Im Sinn einer möglichst frühen und intensiven Aus­einandersetzung werden sie als spezifische Experten des urbanen Alltags verstanden und in die Strate­­gie- und Konzeptentwicklung miteinbezogen.

TEC21: Partizipation wird auch in der Schweiz zunehmend erprobt. Gibt es noch überraschendere Ansätze?

Angelus Eisinger: Es gibt Projekte, die Dinge vereinen, die im Zürcher Kontext als absolute Widersprüche erscheinen. Zum Beispiel betreibt in Antwerpen die Stadt Quartiersentwicklung, indem sie die Eigentumsverhältnisse verändert. Sie hat eine Entwicklungsgesellschaft unter dem Namen AG Vespa gegründet. Diese saniert prekäre Quartiere über Neu- und Umbau­projekte und zeitgemässe Architektur. Die AG Vespa verkauft die Objekte dann zu Konditionen wie vor der Planung, allerdings mit Auflagen, die der Spekulation entgegenwirken und das Leben im Quartier stärken. Unsere Beispielsammlung umfasst mittlerweile weit über 300 Einträge. Ein wegweisendes Beispiel wie das Antwerpener lädt uns dazu ein, nach den Bedingungen und Voraussetzungen seiner Entstehung zu fragen und zu überlegen, wie ein Transfer solcher Qualitäten in unsere Planungspraxis gelingen kann.

TEC21: Wie wird sich die RZU in Zukunft entwickeln? Haben Sie noch weitere Ziele, die Sie erreichen möchten?

Angelus Eisinger: Wir haben ja im Grunde gerade erst begonnen. Ich sehe zwei unserer prägenden Schwerpunkte auch zukünftig darin, unabhängig und uneigennützig zu unterstützen und zu beraten bzw. die vorhandenen Kompetenzen und Erfahrung im Raum produktiv zu vernetzen. Die RZU muss dazu ihre Funktion als Vermittlerin und Drehscheibe weiter ausbauen und stärken. Ihr Fokus wird die Planungspraxis im Funktionalraum bleiben. Damit will sie für ihre Mitglieder mitten in den Baustellen und konkreten Laboren der Stadt der Gegenwart tätig sein, fokussiert und mit einer weiten Perspektive. Hierin sieht die RZU als Verband und als Geschäftsstelle ihren Schlüsselbeitrag zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung des RZU-Gebiets.

TEC21, Fr., 2016.05.20



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22. April 2016Marko Sauer
TEC21

Luxus des Einfachen

Kast Kaeppeli Architekten haben in Bern ein bescheidenes Arbeiterhaus umgebaut. Die beengten Grundrisse waren eine Herausforderung, ­doch sie erwiesen sich als treibende Kraft. Eine Subtraktion brachte die Lösung: Ein präziser Eingriff schaffte Raum für überraschende Qualitäten.

Kast Kaeppeli Architekten haben in Bern ein bescheidenes Arbeiterhaus umgebaut. Die beengten Grundrisse waren eine Herausforderung, ­doch sie erwiesen sich als treibende Kraft. Eine Subtraktion brachte die Lösung: Ein präziser Eingriff schaffte Raum für überraschende Qualitäten.

Bei einem Umbau sind die Leitplanken des Entwurfs enger gesteckt als bei einem Neubau. Der Bestand bildet den Rahmen, in dem sich das Projekt entwickeln kann. Neben den üblichen Einschränkungen wie den Baukosten, Baugesetzen, Sicherheitsauflagen und statischen Gegebenheiten bildet die physische ­Präsenz des Gebäudes eine unumstössliche Realität, mit der sich der Entwurf arrangieren muss, an der er aber auch wächst.

Dies kann rebellisch bis ironisch ausfallen, wie bei den «jungen Wilden» in Belgien, namentlich architecten de vylder vinck taillieu und 51N4E. Oder aber die Reaktion auf den Bestand führt dazu, dass die Historie aufgenommen und elegant weitergeführt wird. Der Wiederaufbau des Ostflügels am Museum für Naturkunde in Berlin von Diener & Diener zeigt diese Herangehensweise ebenso wie die Neuinterpretation von Mustern in Putzfassaden von Hild und K Architekten in München. Wie auch immer die Strategie ist – die Konzepte reiben sich am Bestand und führen zu einer Synthese, die ohne den Dialog mit dem bestehenden Gebäude undenkbar wäre. Erst in Kombination mit einem Haus, an dem sich die Gedanken wetzen und schärfen können, entsteht ein neues Drittes.

Leben im alternativen Quartier

Dieses Dritte kann seine Wirkung auch weit unspektakulärer entfalten als in den oben aufgeführten Beispielen. Im Bestand kann ungenutztes Potenzial schlummern, das erst durch eine sorgfältige Lektüre erkannt und aktiviert werden muss. Bei grossbürgerlichen ­Villen und verschrobenen Altstadthäusern fällt dies naturgemäss leichter als bei ärmlichen oder gar kargen Gebäuden. Dementsprechend ist die Freude und Überraschung grösser, wenn unverhoffte Qualitäten zum Vorschein treten. Beim Umbau an der Jurastrasse 59 in Bern war genau dies der Fall.

Das unscheinbare Haus gehört zu einem Ensemble aus vier Gebäuden und steht im Berner Lorraine­quartier. Eingeklemmt zwischen den Viadukt der SBB, auf dem die Züge Richtung Wankdorf gegen Osten verbeirollen, und der Aare mit dem nahe gelegenen Freibad bietet der Ort in direkter Nachbarschaft herausragende Qualitäten wie auch Faktoren, die den Aufenthalt beeinträchtigen. Neben dem Schatten und den Emis­sionen des Bahnviadukts stört vor allem eine Hochspannungsleitung, die zwischen dem Haus und der Aare steht. Sie gehört zum Dotierwerk Engehalde, das «Energie Wasser Bern» auf der gegenüberliegenden Ufer betreibt.

Und doch ist die Lorraine ein sehr beliebtes Quartier. Es ist im 18. Jahrhundert als Folge des Bahnlinienbaus entstanden und erfüllt einige der Klischees, die Aussenstehende der Stadt Bern gern anhängen: Ein nonchalanter Umgang mit dem Aussenraum weist auf ein reges und vergleichsweise ungezwungenes Leben hin. Auf dem Weg vom Helvetiaplatz in Richtung Aare­ufer hängen Reggae-Beats in der Luft: Sie dringen aus dem Studio des Lokalsenders Radio RABE.

Suffizienz avant la lettre

In den Häusern lebten und leben heute noch oft Arbeiterfamilien – auch wenn dort ebenfalls die Gentrifizierung langsam um sich greift und die finanziell schwächeren Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Quartier drängt. Um dieser schleichenden Entwicklung etwas entgegenzusetzen, sollte das Haus an der Jurastrasse – das sich im Vermögen der Stadt Bern befindet – auch weiterhin günstigen Wohnraum bieten.

Die Ausgangslage war herausfordernd: Auf jedem Stock des 14.5 × 8 m messenden Grundrisses waren vier Wohnungen von etwa 25 m² Fläche angeordnet. Die Erschliessung erfolgte über den Laubengang gegen die Aare hin. Von diesem Laubengang aus führte ein durchgehender Korridor ins Gebäude und trennte das Haus in zwei Hälften. Die Kleinstwohnungen wurden über die Küchen betreten, die in einer parallel zum Korridor liegenden Raumschicht untergebracht waren. Erst danach folgten die annähernd quadratischen ­Zimmer mit einer Grösse von 16 m².

Die Wohnungen waren sehr beengt und bescheiden: ein Vorläufer der Suffizienz, der allerdings der wirtschaftlichen Not geschuldet war. Das planerische Schlagwort der Stunde liesse sich in diesem Zusammenhang eher mit «Einschränkung» als mit «Genügsamkeit» übersetzen.

Die Wie-viele-Zimmer-Wohnung

Wie kann man einer Wohnung unter diesen Verhältnissen Qualität abringen? Mit viel Instinkt für räumliche Zusammenhänge haben Kast Kaeppeli Architekten die Enge der Grundrisse in eine Stärke des Projekts verwandelt. Thomas Kaeppeli beschreibt den entscheidenden Moment, der ihren Entwurf beeinflusste: «Als wir die Wohnung besichtigt hatten, standen alle Türen offen, und der Blick quer zum Korridor war frei. Dabei entdeckten wir den Reiz, der in der Verbindung der Schichten liegt.» Die Strategie lautete also, die Durchlässigkeit zwischen den Räumen auszureizen und die Anzahl der Verbindungen zu erhöhen.

Die Trennwände zwischen den Küchen sind verschwunden, der Eingang um eine Achse zum offenen Treppenhaus hin gerutscht: Das Resultat ist eine Wohnung, von der man nicht sagen kann, wie viele Zimmer sie genau hat. Die mittleren drei Schichten üben einen enormen räumlichen Reiz aus und gehören zu einem Grundriss, den man sich «from scratch» wohl kaum zu entwerfen getrauen würde.

Lob dem Spezifischen

Auch wenn das Thema der Durchschusszimmer bekannt und weidlich durchexerziert ist, entstand in der Jura­strasse aufgrund der Dimensionen des Raums eine einmalige Lösung. Der mittlere Gang ist lediglich 1.20 m breit, seine Nutzung wurde um 90° gedreht: Man ­durchschreitet ihn in Gegenrichtung, während an den Enden Bad und Toilette untergebracht sind – getrennt lediglich durch eine Falttüre. In den Details hat das «Badezimmer» viel Aufmerksamkeit erhalten. Das Feinsteinzeug ist von hoher Qualität und aufwendig verlegt; ein umlaufendes Fries fasst die diagonal angeordneten Bodenplatten.

Die parallel zum ehemaligen Korridor verlaufenden Zimmer sind in ihren Proportionen weniger pointiert als das Bad, doch sie fallen immer noch reichlich eng aus. In ihnen findet ein Tisch gut Platz – allerdings darf auch er nicht allzu breit sein.

Die Erfahrung weiter nutzen

Dieser Umbau ist bemerkenswert, da die Grundrisse sich ebenso vom Einheitsbrei der 4.5-Zimmer-Wohnungen abheben wie von den seltsam unbestimmten Experimenten mit Clusterwohnungen. Dem vorliegenden Beispiel kommt zugute, dass die Leitplanken sehr eng gelegt waren und der räumliche Befreiungsschlag eine Erfindung nötig machte, die spezifisch auf die Gegebenheiten vor Ort eingeht. Die eigenwilligen Proportionen erzeugen einen Raum, der an die Obergeschosse der durchgesteckten Wohnungen in den Unités d’Habita­-tion von Le Corbusier erinnert.

Und bereits haben Kast Kaeppeli Architekten ihre Entdeckung auf ein neues Projekt angewendet: Der Wettbewerb für das Schulhaus Kleefeld in Bern (vgl. TEC21 51–52/2014) nimmt das Motiv der geschichteten Gänge wieder auf – in einem anderen Massstab und Kontext.

Zu den räumlichen Qualitäten kommt die neue Behaglichkeit hinzu: Auslöser für die Instandsetzung waren die fehlende Wärmedämmung und die mangelhafte Haustechnik. Die Fassade erhielt eine Isolation aus 20 cm Mineralfaserplatten und eine neue Verkleidung aus einer stehenden, geschuppten Bretterverkleidung aus grau lasiertem Holz. In diesem Detail haben die Architekten ein wohlbekanntes Thema interpretiert: Das Haus war ursprünglich mit Holzschindeln eingekleidet, die in der Zwischenzeit durch Schindeln aus Faserzement ersetzt wurden. Mit der neuen Verkleidung zitieren sie das Material und die Fügung der ursprünglichen Eindeckung.

Der Umbau wurde letztes Jahr mit dem «atuprix, auszeichnung berner baukultur» bedacht. Juror Phi­lippe Cabane bringt es in seiner Wertung auf den Punkt: «Das Projekt ist für Modernisierungsvorhaben vorbildlich und zeigt, dass Bauten wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltig erhalten und umgenutzt werden können, wenn sich Architekten und Bauherren von herkömmlichen Standardvorstellungen emanzipieren.»

TEC21, Fr., 2016.04.22



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30. Oktober 2015Marko Sauer
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Den Toten eine Heimat

Als Einwanderer brachten sie ihren Glauben mit, als Eingewanderte möchten sie nach dessen Geboten beigesetzt werden: Die Muslime in Vorarlberg haben seit 2012 ihren eigenen Friedhof – gesellschaftlich und gestalterisch einmalig.

Als Einwanderer brachten sie ihren Glauben mit, als Eingewanderte möchten sie nach dessen Geboten beigesetzt werden: Die Muslime in Vorarlberg haben seit 2012 ihren eigenen Friedhof – gesellschaftlich und gestalterisch einmalig.

Der Islam ist Teil von Deutschland», stellte 2010 der damalige deutsche Bundespräsident Christian Wulff fest. Und trat damit zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit eine Debatte los, die auch fünf Jahre später noch nicht verebbt ist. Wie auch immer man zu diesem Thema steht, es ist Tatsache, dass Einwanderer ihren Glauben mit in die neue Heimat nahmen und den Islam in Westeuropa heimisch machten: zunächst «Gastarbeiter» aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien und der Türkei, dann Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten. Viele dieser Migrantinnen und Migranten kehrten im Alter in die Heimat zurück, wo sie auch beigesetzt wurden, doch mittlerweile sind ihre Kinder und Enkelinnen oft Bürger des ehemaligen Gastlands – eine Rückkehr hiesse die Familie verlassen.

Deswegen bleiben viele Muslime und Muslimas bis zu ihrem Tod in den Einwanderungsländern, und rund um ihr Ableben tobt eine Kontroverse um eine schickliche Ruhestätte, die neben theologischen Auslegungen und gesellschaftlichen Querelen auch gestalterische Fragen aufwirft. In der Schweiz sind in grösseren Städten erste Grabfelder für Muslime eingerichtet worden, doch einen eigenen Friedhof nach islamischem Ritus gibt es hierzulande nicht. Ganz ähnlich sah es auch im österreichischen Bundesland Vorarlberg aus: Dort gab es in den 96 Gemeinden überhaupt keine Möglichkeit, den muslimischen Einwohnerinnen und Einwohnern eine Bestattung nach ihren religiösen Vorschriften zu gewähren. Deshalb wurden die meisten Toten repatriiert und beigesetzt (vgl. Kasten auf S.33).

Um den Vorarlberger Muslimen eine Bestattung vor Ort zu ermöglichen, wurde im Juni 2012 der erste islamische Friedhof des Landes mit Platz für 700 Gräber eröffnet. Die rituellen Vorgaben werden erfüllt: Es sind nur Erdbestattungen erlaubt, im umfriedeten Grabfeld werden nur Muslime beigesetzt, die Gesichter der Toten sind nach Mekka ausgerichtet. Die Grabesruhe ist jedoch nicht wie im Islam vorgeschrieben «ewig», da unbefristete Grabstätten österreichischem Recht widersprechen.

In einem jahrelangen partizipativen Prozess haben islamische Gemeinschaften zusammen mit dem Vorarlberger Gemeindeverband und der Landesregie-rung, unterstützt von der Katholischen Kirche und der Integrationsfachstelle «okay. zusammen leben.», eine salomonische Lösung gefunden: Der Friedhof ist kommunal getragen und kann deshalb für Muslime aus allen Gemeinden zur letzten Ruhestätte werden. So werden die Toten innerhalb der Umma – der Gemeinschaft der Gläubigen – und dennoch in der neuen Heimat beigesetzt. Die Gemeinde Altach hat den Friedhof auf ihrem Gemeindegebiet aufgenommen. Die Gegend scheint traditionell ein gastlicher Ort zu sein, befindet sich doch in Hohenems, keinen Steinwurf entfernt, seit 1617 ein jüdischer Friedhof. Nach den Vorgaben für das Projekt hat das Architekturbüro von Bernardo Bader aus Dornbirn 2007 den Wettbewerb für den ersten islamischen Friedhof in Vorarlberg gewonnen.

Gemeinsame kulturelle Basis

Der Entwurf vereint den hohen Abstraktionsgrad der islamischen Kultur mit der handwerklichen Perfektion des Vorarlbergs: Der oft zitierte «Clash of cultures» führt in diesem Fall zu einem höchst produktiven Zusammenprall der Traditionen. Mit kühner entwerferischer Intelligenz verwandelt Bernardo Bader das lokal verankerte Fachwerk zu einem orientalischen Ornament – und stellt damit die Lesart der eigenen Tradition zur Disposition. Auf der Gegenseite bändigt er das oftmals verspielte Raumverständnis der islamischen Welt mit einer präzisen und dennoch vielgestaltigen Figur, die an die Aussegnungshalle in München-Riem (2000) von Meck Architekten erinnert. Im Modell zeigt sich, wie sich Gebäude, Grabfeld und Umfassungsmauer zu einem Gesamtkunstwerk fügen. Selbst der Beton erfährt eine Verwandlung: Dank den verschieden starken Latten in der Schalung nimmt der eingefärbte Kunststein den Duktus des Holzes auf. Der Friedhof bietet ein Vexierspiel auf höchstem Niveau.

Dieses Wechselspiel von Heimat und Herkunft findet im Gebetsraum eine sehr persönliche Note: Er wurde von Azra Akšamija gestaltet, einer Künstlerin und promovierten Architekturhistorikerin mit bosnischen Wurzeln, die in Vorarlberg aufgewachsen ist und am MIT in Boston lehrt. Der Teppich wurde von Frauen aus Sarajevo geflochten, ein Vorhang mit eingewobenen und vergoldeten Schindeln zitiert die alpine Bautradition – gleichzeitig ist deren Anordnung eine abstrahierte Darstellung der beiden Worte «Allah» und «Mohammed». Kalligrafie, Konzept und Gestaltung gehen eine Einheit ein, die ohne den Ein uss der jeweils anderen Kultur undenkbar wäre. Zu Recht ist der Friedhof mit dem Aga Khan Award 2013 ausgezeichnet worden.

Man mag einwerfen, dass der Ort nicht besonders besinnlich sei – der Friedhof liegt an einer viel befahrenen Route am Rand des Rheintals zwischen Tankstellen und Kreiseln. Und selbst nach drei Jahren ist lediglich ein Dutzend Gräber auf dem weiten Feld besetzt: Noch scheint eine Rückführung in die alte Heimat für viele Migranten unumgänglich zu sein. Doch der islamische Friedhof ist ein starkes Zeichen für den gesellschaftlichen Wandel, und er zeigt, wie breit die gemeinsame kulturelle Basis der vermeintlich unterschiedlichen Traditionen ist.

So wie die Glaubensgemeinschaften der Minderheiten langsam aus den Hinterhöfen und Fabrikhallen heraustreten und sich ihren Platz in der hiesigen Baukultur suchen – das Haus der Religionen in Bern (vgl. beiliegendes Sonderheft) ist ein besonders beredtes und gelungenes Beispiel dafür –, werden auch deren Friedhöfe wohl einen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Damit auch die Toten in der Wahlheimat ihre Ruhenden.

TEC21, Fr., 2015.10.30



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18. September 2015Marko Sauer
TEC21

«Wir entdeckten die andere Hälfte der Welt»

In der Lehre entwickelte die Analoge Architektur pointierte Positionen. Doch wie sieht ihre Umsetzung in der Praxis aus? Die fünf Architekten, deren Studentenarbeiten letzte Woche im Heft zu sehen waren,
reflektieren im Gespräch, wie Theorie und Praxis aufeinandertrafen.

In der Lehre entwickelte die Analoge Architektur pointierte Positionen. Doch wie sieht ihre Umsetzung in der Praxis aus? Die fünf Architekten, deren Studentenarbeiten letzte Woche im Heft zu sehen waren,
reflektieren im Gespräch, wie Theorie und Praxis aufeinandertrafen.

TEC21: Wie war Ihr Start nach dem Studium? Konnten Sie die Prinzipien der Analogen Architektur gleich umsetzen?
Conradin Clavuot: Bei den ersten Wettbewerben hatte ich mit «analogen» Entwürfen keine Chance. Das war damals wohl noch zu sehr 19. Jahrhundert. Die Projekte mussten so weit runtergekocht werden, bis die Jury sich noch auf den Entwurf einlassen wollte und ihre eigenen Vorstellungen darin projizieren konnte.
Alberto Dell’Antonio: Je nachdem hat es sogar eine Abwehrhaltung provoziert, wenn die Juroren die Analoge Architektur bereits gekannt haben.
Joseph Smolenicky: Was Conradin sagt, stimmt genau – und es hatte Auswirkungen auf unsere Praxis: Mit den ersten beiden Wettbewerben kriegst du einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Und in einem vorauseilenden Darwinismus ver­wässerst und trimmst du deine Projekte, damit du wenigstens durch den Wettbewerb kommst. Wir mussten uns aber auch klar werden, dass wir mit vielen Realitäten umgehen mussten.

Inwiefern?
Smolenicky: Mein erstes Projekt war 1992 ein Coiffuresalon – total farbig, so in Richtung Pop-Art. Ich hatte die Analoge Architektur immer so verstanden, dass man als Architekt fähig sein muss, in eine fremde Welt einzutauchen. Auch wenn diese Welt eine hippe, poppige, verspielte, latent kitschige Welt ist. Mit dieser Interpretation war Miroslav Šik (vgl. Interview TEC21 37/2015) sicher nicht einverstanden.
Quintus Miller: Bei der Brücke in Sevelen von 1989, einer der ersten Arbeiten von Paola und mir, die wir später zusammen mit Christoph Mathys haben realisieren können, haben wir es genau so gemacht, wie wir es bei Miroslav gerlernt hatten: Schritt für Schritt. Und es hat funktioniert. Wir hatten ein Thema und eine Vorstellung, die wir wie eine Geschichte über den Ort erzählen konnten. Damit gelang es auch, die Denkmalpflege zu gewinnen. Das ist eine Erfahrung, die mich bis heute prägt. Ich will meine Auftraggeber auf eine Reise mitnehmen. Dabei erfahren sie eine Geschichte, die sie verstehen und nachvollziehen können.
Peter Joos: Ich glaube, wir funktionieren noch nach derselben Methode, die wir als Studenten gelernt und über die Jahre verfeinert haben. Wir fragen uns im Büro ja immer, was das Gebäude am jeweiligen Ort soll. Wie machen wir die Eingriffe, damit aus einer einfachen Aufgabe etwas Spezifisches wird? Manchmal erkennt man das erst auf den zweiten Blick.

War dies das Besondere am Studium bei Fabio Reinhart und Miroslav Šik?
Joos: Sie haben uns gezeigt, dass alles vor Ort vorhanden ist. Man muss nicht alles über Renais­sance­paläste wissen, wenn man in Zürich Riesbach baut. Der Fundus in der Umgebung genügt, um das Projekt zu entwickeln. Natürlich ist es gut, wenn man die Geschichte kennt, aber primär ist es wichtig, dass man vor Ort Bescheid weiss: Wo geht das Trottoir durch? Wie steht das Haus zur Strasse? Wie baut man in Riesbach? Was sind die Materialien?
Clavuot: Und du musst kein Künstler sein, um mit der Arbeit beginnen zu können.
Dell’Antonio: Der Bezug zum Metier und zum kulturellen Kontext war sehr präsent. Ich lernte, dass auch das Umfeld einen Einfluss auf meine Entwürfe haben kann. Das war eine Bewusstseinssteigerung im dem Sinn, dass die Alltagsarchitektur viel breiter wurde als das, was bis dahin den Rahmen bildete. Der Blick wurde plötzlich verfeinert. Man lernte, das zu lesen, was in der Nähe ist.
Clavuot: Ich denke, das sind die Wurzeln des «analogen» Denkens. Ich muss mich fragen: Wie kann ich so entwerfen, dass die Leute verstehen, was ich meine?
Miller: Nach den ersten vier Semestern an der ETH war mir nicht klar, weshalb ich 400 Meter lange Schlitten mit Bandfenstern und runden Stützen machen sollte. Warum gab es nur diese eine modernistische Sprache? Mit Fabio, Miroslav und Luca waren endlich Leute da, die uns erklären konnten, was uns Dinge sagen und was die Bedeutung dessen war, was wir taten.
Smolenicky: In dem Moment, als ich die ersten Versuche der «Analogen» gesehen habe, merkte ich: Das ist lebendig! Das hat mit der Welt zu tun!
Wir gehen raus und entdecken, was es da alles gibt: Sinnlichkeit, Materialität, Formen, Identität. Und all dies in irgendwelchen Hinterhöfen. Alles, was die akademische Welt eines Mario Campi damals an der ETH nicht gekannt hat, ist auf einmal greifbar geworden. Mir haben sich die anderen 50 % der Welt erschlossen, von denen niemand sonst gesprochen hatte.
Joos: Zudem war auch die anonyme Architektur gültig. Es mussten nicht mehr die Werke der Klassik herangezogen werden. Man konnte sich vor Ort orientieren.
Clavuot: Und es wurde viel räumlicher als bei den Postmodernen. Es ging nicht mehr nur um Zeichen und die Fassaden, sondern man wollte konsistente Welten kreieren.

Daneben wurden auch unentdeckte Archive durchforstet.
Miller: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Im Atelier hat man geschaut, was da für neue Bücher im Umlauf waren. Auch Miroslav hat sich immer dafür interessiert. Wir waren wie Schwämme und haben alles aufgesogen. Wir waren immer in dem Teil der Bibliothek unterwegs, für den sich sonst niemand interessierte.
Smolenicky: Es herrschte Goldgräberstimmung bei unseren Streifzügen durch die Bibliothek. Davon hat auch Miroslav profitiert – in einem Ausmass, wie es eine Einzelperson gar nicht schaffen kann. Während wir die Grundlagen zusammengetragen haben, hat er daraus gleichzeitig die Prinzipien der Analogen Architektur formuliert.
Dell’Antonio: Darin lag für mich die grösste Faszination. Ich war als Student an einer Schluss­kritik, und die Diskussionen dort waren unglaublich engagiert. Da habe ich gemerkt: Da ist echtes Interesse dahinter! Dort wird nach etwas gesucht und ex­perimentiert. Es hatte eine grosse Anziehungskraft, dass die Gruppe gemeinsam geforscht und gesucht hat.
Miller: Wir haben dann mit den Jaxon-Bildern angefangen. Erst wusste niemand so recht, wie man das macht. Ich bin in die Stadt gefahren und habe das Vogue-Magazin gekauft. Ich wollte verstehen, wie Licht und Schatten auf guten Bildern funktionieren, wie Materialien wirken. Was ich bei Miroslav gelernt habe, ist, ganz genau hinzuschauen. Die Dinge genau zu hinterfragen, um danach zu wissen: Was willst du, und wie kannst du das erreichen?
Smolenicky: Genau! Das war eine Wahrnehmungsschule. Wir haben mit dieser Form der Dar­stellung architektonische Primärerfahrungen gemacht in Bezug auf sinnliche Phänomene, die die Architektur bestimmen: Licht, Schatten, Oberflächen, Material. Doch die «Analogen» sind immer über die Form diskutiert worden, nie über ihre konzeptionelle Relevanz, nie über ihre Inhalte und ihre Untersuchungen zur Wahrnehmung. Das kommt in der Diskussion immer zu kurz.

Und genau diese Art von Formensprache taucht nun vermehrt in aktuellen Wettbewerben auf.
Miller: Du kannst heute in Deutschland Renderings machen lassen, die den Jaxon-Perspektiven von damals sehr ähnlich sehen. Sie sind auf hohem technischem Niveau gemacht, ihr Charakter ist aber einem anderen Zusammenhang entlehnt und nicht mehr kongruent zum Projekt.
Joos: Früher konntest du nicht einfach ein Rendering bestellen, da mussten wir noch vonein­ander abschauen, wie das gemacht wird. Aber es ist sehr einfach geworden, Bilder mit ein bisschen abartigen Dächern zu erzeugen. Doch es ist nicht mehr aus der Konstruktion oder aus der Funktion heraus abgeleitet, sondern nur vom Bild her gedacht.
Dell’Antonio: Vielleicht müssen wir da schon von Manierismus sprechen. Dies ist ja immer wieder Teil einer Bewegung, und das hat wenig mit den spezifischen Inhalten zu tun. Selbst wenn die Bilder ähnlich sind, transportieren sie aber eine vollkommen andere Botschaft als damals.
Miller: Wir haben eine vergleichbare gesellschaftliche Entwicklung heute wie im späten 19. Jahrhundert. Man ist sehr bild- und formgläubig. Der Inhalt erfährt nicht die notwendige Wertschätzung. Form und Inhalt klaffen meist weit auseinander. Wir leben in einer Zeit, in der die Vermittlung von Inhalt über ein fahles Abbild genügt, weil der Weg vom Inhalt zur Form nicht interessiert.

Läuft man da nicht Gefahr, dass es nun überall auf der Welt gleich aussieht, wenn diese Bilderflut globale Ausmasse annimmt?
Smolenicky: Genau das macht die Analoge Architektur relevant. In einer Welt, die dazu tendiert, die Hypes einfach mal kreuz und quer über den ganzen Globus zu reproduzieren, ist es immer mehr die Aufgabe eines Architekten, eine spezifische Identität zu erzeugen. Ich gehe nach Dänemark und finde mich in Zürich Oerlikon wieder. Ich gehe nach New York und finde mich in Zürich Oerlikon wieder. Ich bin ständig in Zürich Oerlikon, wenn ich irgendwo neue Wohnbauten anschauen gehe.
Miller: Es gibt viele Dinge, die sind überall zu finden. Und es gibt ganz viele Sachen, die sind nicht überall. Wenn du reist, dann realisierst du, dass die kulturellen Unterschiede enorm gross sind. Die Globalisierung dauert eher noch tausend als hundert Jahre, bis sie sich global vollzogen hat.
Smolenicky: Es gibt aber auch grosse Veränderungen bei uns. Wir betrachten erst seit ein paar Jahren unser Land auch als urbanes Phänomen. Damals hatte die Analoge Architektur überhaupt keine Antworten darauf. Sie liebte diese kleinen Welten.
Clavuot: Ich glaube, das war nie das Ziel. Die Stadt war einer der Feinde aus der Welt der Moderne. Beim Diplom hat niemand ein städtisches Thema gewählt, alle haben sich immer für das Objekt entschieden. Miroslav konnte da auch nicht besonders weiterhelfen. Ich glaube, das hat ihn nicht interessiert. Es gibt tatsächlich keine grösseren Planungen der Analogen Architektur. Kann man mit der Methode nicht auf Ebene der Stadt operieren?
Joos: Ich glaube, man kann mit den Methoden der «Analogen» keinen klassischen Städtebau in grossen Dimensionen machen. Wenn alles gleich­zeitig erstellt werden soll, widerspricht das ihren Prinzipien.
Clavuot: Wir haben aber immer wieder Quartierplanungen wie die Bernoulli-Siedlung in Zürich besprochen. Aber die «tabula rasa» war kein Thema, und wir haben nie eine chinesische Neugründung für 400 000 Menschen diskutiert. Da gäbe es nichts, worauf man sich beziehen könnte.
Miller: Ich glaube schon, dass es möglich ist. Wir konnten den Beweis nicht antreten, aber das Projekt für Andermatt wäre ein gutes Siedlungskonzept geworden. Miroslav und wir waren auf dem ersten Platz, und wir konnten zusammen einen dichten Masterplan entwickeln. Aber den wollten sie nicht wirklich, und so sind wir nach anderthalb Jahren aus dem Projekt ausgestiegen.
Joos: Das ist genau das, was ich meine. Analoge Architektur im grossen Massstab ist nicht investorentauglich. Wir schaffen über Wettbewerbe kleinere Einzelbauten, Schulen, öffentliche Bauten. Aber sobald es gross wird, dann sind wir mit unserem Ansatz zu widerspenstig. Das wird nicht akzeptiert.

Hat sich deshalb die Analoge Architektur nie auf breiter Basis durchgesetzt?
Smolenicky: Ich glaube, wir hatten nie eine Lobby. Der Modernismus hatte immer Leute wie Herzog & de Meuron, Diener oder Hotz, die ihre begabten Leute unterstützt haben. Bei den «Analogen» hat sich nie eine Kultur entwickelt, in der man sich gegenseitig hätte beschützen können. Bei den grossen Projekten haben sich immer nur Moderne durchgesetzt.
Joos: Beim Bauen gibt es viele Akteure. Da hörst du einzelne Figuren wie die Vertreter der Analogen Architektur gar nicht. Ausser es gibt einen Multiplikator, der diese Positionen mitträgt. Den gibt es aber nicht, und so ist jeder von uns einfach ein Einzelkämpfer.
Clavuot: Dafür hat sich die Methode in der Lehre etabliert. In jeder Schule präsentieren die Studenten zunächst eine Analyse des Orts mit Stimmung, Identität und spezifischen Faktoren. Das hat sich in der ganzen Breite durchgesetzt und stabilisiert. Früher waren das soziologische Studien und funktionelle Nutzungsschemata. Heute wird der Ortsbezug schon fast übertrieben, und alle behaupten, dass nur genau dieses Projekt hier stehen kann.
Smolenicky: Methodisch ist das «Analoge» ein Erfolgsmodell. Das referenzielle Arbeiten ist an vielen Lehrstühlen inzwischen eine verankerte, aber auch inzwischen stark differenzierte und erweiterte Entwurfsmethode geworden.
Wenn sich die Methode an den Schulen durchgesetzt hat, dann müssten doch eigentlich die Anliegen der «Analogen» und deren entwerferischer Furor gegenwärtig eine grosse Verbreitung finden?
Dell’Antonio: Ein Teil dieses Schwungs, den wir durch das Studium erhalten haben, war dem manifestartigen Charakter zu verdanken. Das hatte eine Kraft, auch wenn es überspitzt und plakativ war. Doch die Zeiten sind heute ganz anders. Es war früher viel einfacher, eine Antithese zu formulieren.
Miller: Zürich hat nach der Jahrtausendwende mit der internationalen Öffnung der Märkte und der S-Bahn einen grossen Entwicklungsschub erfahren. Wir hatten keine Gelegenheit, daran aktiv teilzuhaben. Ich glaube aber nicht, dass es am «analogen» Ansatz lag, denn der hat für mich seinen Wert nicht im Formalen, sondern in der Vermittlung von Inhalten. Es lag eher darin, dass wir in Zürich nicht so vernetzt waren. Hingegen haben wir in Basel an verschiedenen städtebaulichen Fragestellungen mitgearbeitet, die nun kurz vor der Realisierung stehen: Charakter und Stimmung sind sehr wohl städtebauliche relevante Argumente.
Joos: Oder man schafft es einfach nicht, an diese Projekte heranzukommen mit einer «analogen» Strategie. Was Conradin über die Wettbewerbe gesagt hat, gilt wohl immer noch.

TEC21, Fr., 2015.09.18



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|38 Analoge Architetkur II: die Praxis

11. September 2015Marko Sauer
TEC21

«Wir antworten mit leisen Tönen»

Miroslav Šik, einer der Protagonisten der Analogen Architektur, wirft einen Blick zurück auf deren Anfänge. Er reflektiert, wie in seiner Lehre das Mischen die Verfremdung ablöste – und wo die Grenzen der analogen Entwurfsmethode liegen.

Miroslav Šik, einer der Protagonisten der Analogen Architektur, wirft einen Blick zurück auf deren Anfänge. Er reflektiert, wie in seiner Lehre das Mischen die Verfremdung ablöste – und wo die Grenzen der analogen Entwurfsmethode liegen.

TEC21: Herr Šik, wie war der gesellschaftliche Kontext, in dem die Analoge Architektur entstanden ist?
Miroslav Šik: Wir befanden uns in den 1980er-Jahren am Beginn eines starken gesellschaftlichen Wandels. Die Industrie verliess Europa, und damit ging das Ende der linken Bewegung einher. Die Skepsis gegenüber der Technik wuchs aufgrund der Unfälle in den Atomkraftwerken, zudem bahnte sich der Ausgleich zwischen Ost und West an. In Zürich hatten die Studentenunruhen weitreichende Folgen.

Und wie würden Sie das kulturelle Umfeld beschreiben?
Auf dem Gebiet der Kultur gab es noch eine stärkere Polarisierung und eine präzisere Vorstellung einer Elite. Dies äusserte sich in der Musik ebenso wie in den Museen. Der Mainstream war noch nicht als Kultur anerkannt. Die Zeit der Postmoderne war mit einem radikalen Wechsel verbunden: Die damalige Leitkultur ist heute eine Nischenkultur.

In der Architektur war die Postmoderne sehr einflussreich. Wie stehen die «Analogen» zu ihr?
Die Analoge Architektur ist wohl eine Enkelin der postmodernen Bewegung. Denn vieles, was die Postmoderne ausformuliert hatte, war auch für sie bestimmend. Die Postmoderne hat eine präzise Definition erfahren, indem sie sich gegen die Spätmoderne aufgelehnt hat. Diese Definition ex negativo war stark, bis hin zur Übertreibung. Allerdings haben wir dann einen eigenen Weg eingeschlagen.

Wie hat sich das in der Lehre ausgedrückt?
Der Ansatz von Fabio Reinhart und Bruno Reichlin, diese manierierte Vielfalt in der Fassade, hat die Studenten nicht mehr interessiert. Sie machten sich auf die Suche nach neuen Referenzen, und jeder von ihnen öffnete ein anderes Archiv: skandinavischer Klassizismus, Arts and Crafts, Otto Wagner oder Shaker-Architektur. Wir durchforsteten die Archive; für mich war jedes dieser Kapitel so neu wie vorher der Konstruktivismus und Leonidov.

Welchen Einfluss hatten diese Entdeckungen auf Sie persönlich?
Obzwar ich mich bis dahin als Neo-Modernist verstanden hatte, war ich gezwungen, auf drei, vier Klaviaturen gleichzeitig zu spielen. Als Assistent musste ich mich empathisch in die verschiedensten Welten einleben. Das war ein Novum, denn früher gab es eine Referenz und basta. Ich musste lernen, mich auf unterschiedlichste Quellen einzulassen.

Was war das verbindende Element, wenn alle ihren eigenen Vorlieben nachgingen?
Zur Zeit, als im Atelier Reinhart die Analoge Architektur anlief, kamen wichtige Monografien auf den Markt. Dies hatte einen direkten Einfluss auf die Entwürfe. Es ist nicht zufällig, dass die Projekte den damaligen Wiederentdeckungen ähneln. Ich habe immer wieder den Begriff der «Verfremdung» eingebracht, denn ich spürte ein Unbehagen, wenn gewisse Studenten Asplund oder Lewerentz perfekt kopierten. Damals hatten wir viel darüber diskutiert, ob es sinnvoll sei, zu zitieren, eine Anspielung zu machen oder zu verfremden.
Das hört sich bis auf die Verfremdung ein wenig nach Ecole des Beaux-Arts an.
Eine Ecole des Beaux-Arts, aber mit neuen Referenzen. Oder ein Exercice de style, das jedoch mit einer unglaublichen Akribie und Ernsthaftigkeit umgesetzt wurde. Und, was ganz wichtig war, es fehlte jeder Bezug zur reinen Kunst, zu einem postmodernen Event, zur Ironie. Damit hatten die Studenten die Postmoderne eines Rossi oder Venturi hinter sich gelassen; allerdings verschwand dadurch ebenso die Auseinandersetzung mit dem Mainstream und mit dem Normalen. Die Referenzen und die Stimmung kamen aus der gehobenen und gebildeten Welt, und meistens hatten diese Dinge nicht viel mit dem Ort zu tun. Zumindest in dieser ersten Phase (vgl. Kasten S. 31) hatte die Analoge Architektur den Kontext idealisiert, ähnlich wie vormals die Moderne.

Das hat Sie gestört?
Für mich war die Arbeit mit Klassikern legitim, im Sinn von überprüften Lösungen und von gelebten Prototypen. Aber gleichzeitig erwachte bei mir das Interesse für Baracken, alte Bahnhöfe – alles gebaute Dinge, deren Architektur nicht einmal einen Autorennamen haben musste. Ich machte einen entscheidenden Schritt und verliess die Welt der Klassiker. Zu jener Zeit fuhr ich ins Ruhrgebiet, fotografierte die alltägliche Architektur, schaute mir die Filme von Wim Wenders und Jim Jarmusch an.

Hat dies die Entwürfe auf den Boden gebracht?
In der dritten Phase wurde der Kontext stärker. Man wählte eine Referenz aus, weil sie in einer Relation zum Ort und zum Programm stand, und nicht, weil man in einem Antiquariat ein schönes Buch gefunden hatte. Entwurf und Bild rieben sich am Kontext. Unter dem Begriff des «Regionalismus» griffen wir auf die gelebten, tradierten Vorbilder zurück. Darin unterschieden wir uns von anderen Entwurfsklassen, denn rund um uns herum waren immer noch die Stilübungen der Neo-Modernen im Gang. In einer vierten Phase brachte ich dann noch einen zusätzlichen Dreh herein, indem der Kontext zusätzlich trivial werden musste. Die Analoge Architektur sollte imstand sein, die verschiedensten Nutzungen anzuwenden, die nicht mehr gross zu orchestrieren waren: Zivilschutzzentren, Brockenhäuser. Das war die ultimative Elimination der Exercices de Style.

Weil es dafür keine klassischen Vorbilder mehr gab?
Ich habe gemerkt, dass ich die Leute nicht zum Beton bringe. Es war der Versuch, in die 1960er- und 1970er-Jahre zu gelangen. Sie sollten auch den Hinterhof bearbeiten, die abgewandte Seite, die nicht gehobene und nicht beleuchtete Architektur, aus der sich später der Begriff «Ensemble» entwickelt hat. Es war das Heterogene, das überhaupt keine Architektur mehr ist, sondern von diesem Zusammengesetzten lebte, das so typisch ist für die Schweiz. Das haben wir in den letzten beiden Semestern unter dem Begriff der «Peripherie» gestreift. Das war dann 1991 aber gleichzeitig auch das Ende der Analogen Architektur in der Lehre.

Welche Bilanz ziehen Sie für diese Jahre?
An der ETH hat die Analoge Architektur die Verfremdung nie ganz geschafft. Zuerst waren es unverfremdete Klassiker, dann waren es unverfremdete, kleine regionale Klassiker und am Ende war es die unverfremdete, kaputte Peripherie: Die Analoge Architektur blieb bis zum Schluss objekt- und referenzhaft. Ich überlege mir die ganze Zeit, was der methodische Fehler gewesen ist. Vermutlich lag es an der Arbeit mit Referenzen. Darunter verstehen die Leute meistens, dass man eine einzelne Referenz auswählt. Doch ich merkte später, dass ich selbst in meinen Entwürfen schon von Anfang an mehrere Dinge zusammenfügte. Damals war ich noch nicht imstande, meine eigene Entwurfsmethode so weit zu reflektieren.

Wie sind Sie diesem methodischen Fehler begegnet?
Erst langsam hat sich die Analoge Architektur in die Tiefe entwickelt, und plötzlich hat sie etwas entdeckt, was sie am Anfang nicht wusste: Wenn wir den Ort bauen, dann gibt es ihn irgendwann nicht mehr, weil jeder Eingriff ihn verändert. Je präziser die Analoge Architektur ihre Anliegen entwickelt hat, umso mehr hat sie die schweizerische Vielfalt verinnerlicht. Sie ist ja eine Vorgehensweise und nicht ein Stil. Als ich dann zehn Jahre später als Professor wieder an die ETH zurückkam, redete ich nur noch von Fenstern, von Türen – und vom Mischen. Ich habe immer versucht, diese Elemente zu verschmelzen, zu verschleifen. Ob das eine Stärke oder Schwäche ist, lasse ich offen. Ehrlich. Dieses ständige Sich-Einfühlen, das dauernde Sich-Anpassen ist nicht jeder kulturellen Landschaft gegeben.

Was bedeutet dies für die Lehre?
Alle meine Vorlesungen drehen sich jetzt ums Mischen. Es ist gleich wie in der Küche: ein bisschen Salz, ein bisschen Pfeffer, ein bisschen Mehl.
Es ist kein Gourmetrezept, was für die Studierenden extrem schwierig ist. Manchmal gelingt ihnen dieses Verschleifen und Verschmelzen, manchmal nicht?? Aber vielleicht ist auch das wieder ein methodischer Fehler.
Inwiefern?
Die Analoge Architektur war immer eine noble Welt. Sie hat zwar gezeichnet wie ein Wim-Wenders-Film, aber eigentlich war sie immer sehr objekthaft und gepflegt. Den Leuten war bewusst, auf welchen Referenzen sie sich beziehen. Sie waren immer stolz auf die Entdeckungen, mit denen sie gearbeitet haben. Das hat sich verflüchtigt. Die heutige Generation redet weniger darüber und mischt mehr intuitiv. Dadurch verliert sie die Schärfe – ob sie dadurch aber Exzellenz erreichen wird? Die erste Generation hat ihre Klassiker sehr gut gekannt und viel von ihnen gelernt.

Dafür gab es dann diese Verfremdung nicht.
Genau. Im Gegenzug waren die Entwürfe dafür extrem präzise. Die Leute können heute ganz gut verfremden und produzieren schöne neue Dinge. Aber erzeugt das per se Poesie? Ich lasse
dies ebenfalls offen. Erstaunlich ist, dass die alten analogen Ungenauigkeiten wiederentdeckt werden. Ich habe Leute im Semester, die benutzen als Reaktion auf die digitale Präzision wieder rossianische Schraffuren und patinieren wie mit den Jaxon-Kreiden! Wenn etwas Mainstream wird, dann suchen die jungen Leute sehr schnell einen neuen, eigenen Weg. Für mich selbst ist es nicht mehr von Bedeutung, aber meine Studierenden reiben sich stark am Mainstream.

Und welchen Ausweg zeigen Sie ihnen aus diesem Konflikt?
Ich lege den Fokus auf die Konstruktion und die technische Realisation. Die jungen Leute sind sehr hungrig auf neue, echte Dinge, und die Realität fasziniert sie sehr. Dies bestimmte die letzten zehn Jahre meiner Lehre, wobei ich jetzt das Ensemble und Midcomfort[1] übersprungen habe. Aber bereits bei Midcomfort beginnt die Auseinandersetzung mit der Konstruktion und dem Bauen. Damit fallen schon einige Formen weg. Wenn ich jetzt die schwarze Kassette[2] aufmache, dann ist alles wunderbar, aber es ist nur gezeichnet. Vom heutigen Standpunkt aus erscheint mir das unmöglich.

Zeigt sich das auch in der Praxis Ihres Büros?
Das Wort Reform habe ich bisher bewusst weggelassen. Nehmen wir die Wohnbaugenossenschaften: Da wird die Bescheidenheit zur Zierde gemacht. Ich würde behaupten, dass hier der Bruch zwischen der Analogen Architektur und den späteren Tendenzen von «altneu» und «Ensemble» liegt. Dazwischen passierte etwas ganz Wesentliches: So wie die Analoge Architektur auf ihre Zeit reagierte, sind die späteren Strömungen eine Reaktion auf den immer lauter werdenden Mainstream. Darauf beziehen wir uns auch heute. Und wir antworten mit leisen Tönen – selbst auf die Gefahr hin, dass wir überhört werden.

Caruso St John waren Teil Ihrer «Ensemble»-Ausstellung an der Biennale in Venedig, und jetzt bauen sie in der Europaallee. Ist das nicht auch Mainstream?
Dank dem Kampf der Analogen Architektur ist es möglich, dass Caruso St John nun auch an einem so prominenten – und geradezu modernen – Ort für das gehobene Segment des Gewerbes und Wohnens bauen. Doch schon in London ist dies nicht mehr ganz der Fall. Da sind die Postmodernen bis auf zwei, drei Ausnahmen nie richtig zum Zug gekommen.
Der ganze Rest ist dieser neo-modernen Architektur zuzuordnen mit ihren grossen Transparenzen, ihrer Flut von Bildern, ihren extremen Raumkombinationen und vornehmen Materialien. Das widerspricht dem Wesen der Analogen Architektur: Wir müssen diese Zierde der Bescheidenheit und den unscheinbaren Luxus aufrechterhalten.

Beim Hunziker-Areal (vgl. TEC21 13–14/2015), wo Sie die Häuser B, C und K gebaut haben, gibt es dennoch einen starken bürgerlichen Zug.
Das äussert sich aber nicht in reellen Kubikmeterpreisen. Mir geht es um den Versuch – auch den würde ich wiederum schweizerisch nennen –, dem gemeinen Volk einen Teil der gehobenen Bilder zur Verfügung zu stellen. Dort schliesst sich wieder der Kreis zur Reformarchitektur. Das haben früher schon die Wohnbaugenossenschaften so gemacht: Die ersten Bauten der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich wurden für Beamte der SBB und PTT erstellt. Das Bürgerliche hat auch dort seinen Platz, aber man darf es nicht zu dick auftragen.

Wie äussert sich dieses Erbe heute in Ihren Gebäuden?
Vielleicht in der Raumhöhe, indem ich versuche, einen Tritt höher zu bauen. Und wir sind bestrebt, quadratische Räume zu entwerfen, nicht diese viel zu engen Räume. Besonders wichtig sind zudem die Aussenräume, denn wir müssen den Leuten eine Alternative zum Einfamilienhaus in der Peripherie anbieten. Die bürgerlichen Züge lassen sich darüber hinaus an einzelnen Bauelementen aufzeigen: Parkettböden, eine besondere Auszeichnung der Türen, hochwertige Fenster- und Türgarnituren.

Entspricht diese Zurückhaltung noch der Mentalität der Menschen in der Schweiz?
Ich denke, dass eine natürliche Bescheidenheit zur Schweiz gehört und dass sie gleichzeitig einen neuen Wert darstellt. Den kannte ich früher nicht – vielleicht war er früher aber auch nicht nötig, oder er musste nicht herausgestrichen werden. Das ist mit der Architektur dasselbe. An sich ist die Deutschschweizer Architektur wunderbar: Jedes Haus ist etwas Besonderes, ebenso die Wohnungen. Jedes Wohnzimmer ist sorgfältig zusammengestellt. Wir reden jetzt immer von dieser städtischen Schicht, für die wir produzieren. Diese Leute haben schon
viel gelesen, und Architektur ist ein wichtiges Leitmedium für sie. Sie sind wahnsinnig gebildet und echte Connaisseurs.

Und Sie bedienen dieses Klientel dann mit erlesener Zurückhaltung.
Wenn Sie unsere Arbeiten verfolgen, merken Sie, wie wir immer leiser werden. Es kann durchaus passieren, dass wir aus lauter Bescheidenheit poetisches Know-how zerstören – weil ich das Gegenteil fast schon unanständig finde. Ich habe langsam Mühe mit der Rolle des Architekten, weil sich unsere Gesellschaft zu sehr mit der Architektur als Leitmedium beschäftigt. Umso mehr mache ich Gebäude, die sich dem entziehen. Früher waren unsere Entwürfe stark orchestriert, jetzt versuchen wir die Melodie möglichst einfach zu halten.

Ich habe das Gefühl, Sie suchen etwas, was ungekünstelt ist.
Ich habe den Eindruck, ich mache noch etwas Echtes. Bei den Wohnbaugenossenschaften zum Beispiel habe ich für Normalverdiener gebaut mit Mieten unter 2000 Franken. Diesen Hang zum
Elaborierten, immer Luxuriöseren bei vielen meiner Kollegen kann ich nicht nachvollziehen. Aber eine Tendenz, die immer bescheidener und schweigsamer wird, wird zu einem rein privaten Experiment. Sie droht so leise zu werden, dass sie die anderen nicht mehr wahrnehmen. Ich denke, das ist eine Eigengesetzlichkeit, die vielen Poesien eigen ist.

Wie bei den japanischen Meistern der Keramik, die nach Jahrzehnten der Perfektion wieder ganz einfache, unscheinbare Schalen gestalten?
Genau das meine ich. Leider merken wir den Dingen häufig nicht mehr an, dass sie das gesamte Wissen und die Erfahrung innehaben. Meistens erscheinen sie dann nur noch banal. Aber es liegt in der Natur der Dinge: Je länger ich mich mit etwas beschäftige, umso mehr Möglichkeiten und Verfahren fallen weg. Man wird immer disziplinierter. Bis die Leute dann nichts mehr darin sehen und hören.


Anmerkungen:
[01] Mit der Publikationsreihe «Midcomfort» haben Lukas Imhof und Miroslav Šik die Tradition des wohnlichen Bauens untersucht. «And Now the Ensemble!!!» hiess der Beitrag von Miroslav Šik in Zusammenarbeit mit Knapkiewicz&Fickert und Miller?& Maranta für die Architekturbiennale 2012 in Venedig.
[02] Die schwarze Kassette bildete den Katalog zur Ausstellung «Analoge Architektur» von 1988. In ihr sind beispielhafte Projekte versammelt. Analoge Architektur, hrsg. von Miroslav Šik, Edition Boga, Zürich 1988

TEC21, Fr., 2015.09.11



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|37 Analoge Architektur I: Die Lehre

08. Mai 2015Marko Sauer
Thomas Ekwall
TEC21

Krone aus Holz

burkhalter sumi architekten, Dr. Lüchinger   Meyer und Makiol & Wiederkehr stocken ein ehemaliges Industriegebäude auf. Sie nutzen die Stärken von Holz für diese Aufgabe – das Material hingegen zeigen sie nicht.

burkhalter sumi architekten, Dr. Lüchinger   Meyer und Makiol & Wiederkehr stocken ein ehemaliges Industriegebäude auf. Sie nutzen die Stärken von Holz für diese Aufgabe – das Material hingegen zeigen sie nicht.

Verdichtung und Mobilität: Diese beiden Stichworte prägen die städtebauliche Debatte seit geraumer Zeit. In ihrem Spannungsfeld wird jede Baulücke geschlossen, der öV ausgebaut, und es schiessen die Städte in die Höhe. So auch auf dem Grundstück der Sihltal Zürich Uetliberg­bahn (SZU) im Zürcher Kreis 3: Mit 9000 m² Fläche und einem eigenen Bahnhof – zwei Stationen ab Zürich HB – bot das ehemalige Werksgelände optimale Bedingungen, die beiden Maximen der Entwicklung zu vereinen.

Um ein geeignetes Projekt zu finden, wurde 2006 ein Wettbewerb unter sechs Büros durchgeführt. Das ­Siegerprojekt von burkhalter sumi architekten behielt als einziges das bestehende Umschlaggebäude von 1962 als Teil der Überbauung bei (vgl. Situationsplan S. 31).

Dieses wurde von einem Aufbau aus Stahl aus den 1980er-Jahren befreit, aufgestockt und weitergenutzt. Entscheidend für das Konzept war die Zusammenarbeit mit den Ingenieuren von Dr. Lüchinger   Meyer, denn im Sinn der Verdichtung musste die Aufstockung substanziell ausfallen. Sie erkannten die hohe Tragfähigkeit des zweistöckigen Baukörpers aus Stahlbeton. Und weil das Bauwerk ursprünglich hohen Nutzlasten standhalten musste, waren Stützen und Fundamente entsprechend grosszügig dimensioniert.

Die Untersuchungen zeigten, dass der Stahlbau entfernt werden konnte und ein vierstöckiger Aufbau in Holz ohne kostspielige Verstärkungen des Bestands möglich war. Nicht etwa der kulturelle Wert des Bauwerks, sondern seine Robustheit war für den Erhalt entscheidend. Die grosszügige räumliche Qualität des Gebäudes kam als Bonus dazu. Mit dem Erhalt des Umschlagsgebäudes liessen sich aber auch Kosten sparen: In den beiden Sockelgeschossen sind weiterhin Verwaltungsräume der SZU untergebracht, im Untergeschoss konnte die bestehende Relaisstation verbleiben.

Abbild der bestehenden Struktur

Die Aufstockung bedingte ein Tragwerk in Leichtbauweise. Obwohl ein Stahlskelett mit Verbunddecken – bei vergleichbarer Belastung – etwa 10 % günstiger gewesen wäre, setzte sich ein Holzbau durch. Denn Ständerwände und Decken lassen sich mit dem gleichen Material vorfertigen und schnell montieren, die Einrichtung der Baustelle braucht nur wenig Platz. Zudem können Holzträger ohne thermische Brücken die aussenliegenden Balkone abfangen und die Lasten weiterleiten. Schliesslich geniesst Holz ein gutes Image und benötigt für die Herstellung und Bearbeitung wenig graue Energie.

Der Grundriss der Aufstockung musste auf den Sockel abgestimmt werden, ohne Lasten ins Gebäudezentrum abzugeben. Die bestehenden Rahmen spannen 11 m in Querrichtung bei einem Achsmass von 5 m in Längsrichtung. Der Raster war für die Wohnnutzung geeignet und wurde für die vertikalen Tragelemente übernommen. Analog zum Rahmenriegel überspannen Hauptbinder aus Brettschichtholz den Innenraum. Sie kragen beidseits 2 m aus, um die aussenliegenden Balkone abzufangen. Diese Durchlaufwirkung ist sowohl statisch als auch konstruktiv vorteilhaft, denn die ­Biegemomente des Binders sind reduziert, und die ­Balkone können stützenlos getragen werden.

In den Wandelementen werden die Lasten über Holzstützen getragen, deren Querschnitt gegen oben kontinuierlich abnimmt (180/300, 180/240, 180/180, 180/120). Die oberste Decke des Bestands wurde in der Tragachse mit Stahlträgern verstärkt, um die Holz­ständer des Neubaus abzufangen. Somit leiten die bestehenden Rahmenpfosten sämtliche Vertikallasten der Aufstockung in die Fundamente weiter. Die Anschlüsse des Holzbaus an den Massivbau sind als Neoprenlager ausgeführt und auf diese Weise akustisch entkoppelt – neben der Bahnlinie ein Muss. Die beiden Liftschächte, die Fluchttreppen und das Treppenhaus wurden in Beton erstellt. Sie steifen das Gebäude zusammen mit den Holzständerwänden in Querrichtung gegen Erdbeben und Windkräfte aus.

Um Höhe zu sparen, sind die tragenden Decken in der gleichen ­Ebene wie die Hauptbinder angeordnet. Die Elemente bestehen aus beidseitigen Dreischichtplatten, die mit einem dazwischenliegenden Vollholzträger verleimt sind. Zusammen bilden sie einen Hohlkastenquerschnitt, der mit einer Gesamtstärke von 275 mm entsprechend schlank ausfällt (l/h = 18.2). Den Schallschutz gewähren eingelegte Gartenplatten, ein schwimmender Unterlagsboden und eine an Feder­bügeln abgehängte Decke.

Im Innern ist die Holzkonstruktion nicht sichtbar. Wegen der Anforderungen REI 60, EI 30 (nicht brennbar) sind die tragenden und raumabschliessenden Bauteile mit Gipsplatten verkleidet. Das sechsstöckige Bauwerk entspricht der Qualitätssicherungsstufe Q4 gemäss Lignum-Dokumentation «Bauen mit Holz – Qualitätssicherung und Brandschutz», weshalb die Holzkonstruktion von einem externen und anerkannten Fach­ingenieur bezüglich Brandschutz geprüft werden musste. Die hohen Ansprüche an den Holzbau führten die am Wettbewerb beteiligten Ingenieure dazu, diesen Teil des Projekts an den spezialisierten Holzbauplaner Makiol   Wiederkehr zu vergeben – ein übliches Verfahren, das sich auch in diesem Fall bewährte.

Die Aussenwand ist mit hinterlüfteten Elementen ausgeführt, die zwischen den Ständern gedämmt sind. Beidseitig sind sie mit Gipsfaserplatten beplankt und innen mit einer aussteifende Dreischichtplatte versehen. Ein einheitlicher Putz überzieht Sockel und Aufstockung – das Holz in den Fassaden zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen. Noch ist die Stadt nicht das Territorium des offen zur Schau getragenen Holzbaus.

TEC21, Fr., 2015.05.08



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2015|19-20 Holzbau aufgesetzt

«Wir agieren wie die Betonpioniere»

Mit dem Kräuterzentrum von Ricola erobert der Lehmbau eine neue Grössen­ordnung. Nur gemeinsam konnten die Planer die Aufgabe meistern. Ein Lehrstück zu Vorfertigung, Vertrauen und Verantwortung.

Mit dem Kräuterzentrum von Ricola erobert der Lehmbau eine neue Grössen­ordnung. Nur gemeinsam konnten die Planer die Aufgabe meistern. Ein Lehrstück zu Vorfertigung, Vertrauen und Verantwortung.

TEC21: Herr Schnetzer, wie war Ihre erste Reaktion, als Sie erfahren haben, dass Sie mit Stampflehm in Berührung kommen werden?
Schnetzer: Ich bin es gewohnt, an Sitzungen teilzunehmen, an denen ich neuen Herausforderungen begegne. Ich versuche dabei, bei den vorgestellten gestalterischen Konzepten oder Projekten möglichst schnell die Problempunkte herauszuarbeiten und zu schauen, ob sie zu lösen, einigermassen lösbar oder gar nicht lösbar sind. Die definitive Lösung ist dann noch nicht ersichtlich. Aber man spricht miteinander und entwickelt zusammen Ideen, wie man den herausgefilterten Problempunkt als Schlüsselstelle in den Griff bekommen könnte.

Und wie haben Sie die Probleme gelöst?
Schnetzer: Ich glaube, das war ein Lehrbeispiel, wie man an ein Projekt mit vielen Unbekannten herangehen sollte. Es waren verschiedene Fachleute beteiligt, die alle ein spezifisches Wissen über ihr Gebiet haben: Lehmbau, Architektur, die statischen Zusammenhänge. Das Wichtigste war, die plane­rischen Schnittstellen zu definieren, unser Team entsprechend zu organisieren und zu klären, wer wofür verantwortlich war (vgl. «Den Lehm stützen», S. 21). Mit diesem unkonventionellen Organigramm konnte jeder sein Wissen optimal und auf einem direkten Kommunikationsweg einbringen. Es gab keine unnötigen und fehleranfälligen Schnittstellen.
Rauch: Wir befinden uns an einem interes­santen Punkt im Lehmbau, denn wir agieren wie die Betonpioniere vor 100 Jahren. Damals hat man ebenfalls grosse Bauwerke erstellt, die mit viel Innovation verbunden waren. Die Zusammenarbeit zwischen den Ingenieuren, Architekten und Bau­meistern war damals vermutlich ähnlich wie beim Kräuterzentrum: Man hat eine Idee, verfolgt diese gemeinsam, entwickelt sie, prüft die Machbarkeit, und danach zieht man begeistert in eine Richtung. Daraus entstehen ganz neue Themen.
Schnetzer: Die Analogie ist interessant. Wie begann man vor 100 oder 120 Jahren mit Beton zu bauen? Zuerst imitierte man den Holzbau mit Stützen und Balken. Bis man merkte, dass mit Beton nicht nur lineare, sondern auch flächige Formen möglich sind. Das hat zu neuen Formen und Bauwerken geführt. Flächentragwerke entstanden, und Pilz­stützen wurden erfunden. Ich denke, dass es beim Lehmbau ähnlich ist. Mit zunehmender Erfahrung kommen wir zu anderen Bauformen.

Wie müssten denn diese Formen aussehen?
Schnetzer: Lehmwände brauchen eine gewisse Tiefe, damit sie Horizontalkräfte aufnehmen können. Eine flächige Fassade ist für einen Lehmbau nicht unbedingt geeignet – im Übrigen auch für eine Backsteinwand nicht. Man erreicht keine ausreichende Steifigkeit. Der Lehm bietet aber noch andere Möglichkeiten als die gerade Fassade. Am Ricola Kräuterzentrum haben wir den Lehm in einer Richtung ausgelotet: in der Länge. Diese Dimension ist ausgeschöpft. Es bleiben andere Aspekte, die zu prüfen sind. Zum Beispiel die horizontal selbsttragende Fassade – die Fassade hier ist nur stehend und würde kippen, wenn sie nicht durch das innen­liegende Tragwerk aus Stahlbeton gehalten würde. Es gibt kleinere Bauten, bei denen die Lehmfassade problemlos die Horizontalkräfte aufnehmen kann. Es liessen sich auch für grössere Gebäude selbst­tragende Lehmfassaden entwickeln.
Rauch: Dazu ist viel Forschung nötig. An der ETH haben wir eine Kuppel aus Stampflehm errichtet (vgl. «Lehmbau im Experiment», S. 20). Die Studentinnen und Studenten hatten die Aufgabe, ein gestampftes Gewölbe aus vorgefertigten Teilen zu erstellen. Normalerweise verlaufen die charakteristischen Stampflehmschichten horizontal, so wie sie auch gestampft werden. Bei der Kuppel haben wir die fertigen Elemente teilweise um bis zu 90° gedreht. Die Schichten ver­laufen also vertikal. Uns interessierte, ob die Festigkeit gleich bleibt. Wir haben festgestellt, dass die Druckfestigkeit dadurch eher noch besser wird. Das sind Überlegungen, die noch in den Kinderschuhen stecken. Wir müssen noch viel machen, damit dieses Wissen in die Breite geht.

Wo steht der Lehmbau im Moment?
Rauch: Die wichtigste Arbeit ist, Vertrauen in das Material Lehm aufzubauen und das Interesse dafür zu wecken. Wir dachten immer, dass die Architekten angesprochen werden müssen, aber eigentlich müssen wir die Ingenieure gewinnen (lacht). Wobei ich immer positive Erfahrung gemacht habe. Die Ingenieure waren offen für das Material.
Schnetzer: In Ihrem Referat zur Eröffnung des Kräuterzentrums sprachen Sie die Normierung des Materials an. Das könnte ein Weg sein, um ­Vertrauen aufzubauen. Allerdings ist die Norm nur so gut wie die Fachleute, die sie erstellen. Es braucht also nicht nur eine Norm, sondern auch die entsprechenden Fachleute. Es schafft Vertrauen in das Material, wenn man einen genormten Baustoff hat, der fachgerecht eingebaut wird.
Rauch: Fixe Normen wären der Innovation abträglich. Wenn es eine Norm gibt und ich mich aus­serhalb der Vorgaben befinde, kann der Ingenieur schnell einmal sagen, dass das nicht geht. Dann muss ich als Unternehmer eine zugelassene Lösung ent­wickeln. Beim Lehmbau funktioniert das nicht, weil keine Lobby dahintersteht wie beim Betonbau oder bei Glasfassaden. Deshalb muss man beim Stampflehm ein bisschen vorsichtig sein. Das Ziel könnten auch Regeln sein. Wenn ich mich genau daran halte, dann kann nichts schiefgehen.
Schnetzer: Sie sprechen mir aus dem Herzen. Ich bin dagegen, dass man Normen erstellt und alles verbietet, was sich ausserhalb der Norm bewegt. In der Schweiz ist die Situation anders: Man muss sich grundsätzlich nicht an die Normen halten, denn sie sind nicht Gesetz. Bei uns fassen die Normen den Stand der Bautechnik zusammen – diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Man trägt das vorhandene Fachwissen zusammen, ergänzt es mit Forschungs­resultaten und hält alles schriftlich fest. Es ist jeder­zeit möglich, vom festgelegten Stand der Bautechnik abzuweichen, solange neues Fachwissen – mit Forschungsresultaten belegt – dies rechtfertigt. Im Prinzip müssten Sie oder jemand anders ein ­Forschungs­programm für die Erstellung einer Norm für Lehmbauten beantragen.

Kann man Lehm überhaupt normieren?
Die Bandbreite der Materialkennwerte ist gross.
Schnetzer: Es ist möglich. Wie bei jeder Norm müsste man über die Herstellung sprechen. Und über die Materialeigenschaften, die verschiedenen Zuschläge, die Dauerhaftigkeit, die Kornverteilungen, die Abrasion usw.

Das erinnert an Geotechnik.
Schnetzer: Es hat gewiss auch mit geotechnischen Aspekten zu tun. Wie man den Ton untersucht und bestimmt, das kennen die Ingenieure bereits aus der Geotechnik.
Herr Rauch, Sie nannten als wichtige Aufgabe, Vertrauen in das Material aufzubauen. Wie ist Ihnen das beim Kräuterzentrum gelungen?
Rauch: Hierzu möchte ich Richard Niemeyer erwähnen, der nach dem Zweiten Weltkrieg Bücher über den Lehmbau geschrieben hat. Für ihn war das Wichtigste, dass eine Fachkraft auf der Baustelle ist – alle anderen können Hilfsarbeiter sein. Damit wird der Facharbeiter zur Gewähr, dass beim Lehmbau nichts schiefgeht. Bei unseren Projekten ist es immer so, dass wir als Personen und Mitarbeiter hinter den Projekten stehen. Dies schafft Vertrauen beim Auftraggeber. Bei Ricola war am Anfang schon ein bisschen Angst da, ob das Material den Anforderungen genügen würde. Wir haben uns dann auf eine höhere Garantie geeinigt. Hinzu kommt, dass ich von Herzog & de Meuron als Subplaner für die Fassade beauftragt wurde, danach von Ricola als Fachplaner und in der Folge als Unternehmer. Das heisst, die Verantwortung lag immer bei derselben Person. Sorgen bereiten mir zukünftige Projekte, bei denen ein anderer Unternehmer den Stampflehm ausführen soll. Ein Baumeister gibt diese Garantien nicht ab.
Schnetzer: Das unternehmerische Risiko ist sicherlich zu würdigen. Ich gehe aber davon aus, dass Sie als Unternehmer stets genau gewusst haben, was Sie tun und welche Verantwortung Sie übernehmen. Es war kein Vabanquespiel. Und schliesslich waren andere Fachplaner dabei, die ebenfalls ihren Teil der Verantwortung übernommen haben. Dank unserer durchdachten Organisation konnten wir die Verantwortung teilen – was nicht zuletzt auch für die Bauherrschaft beruhigend war.

Wo sehen Sie die Zukunft des Lehmbaus?
Schnetzer: Lehmbauten sind sehr arbeitsintensiv. Was in unserer Gesellschaft leider mit teuer gleichzusetzen ist. Die gegenwärtige Entwicklung geht in eine komplett andere Richtung: Bauen mit möglichst wenig Arbeit – unabhängig vom Materialverbrauch. Der Lehm hat nur dann eine Chance, wenn er halbindustriell hergestellt werden kann. Ansonsten ist Lehm im Bauwesen zu teuer und bleibt eine Ideologie. Und die Trag­konstruktion der Wand und die Isolation müssten zusammengerechnet werden, um in der Gesamt­berechnung konkurrenzfähig sein zu können.
Rauch: In Europa wird Lehm sicher ein Nischenprodukt bleiben und niemals den Beton ersetzen. Da der Einsatz der anderen Baumaterialien aber die Energie von drei Welten braucht, fängt man an umzudenken. Auf lange Sicht können wir so nicht weitermachen. Vielleicht werden in anderen Ländern, wo die Tradition noch vorhanden ist, unsere Beispiele motivierend wirken und das Image des Lehmbaus verbessern. Deshalb ist es wichtig, dass wir mit unseren Bauten Zeichen setzen.

Und welche Konstruktionen sind in Zukunft zu erwarten?
Rauch: Ich glaube, dass wir tragende Kon­struktionen aus Lehm in Verbindung mit anderen Materialien sehen werden, etwa einen Holzbau als Deckentragwerk oder die Kombination von Lehm und Beton in sinnvoller, vernünftiger Weise. Ich kann mit Beton und Lehm sehr einfache und schlüssige Konstruktionen entwickeln, weil der Stampflehmbau eigentlich wie Betonbau funk­tioniert – in vielen alten Lehrbüchern wird er auch als Erdbeton bezeichnet.
Schnetzer: Ich sehe vor allem aufgrund der Arbeitsintensität, der Verfügbarkeit des Baustoffs und seines Verhaltens bei Erdbeben ein grosses Potenzial in Entwicklungsländern. Dort wird viel mit Lehm gebaut – allerdings nicht erdbeben­gerecht. Hier kann man mit Forschungsarbeiten ansetzen. Ausserdem werden viele Stahlbeton­skelettbauten mit Backsteinwänden ausgefacht. Man könnte auch Lehm einsetzen.
Rauch: Genau. Es ist eine grosse Heraus­forderungen, einen tragenden Lehmbau zu ent­werfen, der einem Erdbeben standhält. Damit bin ich oft konfrontiert. Ich bin überzeugt, dass der Stampflehm sehr resistent gegen Erdbeben ist, da die Schichtung aufgrund des Wechsels von harten und schwachen Lagen Energie umwandeln kann. Wenn man das mit einer geeigneten Be­wehrung verbinden würde, könnte man erdbebensichere Strukturen generieren. Das wäre eine enorme Chance für Entwicklungsländer.

TEC21, Fr., 2015.01.16



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TEC21 2015|03-04 Hinter der Lehmfassade

19. Dezember 2014Marko Sauer
TEC21

Millimeter trifft Zentimeter

Mit ihrem neuen Verwaltungs- und Besucherzentrum haben die Illwerke Österreichs grössten Holzbau errichtet. Architekt Hermann Kaufmann und Ingenieur Konrad Merz fanden die Balance zwischen ­Wirtschaftlichkeit und Ausdruck, zwischen Beton, Holz und Stahl.

Mit ihrem neuen Verwaltungs- und Besucherzentrum haben die Illwerke Österreichs grössten Holzbau errichtet. Architekt Hermann Kaufmann und Ingenieur Konrad Merz fanden die Balance zwischen ­Wirtschaftlichkeit und Ausdruck, zwischen Beton, Holz und Stahl.

Für seine Preziosen aus Holz ist Vorarlberg berühmt. Die Basis dieser Tradition bilden klug bewirtschaftete Wälder, ein lebendiges Handwerk und die hohe Wertschätzung von Architekten und Fachplanern. Man nutzt die Ressourcen, die in der Region vorhanden sind – was sich ebenso auf das Material bezieht wie auf die Fertigkeiten und das Wissen der beteiligten Akteure. Dennoch gibt es auch dort Grenzen für den Holzbau, die sich beim Hochhaus und bei gewerblich genutzten Bauten manifestieren. Wegen der verschärften Vorgaben zum Brandschutz muss eine Konstruktion aus Holz in der Regel verkleidet werden, und das Material ist im Vergleich zu Massiv- oder Stahlbauten wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig. Zudem verfügen die Zimmereien der Region nicht über die erforderlichen Kapazitäten, um Bauten ab einer gewissen Grösse allein zu fertigen.

Aus dem System heraus entwickelt

Architekt Hermann Kaufmann und Ingenieur Konrad Merz traten an, um die Grenzen für den Einsatz des Materials auszuweiten. Als langjährige Holzbaupioniere wissen sie um die Probleme in höheren An­forde­rungs­klassen. Zusammen mit dem Vorarlberger Unternehmen Rhomberg Bau entwickelten sie deshalb 2009 das LCT-Bausystem (vgl. Kasten). Es ermöglicht einen einfachen, modularen Holzbau, der selbst über die Hochhausgrenze hinaus nicht verkleidet werden muss. Das Grund­modul der Konstruktion bildet ein hybrides Rippen­deckenelement aus Holz und Beton, das die Planung vereinfacht und dank seinen Nach­weisen zum Brandschutz (REI 90) vom Einzelattest befreit ist. Zudem können die Zimmereien mittels Vorfertigung grössere Aufträge bewältigen, denn der Verbund von Holz und Beton findet im witterungs­geschützten Elementwerk der ­Betonindustrie statt. Die Holzbetriebe liefern für eine Deckenplatte lediglich vier Brettschicht­holzträger (280 mm × 240 mm), die – in eine Stahlschalung eingelegt – einen Überbeton (80 mm) erhalten. Auch die Stirnseite der Platte ist in Beton ausgeführt, um Brandüberschlag und Druck quer zum Holz zu verhindern.

Das neue Illwerkezentrum Montafon (IZM) ist die erste Umsetzung des LCT-Systems in direkter ­Konkurrenz zu anderen Bauweisen. In einem geladenen Wettbewerb unter 13 Büros aus Deutschland, Österreich und der Schweiz setzte sich das Architekturbüro Hermann Kaufmann aus Schwarzach mit einem rund 120 m langen Gebäude durch – wiederum in Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro Merz Kley Partner, das Büros in Dornbirn und Altenrhein betreibt. Für den Architekten stand von Anfang an fest, dass er seinen Entwurf auf das System mit der Hybriddecke ausrichten wollte. Doch wie kann aus einem einzelnen Baustein eine ansprechende Architektur entstehen? Welche räumliche Qualität kann eine Bauweise bieten, die zwar effizient in der Fläche ist, aber nur schlecht mit Auskragungen operieren kann, da die Anschlüsse gelenkig ausgelegt sind?

Zusammen mit der Vorgabe, dass alle Arbeitsplätze über vergleichbare Bedingungen und Lichtverhältnisse verfügen sollten – wodurch auch die Gebäudetiefe weitgehend definiert war –, stand das Büro Kaufmann vor einer schwierigen Aufgabe: Die Form war in den grösstenteils durch das Modul und die Rahmenbedingungen bestimmt, ebenso die Ausrichtung mit den Hauptfassaden Richtung West und Ost. Auf dem Perimeter neben dem Ausgleichsbecken in Vandans war jedoch kein Platz für das lange Gebäude: Das Haus musste auf das Wasser ausweichen, an dessen Ufer es liegen sollte. Und so steht der lange Holzbau nun auf rund einem Viertel seiner Länge im künstlichen See, den die Illwerke seit 1943 für den Wasserausgleich betreiben. Der fünf­geschossige Riegel rückt in die Nähe der westlich gelegenen Kraftwerksanlage Rodund (vgl. Situation S. 23) und hält einen grosszügigen Grünraum frei, der den Blick auf die gesamte Längsfassade ermöglicht.

Struktur bildet den Raum

Bis zur Decke über dem Erdgeschoss sind die erd- und wasserberührten Bauteile des IZM in Ortbeton erstellt. Um das Plattenfundament auf dem Seeufer zu erstellen, mussten die Baustelle mit einem Damm zwischen zwei Spundwänden vom Becken abgetrennt und die Baugrube trockengelegt werden. Der mit Lehm abgedichtete Beckenboden wurde nach dessen Entfernung sorgfältig wieder verschlossen. Das Erdgeschoss beherbergt entsprechend der Tragfähigkeit des Betons die Räume mit den grössten Spannweiten: den Empfang, die auf drei Seiten offene Mensa mit der Küche und einen Vortragssaal. Zusammen mit der Treppe, die zu den Seminarräumen im 1. Obergeschoss führt, bietet die Eingangshalle einen grosszügigen zweigeschossigen Raum. Ebenfalls aus Beton sind die beiden Treppentürme ausgeführt, an denen in jedem Geschoss eine 8 m tiefe Plattform angehängt ist. Sie stabilisieren die Konstruktion und sorgen für ausreichend Fluchtwege im 120 m langen Bau. An die Türme sind die vier Geschosse in Holzbauweise wie ein Segel angehängt und die Decken­elemente an den Plattformen verankert. Um die ­Zugkräfte aufzunehmen, wurden je nach Belastung ­zwischen zwei bis vier Zugstangen in die Rippenverbundplatten eingegossen. Ein Schloss verbindet die Elemente untereinander; so werden die Zugkräfte in den Stahlbeton der Treppentürme eingeleitet.

In diesen vier Geschossen, wo die Abteilungen der Illwerke ihre Büros haben, dominiert also der Holzbau. Im Rohbau wurden die rund 10 000 m² Nutzfläche in nur sechs Wochen erstellt – eine Zahl, die illustriert, wie leistungsfähig das System und die Vorfertigung sind. Das Besondere daran: Das Tragwerk des Rohbaus wird zum bestimmenden Element im fertigen Büro. Hier spielt es seine Stärken aus, denn das Holz wird nicht mit Gipsplatten ummantelt. Für den Endausbau wurde ein Hohlkastenboden auf die rohe Decke des Elements eingebaut. Zwischen die Rippen des Deckenelements kam hinter Schallschutzblechen die Verteilung der Haustechnik zu liegen. Die Hauptleitungen verlaufen über einer herabgehängten Decke in einer zentralen Zone (vgl. Schnitt oben).

Die Bleche wurden hauchdünn mit Farbe bespritzt, gerade genug, um die störenden Löcher abzudecken, aber immer noch so dünn, dass deren akustische Wirksamkeit beibehalten blieb. Das Detail steht für die verschiedenen Ebenen, die im IZM zusammenkommen: Die Klarheit und Effizienz des Tragwerks trifft auf einen sorgfältigen handwerklichen Ausbau, der sich den Rhythmus und die Strukturen des Systems zunutze macht. Genau in dieser Balance zwischen rationaler Bauweise und passgenauem Ausbau liegt der Reiz des IZM – und das Potenzial von Holzbauten in diesen Dimensionen.

Den Widerspruch überwinden

Das klassische Bausystem aus Stützen und Platten ist die Domäne des Betons. Das IZM dringt als Holzbau darin ein und vereint, was im ersten Moment unvereinbar erscheint. Das Bausystem ist wirtschaftlich, und es geht mit der Qualität eines individuell konstruierten Holzbaus einher. Dazu mussten die Planer eine Lösung für die unterschiedlichen Toleranzen auf der Baustelle finden: Der Baumeister arbeitet vor Ort mit einer Genauigkeit von einem Zentimeter, der Zimmermann und der Stahlbauer im Bereich von Millimetern. Insbesondere im Bereich der Fassaden kommt dies zum Tragen, denn dort werden die Elemente gestapelt: Auf den Holzstützen liegt die Deckenplatte, auf der wiederum die nächsten Holzstützen stehen. Der Betonüberzug der vorgefertigten Elemente aus dem Werk weist Toleranzen auf, die auf der Baustelle ausgeglichen werden müssen.

Die Lösung, diese Massgenauigkeiten auf einen Nenner zu bringen, liegt im Deckenelement: In jeder Ecke durchdringt ein Hüllwellrohr ( 80 mm) den betonierten Stirnbereich der Platte von oben nach unten. Auf der Stütze, in die ein Metallstab mit einer Bohrung eingelassen ist, liegt die Betonstirn auf. Die nächste Stütze weist an ihrem Fuss einen konisch zulaufenden Dorn auf, der genau in die Bohrung des Stahlrohrs passt. Dank diesem Detail lässt sich die Präzi­sion des Holz- und Stahlbaus über die fünf Geschosse aufrechterhalten. Rund um den Dorn bleibt eine Fuge, die mit Mörtel vergossen wird. Mit einfachen Mitteln werden die unterschiedlichen Toleranzen ausgeglichen.

Quantensprung in der Grösse

Das Büro Kaufmann baut schon seit Langem im Passiv­hausstandard, so auch das IZM. Dieses nutzt zudem konsequent die Abwärme der nahe gelegenen Stromgeneratoren: Ein 450 m³ grosses Becken mit Wasser von 12 bis 18 °C steht das ganze Jahr über zur Verfügung. Alle Elektromotoren der Gebäudetechnik laufen mit Gleichstrom ohne Umwandlungsverluste, im ganzen Haus erstrahlen durchgehend LED-Leuchten. Und  dass bei den Illwerken – wenig erstaunlich – ausschliesslich Strom aus Wasserkraft zum Einsatz kommt, verbessert die Nachhaltigkeitsbilanz. Dafür hat das IZM ein Green-Building-Zertifikat nach ÖGNI-/DGNB in Gold erhalten; Dies belegt, dass neben bau­lichen und energetischen auch weitere Ziele bezüglich Ökologie, Ökonomie sowie soziokultureller, technischer und Prozessqualität verfolgt wurden.

Hermann Kaufmann und Konrad Merz betreiben mit der Holz-Beton-Rippenverbunddecke Grund­lagenforschung für den Holzbau in dieser Grössen­ordnung. Die Idee ist zwar nicht neu, und es gibt vergleichbare Lösungen auf dem Markt, aber mit dem IZM ist eine beispielhafte Balance zwischen industriel­ler Vorfertigung und individuellem Ausbau gelungen. Ohne seine haptischen Qualitäten einzubüssen, bietet das Material ein leistungsfähiges Bausystem, das der Holzwirtschaft neue Einsatzgebiete eröffnet.

TEC21, Fr., 2014.12.19



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TEC21 2014|51-52 Holzbau nackt

19. September 2014Marko Sauer
TEC21

Den Hut ziehen

Referenzen sind ein wichtiges Arbeitsmittel in der Architektur. Die meisten Bauwerke zitieren Vorbilder – doch wie gehen Entwerfer mit diesen Vorbildern um? Eine kleine Spurensuche.

Referenzen sind ein wichtiges Arbeitsmittel in der Architektur. Die meisten Bauwerke zitieren Vorbilder – doch wie gehen Entwerfer mit diesen Vorbildern um? Eine kleine Spurensuche.

Unsere Baukultur haben Generationen von Architekten geformt. Denn der Ausdruck von Gebäuden entwickelt sich in unzähligen kleinen Schritten: Architektur ist Evolution, nicht Revolution. Ohne Unterlass werden Typologien und Formen geschliffen und geschärft. Zwar wollte die Moderne einen Schnitt setzen und die Architektur neu erfinden, aber selbst ihre Protagonisten waren bestens vertraut mit der klassischen Stilkunde und bauten ihren Formenkanon auf dem Fundament der Geschichte auf. So bleibt auch im 21. Jahrhundert der Umgang mit Vorbildern eine der Grundfesten des Berufs.

Nach einigen Ausflügen in parametrische Experimente und Versuche, Gebäude ex nihilo zu ent­werfen, steht die Ausbildung anhand Referenzen wieder im Mittelpunkt. Als Gastkritiker steht man deshalb meistens vor Semesterarbeiten, die historische Vorbilder zitieren. Dabei entstehen manchmal interessante Collagen: zum Beispiel eine Fassade nach Fernand Pouillon – momentan wieder hoch im Kurs – in Kombination mit einem gründerzeitlichen Grundriss. Oder ein italie­ni­scher Rationalist, der mit organisch geformten Räumen vermählt wird. Kurzum: Die Vorbilder prallen meis­tens mit den eigenen Entwurfsabsichten zusammen.

«If you copy, copy good.» Diesen Ratschlag von Elias Zenghelis, seines Zeichens Lehrer von Rem Koolhaas und Mitbegründer des Office for Metropolitan Architecture (OMA), habe ich als Student selbst oft gehört. Dabei war nicht immer ganz klar, was Zenghelis damit nun meinte: Sollte die Kopie gut sein – was wohl ein «well» am Ende bedingt hätte? Oder müsste wenigstens das Original, nach dem die Kopie gefertigt ist, «good» sein? Am besten wohl beides. Doch wo befinden sich die Grenzen zwischen Plagiat, Kopie und Referenz? Wann ist das Zitat gelungen? Diese Fragen sind nicht nur im Studium von Bedeutung, denn in der Praxis spielen Referenzen eine ebenso wichtige Rolle.

Um dem Umgang mit Vorbildern nachzuspüren, eignet sich das Beispiel der Färberei der Hutfabrik in Luckenwalde (1923) bestens. Elegant verknüpfte Erich Mendelsohn Funktion und Gestalt; aus den Vorgaben der Produk­tion (über die Haube des Dachs wurden ­giftige Dämpfe abgesaugt) entstand eine eigenwillig spannungsvolle Form.

Ihr Bild brennt sich jedem ein, der es sieht. Und so taucht die Dachform – meistens verfremdet – immer wieder in den einschlägigen Publika­tionen auf.

Offensichtlich diente Mendelsohns Gebäude Joseph Smolenicky als Vorbild für den Golfklub am Sempachersee – auch wenn vom Programm kaum etwas weiter entfernt sein könnte als ein Golfklub von einem Industriebetrieb. Als Apologet der Lehren von Miroslav Šik und Hans Kollhoff kommt Smolenicky kaum darum herum, historische Vorbilder zu zitieren. Doch mit einem kreuzförmigen Grundriss, der sich in die Landschaft verzahnt, erschafft er ein eigenes, eigenständiges Werk. Das prägnante Dach bildete den Ausgangspunkt der entwerferischen Suche: Die Form löste sich von der Funktion und fand an einem neuen Ort und unter veränderten Bedingungen eine zeitgenössische Interpretation. Das Zitat ist weit mehr als Dekoration oder blosser Beweis für die Belesenheit des Architekten: Die eigenwillige Form hat die Gestalt des Hauses geprägt.

Auch beim Umbau der Kantonsbibliothek Liestal schimmert die Färberei von Mendelsohn durch – selbst wenn in der Fachpresse der Bezug auf die ursprüngliche Dachform der ehemaligen Lagerhalle hervorgehoben wird (vgl. TEC21 49–50/2005 sowie «werk, bauen   
wohnen» 10/2005). Liechti Graf Zumsteg Architekten überlagern beide Zitate – Mendelsohn und den Vorgängerbau –, wodurch die Dachform aus den Fugen gerät. Die Haube wird zur Laterne, die Eindeckung des Dachs geht nahtlos in eine mansardenähnliche Wand über. Die Gauben, als Zitat der ehemaligen Lagerhalle, unterbrechen die Dachform und verleihen ihr einen völlig neuen Ausdruck. Wäre dies nach Zenghelis noch «copy good»? Ist in diesem Fall die Färberei als Vorbild noch geeignet oder bloss ein fernes Echo? Vielleicht wäre dies der Moment gewesen, eine neue Referenz zu suchen. Kill your darlings.

TEC21, Fr., 2014.09.19



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TEC21 2014|38 140 Jahre TEC21

14. September 2014Marko Sauer
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Hommage an einen Vergessenen

Hermann Siegrist legte in den 1930er-Jahren einen avantgardistischen Wurf hin, danach verschwand er in der Versenkung. Eine Renovation lässt sein Hauptwerk neu erstrahlen und ruft sein Talent in Erinnerung.

Hermann Siegrist legte in den 1930er-Jahren einen avantgardistischen Wurf hin, danach verschwand er in der Versenkung. Eine Renovation lässt sein Hauptwerk neu erstrahlen und ruft sein Talent in Erinnerung.

Zum Abschluss der Sanierung im Oktober 2013 erhielt Benjamin Widmer ein besonderes Geschenk: Seine Freunde haben dem jungen Architekten den Rindsohrhaar­pinsel eingerahmt, mit dem er die Wände im Innern seines Hauses gestrichen hatte. Eine äusserst zeitraubende Tätigkeit, doch Widmer wollte den Duktus der Hand auf dem Anstrich der Ölfarbe sehen. Die Farbe mit einem Roller aufzutragen hätte zu einer homogenen Oberfläche geführt, und um einen Maler damit zu beauftragen, fehlten ihm die Mittel. Der zierliche Pinsel steht für die Mühen der letzten Jahre. «Gut, dass ich nicht von Anfang an wusste, wie viel Arbeit bei dieser Sanierung auf mich zukommt», kommentiert Widmer die Schinderei. «Rückblickend muss ich sagen: Ich würde es nicht mehr ­machen.» Eine Koketterie, die man oft zu hören bekommt. Doch Benjamin Widmer meint es ernst. Dabei hat nur er selbst sich angetrieben – und mit unerbittlicher Akribie ein Schlüsselwerk der frühen Schweizer Moderne in Winterthur wieder zum Leben erweckt.

Die Siedlung des Architekten Hermann Siegrist aus dem Jahr 1932 liegt zwischen der Leimeneggstrasse und der Bahnlinie Richtung St. Gallen. Sie umfasst eine Fünferzeile und ein Doppelhaus, in dessen westlicher Hälfte Architekt Siegrist selbst lebte. Im Ausbau unterscheiden sich die Häuser: Das Wohnhaus der Familie Siegrist setzt dabei mit den durchgearbeiteten Details die Wohnvorstellungen der Moderne am radikalsten um (vgl. «Leben mit der Moderne», S. 30). Es wurde 1985 verkauft und ist heute noch weitgehend im Original­zustand erhalten. Die östliche Hälfte des Doppelhauses stand 2008 zum Verkauf: der Beginn der gemeinsamen Geschichte von Benjamin Widmer und dem Haus.

Die Siedlung stand noch nicht behördenverbindlich unter dem Schutz der Denkmalpflege, und aufgrund der guten Lage drohte das Haus in falsche Hände zu geraten: In der Fünferzeile belegt der Augenschein von aussen, dass nicht jeder Besitzer mit der Bausubstanz aus den 1930er-Jahren umgehen kann. Widmer versuchte zunächst, eine passende Institution zu finden, die das Haus hätte übernehmen und sanieren können. Doch als sich abzeichnete, dass er niemanden zu einem Kauf bewegen konnte, platzierte er selbst ein Angebot. Angesichts seiner beschränkten finanziellen Mittel rechnete er sich nur wenig Chancen aus – doch wider Erwarten bekam er den Zuschlag.

Der Wechsel der Zeit und der Moden

Nach der Freude über den überraschenden Kauf begann die Arbeit und das Leben auf einer Baustelle – zusammen mit seiner Partnerin, einer Journalistin, die geduldig den Staub der Bauarbeiten und den Perfektionismus des Architekten ertrug. Als Erstes wurde die Kon­struktion geprüft. Das Flachdach war undicht, ebenso die Glasbausteine im Oberlicht des Treppenhauses. Die schlanke Fassade aus gerade mal 12 cm Sichtbeton hatte gelitten: Etwa die Hälfte der Fläche war von Ab­platzungen betroffen, die Bewehrungseisen korrodiert. Die beiden Geschossdecken aus 9 cm Beton (bei einer Spannweite von bis zu 5,5 m) waren an der Grenze ihrer Tragfähigkeit und hingen im Mass ihrer Stärke durch.

Die Innendämmung bestand aus 4 cm Ondulex, einer mit bituminösen Stoffen imprägnierten Wellkartonplatte, die als verlorene Schalung eingelegt wurde. Das Material diente gleichzeitig als Dampfsperre. Ein 3 cm starker Zementputz hätte den Feuchteeintrag ­regulieren sollen, doch die Isolation war komplett durchnässt und verlor damit ihre Dämmleistung. Mit der Feuchtigkeit zog ein modriger Geruch ein, der das Haus durchdrang. Seit der Erstellung war nie eine tiefgreifende Erneuerung erfolgt, jedoch waren die Oberflächen im Innern nach einigen kleineren Umbauten nicht mehr original: Schwarze Täfelung hing von den Decken; Rundbögen in den Durchgängen zeugten von veränderten Gestaltungsvorstellungen; auf der Terrasse lagen kleinformatige Betonverbundsteine anstelle der grossformatigen Platten; die Fenster wurden in den 1980er-Jahren ausgewechselt; die metallene Ein­gangs­tür war ersetzt worden. Am schwersten wog der Austausch der Eckverglasung durch ein Fenster mit Rahmen. Im ursprünglichen Zustand demonstrierte die Ecke, über dem Bandfenster schwebend, eindrücklich die Forderungen von Le Corbusier in seinen fünf Punkten: Befreit von der Last der restlichen Konstruktion fand die Fassade ihren eigenen Ausdruck.

Widmer sondierte nicht nur im Objekt selbst nach den originalen Befunden – insbesondere die Farben konnte er häufig eruieren –, sondern studierte auch die Literatur und historische Dokumente. Als wertvolle Quelle diente ihm die Monografie von 1982, in der das ehemalige Wohnhaus von Hermann Siegrist akribisch dokumentiert wurde.[1] Darin konnte er Details und ­Kon­struktionen nachschlagen, und da ein wesentlicher Teil der Publikation die Möblierung umfasste, war die ­Entwurfsabsicht Siegrists gut dokumentiert. Die Moderne zeigte sich an der Leimeneggstrasse als ein Gesamtkunstwerk, das das ganze Leben durchdrang.

Detaillierte Rekonstruktionen...

Dieser Haltung verpflichtet, machte sich Benjamin Widmer an die Arbeit. Er strebte eine Sanierung an, die sich auf dem Mittelweg bewegt zwischen der radikalen Version von Siegrists Wohnhaus und der «gemütlicheren» Version seines eigenen Hauses – Holztreppe anstelle der Metallstiege, gestemmte Türen mit Holzrahmen statt der Metallzargen mit ebenen Türblättern. Als Erstes wich das Ondulex. Stattdessen baute Widmer 6 cm Poren­beton ein und liess einen Putz mit einem grossen Anteil an Verunreinigungen aufbringen, um gleich nach der Renovation die Wärme und Patina eines Altbaus zu erhalten. Wo die originalen Farbtöne nicht zu ermitteln waren, griff er auf die Farbpalette von Le Corbusier zurück. Das Resultat ist verblüffend: Einmal mehr wird das Bild der weissen Moderne widerlegt. Vom sumpfgrünen Linoleumboden bis zum rosa Badezimmer und der hellblauen Küche zeigt das von aussen nüchtern wirkende Haus im Innern seine liebliche Seite.

Die durchhängenden Decken wurden mit einem Stahlträger unter der obersten Decke stabilisiert. Dieser liegt nun genau in der Trennwand zwischen den beiden Zimmern des Obergeschosses. Er ist eingespannt zwischen einem bestehenden Stahlprofil, das auf der Wand zum Gang aufliegt, und der Aussenwand. Widmer nutzte die Chance, die bestehende Falttür zwischen den Räumen vom Gang an die Fassade zu verlegen. Wenn die Tür zurückgezogen ist, bietet nun auch das Obergeschoss einen Blick auf das gesamte Bandfenster. Durch Zugstangen in der Wand ist die Decke über dem Wohnzimmer am selben Stahlprofil abgehängt.

Die Fenster wurden ersetzt und auf den Originalzustand zurückgeführt: In der ursprünglichen Version hatten die Fenster einen Kämpfer mit einem Klappflügel aufgewiesen, der oben gebandet gegen aus­sen öffnet – ein Detail, das heute kein Fensterbauer mehr in seinem Sortiment führt. Hartnäckig drängte Widmer die Handwerker dazu, eine Lösung für diese Öffnungsart zu finden, und nach einigem Hin und Her gelang das Vorhaben. Erst durch den gezielten Einsatz von verschiedenen Holzarten fanden Stabilität und Feinheit in ein Gleichgewicht. Selbstverständlich zeigt sich die prominente Eckverglasung im Wohnzimmer wieder stilgerecht als Stufenverglasung mit einer gestossenen Ecke aus Glas. Damit war eines der Kernelemente der Gestaltung wiederhergestellt.

Neben dem langen Bandfenster ist das Haus durch die geschwungene Treppe gekennzeichnet. Sie verleiht der funktionalen, kleinteiligen Struktur des Gebäudes Grosszügigkeit und bricht dessen Strenge auf. Auch für die Treppe fand Widmer einen Ausdruck, der zwischen dem Bestand (klar lackierte Buche) und der Version von Siegrists Haus (Metallspanten mit Ver­kleidung aus hell gestrichenem Sperrholz, dunklem Holzabschluss und aufgesetztem Metallrohr als Handlauf) vermittelt. Er beliess die Konstruktion in Holz und strich sie in Umbra, um zusammen mit der metallenen Wendeltreppe aufs Dach eine zusammenhängende Figur zu erzeugen.

Die Terrasse wurde abgedichtet und mit Platten von 1 m Kantenlänge belegt, deren Lachsfarbe überrascht. Auf den historischen Aufnahmen lässt sich ihre ­Farbigkeit nur erahnen – in diesem Punkt erlaubte sich Widmer eine Auslegung des geschichtlichen ­Befunds. Bei der Fassade hingegen strebte er eine Rekonstruktion an: Den Flickstellen wurden mit dem Hammer sorgfältig die Poren des historischen Betons hinzugefügt und die horizontalen Streifen der Brettschalung retuschiert.

...und freie Interpretationen

Nicht überall war der ursprüngliche Zustand ein­deutig zu belegen. An einigen Stellen im Haus nahm sich der Architekt deshalb die Freiheit, seine eigenen ­Ideen umzusetzen. Insbesondere die Küche entsprach nicht den Vorstellungen der neuen Bewohner, aber eine banale Einbauküche kam nicht infrage. Deshalb entwarf Widmer eine passgenaue Ausstattung, die mit viel Erfindungsgeist den beschränkten Raum ausnutzt. Wie auf einem Schiff oder in einem Eisenbahnwagen – auch hier schimmert Le Corbusier durch – erleichtern ausfahrbare Arbeitsflächen und in die Ablagen eingelassene Schneidbretter die Arbeit unter engsten Bedingungen. Um die kleine Küche zu erweitern, verwandelte der Bauherr die angeschlossene Waschküche in eine offene Vorratskammer.

Die geschwungenen Tablare mit den dunkelbraunen Umleimern passen sich dem Ausdruck des Hauses an und scheinen aus der gleichen Zeit zu stammen.

Den Vorstellungen der Hygiene entsprechend waren alle Zimmer im Obergeschoss mit einem ­Lavabo ausgestattet. Widmer hat sie erhalten, aus­ser im südlich gelegenen Eckzimmer, wo er aus der Wasch­gelegenheit einen Schminktisch für die Dame des Hauses eingebaut hat – ein klassisches Zitat, das an längst vergangene Lebenswelten erinnert. Diese Zeiten leben nun in den Farbbildern dieses Berichts wieder auf: Für die Fotostrecke wurde das Haus mit Möbeln der Zürcher Firma Wohnbedarf ausgestattet – wie einst das Wohnhaus von Siegrist bei dessen ­Einweihung. Ein Manifest der «guten Form».


Anmerkung:
[01] Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano (Hg.), Hermann Siegrist – Siedlung Leimenegg, ETH Zürich: Professur Schnebli, 1982

TEC21, So., 2014.09.14



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29. August 2014Marko Sauer
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«...and then we interpret the artists»

Die Kunst stand Pate: Ein kunstsinniges Paar erstand das Wohnhaus des ehemaligen Gemeindebaumeisters von St. Gallen, der Architekt steuerte Einbauten im Stile der Minimal Art bei, und Malermeister Capobianco ­vollendete die Renovation mit italienischer Handwerkskunst.

Die Kunst stand Pate: Ein kunstsinniges Paar erstand das Wohnhaus des ehemaligen Gemeindebaumeisters von St. Gallen, der Architekt steuerte Einbauten im Stile der Minimal Art bei, und Malermeister Capobianco ­vollendete die Renovation mit italienischer Handwerkskunst.

Das Haus barg einige Überraschungen. Über die Jahrzehnte war ein Teil des baukünstlerischen Schmucks hinter dicken Farbschichten und Holzfaserplatten verschwunden. Erst durch Sondierungen vor dem Umbau kamen zwei Schätze zum Vorschein: Niemand konnte sich an die reich verzierte Malerei im Treppenhaus und an die wertvolle, frei geformte Stuckatur mit den Engelsköpfen erinnern. Ganz aus heiterem Himmel kamen diese Entdeckungen zwar nicht, denn das Haus ist im Inventar der schützenswerten Bauten der Stadt aufgeführt, und die Ausgestaltung liess erahnen, dass der damalige Gemeindebaumeister beim Bau seines Wohnhauses 1900 nicht gegeizt hatte. Doch die Ausmasse und die Qualität dieser Handwerkskunst waren herausragend – der Aufschwung, der mit dem Stickereihandel einherging, hatte in diesem Haus eine seiner schönsten Blüten getrieben, bevor der Erste ­Weltkrieg ausbrach und der Handel mit Luxusgütern ein jähes Ende fand.

Die neuen Eigentümer traten ein reiches Erbe an und damit verbunden die grosse Herausforderung, mit den erhaltenen und neu entdeckten Elementen einen zusammenhängenden Entwurf zu finden, der ihrem Lebensgefühl entspricht und gleichzeitig die Zeugen einer Epoche bewahrt. Erschwerend kam hinzu, dass jedes der drei repräsentativen Zimmer im Obergeschoss, dem Wohngeschoss der neuen Hausherren, einen eigenen Ausdruck aufweist: Während der Raum im Osten neoklassizistisch erscheint, bietet das zentral gelegene Esszimmer einen Ausflug in die griechische Mythologie. Der Salon hingegen ist wieder mit Elementen des Barocks ausgeschmückt. Der Entwurf für den Umbau folgte deshalb nicht einem durchgehenden Schema, Architekt Mike Masny und die Bauherrschaft suchten individuelle Lösungen im Umgang mit den teilweise nur noch fragmentarisch erhaltenen Zeitzeugen. Einige davon wurden kunstvoll restauriert, andere neu interpretiert und mancher Schatz auch einfach für die Nachwelt gesichert. In Ansätzen erinnerte die Aufgabe an die Sanierung der Villa Patumbah in Zürich (Vgl. TEC21 41–42, 2013), jedoch sind die Räume zum Wohnen und nicht als Museum gedacht – eine durchgängige Atmosphäre steht deshalb über der historisch korrekten Ausformulierung. Für die beiden erwähnten Entdeckungen hatte dies unterschiedliche Folgen: Die Dekormalerei im Treppenhaus verschwand wieder hinter einer Schutzschicht, die Stuckatur hingegen wurde sorgfältig erneuert.

Der Handwerker als Autor

Als Leitmotiv des Umbaus mag ein Kunstwerk dienen, das ab Herbst den Garten der Villa zieren wird. Ein Satz der walisischen Künstlerin Bethan Huws wird dort in Neonbuchstaben erstrahlen: «Artists interpret the ­world and then we interpret the artists.» Das Werk ­leuchtet – in grösserer Ausführung – seit dem Gallusjubiläum von 2012 über der wildromantischen Mühlenenschlucht gleich hinter dem Kloster. Ein Vexierspiel. Und ähnlich diesem dialektischen Sprachspiel mischen und über­lagern sich im Gebäude an der Zwinglistrasse nun die zeitgenössischen und historischen Elemente – wobei nicht immer klar ist, zu welcher Epoche der ­baukünstlerische Schmuck gehören will. Beispielhaft für diese anregende Verwirrung steht die kunstvolle Imitation der Holzmaserung auf allem, was nicht Parkett ist: Türen, Fenster, Täfer und Heizkörperverkleidungen. Die Denkmalpflege schlug diese Malerei als ein übliches Ausdrucksmittel der damaligen Epoche vor. Zu Beginn sehr skeptisch, waren die Eigentümer nach den ersten Mustern begeistert. Sie fanden so viel Ge­fallen daran, dass sie Fläche um Fläche von Maler­meister Antonio Capobianco gestalten liessen, der sich die Kunst der Maserierung während seiner Lehrzeit in der Region Kampanien angeeignet hatte. Und so zieren nun seine Imitationen die Holzflächen vom Sockelgeschoss bis unters Dach. Sind sie ein Ausdruck der Entstehungperiode? Genauso gut könnten sie als kritische Gegenposition zur Forderung der Moderne nach Materialwahrheit gelesen werden. Oder sind die zierlichen Metallriegel der originalen Fenster in ihrem Holzkleid gar ironisch gemeint? Die Lesart bleibt offen, die Interpretation dem Betrachter überlassen. Die Malerei von Capobianco findet ihren Höhepunkt im Turmzimmer, das er rundherum mit einer Eichenmaserung versehen hat. Dort hat er sein Werk auch signiert – es ist ebenso Kunst wie die Bilder, die im Haus hängen.

Ergänzungen im Stil der Minimal Art

Strukturell bedurfte es keiner grossen Interventionen, denn der Grundriss bietet auch für heutige Verhältnisse grosszügigen und repräsentativen Raum. Der tiefste Eingriff erfolgte in Küche und Badezimmer. Sie sind mit Chromstahl und Marmor schlicht gehalten, die Keramikplatten in der Küche sind original und teilweise aus dem Bestand der unteren Wohnung im Erdgeschoss ergänzt. Diese wurde ebenfalls renoviert – weniger aufwendig als im Obergeschoss, aber im gleichen Geist. Die Zimmer im Dachgeschoss werden vorläufig noch als Gästezimmer genutzt, die Installationen sind jedoch so weit vorbereitet, dass daraus ohne weitere Eingriffe in die Haustechnik eine separate Wohnung entstehen kann.

Drei Einbauten ergänzen die Räume im Obergeschoss: im Wohnzimmer das neue Cheminée aus ­Messing von Metallbauer Tobias Leggnenhager, ein frei stehender Schrank im Salon, der als Bibliothek dient, und der ebenfalls im Raum stehende schwarze Schrank in der Umkleide. Allen gemein ist die redu­zierte, kubische Formensprache; gleichsam eine Reverenz an die Minimal Art der 1960er-Jahre. Den markantesten Eingriff bildet der mystische dunkle Block, in dem die Kleider verschwinden und an dessen kurzen Enden schwarz schimmerndes Glas als Spiegel dient. Un­weigerlich erinnert dieser Einbau an den extra­terrestrischen Monolithen in Stanley Kubricks Film «2001: A Space Odyssey». Die Absicht war, die Wände frei zu halten und damit das Zimmer in seiner ganzen Gestalt zu zeigen. Die Decke mit der bereits erwähnten, frei­händig gestalteten Stuckatur scheint über dem ­Möbel zu schweben, was hervorragend zu den dargestellten Engelsköpfen passt, doch der verbleibende Raum wirkt etwas gestaucht und eng.

Das grüne Kleid des Hauses

Der Garten wird nicht nur durch das Kunstwerk von Bethan Huws verändert, das dereinst vor einer mit Efeu dicht bewachsenen Wand erstrahlen wird. Ähnlich wie beim Haus war auch im Garten die einstige Gestaltung nur noch im Ansatz zu erkennen. Ein neues Bepflanzungskonzept wird die Verbindung zwischen Haus und Garten in ein neues Gleichgewicht bringen – das sich an der ursprünglichen Intention orientiert. Der Landschaftsarchitekt Roman Häne beschreibt in seinem Konzept, dass wie in der Zeit um 1900 herum einheimische Wald- und Feldgehölze das «Gerüst des Gartens» bilden sollen, während wertvolle Exoten in Hausnähe, dekorative Blätter oder Blüten und Raritäten den Garten schmücken. Denn anstatt das Gebäude durch weite Flächen zur Geltung zu bringen, wie es heute oft üblich ist, sieht der Plan vor, das Haus in ein grünes Beet aus Schmuckpflanzen zu setzen, das sich dem südlich gelegenen Abhang entlang zieht.

Hinter dem Haus bleibt hangseitig der befestigte Zugang bestehen, daneben wird im Herbst ein Pavillon erstellt. Das Architekturbüro Keller Hubacher aus Herisau wird auf einer Betonplatte, die gleichsam über dem Gelände zu schweben scheint, eine Stahlstruktur errichten. Das Bauwerk berührt den Boden nur an ­wenigen Punkten – das Wurzelwerk einer stattlichen Linde, die ebenfalls unter Schutz steht, lässt nur eine geringe Belastung des Bodens zu.

Das Leben als Kunst

Eine der wichtigsten Forderungen des Jugendstils war, dass «Kunst und Leben» verschmelzen und die künstlerische Gestaltung den Alltag durchdringt. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Arts-and-Crafts- Bewegung, die Kunst und Handwerk vereinigt. Die Villa an der Zwinglistrasse ist ein beredtes Beispiel dieser Epoche. Die neuen Bewohner haben nicht nur formal an diese Tradition angeknüpft. Mit ihrem Sinn für ausdrucksstarke Kunst und hochwertiges Handwerk haben sie eine beinahe ausgestorbene ­Haltung in ­dieses Jahrhundert transportiert.

TEC21, Fr., 2014.08.29



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29. August 2014Marko Sauer
TEC21

Jugendstil trifft Enterprise

Ein moderner Anbau ergänzt das Haus im Stil eines Landschlösschens aus dem Jahr 1902. In dessen alter Hülle steckt viel Technik und Innovation.

Ein moderner Anbau ergänzt das Haus im Stil eines Landschlösschens aus dem Jahr 1902. In dessen alter Hülle steckt viel Technik und Innovation.

David Gastrau steht in der Küche und fingert auf seinem Tablet herum. Nach einigen Taps und Swipes geht das Licht über dem Esstisch an. Er hätte auch einen der zierlichen neuen Porzellanschalter betätigen können, doch mit Begeisterung führt er alle Gimmicks vor, die das Haus zu bieten hat. Kameras überwachen Haus und Garten, alle Räume verfügen über Sensoren, die Bewegungen, Temperatur und Licht registrieren. Man kann von jedem Punkt der Welt darauf zugreifen – so weit das Internet reicht. Und wenn die Bewohner keine Zeit haben, einen Blick auf das Geschehen zu werfen, übernimmt dies das intelligente System der Haustechnik. Gastrau ist Architekt und stammt ursprünglich aus Los Angeles, wo er einige Jahre bei Frank Gehry gearbeitet hat. Auch wenn er nun seit über 20 Jahren zusammen mit seiner Büropartnerin Monika Fürer in Gossau SG tätig ist: Das Temperament ist ihm geblieben, die grosszügige Geste, die Freude an der Technologie. Dies zeigt sich in dieser Sanierung, die modernste Technik in einem historischen Gewand präsentiert und dem verträumten Landschlösschen einen trockenen Anbau in Sichtbeton an die Seite stellt.

Das Haus auf dem St. Galler Rosenberg war über lange Jahre in tiefen Schlaf versunken. Im Garten wucherte Gestrüpp, Wasser drang ein und setzte der Substanz ebenso zu wie die Ameisen, Holzwürmer und Marder, die das Haus bewohnten. Der Unterhalt war über 70 Jahre lang liegen geblieben – die Liste der ­anstehenden Arbeiten entsprechend lang. Auf der anderen Seite befand sich der Innenausbau noch weitgehend im Urzustand: mit eleganten Jugendstilformen verzierte Türen, originale Fenster sowie das ursprüngliche Parkett unter Linoleum und Teppichen.

Im Endausbau zeigt sich die Struktur der Villa nahezu unverändert. Lediglich eine einzige Wand musste weichen, um Platz für die grosse Küche mit den ­Cortenstahlfronten zu schaffen. Doch während der Bauphase reichte der Raum vom Erdgeschoss bis unters Dach – die Decken und Wände mussten umfassend ­saniert werden. Dieser tiefe Eingriff bot Gelegenheit, moderne Technik einzubauen und die Oberflächen wieder mit ihrem Gewand zu verkleiden, denn die Architekten wollten den Ausdruck des Gebäudes nicht nur von aus­sen wahren, sondern auch im Innern so viel wie möglich vom Charme des Hauses erhalten. Da die Heizung auf eine Wärmepumpe mit Erdsonde umgebaut wurde, sind die Fussböden nun mit einem Unterlagsboden mit Bodenheizung ausgeführt. Die neue Komfortlüftung ist diskret in die Einbauschränke integriert.

In den meisten Räumen befand sich ein Boden aus Douglasie, in Wohn- und Esszimmer kam ein ­Nussbaumparkett hervor, das ausgebaut und für die Treppenabsätze wieder verwendet wurde. Einzige ­Abweichung der stilgerechten Sanierung: Um einen ­einheitlichen Eindruck zwischen der Villa und ihrem Anbau herzustellen, ist im gesamten Stockwerk ein ­neues Parkett verlegt. Zwar entspricht der kleinteilige ­Bodenbelag aus Nussbaumholz nicht dem ursprünglichen Stil des Hauses, dafür passt er sich an die unterschiedlichen Raumgrössen und Architektursprachen von Bestand und Anbau an.

Ein weiteres prägnantes Element des Gebäudes sind die abge­rundeten Zierrahmen der Türen. Auch sie wurden renoviert und wo nötig ergänzt. Lediglich die Fenster konnten nicht erhalten werden. Ihr Ersatz wurde jedoch in der gleichen Aufteilung erstellt (vgl. Schnitt S. 32). Auch in den Bädern passen die neuen Oberflächen zur Erstellungszeit: Neue Jugendstil-Keramikplatten und Zementfliesen zieren Böden und Wände.

Schönheitssinn und Fortschrittsglauben

Bei der Innenausstattung legten die Architekten gros­sen Wert auf Originale. Statt die Leuchten für das Haus einfach aus dem Katalog zu bestellen, gingen die Bauherren auf Beutezug im Internet: Zahlreiche Bauhausklassiker gingen ihnen ins Netz, ebenso drei Leuchten von Peter Behrens, die jetzt über dem Küchentisch hängen. Doch was antik ist, muss bei Gastrau nicht automatisch auch alt sein: Hinter dem historischen Mattglas leuchten LED-Lampen und verströmen mit ihrem engen Farbspektrum das Licht einer Bahnhofshalle. Den Einwand lässt der Hausherr nicht gelten: «Come on, wir leben im 21. Jahrhundert!» Wieder blitzt diese erfrischende Mischung aus kultiviertem Schönheitssinn und pragmatischem Fortschrittsglauben auf.

Das Haus wurde ursprünglich in einem Zweischalenmauerwerk mit zwei Schichten Backsteinen von 12 cm Stärke errichtet – für seine Zeit eine aussergewöhnliche Konstruktion und für die energetische Sanierung des Gebäudes ein Glücksfall. Der 8 cm breite Zwischenraum ist nun mit Dämmmaterial gefüllt, das durch Öffnungen in der äusseren Schale eingeblasen wurde. Doch dies ist nur ein Teil der neuen Dämmung. Da das Haus im Inventar der schützenswerten Bauten aufgeführt ist, kam eine Verkleidung von aussen nicht infrage. Gemäss einer ersten Studie sollten die Wände von innen gedämmt werden, wodurch viele Details ­hinter Gipskartonplatten verschwunden wären. Die weitere Recherche führte die Architekten zu Aerogel – einem Dämmstoff, der ursprünglich von der NASA für den Einsatz im Weltall entwickelt wurde und nun Anwendung in der Baubranche findet. Die Eigenschaften des Materials sind erstaunlich: es ist wasserab­weisend und zugleich dampfdiffusionsoffen, bei einer Wärmeleitfähigkeit von rund 0.018 W/mK. Mit einem 3 cm starken Dämmputz auf einer Matte aus Aerogel zeigen sich die Fassaden nun in ihrem ursprünglichen Ausdruck. Zusammen mit der Füllung im Hohlraum sinkt der Wärmedurchgangskoeffizient der Aussenwände von 1.1 auf 0.26 W/m2K.

Das Dachgeschoss wurde mit einer Innendämmung mit 14 Zentimetern ausgebaut; einerseits verhinderte der Sichtriegel im turmartigen Aufbau den Einsatz des Dämmputzes, andererseits wechselt die Konstruktion auf ein massives Mauerwerk von 25 cm Stärke. Hier verbessert sich der Wert von 1.4 W/m2K auf 0.21 W/m2K. Der Dachstuhl wurde erneuert, das Dach neu eingedeckt und ebenfalls gedämmt. Der Koeffizient sank von 3.0 auf 0.18 W/m2K.

Dialog der Kulturen

Um mehr Platz zu schaffen, erweitert ein zweigeschossiger Anbau die Villa, ergänzt um eine Einstellhalle mit Platz für neun Autos – die Vermietung der Parkplätze finanziert einen Teil des Umbaus. Das obere Geschoss des Anbaus befindet sich bündig mit dem Hochparterre und enthält ein Wohnzimmer mit grossem Panorama­fenster und Aussicht über die Stadt. Im unteren Geschoss ist das Atelier von Gastrau untergebracht, das an das Kellergeschoss anschliesst. Eine Schalung aus OSB-Platten verleiht dem eingefärbten Sichtbeton gegen aussen Struktur, die kubische Form knickt im Obergeschoss leicht aus der Achse und kragt über den Sockel aus: Ein bisschen Gehry durfte es dann doch noch sein. Die metallenen Fensterläden verzierten die Architekten mit einem Motiv aus der Stickereiwelt: Kreuze und Kreise in unterschiedlicher Grösse interpretieren die Muster von Jacquard-Lochkarten. Gegen die Renovation wurde Rekurs eingelegt. Am Ende befasste sich der Sachverständigenrat der Stadt, ein Gremium aus externen Fachleuten, mit dem Bauvorhaben. Bei ihren Berufskollegen fanden die Architekten Verständnis für den betont zeitgemässen Anbau: Die Bewilligung wurde erteilt. Und so steht nun am Rosenberg eine gewagte – und zu grossen Teilen gelungene – Fusion zweier Baukulturen.

TEC21, Fr., 2014.08.29



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Wunderkammer oder Prototyp?

Am 7. Juni 2014 öffnete die 14. Architekturbiennale Venedig ihre Tore. Die von Rem Koolhaas kuratierte «Monditalia» mit 41 Ausstellungsbeiträgen, Film und Tanz lohnt den Besuch.

Am 7. Juni 2014 öffnete die 14. Architekturbiennale Venedig ihre Tore. Die von Rem Koolhaas kuratierte «Monditalia» mit 41 Ausstellungsbeiträgen, Film und Tanz lohnt den Besuch.

Rem Koolhaas, internationaler Architekturstar und Pritzkerpreis-Träger 2000, ist einer der radikalsten Theoretiker der zeitgenössischen Architektur. Der Niederländer hat eine Generation von mittlerweile ebenfalls weltweit tätigen Architekturschaffenden beeinflusst; deutliche Spuren seiner Gedanken finden sich unter anderem bei BIG, MVRDV und Herzog & de Meuron. Noch mehr als seine Bauten haben seine Bücher und Ausstellungen den architektonischen Diskurs seit drei Jahrzehnten inhaltlich und stilistisch geprägt. Auch an der Biennale in Venedig war er mehrfach mit Ausstellungen präsent, vor vier Jahren erhielt er den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Daher kam seine Ernennung zum Kurator der diesjährigen Biennale wenig überraschend. Zu erwarten war auch, dass die Ausstellung vom gewohnten Schema – einer disparaten Werkschau von bekannten Architekten, notdürftig mit einer möglichst allgemeinen thematischen Klammer zusammengehalten – abweichen würde. Überhaupt waren die Erwartungen extrem hoch. Koolhaas hat sie teils erfüllt, auch wenn die leise erhoffte Revolution ausfällt.

Italien: von Afrika bis zu den Alpen

Die Schau «Monditalia» ist als Stationenweg durch Italien organisiert. «Das Gebäude ist lang, und auch Italien ist lang», bemerkte Koolhaas trocken an der Eröffnung. Zudem sei Italien exemplarisch für die meisten anderen Länder unserer Welt: «auf der Kippe zwischen Chaos und der bisher verpassten Chance, sein volles Potenzial auszuschöpfen» – so der Niederländer. Die Aussage verspricht wenig Konkretes, doch Koolhaas’ Auseinandersetzung mit Italien ist tatsächlich sehenswert. Man betritt die Ausstellung beziehungsweise den Stiefel von Süden her und landet vorerst auf der Insel Lampedusa – gemeinsam mit unzähligen Bootsflüchtlingen aus Afrika, deren Elend einen gleich zu Anfang in beeindruckenden Filmsequenzen empfängt. Hier beginnen zwei parallele Stränge der Schau, die sich auf dem Weg von Süden nach Norden immer wieder thematisch und räumlich überschneiden: auf der einen Seite Kapitel aus Italiens Architektur- und Kulturgeschichte, auf der anderen Seite Ausschnitte aus italienischen Spielfilmen, die an den Stationen des Parcours spielen (Abb. unten links). So korrespondiert etwa «The Architecture of Hedonism – three Villas on the Island of Capri» des Kurators Martino Stierli mit Ausschnitten aus Filmen wie Jean-Luc Godards «Le mépris», der in der Villa Malaparte des Architekten Adalberto Libera spielt.

Die Auswahl der nach ihren geografischen Koordinaten angeordneten Stationen wirkt zuweilen etwas episodisch; sie scheint nicht nur durch die Dringlichkeit der Themen, sondern auch durch die Knotenpunkte im Beziehungsnetz des Kurators beeinflusst zu sein. Doch das ist an der Biennale ohnehin meist der Fall – von einer Einzelperson wäre die schiere Grösse des Anlasses nicht zu bewältigen. Immerhin haben Koolhaas und seine Gäste eine eindrückliche Dichte an spannenden, provokativen und tiefgründigen Beiträgen zusammengestellt, die trotz ihrer Vielfalt ein Ganzes ergeben. Besonders erfreulich ist, dass viele Kapitel zwar architektonischen Themen gewidmet sind, andere aber landschaftliche, soziale oder wirtschaftliche Aspekte beleuchten. Insgesamt sind die Beiträge stets in einen weiteren Kontext gestellt, ohne dabei ins Allgemein- Nichtssagende abzugleiten.

So widmen die Kuratoren Ila Beka und Louise Lemoine eine Videoinstallation dem Ort La Maddalena mit den Koordinaten 41° 12' 53" N / 09° 24' 21" E.

Der G8-Gipfel 2009 sollte plangemäss auf dieser Insel vor Sardinien stattfinden, dafür wurde ein Kongresszentrum gebaut. Doch am 23. April 2009 gab der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi bekannt, dass das Treffen nach L’Aquila verlegt würde. Er wollte damit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die vom Erdbeben am 6. April 2009 zerstörte Abruzzen-Region lenken und den dortigen Bewohnern ein Zeichen der Hoffnung geben. In einem Film erzählt der Architekt des Kongresszentrums von La Maddalena, Stefano Boeri, von seiner persönlichen Beziehung zum Ort. Der fertige, aber nie in Betrieb genommene Komplex zerfällt, nachdem Bau und Planung 300 Millionen Euro verschlungen hatten. In einem parallel dazu laufenden Film – quasi stellvertretend für den Kongressbau – wird ein Mann gezeigt, der seit Jahrzehnten in der Nachbarschaft lebt und aus angespültem Strandgut Objekte baut. Naheliegend, dass sein Material auch aus der zerfallenden Anlage stammt.

Die Installation «The Business of People» des Kurators Ramak Fazel erzählt voneinander unabhängige Geschichten aus der Gegend um Turin. Nach scheinbar willkürlichen Kriterien sind Wirtschaftszweige wie der Traubenhandel und Firmen wie der Pistolenhersteller Beretta oder der Autokarosseriefabrikant Bertone dokumentiert. Durch Bilder, Zeichnungen und kleine Alltagsgegenstände entsteht pixelhaft ein umfassenderes Bild. Gruppiert sind die Tafeln an den Wänden um Zeitschwellen am Boden – hintereinander liegende Holzbalken mit je einer eingeschnitzten Tagesetappe wie «Morning Café», «Break» oder «Lunch». Das hinterste Wort ist so klein, dass man ganz nah hingehen muss, um «out» zu erkennen.

Interessant ist auch die Station «Italian Limes» (Abb. oben) der Gruppe Folder, die sich mit den Grenzen Italiens befasst – ein Gebilde, das nicht so statisch ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Dargestellt wird das Gletschergebiet zwischen Italien und Österreich. Die Eisschmelze, beschleunigt durch die globale Erwärmung, verändert den Grenzverlauf, der historisch durch die Wasserscheide definiert ist. Mittels GPS wird synchron zur Ausstellungsdauer die Veränderung millimetergenau aufgezeichnet.

Als Dreingabe wird der theoretische Stationenweg durch eine Reihe von zusätzlichen Komponenten angereichert: Zum ersten Mal sind auch die anderen venezianischen Biennalen und Festivals – Tanz, Musik, Theater und Film – an der Veranstaltung beteiligt. Ob dies jedoch tatsächlich zu einem Erkenntnisgewinn beiträgt, die Reizüberflutung steigert oder der punktuellen Entspannung der Besucher während der Ausstellungstour dient, bleibt abzuwarten.

Angesichts der Vielzahl der Beiträge ist es verlockend, vor der inhaltlichen Analyse der einzelnen Stationen erst einmal über dem sinnlichen Eindruck zu verweilen: Die Ausstellung in den Corderie wirkt wie eine üppige temporäre Wunderkammer mit Objekten aus Architekturgeschichte, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Wie Objekte in einem Renaissance-Kabinett bildet die Auswahl der Installationen eine persönliche und auch zufällige Parade. Die Sammlung ist thematisch vielseitig, bleibt aber fragmentarisch. Die einzelnen Stationen haben meist anekdotischen Charakter, dennoch erhellen sie in ihrer Gesamtheit das Bild des Landes Italien. So weit ist das Ausstellungsmodell wie versprochen auf andere Länder übertragbar. Ob aber Italien «auf der Kippe zwischen Chaos und der bisher verpassten Chance» auch exemplarisch für den Rest der Welt ist und daher als globaler Prototyp taugt, wäre von Fall zu Fall zu überprüfen. Insofern sagt das Konzept der Ausstellung wohl mehr über die gegenwärtige Betrachtungsweise der Welt aus als ihr Inhalt.

TEC21, Fr., 2014.07.25



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TEC21 2014|30-31 Architekturbiennale Venedig: Fundamentals

Ganzes Stückwerk

«Elements of Architecture» im Hauptpavillon der Giardini reflektiert Architektur in ihren baulichen Einzelteilen.

«Elements of Architecture» im Hauptpavillon der Giardini reflektiert Architektur in ihren baulichen Einzelteilen.

Der zweite grosse Brocken der Biennale, die Ausstellung im Hauptpavillon der Giardini, ist ebenso straff von Rem Koolhaas kuratiert wie die Schau im Arsenale. «Elements of Architecture» ist das Ergebnis einer zweijährigen Untersuchung der Harvard Graduate School of Architecture und weiterer Partner aus Forschung und Industrie. Wie in «Monditalia» gibt es auch hier klar definierte Kapitel, diesmal zu verschiedenen Bauteilen wie Boden, Wand, Decke, Dach, Türe, Fenster, Fassade, Balkon, Korridor, Feuerstelle, Toilette, Treppe, Rolltreppe, Lift, Rampe, Fundament. Jedes der Bauteile ist in einem eigenen Raum um eine zentrale Bibliothek angeordnet. In Letzterer sind Studien, Filme, Grafiken und Reklame zu den Bauelementen zu finden.

Doch in der Ausstellung vermisst man die inhaltliche Tiefe und die fantasievolle Betrachtungsweise, die im Arsenale mehrheitlich vorherrscht und die Koolhaas selbst in seinem Buch «Delirious New York» (1978) im Zusammenhang mit dem Lift fulminant vorgeführt hat. So gibt es wunderbare Exponate wie alte russische Fenster aus Birkenrinde oder einen Korridor, der mit seinem flimmernden Licht und seinem dumpfen Spannteppich das Zeug dazu hat, klaustrophobische Schübe auszu­lösen. Doch die theoretische Stringenz fehlt bei den meisten Statio­nen ebenso wie beim zwar sehr unterhaltsamen, aber letztlich etwas beliebig wirkenden Zusammenschnitt von Filmszenen zu den verschiedenen Bauteilen.

TEC21, Fr., 2014.07.25



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13. Juni 2014Marko Sauer
TEC21

Ausgeschlagenes ­Erbe

Eine Studienreise führte den Autor zu den Bauwerken der Spätmoderne, die in Kroatien zur Zeit des jugoslawischen Staats errichtet wurden. Ein Reisebericht mit biografischen Notizen.

Eine Studienreise führte den Autor zu den Bauwerken der Spätmoderne, die in Kroatien zur Zeit des jugoslawischen Staats errichtet wurden. Ein Reisebericht mit biografischen Notizen.

Gerüche sitzen am tiefsten im Gedächtnis. Wie der Geschmack der in Tee getunkten Madeleine erinnert mich gerösteter Kaffee an meine Kindheit in Zagreb, dessen Duft bei Hochdruck über der ganzen Stadt lag, oder der Geruch nach Zunder, wenn die Monteure auf der anderen Strassenseite Stahl schweissten. Auch heute noch stellt sich in mir unvermittelt ein Gefühl von Heimat ein, wann immer ich eine Schlosserei betrete. Für einen kurzen Moment taucht dann aus der Erinnerung der Wohnblock mit dem steinernen Treppenhaus und den Kakteen hinter den Fenstern auf, die Strasse mit den Schlaglöchern, die an der Polizei vorbei zur Tramhaltestelle führte. Meine Kindheit fand auf beiden Seiten der Alpen statt: in der Schweiz und – im Rhythmus der Schulferien – bei meinen Verwandten in Kroatien. Die Reise zu den Bauwerken der Spätmoderne Jugoslawiens öffnete mir eine neue Sicht auf meine erste Heimat, denn mein Bild wies grosse weisse Flecken auf.

Erste beide Reisetage: Zagreb, Innenstadt und Erweiterung der sozialistischen Ära

Zu Beginn ein Spaziergang durch die Innenstadt und die erste Stadterweiterung aus dem 19. Jahrhundert. Offensichtlich inspirierte die Donaumonarchie diese Ära von Zagreb, die baumbestandenen Prachtstrassen säumen fünfgeschossige Wohnhäuser mit Hochparterre und bröckelndem, meist gelblichem Putz. Die Blockränder sind geschlossen, doch ab und zu lässt eine Durchfahrt, im Zagreber Dialekt «Haustor» genannt, einen Blick in die Innenhöfe zu. Wir sind lang unterwegs und laufen in die Nacht hinein, vorbei an modernistischen Einzelstücken, die den Rhythmus der Häuserzeilen unterbrechen. An einer Strassenecke weicht die Baulinie zurück und lässt Platz für einen kleinen Park. Eine zehngeschossige Scheibe ragt dahinter auf: das Wohnhaus der Nationalbank aus dem Jahre 1963 von Ivan Vitic´. Er komponierte eine einspringende Ecke im Blockrand, gesäumt vom Scheibenhochhaus, das als Schlüsselwerk der Spätmoderne in Jugoslawien gilt. Die hölzernen Schiebeläden fallen aus der Fassade, rotweisse Bänder sperren den Bereich ab, wo man Gefahr läuft, von ihnen erschlagen zu werden.

Am zweiten Tag folgt ein Ausflug in die sozialistische Erweiterung der Stadt jenseits der Save. In der topfebenen Fläche wechseln sich Zeilen und Punkthochhäuser ab, dazwischen – mehr als nur Abstandsgrün – Parks mit Gemeinschaftsbauten und Spielplätzen. Die Leute sitzen im kleinen Quartierzentrum von Zaprud¯e und pflegen die Lieblingsbeschäftigungen der Kroaten: Kaffee trinken, rauchen und plaudern. Ein friedliches Bild, ohne die Konflikte von Retortenstädten an anderen Orten. Offenbar wirken die Rezepte der Modernisten, wenn sie bis zu Ende gebaut werden – wenn nicht nur die rentablen Wohnungen entstehen, sondern auch die gemeinschaftlich genutzten Nebenbauten wie Kinderkrippen und Quartierzentren. Und da in Zaprud¯e der Staat als Auftraggeber, Planer und sogar als Unternehmer wirkte, wurde das gesamte Paket geliefert. Vor Ort treffen wir Bogdan Budimirov, der den Stadtteil in den 1960er-Jahren mit Plattenbauten made in Yugoslavia erstellt hatte. Im Versammlungssaal erläutert der Architekt das Prinzip des Vorfertigungssystems Jugomont ’61. Er erklärt die Besonderheiten einer Baustelle für Tausende von Wohnungen: Bauen bedeutet für den vitalen Mann mit dem dichten, schlohweissen Haar Balkendiagramme, Netzpläne, Stücklisten. Er hat Wohnungen geschaffen für die Menschen, die nach dem Systemwechsel in die Zentren zogen, weil die Planwirtschaft Bauern zu Fabrikarbeitern machte. Auch wenn er dies mit keinem Wort erwähnt: Budimirov hat nicht bloss Häuser errichtet, sondern eine Gesellschaft umgebaut. Die Wände hinter ihm säumen Fotos des kroatischen Militärs. Sie zeigen Bilder der Rückeroberung der Krajna, des Landstreifens in Richtung Bosnien, der seit Jahrhunderten von Serben bewohnt war und wo mit deren Protesten der letzte Krieg 1991 seinen Anfang nahm. Der Quartierstreff ist das Zentrum der Veteranenorganisationen aus der Gegend geworden.

Dritter Tag: Durch das Hinterland, Petrova Gora

Die Partisanen spielten in meiner Familie keine Rolle. Auf jeden Fall keine bessere als alle anderen Armeen. Im Dorf meiner Grosseltern, einen Steinwurf von der ungarischen Grenze entfernt, zogen mit wechselndem Kriegsglück die Heere der Grossmächte wie die Wogen eines aufgewühlten Meeres hin und her: Wehrmacht, Ustaše, Domobrani und gegen Ende des Kriegs dann Russen und die Partisanen. Alle marschierten durch das kleine Donje Viljevo, alle plünderten sie die Kammern der Bauern. Es erstaunt nicht, dass die siegreichen Partisanen dort nicht auf Begeisterung stiessen. Zumal sie Kommunismus und staatlichen Besitz predigten, während die Grossmütterchen jeden Morgen vor dem Tagwerk zur Frühmesse eilten und die Bauern sich mit den Zehen auf ihrem Grund festkrallten. In meiner Familie war der Partisanenkult nicht üblich, weshalb ich auf dem Weg nach Split zum ersten Mal ein Partisanendenkmal besuchte. Oder was davon noch übrig war.

Auf der Petrova Gora lag dicker Nebel, und selbst der kroatische Chauffeur kannte den Weg nicht. Erst als der Bewacher des Denkmals unseren Bus abholte und durch dichte Wälder lotste, fanden wir den Ort, an dem die Partisanen während des Zweiten Weltkriegs ihr zentrales Krankenhaus betrieben. In Erinnerung an ihren Kampf krönt ein Denkmal in Form eines begehbaren Turms die Spitze des Hügels, mit Vortragssälen und Galerien. Die gekurvten Fassaden in Chromstahl glänzten einst weit in die Region hinaus. Erdacht und entworfen wurden sie vom Bildhauer Vojin Bakic´. Im Garten seiner Familie in Zagreb liegt auch heute noch das Modell aus ineinander verschlungenen Metallbändern. Das Denkmal blieb im Rohbau stecken: Zuerst kam das Geld abhanden, dann die Ideologie und am Ende der Staat. Das Betongerippe der organischen Struktur ragt immer noch in die Höhe, doch die Platten an den Fassaden sind abgerissen oder abgeschraubt, pelzige Dämmung quillt aus der Unterkonstruktion hervor. Das Denkmal ist zur Halde verkommen, an der sich die Heimwerker der Region bedienen. Augenscheinlicher kann eine Utopie nicht zerfallen. Diese Ruine des Partisanenkults liess als Fanal schon lange vor dem Krieg ahnen, was die Geschichte bringen würde. Heute zeugt sie von der Demontage der ehemaligen Staatsideologie. Und dennoch liegen am Tag unseres Besuchs Blumen auf dem Gedenkstein. Ganz vergessen sind sie noch nicht, die Kämpfer gegen die faschistische Regierung und die deutsche Besatzung.

Vierter Tag: Split, Krvavica

Ankunft in Split am späten Abend. Das Hotel liegt in der Altstadt, die in den Diokletianpalast hinein gebaut wurde, die Altersresidenz des römischen Kaisers. Doch unser Interesse gilt am nächsten Tag Split 3, einer Stadterweiterung ausserhalb des Zentrums, erstellt in den 1970er-Jahren für rund 13 000 Bewohner. Wer die Pläne sieht, fragt sich unweigerlich: Kann so etwas funktionieren? Von den Hügeln des Hinterlands zieht sich über knapp einen Kilometer eine Kette von Wohnblöcken entlang einer Folge von Treppen, Plätzen und Terrassen bis fast zur Küste hinab. Die Hauptachse liegt parallel zur Ausrichtung der Altstadt, an ihrem oberen Ende befindet sich die Universität. Vor Ort zeigt sich ein ähnlicher Effekt wie in Zaprud¯e: Die Fussgängerzone ist belebt, die Ladenlokale in den Erdgeschossen grösstenteils vermietet. Split 3 bildet den rauen Hintergrund für das echte Leben von Split, fernab der touristischen Gruppeninvasion. In bester brutalistischer Manier verschmelzen Ausdruck und Struktur des Gebäudes, riesige Betonschotten teilen die Blocks, die der Topografie des Hügels folgen. Überformte Strukturen machen aus den Wohnblocks gigantische Plastiken im Stadtraum.

Später, auf dem Weg hinunter in das winzige Krvavica schrammt der Bus beinahe die Häuser entlang der engen, gewundenen Strasse zum Meer. Als wir ankommen, überzieht die Abendsonne den Ort gerade mit einem glänzenden, honigfarbenen Licht. Die Saison ist vorbei, und so verlassen wie der Strand liegt auch das Kindersanatorium (1961) von Rikard Marasovic´ im Pinienhain. Elegant tragen massige Betonstützen eine auskragende Scheibe. Raffiniert verweben sich Tragwerk und Raum, verschmilzt der lichte und weite Raum des Meeres mit dem Haus. Spuren der Zerstörung entrücken das Gebäude in eine eigene Sphäre. Glasscherben verwandeln den Steinboden in ein funkelndes Lichtermeer, aus den Wänden gezerrte Kupferleitungen und eingetretene Türen reissen Wundmale in die Textur des Hauses. Hier hat kein Krieg gewütet, sondern der Mob mit einem System abgerechnet. Als das Haus im September 2012 endlich unter Schutz der Denkmalpflege gestellt wurde, verlagerte sich die Aggression auf die Leserkommentare der Lokalzeitungen.

Fünfter Tag: Šibenik, Zadar

In Šibenik, seiner Geburtsstadt, treffen wir wieder auf Ivan Vitic´. Auf die Renaissancegemäuer um die Stadt setzt er 1961 das Kulturzentrum der Jugoslawischen Volksarmee. Aus den Strukturen der Städte wachsen die modernistischen Gebäude der sozialistischen Utopie, ohne Bruch, ohne den Bestand zu verdrängen. Ein Prinzip, das in besonderer Ausprägung den historischen Kern von Zadar durchdringt, wo wir die Nacht verbringen. Decumanus und Cardo, von den Römern in den Boden geritzt, bestimmen die Ausrichtung der Strassen in der Altstadt, und zwischen die historischen Gebäude fügen sich nahtlos modernistische Bauten. Den meisten Touristen dürfte dies wohl gar nicht auffallen. Ausgesprochen zurückhaltend bauten die Architekten nach dem Zweiten Weltkrieg die Stadt wieder auf, die von der US Air Force zu zwei Dritteln zerstört wurde. Aus den Trümmern wuchs eine Stadt, in der die historischen Strukturen mit der Baukunst des Sozialismus verschmelzen zu etwas Neuem, das auch politisch seinen Ausdruck fand: der dritte Weg zwischen den Blöcken der Nachkriegsordnung.

Sechster Tag: Magistrale, Krk

Im Sommer erholte sich die Arbeiterklasse an der Küste der Adria. Auch dafür stellte der Staat die Infrastruktur in Form von grossen, staatlich betriebenen Ferienkolonien. Der Tourismus war darüber hinaus ein Mittel, Devisen ins Land zu holen und eine Art freundlichen Klassenkampf zu präsentieren. Die Führung schien keine Berührungsangst vor dem «dekadenten Westen» zu haben wie in anderen Staaten Osteuropas. Die Regierung erstellte 1972 in einem Joint Venture mit dem Magazin «Penthouse» das mondäne Resort Haludovo auf der Insel Krk. An der Eröffnung standen Seite an Seite Bob Guccione, der Inhaber des Hefts, und Marschall Tito – umgeben von «Penthouse Pets». Plötzlich musste der Sozialismus nicht mehr real, sondern durfte sexy sein. Doch vergänglich sind Schönheit und Ruhm: Auf den Zerfall Jugoslawiens folgte auch derjenige von Haludovo. Der Architekt Boris Magaš hat ihn noch erlebt. Auch hier hatte nicht ein Krieg die Fassaden zerstört. Als wir in die Ruine schleichen, hängen Zettel mit den Quadratmeterpreisen für die Holztäferung und den Steinboden an den Wänden. Was einst dem Volk gehörte, wird von Kleinkrämern Stück um Stück abgewrackt.

Siebter Tag: Rijeka, Opatija

Nach den lieblichen Destinationen entlang der Küste empfängt uns die Hauptstadt des nördlichen Küstenabschnitts mit Nieselregen und dem schneidenden Realismus einer Hafenstadt. Grosse Schiffswerften und Zollfreilager erzählen von der maritimen Bedeutung Rijekas. Seine Architektur ist das Amalgam einer Stadt in Bewegung. Wie kaum ein anderer Architekt konnte Igor Emili diesen Geist einfangen und zu Gebäuden formen. Seine Moderne ist nicht von strengen Dogmen geprägt. Sie nimmt die feinen Strömungen vor Ort auf und schmiedet sie zu einer lokalen Legierung. Lang bevor die Moderne in ihre Krise kam, spürte der feinfühlige Geist die Sackgasse, in die sie führen würde, und erweiterte ihre Werkzeuge. Räumlicher und formaler Reichtum bedeutete ihm mehr als die Umsetzung gesellschaftlicher Analysen in Gebäude und Städte. Und so bewegte er sich an den Rändern der Spätmoderne. Genauso geschmeidig wie die blockfreien Genossen in ihrem Balanceakt zwischen Sozialismus und freier Marktwirtschaft.

Zurück in Zagreb

Ich berichte meiner Familie begeistert von der Reise, zeige ihnen die Bilder, die Entdeckungen. Ihr Interesse ist gering, das Verständnis noch kleiner. Jeder will noch bessere Bauten kennen, kontert mit Sportstadien, Banken, Shoppingmalls und Luxushotels an der Adria, die in den letzten Jahren in Kroatien gebaut wurden und doch viel eher einen Besuch lohnten. Dieses Jugoslawien ist offenbar nicht ihr Staat gewesen. Oder zumindest nicht mehr.

TEC21, Fr., 2014.06.13



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TEC21 2014|24 Jugoslawische Moderne

14. Februar 2014Barbara Hallmann
Marko Sauer
TEC21

Flexibel studieren

Die FHNW legt ihre Institute an vier Standorten zusammen. Die Kantone erstellen dafür imposante Neubauten, bei der Architektur kann die Schule kaum mitreden. Und sie will es auch gar nicht.

Die FHNW legt ihre Institute an vier Standorten zusammen. Die Kantone erstellen dafür imposante Neubauten, bei der Architektur kann die Schule kaum mitreden. Und sie will es auch gar nicht.

Aarau, Basel, Brugg-Windisch, Liestal, Muttenz, Olten, Solothurn und Zofingen: Das sind die aktuellen Standorte der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Sie vereint seit 2008 neun Hochschulen – und zwar bislang unter vielen Dächern. Doch die vier Trägerkantone Aargau, Solothurn, Basel-Landschaft und Basel-Stadt fassten bereits bei den Verhandlungen zur Fusion der Hochschulen im Jahr 2004 den Entschluss, die Schulen auch baulich zusammenzuschliessen. In jedem Kanton entsteht ein Standort: in Brugg-Windisch, Olten, Muttenz und auf dem Basler Dreispitz-Areal. Für alle vier Standorte lobten die Kantone zwischen 2006 und 2011 Architekturwettbewerbe aus. Seit Ende 2013 ist die Hälfte der Projekte abgeschlossen: Die neuen Gebäude in Brugg-Windisch und Olten sind bezogen, die Neu- und Umbauten in Basel folgen in diesem Jahr. In Muttenz werden die Arbeiten erst beginnen; die Fertigstellung des Hochhauses mit Atrium ist für 2019 geplant.

Für die Standortgemeinden bringen die Neubauten wesentliche Impulse: Die zusätzlichen Studierenden werden die Orte beleben. Mit ihrer schieren Grösse senden die Projekte städtebauliche Signale aus. Doch beim Betrachten der Realisierungen wie der Projekte stellt sich die Frage, welche Strategie in Sachen «Corporate Architecture» dahintersteht. Eine genauere Betrachtung ergibt kein wirklich eindeutiges Bild. Auch die Aussagen der zentralen FHNW-Medienstelle zu den Neubauten lassen den Verdacht aufkommen: Nur der Standort spielte eine Rolle.

Die Nachfrage beim Leiter Immobilien & Infrastruktur der FHNW, Prof. Markus Baertschi, bringt deutliche Antworten: Die Fachhochschule hat gar keine Architekturstrategie – schliesslich ist sie nur Mieterin und nicht Bauherrin. Sie darf eine «raumscharfe» Wunschliste abgeben und mietet sich dann in die bauliche Hülle ein, die ihr der Kanton anhand der Vorgaben zur Verfügung stellt. «Das Wichtigste ist, dass die Funktion stimmt», betont Baertschi. Sich konsequent auf die Rolle als Mieterin zu beschränken, bedeute eine Erleichterung: Nur so könne eine Fachhochschule, in der viele Stimmen mitreden, überhaupt Neubauten auf die Beine stellen. Wäre sie selbst Bauherrin, würden die Wünsche der einzelnen Teil-Hochschulen das Projekt erschweren, verlängern und verteuern, mutmasst Baertschi. Für den Kanton dagegen zählt, dass die teure Investition flexibel und leicht umnutzbar ist, sollte die akademische Mieterschaft sich dereinst verkleinern, wachsen oder gar ausziehen.

Das Ergebnis dieser Arbeitsteilung zwischen Nutzer und Ersteller erinnert tatsächlich an eine Wohnüberbauung für wechselnde Mieter – durchweg solide und hochwertig in der Ausstattung, aber durch den Wunsch nach Flexibilität auch austauschbar. Die wahre Attraktivität der neuen Hochschulen liegt in ihrer zentralen Lage und der guten Anbindung an den öffentlichen Verkehr: Sie stehen in unmittelbarer Nähe der Bahnhöfe. Die Studierenden sind schnell da – und auch schnell wieder weg. Das widerspricht nicht nur dem Campusgedanken der nordamerikanischen Universitäten, wo Leben und Arbeiten, Studium und Freizeit auf ein und demselben Gelände stattfinden, sondern auch der europäischen Vorstellung von der Hochschule, die mit ihren Bauten und Köpfen das Stadtleben prägt. Die neuen Fachhochschulen besetzen den Ort, wo sich einst die europäischen Universitäten befanden: das Zentrum der Stadt. Aber sie verleihen ihm keinen Charakter.

Studentenleben wird sich hier kaum einstellen: Die Häuser sind so geplant, dass die Lernenden mit dem Zug anreisen, die Vorlesungen besuchen und nach dem Seminar wieder wegpendeln. Zielstrebig und effizient organisieren die Fachhochschulen so die Aufnahme von Wissen. Ein langer Aufenthalt, Identifikation mit der Schule oder gar Stolz ist offenbar – zumindest von baulicher Seite – nicht vorgesehen. Zwar gibt es Verkaufsflächen und einige Wohnungen in den Neubauten der FHNW. Aber nirgends ist das Angebot wirklich urban und studierendengerecht. Zwei Beispiele zeigen exemplarisch, wie die Fachhochschulen ihre Standorte entwickeln.

Sauber getrennter Nutzungsmix

Vor einem knappen halben Jahr zogen die Mitarbeitenden und Studierenden der Pädagogischen Hochschule, der Hochschule für Technik und derjenigen für Wirtschaft in den zweiteiligen Neubau auf dem Windischer Markthallenareal neben dem Bahnhof Brugg. Die Pläne dazu stammen von Büro B Architektur und Planer AG aus Bern. Die polygonale Form der Neubauten reagiert auf die unregelmässige Form des Grundstücks und soll gleichzeitig nicht ganz alltägliche Aussenräume schaffen. Der offen gestaltete Platz westlich der Neubauten inszeniert sich als neues Zentrum des Hochschulquartiers und überbrückt die rund 200 Meter zwischen dem Bahnhof und den Hochschulgebäuden auf dem Klosterzelg-Areal, die Fritz Haller in den 1960er-Jahren für die HTL entwarf.

Die beiden frei stehenden Volumen von Büro B, vorgegeben vom Gestaltungsrichtplan, verbindet eine Passerelle im ersten bis fünften Obergeschoss. Um die beiden Hauptzugänge zu markieren, ist die Fassade im Erdgeschoss partiell zurückversetzt, doch will dieser Kunstgriff nicht so recht wirken: Der Neuankömmling nähert sich dem Bau etwas unsicher und findet den Eingang schliesslich doch eher zufällig als intuitiv – für ein öffentliches Gebäude etwas befremdlich.

Im Innern bilden die Mensa auf der einen Seite und ein 800 m² grosser Saal auf der anderen das räumliche Zentrum im Erdgeschoss der Baukörper. Der Saal wird auch als Stadtsaal für Brugg und Windisch genutzt; die eigens gegründete Campussaal Betriebs AG vermietet ihn an Veranstalter aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur. In die Obergeschosse führen breite Treppen. Die grosszügigen, lichtdurchfluteten Korridore sind mit Arbeitsnischen und -plätzen versehen; sie sollen den Studentinnen und Studenten für das Selbststudium oder die Arbeit in kleinen Gruppen dienen. Die komplexe Struktur im Innern zwingt die ortsunkundige Besucherin zum Nachfragen – was aber auch in räumlich spannende Winkel führen kann.

Vom Erdgeschoss bis ins vierte Obergeschoss gruppieren sich um zwei Lichthöfe die offen gehaltenen Unterrichtsräume und Büros. Die Einrichtung der Unterrichtsräume ist standardisiert, um ihren Gebrauch möglichst flexibel zu machen. Weil der Campus ein lebendiges Stück Stadt sein soll, entschied man sich, im Erdgeschoss Verkaufsflächen unterzubringen; derzeit belegen unter anderem zwei kleine Supermärkte, eine Zahnarztpraxis und ein Café die ersten Flächen. 48 Wohnungen im Dachgeschoss tragen dazu bei, das Gebiet zu beleben. Die Bewohner erreichen sie über separate Eingänge im Erdgeschoss oder direkt aus der Tiefgarage. Inwiefern so Begegnungen zwischen Studierenden und Wohnungsmietern entstehen, ist fraglich. Vielleicht geschieht in dieser Hinsicht im Sommer mehr, wenn die Abende warm sind und der grosse Platz vor dem Neubau zur Begegnungszone für Studierende und die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers wird.

Tief gestapelt

Der Neubau der FHNW in Olten befindet sich ebenfalls unmittelbar hinter dem Bahnhof. Er bietet Platz für 1200 Studierende aus den Fachbereichen Angewandte Psychologie, Soziale Arbeit und Wirtschaft und wurde im Juni 2013 eröffnet. Das dreigeschossige Gebäude von Bauart Architekten und Planer wird durch eine leicht geknickte und teilweise zurückversetzte Bandfassade charakterisiert, die sanft zu den Eingängen leitet. Lang und flach dehnt sich das Haus neben den Gleisen aus.

Auch in Olten hält sich das Gebäude im Ausdruck gegen aussen zurück. Es besticht nicht durch Effekte, sondern strahlt Sorgfalt aus – und viel Aufmerksamkeit für die Details. Die Proportionen der Bandfenster wechseln ebenso wie die Höhen der Geschosse. Zusammen drücken sie das gegen oben enger werdende Raster der Struktur aus. Diese wiederum spiegelt die Funktion wider: Die Nutzungen mit grosser Belegung befinden sich im Erdgeschoss, darüber die Klassen- und Gruppenräume und zuoberst die Büros von Verwaltung und Lehre. Gedeckte Innenhöfe bieten Licht, Raum und Orientierung: Zwei Höfe gehen durch alle drei Stockwerke, und zwei verbinden lediglich die beiden oberen Geschosse.

So bescheiden sich das Haus gegen aussen gibt, so anspruchsvoll verfolgt es energetische Ziele. Zur Eröffnung ist eine Broschüre erschienen, die insbesondere die Energieeffizienz herausstreicht. Das Gebäude erfüllt die Vorgaben von Minergie-P-Eco. Die Architektur wird als anpassungsfähig, flexibel und nutzungsoffen beschrieben. Dies nimmt man dem Haus sofort ab, denn so präsentiert es sich auch: In seiner reinweissen Hochglanzästhetik entzieht es sich elegant einer eindeutigen Zuordnung. Ist dies die Architektur für eine smarte Gesellschaft, die ihre Inhalte und Räume jederzeit anpassen kann und sich dadurch alle Optionen offenhält? Die Künstlerin Verena Thürkauf hat dieses Motiv aufgenommen und einen wunderbaren Kontrast dazu geschaffen: Ihre klugen Sätze sind in die Wände geritzt – sie dringen durch Putz und Gipskarton bis auf die Mauern, die das Haus tragen. Wie eine Tätowierung, die sich nie mehr tilgen lässt.

TEC21, Fr., 2014.02.14



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TEC21 2014|07-08 Bauen für die Fachhochschulen

01. Februar 2014Marko Sauer
TEC21

Perfektion ohne Profil

Aus 70 höheren Fachschulen machte der Bund 1995 sieben Fachhochschulen. Administrativ ist die Fusion vollzogen, baulich wird sie gerade Realität: Überall im Land beziehen die Hochschulen neue Domizile. Die Architektur ist solides Handwerk – selten mehr.

Aus 70 höheren Fachschulen machte der Bund 1995 sieben Fachhochschulen. Administrativ ist die Fusion vollzogen, baulich wird sie gerade Realität: Überall im Land beziehen die Hochschulen neue Domizile. Die Architektur ist solides Handwerk – selten mehr.

Wir erleben einen raren Moment: Eine Bildungsinstitution wird erschaffen und mit neuen Gebäuden ausgestattet. Die Fachhochschulen haben im Bildungssystem ihren Platz neben den Universitäten eingenommen – ihre Strukturen sind aufgebaut, die Lehrpläne akkreditiert, und die Titel entsprechen der Bologna-Reform.

Universitätsgebäude strahlten einst die Macht und Würde der Bildungseliten aus. Aber welche Botschaft sollen die Bauten der Fachhochschulen nach aussen tragen? Wie soll sich eine Bildungsinstitution im Zeitalter des frei verfügbaren Wissens und des lebenslangen Lernens manifestieren? Können sich die Fachhochschulen baulich von den Universitäten abgrenzen und einen eigenen architektonischen Ausdruck finden?

Im ganzen Land schiessen derzeit die Campusgelände und Bauten für die sieben Fachhochschulen aus dem Boden. Mit gut dotierten Wettbewerben tasten sich Architektinnen und Architekten an zentralen städtischen Lagen an diese neue Typologie heran. Eine einmalige Chance und eine grossartige Ausgangslage. Doch das Resultat ist ernüchternd: Die Häuser wirken wenig eigenständig. Zu unspezifisch ist, was sie gegen aussen projizieren. Woran eine Fachhochschule zu erkennen wäre, wissen wir noch nicht.

Die Suche nach einer eigenen Identität ist keine einfache Aufgabe. Im Fall der Fachhochschulen machen die Besitzverhältnisse die Sache noch komplizierter: Nicht die Hochschulen bestellen die Gebäude, sondern die Kantone, in denen die Häuser stehen. Offensichtlich legen die kantonalen Bauverwaltungen dabei weit mehr Gewicht auf flexible Nutzbarkeit, solide Bauweise und niedrige Unterhaltskosten als auf ein unverwechselbares Erscheinungsbild. Und so zeugen die aufstrebenden Fachhochschulen weniger vom steinigen Weg zu einem neuen Gebäudetypus als von den verschlungenen Pfaden der Projekte durch staatliche Institutionen, auf denen der Stolz auf das bürgerliche Bildungsideal dem pragmatischen Facility Management weicht. Am Ende steht der gut schweizerische Kompromiss: geschliffen und perfekt poliert – jedoch ohne prägnante Botschaft.

TEC21, Sa., 2014.02.01



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TEC21 2014|07-08 Bauen für die Fachhochschulen

29. November 2013Marko Sauer
TEC21

Raster und Punkt

Vor fünfzig Jahren weideten noch Schafe und Kühe auf den Wiesen zwischen Lausanne und Ecublens, auf denen sich heute der Campus der Université de Lausanne (Unil) und der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) erstreckt. Beide Schulen – in den Anfängen separat, dann ab 1869 gemeinsam – waren einst in Altbauten im Stadtzentrum eingepfercht. Hundert Jahre später erfolgte nicht nur die neuerliche Trennung, sondern auch der Auszug aus der Innenstadt. Was anfangs auf die grüne Wiese verbannt zu sein schien, gewinnt inzwischen mehr und mehr Urbanität.

Vor fünfzig Jahren weideten noch Schafe und Kühe auf den Wiesen zwischen Lausanne und Ecublens, auf denen sich heute der Campus der Université de Lausanne (Unil) und der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) erstreckt. Beide Schulen – in den Anfängen separat, dann ab 1869 gemeinsam – waren einst in Altbauten im Stadtzentrum eingepfercht. Hundert Jahre später erfolgte nicht nur die neuerliche Trennung, sondern auch der Auszug aus der Innenstadt. Was anfangs auf die grüne Wiese verbannt zu sein schien, gewinnt inzwischen mehr und mehr Urbanität.

1969 fielen drei Entscheidungen: Die Ecole Polytechnique de l’Université de Lausanne (EPUL) wurde in eine der ETH Zürich angeschlossene eidgenössische Institution mit der Bezeichnung Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) umgewandelt, von der Universität (Unil) losgelöst und gemeinsam mit dieser in die Agglomeration verlegt.[1]

Die bauliche Entwicklung teilt sich in drei Phasen auf.[2]

Die erste Etappe folgte einem Raster, der gleichzeitig eine klare Gliederung und innerhalb dieser eine dynamische Flexibilität gewährleisten sollte. Die zweite brach mit diesem Raster und suchte ihn mittels Diagonalen aufzuweichen. Die dritte, heutige Strategie oszilliert zwischen passgenauen Solitären und einer Reparatur des ursprünglichen Masterplans. Damit widerspiegeln diese Phasen nicht nur wechselnde Tendenzen in der Planung. Sie dokumentieren auch Veränderungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Hochschule. Das Resultat ist ein Patchwork aus unterschiedlichen Architekturstilen, die deutlich die Sprache ihrer jeweiligen Zeit sprechen.

Phase 1: auf der grünen Wiese (rot)

1970 wurde der Wettbewerb für den Masterplan für die EPFL ausgelobt, 1978 fanden auf dem neuen Gelände die ersten Vorlesungen statt. Der Masterplan war das Resultat eines vom Bund organisierten Wettbewerbs. Ihm ging eine bewegte Diskussion voraus, denn es lag bereits ein Überbauungsplan vor, der 1968 von einem Team um Professor Pierre Foretay entworfen worden war. Nachdem die nunmehr eidgenössische Hochschule in die Zuständigkeit des Bundes fiel, beharrten dessen Behörden jedoch auf einem Wettbewerb, der unter sieben eingeladenen Teams ausgelobt und vom Zürcher Architekturbüro Jakob Zweifel (1921–2010) und Heinrich Strickler (1922–2010) gewonnen wurde.[3] Die beiden skizzierten einen strukturalistischen Plan, der auf der strikten Trennung der Verkehrswege basierte – die Autos fahren auf Terrainniveau, die Fussgänger bewegen sich auf Passerellen, die die Gebäude miteinander verbinden. Das Credo lautete: Flexibilität, Vielfalt der Nutzung, Variabilität, Wachstum, Einführung neuer Bautechniken, Realisierung neuer architektonischer Ausdrucksweisen.

Dazu legten sie ein weitmaschiges Netz aus quadratischen Feldern von 87.60 m über den gesamten Perimeter, in das sich ebenso clusterartige Strukturen wie Hochhäuser einschreiben lassen sollten. Die Bauten der ersten Etappe, die das Zürcher Büro realisieren konnte, waren wiederum nach einem Raster von 7.20 m in Nord-Süd- und in West-Ost-Richtung gegliedert – mit Ausnahme der Versuchshallen, wo er auf 14.40 bis 21.60 m gedehnt wurde.[4] Die Bauarbeiten begannen 1974, die ersten Gebäude wurden 1977 bezogen, und im Herbst 1978 startete der Lehrbetrieb. Zwei markante Achsen prägen die erste Etappe von 1974 bis 1983: Von Norden nach Süden orientiert, trennt die heutige Avenue Piccard die beiden Gebäudecluster, die mit einer Art Rückgrat die Ausrichtung von West nach Ost definieren. Wie Finger docken die Fakultäten, Institute und Labors an diesen Riegel an. Dort, wo die beiden Hauptachsen aufeinandertreffen, überbrückt das Gebäude die Strasse auf einer Höhe von acht Metern.

Phase 2: Erweiterung der Regel (gelb)

Eine Änderung dieses Plans läutete die zweite Phase ein: Der Zugang zum Gelände wurde nach Westen verlegt – daher zeigt die Avenue Piccard heute ins Nichts – und die Esplanade als neues Zentrum der Anlage gestaltet. Aus politischen Gründen wurden für die Entwicklung der nächsten Etappe nicht mehr Jakob Zweifel und Heinrich Stickler hinzugezogen, sondern es wurde ein Ideenwettbewerb unter Westschweizer Büros veranstaltet.

Elf Arbeitsgemeinschaften wurden mittels Präqualifikation für das Verfahren ausgewählt. Bernard Vouga in Zusammenarbeit mit Jean-Pierre Cahen und Michel-Robert Weber hiessen die Gewinner des Wettbewerbs. Sie schlugen zwei diagonale Achsen vor, die von der Place de l’Esplanade ausgehend die beiden Ecken im Südwesten und Nordwesten erschliessen. Realisiert wurde indes lediglich die Achse gegen Südwesten und die daran anschliessenden Gebäude, der Bauplatz im Norden blieb vorläufig unbebaut.

Phase 3: Passstücke und Lückenfüller (blau)

Der dritten Etappe liegt ebenfalls eine Veränderung der Rahmenbedingungen zugrunde. Die Linienführung der Tramway du sud-ouest lausannois, der heutigen M1, wurde 1986 festgelegt und der Bahnhof im Nordwesten des Campus angeordnet. Damit veränderte sich erneut der Zugang zum Gelände. In einer ersten Etappe war vorgesehen, die Haltestelle durch einen Neubau mit der Esplanade zu verbinden. Ein zweistufiger Wettbewerb wurde 1992 ausgelobt mit dem Ziel, die Tugenden des ursprünglichen Masterplans wieder aufzunehmen: Das neue Projekt sollte wieder klare und einheitliche Strukturen schaffen.

Dolf Schnebeli, Flora Ruchat, Tobias Ammann und Sacha Menz gewannen den Wettbewerb und errichteten von 1996 bis 2002 einen Gebäudekomplex, der einen Eingang zum Gelände formt und in klaren Linien einen Platz fasst. Er orientiert sich an den Strukturen des Masterplans, agiert aber mit städtischen Elementen. Die weiteren Bauten dieser dritten Phase waren punktuelle Erweiterungen, die keine Anpassung des Masterplans nach sich zogen: das Bâtiment des communications (2000–2004) von Rodolphe Luscher, die Erweiterung der Fakultät Sciences de la Vie von Patrick Devanthéry und Inès Lamunière (2005–2008) und schliesslich das Rolex Learning Center nach Plänen von Sanaa, das 2010 eingeweiht wurde. Gegenwärtig befindet sich auf der Rückseite des Bahnhofs das Kongresszentrum mit Wohnungen für Studierende von Richter · Dahl Rocha im Bau (vgl. «Urbane Inszenierung», S. 20 und «Facettenreiches Fachwerk», S. 23).

Dieselben Architekten entwarfen auch den Wissenschaftspark im Süden des Geländes.

Spagat in Raum und Zeit

Die jüngsten Projekte stammen von Dominique Perrault und Kengo Kuma in Zusammenarbeit mit Holzer Kobler Architekturen (vgl. «Tout est à inventer», S. 17). Perrault schlägt zur Stärkung des Campuscharakters drei unterschiedliche Projekte vor, die Teil einer einheitlichen Strategie sind: Die ehemalige Bibliothek ist bereits zum neuen Verwaltungszentrum umgebaut, das mechanische Labor wird erweitert und soll dereinst um seinen geräumigen Innenhof herum Platz für mehrere Fakultäten bieten.

Für seinen dritten Vorschlag werden gegenwärtig die finanziellen Mittel geäufnet: Das Projekt der «Teaching Bridge», mit dem er 2011 den Wettbewerb gewann, soll bis 2017 die alte Überdachung an der Avenue Piccard ersetzen. Das zerklüftete Gebäude übernimmt den ursprünglichen Raster der ersten Etappe von Zweifel und Strickler von 7.20 m, schreibt dessen clusterartige Struktur fort und dockt auf der West- und der Ostseite an deren Bauten an. Es schafft im wahrsten Sinn des Worts den Spagat zwischen den 1970er-Jahren und der Gegenwart. Einen vorläufigen Endpunkt bildet der Ausstellungspavillon von Kengo Kuma und Holzer Kobler Architekturen, der bis Herbst 2014 erstellt werden soll.


Anmerkungen:
[01] Treibende Kraft der Aufwertung zur eidgenös­ sischen Hochschule war Maurice Cosandey, der 1963 Direktor der Schule wurde, in: Francesco Della Casa, Eugène Meiltz: Rolex Learning Center, Lausanne, 2010, S. 50.
[02] www3.unil.ch/wpmu/dorigny40/ unite et diversite des batiments de lepfl/
[03] Vgl. «Sieben Projektaufträge für die ETH L in Dorigny», in: Werk, 57 (1970), H. 10, S. 646–661, und Claude Grosgurin: «Die baulichen Aspekte einer Neuanlage der ETH Lausanne in Ecublens (erste Etappe) und Ausbau der ETH Lausanne», in: SBZ, 91 (1973), H. 13, S. 323–324
[04] F. Matter, Ecole Polytechnique Federale de Lausanne, Ecublens VD, in: IABSE structures = Constructions AIPC = IVBH Bauwerke, 3 (1979), H. C 7, S. 5

TEC21, Fr., 2013.11.29



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TEC21 2013|49-50 Campus Epfl

29. November 2013Marko Sauer
TEC21

«Tout est à inventer»

«Es gilt, alles zu erfinden.»[1] So lautete der Tenor in dem Buch über das Rolex Learning Center, das zu dessen Einweihung 2010 erschien. Die bauliche Entwicklung der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) im Lauf der 45 Jahre ihres Bestehens zeugt von diesem Erfindergeist. Der strukturalistische, clusterartige Gründerbau von Zweifel und Strickler war ebenso ein Wurf wie die städtisches Flair einfangende, hofartige Bebauung von Dolf Schnebeli, Flora Ruchat, Tobias Ammann und Sacha Menz und die mit der Landschaft flirtende Welle von Sanaa. Die aktuelle Strategie, deren Protagonist Dominique Perrault ist, versöhnt den anonymen Raster mit namhafter Architektursprache.

«Es gilt, alles zu erfinden.»[1] So lautete der Tenor in dem Buch über das Rolex Learning Center, das zu dessen Einweihung 2010 erschien. Die bauliche Entwicklung der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) im Lauf der 45 Jahre ihres Bestehens zeugt von diesem Erfindergeist. Der strukturalistische, clusterartige Gründerbau von Zweifel und Strickler war ebenso ein Wurf wie die städtisches Flair einfangende, hofartige Bebauung von Dolf Schnebeli, Flora Ruchat, Tobias Ammann und Sacha Menz und die mit der Landschaft flirtende Welle von Sanaa. Die aktuelle Strategie, deren Protagonist Dominique Perrault ist, versöhnt den anonymen Raster mit namhafter Architektursprache.

Die EPFL hat in den letzten Jahren auf ihrem Campus ein architektonisches Feuerwerk gezündet. Die Vielfalt an einzigartigen Gebäuden ist eng mit einem Namen verbunden: Patrick Aebischer leitet seit der Jahrtausendwende als Rektor die Geschicke der EPFL. Für ihn spielt die Architektur eine wichtige Rolle. In der Begleitpublikation zur Ausstellung im Sommer 2013 an der EPFL über Dominique Perrault, der einige der Bauten der jüngsten Generation auf dem Campus realisiert, schreibt der Rektor: «Im 21. Jahrhundert werden die Universitätsanlagen zu Orten des Architekturschaffens werden. Sie sind experimentelle Baustellen für neue Funktionen, Orte, die man besichtigt, genauso wie man in der Vergangenheit gebaute Kathedralen besucht.»[2] Aebischer betrachtet die Gebäude «seiner» EPFL als Aushängeschilder für die Kompetenzen der Institution, als Pilgerstätten für Architekturinteressierte und als Brennpunkte des architektonischen Experiments. Und sie sollen die besten Forscher nach Lausanne locken. Das Konzept ist bekannt: Vitra und Novartis gehen ähnliche Wege, um sich von ihren Konkurrenten abzuheben.

Es erstaunt daher nicht, dass in der aktuellen Phase der Fokus auf Gebäuden liegt, die individuelle Lösungen anstreben und sich vom ursprünglichen Masterplan aus den 1970erJahren lösen. Was sind die Motive, die hinter dieser Entwicklung stehen? Es lässt sich nicht genau belegen, wann das Universitätsgelände zum «Campus» umgetauft wurde, aber die Bezeichnung passt hervorragend zur Strategie von Rektor Aebischer. Die Wochenzeitschrift «L’Hebdo» aus Lausanne kommentierte in ihrer Ausgabe von 28. 9. 2006 diese Entwicklung. Der Ausdruck «Campus» sei lang mit den amerikanischen Hochschulen verknüpft gewesen. Erst in der letzten Zeit sei der Begriff auch in der Schweiz gefallen: eine Folge der globalen Ausrichtung der Hochschulen, die sich nicht mehr nur auf dem heimischen Markt behaupten, sondern im globalen Wettbewerb der Bildungsstätten mit den ganz Grossen mithalten müssten.[3] Als mustergültiges Beispiel dieser Strategie kann das Learning Center des japanischen Büros Saana gelten (vgl. TEC21, 26/2010), das von 2007 bis 2009 errichtet und 2010 eingeweiht wurde. In ihm bündeln sich alle Aspekte wie in einem Brennglas.

Poesie und Pioniergeist

Das Learning Center hat das Potenzial, weltweite Strahlkraft zu entfalten. Dass Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa, die beiden Köpfe von Sanaa, im Jahr seiner Eröffnung den PritzkerPreis entgegennehmen konnten, hat diesen Effekt sicher befördert und das Ansehen der Institution gestärkt. Neben seiner räumlichen Poesie bietet das Learning Center zudem ein gerüttelt Mass an ingeniösem Pioniergeist. Dieser belegt die Leistungsfähig keit des Ingenieurwesens, der Bauindustrie und der Architektur. Es wurde enorm viel Auf wand betrieben, um dieses einzigartige Gebäude zu erstellen, an dem sich indes auch die Geister scheiden.[4]

Der Angreifbarkeit des Projekts war sich die Wettbewerbsjury sicher bewusst, als sie im November 2004 Sanaa den ersten Preis verlieh. Doch das Gebäude leistet weit mehr, als eine Bibliothek zu beherbergen und im internationalen Wettstreit als Markenzeichen für die EPFL zu dienen. Es verkörpert die zweite Vision, die Patrick Aebischer im oben genannten Text skizziert: «Der Universitätscampus des 21. Jahrhunderts soll ein Ort zum Leben, ein Ort des Austauschs, ein allen zugänglicher Ort sein. Früher bestanden Universitätsgelände hauptsächlich aus der Lehre und der Forschung gewidmeten Bauten. […] Die Universitä ten müssen sich neu erfinden, sie müssen Räume schaffen, die den Austausch und soziale Aktivitäten fördern, und dürfen dabei ihre Hauptaufgaben – Lehre und Forschung sowie Innovation und Technologietransfer – nicht vernachlässigen.»2 Der Rektor ist nicht bloss auf der Jagd nach Preziosen, er möchte die Funktionalität des Campus und das Wesen der neuen Universitäten revolutionieren.

Sich diesen generösen Raum im Learning Center zu leisten war also wesentlicher Teil des Programms. Die alten Vorlesungssäle schrumpfen im Learning Center auf einen Bildschirm, der Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden auf ein Glasfaserkabel. Deshalb sind die neuen Räume von Universitäten keine Hörsäle mehr, sondern Orte der ungezwungenen Begegnung, an denen die kostbarste Ressource der Schweiz gefördert wird: die Idee. Unter diesem Blickwinkel erfüllt das Center ein Bedürfnis, das vital ist für den Campus.

Neue Bezugspunkte

Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa kümmerten sich offensichtlich nicht um den ursprünglichen Masterplan von 1970. Das Learning Center liegt auf der Wiese im südlichen Teil des Geländes wie ein auf dem See treibendes Blatt Papier. Die Wege rund um das Gebäude wollen nirgends richtig am Bestand anschliessen. Weder Höhe, Materialisierung noch Ausdruck nehmen irgendeinen Bezug auf die umliegende Gebäude. Um es mit Rem Koolhaas zu sagen: «Fuck context.»[5] Im Fall von Sanaa geschieht dies höflich und beflissen, doch das Learning Center bleibt ein Solist. Vielleicht ist der Kontext der neuen Bibliothek einfach auf einer anderen Ebene zu suchen. Sie misst sich an anderen emblematischen Gebäuden von global agierenden Hochschulen oder solchen mit ähnlicher Nutzung, etwa an der Mediathek im japanischen Sendai (1998–2000) von Toyo Ito.[6] Doch der Bezug des Hauses ist in diesem Fall auch ein direkter: Es zitiert die Landschaft, die den Campus umgibt, den See und die Berge. Damit weist es über das Universitätsgelände hinaus, sprengt dessen Grenzen und hebt sich selbst über die Agglomeration und die Stadt hinweg.

Gebäude wie das Learning Center haben Auswirkungen auf den Masterplan: Sanaa löst sich komplett von dessen Regeln und stellt das Gebäude mit seinen spezifischen Bedingungen in den Vordergrund. Demgegenüber leitet Dominique Perrault eine Kehrtwende ein oder wagt einen Blick zurück – aber nicht im Zorn, sondern mit Sensibilität für die Qualitäten des ursprünglichen Bebauungskonzepts von Zweifel und Stickler. In dessen Rigidität entdeckt Perrault die robuste Logik und Nutzbarkeit, die Flexibilität, die der 7.20-m-Raster für die unterschiedlichsten Nutzungen bietet. Nach der in der zweiten Etappe initiierten Aufweichung des Masterplans und dessen völliger Negierung durch Sanaa schafft Perrault bis 2017 mit der «Learning Bridge» eine Synthese der beiden Welten. Sie verbindet die Logik der 1970erJahre mit den Bedürfnissen der Gegenwart. Perrault beweist, dass auch innerhalb dieser Grenzen ein innovatives und poetisches Projekt seinen Platz finden kann. Behutsam erweitert er die Möglichkeiten des dreidimensionalen Rasters und verbindet die auf zwei verschiedenen Niveaus angelegten Verkehrswege miteinander. Auch für die Fragmentierung durch die zweimalige Verschiebung des Haupteingangs zum Campus schafft Perrault Remedur: Er kreiert einen neuen Zusammenhang, anstatt einen weiteren Stein zum vielgestaltigen Mosaik hinzuzufügen.


Anmerkungen:
[01] Francesco Della Casa, Eugène Meiltz: Rolex Learning Center, Lausanne 2010, S. 111.
[02] «Vers le Campus du 21 e siècle» in: Anna Hohler (Hrsg.): Dominique Perrault Architecture, Territoire et horizons, Lausanne 2013, S. 15, deutscher Text in der Beilage zum Buch.
[03] Mireille Descombes: La Suisse invente ses cam pus, Artikel online seit dem 28.09.2006 www.hebdo.ch/la_suisse_invente_ses_cam pus_23903_.html
[04] In der Deutschschweiz nahm die Kritik teilweise geharnischte Züge an: Der Landverbrauch sei enorm, der Nutzen fraglich. Erst die aquariums ähnlichen Büroeinbauten ermöglichten, dass in dem Gebäude überhaupt gearbeitet werden könne. Geländer, Treppen und regelrechte Bergbahnen konterkarierten die Idee einer sanft ondulierenden Landschaft.
[05] «Bigness or the problem of Large» in: Rem Koolhaas: S, M, L, XL, The Monacelli Press, New York 1995, S. 495. Koolhaas postuliert in seinem Aufsatz, dass Gebäude ab einer gewissen Grösse, man mag auch ihre Bedeutung dazu zählen, ihren eigenen Kontext schaffen. Ihr «Impact» ist genü gend gross, um sich nicht darum kümmern zu müssen, was sie umgibt.
[06] Auch die Mediathek in Sendai ist ein ingenieurs technisches Meisterwerk, an dem der Ingenieur Mutsuru Sasaki beteiligt war. Das achtgeschossi ge Gebäude besteht aus prägnanten Fachwerken in Form von durchgehenden Röhren.

TEC21, Fr., 2013.11.29



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